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Strafrechtliche Abhandlungen

Neue Folge · Band 177

Grenzen der Freiheit –


Bedingungen des Handelns –
Perspektive des Schuldprinzips
Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung
für das Strafrecht

Von

Grischa Detlefsen

asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
GRISCHA DETLEFSEN

Grenzen der Freiheit –


Bedingungen des Handelns –
Perspektive des Schuldprinzips
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge
Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†)
em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder


ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 177
Grenzen der Freiheit –
Bedingungen des Handelns –
Perspektive des Schuldprinzips
Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung
für das Strafrecht

Von

Grischa Detlefsen

asdfghjk
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von
Professor Dr. Bernhard Hardtung, Rostock

Die Juristische Fakultät der Universität Rostock


hat diese Arbeit im Wintersemester 2005 / 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten


# 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin
Printed in Germany
ISSN 0720-7271
ISBN 3-428-12212-7
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier
entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinem Vater
Vorwort

Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2005 / 2006 vom Fachbereich


Rechtswissenschaft der Universität Rostock als Dissertation angenommen.
Eine große Freude war es für mich, dass Herr Professor Dr. Bernhard
Hardtung die Mühe des Erstgutachtens auf sich genommen hat. Ich möchte ihm
dafür danken, dass er mit aufgeschlossenem Interesse und stets genauem Blick
für das Große und Kleine das Gelingen dieser Arbeit entscheidend gefördert
hat. Ebenfalls danken möchte ich Herrn Professor Dr. Christoph Sowada für die
zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Mein Dank gilt außerdem Herrn Pro-
fessor Dr. Schulz, der es mir ermöglicht hat, an seinem Lehrstuhl die Arbeit für
den Druck fertigzustellen.
Herrn Professor Dr. Wilfried Küper danke ich dafür, dass er mich bei mei-
nem Promotionsvorhaben unterstützt und ermutigt hat, und Herrn Professor Dr.
Dr. h.c. Schroeder gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in die vorlie-
gende Schriftenreihe.
Von Herzen dankbar bin ich Herrn Professor Dr. Reinhard Merkel für seine
zahlreichen hilfreichen Hinweise. Zuspruch und Unterstützung habe ich auch
von meiner Freundin Marion Helms und meinem guten Freund Arne Littmann
erhalten, bei denen ich mich ebenfalls herzlich bedanken möchte.
Vor allem aber danke ich meinen Eltern und Großeltern. Sie haben mich un-
eingeschränkt mit Rat und Tat unterstützt und damit das Entstehen und die
Vollendung dieser Arbeit überhaupt erst ermöglicht.

Hamburg, im März 2006 Grischa Detlefsen


Inhaltsverzeichnis

Einleitung...................................................................................................................... 21

Teil 1

Freiheit als Voraussetzung der Schuld –


im Besonderen: die Handlungsfreiheit 25

Kapitel 1

Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 25


I. Grundzüge der Freiheitsdiskussion dargestellt am Beispiel Schopenhauers........... 25
1. Willensbetätigung und Selbstbewusstsein........................................................ 27
2. Der negative Freiheitsbegriff bei Schopenhauer .............................................. 28
3. Das Abhängigkeitsverhältnis von Handlungs- und Willensfreiheit.................. 29
4. Folgerungen mit Blick auf deren rechtliche Relevanz...................................... 31
II. Die rechtliche Diskussion des Freiheitsbegriffs im Überblick................................ 34
1. Positive Freiheit in der Außenperspektive? ...................................................... 36
2. Probleme eines Begriffs des subjektiven Freiheitserlebens.............................. 39
3. Offene Fragen logisch begründeter subjektiver Freiheit .................................. 43
4. Normativer Freiheitsbegriff.............................................................................. 44
5. Zusammenfassung und Überleitung ................................................................. 45
III. Spannungsfelder zwischen Handlungsfreiheit und Schuldstrafe ............................ 45
1. Determination und moralischer Vorwurf.......................................................... 46
2. Das Merkmal der Willensbetätigung in der Deliktsprüfung............................. 48
3. Die „Willensbetätigung“ in ausgewählten Schuldlehren .................................. 49
a) „Die Vergeltungsstrafe in deterministischem Gewande“
nach Franz v. Liszt ..................................................................................... 50
b) Die Charakterschuld nach Engisch ............................................................ 53
c) Wesensgleichheit psychischer Strukturen nach Graf zu Dohna ................. 56
d) Personale Zurechnung nach Jakobs............................................................ 58
e) Strukturdeterminiertes Handeln und Verantwortlichkeit nach Kargl ......... 62
10 Inhaltsverzeichnis

4. Zusammenfassung............................................................................................ 67
5. Exkurs: Neuere Ansätze in der deutschen Philosophie..................................... 68
a) Personale Freiheit nach Bieri ..................................................................... 69
b) Minimalistische „Selbstbestimmung“ nach Pauen ..................................... 73
c) Kritik: Begriffliche Vermengung von Verantwortung und Schuld ............ 76
IV. Überleitung............................................................................................................. 77

Kapitel 2
Freiheit und Rechtsdogmatik 78
I. Beweisbedürftigkeit der Schuld.............................................................................. 78
1. Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG........................................................... 80
a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne
des Art. 2 Abs. 1 GG und metaphysische Willensfreiheit .......................... 80
b) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne
des Art. 2 Abs. 1 GG und individuelles Freiheitserleben ........................... 82
c) Konsequenzen für das Strafrecht................................................................ 85
2. Die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG und die Schuldstrafe ................. 87
a) Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität von Strafe ... 89
b) Historische Überlegungen zur Willensbetätigung
als Grundlage staatlichen Strafens ............................................................. 92
c) Die Grundlagen und Grundfragen der Schuldstrafe ................................... 96
d) Grammatikalische Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung....... 99
3. Schuldstrafe zwischen Handlungsfreiheit und Menschenwürde..................... 104
a) Die Begrenzungsfunktion der Schuld für die
Strafe unter dem Aspekt einer objektiven Wertordnung .......................... 105
b) Der Mensch als Objekt der Verbrechensbekämpfung .............................. 110
c) Zusammenfassende Thesen...................................................................... 117
4. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG........................................................ 119
a) Normative Konstruktionen vor den Schranken des Art. 3 Abs. 1 GG...... 120
b) Die subjektive Evidenz von Freiheit als Grundlage der Schuld? ............. 122
c) Der gesetzliche Beweis im Strafprozess................................................... 125
d) Grenzen richterlicher Überzeugungsbildung............................................ 126
e) Richterliche Perspektive........................................................................... 131
f) Zusammenfassung.................................................................................... 133
II. Allgemeines zur Beweisbarkeit der Schuldfrage .................................................. 135
Inhaltsverzeichnis 11

1. Objektivierbarkeit subjektiven Erlebens ........................................................ 137


2. Erlebnisirrtümer ............................................................................................. 138
III. Fazit und Überleitung........................................................................................... 140

Teil 2

Automatisiertes Verhalten und Schuld 143

Kapitel 1

Die Handlung 143


I. Die Handlungsqualität in der Systematik der Nichthandlungen ........................... 143
1. Vis absoluta und Reflexe................................................................................ 145
2. Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit....................................... 148
3. Das Willensproblem....................................................................................... 152
a) Subjektiv versus objektiv ......................................................................... 153
b) Normativ versus empirisch ...................................................................... 157
4. Zusammenfassung.......................................................................................... 158
II. Die automatisierten Verhaltensweisen.................................................................. 159
1. Erscheinungsformen automatisierter Verhaltensweisen –
im Besonderen: die Spontanreaktionen .......................................................... 160
2. Wille als zeitlicher Aspekt der Handlung....................................................... 162
3. Das Problem der Handlungsqualität ............................................................... 163
III. Verursachung im Lichte ausgewählter Handlungslehren ..................................... 165
1. Der Handlungsbegriff um 1900...................................................................... 165
a) Naturalistische Handlungslehre (v. Liszt und Beling).............................. 166
b) Symptomatische Handlungslehre (Kollmann und Tesar)......................... 168
2. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert.............................................................. 168
a) Finale Handlungslehre (Welzel, Stratenwerth und Schewe) .................... 169
b) Soziale Handlungslehre (Engisch und Maihofer)..................................... 173
c) Die „menschliche Seinsäußerung“ nach Michaelowa .............................. 175
d) Personale Handlungslehre (Roxin und Arthur Kaufmann)....................... 177
e) Der kognitive Handlungsbegriff Kargls ................................................... 181
f) Der funktionale Handlungsbegriff Jakobs’ .............................................. 183
3. Zusammenfassung.......................................................................................... 184
IV. Konsequenzen für den Schuldbegriff ................................................................... 186
12 Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Vermeidbarkeit 187
I. Vorüberlegungen .................................................................................................. 187
1. Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens ............................................................... 188
2. Nachträgliche Kontrollübernahme ................................................................. 190
II. Automatisierte Verhaltensweisen und Reaktionszeit............................................ 191
1. Die Reaktionszeit in Rechtsprechung und Literatur ....................................... 191
2. Fallbeispiele im Vergleich.............................................................................. 194
a) „Kleintier-Fall“ versus „Jagdhund-Fall“ .................................................. 194
b) „Fliege-Fall“ versus „Fahrertür-Fall“....................................................... 195
3. Erklärungsansätze .......................................................................................... 196
a) Vorhersehbarkeit und Reaktionszeit ........................................................ 196
b) Aktivität innerhalb der Reaktionszeit....................................................... 197
c) Reaktionszeit und passives Verhalten ...................................................... 198
4. Exkurs: Zivilrechtliche Behandlung von Reaktionszeiten.............................. 200
III. Folgerungen.......................................................................................................... 203

Kapitel 3
Vorsatz und Fahrlässigkeit 208
I. Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit – Problemaufriss ........................................ 208
1. Die Beweisproblematik .................................................................................. 211
2. Automatisierte Verhaltensweisen ................................................................... 213
a) Aktuelles Vorstellungsbild....................................................................... 215
b) Sachgedankliches (Mit-)Bewusstsein....................................................... 216
c) Das Bewusstseinsfeld nach Schewe ......................................................... 218
d) Das Wollenselement ................................................................................ 219
3. Zusammenfassung.......................................................................................... 221
II. Die unbewusste Fahrlässigkeit ............................................................................. 222
1. Erkennbarkeit aufgrund des konkret riskanten Verhaltens............................. 222
a) Die visuelle Wahrnehmung als Erkenntnisquelle..................................... 223
b) Erkenntnisse aus den Reaktionszeitfällen ................................................ 225
c) Verhältnis von Reaktion und Wahrnehmung ........................................... 226
2. Erkennbarkeit aufgrund äußerer gefahrerhöhender Umstände ....................... 228
3. Folgerungen ................................................................................................... 232
III. Zwischenergebnis und Überleitung ...................................................................... 233
Inhaltsverzeichnis 13

Teil 3

Empirische Voraussetzungen der Schuld


im Lichte der Neurowissenschaften 240

Kapitel 1

Visuelle Wahrnehmung 240


I. Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft ................................. 240
1. Bewusstseinsbegriff ....................................................................................... 241
2. Neuronale Informationsverarbeitung.............................................................. 241
a) Molekularbiologische Grundlagen........................................................... 242
b) Bildgebende Verfahren ............................................................................ 243
c) Die Arbeitsweise des Gehirns .................................................................. 244
3. Aufmerksamkeit ............................................................................................. 246
a) Bewusstseinskorrelierte elektrische Potentiale......................................... 247
b) Aufmerksamkeitsprioritäten..................................................................... 248
c) Motion-induced blindness........................................................................ 249
4. Folgerungen für die Innenperspektive............................................................ 250
II. Die Bewusstwerdungsdauer ................................................................................. 250
1. Bewusste Reizverarbeitung ............................................................................ 252
2. Unbewusste Reizverarbeitung........................................................................ 253
3. Masking / unbewusste Modifikation .............................................................. 254
a) Der Crawford-Effekt ................................................................................ 254
b) Vorbewusste oder nachbewusste Modifikation?
(Dennett und Kinsbourne)........................................................................ 255
4. Der Flash-lag-Effekt....................................................................................... 257
a) Bewegungsextrapolation.......................................................................... 258
b) Latency-difference ................................................................................... 258
c) Motion Integration und Postdiction.......................................................... 259
5. Die Antedatierung nach Libet ........................................................................ 262
a) Libets vergleichende Untersuchungen ..................................................... 263
b) Kritik ...................................................................................................... 264
III. Konsequenzen der dargestellten Untersuchungen
für die Rechtsbegriffe der „Kenntnis“ und der „Erkennbarkeit“ .......................... 266
14 Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Entstehung von Bewegungen 269


I. Ausgangslage ....................................................................................................... 269
1. Handlungsinitiierung aus psychophysiologischer Sicht 1968
(Müller-Limroth)............................................................................................ 270
2. Das Bereitschaftspotential (Kornhuber/Deecke) ............................................ 271
II. Automatisierte Bewegungen................................................................................. 272
1. Wahrnehmung und Reaktion.......................................................................... 273
2. Reiz-Reaktions-Muster................................................................................... 275
3. Folgerungen ................................................................................................... 277
III. Willkürliche Bewegungen .................................................................................... 278
1. Das Libet-Experiment .................................................................................... 278
2. Diskussion...................................................................................................... 280
a) Erlebnisinhalt ........................................................................................... 280
b) Zeitliche Einordnung des subjektiv Erlebten............................................ 285
c) Messung des Bereitschaftspotentials........................................................ 291
3. Ontologisch-dualistische Interpretationen ...................................................... 292
a) Eccles und der selbstbewußte Geist ......................................................... 293
b) Kritik ...................................................................................................... 294
c) Die Vetotheorie........................................................................................ 295
d) Experimentelle Überprüfbarkeit............................................................... 295
e) Empirische Einwände .............................................................................. 296
f) Grundsätzliche Kritik............................................................................... 298
4. Identitätstheorie.............................................................................................. 300
5. Rechtliche Einordnung................................................................................... 302
IV. Folgerungen für willkürliches und unwillkürliches Verhalten.............................. 307

Kapitel 3

Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 309


I. Selbstzuschreibung von Handlungen aus neurowissenschaftlicher Sicht ............. 309
1. Emotion und Motivation ................................................................................ 309
2. Entwicklung ................................................................................................... 316
3. Zielvorstellungen............................................................................................ 319
4. Grenzen subjektiven Erlebens ........................................................................ 321
II. Exkurs: Epiphänomenalismus .............................................................................. 324
Inhaltsverzeichnis 15

Teil 4

Fazit 326

Kapitel 1

Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 326


I. Die willentliche Verhaltenssteuerung in der Dogmatik ........................................ 326
1. Sachliches Kriterium zur Differenzierung? .................................................... 328
a) Handlungsbegriff ..................................................................................... 330
b) Vermeidbarkeit ........................................................................................ 332
c) Subjektive Tatseite................................................................................... 333
2. Ergebnis ......................................................................................................... 335
II. Die Willenssteuerung in der „Schuldidee“ ........................................................... 337

Kapitel 2
Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe 341
I. Schuldbegründung und Schuldausgleich .............................................................. 341
1. Die Innenperspektive...................................................................................... 342
2. Die Außenperspektive .................................................................................... 343
II. Ausblick: Perspektive des Schuldprinzips............................................................ 345

Literaturverzeichnis .................................................................................................. 349

Entscheidungsregister................................................................................................ 385

Sachwortregister ........................................................................................................ 390


Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung
Abs. Absatz
AcP Archiv für die civilistische Praxis (zit. nach Band, Jahr und Seite)
a. E. am Ende
a. F. alte Fassung
AG Amtsgericht
AK Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch, Gesamtherausgeber
Rudolf Wassermann
AK-GG Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland, Gesamtherausgeber Rudolf Wassermann
al. (et al.) alii
Anm. Anmerkung
Ann. Neurol. Annals of Neurology (zit. nach Band, Jahr und Seite)
Arch Psychiatr Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (zit. nach Band, Jahr
Nervenkr und Seite)
ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zit. nach Band, Jahr und
Seite)
Art. Artikel
AT Allgemeiner Teil
Aufl. Auflage
Ausg. Ausgabe
BA Blutalkohol (zit. nach Jahr und Seite)
BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht
Bd. Band
bearb. bearbeitet
Bem. Bemerkung
Begr. Begründer
BGB Bürgerliches Gesetzbuch
BGH Bundesgerichtshof
Abkürzungsverzeichnis 17

BGHSt Entscheidungen des BGH in Strafsachen (zit. nach Band und Seite)
bspw. beispielsweise
BVerfG Bundesverfassungsgericht
BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zit. nach Band und
Seite)
bzw. beziehungsweise
ca. circa
CCC Constitutio Criminalis Carolina
DAR Deutsches Autorecht (zit. nach Jahr und Seite)
ders. / dies. derselbe / dieselbe(n)
d. h. das heißt
Diss. Dissertation
DRiZ Deutsche Richterzeitung (zit. nach Jahr und Seite)
DZPhil Deutsche Zeitschrift für Philosophie (zit. nach Jahr und Seite)
E Entscheidung
ebd. ebenda
EcoG Elektrokortikogramm
EEG Elektroenzephalogramm
Einl. Einleitung
EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten
EuS Zeitschrift für Ethik und Sozialwissenschaften (zit. nach Band, Jahr
und Seite)
Exp Brain Res Experimental Brain Research (zit. nach Band, Jahr und Seite)
f. / ff. (eine) folgende / (mehrere) folgende
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung
FG Festgabe
fMRT funktionelle Magnetresonanz-Tomographie
Fn. Fußnote
FS Festschrift
GA Archiv für Strafrecht, begründet von Goltdammer (zit. nach Jahr und
Seite)
GesHrsg. Gesamtherausgeber
GesRed. Gesamtredaktion
GG Grundgesetz
GS Gedächtnisschrift
18 Abkürzungsverzeichnis

GSSt Großer Senat für Strafsachen


Habil. Habilitationsschrift
HRRS Online-Zeitschrift der Hamburger Anwaltskanzlei Strate & Ventzke
(zit. nach Jahr und Seite): www.hrr-strafrecht.de
Hrsg. / hrsg. Herausgeber/in / herausgegeben
Hz Hertz
i. d. R. in der Regel
insb. insbesondere
i. S. d. im Sinne der/des
i. V. m. in Verbindung mit
JA Juristische Arbeitsblätter (zit. nach Jahr und Seite)
JR Juristische Rundschau (zit. nach Jahr und Seite)
JuS Juristische Schulung (zit. nach Jahr und Seite)
JW Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)
JZ Juristenzeitung (zit. nach Jahr und Seite)
Kap. Kapitel
KJ Kritische Justiz (zit. nach Jahr und Seite)
KK-OWiG Karlsruher Kommentar zum OWiG, herausgegeben von Karlheinz
Boujong
KK-StPO Karlsruher Kommentar zur StPO, herausgegeben von Gerd Pfeiffer
Kleinknecht/ Kommentar zur Strafprozeßordnung, erläutert von Lutz Meyer-
Meyer-Goßner Goßner
km/h Stundenkilometer
KMR Kommentar zur Strafprozeßordnung, herausgegeben von Heintschel-
Heinegg / Stöckel
Lfg. Lieferung
LG Landgericht
Lit. Literatur
LK (8. Aufl.) Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, herausgegeben von Jagusch /
Mezger
LK Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, herausgegeben von Jähnke /
Laufhütte / Odersky
LKW Lastkraftwagen
LM Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, herausgegeben von
Lindenmaier / Möhring (zit. nach Paragraph und Nummer)
MDR Monatsschrift für deutsches Recht (zit. nach Jahr und Seite)
Abkürzungsverzeichnis 19

MdS Metaphysik der Sitten


MEG Magnetoenzephalogramm
ms Millisekunde(n)
MschrKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zit. nach Jahr
und Seite)
m. w. N. mit weiteren Nachweisen
NJW Neue Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)
NK Nomos Kommentar zum StGB, hrsg. v. Kindhäuser / Neumann /
Paeffgen (2005)
NK (1. Aufl.) Nomos Kommentar zum StGB (1995–2003), GesHrsg. Ulfrid
Neumann
Nr. / No. Nummer
NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)
NZV Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zit. nach Jahr und Seite)
OGHZ Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in
Zivilsachen
OLG Oberlandesgericht
OWiG Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PET Positronen-Emissions-Tomographie
PKW Personenkraftwagen
Proc. Roy. Proceedings of the Royal Society of London. Series B, Biological
Soc./B sciences (zit. nach Band, Jahr und Seite)
resp. respektive
RG Reichsgericht
RGSt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zit. nach Band und
Seite)
Rn. Randnummer
Rspr. Rechtsprechung
S. / s. Seite/n, siehe
sc. scilicet
Sch/Sch Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Aufl., verfasst
von Lenckner / Eser / Cramer / Stree / Heine / Perron / Sternberg-
Lieben
SchwZStr Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Band, Jahr und
Seite)
sek. / sec. Sekunde(n)
20 Abkürzungsverzeichnis

SK-StGB Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, herausgegeben von


Rudolphi / Horn / Günther
SK-StPO Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Ge-
richtsverfassungsgesetz, herausgegeben von Hans-Joachim
Rudolphi
SMA supplementär motorisches Areal
sog. sogenannte/sogenannter/sogenanntes
SPECT Einzel-Photonen-Emissions-Computertomographie
StGB Strafgesetzbuch
StPO Strafprozeßordnung
StrafR Strafrecht
StV Strafverteidiger (zit. nach Jahr und Seite)
teilw. teilweise
Tz. Textziffer
u. und
u. a. unter anderem / und anderen
usw. und so weiter
u. U. unter Umständen
v. von / vom
VAE Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen (zit. nach Jahr
und Seite)
Verf. / verf. Verfasser/in / verfasst
vgl. vergleiche
Vol. Volume
Vorb. / Vorbem. Vorbemerkung(en)
VRS Verkehrsrechts-Sammlung, Entscheidungen aus allen Gebieten des
Verkehrsrechts (zit. nach Jahr und Seite)
vs. versus
z. B. zum Beispiel
zit. zitiert
ZNS Zentralnervensystem
Z Psychol Zeitschrift für Psychologie (zit. nach Band, Jahr und Seite)
ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zit. nach Band,
Jahr und Seite)
ZVS Zeitschrift für Verkehrssicherheit (zit. nach Jahr und Seite)
„Es ist eine Frage, ob wir nicht,
wenn wir einen Mörder rädern,
grade in den Fehler des Kindes verfallen,
das den Stuhl schlägt, an den es sich stößt.“
(Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch J 706)

Einleitung

Das Schuldstrafrecht beruht auf der Prämisse, dass ein empirischer Zugang
zum Freiheitsproblem nicht offen steht. Diese Grundannahme ist in Anbetracht
neurowissenschaftlicher Erkenntnisse fraglich geworden. Obwohl das Straf-
recht seit seinem Bestehen mit dickem Fell Angriffen jeglicher Provenienz in
seinem innersten Kern, dem Schuldvorwurf, unbeschädigt getrotzt hat, könnten
die Forschungen auf diesem interdisziplinär strukturierten Gebiet geeignet sein,
das Menschenbild insgesamt zu reformieren und damit auch dem Menschen im
Recht ein neues – unschuldiges? – Gesicht zu geben.
Das Strafrecht findet seine größten Widersacher primär in den Reihen der
Geisteswissenschaftler, insbesondere der (Rechts-)Philosophen und Sozialwis-
senschaftler. Die Naturwissenschafter, obwohl im letzten Jahrhundert sehr
ertragreich für die Rechtspraxis, haben sich demgegenüber in Zurückhaltung
geübt – wohl nicht zuletzt aufgrund der scheinbar unüberbrückbaren Distanz
zwischen den Disziplinen, die Unsicherheit auch bei begründeter grundsätzli-
cher Kritik hervorzurufen vermag. Auf der anderen Seite hat sich die Straf-
rechtswissenschaft, was die Rechtfertigung ihrer grundlegenden Konstruktio-
nen vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Forschung betrifft, weitge-
hend in einen Mantel des Schweigens gehüllt. Seit einigen Jahren wird jedoch
von Seiten der Neurowissenschaft zunehmende Kritik formuliert.
So kommt aus der Neurowissenschaft die Mahnung, die funktionale Rolle
bestimmter Aspekte von Erlebnisprozessen sei nicht nur als Modethema von
Interesse, sondern habe weitreichende Implikationen unter anderem für die
Rechtsphilosophie.1 Der Philosoph und Biologe Gerhard Roth führt aus: „Es
müßte sehr sorgfältig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der
Strafe als Sühne wie auch bei der Strafe als Erziehung zum Besseren einen
großen Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dies
überhaupt möglich ist) oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes

_________________
1
Siehe Roth/Schwegler/Stadler/Haynes, Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten,
S. 19.
22 Einleitung

System.“2 Auch der Leiter des Max-Planck-Instituts für psychologische For-


schung in München, Wolfgang Prinz, macht auf die Konsequenzen der Neuro-
biologie für die gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung und damit den
Strafprozess aufmerksam.3 Der Neurophilosoph Henrik Walter erklärt: „Was,
wenn sich ein solcher Schuldbegriff als Illusion herausstellen sollte? Dann
müßte das Strafrecht sich ändern. Es müßte aber nicht zusammenbrechen.“4
Und der Leiter des Max Planck Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Wolf
Singer, erwägt als Konsequenz neurowissenschaftlicher Forschung die Mög-
lichkeit eines humaneren Umgangs mit Gesetzesbrechern.5
Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die Voraussetzungen straf-
rechtlicher Schuld vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurowissen-
schaft zu überprüfen. Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfas-
sungsgerichts, deutet auf das zentrale Problem dabei hin: „[...] die Annahme,
daß Personen Erfolge in der Außenwelt bewirken und steuern können, daß
gegenüber einer Verletzung menschlicher Interessen die Frage nach einem
menschlichen Urheber dieser Verletzung erlaubt und diskutabel ist.“6 Da die
heutige Neurowissenschaft kognitive und biologische Problemstellungen mit-
einander kombiniert und als solche eine Erweiterung bisheriger, sich mit den
neuronalen Vorgängen nicht explizit befassender psychophysiologischer For-
schung darstellt, setzt sie sich gerade auch mit Fragen menschlicher Verhal-
tenssteuerung auseinander. Doch obwohl die Neurowissenschaft inzwischen
auch für die Grundfragen des Rechts aufschlussreiche Erkenntnisse liefert, wird
sie in der Strafrechtswissenschaft regelmäßig nur dann herangezogen, wenn es
um die Feststellung somatischer Hirndefekte oder messbarer „Anomalien“
beim Delinquenten geht. Soweit ihre Erkenntnisse einen Rückschluss auf die
Willensfreiheit des Menschen zulassen, sind sie hingegen in der Strafrechtswis-
senschaft bisher nur sehr vereinzelt und unzureichend verarbeitet worden.7
Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung wird die Freiheitsdiskussion im
Strafrecht bilden. Dabei interessiert neben der Willensfreiheit vornehmlich die
Handlungsfreiheit. Zum Verständnis dieses Begriffs werden Ausführungen
_________________
2
Roth, Das Gehirn, S. 330 f.
3
Siehe Prinz, Freiheit oder Wissenschaft?, S. 90 und Fn. 3.
4
Walter, Neurophilosophie, S. 59.
5
In: Spektrum der Wissenschaft 2 (2001), S. 75 (Interview Hoefer/Pöppe).
6
Hassemer, Schuldprinzip, S. 94.
7
Ansätze finden sich bei Dreher, Willensfreiheit – ein zentrales Problem mit vielen
Seiten (1987); Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht: Grundlagen einer kogniti-
ven Handlungs- und Straftheorie (1991); Guss, Willensfreiheit oder: Beruht das deut-
sche Strafrecht auf einer Illusion? (2002); Schiemann, NJW 2004, S. 2056 ff.; neuestens
auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 313 ff.; Kriele, ZRP 2005, S. 185 ff., u. Jakobs, ZStW 117
(2005), S. 247 ff.
Einleitung 23

Arthur Schopenhauers herangezogen. Die dabei herausgearbeiteten Problem-


schwerpunkte – auch mit Blick auf die Willensfreiheit – dienen im Weiteren als
Grundlage der kritischen Würdigung ausgewählter Schuldtheorien, die unter
Berücksichtigung einer jedenfalls möglich erscheinenden Determination
menschlichen Verhaltens am Schuldprinzip festhalten. Einbezogen in die Dis-
kussion werden auch die Freiheitstheorien der Philosophen Peter Bieri und
Michael Pauen, die davon ausgehen, mit einem Determinismus kompatible
Freiheitsbegriffe entwickelt zu haben, die jeweils auch mit dem Schuldstraf-
recht in Einklang stehen. Im Anschluss erfolgt eine verfassungsrechtliche Dis-
kussion, die sich mit verschiedenen Perspektiven einer Legitimation des
Schuldprinzips auseinandersetzt. Im Mittelpunkt stehen dabei die verfassungs-
rechtlichen Grundpfeiler der Freiheit und Gleichheit jeweils mit Bezug auf die
Menschenwürde. Dazu wird zunächst der Regelungsbereich des Strafrechts
anhand der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG diskutiert.
Anschließend wird der Aspekt menschlicher Selbstbestimmung im Schuldstraf-
recht dem Art. 1 Abs. 1 GG gegenübergestellt. Darauf aufbauend bilden beide
Artikel der Verfassung die gemeinsame Grundlage, um die Begrenzungsfunkti-
on der Schuld als Argument für ihre Rechtfertigung als strafrechtliche System-
kategorie zu hinterfragen. Die Überlegungen zur Gleichheit erwachsen dabei
aus der Auseinandersetzung um Art. 1 Abs. 1 GG und werden unter dem
Stichwort materieller Gerechtigkeit bei der strafrechtlichen Zurechnung im
Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG erörtert. Im Vordergrund steht dabei die Frage,
welchen Anforderungen der Schuldspruch in Anbetracht des strafprozessualen
Beweiserfordernisses genügen muss. Den Abschluss des ersten Teils bilden
allgemeine Überlegungen zum Umgang mit subjektiven und objektiven Sach-
verhalten im Strafprozess.
Im zweiten Teil werden diese allgemeinen Überlegungen am Beispiel des
Handlungs- und Vermeidungsbegriffs sowie der subjektiven Tatseite in der
strafrechtlichen Dogmatik konkretisiert. Am weiteren Beispiel der automati-
sierten Verhaltensweisen, insbesondere der Spontanreaktionen, werden die
Voraussetzungen der Zurechnung strafrechtlicher Schuld hinsichtlich ihrer
Tauglichkeit als sachliche Differenzierungskriterien zur Wahrung des Gleich-
heitsgebots erörtert. Dies erfolgt unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung
und Lehre vertretenen Standpunkte, wobei das besondere Augenmerk auf den
Problemlösungsstrategien der Praxis liegen soll. Wegen der schier unerschöpf-
lichen Theorienvielfalt, die sich zu den hier problematisierten Komplexen des
Strafrechts entwickelt hat, ist es unumgänglich (wenngleich es nicht allen der in
Einzelheiten sehr differenzierten Ansätze vollständig gerecht werden mag),
einige Lehren unter einem Oberbegriff zusammenzufassen und einzelne An-
sichten nur dann exemplarisch eingehender zu erörtern, wenn sie besondere
Anhaltspunkte dafür aufweisen, weiteren Aufschluss für unser Thema zu
erbringen. Zur Überprüfung der herausgearbeiteten Kriterien werden im dritten
24 Einleitung

Teil der Arbeit Erkenntnisse herangezogen, die größtenteils aus der experimen-
tellen Neurowissenschaft stammen. Über Forschungen zur Verhaltenssteuerung
hinaus werden auch Erkenntnisse zur Verarbeitung von Sinneseindrücken so-
wie die (möglichen) Entstehungsbedingungen des menschlichen Ich-Bewusst-
seins und seiner Selbstzuschreibungen, insbesondere der der Handlungsurhe-
berschaft, in den Blick genommen. Die Arbeit schließt im vierten Teil ab mit
der Übertragung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Zurech-
nungsvoraussetzungen der Strafrechtsdogmatik unter Berücksichtigung der an-
fangs abstrakt diskutierten verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Spannungs-
felder zwischen Strafrecht und Verfassung werden noch einmal aufgegriffen
und es wird ein Resumée hinsichtlich der sich hieraus ergebenen Konsequenz
für das Schuldprinzip formuliert.
Als abschließender Hinweis dieser Vorbemerkungen sei der folgende gestat-
tet: Diese Untersuchung versucht nicht zu klären, worüber sich kluge Köpfe
seit Jahrhunderten streiten, – die Frage nämlich, was die Freiheit des Menschen
eigentlich ist. Wenn sich diese Frage überhaupt beantworten lässt, dann bedarf
es dafür weitaus umfassenderer Qualifikation, als sich die Verfasserin dieser
Zeilen anmaßen dürfte. Der Leser wird daher im vergleichsweise bescheidenen
Rahmen nur mit verschiedenen Aspekten strafrechtlicher Verantwortung und
deren Voraussetzungen konfrontiert. Freilich werden diese dabei auch in einem
Licht untersucht, dem sie bislang noch kaum oder jedenfalls nicht hinreichend
ausgesetzt worden sind: dem der neueren Resultate einschlägiger naturwissen-
schaftlicher Forschungen.
Teil 1

Freiheit als Voraussetzung der Schuld –


im Besonderen: die Handlungsfreiheit

Kapitel 1
Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf

I. Grundzüge der Freiheitsdiskussion dargestellt


am Beispiel Schopenhauers

Wenn auch nicht völlig frei von einzelfallbezogenen Kontroversen, so ist es


heute für den Richter doch weitgehend unproblematisch, eine die Strafe be-
gründende Schuld im Prozess festzustellen. Fehlen konkrete Anhaltspunkte für
das Gegenteil, so werden Schuldfähigkeit des Täters und das Schuldhafte seiner
Tat als der Normalfall ohne weiteres vorausgesetzt. Erst die Annahme der
Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB1 wirft regelmäßig Schwierigkeiten auf. Von
der Strafbegründungsschuld wird die Schuldidee unterschieden.2 Sie befasst
sich mit dem „Phänomen der Schuld als Grundlage und Grenze der staatlichen
Strafgewalt“3. In den Mittelpunkt rückt hierbei das „Wesen“ der Schuld, das in
engem Zusammenhang mit der Frage der Freiheit des Menschen steht. Dabei
stehen sich Überzeugungen gegenüber, die entweder auf deterministischen oder
auf indeterministischen Weltbildern gründen. Der wesentliche Unterschied liegt
in der Frage, ob alle Vorgänge in der Welt, also sowohl äußere (wie Bewegun-
gen) als auch innere Vorgänge (wie die Willensbildung), in einen kausalen
_________________
1
§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Ohne Schuld handelt, wer bei
Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifen-
den Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seeli-
schen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht
zu handeln.
2
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 107; Munoz Conde, GA 1978,
S. 65; ausführlich Achenbach, Grundlagen, S. 6 ff.
3
Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 108. Nach Geddert-Steinacher hat der
Schuldgrundsatz Prinzipiencharakter und ist anders als der strafrechtliche Schuldbegriff
empirieunabhängig (s. Menschenwürde, S. 157).
26 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Zusammenhang eingebettet sind (Determinismus) oder ob sich die Willensbil-


dung frei von determinierenden Faktoren vollzieht, so dass der menschliche
Wille kausale Zusammenhänge „überdeterminieren“ kann (Indeterminismus).
Überwiegend unterschieden werden in der Freiheitsfrage Willens- und Hand-
lungsfreiheit. Während die Willensfreiheit in ihrer Relevanz für die Rechtswis-
senschaft seit jeher umstritten ist, wird der Frage der Handlungsfreiheit für die
innere Berechtigung des Schuldvorwurfs nur wenig Bedeutung beigemessen.4
Das mit der Schuldidee einhergehende Freiheitsproblem wird daher überwie-
gend bei der Willensbildung angesiedelt.5 Willensfreiheit soll vorliegen, wenn
sich die Willensbildung unabhängig von kausalen Faktoren vollzieht und die
Person ihre Willensbildung selbst bestimmt.6 Anders ausgedrückt ist die Wil-
lensfreiheit „die Freiheit, das zu wollen, was man will“, während Handlungs-
freiheit als „die Freiheit, das zu tun, was man will“, verstanden und damit mit
der Willensbetätigung eng verknüpft wird.7 Weil der Nutzen empirischer Er-
kenntnisse, wozu die Forschungen der Neurowissenschaften gehören, in Bezug
auf die Willenfreiheit stark umstritten ist, die Handlungsfreiheit dagegen durch
die Verknüpfung mit dem Verhalten immer in engem Kontakt mit der Empirie
stand, soll die Annäherung an den strafrechtlichen Schuldbegriff in dieser Ar-
beit über die Handlungsfreiheit erfolgen. Eine bedeutende Rolle in der philoso-
phischen Diskussion um den Begriff der Handlungsfreiheit spielte, jedenfalls in
Deutschland, Arthur Schopenhauer. Um ein besseres Verständnis der Probleme
zu bekommen, die mit diesem Begriff und seiner Abgrenzung zu dem der Wil-
lensfreiheit verbunden sind, und als Grundlage für die sich anschließenden
Überlegungen, soll deshalb zunächst die Auffassung Schopenhauers skizziert
werden.
_________________
4
Siehe Tiemeyer, GA 1986, S. 211; vgl. auch Burkhardt, Wille, S. 322; Hochhuth,
JZ 2005, S. 747.
5
Siehe Tiemeyer, GA 1986, S. 207; vgl. auch Mangakis, ZStW 75 (1963), S. 499 ff.
6
Siehe Pothast, JA 1993, S. 106; Kant unterscheidet in dieser Frage den empiri-
schen Menschen („homo phainomenon“), dessen Wille nur als determiniert begriffen
werden könne, vom „noumenalen“ Menschen als Subjekt des Sittengesetzes („homo
noumenon“), dessen Wille als „frei“, nämlich nicht von empirischen Fakten, sondern
allein vom Sittengesetz bestimmt gedacht werden könne und müsse; zu dieser schwieri-
gen und spekulativen Willensmetaphysik bei Kant s. P. Baumann, Autonomie,
S. 140 ff.; auch (knapp) Mittelstraß, S. 39.
7
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 16; Nicolai Hartmann, Ethik, S. 639; Mezger, Über
Willensfreiheit, S. 3; Engisch, Willensfreiheit, S. 27; Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486.
Der Begriff der Willensbetätigung meint damit eine Verbindung des äußeren Akts des
Verhaltens mit einem mentalen Akt oder Phänomen (vgl. zu den Willensbegriffen
Giedrys, Enzyklopädie Philosophie, S. 1754 ff.). Einen Überblick zur Differenzierung
der Freiheiten gibt Weischedel, Skeptische Ethik, S. 123 ff. Die Trennung der Freiheits-
begriffe wird heute teilweise bewusst aufgegeben, so bei Walter, Neurophilosophie,
S. 24.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 27

1. Willensbetätigung und Selbstbewusstsein

Spricht man von einer Willensbetätigung, so impliziert dies – neben dem


hier zunächst zurückzustellenden Problem der Entsprechung von Tun und Wol-
len – eine Abhängigkeit des Verhaltens vom Willen. Dieser Zusammenhang,
„die Abhängigkeit unsers Thuns, das heißt unserer körperlichen Aktionen, von
unserm Willen,“8 wird bei Schopenhauer allerdings nur durch das Selbstbe-
wusstsein, also die innere Anschauung vermittelt: „Das Selbstbewußtsein sagt
die Freiheit des Thuns aus, – unter Voraussetzung des Wollens [...].“9 Diese
Abhängigkeit ist nach Schopenhauer wechselseitig. Der Wille geht dem Ver-
halten also nicht zeitlich voran, ist damit keine Voraussetzung für das Verhal-
ten im Sinne einer Ursache: „Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind
nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausali-
tät verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie
sind Eines und dasSelbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben:
ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand. Die
Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivierte, d.h. in die Anschau-
ung getretene Akt des Willens.“10 Darüber, wie der bewusste Wille zustande
kommt, der nach Schopenhauer kausal durch Motive der Außenwelt bestimmt
wird, kann das Selbstbewusstein keine Aussage treffen, weil dieser Bereich
nicht von ihm erfahren werden kann: „Also jene unleugbare Aussage des
Selbstbewußtseyns ,ich kann thun was ich will‘ enthält und entscheidet durch-
aus nichts über die Freiheit des Willens, als welche darin bestehen würde, daß
der jedesmalige Willensakt selbst, im einzelnen individuellen Fall, also bei
gegebenem individuellen Charakter, nicht durch die äußern Umstände, in denen
hier dieser Mensch sich befindet, nothwendig bestimmt würde, sondern jetzt
und so und auch anders ausfallen könnte. Hierüber aber bleibt das Selbstbe-
wußtseyn völlig stumm: denn die Sache liegt ganz außer seinem Bereich; da sie
auf dem Kausalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen be-
ruht.“11 „Sache des Selbstbewußtseyns ist allein der Willensakt, nebst seiner
absoluten Herrschaft über die Glieder des Leibes, welche eigentlich mit dem
,was ich will‘ gemeint ist.“12
Der Begriff der Selbstbestimmung bringt zum Ausdruck, dass der Mensch
seinen Willen und damit seine Handlungen als von ihm selbst, und zwar unab-

_________________
8
Schopenhauer, Ethik, S. 16.
9
Schopenhauer, ebd.
10
Schopenhauer, Welt, S. 119.
11
Schopenhauer, Ethik, S. 23.
12
Schopenhauer, Ethik, S. 17.
28 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

hängig von kausalen Bedingungen, verursacht erfährt.13 Wird er synonym mit


einem „starken Begriff“ der Willensfreiheit verwendet, dann spiegelt er das
verbreitete menschliche Selbstverständnis vom Willen als „causa sui“ wider,
als Verursacher seiner selbst und damit auch der nachfolgenden Handlung14; in
dieser Bedeutung reicht er über den bloßen Begriff der „Willensbetätigung“
hinaus, die zunächst nur irgendeinen Abhängigkeitszusammenhang zwischen
Willen und Verhalten impliziert. Sofern Handlungen in dieser Weise selbstbe-
stimmt sind, gelten sie daher allgemein als „frei“. Ein solcher Freiheitsbegriff
wird als „positiv“ oder „stark“ bezeichnet: Ersteres, weil es sich um eine Frei-
heit zu (und nicht nur von) etwas, nämlich zu Selbstbestimmung und Wahl
handelt, letzteres, weil er auf einer indeterministischen Weltsicht gründet und
deshalb ein Mehr, einen größeren Umfang an Freiheit bezeichnet, als sie in der
deterministisch geschlossenen Welt möglich zu sein scheint. Es gibt aber auch
„schwache“ Freiheitsbegriffe, die so formuliert werden, dass sie mit einem
deterministischen Weltbild in Einklang stehen oder damit kompatibel sind
(daher die Kennzeichnung „Kompatibilismus“ für philosophische Lehren dieser
Richtung).15 Einen solchen stellt der „negative Freiheitsbegriff“ dar, wie er
z. B. von Schopenhauer erläutert und verwendet wird.

2. Der negative Freiheitsbegriff bei Schopenhauer

Da das menschliche Erkenntnisvermögen nach Schopenhauer Veränderun-


gen in der Außenwelt immer als Wirkungen vorangegangener Veränderungen
auffasst16, existiert in der empirischen Welt nur kausale Notwendigkeit.17 Frei-
heit lässt sich daher allenfalls negativ, über die Abwesenheit von den (poten-
tiellen) Handlungsspielraum einschränkenden Faktoren erfassen.18 Einge-

_________________
13
So Pothast, JA 1993, S. 107; vgl. auch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 279;
ders., R. Lange-FS, S. 28. Zum „kausalen Moment“ in den Freiheitsbegriffen und der
„Selbst“-Bestimmung vgl. Tugendhat, Aufsätze, S. 334 ff.
14
Vgl. Geisler, S. 48; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 13 ff., u. Burkhardt:
„Von freier Selbstbestimmung zu sprechen, erscheint gerechtfertigt, weil der Mensch
über eine Art höherer Selbstkontrolle verfügt“ (Wille, S. 337).
15
Auf der Grundlage eines schwachen Freiheitsbegriffs wird teilweise versucht, De-
terminismus und Schuldvorwurf in Einklang zu bringen, s. dazu Fn. 25 und die Ausfüh-
rungen zu den Schuldlehren unten, S. 49 ff. und zu den Philosophen Bieri und Pauen,
S. 68 ff.
16
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 27 f.
17
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 93; ebenso Kant (s. oben, Fn. 6).
18
Ähnlich der Begriff der „äußeren Autonomie“ Tugendhats (s. Aufsätze, S. 335).
Nicolai Hartmann bezeichnet die Handlungsfreiheit denn auch als „eine Art ,äußerer‘
Freiheit“ (Ethik, S. 640).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 29

schränkt wird dieser Handlungsspielraum durch äußere oder innere Zwänge19,


zum Beispiel in Form von mechanischen Einwirkungen oder neurotischen
Ängsten.20
In physischem Sinne „frei“ sind also Menschen und Tiere, „wann weder
Bande, noch Kerker, noch Lähmung, also überhaupt kein physisches, materiel-
les Hinderniß ihre Handlungen hemmt“.21 Im intellektuellen Sinne „frei“ sind
sie dagegen, wenn die von außen einströmenden Motive unverfälscht, das heißt
in der Form, wie sie auch für andere wirksam sind oder sein könnten, auf den
Willen einwirken und nicht durch ein zerrüttetes Erkenntnisvermögen oder
einen Irrtum über die tatsächliche Beschaffenheit der Motive vom Intellekt dem
Willen falsch übermittelt werden.22 Inwieweit eine so verstandene negative
Freiheit die Grundlage für den strafrechtlichen Schuldspruch bilden kann, wird
später behandelt werden.23 Zunächst soll das Verhältnis der Handlungs- zur
Willensfreiheit ins Blickfeld gerückt werden.

3. Das Abhängigkeitsverhältnis von Handlungs- und Willensfreiheit

Stützt man sich auf das Verständnis Schopenhauers von der Handlungsfrei-
heit, so stellt sich die Frage, ob mit der Annahme derselben bereits eine Aussa-
ge über die Willensfreiheit getroffen wird. Wäre diese Handlungsfreiheit so-
wohl mit dem Denkmodell der Deterministen als auch mit dem der Indetermi-
nisten vereinbar und wäre sie zudem eine ausreichende Grundlage für die Zu-
schreibung von Schuld, dann könnten die mit der Willensfreiheit zusammen-
hängenden Beweisschwierigkeiten im Strafrecht mithilfe des Freiheitsbegriffs
Schopenhauers unter Umständen umgangen werden. Dazu dürfte die Hand-
lungsfreiheit aber die Freiheit der Willensbildung weder notwendig ein- noch
ausschließen. Denn eine so verstandene Handlungsfreiheit kann nur dann in ein
für Deterministen und Indeterministen gleichermaßen akzeptables Denkmodell
integriert werden, wenn sie die Frage der Willensfreiheit offenlässt.
So formuliert Engisch: „Das Freiheitsbewußtsein stellt sich in erster Linie
ein als Bewußtsein der Handlungsfreiheit, als Bewußtsein, tun zu können, was
_________________
19
Zur Problematik des Begriffs des „Zwanges“ vgl. Schlick, S. 160.
20
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 4 f. u. 99 ff.; s. auch Pothast, JA 1993, S. 106;
Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 8; Tiemeyer, GA
1986, S. 208; Geisler, S. 82; zur Problematik auch Streng, ZStW 101 (1989), S. 279 f.;
zur Analogie empirisch und normativ umgrenzter Handlungsspielräume Philipps, Hand-
lungsspielraum, S. 15 ff., 101 ff.
21
Schopenhauer, Ethik, S. 4.
22
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 99.
23
Dazu unten, S. 340.
30 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

man will. Daß es in dieser Gestalt für das Problem der Willensfreiheit nichts
beweist, ist spätestens seit Schopenhauer gesicherte Erkenntnis.“24 Pothast sieht
die Handlungsfreiheit im Vergleich zur Freiheit des Willens als entscheidend
schwächer bestimmt an. Denn unabhängig von einem deterministischen oder
indeterministischen Standpunkt soll der Mensch, soweit ihn keine äußeren
Faktoren behindern, grundsätzlich in der Lage sein, sein Verhalten seinem
Willen gemäß zu bestimmen. Ob dieser Wille frei oder unfrei zustande ge-
kommen ist, soll hierfür zunächst nicht entscheidend sein.25
Nun wurde bereits aufgezeigt, dass das Selbstbewusstsein nach Schopenhau-
er hinsichtlich des zeitlich vor dem Willen Liegenden keine Auskünfte zu ge-
ben vermag. Auch der Wille selbst offenbart sich in jedem Augenblick erst über
das Tun. Das Selbstbewusstsein erfährt den Willen also erst a posteriori, näm-
lich durch die Tat.26 Insoweit ist die Handlungsfreiheit lediglich ein auf die
Zukunft gerichtetes inneres Erleben eines unbeschränkten Handlungsspielrau-
mes. Da sich der Wille durch die Tat erst offenbart, ist er jedoch durch diese
auch bestimmt. Hieraus folgt, dass es in jedem Augenblick nur einen Willen
gibt.27 Die Überlegungen Schopenhauers lassen damit für eine dem Individuum
zur Verfügung stehende Willensfreiheit keinen Raum, mag auch das Selbstbe-
wusstsein nicht wissen, durch welche Motive Wille und Tat bestimmt werden
_________________
24
Engisch, Willensfreiheit, S. 63.
25
Siehe Pothast, JA 1993, S. 106; ders., Schwächen, S. 141 ff. Zustimmend und
weitergehend insoweit, als dieser „schwache Freiheitsbegriff“ für die strafrechtliche
Schuld eine ausreichende Grundlage bilden soll, Koriath, Zurechnung, S. 604 bis 611 u.
670. Ähnlich Nicolai Hartmann, Ethik, S. 640, Kantorowicz, Tat und Schuld, S. 11, u.
Bockelmann, ZStW 75 (1963), S. 375 f. Anders Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 553.
Keine unmittelbare Abhängigkeit zwischen Willens- u. Handlungsfreiheit erkennt Mez-
ger: „[...] so ist es gleichgültig, ob der Wille nun in seinem Bereich frei oder unfrei sei.
So oder so kann er auf Körperliches einwirken“ (Über Willensfreiheit, S. 7). Entspre-
chend sieht auch Lampe in der Handlungsfreiheit „im wesentlichen eine Frage der
Kraft“ (ZStW 79 [1967], S. 487). Anders die Folgerung Fristers: „[...] daß ein von der
Idee der Willensfreiheit zu unterscheidender Begriff der Fähigkeit zur Antriebsunter-
drückung nicht definiert werden kann“ (MschrKrim 1994, S. 318). Kritisch zum Rück-
zug auf die Handlungsfreiheit auch Kelsen, Rechtslehre, S. 100. Vgl. außerdem Roxin:
„Und wenn man die Willensfreiheit als solche bejahen wollte, wäre die im Prozeß aus-
schlaggebende Frage, ob dieser bestimmte Mensch in dieser konkreten Situation anders
hätte handeln können, damit noch nicht bejaht; sie ist, wie führende Psychiater und
Psychologen unumwunden aussprechen, mit wissenschaftlichen Mitteln überhaupt nicht
zu beantworten“ (JuS 1966, S. 378).
26
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 18.
27
Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 18 f.; ähnlich Nicolai Hartmann zur Handlungsfrei-
heit: „Sie setzt also den Willen einschließlich seiner Richtungsbestimmtheit schon vor-
aus“ (Ethik, S. 639). Und Dreher verweist darauf, dass sich der Nachweis der Unfreiheit
des Willens für Schopenhauer bereits aus seiner Definition der Freiheit ergibt (s. Wil-
lensfreiheit, S. 86).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 31

und sich damit hinsichtlich eines zukünftigen Tuns frei fühlen. Aus diesem
Erleben offener Möglichkeiten erwächst ein Irrtum über die tatsächliche Mög-
lichkeit eines Anders-handeln-Könnens, den Schopenhauer mit einer Parabel
veranschaulicht. Man solle sich einen Menschen denken, der, auf der Gasse
stehend, zu sich sagt: „Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich
kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehen; ich
kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch
ins Theater gehn; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja,
ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkom-
men. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch
davon jetzt nichts, sondern gehe so freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.“ Das
sei nach Schopenhauer gerade so, als wenn das Wasser spräche: „Ich kann hohe
Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und im Sturm), ich kann reißend hinab-
eilen (ja! nämlich im Bette des Strohms), ich kann schäumend und sprudelnd
hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft
steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und
verschwinden (ja! bei 80° Wärme); tue jedoch von dem Allen jetzt nichts, son-
dern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.“ Wie das Wasser
so könne auch der Mann dieses oder jenes nur tun, wenn die Bedingungen für
das eine oder andere einträten. „Bis die Ursachen eintreten, ist es ihm unmög-
lich: dann aber muß er es, so gut wie das Wasser, sobald es in die entsprechen-
den Umstände versetzt ist.“28 Eine in diesem Sinne verstandene Handlungsfrei-
heit passt also mit einer indeterministischen Weltsicht nicht zusammen. 29 Sollte
sie eine ausreichende Grundlage für den strafrechtlichen Schuldvorwurf bilden,
dann müsste dieser mit einem deterministischen Weltbild vereinbar sein.

4. Folgerungen mit Blick auf deren rechtliche Relevanz

Die Schuldausschließungsgründe des § 20 StGB30 weisen zunächst eine


Ähnlichkeit zur Schopenhauerschen Negativdefinition verminderter intellektu-
eller Freiheit auf, worunter insbesondere Affekt und Rausch fallen. Mit der
Formulierung „nach dieser Einsicht zu handeln“ wird jedoch auch ein Zusam-
menhang zwischen dem Verhalten und einer bewussten Vorstellung, der Un-
rechtseinsicht, hergestellt. Die Fähigkeit des Menschen, sein Handeln durch
Vorstellungen zu bestimmen, wird also vorausgesetzt. Die bei Schopenhauer

_________________
28
Schopenhauer, Ethik, S. 42.
29
Schopenhauer selber räumt der Willensfreiheit einen gewissen Platz ein (s. unten,
S. 46); da sie aber zu keinerlei Wahl, Kontrolle oder dergleichen befähigt, bleibt sie im
Ganzen metaphysisch.
30
Siehe oben, Fn. 1.
32 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

lediglich durch das Selbstbewusstsein vermittelte Abhängigkeit des Tuns vom


Willen wird hier zu einem gerichtlich feststellbaren Merkmal der Schuld.
Während die Abwesenheit von Zwängen, unabhängig davon, ob diese psy-
chischer oder physischer Natur sind, sich prinzipiell von außen und damit „ob-
jektiv“ bestimmen lässt, kann die Aussage „ich kann tun, was ich will“ zu-
nächst nur aus der subjektiven Perspektive des Individuums als „Freiheit“ ver-
standen werden. Neben der Frage, inwieweit die negative Freiheit im Sinne
Schopenhauers, also die Abwesenheit von Zwängen, eine ausreichende Grund-
lage für den Schuldspruch des Strafrechts bilden kann, wird also auch zu klären
sein, ob eine nur dem Selbstbewusstein zugängliche Freiheit die für einen
Schuldvorwurf notwendigen Voraussetzungen erfüllt.31
Da letztere eine subjektiv erlebte Freiheit darstellt und damit in Bezug auf
ihre empirische Zugänglichkeit zunächst Ähnlichkeiten mit der Willensfreiheit
aufweist, drängt sich außerdem die Überlegung auf, welche Auswirkungen auf
das Freiheitsproblem ein „Gegenbeweis“, also der Nachweis der Nichtexistenz
der Handlungsfreiheit, nach sich ziehen würde. Dazu ist es erforderlich, zu-
nächst zu klären, worauf sich ein solcher Beweis beziehen müsste. Sicherlich
ginge es nicht darum, einer Person ihr Erleben streitig zu machen. Erlebt sie
indes einen Zusammenhang der Abhängigkeit ihres Tuns von ihrem Willen,
also diesen als notwendige Voraussetzung ihres Handelns, dann bestünde, da
dieser Zusammenhang objektiver Art wäre, natürlich die Möglichkeit, eine
solche Ursächlichkeit zu bezweifeln und gegebenenfalls zu widerlegen. Einer
konkreteren Erläuterung bedarf es hierzu an dieser Stelle noch nicht; was hier
aufgezeigt werden soll, ist vielmehr nur die Rückwirkung eines solchen Aus-
schlusses der Ursächlichkeit auf die Frage der Willensfreiheit: Entfiele der
Zusammenhang zwischen Wille und Tun, dann wäre nicht ersichtlich, wie sich
eine Freiheit des Willens im äußeren Verhalten sollte niederschlagen können.32
Die Problematik der Willensfreiheit könnte als solche dann dahingestellt blei-
ben. Schopenhauer ist davon ausgegangen, dass der Wille nicht ursächlich auf
das Verhalten einwirkt.33 Weil das subjektive Erleben aber den Eindruck einer
freien Wahl zwischen Handlungsalternativen vermittelt und damit den einer
Möglichkeit der Beeinflussung des Verhaltens in der einen oder anderen Weise
durch eine Entscheidung, lädt es regelrecht dazu ein, den Willen als Instanz
aufzufassen, die auch tatsächlich und nicht nur vermeintlich zwischen Hand-
_________________
31
In diese Richtung weisen die Überlegungen Burkhardts, Lenckner-FS, S. 22 ff.
32
Das Problem der Abhängigkeit wird dagegen regelmäßig anders herum angegan-
gen. Gäbe es keine Willensfreiheit, entfiele auch die Handlungsfreiheit (vgl. Tiemeyer,
GA 1986, S. 208). Vgl auch Weischedel: „Die ethischen Probleme stellen sich nur dann,
wenn dem Menschen grundsätzlich Handlungsfreiheit zukommt; diese ist somit eine
Voraussetzung der Ethik“ (Skeptische Ethik, S. 124).
33
Vgl. oben, S. 27.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 33

lungsalternativen wählen kann. Damit wird die Willensbetätigung aber nicht


nur zum Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt34, sondern auch mit star-
ken metaphysischen Annahmen verknüpft. Aus dem philosophischen Gerüst
einer Handlungsfreiheit im Sinne Schopenhauers lässt sich eine tatsächlich
existierende Ursächlichkeit des Willens jedenfalls nicht ableiten; ein Schuld-
vorwurf, der eine solche Ursächlichkeit voraussetzt, kann daher auf diesen
Freiheitsbegriff auch nicht gestützt werden. Vielmehr bildet diese Art der Frei-
heit eine recht unsichere Grundlage für das Anliegen einer Verständigung von
Deterministen und Indeterministen in der Frage der Legitimation des Schuld-
vorwurfs.
Neben dem Schuldbegriff spielt der Handlungsbegriff eine tragende Rolle in
der Strafrechtswissenschaft. Anknüpfungspunkt ist hierbei das konkrete Ver-
halten. Dieses Verhalten wird auf den Willen der Person zurückgeführt35, denn
Verhalten, das nicht willensveranlasst ist, wird im Recht üblicherweise nicht als
Handlung qualifiziert. Damit wird die Möglichkeit willentlicher Verhaltens-
steuerung zur Voraussetzung des Handlungsbegriffs und die Freiheitsproblema-
tik bereits hier berührt.36
Nimmt man etwa die Behauptung Achenbachs, Strafbegründungsschuld und
Schuldidee ließen sich voneinander trennen, da der Begriff der Schuld in der
Rechtsanwendung keine Entscheidung hinsichtlich der Determinismus-/Inde-
terminismusdiskussion präjudiziere37, so ist mit Blick auf die Handlungsfreiheit
und deren Verhältnis zur Willensfreiheit jedenfalls fraglich, ob nicht über den
Handlungsbegriff und die Formulierung des § 20 StGB doch wesentliche Vor-
aussetzungen der Schuldidee auch zu Voraussetzungen der Strafbegründungs-
schuld werden. Insbesondere für das Verhältnis von Handlung und Schuld lässt
sich sagen, dass es eine hinreichende Unabhängigkeit der beiden Problemstel-
lungen erforderte, wollte man das Problem der Handlungsfreiheit nur im Hand-
lungsbegriff, die Frage der Willensfreiheit dagegen allein in der Schuld ansie-
deln. Hiergegen spricht aber, dass jedenfalls ein deterministisches Verständnis
von Handlungsfreiheit, wie es von Schopenhauer beschrieben wird, bereits eine
negative Aussage zur Willensfreiheit enthält und damit an sich keine Voraus-
setzung für einen indeterministisch verstandenen Schuldbegriff bilden kann.
Die Frage, ob über die Integration der Handlungsfreiheit in den Deliktsauf-
bau bereits im Vorfeld der Schuldfrage entschieden wird, ist mithin maßgeblich
davon abhängig, wie der Handlungsbegriff des Strafrechts verstanden wird.
_________________
34
Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 19.
35
Vgl. auch die Ausführungen zur „Imputativitas“ Pufendorfs in Sellert/Rüping, Ge-
schichte, S. 352 ff.
36
Vgl. auch Tiemeyer, GA 1986, S. 214.
37
Siehe Achenbach, Grundlagen, S. 7.
34 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Eine Untersuchung hierzu wird deshalb einen Bestandteil des zweiten Teils
dieser Arbeit bilden. Zunächst soll jedoch die Diskussion im Strafrecht um die
Probleme des Freiheitsbegriffs kurz dargestellt werden.

II. Die rechtliche Diskussion des Freiheitsbegriffs im Überblick

Dass es sich bei dem Freiheitsproblem im Strafrecht zuvörderst um eine Fra-


ge der persönlichen Überzeugung handelt, zeigt sich an der Vehemenz, mit der
um seine Lösung gestritten wird. Dadurch haben über lange Zeit nicht Erkennt-
nisse die Diskussion geprägt, sondern die Weltanschauungen der Diskutieren-
den. Diese Herangehensweise kennzeichnet schon den sogenannten „Schulen-
streit“38 um die Wende zum 20. Jahrhundert und erstreckt sich bis in die Ge-
genwart.
Nachdem sich Anfang des 20. Jahrhunderts noch deterministische und inde-
terministische Weltbilder gegenüberstanden, setzte sich mit zunehmendem
Einfluss erfahrungs- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Strafrecht
eine eingeschränkte oder „relative“ indeterministische Sicht der Dinge durch.39
Dabei wurden von Rechtswissenschaftlern auch Beispiele aus der Physik he-
rangezogen. So gilt das von Newton geprägte mechanische Weltbild wegen
seiner strengen Kausalität als klassisches Beispiel für den Determinismus40,
während die Atomphysik, insbesondere die Unschärferelationen der Quanten-
physik, gerne von Vertretern des Indeterminismus herangezogen werden.41 Der
Begriff des Indeterminismus ging seither mit dem Kriterium der prinzipiellen
Unvorhersehbarkeit einher, weil sich im Bereich mikrophysikalischer Ereignis-
se zwar notwendige Bedingungen für den Eintritt einer Wirkung benennen
lassen, nicht jedoch hinreichende. Der Determinismus lehnte sich im Bereich
menschlichen Verhaltens an die strenge Kausalität, also die prinzipielle Mög-
lichkeit der Benennung von hinreichenden Bedingungen für eine Wirkung und
der daraus resultierenden prinzipiellen Vorhersehbarkeit der Wirkung an.42
Die eingeschränkt indeterministische Sicht im Strafrecht erkennt an, dass der
Mensch bereits aufgrund seiner Erbfaktoren und seiner psychischen Konstitu-
_________________
38
Vgl. dazu Engisch, Willensfreiheit, S. 6 ff.; vgl. auch unten, S. 51.
39
Vgl. die Ausführungen Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 484 m. N.
40
Vgl. Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 492.
41
Dazu Engisch, Willensfreiheit, S. 17 und Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 10.
42
Hierzu bemerkt Walter, dass auch die Definition des Determinismus von Popper,
die dazu führte, dass Vorhersagbarkeit und Determinismus oft als Synonyme verwendet
wurden, bereits durch Instabilitäten in der klassischen Physik entkräftet werden konnte,
es hierzu also der Erkenntnisse der Quantenphysik nicht bedurft hätte (s. Neurophiloso-
phie, S. 38); vgl. auch Pothast, Freiheitsbeweise, S. 177.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 35

tion43 in seiner Möglichkeit zur „Überdetermination“, das heißt in der Befähi-


gung zur Beeinflussung naturkausaler Abläufe durch Willensakte, jedenfalls
eingeschränkt ist.44 Auf der anderen Seite lösen sich die Deterministen von der
Vorstellung der prinzipiellen Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens. Hier
setzt sich die Auffassung eines „Augenblicksdeterminismus“ durch.45 Hinzu
kommt, dass „Freiheit“ nicht nur in mikrophysikalischen Bereichen gesucht
wird und dass sie jedenfalls nicht im Computertomographen, also mit einem
Blick ins Gehirn, zu finden wäre, sondern vielfach ausschließlich in der Innen-
welt, der Welt des subjektiven Erlebens des Individuums, verankert wird. Un-
_________________
43
Der Gesetzgeber macht insoweit bereits die Überprüfung der Voraussetzungen für
die Schuldfähigkeitsfeststellung von der Psychologie, bzw. Psychiatrie und Medizin
abhängig. Vgl. hierzu Albrecht, GA 1983, S. 203 ff.; Lackner, Kleinknecht-FS, S. 263;
Schreiber, Schuld und Schuldunfähigkeit im Strafrecht, S. 73; Schünemann, GA 1986,
S. 298; Haddenbrock, JR 1991, S. 226; ders., MschrKrim 1996, S. 51, dazu Geisler,
S. 73 ff. Zu den dennoch bestehenden Unterschieden in der Urteilsfindung vgl. Salger,
Tröndle-FS, S. 206.
44
Siehe Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 71; Dreher, Willensfreiheit, S. 396; ders.,
Spendel-FS, S. 14 ff.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 280 ff.; vgl. auch Mangakis,
ZStW 75 (1963), S. 500 ff.; Nowakowski, Rittler-FS, S. 56. Den ursprünglichen „Gna-
denstoß“, so Jellinek, hat der Theorie von einer absoluten Willensfreiheit allerdings die
Kriminal- bzw. damals noch „Moralstatistik“ versetzt (s. Jellinek, Bedeutung, S. 67).
Die Statistik zeigte nämlich, dass die Häufigkeit kriminellen Verhaltens relativ konstant
ist, was sich mit der Vorstellung, dass sich jeder Verbrecher wirklich „frei“ für das
deliktische Verhalten entscheidet – dies müsste eigentlich sprunghafte Wechsel in der
Häufigkeit nach sich ziehen –, schwer zu vereinbaren ist. Dezidiert ablehnend gegenüber
einem „relativen Indeterminismus“ Spilgies, Rechtstheorie 30 (1999), S. 530 ff.; ders.,
Bedeutung, S. 40 ff.; ders., HRRS 2005, S. 46.
45
Vgl. Dreher, ZStW 95 (1983), S. 341. Hier ist insbesondere Kargls „Strukturde-
terminismus“ zu nennen (vgl. dazu unten, S. 62 ff.). Manfred Danner hatte daneben
bereits in den sechziger Jahren den Begriff des „psychologischen Determinismus“ ge-
prägt (Gibt es einen freien Willen?, S. 7 ff.). Die Idee, der Mensch sei zwar in seinem
Wollen nicht frei, dieses Wollen sei jedoch nicht im streng deterministischen Sinne das
Ergebnis einer zwingenden Kausalkette, ist damit nicht neu (vgl. in Bezug auf Danner
auch Kargl, Handlung und Ordnung, S. 195 Fn. 146). Entscheidend ist, dass es aufgrund
der „Unbeweisbarkeit der autogenen Entstehung von Gefühlen“ (Danner, ebd., S. 27)
zur Kritik an Danners These ausreichte, von sich selbst zu behaupten, das (unwiderleg-
liche) „Gefühl“ oder den (unwiderleglichen) „Eindruck“ zu haben, dass man seine Ge-
fühle sehr wohl seinem Verstand unterordnen könne (so im Wesentlichen Dreher in
seiner Kritik an Danner, ZStW 95 [1983], S. 361; vgl. zu dieser Art der Argumentation
Petersen, Willensfreiheit, S. 136 ff.). Kritisch hierzu auch Arthur Kaufmann, JZ 1967,
S. 553, der die Problembetrachtung für verkürzt hält. Die neurobiologischen Erkenntnis-
se, auf denen Kargls Konzepte zu einem Teil basieren, bedürfen dagegen einer weit
fundierteren Kritik. Stellungnahmen hierzu liegen, soweit ersichtlich, nur mit ablehnen-
der Tendenz von Gössel, GA 1993, S. 132 ff., u. von U. Neumann vor, der hierin die
Möglichkeit eines neuen Modells für die empirische Fundierung der Strafrechtswissen-
schaft erblickt, jedoch hervorhebt: „Wieweit das Modell der Kognitionsbiologie hier im
einzelnen trägt, ist – für mich – noch nicht abzuschätzen“ (ZStW 106 [1994], S. 210).
36 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

terscheidet man aber auf diese Weise die Betrachter- (oder „dritte-Person-“)
von der Innen- (oder „erste-Person-“)Perspektive, so ergeben sich Spielräume
für „kompatibilistische“ Freiheitstheorien, die trotz „äußerer Determination“
eine „innere Freiheit“ begründen wollen. Es ist also eine Tendenz zu beobach-
ten, in deren Verlauf sich die Grenzen zwischen Determinismus und Indetermi-
nismus mehr und mehr verwischen46, die neuen Inhalte vielleicht den ursprüng-
lichen Bedeutungen der Begriffe nicht mehr entsprechen.

1. Positive Freiheit in der Außenperspektive?

Eine „positive“ Freiheit zur Wahl bedarf einer offenen Zukunft. Ist der je-
weils nächste Zustand durch den vorangegangenen bereits hinreichend be-
stimmt, dann entfällt jede reale Möglichkeit einer Wahl. Indizien für eine of-
fene Zukunft meinen einige aus den Erkenntnissen der Mikrophysik gewinnen
zu können. Bei dem Verweis auf die heisenbergschen Unschärferelationen47
wird aber oft übersehen, dass zwar der Ort eines einzelnen Elektrons nicht
bestimmbar ist48, es aber möglich ist, diesbezüglich Wahrscheinlichkeiten an-
zugeben.49 Auch diese können aber Grundlage für Kausalitätsfeststellungen
sein. Es handelt sich dabei freilich um ein Kausalitätsverständnis, das sich von

_________________
46
Vgl. auch Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 7. Eingehend auf die unterschied-
lichen Freiheitsdefinitionen Moritz, ARSP 58 (1972), S. 14 ff. Mit dieser Problematik
unmittelbar konfrontiert sieht sich beispielsweise die Chaostheorie, vgl. dazu Walter,
Neurophilosophie, S. 193 ff.
47
Will man den Ort eines Elektrons bestimmen, dann muss man es mit Licht, beste-
hend aus Photonen, bestrahlen. Weil Licht nach der Quantentheorie nicht stetig, sondern
in Quanten strahlt, wird das Bild vom Elektron bei geringer Bestrahlung ungenau. Für
eine größere Genauigkeit ist also eine Erhöhung der Quantenzahl erforderlich. Dies
führt aber dazu, dass das Elektron durch die auftreffenden Photonen so sehr aus seiner
Bahn gelenkt wird, dass sich sein Ort nicht mehr bestimmen lässt. Es entsteht eine Un-
schärfe (sog. Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, s. Heisenberg, Physik,
S. 28 ff., 31). Während man also am Billiardtisch nach den Regeln der Makrophysik
weiterhin erwarten kann, dass die angestoßene Kugel an einem bestimmten Punkt auf-
trifft, lässt sich dieser Punkt beim Elektron durch die Unschärfe nicht bestimmen.
48
Die diesbezügliche Kritik Tiemeyers an Dreher (s. ZStW 105 [1993], S. 505)
vermag indes nicht zu überzeugen, denn die Heisenbergsche Unschärfe- oder Unbe-
stimmtheitsrelation bezieht sich auf eine Zustandsbeschreibung eines Elektrons zu ei-
nem konkreten Zeitpunkt. Die hierfür erforderliche Aufenthaltsbestimmung des Elek-
trons ist aber gerade von seinem Impuls abhängig, der wiederum durch die Präzisierung
der Messapparatur selbst beeinflusst wird (s. oben, Fn. 47). Die Annahme Tiemeyers,
man könne die Lage eines Elektrons mit „absoluter Präzision“ bestimmen, ist insofern
physikalisch unrichtig.
49
Vgl. hierzu auch Mezger, Über Willensfreiheit, S. 16.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 37

demjenigen des strengen Determinismus unterscheidet.50 Dazu sei zweierlei


angemerkt: Verfehlt ist zunächst jede Deutung dieser Dinge, die auf einen
handlungspraktischen Fatalismus hinausläuft, wie er sich etwa in der Behaup-
tung ausdrückt, man müsse angesichts der kausal geschlossenen Welt und einer
deshalb determinierten Zukunft keinerlei eigene Anstrengungen mehr unter-
nehmen, ja könne dies nicht einmal sinnvoll.51 Darin steckt, neben anderen
Fehlern, ein Selbstwiderspruch. Denn dieser Verzicht setzt seinerseits eine
Entscheidungsmöglichkeit voraus, die dem Fatalisten auf der Grundlage seiner
Prämisse gerade nicht zukommen kann. Der Weltverlauf kann schließlich nicht
vollständig festgelegt sein, wenn nicht auch so wichtige Begebenheiten wie
einzelne menschliche Bewegungen mitsamt ihren Folgen festgelegt sind. Inso-
fern ist es dem Fatalisten auf der Basis seiner Voraussetzung nicht möglich,
sich Handlungen zu ersparen (also wirklich Fatalist zu sein), denn wäre es dies,
so befände er sich schon nicht mehr in einer streng determinierten Welt.
Es erscheint aber ohnehin mehr als zweifelhaft, dass sich aus einer Antwort
auf die Frage, ob menschliches Verhalten von mikrophysikalischen Wahr-
scheinlichkeiten oder von makrophysikalischer Kausalität abhängt, auch die
Grundlagen für eine Bestimmung hinreichender Bedingungen künftigen Ver-
haltens gewinnen ließen. Anzunehmen ist vielmehr, dass der Mensch schon
aufgrund der Begrenztheit seiner Wahrnehmung nicht in der Lage sein wird,
die auf ihn wirkenden Faktoren jemals vollständig zu erfassen, abgesehen da-
von, dass auch diese einem ständigen Wandel unterliegen.52 Auch in der mi-
krophysikalischen Gegenwart lassen sich aber jedenfalls Wahrscheinlichkeiten
bezüglich zukünftiger Ereignisse angeben. Das Eintreten des Ereignisses lässt
sich insoweit kausal auf seine notwendigen (wenngleich nicht hinreichenden)
Bedingungen zurückführen.53 Von einer echten Form des Indeterminiertseins
_________________
50
Eingehend Heisenberg, Naturbild, S. 24 ff.; vgl. auch Rudolphi, der jedoch fol-
gert: „Denknotwendige Voraussetzung der Möglichkeit aller Naturwissenschaften ist
mithin der Determinismus“ (Unrechtsbewußtsein, S. 11), was in Anbetracht der natur-
wissenschaftlichen Chaos- und Emergenztheorie jedenfalls nicht für eine etwaige Vor-
hersagbarkeit gilt, dazu Walter, Neurophilosophie, S. 207 ff.
51
Vgl. dazu Kargl: „Der Fatalist braucht seine Handlungen nicht mehr vor sich oder
anderen zu rechtfertigen. Er kann sich überdies unangenehme und schwierige Handlun-
gen ersparen, da sich der Weltlauf gegen die eigenen Bemühungen durchsetzen wird.
Damit räumt sich der Fatalist die Möglichkeit ein, seinen Handlungsspielraum gegen
Null zu deuten“ (Handlung und Ordnung, S. 177); ähnlich Hörnle/v. Hirsch, GA 1995,
S. 276; dagegen zutreffend Geisler, S. 117 ff.
52
Eine Ausnahme bildet insoweit das klinische Experiment, welches jedenfalls eine
Reduktion der beeinflussenden Faktoren erlaubt.
53
Vgl. die Bedenken Engischs, die mikrophysikalischen Erkenntnisse auf den geis-
tig-seelischen Bereich anzuwenden (Willensfreiheit, S. 19); ähnlich Mezger, Über Wil-
lensfreiheit, S. 19. Anders Reinelt, der offenbar keine Schwierigkeiten erkennt (s. NJW
2004, S. 2793 f.).
38 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

kann deshalb noch keine Rede sein.54 Unvorhersehbarkeit impliziert noch keine
Freiheit.
Eine gewisse Veranschaulichung mag sich dem sogenannten Milgram-
Experiment entnehmen lassen. Hier hatten 37 von 40 Versuchspersonen einem
vermeintlich Lernunwilligen nach ihrer eigenen Ansicht potentiell tödliche
Stromstöße zuteil werden lassen, nachdem vorgeblich gleich- beziehungsweise
höherrangige Versuchspersonen ihnen dies vorgemacht hatten.55 Würde man 40
Hunde auffordern, durch einen Reifen zu springen, an dessen anderer Seite sie
Futter erwartet, dann würden vielleicht auch drei der Hunde nicht springen,
vermutlich weil sie entweder gerade gefressen haben, grundsätzlich träge sind
oder schlechte Erfahrungen mit Reifen gemacht haben. Man würde jedoch die
jeweilige menschliche Entscheidung (zum Stromstoß) als „frei“ bewerten, die
tierische (zum Reifensprung) hingegen nicht, obwohl in beiden Fällen lediglich
experimentelle und noch dazu ungefähr gleiche Wahrscheinlichkeiten vorlie-
gen, also weder die Entscheidung der Hunde noch die der Menschen im Einzel-
fall vorhersehbar ist. Die Freiheitsfrage ist also mit der Frage der Vorherseh-
barkeit im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten nicht gleichzuset-
zen. Was dagegen ein gedachtes allwissendes Wesen – der berühmte Laplace-
sche Dämon – vorhersehen könnte, kann nur Gegenstand von Gedankenexpe-
rimenten, nicht aber empirischer Überprüfung sein.
Unklar ist allerdings, ob der Ort eines einzelnen Elektrons nicht nur unbe-
stimmbar, sondern auch ontologisch unbestimmt ist. Nimmt man das letztere
an, wie dies wohl die große Mehrzahl der heutigen Physiker tut, so ließe sich
auch hieraus für eine positive Freiheit nur wenig gewinnen. Liefen die Vorgän-
ge im Gehirn im Modus mikrophysikalischer Indeterminiertheit ab, so wäre
dies nur dann für die Freiheitsfrage relevant, wenn der menschliche Wille gera-
de auf diese Vorgänge einwirken und sie so zu Produkten seines eigenen Wir-
kens machen könnte. Denn Zufälligkeiten ohne Steuerung (und dies genau
macht ja das Indeterminierte aus) begründen noch keine Freiheit. Andernfalls
müsste man zumindest auch tierisches Verhalten frei nennen. Wir wissen aber
weder, ob die Gesetze der Quantenphysik im Gehirn überhaupt zum Tragen

_________________
54
Zum Verständnis von Kausalität auch Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508;
Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 514, und Kelsen: „Die Kausalität ist gleichsam eine
periphere und nicht – wie das Vergeltungsprinzip – eine zentrale Verknüpfung von
Tatbeständen. Der letzte Rest, der mit dem Vergeltungsprinzip als Deutungsschema
verknüpften anthropo- oder richtiger: soziozentrischen Naturbetrachtung, das ptole-
mäische Weltbild mit der menschlichen Erde als Mittelpunkt, wird mit der Restauration
des kausalen Denkens in der kopernikanisch-keplerschen Astronomie überwunden“
(Vergeltung und Kausalität, S. 280).
55
Dazu Kargl, Funktion, S. 56.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 39

kommen56, noch können wir erklären, wie es etwas Immateriellem wie dem
Willen möglich sein soll, auf Materielles einzuwirken.57 Gerade dieser letztere
Einwand bringt alle indeterministischen Positionen, die sich auf die Lehren der
Quantenmechanik stützen, in eine Erklärungsnot, aus der zurzeit keinerlei
Ausweg erkennbar ist. Denn, so ließe sich formulieren, unabhängig davon, ob
sich im menschlichen Verhalten mikrophysikalische Wahrscheinlichkeiten oder
makrophysikalische Gesetzmäßigkeiten auswirken, ist jedenfalls nicht ersicht-
lich, wie der Mensch in der Lage sein sollte, diese Abläufe mit seinem Willen
zu steuern.
Die Frage von Determinismus und Indeterminismus reduziert sich, soweit
man sich für eine Antwort auf die Naturwissenschaften beruft, im Wesentlichen
auf die Festlegung eines bestimmten Verständnisses von Kausalität. Im Übri-
gen wird sie in einen unzugänglichen Bereich der Metaphysik entrückt, dann
nämlich, wenn es darum geht, was es außerhalb jeder möglichen menschlichen
Wahrnehmung noch geben mag. Die Fragen nach der Urheberschaft menschli-
chen Wollens und der Intelligibilität menschlichen Verhaltens sind schon aus
diesem Grunde naturwissenschaftlich nicht abschließend zu klären. Sie wären
aber auch bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit einem deterministi-
schen oder indeterministischen Standpunkt nicht notwendig bereits beantwor-
tet.58 Die simplen Begriffsketten „Determinismus – Unfreiheit – Vorhersehbar-
keit“ und „Indeterminismus – Freiheit – Unvorhersehbarkeit“ sind im Ganzen
nicht haltbar; der Zusammenhang zwischen den Begriffen ist wesentlich kom-
plexerer Natur.

2. Probleme eines Begriffs des subjektiven Freiheitserlebens

Das allseits bekannte Phänomen einer natürlichen Reduktion von Hand-


lungsmöglichkeiten aufgrund von Erbanlagen, psychischen oder physikalischen
Einwirkungen hat jedoch im Hinblick auf den Freiheitsbegriff auch zu einer
Abkehr von den empirischen Wissenschaften geführt.59 So lehnt Grasnick das
_________________
56
Eccles bemühte sich um den Nachweis quantenphysikalischer und insoweit inde-
terminierter Vorgänge im Gehirn (s. Selbst, S. 116 ff.); vgl. dazu mit ablehnender Hal-
tung Roth, weil man davon ausgehen könne, dass sich diese indeterminierten Mikrophä-
nomene im Makrobereich, und zwar bereits auf der Ebene kleiner neuronaler Netzwerke
völlig zu determiniertem Systemverhalten ausmittelten (s. Fühlen, Denken, Handeln,
S. 508 ff.).
57
Dazu auch unten, S. 294.
58
Im Ergebnis ebenso Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 492 ff. u. 522. Zum Span-
nungsfeld von Freiheit und Determination Holl, Freiheit, S. 419 ff. Vgl. auch Mezger,
Schuld und Persönlichkeit, S. 23 f., der sozialphilosophische Schlüsse ableitet.
59
Dies wird deutlich bei Jellinek, Bedeutung, S. 72; vgl. auch Vaihinger, Als Ob,
S. 573. Differenzierend Mezger in Bezug auf den Indeterminismus: „Für ihn spricht
40 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Verständnis von Handlungsfreiheit als Handlungsspielraum aus der Außenper-


spektive ab und rückt an dessen Statt den Aspekt des „inneren Empfindens“
von Freiheit im Sinne des Erlebens einer Willensbetätigung in den Vorder-
grund.60 Griffel ist der Meinung, es sei nicht zu sehen, „wie es sinnvoll, ver-
nunftgerecht erscheinen könnte, das ständige subjektive Bewußtsein von So-
oder-anders-wollen-Können, von Sollen und Verantwortung als grandiose
Selbsttäuschung anzunehmen, da das umfassende menschliche Bewußtsein sich
gerade als die entscheidende positive Besonderheit des Menschen in der Evolu-
tion herausgebildet hat“.61 Auch Burkhardt ist der Ansicht: „Wenn es sich um
die Begründung des Vorwurfs gegen einen Täter handelt, dann sind wir von
Rechts wegen gezwungen, den ,inneren Standpunkt‘ zum Gegenstand der Be-
wertung zu machen, d. h. den Standpunkt des handelnden Subjekts.“62 Ähnlich
argumentiert Hirsch, soweit er darauf abstellt, dass sich der Mensch als frei
empfindet. „Soll das Recht die Menschen erreichen, muß es [...] diese so neh-
_________________

zunächst unser Freiheitsgefühl. [...] Ob ihm ,wirkliche‘ Freiheit entspricht, können wir
nicht sagen“ (Über Willensfreiheit, S. 5). Ähnlich Nicolai Hartmann: „Freiheit wie Gott
sind nicht gegeben, beide aber sind als Reales gemeint. Und schließlich steckt auch
hinter dem Gottesbegriff nichts als ein Phänomen, das Phänomen des Gottesbewußt-
seins. Diesem kann man die Berechtigung so wenig absprechen wie dem Freiheitsbe-
wußtsein. Aber beide sind nur Bewußtseinstatsachen; aus ihnen folgt in keiner Weise die
Realität des gemeinten Inhalts“ (Ethik, S. 700); und auf das Schuldbewußtsein bezogen:
„Ist aber die Autonomie der Person nicht auch ontologisch möglich, so fällt alle noch so
hohe hypothetische Gewißheit mit einem Schlage hin“ (Ethik, S. 744); kritisch auch
Kelsen, Rechtslehre, S. 99, u. Engisch: „Aber bei der strafrechtlichen Fragestellung kann
uns der innere Standpunkt nicht weiterhelfen, zumindest nicht, wenn es sich um die
Rechtfertigung des Schuldvorwurfs handelt“ (Willensfreiheit, S. 4). So auch Ell-
scheid/Hassemer: „Die Existenz des Schuldgefühls erklärt noch nichts für die Tatsache
mißbrauchter oder verfehlter Freiheit“ (Civitas 9 [1970], S. 29). Haddenbrock bemerkt:
„Die Empirie der Selbsterfahrung mit eigenem Handeln [...] läuft kurz gesagt darauf
hinaus, daß Freiheit allein eine im geistigen Präsens ,erlebte Wirklichkeit‘ menschlichen
Daseins ist“ (Salger-FS S. 640). Vgl. daneben Munoz Conde: „Daß eine so verstandene
Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit bloß eine phänomenologische Beschreibung des
menschlichen Handelns, aber kein genügender Grund der Schuld ist, liegt auf der Hand“
(GA 1978, S. 68).
60
Siehe Grasnick, JR 1991, S. 365; ders., Schuld, S. 55 u. 58.
61
Griffel, ARSP 80 (1994), S. 103. Eben aus diesem Grunde, wenngleich im Ergeb-
nis gerade umgekehrt, sieht Vollmer in den Erkenntnissen der Neurobiologie auch die
Anlage, zur – nach seiner Rechnung – neunten Kränkung des Menschen zu avancieren
(s. Philosophia naturalis 29 [1992], S. 132).
62
Burkhardt, Lenckner-FS, S. 21; vgl. auch ders., First-Person, S. 238 ff. Dieser
Standpunkt hatte sich bei Burkhardt bereits in seiner Abwandlung der Charakterschuld-
lehre Engischs durchgesetzt (vgl. Burkhardt, Charaktermängel, S. 118 ff.). Strasser
vermisst jedoch wohlbegründete Antworten bei Burkhardt und nimmt an, dass dessen
Ansichten vielmehr von einer bestimmten Intuition getragen seien (s. Sich beherrschen
können, S. 161). Kritisch auch Schiemann, NJW 2004, S. 2058 f., u. ablehnend Hillen-
kamp, JZ 2005, S. 320; Hochhuth, JZ 2005, S. 749.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 41

men, wie sie sich selbst verstehen.“63 Es stehen sich damit nicht unterschiedli-
che Weltbilder, sondern vielmehr unterschiedliche Perspektiven der Betrach-
tung gegenüber.
Wird von einer Person A ihr Erleben in Sprache (oder in anderen Zeichen)
ausgedrückt, dann kann es vom Gegenüber B intersubjektiv erfahren werden.
Dadurch kann bei B ein Eindruck entstehen, der zweierlei bedeuten kann: Das
so von B Erfahrene ist einerseits objektiv, da es auch von anderen wahrge-
nommen werden kann; andererseits spiegelt es in bestimmtem Sinn das persön-
liche Erleben des A wider, also etwas, dessen subjektive Privatheit gerade nicht
in objektiven Zeichen vermittelbar ist. Nur das erstere, Objektivierbare, ist
daher auch der empirischen Überprüfung prinzipiell zugänglich und die Ver-
ständigung darüber, was in diesem Sinne „objektiv vorliegt“, mag relativ pro-
blemlos gelingen, beispielsweise über die Befragung noch weiterer anwesender
Individuen. Daraus lässt sich jedoch kein Befund über das subjektiv-private
Erleben des A gewinnen, der unmittelbar empirisch zu handhaben wäre, etwa
mit dem subjektiv-privaten Erleben Dritter, die ähnliches berichten wie A,
direkt verglichen werden könnte. Nimmt man nun hinzu, dass es im gegenwär-
tigen Zusammenhang um das subjektive Erleben von Freiheit geht, also von
etwas, das schon in seinem Begriff alles andere als klar ist oder gar unumstrit-
ten wäre, das vielmehr in erheblichem Grad von schwer fassbaren theoretischen
Elementen „durchsetzt“ erscheint und daher bereits in seiner Bedeutung unter-
schiedlich verstanden werden kann, so folgt daraus, dass die Auskunft noch so
vieler Individuen über die Innenperspektive ihres jeweils subjektiven Freiheits-
erlebens keinerlei empirische Bestätigung dafür liefert, dass man nun bei ihnen
allen etwas objektiv Identisches festgestellt und somit dessen Existenz bewie-
sen habe. Subjektives Erleben als solches gibt eben per definitionem keine
Auskunft über irgendetwas außerhalb der jeweils eigenen Subjektivität.64
Schon aus diesem Grunde kann auch im Recht der Begriff der „Freiheit“
nicht mit dem subjektiven „Freiheitserleben“ gleichgesetzt werden. Der Schluss
vom Erleben auf dessen objektives Substrat ist (hier wie sonst) irrig, bestenfalls
unbeglaubigt – argumentationstheoretisch gesprochen ein „non sequitur“. Un-
beschadet metaphysischer Probleme und Spekulationen in dieser Frage lässt
sich einfach sagen: Nur aus seiner Innenperspektive erwächst also das Frei-
heitserleben eines Menschen. Für die Zuschreibung von Freiheit auch zu ande-
ren Personen erscheint eine differenziertere Betrachtung notwendig als ein
_________________
63
Hirsch ZStW 106 (1994), S. 763.
64
Vgl. z. B. die Ausführungen bei F. A. Lange, Materialismus, S. 402 ff. Siehe zu
den unterschiedlichen Perspektiven auch v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze,
Bd. 2, S. 39, Dreher, Willensfreiheit, S. 383 ff.; Burkhardt, Lenckner-FS, S. 7 ff.; ders.,
First-Person, S. 238 ff.; Tiemeyer, GA 1986, S. 222 f.; Haddenbrock, JR 1991, S. 226;
ders., NStZ 1995, S. 581; ders., MschrKrim 1996, S. 51; ders., Salger-FS 1995, S. 638;
und Geisler, S. 80 f.
42 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

umstandsloser Analogieschluss. Dies wird auch daran deutlich, dass man einer
als geistig gestört geltenden Person nicht ohne weiteres denselben Freiheitsgrad
wie einer geistig gesunden Person zuschreiben würde. Spezifische Konditionen
des Gegenübers beeinflussen also die Übertragbarkeit des subjektiven Frei-
heitserlebens. Hierzu gehören, was wiederum anhand der Differenzierung zwi-
schen „geistig krank“ und „geistig normal“ deutlich wird, auch Kriterien der
sogenannten Außenperspektive. So erhoffte man sich im spektakulären Krimi-
nalfall „Bartsch“ eine Erklärung der bei der Tat aufgewendeten besonderen
Grausamkeit durch den „objektiven“ Nachweis eines Defekts, indem die Hirn-
ströme des Täters in späteren Versuchen mittels EEG abgeleitet wurden.65 Eine
Abweichung von der Normvariante hätte hier zur Annahme eines pathologi-
schen Defekts und mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anwendung der §§ 20, 21
StGB (§ 51 a. F.) geführt, und zwar unabhängig davon, ob Bartsch nun selbst
Schuld oder Freiheit empfunden hätte oder nicht.66
Es lässt sich also zunächst festhalten, dass das Freiheitserleben des Täters
selbst kein Gegenstand der Erkenntnis des Richters sein kann, dass es keinen
Beweis für die Existenz von Freiheit zu liefern vermag und dass im Strafpro-
zess, in dem ja durchaus auch innere Vorgänge mit den Möglichkeiten der
menschlichen Erkenntnis Berücksichtigung finden, ein Spannungsverhältnis
zwischen der Innen- und der Außenperspektive entstehen kann.67

_________________
65
Siehe BGHSt 23, 176, 184. Nach den Feststellungen des Gerichts entführte der
Angeklagte Bartsch in den Jahren 1962 bis 1966 vier Jungen im Alter von acht bis zwölf
Jahren. „Er brachte sie in einen verlassenen Luftschutzstollen, missbrauchte sie dort zur
Unzucht und tötete sie in grauenvoller Weise. Es ging ihm darum, sich an ihren Qualen
zu weiden und in seinem Tun geschlechtliche Befriedigung zu finden. Zu seinem Plan
gehörte es auch, die Kinder bei lebendigem Leibe zu zerschneiden, was ihm in einem
Falle gelang. In den anderen Fällen zerstückelte er die Leichen“ (BGHSt 23, 176 f.). Die
Einmaligkeit und Abartigkeit der Taten verbunden mit dem Umstand, dass die Gutachter
über keine speziellen Kenntnisse auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft verfügten,
veranlasste den Bundesgerichtshof dazu, das Urteil des Landgerichts Wuppertal aufzu-
heben, das auf lebenslanges Zuchthaus lautete, und die strafrechtliche Verantwortlich-
keit erneut überprüfen zu lassen (s. ebd., 187 ff.). In einer neuen Verhandlung vor dem
Landgericht Düsseldorf verurteilte das Gericht Bartsch zu zehn Jahren Jugendstrafe mit
anschließender Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.
66
Dazu auch unten, S. 139.
67
Vgl. dazu auch Petersen, Willensfreiheit, S. 136 ff. Ähnlich in der Kritik an einem
transzendentalen Freiheitsbegriff im Strafrecht Tiemeyer: „[...] denn verantwortlich
gemacht und von Sanktionen betroffen wird nicht bloß das transzendentale Ich, sondern
vor allem der Mensch als Erscheinung in der Sinnenwelt. [...] Ein Schuldvorwurf darf
nur dann erhoben werden, wenn die soziale Wirklichkeit seinsmäßig so beschaffen ist,
wie die Denkfigur der Schuld es voraussetzen müßte“ (GA 1986, S. 211 u. 215). Zum
Rechtsbegriff zwischen Sollen und Sein vgl. auch Baumhoer, Fiktion, S. 28 ff.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 43

3. Offene Fragen logisch begründeter subjektiver Freiheit

Der sogenannte „epistemische Indeterminismus“68 unternimmt es ebenfalls,


eine Freiheit des Subjekts zu begründen, die aber nicht auf ontologischen An-
nahmen aufbaut. Das insbesondere von Max Planck herausgearbeitete Argu-
ment für diese Freiheit lautet, dass das Subjekt, auch wenn es sich in einer
vollständig determinierten Welt befände, niemals wissen könnte, wie es deter-
miniert ist.69 Warum dies so ist, lässt sich gut verdeutlichen, wenn man sich
ansieht, was Klaus Günther gegen den Determinismus eingewendet. Er sagt,
wenn er nicht die Überzeugung hätte, frei zu sein, dann würde er gar nicht erst
anfangen zu überlegen, ob er den Ruf an eine andere Universität annehmen
solle. Er könnte zu einem Neurobiologen gehen, sein Gehirn analysieren lassen,
und sich sagen lassen, was bei seinen Überlegungen am Ende ohnehin heraus-
kommen werde.70 Auf diesen Einwand würde ein Anhänger des epistemischen
Indeterminismus‘ entgegnen, dass das, was der Neurobiologe – vorausgesetzt er
könnte aus dem Gehirnzustand tatsächlich auf den nächsten Zustand schließen
– ihm, Klaus Günther, mitteilen würde, eine neue Information wäre, die ihrer-
seits eine Veränderung in seinem, Klaus Günthers, Gehirn auslösen würde, so
dass ein neuer Gehirnzustand einträte und sich Klaus Günther nicht mehr auf
die Information des Neurobiologen, der ja seinen Hirnzustand ohne die neue
Information ausgewertet hat, verlassen könnte. Dieses Spiel von Untersuchung,
Information darüber, damit Unrichtigwerden des Untersuchungsergebnisses
und deshalb neuer Untersuchung (usw.) könnte Klaus Günther nun beliebig
lange fortsetzen – am Ende stünde er doch ohne eine verlässliche Auskunft da,
weil jede Auskunft den gerade noch vorausgesagten Kausalverlauf ihrerseits
veränderte.71 Reinhard Merkel hält es für möglich, auf diese „logische Indeter-
miniertheit des eigenen Entscheidens“ einen strafrechtlichen Begriff von Ver-
antwortlichkeit zu stützen; er lässt aber offen, wie dies geschehen sollte.72
Kargl sieht dagegen nicht, wie dies die Grundlage für das herkömmliche Kon-
zept von Zuschreibung und Verantwortung sein soll.73 Er legt diese kompatibi-
listische74 Freiheitskonzeption zwar seiner Vorstellung von subjektiver Ver-

_________________
68
„Epistemisch“ bedeutet, dass dabei allein auf die logische Struktur des Erkennens,
nicht auf die des Gegenstands dieser Erkenntnis abgestellt wird.
69
Vgl. Planck, Willensfreiheit, S. 20.
70
Siehe K. Günther in: Bild der Wissenschaft 3 (2005), S. 75 (Interview Paulus).
71
Vgl. die Ausführungen bei Max Planck, Willensfreiheit, S. 11 f., und MacKay,
Freiheit, S. 306 ff.
72
Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 464 f.; Merkel behält die genauere Klärung dieser
Frage späteren Überlegungen vor.
73
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 189, Fn. 135.
74
Dazu oben, S. 28.
44 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

antwortlichkeit zugrunde, entsagt aber dem herkömmlichen Strafrechtsmodell.


Darauf wird noch zurückzukommen sein.75
Pothast macht auf die entscheidenden Schwächen aufmerksam, die dieser
Freiheitsbegriff im Legitimationszusammenhang strafrechtlicher Schuld und
Verantwortlichkeit aufweist. Zum einen würde der außenstehende Beobachter –
also zum Beispiel der Neurobiologe, aber auch der Richter – die Person nicht
für ihr Handeln verantwortlich machen, weil eben der Beobachter um die De-
terminiertheit dieses Handelns weiß und es insofern anders erlebt als der Han-
delnde selbst. Zum anderen erscheinen vergangene Handlungen immer nur im
Lichte ihrer kausalen Verursachung. Pothast formuliert das so: „Die Verant-
wortlichkeit, die das Argument Plancks rechtfertigt, erstreckt sich genauso weit
wie der damit aufgewiesene Sinn von Freiheit, nämlich auf zukünftige Hand-
lungen der eigenen Person.“76 Danach ist der Täter aber weder subjektiv bei
Begehung seiner Tat frei, weil er nicht mehr vor der subjektiv offenen Zukunft
steht, sondern diese sich durch die Handlung schon verwirklicht, noch ist er es
zu diesem Zeitpunkt aus der Perspektive eines Dritten. Wie man ihn dennoch –
und zudem aus der Rückschau des Prozesses – als „frei“ soll erklären können,
erschließt sich mit diesem Freiheitsbegriff nicht.

4. Normativer Freiheitsbegriff

Nur kurz soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auch ein
„normativer Freiheitsbegriff“ entwickelt worden ist, der Freiheit nicht begrün-
det, sondern sie schlicht dort voraussetzt, wo sie von der Norm gefordert wird.
Sie wird unabhängig von ihrer realen Existenz fingiert. Der Mensch kann, weil
er soll. Nach Kohlrausch „ist das generelle Können tatsächliche Voraussetzung
jedes Zurechnungsurteils, das individuelle Können aber wird zu einer staats-
notwendigen Fiktion“.77 Gegen einen solchen normativ postulierten Freiheits-
begriff wird der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ ins Feld geführt – das
Recht dürfe vom Menschen nicht mehr verlangen, als er erfüllen kann. Etwas
zu vergelten, das der konkrete Mensch nicht vermeiden konnte, könne mit
guten Gründen als unvernünftig und ungerecht betrachtet werden.78 Mit dieser
kurzen Einführung soll es hier sein Bewenden haben. Sie dient vorab dem bes-
_________________
75
Ausführlich unten, S. 62 ff.
76
Pothast, Seminar, S. 269 f. (Hervorhebung nur hier).
77
Siehe Kohlrausch, Güterbock-FS, S. 26; vgl. schon Keber: „Verfasser fingiert die
menschliche Willensfreiheit und hat hierdurch mit einem Schlage eine befriedigende
Unterlage der staatlichen Strafe gefunden. Allerdings beruht bei dieser Annahme das
gesammte Strafrecht auf einer Fiktion“ (Verbot, S. 25).
78
Vgl. Nowakowski, Rittler-FS, S. 62; abl. auch Engisch, Willensfreiheit, S. 41,
Fn. 101.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 45

seren Verständnis der Jakobschen Schuldbegründung, die neben anderen später


(unten, sub III. 3. d) erläutert werden soll. Auf die Probleme eines normativen
Schuldbegriffs wird im zweiten Kapitel zurückzukommen sein.

5. Zusammenfassung und Überleitung

Ob es menschliche Freiheit gibt, lässt sich nach dem Gesagten nicht mit der
Physik beantworten. Mögliche Spielräume in der physischen Welt erklären
nicht, wie sie vom Willen sollten ausgenutzt werden können. Eine metaphysi-
sche Erklärung hilft hier nicht weiter, weil sie spekulativ, also unbewiesen und
damit suspekt bleibt. Für das Recht kommt also nur ein Freiheitsbegriff in Be-
tracht, der sich mit einer Position in Einklang bringen lässt, die den menschli-
chen Willen nicht metaphysisch und nicht als unabhängig von natürlichen Vor-
gängen begreift. Erste Schwierigkeiten eines Freiheitsbegriffs, der vom subjek-
tiven Erleben abhängt, eines subjektiven Freiheitsbegriffs, der sich aus logi-
scher Unvorhersagbarkeit ableitet, und eines normativen Freiheitsbegriffs wur-
den aufgezeigt. Das Strafrecht wird von den Problemen und Resultaten dieser
Diskussion substantiell berührt, weil das menschliche Verhalten als Gegenstand
rechtlicher Beurteilung über den Willen mit dem Freiheitsbegriff verknüpft
ist.79 Die Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten nach seinem Willen auszu-
richten, steht damit im Zentrum der Debatte um Freiheit und Schuld im Recht.
Indeterministen können dem Menschen im Gegensatz zu allen anderen Lebe-
wesen wegen dieser Fähigkeit, nämlich der zur Selbstbestimmung, unschwer
eine Letztveranwortung für sein Handeln zuschreiben. In einem determinierten
Weltverlauf kommt dieser Fähigkeit wenn überhaupt eine, so jedenfalls keine
herausgehobene Stellung zu. Auch Tiere mit Bewusstsein könnten über diese
Fähigkeit verfügen. Der Begründungsaufwand für eine Verantwortlichkeit des
Menschen, speziell eine strafrechtliche, ist deshalb für Deterministen ungleich
größer, hat aber den Vorteil, dass nicht von vornherein unbewiesene und unbe-
weisbare Prämissen zu Grundlagen staatlichen Strafens gemacht werden. Im
Folgenden soll es deshalb darum gehen, kompatibilistische „Schuld“lehren
daraufhin zu untersuchen, wie die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet
wird und welche Bedeutung der Willensbetätigung dabei zukommt.

III. Spannungsfelder zwischen Handlungsfreiheit und Schuldstrafe

Der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein oder dem Willen und dem
Verhalten wird zum Gegenstand der Erfahrungswissenschaften, wenn er nicht
mehr vom Selbstbewusstsein, sondern von außen festgestellt oder beurteilt
_________________
79
Vgl. die Ausführungen oben, S. 31 ff.
46 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

werden soll. Darauf muss sich das Recht primär beziehen. Denn es muss zuerst
objektive Voraussetzungen definieren, damit eine Willensbetätigung von einem
Richter festgestellt werden kann. Bevor diese Voraussetzungen im zweiten Teil
einer exemplarischen Untersuchung unterzogen werden, soll zunächst ihre
Behandlung in ausgewählten Schuldlehren betrachtet werden. Dabei erfolgt die
Auswahl der Schuldlehren unter dem Gesichtspunkt, ob sie den Anspruch erhe-
ben, mit einem deterministischen Weltbild in Einklang zu stehen.80 Denn nur
hier ist es interessant zu fragen, woran der Schulvorwurf anknüpfen soll. Dieser
Erörterung vorangestellt sei wieder ein Blick auf die Überlegungen Schopen-
hauers zu diesem Problem.

1. Determination und moralischer Vorwurf

Schopenhauer zufolge unterliegt der Mensch in seinen Handlungen dem Ge-


setz der Notwendigkeit; daher kann seine Freiheit nicht sinnvoll Gegenstand
der Betrachtung in der Außenperspektive sein. Jedoch wirken die Ursachen
einer Handlung, die Motive, auf jeden individuellen Charakter anders ein. Der
individuelle Charakter bildet damit einen zweiten Faktor für das Zustande-
kommen einer konkreten Handlung; unterlassen kann er diese im Zusammen-
spiel mit den einwirkenden Motiven allerdings nicht.81 Dieser empirische Cha-
rakter des Menschen ist nach Schopenhauer angeboren und unveränderlich.82
Der Mensch erfährt damit einerseits über sein Selbstbewusstsein, dass seine
Taten von seinem Willen abhängen; andererseits erkennt er, dass unter Einwir-
kung derselben Motive, die ihn bestimmt haben, eine Handlung auszuführen,
einem anderen Menschen aufgrund eines anderen Charakters auch eine andere
Handlung möglich gewesen wäre.83 Sein (innerer) Wille korrespondiert also mit
seinem (von außen erkennbaren) Charakter. „Der Charakter ist die empirisch
erkannte, beharrliche und unveränderliche Beschaffenheit eines individuellen
_________________
80
Eine Zusammenfassung auf indeterministischer Weltsicht begründeter Schuldleh-
ren findet sich bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 113 ff. Zur Kritik am
Versuch der Ausklammerung des Problems der Willensfreiheit durch indeterministisch
orientierte Begründungen des Schuldvorwurfs vgl. Tiemeyer, GA 1986, S. 212 ff. Zu-
sammenfassend stellt er fest: „Nach alledem vermittelt die Einschätzung von Lackner,
im Schrifttum werde überwiegend die Auffassung vertreten, daß eine Parteinahme in der
philosophischen und naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung um Determinismus
und Indeterminismus nicht erforderlich sei, ein schiefes Bild. Sie bedarf zumindest einer
Ergänzung. Denn die vorherrschenden Schuldkonzepte verzichten nicht nur auf eine
genaue Erfassung der Wirklichkeit, sondern es gelingt ihnen letztlich auch nicht, das
unwegsame Terrain zu umgehen“ (ebd., S. 215).
81
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 95.
82
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 49 ff.
83
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 93 f.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 47

Willens.“84 Die Individualität des Charakters gepaart mit dem begleitenden


Gefühl des Verursachens von Handlungen führt zu deren Selbstzurechnung und
damit per Analogieschluss auch zur Zurechnung von fremden Handlungen zu
anderen Personen. „Die Verantwortlichkeit, deren er sich bewußt ist, trifft daher
bloß zunächst und ostensibel die That, im Grunde aber seinen Charakter: für
diesen fühlt er sich verantwortlich.“85 Dieser Charakter ist wegen des an Raum,
Zeit und Kausalität gebundenen Erkenntnisvermögens ein Bestandteil der em-
pirischen Realität. Die „Grundlage“ dieses Erkenntnisvermögens aber, die
diesen Begrenzungen nicht unterworfen ist, ist Schopenhauer zufolge (und in
Anlehnung an Kant) der intelligible Charakter oder der Wille als „Ding an
sich“, der erst das Tor in die Welt der Erscheinungen öffnet und dem, nun un-
gebunden durch Raum, Zeit und Kausalität, absolute Freiheit zukommt.86
„Demzufolge ist zwar der Wille frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der
Erscheinung: in dieser hingegen stellt er sich schon mit einem bestimmten
Charakter dar, welchem alle seine Taten gemäß seyn und daher, wenn durch die
hinzutretenden Motive näher bestimmt, nothwendig so und nicht anders ausfal-
len müssen.“87 Nun lehnt es Schopenhauer ab, mit Kant die juristische Verant-
wortlichkeit des Menschen auf einen moralischen Vorwurf durch ein a priori
bewusstes Gesetz zu gründen.88 Für die Legitimation der Strafe kann er also
nicht die Moral heranziehen, da für ihn eine Freiheit des in Erscheinung treten-
den Willens durch Notwendigkeit ausgeschlossen ist. Deshalb bindet er Straf-
androhung und Bestrafung in seine Überlegungen von der Ursächlichkeit mit
ein. Das Strafgesetz hat danach den Zweck, die für das Begehen eines Verbre-
chens sprechenden Motive durch ein Gegenmotiv aufzuwiegen. Verfehlt es
diesen Zweck im Einzelfall, wird seine Rechtsfolge, die Strafe, deshalb ange-
ordnet und vollzogen, damit es weiterhin als Gegenmotiv wirksam sein kann.
Der Verbrecher erleidet die Strafe danach nur, weil die Tat durch seinen Cha-
rakter hervorgebracht wurde, nicht weil er sie hätte verhindern können.89 Es ist
auch nicht die von ihm empfundene moralische Schuld, die zu staatlicher Strafe
berechtigt, denn „wie wäre doch ein Mensch befugt, sich zum absoluten Richter
des andern, in moralischer Hinsicht, aufzuwerfen und als solcher, seiner Sün-
den wegen, ihn zu peinigen!“90

_________________
84
Schopenhauer, Ethik, S. 95.
85
Schopenhauer, Ethik, S. 93.
86
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 96 f.
87
Schopenhauer, ebd.
88
Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 10.
89
So auch Guckes, Freiheit, S. 215.
90
Schopenhauer, Ethik, S. 101 f.; diese Konzeption weist durchaus Parallelen zu der
(älteren) „psychologischen Zwangstheorie“ Feuerbachs auf; vgl. ders., Revision I,
S. 89 ff., sowie unten, Teil 2, Kap. 1, Fn. 159.
48 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Schopenhauer bleibt damit konsistent. Die Plausibilität seiner Folgerungen


drängt nun allerdings zu der Frage, wie es Schuldlehren, die keinen „absoluten“
oder „starken“ Freiheitsbegriff voraussetzen, gelingen kann, Determinismus
und Schuldstrafe in Einklang zu bringen. Doch sei vor die Erörterung dieser
Lehren ein kurzer Überblick gestellt, wie sich das Problem auch im Begriff der
sogenannten Strafbegründungsschuld manifestiert.

2. Das Merkmal der Willensbetätigung in der Deliktsprüfung

In der strafrechtsdogmatischen Analyse eines Verbrechens beginnt im An-


schluss an die Prüfung der Handlungsqualität,91 die, wie oben erwähnt92, bereits
einen ersten Bezug zum Problem willentlicher Verhaltenssteuerung herstellt,
mit der Subsumtion des relevanten Verhaltens unter einen Straftatbestand die
Deliktsprüfung im engeren Sinne. Dabei ist für die Frage der Tatbestandserfül-
lung eine normative Betrachtung des Verhaltens maßgebend. Sie soll sowohl
die innere Beziehung des Menschen zu seinem Handeln als auch das Verhalten
in seiner äußeren Erscheinungsform erfassen. Als Voraussetzungen der Straf-
begründungsschuld können also zunächst ein rechtserhebliches Verhalten und
eine darauf bezogene „geistige Haltung“ festgehalten werden.
Die innere Beziehung eines Menschen zur Rechtsordnung oder zu einem
bloß imaginierten rechtswidrigen Verhalten stellt für sich allein keinen straf-
rechtlich relevanten Vorgang dar. „Der unverwirklichte Wille ist nicht straf-
bar.“93 Ferner legt § 17 Satz 1 StGB den Gedanken nahe, dass ein rechtserheb-
liches Verhalten, das auf keinerlei Willensbildung beruht, ebenso wenig straf-
bar sein soll. Zwischen Willensbildung und Verhalten muss also auch im Straf-
recht ein Zusammenhang bestehen, damit die Begriffe im Deliktsaufbau nicht
bloß als abstrakte Gliederungspunkte ohne sinnhafte Verbindung erscheinen.
Dieser Zusammenhang wurde von der „psychologischen Schuldauffassung“,
die sich Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann und bis zum begin-
nenden 20. Jahrhundert vorherrschte94, in der subjektiv-seelischen Beziehung
des Täters zu seiner Tat gesehen.95 Der psychologische Schuldbegriff „erfüllte
fürs erste die Aufgabe, die Person des Täters mit dem Geschehen zu verbin-
den“.96 Anknüpfungspunkt war, dass das Verhalten eines Täters von seinem
_________________
91
Manche prüfen die Handlungsqualität auch erst beim spezifischen Handlungs-
merkmal. Sachlich ergeben sich daraus allerdings keine Unterschiede.
92
Siehe S. 33.
93
Beling, Grundzüge, S. 19.
94
Vgl. zur Entwicklung dieses materiellen Schuldbegriffs Holzhauer, S. 110 ff.
95
Siehe Wessels/Beulke, StrafR AT, Rn. 406.
96
Schmidhäuser, Jescheck-FS, S. 499.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 49

Willen oder seiner Kenntnis bestimmt wurde.97 Das Verhalten stellt sich also
nach dieser Auffassung regelmäßig als Willensbetätigung dar.98 Der Psycholo-
gismus wurde von der normativen Schuldauffassung Reinhard Franks abgelöst,
der Schuld als Vorwerfbarkeit verstand und sie von psychischen Bedingungen
lösen wollte.99
Fasst man die Willensbetätigung nicht als metaphysisches (überempirisches)
Faktum auf, sondern untersucht sie mit den Methoden der empirischen Wissen-
schaften, so ergeben sich bestimmte konstant wiederkehrende Probleme, sofern
jene Willensbildung zum Fundament der strafrechtlichen Schuldbegründung
gerechnet wird. Diese Probleme sollen nun anhand der Prämissen determinis-
tisch orientierter Schuldlehren aufgezeigt werden.

3. Die „Willensbetätigung“ in ausgewählten Schuldlehren

Den Lehren Engischs, Graf zu Dohnas und Jakobs’ liegt ein negativer Frei-
heitsbegriff zugrunde.100 Für v. Liszt ist anlehnend an Schopenhauer die Be-
stimmbarkeit des Menschen durch Motive und damit die Möglichkeit determi-
nierender Einflussnahme von außen entscheidend.101 Kargl schließt sich der
Theorie des „epistemischen Indeterminismus“ an, dem, wie gesagt102, aus der
Außensicht ein determinierter Weltverlauf zugrunde liegt. Besonders in Augen-
schein genommen werden soll der Umgang der verschiedenen Lehren mit dem
_________________
97
Vgl. Wessels/Beulke, StrafR AT, Rn. 406.
98
Der Gedanke ist indes wesentlich älter, wie die folgenden Ausführungen zeigen
werden.
99
Vgl. dazu Lampe, Strafphilosophie, S. 226. Zur normativen Schuldlehre Franks
auch Goldschmidt, v. Frank-FG, S. 428 ff.; Maurach, Schuld, S. 20 ff. Gleichzeitig
erfuhr der Determinismus seine bis dahin stärkste Verbreitung; s. Holzhauer, S. 112 u.
132.
100
Engisch (s. Willensfreiheit, S. 48) und Graf zu Dohna (s. ZStW 66 [1954], S. 507)
leiten ihr Freiheitsverständnis unmittelbar von der Schopenhauerschen Lehre ab. Jakobs
„normativiert“ den Zwangsbegriff: „Der Bereich, in dem man schuldig werden kann, ist
also zugleich ein Freiraum für Selbstbestimmung, diese nicht im Sinn einer Willensfrei-
heit, sondern im Sinn eines Fehlens rechtlich relevanter Hindernisse für eigene Organi-
sationsakte“ (StrafR AT, 17/24); ablehnend Geisler, der das Offenstehen einer „realen,
rechtmäßigen Verhaltensalternative“ fordert (s. S. 128 f.). Wobei zwischen Geisler und
Jakobs wohl nur scheinbare Differenzen bestehen. Denn, wie noch dargestellt werden
wird, kann auch Jakobs nicht auf empirische Sachverhalte verzichten. Diese nicht wegen
ihres empirischen Gegebenseins, sondern vor dem Hintergrund normativer Wertung zu
würdigen, gebietet allerdings das Recht. Alles andere wäre ein sog. naturalistischer
Fehlschluss, also der direkte Schluss von einem „Sein“ auf das „Sollen“.
101
Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, S. 40.
102
Siehe oben, S. 43.
50 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wille und Verhalten, das zwar subjektiv im


Regelfall evident, aber als Kausalverhältnis im Sinne eines Ursache-Wirkung-
Zusammenhangs empirisch unbestätigt ist. Kritisch hinterfragt werden soll
daneben die jeweilige Begründung des Schuldvorwurfs.

a) „Die Vergeltungsstrafe in deterministischem Gewande“ nach Franz v. Liszt

Die indeterministische Lehre von einem „Anders-handeln-Können“ lehnt


v. Liszt ausdrücklich ab103, er hebt jedoch hervor: „Für mich ist Schuld gleich-
bedeutend mit der Verantwortlichkeit für den Erfolg. Diese ist begründet bei
Zurechnungsfähigkeit des Täters.“104 Deren Wesen liege in der „normalen
Bestimmbarkeit durch Motive“: „Wer auf Motive in normaler Weise reagiert,
ist zurechnungsfähig.“105 Zurechnungsfähigkeit bedeute demnach auch die
„Empfänglichkeit für die durch die Strafe bezweckte Motivsetzung“.106 Nur
hierin liege die Berechtigung der Strafe. Jede „ethische Brandmarkung“ des
Verurteilten verbietet sich für v. Liszt, denn „es ist nicht unser ,Verdienst‘, daß
wir nicht längst schon vor den Strafrichter gekommen sind; und es ist nicht
seine ,Schuld‘, daß ihn die Verhältnisse auf die Bahn des Verbrechens getrie-
ben haben“.107 Die Vergeltungsstrafe wird als „rohe Grausamkeit“ und als „ab-
geschmackt“ zurückgewiesen, die Zweckstrafe zur Besserung des geistig Ge-
sunden sei dagegen wohlbegründet.108
Es stellt sich die Frage, was mit all denen geschehen soll, die entweder die
„rettende Hand“109 des Staates ablehnen, oder denen der Staat keine „bessern-
de“ therapeutische „Rettung“ bieten kann, weil sie prinzipiell keiner Besserung
bedürfen. Dies wäre beispielsweise der Fall bei Tätern, deren Taten singulären
geschichtlichen oder biographischen Ausnahmesituationen entstammen (wie
nicht selten bei Kriegsverbrechern), keinerlei Zusammenhang mit den Charak-
tereigenschaften der Handelnden haben und daher eine Wiederholungsgefahr
äußerst unwahrscheinlich erscheinen lassen. v. Liszt nennt diese Gruppe „Gele-

_________________
103
Siehe v. Liszt, ZStW 3 (1883), S. 33 ff., u. ders., Strafrechtliche Vorträge und Auf-
sätze, Bd. 2, S. 47.
104
S. v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 48. Hieran sich anleh-
nend auch Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 36 ff. und Gimbernat Ordeig, Henkel-FS,
S. 151 ff., 160 f. (zu beiden unten, Fn. 123).
105
v. Liszt, ebd., S. 219.
106
Siehe v. Liszt, ebd., S. 220.
107
v. Liszt, ebd., S. 45.
108
Siehe v. Liszt, ebd., S. 48.
109
Vgl. v. Liszt, ebd., S. 42.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 51

genheitsverbrecher“110 In diesen Fällen soll die Strafe abschreckende Wirkung


entfalten.111 Ob dies gelingen kann, mag hier dahinstehen, interessanter ist, dass
v. Liszt sozusagen im selben Atemzuge äußert: „Hier soll die Strafe lediglich
die Autorität des übertretenen Gesetzes herstellen [...].“ Diesen Gedanken be-
greift man heute weniger im Sinne einer psychologischen Abschreckung, als
vielmehr im Sinne einer Aufrechterhaltung der Norm selber und damit als Ver-
deutlichung der Wertmaßstäbe der Gemeinschaft. Er wird bei der Darstellung
der Schuldtheorie von Jakobs wieder aufgegriffen werden.112
Der Lisztsche Begriff der „Schuld“ hat damit, wie der Autor selbst hervor-
hebt, mit dem klassischen Schuldbegriff „absolut nichts zu tun“.113 Der überlie-
ferte Schuldbegriff sei unhaltbar.114 Stelle sich der Verbrecher als unverbesser-
lich heraus, dann sei er auch nicht „zurechnungsfähig“, woraus v. Liszt die von
Binding115 mit geradezu wütender Polemik zurückgewiesene Konsequenz zieht:
„Die Unterscheidung zwischen der Sicherungsstrafe gegen unverbesserliche
Verbrecher und der Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker ist nicht
nur praktisch im wesentlichen undurchführbar, sie ist auch grundsätzlich zu
verwerfen.“116 Die Kontroverse zwischen v. Liszt und Binding, die divergie-
rende Grundverständnisse des gesamten Strafrechts zum Gegenstand hatte,
bildete den Beginn des sogenannten Schulenstreits. Beim normalen Verbrecher
im Gegensatz zum Geisteskranken setzt v. Liszt allerdings voraus, dass er
durch Motive „normal“ bestimmbar ist: „Wer von uns hat die Bestimmbarkeit
des Menschen durch Motive, also durch Vorstellungen, jemals geleugnet?“117
Wenn v. Liszt bei der Erörterung der Fahrlässigkeitsschuld von einer „Verstan-
desschuld“118 spricht, die darin liege, dass „ohne Voraussicht, aber trotz Vor-
_________________
110
Das ist nicht ganz unmissverständlich; die gemeinten „Gelegenheiten“ sollen nach
v. Liszt hier biographisch singuläre sein, nicht dagegen solche, die sich jederzeit wieder
bieten könnten.
111
Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, S. 166 u. 172.
112
Dazu unten, S. 58 ff.
113
v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, S. 172.
114
Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 47.
115
S. Binding, Grundriss I, S. 90 f., Fn. 1.
116
v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 226 f.
117
v. Liszt, ebd., S. 40. Auch Bockelmann bemerkt: „Jedenfalls ist mir bisher keine
Äußerung bekannt geworden, die das Dasein der Handlung als eines von Vorstellungs-
inhalten und Willensimpulsen gesteuerten Verhaltens überhaupt leugnete“ (ZStW 75
[1963], S. 374). Während man aber nach der Theorie v. Liszts ebensogut sagen könnte,
das Verhalten wird von äußeren Motiven gesteuert, die sich gewissermaßen durch das
Medium des individuellen menschlichen Charakters hindurch umsetzen, läuft Bockel-
manns These eher darauf hinaus, es gebe eine selbständige geistige Entscheidungsin-
stanz zwischen den äußeren Motiven und deren Umsetzung.
118
Siehe v. Liszt, Lehrbuch, S. 163.
52 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

hersehbarkeit des Erfolges (fahrlässig) gehandelt worden ist“119, dann ist damit
also nicht gemeint, der Verbrecher hätte eine „Wahlfreiheit“ gehabt oder
„Schuld“ im herkömmlichen Verständnis auf sich geladen.120 Es wird vielmehr
ein nach dem Werturteil der Gesellschaft unerwünschter Erfolg mit einem Indi-
viduum verbunden, das sich in anderen Situationen als dem Recht entsprechend
umsichtig gezeigt hat.121
Mit seiner Strafbegründung, der „normalen Bestimmbarkeit durch Motive“,
gerät v. Liszt in Kollision mit der Forderung des Strafgesetzgebers, dass die
Fähigkeit zur Unrechtseinsicht und die Fähigkeit nach der Unrechtseinsicht zu
handeln bei Begehung der Tat (Wortlaut des heutigen § 20 StGB122) vorhanden
sein müssen. Der Verbrecher hat sich ja durch seine Tat gerade als jedenfalls de
facto nicht motiviert durch die Forderungen des Rechts in der konkreten Situa-
tion erwiesen. Selbst für den Indeterministen gilt: Wenn das überhaupt einen
Schluss im Hinblick auf die Motivierbarkeit des Täters in dieser Lage nahe legt,
dann den, dass sie eben nicht gegeben war; jedenfalls macht es die gegenteilige
Behauptung ersichtlich grundlos. Für v. Liszt als Deterministen freilich muss
sich aus dem konkreten „Nicht-motiviert-gewesen-Sein“ zwingend ein „Nicht-
motivierbar-gewesen-Sein“ ergeben. Denn dass der Täter eine solche Motivier-
barkeit vorher beliebig oft gezeigt haben mag, genügt der zeitlichen Kon-
gruenzbedingung des § 20 StGB nicht; und für das konkrete Delikt besagt es
einfach nichts. Wenn man aber von diesem Widerspruch absieht, bleibt v. Liszt
vom deterministischen Standpunkt aus betrachtet schon deshalb praktisch un-
angreifbar, weil den Begriffen „Strafe“ und „Schuld“ in seiner Lehre ihr klassi-
scher Sinn entzogen wird. „Strafe“ wird zum Synonym für „Therapie“. Schuld
meint nurmehr die Zuständigkeit eines potentiell therapierbaren Individuums
für einen Erfolg. Es ließe sich daher allenfalls einwenden, dass diese Begriffe
doch besser aufgegeben werden sollten, wenn sie schon ihren (herkömmlichen)
Inhalt vollständig verloren haben.123

_________________
119
v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 48.
120
Siehe v. Liszt, ebd. Vgl. auch Graf zu Dohna: „Es ist unverkennbar, daß das Ur-
teil, es sei jemand zu einer Sorgfalt, die er nicht präsentiert hat, gleichwohl imstande
gewesen, mit einem strengen Determinismus nicht verträglich ist“ (ZStW 66 [1954],
S. 512).
121
Ähnlich Graf zu Dohna; dazu unten, S. 56 f.
122
Siehe Fn. 1.
123
Etwas anderes gilt für den Schuldbegriff Roxins, der eine „normative Ansprech-
barkeit“ voraussetzt und sich damit die berechtigte Kritik Bernsmanns zuzieht, dass er
den empirischen Nachweis, ob der Täter durch Rechtsnormen prinzipiell ansprechbar
und motivierbar sei, schuldig bleibe. Er ersetzte daher die „Freiheitsfiktion“ durch die
„Ansprechbarkeitsfiktion“ (s. Bernsmann, Entschuldigung, S. 219). Eng damit verbun-
den ist das Problem, dass Roxin „die (sei es freie, sei es determinierte) psychische Steue-
rungsmöglichkeit, die dem gesunden Erwachsenen in den meisten Situationen gegeben
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 53

b) Die Charakterschuld nach Engisch

Nach der von Engisch vertretenen Charakterschuldlehre knüpft die staatliche


Strafe ihren Vorwurf an den Charakter des Täters, „aus dem die verbrecheri-
sche Tat geflossen ist“.124 Diese Lehre steht in enger Verbindung mit den Ge-
danken Schopenhauers. Im Unterschied zu Schopenhauer stellt Engisch jedoch
nicht auf die motivbildende Kraft der Norm, sondern auf eine solche der Strafe
ab. Die Strafe könne den Motivationsprozess des Täters dahingehend beeinflus-
sen, dass er dieselbe Tat kein weiteres Mal begehen würde, beziehungsweise
potentielle Täter von der Begehung abschrecken.125 Grundlage der Strafe ist
_________________

ist“ (StrafR AT/1, § 19, Rn. 36), als Wesenseigenschaft des Menschen unterstellt. Zwar
bezeichnet Roxin seinen Schuldbegriff als einen „empirisch-normativen“, da empirisch
feststellbar die prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung und die damit verbundene
normative Ansprechbarkeit sei (s. Roxin, SchwZStr 104 [1987], S. 369); es ist aber nur
die Verhaltensänderung empirisch feststellbar, während ein empirischer Beweis, sei es
auch nur der prinzipiellen Fähigkeit zur Selbststeuerung, nicht erbracht ist. Vgl. insoweit
auch die Kritik Tiemeyers am Handlungsbegriff: „Mit der Behauptung, daß die Äuße-
rung einer Person als Handlung anzusehen ist, wird bereits ein Mindestmaß an Freiheit
vorausgesetzt. Die an die strafbare Handlung geknüpften Eingriffe in die Rechte des
einzelnen erscheinen nur dann sinnvoll, wenn die Äußerung durch einen Lenkungspro-
zeß von innen getragen wird. Von Lenkung kann aber nur dort gesprochen werden, wo
der einzelne zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann“ (GA 1986, S. 214).
Schließlich verzichtet Roxin mit seinen Grundannahmen auch auf den Nachweis der
Steuerungsfähigkeit in der konkreten Situation, der jedoch von § 20 StGB gefordert
wird.
Den legitimatorischen Überlegungen Roxins ähnlich ist die Lehre Gimbernat Or-
deigs, der sich wie v. Liszt und Roxin von Freiheitserwägungen distanziert und auf der
Motivierbarkeit des Menschen aufbaut (s. Gimbernat Ordeig, ZStW 82 [1970],
S. 388 ff.; ders., Henkel-FS, S. 160). Allerdings ergeben sich auch hier Schwierigkeiten.
Gimbernat Ordeig verwirft den Gedanken, „auf eine Strafe auch hinsichtlich derjenigen
,Normalen‘ zu verzichten, für welche das angedrohte Übel vielleicht keine hemmende
Wirkung ausübt“ (Gimbernat Ordeig, Henkel-FS, S. 160), weil er einerseits mit den
heutigen Methoden des Erkenntnisgewinns die Differenzierungskriterien zwischen den
motivierbaren und nicht-motivierbaren „Normalen“ für nicht hinreichend bestimmbar
hält und andererseits weil bei einem teilweisen Strafverzicht auch andere, die sich mit
dem „normalen“, also nicht geistesgestörten Täter identifizieren könnten, ihrerseits
darauf spekulieren könnten, ebenfalls nicht bestraft zu werden (s. Gimbernat Ordeig,
Henkel-FS, S. 160 f.; zu letzterem Argument vgl. bereits Schopenhauer, oben, S. 47).
Dabei scheint es Gimbernat Ordeig nicht in den Sinn zu kommen, dass die Strafandro-
hung bei jedem „normalen“ Täter jedenfalls de facto offenbar keine hemmende Wirkung
entfaltet hat. Konnte sie dies möglicherweise auch gar nicht, so ist eine Differenzierung
zwischen motivierbaren und nicht-motivierbaren „Normalen“ aber obsolet und wirft
natürlich die Frage auf, warum nicht alle geistig gesunden Menschen nicht motivierbar
sein sollten.
124
Engisch, Willensfreiheit, S. 44.
125
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 55. Kritisch hierzu Welzel, Engisch-FS,
S. 91 ff., 102; Strasser, Sich beherrschen können, S. 162 ff.
54 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

nach Engisch ein modifiziertes Verständnis der geläufigen Formel vom „An-
ders-handeln-Können“: „Wenn der konkrete Täter in der konkreten Situation,
in die er hineingestellt war, in dem Sinne anders hätte handeln können, daß er
seinen allgemeinen Anlagen entsprechend bei Anwendung der gebotenen Wil-
lenskraft und Besorgnis richtig hätte handeln können, so ist es sinnvoll, strafend
gegen ihn vorzugehen [...].“126
Die Strafe für die konkrete Tat trifft den Menschen also nur deshalb, weil
sein Verhalten in der Vergangenheit mit der Rechtsordnung in Einklang stand;
denn nur hieraus lässt sich mit Engisch ableiten, dass der Mensch an und für
sich eine normale Motivierbarkeit durch Normen aufweist. Was sich aus dieser
Rückschau mit Blick auf den Zeitpunkt der konkreten Tat allerdings gewinnen
lässt, erscheint fraglich.127 Man stelle sich den rechtstreuen Familienvater und
Ehemann vor, der nach dreißig Jahren zermürbenden Ehekriegs seine Ehefrau
erschlägt, weil das Maß dessen, was sein Charakter verkraften kann, an irgend-
einem Tag einfach voll ist. Kann man hier wirklich aus der Tatsache, dass er
seine Frau dreißig Jahre lang nicht erschlagen hat, ableiten, dass er sie auch in
dem Augenblick der Tat nicht hätte erschlagen können? Gerade wenn man, wie
Engisch, davon ausgeht, dass die Umwelt auf den Charakter des Menschen
einwirken kann, dann erscheint es doch möglich, dass sich der Charakter dieses
Ehemannes innerhalb von dreißig Jahren Ehe stetig verändert hat; und er kann
sich dahingehend verändert haben, dass er in dem Augenblick, als er seine Frau
erschlug, nicht anders handeln konnte. Generalisierend über die „allgemeinen
Anlagen“ von Menschen zur Normbefolgung zu sprechen, verdunkelt den Um-
stand, dass bei vielen Tätern über deren „Anlage“ zum Zeitpunkt ihrer Tat
eigentlich nur das gesagt werden kann, was sich in der Tat konkret realisiert
hat: ihre Unfähigkeit zum Rechtsgehorsam. Warum solche Menschen für ihre
aktuelle Tat eine Strafe erleiden sollen, die an ihre früher feststellbaren und
vielleicht überholten Anlagen anknüpft, leuchtet jedenfalls nicht unmittelbar
ein und bleibt deshalb erklärungsbedürftig.
Auf andere Schwierigkeiten stößt diese Lehre, wenn man sich fragt, warum
hiernach eigentlich Tiere keine Charakterschuld sollten auf sich laden können.
Denn auch einem Tier würde man grundsätzlich einen von Anlagen und Um-
welt128 beeinflussten und insoweit determinierten Charakter zuschreiben; auch
käme man gewiss mit Gründen zu dem Schluss, dass sich ein Tier durch Be-
strafung zu anderem Verhalten motivieren ließe. Dieses Problem stellt sich bei
Schopenhauer nicht, da Normen, im Gegensatz zur Strafe, nur vom Menschen
verstanden werden können. Freilich folgt bei Engisch bereits aus einer Voraus-
_________________
126
Engisch, Willensfreiheit, S. 55; s. auch ders., ZStW 66 (1954), S. 359 ff. Vgl. zur
Lehre von der Charakterschuld auch Burkhardt, Charaktermängel, S. 103 ff.
127
Vgl. insoweit bereits die Kritik an Roxin, oben, Fn. 123.
128
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 52.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 55

setzung seines Verständnisses vom „Anders-handeln-Können“, nämlich der


Fähigkeit des Menschen, sein Handeln nach Willenskraft und Besorgnis auszu-
richten129, dass Tiere hiervon ausgenommen sein müssen. Allerdings beruht
dies auf einer in das Menschenbild eingebauten Grundannahme, nämlich der
Möglichkeit willentlicher Verhaltensteuerung, die ihrerseits einen Beleg ver-
missen lässt130 und jedenfalls in die Nähe einer indeterministischen Position
rückt.
Schließlich ist auch die Frage problematisch, warum den determinierten
Charakter ein Vorwurf treffen soll.131 Der Vorwurf in Form der Strafe soll nach
Engisch geeignet sein, die Charakterbildung günstig zu beeinflussen. Dass eine
„ungeschickt angewendete Strafe“ auch solche Charakteranlagen aktualisieren
könne, die für die Rechtsordnung gefährlich sind, erwähnt er eher beiläufig.132
Inwieweit die Strafe zur Charakterbildung geeignet ist, sei „wiederum Gegen-
stand kriminologischer Forschung“.133 Damit bleibt auch die eigentliche Frage
nach der Erforderlichkeit eines Vorwurfs für die Zweckerreichung, die hier in
präventiven Wirkungen zu sehen ist, gänzlich ungeklärt. Die positiv beeinflus-
sende Wirkung einer Strafe ist ohnehin fraglich; noch zweifelhafter erscheint
sie in Bezug auf einen Menschen, dem gleichzeitig gesagt wird, dass er für
seine Tat nichts könne.134 Immerhin steht Engisch der Bestrafung von Kindern
_________________
129
Vgl. auch die Differenzierung zwischen „willkürlichen und unwillkürlichen Aus-
drucksbewegungen“ bei Engisch, Willensfreiheit, S. 52.
130
In eben diesem Lichte erscheint auch die Persönlichkeitsschuldlehre de Figueire-
do Dias‘. Hiernach würden Handlungen vom Menschen „durch die freie Entscheidung
über sich selbst“ entstehen, beruhend auf der spekulativen Annahme einer „Grundwahl“
des Menschen (s. ZStW 95 [1983], S. 240).
131
So stellt auch Arthur Kaufmann die Frage: „Wie kann man sagen, daß der Mensch
,für das eigene Sosein einstehen‘ und es ,verantworten‘ müsse, wenn dabei nicht Freiheit
vorausgesetzt ist?“ (Schuldprinzip, S. 279). Heinrich Foth resümiert insoweit: „Die
unerwünschte Determination läßt sich nicht vorwerfen, sondern nur korrigieren“ (ARSP
62 [1976], S. 265). Daneben liefert Engisch keine Erklärung dafür, warum die Schuld-
strafe zwar für Erwachsene, nicht jedoch für Kleinkinder geeignet sein soll (vgl. Wil-
lensfreiheit, S. 57). Zur Problematik der Zurechnungsfähigkeit von Tieren und Klein-
kindern vgl. auch Kohlrausch, Güterbock-FS, S. 24 f., u. Tugendhat, Aufsätze, S. 345.
132
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 53; ders., MschKrim 1967, S. 111.
133
Engisch, MschrKrim 1967, S. 111. Die Wirkung und damit Wirksamkeit der Stra-
fe aus der „Innenperspektive“ zu erklären, unternimmt Kohler: „[...] sie liegt in der
sühnenden, reinigenden, ich möchte fast sagen weihevollen Kraft des Schmerzes. Dass
der Schmerz diese Wirkung hat, und dies insbesondere der psychische Schmerz, lehrt
uns unser inneres Bewusstsein, und dieses Bewusstsein ist ein untrügliches [...]“ (Das
Wesen der Strafe, S. 6). Kritisch zur Besserung durch Strafe Kühl, Rechtsphilosophie,
S. 30.
134
Kritisch auch Frey, Einführung, S. XXII. Arthur Kaufmann hält eine Vorwurfshal-
tung des Staates für geeignet, den Täter positiv zu beeinflussen. Ohne Schuld und Vor-
wurf, prognostiziert er jedoch, würde „ein solcher Täter [...] jede kriminalrechtliche
56 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

ablehnend gegenüber, weil sich hier andere Reaktionen als die Kriminalstrafe
als besser erweisen würden.135 Daneben bleibt die Frage offen, ob der Charak-
ter des Menschen überhaupt (in diesem Fall konkret durch die Strafe) wandel-
bar ist. Auch dies ist eine ins Menschenbild projizierte Grundannahme, die
eines Belegs bedarf.

c) Wesensgleichheit psychischer Strukturen nach Graf zu Dohna

Ein anderes Problem deterministisch orientierter Schuldlehren wird bei Graf


zu Dohna offensichtlich. Ausgehend von der Annahme eines „Grundgesetzes
des sozialen Daseins“, nach welchem der Mensch, soweit er hinter den Anfor-
derungen der Gemeinschaft zurückbleibt, hierfür zur Verantwortung gezogen
werden könne136, hebt Graf zu Dohna hervor: „Nur dort hat es einen Sinn, es
den Menschen entgelten zu lassen, daß er nicht ,gekonnt‘ hat, wo ,man‘
,konnte‘, wenn seine psychische Struktur wesensgleich war mit der seiner Ge-
nossen.“137 Den inneren Grund findet diese Ansicht darin, dass der Mensch
„einzustehen hat für das, was er tut, insoweit es Ausfluß ist seiner Persönlich-
keit“.138 Zur Schuld bei unbewusster Fahrlässigkeit merkt Graf zu Dohna an:
„Nicht dafür trifft den Täter der Vorwurf, daß er die Sorgfalt außer Acht ließ,
zu der er imstande war, denn das war er offenbar nicht; aber er wäre es bei
stärkerer Willensanspannung gewesen, und hierzu kann er und muß er um der
Interessen der Gemeinschaft willen erzogen werden.“139 Wie v. Liszt geht auch
Graf zu Dohna davon aus, dass der geistig Gesunde „durch Motive normal
determinierbar“ ist „und es gerade die Aufgabe der Rechtsnormen, der Straf-
drohungen und in letzter Linie des Strafvollzugs ist, Motive zum Wohlverhal-

_________________

Sanktion als ungerecht empfinden, und er würde ohne Zweifel auch nicht bereit sein, an
seiner Resozialisierung mitzuwirken“ (R. Lange-FS, S. 36 f.).
135
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 57 f.
136
Siehe Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508 f.
137
Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 511; ders., Rechtsphilosophie, S. 79 ff., 86;
vgl. auch Ebert, StrafR AT, S. 95; insoweit ähnlich auch Jakobs, „weil er eine den ande-
ren gleiche Person ist“ (Schuldprinzip, S. 27). Tesar spricht von einer „sozialen Ähn-
lichkeit“, die Rückschlüsse auf die psychische Struktur und „Erziehbarkeit des Willens“
zulasse (s. Tesar, S. 226 ff.).
138
Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508; vgl. auch de Figueiredo Dias, ZStW 95
(1983), S. 237 ff.; kritisch hierzu Otto, GA 1981, S. 483 f., und Roxin, StrafR AT/1,
§ 19, Rn. 27–32.
139
Siehe Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 512.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 57

ten zu setzen.“140 Wo es an dieser normalen Bestimmbarkeit fehle, fehle es am


entscheidenden Erfordernis der Schuld.141
Bedenken begegnet es, zur Begründung des Vorwurfs „andere“ an die Stelle
des Täters zu setzen, wenn nicht nachzuweisen ist, dass der so verallgemeinerte
Menschentypus die konkreten „psychisch-sozialen Strukturen“ aufweist, die im
Fall des Täters diesen konkret beeinflusst haben. Denn die psychische Struktur
unterschiedlicher Menschen könnte ja möglicherweise auch nur in sehr groben
Zügen „wesensgleich“ sein.142 Und das bedeutet: Man wird auch hier nie den
Nachweis erbringen können, ob eine andere Person überhaupt in eben die kon-
krete Tatsituation des Täters gekommen wäre, folglich auch nicht, ob sie hier
anders gehandelt hätte.143 Deutlich wird dies bei der Begründung der Fahrläs-
sigkeitsschuld. Aus der „normalen Determinierbarkeit durch Motive“ folgt
keineswegs, dass dem Fahrlässigkeitstäter eine „stärkere Willensanspannung“
in der konkreten Situation möglich gewesen wäre. Dies würde Graf zu Dohna
wohl auch so nicht behaupten wollen, sondern nur, dass „man“ zu einer stärke-
ren Willensanspannung in der Lage gewesen wäre. Der Vorwurf des Unterlas-
sens dieser „Willensanspannung“ erreicht den Täter deshalb, weil er als geistig
Gesunder dazu generell in der Lage sein soll. Das wird aus dem Vergleich mit
anderen geschlossen, die man sich irgendwie in dieselbe Situation hineindenkt,
obwohl sie mit derselben Situation ersichtlich niemals konfrontiert wurden,
weil zur deliktischen Sitation eben nicht nur äußere Umstände gehören, sondern
auch der konkret-individuelle Täter. Selbst wenn also diese anderen, konfron-
tiert mit gleichen äußeren Umständen wie der Täter, ein anderes Verhalten als
dieser hätten zeigen können, mag es eben ihre individuelle „psychische Struk-
tur“ sein, die ihnen eine „Willensanspannung“ gegebenenfalls ermöglicht hätte,
welche dem Täter, wiewohl „geistig gesund“, nicht möglich war. Wenn es
unter Umständen erst der Strafvollzug ist, der „Motive zum Wohlverhalten“
setzt, dann könnte, so räumt Graf zu Dohna selber ein, das entscheidende Motiv
dem Täter möglicherweise nicht zugänglich gewesen sein. Das bezeichnet
zugleich den gewichtigsten Einwand gegen Graf zu Dohna: dass es nicht ver-
_________________
140
Siehe Graf zu Dohna, ebd.
141
Siehe Graf zu Dohna, ebd.
142
Ähnlich die Kritik Schörchers an Bockelmann: „Bockelmann weiß sicherlich, so
gut wie jeder Psychiater, daß jeder Mensch von jedem anderen wesentlich verschieden
ist“ (ZStW 77 [1965], S. 246).
143
So auch Engisch, Willensfreiheit, S. 23 ff.; dazu auch M. Köhler, Fahrlässigkeit,
S. 170 ff.; Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), S. 153 f.; Scheffler, Kritik, S. 49 f.;
Roxin, SchwZStr 104 (1987), S. 356; Cerezo Mir, ZStW 108 (1996), S. 19. Dieses Prob-
lem teilt die Lehre Graf zu Dohnas insoweit mit der Lehre vom „Anders-handeln-
Können“; dazu bspw. Brauneck: „Was das Recht inhaltlich verwirft und verbietet – das
Unrecht –, wird dem Täter als Verbrechen (= Schuld) vorgeworfen, wenn – persönliche
Zurechnung – seine innere Steuerung formal intakt war, er sich also zu einem anderen
Verhalten hätte bestimmen können“ (GA 1959, S. 272).
58 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

ständlich erscheint, Schuld anzunehmen, wenn etwas nicht verhindert werden


konnte.144

d) Personale Zurechnung nach Jakobs

Willentliche Handlungssteuerung spielte auch in der Lehre Jakobs’ zunächst


eine nicht unwesentliche Rolle: Einmal lasse sich über Strafe der Wille lenken
– durch die immer wieder erfolgende Bloßstellung von Straftätern würden
andere zu normkonformen Verhalten veranlasst und würde damit die Wirksam-
keit der Norm gestärkt.145 Zum anderen bilde sich in der Psyche die Motivation,
die im Verhalten zum Ausdruck gelange, wobei es nicht auf eine reale psychi-
sche Reflexion ankomme, sondern nur darauf, dass der motivatorische Mangel
hier zu lozieren sei.146 Als offenbar naturalistisches Element hat Jakobs die
Willenssteuerung heute aber jedenfalls aus seiner Strafidee eliminiert. Strafe
erfolge einzig zur Erhaltung der Normgeltung. Weder die Antriebslage des
Rechtsbrechers noch psychologisch-präventive Strafzwecke seien zu berück-
sichtigen: „[...] denn die Sanktion hat nicht einen Zweck, sondern ist selbst
Zweckerreichung [...].“147
Zwar verweist Jakobs explizit darauf, sein Schuldbegriff setze keine Wil-
lensfreiheit, sondern nur eine Freiheit zur Selbstverwaltung voraus148, die Fä-
higkeit zur Normbefolgung kommt jedoch der Person per definitionem149 und
damit dem Täter deshalb zu, „weil er eine den anderen gleiche Person ist, ins-
besondere wie jedermann sonst zur Äußerung über die richtige Gestaltung der
sozialen Welt kompetent ist“.150 Jakobs kann deshalb unschwer formulieren:
_________________
144
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 29; Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 74.
145
Siehe Jakobs, Schuldprinzip, S. 25. Dieser Aspekt wird in neueren Schriften aller-
dings als unwesentlich dargestellt, vgl. Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 59 f.; zu
dieser Entwicklung auch Schünemann, Roxin-FS, S. 14. Zur Problematik einer positiven
Generalprävention, die auf der Degradierung des Täters fußt, vgl. unten, S. 109.
146
Vgl. Jakobs, Schuldprinzip, S. 25.
147
Jakobs, Straftheorie, S. 36.
148
Siehe Jakobs, Schuldprinzip, S. 34 f.; vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philoso-
phie des Rechts, §§ 97, 99. Einen ähnlichen normativen Ansatz wählt K. Günther, Frei-
heit, 245 ff.; ders., Voluntary Action, S. 263 ff.
149
Vgl. Jakobs, Norm, S. 29 ff. Zur Rolle des freien Bürgers gehöre als Synallagma
die Beachtung der Normenordnung (s. Jakobs, Schuldprinzip, S. 35; ders., ZStW 117
[2005], S. 261). Vgl. auch Lesch, Verbrechensbegriff, S. 213 ff.
150
Jakobs, Schuldprinzip, S. 27. Es liegt nahe, Jakobs hier mit seinem gegenüber
dem sozialen Handlungsbegriff erhobenen Vorwurf zu zitieren: „Aber durch die Nivel-
lierung schon der [individuellen] Handlungssteuerung verschwindet das Subjekt im
Standard, als sei nicht das Subjekt, sondern ein Phantom des Normalbegabten Träger
des sozialen Kontakts. Eine solche Nivellierung mag im Zivilrecht berechtigt sein, für
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 59

„Es wird nie mehr an Verarbeitungsvermögen erwartet, als sich einstellt, wenn
die Person das konstruierte Normmotiv realiter aufweist – ultra posse nemo
obligatur.“151 Beispielhaft: Für den Autofahrer, der sich durch ein Plakat von
der Beobachtung des Straßenverkehrs hat abhalten lassen und deshalb einen
Passanten verletzt hat, gilt nach Jakobs: „[...] obwohl ihm auch eine Weltgestal-
tung mit Aufmerksamkeit für Passanten zugänglich war, hat er eine solche ohne
Aufmerksamkeit gewählt. Das Subjekt war falsch motiviert, indem es die Ab-
lenkung zuließ; es hat zwar nicht die Benachteiligung des Passanten zum
,ausdrücklichen‘ Verhaltensinhalt gemacht, wohl aber die Ablenkung, und mit
dieser war der Schutz des Passanten kognitiv unverträglich.“152 Es fragt sich
hier aber, wie das Subjekt „gewählt“ hat, wie es die Ablenkung „zugelassen“
und zum Verhaltensinhalt „gemacht“ hat; Fragen, die an sich unmittelbar die
Willensfreiheit betreffen. Für Jakobs jedoch gilt: „Wer den Standard verfehlt,
hat Schuld, mit anderen Worten, wer die Leistung der Maßstabsperson des
guten Bürgers nicht vollständig erbringt, hat versagt.“153
Während sich in der Norm die Erwartungshaltung der Gesellschaft gegen-
über einer Person widerspiegele, komme in der Straftat ein Protest gegen diese
normative Gestalt der Gesellschaft zum Ausdruck. Die Gesellschaft begreife
den Täter als Person, die eine andere Normenordnung entwirft.154 Strafe mache
den Anschluss Dritter an die vom Täter entworfene (Gegen-)Normenordnung
normativ unmöglich. Ausnahmen von der Sanktionsbedürftigkeit ergäben sich
jedoch, wenn aus der Tat lediglich „Inkompetenz zur Verwaltung schon der
eigenen Angelegenheiten spricht, so daß die Gefahr eines Anschlusses an den
materiellen Gehalt des Normbruchs nicht besteht“.155 Eine solche Inkompetenz
liege beispielsweise vor, wenn ein Defekt der kognitiven Fähigkeiten die Er-
wartung ausschließe, der Täter könne richtig kalkulieren.156

_________________

das Strafrecht kann sie nicht überzeugen; denn strafrechtliche Zurechnung, die an den
individuellen Fähigkeiten ausgerichtet wird, übergreift Rollen“ (StrafR AT, 6/24 –
Einfügungen in eckigen Klammern entstammen hier und in nachfolgenden Zitaten nicht
dem jeweils zitierten Text im Original).
151
Jakobs, Norm, S. 96.
152
Jakobs, Handlungsbegriff, S. 26. In einem neueren Aufsatz stellt Jakobs klar, dass
sich ein kausal determiniertes Individuum nicht falsch verhalten und damit auch keine
Schuld haben könne. Adressat des Schuldvorwurfs müsse daher die Person als Träger
von Rechten und Pflichten sein (s. ZStW 117 [2005], S. 257).
153
Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 68; vgl. auch ders., Norm, S. 91; ders.,
Schuldprinzip, S. 29 f.; vgl. auch Pawlik, Person, S. 87.
154
Siehe Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 57 ff.; ders., Straftheorie, S. 34; ders.,
Norm, S. 103; vgl. auch H.-G. Schmitz, Kriminalstrafe, S. 176.
155
Siehe Jakobs, Straftheorie, S. 37.
156
Siehe Jakobs, Handlungsbegriff, S. 37.
60 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Wenn also nach den Anknüpfungspunkten in der Wirklichkeit, konkret den


kognitiven Fähigkeiten des Menschen, gefragt wird, muss Jakobs letztlich und
zwangsläufig individuell-empirische Antworten geben.157 Um diese empiri-
schen Daten kommt ein Strafrecht, das einen Lebenssachverhalt ohne den Ver-
dacht der Willkür verarbeiten will, aber generell nicht herum. So ist eine kogni-
tive Fähigkeit nicht (ausschließlich) normativ bestimmbar und ihre empirische
Beurteilung ein notwendiger Bestandteil normativer Behauptungen, wenn Ge-
rechtigkeit und Rechtssicherheit hinreichend gewahrt werden sollen.158
Die Validität dieses Erklärungsmodells ist aber auch in anderer Hinsicht vom
Bestand seines empirischen Unterbaus abhängig. Es setzt Selbst- und Fremdzu-
schreibung von Handlungen und Handlungsmotiven in der Weise voraus, wie
wir sie heute erleben. Diese psychologische Grundannahme lässt Jakobs in
einem Entwicklungsprozess wie die Stufen einer Treppe hinter sich, gleichwohl
bildet sie das Fundament seiner Theorie. Normen und die Sanktionierung von
Normbrüchen verlieren nämlich nicht automatisch ihren Sinn, wenn eine ande-
re Erlebnisstruktur zugrundegelegt wird. Dies wird deutlich, wenn man sich
vorstellt, dass der Täter aufgrund seiner (normalen) kognitiven Konstitution
nicht in der Lage war, die Norm zu befolgen, die Tat also für ihn wie für jeden
anderen Täter unvermeidbar war. Anders gewendet: Jede Tat brächte zum Aus-
druck, dass eine andere kognitive Ausrichtung gerade nicht möglich war. Dann
spiegelte sich in dem Normbruch nur die Unfähigkeit wider, sich zum konkre-
ten Zeitpunkt nach der Norm zu richten, was Jakobs nur bei einem ausgesuch-
_________________
157
Die Vermeidbarkeit wird als „selbstverständliche Voraussetzung“ strafrechtlicher
Zurechnung (s. Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 67; vgl. auch ders., Studien, S. 41 ff.;
ders., Handlungsbegriff, S. 25; ders., StrafR AT, 6/24 ff.) zunächst „mit Hilfe der Hypo-
these bestimmt, daß der Täter, hätte er das dominante Motiv zur Vermeidung einer
bestimmten Aktion, diese Aktion real vermeiden würde“ (Jakobs, StrafR AT, 6/27; s.
auch ders., Handlungsbegriff, S. 39). Mit Blick auf den konkreten Sachverhalt kommen
dann Erwägungen hinsichtlich der kognitiven Verarbeitungsdauer ins Spiel (vgl. dazu
unten, S. 183 f).
158
Hier grenzt sich der Schuldbegriff Geislers von dem Jakobs’ ab. Geisler möchte
auf eine „reale“ Möglichkeit zum Andershandelnkönnen nicht verzichten, die aber schon
immer dann bestehe, wenn der Täter „relativ frei“ im Sinne einer negativen Handlungs-
freiheit sei (s. Geisler, S. 128 f.): „Die stigmatisierende Wirkung des Schuldurteils ist
insofern weniger ausgeprägt. Der mit ihm verbundene Schuld-,vorwurf‘ ist abge-
schwächt-bescheidener nur als ,Vorhalt‘ zu begreifen“ (Geisler, S. 582). Ablehnend
gegenüber einer moralischen Abwertung des Straftäters auch Tiemeyer (s. GA 1986,
S. 226 f. mit Fn. 104; ders., ZStW 100 [1988], S. 543 ff.), der jedoch, wie Streng be-
merkt, den Freiheitsbeweis seinerseits nicht umgehen könne. „Denn auch das Erkennen
relativer Freiheit oder Unfreiheit setzt einen empirisch faßbaren – und insoweit
,absoluten‘ – Bezugspunkt voraus. [...] Andernfalls handelt es sich um eine Bezugnahme
auf Faktoren, die lediglich einem allgemeinen Freiheitsbewußtsein entsprechen [...],
nicht aber um eine empirische Erfassung von Freiheit selbst“ (ZStW 101 [1988],
S. 279).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 61

ten Personenkreis unterstellen will, was hier aber um des Arguments willen
einmal für alle Täter vorausgesetzt werden soll. Kein Protest hätte stattgefun-
den, sondern unvermeidbares „Versagen“. Der Normbruch drückte wegen sei-
ner Unvermeidbarkeit nicht mehr die Missachtung der Norm aus. Die Erwar-
tungshaltung der Gesellschaft könnte sich der Wirklichkeit anpassen (wenn sie
dies nicht ohnehin macht), nach der rechtlich missbilligte Verhaltensweisen mit
einer gewissen Häufigkeit eintreten. Andernfalls müsste man wohl mit Jakobs
sagen, dass das Wollen der Gesellschaft (hier die Befolgung der Normenord-
nung) auf einem falschen Wissen (hier der Vermeidbarkeit des Normbruchs)
beruht und damit von Inkompetenz zeugt.159 Norm und Sanktionierung des
Normbruchs blieben gleichwohl erforderlich, um Konflikte zu definieren und
Konfliktlösung zu instrumentalisieren, soweit die Konflikte nach dem jeweili-
gen Gesellschaftsbild als nicht mehr privat lösbar angesehen werden.160 Die
Lehre von Jakobs operiert also mit einer „Freiheit zur Selbstverwaltung“, die
das empirische Faktum einer bestimmten kognitiven Fähigkeit voraussetzt –
schließlich wird auch der „Defekt“ dieser Fähigkeit, wie die §§ 20, 21 StGB
verdeutlichen, empirisch untermauert –, dessen Existenz aber nur über allge-
mein-gesellschaftliche Zuschreibungsmodelle beglaubigt wird. Strafrechtliche
Verantwortlichkeit wird damit nur innerhalb dieser Zuschreibungsmodelle
herausgearbeitet; Alternativen zur Strafe werden dadurch nicht ausgeschlossen.
Neben einer Generalprävention im Sinne psychologischer Beeinflussung hat
mit der Lehre Jakobs’ aber ein eher nüchterner Aspekt der Strafe gewisserma-
ßen abseits von Schuld und Prävention an Bedeutung gewonnen: Die Aufrecht-
erhaltung der Norm durch den Vollzug der mit der Norm verbundenen Sankti-
onsdrohung. Allerdings vermag auch die – unbestreitbare – Notwendigkeit der
Sanktion zum Erhalt der Norm noch nicht den Inhalt der Norm und damit die
konkrete Form des Vollzugs zu legitimieren. Dies liefe auf das Argument hin-
aus, die Strafe sei schon deshalb legitim, weil es eine Strafnorm gebe, deren
Existenz gesichert werden müsse. Ausgeblendet wird dabei wiederum die Mög-
_________________
159
Vgl. Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 849.
160
Dazu auch Robbers: „Entgegen zumeist vertretener Auffassung sind Zwang und
Strafe dem Recht ganz sekundär. Die äußere Erzwingbarkeit ist bloßes Akzidens, nicht
unterscheidendes Proprium des Rechts. Das Recht dient dazu, das Zusammenleben in
Gemeinschaft zu ordnen, seine Zielvorstellungen deutlich zu machen, Institutionen zur
Verfügung zu stellen, in denen freiheitliche Entfaltung des Einzelnen möglich ist. Sol-
che Strukturen bereit zu halten ist die primäre Funktion des Rechts. Daß hierbei das
Instrument der Strafe bisweilen zum Tragen gebracht werden muß, ist Ausdruck des
Scheiterns, keineswegs ein Charakteristikum des Rechts, das es von anderen Ordnungs-
systemen unterscheiden würde“ (S. 149 f.). Vgl. auch Frank, der hervorhebt, der Streit
der Lehre drehe sich nicht um das Ziel, das in der Aufrechterhaltung der sozialen Ord-
nung zum Schutz der Interessen der Einzelnen und der Gesamtheit zu sehen sei, sondern
um die Mittel zu seiner Erreichung (s. Vergeltungsstrafe, S. 11); Hassemer, Schuldprin-
zip, S. 104 ff.; Scheerer, EuS 12 (2001), S. 69 ff.
62 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

lichkeit, dass auch andere staatliche Reaktionen Normen wie das Tötungsverbot
aufrechterhalten könnten.161 Baurmann sagt dazu: „Nur wenn man Strafe als ein
für jeden ernsthaften Normgeber unverzichtbares Mittel der Vergeltung oder
instrumentellen Prävention betrachtet, wird man das Fehlen einer Strafandro-
hung zwangsläufig als Ausdruck für das Fehlen eines ernsthaften Willens des
Normgebers interpretieren. Nur dann also, wenn und insofern die Normadres-
saten diese Überzeugung besitzen und der Strafe notwendige nicht-symbolische
Funktionen zuschreiben, ist Strafe ein nicht substituierbares Ausdrucksmittel
für den Willen eines Normgebers, und nur dann muß ein Gesetzgeber die Strafe
als Mittel zur symbolischen Manifestation von Rechtsgeltung verwenden.“162
Jakobs setzt dagegen die Notwendigkeit von Strafe bereits voraus.163

e) Strukturdeterminiertes Handeln und Verantwortlichkeit nach Kargl

Kargl hält die Handlung und den Willen für „strukturdeterminiert“: Sie seien
keiner außerkausalen Disposition erreichbar, aber gleichzeitig für den Handeln-
den auch nicht voraussagbar. Der Handelnde müsse sich entscheiden und diese
Wahl sei keine Selbsttäuschung.164 Kargl orientiert sich also an der Position
eines epistemischen Indeterminismus.165 Lebewesen verfügten über Nervensys-
_________________
161
Hieran zweifelt indes Jakobs, der die Erforderlichkeit des Strafrechts darin sieht,
dass es an einer Organisationsalternative fehle (s. StrafR AT, 17/23), die im „kommuni-
kativen Bereich“ aber auch zwangsläufig ausgeschlossen sei (s. Schuldprinzip, S. 29).
Vgl. auch ders., Strafe, S. 26 ff.
162
Baurmann, GA 1994, S. 384; vgl. auch ders., Zweckrationalität, S. 230 ff. Schild
räsoniert: „Man könnte doch die Tat selbst (und als solche) als Rechtsbruch anprangern,
in einem öffentlichen Tribunal (und gerade nicht in einem Strafverfahren) als Unrecht
entlarven, vor allem durch die Mittel der modernen Mediengesellschaft sittlichen Ab-
scheu vor einer solchen Tat erzeugen (etwa durch Inszenierung eines Theaterprozesses).
Überhaupt liegt auf der Hand, daß eine Motivierung von Menschen besser (und jeden-
falls milder) durch positive Sanktionen – also Belohnungen – gelingen kann als durch
negative Sanktionen wie als Übel empfundene Strafen“ (Lenckner-FS, S. 292). Vgl.
auch v. Bar: „Immerhin könnte die Notwendigkeit anerkannt werden, verbrecherischen
Personen die Möglichkeit zu nehmen, zu schaden; aber man würde diese Vorbeugungs-
maßregel mit möglichster Schonung ausüben, etwa wegen erwiesener verbrecherischer
Neigung der Freiheit Beraubten dafür in anderer Weise tunlichst Ersatz schaffen müs-
sen. Es wäre ein Unglück, aber nicht eine Schande, zu den Verbrechern zu gehören“
(Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 7); u. Kargl: „[...] man kann nicht beides
gleichzeitig haben wollen: ein Schuldstrafrecht und einen funktionierenden, Grundrechte
achtenden Behandlungsvollzug“ (Kritik, S. 288). Zustimmend Scheffler, Kritik, S. 122.
Anders J. Baumann, Strafrecht, S. 104 ff.
163
Dies wird zu Recht auch von Schünemann kritisiert (s. Roxin-FS, S. 15).
164
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 192.
165
Dazu oben, S. 43.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 63

teme, die sie insoweit „autonom“ gegenüber ihrer Umwelt machten, als sie die
von außen kommenden Reize ihrer systemischen Eigenart entsprechend verar-
beiteten, die Verarbeitung also selber festlegten (sog. „autopoietische Syste-
me“166).167 „Das System unterliegt demnach keiner Außenlenkung im determi-
nistischen Sinn.“168 Obwohl alles Handeln und Wollen nach Ansicht Kargls auf
neuronale Strukturen zurückzuführen ist, schreibt er dem Individuum die Fä-
higkeit zu, „zwischen den disparaten kognitiven Strukturen [zu] wählen und das
eigene Bezugssystem in dieser Hinsicht [zu] korrigieren“169, und versucht so,
das (strukturdeterminierte) Wollen als Kontrollinstanz menschlichen Verhal-
tens zu erhalten. Auf dieser (unfreien) Willensbetätigung basiert die Möglich-
keit zur Verankerung eines (objektiven) Vorwurfs. 170 Kargl zufolge ist der
Wille also der „Faktor, der in der Gegenwart als affektive Dynamik die Hand-
lung steuert“.171 Aber: „Auch der Wille als regulierender Gefühlsimpuls unter-
liegt den Wandlungen des Systemzustands.“172 „Ebenso wie die Psyche als
Ganze ist der Wille als deren Bestandteil determiniert.“173 Der Mensch sei auf-
grund seines Bewusstseins als „selbstbeobachtendes System“174 zu Selbst- und
Fremdreferenz fähig.175 Die Informationen, die hierdurch entstünden, bewirkten
ihrerseits wieder „Veränderungen im Bewußtsein bzw. im Gehirn“:176 „Es ist
nun genau diese Disposition zur Selbstreflexivität und zur damit gegebenen
Motivationsänderung, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, an Menschen
ethische Erwartungen zu richten.“177 „Jeder soll sich mit den Faktoren aus-
_________________
166
Der Begriff der Autopoiesis wurde von den chilenischen Neurobiologen Humber-
to Maturana und Francisco Varela geprägt und leitet sich von den altgriechischen Wör-
tern für „selbst“ und „machen“ ab. Zum Konzept der Autopoiese gehören Selbstreferen-
tialität (interne Steuerung eigener Zustände), operative Geschlossenheit (äußere Reize
können nur als Selbstveränderung wahrgenommen werden) und strukturelle Kopplung
(das System wählt den Kontakt zur Umwelt selber aus).
167
Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 178 ff.
168
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 194.
169
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 521, sowie S. 191. Dies erinnert an eine Ab-
wandlung von der Lehre des Anders-handeln-Könnens in eine Form des „Anders-
einstellen-Könnens“ (vgl. Hardwig, MschrKrim 1961, S. 202 f.), womit ein „Rückzug“
aus der Problematik der Handlungsfreiheit in die Frage der Willensfreiheit, freilich
wiederum als „schwacher“ Freiheitsbegriff, angetreten wäre.
170
Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 204 ff.
171
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 504.
172
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 518.
173
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 517.
174
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 85.
175
Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 83 ff.
176
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 520.
177
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 522; ähnlich Jakobs, Schuldprinzip, S. 23 ff.
Auch Graf zu Dohna erkennt beim Menschen „die allgemeine Fähigkeit [...], sein Ver-
64 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

einandersetzen, die sein vergangenes Handeln steuerten. Soweit der Handelnde


in der Vergangenheit andere Mitglieder der Gruppe schädigte, erscheint über-
dies die Erwartung berechtigt, die erkannte Handlungsdisposition zu verändern.
Die neue, auf Tadel verzichtende und Strafe in hohem Maße modifizierende
Verantwortlichkeit besteht in der sozialen Erwartung, die eigene Person zu
erkennen und gemäß dieser Erkenntnis eine Handlungsdisposition zu verän-
dern.“178 Diese Erwartungshaltung gegenüber dem Individuum, die „richtige“
Wahl zu treffen, beruht auf der Annahme, dass die Person zum einen erkennen
kann, dass ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen, und zum
zweiten, dass die Person ihre Motivation durchschauen und durch Selbstrefle-
xion ihr Bezugssystem korrigieren kann.179 Dadurch, dass Kargl hier von der
Außenperspektive in die Innenansicht des Individuums wechselt, übergeht er
jedoch die objektiv zugrundeliegenden Voraussetzungen dieser These. Zu-
nächst müsste eine Person in der Lage sein, die tatsächlichen Gründe für ihr
Verhalten und die Erwartungshaltung zu erkennen. Hier beginnt Kargl zu rela-
tivieren, indem er ausführt: „[...] aber der Selbstbeobachtung sind sicherlich die
dominierenden Erwartungsstrukturen zugänglich.“180 Für sicher bewiesen hält
Kargl diese „Zugänglichkeit“ also nicht. Ihre Realität bleibt somit unklar; den-
noch bildet sie eine entscheidende Voraussetzung von Kargls Theorie. Gerade
wenn sich aber menschliches Verhalten und Denken auf die Funktionsweise
eines neuronalen Systems zurückführen lässt, bedarf es einer Erklärung, wie die
Erwartungsstrukturen der Selbstbeobachtung zugänglich sein sollen. Außerdem
erläutert Kargl nicht schlüssig, inwiefern das Individuum aus der Retrospektive
zu dem Ergebnis gelangen muss, eine Entscheidung gefällt zu haben; könnte
doch das Individuum seine anfänglich als „Wahl“ verstandene Handlung nun
im Lichte ihrer strukturellen Determination und damit gerade als „unfrei“ ver-
stehen. Daneben müsste sich das Verhalten einer Person tatsächlich auf ihren
Willen beziehungsweise ihre Entscheidung zurückführen lassen.181 Wenn Kargl
_________________

halten nach Vernunftsgründen zu bestimmen [...]“ (Rechtsphilosophie, S. 86); und ähn-


lich mutet auch die Position M. Köhlers an: „Der Täter muß also, nicht bloß theoretisch,
sondern im praktisch-konkreten Selbstbestimmungsprozeß sich setzen und realisieren
als (potentiell) Vernünftigen, der partikulär nach vernunftswidriger [...] Handlungsma-
xime gehandelt hat“ (Strafe, S. 36).
178
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 522.
179
Diese beiden Voraussetzungen stellt Kargl selbst als Grundlage seiner Theorie
heraus (vgl. Handlung und Ordnung, S. 522). Vgl. ferner Kargl, Handlung und Ordnung,
S. 198 u. 521, sowie unter dem Stichwort „Freiheit“ auf S. 581; ders., Vorsatz, S. 104.
180
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 198 u. 521.
181
Kargl kommt, ausgehend von der experimentell bestätigten Tatsache, dass sich
neuronale Aktivität regelmäßig über verschiedene Teile des Kortex erstreckt, zu der
Schlussfolgerung, dass bewusstes Erleben „aus den Interaktionen vieler Millionen von
Nervenzellen“ resultiere, um hieran anzuhängen, dass es gleichzeitig „Ursache und
Ausgangszustand für die Veränderung solcher Erregungsmuster“ sei. (s. Kargl, Hand-
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 65

darauf abstellt, die Wahl des Individuums sei keine Selbsttäuschung, weil das
Individuum nicht wisse, wie es determiniert sei, dann wird auch dieser Aspekt
lediglich aus der Innenansicht des Individuums erklärt, obwohl man Kargls
Konzept zufolge aus objektiver Sicht gerade zu dem Ergebnis einer Selbsttäu-
schung gelangen müsste, denn aus der Außenperspektive verneint er konse-
quent jegliche Freiheit.182 So bemerkt er selbst: „Aber auch hier bleibt ent-
scheidend, daß diese Wahl stets nur auf der Basis der eigenen Geschichte struk-
tureller Koppelungen erfolgen kann. Das schließt eine Wahl ex nihilo aus und
eröffnet deshalb keine Chance für eine Wiederbelebung des herkömmlichen

_________________

lung und Ordnung, S. 86 f., insb. Fn. 43). Die von ihm genannten Forschungen, insb. die
Experimente Libets (dazu unten, S. 252 ff.), unterstützen zwar die These, dass bewusstes
Erleben in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität steht, der umgekehrte Fall, Bewusst-
sein als Ursache neuronaler Aktivität, hat aber eine ganz eigene Tragweite, die Kargl
nicht durch empirische Erkenntnis erhärtet. Die Komplexität neuronaler Prozesse bietet
hierfür keine Begründung. Diese Problematik findet sich in ähnlicher Form bei Luh-
mann, wenn er das Bewusstsein als autopoietisches System darzustellen versucht. Jeder
Strukturbildungs- und Strukturveränderungsprozess des Bewusstseins lasse sich danach
zunächst morphogenetisch herleiten (s. Autopoiesis, S. 47), dann jedoch solle auch
einem Gedanken die Beobachtung eines anderen Gedankens als Vorstellung dazu die-
nen, „sich selbst zu finden, sich in der diffusen Aktualität des Moments kurzfristig zu
lokalisieren und den Übergang zum nächsten Moment zu regulieren“ (ebd., S. 48).
Durch den Kontakt mit anderen Systemen und einer mittels Selbst- und Fremdreferenz
erworbenen Erwartungshaltung könne ferner das Erleben bestimmter Vorstellungen als
anormal herausgebildet werden. „Am Recht kann man ablesen, ob man die Erwartung
als berechtigt festhalten kann oder ob man sie aufgeben muß“ (ebd., S. 50). Es bleibt
aber ungeklärt, wie sich diese Erwartungsregulation praktisch vollzieht. Luhmann er-
wähnt zwar die Kopplung der Genese komplexer Bewusstseinssysteme mit dem neuro-
physiologischen System des Körpers (s. ebd., S. 51), geht hierauf allerdings nicht weiter
ein.
182
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 183. Aufgrund dieser Inkonsequenz ist
auch der Einwand Gössels berechtigt, soweit er Kargl entgegenhält, der Mensch könne
die Elemente des Handelns schon vorausschauend erkennen und sein Entscheidungsver-
halten daran und unter zusätzlicher Heranziehung normativer Gesichtspunkte ausrichten
(s. GA 1993, S. 134). Damit übergeht Gössel ebenso wie Kargl selber die objektive
Unfreiheit des hier skizzierten Individuums. Auch Klaus Günthers Theorie einer „kom-
munikativen Freiheit“ vermag vor dem Hintergrund eines determinierten Individuums
nicht zu überzeugen. Fraglich ist wie bei Kargl bereits, ob das Individuum tatsächlich
imstande ist, den von ihm akzeptierten Gründen zu folgen (s. K. Günther, Freiheit,
S. 246), bzw. ob es von seiner „kritischen Stellungnahme abhängt“, ob und wie es han-
delt (s. K. Günther, Freiheit, S. 247 u. 257). Nach Klaus Günther soll dem Individuum
hieraus die Möglichkeit erwachsen, „der Norm zumindest äußerlich zu folgen“ (Freiheit,
S. 255). Wenn aber auch Gründe auf determinierenden Ursachen beruhten, wäre nicht
ersichtlich, wie das Individuum über seine (handlungsleitenden) Gründe bzw. über die
damit korrespondierenden Ursachen disponieren und damit den Normbruch vermeiden
könnte (vgl. dazu ausführlich R. Merkel, Philipps-FS, S. 437 ff.).
66 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Schuldprinzips, das die Bedingtheit der Wahl letztlich leugnen muß.“183 Dabei
lässt er es bewenden und versäumt so, den Widerspruch zwischen struktureller
Determination und einer „Wahl“ des Individuums zu lösen. Denkt man das
Prinzip struktureller Determination aber konsequent zu Ende, gibt es keine
„Wahl“ des Individuums. Diese kann sich zwar als ein subjektives Erleben
darstellen, die Selbst- und Fremdreflexion aber, welche die Verantwortlichkeit
des Individuums begründen soll, ist selber abhängig von den strukturellen Be-
dingungen des neuronalen Systems. Es stellt sich also die Frage, an wen oder
vielmehr an was sich die Erwartungshaltung, die Handlungsdisposition zu ver-
ändern, richten soll. Ein neuronales System „wählt“ nun einmal nicht. Daneben
lässt Kargl auch das Problem enttäuschter Erwartungen der Gesellschaft auf
sich beruhen. Können aber von dieser, wie Kargl behauptet, berechtigte Erwar-
tungen an das Individuum gestellt werden, so begründet allein deren Enttäu-
schung eine resultierende Vorwurfshaltung, die sich kaum von einer „negativen
Bewertung“ der abweichenden Person, einer „moralischen Missbilligung“ oder
einem „sozial-ethischen Unwerturteil über den Täter“184 wird abgrenzen lassen.
Wird sie aber einem Individuum gegenüber zum Ausdruck gebracht, das objek-
tiv nicht anders handeln konnte, dann kann auch die Vorwurfshaltung selber
objektiv nur unberechtigt sein. Trotz aller Kritik an der theoretischen Unterlage
ist hervorzuheben, dass Kargl so konsequent ist, keinen persönlichen Vorwurf
gegenüber dem Täter zu erheben, und außerdem die Gemeinschaft mit in die
Verantwortung für ein Vorgehen einbeziehen will, das auf die Veränderung des
neuronalen System eines Straftäters im Modus des „Lernens“ zielt. Der Täter
wird danach nicht bestraft, sondern zum Lernen angehalten: „Erkenntnis und
Veränderungsarbeit sind keine Übel.“185 Dabei wird der Lernprozess durch „ein
gewisses Maß an positiver Haltung“ des Gemeinwesens gefördert, durch „mo-
ralische Feindschaft“ dagegen behindert oder sogar unterdrückt.186 Soweit ist
Kargl zuzustimmen. Einzuwenden bleibt, dass Erkenntnis und Veränderungsar-
beit für sich genommen keine Übel bedeuten mögen; der Zwangseingriff des
Staates in die Lebensführung des Einzelnen – und erfolgte er noch so behut-
sam – ist es aber immer.187

_________________
183
Kargl, Vorsatz, S. 104; vgl. auch die Feststellung Kargls, dass wir zwar handeln
könnten, wie wir wollen, aber nicht wollen könnten, wie wir wollen (s. Handlung und
Ordnung, S. 203).
184
Diese Haltungen gegenüber der delinquenten Person werden von Kargl ausdrück-
lich abgelehnt (vgl. Handlung und Ordnung, S. 214).
185
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 213.
186
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 214.
187
Vgl. auch Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 84, und Jakobs: „Selbst der Umstand,
dass überhaupt dem Täter zugerechnet und gegen ihn reagiert wird, kennzeichnet ihn als
Konfliktursache und bestätigt damit die Norm“ (StrafR AT, 1/37, 55).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 67

4. Zusammenfassung

Schuldlehren, die von einer „absoluten“ Freiheit des Menschen Abstand zu


nehmen versuchen, begegnen folgenden Problemen, wenn es um die Begrün-
dung der Berechtigung eines Schuldvorwurfs geht: Wird von einem Ursachen-
zusammenhang zwischen Wille und Verhalten als „quasi-empirischer“ Aussage
über den Menschen ausgegangen, dann ist bereits dieser Zusammenhang unbe-
wiesen.188 Die Annahme eines solchen Zusammenhangs verleitet indes dazu,
dem Menschen einen Einfluss auf seine Willensbildung zuzuschreiben, der es
ihm ermöglicht, sein Verhalten nach gesellschaftlichen Normen auszurichten,
sei es durch Erkennen motivationaler Faktoren (Kargl), durch die Wahl einer
normativ richtigen Motivation (Jakobs) oder durch Aufwendung gebotener
Besorgnis (Engisch). Dazu müsste das menschliche Bewusstsein Zugang zu
den Variablen haben, die das Verhalten (mit-)bestimmen, das heißt die Varia-
blen müssten selber bewusstseinsfähig sein und das Bewusstsein müsste auf sie
Einfluss nehmen können. Liegt der Anknüpfungspunkt der Schuld hingegen
nicht in der Willensbildung, so wird er darin gesehen, dass der Täter sich an-
ders verhalten hat, als dies „andere“ an seiner Stelle getan hätten (Graf zu Doh-
na). Die Annahme, auch der Täter hätte sich im Prinzip ebenso verhalten kön-
nen wie andere, die das Delikt nicht begangen hätten, setzt eine hinreichende
Ähnlichkeit der psychischen beziehungsweise kognitiven Struktur und damit
eine annähernd gleiche emotionale wie rationale Verarbeitung äußerer Einflüs-
se bei allen Menschen voraus. Dass der Täter sich auch normgemäß hätte moti-
vieren und sein Verhalten danach ausrichten können, ist eine Prämisse, die
natürlich auch schon die zuvor genannten Lehren voraussetzen.
Ferner werden rechtsethische Probleme aufgeworfen, wenn Schuld und Stra-
fe den unvermeidbar Handelnden bessern sollen (Engisch, v. Liszt). Begrifflich
verwirrend ist schließlich die Verwendung des Wortes „Schuld“, wenn das
Verhalten der Person nicht vermeidbar war. Dabei entsteht der Anschein, es
werde versucht, das Schuldstrafrecht ungeachtet des mit ihm korrespondieren-
den sozialethischen Tadels mit einer deterministischen Grundlage in Einklang
zu bringen, indem der Tadel – jedenfalls in der Theorie – auf ein „Nullum“
reduziert wird.189 Man müsse, so Paul Merkel, „auch wenn man auf dem Stand-
punkt steht, daß jeder Willensentschluß, einerlei ob bewußt oder unbewußt,
_________________
188
Vgl. dazu oben, S. 36 ff. Die Juristen gehen – im Gegensatz zu Schopenhauer –
regelmäßig von einem „quasi-empirischen“ Kausalzusammenhang aus (vgl. z. B. Loe-
ning, Vorlesungen, S. 23), wie sich auch im folgenden Teil der Arbeit noch deutlicher
zeigen wird.
189
Vgl. auch v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 42 u. 48;
Achenbach, Zurechnung, S. 137. Zur Funktion des Schuldspruchs als „sozialer Tadel“
vgl. die Kritik Lampes insoweit, als er darauf hinweist, dass dies an den „harten
Tatsachen“ vorbeigehe (s. Strafphilosophie, S. 226 f. m. w. N.).
68 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

ursächlich bedingt ist, [...] nicht zu dem Ergebnis kommen, die Möglichkeit der
Schuld und damit den Sinn der Strafe zu leugnen“.190 Hier liegt jedoch das
entscheidende rechtsethische Problem und hier finden sich die wenigsten Ar-
gumente. Daher wird man Roeder beipflichten müssen, wenn er bemerkt: „Das
Verantwortlichkeits- und Schuldproblem darf mit Fug als die ,Achillesferse‘
des Determinismus bezeichnet werden.“191

5. Exkurs: Neuere Ansätze in der deutschen Philosophie

Auch in der deutschen Gegenwartsphilosophie wird das Problem einer straf-


rechtlichen Verantwortlichkeit trotz determinierten Verhaltens eher stiefmütter-
lich behandelt. Zwar haben die neurowissenschaftlichen Forschungen, die bis-
her noch nicht zur Sprache gekommen sind, mit denen sich aber der dritte Teil
dieser Arbeit auseinandersetzen wird, in den letzten Jahren die philosophische
Freiheitsdebatte wieder neu aufleben lassen. Der bisherige Ertrag dieser Theo-
rien für einen strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriff geht dabei jedoch
gegen Null. Denn es gibt noch kaum eine philosophische Auseinandersetzung
damit, was „Verantwortung“ und speziell „strafrechtliche Verantwortung“
eigentlich meint.192 Die kompatibilistische Position in der Freiheitsdebatte hat
dabei insbesondere durch die Neurowissenschaften gewissermaßen „Rücken-
wind“ bekommen. Obwohl man sich in der Wissenschaft seit langem weitge-
hend darüber einig ist, dass Mentales immer nur in Abhängigkeit von (determi-
nierten) neuronalen Prozessen stattfindet (man spricht von „neuronalen Korre-
laten“, weil nach wie vor ungeklärt ist, wie genau diese Abhängigkeit zu ver-
stehen ist), haben die neurowissenschaftlichen Forschungen diesen Zusammen-
hang jedenfalls so beeindruckend bestätigt, dass die damit mögliche Determina-
tion alles Mentalen zu neuen Überlegungen in der Freiheitsdiskussion Anlass
gegeben hat. Dabei haben auch die neurowissenschaftlichen Forschungen – das
sei vorweggenommen – das Geist-Gehirn-Problem über eine Erhärtung der
Annahme einer gerichteten Abhängigkeit (Mentales vom Physischen – nicht
umgekehrt) hinaus nicht weiter erhellen können. Ausgehend von der Annahme,
dass möglicherweise alles Denken und Handeln in Abhängigkeit von neurona-
ler Aktivität und insofern determiniert stattfindet, versuchen die deutschen
Philosophen Peter Bieri und Michael Pauen zu zeigen, dass auch in diesem Fall
am Schuldstrafrecht festgehalten werden könne. Ihre Freiheits- und Schuldkon-
zeptionen sollen daher hier exemplarisch untersucht werden.
_________________
190
P. Merkel, StrafR AT, S. 96.
191
Roeder, Willensfreiheit, S. 169.
192
Diesen Misstand rügt jetzt Pothast, Verantwortlichkeit, S. 113 ff. – Vgl. immerhin
den Sammelband „Verantwortung“, hrsg. v. Kurt Bayertz, der allerdings für einen Beg-
riff der spezifisch strafrechtlichen Verantwortlichkeit ebenfalls praktisch nichts hergibt.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 69

a) Personale Freiheit nach Bieri

Berücksichtigt man die neurowissenschaftliche Forschung, so stehen sich


nach Bieri zwei Einsichten gegenüber: Alles Fühlen, Denken und Handeln ist
determiniert durch neuronale Prozesse; und: der Mensch kann dennoch das
zutreffende Gefühl einer Wahl haben. Für Bieri sind dies zwei Wahrheiten, von
denen keine näher an der Wirklichkeit ist als die andere. Sie seien koexistent
und kompatibel. Das Individuum sei frei und damit verantwortlich, wenn sein
Wille mit seinem Urteil übereinstimmt. Es sei eine Freiheit der „Plastizität des
Willens relativ auf das Urteilen“. Und dies sei genau das Verständnis von Wil-
lensfreiheit, das bei der Zuschreibung von Verantwortung auch im Strafrecht
leitend sei. Selbst wenn die neuronalen Korrelate des Urteilens und des Wol-
lens determiniert seien, so ließe sich noch immer sagen, dass die kausale Ab-
folge von neuronalen Korrelaten, die zunächst eine Überlegungsepisode hervor-
rufen und anschließend eine Wollensepisode, zu Verantwortlichkeit für die sich
anschließende Handlung führen. Das Wollen hätte also anders ausfallen kön-
nen, wenn die neuronalen Korrelate der Überlegungsepisode andere gewesen
wären. Hierin liege der Spielraum von Möglichkeiten, der den intuitiven Kern
der Freiheitsidee ausmache. Dagegen führe eine Störung der neuronalen Korre-
late der Überlegungsepisode, die bewirkt, dass zwar eine Wollensepisode und
eine anschließende Handlung eintritt, denen aber keine Überlegungsepisode
vorangeht, dazu, dass auch keine Verantwortung für die Handlung zugeschrie-
ben werden könne. Sie entfalle beispielsweise durch einen Rausch der Gefühle,
im neurotischen Wiederholungszwang und in der psychotischen Erkrankung.193
Dies ist gewiss eine richtige Herangehensweise, will man Verantwortlichkeit
und neuronale Determination vereinen. Bieri verkennt allerdings sicherlich
nicht, dass auch solche Überlegungsepisoden nur auf der Grundlage neuronaler
Korrelate möglich sind, und dass diese als Natur- (nämlich physiologische)
Vorgänge ebenfalls nur so, wie sie waren, sein konnten und keine anderen
hätten sein können, es sei denn, dass es sich um ein anderes Individuum oder
das konkrete Individuum mit einer anderen Vergangenheit beziehungsweise
einer aktuell anderen Umgebung gehandelt hätte. Wie auch immer: Die Hand-
lung konnte von diesem konkreten Individuum mit seiner Vergangenheit und in
seiner Situation nicht vermieden werden. Beruhe aber, so Bieri, das subjektiv
erlebte Wollen auf einem subjektiv erlebten Urteil, dann entstehe begründete
Verantwortung.
Die psychologischen Grundannahmen der Abfolge von Urteil und Wollen
sollen hier undiskutiert bleiben, denn das würde am Wesentlichen vorbeiführen.
Jedenfalls festhalten wird man zunächst einmal müssen, dass die Abfolge Urteil
_________________
193
Bieri, Schadet die Regie des Gehirns der Freiheit des Willens? (unveröffentlichtes
Manuskript).
70 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

– Wollen ein persönliches Erlebnis des Individuums aus seiner Innenperspekti-


ve ist. Nun kann unterstellt werden, dass ein solches subjektives Erlebnis auch
von anderen Individuen erfahren wird und dass es in den von Bieri genannten
Zuständen des Rausches und der psychotischen Erkrankung nicht auftritt. Dar-
aus ließe sich möglicherweise eine objektivierte Zuschreibung von Verantwor-
tung aus der Außenperspektive nur in den ersteren und nicht in den letzteren
Fällen ableiten.
Schwierigkeiten werfen allerdings die Fälle auf, in denen Individuen subjek-
tiv ein auf ihrem Urteil beruhendes Wollen mit anschließender Handlung erle-
ben, während aus der Sicht eines Dritten das Individuum zum Zeitpunkt der Tat
in der Fähigkeit „denkend Kontrolle über seinen Willen auszuüben“, wie es
Bieri formuliert, beschädigt war. Das dürfte schon bei durchaus geläufigen
Formen von Wahnvorstellungen der Fall sein. Man stelle sich einen Täter vor,
der sich nach seiner Überzeugung aus freien Stücken entschließt, der nächtli-
chen Bitte eines Erzengels zu entsprechen und eine bestimmte Person in seiner
Nachbarschaft zu töten, weil diese der leibhaftige Teufel sei und die Mensch-
heit bedrohe. Beispiele geben auch die Fälle schlechthin uneinsichtiger geistig
Kranker oder der von dem amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt gebil-
dete Fall eines Suchtabhängigen, dem seine Sucht unbemerkt geblieben ist und
der sich aufgrund eines (vermeintlich) „freien“ Urteils dazu entschlossen hat,
die Droge zu nehmen.194 Anführen kann man schließlich auch den theoreti-
schen Beispielsfall eines Menschen, dessen Gehirn von einem Neurologen so
manipuliert wurde, dass er zwar allein die vom Neurologen gewünschten Hand-
lungen, aber wiederum aus einem als subjektiv frei erlebten Entschluss aus-
führt.
In allen diesen Fällen schreiben wir keine Verantwortung zu. Die Frage ist,
warum nicht? Aus dem subjektiven Erleben lässt sich dieses Ergebnis mit Bieri
ersichtlich nicht herleiten, denn dem Wollen ging hier jedenfalls ein Urteil
voraus, das sich subjektiv in nichts von dem Urteil eines „normalen“ Handeln-
den unterscheidet. Der Handelnde erlebt hier keinerlei psychischen oder physi-
schen Zwang. Die Antwort „Das machen wir eben so“ wäre erkennbar unbe-
friedigend; insbesondere besagte sie nichts zu den sachlichen Kriterien der
Differenzierung zwischen Verantwortlichkeit und Verantwortungsausschluss.
Auch würde vermutlich niemand bestreiten, dass in allen diesen Fällen das
Urteil des Handelnden nicht anders ausfallen konnte, weil die neuronalen Sys-
teme des uneinsichtigen Kranken, des unbemerkt Drogensüchtigen und des
Hirnmanipulierten genau so gestört waren, dass sie kein anderes Urteil zulie-
ßen. Damit wird aber zugleich deutlich, warum diese Theorie in der Erklärung
strafrechtlicher Schuld Lücken lässt. Denn wenn ein subjektiv erlebtes Urteil
abhängt von determinierten neuronalen Aktivitäten, dann erfolgen die Urteile
_________________
194
Siehe Frankfurt, Das Problem des Handelns, S. 72.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 71

„normaler“ Menschen ebenso zwingend und neuro-kausal bedingt wie die Ur-
teile in diesen Beispielsfällen. Die Differenzierung kann deshalb nicht darin
liegen, dass das Urteil in den pathologischen Fällen nicht anders hätte ausfallen
können, denn das kann es dann eben auch in den anderen nicht, sondern nur in
etwas, das wir als „Störung“ bezeichnen. Und hier gibt es die bekannte Proble-
matik der §§ 20, 21 StGB, ob und wann eine Störung Krankheitswert besitzt
oder überhaupt als Störung gilt.195 Schaut man sich verschiedene Gehirne an,
wird man Unterschiede feststellen können; was aber als Störung gilt und was
nicht, das sind letztlich Wertungen der Mediziner, die durch eine Zusammen-
fassung einerseits dessen entstehen, was „relativ ähnlich“ ist und den Großteil
des Bekannten ausmacht, und andererseits dessen, was nicht mehr in diesen
Bereich fallen soll.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In dem Wissenschaftsmagazin „New
Scientist“ wurde im Oktober 2002 über einen Lehrer berichtet, der im Alter von
ca. 40 Jahren plötzlich auffälliges sexuelles Verhalten zeigte.196 Der zuvor
vollkommen unauffällig lebende Mann verabredete sich nun mit Prostituierten
und konsumierte Kinderpornographie im Internet. Als ihm wegen sexueller
Belästigung von Kindern von einem Gericht die erfolgreiche Teilnahme an
einer Therapie als Ersatz für eine Gefängnisstrafe auferlegt wurde, konfrontier-
te er dort weiterhin Frauen mit seinen sexuellen Wünschen, sodass die Therapie
abgebrochen werden musste. Am Abend bevor er sich in das Gefängnis zu
begeben hatte, wurde er in einem Krankenhaus untersucht, weil er über starke
Kopfschmerzen klagte. Außerdem gab er an, er habe Angst, er könnte seine
Vermieterin vergewaltigen. Im Krankenhaus wurde ein Tumor in seinem Kopf
diagnostiziert, nach dessen Entfernung der Mann überraschenderweise zunächst
keine Auffälligkeiten mehr zeigte. Nach einigen Monaten kamen die Kopf-
schmerzen und mit ihnen das Interesse an pornographischem Material jedoch
zurück. Wie die Ärzte feststellten, war der Tumor nachgewachsen. Nach seiner
erneuten Entfernung normalisierte sich das sexuelle Verhalten des Lehrers
wieder.
Natürlich verursachte hier nicht der Tumor selbst die auffällige sexuelle
Neigung des Lehrers, aber er veränderte die neuronalen Verbindungen im Ge-
hirn des Lehrers so, dass diese Neigung entstand. Wenn sich aber Pädophilie,
die auch in Deutschland unter Strafe gestellt ist (§§ 176–176b StGB), schlicht
dadurch erklären lässt, dass neuronale Verbindungen im Gehirn von Pädophilen
anders verlaufen als bei Nichtpädophilen, dann fällt es schwer zu verstehen,
warum Pädophilen etwas vorgeworfen wird, das etwa so (un-)vermeidbar ist
wie Homosexualität. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen (ehemals
_________________
195
Vgl. dazu NK-Schild, § 20, Rn. 9 ff. u. 59 ff. m. w. N.
196
Siehe Choi, Brain tumour causes uncontrollable paedophilia, New Scientist v.
21.10.2002.
72 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

§ 175 StGB) wurde aufgehoben. Jugendliche werden vor bestimmten sexuellen


Handlungen weiterhin, nun aber unabhängig vom Geschlecht des Täters und
des Opfers, durch § 182 StGB geschützt. Damit ist auch die moralische Abwer-
tung Homosexueller aus dem Strafgesetzbuch verschwunden. Wenn sich auch
in dem Fall des Lehrers für die „sexuelle Störung“ eine medizinische Ursache,
nämlich der Tumor, finden ließ, die ihn nach deutschem Recht für sein Verhal-
ten exkulpiert hätte, so liegt es doch sehr nahe anzunehmen, dass Pädophilie
auch in anderen Fällen nicht durch eine vorwerfbare Gesinnung, sondern durch
bestimmte neuronale Verschaltungen hervorgerufen wird, auf die der Pädophile
keinen willentlichen Einfluss hat.197 Dieser Gedanke lässt sich natürlich weiter-
spinnen: Wenn der Pädophile durch seine neuronalen Strukturen determiniert
ist, wie steht es dann mit dem Mörder oder dem Dieb? Bieri geht von der Über-
legung aus, dass jeder Mensch durch seine neuronalen Strukturen determiniert
sein könnte, will den Schuldvorwurf aber weiterhin gegen die einen erheben
und gegen die anderen nicht. § 20 StGB scheint seine Grenze aber gerade dort
zu ziehen, wo Determination ins Spiel kommt. Denn der Gesetzgeber geht
davon aus, dass unter den von ihm in § 20 genannten Voraussetzungen Un-
rechtseinsicht nicht gebildet oder das Verhalten nach dieser Einsicht nicht aus-
gerichtet werden konnte. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass dies nach der
dem Gesetz zugrunde liegenden Annahme in allen übrigen Fällen hätte gesche-
hen können. Damit unterstellte der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 20
aber offensichtlich, dass das deliktische Verhalten im Normalfall wirklich hätte
vermieden werden können. Denn natürlich ließe sich auch in den Fällen des
§ 20 sagen: Wenn die von dessen Merkmalen umschriebenen Defekte nicht
vorhanden gewesen wären, hätte die erforderliche Einsicht gebildet werden
können. Eine Möglichkeit zu einem „Anders-handeln-Können“ ließe sich also
auch in diesen Fällen formulieren. Verstünde man die Möglichkeit des „An-
ders-handeln-Könnens“ insoweit nur als eine Art „Gedankenexperiment“ und
nicht als reale Möglichkeit, dann müssten aber die Gründe für die Unterschei-
dung zwischen Schuldigen und nicht Schuldigen anders formuliert werden. Auf
der realen Fähigkeit zum „Anders-handeln-Können“ könnten sie dann nämlich
nicht mehr beruhen.
Es gibt aber noch eine zweite grundsätzliche Kritik an der These Bieris.
Denn Bieri begründet nicht lediglich irgendeine Verantwortlichkeit, er begrün-
det die strafrechtliche Verantwortlichkeit198 und damit eine Verantwortung, die
einen von Seiten des Staates erhobenen moralischen Vorwurf muss legitimieren

_________________
197
Vgl. auch Singer: „Den gleichen Effekt wie makroskopisch feststellbare Läsionen
können jedoch unsichtbare Fehlverschaltungen haben, die ihrerseits auf vielfältigste
Ursachen zurückgehen können“ (DZPhil 53 [2005], S. 712).
198
Bieri, Schadet die Regie des Gehirns der Freiheit des Willens? (unveröffentlichtes
Manuskript).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 73

können.199 Akzeptiert man die Differenzierung zwischen verantwortlich und


nichtverantwortlich, so bietet dies noch keine Lösung für das Problem der
Rechtfertigung des moralischen Vorwurfs. Berührt ein Verhalten in seiner
objektiven Wirkung eine Gesellschaft in einer bestimmten „unerträglichen“
Weise, dann genügt dies allein noch nicht für einen moralischen Vorwurf. Hin-
zukommen muss nach Bieri, dass das handlungsleitende Wollen des Täters auf
dessen Urteil beruhte. Mussten aber sowohl Wollen als auch Urteil so eintreten,
wie sie es taten, dann fragt sich, was hier vorgeworfen werden kann, denn auch
das Urteil hat ja, wie bereits angemerkt, ein neuronales Korrelat, das durch die
ihm unmittelbar vorangegangene neuronale Struktur bedingt wurde. Die Über-
legung, dass das Handeln eben gegen eine Strafnorm verstieß, führt ersichtlich
in einen Zirkelschluss. Man wird sich also damit auseinandersetzen müssen,
warum psychische Zustände, deren neuronale Korrelate auf subpersonaler Ebe-
ne „determiniert“ sind, geeignet sein sollen, einen moralischen Vorwurf des
Staates gegen die Person zu legitimieren. Bieri lässt hier eine Antwort vermis-
sen.

b) Minimalistische „Selbstbestimmung“ nach Pauen

Nach Pauen ist Verantwortlichkeit dann gegeben, wenn zwei Kriterien erfüllt
sind: die Handlung darf nicht vollständig von außen determiniert sein – Pauen
redet in diesem Fall von Autonomie –, und die Handlung muss mit einer Person
so verbunden sein, dass diese Person als Urheber der Handlung erscheint. Lie-
gen diese Kriterien vor, dann gilt die Handlung als „selbstbestimmt“. Dabei
wird der Begriff der Selbstbestimmung nicht so verstanden, wie oben200 aus
indeterministischer Sicht skizziert. Gemeint ist also nicht die Verursachung
einer Handlung durch einen Willen als „causa sui“, sondern sie ist nach Pauen,
wie gesagt, bereits dann „selbstbestimmt“, wenn die Kriterien der Autonomie
und der Urheberschaft vorliegen.201 Autonomie ist immer dann gegeben, wenn
die Person äußere Handlungsfreiheit besitzt, also nicht durch externe Zwänge
zur Handlung veranlasst wird.202 Das Kriterium der Urheberschaft soll zure-
chenbare Handlungen von zufälligem Geschehen abgrenzen. So könnten bei-
spielsweise Zweifel an der Zurechenbarkeit aufkommen, wenn man erführe,
dass eine Handlung „überstürzt“ vollzogen wurde.203

_________________
199
Vgl. auch Hillenkamp: „Auch stieße ein Vorwurf ohne eine solche [Willens-]
Freiheit ins Leere“ (JZ 2005, S. 316).
200
Vgl. S. 27.
201
Vgl. M. Pauen, Freiheit, S. 86.
202
Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 60 ff.
203
Vgl. M. Pauen, Illusion, S. 84 f.
74 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Liegen diese zwei „Minimalkriterien der Freiheit“ vor, dann ist die insoweit
„selbstbestimmte“ Handlung dadurch gekennzeichnet, dass in ihr das „Selbst“
der Person, also ihre Überzeugungen, Charaktermerkmale oder Bedürfnisse, die
für sie typisch sind, zum Ausdruck gelangen. Dazu benötigt jede Person be-
stimmte „personale Fähigkeiten“ und spezifische „personale Präferenzen“.
Solche personalen Fähigkeiten hat eine Person, wenn sie in der Lage ist, Hand-
lungsoptionen als solche und die Konsequenzen der Optionen zu erkennen. Sie
muss fähig sein, ihre ganz persönlichen Präferenzen, die „personalen Präferen-
zen“, gegeneinander abzuwägen und die für sie optimale Handlungsoption
umzusetzen – kurz: sie muss ein Mindestmaß an Rationalität und Willensstärke
besitzen. Für die Frage, wie die personalen Präferenzen zu bestimmen sind,
damit von Freiheit gesprochen werden kann, bezieht Pauen nun einen „libera-
len“ Standpunkt, akzeptiert also insofern einen weiten begrifflichen Rahmen.
Er geht davon aus, dass eine Person ihre Präferenzen im Prinzip korrigieren und
aufgeben kann.204
Die Person ist nach Pauen also verantwortlich für jede Handlung, die sie oh-
ne äußeren Zwang und nicht zufällig vollzieht. Dabei ist „zufällig“ der Gegen-
begriff zu einer Handlung, in der die personalen Fähigkeiten und Präferenzen
einer Person zum Ausdruck kommen. Diese Verantwortlichkeit begründet nach
Pauen zugleich Schuld im strafrechtlichen Sinne.205
Betrachtet man zunächst seinen Begriff von „Autonomie“, dann fällt ins Au-
ge, dass diese nach Pauen lediglich durch „äußere Zwänge“ beschränkt sein
soll. Es fragt sich dann beispielsweise, ob der Tumor im Fall des pädophilen
Lehrers206 ein „äußerer“ Zwang sein soll, und, wenn ja (was ersichtlich nahe-
liegt), worin der Unterschied mit Blick auf die Autonomie zu funktional äqui-
valenten „Fehlverschaltungen“ des Gehirns ohne Tumor liegen sollte. Pauen
erkennt das Problem einer Grenzziehung zwischen inneren und äußeren Zwän-
gen und bemerkt dazu: „Doch unabhängig davon, wo man hier die Grenze
zieht, lässt sich festhalten, dass freie Handlungen sich zumindest dadurch von
erzwungenen oder von fremd gesteuerten Geschehnissen unterscheiden, dass
sie nicht vollständig von außen determiniert sind.“207 Dies ist aber nur die Wie-
derholung der Prämisse und keine Lösung des Problems.
Für die Urheberschaft ist erforderlich, dass Präferenzen willentlich korrigiert
werden können. Dies könne eine selbstbestimmte Person leisten, weil sie im
Laufe ihrer Entwicklung bestimmte rationale und volitionale Fähigkeiten er-
werbe, kraft deren sie dann begründet zu bestimmten eigenen Präferenzen Stel-
_________________
204
Siehe M. Pauen, Illusion, S. 59 ff.; ders., Freiheit, S. 83 ff.
205
Siehe M. Pauen, Illusion, S. 230 ff, 242.
206
Dazu oben, S. 71.
207
M. Pauen, Freiheit, S. 84.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 75

lung nehmen bzw. diese korrigieren könne.208 Mit den Kriterien der Autonomie
und der Urheberschaft könnte man also vor dem Vollzug einer Handlung sagen,
dass es von der Person P abhängt, ob sie x oder y tut. Dann könne man aber
nach dem Vollzug dieser Handlung sagen, dass P auch die jeweils andere
Handlung hätte wählen können. P hätte damit, nach Pauen, auch anders handeln
können.209 Um zu zeigen, dass diese Prämisse mit dem Determinismus in Ein-
klang steht, formuliert er: „Es wird nicht gefordert, dass die Person sich will-
kürlich für oder gegen das fragliche Merkmal entscheiden kann, vielmehr
kommt es darauf [an], dass die Person einen Willensakt gegen dieses Merkmal
auch tatsächlich umsetzen könnte, falls sie einen solchen Willensakt vollziehen
würde.“210
Eine Person kann sich also nach Pauen, so scheint es, zwar nicht „willkür-
lich“, wohl aber mittels ihrer „rationalen und volitionalen Fähigkeiten“ für die
eine oder andere persönliche Präferenz entscheiden. Damit möchte Pauen wohl
deutlich machen, dass man sich diese Entscheidung nicht als die eines „freien
Willens“ im indeterministischen Sinne zu denken habe. Aber auch für die „ra-
tionalen und volitionalen Fähigkeiten“ wird man die Frage stellen müssen,
wieso sie eine Handlung zu einer selbstbestimmten und damit nach Pauen zu
einer „freien“ machen, wenn auch sie von determinierten neuronalen Prozessen
abhängen. Wenn man davon ausgeht, dass alles Denken und Handeln durch
neuronale Prozesse determiniert ist, dann lässt sich gerade nicht mehr davon
reden, dass die inneren Zustände andere hätten sein können. Es kann sich dabei
also, will man den Determinismus nicht aufgeben, nur um ein Gedankenspiel
handeln, das nicht mehr besagt, als dass statt der tatsächlich vollzogenen Hand-
lung x auch die Handlung y mit den personalen Fähigkeiten und Präferenzen
der Person in Einklang gestanden hätte. Dass es eine echte Alternative zu der
Handlung x gegeben hat, ist damit aber nicht dargetan. Unter gleich bleibenden
äußeren und inneren Bedingungen kann, so auch Pauen, nicht anders, als je-
weils geschehen, gehandelt werden; wollte man dies anders sehen, so verließe
man die Theorie des Determinismus.211
Auch hier fragt sich also, was einer Person vorgeworfen werden kann, wenn
ihre Enscheidungen und Handlungen determiniert eintreten. Sie mag zwar nach
den Kriterien von Pauen „selbstbestimmt“ und „frei“ gehandelt haben, einen
Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Schuld böte diese Theorie aber nur, wenn
es in der Kette von Präferenzen und Handlungen irgendetwas gebe, was vor-
werfbar wäre. Dies ist aber nicht zu sehen.

_________________
208
Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 93.
209
Vgl. M. Pauen, Freiheit, S. 101.
210
M. Pauen, Freiheit, S. 95.
211
Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 97.
76 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

c) Kritik: Begriffliche Vermengung von Verantwortung und Schuld

Vorgestellt wurden zwei kompatibilistische Freiheitsbegriffe, die die Intui-


tion auf ihrer Seite haben und auch insgesamt durchaus plausibel sind. Mit dem
Bezug zum Individuum wohnt beiden das Element einer „Charakterschuld“
inne, wie sie Schopenhauer konzipiert hat.212 Im Gegensatz zu Schopenhauer
lassen aber Bieri und Pauen eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen,
ob die Verantwortlichkeit einer Person für eine Handlung, so wie sie unter
Berücksichtigung einer deterministischen Weltsicht begründet werden kann,
auch ausreichend ist für einen strafrechtlichen Schuldbegriff.213 Bieri und Pau-
en integrieren zwar die Negativvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB in ihren
Verantwortlichkeitsbegriff, setzen sich aber mit dem der Schuld immanenten
moralischen Vorwurf nicht auseinander. Dies könnte möglicherweise darin
begründet sein, dass sie „Schuld“ in einem anderen Sinne verstehen. Pauen
zitiert aber ausdrücklich die diesbezüglich sehr klare Entscheidung des Bun-
desgerichtshofs aus dem Jahre 1952 – und auch Bieri dürfte sie bekannt sein –,
in der es heißt: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld
wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er
sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich
für das Recht hätte entscheiden können.“214
Zwar kann man in den meisten Fällen unterstellen, dass sich der Mensch für
seine Taten verantwortlich fühlt, wenn sie mit seinem Wollen und Urteilen
bzw. mit seinen persönlichen Präferenzen übereinstimmen und keine äußeren
Hindernisse entgegenstehen. Für einen staatlich erhobenen Schuldvorwurf ist
aber ersichtlich mehr als dies erforderlich. Nun kann man mit Pauen auch einen
Begriff des Anders-entscheiden-Könnens bilden, der sich nicht im Widerspruch
mit der deterministischen Grundannahme befinden mag, oder man stützt sich
darauf, dass der Mensch nicht wissen könne, wie er determiniert ist215. Aber
auch damit hat man sich dem Verantwortlichkeitsproblem kein Stück weiter
genähert. Pothast hat das treffend beschrieben: „Wenn man gesehen hat, dass
man Freiheit so bescheiden bestimmen kann, dass kein Konflikt mehr mit einer
möglichen Determination besteht, hat man noch gar nichts gesagt über konkrete
Gestalt, moralisches Recht, intendierten Zweck und empirisch erforschbare
Zweckmäßigkeit der positiven oder negativen (vor allem natürlich der negati-
_________________
212
Dazu oben, S. 46 f. Ebenso Guckes, Freiheit, S. 214 f.
213
Eine knappe Diskussion der Straftheorien findet sich bei Guckes (Freiheit,
S. 214 ff.), die jedoch – ausgehend von der These, dass es persönliche Schuld nicht
gebe – das Strafrecht durch ein reines Maßregel- und Sicherungsrecht ersetzt sehen
möchte (s. S. 219). Für eine Vereinbarkeit mit M. Pauens Theorie aber Roxin, StrafR
AT/1, § 19, Rn. 45.
214
BGHSt 2, 194, 200.
215
Vgl. dazu oben, S. 43.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf 77

ven) Sanktionen, die im Namen solcher Verantwortlichkeit verhängt wer-


den.“216
„Schuldig“ kann nur eine Person sein. Der Begriff der Schuld zielt damit
immer und ausschließlich auf die Person. Legte man ein deterministisches
Weltbild zugrunde, dann dürfte aber nicht die Person moralisch beurteilt wer-
den, sondern die Tat. Bestimmte Taten würden nicht geduldet, Personen wür-
den mit diesen Taten in Zusammhang gebracht werden, weil im Sinne Bieris ihr
Wollen mit ihrem Urteil übereinstimmte oder weil sie im Sinne Pauens „selbst-
bestimmt“ handelten; die der Person gegenüber gebotene moralische Achtung
dürfte sich dadurch jedoch nicht verändern. Weil sich aber der Begriff der
„Schuld“ auf die Person bezieht, ist ihm der moralische Vorwurf gegen die
Person immanent. Roxin unterscheidet zwar zwischen rechtlicher und morali-
scher Schuld und will letzterer im Strafrecht keinen Platz einräumen.217 Doch
geht dies ersichtlich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei. Wenn Be-
griffe wie normative oder rechtliche Verantwortlichkeit für eine Tat ausreichen,
um das zu beschreiben, was Roxin mit seinem Schuldbegriff beschrieben haben
will, dann sollte schon aus Gründen der Klarstellung an ihrer Stelle ein mora-
lisch aufgeladener Begriff, der sich ausschließlich auf die Person bezieht, im
Strafrecht nicht verwendet werden.218
Bieri und Pauen vermögen daher zwar Freiheit und Verantwortlichkeit in ei-
ner bestimmten Weise zu begründen – wobei die Tauglichkeit dieser Verant-
wortlichkeitsbegriffe für das Recht gesondert untersucht werden müsste. Wie
und warum ihre Konzepte aber mit dem strafrechtlichen Schuldvorwurf kompa-
tibel sein sollen, bleibt offen.219

IV. Überleitung

Weil sich aus § 20 StGB ergibt, dass der Gesetzgeber die Fähigkeit, das
Verhalten nach der Unrechtseinsicht (sofern vorhanden) auszurichten, für den
Normalfall voraussetzt, ist zu klären, ob sich die strafprozessuale Feststellung
einer Willensbetätigung auf den Beweis eines (Kausal-)Zusammenhangs zwi-
schen Wille und Verhalten, also die Außenperspektive, reduzieren lässt und
welche Anforderungen an einen solchen Beweis zu stellen wären. Sollte die
Willensbetätigung einem solchen Beweis nicht zugänglich sein, weil sie nicht
in den Bereich unmittelbar überprüfbarer Tatsachen gehört, sondern ein Phä-
_________________
216
Pothast, Verantwortlichkeit, S. 128.
217
Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 46 u. 51.
218
Zum Begriff der Strafe und seinen Implikationen vgl. Pawlik, Person, S. 15 f., 31.
219
Insgesamt ablehnend gegenüber Strafbegründungen, die auf persönliche Schuld
verzichten, Hillenkamp, JZ 2005, S. 315 ff.
78 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

nomen der Innenperspektive des Individuums ist, dann wäre zu fragen, ob und
inwieweit die Willensbetätigung dann ein Gegenstand des Strafprozesses sein
kann. Genügen die Methoden zur Feststellung des Zusammenhangs zwischen
Wille und Verhalten nicht den Voraussetzungen strafprozessualer Beweisfüh-
rung, dann wirft dies, unter der Prämisse, dass die Willensbetätigung überhaupt
eines Beweises bedarf, verfassungsrechtliche Probleme auf. Diese Prämisse soll
im nächsten Kapitel überprüft werden. Zu berücksichtigen ist dabei die wissen-
schaftliche Eigenart des heutigen Strafrechts als eines normativ bestimmten
Unternehmens, das nicht nur historisch eine enge Verknüpfung mit der Philo-
sophie aufweist. Schon deshalb könnte es möglicherweise eigene, von den
empirischen Wissenschaften ganz unabhängige Maßstäbe für die Schuldfrage
aufstellen.

Kapitel 2
Freiheit und Rechtsdogmatik

I. Beweisbedürftigkeit der Schuld

Das Problem der Beweisbedürftigkeit der Schuld wird zumeist im Zusam-


menhang mit der Frage der Beweisbarkeit der Schuld erörtert. Stellt man hier-
bei auf die Freiheit des Menschen ab, sein Handeln selbst zu bestimmen, so
wird allgemein angenommen, dass diese Voraussetzung nicht beweisbar sei.220
_________________
220
Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 39; v. Bar, Gesetz
und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 12; Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 65; Bockelmann,
ZStW 75 (1963), S. 372; Roxin, JuS 1966, S. 378; ders., Henkel-FS, S. 174; ders., ZStW
96 (1984), S. 643; ders., Arthur Kaufmann-FS, S. 521; Schwalm, JZ 1970, S. 480; Ell-
scheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 34; Henkel, Larenz-FS, S. 23; Otto, GA 1981,488;
Blau, Jura 1982, 393; Albrecht, GA 1983, 199; Schmidhäuser, Jescheck-FS, 485, S. 498;
Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 8 f.; Jakobs, StrafR AT, 17/23; Schreiber, Schuld und
Schuldunfähigkeit im Strafrecht, S. 77; ders., Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld,
S. 68; Y.-W. Kim, Schuldprinzip, S. 48 u. 50; Griffel, MDR 1991, 109; Arthur Kauf-
mann, Rechtsphilosophie, S. 235 f.; Streng, ZStW 101 (1989), S. 278 m. w. N. Mit
einem differenzierterem Ansatz, der aber dieselben Probleme aufwirft, Stennert, S. 361.
Vgl. auch den sprachtheoretischen Ansatz Schünemanns, Funktion, S. 163 ff.; ders., GA
1986, S. 293 ff.; kritisch hierzu Jakobs, StrafR AT, 17/23, Fn. 48. Der Mediziner Schör-
cher bemerkt: „Für die freie, selbstverantwortliche, sittliche Selbstbestimmung des
Menschen, also für die Willensfreiheit bzw. den Indeterminismus gibt es keine zwin-
genden Beweise. Im Gegenteil, es sprechen alle naturwissenschaftlichen Erfahrungen
dagegen, einschließlich der Psychologie und der Tiefenpsychologie“ (ZStW 77 [1965],
S. 242). Wenn auch zum gleichen Ergebnis kommend, so doch weniger verabsolutierend
Schaffhauser: „Die einzige wissenschaftliche Disziplin, der der wissenschaftliche Be-
weis der Hypothese 2 [Willenssteuerungen sind ausschließlich kausal determiniert]
gelingen kann, ist die Hirnforschung. Denn das einzige Organ, das im menschlichen
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 79

Käme man nun zu dem Ergebnis, es bedürfe aber eines Beweises, dann stünde
das Strafrecht im Ganzen in Frage.221 Denn es ist schlechterdings unplausibel,
einerseits Willensfreiheit für den Schuldvorwurf vorauszusetzen und sich ande-
rerseits mit der Unbeweisbarkeit derselben sowohl hinsichtlich ihrer Existenz
als auch ihrer Nichtexistenz zu begnügen. Auch wenn, wie Hillenkamp an-
merkt, das Strafrecht mit seiner Schuldlehre „unter dem Dach eines solchen
non liquet“ möglicherweise schon lange lebt.222 Für andere Autoren, die sich
dazu äußern, scheint es psychologisch daher näher zu liegen, von der Nichtbe-
weisbarkeit der Freiheit auf die Verneinung ihrer Beweisbedürftigkeit zu
schließen, als diesen Problemkreis selbständig und unabhängig zu erörtern.223
Ein solches Vorgehen wird der Problematik allerdings nicht gerecht. Auch
könnte es dazu führen, dass höherrangige Rechtsgrundsätze, sogar verfassungs-
rechtliche Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, gleichsam unbemerkt übergangen
werden.
Ein verbreiteter Einwand gegen die Beweisbedürftigkeit der Schuld ist zu-
nächst das „unserem gesamten Rechts- und Verfassungsleben zugrundeliegende
Menschenbild“.224 In den Grundsätzen der Menschenwürde und der freien
_________________

Körper als materieller Träger der Willenssteuerungen in Betracht kommt, ist das Ge-
hirn“ (Willensfreiheit, S. 24).
221
So auch Krümpelmann: „Kann nämlich die Frage nach der Schuld des einzelnen
zwar gestellt, aber nicht beantwortet werden, dann ist die Strafe als Vergeltung und
Schuldausgleich beim einzelnen nicht gerechtfertigt“ (GA 1983, S. 341 f.). Kritisch auch
H. Foth: „Allen Bemühungen zum Trotz, dem Hauptproblem der Willensfreiheit mög-
lichst aus dem Wege zu gehen, um sich vielleicht unbequeme Antworten zu ersparen,
die Gewohntes in Frage stellen könnten, steht und fällt die Berechtigung des Schuld-
vorwurfs im Strafrecht mit dem Nachweis der menschlichen Willensfreiheit. Darauf ist
schon wiederholt an anderer Stelle bescheiden hingewiesen worden. Nutzen wird es
freilich wenig. Sätze wie diese, daß zwar Strafe sozialethisch diskriminierender Rache
bedenklich nahekomme, daß ihr jeder tiefere Sinn fehle, daß sie aber zum Schutze der
sozialen Ordnung in bestimmten Grenzen notwendig sei, werden wir so oder so immer
wieder lesen. Man könnte sie als bloße Ungereimtheiten nehmen, wäre mit ihnen nicht
die Gefahr des Unrechts verbunden, das dem Täter wie eine schicksalhafte Heimsu-
chung widerführe, wenn sein Wille nicht frei sein sollte“ (Tatschuld, S. 150). Anders der
Ansatz Munoz Condes: „Auch wenn es Willensfreiheit gäbe, wäre sie kein genügender
Grund, die Schuld materiell zu begründen“ (GA 1978, S. 68).
222
S. Hillenkamp, JZ 2005, S. 316 u. 319.
223
Diesbezüglich moniert bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Loening: „Wenn man
sich aber über das Unbefriedigende dieser Lage dadurch hinwegzutäuschen sucht, daß
man sagt, eine tiefere Begründung des Strafrechts sei gar nicht erforderlich, genug, daß
die Strafe für das menschliche Zusammenleben nun einmal nicht zu entbehren sei, so ist
ein solcher Ausweg erst recht unbefriedigend. Denn er besagt nichts anderes als Ver-
zicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, die überall eine Erkenntnis der Gründe der Er-
scheinungen ist“ (Geschichte, S. VII).
224
Blau, Jura 1982, S. 395. Dazu auch Neufelder, GA 1974, S. 290.
80 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Entfaltung der Persönlichkeit erteile die Verfassung der Legislative, der Exeku-
tive und der rechtsprechenden Gewalt den Befehl, den Bürger als freien, zur
Verantwortung fähigen Menschen zu behandeln.225 „Auch ,unverletzliche und
unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemein-
schaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt‘ (Art. 1 Abs. 2 GG)
können nur auf Selbstbestimmung und -verantwortung angelegten Bürgern
zukommen [...].“226 Inwieweit das Menschenbild der Verfassung das Strafrecht
legitimieren kann oder das Strafrecht durch die Verfassung dazu verpflichtet
wird, ein bestimmtes Menschenbild zu übernehmen, soll daher zunächst anhand
der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG überprüft werden.

1. Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG

Das Bundesverfassungsgericht versteht Art. 2 Abs. 1 GG als Gewährleistung


der allgemeinen Handlungsfreiheit. Es knüpft hierbei an die Entstehungsge-
schichte und die ursprüngliche Fassung an: „Jeder kann tun und lassen, was er
will.“227 Diese Fassung lässt sich ihrerseits in zwei Aspekte aufspalten: Zum
einen impliziert sie einen Zusammenhang zwischen Wille und Verhalten, zum
anderen zielt sie – im Unterschied zur Persönlichkeitskerntheorie228 – auf den
Schutz grundsätzlich jeder menschlichen Ausdrucksform ab.229 Es soll nun
hinterfragt werden, ob mit der Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG notwendig
vorausgesetzt ist, dass die Menschen entweder im metaphysischen Sinne oder
hinsichtlich ihres subjektiven Erlebens als „frei“ verstanden werden.

a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG


und metaphysische Willensfreiheit

Das moralische Gebot, das man mit dem ersten Halbsatz des Art. 2 Abs. 1
GG verbinden kann, wonach „Jeder [...] das Recht auf die freie Entfaltung der
Persönlichkeit [hat], soweit er nicht die Rechte anderer verletzt [...]“, könnte
lauten: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen
_________________
225
Siehe Roxin, ZStW 96 (1984), S. 650.
226
Blau, Jura 1982, S. 395. Ähnlich, jedoch abstellend auf die Kommunikation, Ja-
kobs, Schuldprinzip, S. 29; ders., ZStW 107 (1995), S. 862 ff.
227
Siehe BVerfGE 6, 32, 36 u. 38/39 (Elfes-Urteil). Dazu auch Alexy, Grundrechte,
S. 309 ff.
228
Nach der Persönlichkeitskerntheorie ist der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG
„als bestimmter, begrenzter Lebensbereich verstanden und auf einen ,Kernbezirk des
Persönlichen‘ bezogen worden“ (Pieroth/Schlink, Rn. 367 m. N.).
229
Vgl. dazu Alexy, Grundrechte, S. 310; Pieroth/Schlink, Rn. 368 ff. m. w. N.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 81

zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“230 Dieser kategorische Imperativ


des wohl prominentesten Vertreters einer metaphysischen Existenz von Wil-
lensfreiheit, Immanuel Kant, richtet sich ersichtlich an den Menschen als mora-
lisches Subjekt, nicht dagegen als Rechtsperson. Denn der so formulierte Impe-
rativ verlangt ein moralisch korrektes inneres Motiv des Handelns, während
(nach Kant) rechtliches Handeln nur das äußere Verhalten der Person betrifft.
Kants kategorischer Imperativ setzt voraus, dass der Mensch auch tatsächlich
die Fähigkeit hat, sein Handeln nach dieser moralischen Norm auszurichten.
Dagegen sagt Art. 2 Abs. 1 GG lediglich, dass die freie Entfaltung der Persön-
lichkeit von Gesetzes wegen nur so weit geht, wie sie nicht die Rechte anderer
verletzt; er betrifft also offensichtlich allein das rechtliche (äußere) Verhalten
der Person. Jenseits der Handlungsgrenze, an der die Verletzung anderer be-
ginnt, darf der Staat mit rechtlichen Verboten eingreifen. Der Regelungsbereich
des Art. 2 Abs. 1 GG berührt somit nicht die Frage, ob der Mensch nur so wie
geschehen oder auch anders handeln konnte, sondern schafft eine Eingriffsbe-
fugnis für den Fall, dass die Rechte anderer verletzt werden, unbeschadet des
Umstands, ob sich die Verletzung vermeiden lässt bzw. ließ oder nicht. Eine
moralische Aufforderung enthält er dagegen nicht. Das entspricht exakt Kants
Aussage zum Verhältnis von Rechtssatz und Willensbildung: „[...] einen Zweck
vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden
(weil es ein innerer Act des Gemüths ist) [...].“231
Auch der Strafvollzug kann sich unmittelbar nur auf eine Veränderung äuße-
rer Umstände richten. Allerdings ist eine mittelbare Änderung der inneren Hal-
tung durch die Strafe vorstellbar. So ist es denkbar, dass ein Gesetz einen me-
dikamentösen oder operativen Eingriff vorschreibt, der sich so auf die Psyche
auswirkt, dass beispielsweise Dispositionen zu aggressivem Verhalten entge-
gengewirkt wird. Gewaltverbrecher könnten durch einen solchen Eingriff mit-
telbar ihren „Willen“ verlieren, die körperliche Integrität anderer Menschen zu
verletzen.232 Ein „freier“ Wille könnte hierdurch jedoch nicht berührt werden,
da er gerade nicht der kausalen Wirkung solcher Eingriffe unterliegen kann.
Dies gilt ebenso für die Frage der Geeignetheit von Normen, die Willensbil-
dung der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft zu beeinflussen. Man spricht
von einer „sittenbildenden Kraft“, wie sie beispielsweise mit den Vorschriften
des Umweltstrafrechts bezweckt werde.233 Auch hier gilt aber, dass die Beein-

_________________
230
Kant, GMS, AA IV, S. 421.
231
Kant, MdS/Rechtslehre, AA VI, S. 239.
232
Daher ist auch der Schutz des Zustands einer Person unerlässlich. Vgl. dazu Alexy,
Grundrechte, S. 176 f. u. 311 f. m. w. N.
233
Siehe Lampe, Rechtsphilosophie, S. 272.
82 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

flussung einer etwaigen transzendentalen Freiheit wie der Willensfreiheit voll-


kommen außerhalb der Reichweite einer gesetzlichen Zwangsregelung liegt.234
Dies alles lässt sich so zusammenfassen: Mit der Formulierung des Art. 2
Abs. 1 GG hat der Verfassungsgeber also keine Stellung zu einem starken Frei-
heitsbegriff bezogen.

b) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG


und individuelles Freiheitserleben

Aber auch eine subjektiv erlebte Willensfreiheit als Voraussetzung des Art. 2
Abs. 1 GG bereitet Schwierigkeiten. Würde man die allgemeine Handlungs-
freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG vom individuellen Freiheitserleben abhängig
machen, so könnte dies eine Reihe unerwünschter und inakzeptabler Konse-
quenzen nach sich ziehen, beispielsweise in Bezug auf den gesetzlichen Schutz
Bewusstloser. Aber für uns alle gilt: Selbst wenn wir überzeugt wären, in unse-
rer Willensbildung determiniert zu sein und dies auch durchaus subjektiv so
erlebten, würden wir großen Wert darauf legen, in der äußeren Verwirklichung
unserer (determinierten) Entschlüsse nicht durch willkürlichen Zwang behin-
dert zu werden.235 Beschließe ich, ins Theater zu gehen, dann will ich dies auch
dann tun dürfen, wenn mein Entschluss durch irgendetwas in mir – in meinem
Gehirn, meinem Charakter, meiner Persönlichkeit oder meiner Biographie –
determiniert war. Und genau dieses Dürfen ist es, was Art. 2 Abs. 1 GG garan-
tiert und sinnvoll nur garantieren kann. Nicolai Hartmann bemerkt in diesem
Sinne zur rechtlichen Freiheit: „Es leuchtet nun unmittelbar ein, daß dasjenige,
dessen Freiheit hier sichergestellt wird, weder der Wille noch eine hinter ihm
stehende Entscheidungsinstanz in der Person ist, sondern ihre äußere Aktivität,
ihre Lebensbreite.“236
Es muss also grundsätzlich die Möglichkeit bestehen, dass sich die Persön-
lichkeit auch unabhängig von dem schwer zu fassenden Begriff des „Willens“
entfalten kann, denn der Begriff der Persönlichkeit erfasst den Menschen in
seiner individuellen Gesamtheit. Persönlichkeit entfaltet sich im Sinne des
Art. 2 Abs. 1 GG immer dann, wenn sie sich im Wortsinne äußert, also in Be-
ziehungen zur Außenwelt manifestiert. Deutlicher als durch die Entwurfsfas-
sung wird dies deshalb durch den Verfassungstext selbst, der gerade nicht auf
_________________
234
Vgl. dazu Kant, GMS, AA IV, S. 446 ff. Vgl. auch Alexy, Grundrechte, S. 323.
235
Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 416 f.
236
Nicolai Hartmann, Ethik, S. 638; so auch Alexy, Grundrechte, S. 323. Vgl. auch
Arnold, Person, S. 23; ferner Böckenförde, Recht, S. 42 ff.; Binding: „Die Geschichte
fragt nicht an erster Stelle: ,Was hat Jemand gewollt?‘, sondern ,Was hat Jemand ge-
tan?‘ [...]“ (Normen, Bd. 2/1, S. 310).
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 83

den Willen, sondern auf die „Entfaltung der Persönlichkeit“ abstellt.237 Das
Attribut „frei“ meint in diesem Zusammenhang also nichts anderes, als dass
alle potentiellen Handlungsmöglichkeiten eines Menschen grundsätzlich zum
Ausdruck gebracht werden können238, ein Handlungsspielraum prinzipiell ge-
währleistet ist.239 Auf das individuelle Erleben von Handlungsfreiheit, aber
auch das individuelle Vermögen, diesen Spielraum auszuschöpfen, kommt es
dagegen grundsätzlich nicht an.240
Art. 2 Abs. 1 GG gewährt aber nicht nur als Abwehrrecht dem Einzelnen die
Möglichkeit, seine Persönlichkeit innerhalb bestimmter Grenzen zu entfalten,
sondern garantiert als Schutzrecht jedem Mitglied der Gesellschaft und damit
dieser als ganzer die Sicherheit, dass vor Verletzungen präventiv geschützt
bzw. nach Verletzungen adäquat, nämlich im Sinne einer auch künftigen Ge-
währleistung der schützenden Norm reagiert wird. Auf diese Weise wird auch
die in der Norm enthaltene Wertentscheidung verdeutlicht. Die Präventivwir-
kung einer Strafnorm kann zum einen durch die in der Norm enthaltene Andro-
hung erzeugt werden, zum anderen durch den Vollzug der Norm, indem der
Rechtsbrecher selber, aber auch die Allgemeinheit, der Geltungskraft der Norm
versichert wird.
Nach Ansicht von Deterministen besteht der Zweck der Norm beziehungs-
weise ihres Vollzugs darin, im Modus eines kausalen Zwangs motivierend auf
den Willen einzuwirken.241 Nach indeterministischer Auffassung setzt dagegen
bereits die Existenz der Normenordnung selbst und damit das Kalkül der Fol-
gen ihrer Übertretung die Befähigung der Normunterworfenen zur freien
_________________
237
So auch das BVerfG: „Das Grundgesetz kann mit der ,freien Entfaltung der Per-
sönlichkeit‘ nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit
gemeint haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht; denn
es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das
Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer
freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können“ (BVerfGE 6, 32, 36).
238
Vgl. auch BVerfGE 80, 137, 152.
239
Dazu auch Luhmann, Grundrechte, S. 78.
240
Gleiches gilt im Übrigen für Art. 104 Abs. 1 GG und für das Recht auf Freiheit
und Sicherheit nach Art. 5 EMRK, der enumerativ die objektiv freiheitsentziehenden
Maßnahmen ohne Berücksichtigung des individuellen Erlebens wiedergibt. Bei Eingrif-
fen staatlicher Gewalt in die Rechte Einzelner kommt es daher auf ihren objektiv Frei-
heit entziehenden Charakter, nicht hingegen darauf an, ob sich der Bürger im konkreten
Fall tatsächlich in seiner Freiheit beschränkt fühlt.
241
„Denn die Gesetze gehen aus von der richtigen Voraussetzung, daß der Wille
nicht moralisch frei sei, in welchem Fall man ihn nicht lenken könnte; sondern daß er
der Nöthigung durch Motive unterworfen sei: demgemäß wollen sie allen etwanigen
Motiven zu Verbrechen stärkere Gegenmotive, in den angedrohten Strafen, entgegen-
stellen, und ein Kriminalcodex ist nichts Anderes, als ein Verzeichnis von Gegenmoti-
ven zu verbrecherischen Handlungen“ (Schopenhauer, Ethik, S. 99).
84 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Selbstsetzung ihres Willens voraus. Im Gegensatz zum Tier habe der Mensch
die Fähigkeit, sich „frei“ nach dieser Norm auszurichten.242 Er werde dafür
bestraft, dass er die moralisch falsche statt der moralisch richtigen Entschei-
dung getroffen habe. Dagegen wird die Legitimität einer präventiven Einfluss-
nahme auf das Individuum mittels des Strafvollzugs von den Aufklärern Kant
und Hegel abgelehnt.243
So scheint es zunächst, als ob eine Präventivwirkung der Norm sowohl nach
der indeterministischen als auch nach der deterministischen Anschauung eine
Fähigkeit des Menschen voraussetzte, sein Verhalten seinem Willen gemäß
auszurichten. Während aber vom indeterministischen Standpunkt aus Strafe
und die freie Entscheidung gegen die Norm sich wechselseitig bedingen, das
eine also nicht ohne das andere gedacht werden kann, verwendet der Determi-
nist den subjektiv erlebten Willen nur als Bindeglied, auf das ebensogut ver-
zichtet werden könnte, da das Verhalten immer notwendig dem Willen entspre-
chen soll. Die Verhaltensnorm beziehungsweise ihre Kundgabe oder der Voll-
zug der Sanktionsnorm könnten als sinnlich wahrnehmbare Information aufge-
fasst werden, die vom Organismus aufgenommen und (im Prozess des „Verste-
hens“) neuronal verarbeitet wird und sich dann je nach Wirkungsgrad im Ver-
halten niederschlägt. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird auf jede Objek-
tivierung der subjektiv erlebten Handlungsfreiheit, nämlich auf die Behauptung
eines wirklichen kausalen Zusammenhanges zwischen Wille und Verhalten,
verzichtet. Die Information würde sich vielmehr auf dem Weg über das Gehirn
im Verhalten und gegebenenfalls auch im Bewusstsein niederschlagen, ohne
dass zwischen Bewusstsein und Verhalten ein kausales Abhängigkeitsverhältnis
bestehen müsste.244 Eine etwaige Präventivwirkung der Norm selber kann also
unabhängig von einer tatsächlichen Möglichkeit zur willentlichen Verhaltens-

_________________
242
Vgl. dazu die Gegenüberstellung einer menschlichen Gesellschaft und einer Tier-
sozietät bei Henkel: „Eine an diese Sozietät herangetragene Sollensordnung, welche die
naturgegebene Instinktordnung durch abweichende Verhaltensdirektiven außer Kraft
setzen wollte, würde an der Unabänderlichkeit des von der Naturnotwendigkeit be-
herrschten Instinktes zuschanden werden. Dasselbe würde für die menschlichen Sol-
lensordnungen gelten, wenn der Mensch in gleicher Weise wie die Tiere durch ein an-
geborenes, starres Verhaltenssystem total festgelegt wäre. Man muß sich darüber klar
sein, daß nur die ,Offenheit‘ des menschlichen Verhaltenssystems im personellen Ober-
bau eine Rechtsordnung ermöglicht [...]“ (Rechtsphilosophie, S. 267). Vgl. auch das
(abgelehnte) Bild bei A. Merkel vom Menschen als Maschine, auf die eine Gesellschaft
gleich einem Mechaniker Einfluss nimmt (Vergeltungsidee, S. 47 f.).
243
Näher dazu unten, bei und in Fn. 259 f.
244
Diese Betrachtungsweise verzichtet also auf eine Differenzierung zwischen intel-
lektueller und physischer Freiheit.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 85

steuerung gedacht werden.245 Auf der anderen Seite ist der objektive und sinn-
volle Ausgleich einer faktischen Störung des sozialen Lebens – ein Handlungs-
spielraum wird zu Lasten eines anderen rechtswidrig erweitert – auch und
schon dann möglich, wenn bei allen Beteiligten nicht mehr als eine (negative)
physische Freiheit vorausgesetzt wird.246
Für die Handlungsfreiheit als subjektives Erleben eines Kausalzusammen-
hangs zwischen Wille und Verhalten ergibt sich damit, dass sie vom Rege-
lungsbereich des Rechts nur mittelbar berührt werden kann: Weder kann sub-
jektives Erleben ohne jeden Ausdruck nach außen eine staatliche Reaktion
hervorrufen247, noch kann diese ihrerseits unmittelbar auf das subjektive Erle-
ben gerichtet sein. Selbst bei einem medikamentösen oder operativen Eingriff
zur Veränderung der Psyche müsste der Vollzug mit der Ausführung äußerer
Handlungen enden. Die Veränderung des subjektiven Erlebens wird dagegen
nur mittelbar bewirkt.

c) Konsequenzen für das Strafrecht

Im Strafrecht als einem Teil des öffentlichen Rechts wird diese natürliche
Grenze staatlicher Gewalt am Beispiel des sogenannten tatbestandsaus-
schließenden Einverständnisses deutlich. Erhält eine Handlung ihren Unrechts-
gehalt gerade dadurch, dass sie gegen den Willen des Betroffenen erfolgt, kön-
nen der Tatbestand und damit das Unrecht nicht verwirklicht werden, wenn der
Betroffene mit der Handlung einverstanden ist.248 Hierunter fallen alle Delikte,
die Angriffe auf die Freiheit der Willensbildung oder -betätigung zu ihrem
tatbestandlich umschriebenen Inhalt haben. Eingriffe dieser Art werden jedoch
in Wahrheit objektiv festgestellt, nämlich anhand eines als Eingriffsverhalten
deutbaren äußeren Vorgangs, dem nach ebenfalls objektiven Kriterien die Be-
deutung eines Sich-Hinwegsetzens über den Willen des Opfers zugeschrieben
wird. Ein wirklich „freier“ Wille wird aber von einer solchen Deutung nicht
vorausgesetzt. Der tatbestandliche Eingriff bezieht sich nur auf einen Willen,
der von dem jeweils einschlägigen Tatbestandsmerkmal (z. B. „der Freiheit
berauben“, „nötigen“, „wegnehmen“) begrifflich vorausgesetzt, aber keines-
_________________
245
Anders Burkhardt und Jakobs, welche die These vertreten, ein präventiver Ein-
fluss sei abhängig von der Möglichkeit der Willensbeeinflussung (s. Burkhardt, Schuld-
prinzip, S. 63, u. Jakobs, Schuldprinzip, S. 23 ff.).
246
Im Ergebnis ebenso Heun, JZ 2005, S. 854 f.
247
Der rein interne Wille ist nämlich nicht nur nicht strafbar (vgl. oben, S. 48), son-
dern kann auch sonstiges staatliches Handeln offensichtlich nicht auslösen. Anders liegt
der Fall natürlich dort, wo sich der Wille, bspw. eine Person zu töten, bildet und öffent-
lich erkennbar wird; dann mögen staatliche Stellen ggfs. Maßnahmen einleiten.
248
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 31.
86 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

wegs als metaphysisch „frei“ postuliert wird. Zur Illustration: Eine Nötigung im
Sinne des § 240 StGB liegt auch dann vor, wenn die Lehre des Determinismus
wahr ist, also beim Genötigten kein wirklich (metaphysisch) freier Wille ge-
beugt (und beim Nötiger keiner betätigt) werden konnte. Die Beeinträchtigung
der Freiheit muss und kann nur auf der Ebene objektiver sozialer Bedeutung
sowohl des Eingriffs- wie auch des „Erleidens“-Vorgangs festgestellt wer-
den.249
Da ein aufgrund des Strafrechts erfolgter staatlicher Eingriff auf der anderen
Seite lediglich zu einer Beschränkung potentieller Handlungsmöglichkeiten
führt, ist auch hiervon das subjektive Erleben der Handlungsfreiheit allenfalls
mittelbar betroffen. Ein auf innere Erlebniszustände wie die Sühne250 gerichte-
ter „Zweck“ der Schuldstrafe entzieht sich aus diesem Grunde einer Verhält-
nismässigkeitsprüfung251 und taugt damit auch nicht zur Rechtfertigung eines
strafenden Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG.252 Auf die Willensbildung des Men-
schen abstellende Strafzwecke begegnen also jedenfalls Vollzugs- und schon
deshalb wohl auch Legitimationsproblemen. Schuld und Sühne sollen einander
zwar entsprechen; möglich im Sinne einer Verpflichtung der strafenden Staats-
_________________
249
Dies gilt im Übrigen auch für Delikte mit einer sogenannten „überschießenden In-
nentendenz“. Zwar drängt sich hier die Frage nach dem Erleben des Täters geradezu auf
(vgl. dazu Hegler, ZStW 36 [1915], S. 31 f), doch stellt sie sich ebenfalls nicht als Frage
nach dem „freien“ Zustandekommen der jeweiligen „Innentendenz“. Beispiel: Wer die
„Absicht rechtswidriger Zueignung“ hat, erfüllt mit der Wegnahme einer fremden Sache
den Tatbestand des § 242 StGB, egal ob die Absicht frei oder determiniert zustandekam.
Auch wenn sie im Sinne des § 20 StGB „unfrei“ war, entfällt nicht der Tatbestand,
sondern erst die Schuld.
250
Vgl. dazu auch A. Merkel, Vergeltungsidee, S. 64.
251
Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 133 ff., 140 f. Tiedemann kommt zunächst zum
gleichen Ergebnis, stellt dann aber scheinbar alternativ auf die „materielle Gerechtig-
keit“ ab, ohne die Beziehung zwischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der „Idee der
Gerechtigkeit“ näher zu erläutern (s. Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 15 ff.). Lagod-
ny sieht „die Bestimmung des Bereichs des strafbaren Handelns durch den Gesetzgeber“
als Teilausprägung dem „Gebot schuldangemessenen Strafens“ vom BVerfG zu- bzw.
untergeordnet, wobei er bemerkt: „Der ,Grundsatz schuldangemessenen Strafens‘ muß
wohl als grundrechtsgleiche Neuschöpfung eines bereichsspezifischen Prüfungsmaß-
stabs angesehen werden“ (Strafrecht, S. 66 u. 68). Vgl. auch Schild, der die in der Can-
nabis-Entscheidung des BVerfG (E 90, 145 ff.) zum Ausdruck gekommene Wandlung
des zunächst unbestimmt gelassenen Verhältnisses von Schuld- und Verhältnis-
mäßigkeitsgrundsatz hervorhebt und sich kritisch zur Vermengung der Begrifflichkeiten
in diesem Bereich äußert (Lenckner-FS, S. 294 ff.); aber auch A. Merkel, Vergeltungs-
idee, S. 4 ff. Zum „Vergeltungzweck“ vgl. unten, S. 88 (Fn. 260).
252
Vgl. auch Noll: „Weil Sühne sich im innersten Kern der autonomen Person ereig-
net, kann sie nicht von Staates wegen erzwungen werden“ (Strafe, S. 8); u. Haft: „[...]
denn Sühne ist ein Akt der Freiheit, der nicht erzwungen, sondern nur ermöglicht wer-
den kann“ (Schulddialog, S. 33).
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 87

gewalt ist dies jedoch nur, wenn beide nicht als Bestandteile des subjektiv-
personalen Erlebens begriffen werden.
Hinter dem Begriff der Handlungsfreiheit, wie ihn das Bundesverfassungs-
gericht verwendet, steht mithin der Schutz potentieller Ausdrucksmöglichkeiten
einer Person, die durch Einflüsse von außen objektiv beschränkt werden kön-
nen. Die Handlungsfreiheit als erlebter Zusammenhang zwischen Wille und
Verhalten bleibt hingegen allein dem Individuum vorbehalten.253 Problematisch
erscheint also, ob eine abstrakte oder individuell erlebte Freiheit überhaupt
geeignet ist, als Grundlage für staatliche Eingriffsbefugnisse zu dienen. Aus
Art. 2 Abs. 1 GG allein ergibt sich dies jedenfalls nicht. Deshalb soll nun Art. 1
Abs. 1 GG eingehender untersucht werden.

2. Die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG und die Schuldstrafe

In der Strafrechtswissenschaft wird der Übergang von der Erfolgshaftung zur


Schuldhaftung gemeinhin als eine bedeutende Errungenschaft angesehen.254
Die Bestrafung eines Menschen wegen bloßer Zufallsfolgen seines Handelns,
unter Umständen gemeinsam mit einem Tier255, wird heute als ungerecht, ja
unmenschlich erachtet. Das „Dafürkönnen“ im Sinne einer subjektiven Zurech-
_________________
253
Von Streng wird hervorgehoben, die Entfaltungsfreiheit im Sinne von Art. 2
Abs. 1 GG und auch etwa die Vertragsfreiheit des Zivilrechts meinten eine andere Frei-
heitsdimension als die Willensfreiheit oder das Anders-handeln-Können im Sinne der
Schuldbegründung (s. ZStW 101 [1989], S. 281). Vgl. auch Tiemeyer, der zu bedenken
gibt: „Am Beispiel der klassischen ,Handlungsfreiheit‘ oder der durch die Grundrechte
garantierten Freiheit zeigt sich deutlich, wie leicht es ist, Geschehensabläufe herauszu-
greifen, die sich als frei klassifizieren lassen. Doch kaum jemand wird behaupten, daß
diese Arten der Freiheit schon die Grundlage für die innere Berechtigung des Schuld-
vorwurfs abgeben können“ (GA 1986, S. 211). Zum Abhängigkeitsverhältnis der Frei-
heiten vgl. jedoch die Ausführungen oben, S. 29 ff.
254
Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117; vgl. auch Jescheck/Weigend, StrafR AT,
S. 23 ff.; Sellert/Rüping, Geschichte, S. 103.
255
Zur Bestrafung von Mensch und Tier vgl. Brunner, Missethat, S. 20 ff.; Bader,
Schuld, S. 65; v. Liszt-Schmidt, Lehrbuch, S. 155, Fn. 2; Rüping, Grundriß, S. 13 f.;
Pothast, Freiheitsbeweise, S. 318. Bei Brunner ist außerdem zu lesen, dass sich die
Bestrafung auch auf Gegenstände erstrecken konnte. Sie wurden „ausgeliefert“, wegge-
worfen oder zerstört. Verwendete man sie nach der Tat, baute man z. B. den Balken, der
bei einem Hausbau jemanden erschlagen hatte, in das Haus ein, dann musste das ganze
Haus abgegeben werden. Wurde eine Frau vergewaltigt oder „geraubt“, dann wurde
neben allem Lebenden, was bei der Tat gegenwärtig war, auch das Haus zerstört, in dem
das Verbrechen begangen wurde oder der Verbrecher sich aufgehalten hatte. Hatte sich
der Verbrecher auf der Flucht mit der geraubten Frau nacheinander in verschiedenen
Häusern aufgehalten, dann sollten alle Häuser abgebrannt werden (s. Missethat,
S. 26 ff.).
88 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

nung wurde zum Inbegriff der Abgrenzung zwischen menschlichem und tieri-
schem Verhalten, zwischen Schicksal und willkürlicher Gestaltung, folglich zur
Voraussetzung menschengerechter Bestrafung.256 Das „Dafürkönnen“ wurde
während der Aufklärung auf einem undiskutierten Freiheits- und Vernunftbe-
griff aufgebaut.257 Auch die in der Verfassung statuierte menschliche Würde
soll auf Freiheit und Vernunft beruhen.258 Konsequenterweise sehen daher viele
Rechtswissenschaftler gerade in der Schuldstrafe die Achtung der Menschen-
würde zum Ausdruck gebracht.259
Dem Erfolg der Zurechnungslehre bei der Strafbegründung steht der Misser-
folg der Strafzumessung auf der Grundlage des Wiedervergeltungsrechts ge-
genüber. Einst begrenzend gegenüber Sanktionen gedacht, die zur Abschre-
ckung der Allgemeinheit ausufernd straften, und noch von Kant als Ausfluss
der menschlichen Würde verstanden260, ist eine absolute Strafe im Sinne des
_________________
256
Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117; Bader, Schuld, S. 75.
257
Siehe Holzhauer, S. 23; deutlich wird dies bei Pufendorf, zitiert und übersetzt bei
Sellert/Rüping, Geschichte, S. 380, Quelle 3.
258
So Otto, GA 1981, S. 486; vgl. auch Dürig in Maunz/Dürig (2001), Art. 1 Abs. 1,
Rn. 18 ff.
259
Dazu Lampe, Strafphilosophie, S. 225, sowie Eb. Schmidt in Bezug auf die Hegel-
sche Rechtsphilosophie: „Der Sinn der Strafe wird nicht darin gesehen, den Täter ein
Übel leiden zu lassen – das ist ein ganz nebensächliches Moment –, vielmehr kommt es
darauf an, daß die Persönlichkeit des Täters in dem die die Strafe fordernde allgemeine
Vernunft ebenfalls existiert, die Strafe selbst benötigt, um auch als Verbrecher ,als
Vernünftiges geehrt‘ werden zu können“ (Geschichte, S. 295; vgl. Hegel, Grundlinien
der Philosophie des Rechts, § 100 Anm.); Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 61, Fn. 17; Otto,
GA 1981, S. 481; Pawlik, Person, S. 97; vgl. auch Kantorowicz, Tat und Schuld, S. 15;
H. Mayer, StrafR AT, S. 26; Jescheck, Menschenbild, S. 20; R. Lange, SchwZStr 70
(1955), S. 381; Burkhardt, Lenckner-FS, S. 22; Jakobs, Schuldprinzip, S. 27; Duttge,
Bestimmtheit, S. 155 m. w. N. Dagegen J. Baumann: „Wir haben noch nirgends feststel-
len können, daß ein ertappter Straftäter den Drang hatte, sich als Vernünftiger ehren zu
lassen“ (Strafrecht, S. 22); s. auch H Foth, ARSP 62 (1976), S. 260.
260
Zur Entwicklung des Vergeltungszwecks vgl. Bauer, Verbrechen, S. 135 ff. Sein
philosophisches Gepräge erhielt das Talionsprinzip von Kant: „Richterliche Strafe [...]
kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst,
oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn ver-
hängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den
Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts ge-
mengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt [...]. Nur das Wie-
dervergeltungsrecht [...] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben;
alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rück-
sichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerech-
tigkeit enthalten“ (MdS/Rechtslehre, AA VI, S. 331 f.). Die Folgen des Talionsprinzips
werden insbesondere beim sog. „Inselgleichnis“ deutlich: „Selbst wenn sich die bürger-
liche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewoh-
nende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 89

Talionsprinzips mit heutigen Erwägungen zur Humanität staatlichen Strafens


schwer vereinbar. Die Wandelbarkeit staatlicher Zwangseingriffe wie der Strafe
wird vom Bundesverfassungsgericht sogar eigens hervorgehoben: „Die Ge-
schichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, dass an die Stelle grausamster
Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung
von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des
Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurück-
zulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann
daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen An-
spruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“261
Dieses Verhältnis – Achtung der Menschenwürde durch Schuldstrafe – soll
im Folgenden überprüft werden. Nach einer kritischen Würdigung der Auffas-
sung des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimation des heutigen Strafrechts
werden dem Begriff der Menschenwürde eingeschriebene Elemente, wie die
Vorstellung freiheitlicher Selbstbestimmung, vor dem Hintergrund der Hexen-
verfolgungen beleuchtet. Hieran schließt sich eine Auseinandersetzung mit der
Zurechnungslehre, wie sie zur Zeit der Aufklärung entwickelt wurde. Es folgen
einige Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung, dem eine verbinden-
de, aber zugleich auch trennende und damit, wie sich zeigen wird, letztlich
widersprüchliche Funktion im Verständnis des Verhältnisses von Menschen-
würde und Schuld zukommt. Im Anschluss an diese Überlegungen soll der
Blick von den Schuldzurechnungs- auf die Strafzumessungsfragen gelenkt
werden. Hier gilt es, die Begrenzungsfunktion der Schuldstrafe und, damit im
Zusammenhang stehend, das ethische Bedenken gegen eine Verbrechensbe-
kämpfung, die den Menschen zum „Objekt“ macht, näher zu beleuchten.

a) Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität von Strafe

Das Bundesverfassungsgericht führt aus, der Grundsatz nulla poena sine cul-
pa wurzele „in der vom Grundgesetz vorausgesetzten und in Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 1 GG verfassungskräftig geschützten Würde und der Eigenverant-
wortlichkeit des Menschen [...]“262 und: „Nach dem Schuldgrundsatz, der aus
Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Würde und Eigenverantwortlichkeit des
Menschen) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, müssen Tatbestand und
_________________

der letzte im Gefängniß befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jeder-
mann das widerfahre, was seine Thaten werth sind [...]“ (MdS/Rechtslehre, AA VI,
S. 333). Auf der Kantschen Lehre aufbauend M. Köhlers „Begriff der Strafe“ in der so
benannten Monografie.
261
BVerfGE 45, 187, 229.
262
BVerfGE 25, 269, 285; zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Schuldstrafe
vgl. auch Maurach, Strafe, S. 27 f., u. Frister, Schuldprinzip, S. 18 ff.
90 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Rechtsfolge – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – sachgerecht aufeinan-


der abgestimmt sein [...].“263 Dabei fällt jedoch auf, dass sich diese und nach-
folgende264 Entscheidungen auf eine Leitentscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts berufen, die zur Menschenwürde als Strafbegründung nicht viel her-
gibt. Dort heißt es lediglich: „Dem Grundsatz, daß jede Strafe – nicht nur die
Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für
sonstiges Unrecht – Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang
zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet. [...] Die strafrechtliche oder straf-
rechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechts-
staatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2
Abs. 1 GG.“265 Das Bundesverfassungsgericht erkennt außerdem in der „mate-
riellen Gerechtigkeit“ einen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.266 Hieraus
folge, dass ein sachgerechtes Verhältnis zwischen Tatbestand und strafrecht-
licher Folge nur dann bestehe, wenn dem Täter ein strafrechtlicher Vorwurf
gemacht werden könne, da die Strafe im Gegensatz zu reinen Präventionsmaß-
nahmen auch auf Repression und Vergeltung abziele.267 Nicht die Menschen-
würde gebietet also nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
die Schuldstrafe, vielmehr ist Strafe nur deshalb gerechtfertigt, weil wegen der

_________________
263
BVerfGE 45, 187, 259; kritisch zu dieser Entscheidung Schild: „Darüber hinaus
fällt das BVerfG in einen platten Gesetzespositivismus zurück, wenn über Schuldaus-
gleichs- und Sühnefunktion einfach gesagt wird, daß erstere ,dem bestehenden System
der Strafsanktionen‘ entspreche und letztere zwar bestritten, aber eben vom Gesetzgeber
,für einen legitimen Strafzweck [gehalten]‘ werde. Was der Gesetzgeber für legitim hält,
kann doch nicht maßgebend sein, vor allem dann nicht, wenn der Anspruch erhoben
wird, daß ,Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis
von Schuld und Sühne [bestimmt]‘ “ (Lenckner-FS, S. 295).
264
Vgl. BVerfGE 50, 125, 133; 57, 250, 275; 90, 145, 173.
265
BVerfGE 20, 323, 331; ebenso BVerfGE 41, 121, 125. Zwar hatte sich die Be-
schwerdeführerin auf Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG berufen,
den Gedanken der Menschenwürde hatte das Bundesverfassungsgericht jedoch offen-
kundig ganz bewusst nicht aufgegriffen, da es zunächst das Begehren der Beschwerde-
führerin dahingehend auslegte, sie rüge eine Verletzung der freien Entfaltung ihrer
Persönlichkeit (s. BVerfGE 20, 323, 329 f.).
266
Auch der Aspekt materieller Gerechtigkeit ist also vom Bundesverfassungsgericht
nicht in direkten Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG gebracht worden (vgl. BVerf-
GE 20, 323, 331; anders BVerfGE 50, 125, 133; dazu auch Stree, Deliktsfolgen und
Grundgesetz, S. 8). Ablehnend gegenüber einer Herleitung der Strafe aus dem Gerech-
tigkeitsgedanken Scheler: „Vergeltung und Strafe rühmen sich [...] einer rein sittlichen
Wurzel ohne jedes innere Fundament“ (Formalismus, S. 374 f.). Vgl. zu den verfas-
sungsrechtlich relevanten Aspekten des Schuldprinzips auch Arthur Kaufmann,
R. Lange-FS, S. 31 ff.
267
Vgl. BVerfGE 20, 323, 331. Zum Gerechtigkeitsaspekt des Rechtsstaatsprinzips
siehe auch BVerfGE 7, 194, 196, u. BVerfGE 7, 89, 92.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 91

Vorwerfbarkeit der Tat der strafrechtliche Eingriff dem Gebot materieller Ge-
rechtigkeit genügt und damit nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt.268
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt die „unabweisbaren Be-
dürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“ anerkannt269, es hat dabei aber stets
betont, dass die Grundrechte „als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs
des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so
weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen uner-
läßlich ist“.270 Soweit das Bundesverfassungsgericht von „den unabweisbaren
Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung“ spricht271, geht es daher nicht
um eine Strafverfolgung als Selbstzweck, sondern um die Wahrung der Interes-
sen der Gemeinschaft, die eine Freiheitsbeschränkung des Einzelnen nur dann
rechtfertigen können, wenn diese unerlässlich ist.272 Allerdings fordert das
_________________
268
Daneben führt Lackner an, dass das Schuldprinzip in der Verfassungsurkunde kei-
ne Erwähnung finde (s. Kleinknecht-FS, S. 247 f.). Man wird aber im Hinblick auf
Art. 103 Abs. 2 GG zu dem Schluss kommen, dass der Verfassung sicher nicht die
Überlegung eines Staates ohne Strafrecht zugrundeliegt, was auch durch Art. 26 Abs. 1
Satz 2 GG verdeutlicht wird. Es ist daher Calliess zuzustimmen, wenn er in Bezug auf
das Grundgesetz bemerkt: „Die Existenz staatlichen Strafens setzt es dagegen als gege-
benes Faktum voraus“ (Müller-Dietz-FS, S. 107). Allerdings lässt die ausdrückliche
Benennung der Strafe in Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG daneben auch die Schlussfolgerungen
Rupp-v. Brünnecks u. Simons zu, dass der Parlamentarische Rat nur für diesen Fall
Strafsanktionen von Verfassungs wegen für geboten erachtete, im Übrigen daher keine
Pflicht zum Strafen bestehe (s. BVerfGE 39, 68, 75). Zweifelhaft indes die Schlussfol-
gerungen von I.-S. Kim: „Die harte Realität der staatlichen Strafe ist zwar nahe an der
Grenze eines unmenschlichen und menschenunwürdigen Daseins, aber damit wird nicht
ohne weiteres gesagt, daß die staatliche Strafe als solche und im ganzen schon eine
Verletzung der Mw [Menschenwürde] darstellt. Denn die staatliche Strafe ist ihrer Natur
nach im demokratischen und sozialen Rechtsstaat nur ein Rechtsakt, der rechtmäßig
ausschließlich gegen die faktische Situation eines Verbrechens im materiellen Sinne
eingesetzt wird. Sie ist also begriffsnotwendig mit einer von der Rechts- und Staatsord-
nung gebotenen Maßnahme identisch, infolgedessen entspricht sie eo ipso dem Recht
und bedarf insofern keiner Rechtfertigung“ (Menschenwürde, S. 288). Die Strafe mag
insoweit eine gesetzliche Grundlage haben, dass sie auch dem „Recht“, insbesondere der
Verfassung, entspricht, kann hieraus jedoch nicht unmittelbar gefolgert werden.
269
Siehe BVerfGE 33, 367, 383; 38, 312, 321; 39, 156, 163; BVerfGE 41, 246, 250;
46, 214, 222; 51, 324, 343.
270
BVerfGE 19, 342, 349. Demgegenüber galt es beispielsweise die Untersuchungs-
haft zu rechtfertigen (vgl. auch BVerfGE 20, 45, 49; 20, 144, 147. Vgl. zur Problematik
auch H.-L. Günther, JuS 1978, S. 11 ff.; Amelung, Kritik, S. 89.
271
Siehe BVerfGE 19, 342, 347.
272
Auch dem BGH zufolge habe Strafe nicht die Aufgabe, „Schuldausgleich um ihrer
selbst willen zu üben,“ sondern sei nur gerechtfertigt, „wenn sie sich zugleich als not-
wendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist“
(s. BGHSt 24, 40, 42). Vgl. auch BVerfGE 35, 202, 235; Jakobs, StrafR AT, 17/29;
Freund, Legitimationsfunktion, S. 43 ff.; ders., GA 1995, S. 5 ff.; Noll, H. Mayer-FS,
92 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Bundesverfassungsgericht zunehmend auch ausdrücklich eine strafrechtliche


Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen.273 Das „Übermaßverbot“ wird
neuerdings ergänzt durch ein „Untermaßverbot“.274 Zur Begründung beruft sich
das Bundesverfassungsgericht auf die Existenz und Funktion des Strafrechts an
sich: „Dem Strafrecht kommt seit jeher und auch unter den heutigen Gegeben-
heiten die Aufgabe zu, die Grundlagen eines geordneten Gemeinschaftslebens
zu schützen.“275 Eine solche Rechtfertigung staatlicher Strafgewalt birgt indes
Probleme, da sich die Vereinbarkeit staatlicher Strafe mit rechtsstaatlichen
Grundgedanken bereits wegen des historisch früheren Ursprungs der Strafe
nicht von selbst versteht.276

b) Historische Überlegungen zur Willensbetätigung


als Grundlage staatlichen Strafens

Zur Fränkischen Zeit finden sich Begriffe wie „nesciens“ (nicht wissentlich),
„nolens“ (nicht willentlich), „mala voluntate“ (mit bösem/schlechtem Willen)
in Gesetzestexten.277 Gleichwohl ist umstritten, ob man im frühen Mittelalter
bereits von einer strafrechtlichen Zurechnung sprechen kann.278 Ekkehart
Kaufmann gelangt zu dem Ergebnis, dass er eine Entwicklung des Schuldstraf-
_________________

S. 232; befürwortend, aber differenziert gegenüber der Schuldstrafe Frank: „Inhalt und
zwar begriffsnotwendiger Inhalt der Strafe ist die Vergeltung. Aber Vergeltung ist nicht
ihr Zweck. Ihr Zweck ist in erster Linie die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung“,
woraus er folgert: „Wir sollen nicht strafen in der Meinung, dass es die höchste Aufgabe
des Staates sei, Leid mit Leid zu beantworten, sondern wir sollen erkennen, dass wir nur
strafen, um die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten“ (Vergeltungsstrafe, S. 22). Kritisch
gegenüber dem Bedürfnis einer Strafverfolgung Scheerer, Kriminalstrafe, S. 348 ff.;
Baurmann, Folgenorientierung, S. 7 ff. Zur „Krise des öffentlichen Strafanspruchs“
eingehend Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 22 ff.
273
Siehe BVerfGE 39, 1, 44 ff.; zustimmend Krey, StrafR AT, S. 8. Hierin wird al-
lerdings teilweise mit bedenkenswerten Gründen eine Verkehrung des Gedankens der
objektiven Wertordnung gesehen (s. Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 39, 68 ff., insb. 72 ff.;
AK GG-Denninger, Vor Art. 1, Rn. 34). Vgl. zur objektiven Wertordnung auch unten,
S. 105 ff.
274
Vgl. BVerfGE 88, 203 ff. (Leitsatz Nr. 8).
275
BVerfGE 88, 203, 257.
276
Kritisch auch Calliess: „Die staatliche Strafbefugnis bedarf offenbar, weil mit dem
neuzeitlichen Staat und seinem Gewaltmonopol entstanden, keiner besonderen Legiti-
mation“ (NJW 1989, S. 1338). Zur geschichtlichen Entwicklung des Schuldgedankens
vgl. auch Nass, Wandlungen, insb. S. 73 ff.
277
Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 72, 16b (Lex Thuringorum); S. 75, 18d (Lex
Saxonum), 18e (Capitulare Missorum). Vgl. auch die Übersicht zur historischen Ent-
wicklung der Strafbarkeit bei Schlüchter, Grenzen, S. 63.
278
Vgl. die Diskussion bei E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 10–16.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 93

rechts nicht erkenne: „Ich sehe vielmehr eine Zeit, in der es Strafe nicht gab,
auch keine Ansätze zu ihr. Und weiter sehe ich eine Zeit, in der das Recht an-
ders geworden ist, und dann allerdings viele Ansätze zeigt, die sich im heutigen
Recht wiederfinden.“279 Nach Eberhard Schmidt sollen in der Constitutio Cri-
minalis Carolina von 1532 erstmals Ansätze des Schuldprinzips zum Ausdruck
gebracht worden sein.280 Ansätze schon deshalb nur, weil es kein übergeordne-
tes Schuldprinzip gab. Andererseits ist unbestreitbar, dass seit der Fränkischen
Zeit Begriffe mit subjektivem Gehalt im germanischen Recht zu finden sind,
wenn auch – weil objektiv gefasst281 – ohne ihren heutigen Bedeutungsinhalt.282
So war nach Brunner bei der Brandstiftung im „focum mittere“ (Feuer setzen)
die willentliche Verursachung bereits begrifflich enthalten.283 Umgekehrt fehlte
es daran, wenn das vertypte Gesamtbild der Tat nach der „Volksanschauung“
dagegen sprach: „Darum hält man es für typisches Ungefähr, wenn die aufge-
hängte Waffe herabfällt und einen Menschen tödtet oder wenn das durch ein
Geschoss geschieht, das von einem Steine abprallt. Dagegen sträubt man sich,
die Tödtung durch ein unmittelbar aus der Hand des Schützen abirrendes Ge-
schoss als Ungefähr zu behandeln, weil in diesem Falle der Gegensatz von
Wille und That in dem Thatbestande nicht zur Genüge verkörpert ist.“284 Die
Typisierung von Tatbeständen konnte nach Brunner denn auch zur Folge ha-
ben, dass eine absichtliche Tat als „Ungefährtat“ abgeurteilt wurde, wenn sie
äußerlich einer solchen entsprach; ob im Einzelfall Absicht vorlag oder nicht,
wurde nicht untersucht.285 Die „Ungefährtat“ umfasste dabei neben der heuti-
gen Fahrlässigkeit auch die nach heutigem Recht objektiv nicht zurechenbaren
Erfolge, weil, so Brunner, „das germanische Strafrecht entsprechend der pan-
theistischen Weltanschauung des germanischen Heidenthums den Zufall nicht
kennt“.286 Der Willensbegriff als späterer Grundstein subjektiver Zurechnung
wurde also keineswegs genauer geklärt, jedoch als solcher in seiner Undiffe-
renziertheit bereits in die Carolina übernommen. Dass damit keinesfalls nur
rechtsstaatlicher Fortschritt bewirkt wurde, mag ein historischer Ausschnitt
verdeutlichen, der sich bei Behringer findet.
Die Implementierung des Willensbegriffs in die Carolina war der Ausgangs-
punkt für seine weitgehende Verselbständigung in der sich im 16. Jahrhundert
_________________
279
E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 18.
280
Siehe Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117.
281
Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 59.
282
Zur Entwicklung des Strafrechts im römischen Recht und im Hochmittelalter vgl.
Wesel, S. 182 ff. u. 332 ff.
283
Siehe Brunner, Missethat, S. 10 mit Fn. 2.
284
Brunner, Missethat, S. 10.
285
Vgl. Brunner, Missethat, S. 10; Sellert/Rüping, Geschichte, S. 61.
286
Siehe Brunner, Missethat, S. 9.
94 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

anschließenden Ländergesetzgebung.287 Denn als unbestimmter und metaphysi-


scher Begriff war der Willensbegriff in Zeiten des Aberglaubens ein nützliches
Instrument zum Machterhalt.288 Ausschlaggebend hierfür war, dass die Haftung
der Constitutio Criminalis Carolina im Rahmen der Zaubereigesetzgebung
Differenzen grundlegender Art hervorbrachte. Zwar seien, so Behringer, He-
xendelikte nach damaligen physikalischen und theologischen Grundannahmen
prinzipiell möglich gewesen289; dennoch sei gerade von Juristen durchaus der
Standpunkt vertreten worden, dass Hexen zum Wetterzauber oder zum Fliegen
durch die Luft naturgemäß nicht in der Lage seien.290 Auch lutherische Theolo-
gen hätten sich teilweise nur schwer mit dem Gedanken anfreunden können,
dass der Teufel im Zusammenspiel mit dem Menschen die Fähigkeit besitzen
sollte, sich der Allmacht Gottes entgegenzustellen.291 Der Stuttgarter Superin-
tendent Johannes Brenz soll deshalb 1565/66 die Ansicht vertreten haben, dass
Hexen zwar nicht zaubern könnten, dass sie jedoch wegen ihrer Absicht, dies
zu tun und einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, zu verbrennen seien.292
Diese Taktik, wegen der Unmöglichkeit eines kausalen Nachweises zwischen
Handlung und Erfolg oder sogar der Unmöglichkeit einer Erfolgsverursachung
selbst und der damit verbundenen theologischen Schwierigkeiten auf den Scha-
denswillen statt den wirklichen Schadenszauber abzustellen und damit das
Hexereiverbrechen gänzlich zu „vergeistigen“, legte den Grundstein für eine
beispiellose Hexenverfolgung.293 Bereits 1572 statuierte die Kursächsische
Kriminalordnung: „So jemandts in vergessung seines christlichen Glaubens mit
dem teufel ein Verbündnis aufrichtet, umgehet oder zu schaffen hat, daß die
selbige Person, ob sie gleich mit Zauberei niemands Schaden zugefüget, mit
dem Feuer vom Leben zu Tode gerichtet und Gestraft werden soll.“294 Das
Hexenmandat Bayerns von 1611 stellte schließlich den „traurigen Höhepunkt“
dieser Gesetzgebung dar und war formell bis zur großen Strafrechtsreform
durch Feuerbach im Jahre 1813 in Kraft.295
Schon dieser kurze Ausflug in die Geschichte dürfte die Annahme, das Straf-
recht achte nur, aber auch schon dann die Würde des Menschen, wenn es das

_________________
287
Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 12.
288
Dazu auch Kargl, Handlung und Ordnung, S. 370.
289
Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 12.
290
Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 45.
291
Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 55.
292
Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 62; vgl. zum Ausreichen des Teufelspak-
tes für das Hexereiverbrechen entgegen Art. 109 Satz 2 CCC auch Wesel, S. 405.
293
Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 63.
294
Zitiert bei Behringer, Hexengesetzgebung, S. 79.
295
Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 7 u. 17 f.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 95

freiheitliche Selbstverständnis des Menschen zugrunde lege296, grundsätzlich in


Frage stellen.297 Ein solches Selbstverständnis, das eben auch eine Freiheit zum
Pakt mit dem Teufel anerkennt, garantiert jedenfalls für sich allein genommen
nicht die Achtung der Menschenwürde bei der Anwendung von Strafrecht. Die
Beendigung der Hexenverfolgung lässt eher auf das Gegenteil schließen, dass
es nämlich gerade die naturwissenschaftliche Klärung kausaler Zusammenhän-
ge war, die jedenfalls zu jener Zeit zu einem humaneren Strafrecht geführt hat.
Diese Grenze des Menschenmöglichen findet heute ihre Berücksichtigung im
selbstverständlichen Ausschluss der Zurechnung sowohl im Bereich der Verlet-
zungsverbote als auch – gemäß dem Prinzip „ultra posse nemo obligatur“ – im
Bereich positiver Pflichten: Ist ein kausaler Zusammenhang zwischen Hand-
lung und Erfolg nicht nachweisbar oder hätte eine unterlassene Handlung nicht
kausal für eine Erfolgsabwendung werden können, so scheidet eine strafrecht-
liche Zurechnung gleichermaßen und von vorne herein aus. Der Grundsatz,
vom Menschen nichts ihm Unmögliches zu verlangen, soll, worauf noch zu-
rückzukommen sein wird, unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG folgen.298 Festzu-
halten bleibt an dieser Stelle, dass auch die Berücksichtigung der biologischen
Fähigkeiten und Grenzen des Menschen aus heutiger Sicht einen nicht unerheb-
lichen Bestandteil seines Selbstverständnisses bildet.
Zwar haben sich die physikalischen Grundannahmen seit der Hexenverfol-
gung entscheidend geändert. Das Abstellen auf den menschlichen Willen ist
jedoch noch immer ein eher philosophischer, teilweise auch psychologischer
Streitpunkt. Auch wenn also heute Intention und Erfolg losgelöst von jedweder
empirisch kausalen Verbindung für eine Strafverfolgung nicht ausreichend
sind, dient der menschliche Wille noch immer als eine Art Sammelbecken für
spekulative Auffassungen aller Art, obwohl historisch gerade auch durch die
Bezugnahme auf das Willensmoment eine Verfolgung von „Verbrechen“ er-
möglicht wurde, wie sie aus heutiger Sicht unvertretbar erscheint. Die Ver-
knüpfung zwischen Verletzungserfolg und Willen, die sich in den Schuldfor-
men findet und vom finalen Handlungsbegriff akzentuiert wird299, kann daher
_________________
296
So Burkhardt, Lenckner-FS, S. 22.
297
Dieser Aspekt wird auch von Bauer angesprochen (s. Verbrechen, S. 17 f.). Anzu-
nehmen, ein Wegfall der Schuldstrafe sei „ein Schritt rückwärts“ aufgrund des Umstan-
des, dass das Zurechnungsprinzip einstmals eine Neuerung der Aufklärung war (vgl.
Arthur Kaufmann, R. Lange-FS, S. 35), ist spekulativ und erscheint als eine simplifizier-
te Darstellung der Verhältnisse. In Wirklichkeit hat mit der Schuldstrafe ein wesentli-
ches Element des peinlichen Strafrechts überdauert, nur dass die körperlichen Leiden,
jedenfalls im Falle der Freiheitsstrafe, durch seelische Leiden ersetzt wurden (vgl. Britz,
Müller-Dietz-FS, S. 97). Kritisch zum Menschenbild der Aufklärung und den sich dar-
aus ergebenen Konsequenzen für den Schuldbegriff des Strafrechts auch Munoz Conde,
GA 1978, S. 66.
298
Vgl. unten, S. 119 ff.
299
Zum finalen Handlungsbegriff unten, S. 169 ff.
96 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

nicht einfach und unkritisch positiv bewertet werden, zumal diese Beziehung
nur auf ein Verhalten gestützt werden kann, dessen Zusammenhang mit dem
Willen auch im heutigen Strafrecht möglicherweise eine eher spekulative
Grundannahme ist. Dieser Zusammenhang wird im dritten Teil dieser Arbeit
genauer untersucht werden.

c) Die Grundlagen und Grundfragen der Schuldstrafe300

Die sich im 17. Jahrhundert entwickelnden naturrechtlichen Strömungen


übernehmen das Willensmoment in den von Pufendorf geprägten Begriff der
„imputatio“301. Hier entwickelte sich nun die Zurechnung als technischer Be-
griff.302 Nach Pufendorf ist die Ausübung einer Bewegung von dem Entschluss
des Willens und der Vernunft abhängig. Der Mensch wird zum Urheber seiner
Handlungen, sie können ihm „zugerechnet“ werden.303 Dabei unterscheidet
Pufendorf: „Eine auf freiem Willen beruhende Handlung enthält freilich zwei
Dinge: Eines ist gewissermaßen material, nämlich die Bewegung der von der
Natur verliehenen Macht oder Ausübung, wenn man sie für sich betrachtet. Das
andere ist gewissermaßen formal und besteht in der Abhängigkeit dieser
Bewegung oder deren Ausübung von dem Entschluß des Willens [...].“304 Dann
führt er weiter aus: „Wir nennen jene Handlungen willentlich, die von dem
Willen des Menschen als einer freien Ursache dergestalt abhängen, daß sie
ohne desselben Bestimmung, die durch einige seiner inneren Bewegungen nach
vorgehender Erkenntnis des Verstandes bewirkt wird, nicht stattfinden würden,

_________________
300
Vgl. auch v. Liszt: „Während der Streit um die Grundfragen und Grundlagen des
Strafrechts in den außerdeutschen [...] Ländern, seit einer Reihe von Jahren die besten
Köpfe beschäftigt, die tüchtigsten Federn in Bewegung hält und die lebhafteste Anteil-
nahme aller gebildeten Kreise wachgerufen hat, geht die deutsche Literatur mit vornehm
ruhigem Schweigen an dieser mächtigen Geistesströmung vorbei“ (Strafrechtliche Vor-
träge und Aufsätze, Bd. 2, S. 25).
301
Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 352; vgl. auch H. Mayer, StrafR AT, S. 104.
Dass damit auch in der Handlung der Bestrafenden nun nicht mehr eine „Triebhand-
lung“, sondern eine „Willenshandlung“ zu sehen ist, wird von v. Liszt hervorgehoben (s.
Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 293).
302
Dabei geht die Lehre Pufendorfs nicht auf das positive Recht, insbesondere das
römische oder die Carolina zurück, sondern fußt nach einer Untersuchung Loenings, von
gewissen Einflüssen der mittelalterlichen Scholastik abgesehen, auf der Philosophie des
Aristoteles (s. Geschichte, S. XI); vgl. auch Sellert/Rüping, Geschichte, S. 352 f.
303
Siehe Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 380,
Quelle 3. Zur Ablösung des theologischen Strafrechts Benedikt Carpzovs durch Samuel
Pufendorf vgl. Wesel, S. 392 f.
304
Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 379, Quelle 1a.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 97

also daß es daher in der Macht des Menschen liegt, ob sie geschehen oder nicht
geschehen.“305
Ob mit Pufendorf eine auf dem freien Willen basierende Zurechnungslehre
Einzug in die Rechtswissenschaft gehalten hat, ist umstritten.306 Unzweifelhaft
ist jedoch, dass Pufendorf das Verhalten auf den Willen zurückführt und diesen
Zusammenhang für die Zurechnung funktionalisiert. Die Willensbetätigung
wurde damit zum Bestandteil der Rechtsdoktrin. Dies erklärt sich daraus, dass
die Naturrechtler zwar bemüht waren, Recht auf Annahmen zu gründen, die
gerade nicht von sich wandelnden gesellschaftspolitischen Anschauungen ab-
hängig sein sollten, dass sie diese Annahmen jedoch auf einem philosophisch
inspirierten Verständnis ihrer selbst als menschliche Wesen aufbauten und
dabei zumindest Handlungsfreiheit voraussetzten.307 Damit umfasste das „Un-
wandelbare“ neben Naturereignissen auch die Bestimmung von Handlungen
durch den Willen und die Vernunft des Menschen.308 Anders die bildhaft un-
termalte Ansicht des Rechtslehrers Hommel im 18. Jahrhundert: „Wer nach-
denken und auf seine Seele Acht haben will, kan der Erfahrung und der Em-
pfindung einer scheinbaren Freyheit nicht mehr zuschreiben, als: daß sein Wille
und seine Bewegung zugleich entstehe. Daraus läßt sich aber noch nicht schlie-
ßen, daß eines des andern Ursache sey, oder eines aus dem andern abstam-
me.“309 „Wir fühlen in uns das Verlangen etwas zu thun, aber die Ursachen, so
diesen Trieb erregen, empfinden wir nicht. Also glauben wir, daß unser Ver-
langen die Ursache der unternommenen Handlung sey. Hierinnen liegt der
ganze Selbstbetrug. Ein Ochse, so in einem holen Rade läuft, wodurch eine
Mühle betrieben wird, glaubet zu laufen, und bleibet doch beständig auf der
Stelle. Also sind die Betrügereyen, nicht allein der äuserlichen, sondern auch
der innerlichen Sinne, so mannigfaltig und geringe, daß wir sie unmöglich

_________________
305
Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 379, Quelle 1b.
Die Lehren des Aristoteles, auf denen Pufendorfs Überlegungen beruhen sollen (vgl.
oben, Fn. 302), gäben nach Loening für einen indeterministisch verstandenen „freien
Willen“ jedoch nichts her. Cicero soll Aristoteles sogar unter den Vertretern fatalisti-
scher Notwendigkeit des menschlichen Handelns aufgeführt haben (s. Geschichte,
S. 294 f. u. S. 311); anders Hardwig, Zurechnung, S. 13. Mittelstraß bezeichnet den
Willensbegriff des Aristoteles als „praktisch-philosophisch“ im Gegensatz zu dem meta-
physischen Begriff Augustinus‘ und Plotins (s. S. 38). Vgl. zur Problematik der Verselb-
ständigung des Willensbegriffs bei Aristoteles auch Dihle, S. 31.
306
Vgl. Holzhauer, S. 23.
307
Vgl. Holzhauer in Bezug auf Pufendorf, S. 23 f.
308
Vgl. auch Feuerbach, der in Anlehnung an Kant die Prinzipien des Rechts grund-
sätzlich aus der Sphäre der reinen praktischen Vernunft deduziert, und dieses als
„ein[en] sich auf den Willen beziehende[n] praktische[n] Gegenstand“ als Produkt der
praktischen Vernunft versteht (s. Kritik des natürlichen Rechts, S. 243).
309
Hommel, S. 59.
98 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

fühlen können.“310 Ausgehend jedoch von der Lehre Pufendorfs und trotz der
Zurückhaltung Feuerbachs311 herrschte in der deutschen Strafrechtswissen-
schaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eindeutig der Indeterminismus.312
Der Willensbegriff hat damit zunächst vollkommen undefiniert Eingang in
das deutsche Recht gefunden. Dem „Segen“ der Zurechnungslehre ging, basie-
rend auf dem Verständnis von den geistigen Fähigkeiten des Menschen, mit
den Hexenprozessen zunächst eine Strafverfolgung voraus, die jedenfalls aus
heutiger Sicht dem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht. Aber auch die Begren-
zung der geistigen Einflussnahme auf das Verhalten, wie sie sich bei Pufendorf
und Feuerbach findet, wurde nicht empirisch hinterfragt. Indes hatte sich be-
reits Mitte des 19. Jahrhunderts eine indeterministische Begründung des Straf-
rechts so durchgesetzt, dass die Willensfreiheit des Individuums in erheblichen
Teilen der Wissenschaft nicht mehr diskutiert wurde.313 Die Auffassung von
der Selbstbestimmung hat also über die ursprünglich als „objektiv“ verstandene
Zurechnung eines Erfolges zum Willen einer Person314 allmählich Eingang in
die Strafrechtswissenschaft gefunden, obwohl der Zusammenhang zwischen
Wille und Verhalten (beziehungsweise Erfolg) immer und ausschließlich Ge-
genstand der Spekulation geblieben ist. Deshalb kann mit Pothast zu Recht
gefragt werden, „ob das Derivativ ,der Schuldige‘, das ja auf jeden Anwendung
finden darf, der nach unserem Recht zu bestrafen ist, nicht späteren Epochen
_________________
310
Hommel, S. 61.
311
Feuerbach übernimmt die Zurechnung in seine Lehre vom Strafgesetz, womit sie
in den Bereich der richterlichen Anwendung des Gesetzes fällt und nicht als Frage des
materiellen Verbrechens aufgefasst wird (kritisch hierzu Radbruch, Handlungsbegriff,
S. 81 f.). Die Zurückhaltung Feuerbachs hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit sei
darauf zurückzuführen, dass er diese nicht im Recht, sondern in der Moral ansiedelte
und diese Bereiche strikt trennte (vgl. NK-Schild, 1. Aufl., § 20, Rn. 8). Er übernimmt
die Abhängigkeit menschlicher Bewegungen vom Willen, unterscheidet dagegen nicht,
ob der Wille mit dem Bewirkten in Einklang steht. Er geht vielmehr davon aus, dass sich
der Willensinhalt auch als solcher in seinen Wirkungen niederschlägt, womit auch die
Fahrlässigkeitstat als „gewollte“ Tat erscheint (s. Radbruch, Handlungsbegriff, S. 80 ff.;
v. Bubnoff, S. 26). Erst die Hegelianer rückten den Handlungsbegriff in den Mittelpunkt
des strafrechtlichen Systems, Handlung und Zurechnung entsprachen sich danach (dazu
Otter, Funktionen, S. 30 f.). Binding löste diese Verbindung, sah die Handlung jedoch
als verwirklichten rechtlich relevanten Willen (s. Binding, Normen, Bd. 2/1, S. 92).
312
Siehe Holzhauer, S. 23; NK-Schild, 1. Aufl., § 20, Rn. 8. Vgl. dazu auch
H. Mayer, der das Aufkommen der Schuldidee als philosophische Fragestellung im
Wesentlichen einem Übersetzungsfehler von „imputatio iuris“ in den Begriff „Schuld“
zuschreibt (StrafR AT, S. 104). Zu den verschiedenen Deutungsarten bei der Unter-
scheidung von „imputatio iuris“ und „imputatio facti“ vgl. Radbruch, Handlungsbegriff,
S. 99, Fn. 3. Hinsichtlich des Verständnisses der „imputatio iuris“ als Kausalzusammen-
hang zwischen Wille und Körperbewegung s. Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 336.
313
Siehe Holzhauer, S. 89.
314
Vgl. v. Bubnoff, S. 141.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 99

als ein ebenso hilfloser metaphysischer Appell erscheinen wird, wie uns das
Wort ,Scheusal‘, mit dem man sich noch vor kurzem über die Leiden des soge-
nannten Königsmörders hinwegsetzte“.315

d) Grammatikalische Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung

Nach diesem kurzen Gang durch die Entstehungsgeschichte strafrechtlicher


Zurechnung soll nun zur Klärung der Frage, ob das Menschenbild des Art. 1
Abs. 1 GG dazu zwingt, den Menschen als „frei“ im Sinne von selbstbestimmt
zu behandeln, untersucht werden, welche Schwierigkeiten ein in dem Begriff
der „Würde des Menschen“ verankertes Attribut der Selbstbestimmung316 bei
der Rechtsanwendung des strafrechtlichen Schuld- und Handlungsbegriffes
hervorrufen muss.
Auf erste Schwierigkeiten stößt die Implementierung der Selbstbestimmung
in den Würdebegriff innerhalb der Schuldfähigkeitsfeststellung. Nicht verant-
wortlich für ihre Taten sind gemäß § 20 StGB all jene, die bei Begehung der
Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden
Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen seelischen
Abartigkeit unfähig waren, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser
_________________
315
Pothast, Freiheitsbeweise, S. 321. Robert-Francois Damien hatte 1757 in Versail-
les versucht, Ludwig XV. zu töten. Er wurde im selben Jahr in Paris auf grausame Weise
hingerichtet. Siehe dazu vor allem Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, S. 7 ff.; s. auch
Britz, Müller-Dietz-FS, S. 73 f. Vgl. daneben Pothast, Schwächen, S. 146. Darauf, dass
der „Versuch, Schuld auf eine unbewiesene und unbeweisbare Willensfreiheit zu grün-
den“ inzwischen unzeitgemäß sei, macht auch Tiemeyer (vgl. ZStW 100 [1988], S. 560)
aufmerksam und Scheerer kommt zu dem Schluss, dass Strafe im engeren Sinne und
Strafrecht keine Universalien seien, „sondern sehr spezifische Entwicklungen, die histo-
risch relativ jung sind und doch schon sehr überaltert wirken“ (Strafrecht, S. 88). Zum
geschichtlichen Wandel des Schuldverständnisses auch Dux, S. 8 f.
316
Der Inhalt der Menschenwürde und damit der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG
unterliegt zunächst keiner eindeutigen Definition. Im Bereich der positiven Bestimmung
werden im Wesentlichen zwei Auffassungen vertreten (so Pieroth/Schlink, S. 81). Nip-
perdey zufolge bedarf der Begriff der menschlichen Würde keiner weiteren juristischen
Definition. „Die eigenartige Stellung des Menschen beruht auf seinem ethischen Stre-
ben, auf seiner Fähigkeit zur Freiheit sittlicher Entscheidung [...]“ (Nipperdey, S. 1 u. 2).
Die Auffassung Luhmanns ist dagegen am sozialen Bezug des Menschen orientiert. Bei
Freiheit und Würde des Menschen handle es sich nicht um angeborene natürliche Quali-
täten des Menschen und auch nicht um sich implizierende Werte, sondern um die äuße-
ren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im
Kommunikationsprozess (s. Grundrechte, S. 61 ff., 70); vgl. dazu auch Jakobs, ZStW
107 (1995), S. 843 ff.; kritisch Stübinger, KJ 1993, S. 40–43. Siehe auch das BVerfG
zur Menschenwürde: „Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-
sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen“
(BVerfGE 45, 187, 227).
100 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Einsicht zu handeln. Entscheidend für die Schuldfähigkeit ist daher nach der
Rechtsprechung „die Einsichtsfähigkeit wie das Hemmungsvermögen des An-
geklagten“.317 Der innere Grund des Schuldvorwurfs liege darin, „daß der
Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und
deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden,
[...] solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die
in § 51 StGB [a. F.] genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt
oder auf Dauer zerstört ist“.318
Diese Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1952 muss
Lackner zufolge im Lichte der „Pervertierungen des Strafrechts im Nationalso-
zialismus“ verstanden werden.319 Im Kern geht es darum, dass eine Wiederho-
lung staatlicher „Nutzbarmachung“ der Strafgewalt, wie dies zu Zeiten natio-
nalsozialistischer Herrschaft geschah, zukünftig verhindert werden soll.320 Die-
sem Gedankengang folgt auch Baumann, der dem Strafrecht eine soziale und
ausdrücklich keine ethische Aufgabe zuschreibt, eine vermehrte Konzentration
auf letztere aber auch als Folge der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus
versteht.321
Geht man jedoch von der „Selbstbestimmung“ als einem Attribut der
menschlichen Würde aus, so drängt sich gerade dann die Frage auf, ob die nach
_________________
317
Siehe BGHSt 11, 20, 21.
318
Siehe BGHSt 2, 194, 200. Vgl. auch Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 559.
319
Siehe Lackner, Kleinknecht-FS, S. 247 f.; vgl. auch Arthur Kaufmann, R. Lange-
FS, S. 32.
320
Vgl. dazu Lackner, Kleinknecht-FS, S. 246 ff., u. Stratenwerth, der die Vorbehalte
gegenüber zweckorientierten Ansichten während der Arbeit an der Reform des deut-
schen Strafrechts ab 1952 so beschreibt: „Wenn Franz von Liszt in seinem berühmten
Marburger Programm die ,Gerechtigkeit im Strafrecht‘ als die ,Einhaltung des durch den
Zweckgedanken erforderten Schuldmaßes‘ definierte, so mußte das als schlechterdings
unannehmbar erscheinen, solange man noch den Satz: Recht sei, was dem deutschen
Volke nützt, im Ohr und seine Konsequenzen vor Augen hatte. Und wenn etwa Eber-
hard Schmidt formuliert: ,Wer ... in einem gewissenhaften Strafverfahren als
,Verbrecher‘ überführt ist, dem gegenüber hat der Staat das Recht zu respektloser Inan-
spruchnahme auch seiner Persönlichkeit, soweit das notwendig ist, um weiterer Verbre-
chensbegehung durch ihn vorzubeugen‘, so schien auch damit jeglicher Eingriff in die
Persönlichkeit gerechtfertigt werden zu können, der eben nur deren künftiges Wohlver-
halten verbürgte. Natürlich konnte und wollte niemand den zitierten Autoren selbst auch
nur von ferne inhumane Absichten unterstellen – es war die immanente Logik ihrer
Konzeption, die man fürchtete. Darin liegt übrigens eine und vielleicht die wichtigste
Erklärung dafür, daß die Vertreter der ,modernen‘ Schule in der Großen Strafrechts-
kommission weithin auf verlorenem Posten gekämpft haben, selbst bei konkreten Ein-
zelfragen, bei denen die weitaus besseren Argumente auf ihrer Seite waren“ (Leitprinzi-
pien, S. 8 f. – Hervorhebung nur hier); vgl. auch ders., Zukunft, S. 8 ff.
321
Siehe J. Baumann, Strafrecht, S. 20, wobei sich Baumann ausdrücklich als An-
hänger des Schuldstrafrechts versteht.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 101

den §§ 20, 21 StGB vermindert schuldfähigen oder schuldunfähigen Menschen


im Augenblick der Tat ihre Würde verloren haben oder ob auch diese Formen
des Verhaltens noch als selbstbestimmtes Verhalten anzusehen sind. Denn
einerseits wird in dem Schuldausschluss und in der Anwendung des Maßnah-
merechts kein Verstoß gegen die Menschenwürde erblickt322 und andererseits
waren es nicht zuletzt die Verbrechen der Nationalsozialisten an von ihnen als
„lebensunwert“ erachteten Menschen, die den Parlamentarischen Rat zur Ver-
ankerung der Menschenwürde im Grundgesetz veranlassten.323 „Lebensunwert“
waren für die Nationalsozialisten insbesondere auch geistig kranke oder behin-
derte Menschen.324 Damit war es dem Gesetzgeber nach 1945 ein besonderes
Anliegen, gerade auch bei diesem Personenkreis die menschliche Würde her-
vorzuheben.325 Graf Vitzthum stellt daher fest: „Jedem, auch dem Geisteskran-
ken, dem Kleinkind, Triebtäter oder Todgeweihten, kommt unabhängig von
seiner individuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Freiheit kraft seines
Menschenseins Subjektqualität zu. Niemand darf als ,non human being‘, als
,Untermensch‘, als ,Material‘ ausgegrenzt, also zum ,Liquidieren oder Abwra-
cken freigegeben‘ werden.“326
Assoziierte man aber mit dem Begriff der menschlichen Würde die Freiheit
zur Selbstbestimmung, so käme man zwar noch dazu, dass auch der verurteilte
Mörder eine menschliche Würde innehat327, die Schwierigkeiten im Rahmen
des Schuldausschlusses bei Geisteskranken und Kindern erscheinen dann je-
doch unüberwindbar. Man wird sich also mit dem Zusammenhang zwischen
dem Verlust der freien Selbstbestimmung bei Schuldunfähigkeit und dem Be-
griff des selbstbestimmten Verhaltens als Kriterium menschlicher Würde aus-
einandersetzen müssen.328

_________________
322
Ausführlich Jakobs, StrafR AT, 1/12 ff.; vgl. auch Roxin, StrafR AT/1, § 3,
Rn. 52.
323
AK GG-Podlech Art. 1 Abs. 1, Rn. 5; vgl. auch AK GG-Denninger, vor Art. 1,
Rn. 5 ff. Daneben macht Denninger darauf aufmerksam, dass man auch bemüht war,
naturrechtliche Absolutheitsansprüche abzuwehren (vgl. JZ 1982, S. 227 f.).
324
Vgl. Nipperdey, S. 3.
325
Vgl. auch Schreiber, Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld, S. 64.
326
Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 202.
327
Siehe Nipperdey, S. 3.
328
So auch Geisler, S. 50. Noch deutlicher wird die Problematik, wenn man bei Grif-
fel liest: „Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, beschlossen ,vom deut-
schen Volk im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen‘ ist die
Unantastbarkeit der Würde des Menschen hervorgehoben, die zu achten und zu schützen
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Dafür ist die freie Willensentscheidung im
Bewußtsein sittlicher und rechtlicher Verpflichtung unabdingbare Voraussetzung.
Zwingend determinierte Menschen (etwa Geisteskranke) können das nicht leisten. Im
reinen Kausalgeschehen gibt es nichts von Sollen und Verantwortung“ (ARSP 84
102 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Deutlicher noch werden die Schwierigkeiten des Begriffs vom selbstbe-


stimmten Verhalten im Bereich des Handlungsbegriffs des Strafrechts. Denn
soweit sich vis absoluta oder Reflexe auf das menschliche Verhalten auswirken,
gilt es als nicht „selbstbestimmt“. Zur Verdeutlichung soll ein Fall dienen, der
vom Bundesgerichtshof im November 1994 entschieden wurde: Der Angeklag-
te litt aufgrund einer schweren Hirnverletzung an epileptischen Anfällen; den-
noch fuhr er weiterhin ein Kraftfahrzeug. Als er sich eines Tages mit seiner
Familie auf der Heimfahrt befand, erlitt er ohne erkennbare Vorzeichen einen
Anfall, wodurch sich sein rechtes Bein derart verkrampfte, dass es das Gaspe-
dal niederdrückte. Zudem war der Angeklagte infolge des von einer sog.
„Dämmerattacke“ begleiteten Anfalls nicht mehr ansprechbar. Sein Auto er-
fasste mehrere Fußgänger, die sich größtenteils auf Fußgängerüberwegen be-
fanden, bevor es an einem Hindernis zum Stehen kam. Der Bundesgerichtshof
kam hier zu dem Schluss, dass es „mangels willensmäßiger Steuerung oder
Beherrschbarkeit an einem strafrechtlich erheblichen Verhalten des An-
gekl[agten] fehlt“.329
Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG verliert auch ein Epileptiker während eines Anfalls
nicht seine menschliche Würde. Es wäre aber paradox, einerseits willensmäßige
Steuerung oder Beherrschbarkeit eines Verhaltens zu verneinen, andererseits
die „Selbstbestimmung“ zu bejahen. Ebenso verhält es sich in Fällen der vis
absoluta, der Reflexe oder der Bewusstlosigkeit.330 Damit steht auch die oft
zitierte Rechtsprechung des Großen Strafsenats nur soweit im Einklang mit der
Verfassung, wie die „freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung“ gerade
nicht den Inbegriff menschlicher Würde darstellt. Zwar wird zumeist nur in der
Schuldprüfung auf den Begriff der Freiheit abgestellt, die „Selbstbestimmung“
wird aber in dem „Epileptiker-Fall“ bereits bei der Feststellung des Vorliegens
einer strafrechtlich relevanten Handlung in Frage gestellt. Die menschliche
Würde soll dagegen unter keinen Umständen Gegenstand strafrechtlicher
Überprüfung, sondern stets vorausgesetzt sein.331
Die Selbstbestimmung als Kriterium eines materiellen Schuldbegriffs anzu-
sehen ist mithin verfassungsrechtlich bedenklich, wenn sie zugleich Inbegriff
menschlicher Würde sein soll. Überhaupt begegnet jede Definition des Würde-
_________________

[1998], S. 518). Eindrucksvoll wird hier die Zweischneidigkeit der gut gemeinten Inten-
tion des BGH deutlich, mit der er den Begriff der Selbstbestimmung hervorhob; denn
eine Zwei-Klassen-Gesellschaft dergestalt, wie sie von Griffel beschrieben wird, hatte er
sicher nicht im Sinn.
329
BGHSt 40, 341.
330
Vgl. dazu auch Nipperdey, S. 3.
331
Vgl. das BVerfG: „Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares“ (BVerf-
GE 45, 187, 229). Vgl. auch Nowakowski: „In seinem Wert und seiner Würde als sittli-
cher Mensch steht der Angeklagte nicht im Verfahren“ (Rittler-FS, S. 88); Nipperdey,
S. 3. Differenzierend Schlehofer, GA 1999, S. 359 ff.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 103

begriffs, die im weitesten Sinne aus dem Erleben des Menschen hergeleitet
wird, immer wieder Schwierigkeiten, wenn spezifisch menschliche Erlebensfä-
higkeiten im Einzelfall nicht vorhanden sind.
Zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird der Inhalt menschlicher Würde in
der Regel abstrahiert. So gründet Dürig die Menschenwürde bei Geisteskranken
auf die potentielle Fähigkeit zur Verwirklichung derselben. Sie sei „als vorhan-
den zu denken“, auch wenn die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestal-
tung beim konkreten Menschen fehle. Dem gehen zwei gedankliche Schritte
voraus: Erstens beruhe der Begriff der Menschenwürde auf einer Aussage über
eine menschliche Seinsgegebenheit, der Befähigung, sich kraft seines Geistes
seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die
Umwelt zu gestalten, in diesem Sinne also „frei“ zu sein. Zweitens müsse man
erkennen, dass diese Freiheit auch bestehe, wenn die aufgeführten „Seinsgege-
benheiten“ gerade nicht gegeben seien, denn es könne sich denknotwendig nur
um eine abstrakte Freiheit handeln, die „dem Menschen an sich“ eigen sei.332
Denknotwendig ist es nicht, den Würdebegriff aus konkreten Seinsaussagen
über den Menschen abzuleiten, wenn er ohne deren Vorliegen ebenso gut ange-
nommen werden kann. Aus dem Gleichheitssatz, in dem Dürig den normativen
Niederschlag der Auffassung des Verfassungsgebers erkennt, dass jeder
Mensch frei sei333, ergibt sich ebenfalls keine zwingende Notwendigkeit, jeden
Menschen kraft seines biologischen Status als frei zu behandeln, wenn die für
seine Freiheit ausschlaggebenden Voraussetzungen im Einzelfall nicht vorlie-
gen.334 Es lässt sich also nur entweder eine „abstrakte“ Freiheit formulieren, die
unabhängig von der jeweiligen „Kraft des Geistes“ oder dessen Vorhandensein
als solchem existieren soll, oder aber man bindet den Freiheitsbegriff an kon-
krete Voraussetzungen wie die Selbstbestimmung als materielles Kriterium und
schließt entsprechend Freiheit aus, soweit diese Voraussetzungen nicht vorlie-
gen. Beide Alternativen vermögen indes keine Lösung für die genannten Pro-
bleme zu bieten. Nach ersterer würde der Würdebegriff zwar umfassend wir-
ken, könnte aber wegen der gesetzlichen Differenzierungen im Bereich der
Schuld nicht den Schuldbegriff legitimieren. Aus der zweiten Alternative ließe
sich zwar ein Differenzierungskriterium für die unterschiedliche Behandlung
der Normbrecher ableiten; man müsste dann jedoch hinnehmen, dass auch der

_________________
332
Siehe Dürig, AöR 81 (1956), S. 125; ders., Maunz/Dürig (2001), Art. 1 Abs. 1,
Rn. 18 ff.; dagegen Frister, der eine einseitig philosophische Interpretation des Art. 1
Abs. 1 GG als unzulässig ablehnt (s. Schuldprinzip, S. 29 u. Fn. 56); kritisch auch Her-
degen in Maunz/Dürig (2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 11.
333
Siehe Dürig, AöR 81 (1956), S. 125.
334
Probleme bereitet dann beispielsweise das „Hirntodkriterium“ bei der Organent-
nahme (s. dazu R. Merkel, Forschungsobjekt, S. 124, 133 [Fn. 176], 229; ders., DRiZ
2002, S. 184 f., u. ders., Müller-Dietz-FS, S. 513, Fn. 68).
104 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Würdebegriff im Einzelfall einer Überprüfung unterläge, womit er von der


Beweisbedürftigkeit der Schuld wiederum nicht befreien könnte.
Beide Interpretationen des Art. 1 Abs. 1 GG liefern damit keine Legitimation
für die Schuldstrafe. Die Verzahnung der Begriffe Schuld und Menschenwürde
ist im Gegenteil höchst problematisch und erzeugt mehr Unstimmigkeiten, als
sie über den gegenseitigen Wechselbezug zur Klärung beitragen könnte. Es
zeigt sich, dass der Würdebegriff der Verfassung, soweit er mit Attributen
angereichert wird, die sich auf das menschliche Freiheitserleben beziehen, für
eine Legitimation des Schuldprinzips nicht geeignet ist.

3. Schuldstrafe zwischen Handlungsfreiheit und Menschenwürde

Weder Art. 2 Abs. 1 noch Art. 1 Abs. 1 GG enthalten die Anordnung, den
Menschen im deutschen Recht als „selbstbestimmt“ bzw. „willensfrei“ zu
„konstruieren“; die Verfassungsgrundsätze haben damit jeder für sich gegen
eine Beweisbedürftigkeit der Schuldfrage nicht viel hergeben können. Nun
stehen diese Grundsätze nicht unabhängig nebeneinander. Werden Art. 2 Abs. 1
und 1 Abs. 1 GG in ein Verhältnis zueinander gestellt, dann muss die Schuld-
strafe nicht mehr nur selbständig, sondern als Bestandteil einer (auch) zweck-
orientierten Strafgewalt beleuchtet werden. Dabei ist zunächst zu fragen, ob das
Schuldprinzip jedenfalls deshalb legitim ist, weil ihm eine strafbegrenzende
Wirkung zukommt. Zu untersuchen ist sodann die rechtsethische Frage, ob
bzw. unter welchen Bedingungen der Verbrecher durch die Bestrafung zum
bloßen „Mittel“ für den Zweck einer allgemeinen Prävention gemacht wird. Die
sogenannte „Objektformel“ zur Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG gibt nach dem
Bundesverfassungsgericht für die Feststellung einer hiermit gegebenenfalls
verbundenen Verletzung der Menschenwürde freilich nur eine grobe Orientie-
rung vor; hinzu kommen müsse, „daß er [der Mensch] einer Behandlung ausge-
setzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der
Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des
Menschen liegt“.335
Im Folgenden wird zunächst die These von der begrenzenden Wirkung der
Schuldstrafe und anschließend die Frage nach der gebotenen Achtung der Sub-
jektqualität im Rahmen der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG untersucht. Das
Willkürverbot wird erst im folgenden Abschnitt aufzugreifen sein.

_________________
335
BVerfGE 30, 1, 25 f.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 105

a) Die Begrenzungsfunktion der Schuld für die Strafe


unter dem Aspekt einer objektiven Wertordnung

Die Frage, inwieweit die Verfassung der staatlichen Gewalt den Auftrag er-
teilt, den Menschen als frei und selbstbestimmt zu behandeln, ist bisher ledig-
lich in ihren materiellen Aspekten erörtert worden. Zurückgestellt wurde dage-
gen die Überlegung, ob sich der Staat zur Legitimation seiner Strafgewalt über-
haupt auf das Selbstverständnis des Menschen berufen kann. Auch wenn ein
solches in den obersten Grundsätzen der Verfassung zum Ausdruck kommt,
bedeutet das noch nicht, dass es auch zur Legitimation staatlicher Eingriffe
herangezogen werden kann.
Die staatliche Strafe stellt zunächst immer einen Eingriff in den Schutzbe-
reich des Art. 2 Abs. 1 GG dar. Kommt in der Bestrafung selbst jedoch auch
die Achtung der Menschenwürde zum Ausdruck, dann könnte sich die Legiti-
mation des staatlichen Eingriffs aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben. In ihrer
Funktion als Schutzrechte stellen Grundrechte zunächst nur Abwehrrechte des
Bürgers gegenüber dem Staat dar336; sie von dieser „ursprünglichen und primä-
ren Bedeutung als Menschen- und Bürgerrechte zu lösen“, kommt nicht in
Betracht.337 Eine gewisse Modifikation wird seit dem Lüth-Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts unter dem Stichwort der durch die Grundrechte errichteten
„objektiven Wertordnung“ anerkannt, jedoch lediglich insoweit, als hierdurch
„eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Aus-
druck kommt“. Den Mittelpunkt dieses Wertsystems bilde die sich innerhalb
sozialer Gemeinschaft frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und Wür-
de.338 Ob sich eine staatliche Schutzpflicht aus der objektiven Wertordnung339
oder direkt aus einem subjektiven Recht auf Schutz340 herleitet, kann hier dahin
gestellt bleiben. Grundsätzlich gilt jeweils das oben Ausgeführte341, dass diese
Schutzpflicht zunächst nur das „Ob“ eines staatlichen Eingriffs begründet, für
das „Wie“ dieses Eingriffs aber einen weiten Spielraum lässt.342 Allerdings
_________________
336
Siehe BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth-Urteil); Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v.
Art. 1, Rn. 5.
337
Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 290 m. w. N.
338
BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth-Urteil); BVerfGE 35, 202, 225; 39, 1, 43; 50, 290,
337. Vgl. auch v. Münch/Kunig, Vorb. Art. 1–19, Rn. 22; AK GG-Denninger, vor Art. 1,
Rn. 7, 29 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v. Art. 1, Rn. 8; Jarass/Pieroth, Vorb. vor
Art. 1, Rn. 3; Maurach/Zipf gründen den Schuldbegriff ausdrücklich auf der objektiven
Wertordnung (s. StrafR AT, § 36 I, Rn. 16).
339
So BVerfGE 77, 170, 214 m. w. N.; BVerfGE 92, 26, 46; 96, 56, 64.
340
So Alexy, Grundrechte, S. 413 ff.
341
Vgl. oben, S. 89 ff.
342
Vgl. auch Alexy, Grundrechte, S. 414, der allerdings mit einer gewissen Zurück-
haltung formuliert: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Staat verpflichtet ist,
106 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

könnte sich aus der objektiven Wertordnung das Erfordernis eines Strafrechts
ableiten lassen, wenn gerade durch das strafende Recht den in den Grundrech-
ten verkörperten deutlichen Aussagen zum Ausdruck verholfen würde.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine derartige Stärkung der Geltungskraft
der Grundrechte im Rahmen einer objektiven Wertordnung bisher nur dann
gesehen, wenn dem Bürger hieraus prinzipiell positive Folgen erwachsen, wie
etwa im Falle des Grundsatzes des fairen Verfahrens.343 Durch die Strafe wird
der Bürger dagegen zunächst maßgeblich in seinen Grundrechten beschnitten.
Andererseits könnte das Schuldprinzip den Rechtsbrecher auch vor ausufernder
Bestrafung (zum Beispiel zur Abschreckung anderer) bewahren. Roxin sieht in
dem Schuldprinzip ein Instrument zum Schutze des Bürgers, weil es präventi-
ven Strafbedürfnissen der Gesellschaft eine Grenze ziehe. Es habe keine belas-
tende Wirkung und verstoße aus diesem Grunde auch nicht gegen die Verfas-
sung.344
_________________

den einzelnen vor Mord und Totschlag zu schützen. Kaum bezweifelt werden kann
ferner, daß der Staat verpflichtet ist, dies u. a. durch strafrechtliche Verbote und deren
Sanktionierung zu bewerkstelligen“ (Grundrechte, S. 413).
343
Siehe Pieroth/Schlink, S. 20 ff., 93; vgl. v. Münch/Kunig, Vorb. Art. 1–19, Rn. 22.
344
Dazu Roxin, MschrKrim 1973, S. 320; ders., StrafR AT/1, § 3, Rn. 51–55; vgl.
auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 317; Kriele, ZRP 2005, S. 186. Zu den Thesen Roxins vgl.
de Albuquerque, ZStW 110 (1998), S. 641; Haffke, MschrKrim 1975, S. 49 f. Vgl. auch
Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 261 ff.; Noll, H. Mayer-FS, S. 227. Zum Begrenzungs-
zweck der Schuldmaßfeststellung auch BVerfGE 86, 288, 346. Obwohl Roxin in der
Bestrafung auch einen „sozial-ethischen Tadel“ sieht, lehnt er jede „Vergeltungstrafe“
ab (s. Roxin, StrafR AT/1, § 3, Rn. 44–46).
Ähnlich wie der Sühnegedanke wird auch die Vergeltung heute nicht mehr als
„Zweck an sich“ diskutiert, sondern erscheint integriert in relative Strafzwecke. Vgl.
auch Haft, Schulddialog, S. 31 ff., nach dem der Strafe notwendig die Vergeltung inne-
wohne; Vergeltung bedeute jedoch nicht Ausgleich einer Schuld, sondern Ausgleich der
Tat. Dem Vergeltungsgedanken komme unter pragmatischen Gesichtspunkten jedoch
keine Funktion zu, weshalb er auch kein taugliches Thema für einen Schulddialog sein
könne. Zur Strafe als vom Zweck des Rechtsgüterschutzes unabhängig entstandene
„Triebhandlung“ bereits v. Liszt, ZStW 3 (1883), S. 7 ff.; aber auch Noll, nach dem mit
der Vergeltung der Schuldausgleich bezweckt wird, weshalb es sich auch bei den abso-
luten Theorien um Zwecktheorien handle (s. Strafe, S. 4 f., Fn. 4); dazu auch Arthur
Kaufmann, Radbruch-GS, S. 334; ders., R. Lange-FS, S. 33 f. Ablehnend gegenüber
einem Vergeltungs“zweck“ Frister: „[...] Vergeltung, Sühne oder Gerechtigkeit sind
keine mittels der Strafeingriffe zu erreichenden Zwecke, sondern diesen Eingriffen
zugeschriebene Eigenschaften [...]“ (Schuldprinzip, S. 14, Fn. 1), der jedoch auf die
Frage, ob eine absolute Straftheorie verfassungsgemäß wäre, mit der Begründung, sie
werde in dieser Form ohnehin nicht mehr vertreten, nicht näher eingeht (vgl. Schuld-
prinzip, S. 14 f.). Fraglich ist dabei, ob mit dem Abstellen auf die relative Straftheorie
derlei verfassungsrechtliche Grundprobleme tatsächlich umgangen werden können. Vgl.
zum Verhältnis der Strafzwecke zueinander Kunz: „Die schrittweise Zurückdrängung
der Idee des Schuldausgleichs durch das Präventionskonzept ist ein Leitmotiv des mo-
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 107

Zu berücksichtigen ist jedoch, dass dem Schuldprinzip eine begrenzende


Wirkung nicht gleichsam immanent ist. Denn die immer wieder propagierte
„Schuldangemessenheit“ richtet sich nach den jeweiligen gesellschaftlichen
Anschauungen und schließt grundsätzlich auch die schwerwiegendste Strafe,
die Todesstrafe, nicht aus. So könnte im Zuge gesellschaftlichen Wandels das
Bestrafungsbedürfnis der Allgemeinheit insbesondere gegenüber Randgruppen
ansteigen und sich damit auch die Vorstellungen über das Schuldmaß zum
Nachteil des Täters verändern.345 Dies zeigt sich beispielsweise an der Erhö-
hung der Strafrahmen, denn eine begrenzende Wirkung der Schuld innerhalb
des jeweiligen veränderbaren Strafrahmens bildet keine wirkungsvolle Barriere
mehr gegen ausufernde Eingriffe in die Freiheitsrechte Einzelner. Damit kann
auch das Maß der Schuld, wie es nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB bei der Straf-
zumessung Berücksichtigung finden soll, keine exakt bestimmbare Größe dar-
stellen.346 Zudem ist die begrenzende Wirkung der Schuld auch im Hinblick auf
die schuldunabhängige Möglichkeit der Sicherungsverwahrung fraglich347,
woran im Übrigen gleichfalls deutlich wird, dass freiheitsentziehende Maß-
nahmen gesellschaftlich auch dann akzeptiert werden, wenn sie über das Maß
der Tatschuld hinausgehen.
Nicht gesagt ist außerdem, dass die Geltungskraft elementarer Regeln des
Zusammenlebens, wie sie in den Strafgesetzen zum Ausdruck kommen, nicht
auch auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden kann. Kriminologische
Erkenntnisse lassen keine eindeutigen Schlüsse hinsichtlich der spezial- und
generalpräventiven Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionierung zu und lassen
damit offen, ob die Ziele der Bestrafung nicht durch mildere Maßnahmen eben-

_________________

dernen Strafrechts“ (ZStW 98 [1986], S. 824). Einen die Schuldstrafe und andere Kon-
zepte integrierenden Charakter hat dagegen die „vierspurige Rechtsfolgensystematik“
von Walther, ZStW 111 (1999), S. 140 ff. Zur Entwicklung des „Unvereinbarkeits-
gedankens“ von repressiver Schuldstrafe und präventiven Ansätzen vgl. Frey, Einfüh-
rung, S. XVII ff. Grundsätzlich kritisch gegenüber mangelnder Bereitschaft von Seiten
der Strafrechtler als auch der Verfassungsrechtler, sich mit den Schnittstellen zwischen
den Disziplinen auseinander zu setzen, äußern sich denn auch Jung, GA 1996, S. 511;
Androulakis, ZStW 108 (1996), S. 331, u. Scheerer, EuS 12 (2001), S. 137.
345
Dazu auch Streng: „Nicht das Schuldprinzip begrenzt oder bändigt ganz allgemein
die Strafbedürfnisse, sondern das jeweilige gesellschaftseigene Ausmaß an Humanität,
an Wissen um die Ursachen von Kriminalität und an Bereitschaft zur Hinterfragung von
Strafbedürfnissen bestimmt über die Strafmentalität und damit über Gesetze, Gerichts-
praxis und Strafvollzug“ (ZStW 92 [1980], S. 661 f.). Zur Frage, wodurch das angemes-
sene Verhältnis bestimmt werde, vgl. dagegen auch J.-C. Wolf, Vergeltung, S. 46 ff.
346
Anders wohl Hillenkamp, JZ 2005, S. 317 f.
347
Zu beachten ist, dass in der Sicherungsverwahrung teilweise ein Verstoß gegen die
Menschenwürde gesehen wird, so von Weichert, StV 1989, S. 272 f. Zur Legitimation
der Sicherungsverwahrung vgl. auch Jakobs, Strafe, S. 37 ff., 42 ff.
108 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

so gut erreicht werden könnten.348 Hinsichtlich des Würdebegriffs wurde oben


festgestellt, dass er selbstverständlich auch den Geisteskranken umfasst, der
nicht als befähigt zu selbstbestimmtem Verhalten gilt. Der Geisteskranke wird
aber nicht bestraft, sondern nach den Regeln des Maßnahmerechts behandelt.
Damit steht Art. 1 Abs. 1 GG einer Alternative zur Schuldstrafe nicht entgegen.
Es ist also nicht auszuschließen, dass eine andere staatliche Reaktion als die
Schuldstrafe die Grundrechte der Betroffenen in gleichem Maße wahren und
achten könnte.349
Schließlich darf bei all diesen Überlegungen nicht vergessen werden, dass
auch eine wirkliche Begrenzungsfunktion das Schuldprinzip nicht ausschließ-
lich oder auch vorrangig zu einem Schutzinstrument machen könnte; denn es
bleibt stets auch die Grundlage für repressive Eingriffe. Im Hinblick auf den
Schutz von Grundrechten trägt das Schuldprinzip gewissermaßen (und jeden-
falls) einen Januskopf: Was mit noch so plausiblen Schutzerwägungen zu sei-
ner Legitimation angeführt werden kann, begründet und bestärkt stets auch
seine repressive Funktion. Das macht die Schutzargumente nicht gegenstands-
los. Es belastet sie aber unaufhebbar mit einer Kehrseite; und dort geht es nicht
um Schutz, sondern um Eingriffe.
Eine andere Frage ist es allerdings, ob ein am Verhältnismäßigkeitsprinzip
bzw. an anderen Maßstäben orientiertes Eingriffsrecht oder das bisherige Straf-
recht das im Sinne der Grundrechtsbeeinträchtigung mildere Mittel darstellte.
Diese Frage lässt vorläufig allenfalls hypothetische Antworten zu; sie kann
ohne praktische Umsetzung eines alternativen Rechts nicht abschließend ge-
klärt werden. Insbesondere erscheint es unzulässig, aus der begrenzten Praxis
des bisherigen Maßregelrechts Rückschlüsse auf seine allgemeine Anwendbar-
keit abzuleiten.
Nach dem Gesagten bietet die auf dem Schuldprinzip beruhende Strafe und
damit dieses selbst einen nur unzureichenden Schutz vor dem Machtinstrument
der staatlichen Reaktion auf Verbrechen.350 Der Schutz hiervon Betroffener
_________________
348
Zum kriminologischen Forschungsstand vgl. NK-Villmow, Vor § 38, Rn. 60 ff.
m. w. N. Der Sozialtherapie als Maßregel bescheinigt Roxin eine Zukunft, sie könne die
Strafe aber nicht ersetzen (s. Zipf-GS, S. 140 f.). Zur Sühne durch Strafe oder Therapie
vgl. auch Schild, Lenckner-FS, S. 296.
349
Dazu Hassemer, Schuldprinzip, S. 105; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970),
S. 27 ff.; Baurmann, Zweckrationalität, S. 301 ff.; Scheffler, Kritik, S. 139 ff. Ablehnend
Arthur Kaufmann, R. Lange-FS, S. 31 ff.; ders., Wassermann-FS, S. 889 ff.; ders.,
Rechtsphilosophie, S. 246; Naucke, Wechselwirkung, S. 184 ff. u. 194 ff.; Dreher,
Willensfreiheit, S. 18 ff; Hillenkamp, JZ 2005, S. 317; wohl auch Jakobs, ZStW 117
(2005), S. 262. Kritisch Roxin, Arthur Kaufmann-FS, S. 521 ff.; ders., Müller-Dietz-FS,
S. 702 ff. Vgl. auch den Ansatz Gimbernat Ordeigs in ZStW 82 (1970), S. 384 ff.; ders.,
Henkel-FS, S. 166.
350
Dazu auch Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 46.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 109

ergibt sich letztlich nur aus der Verantwortung der Gesellschaft für ihre Mit-
glieder. Diese Verantwortung kann sich zwar durch ein Verständnis des
Schuldprinzips als begrenzendes Mittel ausdrücken, doch ist dabei zu beachten,
dass eine staatlich praktizierte moralische Abwertung von Einzelnen351 immer
die latente Gefahr des Missbrauchs mit sich bringt. Dieses Bedenken richtet
sich deshalb auch gegen eine Generalprävention, welche auf der Degradierung
des Täters aufbaut.352 Streng bemerkt in Bezug auf den Begrenzungseffekt des
Schuldprinzips innerhalb der (negativen) Generalprävention: „Allein bei leich-
ten, wenig emotionalisierenden Delikten vermag das Schuldprinzip also den
Täter wirksam davor zu schützen, für die bereits geschehenen oder zu verhin-
dernden Taten anderer Personen exzessiv bestraft zu werden.“353 Solche „wenig
emotionalisierenden Delikte“ dürften indes das Strafrecht nach dem Prinzip des
staatlichen Strafens als ultima ratio jedenfalls nicht dominant kennzeichnen.
Man wird vielmehr sagen können, dass die meisten Delikte des Strafrechts
durchaus das Potential einer Erzeugung ausufernder Strafbedürfnisse und der
damit einhergehenden Gefährdung der Delinquenten haben.
Andererseits ist auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht per se gegen
Missbrauch gefeit, wirft doch eine Abwägung zunächst analoge Probleme bei
der Eingrenzung auf wie das „Maß der Schuld“.354 Zieht man aber die Grund-
rechte nicht nur in ihrer Funktion als Abwehrrechte und damit zur Begrenzung
staatlicher Eingriffe heran, sondern zugleich und darüber hinaus zu deren Legi-
timation, wie es das „janusköpfige“ Argument der Schutz- und Begrenzungs-
_________________
351
Zu abgeschwächten Inhalten vgl. oben, Kapitel 1, Geisler in Fn. 158, u. Roxin bei
und in Fn. 217.
352
So liegt nach der generalpräventiven Lehre Jakobs‘ der Zweck der Strafe in der
„Stabilisierung der schwachen Norm“, die erfolgt, indem die Desavouierung des Täters
als motivationaler Faktor in die Abwägung anderer einfließt (s. Jakobs, Schuldprinzip,
S. 24 f.; vgl. aber auch ders., ZStW 107 [1995], S. 844; Norm, S. 54 f. u. ARSP 2000,
Beiheft 74, S. 59 f., wo dieser psychologische Aspekt als nebensächlich bzw. irrelevant
dargestellt wird; zum Ganzen oben, S. 58 ff. Zu den Thesen Jakobs‘ vgl. Stratenwerth,
Zukunft, S. 23 ff.; Kunz, ZStW 98 (1986), S. 824 ff.; Roxin, SchwZStr 104 (1987),
S. 364 ff.; M. Köhler, StrafR AT, S. 371 f.; ders., Hirsch-FS, S. 71 f.; Schünemann,
Roxin-FS, S. 12 ff.; U. Neumann, Schuldprinzip, S. 399 ff.; de Albuquerque, S. 644 ff.;
Kalous, Vergeltung, S. 28 ff. m. w. N. Allgemein kritisch gegenüber der „positiven
Generalprävention“ Calliess, NJW 1989, S. 1340; ders., Müller-Dietz-FS, S. 109 f.;
Bock, ZStW 103 (1991), S. 636 ff.; vgl. auch Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 ff.;
ders., ZStW 92 (1980), S. 682 ff. Zu einem „symbolischen Strafrecht“, das gerade auch
über generalpräventive Maßnahmen verwirklicht werde, Diez Ripollés, ZStW 113
(2001), S. 516 ff., 519.
353
Streng, ZStW 92 (1980), S. 661.
354
Dazu Alexy, Grundrechte, S. 319 ff. Achenbach sieht den Rationalitätsgedanken in
Art. 2 Abs. 1 GG verwurzelt, da freiheitsbeschränkende Eingriffe aufgrund des Straf-
rechts nur dann erfolgen dürfen, „wenn sich dies als unabdingbar notwendig erweist“
(JuS 1980, S. 87).
110 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

funktion des Schuldprinzips tut, dann unterliegt man einem besonderen Be-
gründungszwang.355 Indes kann eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft
der Grundrechte durch die Schuldstrafe im Sinne einer begrenzenden Wirkung
nicht festgestellt werden.

b) Der Mensch als Objekt der Verbrechensbekämpfung

Was im vorangegangenen Abschnitt unter dem Stichwort der „Begrenzungs-


funktion“ diskutiert wurde, findet sein ethisches Pendant in der Prämisse, der
Mensch dürfe nicht zum „bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung“ ge-
macht werden.356 Soweit ihn hiergegen seine angeborene Würde schützen soll,
ist mit Schlehofer zunächst festzuhalten: „Der Unantastbarkeitsgrundsatz ist
normtheoretisch gesprochen die Bewertungsnorm, auf der die Verpflichtungs-
norm des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG aufbaut. In dieser Bedeutung zieht der Unan-
tastbarkeitsgrundsatz der staatlichen Strafgewalt allerdings keine Grenze. Denn
als innerer, jeder Anfechtung von außen entzogener Wert kann die
,Menschenwürde‘ von der staatlichen Strafgewalt gar nicht erreicht, mithin
auch nicht verletzt werden.“357 Damit sagt Schlehofer aber keineswegs, dass
staatliches Strafen auch auf der Ebene der Verpflichtungsnorm die Menschen-
würde – genauer: das Gebot, diese zu achten und zu schützen – nicht verletzen
könnte. Denn das ist ganz offensichtlich möglich. Schwer vorstellbar wäre ein
solches Antasten der Menschenwürde durch strafende Begrenzung der Freiheit
allerdings dann, wenn man die hier gemeinte Freiheit als eine empirisch nicht
aufweisbare, allein transzendentale oder nur im persönlichen „Freiheitserleben“
begründete auffassen wollte. Denn es ist, grob gesprochen, nicht zu sehen, wie
der Staat mit seinem irdischen Instrument des Strafens überhaupt in jenen
_________________
355
Hierin liegt gerade der Unterschied zur nur vergleichenden Diskussion der Zweck-
Mittel-Relation (vgl. dazu Scheerer, EuS 12 [2001], S. 70, Tz. 8 f., sowie P. Fischer,
EuS 12 [2001], S. 100, Tz. 5). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip begegnet dieser Prob-
lematik nicht, da es nach dem zu Art. 2 Abs. 1 GG Gesagten mit einem negativem Frei-
heitsbegriff auskommt. Deshalb reicht es nicht aus, mit Arloth zu sagen „Jedenfalls ist
unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, namentlich dem Verhältnismäßigkeitsgrund-
satz, ein Maßregelrecht nicht das mildere Mittel [...]“ (GA 2001, S. 315). Zu berücksich-
tigen ist dabei, dass Arloths Ansatz von einer Unbegrenztheit des Maßregelrechts aus-
geht, die nicht näher diskutiert wird.
356
Sog. „Objektformel“, vgl. BVerfGE 50, 125, 133; s. auch BVerfGE 28, 386, 391;
45, 187, 228; 57, 250, 275. Dazu Dürig, AöR 81 (1956), S. 127 ff.; ders., Maunz/Dürig
(2001), Art. 1 Abs. 1, Rn. 34 ff. u. Art. 3 Abs. 1 Rn. 21, Fn. 3; Alexy, Grundrechte,
S. 322; Maunz/Dürig-Herdegen (2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 33. Zu verfassungsrechtlichen
Fragen der Generalprävention siehe Badura, JZ 1964, S. 337 ff., sowie Neuß, S. 151 ff.;
vgl. ferner v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 6; Stree, Deliktsfolgen und
Grundgesetz, S. 37 f.; Schild, Lenckner-FS, S. 292.
357
Schlehofer, GA 1999, S. 360.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 111

transzendentalen Bereich sollte hineinlangen können. Eine solche Freiheit


könnte im Sinne von Art. 1 GG tatsächlich auch auf der Ebene der Verpflich-
tungsnorm nicht verletzt, sie könnte nämlich mit Mitteln der empirischen Wirk-
lichkeit überhaupt nicht erreicht werden. Dann erschiene es aber in hohem
Grade begründungsbedürftig, wollte man genau diesen transzendentalen oder
rein subjektiv begründeten Freiheitsbegriff im Bereich der Schuldvorausset-
zungen sehr wohl ausreichen lassen. Die damit verbundenen Probleme wurden
bereits oben anhand der Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und der Recht-
sprechung des Bundesgerichtshofs zum Schuld- und Handlungsausschluss
dargestellt.358
Im gegenwärtigen Zusammenhang ist jedenfalls festzuhalten, dass auch für
die Menschenwürde „in einem rechtlich relevanten Sinn“ primär nur ein äuße-
rer Freiheitsbegriff in Betracht kommen kann.359 Wer dagegen für den rechtli-
chen Begriff der Menschenwürde die Freiheit im Sinne einer inneren, indeter-
ministisch aufgefassten Autonomie versteht, kann nicht begründen, wie sie die
äußeren Folgen der Strafgewalt des Staates begrenzen könnte. Schließlich kann
nach Reinhard Merkel auch ein bloß gattungsbezogener Menschenwürdebegriff
mit Blick auf das Instrumentalisierungsverbot nicht weiterhelfen, da er Instru-
mentalisierungen nicht ausschließt.360 Um die Menschenwürde als durch die
staatliche Gewalt verletzbar darstellen zu können, bedarf es also eines anderen
Verständnisses der Menschenwürde, denn aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt
sich, dass ihr in Bezug auf die staatliche Gewalt auch eine praktische Funktion
zukommen soll.361
Daneben drängt sich noch eine weitere mögliche Betrachtung des Zusam-
menhangs von Strafe und Würde auf: „Strafnormen sprechen durch das in ih-
nen enthaltene sozialethische Unwerturteil über ein bestimmtes Verhalten den
Bürger in seinem Person-Sein, in seiner Ehre an und weisen auch von dieser
Seite einen engen Bezug zur Würde des Menschen (Art. 1 I GG) auf [...].“362
_________________
358
Vgl. oben, S. 80 f. u. 99 ff.
359
Siehe Alexy, Grundrechte, S. 323 f.
360
Vgl. R. Merkel, Embryonenforschung, S. 167.
361
Dazu in diesem Abschnitt a. E.
362
Sommer in BVerfG NJW 1994, S. 1588. Vgl. auch BVerfGE 9, 167, 171; BVerf-
GE 90, 145, 172; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 28; Prittwitz, Menschenwür-
de, S. 19 ff.; Kaiafa-Gbandi, S. 33 ff.; Krey, StrafR AT, S. 8; Kühl, Rechtsphilosophie,
S. 9; vgl. auch Arthur Kaufmann: „[...] kann man doch in fast jeder Strafgerichtsver-
handlung erleben, daß der strafrechtliche Schuldvorwurf den Angeklagten in seiner
sittlichen Integrität aufs allerempfindlichste trifft [...]“ (JZ 1967, S. 553). Dass mit der
Strafe ein „sittliches Unwerturteil“ verhängt wird, geht auch aus dem amtlichen Begrün-
dungsentwurf zum StGB 1962 (Bundestags-Drucksache IV/650) hervor (S. 96). Eng
verknüpft mit dem gegenüber dem Täter erhobenen Vorwurf ist eine hieraus unter Um-
ständen erfolgende benachteiligende Stigmatisierung, vgl. Androulakis: „Durch die
112 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Der Strafausspruch ist mithin geeignet, die Würde des Menschen als ein sub-
jektives Erleben durch Herabsetzung zu verletzen. Achtung und Kränkung
dürften aber jedenfalls im menschlichen Erleben in einem Ausschlussverhältnis
zueinander stehen.
Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
wird man auch eine mittelbare Kränkung des Rechtsbrechers, wenn überhaupt,
dann nur unter der Prämisse für vertretbar halten können, dass das rechtswidri-
ge Verhalten tatsächlich auf einem missgebildeten Willen beruht und ein Vor-
wurf somit entweder die Willensbildung oder die Willensumsetzung treffen
kann.363 Denn das Bundesverfassungsgericht hat mit der Feststellung, dass dem
Täter mit der Strafe ein Rechtsverstoß zum Vorwurf gemacht werde, auch die
Überlegung verbunden: „Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vor-
werfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe
eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang,
den der Betroffene nicht zu verantworten hat.“364
Eine Kränkung des Täters durch staatliche Strafmaßnahmen erscheint damit
zunächst als verfassungsrechtlich bedenklich. Ihre Verfassungsmäßigkeit
könnte sich jedoch daraus ergeben, dass zwischen der Willensbildung und dem
normwidrigen Verhalten des Täters ein vorwerfbarer Zusammenhang besteht.
_________________

Strafe wird der Bestrafte stigmatisiert. Man muß das Wort nicht scheuen – Strafe ohne
Stigma mag zwar der Wunschtraum manches progressiven Kriminalpolitikers sein, aber
das Stigma ist nichts desto weniger noch heute, trotz allen Wandels und ,Fortschritts‘,
trotz der freiheitlichen Verweichlichung der Sitten und trotz aller Toleranz, ein Haupt-
charakteristikum der Strafe [...]“ (ZStW 108 [1996], S. 310). Vgl. auch Calliess: „Eine
vorwiegend normativ orientierte Strafrechtswissenschaft ist auf Grund ihrer meist nicht
reflektierten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Prämissen gezwungen, die
Schuld mit außerpositiven Annahmen zu begründen und aus ihnen zu rechtfertigen. Die
Fähigkeiten und Anlagen zur freien Selbstbestimmung sind dort jeweils schon vor und
außerhalb des rechtlichen Regelungszusammenhanges gegeben. Solange diese natur-
wüchsige wie individualistische Vorstellung die Lösung des Schuldproblems beherrscht,
liegt beim Täter allein die Schuld, daß er sich nicht selbst bestimmt“ (Theorie der Strafe,
S. 181). Vgl. auch Noll: „Jede Zeit, jede Gesellschaft hat ihre bestimmte Kriminalität,
die sie wie ihr Schatten begleitet“ (Strafe, S. 16).
363
In einem Zuge mit der Hervorhebung der Schuldstrafe äußert sich auch das Ver-
fassungsgericht ablehnend gegenüber einem erniedrigenden Strafrecht, vgl. BVerf-
GE 45, 187, 228; ähnlich BVerfGE 1, 332, 348; BVerfGE 6, 389, 439; 50, 125, 133.
364
BVerfGE 20, 323, 331. In Bezug auf Art. 1 GG auch Neufelder: „Ein Verstoß ge-
gen diese Grundrechtsfundamentalnorm läge nur dann nicht vor, wenn der Mensch aus
freier Selbstbestimmung den Unwert gewählt hätte, obwohl er sich wertgerecht hätte
verhalten können, er selbst also es in der Hand hatte, den Vorwurf zu vermeiden. Ist die
Willensfreiheit aber nicht nachweisbar, so hat der Staat Eingriffe durch schuldausspre-
chende Urteile zu unterlassen, da dann einem bestimmten Verhalten als innerstem Aus-
druck einer Person der durch Art. 1 GG garantierte Achtungsanspruch versagt wird“
(GA 1974, S. 298). Ebenso Tiemeyer, GA 1986, S. 227.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 113

Problematisch ist aber auch hier, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen


Willensbildung und normwidrigem Verhalten bis heute empirisch nicht
nachgewiesen werden konnte.365 Deshalb ist auch zu überlegen, ob im Falle
einer objektiven Unfreiheit der Täter, von der Gesellschaft mit der
Zuschreibung einer fiktiven Willens- oder Handlungsfreiheit bedacht, einer
Sanktion unterworfen wird, die ihm überhaupt nicht gerecht werden kann.366
Schließlich bedeutet einerseits die Annahme eines „Anders-handeln-Könnens“
aufgrund einer Fiktion, andererseits das Konstrukt eines „Durchschnitts-
menschens“ aufgrund von generalisierten Evidenzen nichts anderes, als dass
der Täter gewissermaßen entindividualisiert und in diesem Sinne objektiviert
wird. Der Blick auf die konkrete Täterpersönlichkeit und die sie beeinflus-
senden Faktoren wird aber durch einen so objektivierten Freiheitsbegriff weit-
gehend verstellt.367 In diesem Zusammenhang bietet es sich an, das Argument
Hirschs368 zu korrigieren: Das Gesetz kann die Menschen gerade nicht errei-
chen, wenn es sie lediglich so nimmt, wie sie sich selbst verstehen. Erforderlich
ist vielmehr, dass es sie zunächst einmal so nimmt, wie sie tatsächlich sind.
Denn ohne diese Voraussetzung kann ein Gesetz schwerlich Wirkung entfalten.
Ginge man also davon aus, dass der Täter in der konkreten Situation nicht
anders handeln konnte, dann würde eine staatliche Reaktion, die sich der De-
gradierung des Täters zur Abschreckung369 oder zur Aufrechterhaltung der
_________________
365
Vgl. auch oben, S. 39 u. 67 f. und ausführlich zur empirischen Nachweisbarkeit
unten, Teil 3, Kap. 2.
366
Vgl. auch Neufelder, GA 1974, S. 303.
367
Auf einen anderen Aspekt des Menschen abstellend, aber ähnlich in der Argumen-
tation Noll: „Die idealistische Theorie vermag gerade ihrem Anliegen, daß die Strafe die
Würde der Person achten solle, nicht gerecht zu werden; denn der Mensch, der wirkliche
Mensch, rückt nicht einmal in ihr Blickfeld.“ „Nur in der konkreten mitmenschlichen
Beziehung erklären sich im rechtlich-sozialen Bereich die Phänomene Schuld und Ver-
antwortung. In der Vergeltungsidee wird diese Beziehung nicht sichtbar, sondern gerade
verdeckt. Der Mensch wird durch sie zum passiven Objekt einer abstrakten Gerechtig-
keit“ (Strafe, S. 6 u. 14 f.). Für eine Behandlung des Täters „als ob“ er frei wäre und die
daraus folgende Bestrafung Mosbacher, JR 2005, S. 61.
368
Siehe oben, S. 41.
369
Zum Abschreckungseffekt des Strafvollzuges hinsichtlich der Rechtsbrecher und
der Mehrheit der Bevölkerung bemerkt Müller-Dietz: „Sehr wahrscheinlich denkt diese
Mehrheit auch nicht im Traum – oder in der Regel – daran, Straftaten zu begehen, die
mit Freiheitsentzug geahndet werden. Ihre Kriminalität, also die der Braven und Ange-
paßten, bewegt sich eher im unteren Bereich, zwischen Ladendiebstahl, Schwarzfahren
und Steuerhinterziehung. Trifft diese Annahme zu, dann braucht die mehr oder minder
normkonforme Mehrheit auch gar keine relevante Abschreckung durch den Strafvoll-
zug, weil die durch Erziehung und Sozialisation internalisierte oder eingepflanzte Moral
im allgemeinen jedenfalls von der Begehung schwerer Straftaten abhält. Daß die ande-
ren, die – aus welchen Gründen auch immer – ein solches ,Stützkorsett‘ nie erworben
haben, oder bei denen es – durch welche Mechanismen auch immer – disfunktional
114 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Normtreue anderer370 bediente, den Täter nach der Verfassungsinterpretation,


die für die Legitimation des Schuldprinzips herangezogen wird, gleich in zwei-
facher Weise als bloßes Objekt behandeln: einerseits durch die Zuschreibung
von nicht vorhandenen, ihm sogar prinzipiell verschlossenen Fähigkeiten, was
der Persönlichkeit des Täter nicht gerecht würde, ihn insofern „objektivierte“
und damit in der Würde seiner eigenen Personalität verfehlte; und andererseits
durch eine Sanktion, die gleichfalls an der Persönlichkeit des Täters vorbeiliefe,
weil sie auf ein anderes Persönlichkeitsbild zugeschnitten ist, als es der empiri-
schen Wirklichkeit des Straftäters entspricht.
Aus der Annahme objektiver Unfreiheit im Zusammenhang mit einem ethi-
schen Verständnis der Menschenwürde, wonach die Persönlichkeit eines jeden,
also auch des Verbrechers zu achten ist, folgt dagegen, dass der staatliche Ein-
griff nur unter Berücksichtigung der besonderen Eigenart des Täters erfolgen
darf. Der Täter wäre dann nicht Objekt der Verbrechensbekämpfung, sondern
eine in ihrer Individualität zu respektierende Person bei der Ausgestaltung eines
möglichst friedlichen Zusammenlebens.371 Betrachtete man ihn so, müsste bei
den Mitteln staatlicher Reaktion das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft sorg-
fältig gegenüber den individuellen Bedürfnissen des Täters abgewogen werden.
Dass der Respekt gegenüber der Täterpersönlichkeit im Falle ihrer objektiven
Unfreiheit keineswegs obsolet würde, zeigt sich gerade daran, dass die staatli-
che Reaktion auf den Täter abgestimmt sein müsste.372 Auch bei Anwendung
eines Eingriffsrechts ohne Schuldprinzip müsste folglich der Mensch in einer
Weise Beachtung finden, die es verbietet, ihn nach den Vorstellungen der Ge-
sellschaft „umzuformen“ oder die Sanktionsmöglichkeit allein zur Abschre-
ckung anderer zu missbrauchen. Achtung der Menschenwürde bedeutete da-

_________________

geworden ist, durch den Strafvollzug nicht abgeschreckt worden sind, haben sie ja durch
die Begehung von Straftaten bewiesen“ (Schneider-FS, S. 1005 f.).
370
Vgl. dazu oben, bei und in Fn. 352.
371
In diesem Sinne ließe sich auch eine frühe Entscheidung des BVerfG interpretie-
ren, in der es heißt: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten
souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum –
Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit
der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. [...] Dies heißt aber: der
Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die
der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Gren-
zen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß
dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“ (BVerfGE 4, 7, 15 f.). Im Ergeb-
nis ebenso, dabei aber auf die menschliche Selbstbestimmung abstellend BVerfGE 45,
187, 227 f. Dazu Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 6 ff. Vgl. auch BVerfGE 12, 45, 51.
372
Auch Pawlik räumt dem Delinquenten einen Anspruch auf Nutzung sozialpräven-
tiver Maßnahmen – also wohl therapeutischer Möglichkeiten – ein (s. Person, S. 94
m. w. N.).
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 115

nach einfach, den Menschen so zu respektieren wie er ist.373 Eine solche He-
rangehensweise entspräche daneben der Grundintention der Verfassung, die
Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat unter dem Gesichtspunkt
größtmöglicher Freiheit zu ordnen.374 Das Schuldprinzip könnte hingegen
selbst dann noch relativ unproblematisch angewendet werden, wenn eine Ge-
sellschaft dahin tendierte, die Probleme mit ihrer Kriminalität durch rigoroses
„Wegsperren“ der Täter zu lösen. Naheliegend ist daher die Überlegung, dass
bereits aus dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG das Gebot resultiert, den
Täter mit seiner Persönlichkeit zu respektieren, sei sie auch unter sozialen Ge-
sichtspunkten fehlerhaft in Erscheinung getreten.
Zu beachten ist allerdings, dass auf dem Boden der Annahme, Menschen
seien in ihrem Verhalten jedenfalls im Sinne eines starken Freiheitsbegriffs
nicht „frei“, jede negative Sanktion ein gravierendes Problem erzeugt, das
Pothast so formuliert: Die Sanktionen träfen dann größtenteils die ohnehin be-
nachteiligten Individuen und hätten damit den Beigeschmack einer ungerechten
und ungleichen Behandlung.375 Dagegen kann man mit einem starken Freiheits-
begriff gegen den Menschen einen Vorwurf erheben, der die Sanktion als
Ausgleich, als Wiederherstellung der Gerechtigkeit erscheinen lässt. Möglich
ist dies, nach Pothast, freilich nur „um den sehr hohen Preis eines metaphysi-
schen, mit unseren Erkenntnismitteln nicht einzulösenden Menschenbildes“.376
Was Pothast als Problem eines Verantwortlichkeitsbegriffs skizziert, der den
Menschen als determiniert begreift, kann allerdings auch als Chance dieses Be-
griffs aufgefasst werden: Gerade weil er einen „Zug ungleicher Verteilung“377
trägt, begrenzt er auch jedwede negativen Sanktionen, die durch ihn legitimiert
_________________
373
„Zwangs-Sozialisierungen“ wären also auch dann nicht mit der Vorgabe des Art. 1
GG zu vereinbaren; vgl. dazu Roxin, StrafR AT/1, § 3, Rn. 39. Ebensowenig wäre we-
gen Art. 2 Abs. 1 GG ein Wegfall der geltenden Beweislastregeln oder die Errichtung
von Konzentrationslagern zur „vorbeugenden Sicherungsverwahrung“ zu befürchten;
vgl. Kriele, ZRP 2005, S. 186. Wer so argumentiert, verkennt, dass die Verfas-
sungssgrundsätze auch bei einem anderen Sanktionenrecht als dem des geltenden Straf-
rechts nicht obselet werden. Auch durch die Hirnforschung wird, entgegen der Ansicht
Krieles (s. ebd., S. 187), dem Gedanken der Menschenwürde nicht die Grundlage entzo-
gen; vgl. dazu S. 345 f.
374
Calliess bemerkt hierzu: „Diese Grundposition der Verfassung ist in das genaue
Gegenteil verkehrt worden. Nicht so sehr die grundrechtlich verbürgte Rechtsbeziehung
von Bürger und Staat, sondern allein die Strafe als staatliches Handeln mit ihren Zwe-
cken und Zielen dient nun der Fundierung des Strafrechts. Doch wo Zwecke und Ziele
staatlichen Handelns die allein entscheidenden Kriterien werden, verliert das freiheits-
verbürgende Recht seine Kraft. Recht wird zum bloßen Instrumentarium staatlicher
Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse“ (NJW 1989, S. 1338).
375
Siehe Pothast, Verantwortlichkeit, S. 125.
376
Pothast, ebd.
377
Pothast, ebd.
116 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

werden. Denn die (glücklichen) Rechtstreuen könnten die staatliche Reaktion


gegenüber den (unglücklichen) Delinquenten zwar legitimieren, sie könnten sie
aber de facto nicht durchsetzen, ohne ungerecht zu sein. Denn wenn man davon
ausgeht, dass das Handeln des Delinquenten unvermeidbar war, dann gibt es
keine abschließend wahre oder richtige Antwort darauf, warum ihm über einen
möglichen Ausgleich des Schadens hinaus ein „Übel“ zugefügt werden darf.
Zwar lässt sich noch gut begründen, warum es jedenfalls fairer erscheint, ihn
die Folgen seines „So-geworden-Seins“ tragen zu lassen und diese Folgen nicht
anderen aufzulasten, indem man beispielsweise einen Serienmörder weiterhin
frei herumlaufen und somit auch weiter morden ließe. Damit lässt sich das dem
Delinquenten zugefügte Übel aber nicht abschließend begründen. Die Gesell-
schaft könnte Serienmördern ja auch begegnen, indem sich jeder Einzelne selb-
ständig um seinen Schutz kümmerte. Dann würde sie sich auf das Verhalten des
Mörders einstellen, ihn dabei in seinem personalen „So-sein“ aber unangetastet
lassen. Dass sie diesen Weg nicht wählt und nicht wählen wird, beruht auf der
Erwägung, dass eine friedliche gesellschaftliche Entwicklung ohne ein
Mindestmaß an normativ garantiertem wechselseitigen Vertrauen-Können nicht
vorstellbar ist. Das ist natürlich höchst plausibel und gehört zu den Legitima-
tionsgrundlagen von Staat und Recht. Es schließt aber nicht aus, dass einem
Delinquenten mit dem Strafübel gleichwohl eine Last auferlegt wird, die ihm
selbst gegenüber einer letzten moralischen Begründung nicht fähig ist. Wenn
nämlich ihm selber weder die Bedingungen seines eigenen So-Seins noch die
seiner Veränderung verfügbar wären, so müsste er mit dem Erleiden dieses
Übels im Sinne der allseits erwünschten Ordnung für etwas „bezahlen“, wofür
er in einem ganz ursprünglichen und unmittelbaren Sinne „nichts kann“. Wegen
dieser verbleibenden „Gerechtigkeitslücke“ gegenüber dem Individuum er-
wächst für die davon profitierende Gesellschaft aus den Grundsätzen der Ver-
fassung eine (Mit-)Verantwortung, diese Lücke so klein wie möglich zu halten
(Verhältnismäßigkeitsprinzip).378
Im Gegensatz zum Strafvollzug, der immer auch ein Vergeltungselement
enthält, dürften bei dem hier skizzierten alternativen Sanktionenrecht aus-
schließlich der Schutzanspruch der Gemeinschaft und der Freiheits- und Ach-
tungsanspruch des Täters berücksichtigt werden. „Achtung“ der Täterpersön-
lichkeit bedeutete dann, dass zur Begründung des „Wie“ einer Sanktion, also
der Erforderlichkeit des konkreten Eingriffs, erforscht werden müsste, warum
der konkrete Täter so hat handeln müssen, wie er gehandelt hat, und wie ihm zu
einem anderen Verhalten verholfen werden könnte. Wäre ein Täter für die
Gemeinschaft in einem Maße gefährlich, das seine Verwahrung erforderlich
_________________
378
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verböte es freilich auch heute schon, für den
„ ,Verzehrdiebstahl einer Milchschnitte‘ im Wert von 25 Cents“ ein „zehnjährige[s]
Nacherziehungsprogramm“ anzuordnen; dass dies nicht der Fall sei, befürchtet zu Un-
recht Hillenkamp, JZ 2005, S. 317.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 117

machte, müsste innerhalb des Rahmens, der zur Sicherung notwendig ist, dem
Täter größtmöglicher Freiraum gewährt werden. Die Erforderlichkeit des Ein-
griffs selber, also das „Ob“ der Sanktion bestimmte sich freilich auch dann
nicht nach der Gefährlichkeit des Täters, sondern wäre bereits durch die Norm
und den ihr immanenten Zweck, den Erhalt der sozialen Normenordnung, vor-
gegeben.379
Die Grundgedanken des hier angedeuteten alternativen Sanktionenrechts tra-
gen natürlich nur dann, wenn die Verfassungsgrundsätze der Handlungsfreiheit
und Menschenwürde bei der Frage von Gerechtigkeitserwägungen auch weiter-
hin herangezogen werden. Diese Verfassungsgrundsätze sind aber der Rahmen,
in dem allein die Argumentation der vorliegenden Arbeit entwickelt wird. Dass
in einer anderen Gesellschaft mit möglicherweise anderen vorrangigen Rechts-
prinzipien der Mensch auch als bloßes Objekt betrachtet und behandelt werden
könnte, ist selbstverständlich, bleibt aber hier außer Betracht. Das Schuldstraf-
recht könnte davor nach dem Gesagten im Übrigen auch nicht schützen.

c) Zusammenfassende Thesen

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das Menschenbild des Grundge-
setzes, wie es insbesondere durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zum
Ausdruck gebracht wird, für die Legitimation des strafrechtlichen Schuldbe-
griffs keine plausible Grundlage bildet.
So begegnet zunächst die Berufung auf die Verfassungsgrundsätze zur
Rechtfertigung des Schuldurteils Bedenken. Zwar käme hierfür eine nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch das Grundgesetz errich-
tete „objektive Wertordnung“ in Betracht; ein solches Argument ist allerdings
verbunden mit einer Beweislast des Gesetzgebers hinsichtlich der damit er-
reichbaren prinzipiellen Verstärkung der Wirkungskraft der Grundrechte. Eine
solche Verstärkung durch das Instrument der Schuldstrafe ließ sich indes nicht
feststellen. Die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis der Art. 1 Abs. 1,
Art. 2 Abs. 1 GG zum Schuldstrafrecht seien nachfolgend in fünf knappen
Thesen zusammengefasst:
1. Gründet man Schuld und Menschenwürde auf eine Freiheit zur Selbst-
bestimmung, dann müsste jeder Schuldausschluss, der die Fähigkeit zu
dieser verneint, zugleich die Menschenwürde des Handelnden negieren.
Ein bloß speziesbezogener, also nur der Menschengattung als ganzer
zugeschriebener Würdebegriff vermag andererseits nicht zu klären,
warum zwar eine generelle (Gattungs-)Freiheit zur Selbstbestimmung
_________________
379
Anders Hillenkamp, JZ 2005, S. 317 m. w. N., der diesen primären Zweck einer
Sanktion undiskutiert lässt.
118 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

bejaht, im Einzelfall dagegen verneint werden muss. Die scheinbare


Konsonanz von Schuld und Menschenwürde wirkt sich deshalb im Er-
gebnis zu Lasten des Täters aus; er wird dabei in gewissem Maß einer
„objektivierenden“, entindividualisierenden Betrachtung unterworfen.
2. Weder ein transzendentales noch ein subjektiv-individuelles Freiheits-
verständnis kann für die in Art. 1 GG genannte menschliche Würde
maßgebend sein, denn eine in diesem Sinne verstandene menschliche
Würde könnte staatliche Eingriffe nicht begrenzen. Freiheit als Voraus-
setzung des rechtlichen Schuldbegriffs kann deshalb nur in einem äuße-
ren funktionalen Sinne verstanden werden. Auch das Gebot eines an-
gemessenen Verhältnisses von Schuld und Sühne kann nur dann ein-
griffsbegrenzend wirken, wenn beide Bereiche einer Feststellung oder
einer Einwirkung seitens der Staatsgewalt überhaupt zugänglich sind.
Jedenfalls personale „Sühne“ kann aber allenfalls mittelbar durch den
staatlichen Eingriff erreicht und sie könnte selbst in diesem Fall nicht
sicher festgestellt werden.
3. Wird Schuld an empirische bestätigte Sachverhalte geknüpft, so sind
zwar die Zurechnungsregeln, wie sie den neuzeitlichen Schuldbegriff
prägen, zunächst geeignet, richterliche Willkür im Bereich der Strafbe-
gründung allgemein zu reduzieren und damit dem Strafrecht insgesamt
ein humaneres Gesicht zu geben; eine poena talionis ist aus heutiger
Sicht indiskutabel. Was unter dem Strafzumessungsgesichtspunkt der
Schuld im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB genau zu verstehen ist,
bleibt jedoch unklar. Das Maß der Schuld richtet sich in hohem Grade
nach den jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen, ist also variabel
und vermag damit der staatlichen Strafgewalt jedenfalls keine absolute
Grenze zu setzen.
4. Für eine Legitimation der Schuldstrafe aus der Funktion der Grund-
rechte könnte daher allenfalls sprechen, dass sich möglicherweise so
und nur so eine faktische Besserstellung des Normbrechers im Ver-
gleich zur Anwendung anderer staatlicher Eingriffsinstrumente errei-
chen lässt. Die Annahme einer solchen Besserstellung bleibt indes eine
Hypothese, da die Auswirkungen eines alternativen Eingriffsrechts, das
den heutigen Maßstäben, etwa dem verfassungsrechtlichen Verhältnis-
mäßigkeitsprinzip entspricht, nicht bekannt sind. Auf der Grundlage ei-
ner hypothetischen Annahme lässt sich eine Besserstellung des Grund-
rechtsträgers nur behaupten, nicht aber begründen; Strafzumessungsge-
sichtspunkte tragen deshalb zur Legitimation der Schuldstrafe auf der
Basis der Grundrechte nichts bei.
5. Schließlich ist ungeklärt, ob es der Schuldstrafe bedarf, um das Werte-
system einer Gesellschaft angemessen zu schützen. Immerhin erscheint
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 119

es nicht ausgeschlossen, dass auch staatliche Sanktionen, die keinen


Vorwurf ad personam des Täters mehr enthalten, dies ebenfalls, viel-
leicht sogar besser leisten könnten.
Es bleibt noch anzumerken, dass das Postulat der Schuld den Gesetzgeber
seiner Pflicht, staatliche Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG zu legitimieren, geradezu
enthebt. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit fordert aber auch die
Beachtung der Persönlichkeit eines Normbrechers. Die Zuschreibung von
Schuld zur empirischen Persönlichkeit des Normbrechers ist aber möglicher-
weise falsch adressiert; sie könnte in Wahrheit einer gleichsam metaphysischen
Person vor der Tat, ausgestattet nämlich mit einer auf metaphysischen Annah-
men beruhenden Willensfreiheit, gelten. Der strafende Staat verführe, sofern
die Freiheitsannahme unbegründbar wäre, mit dem Normbrecher dann so, als
ob dieser ein anderer wäre. Dann würde dem Delinquenten seine wirkliche
Subjektqualität möglicherweise abgesprochen.

4. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG

Ein Schuldvorwurf gegenüber dem Rechtsbrecher kann nur dann gerechtfer-


tigt sein, wenn der Täter die Möglichkeit hatte, die Tat zu vermeiden. Soll das
Menschenbild des Strafrechts mit dem verfassungsrechtlichen Achtungsan-
spruch übereinstimmen, dann folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG unmittelbar, dass
diese Möglichkeit wenigstens prinzipiell existieren muss, da „[...] nur ein real
mögliches Verhalten Gegenstand richtiger rechtlicher Normierung sein
kann“.380 Hieraus ergeben sich bestimmte Anforderungen an die strafrechtliche
Zurechnung. Denn soll die Abstimmung von Schuld und Sühne sachgerecht
erfolgen381 und damit dem Prinzip materieller Gerechtigkeit genügen, dann sind
hierfür konkrete Kriterien erforderlich. Im Folgenden soll unter Einbeziehung
strafprozessualer Erwägungen zunächst die Frage erörtert werden, welcher Art
_________________
380
Engisch, Gerechtigkeit, S. 239; zum Prinzip des „ultra posse nemo obligatur“ vgl.
ders., Eb. Schmidt-FS, S. 94, u. ders., Konkretisierung, S. 116 f. m. w. N., sowie Kahrs:
„Daraus folgt als Grundlage eines Zurechnungsprinzips der Satz, daß die Zurechnungs-
frage sich dort nicht stellt, wo die Rechtsgemeinschaft vom Rechtsunterworfenen Un-
mögliches verlangen würde“ (S. 37); J. Baumann, der ausführt, dass es als eine Aufgabe
des Gesetzgebers betrachtet werden könne, „darauf zu achten, daß nur Erfüllbares ver-
langt wird“ (Strafrecht, S. 23 f.); u. Maurach/Zipf, soweit sie bemerken, mit strafrechtli-
chem Verlangen dürfe „dem Menschen nicht Übermenschliches abgefordert“ werden (s.
Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 5). Weitergehend H. Foth: „Der Satz: Nulla poena
sine culpa stellt letztlich eine Ungeheuerlichkeit dar, da er, in sich widerspruchsvoll und
im beständigen Gegensatz zur Erfahrung, den Menschen im Recht überfordert“ (ARSP
62 [1976], S. 261); s. auch ders., ebd., S. 252.
381
Siehe BVerfGE 6, 389, 439; 20, 323, 331; 25, 269, 286; 45, 187, 228; 50, 125,
133; BVerfGE 86, 288, 313; 90, 145, 173; 105, 135, 153.
120 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

diese Kriterien sind, um anschließend die hieraus gewonnenen Folgerungen in


die verfassungsrechtliche Diskussion einzubinden.

a) Normative Konstruktionen vor den Schranken des Art. 3 Abs. 1 GG

Die Rechtswissenschaft ist nicht in der Lage, Erkenntnisse über die Natur zu
liefern.382 Ihr Gebiet sind in erster Linie normative Fragen, Probleme und Kon-
strukte. Normative Begriffe entziehen sich aber in ihrem Wesen einer streng
naturwissenschaftlichen Beweisführung.383 So gibt es kein natürliches Kausal-
gesetz, das einen Menschen zum „Täter“ macht, und kein natürliches Kausalge-
setz, aus dem Schuldigkeit erwächst.384 Blau sieht deshalb in dem von der
Rechtsordnung umrissenen Normaltäter „eine Rechtsfigur, ein juristisch-
psychologisches Konstrukt [...], [das] aber nicht etwa nur naturrechtlichen
Kategorien, sondern der Selbst- und Fremderfahrung im normalen Umgang mit
anderen Rechtsgenossen entspricht“.385 Der Begriff des „Normaltäters“ könnte
also ein normatives Gebilde sein, das zwar aufgrund evidenter Erlebnisse ge-
formt wird; doch mag die Verantwortlichkeit, die auf dem Freiheitserleben
eines so bezeichneten Täters beruht, naturwissenschaftlich unzugänglich
sein.386
_________________
382
Zum Spannungsfeld zwischen Rechts- und Naturwissenschaft vgl. auch Arthur
Kaufmann, Bockelmann-FS, S. 67 ff. Würtenberger rückt das Normative in den Vorder-
grund, um die Rechtswissenschaft von den Einflüssen der Psychologie, Psychoanalyse
und Soziologie frei zu machen (s. Jescheck-FS, S. 37 f.).
383
Vgl. die Ausführungen U. Neumanns zur Falsifikationsmethode bei rechtlichen
Deutungen in Loccumer Protokolle, S. 152 ff., und zu Logik und Wahrheit in der
Rechtswissenschaft: „Dogmatische Sätze sind nicht verifizierbar [...]“ (Rechtsontologie
und juristische Argumentation, S. 37); ders., Schuldprinzip, S. 404 f.
384
Ausführlich Kelsen, Rechtslehre, S. 79 ff.
385
Blau, Jura 1982, S. 395; ähnlich Y.-W. Kim, Schuldprinzip, S. 65; vgl. auch Kohl-
rausch, Güterbock-FS, S. 26. Zur Unergiebigkeit des „homunculus ,maßgerechter
Mensch‘“ siehe Hassemer, Schuldprinzip, S. 91.
386
So wohl Schwalm: „Da sich jedoch die Möglichkeit strafrechtlicher Schuld und
damit die Richtigkeit des Schuldprinzips weder exakt beweisen noch exakt widerlegen
läßt, beruht das Schuldprinzip auf einem Postulat, dem Schuldpostulat, für das der Ge-
setzgeber die Verantwortung übernommen hat und von dem die Rechtsprechung ausge-
hen muß. Unter einem Postulat darf nicht etwa eine willkürliche, sondern muß eine zwar
nicht exakt beweisbare, aber mit guten Gründen aufgestellte wissenschaftliche Behaup-
tung verstanden werden. Die guten Gründe bestehen hier in den Erfahrungen und Er-
kenntnissen, daß der relativ reife Mensch grundsätzlich sich Handlungsziele setzen kann
(Fähigkeit zu finaler Überdeterminierung), daß ein solches Ziel auch die Befolgung
sozialer Normen sein kann, daß in ihm im Zusammenhang hiermit ein (subjektives)
Verantwortungsbewußtsein vorhanden sein und sich bei Normverletzung als Schuldbe-
wußtsein äußern kann. Diese Gründe sprechen dafür, daß der Gesetzgeber es vertreten
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 121

Dabei muss aus jeder strafrechtlichen Konstruktion, die strafbegründend


wirkt, wegen des in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatzes
hervorgehen, auf welche Lebenssachverhalte subjektiver oder objektiver Art sie
Anwendung finden kann.387 Dies ist gemeint, wenn sich ein wertender Begriff
im Rahmen des Rechts zu einem dogmatischen Begriff entwickelt, der es er-
laubt, eine weitgehend einheitliche Anwendung der Norm zu gewährleisten.
Das Prinzip der rechtlichen Gleichstellung bestimmter Sachverhalte findet
seinen Ausdruck insbesondere in Art. 3 Abs. 1 GG.388 Dabei darf der Gesetzge-
ber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts natürliche Gesetzlichkeiten,
die in der Sache selbst liegen, und die fundierten allgemeinen Gerechtigkeits-
_________________

darf, grundsätzlich den relativ reifen Menschen für sein Verhalten verantwortlich zu
machen und damit strafrechtlich als ein Wesen anzusehen, das schuldhaft handeln kann.
Das ist mit dem Schuldpostulat gemeint“ (JZ 1970, S. 489). Kritisch R. Lange: „Müssen
wir nicht versuchen, die Wurzeln des Strafrechts tiefer zu treiben? Es ist kaum ein Zu-
fall, daß sich [...] gerade Empiriker gegenwärtig des Freiheitsproblems mit aller Intensi-
tät annehmen und daß sie von einem anthropologischen Ansatz ausgehen, wie wir das
auch ringsum in den Grundlagenwissenschaften der Kriminologie gewahren. Sie über-
schreiten damit bewußt den Boden ihrer jeweiligen Einzelwissenschaft. Dieser Schritt ist
in der Tat heute notwendig und auf keinem Gebiet notwendiger als in der Frage der
Schuldfähigkeit“ (Bockelmann-FS, S. 264). Vgl. zum Komplex des Individuums als
empirisches Objekt auch Rickert, S. 180 und 211.
387
Auch Küpper weist darauf hin: „In jedem Falle muß aber der Wertungsgegen-
stand, der mit einem Wertprädikat versehen werden soll, Beachtung finden. Sobald das
Objekt der Wertung aus dem Blick gerät, sind Unklarheiten nicht zu vermeiden“ (Gren-
zen, S. 199). Ähnlich Puppe: „Da aber jede normative Aussage einen deskriptiven Ge-
halt haben muß, wenn sie überhaupt sinnvoll sein soll, ist es auch auf der normativen
Ebene nicht möglich, Eindeutigkeit herzustellen, wenn es auf der deskriptiven nicht
möglich ist“ (GA 1994, S. 297). Diese Problematik wird auch von U. Neumann, ZStW
99 (1987), S. 573 f., gesehen. Lampe hält den normativen Schuldbegriff für bedenklich,
„weil auch die Sachfrage ihren angemessenen Ort haben muß“ (Strafphilosophie,
S. 226). Kritisch Baumhoer, der in jeder Erkenntnis von den Tatsachen auch eine Wer-
tung sieht (s. Fiktion, S. 36). Diese Wertung, deren Existenz nicht bestritten werden soll,
unterscheidet sich jedoch von der juristischen bereits insofern, als die eine mit dem
Bewusstsein von Dingen notwendig einhergeht, die andere jedoch in einem prozessualen
Akt erst festgestellt werden muss. Soll das Recht regulierend in tatsächliche Sachverhal-
te eingreifen, soll es also funktionieren, dann kann die normative Wertung lediglich eine
zusätzliche Abstraktion sein. Deshalb kann sich auch der „normative Schuldbegriff“
nicht von seinen tatsächlichen Voraussetzungen lösen, wie dies bspw. für den im Ge-
gensatz hierzu als „deskriptiv“ bezeichneten psychologischen Schuldbegriff angenom-
men wird. Burkhardt bemerkt hierzu: „Obwohl diese Differenzierung im Prinzip unan-
gefochten ist, ist doch keineswegs klar, wie sich deskriptive von normativen Begriffen
unterscheiden lassen bzw. welche Funktionen normative Begriffe haben, wenn nicht
beschreibende bzw. informative“ (GA 1976, S. 327 f.). Vgl. zu diesen Verwirrungen
bereits Radbruch, SchwZStr 51 (1937), S. 251.
388
Vgl. R. Lange, SchwZStr 70 (1955), S. 380. Vgl. auch BVerfGE 3, 58, 135 f.;
ebenso BVerfGE 41, 121, 125.
122 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

vorstellungen der Gemeinschaft nicht missachten.389 Zur Rechtfertigung einer


unterschiedlichen Behandlung von Sachverhalten reiche es nicht aus, dass der
Gesetzgeber die eine oder andere Verschiedenheit zwischen ihnen berücksich-
tigt habe. Vielmehr müsse ein innerer Zusammenhang zwischen den vorgefun-
denen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung bestehen. Erfor-
derlich sei dabei die Heranziehung von sachgerechten Kriterien. Der Differen-
zierungsgrund müsse sachbezogen und vertretbar erscheinen.390
Altpeter sieht eine solche sachgerechte Unterscheidung des Staates „gerade
in der Differenzierung zwischen strafrechtsrelevantem und nicht-strafrechts-
relevantem Verhalten, also der Feststellung der Strafwürdigkeit [...]. Das
Strafwürdigkeitsurteil ist damit geradezu ein Musterbeispiel für die Anwen-
dung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG“.391 Um feststel-
len zu können, ob dieser Differenzierung sachliche Kriterien zugrundeliegen,
muss zunächst geklärt werden, welche Anforderungen an den Begriff der
Schuld selbst zu stellen sind.

b) Die subjektive Evidenz von Freiheit als Grundlage der Schuld?

Da sich subjektive Sachverhalte der unmittelbaren empirischen Überprüfung


entziehen, lässt man hier regelmäßig Evidenzen ausreichen, die auf eine „all-
gemeine Anschauung“ gegründet werden.392 Metaphysische Begründungen der
Schuldstrafe verfahren erheblich spekulativer; ihnen zufolge handelt es sich bei
der Strafbegründungsschuld um etwas, das im Strafprozess zwar geprüft wer-
den muss, dessen Grundlage, die Freiheit, jedoch den Methoden richterlichen
Erkenntnisgewinns überhaupt nicht zugänglich ist.393 Da dies einen gewissen
Verdacht des paradoxen Vorgehens auf sich zieht, weicht man dem Problem
nicht selten mit der Behauptung aus, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seien
in diesem Bereich grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.394 So hebt Grasnick
_________________
389
Siehe BVerfGE 9, 338, 349.
390
Siehe BVerfGE 71, 39, 58, sowie BVerfGE 1, 14, 52; 17, 122, 130; BVerfG NJW
1993, 1517; vgl. dazu auch Alexy, Grundrechte, S. 364 ff.
391
Altpeter, Strafwürdigkeit, S. 181. Ausführlich und differenzierend Kelsen, Rechts-
lehre, S. 376 ff.
392
Vgl. aber Tugendhat, der „diejenige Zurechnungsfähigkeit, von der wir beim
Überlegen Gebrauch machen und auf die wir uns beziehen, wenn wir entsprechende
Vorhaltungen machen“ als „empirisches Faktum unseres alltäglichen Lebens“ begreift,
das nicht bewiesen, sondern nur aufgeklärt werden müsse (s. Aufsätze, S. 340). Vgl.
auch Kühne hinsichtlich der Umsetzungsschwierigkeiten des empirischen Anspruchs im
Strafrecht (GA 1994, 510 ff.).
393
Vgl. auch Hassemer, Schuldprinzip, S. 101 f.
394
In diese Richtung wohl auch Arthur Kaufmann, Schüler-Springorum-FS, S. 421.
Ablehnend Hassemer: „Dabei ist offenkundig, daß empirisches Wissen auf allen Ebenen
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 123

hervor: „[...] die Freiheit – hier: des Willens – ist keines Beweises fähig. Sie ist
auch keines Beweises bedürftig. [...] Empirische Ergebnisse sind bei der Suche
nach Freiheit, auch der Freiheit des Willens, nicht zu haben. [...] Der als
,Gegenbeweis‘ so beliebte Rekurs auf die Heisenbergsche Unbestimmtheitsre-
lation ist da, unterstellt er sei überhaupt tauglich, ersatzlos zu entbehren. Wir
benötigen keine naturwissenschaftlichen Anleihen. Diese gehören gerade in
einen Bereich, mit dem wir es hier überhaupt nicht zu tun haben. Der Ort der
Freiheit ist die Lebenswelt, also die Welt, in der wir immer schon leben. Immer
schon, das heißt auch: ehe die Naturwissenschaftler auf den Plan treten.“395
Und Schmidhäuser hebt für die Frage der Handlungsfreiheit hervor: „Für die
naturwissenschaftliche Einzelbetrachtung, die nur eine Teilerkenntnis von den
Dingen zum Ziele hat, mag es die Kausalität eines vom Gehirn ausgehenden
Impulses für eine Körperbewegung, mag es jene ,psycho-physische Kausalität‘
geben – für die unmittelbare Anschauung dagegen gibt es hier nur das gewollte,
und zwar das nur vom Willensakt her als gewollt zu erfassende Tun.“396 Auch
Engisch überlegt, ob es für das Recht bei der Bestimmung der Natur des Men-
schen auf das biologisch Notwendige oder auf den Unterschied zum Tier an-
komme397, und fragt: „Muß ich die Freiheit beweisen, um verantwortlich zu
machen, oder spricht nicht die ganze im Menschenwesen festverwurzelte Tradi-
tion gewissermaßen ,prima facie‘ für die Freiheit, spricht nicht das Freiheits-
bewußtsein für die Freiheit, spricht nicht das Schuldbewußtsein für die Freiheit,
so daß wir sagen dürfen: Die sich auf diese und andere bekannte Phänomene
stützende Vermutung der Freiheit ist so stark, daß derjenige beweispflichtig ist,
der die Freiheit leugnet?“398 Damit allerdings ordnet Engisch das Freiheitsemp-
finden einem naturwissenschaftlichen Gegenbeweis zunächst nicht über. Er
äußert sich lediglich zur Frage der Beweislast, soweit gerade keine gesicherten
_________________

der Strafrechtspflege bedeutsam ist“ (NK, vor § 1, Rn. 36); u. Tiemeyer: „Ein Schuld-
vorwurf darf nur dann erhoben werden, wenn die soziale Wirklichkeit seinsmäßig so
beschaffen ist, wie die Denkfigur der Schuld es voraussetzen müßte“ (GA 1986, S. 215).
Kritisch auch Puppe: „Deshalb liefert sich die moderne Strafrechtsdogmatik gerade
durch ihren konsequenten Rückzug auf die Wertungsebene und den Diskurs über die
jeweils richtige Wertungsformel eben jenem Naturalismus aus, den sie der überkomme-
nen Strafrechtsdogmatik so geläufig vorwirft. Denn wenn sie am Ende doch genötigt ist,
die deskriptiven Grundlagen ihrer unterschiedlichen Wertungen, etwa der Zurechnung,
anzugeben, verfällt sie auf die nächstbeste Beschreibung, die ihr das naturalistische
Vorverständnis anbietet“ (GA 1994, S. 317).
395
Siehe Grasnick JR 1991, S. 365; so auch Dreher, Willensfreiheit, S. 383; anders
v. Liszt: „Für das Recht kommt nur die Welt der Erscheinungen in Betracht. Nur der
,empirische‘ Mensch kann vor den Strafrichter gestellt, verurteilt, eingesperrt oder ge-
köpft werden“ (Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 39); kritisch gegenüber
einem „phänomenologischem“ Freiheitsbegriff auch Geisler, S. 39 ff.
396
Schmidhäuser, ZStW 66 (1954), S. 31.
397
Siehe Engisch, Gerechtigkeit, S. 215.
398
Engisch, Willensfreiheit, S. 38.
124 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Erkenntnisse außerhalb der Evidenz des Erlebens existieren, eine ihrerseits


lange diskutierte Problemstellung, die Engisch freilich dahingehend beantwor-
tet, dass, wenn man schon mit dem Begriff der Beweislast operiere, es doch
Sache der Indeterministen sei, die Freiheit des Menschen zu beweisen.399 Hier
soll jedoch die Frage im Vordergrund stehen, ob auch naturwissenschaftlich
gesicherte empirische Erkenntnisse aufgrund eines normativen Postulates, das
auf dem Freiheitserleben oder auch einer Freiheitsfiktion gründet, unbeachtet
bleiben können. Die zwei Problemstellungen: kann die Schuldfrage empirisch
beantwortet werden (im Sinne eines tatsächlichen Könnens), und muss sie über-
haupt empirisch beantwortet werden, sollen also getrennt werden. Statt, wie
bisher, die Frage, ob die Schuld bewiesen werden muss, auf der Grundlage,
dass sie nicht bewiesen werden kann, anzugehen, soll das Problem zunächst
darauf reduziert werden, ob das Strafrecht auch dann auf einem rein normati-
vistischen Schuld-Konstrukt aufbauen könnte, wenn dessen fiktive oder bloß
subjektiv evidente Voraussetzungen empirisch widerlegt wären.
Damit das Schuldprinzip der vom Bundesverfassungsgericht geforderten
„materiellen Gerechtigkeit“ genügen kann, muss es mit den Wertmaßstäben der
Gesellschaft, die sich im geltenden Recht wiederfinden, übereinstimmen. Zu
deren Ermittlung können die Inhalte und die Entwicklungstendenz allseits ge-
teilter Überzeugungen in einer Gesellschaft herangezogen werden, die wider-
spiegeln, was als gerecht oder ungerecht empfunden wurde und wird. Denn
solange „absolute“, überzeitliche und zugleich material gehaltvolle Gerechtig-
keitskriterien noch nicht gefunden oder jedenfalls nicht konsensfähig sind, wird
sich das Prinzip „sozialer Gerechtigkeit“ vor allem an den Vorstellungen orien-
tieren müssen, die sich in einer Gesellschaft historisch entwickelt haben.400
Insbesondere in Normen, die über lange Zeiträume Gültigkeit beanspruchen,
fließen direkt oder indirekt sich wandelnde Vorstellungen der Gesellschaft ein,
die in ihrer Tendenz auszuwerten sind.401 Der „Erfahrungsschatz der Rechts-
entwicklung“402 kann damit als Kriterium für gesellschaftliche Wertmaßstäbe
dienen.403 Da über den Schuldspruch letztlich im Strafprozess entschieden wird,
_________________
399
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 38 f.; vgl. auch Schreiber, Rechtliche Verant-
wortlichkeit und Schuld, S. 64; H. Foth, Tatschuld, S. 153.
400
Vgl. zur sog. „objektiv-teleologischen“ Auslegung Larenz/Canaris, Methodenleh-
re, S. 153 ff.; Sch/Sch-Eser, § 1, Rn. 43 ff.
401
Vgl. dazu Engisch, Gerechtigkeit, S. 216 ff.
402
Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 723.
403
Dabei ist grundsätzlich zu beachten, dass eine Selbstbindung der Gerichte durch
ständige Rechtsprechung kritisch beurteilt wird (dazu Pieroth/Schlink, S. 120). Soweit
daher erkennbar wäre, dass bisherige Rechtsprechung und neuere gesellschaftliche
Tendenzen auseinanderfallen, müsste diese Problematik eigenständig diskutiert werden.
Auch ist zu berücksichtigen, dass etwas nicht schon deshalb richtig ist, „weil es ist oder
weil es war – oder auch, weil es sein wird“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 13).
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 125

liegt es nahe, nach einführenden Überlegungen jene Tendenzen anhand der


Strafprozessordnung und mit ihr in Zusammenhang stehender Vorschriften
näher zu beleuchten.

c) Der gesetzliche Beweis im Strafprozess

Zur Feststellung der Schuld bezieht zunächst der amtliche Begründungsent-


wurf zum StGB von 1962 Stellung: „Die Schuld kann auch festgestellt und
gewogen werden, wenn auch nur im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglich-
keiten. Es handelt sich dabei nicht um eine kausalwissenschaftliche Feststel-
lung, sondern um einen sittlichen Wertungsvorgang innerhalb der Rechtsge-
meinschaft, der gerade das eigentümliche Wesen des Richterspruches aus-
macht.“404 Das Willkürverbot macht es allerdings erforderlich, dass auch nor-
mative Feststellungen jedenfalls im rechtswissenschaftlichen Sinne objektiv
überprüfbar sein müssen. So verlangt Art. 6 Abs. 2 EMRK den gesetzlichen
Beweis auch in Bezug auf die Schuldfeststellung.405 Zwar entscheidet nach
§ 261 StPO über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht nach seiner
freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung, die Über-
zeugung des Richters muss aber ihrerseits aus den Gegenständen der Verhand-
lung hervorgehen.406
Der Strafprozess ist als Bestandteil des Rechts notwendig auf die Mittel des
Ausdrucks verwiesen. Hier gilt, dass die Überzeugungsbildung den Denkgeset-
zen der Logik entsprechen muss.407 So sind Kreisschlüsse oder irrtümliche
Annahmen, eine Schlussfolgerung sei zwingend, ein revisionsrechtlicher Auf-
hebungsgrund.408 Nicht die Emotionen oder Intuitionen des Richters sind hier
entscheidend, sondern objektive Kriterien.409 Auch vertritt die Rechtsprechung
heute eine einhellige Meinung hinsichtlich des Verhältnisses von Überzeu-

_________________
404
Amtlicher Begründungsentwurf zum StGB 1962 (Bundestags-Drucksache
IV/650), S. 96.
405
Vgl. dazu BVerfGE 19, 342, 347 ff.
406
Siehe Meyer-Goßner, § 261, Rn. 5.
407
Siehe KK StPO-Engelhardt, § 261, Rn. 47; SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 57.
408
Siehe Meyer-Goßner, § 337, Rn. 30; vgl. auch KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 31.
Zur revisions-rechtlichen Kontrolle der freien Beweiswürdigung auch Schäfer, StV
1995, S. 147 ff., u. E. Foth, NStZ 1992, S. 444 ff.
409
Siehe auch Gössel, Wertungsprobleme, S. 28. Vgl. ferner Küper, Richteridee,
S. 328. Dies ergibt sich im Übrigen bereits aus dem § 1 StGB immanenten Willkürver-
bot; vgl. KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 32.
126 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

gungsbildung und naturwissenschaftlichem Beweis410, wie die folgenden Aus-


führungen darlegen sollen.

d) Grenzen richterlicher Überzeugungsbildung

Die Problematik der strafrichterlichen Bindung an naturwissenschaftliche


Erkenntnisse gewann für das Reichsgericht ab 1917 zunehmend an Bedeu-
tung.411 In einer Entscheidung des Reichsgerichts aus diesem Jahre heißt es
noch: „Sachverständige zu hören, ist das Gericht [...] selbst dann nicht ver-
_________________
410
Dagegen haben die folgenden Urteile einen durchaus stark subjektivistischen Cha-
rakter, soweit die Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung außerhalb naturwissen-
schaftlicher Zugänglichkeit von Sachfragen betroffen ist; dazu Herdegen, StV 1992,
S. 528; Fezer, StV 1995, S. 96.
411
Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung richterlicher Überzeugungsbildung
Küper, Richteridee, insb. S. 298 ff.; ders., Peters-FG, S. 25 ff. Arzt führt zum Span-
nungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und freier Beweiswürdi-
gung durch den Richter aus: „Historisch gesehen sollte die freie Beweiswürdigung die
Verurteilung erleichtern, weil der Richter ohne Geständnis, gestützt auf starke Indizien,
sich seine Überzeugung bilden durfte. Zugleich hat man freilich im 19. Jahrhundert
naturwissenschaftliche Fortschritte bei den Indizien erwartet, die einen wissenschaftlich
sicheren und insofern keiner freien Würdigung bedürftigen Schluß auf Tat und Schuld
erlauben. Deshalb sprengt der Verstoß der richterlichen Beweiswürdigung gegen natur-
wissenschaftliche Gesetze den Rahmen, der § 261 StPO inhärent ist“ (Stree/Wessels-FS,
S. 62 f.); zur Diskussion im 19. Jahrhundert auch Herdegen, StV 1992, S. 528 f. (unter
Berücksichtigung philosophischer Implikationen), u. Fezer, der hervorhebt: „Bevor die
,Freiheit‘ der Beweiswürdigung in der ersten partikularstaatlichen gesetzlichen Rege-
lung (nämlich in Preußen) verankert wurde, fand in Deutschland über zwei Jahrzehnte
hinweg eine wissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion statt, die deutlichen
Aufschluß gibt über verbreitete und klare Vorstellungen, was unter der neuerworbenen
,Freiheit‘ zu verstehen ist und was nicht: Jedenfalls nicht eine rein subjektive und mit
rationalen Kriterien nicht zu erfassende Gewissensentscheidung nach dem (vor allem am
Geschworenensystem ausgerichteten) Vorbild der französischen ,intime conviction‘.
Befürwortet bzw. gefordert wurde ein Überzeugungsbildungsvorgang, der auf logischem
Denken und objektiv zureichenden Gründen beruhen müsse [...]. Der rechtswissen-
schaftlichen Diskussion nach 1820 und den partikularstaatlichen Strafprozeßordnungen
kann expressis verbis oder der Sache nach die eindeutige Vorstellung entnommen wer-
den, daß die ,Freiheit‘ der Beweiswürdigung historisch ausschließlich als Befreiung von
bindenden gesetzlichen Beweisregeln zu verstehen ist: dagegen nicht – ich referiere die
damalige Erkenntnis – als Freiheit von Regeln der Logik und der Erfahrung, die den
Erkenntnisbildungsprozeß prägen und nicht als Befreiung von jeder Rechenschafts-
pflicht und Kontrollmöglichkeit“ (StV 1995, S. 95). Fezer macht jedoch auch darauf
aufmerksam, dass mit der RStPO von 1877 Unklarheiten aufkamen, und sich eine Ten-
denz entwickelte, den Überzeugungsbildungsvorgang als subjektiven Freiraum des
Richters zu interpretieren (s. ebd., S. 96), was die unmittelbar folgenden Entscheidungen
des RG zu erklären vermag. Allgemein zum Verhältnis richterlicher Unabhängigkeit zur
Rechts- bzw. Staatsordnung, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 166 ff.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 127

pflichtet, wenn zur Erforschung der Wahrheit eine besondere Sachkunde ge-
hört.“412 Einschränkender äußert es sich dagegen zehn Jahre später: „Das Ge-
richt kann die Zuziehung eines Sachverständigen unterlassen, wenn es sich
selbst die nötige Sachkunde zutraut und diese nach der Erfahrung des Lebens
auch haben kann.“413 In beiden Fällen hatte das Reichsgericht jedoch die vor-
angegangene Entscheidung aufgehoben, weil die Instanzgerichte ihrer Aufklä-
rungspflicht nicht nachgekommen waren. Die Strafsenate des Reichsgerichts
nahmen sich, nach Ansicht Mannheims, seither das Recht, an tatsächlichen
Feststellungen, die eine besondere Sachkunde erforderten, Kritik zu üben, wenn
das Instanzgericht die nötige Sachkunde nicht besaß und sich auch nicht durch
Zuziehung von Sachverständigen verschafft hatte.414 Indes hatte der Vierte
Zivilsenat schon früher, nämlich bereits 1908 eine Entscheidung des Oberlan-
desgerichts Köln aufgehoben, in der das Berufungsgericht trotz eines entgegen-
stehenden Gutachtens des Sachverständigen die Möglichkeit einer künstlichen
Befruchtung bejaht hatte. Die Frage der künstlichen Befruchtung, so hieß es,
sei eine naturwissenschaftliche Frage, die nur unter Zuziehung von Sachver-
ständigen entschieden werden könne.415 Anfang der dreißiger Jahre mussten
auch die Strafgerichte darlegen, aus welchen Gründen sie eine angebotene
naturwissenschaftliche Beweisführung ablehnten416, daneben durften sie sich
über wissenschaftliche Grundsätze, die sie nicht nachprüfen konnten, nicht
mehr grundlos hinwegsetzen.417
Diese Einschränkung der Gerichte wurde mit Blick auf die verfassungsrecht-
lich garantierte Unabhängigkeit des Richters auch kritisch gesehen.418 Als Be-
gründung wird hierfür von Wegner der „altdeutsche Rechtsgang“ angeführt, der
sich im Einklang auch mit prozessualer Irrationalität befinde. Hiernach sei es
durchaus rechtens, den grundsätzlichen Beweislastvorteil des Beklagten gegen-
über einem gegebenenfalls „höheren Stande“ des Klägers zurücktreten zu las-
sen, so dass allein deswegen der Kläger den Vorteil aus der Unbeweisbarkeit
einer anspruchsbegründenden Tatsache ziehe und nicht der Beklagte.419 Doch
hat sich dieser Standpunkt nicht durchsetzen können: Abschließend klargestellt
_________________
412
RGSt 52, 61, 62.
413
RGSt 61, 273.
414
So Mannheim, JW 1931, S. 2496.
415
Siehe RG JW 1908, 485. Das Vorgehen des Oberlandesgerichts Köln wurde von
Mannheim denn auch als „juristisches Kulturkuriosum“ bezeichnet (s. JW 1931,
S. 2496).
416
Vgl. RG JW 1931, 2495, sowie RGSt 64, 113, 114; RG JW 1934, 2469.
417
Vgl. RG JW 1935, 543.
418
Vgl. A. Wegner, JW 1934, S. 2469 f.
419
Siehe A. Wegner, MSchrKrimPsych., Beiheft 3 (1930), S. 47 f. – der Verfasser
drückt sich hier allerdings schwer verständlich aus; er redet von einem „Vorzug“ des
Beklagten, der zurücktreten müsse, so dass lediglich der Kläger zum Beweise komme.
128 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

wurde dies, als sich der Erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs 1951 auf ein
zivilrechtliches Urteil des Obersten Gerichtshofs (für die britische Zone) stütz-
te420, wonach es den Richtern nicht mehr gestattet sein sollte, die Richtigkeit
der jeweils einschlägigen fachwissenschaftlichen Lehren anzuzweifeln. Dies
sollte unabhängig davon gelten, ob sie sich hierzu im Stande sahen oder nicht.
Entscheidend sollte vielmehr sein, ob die jeweilige Lehre „in den maßgebenden
Fachkreisen eine allgemeine und zweifelsfreie Anerkennung gefunden hat“.421
Von dieser Rechtsprechung ist bis heute nicht abgerückt worden.422 Sie gilt
insbesondere auch im Rahmen der Schuldfeststellung423 und ist von Seiten der
Lehre keiner Kritik ausgesetzt. So ist bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit für
den Richter der Erlass eines Urteils ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen
praktisch nicht mehr möglich. Das lange Ringen um eine möglichst klare und
allen Seiten entsprechende Fassung der §§ 20, 21 StGB hing maßgeblich mit
der Befürchtung zusammen, dass auch Straftäter, die nicht somatisch gestört
sind, über eine allzu weite Fassung der Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit,
im Besonderen durch Lehrsätze der Psychoanalyse, zur Straffreiheit gelangen
_________________
420
Siehe BGHSt 5, 34, 36.
421
OGH Z 3, 119, 124.
422
So bemerkt der Dritte Strafsenat 1954: „Indessen ist eine einzelne abweichende
Meinung, auch wenn sie von einem auf dem eigenen Sachgebiet anerkannten Sachver-
ständigen vertreten wird, nicht ohne weiteres geeignet, die unbedingte Geltung allge-
mein anerkannter Naturgesetze in Frage zu stellen. Diese Wirkung könnte ihr nur dann
zugestanden werden, wenn sie sich auf ausreichende Erfahrungen stützen [könnte]“ (s.
BGHSt 6, 70, 73/74; vgl. auch BGHSt 31, 86, 89). Weitere drei Jahre darauf entscheidet
auch der Zweite Strafsenat: „Denn der Tatrichter ist den Gesetzen des Denkens und der
Erfahrung unterstellt; wo eine Tatsache auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis fest-
steht, ist für eine richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung naturgemäß kein
Raum mehr“ (s. BGHSt 10, 208, 211). Entsprechend wird ein Verstoß gegen § 261 StPO
angenommen, wenn sich ein Gericht mit den Erfahrungen des Lebens, den Gesetzen der
Wissenschaft und der Logik in Widerspruch setzt (s. BGHSt 17, 382, 385) oder seine
Befugnis willkürlich ausübt (s. BGHSt 29, 18, 20).
423
1966 stellt der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Bezug auf ein Gutach-
ten zur Herabsetzung des von der Rechtsprechung anerkannten allgemeinen Grenzwer-
tes der unbedingten Fahruntüchtigkeit von 1,5 Promille auf 1,2 Promille fest: „Die hier-
für in dem Gutachten mitgeteilten medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
sind als für den Richter verbindlich hinzunehmen, da sie in den maßgebenden Fachkrei-
sen allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig anerkannt sind“ (s. BGHSt 21,
157, 159). Gleiches gilt für gesicherte Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft im
Falle eines sogenannten „Schluß-Sturztrunks“ (s. BGHSt 24, 200, 203) sowie für die
Rückrechnung des Blutalkoholgehalts, wobei der Bundesgerichtshof hervorhebt: „Der
Richter muß bei seiner Überzeugungsbildung und Urteilsfindung den jeweiligen gesi-
cherten Erfahrungsstand der Wissenschaft zugrunde legen. Für den Bereich der Blutal-
koholforschung bedeutet dies, daß er die nach Veröffentlichung des Gutachtens des
Bundesgesundheitsamtes, wenn auch zunächst noch vereinzelt vertretene Meinung, [...],
nun nicht mehr unbeachtet lassen darf“ (s. BGH 25, 246, 248).
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 129

könnten (sogenannte „Dammbruchgefahr“).424 Es gibt mithin gerade im Be-


reich der Schuld ein allseits anerkanntes Interesse, die Voraussetzungen für die
Feststellung der Schuldfähigkeit objektiv überprüfbar zu halten.
Im Rahmen der Strafbegründungsschuld unterliegt die Schuldfeststellung al-
so schon bisher der Einflussnahme der Psychologie und der Medizin. Ebenso
wie für die Rechtswissenschaft stellt sich aber auch für die Forschung in der
Psychologie und Psychoanalyse das Problem der empirischen Beweisbarkeit
ihrer Theorien.425 Die „Rationalisierung der Gerichte“ hat einen überwiegend
steten und konsequenten Verlauf genommen. Man darf wohl annehmen, dass
demgegenüber ein bewusstes Absehen von naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
sen im Prozess zur Begünstigung einer tendenziell willkürlichen, insbesondere
ideologieanfälligen Rechtsprechung führen müsste. Deshalb folgert das Bun-
desverfassungsgericht aus dem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip, es
habe ein zentrales Anliegen des Strafprozesses zu sein, „den wahren Sachver-
halt“ zu erforschen, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht
werden könne. Das Gericht habe sich deshalb um den „bestmöglichen Beweis“
zu bemühen.426
Nach der unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist also
für eine eigene richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung kein Raum
mehr, soweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse über einen konkreten Le-
benssachverhalt existieren.427 Damit schließt die richterliche Überzeugungsbil-
dung intuitive Gewissheit nicht grundsätzlich aus, diese muss jedoch weitge-
hend rational nachvollziehbar sein.428 Auch Beweise zur Kausalität sind somit
_________________
424
Siehe NK-Schild, § 20, Rn. 21.
425
Vgl. dazu Rickert, S. 180.
426
Siehe BVerfGE 57, 250, 275 u. 277; wobei es freilich seinerseits die Existenz von
„Schuld“ ohne Prüfung ihrer empirischen Grundlagen voraussetzt.
427
So auch Meyer-Goßner, § 337, Rn. 31; KK StPO-Engelhardt, § 261, Rn. 46;
SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 57; vgl. auch KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 32; Her-
degen: „Die Berufung auf ein psychisches Faktum – das und nichts anderes ist die per-
sönliche Gewissheit – kann keine hinlängliche Begründung sein. Wäre sie es, müßte
man jede von Überzeugung getragene Aussage als hinlänglich begründet ansehen“ (StV
1992, S. 534 u. 528).
428
Siehe SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 55. So wohl auch R. Keller, GA 1999,
S. 255 ff. und trotz Kritik an der Revisibilität der Überzeugungsbildung Eberhard Foth:
„Wer wird nicht verlangen, daß der Tatrichter mit dem Verstand (= rational) urteilt, daß
er nur bei hoher Wahrscheinlichkeit [...] verurteilt?“ (NStZ 1992, S. 447). Fezer geht
dagegen so weit zu sagen: „Die Beweiswürdigung ist nicht ,frei‘. Soweit die tatrichterli-
che Überzeugungsbildung eine rational-objektive Grundlage hat, wirken die allgemeinen
Regeln der Erkenntnisgewinnung von selbst. [...] Folgerichtig kann und muß das Wort
,frei‘ in § 261 StPO hinweggedacht werden, weil es ausschließlich eine historisch-
rückwärtsgewandte, inzwischen also völlig überholte Funktion hat (es war schon 1877
überflüssig)“ (StV 1995, S. 100 f.).
130 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

grundsätzlich „nach dem Standard derjenigen Wissenschaft, die sich mit der
Erforschung der betroffenen Zusammenhänge befaßt, das heißt in aller Regel
nach den Standards experimenteller Naturwissenschaften“429 zu erbringen.
Zwar ist es damit noch immer eine diskutable Grundsatzfrage, ob eine Ge-
sellschaft ihre mehrheitlich geteilten Intuitionen über den jeweils neuesten
Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis stellen und rechtlich verankern kann;
schließlich unterliegen auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft stetigen
Veränderungen. Die Rechtsprechung gibt für das Strafrecht jedoch den Weg
der Objektivität und Rationalität430 vor. Träte nun der Fall ein, dass der Sach-
verhalt, auf den sich eine strafrechtliche Figur (z. B. ein Tatbestand) bezieht,
empirisch nicht aufweisbar oder seine empirische Existenz sogar widerlegbar
wäre, so hätte dies zur paradoxen Folge, dass der Richter unter Umständen
zwar weiterhin auf der Eigenständigkeit der rechtlichen Konstruktion beharren,
diese aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aber nicht mehr
auf den konkreten Sachverhalt anwenden dürfte. Gäbe es also beispielsweise
eine Norm, nach der sich Frauen, die fliegen können, der Hexerei schuldig
machten, dann könnte man vielleicht darauf bestehen, dass es sich bei der
Schuldfeststellung um eine rechtliche Konstruktion handelte, die unabhängig
von jeder Empirie existieren könne; ein Strafrichter könnte aber in einer Ver-
handlung gerade mit Hilfe empirischer Erkenntnis niemals feststellen, dass eine
Angeklagte tatsächlich fliegen kann, auch wenn er selbst oder die Angeklagte
der persönlichen Überzeugung wäre, einige Frauen könnten fliegen. Es wäre
also wohl nichts damit gewonnen, in einem solchen Fall die Unabhängigkeit
normativer Figuren und Regeln zu betonen; im heutigen Strafprozess müsste
ein solcher Einwand ins Leere gehen.431
_________________
429
Siehe Armin Kaufmann, JZ 1971, S. 572 ff.; so bereits RGSt 61, 202, 206 f.; und
der BGH äußert: „Absolut sicheres Wissen – auch von Ursachenzusammenhängen –
dem gegenüber das Vorliegen eines gegenteiligen Geschehens mit Sicherheit auszu-
schließen wäre, gibt es nicht [...]. Kann eine Feststellung allerdings allein mit Hilfe
naturwissenschaftlicher Methoden getroffen werden, dann darf sich der Tatrichter nicht
von wissenschaftlichen Standards lösen. An die richterliche Überzeugungsbildung sind
dann keine geringeren Anforderungen zu stellen als an das Ergebnis wissenschaftlicher
Untersuchung selbst [...]“ (BGHSt 41, 206, 214 f.). Vgl. zum Umgang mit den „Unsi-
cherheitszonen“ bei der Kausalitätsfeststellung auch SK StGB-Rudolphi, Vor § 1,
Rn. 42a ff.
430
Zur Frage der Rationalität im Rahmen der Strafgesetzgebung vgl. aber auch
Frister, MschrKrim, S. 318; Müller-Dietz, Strafe und Staat, S. 14 ff.; Noll, H. Mayer-FS,
S. 219 ff., sowie Seelmann, Jura 1980, S. 505 ff.
431
Keinesfalls tragen kann eine Begründung der strafrechtlichen Schuldzuschreibung
allein auf dem (alltags-) sprachlichen Diskurs, wie ihn Krauss beschreibt: „Recht ist nur
durch Sprache und in den Bedingungen von Sprache möglich. Daher begreift Recht den
Menschen und seine Ordnungsvorstellungen zwangsläufig (!) so, wie sie sprachlich
,zum Ausdruck‘ kommen. Sprache aber, wie wir sie verstehen, wie sie unser Selbstbe-
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 131

Man kann daher mit Grasnick432 der Ansicht sein, naturwissenschaftliche


Erkenntnis sei bei der Beurteilung rechtlicher Freiheit ersatzlos zu entbehren.
Ist sie jedoch geeignet, auch hierüber Aufschluss zu geben, und hielte man
dennoch an diesem Grundsatz fest, dann geriete man in Widerspruch zu der seit
über 50 Jahren unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die
kaum so unangefochten bliebe, repräsentierte sie nicht allgemeine gesellschaft-
liche Gerechtigkeitserwägungen.433

e) Richterliche Perspektive

Mit Blick auf die Schuldproblematik ließe sich jedoch einwenden, dass es
einen Bereich der Schuld gebe, der immer und ausschließlich der Innenperspek-
tive vorbehalten bleiben müsse, da er prinzipiell unzugänglich sei – eben das
Freiheitserleben. Tatsächlich ist dem heutigen Strafrecht eine Unterscheidung
zwischen subjektiven und objektiven Sachverhalten und Umständen immanent.
Die Strafprozessordnung statuiert dagegen in § 261, dass über die Anwendbar-
keit strafrechtlicher Normen im Einzelfall zwar das Gericht jeweils nur aus
seiner Perspektive auf die Tatsachen der Beweisaufnahme entscheidet; doch ist
diese Perspektive in Bezug auf den Angeklagten notwendig die objektivierte
Außensicht Dritter. So wird auch im Strafprozess über das Vorliegen schuldre-
levanter Merkmale des § 20 StGB wie der „Unrechtseinsicht“ eines Angeklag-
ten nicht allein auf der Basis von dessen Angaben entschieden, sondern regel-
mäßig erst nach Anhörung eines Sachverständigen. Soweit der Angeklagte also
überhaupt Angaben zur Sache macht, werden diese im Prozess notwendig ob-
_________________

wußtsein und unsere Möglichkeiten einer geordneten Sozialisation umschreibt, setzt den
Menschen als von seinem existenziellen Grund entbundenes, freies Wesen voraus: Ich
will, du sollst, wir können“ (Schüler-Springorum-FS, S. 461); wohl auch Burkhardt
(vgl. Lenckner-FS, S. 21). Zum einen wird der Begriff der Schuld bzw. die Selbst- oder
Fremdzuschreibung des Sich-schuldig-Fühlens oder Schuldig-Seins weit über den Be-
reich strafrechtlicher Verantwortung hinaus gebraucht (Krauss liefert selbst das Beispiel
von streitenden Kindern [s. ebd., S. 459]), zum anderen werden auch Institutionen,
Staaten oder Tieren innere Zustände oder Pflichten zugeschrieben, die auf Freiheit
schließen lassen (der Betrieb X will, Amerika soll, Bello wäre lieber bei seinem Herr-
chen), woraus jedoch keinesfalls folgt, dass derlei Äußerungen „wörtlich“, nämlich in
derselben Bedeutung wie gegenüber dem Individuum genommen werden. Vielmehr
zeigt dies, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, zwischen einer sprachlichen und
einer tatsächlichen Ebene zu unterscheiden. Vgl. auch die Kritik Hassemers an der
Erschließung der Vorsatzmerkmale aus der Semantik der Alltagssprache (Armin Kauf-
mann-GS, S. 294, Fn. 30).
432
Siehe oben, S. 122.
433
Insoweit gehen Empirie und Zeitgeist bei der Legitimität des staatlichen Strafens
durchaus Hand in Hand (vgl. die Kritik Jakobs‘ an Scheerer zur „Empirischen Wende“,
EuS 12 [2001], S. 107 [1] a. E.).
132 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

jektiviert.434 Genauer gesagt handelt es sich bei den Feststellungen, die ein
Gericht über die Innenperspektive eines Täters trifft, um solche aus der Innen-
perspektive des Gerichts selbst, die es jedoch in den Täter hinein projiziert.
Was die Schuld betrifft, so legt dies die folgende Erwägung nahe: Es dürfte
seitens des Richters vor allem seine eigene innere Gewissheit sein, dass er sich
durch seinen persönlichen Willen auf die Seite des Rechts gestellt habe, was
ihn veranlasst, beim Angeklagten das Sich-Stellen auf die Seite des Unrechts
eben als dessen freie Willensentscheidung aufzufassen.
An der Berechtigung einer solchen phänomenologischen Projektion der ei-
genen Introspektion gibt es jedoch Zweifel. Denn in der Alltagserfahrung wer-
den eigene Willensentschlüsse nicht gesondert als solche erlebt.435 Die Psycho-
logen Odmar Neumann und Wolfgang Prinz sehen in der Formulierung „Will-
lensakt“ vielmehr eine sprachliche Brücke zwischen den in der Tradition
abendländischer Philosophie getrennten Welten des seelischen Erlebens und
der physikalischen Vorgänge, zu denen die Handlungsausführung gehört. Der
Begriff „Willensakt“ und das damit Bezeichnete, nämlich das Bewusstsein
davon, dass die jeweilige Handlung (z. B. das Ergreifen eines Handtuchs nach
dem Händewaschen) die Umsetzung eines zuvor gefassten Willens ist (z. B.:
„Ich will jetzt das Handtuch ergreifen“), entstamme also keineswegs der
Alltagserfahrung.436 Im Übrigen lässt sich auch aus dem Erleben von Hand-
lungsfreiheit seitens des Richters oder einer größeren Anzahl von Personen
nicht schließen, dass auch der konkrete, geistig gesunde Täter dieses Erleben
zum Tatzeitpunkt hatte. Zu bedenken ist jedenfalls, dass sich der rechtstreue
Bürger unter Umständen eher als „frei“ erlebt als der Rechtsbrecher, da man
sicherlich eher geneigt ist, sich selbst Erfolge als Misserfolge zuzuschreiben.
Hinzu kommt, dass sich auch ein mit dem Gefühl von Handlungsfreiheit
vollzogenes Verhalten, wie eingangs dargestellt, in der objektiven Rückschau
möglicherweise nur noch als eingebunden in kausale Zwänge auffassen lässt.
_________________
434
Ungeachtet dieser Schwierigkeiten befürwortet Burkhardt, die Innenperspektive
des Täters zur Grundlage des Schuldurteils zu erheben (vgl. Lenckner-FS, S. 3 ff.; ders.,
First-Person, S. 238 ff.); anders Kohler, der nur die Bemessung der Strafhöhe durch den
Richter vom subjektive Erleben des Täters abhängig macht: „[...] stets muss sich der
Richter die Gefühlssphäre des Delinquenten veranschaulichen, wenn er gerecht, d. h. der
That des Delinquenten entsprechend urtheilen will; wenn er auf ihn dasjenige Mass des
Leidens ergiessen will, welches für seine That eine adäquirte Sühne bildet“ (Das Wesen
der Strafe, S. 12). Zu den schier unlösbaren Problemen, vor die eine Überprüfung des
Innenlebens des Menschen den Strafrichter stellt, vgl. aber Sarstedt, Schmidt-Leichner-
FS, S. 171 ff.
435
Vgl. dazu Neumann/Prinz, S. 199 u. 213 (unter Bezugnahme auf den englischen
Philosophen Gilbert Ryle und den deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Heinrich
Zschokke).
436
Siehe Neumann/Prinz, S. 198. Zur philosophischen Entwicklung des Willensbe-
griffs s. Mittelstraß, S. 33 ff., 39.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 133

Der Richter kann damit zwar den inneren Standpunkt des Täters in der Form,
wie dieser ihn artikuliert, in seine Überlegungen einbeziehen, die Bewertung
selbst erfolgt jedoch „von außen“ und erfordert damit objektive Kriterien. Des-
halb bezeichnet auch die von Burkhardt vertretene Ansicht, der Richter könne
im Normalfall davon ausgehen, dass sich der Täter für oder gegen das Recht
entscheiden konnte, „weil [er] aus eigener Erfahrung (und aus der Kommunika-
tion mit anderen) weiß, daß dies der alltägliche und ubiquitäre Normalfall
ist,“437 einen Sachverhalt, der den Fachwissenschaften grundsätzlich zur Über-
prüfung offensteht und damit auch prinzipiell erschüttert werden kann. Die
„eigene oder allgemeine Anschauung“ ist mithin ihrerseits eine prinzipiell
falsifizierbare Grundlage für den Schuldspruch.

f) Zusammenfassung

Handelt es sich bei dem Menschenbild des Schuldstrafrechts um eine norma-


tive Konstruktion, um die Vorstellung eines aufgrund von Freiheitserlebnissen
fiktiv als selbstbestimmt und verantwortlich betrachteten Täters, dann entbindet
auch diese Konstruktion nicht davon, den ihr zugrundeliegenden tatsächlichen
Sachverhalt, sei er subjektiver oder objektiver Art, zu konkretisieren, um so
Willkürlichkeit auszuschließen.
Das subjektive Freiheitserleben des einzelnen Täters bei der Tat festzustellen
wirft dabei bereits wegen der im Prozess vom Richter notwendig eingenom-
menen Außenperspektive unlösbare Schwierigkeiten auf und kann wegen der
objektiv zu treffenden rechtlichen Feststellungen auch nicht das entscheidende
Kriterium bei der Frage der Schuldfähigkeit bilden. Aber auch ein normatives
Konstrukt auf der Grundlage allgemeiner Freiheitserfahrung bringt Probleme
mit sich, da erstens bereits die „Evidenz“ dieses Erlebens an sich in Zweifel
gezogen werden kann, zweitens aber auch fraglich ist, ob dies von der Feststel-
lung eines Freiheitserlebens auch des konkreten Täters entbinden kann.
Anhand der Rechtsprechung ließ sich ausmachen, dass subjektive Evidenz
als Tatsachengrundlage für eine strafrechtliche Konstruktion nur in Betracht
gezogen werden kann, solange keine entgegenstehenden empirischen Erkennt-
nisse existieren. Der dahinter stehende Gedanke, dass objektive Erkenntnisse
abweichenden subjektiven Auffassungen bei der Feststellung strafrechtlich
relevanter Sachverhalte vorgehen, spiegelt das heutige Gerechtigkeitsverständ-
nis wider. Materielle Gerechtigkeit im Bereich strafrechtlicher Schuldzuschrei-
bung herzustellen bedeutet damit auch, die Voraussetzungen der Schuld immer
wieder empirisch zu überprüfen. Nach dem Gesagten müssen dabei alle fest-
stellbaren Möglichkeiten des Menschen berücksichtigt werden, um zu gewähr-
_________________
437
Burkhardt, Lenckner-FS, S. 21.
134 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

leisten, „daß der Täter [...] die Fähigkeit hatte, den Anforderungen des Rechts
Folge zu leisten“.438
Entgegen der Ansicht von Grasnick439 sind naturwissenschaftliche Beweise
damit nicht nur Bestandteil des Bereichs, mit dem es Rechtswissenschaftler zu
tun haben440, sie sind darüber hinaus für die richterliche Überzeugungsbildung
auch bindend. Beruht die normative Konstruktion von Schuld also auf Varia-
blen wie Fiktion oder Evidenz und gibt es empirische Erkenntnisse, die diese
Variablen in Frage stellen, dann sind diese Erkenntnisse grundsätzlich rechtlich
relevant.441 Schmidhäuser bemerkt: „In der sinnerfüllten ,natürlich-sozialen‘
Welt, in der [...] menschliches Tun nach rechtlichen und ethischen Maßstäben
bewertet wird, läßt sich keine Kausalität eines vom Gehirn ausgehenden Impul-
ses für eine Körperbewegung feststellen; dieser Impuls läßt sich ebensowenig
verbieten und als Unrecht bewerten, so wenig ich je meinen motorischen Ner-
ven einen Impuls geben will, damit sie ein Ausstrecken meiner Hand bewirken;
was ich hier wollen kann und will ist: meine Hand ausstrecken“442. Das ist zwar
richtig, gleichwohl sind im Bereich des Rechts auch solche „Impulse“ durchaus
zu beachten, soweit sie als Handlungsbedingung empirisch nachweisbar sind,
und selbst dann, wenn sie das herkömmliche Verständnis von der Funktions-
weise des Menschen „in der sinnerfüllten ,natürlich-sozialen‘ Welt“ in Frage
stellen.443 Auch das „Können“ als normative Konstruktion, wie es Jakobs

_________________
438
Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 5. Vgl. auch Dallinger, MDR 1953, S. 147 zu
§ 51 Abs. 2 StGB a. F.
439
Siehe oben, S. 122.
440
Man pflegte allerdings früher die Quellen der Erkenntniserlangung in revisions-
rechtlichen Entscheidungen nicht zu zitieren, auch in OLG-Entscheidungen wurden
höchstens Juristen als Beleg angeführt (s. Recktenwald, ZVS 1980, 52, 53).
441
Nach Kelsen setzt Zurechnung „weder die Tatsache noch die Fiktion der Freiheit
als kausale Nichtbestimmtheit, noch den subjektiven Irrtum der Menschen, selbst frei zu
sein, voraus“ (Rechtslehre, S. 99). Das Prinzip der Zurechnung besage, „daß, wenn A ist,
B sein soll“ (Rechtslehre, S. 93; vgl. auch ders., ARSP 46 [1960], S. 322). Soll Zurech-
nung keines der genannten Freiheitsverständnisse voraussetzen, erforderte dies, dass sie
in A nicht bereits enthalten sein dürfen. Die Feststellung der Bedingung, hier des Un-
rechts (vgl. Kelsen, ARSP 46 [1960], S. 324), dürfte also weder Freiheitsfiktion noch
Freiheitserleben voraussetzen. In Anbetracht der von Kelsen implizierten kausalen Be-
stimmbarkeit des Willens, die Zurechnung erst möglich machen soll (s. Rechtslehre,
S. 102) und dem Willen insoweit eine Funktion in Bezug auf das Verhalten zuschreibt,
ist dies jedoch fraglich. Denn der Wille hat seinen Ausgangspunkt im Erleben, worüber
auch seine Einbettung in einen Kausalzusammenhang nicht hinweghelfen kann.
442
Schmidhäuser, ZStW 66 (1954), S. 31.
443
Vgl. auch Hardwig: „Was für einen Naturwissenschaftler ein Kausalzusammen-
hang ist, ist es auch für den Juristen. Stellt der Naturwissenschaftler fest, daß ein Kau-
salzusammenhang nicht gegeben ist, dann kann auch der Jurist keine andere Feststellung
treffen“ (Zurechnung, S. 93); u. Kohlrausch: „Denn das Strafrecht ist eine Erfahrungs-
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 135

sieht444, entbindet nicht davon, die Bedingungen zu konkretisieren, die erforder-


lich sind, damit von einem „Können“ im rechtlichen Sinne gesprochen werden
kann.445 Die Feststellung dieser Bedingungen kann aber, will man Willkürlich-
keit weitestgehend ausschließen, nicht (ausschließlich) von der Erkenntnis des
Gerichts herrühren, sondern muss primär aus allgemein zugänglicher Erfahr-
barkeit stammen.446 Inwieweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse darüber aus
heutiger Sicht Aufschluss zu geben vermögen447, ist deshalb eine Frage der
Beweisbarkeit der Schuld.

II. Allgemeines zur Beweisbarkeit der Schuldfrage

Die in der westlichen Zivilisation verbreitete dualistische Vorstellung von


Körper und Geist ist wesentlich durch die Philosophie der Neuzeit beeinflusst.
Noch im Mittelalter hatte man dagegen eine Vorstellung der Einheit von Kör-
per und Seele, die mit der damals vorherrschenden Ventrikellehre von der
Struktur des Gehirns gut zusammenpasste.448
Mit der Unterscheidung einer immateriellen res cogitans (Geist, Seele) von
einer materiellen res extensa (Körper) durch Descartes vollzog sich ein Bruch
in der Diskussion des Leib-Seele-Verhältnisses.449 Nachdrücklich bekräftigt
wurde diese kategoriale Trennung von Leib und Seele mit der von Kant aufge-
_________________

wissenschaft, beruht also auf der Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes [...]“ (Güter-
bock-FS, S. 23).
444
Vgl. Jakobs, StrafR AT, 17/23; dazu Geisler, S. 59–62.
445
In dem „Können“ ein vollständig empiriefreies normatives Kriterium zu erblicken,
dessen Voraussetzungen ihrerseits normativ bestimmt werden, führt, wie Schünemann
zu Recht bemerkt, in einen „circulus vitiosus“: Die rein normativistische Begriffsbil-
dung könne aufgrund ihrer empirischen Inhaltsleere letztlich beliebig mit Inhalt gefüllt
werden (s. Roxin-FS, S. 16 ff.).
446
Vgl. auch Hassemer zur Strafrechtswissenschaft: „Sie muß die Freiheit bewahren,
die ihr als Wissenschaft zukommt, und sie muß zugleich der Verbindlichkeit gerecht
werden, die ihr aus ihrem Gegenstand zuwächst“ (Selbstverständnis, S. 29).
447
Insoweit gilt die von Roth formulierte Einschränkung: „Was Naturwissenschaftler
bestenfalls tun können, ist ein Gebäude von Aussagen zu errichten, das hinsichtlich der
empirischen Daten und seiner logischen Struktur für eine bestimmte Zeitspanne ein
Maximum an Konsistenz aufweist“ (Das Gehirn, S. 351).
448
Auf die Hirnventrikel wurden die seelischen Hauptvermögen Wahrnehmung und
Imagination, Denken und Vernunft sowie das Gedächtnis verteilt, wobei es jedoch nicht
um eine Lokalisation der Seele ging, die als regierendes Prinzip im Einklang mit der
göttlichen Weisung verstanden wurde und sowohl Weisheit wie Lebensprinzip umfasste.
Auf drei Hirnventrikel kam man durch Zusammenfassung der beiden Seitenventrikel.
Siehe dazu ausführlich Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S.12 ff.
449
Siehe Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S. 24.
136 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

stellten These, dass Fragen den Körper betreffend von der physiologischen
Fakultät zu beantworten seien, hingegen die Klärung des Seelenproblems allein
in den Bereich der Metaphysik gehöre. Dies begründete er damit, dass eine
lokale Eingrenzung der Seele nur durch eine räumliche Bestimmung ermöglicht
würde, die aber eine Betrachtung von außen erforderte. Die Seele selbst könne
sich jedoch nur durch innere Betrachtung wahrnehmen, „mithin sich selbst
schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum
Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich ausser sich
selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht“.450 Jedwede Diskussion über
einen „Sitz der Seele“ lehnte Kant daher ausdrücklich ab.451
Dem entspricht die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften Anfang
des 20. Jahrhunderts. Die Hirnforschung profitierte hiervon insoweit, als sie
sich nicht mit schwierigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Proble-
men auseinandersetzen musste. Die sich auf ihre disziplinäre Selbständigkeit
berufende „Gegenseite“, die Psychologie, unterstützte ihrerseits diese Tren-
nung, indem sie mit dem Aufkommen des Behaviorismus die These aufstellte,
dass mentale Vorgänge nur subjektiv erlebbar und nicht objektiv feststellbar
seien.452 In analoger Weise wurden auch in den Rechtswissenschaften lange
Zeit die Begriffe „Geist“ oder „Seele“ verwendet. Die ursprüngliche Begriffs-
trennung zwischen Körper und Geist oder Leib und Seele ist, nachdem man
sich auf den Sitz der „Erlebnisstation“ im menschlichen Gehirn verständigt
hatte, zugunsten des Begriffspaares Gehirn und Bewusstsein aufgegeben wor-
den.453
Heute ist jedoch, dem Gehirnforscher Roth zufolge, „jegliche Art von Geist-
Gehirn-Dualismus und jeder Glaube an eine Autonomie des Geistes gegenüber
dem Gehirn mit dem Wissensstand der Hirnforschung unvereinbar“.454 Dies
legt die Frage nahe, ob nicht und gegebenenfalls inwieweit auch die strafrecht-
liche Schuld von neueren Erkenntnissen interdisziplinärer Wissenschaften
betroffen sein könnte. Die überwiegend vertretene Grundannahme, dass sich für
das hinter der Schuld liegende Freiheitsproblem nichts beweisen lasse, und die
_________________
450
Kant, Nachwort, S. 86.
451
Siehe Kant, Nachwort, S. 82. Diese rigorose Stellungnahme Kants war die Folge
eines Ersuchens des Mediziners Samuel Thomas Sömmering, zu seiner Abhandlung
„Über das Organ der Seele“ die Ansicht Kants mitgeteilt zu bekommen. Sömmering
selbst hatte in dem zweiten Teil seines kurzen Bandes, der „transzendentalen Physiolo-
gie“, darzulegen versucht, dass die Flüssigkeit in den Hirnventrikeln der Sitz der Seele
sein müsse. Vgl. dazu auch Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S. 37 f.; Breitbach, S. 27 f.
452
Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 1.
453
Zu den Begriffen „Bewusstsein“ und „Seele“ vgl. die Ausführungen bei NK-
Schild, 1. Aufl., § 20, Rn. 114 f.
454
Roth, Grundlagen, S. 205; vgl. auch M. Pauen, Grundprobleme, S. 90. Kritisch
Esterbauer, Philosophia naturalis 39 (2002), S. 325 ff.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 137

Unberührtheit der Rechtsprechung vom Schulenstreit legen die Vermutung


nahe, dass die traditionelle Behandlung der Schuldfrage wohl nur dann einer
grundsätzlichen Revision unterzogen würde, wenn ihr ein empirischer, auf
überprüfbaren Beweisen beruhender neuer Zugang zu ihrem Thema eröffnet
werden könnte.

1. Objektivierbarkeit subjektiven Erlebens

Dazu wäre es erforderlich, einen experimentellen Zugang zum Willen zu be-


kommen. Nun ist das subjektive Erleben eines Entscheidungs- oder Abwä-
gungsprozesses, eines Willens, überhaupt jedes Gedankens und jeder Emotion
die persönliche Erfahrung eines Menschen und in diesem Sinne objektiv nicht
unmittelbar zugänglich. Hieraus folgt jedoch nicht, dass dieses Erleben anderen
Menschen gänzlich verschlossen wäre. So kann eine Person beispielsweise
Auskunft über ihr Erleben geben. Damit „erleben“ andere Menschen nicht das,
was die Person selbst erlebt, sie werden aber in die Lage versetzt, die Informa-
tionen über das Erleben mit ihren eigenen Erfahrungen abzugleichen oder zeit-
lich und räumlich455 einzuordnen. Informationen über das Erleben werden also
mithilfe der Sprache oder anderer Ausdrucksmöglichkeiten einem Dritten zu-
gänglich gemacht und können damit objektiviert werden. Überhaupt ist jegli-
cher Ausdruck, wie der Begriff bereits impliziert, ein Austreten aus der rein
subjektiv erfahrbaren Erlebniswelt. Gibt eine Person mithin widersprüchliche
Informationen über ihr Erleben, ist dieser Widerspruch objektiv nachweisbar,
wenn auch nicht das tatsächliche Erleben selbst. Da mit dem Begriff der Wil-
lensbetätigung die Beziehung zwischen Erleben und Verhalten ausgedrückt
werden soll und das Verhalten selber als Ausdrucksmöglichkeit immer Be-
standteil der Umwelt des Menschen ist, geht die erlebte Willensbetätigung
immer notwendig mit objektiven Umweltwirkungen einher. Im Unterschied
hierzu gibt es keine natürlichen Ausdrucksweisen der Willensbildung als sol-
cher. Deshalb wird das Verhalten auch als Ausdruck der Willensbildung456
angesehen, was freilich das Problem mangelnder empirischer Beglaubigung
dieser äußeren „Willens“-betätigung aufwirft.457
Die Beziehung zwischen Wille und Verhalten wird mithin zunächst nur emp-
funden und ist damit, ebenso wie die Willensfreiheit, lediglich subjektiv erfahr-
_________________
455
Zum Raum- und Zeitverständnis des Juristen vgl. Engisch, Weltbild, S. 44 ff.,
67 ff.: „Was ,nacheinander‘, ,vor und nach‘, ,früher und später‘ heißt, ist nun wieder
jedermann unmittelbar vertraut, das Recht knüpft also insoweit an die natürliche Auffas-
sung an“ (S. 91).
456
Vgl. Tiemeyer: „Wille oder als Handeln realisiertes Wollen“ (ZStW 105 [1993],
S. 491).
457
Dazu auch Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486.
138 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

bar. Empirische Ergebnisse über das Freiheitsempfinden selbst sind daher


grundsätzlich nicht direkt zu gewinnen. Indem aber zum einen die Vorausset-
zungen für den Begriff der Freiheit objektiv definiert werden und man anderer-
seits Informationen von der betreffenden Person über ihr Freiheitserleben erhal-
ten kann, werden jedenfalls die Voraussetzungen des Freiheitsbegriffs sowie
immerhin die intersubjektive Mitteilung eines spezifischen Gefühls von Ent-
schlussfreiheit und dessen zeitliche Beziehung zum Willensakt, wenn auch
nicht das Empfinden der Freiheit selber, zu einem Bestandteil der erfahrbaren
Wirklichkeit458 anderer und damit in diesem Sinne zugänglich gemacht. Es
wird also auch hier von der Grundannahme ausgegangen, dass die Welt des
exakten Beweises ausschließlich die empirische Wirklichkeit ist.459 In diese
kann die subjektive Erlebniswelt immer nur mittelbar über die Mittel des Aus-
drucks integriert werden. Soweit möglich, ist es deshalb erforderlich, diese
Aussagen durch objektive Tatsachen zu untermauern. Nachdem bereits erörtert
wurde, dass jedenfalls alles, was die Unrechts- und Schuldfeststellung betrifft
und empirisch zugänglich ist, auch unter empirischen Maßstäben im Strafpro-
zess Beachtung finden muss, stellt sich als nächstes die Frage, welche allge-
meinen Maßstäbe hinsichtlich der Feststellung des Erlebens oder der Innenper-
spektive gelten.

2. Erlebnisirrtümer

Für die Umwelt können Widersprüche der Erlebniswelt einer Person zur äu-
ßeren Wirklichkeit erkennbar werden; andererseits kann das subjektive Erleben
selber von der Umwelt nicht identisch geteilt werden. Das wirft die Frage auf,
ob es so etwas wie Irrtümer im Erleben geben kann. So kommt es vor, dass
Menschen ihre Umwelt in einem aus strafrechtlicher Sicht für sie günstigen
Sinne anders erleben, als sie sich für andere Menschen darstellt. Möchte man
beispielsweise ein Tier erschießen und trifft stattdessen einen Menschen, dann
sehen andere die Tötung eines Menschen, während man selbst in diesem Au-
_________________
458
Hier freilich nicht im Sinne absoluter Wirklichkeit oder Realität „an sich“ ge-
meint; vgl. zu dieser Differenzierung Tiemeyer: „die hinter der erkannten Wirklichkeit
liegende andersartige Wirklichkeit“ (ZStW 105 [1993], S. 504), sowie Otto: „Das, was
wir für die objektiv vorgegebene Wirklichkeit halten, kann eine solipsistisch konstruier-
te Traumwelt von Erscheinungen sein. Und die anderen, mit denen wir uns intersubjek-
tiv das Welterlebnis teilen, mögen Gestalten unserer irrationalen Vorstellung sein, die
mit der Realität nichts gemein haben“ (GA 1981, S. 488); und Gössel, Irrtum, S. 8. Die
später folgenden Ausführungen zu „objektiven“ Erkenntnissen beziehen sich daher nicht
auf eine außerhalb der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten liegende Realität oder
Wirklichkeit, sondern nur auf den Bereich des Erfahrbaren. Vgl. dazu auch K. Günther,
Zuschreibung, S. 319 ff., 347, sowie Lüderssen, Gebotene Zuschreibung?, S. 314 ff.
459
Siehe auch Rickert, S. 197 u. 211.
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 139

genblick nur die Tötung eines Tieres sieht, was zu milderen strafrechtlichen
Konsequenzen führt, als wenn man selbst ebenfalls den Menschen gesehen
hätte.460 Das Gesetz kennt für diese Fälle den sogenannten Tatumstandsirrtum
gemäß § 16 Abs. 1 StGB. Es wird hier bei der Feststellung des objektiven Tat-
bestands auf das tatsächliche Geschehen abgestellt. Ähnlich verhält es sich im
Falle der Putativnotwehr, wenn sich der Beschuldigte durch einen vermeint-
lichen Angriff bedroht fühlt. Auch bei einem solchen Sachverhalt kommt § 16
Abs. 1 StGB entsprechend zur Anwendung461, weil es für die Rechtfertigungs-
umstände objektiv gerade nicht entscheidend ist, ob sich der Beschuldigte be-
droht fühlte, sondern ob ein Angriff tatsächlich stattgefunden hat. Stehen sich
also Innen- und Außenwelt in dem Sinne gegenüber, dass das Erleben zwar
subjektiv „richtig“ ist, aber mit dem objektiven Erscheinungsbild nicht überein-
stimmt, wird sich der Strafjurist hinsichtlich der Tat- bzw. Rechtfertigungsum-
stände immer an dem objektiven Erscheinungsbild orientieren.462 Das Straf-
recht spricht also immer dann von einem „Irrtum“, wenn objektive Kriterien
dem geäußerten Erleben widersprechen.463
Diese Grundsätze können auch auf die Schuldfrage übertragen werden. Wäre
hier die subjektive Erlebniswelt für die richterliche Prüfung entscheidend,
könnte dies in Bezug auf die Schuldfeststellung zwei Konsequenzen haben. Im
ersten Fall wäre ein Täter trotz entgegenstehender objektiver Anhaltspunkte zu
verurteilen, nur weil er sich schuldig fühlte464, im zweiten Fall, wenn die objek-
tiven Anhaltspunkte für die Schuld des Täter sprechen, könnte er nur verurteilt
werden, wenn er sich auch tatsächlich schuldig fühlte. Dass die erste Konse-
quenz nicht Bestand haben kann, bedarf nach den Ausführungen zum Rege-
_________________
460
Das gilt sowohl für den Fall des error in obiecto als auch für die sog. aberratio ic-
tus.
461
Dies bzw. die genauere dogmatische Konstruktion ist freilich umstritten; zum
Stand der Diskussion s. Roxin, StrafR AT/1, § 14, Rn. 52 ff.
462
Gleiches gilt im Übrigen für die Bewertung einer Aussage als „wahr“ oder
„falsch“ im Rahmen der Aussagedelikte des StGB. Zwar geht eine Minderheitsmeinung
davon aus, dies richte sich nach dem, was der Aussagende für wahr oder falsch hält (vgl.
die Nachweise bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem §§ 153 ff., Rn. 5). Richtig ist aber auch
hier, mit dem herrschenden Meinung danach zu bewerten, was objektiv wahr bzw.
falsch ist und eine mangelnde Kenntnis des Aussagenden von den tatsächlichen Um-
ständen bei der subjektiven Tatseite zu berücksichtigen (vgl. die Nachweise bei
Sch/Sch-Lenckner, ebd.). Nur so lassen sich nämlich die §§ 160, 163 sinnvoll verstehen.
463
Vgl. auch den Beispielsfall eines „erklärbaren Irrtums“ bei Mezger, Über Willens-
freiheit, S. 5.
464
Dass auch das Strafgesetzbuch bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht die
Innenperspektive des Täters zugrunde legt, wird bereits daran deutlich, dass sich Geis-
teskranke und Kinder durchaus als frei und selbstbestimmt erleben können und dennoch
im rechtlichen Sinne nicht schuldhaft handeln können. Auf diese Problematik des Frei-
heitsgefühls macht auch Bauer aufmerksam (s. Verbrechen, S. 18).
140 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

lungsbereich des Strafrechts keiner weiteren Erläuterung. Die zweite Konse-


quenz würde dagegen den Anwendungsbereich der §§ 20, 21 StGB erheblich
erweitern. In diesen Paragrafen wird vorausgesetzt, dass der Täter grundsätzlich
Unrechtsbewusstsein hat. Trägt er etwa vor, zum Zeitpunkt der Tat eine Un-
rechtseinsicht nicht gehabt zu haben, so genügt seine Aussage allein nicht, um
ihn zu exkulpieren. Hinzukommen müssen objektive Tatsachen, die gegen das
Vorliegen einer Unrechtseinsicht sprechen. Der Gesetzgeber ist zur Anordnung
dieser Vorgehensweise schon deshalb genötigt, weil der Richter das Erleben
des Täters selbst nicht überprüfen kann.465 Entscheidend ist, dass auch hier das
(verbalisierte) subjektive Erleben zurücktritt, wenn objektive Tatsachen gegen
das Vorbringen des Täters sprechen, ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt zu
haben.

III. Fazit und Überleitung

Die nach Schopenhauer nur subjektiv erlebte Handlungsfreiheit erscheint im


Regelungsbereich des Strafrechts als Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wille
und Verhalten, das der richterlichen Beurteilung unterliegt. Sowohl die Schuld-
lehren als auch der Wortlaut des § 20 StGB beziehen sich auf diesen Zusam-
menhang. Will man hier eine „gerechte“ Grenze ziehen zwischen Tätern, die
schuldhaft, und solchen, die schuldlos handeln, dann muss das an konkret fest-
stellbare Sachverhalte geknüpfte Differenzierungskriterium zwischen Schuld
und Nichtschuld den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 2 GG genügen.
Die Innenperspektive des Täters hat sich hierfür als nicht tauglich erwiesen.
Im Strafprozess tritt diese Sicht auch in objektivierter Form immer hinter ob-
jektiven Erkenntnissen zurück. Auf der anderen Seite eröffnet die Objektivie-
_________________
465
Daneben gibt es, soweit man konsequent auf dem individuellen Erleben aufbaut,
natürlich die Möglichkeit, dass viele Menschen auch bei rechtswidrigem Tun kein ent-
sprechendes Erleben aufweisen. So auch Kelsen: „Reue und Gewissensbisse als seeli-
sche Folgen eines begangenen Unrechts empfinden keineswegs alle Menschen. Vor
allem aber halten viele gar nicht für Unrecht, was nach irgendeiner Moral- oder irgend-
einer Rechtsordnung, unter der sie leben, als Unrecht gilt [...]“ (Rechtslehre, S. 99). Es
ist daher fraglich, ob die „Goldene Regel“ des Kategorischen Imperativs, wie dies Grif-
fel formuliert, auch für „den anlagemäßig zu Rechtswidrigkeit Neigenden“ selbstver-
ständlich ist (s. Griffel, ARSP 84 [1998], S. 517). (Die Annahme, im Kategorischen
Imperativ Kantischer Provenienz stecke (auch) die „Goldene Regel“, ist im Übrigen
unzutreffend; vielmehr unterscheiden sich beide Imperative in ihrer normativen Logik
deutlich: Die „goldene Regel“ macht das Empfinden des individuellen Handelnden, der
Kategorische Imperativ dagegen die Übereinstimmung seiner Handlungsmaxime mit der
Vernunft aller denkbaren vernünftigen Wesen zum Maßstab der gebotenen Universali-
sierung der konkreten Handlungsmaxime.)
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik 141

rung der Innenperspektive durch Sprache oder andere Zeichen jedoch einen
Zugang zum Willen, indem dieser jedenfalls zeitlich in Bezug zum damit ver-
knüpften Verhalten eingeordnet werden kann. So kann der Beschuldigte bei-
spielsweise angeben, wann er nach seinem Erleben den Entschluss zur Tatbe-
gehung gefasst hat. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich aus der Neu-
rowissenschaft als einer Strukturwissenschaft, die sich auch mit den Zusam-
menhängen zwischen geistigen und hirnorganischen Phänomenen beschäftigt,
Erkenntnisse hierzu gewinnen und strafrechtlich verwerten lassen.
Obwohl es insoweit um die Untersuchung eines empirischen Zusammenhan-
ges geht, ist schon wegen der Unklarheit und Mehrdeutigkeit des Kausalitäts-
begriffs466 jedoch kein Ergebnis im Sinne der klassischen Determinismus-/
Indeterminismusdiskussion zu erwarten. Bereits die Differenzierungen bei
Schopenhauer zwischen einer Innen- und Außenperspektive einerseits und
einem prospektiven beziehungsweise retrospektiven Betrachterstandpunkt
andererseits verdeutlichen dies.467 Für einen differenzierten Umgang mit der
Frage der Kausalität sprechen daneben die Erkenntnisse aus der Mikrophy-
sik.468
Hingegen sind empirische Erkenntnisse über den deskriptiven Gehalt dessen,
was man objektiv als Willensbetätigung bezeichnet, sehr wohl geeignet, die
strafprozessualen Feststellungen unmittelbar zu beeinflussen. Um die empiri-
schen Voraussetzungen in den Blick zu bekommen, soll die Willensbetätigung
zunächst als Teil der dogmatischen Schuldzurechnungskriterien untersucht
werden. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, ob und
inwieweit sie als sachliches Differenzierungskriterium bei der Feststellung von
strafbarem Verhalten verwendet wird. Die Krankheitsbilder, auf die die §§ 20,
21 StGB abstellen469, sind Voraussetzungen für die Schuldunfähigkeit, also
gerade für das Nichtbestehen von Schuld. Hier soll aber die Willensbetätigung,
wie sie positiv in Erscheinung tritt, untersucht werden, also die empirischen
Bedingungen, mit denen nach der Vorstellung des Gesetzgebers der „normale“
Mensch offenkundig ausgestattet sein soll, um nach seiner Unrechtseinsicht
handeln zu können. Beginnen soll die Untersuchung mit dem Handlungsbegriff,
dessen Nähe zum Begriff der Willensbetätigung bereits erwähnt wurde.470 Dar-
an anschließend soll herausgearbeitet werden, welche ontologischen Grundan-
nahmen bei der Frage der Vermeidbarkeit eine Rolle spielen, und schließlich
sollen Probleme der subjektiven Tatseite im Hinblick auf das menschliche
Handeln geklärt werden.
_________________
466
Dazu oben, S. 36 ff.
467
Vgl. oben, S. 27 ff.
468
Wie Fn. 466.
469
Siehe oben, Kap. 1, Fn. 1.
470
Siehe oben, S. 33.
142 Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld

Dem ist im dritten Teil der Arbeit eine naturwissenschaftliche Sicht auf die
Willensbetätigung, so wie sie im Strafprozess erscheint, gegenüberzustellen.
Schließlich sollen im vierten und abschließenden Teil aus dieser Gegenüber-
stellung mögliche Konsequenzen für die strafrechtliche Dogmatik und das
Schuldverständnis aufgezeigt werden.
Teil 2

Automatisiertes Verhalten und Schuld

Kapitel 1
Die Handlung

I. Die Handlungsqualität in der Systematik der Nichthandlungen

Der Systematik des Strafrechts und den Kommentierungen zum StGB lässt
sich entnehmen, dass Unrecht und Schuld nicht beziehungslos nebeneinander
stehen. Zwar gibt es Unrecht ohne Schuld (zum Beispiel die Tat eines Geistes-
kranken), nicht aber umgekehrt strafrechtliche Schuld ohne kriminelles Un-
recht; vielmehr setzt erstere das letztere immer voraus.1 Ungeklärt ist dabei die
Einordnung des Handlungsbegriffs und damit zusammenhängend die Frage, ob
diesem überhaupt eine selbständige Funktion zukommt. So kann der Hand-
lungsbegriff den „Oberbegriff“ oder „Grundbegriff“ der Deliktsprüfung bil-
den.2 Unrecht und Schuld bilden dann ihrerseits Unterbegriffe oder Attribute
des Begriffs der „Handlung“, so dass von einer „tatbestandsmäßigen, rechts-
widrigen und schuldhaften Handlung“3 gesprochen wird. Setzt man den Hand-
lungsbegriff an den Anfang einer viergliedrigen Deliktsprüfung, so erfordert
dies für ihn eine gewisse Neutralität gegenüber den nachfolgenden Feststellun-
gen.4 Die Elemente des Handlungsbegriffs können aber in der Unrechts- und
Schuldprüfung auch vollkommen aufgehen, womit das Erfordernis für einen
selbständigen Handlungsbegriff entfiele.5 Lenckner zufolge entbindet dies
_________________
1
Siehe. Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 20.
2
Auch als „Grundfunktion“ oder „Grundelement“ bezeichnet. Vgl. hierzu Engisch,
Weltbild, S. 36; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 25 ff.; Roxin, StrafR AT/1, § 8,
Rn. 1; Krauss, Bruns-FS, S. 15; NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 31.
3
LK-Jescheck, Einl., Rn. 21; vgl. auch Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 335.
4
Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 3; Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 91. Vgl.
auch Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 219; Mezger, Rittler-FS, S. 120.
5
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37 m. w. N. Vgl. auch Freund,
StrafR AT, § 1, Rn. 60; Lampe, ZStW 79 (1967), S. 489; Brammsen, JZ 1989, S. 75;
NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 40; Maiwald, ZStW 86 (1974), S. 626 ff.; Herzberg, GA
1996, S. 9.
144 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

indes nicht davon, die differenzierenden Kriterien zu spezifizieren, die eine


Aussonderung der Nichthandlungen ermöglichten.6
Dies führt zu der nächsten Problemstellung, ob es sich um einen positiv de-
finierten Handlungsbegriff handeln muss, wie ihn beispielsweise Jescheck
fordert7, oder ob eine hinreichend klare negative Abgrenzung zu Verhaltens-
weisen, die grundsätzlich keine Handlungen darstellen sollen, ausreichend ist.8
Aber auch diese sogenannte Abgrenzungs- oder Ausscheidungsfunktion der
Bestimmung von Bewegungen ohne Handlungsqualität erfordert nach der Leh-
re ihrer Befürworter eine Systematik, denn: „Positiv gesprochen muß der Hand-
lungsbegriff sicherstellen, daß ein tauglicher Gegenstand strafrechtlicher Be-
wertung vorhanden ist.“9 Auch Mezger ist der Ansicht, Handlungsausschlie-
ßungsgründe im eigentlichen Sinne des Wortes gebe es nicht, denn was man
darunter verstehen könnte, sei in Wahrheit das Fehlen von Merkmalen, die den
Begriff der Handlung bedingen.10
Der Rechtsprechung sei hingegen, so wird gesagt, die Diskussion um den
Handlungsbegriff immer fremd geblieben, weil es für die Praxis allein darauf
ankomme, in Grenzsituationen zu wissen, was keine Handlung ist.11 So hat sich
auch in der Lehre, unabhängig vom Streit um den Handlungsbegriff, eine recht
einhellige Verständigung darüber herausgebildet, welche Bewegungen keine
Handlungsqualität besitzen sollen. Aber auch diese Systematik muss für die
Allgemeinheit prinzipiell nachvollziehbar sein, um „dem Grundgedanken der
Vorausberechenbarkeit des Rechts“12 zu genügen. Da es hier allein darum geht,
herauszufinden, welche Vorentscheidungen beim Thema „Handlung“ für die
Schuldfrage getroffen werden, kommt es im Folgenden nicht darauf an, an
welcher Stelle im Deliktsaufbau die Differenzierungsmerkmale konkretisiert
werden. Gleichwohl sollen, wie oben bei den Schuldlehren, die Schwierigkei-
ten einiger Handlungslehren exemplarisch in den Blick genommen werden.
Nichthandlungen untergliedern sich nach Lenckner in vier Gruppen: Erstens
Bewegungen, die durch vis absoluta ausgelöst werden, zweitens Körperbewe-
_________________
6
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37; vgl. auch Roxin, StrafR AT/1,
§ 8, Rn. 43; vgl. zum Handlungsbegriff als „Grenzbegriff“ oder „Grenzelement“ auch
Armin Kaufmann, Funktion, S. 27 f.
7
Siehe LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25.
8
Vgl. Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37.
9
Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 3; so auch Jescheck: die negative Funktion des Hand-
lungsbegriffs setze voraus, dass man wisse, was positiv unter einer Handlung zu verste-
hen sei (s. LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25). Vgl. dazu auch Sch/Sch-Lenckner, Vorbem.
§§ 13 ff., Rn. 37.
10
Siehe LK-Mezger, 8. Aufl., Bem. 7 vor § 51.
11
Siehe LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25.
12
Sch/Sch-Eser, § 1, Rn. 24.
Kapitel 1: Die Handlung 145

gungen im Zustand der Bewusstlosigkeit, in dem Sinne, dass „der geistige


Steuerapparat völlig ausgeschaltet“13 ist, drittens Reflexbewegungen und vier-
tens automatisierte Verhaltensweisen, wozu die Schreckreaktionen im Straßen-
verkehr zählen.14 Die vierte Gruppe soll zunächst zurückgestellt werden, da ihre
Handlungsqualität umstritten ist; sie soll erst im Anschluss auf der Grundlage
der zuvor gewonnen Erkenntnisse selbständig behandelt werden.
Grundsätzlich wird man dabei sagen können, dass nur solche Verhaltenswei-
sen sogenannte „Nichthandlungen“ sein können, die die Rechtsordnung nicht
unerträglich belasten, denn Nichthandlungen sind straflos und unterliegen auch
nicht dem Maßnahmerecht.15 Anhand der menschlichen Bewegungen, die heut-
zutage unstreitig nicht als Handlungen anzusehen sind, soll nun zunächst der
Versuch gemacht werden, herauszufiltern, welches die Kriterien für die An-
nahme einer Handlung sind.

1. Vis absoluta und Reflexe

Der juristische Begriff der „vis absoluta“ wird als unwiderstehliche Gewalt
definiert.16 Sie liegt vor, wenn eine Bewegung durch mechanisch wirkende
Gewalt von außen ausgelöst oder unterdrückt wird. Zu unterscheiden ist sie von
der sogenannten „vis compulsiva“, bei der gleichfalls von außen Zwang auf
einen Menschen einwirkt, dieser aber jedenfalls physisch, wenn auch nicht
unbedingt psychisch, die Möglichkeit besitzt, dem Zwang entgegenzuwirken.
Als erstes Merkmal einer strafrechtlich relevanten Handlung lässt sich also
festhalten, dass das Verhalten nicht von außen (unwiderstehlich) aufgezwungen
sein darf.
Die Grenzen der Gruppe der „Reflexbewegungen“ sind etwas schwerer zu
bestimmen. Die Schwierigkeit bei der Zuordnung von Sachverhalten hängt mit
der juristischen Definition des Reflexbegriffs zusammen; dessen Stellung im
breiten Spektrum der Deutung vom umgangssprachlichen Gebrauch bis zum
medizinischen Fachbegriff, die ihrerseits bestimmungsbedürftig sind, ist unklar.
So verstand Mezger die Reflexbewegungen in den fünfziger Jahren als „Kör-
perbewegungen, bei denen es an einer Erregung motorischer Nerven durch
seelischen Einfluß mangelt, bei denen vielmehr ein körperlich-physiologischer
Reiz sich unmittelbar ohne Mitwirkung des Bewußtseins in eine Bewegung
_________________
13
Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39; vgl. auch Haft, StrafR AT, S. 28.
14
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37–41/42 m. w. N.
15
Strafbar könnte natürlich ein vorangegangenes pflichtwidriges Verhalten sein, da-
zu im Folgenden sowie unten, S. 188 f. u. 228 ff.
16
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 38, sowie Kühl, StrafR AT, § 2,
Rn. 5.
146 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

umsetzt“.17 Die Probleme einer solchen Definition lassen sich wiederum an-
hand von Fallbeispielen aus der Rechtsprechung veranschaulichen.
Das Landgericht Hamburg nahm ein „reflexartiges, nicht mehr bewußtes
Tun“ im Falle eines Angeklagten an, der bei einer Kostümanprobe in die un-
freiwillig entblöste Brust der Zeugin gebissen hatte.18 Diese Entscheidung wur-
de unter Bezugnahme auf die Definition Mezgers durch das Oberlandesgericht
Hamburg aufgehoben.19 Im Anschluss an diese Urteilsbegründung des Ober-
landesgerichts Hamburg verneinte dann das Amtsgericht Castrop-Rauxel20 im
Jahre 1965 (im Folgenden „LKW-Fall“ genannt) eine Handlung, weil der psy-
chologische Sachverständige für das unfallverursachende Ausweichmanöver
eines Autofahrers zu dem Ergebnis kam, dass das überraschende Auftauchen
eines Lastkraftwagens sich unmittelbar in der sehr einfachen Handlung einer
Rechtskorrektur am Lenkrad niedergeschlagen haben könnte, so dass der An-
geklagte möglicherweise nicht in der Lage gewesen sei, durch kritische Überle-
gungen sein Verhalten vom Willen her zu steuern. Die Handlungsqualität wur-
de vom Amtsgericht Castrop-Rauxel dementsprechend verneint, „weil ein äu-
ßerer Reiz schon eine Reaktion ausgelöst und die Körperbewegung vollzogen
hat, bevor der erheblich langsamer arbeitende Wille tätig werden konnte“. In
einem solchen Fall könne die Steuerung des menschlichen Verhaltens aber dem
bewussten Willen nicht unterliegen.21 Zu dieser Annahme musste es kommen,
weil die Reflexbewegungen bis zu diesem Zeitpunkt, wie das Gericht selbst
formuliert, „einer genaueren Untersuchung und Präzisierung noch nicht unter-
zogen“22 waren.23
Die Definition Mezgers ermöglichte also unterschiedliche Akzentuierungen.
Einmal lag der Schwerpunkt auf dem Ausschluss des seelischen Einflusses,
Bewusstseins oder Willens, also der Abwesenheit geistig-seelischer Einwir-
kungen, dann lag er auf der motorisch-sensorischen Reizübertragung und damit
auf dem Vorhandensein rein physiologischer Vorgänge. Zwar lässt sich bei den
_________________
17
LK-Mezger, 8. Aufl., Vor § 51, Rn. 7a.
18
Siehe die Ausführungen des OLG Hamburg JR 1950, 408 f.
19
Siehe OLG Hamburg, ebd., sowie ausführlich zu diesen Fällen Schewe, Reflexbe-
wegung, S. 31–40.
20
AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330 f.
21
Siehe AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330, 331; so auch Luff, Der öffentliche Ge-
sundheitsdienst 1957, S. 157.
22
AG Castrop-Rauxel, ebd.
23
Ohne Differenzierung zwischen Reflexen und Automatismen auch v. Weber, der
auf der anderen Seite aber bereits zwischen Eigen- und Fremdreflexen (nämlich Refle-
xen, die einen Effekt im selben Organ hervorrufen, in dem ein Reiz ausgelöst wird, und
solchen, die den Effekt an anderen als den reizauslösenden Organen hervorrufen) unter-
scheidet (s. Engisch-FS, S. 332 ff.). Vgl. zu den Begriffsschwierigkeiten auch das Fall-
beispiel bei Schewe, Wille, S. 4.
Kapitel 1: Die Handlung 147

Reflexbewegungen heute in der Literatur überwiegend eine stärkere Profilie-


rung der physiologischen Abläufe ausmachen; der Bezug zum geistig-
seelischen Bereich lässt sich aber zumeist noch mehr oder weniger deutlich
entweder in der Definition der Reflexe selbst oder bei den allgemeinen Krite-
rien einer Nichthandlung erkennen.24
Abgrenzungsschwierigkeiten gibt es nach wie vor, wie die folgende Ent-
scheidung veranschaulicht. Im Jahre 1984 lag dem Bundesgerichtshof der Fall
eines angeklagten Kriminalhauptmeisters vor, der bei einer körperlichen Aus-
einandersetzung seinen Angreifer mit seiner Dienstwaffe erschoss, die er in der
Hand gehalten hatte, um ihre Entwendung durch den Angreifer zu verhindern.
Als es bei der Auseinandersetzung zu einem überraschenden Angriff mit unmit-
telbarer körperlicher Nähe kam, betätigte der Angeklagte „unbeabsichtigt und
ungewollt“ den Abzugshahn.25 Dem Bundesgerichtshof erschien eine Interpre-
tation dieser Verhaltensweise als Reflexhandlung und damit als Nichthandlung
durch die Strafkammer widersprüchlich. Unter Berufung auf Jescheck führt er
aus: „Ein Körperreflex, bei dem eine Bewegung ,unmittelbar durch einen von
außen kommenden, das Nervensystem treffenden Reiz ausgelöst wird‘ [...] ist
keine Handlung im strafrechtlichen Sinne. Als solche ist dagegen die automati-
sierte Verhaltensweise anzusehen, bei der ,die Reaktionen infolge der langen
Gewöhnung und Übung durch äußere Reize unmittelbar und weitgehend unbe-
wußt ausgelöst‘ [...] werden.“26 In der Tendenz nähert sich der Reflexbegriff
damit einer medizinisch-physiologischen Deutung an; erlernte Bewegungen
soll er dagegen nicht umfassen. Hieraus kann zunächst gefolgert werden, dass
der Sachverhalt, der dem „LKW-Fall“ des Amtsgerichts Castrop-Rauxel vor-
lag, nach heutigem Verständnis keine Reflexhandlung darstellt.
Aufgrund der Variabilität der Reizantworten und der Möglichkeit einer Ha-
bituation bei den sogenannten „Fremdreflexen“27 kann jedoch auch bei einem
somatischen Reflexbegriff die Handlungsqualität im Einzelfall schwierig zu
bestimmen sein.28 Stennert hat bereits Mitte der siebziger Jahre die Unterschie-
_________________
24
Vgl. LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 36 f.; KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 5;
Gropp, StrafR AT, S. 111, Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen, StrafR AT, § 6, Rn. 7; Kühl,
StrafR AT, § 2, Rn. 7; Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 67. Anders Maurach/Zipf, die nur
auf das fehlende Willenselement abstellen (s. StrafR AT, § 16 I, Rn. 16 f.).
25
Siehe BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 4 (unveröffentlicht).
26
BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 6 (unveröffentlicht).
27
Zurückzuführen ist sie auf die sog. polysynaptische Übertragung, d. h. die Über-
tragung verläuft über mehr als zwei Synapsen bzw. drei Neurone (s. Schmidt/Thews/
Lang-Wiesendanger, S. 101). Schewe lehnt deshalb die Ableitung einer Differenzierung
von Handlung und Nichthandlung allein aus der Natur der biologischen Vorgänge selbst
ab (s. Schewe, Reflexbewegung, S. 67; ders., Wille, S. 5). Zu den Reflexarten s. oben,
Fn. 23.
28
Kritisch auch Jakobs, StrafR AT, 6/36.
148 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

de in den Reflexarten dargestellt. Er machte auch darauf aufmerksam, dass die


Reizantwort aus dem Rückenmark, aus dem Thalamus, aber auch aus dem
Kortex kommen könne.29 Wenn Lenckner Reflexe heute so definiert, dass sie
sich „organisch durch unmittelbare Überleitung eines von außen kommenden
Reizes von den sensorischen auf die motorischen Nerven vollziehen,“30 dann
dürfte das Kriterium der Unmittelbarkeit die möglichen Reizantworten auf
solche beschränken, die direkt über das Rückenmark erfolgen und Antworten
unter Mitwirkung des Kortex oder Thalamus ausschließen. Sicher ist dies je-
doch nicht. Vor allem aber bliebe unklar, welche Kriterien zu dieser Unter-
scheidung Anlass geben. Die Mitwirkung des Bewusstseins oder des Willens
als Abgrenzungskriterium ist, wie der LKW-Fall zeigt, nicht unproblematisch.
Für den Handlungsbegriff des Strafrechts bleibt festzuhalten, dass neben Ver-
haltensweisen, die unwiderstehlich von außen gesteuert werden, auch solche
Bewegungen als strafrechtlich nicht relevant betrachtet werden, deren interne
Steuerung sich darauf beschränkt, einen von außen kommenden Reiz unmittel-
bar und ohne jede „geistige Mitwirkung“ umzusetzen.

2. Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit

Bei Nichthandlungen der Gruppe 2 nach dem eingangs (sub I.) dargestellten
Klassifizierungsschema von Lenckner fehlt es dagegen überhaupt am Bewusst-
sein. Das Bewusstsein ist hier deshalb nicht Auslöser der Bewegung, weil es
durch Schlaf, Ohnmacht, Narkose und dergleichen31 „ausgeschaltet“32 ist. Die
Bewegung des Bewusstlosen soll damit nicht der „geistigen Steuerung“ unter-
liegen.33 Nun sollte die Zuordnung zu dieser Gruppe der Nichthandlungen an
sich keine Schwierigkeiten aufwerfen, gleichwohl treten in der Praxis Unklar-
heiten auf. Zur Veranschaulichung bietet sich ein erneuter Blick auf die Ent-
scheidung des Bundesgerichtshofs im bereits dargestellten „Epileptiker-Fall“34
und auf die voran gegangene Entscheidung des Landgerichts Stuttgart an, sowie
eine Betrachtung der Urteilsgründe des Oberlandesgerichts Schleswig in einer
von der Sache her ähnlichen Entscheidung aus dem Jahre 1983.

_________________
29
Siehe Stennert, S. 31.
30
Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 40, sowie Nau, S. 17. Vgl. auch Ja-
kobs, StrafR AT, 6/36.
31
Siehe dazu die Beispiele bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39.
32
Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 6; vgl. auch LK-Jähnke, § 20, Rn. 1.
33
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39; ebenso Kühl, StrafR AT, § 2,
Rn. 6, sowie BGH VRS 56, 447, 448; OLG Schleswig VRS 64, 429, 430; OLG Hamm
NJW 1975, 657 und OLG Celle GA 56, 360.
34
Vgl. oben, S. 102.
Kapitel 1: Die Handlung 149

Nach den Feststellungen des Landgerichts Stuttgart war der Angeklagte


während des epileptischen Anfalls nicht ansprechbar. Dennoch konnte er eine
dem tatsächlichen Verlauf weitgehend entsprechende Schilderung des Unfall-
hergangs abgeben.35 Der Sachverständige erklärte das Erinnerungsvermögen
des Angeklagten damit, dass bei einem Dämmerzustand das Bewusstsein nicht
aufgehoben, sondern nur gestört und eingeschränkt sei. Deshalb sei auch
durchaus denkbar, dass sich der Angeklagte an Teile des Unfallhergangs erin-
nerte.36 Der Angeklagte hatte also das Geschehen bewusst wahrgenommen und
war dennoch nicht in der Lage gewesen, seine Bewegungen so zu kontrollieren,
wie er es ohne den Anfall gekonnt hätte. Es wäre hier übereilt, mit dem Bun-
desgerichtshof die Handlungsqualität mangels willentlicher Steuerung oder
Beherrschbarkeit des Verhaltens ohne weitere Überlegungen zu verneinen.37
Die folgende Entscheidung mag verdeutlichen warum.
Das Oberlandesgericht Schleswig hatte einen ähnlich gelagerten Fall zu be-
urteilen und setzte sich bei der Frage der Verantwortlichkeit eines Epileptikers
ausführlich mit der rechtlichen Ausgangslage auseinander. Der Angeklagte
hatte während einer Autofahrt einen epileptischen Anfall erlitten und war da-
durch auf einen vor ihm fahrenden Personenkraftwagen aufgefahren; anschlie-
ßend hatte er weitere sechs Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, konnte sich
an den Unfallhergang jedoch nicht erinnern. Das Oberlandesgericht zog zur
Beurteilung des Sachverhalts aus Literatur und Rechtsprechung folgende Über-
legungen heran: „Rein physiologische Vorgänge des sensitiv-somatischen Be-
reichs, die ohne Mitwirkung der Geisteskräfte des Menschen ablaufen und
damit der Beherrschbarkeit durch den Willen entzogen sind, scheiden als Hand-
lungen aus [...]. Alle Körperbewegungen, die so belanglos sind wie außer-
menschliche Kausalprozesse und bei denen jegliche weitere Untersuchung, die
über die bloße Feststellung der Verursachung einer Rechtsgutsverletzung hin-
ausgehen, sinnlos wäre, kommen als Handlungen im strafrechtlichen Sinne
nicht in Betracht [...]. Andererseits unterliegen alle Handlungen, die unterbe-
wußt, mit natürlichem Willen gesteuert werden [...] der strafrechtlichen Wer-
tung. [...] Bei dieser rechtlichen Ausgangslage kommt im Hinblick auf den
nicht auszuschließenden epileptischen Anfall sowohl eine strafrechtlich rele-
vante Handlung als auch eine Nichthandlung in Betracht.“38 „Wenn der Be-
_________________
35
Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 37 (unveröffentlicht).
36
Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 37 f. de Boor erklärt den Däm-
merzustand als schwieriges psychopathologisches Phänomen das charakterisiert sei
durch das veränderte Bewusstsein ohne auffälliges Hervortreten von Bewusstseinsein-
trübung, Benommenheit oder Inkohärenz (s. de Boor, S. 28 und Fn. 119 unter Berufung
auf K. Jaspers).
37
Siehe BGH NJW 1995, 795; zustimmend Foerster/Winckler, NStZ 1995, S. 345,
u. Freund, StrafR AT, § 1, Fn. 73.
38
OLG Schleswig VRS 64, 429, 430.
150 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

schuldigte in bewußtlosem Zustand auf den vor ihm fahrenden PKW aufgefah-
ren ist, dann wird das als Nichthandlung zu werten sein.“39 Es schien dem Senat
jedoch ausgeschlossen, „daß ein Kraftfahrer komplexe Handlungen wie das
Fahren des PKW über etwa sechs Kilometer auf einer Bundesstraße und auf
Straßen in H während der Hauptverkehrszeit nur mechanisch, d. h. ohne Ein-
setzen des (zumindest) natürlichen Willens ausführen kann“.40
Das Oberlandesgericht hat also das Problem gesehen, das sich ergeben hätte,
wenn der Angeklagte während seines epileptischen Anfalls bei Bewusstsein
gewesen wäre. Dies hätte nach den Ausführungen eine Abgrenzung von unter-
bewusster Steuerung und rein physiologischer Steuerung ohne die Möglichkeit
willentlicher Einflussnahme bedeutet. Jene Steuerung wäre als Handlung zu
werten gewesen, weil sie zwar nicht durch das Bewusstsein, aber jedenfalls
durch das „Unterbewusstsein“ erfolgt wäre. Diese wäre dagegen als Nichthand-
lung zu beurteilen gewesen, weil sie zwar bei Bewusstsein vorgenommen wor-
den, jedoch gänzlich ohne Einflussnahme des Bewusstsein erfolgt wäre – ein
Problem, welches sich wegen der bewussten Teilnahme des Autofahrers an den
Geschehnissen auch im „Epileptiker-Fall“ des Bundesgerichtshofs gestellt
hätte.
Solche Überlegungen finden sich in der Urteilsbegründung des Landgerichts
Stuttgart, die der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vorausging, indes nicht,
denn sie basiert offenkundig auf der Überlegung, dass es sich nicht um einen
Fall der Bewusstlosigkeit handelte und damit ein Ausschluss der Handlungs-
qualität ohnehin nicht in Betracht kam. Dort heißt es lediglich: „Durch diese
sog. Dämmerattacke war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgeho-
ben.“41 Damit stellte sich der Sachverhalt für das Landgericht als ein Problem
der Schuldfähigkeit dar. Es führt entsprechend aus: „Zwar war der Angeklagte
wegen eines psychomotorischen epileptischen Anfalls in Form einer sog.
Dämmerattacke und einer damit einhergehenden Bewußtseinsstörung durch das
Bestehen einer krankhaften seelischen Störung i. S. d. § 20 StGB bei Begehung
der Tat unfähig, nach seiner vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln. Für die
eigentliche Tatbegehung war er mithin schuldunfähig gemäß § 20 StGB. Er hat
jedoch für die Tat aus den Gründen der vorverlagerten Schuld – sog. actio libe-
ra in causa – einzustehen.“42
Das Landgericht hat also in dem Verhalten des Angeklagten eine Handlung
begleitet von einer Bewusstseinsstörung gesehen. Der Bundesgerichtshof wer-
_________________
39
OLG Schleswig VRS 64, 429, 431. Zustimmend LK-Jähnke, § 20, Rn. 1; Mau-
rach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 19.
40
OLG Schleswig VRS 64, 429, 431.
41
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 20.
42
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 44.
Kapitel 1: Die Handlung 151

tete hingegen trotz des teilweise vorhandenen Bewusstseins das Verhalten des
Angeklagten während des epileptischen Anfalls als Nichthandlung – eine
Schlussfolgerung, die einer rechtlichen Erörterung durchaus bedurft hätte, da
sich dieser Sachverhalt nicht eindeutig einer der Gruppen der Nichthandlungen
zuordnen lässt. Vielmehr sind Fälle von Bewusstseinsstörungen, entsprechend
dem Vorgehen des Landgerichts, grundsätzlich im Rahmen der §§ 20, 21 StGB
zu überprüfen.43 Dennoch schien dem Bundesgerichtshof in diesem Fall eine
Auseinandersetzung mit der Problematik nicht erforderlich.
Das Bewusstsein als Abgrenzungskriterium bereitet damit erneut Schwierig-
keiten. Für den Epileptiker ist diese Unterscheidung von Belang: Wäre das
Autofahren des Epileptikers im Fall des Bundesgerichtshofs, genauer: das
Durchdrücken des Gaspedals und Halten des Lenkrades eine Handlung, dann
wäre sie ein rechtwidriger Angriff auf das Leben gewesen, da der Täter mit
dem Auto auf andere Menschen zuraste. Dieser Angriff hätte nach § 32 StGB
mit einer erforderlichen Verteidigung beendet werden dürfen. Zwar ist bei der
Verteidigung gegenüber Schuldunfähigen nach herrschender Meinung grund-
sätzlich Zurückhaltung geboten44; lässt sich ein Angriff auf das Leben aber
nicht anders abwehren, dann darf auch der schuldunfähige Angreifer durch eine
Verteidigungshandlung nach § 32 StGB getötet werden. Stellte sich das Fahren
dagegen als Nichthandlung dar, dann läge kein Angriff, sondern eine Gefahr
vor. Die Bedrohten befänden sich dem Epileptiker gegenüber zwar in einem
Defensivnotstand, weil die Gefahr von ihm ausging; selbst für diesen Fall ist
aber umstritten, ob eine Tötung des Epileptikers zulässig wäre.45 Eine einge-
hende Begründung des Bundesgerichtshofs mit klaren Abgrenzungskriterien
wäre deshalb wünschenswert gewesen.
Festzuhalten bleibt, dass bewusstloses Verhalten mangels geistiger Steue-
rung nicht als Handlung im rechtlichen Sinne zu werten ist, dass aber auch
Verhaltensweisen, die während eines nur gestörten Bewusstseins auftreten,
unter Umständen keine Handlungen darstellen sollen. Die durch das Kriterium
der Bewusstlosigkeit zunächst noch relativ eindeutige Abgrenzung von recht-
lich relevanten und nicht relevanten Verhaltensweisen weicht so auf, die Gren-
_________________
43
So auch v. Weber: „Nun ist selbstverständlich, daß, wer einen epileptischen Anfall
hat [...], dafür nicht bestraft wird, auch wenn er Schaden anrichtet [...]. Aber der Grund
ist seine Schuldlosigkeit, nicht notwendig das Fehlen eines Verhaltens“ (Engisch-FS,
S. 332); vgl. auch Maiwald, ZStW 86 (1974), S. 635; anders LK-Jähnke, § 20, Rn. 1.
44
Dazu Sch/Sch-Lenckner/Perron, § 32, Rn. 52 m. w. N. Hier käme wegen mögli-
chen Vorverschuldens des Epileptikers allerdings wieder ein Ausschluss dieser Aus-
nahme in Betracht.
45
Dagegen Sch/Sch-Lenckner/Perron, § 34, Rn. 30; im Ergebnis ebenso, aber wohl
ohne Problembewusstsein BGHSt 48, 255, 257; anderer Ansicht die herrschende Mei-
nung in der Lit., vgl. etwa Roxin, StrafR AT/1, § 16, Rn. 78; LK-Hirsch, § 34, Rn. 74
m. w. N.
152 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

ze zu den Schuldausschließungsgründen wird verwischt. Hieraus erklärt sich,


dass „krampfbedingtes Verhalten“ teilweise als eigenständige Klasse der
Nichthandlungen verstanden wird, ohne dass hierfür allerdings systematische
Gründe genannt werden.46

3. Das Willensproblem

Alle bisher vorgestellten Voraussetzungen für Nichthandlungen eröffneten


prinzipiell auch einen rein empirischen Zugang. So lässt sich – vorausgesetzt
natürlich, der Sachverhalt ist soweit aufgeklärt – die rein externe Steuerung
ebenso problemlos feststellen wie das Vorhandensein spezifischer Reflexarten
und wie die Abwesenheit von Bewusstsein. Abgrenzungsschwierigkeiten ent-
stehen aber immer dort, wo Bewegungen zwar von innen heraus und bei Be-
wusstsein ausgelöst werden, aber dennoch als nicht steuerbar erscheinen. Nach
dem Gesagten reicht es für eine Handlung nicht aus, wenn die Steuerung von
außen vollzogen wird (vis absoluta). Ebenfalls unzureichend ist die Steuerung
durch die körpereigene Motorik (Reflexe). Die Steuerung muss mit dem Be-
wusstsein zusammenhängen, damit die Bewegung als Handlung gewertet wer-
den kann. Denn ohne Bewusstsein ist wiederum die Handlungsqualität ausge-
schlossen (Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit). Weil aber diese
Steuerungsmöglichkeit empirisch so schwer zugänglich ist, bereiten genau jene
Fälle in der Praxis Schwierigkeiten, bei denen Bewusstsein zwar vorhanden, an
der Bewegung aber nicht beteiligt war. Hier wird die „Mitwirkung geistiger
Kräfte“ und damit die Willensbetätigung zum prozessual festzustellenden Kri-
terium. Es geht also bei der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung im
Kern um die geistige Steuerung. Die empirischen Abgrenzungen und Ein-
schränkungen dienen nur als Hilfsmittel, mit denen der Ausschluss einer Wil-
lensbetätigung im Einzelfall (natur-)wissenschaftlich untermauert werden kann.
Die Urteilsbegründungen des Oberlandesgerichts Hamburg und des Amtsge-
richts Castrop-Rauxel sowie die frühe Definition Mezgers lassen ihrerseits
darauf schließen, dass Kriterien wie Bewusstsein und Reizüberleitung primär
unter dem Aspekt einfließen, sich damit einem anderen Problem auf diesem
Wege halb wissenschaftlich, halb intuitiv anzunähern: der Willenskraft und
ihrem Einfluss auf das menschliche Verhalten. Das hieraus resultierende Di-
lemma wird von Schewe wie folgt beschrieben: „Aber nun müßte man eigent-
lich fragen, ob es überhaupt Körperbewegungen gibt, bei denen der menschli-
che Organismus nichts weiter darstellt als eine dem Gesetz von Ursache und
_________________
46
Vgl. Kindhäuser, StrafR AT, S. 70. Auch Gropp ordnet Körperbewegungen im
Rahmen epileptischer Anfälle unabhängig vom Kriterium der Bewusstlosigkeit den
Nichthandlungen zu (s. StrafR AT, S. 110 Rn. 11); v. Weber tendiert dazu, sie auf der
Schuldebene zu untersuchen (s. Engisch-FS, S. 332).
Kapitel 1: Die Handlung 153

Wirkung unterworfene, mechanisch ablaufende Apparatur, und wie sie sich von
jenen Bewegungsvorgängen unterscheiden sollen, bei denen das nicht der Fall
ist. Statt dessen führt man den Willensbegriff ein und hält die Unterscheidung
von ,willkürlich‘ und ,unwillkürlich‘ oder von ,Willkürbewegungen‘ und
,Reflexbewegungen‘ für die Lösung. Weil man aber den Willensbegriff einge-
führt hat, kommt man jetzt auf ,das Willensproblem‘ mit seiner ganzen Viel-
schichtigkeit.“47
Es wurden bisher zwar Bedingungen formuliert, die für eine geistige Steue-
rung unabdingbar sind; damit ließ sich aber für einige Fälle bislang keine be-
friedigende Antwort finden. Es müssten also weitere Voraussetzungen für die
Feststellung eines „handlungssteuernden Willenselements“ formuliert werden
können. Im ersten Teil der Arbeit wurden die diversen Schwierigkeiten aufge-
zeigt, denen ein solches Element begegnet, wenn es als Grundlage für einen
strafrechtlichen Schuldbegriff dienen soll. Welche konkreten Probleme auftre-
ten, wenn ihm die Rolle einer Voraussetzung der Handlungsqualität zugewie-
sen wird, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

a) Subjektiv versus objektiv

Krauss kritisiert, dass „dieser Handlungswille [...] offenbar als vorjuristische


Realität begriffen und derart als ein ,natürlicher‘ Sachverhalt in das Strafrecht
einbezogen werden [soll]“.48 Dies bedeute aber auch die Einbeziehung eines
psychologischen Vorgangs und damit der Frage, ob dieser Vorgang psycholo-
gisch zutreffend gedeutet werde. Tatsächlich sei hingegen festzustellen, dass
sich Strafrechtler, anstatt den Handlungsbegriff als psychophysisches Phäno-
men empirisch auszuloten, auf eine Beschreibung dessen beschränkten, was
jedenfalls keine Handlung sei.49 Hingegen sieht Schewe den Handlungsbegriff
nicht als ein Problem der Tatsachen- und Beweisfeststellung an, sondern ordnet
ihn der abstrakt-normativen Ebene zu, da sich allein aus der Natur der biologi-
schen Vorgänge die Unterscheidung zwischen final gesteuerten und rein kausal
determinierten Körperbewegungen nicht ableiten lasse.50 Dies sei deshalb so,
weil sich die Finalität, das Erstreben eines Ziels oder das subjektive Erleben des
„Wollens“ einer mechanistisch-kausalistischen Betrachtungsweise entziehe.51

_________________
47
Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 47; vgl. auch die Besprechung von Straten-
werth in ZStW 85 (1973), S. 469 ff.
48
Krauss, Bruns-FS, S. 15.
49
Siehe Krauss, Bruns-FS, S. 15.
50
Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 67.
51
Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 63–67.
154 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Es wird also zunächst zu fragen sein, welche Rolle subjektiven Aspekten bei
der Frage der Handlungsqualität zukommt.
Das Vorliegen einer Handlung könnte schon deshalb abhängig von dem sub-
jektiven Gefühl einer Handlungsinitiation sein, weil sich eine Willensbetäti-
gung, so wie bei Schopenhauer dargestellt, nur dem Selbstbewusstsein vermit-
teln könnte. Nach der Rechtsprechung soll eine Handlung jedenfalls dann nicht
vorliegen, wenn der „natürliche Wille“52, die „Beherrschbarkeit durch den
Willen“53, die „Willensbetätigung“54, der „Willensakt“55 oder „Willensent-
schluß“56 nicht festgestellt werden können. Davon abzugrenzen sind Begriffe
wie „freie Willensbestimmung“57 und „Willensfreiheit“58, deren Fehlen grund-
sätzlich nur einen Schuldausschluss indiziert. Deshalb ist für den „natürlichen
Willen“ auch ein „Vollbesitz geistiger Kräfte“ nicht erforderlich. Dies wird
deutlich bei der Abgrenzung „sinnloser Trunkenheit“ (Handlungsausschluss)
vom „Vollrausch“ gemäß § 323a StGB.59 Denn trotz des schuldausschließen-
den Zustands des Täters ist im letzteren Fall zu prüfen, ob er in der Lage war,
eine rechtswidrige Tat, mithin eine Handlung mit natürlichem Willen zu bege-
hen. Zwar soll auch der natürliche Wille das Produkt geistiger Tätigkeit in
Form von „Überlegungen und Entschlüssen“60 sein, die Anforderungen sind
jedoch geringer als bei der Schuldfähigkeit, da selbst Bewusstseinsstörungen
wie beispielsweise infolge eines Blutalkoholgehalts von 3,4 Promille nicht

_________________
52
So RGSt 73, 11, 17; RGSt 73, 177, 180; BGHSt 3, 287, 289; BGH NJW 1952,
193, 194; OLG Hamburg VRS 15, 205, 206; OLG Schleswig VRS 64, 429, 431;
OLG Celle GA 56, 360.
53
OLG Schleswig VRS 64, 429, 430.
54
OLG Hamburg VRS 15, 205, 206.; so auch RGSt 63, 46, 49; 69, 189, 191.
55
BGH NJW 1952, 193, 194; so auch die zugrundeliegende Entscheidung des
OLG Celle GA 56, 360.
56
BGHSt 1, 124, 127; OLG Saarbrücken NJW 1991, 3045, 3046. Das OLG Saar-
brücken vermengt mit seiner Handlungsdefinition indes Handlungs- und Willensfreiheit;
dazu Kühne, NJW 1991, S. 3020.
57
RGSt 63, 46, 49.
58
RGSt 64, 349, 353.
59
Dazu BGH VRS 56, 447; BGHSt 1, 124; BGH NJW 1952, 193; OLG Celle GA
56, 360; OLG Hamburg VRS 15, 205; vgl. auch AG Kappeln BA 3 (1965/66), S. 31 f.
m. Anm. Krumme, BA 3 (1965/66), S. 32 f.; Schröder, DRiZ 1958, 219 ff.; Renzikowski,
NJW 1990, S. 2908. Die Grenze zwischen „Schuldunfähigkeit“ und „Handlungsunfä-
higkeit“ ist indes ebenso wenig eindeutig bestimmbar wie bei den Affekttaten (s. hierzu
Schewe, Reflexbewegung, S. 30 ff., sowie Krümpelmann, Welzel-FS, S. 329 ff.; Jakobs,
StrafR AT, 6/18).
60
Siehe BGHSt 3, 287, 289; OLG Celle GA 56, 360.
Kapitel 1: Die Handlung 155

zwangsläufig den natürlichen Willen und damit die Möglichkeit zur Begehung
einer rechtswidrigen Tat ausschließen sollen.61
An den „natürlichen Willen“ sind zur Bejahung einer Handlung also wesent-
lich geringere Anforderungen zu stellen als an den Willen oder die Willensfä-
higkeit zur Begründung der Schuldfähigkeit. Schon aus der Neutralitätsfunktion
des Handlungsbegriffs gegenüber allen systematischen Stufen des klassischen
Deliktsaufbaus ergibt sich, dass die Feststellung der Handlungsqualität notwen-
dig ein „Minus“ gegenüber der Schuldprüfung sein muss. Die Bedeutung des
Begriffs „natürlicher Wille“ reduziert das Erfordernis des subjektiven Erlebens
der Handlungssteuerung jedoch auf ein Minimum, das mit den Charakteristika
des Willens, so wie sie etwa Lenckner beschreibt, also mit „psychischen Vor-
gängen wie Aktivitäts- und Freiheitsgefühl, ausdrücklicher Zustimmung zu
einem ausdrücklich vorgestellten Ziel“62, kaum noch etwas gemein zu haben
scheint.
Die Probleme, die durch einen subjektiven Aspekt wie das Freiheitsgefühl
aufgeworfen werden, wurden bereits anhand des Freiheitserlebens bei der
Schuldfrage erörtert.63 Konkret lassen sich diese Schwierigkeiten wiederum am
„Epileptiker-Fall“ demonstrieren. Aufgrund der sehr eindrucksvollen Disparität
von tatsächlichem Geschehen und dem Erleben des Angeklagten, soll das letz-
tere so, wie es in den Feststellungen des Landgerichts Stuttgart festgehalten
wird, nur wenig gekürzt wiedergegeben werden.
Der Angeklagte gab in der Verhandlung an, als er „im ersten Gang in die
Wilhelmstraße eingebogen sei, habe plötzlich der Motor aufgeheult und sein
Auto sei auf den Fußgängerüberweg zugeschossen. Das Gaspedal sei nicht
hochgekommen – er habe mehrfach draufgetreten, es sei jedoch nicht rausge-
sprungen. Seine Frau habe geschrien: Was machst Du, was ist los? Sofort habe
er versucht zu bremsen – die Bremse sei jedoch hart wie Beton gewesen, er
habe sie nicht durchdrücken können. Es sei ihm auch nicht gelungen, auszu-
kuppeln und den Gang herauszunehmen. Plötzlich sei dann die Frontscheibe
geplatzt und es habe eine Frau auf dem Kühler seines Fahrzeugs gelegen. Da-
_________________
61
Siehe hierzu OLG Hamburg VRS 15, 205, 206; vgl. auch Anm. Lenckner, demzu-
folge die h. M. mit Recht den „Versuchen, auch nicht willensgetragene Verhaltenswei-
sen in § 330a [a. F.] einzubeziehen, wenn sie rauschbedingt sind“ (JR 1975, S. 33) nicht
gefolgt ist. Vgl. zur Differenzierung zwischen Antriebssteuerung und Handlungssteue-
rung auch Jakobs, StrafR AT, 6/21 m. w. N.
62
Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37; Lenckner selbst lehnt so anspruchs-
volle Willensvoraussetzungen für den Handlungsbegriff ausdrücklich ab (ebd.).
63
Siehe oben, S. 39. Im Grunde genommen handelt es sich dabei freilich um einen
identischen Sachverhalt, sofern man die Handlungsfreiheit als ausreichend für den
Schuldbegriff erachtet. Warum das Freiheitserleben nach Burkhardt daher erst bei der
Schuldfrage von Belang sein soll (s. Lenckner-FS, S. 21), leuchtet deshalb ebenso wenig
ein wie die gesamte Verlagerung der Freiheitsproblematik in das Schuldprinzip.
156 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

durch sei er in seiner Sicht behindert worden. Das Auto sei währenddessen im
ersten Gang mit heulendem Motor weitergefahren. Er habe dann den PKW
nach links gelenkt. Er habe gedacht, weiter links besser durchzukommen. Er
habe auch überlegt, die Handbremse zu ziehen, davon jedoch Abstand genom-
men, weil er befürchtete, daß sein Fahrzeug dann völlig unkontrolliert werde
und noch größerer Schaden eintrete. Er sei dann gezielt auf einen Ampelmast
[...] zugefahren. Er habe nur noch gedacht, wo fährst Du drauf, damit es eine
Ruhe hat. Zwischen dem Mast und dem Gitter sei er dann zum Stehen gekom-
men. An den gesamten Unfallhergang könne er sich lückenlos erinnern. [...]
Der Angeklagte äußerte sein tiefes Bedauern über das Unfallgeschehen. Er
selbst habe stets, nachdem er sein Auto nicht mehr beherrschen konnte, das Ziel
gehabt, auf etwas draufzufahren, um einen größeren Unfall, in dem Menschen
zu Schaden kommen, zu vermeiden. Er habe keine Möglichkeit gehabt, den
Unfallablauf in anderer Form zu beeinflussen“.64
Das Landgericht führte eine aufwendige Beweisaufnahme hinsichtlich der
Funktionstüchtigkeit des Autos zum Zeitpunkt des Tathergangs durch. Im Er-
gebnis konnten keinerlei Mängel festgestellt werden. Die Ehefrau des Ange-
klagten und die Zeugin, die sich über eine Strecke von etwa 300 Metern auf der
Motorhaube befunden und den Angeklagten durch die zerbrochene Wind-
schutzscheibe angeschrien hatte, sagten übereinstimmend aus, dass der Ange-
klagte vollkommen regungslos verharrt und starr nach vorne geblickt habe. Auf
der Polizeiwache habe der Angeklagte nach den Angaben des polizeilichen
Sachbearbeiters einen benommenen Eindruck gemacht. Er brachte sogleich vor,
das Gaspedal habe geklemmt. Außerdem gab er an, die Bremse sei fest gewe-
sen und auch das Auskuppeln habe nicht funktioniert.65
Da der Angeklagte seine Version des Unfallhergangs direkt im Anschluss
auf der Polizeiwache wiedergab, kann davon ausgegangen werden, dass er
während des gesamten Tatgeschehens bei Bewusstsein war. Es kann auch an-
genommen werden, dass er sich an die Situation tatsächlich so erinnerte, als
habe er ständig aktiv versucht, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Nun mag
dies wegen der Krankheit des Angeklagten ein extremes Beispiel darstellen;
fest steht aber, dass sich kein Gericht in diesem Fall auf das subjektive Erleben
des Angeklagten bei der Beurteilung des Tatgeschehens gestützt hätte. Denn
die Willensbetätigung ist im Gegensatz zum Willen an ein äußeres Geschehen
gebunden, das objektiv zugänglich ist. Deshalb muss selbst ein evidentes sub-
jektives Erleben einer Willensbetätigung in Konkurrenz zu objektiven Anhalts-
punkten, die einen anderen Tathergang belegen, immer unterliegen. Auf das
subjektive Erleben kann es also bei der Frage der Handlungsverursachung nicht
primär ankommen.
_________________
64
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 24.
65
Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 26 ff.
Kapitel 1: Die Handlung 157

b) Normativ versus empirisch

Kommt es bei der Feststellung einer Handlung nicht ausschließlich auf das
subjektive Erleben des Angeklagten an, dann sind es empirische und normative
Erwägungen, die hier entscheiden und die zueinander wiederum in Konkurrenz
stehen könnten. Denn die somit objektiv zu ermittelnde Beziehung zwischen
Wille und Verhalten könnte sowohl normativen als auch empirischen Feststel-
lungen vorbehalten sein.
Nun wird ein Richter, der nicht gleichzeitig Mediziner ist, im Zweifelsfall
kaum darüber urteilen können, ob eine unmittelbare Reizübertragung von den
sensorischen auf die motorischen Nerven stattgefunden hat, weshalb die Fest-
stellung einer Nichthandlung regelmäßig eine besondere Sachkunde erfordert.
Im „LKW-Fall“ des Amtsgerichts Castrop-Rauxel66 wurde denn auch ein psy-
chologischer Sachverständiger zugezogen, der die Frage des Reflexes in erster
Linie nach dem damaligen psychophysiologischen Wissenstand zu klären such-
te. Das Bayerische Oberste Landesgericht bediente sich in einem ähnlichen Fall
der medizinischen Literatur.67 Das Landgericht Stuttgart zog im „Epileptiker-
Fall“ einen medizinischen Sachverständigen mit Erfahrung auf den Gebieten
der Neurologie und Psychiatrie zu Rate68 und der Mediziner und Physiologe
Müller-Limmroth hielt eigens ein Referat über das Fehlverhalten von Autofah-
rern und die dabei zu berücksichtigenden psychophysischen Aspekte.69 Wegen
des teilweise fließenden Übergangs von Schuld- und Handlungsausschluss
überrascht dieses Vorgehen nicht. Denn es ist heute selbstverständlich und im
Falle der Anordnung einer Maßregel, die mit einer Unterbringung verbunden
ist, auch gesetzlich vorgeschrieben, dass zur Frage der Schuldfähigkeit ein
Sachverständiger gehört wird (§ 246a StPO).70 Es gilt also auch bei der Frage
der Handlungsqualität, dass der Spielraum intuitiver Gewissheit des Richters
durch sachverständige Gutachten eingeschränkt werden kann.
Nun stellten körpereigene motorische Steuerung und Bewusstsein lediglich
Vorbedingungen für die Möglichkeit einer willentlichen Steuerung dar. Je nä-
her man an die eigentliche Problematik der Willensbetätigung rückt, den Geist
mit der internen motorischen Steuerung also zu verbinden sucht, desto schwerer
scheint dieser Boden jedoch auch für externe Fachwissenschaften begehbar.
Das von Krauss benannte „psycho-physische Phänomen“ birgt, wie Schewe
richtig formuliert, die Schwierigkeit, dass das subjektive Erleben hierbei einen
wesentlichen Bestandteil ausmacht. Die Feststellung von Nichthandlungen im
_________________
66
Siehe oben, S. 146.
67
Vgl. die Ausführungen Rüths, DAR 1979, S. 239.
68
Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 34.
69
Siehe Müller-Limmroth, DAR 1968, S. 293 ff.
70
Siehe hierzu die Ausführungen Renzikowskis, NJW 1990, S. 2906.
158 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Prozess lässt ein Bemühen erkennen, sich auch diesem Phänomen primär empi-
risch zu nähern. In Fällen aber, in denen körpereigene Steuerung und Bewusst-
sein vorhanden sind und dennoch fehlende geistige Verursachung vermutet
wird, mangelt es an einer empirisch fundierten Erklärung zur Begründung der
normativen Unterscheidung von Handlungen und Nichthandlungen. In der
Folge treten nicht nur Schwierigkeiten einer Abgrenzung zur Schuldfrage auf,
sondern es ergeben sich insgesamt Zweifel daran, ob die Differenzierung von
Handlung und Nichthandlung sachgerechten Kriterien folgt und damit bei der
Frage der Handlungsqualität von Verhaltensweisen dem Gleichbehandlungs-
prinzip, also einem Gerechtigkeitskriterium ausreichend Rechnung getragen
wird.
Empirische Erkenntnisse scheinen gegenüber richterlicher Intuition grund-
sätzlich besser geeignet zu sein, das Handlungsproblem systematisch aufzube-
reiten. Nicht nur von Seiten der Rechtsprechung gibt es ein Interesse an einem
festumgrenzten Handlungsbegriff71, auch in der Wissenschaft wird teilweise
eine „naturwissenschaftlich gesicherte“72 und „solide Begriffsbestimmung“73
gefordert.

4. Zusammenfassung

Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit, Bewegungen, die durch


unwiderstehlichen Zwang verursacht werden, und Reflexe konnten hinsichtlich
der positiven Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Handlung nur
insoweit Aufschluss geben, als kortikale Aktivität und Bewusstsein hierfür als
unabdingbar erscheinen. Tritt indes ein Fall auf, der sich mit den genannten
Kriterien nicht erfassen lässt, weil als Resultat eine Verhaltensweise als Hand-
lung gewertet werden müsste, die den Vorstellungen von einem geistig be-
herrschbaren Verhalten deutlich widerspricht, so wird auf das Kriterium der
„Willenssteuerung“ zurückgegriffen. Dabei veranschaulichte der „Epileptiker-
Fall“74, dass die Willensbetätigung nicht das subjektive Erleben der Handlungs-
initiation meint, sondern der Beurteilung aus der Außenperspektive unterliegen
soll, die jedoch wegen der Schwierigkeit eines empirischen Zugangs durch die
Intuition des Richters ergänzt wird.
_________________
71
Vgl. OLG Hamburg JR 1950, 408, 409; AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330, 331.
72
Siehe Renzikowski, NJW 1990, S. 2908. Ähnlich Luff: „Man spricht zwar heute
viel von dem ,menschlichen Versagen‘ und der ,Überforderung des Kraftfahrers‘ als
Unfallursache, aber wir haben den Eindruck, daß die wirklichen biologischen Gründe zu
wenig bekannt sind und deshalb in der Rechtsprechung nicht ausreichend berücksichtigt
werden können“ (Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162).
73
Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285.
74
Vgl. oben, S. 102.
Kapitel 1: Die Handlung 159

Ist die fehlende willentliche Handlungssteuerung das entscheidende Kriteri-


um bei der Feststellung einer Nichthandlung, muss sie im Umkehrschluss bei
einer Handlung gegeben sein. Der Bundesgerichtshof hat zwar im Fall des
Kriminalhauptmeisters, der seinen Angreifer mit der Dienstwaffe nieder-
schoss75, bereits auf die Handlungsqualität der automatisierten Verhaltenswei-
sen hingewiesen. Da hieran in der Lehre jedoch Zweifel geäußert werden, er-
scheint die Untersuchung dieser Verhaltensweisen zur Klärung der Vorausset-
zung einer Handlungssteuerung besonders geeignet.

II. Die automatisierten Verhaltensweisen

Automatisierte Verhaltensweisen werden zwar teilweise als „reflexhaft“76


oder „reflexartig“77 bezeichnet78, sie werden aber nicht durch eine unmittelbare
Reizüberleitung von den sensorischen auf die motorischen Nerven ausgelöst.
Trotz einer Reizverarbeitung über den Kortex und trotz des Vorhandenseins
von Bewusstsein erfolgen sie aber anscheinend „automatisch“, weshalb nicht
abschließend geklärt ist, ob sie Handlungen sind.79
Die Schwierigkeit ihrer Zuordnung mag darin begründet sein, dass sie sich
wie die Reflexe in einer motorisch einfachen Reizantwort erschöpfen können,
dass sie aber auch als komplexe Reaktion auf unspezifische situative Ereignisse
erfolgen können, so dass auch ganz unterschiedliche Bewegungsabläufe mög-
lich sind. Sie sind daher äußerlich von den für das Selbstbild des Menschen
typischen „Wahlentscheidungen“ schwer abzugrenzen. Andererseits widerset-
zen sie sich einer Einordnung in den Handlungsbegriff, da diese Bewegungen
zwar im Wachzustand, aber, jedenfalls in den strafrechtlich relevanten Fällen,
zumeist als unmittelbare Reaktion auf ein unvorhersehbares Ereignis derart
spontan erfolgen, dass der Person schlichtweg keine Zeit zu einer überlegten
Handlung bleibt und sie „einfach nur reagiert“. Dies sei darauf zurückzuführen,
_________________
75
Dazu oben, S. 147.
76
Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285.
77
Siehe Stratenwerth, Welzel-FS, S. 289; Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff.,
Rn. 40 m. w. N.
78
Vgl. dazu auch Graßberger, S. 87 f.
79
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 41/42; Lackner/Kühl, Vor § 13,
Rn. 7; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 17; vgl. auch v. Weber, Engisch-FS, S. 336;
Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 8; Kindhäuser, StrafR AT, S. 70; KK OWiG-Rengier, Vor
§ 8, Rn. 7; LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 41. Das OLG Frankfurt VRS 66, 372, 373, er-
achtet diese Frage dagegen als geklärt; ebenso BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 6
(unveröffentlicht); zustimmend Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 33. Diffe-
renzierend Jakobs, StrafR AT, 6/38, 39. Vgl. auch LK-Schroeder, § 16, Rn. 110
m. w. N.
160 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

dass ein vormals erlernter Vorgang nunmehr lediglich auf einen Reiz hin „ab-
gerufen“ wird.80 Um zu veranschaulichen, was unter einer automatisierten Ver-
haltensweise zu verstehen ist, soll aber zunächst ein Blick auf die Rechtspre-
chung hierzu geworfen werfen.

1. Erscheinungsformen automatisierter Verhaltensweisen –


im Besonderen: die Spontanreaktionen

Neben dem bereits dargestellten „LKW-Fall“ des Amtsgerichts Castrop-


Rauxel81 geht es auch in den folgenden zwei Beispielsfällen um Fehlreaktionen
im Straßenverkehr. Im ersten, einem Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt (im
Folgenden „Kleintier-Fall“ genannt), lief der Angeklagten auf der Autobahn
unvermittelt ein Kleintier vor das Auto, dem sie auswich, indem sie das Steuer
nach links riss, dadurch in einem Winkel von nahezu 45 Grad die Überholfahr-
bahn überquerte, gegen die Mittelleitplanke prallte und sich anschließend über-
schlug. Da die Beifahrerin hierbei getötet wurde, war der Vorwurf der fahrläs-
sigen Tötung zu klären.82
Im zweiten Fall, der dem Oberlandesgericht Hamm zur Entscheidung vorlag
(im Folgenden „Fliege-Fall“ genannt), durchfuhr die Angeklagte eine leichte
Rechtskurve, als durch das offene Fenster ihres PKW eine Fliege herein- und
gegen ihr Auge flog. Während sie nun mit einer Hand die Fliege abwehrte,
übertrug sich diese Bewegung auf die andere Hand, die das Steuer hielt, und
damit auf die Wagensteuerung. Der Wagen kam von der Fahrbahn auf den
unbefestigten Seitenstreifen ab, die Angeklagte verlor die Kontrolle über das
Fahrzeug, geriet ins Schleudern und schließlich auf die Gegenfahrbahn, wo sie
mit einem entgegenkommenden PKW zusammenstieß. Die Insassen beider
Wagen trugen Verletzungen davon.83
Wegen der scheinbaren Unterschiedlichkeit der Fälle ist zunächst der Begriff
des Automatismus zu klären und zu fragen, ob er auf alle gleichermaßen passt.
So bemerkt Schewe in Bezug auf den „LKW-Fall“ und den „Kleintier-Fall“:
„Die auf ,automatischen‘ Fehlreaktionen beruhenden Unfälle, [...] kann man
schon deshalb nicht als Resultat einer ,Auslösung‘ eingeübter ,Automatismen‘
begreifen, weil es sich um Ausnahmesituationen handelt und weil wohl kaum
Gelegenheit besteht, sich dafür ,Automatismen‘ einzuüben.“84 Ähnlich argu-
mentierte das Oberlandesgericht Hamm im „Fliege-Fall“ und lehnte daher die
_________________
80
Siehe Müller-Limmroth/Schneble, BA 1978, S. 235.
81
Siehe oben, S. 146.
82
OLG Frankfurt VRS 28, 364 ff.
83
OLG Hamm NJW 1975, 657.
84
Schewe, Reflexbewegung, S. 38.
Kapitel 1: Die Handlung 161

Annahme einer automatisierten Verhaltensweise ab.85 Demgegenüber erklärt


der ehemalige Bundesrichter Spiegel, dass sich insbesondere beim Autofahren
automatische Reaktionsweisen einspielten, die das Bewusstsein des Fahrenden
in den Hintergrund drängten; daher veranlasse auch bei unvorhersehbaren Situ-
ationen der gerade aktive, automatische und unbewusste Teil der menschlichen
Persönlichkeit schon aufgrund der Erforderlichkeit schnellen Reagierens je-
weils eine bestimmte Verhaltensweise86 Hentschel unterscheidet zwischen
„Verhaltensautomatismen“ im Sinne durch Erfahrung eingeübter Bewegungen
und „Reflexbewegungen“ auch komplexer Art wie beim Ausweichen eines
Kraftfahrers vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis. Dabei sollen erstere
durchaus Handlungen darstellen, letztere hingegen nicht.87
Dass eine auf die mangelnde Einübung abstellende Begründung für die Un-
terscheidung Probleme aufwirft, wird schnell deutlich, wenn man sich vor Au-
gen führt, dass auch die von Hentschel als „Reflexbewegungen“ bezeichneten
Verhaltensweisen einmal „automatisiert“ worden sind. So macht Welzel auf
das Auftreten automatisierter Verhaltensweisen im Alltag aufmerksam. Neben
dem erlernten Autofahren bilde auch das geübte Schwimmen88 und schon jedes
Gehen eine automatisierte Verhaltensweise.89 „Alles, was wir an Handlungs-
bereitschaften in uns tragen, haben wir einmal durch Einzelakte mühselig ein-
üben und erwerben müssen.“90 Deshalb stellt auch die Lenkbewegung des Au-
tofahrers beim Ausweichen vor einem unvermuteten Hindernis oder der schnel-
le Wechsel vom Gas- auf das Bremspedal in derselben Situation eine erlernte
Bewegung dar. Es liegen also auch den Reflexbewegungen im Sinne Hent-
schels durch Erfahrung eingeübte Automatismen zugrunde, auch wenn sie nicht
in einer der konkreten Situation entsprechenden Lage erlernt wurden.
Automatisierte Verhaltensweisen gelten deshalb gemeinhin als ursprünglich
willkürlich erlernte Bewegungen, die als „Bewegungsmuster“ im sogenannten
„prozeduralen Gedächtnis“ abgespeichert sind und damit nicht mehr jedesmal
bewusst eingeleitet werden müssen.91 Auch wenn man sie oftmals mit dem

_________________
85
Siehe OLG Hamm NJW 1975, 657.
86
Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 287.
87
Siehe Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Einl., Rn. 84 f. und 131.
88
Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33, Fn. 92; vgl. auch Henkel,
Studium Generale 1960, S. 238.
89
Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33; vgl. auch Luff, DAR
1959, S. 91, u. Binding, der den Virtuosen als Beispiel anführt (s. Normen, Bd. 2/1,
S. 305, Fn. 13).
90
Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33.
91
Siehe Stennert, S. 104 m. w. N.; vgl. auch Müller-Limroth/Schneble, BA 1978,
S. 235.
162 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

eingeübten Fahrverhalten im Autoverkehr, wie dem automatischen Bremsvor-


gang auf das plötzlich aufleuchtende Bremslicht eines vorausfahrenden Wagens
oder dem Lenk- und Schaltmanöver, in Verbindung bringt92, kann der Mensch
auch in einer neuen, noch nie erlebten Situation „auf Anhieb, das heißt
,unwillkürlich‘ zielstrebig handeln, ohne dass zuvor schon einmal eine entspre-
chende Grundentscheidung getroffen worden wäre“.93 Automatisierte Verhal-
tensweisen können also in plötzlichen Gefahrensituationen wie auch prinzipiell
überall dort auftreten, wo eine Bewegung nicht von geistiger Tätigkeit begleitet
zu werden braucht.
Da hierzu die Mehrheit aller alltäglichen Bewegungen zählt, sind vermutlich
in jeder strafrechtlich relevanten Handlung auch automatisierte Bewegungsab-
läufe enthalten. Fährt beispielsweise der Dieb an seinem Opfer mit dem Fahr-
rad vorbei und entreißt im Vorüberfahren den Geldbeutel, dann geschah das
Radfahren automatisch und selbst das Ausstrecken des Armes zum Ergreifen
der Beute ist ein größtenteils automatisierter Bewegungsablauf. Ansonsten
wäre eine derartige Koordination auf dem Fahrrad nicht möglich. Die hierfür
erforderliche Muskelarbeit besteht zu einem großen Teil wiederum aus Eigen-
reflexen. Strafrechtlich relevante Handlungen dürften daher immer auch auto-
matisierte Verhaltensweisen und Reflexe enthalten.94
Da rechtliche Schwierigkeiten jedoch vorwiegend dort auftreten, wo eine
einzelne, automatisierte Bewegung den Gesamtkomplex eines Verhaltens
gleichsam abbricht, sollen im Rahmen des Handlungsbegriffs zunächst nur
diejenigen automatisierten Verhaltensweisen erörtert werden, die sich, wie in
den genannten Fällen der Rechtsprechung, aufgrund eines unerwartet eingetre-
tenen Zwischenfalls ereignet haben. Zur leichteren Unterscheidung von den in
jedem „Handlungsgefüge“ mitverwirklichten Automatismen sollen sie im Fol-
genden mit dem Begriff der Spontanreaktion bezeichnet werden.

2. Wille als zeitlicher Aspekt der Handlung

Automatisierte Verhaltensweisen sind also all jene Bewegungsabläufe, die


der Mensch ohne gedankliche Begleitung in Form von Aufmerksamkeit oder
Konzentration durchzuführen imstande ist. Im Unterschied zu den bewusstlosen
Verhaltensweisen kann jedoch nicht davon gesprochen werden, das Bewusst-
_________________
92
Beispiele bei Spiegel, DAR 1968, S. 285.
93
Spiegel, DAR 1968, S. 287; Boehm spricht hier von einem „Reagieren im Rohzu-
stand“, das aus dem „Urgrund der Persönlichkeit“ entwachse (s. Fehlleistungen, S. 119).
94
So auch Luff, DAR 1959, S. 91. Zu dem Aspekt der in jeder Handlung enthaltenen
Reflexe vgl. auch Stennert, S. 48; Müller-Limroth, DAR 1968, S. 298. Vgl. zur Zerle-
gung des Handlungsbegriffs auch NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 35 u. 40.
Kapitel 1: Die Handlung 163

sein sei hierbei gänzlich ausgeschaltet. Es ist vielmehr vorhanden, nur spiegelt
sich in ihm nicht die spezifische Bewegung während ihrer Ausführung. Bei den
Spontanreaktionen kommt hinzu, dass aufgrund der Unmittelbarkeit der Reak-
tion weder die konkrete Bewegung noch ihre Folge Gegenstand eines bewuss-
ten Willens ist, wenn die Bewegung ausgeführt wird, wodurch das für sie Spe-
zifische, das Erleben derselben als „automatischer“ Vollzug entsteht.95 Ein
solches Erlebnis tritt bei alltäglichen Verhaltensweisen, die im Rahmen einer
bewussten Intention durchgeführt werden, nicht auf. Es findet also bei Spontan-
reaktionen das für eine Willensbetätigung spezifische Erleben einer zielgerich-
teten Handlungseinleitung nicht statt, wodurch die Bewegung als nicht willent-
lich gesteuert erscheint. Denn, wie Gössel formuliert, „Steuerung ohne An-
triebserlebnisse ist empirisch nicht aufweisbar“.96
Ein wesentliches Unterscheidungskriterium zu den „Wahlentscheidungen“
ist somit, dass der Mensch Spontanreaktionen als nicht willentlich initiiert
erlebt. Gewillkürten Handlungen geht dagegen, vorbehaltlich der Kritik an
dieser rein subjektiv-phänomenologischen Betrachtungsweise97, ein Wille vor-
aus, der als auslösendes und steuerndes Moment erlebt wird. Willkürliche Ver-
haltensweisen und Spontanreaktionen unterscheiden sich damit insoweit, als bei
jenen ein auf die Ausführung der Bewegung gerichteter Wille vor der Bewe-
gung bewusst wird, bei diesen hingegen ein bewusster Wille bezogen auf das
Verhalten nicht feststellbar ist.

3. Das Problem der Handlungsqualität

Im „Fliege-Fall“ des Oberlandesgerichts Hamm und im „Kleintier-Fall“ des


Oberlandesgerichts Frankfurt wurde die Handlungsqualität des Verhaltens der
Angeklagten jeweils besonders festgestellt und bejaht. Das Oberlandesgericht
Hamm führt aus, bei derartigen Handlungen werde der Wille, wie hier den
Fremdkörper abzuwehren, über die sensorischen Nerven derart schnell aktiviert
beziehungsweise gebildet und so schnell in eine motorische Reaktion umge-
setzt, dass zur Bildung einer Gegenmotivation aufgrund noch so zwingender
Tatsachen keine Zeit mehr verbleibe. Insofern ähnle die Kurzschlusshandlung
den Schreckreaktionen, bei denen eine Ichfunktion als Kontrollinstanz erst gar
nicht in Aktion treten könne. Trotz der Schnelligkeit dieses Vorgangs fehle
_________________
95
Vgl. AG Castrop-Rauxel, DAR 1965, S. 330; BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984,
S. 4 (unveröffentlicht). Aufgrund der Ausführung bei Bewusstsein, wird auch von einem
„halbautomatischen“ (s. OLG Hamm, NJW 1975, 675) und „halbbewussten“ (s. OLG
Frankfurt, VRS 28, 364, 365) Verhalten gesprochen. Vgl. zum Ganzen auch Schewe,
Wille, S. 8.
96
Gössel, Wertungsprobleme, S. 90.
97
Vgl. oben, S. 132.
164 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

derartigen Abläufen jedoch nicht jeglicher willentlicher Antrieb, so dass dem-


entsprechend auch in der in Frage stehenden Abwehrbewegung ein strafrecht-
lich relevantes Verhalten erblickt werden könne.98
Das Oberlandesgericht Frankfurt sieht den Handlungsbegriff auch bei
menschlichen Verhaltensweisen erfüllt, die aus einer halb- oder unbewussten
Handlungsbereitschaft hervorgehen und auf einen gegebenen Reiz mehr oder
minder automatisch ablaufen. In dem Verhalten der Angeklagten, den Wagen
nach links zu ziehen, als ihr das Kleintier davor lief, erblickt es eine „unbe-
wusst finale Steuerung“ und daher keinen strafrechtlich bedeutungslosen voll-
automatischen Reflex.99
Nach diesen Entscheidungen wären Spontanreaktionen nur im Ausnahmefall
nicht als willensgetragene Handlung zu werten, obgleich der Wille hierzu of-
fenbar den Angeklagten nicht bewusst sein muss. Rudolphi sieht in allen auto-
matisierten Verhaltensweisen denn auch eine Frage richterlicher Bewertung im
Einzelfall, da die Grenze zwischen beherrschbaren und nicht mehr beherrschba-
ren Verhaltensweisen fließend sei. Es komme daher entscheidend darauf an, ob
sich der steuernde Wille noch einschalten und den Automatismus aufheben
könne. Dies gelte auch für die automatisch ablaufenden Reaktionen von Kraft-
fahrern im Straßenverkehr.100 Dabei handelt es sich zwar um eine systemge-
rechte Lösung, denn Rudolphi verneint konsequent bei nicht beherrschbaren
Bewegungen auch in Bezug auf die automatisierten Verhaltensweisen die
Handlungsqualität; es tut sich jedoch das neuerliche Problem der richterlichen
Wertungsfrage im Einzelfall auf. Um hier den Verdacht der Beliebigkeit auszu-
schließen, muss es Maßstäbe geben, die die Beurteilung des Verhaltens als
beherrschbar oder nicht beherrschbar zu stützen vermögen.101 Es wird daher im
Folgenden zu fragen sein, welche Maßstäbe die Lehre zur Lösung dieser Sach-
verhalte anbietet.

_________________
98
OLG Hamm JZ 1974, 716, 717; anders Baumann/Weber/Mitsch, § 13, Fn. 45; vgl.
auch KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 7; Gropp, StrafR AT, S. 111, Rn. 16; LK-
Jescheck, Vor § 13, Rn. 37; Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 7; Maurach/Zipf, StrafR AT,
§ 16 I, Rn. 18.
99
OLG Frankfurt VRS 28, 364, 365 f.
100
Siehe SK StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 19 ff.; ebenso KK OWiG-Rengier, Vor
§ 8, Rn. 7. Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/35 ff.
101
Im Ergebnis ebenso Stratenwerth, Welzel-FS, S. 302; vgl. auch die Ausführungen
oben, S. 119 ff.
Kapitel 1: Die Handlung 165

III. Verursachung im Lichte ausgewählter Handlungslehren

Da bei allen automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere aber bei den


Spontanreaktionen die einzelnen Bewegungen nicht bewusst gesteuert werden,
steht die Frage der willentlichen Verursachung auch bei der Darstellung der
Handlungslehren im Mittelpunkt. v. Hippel vertritt die Ansicht: „Das Straf-
recht, wie das Recht überhaupt, wendet sich an den menschlichen Willen, denn
anders läßt sich auf menschliches Handeln nicht einwirken.“102 Zu einer straf-
rechtlich relevanten Handlung gehöre daher „Handlungsfreiheit, d. h. Möglich-
keit der Willensbetätigung (Willkür) im Augenblick des Tuns oder Unterlas-
sens“.103 Auch Maurach/Zipf führen aus: „Ein der menschlichen Natur nach
von niemandem steuerbares Verhalten ist nicht tauglicher Ausgangspunkt der
Strafhaftung.“104 Arthur Kaufmann erkennt als primären Faktor „Ursächlichkeit
der Willensbetätigung“ in der kausalen Handlungslehre, „Zielgerichtetheit der
Willensbetätigung“ in der finalen Handlungslehre, „psychische Beschaffenheit
der Willensbetätigung“ in der symptomatischen Handlungslehre und „rechtlich-
soziale Sinnhaftigkeit der Willensbetätigung“ in der sozialen Handlungsleh-
re.105
Da innerhalb der genannten Handlungslehren über die Fähigkeit des Willens,
Bewegungen zu steuern, kein Dissens besteht, können sich die Erörterungen
auf eine kurze Darlegung der Begründungen beschränken. Ausführlicher wird
dagegen auf die Behandlung der automatisierten Verhaltensweisen in diesen
Lehren sowie auf abweichende Auffassungen Einzelner einzugehen sein, sofern
die Problematik den Autoren bereits geläufig war.

1. Der Handlungsbegriff um 1900

Die strafrechtliche Lehre um 1900 stand unter dem vordringenden Einfluss


der Naturwissenschaften. Entsprechend reduktionistisch muten die Handlungs-
_________________
102
v. Hippel, Lehrbuch, S. 91, Fn. 4.
103
v. Hippel, Lehrbuch, S. 91. Dazu auch Schewe, Reflexbewegung, S. 24; Jescheck,
der von einer „potentiellen Mitwirkung“ der „geistig-seelischen Kräfte als Mindester-
fordernis des Handlungsbegriffs“ spricht (s. StrafR AT, S. 201; ders., LK, Vor § 13,
Rn. 36); Rudolphi: „Als möglicher Gegenstand strafrechtlicher Normen und damit als
Verbrechen scheiden [...] all diejenigen Verhaltensweisen aus, die nicht mehr als vom
menschlichen Willen beherrschbar gedacht [...] werden können“ (SK StGB-Rudolphi,
Vor § 1, Rn. 19); Kühne, der von einer „überkommende[n] Lehre von der Erforderlich-
keit der Willenssteuerung einer Handlung“ spricht (s. NJW 1991, S. 3020), u.
KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 5.
104
Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 13.
105
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92; im Ergebnis ebenso Maihofer,
Eb. Schmidt-FS, S. 163.
166 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

begriffe dieser Zeit an.106 Die beiden Hauptstränge, naturalistische und sym-
ptomatische Handlungslehre, von denen der konzeptionelle Ansatz der ersteren
auch heute noch vertreten wird107, nehmen sich der Diskussion um die automa-
tisierten Verhaltensweisen, die erst in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt
erreicht, kaum an. Insbesondere greifen sie diese Problematik nicht mit Blick
auf die Reaktionen im Straßenverkehr auf, weshalb sie hierauf nur entspre-
chend übertragen werden können.

a) Naturalistische Handlungslehre (v. Liszt und Beling)

Mit dem klassischen Deliktssystem Ende des 19. Jahrhunderts entstand die
naturalistische Handlungslehre, begründet von v. Liszt und Beling.108 Der Be-
griff der Willkür erhält hier eine zentrale Funktion, obgleich es auf den Inhalt
des Wollens nicht ankommen soll.109 Nach Beling ist Handlung von Willkür
getragenes körperliches Verhalten. Willkür liegt vor, wenn nach der inneren
(seelischen) Seite der Wille besteht, den Körper zu regen oder nicht zu regen. 110
v. Liszt setzt die Willensbetätigung mit willkürlichem Verhalten gleich.111
„Wollen“ bedeutet nach seinem Sprachgebrauch „denjenigen psychologischen
Akt, durch welchen die Anspannung der Muskeln erfolgt. Gewollt ist mithin
nur die Körperbewegung, niemals der Erfolg“.112 Nach beiden Ansichten wird
mit dem Begriff der Willkür also die geistige oder seelische Tätigkeit bezeich-
net, die eine Bewegung hervorruft, unabhängig von dem Zweck der Bewe-
gung.113
Da der Begriff der Willkürlichkeit bei Beling als willentlicher, nicht unbe-
dingt gewollter Anstoß zur Verwirklichung eines Erfolges verstanden werden
könne, ist dieser Handlungsbegriff anders als der Lisztsche nach Auffassung
Radbruchs geeignet, „ungeschickte Körperbewegungen“ zu erfassen.114 v. Liszt
wählt, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen, einen anderen Weg: „Dass ein-
zelne Glieder des Verhaltens infolge wiederholter Übung automatisch vollzo-
gen werden, nimmt dem Verhalten als Ganzem nicht die Eigenschaft der Will-
_________________
106
Vgl. dazu v. Bubnoff, S. 134 ff.
107
So von Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 22 ff.
108
Vgl. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92.
109
Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/6.
110
Siehe Beling, Grundzüge, S. 17 f. Ähnlich M. E. Mayer, Handlung, S. 18.
111
Siehe v. Liszt, Lehrbuch, S. 102; s. auch v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 154.
112
v. Liszt, Lehrbuch, S. 105, Fn. 1; s. auch v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 155.
113
Eine Darstellung der Differenzen der Lehrmeinungen findet sich u. a. bei Rad-
bruch, ZStW 24 (1904), S. 336 f. und Otter, Funktionen, S. 33 f.
114
Siehe Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 336 f. Kritisch Koriath, Zurechnung, S. 660.
Kapitel 1: Die Handlung 167

kürlichkeit.“115 Während Radbruch noch auf die „ungeschickte Bewegung“ an


sich abstellt, soll die automatisierte Verhaltensweise bei v. Liszt in einem Ge-
samtkomplex des Verhaltens aufgehen. Das ist zwar einerseits geeignet, recht-
liche Schwierigkeiten mit Blick auf den dolus antecedens und die tatbestandli-
che Vorverlagerung116 aufzuwerfen, stimmt aber andererseits mit der Vorstel-
lung von einer Handlung „im natürlichen Sinne“ bei der Anwendung des heuti-
gen § 52 StGB überein.117 Unabhängig hiervon sind die von Radbruch und
v. Liszt angesprochenen Verhaltensweisen aber in einen zielgerichteten Verhal-
tenskomplex eingebunden und können deshalb mit Spontanreaktionen, also
automatisierten Verhaltensweisen, die aufgrund einer plötzlichen situativen
Änderung gleichsam den ersten Akt eines neuen Verhaltenskomplexes bilden,
nicht gleichgesetzt werden. Hier mangelt es eben im Unterschied zu den sonsti-
gen automatisierten Bewegungen gänzlich an dem für eine Willensbetätigung
erforderlichen psychischen Akt. Beide Lehrmeinungen vermögen aufgrund des
von ihnen postulierten Erfordernisses eines vorausgehenden bewussten Willens
die Spontanreaktionen also nicht mit ihrem Handlungsbegriff zu erfassen.118

_________________
115
v. Liszt, Lehrbuch, S. 102, Fn. 1.
116
Ausführlich zu den Legitimationsfragen der Vorverlagerungsmodelle Ulfrid Neu-
mann, Zurechnung, S. 25 ff. Zur Vorverlagerung bei Spontanreaktionen auch unten,
S. 188 f. u. 228 ff.
117
Vgl. BGHSt 1, 20, 21 f.; BGHSt 6, 81 f.
118
Dieser Problematik begegnet auch noch Mezger, der mit Blick auf die finale
Handlungslehre Welzels (dazu unten, S. 169) bemerkt, es sei ihm „nie eingefallen, zwi-
schen ,willkürlich‘ und ,final‘ einen Unterschied zu machen“ (Mezger, Rittler-FS,
S. 121; kritisch Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 156). Die Willkürlichkeit bezieht sich bei
Mezger damit nicht nur auf die einzelne Bewegung, sondern vornehmlich auf ein dahin-
ter liegendes Ziel. Ist dieses gewollt, so enthielten auch die zur Verwirklichung unter-
nommenen „ungeschickten Bewegungen“ einen willkürlichen Kern (vgl. Mezger, Ritt-
ler-FS, S. 121, der hierunter in Anlehnung an Sigwart und v. Hippel die Bewegung eines
Rückenmarkserkrankten oder eines von Aphasie Befallenen, „die vermöge der Störung
der normalen Leitung völlig zwecklos herauskommt“ und das „Abdrücken eines Geweh-
res durch ungeschickte Bewegung“ versteht), sie sind nach Mezger also ihrerseits „ge-
wollt“ (s. Mezger, Rittler-FS, S. 121; so im Übrigen bereits Schopenhauer: „Wenn ein
Mensch will; so will er auch Etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand
gerichtet und läßt sich nur in Beziehung auf einen solchen denken“ [Ethik, S. 14]).
Soweit die „ungeschickten Bewegungen“ nicht mehr eingebettet in den ursprünglichen
Willensentschluss erscheinen, vermag also auch die Definition des Begriffs der Willkür-
lichkeit durch Mezger sie nicht als Handlungen zu erfassen; ebenso Baumann/Weber/
Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 33.
168 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

b) Symptomatische Handlungslehre (Kollmann und Tesar)

Die symptomatische Handlungslehre, vertreten von Kollmann und Tesar An-


fang des 20. Jahrhunderts119, nahm gegenüber dem naturalistischen Handlungs-
begriff auch die psychischen Gründe im Täter, die ihn zu einem Delikt verleite-
ten, in den Blick. So sah Kollmann die Fahrlässigkeitstat, worunter die „unge-
schickten Bewegungen“ regelmäßig fallen, vom naturalistischen Handlungs-
begriff nicht erfasst.120 Um den Handlungsbegriff gegenüber dem Willen zum
Erfolg neutral zu gestalten, definierte er: „Handeln ist das Vornehmen einer
Körperbewegung in dem Bewußtsein, daß mit Vornahme derselben bestimmte
als möglich ins Auge gefasste Veränderungen notwendig werden müssen.“121
Der naturalistische Handlungsbegriff kam damit immer dann als Spezialfall des
symptomatischen zur Anwendung, wenn sich das „Willenssymptom als Wil-
lenswirkung“ darstellte, mithin im Fall des Vorsatzes.122 Denn der eigentliche
Grund der Strafe liegt nach Tesar in der Gefährlichkeit des Täters, in der Wahr-
scheinlichkeit einer Gesellschaftsverletzung.123 Zwar operiert Tesar mit Wahr-
scheinlichkeiten, soweit es um den Eintritt eines schädlichen Willensaktes
geht124; in dem Willen, beziehungsweise dem Bewusstsein125 wird jedoch auch
hier, wie in der naturalistischen Lehre, eine Causa für die verbrecherische Tat
gesehen, weshalb auch die symptomatische Lehre keine Bedingungen definiert,
nach denen die Spontanreaktionen als Handlungen begriffen werden könnten.

2. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert

In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte die Dis-
kussion um den strafrechtlichen Handlungsbegriff eine Blütezeit. Eine Fülle
unterschiedlicher Lehrmeinungen entstand, die hier nur grob den neuen Haupt-
strängen, der finalen, sozialen und personalen Handlungslehre zugeordnet wer-
den können.126 Im Übrigen sollen von den vereinzelt vertretenen Handlungs-
_________________
119
Vgl. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92.
120
Siehe Kollmann, S. 203.
121
Kollmann, S. 214.
122
Siehe Kollmann, S. 214.
123
Siehe Tesar, S. 265.
124
Siehe Tesar, S. 230 ff.
125
Vgl. Kollmann, S. 206 f.
126
So wird der negative Handlungsbegriff erst bei der Frage der Vermeidbarkeit auf-
zugreifen sein (vgl. unten, S. 207), da er eine Vermeidbarkeit des Nichtvermeidens
voraussetzt (s. Herzberg, Unterlassung, S. 170 ff.; JZ 1988, S. 576; vgl. auch Behrend,
Jescheck-FS, S. 303 ff.; zum „Vermeidbarkeitsprinzip“ bereits Kahrs, S. 36 ff.). Beh-
rend spricht insoweit von der Fähigkeit zur Gegensteuerung (s. Unterlassung, S. 100;
ders., GA 1993, S. 68).
Kapitel 1: Die Handlung 169

begriffen nur die Konzepte Michaelowas, Kargls und Jakobs’ dargestellt wer-
den, wobei Kargl und Jakobs ihre Theorien erst Anfang der neunziger Jahre
entwickelt haben.

a) Finale Handlungslehre (Welzel, Stratenwerth und Schewe)

Im Lichte der finalen Handlungslehre vollzieht sich die Steuerung einer


Handlung in der Weise zweckgerichtet, dass es über die Kategorie der Willkür-
lichkeit in der naturalistischen (seit Welzel auch „kausalen“127) Handlungslehre
hinaus auf die innere Haltung dem angestrebten Ziel gegenüber ankommt. Nach
Welzel beruht die Fähigkeit des Willens darauf, in bestimmtem Umfange die
Folgen des kausalen Eingreifens vorauszusehen und dadurch dieses zur Zieler-
reichung hin planvoll zu steuern. „Hierzu ist nur erforderlich, daß ein Kausal-
faktor vorhanden ist, der sein Ursächlichwerden ,sehend‘ zu regulieren vermag,
und das ist der menschliche Wille: er vermag in bestimmtem, begrenztem Um-
fang die möglichen Folgen seines Kausalwerdens vorauszusehen und danach
sein Eingreifen zweckmäßig zu regulieren.“128 „Er ist der Steuerungsfaktor, der
das äußere Kausalgeschehen überformt und es dadurch zur zielgelenkten Hand-
lung macht [...].“129 Automatisierte Verhaltensweisen einschließlich der Spon-
tanreaktionen versucht Welzel seinem Handlungsbegriff zuzuschlagen, indem
er die Schuld bei automatisierten Verhaltensweisen damit begründet, dass der
Täter „bei Vornahme seiner finalen Handlung die Funktionsgrenzen seiner
automatisierten Handlungsbereitschaften nicht berücksichtigt hat, obwohl er sie

_________________
127
So E. Wolf, AcP 170 (1970), S. 183; vgl. auch Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 156.
Welzel führt bspw. aus: „Methodisch beruhte bekanntlich der naturalistische Handlungs-
begriff darauf, daß man die Willensrichtung (,Willensinhalt‘) von der Willensverwirkli-
chung abtrennte. Die Willensverwirklichung wurde ausschließlich nach der kausalen
Wirksamkeit betrachtet: zur Handlung gehörte alles, was der Wille als Kausalfaktor
verursacht hat (Handlung=Willenswirkung). Nur vermöge dieser Abtrennung des ,bloß‘
subjektiven Willensinhalts von der objektiven Willenswirkung konnte die Handlung
vollgültig einer rein mechanischen Kausalität unterworfen werden. Die ganze final-
determinative Funktion des Willens ,inhalts‘, durch die sich die Handlung über das
blindmechanische Naturgeschehen spezifisch erhebt, wurde damit prinzipiell vernichtet“
(ZStW 58 [1938], S. 498). Kritisch zur Interpretation der naturalistischen Handlungsleh-
re durch Welzel, Schild, GA 1995, S. 102 ff.
128
Welzel, ZStW 58 (1938), S. 502; vgl. auch ders., Strafrechtsprobleme, S. 5. Kri-
tisch Roxin, ZStW 74 (1962), S. 518 ff.
129
Welzel, Strafrechtssystem, S. 3; die Rede ist auch von „finaler Überdetermination“
(s. ders., NJW 1968, S. 425; ders., Strafrecht, S. 34). Vgl. dazu auch Schewe, Reflexbe-
wegung, S. 57. Kritisch hinsichtlich der ontologischen Vorgegebenheiten des finalen
Handlungsbegriffs Welzels, Bockelmann, Verhältnis, S. 30 ff.; dazu auch Niese, Finali-
tät, S. 6 f.
170 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

erkennen konnte“.130 So müsse der Autofahrer die Schnelligkeit seiner Fahrt


dem Maße der Beherrschung der technischen Handgriffe und seiner Reaktions-
bereitschaft anpassen.131
Zwar kommt es nach dem Handlungsbegriff Welzels nicht darauf an, dass
der Wille den konkreten Erfolg der automatisierten Verhaltensweise umfassen
muss, sondern lediglich irgendein finales Element, das durch die Bewegung
hätte verwirklicht werden können132, aber auch dieses fehlt in den hier proble-
matisierten Fällen der Spontanreaktionen. Denn sie zeichnen sich gerade da-
durch aus, dass ein plötzliches Ereignis den ursprünglich beabsichtigten Ver-
lauf einer Betätigung unterbricht, woraufhin Bewegungen stattfinden, denen
weder in Bezug auf die Bewegung selbst noch hinsichtlich eines neuen Ziels
ein Willensentschluss oder ein Bewusstsein vorangeht. Sollen sie über die Er-
kennbarkeit der Funktionsgrenzen zum Zeitpunkt eines finalen Willens, der die
spätere Aufgabe seines ursprünglichen Handlungsziels nicht umfasste, in das
Blickfeld strafrechtlicher Zurechnung einbezogen werden, so handelt es sich
dabei, wie dies ähnlich beim Handlungsbegriff v. Liszts hervortritt, um eine
Vorverlagerung des strafrechtlich relevanten Verhaltens.133 Vom Handlungs-
begriff Welzels werden daher wiederum nur die in einen final ausgerichteten
Verhaltenskomplex integrierten automatisierten Verhaltensweisen, nicht aber
die Spontanreaktionen infolge einer plötzlichen situativen Veränderung um-
fasst.134

_________________
130
Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33 f.; s. auch ders., Strafrecht,
S. 152. Ablehnend Hall, S. 14 (vgl. auch unten, S. 213 ff.).
131
Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33.
132
Siehe dazu Welzel, NJW 1968, S. 425; ders., ZStW 51 (1931), S. 703 ff., insb.
S. 717 ff.
133
Vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 124 ff., der mit seinem intentionalen Hand-
lungsbegriff zwischen einer empirischen Kausalität des Verhaltens (von Radbruch als
„Tat“ bezeichnet, s. Handlungsbegriff, S. 75) und einer Handlung, der die subjektive
Erfahrung der Selbstzuschreibung zugrundeliegt, unterscheidet (s. Kindhäuser, Intentio-
nale Handlung, S. 206 f.; vgl. auch ders., GA 1982, 477, 495). Konsequent werden
deshalb die automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr nur über den Umweg
der Vorverlagerung erfasst: „Die Fehlreaktion selbst ist keine Handlung, aber es besteht
die Möglichkeit, durch verschiedene Tätigkeiten – etwa üben, konzentriert fahren, Ab-
stand halten usw. – das Eintreten der Fehlreaktion zu verhindern“ (Kindhäuser, Intentio-
nale Handlung, S. 211; vgl. auch ders., Gefährdung, S. 129 ff.).
134
So auch Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 31; Jakobs, StrafR AT, 6/16;
Stratenwerth, Welzel-FS, S. 290 ff.; Roxin in Bezug auf den finalen Handlungsbegriff
Struensees (s. StrafR AT/1, § 8, Rn. 23); so wohl auch Henkel, Studium Generale 1960,
S. 238. Hirsch umgeht die Problematik, indem er die automatisierten Verhaltensweisen
in Willenshandlungen umdeutet und auf eine „geringere Bewußtseinsstufe“ abstellt (s.
ZStW 93 [1981], S. 861), eine Argumentation, die in der personalen Handlungslehre
noch Erörterung finden wird (vgl. unten, S. 177 ff.).
Kapitel 1: Die Handlung 171

Stratenwerth hat in Anbetracht der Problematik automatisierter Verhaltens-


weisen eine Erweiterung angestrebt: Die bis dahin als „bewusst“ definierte
finale Steuerung sollte nun um eine unbewusste Steuerung ergänzt werden.
„Steuerung bedeutet also, positiv formuliert, eine Regulation des Verhaltens,
die immer auch bewußt übernommen werden könnte.“135 Beim Menschen gebe
es, soweit für Stratenwerth ersichtlich, „keine einzige erfolgs- und umweltbe-
zogene Verhaltensweise, die nicht bewußt gesteuert werden könnte“. Handlun-
gen von der Struktur automatisierter Verhaltensweisen ließen sich allemal auch
mit bewusster Steuerung vollziehen.136 Obwohl nicht empirisch belegt, er-
scheint dies zunächst überzeugend, da die automatisierten Verhaltensweisen als
ursprünglich bewusst erlernte Bewegungen gelten, der Bewegungsablauf als
solcher also jedenfalls auch von einer Person, bei der er noch nicht automati-
siert ist, auch bewusst vollzogen werden könnte. Für die Annahme jedoch, dass
er auch von der Person, bei der der Bewegungsablauf einmal automatisiert
wurde, wieder bewusst übernommen werden könnte, dafür ist der Verweis auf
ihre Struktur kein ausreichender Beleg. Bereits am Beispiel des Radfahrens
dürfte deutlich werden, dass eine bewusste Übernahme aller einzelnen hierfür
erforderlichen Automatismen zu einem bestimmten Zeitpunkt kaum zu leisten
ist.
Stratenwerth sieht seinen Handlungsbegriff damit jedoch als entlastet von
der Frage der Möglichkeit aktiver bewusster Einschaltung an: „Ob der indivi-
duelle Täter im konkreten Einzelfalle noch rechtzeitig oder bei genügender
innerer Anspannung die automatisierte Reaktion hätte umsteuern können, ob es
auf seine individuellen Fähigkeiten hier überhaupt ankommen soll oder auf ein
wie immer generalisiertes Können – von alledem ist die Annahme einer
,Handlung‘ unabhängig.“137 Damit stellt sich diese Problematik indes auf einer
anderen Ebene. Die bewusste Einschaltung in einen unbewussten Vorgang setzt
eine hinter dem Bewusstsein liegende geistige Fähigkeit voraus, womit sich
diese Überlegung einerseits dem Problem eines infiniten Regresses aussetzt,
denn diese geistige Fähigkeit müsste ihrerseits eine (sie potentiell kontrollie-
rende) geistige Fähigkeit voraussetzen usw., andererseits aufgrund der dahinter
stehenden Prämisse der Willensfreiheit keine Antworten darauf zu geben ver-
_________________
135
Stratenwerth, Welzel-FS, S. 299; ders., StrafR AT, § 6, Rn. 7; ebenso Kühl,
StrafR AT, § 2, Rn. 8.
136
Siehe Stratenwerth, Welzel-FS, S. 303.; zustimmend Jescheck/Weigend, StrafR
AT, S. 221, u. Gimbernat Ordeig: „[...] erstens gibt es keine Ichausschaltung, und zwei-
tens ist die Bewegung insofern nicht physisch notwendig bedingt, als der Handelnde
dazu fähig ist, die automatisierte Bewegung in seinem Ich bewußtzumachen und auf
diese Weise eine andere Bewegung zu verwirklichen“ (Armin Kaufmann-GS, S. 164).
Zum Problem des infiniten Regresses bei dieser Argumentation vgl. die weiteren Aus-
führungen im Text zu Stratenwerth.
137
Stratenwerth, Welzel-FS, S. 300.
172 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

mag, wie ein Tatrichter die Möglichkeit zu bewusster Steuerung an tatsächli-


chen Gegebenheiten festmachen sollte. Hinzu kommt, dass Stratenwerth für
den Begriff der Steuerung fordert, der Verhaltensablauf müsse „erlebnismäßig
bedingt und insoweit situationsabhängig sein“.138 An der Situationsabhängig-
keit, die auch bei Bewegungsabläufen wie extern ausgelösten Reflexen, die
Stratenwerth wohl den „reinen Kausalprozessen“ zuordnen würde, gegeben ist,
besteht zwar in den problematisierten Fällen kein Zweifel; dass aber automati-
sierte Verhaltensweisen immer erlebnismäßig bedingt sein sollen, ist wiederum
eine Voraussetzung, die sich bezweifeln lässt.139
Eine völlige Abkehr von den inneren Zuständen nimmt Schewe bei seiner
Interpretation einer finalen Handlung vor: Zur Feststellung einer Handlung
müsse es genügen, wenn eine „augenfällige umweltbezogene finale Steuerung“
vorliege. Finalität sei in erster Linie ein äußeres Kennzeichen eines Bewe-
gungsablaufs. „Sie kann, muß aber nicht notwendig mit dem subjektiven Erleb-
nis der Freiheit, der Bewußtheit oder der Willkürlichkeit einhergehen.“140 Was
eine Handlung sei und was nicht, müsse wertend bestimmt werden.141 Im
„Kleintier-Fall“ handle es sich ganz offensichtlich um ein finales Ausweichma-
növer, wobei die Frage der Vermeidbarkeit zu diskutieren bleibe.142 Dass diese
Frage offenbleibt, ist Jakobs zufolge ein Einwand gegen diesen Handlungsbe-
griff, denn damit verliere er seine Abgrenzungsfunktion.143 Vermeidbarkeit und
Handlungssteuerung hängen indes eng mit dem Willensbegriff zusammen, um
dessen Eliminierung aus dem Handlungsbegriff sich Schewe bewusst bemüht.
Will man aber einen von einer Stellungnahme zur Vermeidbarkeit unabhängi-
gen Handlungsbegriff definieren und gleichzeitig am Schuldstrafrecht festhal-
ten, dann wirft dies die Frage auf, warum es eines eigenständigen Handlungs-
begriffs überhaupt bedarf, wenn man sich der Problematik der Reflexe und der

_________________
138
Stratenwerth, Welzel-FS, S. 299.
139
Diesen Bedenken begegnet auch der reale Handlungsbegriff. Zwar könne nach
E. Wolf der hierfür erforderliche Entschluss bei plötzlichen Gefahren auch „im Bruchteil
einer Sekunde geschehen“, denn die Schnelligkeit eines solchen Vorgangs schließe nicht
aus, „daß es sich dabei um bewußtes Entschließen handelt“ (E. Wolf, AcP 170 [1970],
S. 229). Diese Annahme wird indes durch nichts belegt. Kritisch auch Jakobs: „Ob die
Aufhebung des Automatismus bei gegebener Motivation nicht zur Vermeidung des
Automatismus selbst, sondern der durch den Automatismus bedingten Folgen im Einzel-
fall möglich ist, richtet sich danach, ob die erforderlichen Erkenntnisschritte überhaupt
und hinreichend schnell, nämlich vor dem Ablauf der automatischen Reaktion, vollzo-
gen werden können“ (Studien, S. 81). Ausführlich dazu unten, S. 226 ff.
140
Schewe, Wille, S. 7. Ablehnend Jakobs, StrafR AT, 8/12.
141
Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 67; ders., Wille, S. 5.
142
Siehe Schewe, Wille, S. 7.
143
Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/19.
Kapitel 1: Die Handlung 173

durch vis absoluta ausgelösten Verhaltensweisen auch bei der Prüfung der
Vermeidbarkeit annehmen kann.
Schewes Handlungsbegriff ergibt auch bei der Abgrenzung von Handlung
und Nichthandlung keinen systematischen Gewinn, da er wie die einschlägige
Rechtsprechung vornehmlich eine wertende Betrachtung des Einzelfalles erfor-
derlich macht. Gleichwohl müssten einige Bewertungen anders als bisher vor-
genommen werden. So erscheinen Verhaltensweisen wie das Würgen der Ehe-
frau im Schlaf als äußerlich final, während sich bei anderen Verhaltensweisen
wie dem Einschlafen am Steuer eines Fahrzeugs144 eine Finalität nicht erkennen
lässt. Im Wesentlichen dürfte eine Bewertung von Sachverhalten nach dem
Handlungsbegriff Schewes aber auch den Ergebnissen der Rechtsprechung
entsprechen, denn es wird, wie Schewe richtig bemerkt, regelmäßig aus den
äußeren Umständen auch ein Bild von der psychischen Seite entworfen.145
Diese Übereinstimmung vermag indes nicht das Defizit an konkretisierenden
Bedingungen bei der jeweiligen Vorgehensweise auszuräumen.

b) Soziale Handlungslehre (Engisch und Maihofer)

Engisch bezieht in seine Handlungslehre sowohl kausale als auch finale und
soziale Aspekte ein.146 Handeln sei „das willkürliche Bewirken objektiv be-
zweckbarer Folgen seitens eines Menschen“.147 Mit dem Merkmal der Objekti-
vität löst sich Engisch von der Täterpersönlichkeit, stellt auf die „erfahrungs-
mäßig adäquaten“ Folgen ab.148 Dabei schließt er sich dem „Welzelschen Aus-
gangspunkt“ an, dass der Mensch in der Lage sei, „den kausalen Nexus final zu
überdeterminieren“.149 Das Merkmal der Willkürlichkeit bedeute nur, „daß der
Täter psycho-physisch in der Lage war, sich anders zu verhalten, daß er ,Hand-
_________________
144
Vgl. dazu BGHSt 23, 156 ff.
145
Siehe Schewe, Wille, S. 10.
146
Die Definitionsbreite erscheint beim sozialen Handlungsbegriff am größten. Be-
kannte Vertreter, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, sind neben den
genannten Eb. Schmidt, H. Mayer, Bockelmann, R. Lange, Jescheck und zunächst auch
Roxin (s. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92), der heute jedoch eine eher personale
Handlungslehre vertritt (dazu unten, S. 177). Diese Lehren weisen insofern Ähnlichkeit
mit dem finalen Handlungsbegriff auf, als sie auf den (sozialen) Gesamtzusammenhang
der Tat abstellen. Sie verbänden den subjektiven Willen des Menschen der finalen
Handlungslehren mit dem Zusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg nach der
naturalistischen Handlungslehre und fügten diesem das Element sozialer Auswirkung
der Handlung bei: „Handlung ist alles sozialerhebliche Verhalten“ (so Jescheck,
Eb. Schmidt-FS, S. 151).
147
Engisch, Kohlrausch-FS, S. 164.; vgl. auch ders., Weltbild, S. 38.
148
Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 162.
149
Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 160 u. 153.
174 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

lungsfreiheit‘ besaß“. Diese Freiheit wird als relative, als „eine Freiheit von
Lähmung, von Zwang usw.“ verstanden. 150 Deshalb geht Engisch bei den „un-
geschickten Bewegungen“ davon aus, „daß es dem Handelnden bei genügender
Selbstdisziplin freigestanden hätte, die Bewegung richtig auszuführen“. Diese
Freiheit bestehe dagegen nicht bei mit absoluter Gewalt erzwungenen oder rein
reflektorischen Bewegungen.151
Im ersten Teil dieser Arbeit wurde auf die Schwachstelle dieser Lehre im
Spannungsfeld zwischen Freiheit, Vorwurf und Determination bereits hinge-
wiesen. Auch hier kann der Mangel an Selbstdisziplin, soweit die Willensfrei-
heit nicht berührt werden soll, nur als unvermeidbar verstanden werden. Nur
wenn die Umstände anders gewesen wären, wäre der Mangel ausgeblieben
beziehungsweise nicht in Erscheinung getreten. Da sie nicht anders waren,
konnte auch keine andere als die tatsächliche Reaktion erfolgen. Aus der Ex-
post-Betrachtung ist alles Geschehene deshalb „zwangsläufig“ eingetreten.
Somit kann es aus der Nachschau hinsichtlich der Vermeidbarkeit auch keinen
Unterschied machen, ob eine „ungeschickte Bewegung“ oder eine „reflektori-
sche Bewegung“ vollzogen wurde. Da Engisch deshalb nur die relative Freiheit
von „Zwang“ zum Zeitpunkt der Ausführung der Verhaltensweise als Grundla-
ge für seine Differenzierung heranziehen kann, wird mit Blick auf die Spontan-
reaktionen die Handlungsfreiheit zur Ausführung derselben bei der Frage ihrer
Vermeidbarkeit konkreter zu beleuchten sein.152
Die Vermeidbarkeit und damit das „Menschenmögliche“ grenzt auch den
sozialen Handlungsbegriff Maihofers ein.153 Er definiert diesen als „jedes ob-
jektiv beherrschbare Verhalten mit Richtung auf einen objektiv voraussehbaren
Erfolg“154 und entfernt seine Voraussetzungen damit von den konkreten Mög-
lichkeiten des individuellen Menschen. Dass er dabei von der grundsätzlichen
Fähigkeit des Menschen zu geistiger Verhaltenssteuerung ausgeht, ergibt sich
aus folgender Annahme: „Alles Handeln hat seinen ontologischen Grund in
dem Vermögen des Menschen, sich intellektuell wie voluntativ von dem in
Instinkt und Trieb vorgezeichneten Lebensentwurf zu lösen, damit anders als
seiner sinnlichen Natur entsprechend zu verhalten, und so sein Leben nicht
nach eingestifteten Zwecken blind zu vollziehen, sondern nach vorgesetzten

_________________
150
Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 164.
151
Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, Fn. 82.
152
Vgl. dazu unten, S. 191 ff.
153
Vgl. Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 180.
154
Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 178. Äußerlicher noch eine frühere Definition:
„,Handlung‘ ist menschliches Verhalten, das auf Bewirkung der Verletzung strafrecht-
lich geschützter Rechtsgüter gerichtet ist“ (Handlungsbegriff, S. 72).
Kapitel 1: Die Handlung 175

Zwecken sehend zu gestalten.“155 Eine Annahme, die wenigstens Handlungs-


freiheit voraussetzt.
Die Eliminierung des Willens aus der Definition der Handlung ist auf die
Überlegung Maihofers zurückzuführen, dass es augenscheinlich Verhaltenswei-
sen gebe, die nicht mehr als willkürlich bezeichnet werden könnten und die
dennoch strafrechtlich in Betracht gezogen werden müssten.156 Trotz Aus-
schluss des Willenselements verbleibt als Grundvoraussetzung für eine Hand-
lung aber die geistige Fähigkeit des Menschen, die es ermöglicht, das Verhalten
mit seinen sozialen Wirkungen als prinzipiell voraussehbar und beherrschbar
aufzufassen. Die objektive Beherrschbarkeit setzt also Handlungssteuerung
durch geistige, nicht notwendig willkürliche Tätigkeit voraus. Für die konkrete
Subsumierung der Spontanreaktionen unter diesen Handlungsbegriff gilt das zu
Engisch Gesagte.

c) Die „menschliche Seinsäußerung“ nach Michaelowa

Den Vorteil, der daraus erwächst, auch nicht „spezifisch“ menschlichen


Verhaltensweisen Handlungsqualität zuzuschreiben, nutzt Michaelowa für
einen von geistiger Steuerung unabhängigen Handlungsbegriff. Obgleich davon
ausgehend, dass der Mensch im bewussten Zustand als psychophysisches We-
sen über Willensäußerungen zur Verhaltenssteuerung fähig sei157, sieht er diese
Fähigkeit als unwesentlich für einen Handlungsbegriff an, der sich loslöst von
einem an den Menschen herangetragenen sittlichen Sollen. Man müsse das
Strafrecht nicht im Sinne einer solchen „Sollenstheorie“ verstehen, die die
Verhaltensnorm primär als sittlichen Appell an das freie, autonome Subjekt als

_________________
155
Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 170. Im Hintergrund solcher „objektiven“ Voraus-
setzungen, wie der Maihofers, lauert freilich die im ersten Teil dieser Arbeit (S. 99 ff.)
angesprochene Problematik, dass zwar der Strafrechtler im weiteren Verlauf der straf-
rechtlichen Prüfung das Vorliegen dieser Voraussetzungen beim konkreten Individuum
verneinen kann, diese Möglichkeiten dem Verfassungsrechtler, der sich beim Würde-
begriff auf dieselben Voraussetzungen beruft, indes nicht ohne weiteres zustehen, wo-
durch die beschriebenen Widersprüche entstehen.
156
Siehe Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 164, 167 f. Hiermit setzt sich auch Boehm
auseinander, dem zufolge sich die Zurechnung der Spontanreaktionen „aus der sie be-
gründenden sozialen Einstellung“, der allgemeinen Fähigkeit und Bereitschaft zur Mo-
tivaktivierung ergebe (s. Fehlleistungen, S. 119 f.). Allerdings lasse sich ihre Hand-
lungsqualität nur mittels individueller Maßstäbe feststellen, weshalb sie endgültig erst
auf der Schuldebene erfasst werden könnten (s. ebd., S. 121).
157
Siehe Michaelowa, S. 81.
176 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

den jeweiligen Urheber seines Verhaltens begreift.158 Vielmehr könne es auch


im Sinne einer „Zwangstheorie“159 aufgefasst werden, wonach ihm allein die
instrumentelle Funktion zukomme, Gefahren von der Gemeinschaft abzuwen-
den. Diese Gefahren könnten aber von bewussten wie von unbewussten, von
freien wie von determinierten Verhaltensweisen gleichermaßen ausgehen.160
„Ob der Mensch die Fähigkeit zur Verwirklichung eines Willens besaß, ja ob er
überhaupt etwas gewollt hat, kann für die Sozialschädlichkeit seiner Seinsäuße-
rungen ebenso wenig maßgeblich sein wie die sittliche Freiheit, wozu insbe-
sondere auch die Freiheit der Willensbildung gehört.“161 „Wir können also
sagen: Alle möglichen Seinsäußerungen des Menschen (nicht nur die für seine
Menschheit kennzeichnenden) sind, weil sie sämtlich für Gemeinschaftsgüter
gefährlich werden können, für das Strafrecht grundsätzlich gleichwertig.“162
Der Handlungsbegriff nach dieser Zwangstheorie (im Sinne Michaelowas)
vermag damit automatisierte Verhaltensweisen insgesamt und damit auch die
Spontanreaktionen zu erfassen. Erst in einem zweiten Schritt sei zu fragen, ob
es sinnvoll ist, den Menschen hierfür auch zu bestrafen. Dies sei danach zu
beurteilen, ob durch die staatliche Reaktion weitere Rechtsgutsbeeinträchtigun-
gen verhindert werden können.163 Im Gegensatz zu Schewe vermag Michaelo-
wa damit zu erklären, warum er die Frage der Vermeidbarkeit erst in einer
nachfolgenden Prüfung aufwirft, dies allerdings um den Preis, dass die bisher
als „Nichthandlungen“ qualifizierten Verhaltensweisen nicht schon vorab aus-
geschieden werden können. Roxins Einwand, der Handlungsbegriff Michaelo-
was stelle Handlungen mit Naturwirkungen auf eine Stufe und könne damit
seiner Abgrenzungs- und Verbindungsfunktion nicht gerecht werden164, greift
nur bedingt durch. Als Verbindungselement zeichnet sich der Handlungsbe-
griff, Roxin zufolge, gerade durch seine Neutralität und Indifferenz den De-
liktskategorien gegenüber aus.165 Dies leistet aber der Begriff der Handlung als
„Seinsäußerung“, wie ihn Michaelowa mit der „Zwangstheorie“ assoziiert
(wenn auch ohne ein eindeutiges eigenes Bekenntnis dazu). Denn ein solcher
_________________
158
Siehe Michaelowa, S. 27 f. – Dagegen ist die durchgesetzte Sanktionsnorm selbst-
verständlich nach allen Auffassungen, also auch nach der so verstandenen „Sollenstheo-
rie“ eine unmittelbar (per vis absoluta) zwingende und erzwungene Norm.
159
Nach Feuerbach ist der Zweck der Strafandrohung die Abschreckung des poten-
tiellen Täters vor der Begehung der Tat; Zweck der Strafe ist die Realisierung der An-
drohung, um deren künftige Wirksamkeit zu gewährleisten (s. Revision I, S. 89 ff.).
160
Siehe Michaelowa, S. 79 f.
161
Michaelowa, S. 75.
162
Michaelowa, S. 81.
163
Vgl. Michaelowa, S. 82.
164
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Fn. 100; kritisch auch Jakobs, Welzel-FS, S. 309,
Fn. 8.
165
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 3.
Kapitel 1: Die Handlung 177

Begriff stellt weder inhaltliche Anforderung an die Form der Seinsäußerung


noch bewertet er diese und greift damit der Schuldfrage nicht vor. Wegen der
Bezeichnung als „menschliche“ Seinsäußerungen scheiden jedoch tierische
Verhaltensweisen und externe Naturwirkungen, aber auch Gedanken und Ge-
sinnungen sowie Akte juristischer Personen aus dem Handlungsbegriff aus. Das
Konzept Michaelowas ist damit, soweit man den Sinn des Strafrechts auf seine
Funktion als Schutzinstrument der Gesellschaft vor Schädigungen der Rechts-
güter ihrer Mitglieder reduziert, nur konsequent.

d) Personale Handlungslehre (Roxin und Arthur Kaufmann)

Als dem Handlungsbegriff der Zwangstheorie, wie ihn Michaelowa entwi-


ckelt, diametral entgegensetzt ließe sich wohl die personale Handlungslehre
bezeichnen. Während Michaelowa auch die nicht spezifisch menschlichen
Verhaltensweisen integriert, bezieht die personale Handlungslehre ihr Abgren-
zungskriterium aus den besonderen Fähigkeiten des Menschen. Indem auf die
in der Handlung zum Ausdruck kommende Persönlichkeit abgestellt wird, soll
der Unterschied zwischen Mensch und Tier hervorgehoben werden. Denn nach
Roxin könne man zwar darüber streiten, ob Tiere zu willentlicher oder finaler
Handlung fähig seien, Persönlichkeitsäußerungen seien ihre Aktionen aber
nicht.166
Zur Lösung der Fälle automatisierter Handlungsweisen und Schreckreaktio-
nen stellt er zunächst fest, dass hier auf Merkmale wie den bewussten Willen,
die planvolle Steuerung oder die bewusste Überlegung nicht abgestellt werden
könne.167 Hinsichtlich der Autofahrt eines Volltrunkenen bemerkt er: „[...] in
welchem Maße diese Verhaltensweisen bewußt geschehen [...], ist für die An-
nahme einer Handlung gleichgültig.“168 Man werde diesen Fällen nicht gerecht,
„wenn man sie mit den Merkmalen der Freiheit oder klaren Bewußtheit verbin-
det“.169 Der personalisierte Handlungsbegriff hingegen könne auch diese Fall-
gruppen erfassen. „Denn es liegt eine Persönlichkeitsäußerung vor, solange wir
es mit den Anpassungsleistungen des seelischen Apparates an Gegebenheiten
oder Ereignisse der Außenwelt zu tun haben, die Persönlichkeit läßt sich nicht
auf die Sphäre taghellen Bewußtseins reduzieren.“170
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen überrascht dann aber die Begründung
des Kriteriums für Nichthandlungen: „Wenn jemand mit unwiderstehlicher
_________________
166
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 58; vgl. auch Tröndle/Fischer, Vor § 13, Rn. 3.
167
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 67 f.
168
Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 70.
169
Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 71.
170
Roxin, ebd.; ähnlich Haft, StrafR AT, S. 28.
178 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Gewalt in eine Fensterscheibe gestoßen wird, wenn er im Schlaf, im Delirium,


im Krampfanfall um sich schlägt, wenn er rein reflexartig reagiert, dann sind
das Äußerungen, die durch Willen und Bewußtsein nicht beherrscht oder be-
herrschbar sind und deshalb nicht als Persönlichkeitsäußerungen bezeichnet,
der seelisch-geistigen Schicht der ,Person‘ nicht zugerechnet werden kön-
nen.“171 Demzufolge wäre die Feststellung einer Persönlichkeitsäußerung doch
wieder von der Beherrschbarkeit durch den Willen und das Bewusstsein abhän-
gig. Folgt man dem zuvor zitierten Vorschlag Roxins, den Handlungsbegriff
von Kriterien wie dem Bewusstsein oder der Willkürlichkeit loszulösen, dann
eröffnet dies aber gerade die Möglichkeit, unbewusstes oder unwillkürliches
Verhalten einzubeziehen. Denn auch Roxin zufolge sind die Erscheinungsfor-
men von Persönlichkeitsäußerungen sehr verschieden.172 Das legt indes die
Frage nahe, ob beispielsweise die Krampfanfälle eines Epileptikers, die Laut-
äußerungen eines Menschen mit dem Tourette-Syndrom173 oder das nächtliche
Umhergehen eines Schlafwandlers nicht auch Bestandteile der Persönlichkeit
des Menschen sind. Das „seelisch-geistige Aktionszentrum“ schien im „Epilep-
tiker-Fall“174 durchaus aktiv zu sein, immerhin versuchte der Angeklagte nach
seinem subjektiven Erleben über einen längeren Zeitraum die Verletzung von
Personen zu vermeiden. Es wäre auch als komplexe „Anpassungsleistung“ des
„seelischen Apparates“ zu beurteilen, wenn dieser „Irrtum“ des Angeklagten
darauf beruhte, dass ihm sein „seelischer Apparat“ Gegebenheiten „vorgaukel-
te“. Außerdem wird beispielsweise das Knirschen der Zähne im Schlaf oftmals
als Ausdruck einer gestressten Persönlichkeit verstanden, wie das Würgen der
Ehefrau im Schlaf wohl oft als Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit aufzu-
fassen wäre. Davon, dass hier keine „Umweltbezogenheit“ vorliege, kann bei
letzterem Beispiel und auch bei einem Schlafwandler, der nachts eine Straße
überquert, kaum die Rede sein. Der Begriff der „Persönlichkeitsäußerung“
erscheint daher noch klärungsbedürftig. Es bedarf insbesondere objektiv zu-
gänglicher Kriterien, wann Verhaltensweisen der „seelisch-geistigen Sphäre“
des Menschen entspringen sollen und wann sie als „Naturwirkungen“ zu klassi-
fizieren sind. Nach dem Gesagten ist nicht ersichtlich, dass es diesem Hand-
lungsbegriff dabei gelingen kann, auf das Bewusstsein und den Willen zu ver-
zichten.175
_________________
171
Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 44.
172
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 75.
173
Diese Menschen fallen durch „Ticks“, insbesondere im Kopfbereich, wie plötz-
liche Zuckungen, Schnaufen, Schnalzen, Ausspucken oder spontane Ausrufe auf.
174
Vgl. oben, S. 102 u. 148.
175
Roxin hebt die Ausfüllungsbedürftigkeit seines Abgrenzungskriteriums allerdings
als positiv hervor: Die Kennzeichnung als Persönlichkeitsäußerung biete keine Definiti-
on, aus der sich im Einzelnen logisch deduzieren ließe, was eine Handlung sei (s. StrafR
AT/1, § 8, Rn. 75).
Kapitel 1: Die Handlung 179

Den Handlungsbegriff auch auf Verhalten zu erstrecken, das auf einer Art
„unbewusstem Willen“176 beruht, schafft darüber hinaus noch weitere Proble-
me. Da ein unbewusster Wille vom Menschen selbst nicht wahrgenommen
wird, kann er auch schwerlich von außen festgestellt werden.177 Ginge man
dennoch davon aus, dass er rechtliche Relevanz entfalten könnte, dann wäre
beispielsweise mit Blick auf das sogenannte tatbestandsausschließende Einver-
ständnis auch zu überlegen, ob in manchen Fällen ein unbewusster Wille des
Opfers mit dem Verhalten des Täters übereinstimmen könnte und deshalb auf-
grund eines „unbewussten Einverständnisses“ der Tatbestand nicht erfüllt wäre.
Gleiches gilt für die vis absoluta: Wie soll ausgeschlossen werden können, dass
nicht doch ein unbewusster Wille dieses Verhalten, welches herkömmlich keine
Handlung darstellt, unterstützte? Das Kriterium eines unbewussten Willens ist,
wie Schewe in Bezug auf einen psychologisch angelehnten Willensbegriff im
Bereich der juristischen Handlungsproblematik formulierte, „nur eine Scheinlö-
sung – eine Möglichkeit, mit Hilfe einer Ausweitung des Willensbegriffs bis zu
einer beliebigen Verwendbarkeit jede gefühlsmäßig als richtig empfundene
Entscheidung verbal zu rechtfertigen und jede abweichende Auffassung unter
Hinweis auf die ,tiefer‘ angesetzte ,Bewußtseinsschwelle‘ abzutun“.178
Nach Arthur Kaufmann, dem „geistigen Vater“ der personalen Handlungs-
lehre, soll sich in unbewussten Verhaltensweisen die „Würde des Persona-
len“179 niederschlagen. Er unterscheidet zunächst zwischen vier realen Welten:
Der Welt der Materie, wozu anorganische Dinge zählen, des Lebens im Sinne
einer organisch-vegetativen Welt, zu der die Pflanzen gehören, der Seele, als
der Welt des animalischen, sensitiven, aber auch des sinnlichen Bewusstseins,
zu der die Tierwelt zählt und schließlich der Welt des Geistes, die durch Sinn-
haftigkeit, Geistigkeit und reflexives Bewusstsein geprägt ist und nur vom
Menschen erfahren werden kann.180 Die Welten stellen dabei ein Schichtenmo-
dell dar, das hierarchisch aufgebaut ist, so dass die jeweils höhere Schicht die
darunterliegenden in sich vereint, während es von den unteren Ebenen keinen
Zugang zu den höheren gibt.181 Da die geistige Welt gleichsam die höchste

_________________
176
So dürfte Roxins Kritik am Erfordernis eines „bewußten Willensanstoßes“ (StrafR
AT/1, § 8, Rn. 12) beim naturalistischen Handlungsbegriff zu verstehen sein. Ähnlich
aber auch Welzel, ZStW 60 (1941), S. 435 ff.
177
Damit mag dieser Willensbegriff philosophisch oder psychologisch diskutiert
werden (vgl. Binding, Normen, Bd. 2/1, S. 304 ff. m. w. N.), in der Rechtspraxis ist er
ein wenig taugliches Konstrukt. Kritisch auch Koriath, Zurechnung, S. 639.
178
Schewe, Reflexbewegung, S. 52.
179
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101.
180
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 98.
181
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 99. Der „geistige Vater“ dieses
Schichtmodells wiederum ist Aristoteles (s. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 79 ff.).
180 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Stufe darstellt, ist für Tiere sinnhaftes Verhalten nicht möglich, während der
Mensch das materielle, pflanzliche, tierische und geistige in sich vereint.
Es ist daher nach der These Arthur Kaufmanns für den Menschen möglich,
auf den verschiedenen Ebenen zu agieren. Die Fälle der vis absoluta, in denen
der Mensch bewegt wird, entspringen dabei der materiellen Welt, Reflexbewe-
gungen sind der Welt des organisch-vegetativen zuzuordnen, die Verhaltens-
weisen eines Schlafwandlers oder eines Hypnotisierten der animalischen
Welt.182 Da diesen Aktionen das Moment der Verantwortlichkeit, der Freiheit,
mithin das personale Element fehle, stellten sie keine Handlungen dar. Ande-
rerseits setze Personenhaftigkeit nicht das tatsächliche Vorhandensein, sondern
lediglich die Fähigkeit, Potenz, latente Anlage zur geistigen Selbstverfügung
voraus: „Diese ,existenzielle Freiheit‘ ist es, die die sittliche Verantwortlichkeit
des Menschen begründet.“183
Wenn aber bereits die „Anlage zur geistigen Selbstverfügung“ eine Verant-
wortlichkeit des Menschen begründet und diese Anlage zweifelsfrei auch in
den Fällen der vis absoluta, der Reflexe und des Schlafwandlers vorliegt, er-
klärt sich nicht von selbst, warum es in diesen Fällen an der Verantwortlichkeit
fehlen soll. Das Verhalten sei hier „nicht Objektivation der Person des Sich-
Verhaltenden“.184 Zur Klarstellung greift Arthur Kaufmann auf die Lehre Ernst
Amadeus Wolffs zurück und kennzeichnet den personalen Handlungsbegriff
dadurch, dass die Wirklichkeit durch die Entscheidung einer Person gestaltet
werde.185 Damit bildet aber die Möglichkeit im konkreten Fall und nicht ledig-
lich die Fähigkeit oder Anlage zur Entscheidung das Abgrenzungskriterium
zwischen Handlungen und Nichthandlungen. Denn nicht über die Anlage zur
geistigen Selbstverfügung, sondern nur aufgrund einer tatsächlich vorhandenen
Möglichkeit hierzu könnte die Wirklichkeit ja nur gestaltet werden.
Den unbewussten Verhaltensweisen nähert sich Arthur Kaufmann mittels der
Psychoanalyse, weil sie das Unbewusste als menschliche Antriebsschicht er-
kannt habe, es in der postfreudschen Ära schließlich seines animalisch-
triebhaften Charakters entkleidet und damit zum Spezifikum des Menschen
erhoben habe.186 Arthur Kaufmann bezeichnet es in Anlehnung an Freud denn
auch als „Unterbewusstes“, „weil dieser Begriff wohl am besten zum Ausdruck
bringt, daß es sich hier um diejenige seelische Schicht, oder besser vielleicht:
seelische Funktion handelt, die so unmittelbar unter der Schwelle des Wachbe-

_________________
182
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 100.
183
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101.
184
Arthur Kaufmann, ebd.
185
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101.
186
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 109.
Kapitel 1: Die Handlung 181

wußtseins liegt, daß sie in dieses heraufgehoben werden kann“.187 „Denn was
aus dem Unterbewußten heraus geschieht, ist bewußtseinsfähig, kann bewußt
gemacht und daher vom Willen beherrscht werden. Nicht allein diejenigen
Kausalverläufe sind dem Menschen als Handlungen zurechenbar, die von ihm
gewußt und von seinem Willen tatsächlich beherrscht waren, sondern auch
solche, die als mögliche Gegenstände seines Bewußtseins durch seinen Willen
beherrschbar waren.“188
Zusammenfassen lässt sich Arthur Kaufmanns Lehre damit wie folgt: Die
menschliche Handlung muss auf einer Entscheidung beruhen, die mithilfe des
bewussten Willens ausgeübt wird. Da das Bewusstsein aber nur erfassen kann,
was eben bewusst ist, muss der Wille auch das Unbewusste bewusst machen.
Wie er das nun aber machen soll, bleibt, wie bei Stratenwerth und Roxin,
ungeklärt. Auch wenn Arthur Kaufmann durch den Ausdruck „unterbewusst“
versucht, es als quasi „halbbewusst“ darzustellen, bleibt dessen wesentliches
Merkmal, dass es gerade nicht bewusst ist. Der Grund, warum diese
Vorstellung so schwer eingängig ist, liegt darin, dass niemand jemals
unbewusste Vorgänge erleben kann. Wenn sich Arthur Kaufmann auf seine
Frage „Wie aber kann man feststellen, daß ein Kausalverlauf für einen
Menschen, der ihn sich nicht bewußt gemacht hat, beherrschbar war?“189 selbst
antwortet: „Wir haben hier kein anderes Mittel als unsere Erfahrung“190, dann
ist dies schwer nachfühlbar, denn einerseits kann das Unbewusste gerade nicht
erfahren werden, weil es dann bewusst wäre, und andererseits kann ex post
auch nicht durch Erfahrung festgestellt werden, dass etwas beherrschbar war.
Zwar mögen rationale Rückschlüsse zu dieser Feststellung Anlass geben; die
Erfahrung selber vermag hier aber nichts mit Gewissheit festzustellen. Die
Aussagen Arthur Kaufmanns sind deshalb weder beweisbar noch erfahr- oder
erlebbar. Es bleibt als Quintessenz festzuhalten, dass psychoanalytische
Modelle zwar gewisse Erklärungsansätze bieten können, aber kaum geeignet
erscheinen, dem Richter Beurteilungskriterien bei der Frage der Handlungs-
qualität an die Hand zu geben.

e) Der kognitive Handlungsbegriff Kargls

Im ersten Teil dieser Arbeit wurden die wesentlichen Voraussetzungen der


kognitiven Straftheorie Kargls bereits erörtert.191 Die für den Handlungsbegriff
_________________
187
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 110.
188
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 112.
189
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 113.
190
Arthur Kaufmann, ebd.
191
Siehe oben, S. 62.
182 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

entscheidenden Elemente sollen diesen daher nur hinzugefügt werden. „Der


kognitive Handlungsbegriff versteht Handeln als Entscheidungsverhalten, das
zustandsdeterminiert und dennoch verantwortlich ist.“192 Die Verantwortlich-
keit ergibt sich aus der Fähigkeit des Individuums, auf der Basis seines affekt-
logischen Bezugssystems Entscheidungen zu treffen. Werde der Willensakt als
psychophysiologischer Vorgang gewertet, so spricht nach Kargl nichts dage-
gen, auch tierisches Verhalten einzubeziehen. Es müssten daher überwiegend
die kognitiven Möglichkeiten des Menschen sein, wozu die Fähigkeit zähle,
(strukturdeterminierte) Entscheidungen zu treffen, die es ermöglichten, den
Handlungsbegriff auf menschliches Verhalten zu begrenzen.193
Die Grenze zwischen Handlung und Nichthandlung sieht Kargl „zwischen
erlerntem und angeborenem Verhalten bewußtseinsbegabter Lebewesen“ gezo-
gen.194 Das angeborene oder instinktive Verhalten resultiere aus den immensen
Zeiträumen der Phylogenese der Spezies.195 „Die angeborenen Bewegungsmus-
ter entziehen sich also den Lernprozessen des Menschenlebens und sind daher
nicht durch Selbstbeobachtung veränderbar. Das macht es aus, daß für
,instinktives‘ Verhalten keine ,Rechenschaft‘ verlangt werden kann.“196 Als
Beispiele führt er das Lächeln, Lachen und Weinen an und gelangt sodann zu
dem Schluss, man täte gut daran, für den menschlichen Bereich mit der Be-
zeichnung des Instinktverhaltens äußerst zurückhaltend zu sein, denn sehr viel
mehr Beispiele für rein instinktgebundenes Verhalten ließen sich bezeichnen-
derweise gar nicht anführen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten und der
„sozio-kulturellen Überformung“ des ursprünglich phylogenetisch festgelegten
Verhaltensrepertoires sei es nicht ratsam, die Beurteilung der Zurechenbarkeit
von der Ebene des Tatbestands zu abstrahieren.197
Da Kargl der (strukturdeterminierten) subjektiven Entscheidung Einfluss auf
das Verhalten zuschreibt und nach seiner Ansicht Entscheidungen ihrerseits
wesentlich vom Wissen des Menschen abhängen, macht das Wissen und nicht
das Wollen die für das Strafrecht relevante Handlungsqualität aus. Eine Reduk-
tion auf das Wollen müsste dagegen auch das tierische Verhalten umfassen. Die
Feststellung der Handlung verlagert sich damit in den subjektiven Tatbestand.
Hier lasse sich – notfalls mit gutachterlicher Hilfe – bestimmen, ob die Reak-
tion der kognitiven Kontrolle unterliege und damit zugerechnet werden könne,
was wesentlich durch das vorangegangene Geschehen bestimmt werde. Ob es
sich bei den Spontanreaktionen um Handlungen handelt, lasse sich daher erst
_________________
192
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 526.
193
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 534.
194
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 531.
195
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 532.
196
Kargl, ebd.
197
Siehe Kargl, ebd.
Kapitel 1: Die Handlung 183

auf der Ebene des subjektiven Tatbestands klären.198 Im Gegensatz zu den


meisten der vorangegangenen Handlungslehren verzichtet Kargl zwar auf den
Willen als Abgrenzungskriterium; zu beachten ist aber, dass auch die kognitive
Kontrollierbarkeit ein geistiges Moment darstellt, dem eine unbewiesene Beein-
flussung der neuronalen Strukturen zugeschrieben wird, die dann ihrerseits das
Verhalten auslösen.

f) Der funktionale Handlungsbegriff Jakobs’

Jakobs sieht die automatisierten Verhaltensweisen als genuin von seinem


Handlungsbegriff miterfasst an.199 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit sei
davon abhängig, ob der Automatismus selbst motivatorisch aufhebbar sei,
durch einen bewussten Willensakt in seinem Ablauf gestört werden könne oder
in der Situation selbst unvermeidbar sei. Im ersten Fall, der die Möglichkeit zur
Bildung einer Gegenmotivation im Vorfeld der Verhaltensweise voraussetzt,
kommt Jakobs zu dem Ergebnis, dass bei unterlassener Gegenmotivation in der
automatisierten Verhaltensweise selbst eine Handlung zu erblicken sei, wenn
diese durch die Bildung der Gegenmotivation vollständig ausgeblieben wäre.
So müsse ein Autofahrer bei Glatteis behutsam die Bremse betätigen, wenn vor
ihm gebremst wird, auch wenn er bei normalen Witterungsverhältnissen auto-
matisch kräftiger bremsen würde. Im zweiten Fall gehe es um nur-motiva-
torisch nicht aufhebbare Automatismen, deren Folgen jedoch durch eine Hand-
lung verhindert oder abgeschwächt werden könnten. Insoweit sei der Automa-
tismus selbst zwar keine Handlung, der Anknüpfungspunkt strafrechtlicher
Verantwortlichkeit werde aber auf die den Ablauf potentiell störende Handlung
verlegt. Als Beispiel nennt er den Fall eines Autofahrers, dem bei hoher Ge-
schwindigkeit ein Kleintier vor das Auto läuft. Dieses könne jedenfalls ein Fah-
rer, der erstmals in eine solche Situation gerate, kaum ohne bewusstes krampf-
haftes Einhalten der Fahrtrichtung überfahren. Das Nicht-Einhalten der Fahrt-
richtung komme dann als strafbares Unterlassen in Betracht. Ist der Automa-
tismus schließlich selbst unvermeidbar, weil er bereits abläuft, bevor das Sub-
jekt die Situation oder die Fehlerhaftigkeit der automatischen Reaktion in der
Situation wahrgenommen hat, dann sei weder der Automatismus Handlung
noch sei das Ausbleiben einer paralysierenden Handlung eine Unterlassung.
Gleichwohl komme hier eine Verantwortlichkeit aufgrund der Übernahme der
Situation in Betracht.200 Diese Aufteilung wirkt auf den ersten Blick schlüssig.
Die strafrechtliche Überprüfung muss aber zunächst die Vermeidbarkeit in den
_________________
198
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 533 ff.; siehe dazu unten, S. 221.
199
Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/27.
200
Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/38, 39; vgl. auch ders., Studien, S. 78 f.; ablehnend
LK-Jähnke, § 20, Rn. 1.
184 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Blick nehmen; erst hiernach kann eine Aussage darüber getroffen werden, ob
der Automatismus als Handlung in Betracht kommt. Problematisch ist der em-
pirische Gehalt der Voraussetzungen dieses Handlungsbegriffs, denn es fehlt an
einer Erklärung, wie automatische Impulse aufgehoben und von wachbewuss-
ten Steuerungsmaßnahmen übernommen werden können.201 Da Jakobs auf die
für einen Motivationsprozess notwendige Zeitspanne verweist202, knüpft er
insoweit an konkrete psychophysiologische Möglichkeiten des Menschen an.
Diese muss der Handlungsbegriff Jakobs’ berücksichtigen, da innerhalb jener
Zeitspanne die kognitiven Möglichkeiten eingeschränkt sein sollen. Kann aus
einem solchen Grunde das Unrecht nicht vermieden werden, müsste dies damit
korrespondieren, dass die Erwartungshaltung der Gesellschaft, die Norm werde
eingehalten, in solchen Fällen ausbleibt oder jedenfalls „kognitiv erledigt wird,
der Täter also für nicht zuständig gehalten wird, die ihn durchlaufenden, objek-
tiven Verhaltensbedingungen umzuformen [...]. Bei dieser Sicht scheint der
Täter einen Sinn zu entwerfen; genauere Analyse zeigt freilich, daß der maß-
gebliche Grund etwas ist, was Sinn ausschließt: Krankheit oder sonstige Ge-
walt.“203 In diesen Fällen wird demzufolge auch die Geltung der Norm nicht in
Abrede gestellt. Ob dieser Handlungsbegriff geeignet ist, automatisierte Ver-
haltensweisen zu erfassen, wird sich erst im Rahmen der nachfolgenden Prü-
fungsschritte erweisen.

3. Zusammenfassung

Für die Problematik der automatisierten Verhaltensweisen konnten folgende


Erkenntnisse gewonnen werden: Der naturalistische Handlungsbegriff vermag
unwillkürliche Verhaltensweisen nur mittels einer Ausdehnung des Begriffs der
„Willkürlichkeit“ über die einzelne Körperbewegung hinaus auf das Ziel der
Handlung zu erfassen. Damit sind, wie beim finalen Handlungsbegriff Welzels,
jedoch nur diejenigen unwillkürlichen Bewegungen erfasst, die mit einem vor-
angegangenen Entschluss in Zusammenhang stehen. Da den Spontanreaktionen
kein bewusster Entschluss vorangeht, vermögen diese Handlungsbegriffe wie
auch die auf bewusste Kenntnis abstellende symptomatische Handlungslehre
diese Reaktionen nicht als Handlungen aufzufassen. Der finale Handlungsbe-
griff Stratenwerths verlagerte die Problematik in die unzugängliche Ebene der
Willensfreiheit, indem erst auf der Ebene der Zurechnung die Möglichkeit der
_________________
201
Vgl. bereits die Kritik im ersten Teil dieser Arbeit, S. 58 ff.
202
Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/38; dazu ausführlich unten, S. 191 ff.
203
Jakobs, Handlungsbegriff, S. 42; mit „Entwurf von Sinn“ meint Jakobs hier den
im Täterverhalten manifest gewordenen Ausdruck einer Norm, die von der rechtlich
geforderten Verhaltensnorm abweicht, zu dieser also den Entwurf eines normativen
„Gegensinnes“ darstellt.
Kapitel 1: Die Handlung 185

bewussten Übernahme einer unbewussten Bewegung geprüft werden soll. Um


die Spontanreaktionen vom Handlungsbegriff umfassen zu lassen, unterstellt
Stratenwerth einerseits, dass Automatismen grundsätzlich auch bewusst vollzo-
gen werden können, und andererseits, dass sie „erlebnismäßig bedingt“ erfol-
gen. Dagegen bedient sich Schewe einer rein äußeren Finalität zur Bestimmung
dessen, was eine Handlung ist, und kann damit zwar auch automatisierte Ver-
haltensweisen einbeziehen, liefert aber keinen wissenschaftlichen Zugewinn bei
der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung und vermag auch die Erfor-
derlichkeit eines eigenständigen Handlungsbegriffs nicht zu begründen.
Engisch stellt seinen Handlungsbegriff auf den Boden relativer Freiheit, wo-
bei er die Fähigkeit zur geistigen Verhaltenssteuerung voraussetzt. Ob eine
Handlung gegeben ist, beantwortet sich mit Feststellung der situativen und
konstitutionellen Zwangswirkungen, die hier innerhalb der Überprüfung der
Vermeidbarkeit vorgenommen werden soll. Auch Maihofer geht mit seinen
Kriterien der objektiven Beherrschbarkeit und objektiven Voraussehbarkeit
davon aus, dass menschliches Verhalten geistig kontrollierbar ist. Diese Vor-
aussetzungen lassen sich ebenso wie die des Handlungsbegriffs von Engisch
bei der Prüfung der Vermeidbarkeit aufgreifen.
Die Frage, was Menschen möglich ist, berührt auch die Konzepte Kargls und
Jakobs’. Bei Kargl stehen die individuellen Möglichkeiten des einzelnen affek-
tiven Bezugssystems im Vordergrund. Die neuronalen Strukturen würden dabei
auch durch vorangegangene subjektive Entscheidungen verändert, wodurch das
Bezugssystem prinzipiell auf gesellschaftliche Erwartungshaltungen reagieren
könne. Damit nimmt Kargl den Einfluss subjektiver Entscheidungen auf das
Verhalten jedoch ebenso vorweg wie Jakobs, der seinerseits wenig Erklärungen
für die motivationsbildenden Fähigkeiten des Individuums bietet, obwohl er
diese auf teilweise empirischen Boden stellt. Dafür liefert Jakobs ein differen-
ziertes System zur Behandlung automatisierter Verhaltensweisen, das in den
folgenden Kapiteln genauer untersucht werden soll.
Von der personalen Handlungslehre Roxins und Arthur Kaufmanns werden
„unterbewusst“ ablaufende Verhaltensweisen als Ausdruck der menschlichen
Persönlichkeit angesehen und die Problematik der Handlungsqualität vortat-
bestandlich aufgegriffen. Die Fähigkeit zu geistiger Steuerung wie auch die
Möglichkeit zur bewussten Übernahme der „unterbewussten“ Verhaltensweisen
wird durch das Berufen auf philosophische und psychoanalytische Modelle,
schließlich auf subjektive Erfahrungen jedoch nicht nachweisbar gemacht.
Zudem lässt sich aus der personalen Handlungslehre wie auch aus dem Hand-
lungsbegriff Schewes nicht logisch ableiten, was im Einzelfall eine Handlung
und was eine Nichthandlung darstellt.
186 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Indem Michaelowa bei seiner Zwangstheorie den Rechtsgüterschutz in den


Vordergrund der Überlegungen rückt, verlagert sich der Schwerpunkt seiner
Betrachtung zunächst vom Handlungs- zum Erfolgsunrecht.204 Damit umgeht er
die mit dem Handlungsstrafrecht aufgekommene Problematik der Willensbetä-
tigung zunächst und begegnet ihr erst bei der Frage der Sinnhaftigkeit einer
Bestrafung wieder. Einem solchen Handlungsbegriff, der unabhängig von geis-
tiger Tätigkeit jede „menschliche Seinsäußerung“ umfassen soll, gelingt es
damit ohne Rückgriff auf philosophische, kognitionspsychologische oder psy-
choanalytische Modellvorstellungen und die damit verbundenen Beweisschwie-
rigkeiten, auch die automatisierten Verhaltensweisen insgesamt zu erfassen.
Mit diesem Handlungsbegriff müsste jedoch die Abgrenzung von Handlungen
und Nichthandlungen, wie sie bisher vorgenommen wurde, aufgegeben werden.

IV. Konsequenzen für den Schuldbegriff

Arthur Kaufmann bestätigt Roxin in der Kritik an Welzel: Dieser begehe


selbst den „naturrechtlichen Zirkelschluß“ – all das, was der naturrechtliche
Denker für richtig und wünschenswert halte, habe er zuvor (stillschweigend) in
seinen Naturbegriff vom Menschen hineingelegt, ehe er es zur Begründung
seiner Überzeugung wieder heraushole. Das tue er, so Arthur Kaufmann, indem
er die „Natur“ der menschlichen Handlung gleich einem Zauberhut zunächst
mit Dingen versorge, die er ihm hinterher wieder entlocke.205
Wenn es auch nicht immer der Vorsatzwille ist, den Arthur Kaufmann dabei
im Blick hatte, so wurde doch aufgezeigt, dass bis auf die Handlungsbegriffe
Schewes und Michaelowas alle Handlungslehren die Fähigkeit zur Steuerung
der Bewegung durch geistige Tätigkeit voraussetzen und dass zur Begründung
dieser These unterschiedlichste Modellvorstellungen herangezogen werden. An
der Veränderung der Begriffe vom Willen über das Bewusste, Unbewusste,
Unterbewusste bis zum Kognitiven wird dabei der Einfluss fachfremder Er-
kenntnisse zur Unterstützung dieser These deutlich, der sich von der Philoso-
phie über die Psychologie und die Psychoanalyse bis hin zur Kognitionswissen-
schaft erstreckt.
Weder durch die Übertragung dieser Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft
zur Formulierung eines positiven Handlungsbegriffs noch durch Spezifizierung
von Ausschlussfaktoren wird jedoch der Nachweis dieser Fähigkeit des Men-
schen erbracht. Wird bei den sogenannten Nichthandlungen ein Ausschluss der
Möglichkeit zur Handlungssteuerung durch geistige Tätigkeit angenommen,
_________________
204
Was jedenfalls mit Blick auf den in § 23 Abs. 3 StGB gesetzlich verankerten sog.
„untauglichen Versuch“ nicht unproblematisch erscheint.
205
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 83.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 187

muss diese Möglichkeit aber bei den Handlungen positiv gegeben sein. Selbst
wenn man in der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung eine rein nor-
mative Entscheidung sieht, darf diese nicht willkürlich ausfallen. Zwar könnte
man den rechtlichen Nachweis auf das Vorliegen der Ausschlussfaktoren be-
schränken; diese lassen sich aber aufgrund des Elements der Willenssteuerung,
wie aufgezeigt, weder allein durch den Richter selbst noch mithilfe empirischer
Methoden feststellen.
Durch die Ausschlussfaktoren sowohl auf der Handlungs- als auch auf der
Schuldebene wird aber auch verdeutlicht, dass es von der Annahme der Fähig-
keit zu geistiger Verhaltenssteuerung bis zu einem gegen den Willen gerichte-
ten Vorwurf nicht weit ist.206 Dagegen ist ein gegen den Willen gerichteter
Vorwurf nur schwer zu rechtfertigen, wenn der Wille für das Verhalten als
nicht ursächlich angesehen wird. Denn wenn deshalb die Kategorie einer hand-
lungskausalen Willensbetätigung entfiele, dann bräche auch die Brücke zur
Willensfreiheit als Handlungsbedingung – und damit die zur moralischen Ver-
antwortlichkeit.207 Es werden also nicht nur bei Welzel Voraussetzungen der
Schuld in den Handlungsbegriff verlagert.

Kapitel 2
Vermeidbarkeit

I. Vorüberlegungen

Im vorangegangenen Kapitel hat sich gezeigt, dass die meisten Handlungs-


lehren sich darum bemühen, Verhaltensweisen, die gemeinhin als unvermeid-
bar gelten, bereits frühzeitig aus der strafrechtlichen Prüfung ausscheiden zu
lassen. Ob die automatisierten Verhaltensweisen zu diesen „Nichthandlungen“
gehören, ist nach Auffassung des überwiegenden Teils der Literatur nicht ab-
schließend geklärt.208 Insbesondere bei den Spontanreaktionen, also den auto-
matisierten Verhaltensweisen, die eine unmittelbare Reaktion auf ein überra-
schendes Ereignis sind, ist die Vermeidbarkeit zweifelhaft.
_________________
206
So äußert auch F. Kaufmann: „Vielmehr ist in dem Begriff der Handlung bereits
die Beziehung auf ein psycho-physisches Subjekt, das mit Rücksicht auf die psychische
Komponente nicht als solches wahrnehmbar ist, mitgemeint und das psychologische
Urerlebnis der ,Entstehung‘ der Handlung in der Psyche des Handelnden führt schon auf
den tiefsten Stufen des Denkens zu einer primitiven Zurechnung, wonach alles Ange-
nehme seinen Ursprung in den guten Geistern, alles Unangenehme seinen Ursprung in
bösen Geistern habe“ (Grundprobleme, S. 66).
207
Vgl. dazu im ersten Teil, S. 29 ff.
208
Vgl. oben, Teil 2, Kap. 2, Fn. 79.
188 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Die Frage, ob ein Verhalten vermeidbar war, wird erneut relevant, wenn die
Vermeidbarkeit des Erfolges untersucht wird. Denn tritt das den Erfolg herbei-
führende Verhalten mit Zwangsläufigkeit ein, kann also der Täter das Verhalten
nicht „vermeiden“, unterdrücken oder, im Falle eines gebotenen Handelns,
ausführen, dann gilt auch der hierdurch verursachte Erfolg als unvermeidbar
und somit als dem Täter nicht zurechenbar. Am Beispiel der automatisierten
Verhaltensweisen, insbesondere der Spontanreaktionen, sollen auch hier wieder
empirische Voraussetzungen und ontologische Annahmen herausgearbeitet
werden, die dem Begriff der Vermeidbarkeit im Strafrecht zugrundeliegen.
Dabei können Voraussetzungen und Annahmen variieren, je nachdem, welches
Verhalten in den Blick genommen wird, das unmittelbar den tatbestandlichen
Erfolg herbeiführende oder ein vorhergehendes.
Anhand bereits erörterter Fallbeispiele sollen zunächst die Möglichkeiten
diskutiert werden, Spontanreaktionen über das ihnen vorgelagerte und das ih-
nen unmittelbar nachfolgende, dem Erfolg aber noch vorangehende Verhalten
strafrechtlich zu erfassen. Anschließend werden die Spontanreaktionen selber
auf ihre Vermeidbarkeit hin überprüft; dabei werden die von der Rechtspre-
chung anerkannten Reaktionszeiten im Straßenverkehr zur genaueren Klärung
hinzugezogen.

1. Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens

In Fällen automatisierten Verhaltens kann nach Jakobs Anknüpfungspunkt


für eine tatbestandliche Vorverlagerung die Übernahme der Situation sein.209
Dabei ist zu beachten, dass es um die (willkürliche) Herbeiführung der für die
(unwillkürliche) Verhaltensweise konstitutiven Faktoren geht, nicht um die
Beherrschbarkeit der automatisierten Verhaltensweise selbst, eine Differenzie-
rung, die, wie an einem Beispiel von Herzberg deutlich wird, auch bei den
unumstrittenen Fällen der sog. „Nichthandlungen“210 üblich ist211: „Ein Epilep-
tiker, der für einen bestimmten Zeitpunkt einen Anfall vorhersieht, muß sich
danach richten, wenn er in Porzellanläden geht. Zwar kann er zur Zeit des An-
falls nicht vermeiden, was von ihm ausgeht, aber er kann und muß Vorsorge
treffen.“212
_________________
209
Für eine Vorverlagerung auch Noll, GA 1970, 179 f.; SK StGB-Rudolphi, Vor § 1,
Rn. 20 m. w. N. Die Vorverlagerung begrenzend auf unbewusste Fehlleistungen, die im
engen Zusammenhang mit der vorangegangenen willentlich hervorgerufenen Ausgangs-
situation stehen, Boehm, Fehlleistungen, S. 110.
210
Dazu oben, S. 143 ff.
211
Wegen des bei Begehung der Tat erforderlichen Vorsatzes dagegen problematisch
in Fällen der sog. vorsätzlichen actio libera in causa.
212
Herzberg, Unterlassung, S. 181 f.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 189

Hilfsweise gingen auch die Oberlandesgerichte in dem bereits geschilderten


„Fliege-“ und im „Kleintier-Fall“213 auf das Vorverhalten der jeweiligen Ange-
klagten ein; sie stellten einerseits die Möglichkeit einer gesteigerten Aufmerk-
samkeit schon vor dem jeweils unfallverursachenden Ereignis fest und postu-
lierten andererseits eine entsprechende Sorgfaltspflicht seitens der Angeklag-
ten. Das Oberlandesgericht Hamm führt im „Fliege-Fall“ hierzu aus: „Nicht
nur, daß bei Fahren mit offenem Fenster immer wieder mit dem Hereinfliegen
von Fremdkörpern zu rechnen ist und sich der Fahrer dementsprechend darauf
einzustellen und darauf zu achten hat, daß er nicht überreagiert [...]; auch hätte
gerade dann, wenn sich die Angekl[agte] noch relativ unerfahren fühlte und
daher über ihr Reaktionsverhalten in überraschenden Situationen noch nicht
völlig sicher sein konnte, besonderer Anlaß für gesteigerte Konzentration und
Selbstkontrolle bestanden.“214 Und das Oberlandesgericht Frankfurt ist im
„Kleintier-Fall“ der Meinung, „daß die Vergegenwärtigung von Vorkommnis-
sen dieser Art vor Fahrtantritt oder spätestens bei Einbruch der Dunkelheit die
Reaktionsbereitschaft der Angekl[agten] verbessert und damit eine Schreckre-
aktion verhindert oder doch so abgeschwächt hätte, daß die Angekl[agte] dann
verkehrsgerecht reagiert haben würde“.215
Von dem Umstand abgesehen, dass das Handlungsunrecht hier ohnehin
schon einem Bereich entnommen wird, der möglicherweise als „erlaubtes Risi-
ko“ bezeichnet werden könnte216, wird man nicht in jedem Fall automatisierter
Verhaltensweisen ein pflichtwidriges Vorverhalten annehmen können. So lehn-
te der Bundesgerichtshof im Fall des Kriminalhauptmeisters217 entgegen der
Ansicht der Vorinstanz ein Vorverschulden ab. Der Kriminalhauptmeister habe
zwar vor dem tödlichen Schuss seine Waffe zum Schutz vor Entwendung aus
dem Halfter genommen und während der körperlichen Auseinandersetzung mit
dem Angreifer in der Hand gehalten, wodurch er eine Situation geschaffen
habe, die die Möglichkeit eröffnete, dass sich bei der Auseinandersetzung ein
Schuss lösen konnte. Hierzu hätte es jedoch auch kommen können, wenn er den
Griff des Angreifers nach der Waffe durch Anwendung unmittelbaren Zwangs
abzuwenden versucht hätte. Der Kriminalhauptmeister habe damit rechnen
dürfen, dass ihm „die Waffe im Verlauf der Auseinandersetzung gegen seinen
Willen aus dem Holster gelangte.“218
Nicht alle automatisierten Verhaltensweisen, durch die unmittelbar ein straf-
rechtlicher Erfolg herbeigeführt wird, lassen sich im Falle ihrer Unvermeidbar-
_________________
213
Siehe oben, S. 160.
214
OLG Hamm JZ 1974, 716, 717.
215
OLG Frankfurt VRS 28, 364, 366.
216
Vgl. dazu auch unten, S. 228 (Fn. 381).
217
Siehe oben, S. 147.
218
Siehe BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 5 (unveröffentlicht).
190 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

keit also über ein Vorverschulden „auffangen“, wie dies teilweise auch durch
Erweiterungen des Handlungsbegriffs versucht wird.

2. Nachträgliche Kontrollübernahme

Diskutiert wird auch, ob der Mensch mithilfe seines Bewusstseins die Kon-
trolle über eine automatisch eingeleitete Verhaltensweise unmittelbar überneh-
men kann. Müller-Limroth und Schneble zufolge wird bei einem Automatismus
der Handlungsauslösungsvorgang in ein tiefer im Gehirn liegendes Gebiet
verlagert. „Sobald aber über die Sinnesorgane eine Änderung in der Verkehrssi-
tuation oder am Fahrzeug signalisiert wird, dann wird die Handlungsauslösung
sofort wieder von der Großhirnrinde übernommen.“219 Nach Spiegel kann das
Bewusstsein auf die eingeleitete Reaktion als eine Art „Korrektiv“ einwir-
ken.220 Es kommt damit auch die Möglichkeit eines Vorwurfs unterlassener
nachträglicher Kontrollübernahme in Betracht. Problematisch ist jedoch, dass
es aufgrund einer automatischen Reaktion wie im „Kleintier-Fall“ und im
„Fliege-Fall“ schnell zu einem generellen Kontrollverlust über das Fahrzeug
kommen kann, dem auch mit überlegtem Handeln nicht mehr entgegenzuwir-
ken ist.
Im „Kleintier-Fall“ wird der Vorwurf des Unterlassens einer nachträglichen
Korrektur der Fahrtrichtung ganz offensichtlich deshalb nicht erhoben, weil,
wie das Gericht feststellt, die Stabilität der Straßenlage des PKW der Ange-
klagten durch die Richtungsänderung von 45 Grad stark beeinträchtigt wur-
de.221 Das Gericht scheint deshalb davon auszugehen, dass eine Korrektur nicht
mehr möglich war. In diesem Fall kam noch hinzu, dass die Angeklagte das
Tier trotz ihres Ausweichmanövers erfasst hatte, was sich zusammen mit der
starken Richtungsänderung nach Ansicht des Gerichts „besonders verhängnis-
voll“ auswirken musste.222 Im „Fliege-Fall“ verlor die Angeklagte nach den
Feststellungen des Gerichts die Gewalt über ihren PKW, als sie auf den unbe-
festigten Seitenstreifen geriet, was die unmittelbare Folge der Übertragung
ihrer „impulsiven“ Bewegung auf das Steuerrad war. Dass sie dadurch ins
Schleudern geriet und hierdurch wiederum auf die Gegenfahrbahn, wo es zum
Zusammenstoß kam, wird ihr nicht zum Vorwurf gemacht.223 Diesen Vorgang
hält das Gericht offenbar für nicht willentlich beherrschbar. In beiden Fällen
_________________
219
Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235; in diese Richtung auch Boehm, Fehl-
leistungen, S. 43 f.
220
Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285; Jakobs, Studien, S. 77.
221
Siehe OLG Frankfurt VRS 28, 365, 366.
222
Siehe OLG Frankfurt, ebd.
223
Vgl. OLG Hamm NJW 1975, 657.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 191

konnte den Angeklagten also nicht vorgeworfen werden, dass sie nicht korrigie-
rend eingegriffen hatten.
Noch deutlicher ausgeschlossen ist die Möglichkeit einer nachträglichen
Kontrollübernahme, wenn wie im Falle des Kriminalhauptmeisters nur der
Abzugshahn einer Waffe betätigt werden muss, damit der Erfolg herbeigeführt
wird. Für eine Kontrollübernahme bleibt hier kein Raum. Sie ist damit ebenso
wie die Vorverlagerung von einzelfallgebundenen situativen respektive norma-
tiven Erwägungen abhängig. Damit ist die Vermeidbarkeit von automatisierten
Verhaltensweisen wie in den angeführten Fällen nicht nur theoretisch interes-
sant, sondern auch von praktischer Relevanz.

II. Automatisierte Verhaltensweisen und Reaktionszeit

Wegen der Ähnlichkeit der Fallgestaltungen bietet es sich für die Überprü-
fung der Vermeidbarkeit an, den Entscheidungen der Oberlandesgerichte
Hamm und Frankfurt zu den automatisierten Verhaltensweisen Entscheidungen
aus dem Bereich der sogenannten Reaktionszeiten gegenüber zu stellen. So
werden die strafrechtlichen Schwierigkeiten in den jeweiligen Fällen dadurch
hervorgerufen, dass sich der Mensch einer Maschine bedient, die weit weniger
Zeit für das Zurücklegen einer Wegstrecke benötigt, als der Mensch mit seinen
natürlichen Fortbewegungsmitteln, seinen Beinen, benötigen würde. Die mit
dem Auto zurückgelegte Wegstrecke ist weiter und ein Zusammenprall mit
einem Auto ist gefährlicher, so dass die Folgen einer verspäteten Reaktion
ungleich gravierender sind als beim Fußgänger. Obwohl es zahlreiche automa-
tisierte Verhaltensweisen auch außerhalb des Straßenverkehrs gibt, wird hier
besonders eindringlich und folgenschwer deutlich, dass der Mensch in seinen
kognitiven Fähigkeiten zeitlichen Begrenzungen unterliegt.

1. Die Reaktionszeit in Rechtsprechung und Literatur

Bereits seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich die Rechtspre-
chung mit der „Reaktionszeit“ eines Kraftfahrers im Straßenverkehr. Seit 1928
kann diese als etabliert in der Rechtsprechung angesehen werden, und seit den
dreißiger Jahren hat man zahlreiche Versuche unternommen, sie zu konkretisie-
ren.224 Diese Zeitspanne sei so zu bemessen, dass dem Kraftfahrer ex post die
Möglichkeit zugeschrieben werden könne, innerhalb ihres Verlaufs die erfor-

_________________
224
Zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe Recktenwald, ZVS 1980, S. 52 f.;
Dannert, DAR 1997, S. 478; s. auch RG JW 1933, 2650.
192 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

derlichen Entschlüsse zu fassen und zu verwirklichen.225 Sie betrug nach der


Rechtsprechung bis 1980226 teilweise inklusive der Bremsansprechzeit zwi-
schen 0,6227 und 1,0 Sekunden228, im Mittel 0,7 bis 0,8 Sekunden229, wobei
jedoch im Einzelfall die konkrete Gefahrenlage und Reaktionsfähigkeit des
Angeklagten zu berücksichtigen waren.230 Soweit man davon ausging, dass der
Angeklagte aufgrund früher Kenntnis der die Gefahrenlage begründenden Um-
stände oder eigenen verkehrswidrigen Verhaltens das Ereignis vorhersehen
konnte231, fand daher die untere Richtgrenze von 0,6 Sekunden Anwendung.232
Die Rechtsprechung gewährte in Fällen, in denen ein unvorhersehbares Ereig-
nis stattgefunden hatte, zusätzlich zur Reaktionszeit eine sog. „Schreckzeit“
oder „Schrecksekunde“233, auf die noch genauer einzugehen sein wird.234 Eine
gewisse Zeit für die Reaktion auf eine Situationsveränderung im Straßenver-
kehr war jedoch unabhängig von einer Gefahrenlage immer zuzubilligen.235
Dies wird besonders anschaulich am Beispiel der Verkehrsampeln, denn auch
bei der Schaltzeit zur Veränderung der Farbsignale muss die Reaktionszeit des
Autofahrers Berücksichtigung finden.236 Reagiere der Autofahrer vor Ablauf
seiner individuellen Reaktionszeit nicht auf ein plötzliches Ereignis, komme

_________________
225
Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201; vgl. auch Luff, Der öffentliche Gesund-
heitsdienst 1957, S. 161.
226
Vgl. auch die Ausführungen von Recktenwald, ZVS 1980, S. 55.
227
Siehe BGH VRS 6, 193, 195; BGH VRS 11, 430, 432; vgl. auch OLG Saarbrü-
cken VRS 34, 228, 231; im Zivilrecht wurden auch nur 0,3 Sekunden zugebilligt, vgl.
BGH VRS 4, 91, 93.
228
Siehe BGH VRS 24, 202, 204; vgl. auch BGH VRS 21, 293, 296 (nicht mehr als
eine Sekunde); ebenso BGH VRS 38, 44.
229
Siehe BGH VRS 19, 343, 346; BGH VRS 21, 293, 296; BGH VRS 38, 44, vgl.
auch BGH VRS 34, 205, 207 (0,8 Sekunden); ebenso BGH VRS 27, 100, 102, sowie
BGH VRS 27, 119, 123 (kurz bemesse Reaktionszeit von 0,7 Sekunden) und Bay-
ObLG VRS 58, 445, 447 (ohne Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich nicht
unter 0,8 Sekunden); schließlich RG JW 1933, 2650, 2651 (Bruchteil einer Sekunde),
und BGH LM § 222 Nr. 23 (0,9 Sekunden).
230
Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201.
231
Siehe BGH VRS 19, 108, 109.
232
Siehe BGH VRS 6, 193, 195; vgl. auch BGH VRS 27, 119 (höchstens 0,7 Sekun-
den).
233
Vgl. die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 2 StVO § 1 Rn. 30; vgl.
auch Dannert, DAR 1997, S. 479.
234
Siehe unten, S. 196.
235
Siehe BGH LM § 222 Nr. 23; OLG Schleswig DAR 1961, 201; s. auch Reckten-
wald, ZVS 1980, S. 55; Dannert, DAR 1997, S. 479.
236
Siehe Spiegel, DAR 1982, S. 372; Recktenwald, ZVS 1980, S. 55.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 193

mangels Schuld keine Strafbarkeit in Betracht237, denn die Reaktionsfähigkeit


sei vom Willen unabhängig.238
Während bis Ende der siebziger Jahre die Reaktionszeit so gemessen wurde,
dass sie mit der nicht näher konkretisierten „Wahrnehmung“ der Gefahr be-
gann, wurde ihr Beginn später als der einer „Reizdarbietung“ aufgefasst. Die
Reaktionszeit unterteilte man nun in eine „Reaktionsgrundzeit“ und eine „Um-
setzzeit“, an die sich die sogenannte Bremsansprech- und die Schwellzeit an-
schlossen. Die Reaktionsgrundzeit oder sensorisch-kognitive Reaktionszeit
bezeichnet dabei nach Meyer-Gramcko die Zeitspanne, die der Mensch benö-
tigt, um auf eine Reizdarbietung körperlich, das heißt mit Muskelanspannung
reagieren zu können.239 Sie unterteilt sich wiederum in Wahrnehmungs-, Er-
kennungs- und Entscheidungszeit240 und soll nach Engels bereits für sich allein
zwischen 0,54 und 1,13 Sekunden einnehmen. Der wahrscheinlichste Wert
betrage 0,93 Sekunden.241 Die Umsetzzeit oder motorische Reaktionszeit be-
zeichnet die Zeitspanne zwischen dem Beginn der muskulären Reaktion und
dem Beginn der Bremspedalberührung. Die Bremsansprechzeit wurde nach
einer statistischen Analyse242 mit 0,05 Sekunden festgesetzt, die Schwellzeit,
die bis Ende der siebziger Jahre unberücksichtigt blieb und zwischen dem Be-
ginn der Bremswirkung und dem Beginn der Blockierzeichnung (Bremsspuren
auf der Fahrbahn) liegt, sollte 0,17 Sekunden betragen.243
Auf diesen neueren Erkenntnissen aufbauende Untersuchungen von Medizi-
nern, Psychologen, Verkehrsjuristen, Kraftfahrzeugtechnikern und Kraftfahr-
zeugsachverständigen ergaben Reaktionszeiten zwischen 0,6 und 1,9 Sekun-
den244, was dazu führte, dass die lange Zeit dominierenden und relativ konstan-
ten „Mittelwerte“ der Rechtsprechung nicht mehr haltbar waren.245 Eine Ver-
meidbarkeitsuntersuchung sollte nach Spiegel denn auch unterhalb von 0,5
Sekunden gar nicht erst vorgenommen werden.246 Ebenso wie das Fahrzeug
_________________
237
So das OLG München: „Selbst der reaktionsbereite Kraftfahrer braucht eine –
wenn auch geringe – Reaktionszeit von wenigstens ½ Sek. neben der Bremszeit“ (NJW
1950, 556). Vgl. auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 216.
238
Siehe Recktenwald, ZVS 1980, S. 56.
239
Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrunfall 1990, S. 193; ähnlich Recktenwald: „Zeit-
raum zwischen der Möglichkeit der Wahrnehmung eines Geschehnisses und der Ver-
wirklichung des folgerichtigen Entschlusses“ (ZVS 1980, S. 54).
240
Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrunfall 1990, S. 191.
241
Siehe Engels, DAR 1982, S. 362.
242
Der sog. Weibullverteilung, benannt nach Waloddi Weibull (1887–1979).
243
Siehe dazu ausführlich Engels, DAR 1982, S. 362.
244
Siehe Dannert, DAR 1997, S. 481; vgl. auch Roddewig, DAR 1983, S. 385.
245
Siehe Löhle, Verkehrsunfall 1983, S. 139.
246
Siehe Spiegel, DAR 1982, S. 368.
194 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

nicht unmittelbar „reagieren“ kann, wird somit auch vom Menschen angenom-
men, dass er eine gewisse Zeitspanne für die Verarbeitung der Ereignisse und
die körperliche Reaktion hierauf benötigt. Die Wegstrecke, die er zwischen
(peripherer) Wahrnehmung und dem Blockieren der Kraftfahrzeugräder zu-
rücklegt, darf ihm – soweit ihm kein Vorverschulden aufgrund von überhöhter
Geschwindigkeit, verkehrsuntauglichem Fahrzeug und dergleichen zur Last
fällt – nicht vorgeworfen werden.

2. Fallbeispiele im Vergleich

Nach dieser kurzen Einführung in die wesentlichen Begriffe der Reaktions-


zeit wird nun zu überprüfen sein, ob und inwieweit sich aus ihnen Konsequen-
zen für die automatisierten Verhaltensweisen ergeben, die die Oberlandesge-
richte Hamm und Frankfurt beschäftigten. Deren Entscheidungen sollen zwei
vorher ergangene – eine des Bundesgerichtshofs und eine des Oberlandesge-
richts Celle – gegenübergestellt werden.

a) „Kleintier-Fall“ versus „Jagdhund-Fall“

Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Frankfurt im „Kleintier-


Fall“247 fuhr die Angeklagte mit mindestens 90 km/h, das entspricht mindestens
25 m/sec, auf der Autobahn, als ihr in einem Abstand von 10 bis 15 m das
Kleintier vor das Auto lief und sie unwillkürlich das Steuer verriss. Das Gericht
führte zwar hilfsweise aus, dass der Angeklagten keine Schrecksekunde zuzu-
billigen sei und sie darüber hinaus spätestens bei Einbruch der Dunkelheit eine
erhöhte Reaktionsbereitschaft hätte zeigen müssen, die eine verkehrsgerechte
Reaktion ermöglicht hätte; eine konkrete Berechnung ihrer Reaktionszeit unter
Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erfolgte jedoch
nicht. Im Ergebnis wurde die Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.
Zwei Jahre zuvor hatte der Bundesgerichtshof248 im Falle eines Autofahrers
zu entscheiden, der während eines Überholvorganges auf der Bundesstraße von
einem „leichten“ Jagdhund abgelenkt wurde, welcher von rechts kommend
über die Straße zur Straßenmitte lief, dort kehrtmachte und wieder zurücklief.
Der Angeklagte hatte den Wagen auf der rechten Fahrbahn zu diesem Zeitpunkt
bereits um eine Wagenlänge überholt, befand sich jedoch noch in der Mitte der
Straße. Um den Hund nicht zu überfahren, bremste der Angeklagte noch in der
Straßenmitte so stark ab, dass sein Wagen nach links wegrutschte und gegen
_________________
247
OLG Frankfurt VRS 28, 364.
248
BGH VRS 23, 215.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 195

die Vorderfront eines entgegenkommenden Autos prallte. Das Landgericht war


in diesem Fall ebenso wie das Oberlandesgericht Frankfurt im „Kleintier-Fall“
zu dem Ergebnis gekommen, der Angeklagte hätte das Tier notfalls überfahren
müssen. Dagegen war der Bundesgerichtshof der Ansicht, es wäre hier zu prü-
fen gewesen, ob dem Angeklagten für eine sachgemäße und verkehrsgerechte
Reaktion genügend Zeit verblieben war. Ihm sei dabei eine Reaktionszeit sowie
eine Schreckzeit zuzubilligen. Bei falschen Reaktionen innerhalb dieser Zeit-
spanne sei ihm kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen.249
Für die Angeklagte im Kleintier-Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt hätte
eine Übertragung dieser Grundsätze einen Freispruch zur Folge haben müssen,
denn ihr verblieben bei konstanter Geschwindigkeit gerade 0,4 bis 0,6 Sekun-
den bis zum Zusammenprall mit dem Tier. Es konnte sich damit, in dubio pro
reo, nicht um eine „überlegte“ Reaktion gehandelt haben. Weil auch der hierauf
zurückzuführende Verlust der Kontrolle über das Fahrzeug von der Angeklag-
ten nicht verhindert werden konnte,250 hätte die tödliche Folge für die Beifahre-
rin der Angeklagten folglich ebensowenig zur Last gelegt werden dürfen.

b) „Fliege-Fall“ versus „Fahrertür-Fall“

Dem Oberlandesgericht Schleswig lag im Jahre 1960 der Fall eines Autofah-
rers vor, dessen Fahrertür sich in einer leichten Rechtskurve plötzlich geöffnet
hatte. Der Angeklagte hatte daraufhin versucht, die Tür mit der linken Hand zu
schließen, wobei sein Fahrzeug nach links abwich und schließlich mit dem
Gegenverkehr kollidierte.251 Dem Oberlandesgericht zufolge hatte das Landge-
richt dem Angeklagten zwar eine Schreckzeit zuerkannt, kam aufgrund seiner
Berechnungen jedoch zu einer Verurteilung aus Fahrlässigkeit. Das Oberlan-
desgericht wies dagegen auf die zusätzliche Gewährung einer Reaktions- und
Bremsansprechzeit hin und führte aus, das Landgericht habe zwar festgestellt,
dass der Angeklagte, als die Tür aufsprang, nach links geriet, kurz noch einmal
nach rechts zurückschwenkte und dann endgültig nach links hinüber fuhr. Der
Wechsel in dem kurzen verbleibenden Zeitraum von 1,7 Sekunden – Aufgehen
der Tür bis zum Unfall – lasse es aber als zweifelhaft erscheinen, ob und gege-
benenfalls ab wann der Angeklagte zu angemessenem Handeln fähig gewesen
wäre, zumal er sich selbst dahin eingelassen habe, bei dem Versuch die Tür zu
schließen, habe es sich um eine unbewusste Reaktion gehandelt.252

_________________
249
Siehe BGH VRS 23, 215, 216.
250
Vgl. oben, S. 190.
251
OLG Schleswig DAR 1961, 201.
252
Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201, 202.
196 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Dagegen finden sich im „Fliege-Fall“ des Oberlandesgerichts Hamm253 aus


dem Jahre 1974 bis auf die bereits wiedergegebenen Feststellungen keine wei-
teren Erörterungen zu einer zeitlichen Einschränkung der Möglichkeit zur Steu-
erung des Verhaltens, obwohl das offene Wagenfenster nur für die Frage der
Voraussehbarkeit Anhaltspunkte bietet. Ob es sich in Anbetracht des plötzli-
chen Auftauchens der Fliege und der Spontanität der Reaktion beim Verhalten
der Angeklagten aber überhaupt um eine gesteuerte Handlung handeln konnte,
und auch die Frage, ob der Vorwurf nicht gänzlich entfallen müsste, weil sich
Abwehrbewegung und Kontrollverlust über das Fahrzeug unterhalb der
Schwelle der Reaktionszeit abspielten, bleibt, im Gegensatz zu den Ausführun-
gen des Oberlandesgerichts Schleswig, unerörtert. Wie im „Kleintier-Fall“ kam
es auch hier zu einer Verurteilung der Angeklagten.

3. Erklärungsansätze

Die Ungleichbehandlung der vorgestellten Fälle müsste aufgrund sachlicher


Differenzierungskriterien erfolgt sein, um nicht unter das Verdikt der Willkür
zu fallen. Es liegt nahe, auf der Suche nach diesen Kriterien oder sonstigen
Gründen die Überlegungen der Rechtsprechung in weiteren Entscheidungen
heranzuziehen, um ein umfassenderes Bild der Problematik zu erhalten.

a) Vorhersehbarkeit und Reaktionszeit

Ein Grund für die unterschiedliche Beurteilung der Sachverhalte könnte in


der Vorhersehbarkeit der Ereignisse liegen. Obgleich zwischen Reaktions- und
Schreckzeit unterschieden wurde, könnten Gerichte lediglich bei einem unver-
schuldeten „Hineingeraten“ in die zum Unfall führenden Ereignisse gewillt
gewesen sein, den Täter vom Vorwurf der Fahrlässigkeit freizusprechen. Ist die
Vorhersehbarkeit erst einmal festgestellt, mag es dem Rechtsempfinden wider-
sprechen, die Vermeidbarkeit abzulehnen, da auch die Vorhersehbarkeit eine
Art „Willensschuld“ begründen könnte. Tatsächlich ist dies nichts anderes als
eine tatbestandliche Vorverlagerung des pflichtwidrigen Verhaltens.254 Die
Spontanreaktion selbst wird dadurch in der konkreten Situation jedoch nicht
vermeidbar; die Voraussehbarkeit schließt dem Bundesgerichtshof zufolge
_________________
253
OLG Hamm NJW 1975, 657.
254
So auch Jakobs: „Fehlt eine Vermeidbarkeit in der Situation, so kann freilich das
Verhalten, mit dem das Subjekt in die Situation gekommen ist, einen Haftungsgrund
abgeben (Vermeidbarkeit durch Übernahme der Situation). Mit dieser Haftung für die
Übernahme ist auch zu begründen, daß bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit eine –
psychisch unvermeidbare – Schrecksekunde nicht stets berücksichtigt wird“ (StrafR AT,
6/39).
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 197

lediglich die Anerkennung einer Schreckzeit aus.255 Dagegen hätte die Reak-
tionszeit trotz Vorhersehbarkeit aufgrund einer erhöhten Reaktionsbereitschaft
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lediglich auf den damals
unteren Richtwert von 0,6 Sekunden reduziert werden dürfen256; ein völliger
Ausschluss, wie er den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Frankfurt und
Hamm zu entnehmen ist, hätte nicht erfolgen dürfen.
Die Unterscheidung zwischen Reaktions- und Schreckzeit bereitete jedoch
bereits dem Reichsgericht Probleme. Dannert zufolge hatte es in einem ersten
Urteil aus dem Jahre 1928 die Berücksichtigung einer Reaktionszeit für not-
wendig erklärt. Im Jahre 1929 hatte es dann aber einem Kraftfahrzeugführer,
dessen Fahrzeug mit Kindern zusammengestoßen war, und der sich auf eine
„Schrecksekunde“ berief, „eine derartige Reaktionsfrist“ nicht zugebilligt, weil
auf Straßen mit lebhaftem Fußgängerverkehr immer damit zu rechnen sei, dass
Fußgänger vor den Wagen liefen.257 Damit war, nach Dannert, Missverständ-
nissen Tür und Tor geöffnet. Aber auch diesbezüglich habe das Reichsgericht
nach einigen missverständlichen Entscheidungen für Klarheit gesorgt. Im Jahre
1932 lag ihm ein Fall vor, in dem es die Schrecksekunde nicht zuerkannte, aber
klarstellte, dass auch unter günstigen Umständen eine Reaktionszeit von we-
nigstens 0,4 bis 0,5 Sekunden angesetzt werden müsse, die bei ungünstigen
Umständen bis zu einer vollen Sekunde betragen könne258 – eine Klarstellung
freilich, die vielleicht nicht jedes Gericht erreichte und nicht alle Probleme
ausräumte.

b) Aktivität innerhalb der Reaktionszeit

Hierfür bietet eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1969
Anhaltspunkte. Das Gericht befasste sich mit dem Fall eines alkoholisierten
Autofahrers, der von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet wurde.
Nach der Blendung nahm der Angeklagte unmittelbar vor sich einen dunklen
Gegenstand wahr, bei dem es sich um einen Radfahrer handelte. Der Angeklag-
te riss daraufhin sofort sein Steuer nach links, brach diese Ausweichbewegung
dann jedoch ab und lenkte unvermittelt wieder nach rechts, wodurch es zu
einem Zusammenstoß mit dem Radfahrer kam. Der Leitsatz der Entscheidung
lautete: „Nach Aufhören der Blendung muß der Kraftfahrer immer mit vorher

_________________
255
Siehe BGH VRS 34, 205, 207; BGH VRS 38, 119; vgl. auch BGH VRS 19, 108,
109; BGH VRS 21, 293, 295; BGH VRS 23, 369, 370; BGH VRS 27, 119, 123;
OLG Celle VRS 13, 224; OLG Schleswig DAR 1961, 201.
256
Siehe BGH VRS 6, 193, 195; vgl. auch BGH LM § 222 Nr. 23.
257
Siehe Dannert, DAR 1997, S. 478.
258
Siehe Dannert, DAR 1997, S. 479.
198 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

nicht wahrgenommenen Verkehrsteilnehmern auf seiner Fahrbahn rechnen.


Eine Schreckzeit kann ihm dabei nicht zuerkannt werden.“259
Obwohl das Landgericht zuvor zu dem Ergebnis gekommen war, der Ange-
klagte habe den Zusammenstoß nicht vermeiden können, weil er den Radfahrer
zu spät gesehen habe, ließ der Bundesgerichtshof neben einer Schreckzeit auch
die Reaktionszeit außer Acht und führte lediglich aus: „Die Tatsache, daß er
sein Steuer auch sofort nach links riß, zeigt, daß seine erste Reaktion durchaus
situationsangemessen war.“260 Es könnte hier also von der Annahme ausgegan-
gen worden sein, dass dem Angeklagten aufgrund seiner unmittelbaren und
zunächst richtigen Reaktion keine Reaktionszeit zuzubilligen sei. Dies verwun-
dert, da die Reaktionszeit zwar dem Autofahrer Gelegenheit zu einem überleg-
ten Handeln geben soll, damit aber nicht per se ausgeschlossen ist, dass unwill-
kürliche aktive Verhaltensweisen innerhalb dieser Zeitspanne stattfinden kön-
nen.261 Vielmehr liegt die Frage nahe, ob eine aktive unwillkürliche Verhal-
tensweise nicht ebenso wenig vorwerfbar wäre wie Passivität während der
zugebilligten Reaktionszeit. Dem gehen die folgenden Überlegungen nach.

c) Reaktionszeit und passives Verhalten

Eine unterschiedliche Behandlung von aktiver und passiver Verhaltensweise


mit Blick auf die Reaktionszeit ließe sich dann feststellen, wenn die Aktivität,
wie der vorangegangene Fall nahelegt, zu einer Verkürzung der als Reaktions-
zeit zugebilligten Zeitspanne führt. Hierfür sprechen die Berechnungen, die der
Bundesgerichtshof in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1954 anstellte.
In dem ersten Fall hatte der angeklagte Autofahrer eine Fußgängerin über-
fahren, die seine Fahrbahn überquert hatte. Er war mit einer festgestellten Ge-
schwindigkeit von 40 km/h gefahren und hatte vor der Aufprallstelle eine vier
Meter lange Bremsspur hinterlassen. Seinen eigenen Angaben zufolge hatte er
die Fußgängerin erst auf eine Entfernung von etwas über vier Metern erblickt.
Dieser Angabe des Angeklagten wollte der Bundesgerichtshof nicht folgen. Er
errechnete stattdessen die Entfernung, aus der der Angeklagte die Fußgängerin
spätestens gesehen haben müsste, indem er – unter Berücksichtigung einer
Reaktionszeit von 0,9 Sekunden und der festgestellten Geschwindigkeit – zu
der innerhalb der Reaktionszeit zurückgelegten Wegstrecke von 10 Metern die

_________________
259
BGH VRS 38, 119.
260
BGH, ebd.
261
Anerkannt in einer strafrechtlichen Entscheidung des Reichsgerichts für unbe-
wusste Steuerbewegungen innerhalb der Schrecksekunde (s. VAE 1939, 70, 71).
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 199

Bremsspur von 4 Metern hinzurechnete. Danach hätte der Angeklagte die Fuß-
gängerin auf eine Entfernung von 14 Metern gesehen.262
Der Bundesgerichtshof schließt damit ein unwillkürliches Verhalten im Sin-
ne eines unwillkürlich eingeleiteten Bremsvorgangs bereits während der Reak-
tionszeit aus. Zwar gereicht dem Angeklagten die Berechnung hier nicht zum
Nachteil, sie macht aber deutlich, dass die Reaktionszeit als eine „starre“ Zeit-
spanne verstanden wird, während deren aktive Verhaltensweisen ausgeschlos-
sen werden.
Auch im zweiten Fall hatte der angeklagte Autofahrer eine seine Fahrbahn
kreuzende Fußgängerin mit dem Auto erfasst. Der Angeklagte hatte sich mit
einer festgestellten Geschwindigkeit von 40 bis 45 km/h einer von ihm wahrge-
nommenen Fußgängerin genähert, die sich in der Mitte der zweispurigen Straße
befand. Als der Angeklagte auf 30 Meter herangekommen war, lief die vorher
in der Straßenmitte verharrende Fußgängerin plötzlich auf seine Fahrbahn.
Weil der Angeklagte die Fußgängerin vorher wahrgenommen hatte, ging der
Bundesgerichtshof von einer Reaktions- einschließlich Bremsansprechzeit von
höchstens 0,6 Sekunden aus, wohingegen die Strafkammer einen mittleren
Wert von 1 Sekunde zugrunde gelegt hatte. Unter Berücksichtigung einer
Bremsverzögerung von 4 m/sek² errechnete der Bundesgerichtshof hieraus
einen normalen Anhalteweg von 21 bis 25 Metern. Dem Angeklagten habe aber
ein längerer Anhalteweg zur Verfügung gestanden, was sich aus folgender
Feststellung ergebe: „Die beiden Bremsspuren begannen 28 m vor der Fußgän-
gerin. An dieser Stelle waren Reaktions- und Bremsansprechzeit bereits abge-
laufen. Nimmt man sie mit nur 0,6 Sekunden an, so hätte der Angekl[agte] bis
zum Beginn der Bremsspuren bereits 6,5 bis 7,5 m zurückgelegt, befand sich
also im Augenblick der Wahrnehmung noch etwa 35 m von der Fußgängerin
entfernt, bei einer Reaktions- und Bremsansprechzeit von 1 Sekunde sogar
noch etwa 40 m. Gerade auf der Grundlage dieser sicheren Feststellung wird
die Schuldfrage neu zu prüfen sein. Es besteht der Verdacht, daß der An-
gekl[agte] entweder erheblich schneller gefahren ist oder infolge einer man-
gelnden, ihm nach der Verkehrslage zuzumutenden und erforderlichen Bereit-
schaft falsch reagiert hat, mag auch das Verschulden in diesem Fall gering
sein.“263
Ebenso wie bei der Entscheidung im vorangegangenen Fall machen diese
„sicheren“ Feststellungen deutlich, dass von einer völligen Passivität des An-
geklagten innerhalb der Reaktionszeit ausgegangen wird. Diese Berechnung
gereichte dem Angeklagten jedoch zum Nachteil, wenn man, wie der Bundes-
gerichtshof, vermuten würde, dass der Angeklagte unzulässig lange nicht rea-
_________________
262
Siehe BGH LM § 222 Nr. 23.
263
BGH VRS 6, 193, 195 f.
200 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

giert habe. Ebensogut könnte der Angeklagte tatsächlich zu schnell gefahren


sein, was die Länge der Bremsspur auch nahelegt, dann aber gegebenenfalls
unwillkürlich stark abgebremst haben, als die Fußgängerin sich in einer Entfer-
nung von 30 Metern in Bewegung setzte. Außer der überhöhten Geschwindig-
keit wäre ihm dann kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Dagegen steht die Varian-
te des Nichtvermeidens des Erfolges trotz frühzeitiger Gefahrerkennung schon
an der Schwelle zum Vorsatzunrecht. Die Annahme einer überhöhten Ge-
schwindigkeit würde aber voraussetzen, dass man von der Möglichkeit einer
unwillkürlichen Aktivität des Angeklagten innerhalb der Reaktionszeit ausgin-
ge. Beide Gerichtsentscheidungen beruhen dagegen auf der Überlegung, ein
Autofahrer bleibe innerhalb der Reaktionszeit vollständig reaktionslos. Davon
ausgehend wird verständlich, warum die „situationsangemessene“ Reaktion des
alkoholisierten Fahrers den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus dem
Jahre 1969264 zu der Annahme veranlasste, der Angeklagte habe keine Reak-
tionszeit benötigt, obgleich eine Kürzung der Reaktionszeit natürlich ihrerseits
im Widerspruch zur Rechtsprechung von 1954 steht. Das Erzielen eines über-
einstimmenden Ergebnisses war hier jedoch von vornherein ausgeschlossen.

4. Exkurs: Zivilrechtliche Behandlung von Reaktionszeiten

Werden Sachverhalte aus dem Bereich der Vermeidbarkeit einer Verhal-


tensweise von Strafgerichten uneinheitlich gewürdigt, wirft dies immer auch
die Frage auf, ob das Verhalten an sich strafwürdig ist, ob es „Schuld“ oder
lediglich zivilrechtliche „Haftung“ begründet. Denn besteht Unsicherheit über
das Gegebensein eines Handlungsunrechts, könnte man sich auch im Bereich
bloßen Erfolgsunrechts befinden, das aber für sich genommen keine ausrei-
chende Grundlage für den Schuldspruch bildet. Dies mag Spiegel veranlasst
haben, zu den automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu bemer-
ken: „Die Möglichkeit einer Nichtschuld wird gar nicht erst erwogen. Der
nachträgliche Schluß aus der theoretischen Vermeidbarkeit eines Unfalls auf
individuelle Schuld liegt offenbar näher.“265 Und unter Berücksichtigung ande-
rer rechtlicher Lösungsmöglichkeiten resümiert er: „Das Zivilrecht, das nicht
über Schuld, sondern über Haftung zu entscheiden hat, mag einen objektiven
_________________
264
Siehe oben, S. 197.
265
Spiegel, DAR 1968, S. 288. Ablehnend Bockelmann, Aufsätze, S. 83 f. Ähnlich
wie Spiegel aber bereits Freudenthal: „Wir erklären gar manchen für schuldig, der in der
Sprache der Laien für das Geschehene ,nichts konnte‘, der gehandelt hat, wie in seiner
Lage jeder gehandelt hätte“ (Schuld und Vorwurf, S. 1); und auch Luff fragt: „Entspricht
die heute übliche Auslegung und Anwendung des Begriffs der Fahrlässigkeit, die als
,Schuldform‘ bei Verkehrsdelikten fast ausschließlich in Betracht kommt, noch allen
modernen Lebens- und Tätigkeitsbereichen der menschlichen Gesellschaft?“ (DAR
1959, S. 90). Vgl. auch Schewe, Reflexbewegungen, S. 138 f.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 201

Schuldbegriff bilden. Die Pönalisierung aber setzt individuelle Schuld voraus.


Es ist nicht nur unzulässig, im Strafrecht mit einer bloßen Schuldvermutung zu
arbeiten. Es ist schlechthin rechtswidrig.“266
Andersherum gilt regelmäßig, dass die Feststellung strafrechtlicher Schuld
eine zivilrechtliche Haftung nach sich zieht, was auf die unterschiedlichen
Beweisgrundsätze von Zivil- und Strafrecht zurückzuführen ist. Der Umgang
der Zivilgerichte mit automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr führt
allerdings, entgegen der Vermutung, keineswegs immer zu strengerer Haftung
als der der Strafgerichte, wie die folgenden Entscheidungen veranschaulichen.
Auf der Grundlage reichsgerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen267 hat
der Dritte Zivilsenat des Bundesgerichtshofs eine Haftung für die Fälle abge-
lehnt, in denen man ohne Verschulden in eine nicht voraussehbare besondere
Gefahrenlage gerät, in der keine Zeit zu ruhiger Überlegung bleibt und infolge
der Kopflosigkeit nicht die richtigen und sachgemäßen Maßnahmen getroffen
werden, um einen Unfall zu verhindern.268
Auch das Oberlandesgericht Hamm führt 1994 in einem Fall, dem ein Ver-
kehrsunfall zwischen einem die Fahrbahn kreuzenden Fußgänger und einer
Autofahrerin zugrunde lag, hinsichtlich der Möglichkeit einer erfolgverspre-
chenden Ausweichlenkung der beklagten Autofahrerin aus: „Daß sie diese
unterlassen hat, ist der Erstbekl[agten] nicht als Verschulden vorzuwerfen.
Denn wenn ein Kraftfahrer erkennt, daß die Weiterbewegung seines Fahrzeugs
und die Bewegung eines seine Fahrbahn überquerenden Fußgängers in eine
kollisionsträchtige Situation münden wird, so führt das regelmäßig zu einer
ohne vielschichtige Überlegungen im Automatismus ablaufenden Abwehrhand-
lung, die aus zwei Komponenten besteht, nämlich einer Ausweichlenkung und
einer Vollbremsung. Dabei führt regelmäßig die Richtung der Ausweichlen-
kung von der Eindringrichtung der Gefahr weg, und zwar aufgrund des einge-
schliffenen Automatismus auch dann, wenn ein Ausweichen in entgegengesetz-
ter Richtung für den Fußgänger die Chance vergrößern würde, durch Beibehal-
ten seiner Gehbewegung und -richtung den Profilraum des Fahrzeugs ohne
Kollision zu durchqueren. Weil eine derartige mehr oder weniger antrainierte
Reaktion ,weg von der Gefahr‘, die in vielen Fällen tatsächlich unfallvermei-
dend wirkt, nahezu reflexartig erfolgt, gereicht es einem Kraftfahrer nicht zum
Verschulden, wenn er eine Ausweichbewegung ,hin zur Gefahr‘ unterläßt,

_________________
266
Spiegel, DAR 1968, S. 293. Allerdings sieht Spiegel bei Schreckreaktionen die
Handlungsqualität als gegeben an (s. ebd., S. 290).
267
RG VAE 1939, 70 f.; RG VAE 1939, 128; RG VAE 1941, 121 f.; vgl. bereits
RG DAR 1935, 144, u. RG HRR 1940, Nr. 38.
268
BGH VRS 4, 91, 92; vgl. auch Bay ObLG VRS 62, 211, 212; OLG Karlsruhe
VRS 74, 86, 88.
202 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

selbst wenn diese im Einzelfall erfolgversprechender wäre.“269 Es berücksich-


tigte dabei eine Reaktionszeit von 1,6 Sekunden inklusive einer Blickzuwen-
dungsdauer, die aufgrund des schlechten visuellen Kontrastes in der Unfallsi-
tuation erhöht wurde, und einer Umsetzdauer. 1996 führte wieder das Oberlan-
desgericht Hamm zu einem Beklagten, der einer Gruppe von Rehen ausgewi-
chen war und deshalb mit einem Straßenbaum kollidierte, das Folgende aus:
„Denn diese Reaktion des Bekl[agten] ist, wie der Sachverständige überzeu-
gend erklärt hat, die natürliche und plausible Reaktion des Kraftfahrers in einer
solchen Situation. Ein solches Verhalten eines Kraftfahrers ist [...] jedenfalls
nicht fahrlässig.“270
Ohne dass eine Gefahrenlage bestand, fuhr eine PKW-Fahrerin in einem Fall
des Oberlandesgerichts Düsseldorf nachts über eine rote Ampelschaltung mit
drei roten Ampeln und in ein Auto hinein, das aus der bevorrechtigten Quer-
straße kam. Erstaunlich war, dass die 50 Jahre alte Klägerin, die sich bisher im
Straßenverkehr einwandfrei geführt hatte, ohne überhöhte Geschwindigkeit und
trotz ihrer Ortskenntnis, die vermutlich auch die Blitzanlage an der Ampelkreu-
zung umfasste, nicht zu Beginn, sondern erst im weiteren Verlauf der Rotphase
die Haltelinie überfuhr. Das Gericht ging daher davon aus, „daß die Klägerin
das Ampelsignal infolge Unaufmerksamkeit nicht oder doch erst so spät in sich
aufgenommen hat, daß sie nicht mehr darauf reagieren konnte“.271 Während die
Beklagte, die Kaskoversicherung der Klägerin, den Versicherungsschutz wegen
vorsätzlicher oder wenigstens grob fahrlässiger Herbeiführung des Schadens
verweigerte, war das Oberlandesgericht der Ansicht, dass die Erforderlichkeit
des unterbewussten Agierens im Straßenverkehr die Gefahr einer gelegentli-
chen typischen Fehlleistung in sich berge, wenn das Unterbewusstsein versage
und das kontrollierende Bewusstsein gerade in diesem Augenblick abgelenkt
sei. Eine grobe Fahrlässigkeit liege darin aber nur unter ganz besonderen Um-
ständen: „Es ist bei der menschlichen Unvollkommenheit gar nicht verwunder-
lich und sogar selbstverständlich, daß bei der Dichte des Verkehrs und der
Unzahl der den zahlreichen Verkehrsteilnehmern abverlangten Reaktionen
täglich, ja stündlich und minütlich irgendwo eine Fehlleistung der oben ge-
kennzeichneten Art geschieht.“ Ein solches Verhalten lasse sich nicht unter den
Begriff der groben Fahrlässigkeit fassen, da es nicht beweise, dass die Klägerin
die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt
und dasjenige unbeachtet gelassen habe, was jedem hätte einleuchten müs-
sen.272

_________________
269
OLG Hamm NZV 1995, 357, 358.
270
OLG Hamm NZV 1996, 410, 411.
271
OLG Düsseldorf NJW 1966, 664, 665.
272
Siehe OLG Düsseldorf, ebd.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 203

Generelle Schlussfolgerungen hinsichtlich des Umgangs mit Automatismen


in Zivil- und Strafsenaten lassen sich freilich aus den wenigen Beispielen nicht
gewinnen. Die Begründungen der Zivilgerichte stufen den Handlungsunwert
bei den automatisierten Reaktionen aber als so gering ein, dass sich die Berech-
tigung der Frage bestätigt, ob sich die Strafgerichte bei der Verurteilung von
Spontanreaktionen wegen fehlender Steuerbarkeit des Verhaltens nicht im
Bereich bloßen Erfolgsunrechts bewegen.

III. Folgerungen

Der Vergleich der Fälle des Bundesgerichtshofs von 1954, in denen es je-
weils zur Kollision mit einer Fußgängerin kam, mit dem „Fahrertür-Fall“ des
Oberlandesgerichts Schleswig und dem „Jagdhund-Fall“ des Bundesgerichts-
hofs zeigt, dass unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der Verhaltensmög-
lichkeiten innerhalb der Reaktionszeit eingenommen wurden. Während die
früheren Entscheidungen von einer starren Reaktionszeit ausgingen, innerhalb
deren dem Menschen kein aktives Verhalten möglich sein sollte, weshalb die
Reaktionszeit der Zeitspanne aktiven Verhaltens nachträglich immer hinzuge-
rechnet wurde, nahm man in den späteren Entscheidungen wiederum auf der
Grundlage fester Reaktionszeiten an, dass jede Aktivität innerhalb der Reak-
tionszeit dem strafrechtlichen Vorwurf entzogen sein sollte. Einen dritten Weg
schlug der Bundesgerichtshof schließlich im Fall des alkoholisierten Autofah-
rers aus dem Jahre 1969 ein, indem er die Reaktionszeit bei Auftreten einer
„situationsangemessenen“ Reaktion nur bis zum Beginn dieser Reaktion rei-
chen ließ.
Auch in der Literatur finden sich unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf
die Reaktionszeit. Fehlt dem Menschen die Zeit für eine bewusste Abwägung,
wie er sich verhalten soll, und agiert er gleichsam lediglich „reflexartig“ auf
einen von außen kommenden Reiz, soll ihm nach Hentschel hieraus grundsätz-
lich kein Vorwurf erwachsen.273 Dagegen versteht Meyer-Gramcko eine Reak-
tion als „das aktive Verhalten eines Menschen, das durch einen Reiz ausgelöst
wird“.274 Sie könne unbewusst durch Reflexe oder Automatismen oder bewusst
durch gesteuerte Handlungen erfolgen. Als Reaktionszeit bezeichne man „das
Intervall vom Beginn einer Reizdarbietung bis zum Beginn der Reaktion, darin
enthalten sind Zeitabschnitte für die Wahrnehmung und die Verarbeitung der
Informationen sowie für die Entscheidung und Umsetzung“. Automatismen
liefen unbewusst ab und erforderten nur eine kurze Reaktionszeit.275 Die Reak-
_________________
273
Siehe Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Einl., Rn. 131.
274
Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 191.
275
Siehe Meyer-Gramcko, ebd.
204 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

tionszeit endet damit nach Meyer-Gramcko grundsätzlich mit einer aktiven


Verhaltensweise des Autofahrers unabhängig davon, ob diese in einer bewuss-
ten, gesteuerten Handlung oder in einem unbewussten Automatismus besteht.
Da Meyer-Gramcko anmerkt, die Reaktion auf einen Reiz laufe bei automati-
sierten Fahrhandlungen ohne bewusstes Überlegen ab und die Wahrnehmung
der Reaktion trete in der Regel erst bei Wirksamwerden der Reaktion auf276,
muss davon ausgegangen werden, dass ihm zufolge „Entscheidung“ und „Um-
setzung“ auch durch unbewusste Prozesse erfolgen können.277
Man wird sich aber fragen müssen, ob dies auch eine sinnvolle Interpretation
des Begriffs der „Reaktionszeit“ im Rahmen der strafrechtlichen Vermeidbar-
keit darstellt. Ginge es hierbei um die Feststellung, wie schnell ein Mensch
überhaupt auf einen Reiz reagieren kann, dann müsste von einer Reaktionszeit
ausgegangen werden, die sich im Bereich von Hundertstelsekunden bewegt,
wovon man sich leicht anhand der Reaktion von Sportlern auf einen Startschuss
überzeugen kann. Diese Reaktionszeit hatte die Rechtsprechung also offenbar
nicht im Sinn, als sie einen Mittelwert von 0,6 Sekunden errechnete. Bei der
Frage der Vermeidbarkeit geht es also nicht darum, wie schnell ein Mensch
ohne bewusste Verarbeitung reagieren kann, sondern darum, wie schnell ihm
eine zurechenbare Reaktion möglich ist.
Soweit die Reaktionszeit die Möglichkeit zu einer bewussten Entscheidung
erlauben soll, sieht man sich indes mit dem Problem konfrontiert, wie eben jene
Verhaltensweisen rechtlich zu würdigen sind, die vor Ablauf dieser Zeitspanne
auftreten. Eine Verkürzung der Reaktionszeit bei Auftreten einer automatisier-
ten Reaktion löst das Problem nicht, denn das Strafrecht nennt in § 13 StGB die
Möglichkeit einer strafbaren Unterlassung. Wäre eine unbewusste aktive Reak-
tion Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Vorwurf, müsste unbewusste
Passivität ebenfalls einer strafrechtlichen Überprüfung unterzogen werden.278
Dabei gilt im Grundsatz: Je länger die Reaktionszeit, desto wahrscheinlicher
die Unvermeidbarkeit des Unfalls. Denn eine längere Reaktionszeit führt zu
einer längeren zurückgelegten Wegstrecke. Ein Unfall ist aber grundsätzlich
dann vermeidbar, wenn das Fahrzeug bis zur potentiellen Unfallstelle zum
Stillstand gebracht werden kann. Passivität wäre dann innerhalb eines gewissen
zeitlichen Rahmens für den Täter von Vorteil, denn für sein aktives Tun inner-
halb einer Zeitspanne von mindestens 0,5 Sekunden vor dem Unfall würde der
Autofahrer, der auf die akute Gefährdung eines Rechtsguts mit einem Aus-
_________________
276
Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193; so auch Graßberger, S. 88.
277
Vgl. auch Dannert: „In der Entscheidungszeit muß sich der Fahrzeugführer dar-
über klar werden, ob und wie er der Reaktionsaufforderung nachkommen will. In den
meisten Notfällen wird dies bedeuten, daß er sich – mehr oder weniger instinktiv – zu
einer Vollbremsung entschließt“ (DAR 1997, S. 483).
278
Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/35.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 205

weich- oder Bremsautomatismus reagiert, strafrechtlich zur Verantwortung


gezogen, während der Fahrer, bei dem die Gefahrenlage keinerlei Reaktion279
hervorruft, straflos bliebe. Automatismen würden sich damit im Gegensatz zum
bloßen „Verharren“ zu Ungunsten des Täters auswirken. Dieses Ergebnis er-
scheint bereits dem allgemeinen Menschenverstand als nicht gerecht; unter
Berücksichtigung der psychophysiologischen Überlegungen, auf denen die
Reaktionszeit beruht, ist aber auch kein sachlicher Differenzierungsgrund er-
kennbar. Würde man dagegen auch Passivität innerhalb dieser halben Sekunde
„Reaktionszeit“ in den Bereich vermeidbaren und damit zurechenbaren Verhal-
tens ziehen280, führte dies zu einer Sinnentleerung der Reaktionszeit, denn die
hiernach verbleibende unvermeidbare Zeitspanne, also jene, die erforderlich ist,
um eine unbewusste Reizantwort hervorzubringen, läge nur noch im Bereich
von Hundertstelsekunden. Außerdem wäre eine so ausgeweitete Zurechnung
schwer mit der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis vereinbar, dass es der
menschlichen Willkür unzugängliche Zeitspannen gibt.281 Diesen Erkenntnis-
sen kann sich das Strafrecht aber zum einen nicht entziehen, weil sie naturwis-
senschaftlich fundiert und damit dem Beweis zugänglich sind, zum anderen
deshalb, weil nicht verständlich wäre, worauf die Annahme einer Reaktionszeit
gegründet werden sollte, wenn nicht gerade hierauf. Eine „Reaktionszeit“ an-
zunehmen, ohne psychophysisches Wissen zu berücksichtigen, ist also nicht
akzeptabel. Sie ohne sachlichen Differenzierungsgrund einmal heranzuziehen,
einmal unberücksichtigt zu lassen, ist Willkür. Wie im Falle der Reflexe haben
die Strafrechtler auch mit der Reaktionszeit einen Begriff übernommen, der sie
an die Erkenntnisse anderer Fachwissenschaften bindet.
Die Reaktionszeit im juristischen Verständnis kann damit nur die Zeitspanne
meinen, die für eine willkürliche Reaktion, also eine Reaktion, der ein Willens-
entschluss vorangeht, auf eine Reizdarbietung erforderlich ist. Da innerhalb
dieser Zeitspanne keine kontrollierte Steuerung des Verhaltens möglich sein
soll, kann das konkrete Verhalten strafrechtlich nicht vorwerfbar sein. Automa-
tisierte Verhaltensweisen, die innerhalb dieser Zeitspanne auftreten, sind damit
_________________
279
Maurach/Zipf sprechen hier von einer „versteinerten Reaktion“, die jedoch be-
herrschbar sein soll (s. StrafR AT, § 16 I, Rn. 17).
280
Die Frage, ob sich die Garantenstellung des Unterlassenden hier aus Ingerenz er-
gibt, begegnet freilich denselben Problemen wie die Vorverlagerung bei automatisiertem
Tun. Vertritt man aber die Ansicht, in der Übernahme der Situation könne ein plicht-
widriges Vorverhalten erblickt werden, dann wird man auch für den Unterlassenden die
Haftung aus Ingerenz bejahen müssen (sog. „omissio libera in causa“, s. Welp, S. 137,
Fn. 155; dazu auch U. Neumann, Zurechnung, S. 45 ff., S. 186 ff.). Im Übrigen verbleibt
die allgemeine Verkehrssichungspflicht des Kraftfahrzeugführers für die Garantenstel-
lung (s. Jakobs, Handlungsbegriff, S. 32).
281
Beispielsweise die sog. „Korrektursaccadendauer“ (dazu unten, S. 225) und, da es
sich um einen Reflex handelt, u. U. auch die „Blinksekunde“ (s. Bockelmann, Aufsätze,
S. 199).
206 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

ebenso wenig zurechenbar wie passives Verhalten. Folglich ist der Maßstab der
Unvermeidbarkeit jedenfalls an alle Automatismen anzulegen, die innerhalb
eines Zeitraumes von circa einer halben Sekunde auf ein Ereignis erfolgen.
„Echte“ Spontanreaktionen, also jene, die unterhalb der Schwelle der Reak-
tionszeit erfolgen, können also generell ebenso wenig vermieden werden wie
Verhaltensweisen, die durch vis absoluta hervorgerufen werden. Es handelt sich
nur in dem einen Fall um eine von innen und im anderen Fall um eine von
außen ausgelöste Mechanik. Das wirft die Frage auf, ob diese „innere Mecha-
nik“ anders hätte wirken können; darauf wird zurückzukommen sein.
Mit diesen Überlegungen ist noch keine Antwort auf die Frage gefunden,
warum in einigen Fällen auf die Spontanreaktion selbst als unvermeidbares
Verhalten abgestellt wird und in anderen Fällen eine Art „Vorverschulden“
geradezu „konstruiert“ wird. Mit abschließender Sicherheit lässt sie sich wohl
auch nicht beantworten. Von Bedeutung könnte aber der Grad der Gefährdung
sein, dem die Autofahrer durch das externe Ereignis ausgesetzt waren: Je ge-
ringer die Gefahr, desto eher wird ein außenstehender Beobachter eine überleg-
te Reaktion fordern, und umgekehrt. Dies kann in Verbindung mit der Reak-
tionszeit zu durchaus vertretbaren Ergebnissen führen, ist aber für sich genom-
men wenig sinnvoll. Da die Reaktionszeit bei Automatismen außerhalb des
Straßenverkehrs soweit ersichtlich weder in der Rechtsprechung noch in der
Literatur Berücksichtigung findet, kommt sie beispielsweise dem Kriminal-
hauptmeister im Fall des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1984 nicht zugute.
Hinzu kommt, dass hier der besonders hohe Grad der Gefährdung, die darin
bestand, dass der Angreifer dem Kriminalhauptmeister seine Waffe aus dem
Holster hätte entwenden können, den Bundesgerichtshof dazu veranlasste, das
Ziehen der Waffe seitens des Polizisten nicht als Vorverschulden zu beurteilen;
dieses hätte – sofern der tödliche Schuss selber nicht als Handlung aufzufassen
gewesen wäre – allenfalls einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen können.282
Mit der Ansicht des Bundesgerichtshofs kam dann freilich nur das Abfeuern
des Schusses als strafbare „Handlung“ in Betracht, ein Verhalten, das im Stra-
ßenverkehr eventuell als Spontanreaktion bezeichnet und deshalb vielleicht
auch als „unvermeidbar“ eingestuft worden wäre. So aber blieb es eine automa-
tisierte Verhaltensweise im allgemeinen Sinn, deren Vermeidbarkeit von Seiten
der Rechtsprechung und Literatur schlicht unterstellt wird und die in diesem
Fall sogar Vorsatzunrecht nahelegen musste. Spielt ein Kind mit einer gelade-
nen Waffe und löst sich daraus ein Schuss, von dem ein Mensch tödlich getrof-
fen wird, dann kommt in aller Regel nur Fahrlässigkeit in Betracht. Schießt
dagegen ein Kriminalhauptmeister, der die Gefährlichkeit seiner Waffe genau-
estens kennt, damit aus nächster Nähe auf einen Menschen, dann ist so leicht
nicht zu sehen, warum die Haftung aus Vorsatz entfallen soll.
_________________
282
Siehe oben, bei und in Fn. 218.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit 207

Ist die Möglichkeit zur Vermeidung nur gegeben, wenn die Vermeidereak-
tion durch geistige Tätigkeit ausgelöst wird, dann stellt die Vermeidung nichts
anderes dar als das Alternativverhalten zur strafrechtlich relevanten Handlung,
wie sie von einem Großteil der Handlungslehren definiert wird.283 Das bringt
freilich all jene Theorien in Erklärungsnöte, die mit einem eigenständigen
Handlungsbegriff Verhalten, das nicht der Steuerung unterliegt, vor- oder in-
nertatbestandlich ausgrenzen wollen, die Spontanreaktionen aber dennoch zu
den Handlungen rechnen.284
Man wird bei den Spontanreaktionen also auch nach einem anderen willkür-
lichen Verhalten suchen müssen, wie dies im Umgang mit Nichthandlungen
praktiziert wird. So ist es in Herzbergs bekanntem Beispiel eines mit blutender
Nase auf einem fremden Sofa liegenden Menschen285 nicht das unwillkürliche
Nasenbluten, das vermieden werden kann, sondern das nachträgliche willkürli-
che Verhalten, das Sofa nicht zu verlassen beziehungsweise sich kein Tuch vor
die Nase zu halten.286 Kommt dagegen jemand auf einem Abhang ins Rutschen
und kann seinen Sturz auf Menschen oder fremde Gegenstände nicht brem-
sen,287 dann wird man klären, ob er die nötige Sorgfalt hat walten lassen, bevor
er ins Rutschen geriet.
Die Willensbetätigung, verstanden als Verhalten, das seinen kausalen Ur-
sprung im Geist findet, ist damit elementare Voraussetzung strafrechtlicher
Zurechnung. Übertragen auf die Frage der Schuld bei unbewusster Fahrlässig-
keit bedeutet Vermeidbarkeit entsprechend, dass ein anderes Verhalten durch
eine andere Kenntnis im Zusammenspiel mit einem (unterstellten) Vermeide-
willen hätte hervorgerufen werden sollen. Für den unwillkürlich Handelnden
heißt dies, dass er willkürlich hätte handeln sollen. Denn nur soweit er nicht
automatisch, sondern bewusst reagiert, kann es ihm zum Vorwurf gemacht
werden, dass er sich zu einer falschen Handlung entschlossen hat. Reagiert er
hingegen im Ganzen unwillkürlich, kann eine Strafbarkeit nur dadurch erreicht
werden, dass die Unwillkürlichkeit in das Unterlassen von Willkürlichkeit
„umgedeutet“ wird, das naturgemäß gleichzusetzen ist mit einer willkürlichen
_________________
283
Dies wird besonders deutlich bei dem an die Hegelsche Rechtsphilosophie ange-
lehnten individuellen Handlungsbegriff E. A. Wolffs, Handlungsbegriff, S. 15 ff.; ders.,
Radbruch-GS, S. 296 ff.
284
Zu den Handlungsbegriffen oben, S. 165 ff. Das Individuum kann in dieser Situa-
tion also auch keine Regel befolgen, wie dies nach der Handlungslehre Hruschkas erfor-
derlich wäre (s. Hruschka, Strukturen, S. 17 f.).
285
Siehe Herzberg, Unterlassung, S. 173.
286
Nach Herzberg das (willentliche) Verharren in Ruhelage, obwohl der Blutende
merkt, wie ihm das Blut aus der Nase läuft (s. JZ 1988, S. 576).
287
Vgl. das Beispiel bei Armin Kaufmann, v. Weber-FS, S. 218; dazu Herzberg, Un-
terlassung, S. 180 f.
208 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Handlung.288 Dann lautet der Vorwurf in der Sache aber, der Mensch habe sich
willentlich zu einer unwillkürlichen statt einer willkürlichen Reaktion „ent-
schlossen“; und damit befindet man sich, wenn nicht im schlicht Paradoxen, so
doch jedenfalls, wie bereits Stratenwerth mit seinem Handlungsbegriff, mitten
in der Willensfreiheitsfrage, die man aus dem Handlungsbegriff aber gerade
heraushalten will.289
Sind Spontanreaktionen nicht beherrschbar, liegt außerdem die Frage nahe,
ob unwillkürliches Verhalten überhaupt menschlicher Steuerung unterliegt.
Denn auch ein vorangegangener oder „finaler“ Wille macht unwillkürliche
Bewegungen in einem Verhaltenskomplex nicht notwendig beherrschbar. Wer-
den die einzelnen unwillkürlichen Bewegungen nicht geistig gesteuert, dann
muss aber jedenfalls dem vorausgegangenen Willensentschluss eine Initiativ-
und Steuerungsfunktion zukommen. Läge auch diese nicht vor, wäre zu fragen,
inwieweit der Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Verantwortlichkeit an Will-
kürlichkeit oder Bewusstheit zu der Differenzierung zwischen Schuld und
Nichtschuld überhaupt berechtigt. Vorüberlegungen hierzu gehen einher mit
der Betrachtung der „Innenseite“ bei den automatisierten Verhaltensweisen,
speziell wieder den Spontanreaktionen.

Kapitel 3
Vorsatz und Fahrlässigkeit

I. Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit – Problemaufriss

Durch die „Form“ der geistigen Tätigkeit, die mit dem äußeren Verhalten
verbunden ist, wird im Strafrecht auch die Haftungsform bestimmt, die sich in
_________________
288
Vgl. auch die Kritik Stratenwerths an der „bewussten Finalität“: „Handlung ist
wie immer geartete Einwirkung auf die Außenwelt. Die Steuerungsvorgänge, die zur
Ausschaltung unfallträchtiger Fehlreaktionen erforderlich sind, lassen sich nun gerade
nicht als eine solche Einwirkung beschreiben; sie sind ein völlig intern ablaufender
Prozeß. Infolgedessen ist die Unterlassung der geforderten Gegensteuerung, der bewuß-
ten Einstellung auf die Gefahr von Fehlreaktionen, nicht die Unterlassung einer Hand-
lung und damit eben im strafrechtlichen Sinne gar keine „Unterlassung“ (Welzel-FS,
S. 292 f.).
289
Angesichts der Untrennbarkeit der Handlungs- von der Willensfreiheitsfrage ver-
mag auch der Ansatz Radbruchs, der zwar die Entlassung des Schuld- aus dem Hand-
lungsbegriff fordert, aber bei letzterem wiederum Willkürlichkeit zugrunde legt (vgl.
Handlungsbegriff, S. 97 ff.; ders., ZStW 24 [1904], S. 335) nicht zu überzeugen. Des-
halb kann auch J. Baumann nicht darin zugestimmt werden, im Handlungsbegriff seien
die Würfel noch nicht gefallen (s. Armin Kaufmann-GS, S. 186 [unter Bezugnahme auf
Horst Schröder]).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 209

Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung unterteilt. Gemäß § 15 StGB ist nur vor-


sätzliches Handeln strafbar, soweit nicht fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit
Strafe bedroht ist. Voraussetzung der Vorsatzhaftung ist die Kenntnis der Um-
stände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB).
Damit umfasst das sogenannte „Wissenselement“ des Vorsatzes neben der
Kenntnis der äußeren Tatsachen und der erforderlichen Tätermerkmale auch
das Bewusstsein des eigenen Verhaltens als eines „Umstands“ des Tatgesche-
hens.290 Denn das Schuldprinzip verlangt dem Bundesgerichtshof zufolge, dass
nur solche Handlungsmodalitäten zugerechnet werden, „die dem Täter bewußt
werden und auf die er im Augenblick der Tat Einfluß nehmen kann“.291
Umstritten ist diesbezüglich der Bewusstseinsgehalt. Dabei wird vertreten,
dass es sich bei dem Bewusstsein des Täters nicht um eine reflektierende Ab-
wägung bei der Tatausführung handeln muss. Es genügt nach Heine ein „hand-
lungsimmanentes Mitbewußtsein“292, welches mit der Kenntnis von der Bedeu-
tung der Umstände einhergehe. Dieses Mitbewusstsein beruht Platzgummer
zufolge auf der psychologischen Gesetzlichkeit, „daß der erwachsene Mensch
die Dinge der Umwelt sofort als Dinge mit einer bestimmten Bedeutung und
mit einem bestimmten Sinngehalt wahrnehmen muß. Es bedarf dazu keiner
willentlichen Anstrengung“.293 Heine spricht daher auch von unterschwelligen
Bewusstseinsstufen.294 Demgegenüber wird zum Teil ein aktuelles Bewusstsein
im Sinne eines reflektierten Vorstellungsbildes gefordert, um Auskunft darüber
gewinnen zu können, welche Umstände dem Täter im Einzelfall in der Weise
eines Mitbewusstseins gegeben waren.295
Neben der Kenntnis ist nach der Rechtsprechung und einem Teil der Lehre
zur Begründung des Vorsatzes das „Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand
gehörenden objektiven Merkmale“ erforderlich.296 „Vorsatz ist Wille zur Ver-
wirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände.“297
_________________
290
Siehe Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 43; ähnlich Frisch, Vorsatz
und Risiko, S. 164 u. 169.
291
BGH NJW 1989, 1739.
292
Heine, JR 1990, S. 299; ähnlich bereits Platzgummer: „sachgedankliches Mitbe-
wußtsein“ (Untersuchung, S. 83); so auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15,
Rn. 51.
293
Platzgummer, Untersuchung, S. 85; befürwortend Roxin, ZStW 78 (1966),
S. 248 ff.
294
Siehe Heine, JR 1990, 299. Kritisch zum Mitbewusstseinsbegriff Frisch in Armin
Kaufmann-GS, S. 311 ff.; Schild in Stree/Wessels-FS, S. 241 ff.; Morselli, ZStW 107
(1995), S. 340 f.
295
Vgl. M. Köhler, GA 1981, S. 294 f.; vgl. auch LK-Schroeder, § 16, Rn. 99.
296
Siehe Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9 m. w. N. Zum Ganzen auch
E. A. Wolff, Gallas-FS, S. 197 ff.; M. Köhler, Fahrlässigkeit, S. 21 ff.
297
BGHSt 19, 295, 298.
210 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Unter dem Begriff des „Wollens“, wird dabei teilweise die emotionale Bezie-
hung des Täters zu seiner Tat, teilweise ein psychischer, nicht notwendig emo-
tionaler Abwägungsvorgang verstanden.298 So sieht Küper in der Verhaltens-
weise eines vorsätzlich handelnden Täters das Wirken eines „Aktes handlungs-
leitender Präferenzbestimmung“299 und macht darauf aufmerksam, „daß der
Täter sich weder von seiner im praktischen Urteilsvollzug erworbenen
,Vermeidemacht‘ durch Gefühlseinstellungen befreien kann, noch umgekehrt
solche Macht durch Emotionen herzustellen vermag“.300 Voraussetzung für ein
Wollenselement ist die Anerkennung eines binären Vorgangs im Innern des
Täters, dessen beide Elemente nicht notwendig zusammenfallen müssen. Dabei
wird oftmals zwischen einem intellektuellen (Erfassen des Sachverhaltes) und
einem voluntativen Aspekt (psychischer oder emotionaler Abwägungsvorgang)
differenziert.301
Dieser Auffassung steht die Annahme gegenüber, dass der innere Abwä-
gungsvorgang mit der Kenntnis notwendig einhergeht, mithin allein die Kennt-
nis der Tatumstände ausreichend für den Vorsatz sein soll.302 Mit den Worten
Schünemanns: „Wenn der Täter bewußt ein nicht mehr tolerables Risiko aus-
löst, so steuert er das Geschehen sehenden Auges gegen das Rechtsgut, woran
auch eine emotionale Distanzierung durch die Hoffnung (gerne ,Vertrauen‘
genannt), es werde schon gutgehen, nichts zu ändern vermag.“303 All diese
Konkretisierungsversuche weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die geistige
Tätigkeit des Täters, die es ihm ermöglichen soll, seine Handlung zu initiieren
und zu steuern, ist ein subjektiv bewertender, nicht notwendig reflektiver Pro-
zess, der sich in einem Entscheidungs- oder Aneignungsverhalten304 nieder-
schlägt. So bemerkt Kindhäuser, dass das Merkmal der Kontrollierbarkeit einer

_________________
298
Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 151; gegen ein emotionales Element z. B. Küper,
GA 1987, S. 507; Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9–14 m. w. N.
299
Siehe Küper, GA 1987, S. 508.
300
Siehe Küper, GA 1987, S. 506.
301
Siehe Hülle, JZ 1952, S. 296; so auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15,
Rn. 10 f.; vgl. dazu auch Schewe, Bewußtsein, S. 28 ff. m. w. N.
302
Siehe hierzu Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 12–14.
303
Schünemann, GA 1985, S. 361. Vgl. auch Kargl: „Im Kern besagt dieses Konzept
[der Affektlogik], daß sich Wille und Verstand nicht als Gegensätze gegenübertreten
können“ (Vorsatz, S. 40), weshalb er Wissens- und Wollenselement als „komplementär,
analog und kongruent“ auffasst (s. Handlung und Ordnung, S. 544 f.). Zum Problem-
komplex auch Ziegert, Vorsatz, S. 81 ff, insb. S. 107 ff.
304
Ausführlich dazu Hassemer, Armin Kaufmann-GS, S. 295 ff.; vgl. auch Kargl,
Vorsatz, S. 38. Nach Jakobs muss man die psychologisierenden und ethisierenden
Aspekte ausklammern und auf die expressive Bedeutung des Täterverhaltens mit Blick
auf die Normgeltung abstellen (s. Jakobs, StrafR AT, 8/5 ff.).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 211

Basishandlung eine Entscheidung sei. „Nur ein Tun, zu dem man sich entschei-
den kann, unterliegt der Kontrolle des Handelnden.“305

1. Die Beweisproblematik

Ein voluntatives Element wirft jedoch prozessuale Beweisprobleme auf. Die


Grenze zwischen gewollten und ungewollten Handlungsfolgen verläuft nach
Perron fließend, weil kognitive und voluntative, assertorische und optativische,
intellektuelle und affektive Faktoren zumeist tief ineinander verwoben seien
und damit die in der Person vorhandenen Empfindungen und Strebungen in
ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit kaum auseinander gehalten werden
könnten.306 Daneben unterliege die richterliche Überzeugungsbildung generel-
len Schwierigkeiten, zum einen aufgrund des hohen Maßes an Irrationalität, das
bei wissenschaftlich nicht gesicherter Beweisführung immer im Spiel sei, zum
anderen aufgrund prozess- und systemspezifischer Schwierigkeiten wie dem
Ziel einer revisionssicheren Entscheidungsbegründung, die dazu führten, dass
manche Autoren das Problem der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit
vor allem als prozessuales Problem ansähen.307 Die Frage, ob eine „wissen-
schaftlich nicht gesicherte Beweisführung“ stets „ein hohes Maß an Irrationali-
tät“ involviere (woran man gewiss mit Gründen zweifeln kann), mag hier of-
fenbleiben. Jedenfalls kann sie ein entsprechendes Risiko nicht ausschließen.
Nach Perron folgen die begrifflichen Kategorien idealiter unmittelbar den
vorhandenen philosophischen und psychologischen308 Annahmen zur Natur der
menschlichen Handlung, um deren moralische und rechtliche Beurteilung auf
eine möglichst unangreifbare Basis zu stellen. In der Realität bestimme sich das
Verhältnis von begrifflichen Kategorien und strafrechtlichen Konsequenzen
jedoch anders. Da es – soweit für ihn im Rahmen einer das europäische Straf-
recht vergleichenden Studie ersichtlich – bislang in keinem Land gelungen sei,
_________________
305
Kindhäuser, GA 1982, S. 495; vgl. auch Schünemann, GA 1985, S. 362 und Kü-
per, GA 1987, S. 508.
306
Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 154. Auch nach de Boor ist deshalb „die Bewusst-
seinsstruktur eines nicht an krankheitsbedingten Bewusstseinsstörungen leidenden Men-
schen [...] – vor allem retrospektiv – nicht mehr verläßlich zu ergründen“ (de Boor,
S. 29). Vgl. zur Begrenztheit menschlicher Kenntnis von sich selbst bereits Schopen-
hauer, Ethik, S. 267, sowie Planck, Willensfreiheit, S. 17; näher dazu außerdem unten,
S. 311, 319, 321 ff.
307
Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 155. M. Köhler zufolge bilde der innere Tatbe-
stand die „Achillesferse“ des Beweisrechts (s. GA 1981, S. 294). Zur Beweisproblema-
tik auch Hruschka, Kleinknecht-FS, S. 191 ff.; Hassemer, Armin Kaufmann-GS,
S. 304 ff.
308
Psychologisch genähert hat sich dem Vorsatzproblem z. B. Morselli, ZStW 107
(1995), S. 346 ff. Vgl. auch Schmidhäuser, Oehler-FS, S. 135 ff.
212 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

evidente oder zumindest unumstrittene Kategorien für die Bewertung der psy-
chischen Seite des menschlichen Handelns zu entwickeln, legten die einzelnen
Rechtsordnungen die entsprechenden Begriffe zu einem wesentlichen Teil
pragmatisch, das heißt in Bezug auf ihre Tauglichkeit zur Erzielung akzeptabler
Ergebnisse im Einzelfall, fest.309
Im ersten Teil dieser Arbeit wurde kurz dargelegt, dass bereits seit dem frü-
hen Mittelalter mit Blick auf die Strafbarkeit zwischen einer bewussten und
einer unbewussten Erfolgsherbeiführung unterschieden wurde. Nach Sellert
zeigten einige Fälle allerdings, dass der Täter weitgehend ohne Rücksicht auf
das Maß seines „Dafürkönnens“ zur vollen Verantwortung gezogen werden
sollte.310 Die Entscheidung darüber konnte auch vom Willen des Opfers abhän-
gen; wobei dem Opfer die Umsetzung der Entscheidung keineswegs immer
leicht gemacht wurde. So berichtet Brunner: „Wer von einem Baume fällt und
herabstürzend einen Menschen tödtet, soll nach den sogen. Leges Henrici primi
für unschuldig gelten. Falls dennoch jemand darauf bestünde die That zu rä-
chen oder das Wergeld einzuklagen, so soll ihm die Rache gestattet sein, aber
nur so, dass er selbst auf den Baum steigt, um den anderen todt zu fallen.“311
Pufendorf hingegen übernimmt in seine Zurechnungslehre die bereits von Aris-
toteles vorgenommene Differenzierung zwischen Vernunft und Willen. War der
Wille als Konglomerat aus Sinnlichkeit und Vernunft bei Aristoteles lediglich
eine philosophische Grundannahme312, wurde er nun zur strafrechtlichen Vor-
aussetzung und unterliegt damit bis heute den Beweisanforderungen der Straf-
prozessordnung. Entsprechend bemüht sich die Strafrechtswissenschaft seither,
Rechtstheorien, die auf Gerechtigkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen
beruhen, mit subjektiven Elementen in Einklang zu bringen; wobei die inhaltli-
che Bestimmung subjektiver Begriffe über philosophische Implikationen hinaus
durch die Psychologie nicht zu wirklichem Fortschritt, sondern eher zu weiterer
Verwirrung geführt zu haben scheint. Beinahe absurd mutet es inzwischen an,
die Theorienvielfalt zu betrachten, insbesondere wenn man diese der gerichtli-
chen Pragmatik gegenüberstellt, die sich wegen der empirischen Unzugäng-
lichkeit des subjektiven Vorgangs hauptsächlich an dem äußeren Geschehen
orientiert.313 So bemerkt Küper, dass „bei spürbarem Defizit an weiterführen-
_________________
309
Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 148 f. Ähnlich auch Küper, der zu bedenken gibt:
„Die ganze Problematik einer begrifflichen Bestimmung des bedingten Vorsatzes könnte
im übrigen damit zusammenhängen, daß sich der psychische Befund, den wir für diese
Vorsatzart benötigen, einer isolierenden Kennzeichnung unter den Kategorien des
,Wissens‘ und ,Wollens‘ im Grunde widersetzt“ (GA 1987, S. 508).
310
Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 103.
311
Brunner, Missethat, S. 4.
312
Dazu ausführlich Loening, Geschichte, S. 268 ff.
313
Vgl. dazu Hassemer, nach dem der Vorsatz nur anhand äußerer Kennzeichen fest-
gestellt werden könne (Armin Kaufmann-GS, S. 309).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 213

den psychologischen Erkenntnissen und offenbar ohnehin geringem Einfluß der


Kontroverse auf die praktischen Ergebnisse – die Auseinandersetzung um das
,Wollenselement‘ des bedingten Vorsatzes zu einem Streit um bloße Begriffe
zu werden“ drohe.314 Und Schünemann bezeichnet die gängige Diskussion um
die Vorsatzabgrenzung denn auch als „Jonglieren mit umgangssprachlichen
Nuancierungen und alltagstheoretischer Psychologie“.315
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die philosophischen und psy-
chologischen Annahmen zur Beurteilung der subjektiven Tatseite anscheinend
unlösbare Beweisschwierigkeiten erzeugen. Entsprechend tritt die Problematik
gerade dort zutage, wo mit rechtlichen Begriffen eine Trennung zwischen psy-
chischen Abläufen angestrebt wird, die ihrerseits in den Fachwissenschaften
ungeklärt sind. Besonders deutlich wird dies wiederum bei der Betrachtung
automatisierter Verhaltensweisen.

2. Automatisierte Verhaltensweisen

In der Rechtsprechung werden automatisierte Verhaltensweisen lediglich


unter dem Fahrlässigkeitsaspekt untersucht, was wohl damit zusammenhängt,
dass es sich in diesen Fällen in aller Regel um Spontanreaktionen handelt.316
Sind automatisierte Verhaltensweisen Bestandteile eines geplanten deliktischen
Geschehens, dann erscheinen sie in einem anderen Licht. In Betracht kommt
dann nach Ansicht einiger Autoren eine Vorsatzhaftung.317 Die Einleitung der
einzelnen Bewegungen wird, wie die Untersuchung im Handlungsbegriff
gezeigt hat, weithin als „unbewusst“ angesehen. Doch komme es hierauf, so
Roxin, nicht an: Der Vorsatz müsse nur die jeweiligen Tatumstände, nicht aber
jede einzelne Bewegung des auf die Zielerreichung gerichteten Vorgehens
umfassen.318 Danach ist auch im Bereich automatisierten Verhaltens die Mög-
lichkeit der Vorsatzhaftung eröffnet.319 Dagegen sieht Hall in einer solchen
Subsumtion unter den Vorsatzbegriff eine Überanstrengung des Begriffs der
Finalität. Nur eine gewollte und bewusst gesteuerte Tätigkeit sei final. Jede
_________________
314
Küper, GA 1987, S. 507. Vgl. auch Loening: „So herrscht über das psychische
Wesen des Willens selbst, über die Seelenfunktion des Wollens und ihren Zusammen-
hang mit anderen Seelenvorgängen häufig genug völlige Unklarheit“ (Loening, Ge-
schichte, S. IX).
315
Schünemann, GA 1985, S. 362.
316
So ist der Gedanke einer Vorsatzprüfung auch bei Welzel überhaupt nicht vorhan-
den, vgl. Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 32 ff.
317
Vgl. die Nachweise bei LK-Schroeder, § 16, Rn. 110.
318
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 131.
319
So auch Jescheck, Eb. Schmidt-FS, S. 148, u. Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben,
§ 15, Rn. 51.
214 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Ausdehnung auf unbewusstes, automatisches Verhalten entwerte den Begriff


der Finalität.320 In diesem Sinne differenziert auch Ambrosius: Automatisiertes
Verhalten lasse sich zwar mitunter als vorsätzlich bezeichnen, soweit es von
der Zielvorstellung getragen werde oder wo zwischen der Bewusstseinsinten-
tion und dem ausführenden und oft automatisierten Akt eine Kooperation
bestehe. „Ein strafrechtlich relevanter Vorsatz scheidet jedoch im Bereich der
automatisierten Handlung aus. Die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes
beruht eben, anders als das Autofahren und Spazierengehen, nicht auf Teil-
handlungen, die sich ständig wiederholen und damit erlernt und zur Gewohn-
heit werden.“321 Ob sich dies auch auf den Kriminalhauptmeister322 übertragen
lässt, der während einer körperlichen Auseinandersetzung „automatisch“ seinen
Angreifer mit der Dienstwaffe erschoss, erscheint indes zweifelhaft.
Wurde bereits im Handlungsbegriff zwischen dem Bewusstsein respektive
Willen in Bezug auf die einzelne Bewegung und dem Gesamtzusammenhang,
in den die Bewegung integriert ist, differenziert, so wird diese Problematik also
bei der Haftungsform für automatisierte Verhaltensweisen erneut relevant.
Dabei ist zunächst fraglich, ob sich der Vorsatz überhaupt auf das automatisier-
te Verhalten beziehen muss, denn der strafrechtliche Tatbestand selbst stellt
nicht auf ein konkretes Verhalten ab; für die Prüfung eines objektiven Unrechts
ist es unerheblich, auf welche konkrete Weise die Rechtsgutsverletzung hervor-
gerufen wurde. Das gilt auch für solche Tatbestände, die das grundsätzlich
verbotene Verhalten nicht bloß als kausale Produktion eines Erfolges, sondern
in genaueren Handlungsbegriffen beschreiben. Auch sie tun dies hinreichend
abstrakt, um beliebig viele Varianten konkreten Verhaltens in einzelnen Fällen
zu erfassen. So ist beispielsweise für die Täuschung im Betrugstatbestand nicht
festgelegt, durch welches konkrete Verhalten, ob schriftlich, mündlich oder auf
sonstige Weise, die Täuschung erfolgen muss, um tatbestandsmäßig zu sein.
Andererseits muss sich der Vorsatz auf die Täuschung beziehen, oder anders
ausgedrückt, auf das täuschende Verhalten. Bezugspunkt des Vorsatzes ist
damit immer auch die strafrechtlich relevante Handlung in Form des durch den
Täter konkretisierten Verhaltens.323 Diese muss der Täter gemäß § 16 Abs. 1
Satz 1 StGB „kennen“, um den Tatbestand vorsätzlich zu verwirklichen. Han-
delt es sich mithin um ein Verhalten, das in einem umfassenderen Kontext
steht, wird die Täuschung also durch mehrere Einzelakte vollzogen, bezieht
sich auch das Wissenselement des Vorsatzes auf das Verhalten in seinem straf-
_________________
320
Siehe Hall, S. 14.
321
Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75.
322
Dazu oben, S. 147, bei und in Fn. 25.
323
Dazu auch Frisch, der als Bezugspunkt des Vorsatzes ausschließlich auf das Ver-
halten abstellt, allerdings definiert wiederum mithilfe der Tatbestandsmerkmale (s.
Vorsatz und Risiko, S. 55 ff.); vgl. auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15,
Rn. 15; M. Köhler, StrafR AT, S. 152.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 215

rechtlich bedeutsamen Gesamtzusammenhang und nicht auf die einzelne Be-


wegung. Somit gelingt es in diesen Fällen, mit dem Vorsatzbegriff auch unbe-
wusste Bewegungen zu erfassen. Problematisch bleibt jedoch der Bezugspunkt
des Vorsatzes, wenn sich das Verhalten, wie im Fall des Kriminalhauptmeis-
ters, in einer einzigen unwillkürlichen Bewegung erschöpft.

a) Aktuelles Vorstellungsbild

Nun folgt auch Ambrosius der Ansicht, das Bewusstsein könne bei diesen
Bewegungen die Kontrolle grundsätzlich wieder übernehmen. Gelange daher
die Gefahr rechtzeitig in das Bewusstsein des Täters, werde die Kontrolle und
Steuerung wieder akut, womit das anschließende Verhalten willensgetragen
sei.324 Diese Folgerung ist in sich konsequent und berücksichtigt die besondere
Eigenschaft der Spontanreaktionen, unbewusst und ohne Antriebserlebnis abzu-
laufen. Denn, wie Meyer-Gramcko formuliert: „Die Wahrnehmung der Reakti-
on tritt in der Regel erst bei Wirksamwerden der Reaktion auf.“325 Dies schließt
jedoch die Annahme aus, Spontanreaktionen selbst unterlägen der Kontrolle
des Bewusstseins.326 Wenn Roxin anmerkt, man müsse darauf abstellen, ob das
Ziel der Handlung vom Bewusstsein des Täters umfasst sei, so berücksichtigt er
damit zunächst nur, dass auch in einer vorsätzlichen Handlung unbewusste
Bewegungen enthalten sind; bei den Spontanreaktionen wäre eine Vorsatzhaf-
tung indes immer ausgeschlossen; denn das Ziel einer Handlung kann nur be-
wusst sein, wenn die Handlung selbst bewusst ist. Zwar mag sich ein Spazier-
gänger zum Ziel setzen, spazieren zu gehen und dabei quasi „automatisch“
seinen Bewegungsapparat in Gang setzen; in den problematisierten Fällen wird
jedoch die ursprüngliche Zielsetzung durch ein Ereignis unterbrochen; die
Reaktion erfolgt gerade ohne Bildung einer Zielsetzung. Dem Verhalten liegt
daher keinerlei aktuelles Vorstellungsbild zugrunde, welches diese Bewegun-
gen einschließen würde.327 Hätte hierzu ausreichend Zeit zur Verfügung ge-
standen, so handelte es sich, wie Ambrosius richtig hervorhebt, gerade nicht
mehr um unwillkürliches Verhalten, sondern um willkürliches.328 Deshalb
entfalle auch, so Roxin, der Vorsatz bei unfallverursachenden automatischen
Reaktionen, die infolge eines Schockerlebnisses ausgelöst werden, „weil der
Erfolg nicht von der Kenntnis des Täters erfaßt war“.329 In Betracht komme
_________________
324
Siehe Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75; ebenso Stennert, S. 242. Vgl. auch
oben, S. 190 ff.
325
Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193.
326
So Gössel, Wertungsprobleme, S. 78.
327
Vgl. auch Stennert, S. 106.
328
Siehe Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75.
329
Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 131.
216 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

aber eine Vorsatzhaftung, sofern ein sachgedankliches Mitbewusstsein und


dessen Kontrollmöglichkeit feststellbar sei.330

b) Sachgedankliches (Mit-)Bewusstsein

Folgt man der Theorie, dass auch „verinnerlichte“ Kenntnis, die nicht be-
wusst reflektiert wird, für das Wissenselement des Vorsatzes ausreichend sein
soll, dann kommt bei den Spontanreaktionen auch ein unbewusst finales Ver-
halten in Betracht. Denn jeder Verkehrsteilnehmer hat eine abstrakte Kenntnis
der vom Straßenverkehr ausgehenden Gefahren für Leib und Leben anderer
Verkehrsteilnehmer und ist sich damit auch der Schwere der Folgen bewusst,
die Fehlreaktionen im Straßenverkehr nach sich ziehen können. Insbesondere
von den möglichen gefährlichen Folgen eines abrupten Bremsens, eines Aus-
weichmanövers auf die Gegenfahrbahn oder einer unbedachten Lenkbewegung
hat jeder Autofahrer eine allgemeine Kenntnis.
Die Zielsetzung des gefährdenden Verhaltens ergibt sich regelmäßig aus den
objektiven Umständen, so zum Beispiel, ein Tier nicht zu überfahren. Man
könnte daher aufgrund der objektiven Ereignisse zu dem Ergebnis kommen, das
Interesse des Täters, andere Verkehrsteilnehmer (und sich selbst) nicht zu ge-
fährden/verletzen, stand hinter dem Interesse, das Tier am Leben zu erhalten,
zurück.331 Diese Lösung überzeugt offenkundig nicht in jedem Fall, denn trotz
potentiellen Gefahrbewusstseins und Mitbewusstseins auch bezüglich der übri-
gen Tatumstände wird man bei den Spontanreaktionen regelmäßig davon aus-
gehen können, dass sich die Angeklagten unter normalen Umständen nicht für
ein solches, oft sie selbst gefährdendes Verhalten entschieden hätten.332 Es liegt
damit nahe, dass die Theorie vom „sachgedanklichen Mitbewusstsein“ noch
eine weitere Voraussetzung impliziert.
Platzgummer hat sich unter anderem mit dem von Schneider aufgeworfenen
Problem auseinandergesetzt, dass viele Straftaten nicht als Ausfluss der rationa-
len Funktionen, sondern vielmehr der tiefenseelischen Antriebe des Menschen
erscheinen. Sie würden „fast ohne Kontrolle durch den Persönlichkeitskern in

_________________
330
Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 128 ff. in Bezug auf Affekttaten.
331
So im Falle einer automatisierten Verhaltensweise das OLG Frankfurt DAR 1984,
157, 158.
332
Vgl. dazu auch Jakobs, StrafR AT, 8/5. Zur Affekttat vgl. insb. Schewe, Bewußt-
sein, S. 147 ff.; ders., Reflexbewegung, S. 90 ff.; ders., Wille, S. 8 f., u. Leferenz: „Der
Vorsatz wird jedenfalls bei Affekthandlungen nicht verneint, auch wenn sich der Täter
weder Handlung noch Erfolg vorgestellt oder überlegt hatte. Dem Richter genügt die
Feststellung, daß bei dem Täter die intellektuellen Funktionen ungestört sind. [...] Die
Formulierung des § 16 wird dieser Sachlage nicht gerecht“ (ZStW 70 [1958], S. 39).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 217

das entsprechende Verhalten überleiten“.333 „Wollte man die Annahme des


Vorsatzes also wirklich davon abhängig machen, daß der Täter jeweils an sämt-
liche Tatumstände des Deliktstypus ,denkt‘, so müßten sehr viele Taten als
vorsätzliche Verbrechen ausscheiden.“334 Er plädiert deshalb dafür, schon
„minder intensive Formen des Bewußtseins“ genügen zu lassen. Denn auch
diese gehörten „mit zu der Entscheidungslage, der gegenüber der Täter seinen
Entschluß auszufällen hat“, womit das Substrat für das Wollen gewahrt wür-
de.335 Die Voraussetzungen für den Vorsatzbegriff werden damit zwar herabge-
stuft, die Verhaltensweise muss jedoch noch ein „Wollenssubstrat“ in Form
einer Entscheidung erkennen lassen. Die Theorie Platzgummers vom sachge-
danklichen Mitbewusstsein erfordert also, dass das Mitbewusstsein verhaltens-
motivierend wirkt. Wird das Verhalten durch das Wissen nicht beeinflusst,
dann begründet das Wissen, auch in Form eines Begleitwissens, kein Un-
recht.336
Bei den Spontanreaktionen ist zwar ein Mitbewusstsein bezüglich der Ge-
fährlichkeit eines Fehlverhaltens abstrakt vorhanden, von diesem würde man
aber annehmen, dass es zu einer anderen, weniger gefährdenden Reaktion ge-
führt hätte, wäre es Entscheidungsgrundlage des Verhaltens geworden. Die
Spontanreaktion steht damit eher im Widerspruch zur „mitbewussten“ Kennt-
nis, als dass sie durch diese motiviert erschiene. Dennoch bewegt sie sich im
Rahmen dessen, was als nachvollziehbare Reaktion auf die Situation gelten
kann.
In solchen Fällen genügt es nach Schmidhäuser, auf das „sachgedankliche
Bewusstsein“ des Täters abzustellen, mithilfe dessen eine Situation „blitz-
schnell“ erfasst und über die Reaktion hierauf entschieden werden könne: „[…]
manchmal scheint es gar keine Zeit zu brauchen, ist im Augenblick da und auch
schon abgeschlossen.“337 Die Inhalte dieses Bewusstseins könne sich das Ge-
richt „auf Grund allgemeiner Erfahrung“ „im Wege seelisch-geistigen Einfüh-
lens“ erschließen.338 In seinem Beispielsfall eines Mannes, der auf eine Belei-
digung hin einem anderen Mann unmittelbar eine Ohrfeige versetzt, bringt der
_________________
333
Platzgummer, Untersuchung, S. 34.
334
Platzgummer, Untersuchung, S. 35.
335
Siehe Platzgummer, Untersuchung, S. 81 f. mit Bezug auf Affekt- und Augen-
blickstaten insb. S. 92 ff. Ähnliche Problemstellungen der Theorie des Mitbewusstseins,
beispielweise in Bezug auf die Affekttat, behandelt Frisch in Armin Kaufmann-GS,
S. 325 ff. Vgl. auch Morselli, ZStW 107 (1995), S. 337.
336
Vgl. auch Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 266.
337
Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 326; ders., StrafR AT, S. 409, Nr. 54; ders., Stu-
dienbuch, S. 213, Rn. 65 f. und kritisch zum Mitbewusstseinsbegriff Platzgummers
ders., Studienbuch, S. 213, Rn. 67.
338
Siehe Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 324.
218 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Schlagende vor, „er habe dem anderen so spontan diese Ohrfeige versetzt, daß
er gar nicht daran gedacht habe, dieses sein Verhalten könne dem anderen
Schmerzen bereiten und eine unangemessene Behandlung sein, – noch ehe er
Zeit zum Besinnen gefunden, habe er dem andern schon den Schlag ver-
setzt“.339 Dabei übersieht Schmidhäuser, dass die Voraussicht nicht nur die
möglichen Folgen des Verhaltens umfassen muss, sondern auch und vor allem
das Verhalten selbst. Von diesem wurde aber angenommen, dass es gerade
nicht bewusst vollzogen wird. Selbst wenn man davon ausginge, dass dem
Mann eine Reaktionszeit von einer halben Sekunde zur Verfügung gestanden
hätte, dann wäre die Ohrfeige, die unmittelbar mit Ablauf der Reaktionszeit
erfolgt, lediglich als Eindruck einer möglichen Reaktion, also sachgedanklich
ins Bewusstsein gerückt. Die unmittelbar erteilte Ohrfeige spiegelt sich jedoch
nicht einmal in dieser Form im Bewusstsein wieder.
Hieran scheitert in diesen Fällen auch der Bewusstseinsbegriff Platzgum-
mers, denn eine Verhaltensweise, auf die vor ihrer Ausführung keinerlei Vor-
aussicht und von der während ihres Ausführungsbeginns keinerlei Kenntnis
besteht, kann nicht subjektiv motiviert sein. Damit sich ein sachgedankliches
Begleitwissen von den möglichen Folgen eines Fehlverhaltens in einer Verhal-
tensweise „realisieren“ kann, muss auch die Verhaltensweise selbst von einem
(sachgedanklichen) Entschluss getragen sein. Die (mitbewusste) Voraussicht
des möglichen Erfolges ist daher nicht das entscheidende Kriterium, weshalb
hier der Vorsatz entfällt, sondern neben der mangelnden Voraussicht auch das
Fehlen der Kenntnis der Verhaltensweise selbst. Ohne diese Kenntnis kann
auch nach den Theorien Platzgummers und Schmidhäusers bei den Spontanre-
aktionen kein Wissenselement vorliegen. Zur Untermauerung dieser Argumen-
tation soll die Theorie vom sachgedanklichen Bewusstsein im Verlauf der Un-
tersuchung, wenn weitere Überlegungen zur kognitiven Verarbeitung erfolgt
sind, noch einmal aufgegriffen werden.340

c) Das Bewusstseinsfeld nach Schewe

Schewe senkt die Anforderungen an die Kenntnis ab bis zu einer „unbewuss-


ten Kenntnis“, indem er auch die unbeachteten, weil selbstverständlichen psy-
chischen Bestände des Denkens und Handelns dem „aktuellen Bewusstseins-
feld“ hinzurechnet.341 Damit kommen grundsätzlich auch die aufgrund von
Einübung unbewusst vollzogenen Spontanreaktionen als vorsätzliche Verhal-
_________________
339
Siehe Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 322.
340
Siehe unten, S. 227.
341
Siehe Schewe, Bewußtsein, S. 108 ff. Ablehnend wegen des Gesetzeswortlauts des
§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Jakobs, Perspektive, S. 26; ders., StrafR AT, 8/12.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 219

tensweisen in Betracht.342 Allerdings zieht Schewe neben dieser Form der


„Kenntnis“ auch die Zielrichtung des Verhaltens heran.343 Zur Veranschauli-
chung dient ihm ein Beispielsfall, in dem „eine wegen Lungenerkrankung in
einem Wiener Spital untergebrachte verheiratete Frau auf dem Abort unerwar-
tet entbunden [hatte]. Kind, Nabelschnur und Placenta waren in das unten mit
einer Klappe verschlossene WC gefallen. Auf das Geschrei der Patientin eilte
eine Nonne herbei, die die Patientin, ohne zu wissen, was geschehen war, vom
Sitz hob. In diesem Moment bemerkte die Klosterfrau das sich bewegende
Kind im WC. In ihrer Verwirrung ergriff sie den Griff der Spülvorrichtung und
öffnete diese. Das Kind wurde sofort hinuntergespült, stürzte in dem weiten
Rohr zwei Stockwerke tief und wurde unten mit zerschmettertem Schädel auf-
gefunden.“344 Obgleich doch hier mit Sicherheit abzusehen gewesen sei, dass
die Handlung zur Tötung führte, sei es gar keine Frage, dass das Verhalten
nicht auf diesen Erfolg gerichtet war und dass die Nonne – wenn überhaupt –
allenfalls wegen fahrlässiger, aber niemals wegen vorsätzlicher Tötung belangt
werden könnte, so Schewe.345 Wie bei Platzgummer346 ist also auch bei Schewe
erforderlich, dass das Unbewusste verhaltensmotivierend wirkt. Schewe
schließt hier entsprechend ebenfalls die Vorsatzhaftung aus. Nicht, weil der
Erfolg bei diesen Verhaltensweisen nicht objektiv absehbar ist, sondern weil
das Verhalten nicht auf diesen Erfolg gerichtet ist.347

d) Das Wollenselement

Liegt das Wissenselement nicht vor, erfordert das Wollenselement in der


Fallbearbeitung zwar keine eigenständige Überprüfung mehr; aus den Überle-
gungen zum Wissenselement ergeben sich jedoch Folgerungen für das Wol-
lenselement, die bei der weiteren Untersuchung noch einmal ins Blickfeld gera-
ten und daher hier festgehalten werden sollen.
Das voluntative Element des Vorsatzes kann dem Wissen um die Tatum-
stände nicht vorangehen. Denn die Kenntnis der Umstände des gesetzlichen
Tatbestands muss nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB „bei Begehung der Tat“ vor-
handen sein. Ein voluntatives Vorsatzelement zu fordern, ist nur sinnvoll, wenn
es aus dieser Kenntnis erwachsen, weil es mit dieser Kenntnis zusammen die
Entscheidung des Täters konstituieren soll. Denn soll sich ein Täter entschei-
_________________
342
Vgl. dazu auch die Kritik Stratenwerths in Welzel-FS, S. 304.
343
Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 112 ff.
344
Schewe, Reflexbewegung, S. 114.
345
Siehe Schewe, ebd.
346
Siehe oben, S. 217.
347
Vgl. Schewe, Reflexbewegung, S. 114 ff.
220 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

den, abwägen oder seine Prioritäten bestimmen, benötigt er hierzu eine Vorstel-
lung, sei es auch eine irrtümliche, der Auswahlkriterien. Ohne diese ist eine
subjektive Entscheidung, wie sie für die Versuchsstrafbarkeit und damit für den
Vorsatz gefordert wird, nicht denkbar. Deshalb ließe sich der Mangel eines
voluntativen Elements bei den Spontanreaktionen auch bereits aus den Überle-
gungen zu den eigenständigen Handlungsbegriffen von Rechtsprechung und
Lehre herleiten, die auf die Möglichkeit zur Verhaltenssteuerung abstellen.
Danach fehlte es bei der Initiation dieser Verhaltensweisen an der für eine Wil-
lensbetätigung erforderlichen geistigen Tätigkeit. Diese kann wegen der Neu-
tralitätsfunktion des Handlungsbegriffs aber lediglich ein „Minus“ gegenüber
dem Vorsatzwillen darstellen.348 Ist mithin keine geistige Tätigkeit in Form
eines „natürlichen Willens“ vorhanden, kann ein Vorsatzwille erst recht nicht
angenommen werden.
Auf eine ähnliche Fallgestaltung hat auch der Jurist und Mediziner Arbab-
Zadeh im Rahmen einer Untersuchung des inneren Tatbestands bei der Unfall-
flucht hingewiesen. Wie bei den automatisierten Verhaltensweisen könne auch
hier, wie gerichtsärztliche Erfahrungen zeigten, aufgrund von Furcht vor dem
Blutsehen, dem Anblick Bewusstloser oder Toter, oder dem Schreien Verletzter
in einer Unfallsituation das Bewusstsein, das eine Handlung immer begleitet,
beim Täter fehlen. „Er handelt, wie man schlechthin sagt, im ,Unterbewußt-
sein‘. In solchen Fällen handelt der Betreffende nicht auf Grund der freien oder
unfreien Willensbestimmung, sondern er handelt einfach ohne Willen.“349
So entschied auch der Bundesgerichtshof in eben einem solchen Fall von
Unfallflucht: Die vom vorinstanzlichen Landgericht als wahr unterstellte Be-
hauptung des Beweisantrags, der Angeklagte sei, als er sich vom Tatort entfern-
te, derart verwirrt, bestürzt und kopflos gewesen, dass er nicht mehr das Be-
wusstsein gehabt habe, er entziehe sich der Feststellung seiner Person oder der
Art seiner Beteiligung, sei mit der andererseits getroffenen Feststellung, er habe
hinsichtlich des Tatbestands des § 142 StGB mit natürlichem Vorsatz gehan-
delt, unvereinbar. Das Landgericht hatte zwar den entsprechenden Beweisan-
trag abgelehnt, weil es diese Behauptung als wahr unterstellen wollte, hatte
dann aber lediglich unterstellt, dass der Angeklagte „später bei der Blutprobe“
bestürzt, verwirrt und kopflos gewesen sei. Der Bundesgerichtshof gab der
hiergegen gerichteten Verfahrensrüge der Vereidigung statt und ließ die Unfall-
flucht als Rauschtat i. S. v. § 330a (a. F.) entfallen.350

_________________
348
Für eine Gleichsetzung von Handlungs- und Vorsatzwillen Frisch, Vorsatz und
Risiko, S. 265 u. 375.
349
Arbab-Zadeh, NJW 1965, S. 1051.
350
Siehe BGH VRS 36, 36.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 221

Auch wenn man mit Kargl davon ausginge, dass subjektive Entscheidungen
stets objektiv unfrei zustande kommen, käme man in diesen Fällen zu keiner
Vorsatzhaftung. Denn um Verantwortung zu begründen, ist es auch nach Kargl
erforderlich, dass der Mensch die objektiv unfreie Entscheidung als seine eige-
ne empfindet.351 „Über die Handlungsqualität entscheidet der subjektive Tatbe-
stand. Definiert man Handeln als Entscheidungsverhalten, dann bedingt die
Handlung die Zurechenbarkeit und umgekehrt: ohne Verantwortlichkeit keine
Handlung, und ohne Handlung keine Verantwortlichkeit.“352 Zwar sei die Ent-
scheidung des Individuums nicht frei, rückblickend sei aber durch die
Selbstreflektion der Person einsehbar, dass ihre Handlungsdispositionen ein
entscheidender Faktor beim Zustandekommen ihres Handelns seien. „Die Per-
son kann nunmehr wissen, daß ihre Handlungen von ihren Entscheidungen
abhängen und daß diese Entscheidungen durch ihre Erfahrungen, die sich zu
einem affektlogischen Bezugssystem verdichtet haben, bestimmt werden.“353
Hat sich der Täter nach seinem eigenem Empfinden nicht für sein Verhalten
entschieden, dann entsteht jedoch auch nicht der Eindruck einer vorangegangen
oder künftig möglichen Handlungsdisposition. Die Selbstzuschreibung entfällt
und damit die wesentliche Voraussetzung zur Verhaltensveränderung, welche
die Verantwortlichkeit des Individuums begründen soll. Auch nach dem Kon-
zept Kargls liegt damit bei Spontanreaktionen keine vorsätzliche Handlung
vor.354

3. Zusammenfassung

Vorsatzschuld und die Schuld bewusster Fahrlässigkeit können bei den


Spontanreaktionen nicht angenommen werden. Eine subjektive Beziehung zu
anderen automatisierten Verhaltensweisen kann hergestellt werden, wenn sie in
einen Verhaltenskomplex eingebunden sind, wie dies auf den Großteil automa-
tisierter Verhaltensweisen zutrifft. Wird die Bewegungsausführung nachträg-
lich bewusst und aufrechterhalten, dann kann eine subjektive Beziehung auch
nach einer Spontanreaktion zu der darauf folgenden Verhaltensweise entstehen.
Die Spontanreaktion selber bleibt hiervon aber ausgenommen. Fordert man
vom Menschen eine solche nachträgliche Kontrollübernahme, so muss festste-
hen, dass er sie auch leisten kann. Es ist aber weitgehend ungeklärt, wie sich
diese subjektive Aneignung vollzieht und welche Bedeutung ihr für die Verhal-
tenssteuerung zukommt.
_________________
351
Siehe Kargl, Vorsatz, S. 103.
352
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 533.
353
Kargl, Vorsatz, S. 103.
354
Entsprechendes gilt für den intentionalen Handlungsbegriff Kindhäusers (vgl.
oben, S. 170, Fn. 133).
222 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

Unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob Bewusstsein hinsichtlich einer


Bewegung derselben vorangeht oder der Bewegungseinleitung nachfolgt, hät-
ten damit elementare Bedeutung auch für die subjektive Tatseite. Ersichtlich
geht es hier nicht nur um eine halbe Sekunde Reaktionszeit, sondern um das
Verständnis des Menschen von sich selbst, das aber, so scheint es, in einem
engen Zusammenhang mit der zeitlichen Abfolge von Bewegung und Bewusst-
sein steht.
Auch eine Vorverlegung bei der Haftung wegen unbewusster Fahrlässigkeit
erfordert, dass das relevante Verhalten in einer Beziehung zum Bewusstsein,
genauer zur „Erkennbarkeit“ steht. Man mag sich hier im sicheren Bereich
strafrechtlicher Zurechnung wähnen, weil nun faktische Umstände, die zu be-
weisen wären, wie die Kenntnis oder das Wollen überflüssig werden. Die fol-
genden Überlegungen sollen aber auch hier die empirischen Annahmen, die
dieser Zurechnung zugrunde liegen, hinterfragen.

II. Die unbewusste Fahrlässigkeit

Können Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit bei den Spontanreaktionen


ausgeschlossen werden, verbleibt die Möglichkeit einer unbewussten Fahrläs-
sigkeit.355 Sie setzt Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung und darauf beru-
hend die Möglichkeit zur Vermeidung voraus. Auf die problematisierten Fälle
übertragen hieße dies, dass entweder ab Eintritt des konkret gefahrbegründen-
den Ereignisses die Erfolgsverwirklichung aufgrund einer Fehlreaktion erkenn-
bar oder aber die abstrakte Möglichkeit des Eintritts einer Gefahrensituation
vorhersehbar war und damit die Steuerung des eigenen Organismus nicht den
Automatismen überlassen werden durfte, sondern vom bewussten Willen hätte
übernommen werden müssen.

1. Erkennbarkeit aufgrund des konkret riskanten Verhaltens

„Die Umstände sind erkennbar, wenn der Täter [sc.: der ein Vermeidemotiv
hat] sein Verhalten der bestimmten Art und dessen Folgen im Tatzeitpunkt als

_________________
355
Ablehnend M. Köhler, StrafR AT, S. 172 f., 201; ders., Fahrlässigkeit, S. 397 ff.
Die Differenzierung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit entfällt freilich
beim Bewusstseinsbegriff Schewes (s. Bewußtsein, S. 108 ff.), der die Problematik der
Spontanreaktionen bei der „Zurechnungsfähigkeit“ ansiedelt (s. Reflexbewegung,
S. 138 f.), die wiederum eng verknüpft ist mit dem Begriff der Willenssteuerung (s.
Reflexbewegung, S. 130 ff., 134), weshalb auch er zu keinem abweichenden Ergebnis
gelangen dürfte.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 223

nicht unwahrscheinlich so bestimmt erkennen und somit unterlassen würde.“356


Dabei liegt der Haftungsgrund nach Jakobs jedoch nicht in der fehlenden Er-
kenntnis oder Erkenntniserlangung: „Es gibt keine Pflicht, sich Kenntnis zu
verschaffen, sondern nur eine Pflicht, erkennbar tatbestandsmäßige Handlungen
im Fall ihrer Rechtswidrigkeit zu vermeiden; letzteres mag der Täter über eine
Kenntnisverschaffung leisten oder, wenn sich der dafür erforderliche Aufwand
seines Erachtens nicht lohnt, indem er es blind unterläßt.“357
Die Wahrnehmung der Umstände, insbesondere auch gefahrbegründender
Ereignisse, ist Voraussetzung einer adäquaten Reaktion. Wurde bisher die Um-
setzung des Willens nach außen untersucht, geht es nun also darum, was von
außen ins Bewusstsein gelangt.

a) Die visuelle Wahrnehmung als Erkenntnisquelle

Einen wesentlichen Informationszufluss erfährt der Täter dabei über die vi-
suelle Wahrnehmung, die hier exemplarisch behandelt werden soll. Der Begriff
der „Wahrnehmung“ wird dabei im Folgenden ausschließlich im Sinne bewuss-
ter Wahrnehmung358 verwendet. Die Bedeutung visueller Wahrnehmung für
das Strafrecht wird ersichtlich, wenn man sich Beispiele von Wimmer vor Au-
gen führt. So können die Sinne eines Kraftfahrers im Straßenverkehr zu wenig
gereizt werden, wenn es sich um ein unauffälliges oder sonst nur schwach
wahrnehmbares Objekt handle, das bei vielen Verkehrsteilnehmern nicht „an-
komme“, so zum Beispiel, wenn man an einer Straßenstelle, die man oftmals
befahren habe, einen ganz unauffälligen Wechsel im Verkehrsschild nicht be-
merke. Diese „Unterforderung“ könne bewirken, dass man sich von einem
falsch Vorausfahrenden verführen lasse.359 Gleiches gelte für den Kraftfahrer,
der das Schild „Vorfahrt achten!“ nicht beachtet, die nachfolgende Straßen-
kreuzung zügig überfährt, dadurch einen von links kommenden PKW zu einer
Gefahrenbremsung veranlasst und sich diesbezüglich „unwiderleglich“ einlässt,
_________________
356
Jakobs, StrafR AT, 9/2.
357
Jakobs, ebd; vgl. auch AK-Zielinski, §§ 15, 16, Rn. 132.
358
Nicht zu verwechseln mit dem Rechtsbegriff „Vorhersehen“, das auf einen Erfolg
gerichtet ist und ein rein interner Vorgang, also ohne eintreffende Reize, sein kann. Vgl.
auch Armin Kaufmann, der jedoch, begrifflich ungenau, davon spricht, dass kurzsichtige
oder sklerotische Kraftfahrer die Unfallfolge nicht „vorhersehen“ könnten (vgl. Welzel-
FS, S. 405).
359
Vgl. Wimmer, NJW 1959, S. 1756; vgl. auch Luff, Der öffentliche Gesundheits-
dienst 1957, S. 162; Duttge, Bestimmtheit, S. 406; dazu Herzberg, den es jedenfalls
„nachdenklich gemacht“ hat, dass Duttge aus kognitionspsychologischen Erwägungen in
diesen Fällen Verständnis mit den Autofahrern aufbringt (s. Herzberg, GA 2001,
S. 582).
224 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

er habe das Schild nicht gesehen und deshalb nur aufgepasst, ob etwas von
rechts komme.360
Man würde in diesem Fall davon ausgehen, dass der Fahrer bei Kenntnis der
tatsächlichen Verkehrsregelung sein Verhalten entsprechend eingestellt hätte
und vorsichtiger an die Kreuzung herangefahren wäre. Diese Kenntnis hätte er
sich verschaffen können, indem er auf das Schild geachtet hätte. Die bewusste
Beachtung von Gegenständen in der Umwelt erfordert wiederum eine bewusste
visuelle Wahrnehmung. Es wäre zur Vermeidung des Verhaltens also erforder-
lich gewesen, das Schild bewusst wahrzunehmen und entsprechend zu reagie-
ren. Dies erscheint jedoch nicht immer einfach.
Wie Wimmer anmerkt, pflege eine wirkliche Beunruhigung beim Gericht
dann einzutreten, wenn der Angeklagte selber ausführt, er könne sich nicht
erklären, wieso er das Verkehrszeichen nicht bewusst wahrgenommen habe.
Dazu könne er noch hinzufügen, dass es ihm an Fahrübung, gutem Willen,
Frische und Aufmerksamkeit keineswegs gefehlt habe, dass er auch in die
Richtung des Verkehrsschildes geblickt, aber kein Schild bemerkt habe.361
Wimmer wirft deshalb die Frage auf, ob es nicht auch „unverschuldete Fehl-
leistungen“362 geben könnte, und kommt zu dem Ergebnis, dass bei funktionel-
len Kraftfahrer-Fehlleistungen oft die theoretische Möglichkeit einer unver-
schuldeten Störung in Betracht komme, der Richter diese Möglichkeit jedoch
außer Betracht lassen müsse, „weil er sie weder ausräumen noch verifizieren
könnte“.363
Luff schildert einen Fall, in welchem ein Zeuge, der sich als Beifahrer neben
dem Angeklagten befunden hatte, ein Kind, das zuvor über einen freien Platz
gelaufen war, erst unmittelbar bevor es vor das Auto lief wahrgenommen hatte.
Dies lässt Luff zufolge den Schluss zu, dass die bewusste Wahrnehmung bei
verschiedenen Menschen durchaus unterschiedlich funktioniert. Tritt ein Objekt
in den visuellen Wahrnehmungsbereich, muss es also nicht auch stets bewusst
wahrgenommen werden. Neben den Komplex der Funktionsweise visueller
Reizung tritt damit auch die Frage nach dem Zustandekommen bewusster
Wahrnehmung. Denn eine Kenntnis der Umstände ist nur auf der Grundlage
bewusster Wahrnehmung möglich; hinzu kommt die Auseinandersetzung mit
dem Bedeutungsgehalt des Wahrgenommenen.364

_________________
360
Siehe Wimmer, NJW 1959, S. 1753.
361
Vgl. Wimmer, NJW 1959, S. 1754.
362
Wimmer, NJW 1959, S. 1755.
363
Wimmer, NJW 1959, S. 1757.
364
Vgl. dazu die Ausführungen bei Dannert, DAR 1997, S. 486.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 225

b) Erkenntnisse aus den Reaktionszeitfällen

Erst seit dem Ende der siebziger Jahre beschäftigt man sich eingehender mit
dem Anfangszeitpunkt der Reaktionszeit. Grundlage dieser Neuorientierung sei
in erster Linie die Erkenntnis gewesen, „daß in Notfällen die Reaktion des
Kraftfahrers überwiegend mit einer Blickzuwendung [hin zum Gefahrereignis]
verbunden ist“.365 Diese wurde ursprünglich als die Zeit definiert, die von der
peripheren Wahrnehmung bis zum Beginn der Objektfixierung vergeht und
auftritt, wenn die Gefahrenquelle außerhalb des fovealen (= scharf gesehenen)
Bereichs wahrgenommen wird.366 Nimmt der Kraftfahrer somit ein Ereignis nur
aus dem „Augenwinkel“ wahr, vergeht zunächst eine Zeitspanne von circa 0,48
Sekunden, bis er das Ereignis in das Zentrum seines Blickwinkels rücken und
so „erkennen“ kann.367 Man begann also zwischen dem subjektiv wahrnehmba-
ren Erscheinen eines Ereignisses und dem „Erkennen“ desselben zu unterschei-
den.368 Praxisrelevant wird diese Unterscheidung, wenn beispielsweise ein
unerwartet vor einem fahrenden Fahrzeug auftauchendes Kind nur als sche-
menhafter Umriss wahrgenommen wird, der ebensogut zu einem Tier oder
einem Gegenstand gehören könnte.
Da diese Problematik den Funktionskomplex des Auges sowie den Zusam-
menhang zwischen visueller Reizverarbeitung und bewusster Wahrnehmung
betrifft, ergeben sich hieraus bis heute immer neue Fragestellungen. Die empi-
rischen Wissenschaften beschäftigen sich dabei vorwiegend mit der medizi-
nisch-optischen Funktionsweise des Auges. So führt Löhle die sogenannte
„Korrektursaccadendauer“ an, eine Zeitspanne, die in 30 Prozent aller Fälle zur
Blickzuwendungsdauer hinzukomme, wenn der Blickzuwendungswinkel mehr
als 5 Grad betrage und die Blickzuwendung deshalb zunächst über das anzufi-
xierende Objekt hinausschwinge bevor es mittels einer Rückwendung schließ-
lich zur Fixierung komme. Daneben sei bei einem Blick auf den Tachometer
auch eine Nah-Fern-Adaption erforderlich.369 Und Roddewig macht darauf
aufmerksam, dass das Auge auch eine Zeitspanne benötige, um sich auf beson-
ders schlechte Kontraste von Objekten vor dunklen Hintergründen einzustellen,
die sogenannte „Readaptationszeit“.370 Diese medizinischen Überlegungen sind
jedoch nur ein Teilbereich der „Erkennbarkeits-Problematik“. Zu den physiolo-
gischen Grundvoraussetzungen kommt der kognitiv verarbeitende Bereich, der
_________________
365
Dannert, DAR 1997, S. 481.
366
Siehe Roddewig, DAR 1983, S. 386; vgl. auch Löhle, Verkehrsunfall 1983,
S. 140.
367
Siehe Engels, DAR 1982, S. 362.
368
Vgl. hierzu auch Spiegel, DAR 1982, S. 372.
369
Siehe Löhle, Verkehrsunfall 1983, S. 140.
370
Siehe Roddewig, DAR 1983, S. 384.
226 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

erst die bewusste Wahrnehmung ermöglicht. Allgemeinen Überlegungen zur


Frage, welchen Voraussetzungen die kognitive Verarbeitung unterliegt, sollen
aber zunächst Gedanken zum Erfordernis bewusster Wahrnehmung für Reak-
tionen vorangestellt werden.

c) Verhältnis von Reaktion und Wahrnehmung

„Die juristischen Forderungen an die Sorgfaltspflicht eines Kraftfahrers ba-


sieren letzten Endes auf der Voraussetzung, daß seine Verhaltensweise voll
kontrollierbar ist und auf die Reaktionskette – bewußte Wahrnehmungen –
kritisches Verarbeiten und Durchdenken des Wahrgenommenen – überlegtes
Handeln – zurückgeht.“371 Diese von Luff beschriebene Reaktionskette kann
aufgrund der Überlegungen zur Vermeidbarkeit bestätigt werden. Auch der
„Wille“ erschien sowohl im Handlungsbegriff als auch bei der Frage der Vor-
sätzlichkeit eingebunden in diesen temporalen Ablauf. Er stellte sich dar als das
Resultat der mehr oder weniger kritischen Verarbeitung des bewusst Wahrge-
nommen und als Initiator der darauf folgenden Handlung. Bei den Spontanreak-
tionen ging man demgegenüber davon aus, dass diese Reaktionen vor ihrer
Ausführung nicht bewusst verarbeitet werden. Stratenwerth forderte für ihre
Handlungsqualität indes nur, dass sie „erlebnismäßig bedingt und insoweit
situationsabhängig sein“ müssten.372 „Erleben“ setzt begrifflich aber ebenfalls
wenigstens eine subjektive, mithin bewusste Verarbeitung – in diesem Fall der
Situation – voraus.
Meyer-Gramcko zufolge sagten von 75 Fahrern 61 vor Gericht aus, sie hät-
ten die Gefahr erst an einer Stelle erkannt, an welcher sie tatsächlich bereits
mindestens eine Sekunde und entsprechend viele Meter zuvor reagiert hatten:
an der Stelle nämlich, an der die Bremsen wirksam wurden und die Räder zu
blockieren begannen. Sie hätten also zu ihren Ungunsten ausgesagt, obschon
sie die Gefahr bereits vorher erkannt und dementsprechend auch reagiert hätten.
Die übrigen Fahrer, die alle von einem Rechtsanwalt verteidigt wurden, hätten
angegeben, die Gefahr an der Stelle erkannt zu haben, an der sie sie aufgrund
des technischen Beweises des Sachverständigen auch tatsächlich erkannt haben
mussten. Die Angabe eines späteren Zeitpunkts des Reaktionsbeginns erklärt
sich Meyer-Gramcko zufolge daraus, dass bei automatisierten Fahrhandlungen
die Reaktion auf den Reiz ohne bewusstes Überlegen ablaufe.373

_________________
371
Luff, DAR 1959, S. 90 (gemeint sind weniger die „Forderungen an die Sorgfalts-
pflicht“, als vielmehr diese selbst).
372
Vgl. oben, S. 171 f.
373
Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 227

Das erklärt indes nicht, weshalb die Wahrnehmung der Gefahr erst circa eine
Sekunde nach Reaktionsbeginn erfolgte. Wenn die Möglichkeit besteht, dass
eine körpereigene Reaktion erst wahrgenommen wird, wenn sie bereits ausge-
führt wird,374 dann wäre es auch denkbar, dass die Wahrnehmung des situativen
Reizes erst erfolgt, wenn die Reaktion bereits eingeleitet wurde. Hierfür spricht
auch ein von Luff angeführtes Beispiel aus der Rechtsprechung. Ein Kraftfahrer
erfasste mit seinem PKW eine etwa auf der Mitte einer breiten Straße stehende
Frau und verletzte sie tödlich. Er war mit nicht überhöhter Geschwindigkeit auf
der rechten Fahrbahnseite gefahren und hatte plötzlich den Wagen nach links
gezogen, wo die Frau stand und darauf wartete, die Fahrbahn überqueren zu
können. In der Gerichtsverhandlung erklärte er dann, es sei ihm unverständlich,
weshalb er den Wagen plötzlich nach links gerissen habe. Während mehrere
Zeugen schildern konnten, wie die Frau angefahren wurde, habe ein Zeuge
ausgesagt, dass der Unfall durch einen Taxifahrer verursacht worden sei, der
mit seinem Wagen aus einer Seitenstraße herausgeschossen war und den Ange-
klagten zum Ausweichen gezwungen habe.375
Setzt man, wie es Luff selber tut, die Wahrheit dieser Zeugenaussage voraus,
so ist der Grund des Ausweichmanövers hier objektiv eindeutig. Nur hatte
selbst der Angeklagte keine Kenntnis von den tatsächlichen Umständen. In
diesem Fall hatte also offenbar der retinal verarbeitete Reiz des ursächlichen
Ereignisses verhaltensmotivierend gewirkt, ohne dass eine bewusste Wahrneh-
mung des Reizes eintrat; es kam zwar zu einer situationsabhängigen, aber nicht
zu einer (in Stratenwerths Formulierung) „erlebnismäßig bedingten“ Reaktion
des Täters376; denn „Erleben“ setzt Bewusstsein voraus. Möglich erscheint
daher, dass auch in den von Meyer-Gramcko geschilderten Fällen nicht die
Kenntnis von der konkreten Gefahr die Reaktion auslöste, sondern die Reaktion
dem Bewusstsein von der Gefahr voranging.
Die Kritik an Schmidhäusers Interpretation seines Beispielsfalles eines
spontan ohrfeigenden Mannes lässt sich daher um folgende Überlegungen
ergänzen. Problematisch erschien bisher das Vorhandensein eines sachgedank-
lichen (Mit-)Bewusstseins von der Reaktion an sich. Nach Schmidhäuser soll
sich der Mann aber auch der übrigen Tatumstände, mithin auch des auslö-
senden Ereignisses, der Beleidigung, „sachgedanklich“ bewusst gewesen sein.
Dass es sich hierbei nicht um eine sprachlich repräsentierte Bewusstseinsform
handeln soll, hindert nicht daran, den Zeitpunkt des sachgedanklichen Bewusst-
sein im Nachhinein richtig wiederzugeben, da man ansonsten wohl nicht von
einem Bewusstsein wird sprechen können. So werden auch die Autofahrer bei
der Frage, wann sie die Gefahr zuerst erkannt haben, sicher nicht über den Zeit-
_________________
374
Vgl. Meyer-Gramcko, oben, bei Fn. 325.
375
Siehe Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162.
376
Vgl. auch die Ausführungen Luffs, DAR 1959, S. 93.
228 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

punkt der sprachlichen Repräsentation sinniert, sondern sich eher des bildhaften
Eindrucks erinnert haben, der in diesem Augenblick in ihnen entstanden ist –
eben jenes Eindrucks, den das sachgedankliche Bewusstsein nach Schmid-
häuser vermitteln soll, der denn auch anmerkt: „Rasches Reagieren in über-
raschenden Situationen (man denke nur an den modernen Straßenverkehr) ist
nur sachgedanklich möglich.“377 Wenn das sachgedankliche Bewusstsein von
der Gefahrensituation jedoch erst nach Vollzug des Verhaltens entstand, wie es
nach den Schilderungen Luffs und Meyer-Gramckos immerhin möglich er-
scheint, dann hätten die Autofahrer unter Umständen weder sprachgedanklich
noch sachgedanklich bewusst reagiert. Mit anderen Worten: Sie hatten beim
Vollzug der Spontanreaktion unter Umständen keinerlei bewusste Kenntnis von
dem konkret gefahrbegründenden Ereignis. Zur richtigen Erfassung der Phäno-
mene erscheint es daher nicht nur erforderlich, der Weise des Denkens auf die
Spur zu kommen, wie dies Schmidhäuser fordert378, sondern auch die Bezie-
hung des „Denkens“ zum Verhalten allgemein zu hinterfragen.
Für die strafrechtliche Würdigung der Spontanreaktionen ergibt sich nach
dem Gesagten, dass neben der Vermeidbarkeit und der Kenntnis von der Reak-
tion als solcher auch die Möglichkeit der Kenntnisnahme des unmittelbar zur
Reaktion „motivierenden“ Ereignisses fraglich erscheint. Hieraus ergeben sich
Konsequenzen für die Erkennbarkeit zum Zeitpunkt der konkreten Gefahrenla-
ge. Denn ohne die Möglichkeit zur bewussten Kenntnisnahme des konkret
gefahrauslösenden Ereignisses ist bei einer automatisierten Reaktion wie der
Spontanreaktion, die also gleichfalls unbewusst erfolgt, nicht ersichtlich, wor-
auf sich die Annahme der Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung stützen
sollte, wenn sie nicht, was nun zu überlegen sein wird, an etwas anknüpfen
kann, das bereits vor dem erfolgsverursachenden Ereignis liegt.

2. Erkennbarkeit aufgrund äußerer gefahrerhöhender Umstände

Die Gefahr wird im „Fliege-Fall“379 und im „Kleintier-Fall“380 nicht allein


mit der vom Kraftfahrzeug allgemein ausgehenden Gefahr begründet, sondern
vor allem mit einem erhöhten Risiko wegen des heruntergekurbelten Fensters
im Zusammenspiel mit der Unerfahrenheit der Fahrerin beziehungsweise den
schlechten Sichtverhältnissen infolge der eingebrochenen Dämmerung.381 Der
_________________
377
Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 327. Vgl. auch AK-Zielinski, §§ 15, 16, Rn. 26.
378
Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 324.
379
Siehe Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 83.
380
Siehe Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 82.
381
Ansonsten müsste man sich mit der Frage auseinandersetzen, warum infolge des
allgemein erhöhten, aber gesellschaftlich akzeptierten Risikos des Autofahrens eine
ständig erhöhte Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft gefordert werden könnte,
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 229

Unterschied zur vorangegangenen Untersuchung der Erkennbarkeit besteht


damit im Wesentlichen darin, dass die Umstände in den Beispielsfällen einen
ausreichenden Zeitraum zur Verarbeitung gewähren, die Erkennbarkeit der
Erfolgsverwirklichung also nicht aufgrund eines Zeitdefizits ausgeschlossen
erscheint. In diesem Fall käme nach Jakobs die Möglichkeit des Unterlassens
einer Gegenmotivation in Betracht, aus dem die Handlungsqualität der automa-
tisierten Verhaltensweise folgen würde.382
Berücksichtigt man jedoch das zu den Voraussetzungen visueller Wahrneh-
mung Gesagte, dann legen die Beispiele Wimmers nahe, dass Wahrnehmung in
Abhängigkeit von bereits gespeicherten Informationen, also vom Gedächtnis
steht. Geschieht die Informationsverarbeitung auf der Grundlage bereits vor-
handener neuronaler Strukturen383, dann könnte die gesamte Lebensgeschichte
eines Menschen, unter Umständen auch seine genetische Veranlagung, mitent-
scheidend sein für das, was für ihn „erkennbar“ ist und was nicht. Die im Ge-
dächtnis gespeicherten Informationen zu durchbrechen, bedarf es – auch dies
legen die Beispielsfälle Wimmers nahe – offenbar besonders auffälliger Hin-
weise. Die in den Rechtsprechungsfällen hervorgehobenen „außergewöhnli-
chen“ Umstände könnten damit als „Alarmsignale“ für mögliche Gefahrensitu-
ationen wirken. Hätten die Angeklagten aber vor dem Unfall bereits eine länge-
re Strecke unter diesen Umständen zurückgelegt, dann könnte auch die Erkenn-
barkeit der Erfolgsverwirklichung durch die tatsächlich erfahrene, wiewohl nur
vermeintliche Gefahrlosigkeit unmöglich geworden sein. Vollzieht sich dies
ebenso automatisch, wie erlernte Verhaltensweisen unbewusst ausgeführt wer-
den, dann bliebe auch hier nur der Weg, an eine abstrakte geistige Fähigkeit des
Menschen anzuknüpfen, während die konkrete Möglichkeit der Erkennbarkeit
ausgeschlossen werden müsste. Hierfür spricht, dass die Kapazität bewusster
Verarbeitung begrenzt ist, weshalb vermutlich nicht einfach willkürlich Um-
stände ins Bewusstsein gerufen werden können. Es geht also für die Erkenn-

_________________

wenn diese von niemandem erbracht werden kann, ja einem reibungslosen Führen des
Fahrzeugs geradezu entgegen stünde (vgl. Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst,
S. 157; ders., DAR 1959, S. 90 ff.; vgl. auch OLG Düsseldorf NJW 1966, 664, 665;
dazu Spiegel, DAR 1968, S. 287). Wobei natürlich auch das Fahren mit geöffneten
Fenster, mit wenig Fahrpraxis (wie soll diese erworben werden, wenn nicht das Risiko
des ungeübten Fahrens eingegangen wird?) und bei Dunkelheit nicht unbedingt ein
demgegenüber zurechenbar erhöhtes Risiko darstellen. Kritisch auch Jakobs: „Wenn
aber die Risikogewöhnung Folge eines praktisch unumgehbaren Verhaltens ist, also
insbesondere Folge rechtmäßiger Teilnahme am Straßenverkehr, dann liegt ihr Grund
nicht im Verantwortungsbereich des Täters und eine Normativierung ist ausgeschlos-
sen.“ Und: „[...] das praktisch Unumgehbare wird als individuell Umgehbares fingiert“
(StrafR AT, 8/31 u. Bruns-FS, S. 41, jeweils m. w. N.).
382
Vgl. oben, S. 183.
383
Vgl. dazu oben die Ausführungen zu Kargl, S. 62 f.
230 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

barkeit der Tatumstände auch um die Frage, ob ein „Wahrnehmungsautoma-


tismus“ willentlich überlagert werden kann.384
Hinge die Erkennbarkeit eines Sorgfaltspflichtverstoßes oder möglichen Er-
folges in hohem Maße von den Vorerfahrungen ab und könnten somit Gefah-
renpotentiale durch die wiederholte Ausführung einer Tätigkeit nicht mehr
bewusst werden oder im Verlaufe einer Tätigkeit aus dem Bewusstsein „ver-
schwinden“, dann könnte zur Begründung der unbewussten Fahrlässigkeit
allenfalls auf ein „Bewusstseinsfeld“ im Sinne Schewes385 zurückgegriffen
werden, wodurch allerdings die Begründungselemente der Schuld unter Um-
ständen weit vor das eigentliche Tatgeschehen verlagert würden, was mögli-
cherweise der Annahme einer Lebensführungsschuld gleich käme.386 Dagegen
vertritt Stennert die Ansicht, eines Rückgriffs auf die Lebensführungsschuld
bedürfe es nicht, weil – ähnlich der Auffassung Welzels387 – lediglich entschei-
dend sei, „daß der Täter die betreffende Tätigkeit ohne die dazu erforderlichen
Fähigkeiten überhaupt übernommen hat“.388

_________________
384
Philipps stellt heraus, dass es sich bei Unfällen im Straßenverkehr zum Teil um
„Massenphänomene“ handelt, also um Phänomene, die bei einer statistischen Häufigkeit
im Einzelfall zum Verletzungserfolg führen, im Übrigen aber folgenlos bleiben, weshalb
auch die bewusste Übertretung diesbezüglicher Schutzvorschriften durch den einzelnen
nicht in dem Maße fehlerhaft sein könne, dass hieraus eine Haftung aus Vorsatz erwach-
se (s. ZStW 85 [1973], S. 42 f.). Vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 128 f. Jakobs
greift diesen Gesichtspunkt unter psychologischen Aspekten auf: „Ein Autofahrer kann
nicht jedesmal, wenn ein Nachfolgender den Sicherheitsabstand auf der Autobahn bei
100 km/h auf 20 m verringert, ernsthaft seinen eigenen Tod prognostizieren. Verhält er
sich aber selbst entsprechend falsch, wie soll er dann (seinen wie zudem:) den Tod des
anderen ernsthaft prognostizieren können?“ (Bruns-FS, S. 34).
385
Dazu oben, S. 218.
386
Vgl. auch Franzheim, NJW 1965, S. 2001, mit Blick auf eingeübte falsche Auto-
matismen. Man wird wohl auch die Anforderungen, die Boehm an den Verkehrsteilneh-
mer stellt, nur mit dem Gedanken von einer Lebensführungsschuld in die Verantwort-
lichkeit einbeziehen können (vgl. Boehm, Fehlleistungen, S. 111 ff.). Der Verkehrsteil-
nehmer soll sich, so Boehm, „einen Schatz abgesunkener Verhaltensweisen [...] bilden“,
um adäquat auf Gefahrensituationen reagieren zu können (Fehlleistungen, S. 116). Diese
„abgesunkenen Verhaltensweisen“ entstünden aus der Fahrpraxis im Straßenverkehr.
Wer die „typischen, habitualisierten Muster“ nicht erbringe, dem werde sein Zurück-
bleiben hinter dem „allgemeinen Maßstab“ strafrechtlich zugerechnet: „Entweder in der
Form, daß er falsche oder infolge mangelnder Übung keine oder nicht genügend habitu-
elle Muster gebildet hat“ (Fehlleistungen, S. 116). Stratenwerth bermerkt, dass die
Lebensführungsschuld, nichts anderes sei „als ein mühsam verhüllter Kunstgriff, um
präventive Notwendigkeiten doch noch notdürftig mit dem Schuldgedanken zu versöh-
nen“ (Zukunft, S. 44).
387
Dazu oben, S. 169.
388
Stennert, S. 358.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 231

Einem Autofahrer, der bei Dunkelheit nicht ununterbrochen mit auf die
Fahrbahn rennenden Tieren rechnet, würde man aber kaum seine generelle
Befähigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs absprechen. Anzunehmen ist
eher, dass sich jeder Autofahrer hin und wieder bei der eigenen Unaufmerk-
samkeit ertappt. So kommt nach dreißigjähriger Tätigkeit als Richter und
zwanzigjähriger Fahrerfahrung auch Münzel zu dem Schluss: „Man braucht
kein leichtfertiger Fahrer zu sein, um Fußgänger und Radfahrer […] erst spät zu
sehen. Ich stehe nicht an zuzugeben, daß ich manche Fußgänger und Radfahrer
erst gesehen habe, als sie an meiner rechten Seite vorbeihuschten.“389
Aufgrund kognitionspsychologischer Erkenntnisse gibt daher auch Duttge zu
bedenken: „Strafrechtliche Verantwortlichkeit darf doch nur dort zugemutet
werden, wo sie auch tatsächlich zu leisten ist. Anstelle somit – von der einzel-
nen Konstellation abstrahiert und auf der Basis einer Art von ,Laienpsycho-
logie‘ – für den Regelfall pauschal von einem ,Erkennen-Können‘ der Rechts-
gutsbeeinträchtigung auszugehen, muß der Einsicht der professionellen Psycho-
logie Rechnung getragen werden, daß der menschliche Wahrnehmungs- und
Verarbeitungsprozeß außerordentlich komplex, nur begrenzt leistungsfähig und
stets täuschungsanfällig ist. Soweit daher ,Wahrnehmungsschwellen‘ (wie auch
Entscheidungs- und Reaktionsgrenzen) bekannt sind, müssen diese bei der
strafrechtlichen Beurteilung unbedingt beachtet werden, soll die ,Leichtigkeit‘,
mit der sich die Beiträge menschlichen Fehlverhaltens im Nachhinein identifi-
zieren lassen, nicht dazu führen, daß ,Sündenböcke‘, nicht aber persönlich
Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.“390
Weil Risikogewöhnung im Bereich minimaler Risiken unumgehbar sei und
allgemein auftrete, sieht Jakobs hier Anzeichen für eine Zufallshaftung.391 Hin-
gegen sei die „Beanspruchung von Sonder-,Rechten‘ “ im Sinne einer wieder-
holten Herbeiführung hoher Risiken persönlich und nicht allgemein und die
Risikogewöhnung hier umgehbar, da sie keine Folge einer praktisch nicht zu
vermeidenden Lebensführung sei.392 Eine höhere Risikogewöhnung mag zwar
nicht „allgemein“ auftreten, es erscheint aber keinesfalls ausgeschlossen, dass
aufgrund früher Disposition bei einigen Menschen ein anderes Empfinden von
der Gefährlichkeit besteht. Ist dem so, ließe sich die Vermeidbarkeit der Le-
bensführung erfahrungswissenschaftlich wieder nur schwer begründen, und

_________________
389
Münzel, DAR 1956, S. 181.
390
Duttge, Bestimmtheit, S. 409. Vgl. zum Erfordernis der Anpassung des Juristen an
den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Forschung auch Luff, Der öffentliche Ge-
sundheitsdienst 1957, S. 162.
391
Siehe Jakobs, Bruns-FS, S. 39. Vgl. zur Fahrlässigkeit als Erfolgshaftung auch
Stratenwerth, Schaffstein-FS, S. 187 f. m. w. N.
392
Siehe Jakobs, Bruns-FS, S. 41 f.
232 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

normativ nur, wenn die Berechtigung hierauf gegründeter Vorwürfe vernünftig


dargelegt werden kann.
Daneben wirft der Fall des Kriminalhauptmeisters393 das Problem auf, ob bei
mehreren, gleichzeitig vorhandenen Risiken auch alternative Handlungsbereit-
schaften verlangt werden können. Da der Kriminalhauptmeister jedenfalls vor-
nehmlich die Gefahr der Entwendung seiner Waffe abzuwenden versuchte,
könnte die daneben existierende Gefahr der versehentlichen Tötung des Angrei-
fers hiervon gleichsam „überlagert“ worden sein, weshalb ihm ein Unterlassen
des Schusses trotz erhöhter Aufmerksamkeit unter Umständen nicht möglich
war. Da hilft es auch nicht, mit Kargl zu fragen, inwieweit der Handelnde in-
nerlich beteiligt war, bevor er in die unausweichliche Situation geriet394; es
kommt vielmehr darauf an, wodurch die innere Beteiligung bestimmt wird.

3. Folgerungen

Die Spontanreaktionen stellen das Strafrecht damit auch im Bereich der un-
bewussten Fahrlässigkeit vor konkrete Probleme. Eine Erkennbarkeit zum
Zeitpunkt des konkret gefährdenden Ereignisses erscheint zweifelhaft, da nach
dem Gesagten auch das Ereignis offenbar nicht immer bewusst verarbeitet
wird, bevor es zur Reaktion kommt. Durch die Vorverlagerung in den Bereich
abstrakter Gefährdung durch risikoerhöhendes Vorverhalten wird diese Pro-
blematik, die ebenso wie die Wahrnehmung der Reaktion selbst auf einen
Mangel an Zeit zurückzuführen sein könnte395, zwar umgangen, an ihre Stelle
tritt aber die Frage, ob und inwieweit „Wahrnehmungsautomatismen“ wirken
könnten und wie diese zu vermeiden wären. Denn die Wahrnehmung könnte
ebensolchen Automatisierungsmechanismen unterliegen wie das Verhalten,
wodurch sich die Frage, ob ein Automatismus willentlich überformt werden
kann, im Bereich bewusster Wahrnehmung gleichfalls stellte. In Bezug auf das
bewusste Wollen hat Schopenhauer zu Recht auf den unendlichen Regress in
der Beweisführung hingewiesen, der sich durch eine Bejahung ergäbe.396 Geht
man dagegen davon aus, dass unvermeidbare Automatismen auch bei der
Wahrnehmung existieren, wie dies durch die Beispiele von Wimmer397 nahege-
legt wird, dann stellt dies die Voraussetzungen strafrechtlich relevanter Er-
kennbarkeit generell in Frage.
_________________
393
Dazu oben, Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 25.
394
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 535.
395
Man denke an die schnelle Abfolge von Bildern bei einem Fernsehfilm, wo die
einzelnen Bilder für sich nicht mehr wahrgenommen werden können.
396
Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 6.
397
Siehe oben, S. 224.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 233

Zwar bemerkt Roxin: „Die Annahme, es stehe in niemandes Macht, die Um-
stände zu bedenken, die einem nicht einfallen, ist irrig. Unser ganzes Sozialle-
ben beruht darauf, daß es dem Menschen möglich ist, von ihm ausgehende
Gefahren zu überprüfen und unter Kontrolle zu halten; wäre es anders, so wür-
de z. B. der Autoverkehr untragbare Risiken mit sich bringen und eingestellt
werden müssen.“398 Diese Folgerung ist aber nicht schlüssig. Das Sozialleben
des Menschen steht zwar in engem Bezug zu seiner Fähigkeit, Zusammenhänge
zu erfassen und sich insbesondere auch möglicher Folgen bewusst zu sein; aus
dieser Fähigkeit folgt aber nicht, dass auch dort die Möglichkeit besteht, sich
hypothetischer Verlaufsmöglichkeiten bewusst zu sein, wo diesbezüglich keine
bewusste Repräsentation vorhanden ist. Der Autoverkehr wäre ohne eine solche
Kontrollmöglichkeit künftiger Gefahren nicht risikoreicher. Jede andere Folge-
rung setzte die Möglichkeit zur „Bewusstseinssteuerung“ voraus, bildete also
einen Zirkelschluss. Ob sich der Autoverkehr aber durch das Bewusstsein von
der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten zukünftig anders entwickelt oder
eingestellt wird, kann hier ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, ob
das Strafrecht infolge dieser Erkenntnis verändert oder gar abgeschafft wird.

III. Zwischenergebnis und Überleitung

Es konnte bisher festgestellt werden, dass die Untätigkeit eines Autofahrers


auf eine plötzlich auftretende Gefahrensituation hin ihm innerhalb eines gewis-
sen Zeitraumes, der als erforderlich für eine bewusste Verarbeitung und Ent-
scheidung angesehen wird, mangels Vermeidbarkeit nicht vorgeworfen wird.
Vermeidbarkeit setzt damit die Möglichkeit zu bewusst gesteuertem Verhalten
voraus. Spontanreaktionen verlaufen zwar bei Bewusstsein, jedoch unwillkür-
lich. Diese Annahme wird sowohl durch Erlebnisberichte, denen zufolge die
Reaktion „automatisch“ abläuft, unterstützt, als auch dadurch, dass nicht nur
die Bewegung als solche, sondern offenbar auch das reaktionsauslösende Er-
eignis nicht bewusst verarbeitet sein muss, um die Reaktion hervorzurufen.
Eine spontane Reaktion müsste daher nach denselben Maßstäben beurteilt wer-
den wie eine unmittelbare Passivität, also innerhalb des gleichen Zeitraumes als
unvermeidbar angesehen werden.
Können Spontanreaktionen aufgrund ihrer Unmittelbarkeit nur ohne Wil-
lensbetätigung erfolgen, so kann ihnen nach allen Handlungslehren, die eine
Möglichkeit zu willentlicher oder bewusster Verhaltenssteuerung voraussetzen,
keine Handlungsqualität zugeschrieben werden. Daneben entfällt die Hand-
lungsqualität auch nach denjenigen Lehren, die auf eine objektive Beherrsch-
barkeit oder individuelle Vermeidbarkeit des Verhaltens abstellen. Zwar mag
_________________
398
Roxin, StrafR AT/1, § 24, Rn. 69.
234 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

die Reaktionszeit individuell differieren, ein Minimum ist aber für Jedermann,
also generell erforderlich; daher ist auch seine Berücksichtigung als Kriterium
des objektiven Ausschlusses einer Sorgfaltspflichtverletzung geboten. Wird ein
tatsächliches Bewusstsein hinsichtlich des Verhaltens nicht gefordert, entfällt
außerdem das subjektive Gefühl der Verursachung und damit der Selbstzu-
schreibung. Wird hierauf verzichtet, kann auch der strafrechtliche Vorwurf
nicht auf dem evidenten Erleben von Selbstzuschreibung basieren, wie dies
beispielsweise der Handlungsbegriff Kargls fordert.399
Werden Spontanreaktionen dagegen als dem Bewusstsein prinzipiell zugäng-
lich und somit als steuerungsfähig angesehen, so entstehen entweder inhaltliche
Widersprüche zu den Annahmen, die der Reaktionszeit zugrunde liegen, oder
aber es ergibt sich ein systematischer Widerspruch daraus, dass bei Nichthand-
lungen wie bei den Reflexen die Unmöglichkeit der Vermeidung bereits bei der
Unrechtsprüfung festgestellt wird, bei den ebenso unvermeidbaren Spontanre-
aktionen hingegen nicht. Diese Probleme vermochte lediglich die Handlungs-
lehre nach der „Zwangstheorie“, wie sie Michaelowa darlegt, zu umgehen.
Auch bei der von ihr gestellten Frage, ob durch staatliche Reaktion künftig
Rechtsgutsbeeinträchtigungen verhindert werden können, müsste man danach
die Spontanreaktionen nicht als strafrechtlich irrelevant ausscheiden. Bekannt-
lich gibt es Fahrkurse, die darauf abzielen, dem Kraftfahrer „falsche“ Automa-
tismen abzugewöhnen und seinen Bewegungsapparat so zu trainieren, dass er
spontan „richtig“, wenngleich automatisch reagiert. Ob es allerdings sinnvoll
ist, dieses Ziel bei denjenigen, die von einer unglücklichen Situation überrascht
wurden und falsch reagierten, mit dem Strafrecht zu verfolgen, sei hier dahin-
gestellt. Hervorzuheben ist aber die prinzipiell andere Herangehensweise an
den Handlungsbegriff, die sich nicht an der Möglichkeit zur Willenssteuerung
in der konkreten Tatsituation, sondern an einem erlernbaren Können orientiert
und damit jedenfalls die Freiheitsproblematik, wenn auch nicht die Frage der
Sinnhaftigkeit der Strafe im Einzelfall gänzlich umgehen kann.
Da den Spontanreaktionen kein Bewusstsein hinsichtlich der Reaktion vor-
angeht, erfüllen sie auch nicht die Voraussetzungen an die innere Tatseite.
Zwar kann unwillkürliches Verhalten grundsätzlich vom Vorsatzbegriff um-
fasst sein, soweit es von einem umfassenderen „Willen“ mitgetragen wird;
dieser Zusammenhang entfällt jedoch, wenn wie bei den Spontanreaktionen ein
solcher Wille aufgrund der plötzlichen situativen Veränderung nicht gebildet
werden konnte. Die Annahme einer Vorsatzschuld aufgrund eines sachgedank-
lichen Mit- oder Begleitbewusstseins nach Platzgummer oder Schmidhäuser
kann darüber nicht hinweghelfen, da es an dem „Wollenssubstrat“ fehlt, das
ohne eine konkrete Voraussicht der Möglichkeit einer Fehlreaktion nicht unter-
stellt werden kann. Darüber hinaus erscheint auch ein Bewusstsein hinsichtlich
_________________
399
Dazu oben, S. 181.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 235

der situativen Umstände, durch welche die Reaktionen hervorgerufen werden,


zweifelhaft. Dies stellt die Handlungsqualität der Spontanreaktionen schließlich
auch nach der Handlungslehre Stratenwerths400 in Frage.
Analog begegnet man der Problematik des Automatismus auf der Ebene der
Wahrnehmung, wenn nach der Erkennbarkeit der Tatumstände gefragt wird.
Denn wie man von einem automatisierten Verhalten spricht, wenn es unbe-
wusst vollzogen wird, weil es eingeübt ist und damit keine Aufmerksamkeit
mehr für sich beanspruchen muss, könnte man auch von einer automatisierten
Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung sprechen, soweit diese ebenso einer
Art „Mechanismus“ unterliegt, wonach vormals bewusst Wahrgenommenes
irgendwann „ausgeblendet“ wird. In diesem Falle wird man sich entweder mit
der Frage auseinandersetzen müssen, ob solche „Wahrnehmungsautomatismen“
willentlich überformt werden können, oder man lässt ein durch Vorkenntnisse
erworbenes „Bewusstseinsfeld“ von einem erhöhten Risiko für die Erkennbar-
keit des tatbestandlichen Erfolges ausreichen. Letzteres ist ohne die Annahme
einer Lebensführungsschuld schwer begründbar und wirft überdies die Frage
auf, worin die Schuld bei diesen Mechanismen gesehen werden kann, will man
nicht in diesem Bereich gänzlich auf ein Handlungsunrecht verzichten. Vor-
satzausschluss und Verneinung individueller Erkennbarkeit führten im Ergebnis
jedenfalls zur Schuldlosigkeit.
Auf der anderen Seite hindert die als „Reaktionszeit“ bekannt gewordene
Zeitspanne den Kraftfahrer offenbar nicht an einem unwillkürlichen Verhalten,
ohne dass ihm selbst immer bewusst ist, worauf er im konkreten Fall reagiert.
Die Luff zufolge von Juristen für die Strafbarkeit vorausgesetzte Reaktionsket-
te: bewußte Wahrnehmungen – kritisches Verarbeiten und Durchdenken des
Wahrgenommenen – überlegtes Handeln, existiert damit bei den Spontanreak-
tionen nicht. Die neue Kette, die bei den Spontanreaktionen immerhin möglich
erscheint: Ereignis – unbewusst-reaktives Verhalten – bewusste Wahrnehmung
von Ereignis und Verhalten, vermag den Voraussetzungen für strafbares Ver-
halten auf verschiedenen Ebenen der Deliktsprüfung nicht zu genügen.401
Bei den Spontanreaktionen läge damit weder das subjektive Charakteristi-
kum der Handlungsfreiheit, das Erleben einer Willensbetätigung, noch dessen
„objektive“ Kehrseite, die zeitliche Abfolge: Wille – Verhalten, vor. Da man
davon ausgeht, dass die Reaktionszeit eine für die Willensbildung erforderliche
Zeitspanne darstellt, wird man von einer den Willen hindernden Zwangswir-

_________________
400
Dazu oben, S. 171.
401
Hier ergibt sich also die Folge, die Armin Kaufmann hinsichtlich der gemeinhin
fraglichen Fälle des Handlungsbegriffs festgestellt hat: „Daß diese Fälle auch im dreifa-
chen Filter von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld irgendwo hängen
bleiben würden, läßt sich wohl ernsthaft nicht bezweifeln“ (Funktion, S. 27).
236 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

kung im Sinne Schopenhauers sprechen können.402 Spontanreaktionen erfolgten


dann ohne Handlungsfreiheit und stellten kein Handlungsunrecht dar.
Spezifisch für die hier untersuchten automatisierten Verhaltensweisen ist die
Spontanität der Reaktion auf ein Ereignis hin. Automatisierte Verhaltensweisen
sind jedoch auch alle übrigen Bewegungsabläufe, die auf vormals erlerntes
Verhalten zurückgehen. Zwar geht ihnen ein Wille voran (z. B. der Wille mit
dem Rad zur Arbeit zu fahren), dieser Wille bezieht sich aber nicht auf die
einzelnen Bewegungen – sonst würde man gerade nicht von „automatisiert“
sprechen. Unabhängig davon, inwieweit die Handlungslehren diese unwillkür-
lichen Bewegungen zu erfassen vermögen, stellt sich deshalb die Frage, ob man
bei ihnen von Vermeidbarkeit sprechen kann, denn auch sie vollziehen sich
naturgemäß nicht erst nach Ablauf der für eine bewusste Verarbeitung jeder
einzelnen Bewegung erforderlichen Reaktionszeit. Entsprechend müssten die
jeweils einzelnen Bewegungen aus rechtlicher Sicht unvermeidbar sein. Wie
aber soll dann eine Handlung vermeidbar sein, deren einzelne Bewegungen
nicht vermeidbar sind? Hier müsste der Schuldvorwurf den zuvor gebildeten
Willen treffen, also neben der Handlungs- auch die Willensfreiheit vorausset-
zen können.
Übertragen auf die Ebene der Wahrnehmung hätte dies Konsequenzen für
Schuldtheorien, die zwar die Möglichkeit eines Alternativverhaltens ablehnen,
dafür aber den „Geist“ in die Verantwortung nehmen. Wären geistige Reprä-
sentationen nicht beeinflussbar und damit unvermeidbar, so wäre eine Schuld-
theorie wie die Kargls403, die, ausgehend von der Annahme der Erkennbarkeit
motivationaler Faktoren, dem Individuum das Unterlassen einer Korrektur des
eigenen Systems anlastet, kaum mehr haltbar. Wegen der Unterschiedlichkeit
persönlicher Vorerfahrungen erscheinen auch Lehren wie die Graf zu Doh-
nas404 und Jakobs’405 zweifelhaft, soweit sie eine Ähnlichkeit der psychischen
Strukturen bei verschiedenen Menschen voraussetzen.
Die Perspektive, unter der die strafrechtliche Behandlung automatisierter
Verhaltensweisen hier kritisch hinterfragt wird, setzt natürlich zweierlei voraus:
zum einen die empirische Zugänglichkeit der Phänomene, zum anderen deren
Berücksichtigung im Strafrecht. Der eingangs vorgestellte Grundsatz wei-
testgehender Objektivierung im Strafprozess beweist seine Existenzberechti-
gung indes gerade bei der Beurteilung der hinterfragten Rechtsbegriffe. Schon
die Willensbetätigung unterliegt im Strafprozess der Beurteilung des für psy-
chophysische Phänomene zuständigen Sachverständigen. Subjektives Erleben
_________________
402
Siehe oben, S. 29.
403
Dazu oben, S. 62 ff.
404
Dazu oben, S. 56 f.
405
Siehe dazu oben, S. 58 ff.
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 237

spielt bei ihrer Beurteilung jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Dies ergibt
sich zum einen daraus, dass der Richter dieses Erleben nicht selbst erlebt, zum
anderen daraus, dass das Erleben des Angeklagten hinter objektiven Feststel-
lungen zurücktritt. Allerdings sind mangels wissenschaftlicher Erforschung der
den Automatismen zugrundeliegenden Phänomene im Bereich der Handlungs-
qualität, der Vermeidbarkeit und der Erkennbarkeit breite Spielräume für rich-
terliche Willkür zutage getreten, also gerade dort, wo die Möglichkeit zur Ver-
haltenssteuerung direkt oder indirekt über geistige Tätigkeit selbst in Frage
steht. Ausschlusskriterien können hierüber solange nicht hinweghelfen, wie sie
ihrerseits einer empirisch beglaubigten Systematik entbehren. Die Notwendig-
keit der Berücksichtigung empirischer Erkenntnisse zur Verhaltenssteuerung im
Strafprozess steht damit außer Frage.
Den Versuch, die Initiation von Bewegungen beim Menschen zu erklären,
unternahm bereits Descartes. Nach seiner dualistischen Theorie besitzt die
Seele Einfluss auf den Körper. „Le principal siege de l’ame“ ist für Descartes
die Zirbeldrüse406, von der aus „esprits“ in die Muskeln gesendet würden, wenn
eine Bewegung ausgeführt werden soll. Als Willensakte bezeichnet er entspre-
chend die Tätigkeiten der Seele. Auch könnten die „Geister“ durch willentliche
Bewegung der Drüse zu den Hirnporen gebracht werden, durch deren Öffnung
etwas Vorzustellendes dargestellt werden könne. Solle dagegen ein Objekt
längere Zeit aufmerksam betrachtet werden, halte der Wille die Hirndrüse wäh-
rend dieser Zeit in die gleiche Richtung geneigt.407 Umgekehrt könnten die
Lebensgeister auch dadurch in Bewegung geraten, dass die Zirbeldrüse durch
andere Ursachen, wie Sinneswahrnehmungen, bewegt würde. Diese Bewegung
löse im Gegensatz zum Willensakt als Tätigkeit der Seele ein passives Erleiden
derselben aus.408 So erklärt sich Descartes auch automatisiertes Verhalten, wie
etwa die Flucht, als von der Seele unabhängig ausgelöste Aktivität der Geister.
Aufgrund der Bewegung der Hirndrüse bemerke die Seele die Flucht zwar, sie
werde jedoch allein durch die Verfassung der Organe ohne Beitrag der Seele
ausgelöst.409
Zwar sind diese Vorstellungen heute veraltet, sie zeigen jedoch, dass das
„Steuerzentrum“ des Körpers seit langer Zeit im Gehirn vermutet wird. Eine so
empirische Herangehensweise an die Schuldfrage wird dennoch kritisch beur-
teilt. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts äußerten Strafrechtler:
_________________
406
Siehe Descartes, Art. 34: „la petite glande qui est au milieu du cerveau“, erläutert
von Hammacher, ebd., in Anm. 39. Dabei ist die Seele aufgrund ihrer immateriellen
Natur jedoch nicht auf die Zirbeldrüse beschränkt, sondern ist mit dem ganzen Körper
verbunden, vgl. Descartes, Art. 30.
407
Siehe Descartes, Art. 17 u. 43.
408
Siehe Descartes, Art. 34.
409
Siehe Descartes, Art. 38.
238 Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld

„Gewiß ist richtig, daß wir bisher von den Gesetzlichkeiten unseres Seelenle-
bens und seines kausalen Unterbaus noch wenig wissen und es in seiner un-
übersehbaren Vielfalt wohl nie ganz erforschen und mit Hilfe allgemeiner Be-
griffe werden erfassen können.“410; und: „Ob aber […] ein frei wählender
Entschluß möglich ist, das ist angesichts der Tatsache, daß wir über die mikro-
physikalischen Vorgänge im menschlichen Gehirn kaum etwas wissen, zumin-
dest unentscheidbar.“411
Circa ein Vierteljahrhundert später bemerkt Griffel, dass sich zwar die Ab-
hängigkeit subjektiven Erlebens von Hirnprozessen feststellen ließe, über den
Inhalt dieses Erlebens aber keine Feststellungen möglich seien.412 Im Gegensatz
zu körperlichen Vorgängen stehe die Subjektivität des Menschen außerhalb
kausaler Erklärbarkeit.413 Es sei auch in der Gehirnforschung die Redewendung
üblich, das Ich denke mit seinem Gehirn, die zum Ausdruck bringen solle, dass
gerade nicht das Gehirn denke, sondern das Ich.414 Er stellt schließlich fest, das
„Erlebnis des So-oder-anders-wollen-Könnens ist tatsächliche, unabweisbare,
auch von keinem Deterministen bestrittene innere Erfahrung und in diesem
Sinne empirisch gewiss. Ob aber dieses Erlebnis möglicherweise irrig ist, ist
nicht empirisch feststellbar“. Denn als rein subjektives Erleben sei es nicht
Gegenstand objektiver, etwa gar experimenteller Überprüfung und damit nicht
einem Beweis im Sinne exakter Wissenschaftlichkeit zugänglich.415

_________________
410
Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 9, wobei er jedoch das Ergebnis bereits vor-
wegnahm und den Naturwissenschaften einen Zugang zum menschlichen Wollen und
zum hierauf basierenden Freiheitsbegriff absprach.
411
Roxin, JuS 1966, S. 378; ähnlich Bockelmann: „Ich weiß nicht – und vermutlich
weiß niemand genau – wie weit und in welcher Weise geistige Prozesse von chemischen
und physikalischen Vorgängen abhängig sind“ (ZStW 75 [1963], S. 374).
412
Siehe Griffel, GA 1989, S. 198, und ders., ZStW 98 (1986), S. 37.
413
Siehe Griffel, MDR 1991, S. 110.
414
Siehe Griffel, GA 1996, S. 462.
415
Siehe Griffel, ZStW 98 (1986), S. 35 f. Hirsch schließt ein Heranziehen der Na-
turwissenschaften nicht aus, sieht jedoch in der Heisenbergschen Unschärferelation, der
Chaos-Theorie und den Folgerungen der unscharfen Logik eher Anzeichen für eine
Freiheit des Willens. Zwar sei die Rechtswissenschaft nach seiner Ansicht von der
realen Welt abhängig, sie sei jedoch keine Naturwissenschaft (s. ZStW 106 [1994],
S. 762 f.). Haddenbrock zufolge bieten auch neue Erkenntnisse in der Humanwissen-
schaft keine Handhabe zur Unterscheidung von unvermeidbarem Schicksal und ver-
meidbarer Schuld eines Täters. Er fordert deshalb, dass der empirisch untermauerte
Unfreiheitsaspekt jeder Straftat nicht als bloßes Denkmodell abgetan werden könne und
kritisiert damit Dreher, dem Willensfreiheit als erlebte Wirklichkeit hinreiche, um beim
psychisch gesunden Straftäter von einem Anders-handeln-Können auszugehen und ihn
guten Gewissens als schuldfähig und schuldig zu behandeln (s. Haddenbrock, Salger-
FS, S. 646).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit 239

Der dritte Teil dieser Arbeit soll dazu dienen, diese Thesen zu überprüfen.
Dabei sollen sowohl die Überlegungen Descartes vom Einfluss der Seele auf
den Körper als auch die bereits erwähnten psychophysiologischen Erkenntnis-
se, welche das Strafrecht bei der Beurteilung der Verhaltenssteuerung maßgeb-
lich prägen, durch neuere Forschungserkenntnisse ersetzt werden.
Teil 3

Empirische Voraussetzungen der Schuld


im Lichte der Neurowissenschaften

Kapitel 1
Visuelle Wahrnehmung

I. Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft

§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt für die Vorsatzhaftung die Kenntnis der Um-
stände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, voraus. Satz 2 verweist dar-
auf, dass im Falle der Unkenntnis die Fahrlässigkeitshaftung unberührt bleibt.
§ 276 Abs. 2 BGB normiert: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderli-
che Sorgfalt außer Acht lässt. Vollzieht sich ein solcher Sorgfaltspflichtverstoß
ohne Kenntnis des Handelnden, dann muss er wenigstens erkennbar gewesen
sein. Von Erkennbarkeit ist dann die Rede, wenn die Situation in Bezug auf die
relevanten Umstände hätte wahrgenommen werden können. Wer die rote Am-
pel, die er überfahren hat, nicht gesehen hat, der hat nicht über die Kenntnis
verfügt, gegen die Straßenverkehrsordnung zu verstoßen. Handelt es sich dabei
aber um einen „Durchschnittsmenschen“, so soll ihm, wie es Jakobs formuliert,
eine Weltgestaltung mit Aufmerksamkeit zur Verfügung gestanden haben1, was
nichts anderes heißt, als dass der „normale“ Mensch bei genügender Aufmerk-
samkeit die rote Ampel hätte wahrnehmen können. Die Erkennbarkeit des
Sorgfaltspflichtverstoßes hängt also maßgeblich von der Möglichkeit zur
Wahrnehmung bestimmter Ereignisse ab. Häufig kommt es dabei auf die visu-
elle Wahrnehmung an. Weil diese neurobiologisch am umfassensten erforscht
ist, soll der Begriff der Erkennbarkeit daher im Folgenden einigen neurowis-
senschaftlichen Erkenntnissen zur visuellen Informationsverarbeitung gegen-
übergestellt werden.

_________________
1
Vgl. oben, S. 59.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 241

1. Bewusstseinsbegriff

Für die im Rahmen dieser Arbeit zu untersuchende Problematik ist es ausrei-


chend, auch weiterhin nur alltagsphilosophische Kriterien des Bewusstseins-
begriffs vorauszusetzen. Visuelle Wahrnehmung meint danach ein Bewusstsein
infolge der retinalen Verarbeitung externer Stimuli, die visuelle „Eindrücke“
von der Umwelt erzeugt. Dabei wird man bei der hier in Frage stehenden visu-
ellen Wahrnehmung allerdings unterscheiden müssen: Der Differenzierung
zwischen bewusst gesteuerten und automatisierten Bewegungen ungefähr ent-
sprechend ist neben der bewussten Wahrnehmung auch eine visuelle Verarbei-
tung von Außenweltreizen möglich, die weder aktuell zu Bewusstsein kommen
noch ex post rekapituliert werden können. Als Beispielsfall nennt der amerika-
nische Philosoph Michael Tye hier den Fahrer, der in Gedanken verloren einige
Kilometer mit dem Auto zurücklegt, dabei den Wagen auf der Straße hält, unter
Umständen die Gangschaltung bedient, ohne sich dabei des Autofahrens be-
wusst zu sein. Da keinerlei Erinnerung an die Eindrücke von der Umwelt und
vom eigenen Verhalten existiert, ist der Fahrer zwar bei Bewusstsein, fährt
jedoch unbewusst.2 Bewusste Wahrnehmung, die zu einem Bild von der Um-
welt wie vor einer Art „innerem Auge“ führt, wird dagegen auch mit dem Be-
griff der Aufmerksamkeit bezeichnet.3

2. Neuronale Informationsverarbeitung

Wird bewusst etwas wahrgenommen, dann verbinden sich zunächst Neuro-


nen aus unterschiedlichen Hirnarealen zu Netzwerken, die diese Wahrnehmung
repräsentieren. Darüber besteht heute in den Neurowissenschaften Überein-
stimmung.4 Wie dies geschieht und welche Möglichkeiten sich durch die
Kenntnis dieser Vorgänge für deren Visualisierung eröffnen, die ihrerseits zu
einem enormen Erkenntnisgewinn beigetragen hat und noch immer beiträgt,
soll im Folgenden kurz skizziert werden.

_________________
2
Vgl. Tye, Bewußtsein, S. 104 u. 106, der jedoch nicht auf die Erinnerung, sondern
auf das fehlende Bewusstsein höherer Ordnung abstellt, einen Denkvorgang, der auf den
mentalen Zustand gerichtet ist, in dem sich der Fahrer befindet. Vgl. dazu auch Arm-
strong, Theory, 6/VI; ders., Nature, S. 197 ff., sowie unten, Teil 3, Kap. 2, Fn. 180.
3
Daneben gibt es noch viele weitere Bewusstseinsformen, insbesondere das Selbst-
bewusstsein (vgl. die Aufzählung bei Schmidt/Schaible-Birbaumer/Schmidt, S. 412).
4
Siehe Schmidt/Schaible-Birbaumer/Schmidt, S. 412; vgl. auch Roth, Gehirn,
S. 251, u. ders., Grundlagen, S. 162 f.; vgl. auch Dudel/Menzel/Schmidt-Roth/Menzel,
S. 559.
242 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

a) Molekularbiologische Grundlagen

Bei der Bildung von neuronalen Netzwerken spielen Neurotransmitter wie


Glutamat und Gammaaminobuttersäuren eine entscheidende Rolle, denn sie
sorgen zwischen den Nervenzellen für die Informationsübertragung. Sie werden
durch die elektrische Erregung einer Nervenzelle freigesetzt und rufen an der
Zellmembran der nächsten Zelle ihrerseits eine elektrische Erregung hervor.
Dies geschieht, indem sich synaptische Vestikel mit der Endmembran verbin-
den und die Transmittermoleküle in den synaptischen Spalt freisetzen, ein Pro-
zess, der Exozytose genannt wird. Daneben gibt es Neuromodulatoren wie
Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin sowie Neuropeptide, wel-
che die Wirkungsweise der Neurotransmitter beeinflussen können.5 Durch die
Übertragung von Informationen in Form von Neurotransmittern wird demnach
die Struktur der Neuronen verändert. Ein so entstandener Neuronenverband
beruht auf den dynamischen Kombinationen von Neuronen, die für eine be-
stimmte Zeit als ein in sich geschlossenes System wirken. Neuronenverbände
repräsentieren also ein Ensemble von funktionellen Zuständen.6
Zur elektrischen Erregung kommt es, vereinfacht dargestellt, dadurch, dass
es geladenen Teilchen (Ionen) durch die Veränderung der Membraneigenschaf-
ten der Nervenzelle möglich wird, in die Zelle hinein und aus ihr heraus zu
strömen. Konkret öffnen sich bei Kontakt der Nervenzelle mit einem Neu-
rotransmitter sogenannte Ionenkanäle, durch die Natrium- und Calziumionen in
die Zelle hineinströmen, bis sich die Kanäle wieder schließen. Der Zustrom von
Natrium- und Calziumionen bewirkt eine Ladungsveränderung innerhalb der
Nervenzelle, die wiederum ein Ausströmen von Kalium- und Chloridionen zur
Folge hat. Wies die Zelle vor dem Einstrom der Ionen ein elektrisches Ruhepo-
tential auf, wird sie durch die Natrium- und Calziumionen depolarisiert, das
heißt die anfänglich bei circa -70 Millivolt liegende Spannung steigt bis hin zu
positiven Werten. Sobald der Ausstrom von Kalium- und Chloridionen über-
wiegt, sinkt das Potential wieder. Dieser Vorgang wird Repolarisation genannt.
Wird in der Phase der Depolarisation ein Schwellenwert, der üblicherweise bei
-50 bis Minus -40 Millivolt liegt, überschritten, steigt danach das Potential
autonom zu einem positiven Spitzenpotential an. In diesem Falle spricht man
von einem Aktionspotential. Wird der Schwellenwert hingegen nicht erreicht,
repolarisiert die Zelle, ohne dass es zur Entstehung eines Aktionspotentials
gekommen ist.7

_________________
5
Vgl. hierzu Roth, Grundlagen, S. 166 f.
6
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 487.
7
Vgl. hierzu Roth, Gehirn, S. 93; Dudel/Menzel/Schmidt-Dudel, S. 92 ff.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 243

b) Bildgebende Verfahren

Die beschriebenen Veränderungen elektrischer Potentiale sind mittels geeig-


neter Messinstrumente erfassbar. Die seit den sechziger Jahren gängige Metho-
de zur Messung des Verlaufs elektrischer Aktivität ist die Elektroenzepha-
lographie (EEG). Ende der zwanziger Jahre wurden mit ihrer Hilfe erstmals
Potentialschwankungen von der menschlichen Kopfhaut abgeleitet. Das magne-
tische Analogon hierzu bildet die Magnetoenzephalographie (MEG), welche
die durch die elektrische Hirnaktivität hervorgerufenen magnetischen Felder
erfasst und darüber hinaus eine räumliche Zuordnung der Hirnaktivität ermög-
licht.8 Für die räumliche Darstellung der Hirnanatomie sowie zur mittelbaren
Erfassung des Blutflusses geeignet ist die Kernspin- oder Magnetresonanzto-
mographie (MRT), die wie EEG und MEG nicht in den Stoffwechsel der Mess-
personen eingreift und deshalb völlig nebenwirkungsfrei durchgeführt werden
kann. Sie beruht, vereinfacht gesprochen, auf der Messung durch Radiowellen
zum „Taumeln“ gebrachter Wasserstoffkerne.
Zu den weiteren räumlichen Darstellungsverfahren zählen die funktionelle
Magnetresonanz-Tomographie (fMRT), die Positronen-Emissions-Tomogra-
phie (PET), und die Einzel-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPE-
CT). Mittels der fMRT lassen sich Sauerstoffdifferenzen im Blut feststellen, die
mittelbar auf Aktivitäten im Gehirn schließen lassen. Dagegen werden bei der
PET- und SPECT-Messung radioaktiv markierte Substanzen wie Sauerstoff in
den Stoffwechsel der Messperson eingeführt, deren Verfall messbar ist.9 Es
liegt nahe, dass für eine gute zeitliche und räumliche Auflösung die Verfahren
auch kombiniert angewendet werden.10
Durch die Entwicklung der bildgebenden Verfahren ist auch die neuronale
Aktivität bei Bewusstseinsprozessen visuell zugänglich geworden. Man kann
heute, so die Behauptung renommierter Hirnforscher, die Modalität und einige
Aspekte der subjektiven Qualitäten eines wahrgenommen oder vorgestellten
Ereignisses „objektiv“ erkennen, und auch, ob dieses Ereignis eine Bedeutung
für die Person hat oder nicht.11 So veranschaulichte die Kernspintomographie
den Neurowissenschaftlern Münte und Heinze, welche Gehirnareale aktiviert
sein müssen, damit einer Versuchsperson eine falsche Antwort bewusst wird.12
_________________
8
Siehe hierzu Münte/Heinze, S. 301 ff.
9
Siehe hierzu Münte/Heinze, S. 299 ff.
10
Vgl. dazu Münte/Heinze, S. 303 ff.
11
Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 9 f.
12
Siehe Münte/Heinze, S. 318 f. Daneben verweisen Münte und Heinze auf weitere
Beispiele aus dem vergangenen Jahrzehnt, die insbesondere die unterschiedliche Ge-
hirnaktivität bei Gedächtnisleistungen und Lernprozessen mit Hilfe des PET-Verfahrens
aufzeigen (vgl. Münte/Heinze, S. 312 ff.). Hierzu auch Markowitsch, Spektrum der
Wissenschaft/Digest 2 (2001), S. 53; Markowitsch/Daum, S. 221 ff.; Vogeley, Selbst-
244 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Erfolgreich bei der Identifikation wahrnehmungskorrelierter Hirnaktivität war


mit dieser Methode auch Kleinschmidt. Er beobachtete so neuronale Verände-
rungen bei Probanden, während diese sogenannte „Kippfiguren“ betrachteten.
Diese Bilder ermöglichen jeweils zwei stimmige, aber sich gegenseitig aus-
schließende Interpretationen. Bekanntestes Beispiel ist der sogenannte „Ne-
ckarwürfel“, bei dessen Betrachtung perspektivisch einmal das tieferliegende,
einmal das höherliegende Quadrat als das im Vordergrund befindliche wahrge-
nommen wird, woraus sich jeweils unterschiedliche Ansichten des Würfels
ergeben:

Die Probanden sollten dabei angeben, wann die Wahrnehmung des Bildes
„kippte“, also eine Interpretation die andere ablöste. Dabei konnte Klein-
schmidt mit Hilfe der Kernspintomographie sowohl Aktivitätsanstiege als auch
Aktivitätseinbrüche in bestimmten Hirnregionen ausmachen, die mit dem
Wahrnehmungswechsel einhergingen.13

c) Die Arbeitsweise des Gehirns

Neu gebildete Neuronennetze werden im Gedächtnis niedergelegt, auf wel-


ches das Gehirn zurückgreift, wenn es bisher unbekannte Wahrnehmungen
einordnen muss. Die Information über einen Gegenstand setzt sich dabei, Ger-
hard Roth zufolge, im Gehirn aus vielen getrennt verarbeiteten Aspekten zu-
sammen. Ein Stuhl wird nicht als Stuhl im Gehirn quasi „abgebildet“ und von
einer Art „innerem Auge“ angeschaut, sondern seine einzelnen deskriptiven
Merkmale, wie Ort, Kantenorientierung, Umrisse, Farbe, räumliche Tiefe, Kon-
trast, Bewegung, Relation zu anderen Objekten und zum eigenen Körper sowie
Bedeutung der Begriffe „Lehne“, „Sitzfläche“, „Beine“ und „Stuhl“ werden in
unterschiedlichen kortikalen Arealen verarbeitet.14 Die getrennte Verarbeitung
hat den Vorteil, dass der Gegenstand auch als solcher erkannt werden kann,
wenn nicht alle Aspekte zusammentreffen. Befindet sich der Stuhl beispiels-
_________________

konstrukt und präfrontaler Cortex, S. 224; ders., Psychopathologie des Selbstkonstrukts,


S. 256 ff.
13
Siehe Kleinschmidt, S. 449 ff.
14
Vgl. Roth, Gehirn, S. 253 f.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 245

weise an einem anderen Ort, oder hat er eine andere Farbe, wird er, wenn aus-
reichend viele andere Merkmale zutreffen, dennoch als Stuhl identifiziert. Die-
se Parallelverarbeitung ist nach Roth mit einer hierarchischen Informationsver-
arbeitung kombiniert. Die Annahme eines sogenannten „Großmutterneurons“,
das an der Spitze hierarchischer Informationsverarbeitung ein bestimmtes Ge-
schehen oder eine Gestalt exakt repräsentiert, sei indes überholt.15 Die von
einem Gegenstand oder einem Geschehen ausgehenden externen Stimuli der
Wahrnehmung würden vielmehr in Elementarereignisse, wie Lichtquanten-
menge und dominante Wellenlängen im visuellen System sowie Schallfrequenz
und -amplitude im auditorischen System zerlegt, ihre Wahrnehmung durch
Kombination und Ergänzung dieser Elementarereignisse erzeugt.16 Jeder Wahr-
nehmungsinhalt werde also durch ein hochkomplexes, strukturiertes Neuronen-
ensemble repräsentiert, wobei sich die einzelnen Neuronen zu unterschiedli-
chen Netzwerken zusammenschließen könnten.17 Das Gehirn „bediene“ sich
seiner Mechanismen zur Objekterkennung in wechselnder Weise, ohne dass
dies bewusst werde; „es ist in der Wahl seiner Mittel opportunistisch“.18 Seien
auf diese Weise sinnvolle Wahrnehmungseinheiten im Gehirn entstanden, so
„bediene“ sich, Hoffmann zufolge, das Gehirn dieser „Gedächtnisnetze“ auto-
matisch. Die Umwelt erscheine dadurch strukturiert, ohne dass eine sinnvolle
Wahrnehmung jedesmal langsam aufgebaut werden müsste. „Dieses unmittel-
bare Wiedererkennen uns vertrauter Objekte wie Bäume oder Autos und um-
fassenderer Einheiten wie Straßen oder Geschäfte im Wirrwarr der Reizein-
drücke ist unvermeidbar, so daß man wohl sagen kann, Wahrnehmen heißt in
aller Regel Wiedererkennen.“19
Das Gedächtnis ermögliche es auch, dass ein bekannter Raum nicht bei je-
dem erneuten Betreten in seinen Einzelheiten wahrgenommen werden muss,
damit darin eine Orientierung möglich ist. In völlig unbekannten Räumen kön-
ne hingegen zunächst ein Gefühl der „Blindheit“ auftreten, da die Menge unbe-
kannter Gegenstände nicht auf einmal ausgewertet werden könne.20 Wie ein
blinder Mensch sich einen Raum mit den Händen „ertastet“, müssen sehende
Menschen den unbekannten Raum mit den Augen „abtasten“, was einige Zeit
in Anspruch nehmen kann.
_________________
15
Siehe Roth, Gehirn, S. 171 ff.
16
Vgl. Roth, Gehirn, S. 252 ff.
17
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Roth/Menzel, S. 546 f.
18
Roth, Gehirn, S. 261. Das Gehirn „bedient“ sich freilich nicht wirklich; vielmehr
passt dieser Begriff nur für das Verhalten von Personen. Um Kategorienverwechslungen
zu vermeiden, versehe ich daher Begriffe, die das Systemverhalten des Gehirns der
Abkürzung und Anschaulichkeit halber metaphorisch – nämlich in personalen Hand-
lungsbegriffen – erfassen, mit Anführungszeichen.
19
Hoffmann, Enzyklopädie C/II 1, S. 391.
20
Siehe Roth, Gehirn, S. 267.
246 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Die neuronalen Gedächtnisleistungen können damit auch für Ratespiele die-


nen. Soll anhand einzelner Ausschnitte eines Gesichtes auf die „verborgene“
Person geschlossen werden, so reichen in der Regel wenige Ausschnitte, um
das gesamte Bild hervorzurufen. Das Gehirn hat in diesem Fall anhand der im
Gedächtnis niedergelegten Netzwerke das Bild „komplettiert“. Dies entspricht
dem Betreten eines vertrauten Raumes, in dem nicht mehr alle Einzelheiten mit
den Augen erfasst werden müssen, weil die Informationen bereits im Gedächt-
nis „gespeichert“ sind.21 „Je vertrauter mir eine Situation oder Gestalt ist, desto
weniger ,Eckdaten‘ benötigt mein Wahrnehmungssystem, um ein als vollstän-
dig empfundenes Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das zu diesen Eckdaten
paßt.“22 Die Folge ist, dass in vertrauter Umgebung nur noch wenige Dinge
bewusst wahrgenommen werden und der Rest durch das Gedächtnis vervoll-
ständigt wird.
Dabei stehen Gedächtnis und Emotion und damit auch Bewusstsein und
Emotion nach heutigem Kenntnisstand in engem Zusammenhang.23 „Man kann
sogar sagen, daß Bewußtsein im wesentlichen dort entsteht, wo sich kortikales
und limbisches System, Kognition und Emotion durchdringen; zumindest gilt
dies für ,höhere‘ Bewußtseinsformen wie Ich-Empfindung und autobiogra-
phisches Gedächtnis.“24 Auf die Bedeutung des limbischen Systems, das
wesentlich an der emotionalen Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen betei-
ligt ist, wird an anderer Stelle zurückzukommen sein.25

3. Aufmerksamkeit

Für den von Wimmer erörterten Fall eines Autofahrers, der gewohnheitsmä-
ßig dieselbe Strecke mit seinem Auto zurücklegt und deshalb eine Änderung in
der Vorfahrtsregelung nicht zwangsläufig bemerken müsse26, ergäbe sich nach
dem bisher Gesagten eine einfache Lösung: Unter der Voraussetzung, dass das
geänderte Straßenschild objektiv in dem Sichtbereich des Fahrers lag, lässt
diese Fallkonstellation den Schluss zu, dass das Bild dieses Autofahrers von
seiner Umwelt nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmte. Der
Autofahrer sah nicht das Schild, sondern die ihm vertraute Umgebung. Sein
Gedächtnis hatte ihm ein Bild von seiner Umwelt vorgegeben, das nicht mehr
_________________
21
Vgl. Roth, Gehirn, S. 269; dazu auch Hoffman, Enzyklopädie C/II 1, S. 416 ff.;
Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, S. 79 f.
22
Siehe Roth, Gehirn, S. 268.
23
Vgl. dazu Markowitsch/Daum, S. 226 ff.
24
Roth, Grundlagen, S. 199.
25
Siehe unten, Kap. 3 I. 1.
26
Siehe oben, S. 223. Auf dieses Phänomen wird reagiert, indem Vorfahrtsänderun-
gen im Straßenverkehr besonders hervorgehoben werden.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 247

aktuell war. Mit einer solchen Lösung ist indes noch nicht die Frage der „Er-
kennbarkeit“ beantwortet. Da das Verkehrsschild objektiv vorhanden war, ist
zunächst davon auszugehen, dass es grundsätzlich auch hätte wahrgenommen
werden können. Anzunehmen ist deshalb, dass ein Mangel an Konzentration
oder Aufmerksamkeit dazu geführt hat, dass die erforderliche Leistung des
Gehirns unterblieben ist. Man könnte daher auch sagen, dass der Fahrer bei
genügender Aufmerksamkeit das Verkehrsschild wahrgenommen hätte. Zur
genauen Klärung dieser Überlegung ist zunächst auf die Unterschiede in den
begleitenden Neuronenaktivitäten einzugehen.

a) Bewusstseinskorrelierte elektrische Potentiale

Der Verlauf elektrischer Aktivität im Gehirn eines Menschen lässt sich mit-
tels EEG messen.27 Bei einem wachen erwachsenen Menschen im Ruhezustand
mit geschlossenen Augen liegen die Frequenzen der Potentialschwankungen28
nach Birbaumer und Schmidt zwischen acht und 13 Hz. Diese Wellen werden
? -Wellen (Alpha-Wellen) genannt. Öffnet der Mensch seine Augen, tritt eine
sogenannte ? -Blockade ein; die Frequenz erreicht jetzt 15–30 Hz und die Wel-
len werden ? -Wellen (Beta-Wellen) genannt. Bei Lern- und Aufmerksamkeits-
prozessen treten Frequenzen von über 30 Hz auf, die ?-Wellen (Gamma-
Wellen) genannt werden. Unterschiedlichen Bewusstseinsformen entsprechen
damit spezifische Frequenzbänder der EEG-Signale. Konzentriert sich mithin
ein Mensch oder denkt er nach, so geht die mentale Repräsentation einher mit
einer hohen elektrischen Aktivität im Gehirn29, regelmäßig mit Frequenzen um
40 Hz, die beim Menschen als induzierte Gamma-Aktivität bezeichnet wird.30
Vor allem die Untersuchungen Wolf Singers haben in den letzten Jahren we-
sentlich zum Verständnis der Funktionsweise neuronaler Netzwerke bei Auf-
merksamkeitsprozessen beigetragen. Die neuronale Vernetzung erfordert da-
nach eine hohe Präzision, damit keine Irrtümer geschehen, beispielsweise ein
unbekannter Gegenstand nicht ein Neuronennetz aktiviert, das für einen völlig
anderen Gegenstand angelegt wurde. „Zusammengehörige“ Neuronen finden
sich über die durch Entladung erzeugte Spannung. Sie „wandern“ nicht im
Gehirn umher, um sich zusammenzuschließen, sondern bleiben an ihrem Platz

_________________
27
Dazu oben, S. 243 f.
28
Zu den molekularbiologischen Grundlagen vgl. oben, S. 242.
29
Vgl. Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Schmidt, S. 133. Ausführlich zu den Arbei-
ten Hillyards und seiner Mitarbeiter, die Amplitudenunterschiede elektrischer Spannung
bei der neuronalen Verarbeitung „beachteter“ und „unbeachteter“ Reize feststellten,
Rösler/Heil, Enzyklopädie C/I 5, S. 173 ff.
30
Siehe Münte/Heinze, S. 311.
248 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

im Gehirn.31 Ein solches „Zusammenfinden“ zwischen Millionen anderer „feu-


ernder“ Neuronen wird nach heutigem Kenntnisstand von zwei Faktoren ge-
steuert und ermöglicht: Entladungsstärke und Entladungssynchronisation.32
Stimmen also Amplitude und Frequenz feuernder Neurone überein, so könne
von einer gemeinsamen Reizverarbeitung ausgegangen werden.33

b) Aufmerksamkeitsprioritäten

Da der Mensch täglich und oft zeitgleich unterschiedlichen neuen Sinnesrei-


zen ausgesetzt ist, stellt sich nun die Frage, welche dieser Reize von Bewusst-
sein und damit Aufmerksamkeit begleitet werden. Denn die intendierte Aus-
richtung der Aufmerksamkeit beinhaltet immer einen Bereich hervorgehobener
mentaler Repräsentation und einen Bereich unterdrückter anderer, irrelevanter
Repräsentationen.34 Alles, worauf sich keine Aufmerksamkeit richtet, ist nach
Roth dem Menschen nur gering oder überhaupt nicht bewusst.35
Dazu hat Singer experimentelle Versuche an Tieren durchgeführt. Bewältig-
te eines der Tiere eine motorisch-sensorische Aufgabe, auf die es trainiert wur-
de, so konnte eine erhöhte Synchronisation der Neuronen innerhalb der für die
Aufgabe benötigten Gehirnbereiche sowie zwischen diesen Arealen festgestellt
werden, und zwar nur dann, wenn das Tier sich auf seine Aufgabe konzentrie-
ren musste. Nach Bewältigung der Aufgabe fiel das synchrone Neuronenmuster
zusammen und eine niederfrequente, wechselnde Neuronenaktivität setzte ein.
Präsentierte Singer einer Katze zwei unterschiedliche visuelle Muster, die sich
nicht zu einer einzigen Wahrnehmung verschmelzen ließen, so erzeugten beide
Bilder zunächst Neuronenreaktionen gleichen Umfangs. Die Katze nahm je-
doch nicht beide Bilder überlagert, sondern nur entweder das eine oder das
andere wahr. Die von den Bildern ausgehenden Informationen treten im Gehirn
in einen sogenannten „binokularen Wettstreit“. Dabei wird keine der Wahr-
nehmungen durch die Stärke der neuronalen Entladung unterdrückt. Die
Schwelle zum bewussten Erleben wird jedoch nur von denjenigen Aktivitäts-
mustern eines der beiden Bilder überschritten, die zu einer genauen Synchroni-
sation der neuronalen Reaktion führen. Die an der Verarbeitung des nicht be-
wusst wahrgenommen Bildes beteiligten Zellen zeigen hingegen keine oder
eine nur schwache Synchronisation. Es lasse sich damit aufgrund des Ausma-
_________________
31
Noch in der Entwicklung befindliche Zellen „wandern“ dagegen passiv oder aktiv
an ihren endgültigen Platz im Gehirn (s. Dudel/Menzel/Schmidt-Campos-Ortega, S. 73).
32
Siehe Singer, Bewußtsein, S. 322; s. auch Engel, S. 424.
33
Vgl. Singer, Nature 397 (1999), S. 391 ff.; ders., Grenzen, S. 292 f.
34
Siehe Rösler/Heil, Enzyklopädie C/I 5, S. 171.
35
Roth, Grundlagen, S. 158; vgl. auch Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen,
S. 79 f.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 249

ßes der Synchronisierung eine Vorhersage darüber treffen, ob eine Hirnaktivität


bewusstes Erleben erzeugen werde oder nicht.36
Nach einer Untersuchung von Fell und seinen Mitarbeitern scheint bei-
spielsweise die synchrone Gammaaktivität von Hippocampus und Riechhirn im
Zusammenhang mit der Erinnerung von Wörtern zu stehen. Sie zeigten ihren
Probanden zunächst Wörter und forderten sie anschließend auf, die Wörter zu
rekapitulieren. Dabei stellte sich heraus, dass Wörter, die später erinnert wur-
den, zum Zeitpunkt ihrer Betrachtung durch die Probanden von einem wesent-
lich erhöhten Prozentsatz synchroner Verarbeitung begleitet wurden, als dieje-
nigen Wörter, die in Vergessenheit geraten waren.37 Die Vermutung liegt daher
nahe, dass die Neuronen bei synchronisierter Gammaaktivität eben jene Netz-
werke bilden, die dann im Gedächtnis niedergelegt werden, wie dies am Bei-
spiel der visuellen Wahrnehmung beschrieben wurde.38 Bewusste Wahrneh-
mung setzt also neuronale Aktivität voraus, die mit einem erhöhten Energie-
aufwand einhergeht. Roth zufolge unterliegt Bewusstsein damit klar definierten
physikalisch-chemisch-physiologischen Bedingungen.39

c) Motion-induced blindness

Dass sich ähnliche Vorgänge wie im genannten Versuch mit der Katze auch
beim Menschen abspielen, haben die Untersuchungen Bonnehs und seiner
Kollegen gezeigt. Normalsichtige Probanden sollten sich dabei eine Minute auf
einen Bildschirm konzentrieren, auf dem vor dunklem Hintergrund drei kon-
trastreiche gelbe Objekte in einem Muster angeordnet waren. Um diese gelben
Objekte befanden sich 150 bewegte kontrastarme blaue Punkte. Die Probanden
sollten durch Druck verschiedener Knöpfe nun angeben, wenn sie ein oder
mehrere gelbe Objekte nicht mehr sahen. Im Unterschied zu dem Versuch mit
der Katze war hier eine einheitliche Wahrnehmung möglich, d. h. die Proban-
den konnten anfangs alle gelben Objekte und gleichzeitig die sich bewegenden
blauen Punkte wahrnehmen. Nach kurzer Zeit nahmen die Probanden nicht
mehr alle drei gelben Objekte wahr. Diese schienen ganz oder zu einem Teil für
die Probanden „unsichtbar“ zu werden. Obwohl also zunächst das Gesamtbild
wahrgenommen werden konnte, ergab die Auswertung nach einem längeren
Zeitraum, dass die gelben Objekte ganz oder zu einem Teil über 30 Prozent der

_________________
36
Singer, Bewußtsein, S. 324 f.; vgl. auch ders., DZPhil 53 (2005), S. 718.
37
Siehe Fell et al., Nature Neuroscience 4 (2001), 1260 ff.
38
Vgl. dazu auch Wagner, Nature Neuroscience 4 (2001), S. 1159 ff.
39
Siehe Roth, Grundlagen, S. 198. Was indes nicht bedeute, dass sich Bewusstsein
auf neuronale Ereignisse reduzieren lasse (s. Roth, Grundlagen, S. 205).
250 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Zeit nicht wahrgenommen wurden, und dies bis zu einer Zeitspanne von zehn
zusammenhängenden Sekunden.40
Dieses Phänomen wird „Motion-induced blindness“ genannt. Bonneh und
seine Kollegen gehen davon aus, dass es auch in ganz alltäglichen Situationen
auftritt. Daraus ergibt sich, dass normalsichtige Menschen wahrscheinlich nicht
in der Lage sind, ein einigermaßen komplexes oder inhaltsreiches Geschehen,
wie es zum Beispiel bei Nachtfahrten im Straßenverkehr auftreten kann, im
Ganzen dauerhaft und zeitunmittelbar zum Wechsel seiner Konstellationen
visuell zu erfassen, auch wenn sie es konzentriert beobachten.

4. Folgerungen für die Innenperspektive

Wenn Handlungen eine Entscheidung voraussetzen, dann bedeutet dies


zugleich ein vorangegangenes Bewusstsein hinsichtlich der entscheidungsrele-
vanten Umstände. Zwar entsteht dieses Bewusstsein aus der Innenperspektive
quasi aus dem Nichts heraus, oder man mag sich selbst aufgrund einer be-
stimmten geistigen Haltung aktiven Einfluss auf die eigenen Bewusstseinsin-
halte zuschreiben, tatsächlich gibt es aber neuronale Prozesse, die unerlässlich
für die Entstehung von Bewusstsein sind und die in der Innenperspektive nicht
wahrgenommen werden können. Nicht das Bewusstsein selbst wird damit zum
Gegenstand der Außenperspektive, aber die Prozesse des Gehirns, die nach
dem Stand der Wissenschaft ablaufen müssen, damit Bewusstsein von etwas
entstehen kann. Damit ist die Erforschung neuronaler Aktivität durchaus dazu
geeignet, Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und
Gehirnprozessen zu liefern. Einige aufsehenerregende und vieldiskutierte Expe-
rimente hierzu hat der Neurobiologe Benjamin Libet bereits in den sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Diese und teils ältere, teils in jünge-
rer Zeit durchgeführte Untersuchungen sollen im Folgenden zur Veranschauli-
chung dieses Zusammenhangs dienen. Dabei soll zunächst die Frage interessie-
ren, in welchem zeitlichen Verhältnis das subjektive „Gewahrwerden“ äußerer
Ereignisse zu dem Zeitpunkt des tatsächlichen Stattfindens der sensorischen
Reize steht, auf denen es beruht.

II. Die Bewusstwerdungsdauer

Die Verarbeitungszeit, die das Gehirn benötigt, bevor ein von außen kom-
mender visueller Reiz bewusst wahrgenommen werden kann, wurde bereits im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Friedrich Wilhelm Fröhlich untersucht.
_________________
40
Siehe Bonneh et al., Nature 411 (2001), S. 798 ff.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 251

Fröhlich ließ hierfür in einer dunklen Umgebung vor seinen Probanden einen
Lichtstreifen von rechts nach links mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vor-
überziehen. Der Lichtstreifen wurde dabei so beleuchtet, dass die Probanden
seine Lichtquelle nur durch den Streifen wahrnahmen. Mit Messpunkten mar-
kierten die Probanden anschließend die Stelle, an der sie den vorderen in Be-
wegungsrichtung verlaufenden Rand des Lichtstreifens zuerst wahrgenommen
hatten.

(stark vereinfachte Darstellung des Versuchsaufbaus41)

In der Wahrnehmung der Probanden erschien der Lichtstreifen jeweils nach


links versetzt zu seinem tatsächlichen Auftreten. Mithilfe der Geschwindigkeit
des Lichtstreifens ließ sich anschließend die Zeit errechnen, die der Lichtstrei-
fen benötigt hatte, um von seinem objektiven Erscheinungspunkt zu dem sub-
jektiv wahrgenommenen Erscheinungspunkt zu gelangen. Fröhlich nannte diese
Zeitspanne zwischen dem abrupten Auftreten eines visuellen Reizes und seiner
Wahrnehmung durch den Menschen die „Empfindungszeit“, auch bekannt als
„Fröhlich-Effekt“.42 Seither hat sich die Forschung in diesem Bereich erheblich
ausgeweitet. Hier sollen insbesondere zwei Herangehensweisen zur Untersu-
chung der Zeitdauer, die eine bewusste Wahrnehmung erfordert, dargestellt
werden. Der Zugang von Eagleman und Sejnowski basiert auf dem subjektiven
Eindruck, den Versuchspersonen von objektiven visuellen Reizen haben, und
steht damit in der Tradition der Untersuchungen Fröhlichs. Der Darstellung
dieser Experimente sollen Überlegungen zur Untersuchungsmethode Libets
vorangehen, bei der die neuronalen Aktivitäten bei direkter Stimulation des
Gehirns und Reizung der Hautoberfläche mit einbezogen werden.

_________________
41
Für eine schematische Darstellung der erheblich komplexeren Versuchsanordnung
vgl. Fröhlich, Die Empfindungszeit, S. 23.
42
Siehe Fröhlich, Die Empfindungszeit, S. 22; vgl. dazu auch Metzger, Psychologi-
sche Forschung 15–16 (1931/32), S. 176 ff.
252 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

1. Bewusste Reizverarbeitung

Libet ging bei seinen Versuchen davon aus, dass die bewusste Wahrneh-
mung eine rein subjektive Erfahrung sei, die Experimente also bezüglich der
Wiedergabe subjektiven Erlebens durch die Probanden dem Anspruch auf „Ob-
jektivität“ nur insoweit genügen könnten, als die Ergebnisse von mehreren
Probanden in unterschiedlichen Versuchsreihen nach wissenschaftlichen Stan-
dards zusammengefasst und überprüft würden.43
Da das Erlebnis einer Hautreizung durch direkte Reizung eines bestimmten
Areals der Hirnrinde hervorgerufen werden kann, konnte der Neurowissen-
schaftler nach Stimulation des entsprechenden Areals der Hirnrinde seine Pro-
banden befragen, ob sie eine Hautreizung wahrgenommen hatten. Er verab-
reichte ihnen mehrere Reihen elektrischer Ladung unterschiedlicher Dauer und
Stärke und befragte sie dabei zu ihren Empfindungen. Auf diese Weise stellte
er fest, dass Stromstöße, welche die Hirnrinde weniger als eine halbe Sekunde
reizten, von den Probanden regelmäßig nicht wahrgenommen wurden, auch
wenn die Spannung so stark war, dass sie das vierzigfache der Minimalspan-
nung betrug, die bei einer Dauer von 0,5 Sekunden ein Erleben hervorrufen
konnte. Sobald die Hirnrinde jedoch eine Reizung von durchschnittlich einer
halben Sekunde Dauer und länger erfuhr, hatten die Probanden das Empfinden
einer Reizung ihrer Haut.44 Für Libet schien es wahrscheinlich, dass selbst
stärkste Stimulationen der Hirnrinde zur Bewusstwerdung eine Dauer von we-
nigstens 100 Millisekunden benötigen.45 Dagegen schienen wirkliche Reizun-
gen der Hautoberfläche unmittelbar ins Bewusstsein zu gelangen.
Durch Reizung der Hautoberfläche wird zunächst ein sogenanntes „evozier-
tes Potential“ im Gehirn ausgelöst. Evozierte Potentiale sind elektrische Verän-
derungen des Hirns, die durch Stimulation der Sinne hervorgerufen werden und
mittels EEG bereits circa 0,015 Sekunden nach einem Hautreiz messbar sind.
Diese evozierten Potentiale haben Spannungswellen im Kortex zur Folge. Da-
her nahm Libet an, dass diese Spannungswellen denjenigen entsprechen könn-
ten, die bei der direkten Stimulation des Kortex zur Bewusstwerdung erforder-
lich waren. Er folgerte hieraus, dass zur Bewusstwerdung generell eine kortika-
le Aktivität von ungefähr einer halben Sekunde erforderlich sei, kürzere Aktivi-
tät jedoch dazu führen könnte, dass Reize unbewusst verarbeitet würden46 –

_________________
43
Vgl. hierzu Libet (1965), S. 78; ders. (1985b), S. 532.
44
Siehe Libet (1965), S. 82; die verschiedenen Versuchsanordnungen ausführlich in
Libet et al. (1964); s. auch Libet et al. (1967), S. 1598; Libet (1978), S. 72, u. Libet
(1992), S. 258. Dazu auch Neumann/Prinz, S. 200.
45
Siehe Libet (1992), S. 258.
46
Siehe Libet (1965), S. 83.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 253

eine Annahme, die als mögliche Basis für den psychologischen Begriff der
„subliminalen Wahrnehmung“47 dienen könnte.48

2. Unbewusste Reizverarbeitung

In den neunziger Jahren von Libet durchgeführte Versuche bestätigten seine


Ergebnisse und trugen ihrerseits zur Annahme subliminaler Wahrnehmung bei.
Hier forderte er die Probanden auf zu „raten“, ob ihnen ein elektrischer Impuls
im Thalamus verabreicht wurde. Er beschränkte sich dabei auf die Region des
Thalamus, durch die das spezifische System verläuft, welches Signale einer
Sinnesmodalität mit einer konkreten Hirnregion, wiederum einem Areal der
Hirnrinde, verbindet. Soweit die Probanden diesen Impuls tatsächlich zu spüren
meinten, lag der Prozentsatz richtiger Antworten bei 97 Prozent. Waren sie
nicht sicher, ob sie etwas verspürt hatten oder nicht, lagen sie noch in 85 Pro-
zent der durchgeführten Versuche richtig. Aber selbst wenn sie nicht das Ge-
ringste verspürten, erreichten sie eine Trefferquote von 66 Prozent, also weit
über der zu erwartenden 50-Prozent-Quote, wobei kürzere Impulse eine
schlechtere, aber noch immer über 50 Prozent liegende Trefferquote (57 Pro-
zent bei nicht wahrgenommen Impulsen, 68 Prozent bei eventuell wahrgenom-
men Impulsen und 66 Prozent bei eindeutig wahrgenommen Impulsen) und
längere Impulse eine sehr hohe Trefferquote (85 Prozent bei nicht wahrge-
nommen Impulsen, 99 Prozent bei eventuell wahrgenommen Impulsen und 99
Prozent bei eindeutig wahrgenommen Impulsen) zur Folge hatten.49 Dies ließ
Libet darauf schließen, dass auch unbewusste Informationen nicht ohne Ein-
fluss auf das Erleben geblieben waren.50
Libet hatte also zwei wesentliche Erkenntnisse gewonnen: Sensorische Reize
benötigen durchschnittlich eine halbe Sekunde Dauer, damit sie bewusst wer-
den; gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass Reize, die das erforderliche Zeitli-
mit nicht erreichen, unbewusst verarbeitet werden, aber dennoch die Wahrneh-
mung beeinflussen.

_________________
47
Subliminal ist die Wahrnehmung, wenn sie unterhalb der Schwelle zum Bewusst-
sein bleibt. Obwohl kein Bewusstsein von dem Reiz selber entsteht, wird der Begriff
„Wahrnehmung“ hier verwendet, weil man davon ausgeht, dass die Wahrnehmung
durch diese Reize dennoch beeinflusst werden kann.
48
Siehe Libet et al. (1967), S. 1599.
49
Siehe Libet et al. (1991), S. 1739.
50
Siehe Libet et al. (1991), S. 1749 ff.; Libet (1992), S. 265; vgl. auch Libet (1992),
S. 268.
254 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

3. Masking / unbewusste Modifikation

Obwohl die bewusste Wahrnehmung oft mit einem Film von den tatsächli-
chen Ereignissen verglichen wird, scheint es nicht zuzutreffen, dass das visuelle
Bild, welches dem Menschen bewusst wird, die tatsächlichen Ereignisse linear
wiedergibt. Auf diesbezügliche Untersuchungen hatte Libet hingewiesen, weil
ihn Experimente, wie die des Psychologen Crawford, zu der Annahme veran-
lassten, dass die bewusste Wahrnehmung von visuellen Reizen trotz Auslösung
eines evozierten Potentials bereits nach 35 Millisekunden durch nachfolgende
Reize verhindert werden könnte.51

a) Der Crawford-Effekt

Crawford hatte 1946 gezeigt, dass ein schwacher Lichtreiz, dem innerhalb
von bis zu 200 Millisekunden einer zweiter stärkerer Lichtreiz nachfolgt, vom
Beobachter nur wahrgenommen werden kann, wenn er in seiner Lichtintensität
deutlich erhöht wird, obwohl er bei größerer zeitlicher Differenz zwischen den
Reizen auch mit weniger Intensität wahrgenommen wird (sogenannter „Craw-
ford-Effect“).

(nach: Crawford, Proc. Roy. Soc./B 134 (1947), S. 286)

_________________
51
Siehe Libet (1966), S. 174 f.; Libet et al., (1972), S. 140.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 255

In dem Zeitfenster (gestrichelter Rahmen) erkennt man, dass die Helligkeit


eines Lichtreizes (Teststimulus) deutlich erhöht werden muss, damit er wahr-
genommen werden kann, wenn ihm ein stärkerer Lichtreiz (konditionierender
Stimulus) innerhalb von bis zu 200 Millisekunden (Zeitskala x-Achse: 1 = 100
Millisekunden) nachfolgt.
Crawford folgerte daraus, dass der stärkere Lichtreiz den schwächeren ent-
weder auf seinem Weg von der Retina zum Gehirn „überholt“ oder aber dass
der schwächere Lichtreiz eine Verarbeitungszeit von ungefähr einer Sekunde
im Gehirn benötigt, während deren es dem stärkeren Lichtreiz möglich ist, bei
dieser Verarbeitung zu intervenieren.52
Libet stellte fest, dass ein fortgesetzter kortikaler Stimulus, der gleichzeitig
mit einer Hautreizung einsetzt, die Bewusstwerdung der Hautreizung vollstän-
dig unterdrückt und dass dieses Ergebnis auch dann noch eintritt, wenn die
kortikale der Hautreizung bis zu 125–200 Millisekunden, im Einzelfall bis zu
500 Millisekunden nachfolgt.53 Er kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass durch
Reizung des Gehirns ausgelöste kortikale Aktivität, die der letzten von zwei
gleich starken aufeinanderfolgenden Hautreizungen innerhalb von bis zu 500
Millisekunden nachfolgt, dazu führt, dass die zweite Hautreizung vom Proban-
den als stärker wahrgenommen wird.54 Die Verarbeitung der ankommenden
Reize müsse also im Gehirn erfolgen. Zudem weist dies daraufhin hin, dass ein
nachfolgender Reiz einen vorangegangenen hinsichtlich seiner Wahrnehmbar-
keit beeinflussen könnte.55 Die erforderliche Zeitspanne zur bewussten Wahr-
nehmung könnte dann einerseits eine Art „Filtermechanismus“ darstellen, um
einen Teil der Reize von der Bewusstwerdung auszuschließen, und würde ande-
rerseits die Möglichkeit bieten, die Wahrnehmung im Vorfeld unbewusst zu
modifizieren.56 Libet schließt daher nicht aus, dass Unbewusstes geeignet sein
könnte, die bewusste Wahrnehmung hinsichtlich tatsächlicher Informationen
mit zu gestalten.57 Neben dieser Deutung gibt es jedoch noch ein anderes Erklä-
rungsmodell, das an dieser Stelle erläutert werden soll.

b) Vorbewusste oder nachbewusste Modifikation? (Dennett und Kinsbourne)

Der Philosoph Dennett und der Kognitionswissenschaftler Kinsbourne be-


zeichnen das Erklärungsmodell Libets als „Stalinesque“ (unter Anspielung auf
_________________
52
Siehe Crawford, Proc. Roy. Soc./B 134 (1947), S. 285 f.
53
Siehe Libet et al. (1972), S. 161; ders. (1973), S. 774.
54
Siehe Libet (1978), S. 73.
55
Siehe Libet (1978), S. 74.
56
Siehe Libet (1978), S. 79.
57
Siehe Libet (1992), S. 268.
256 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

stalinistische Schauprozesse, womit sie die Kernaussage dieses Modells als


eine Art irreführender Inszenierung von Wahrnehmung und Bewusstsein kenn-
zeichnen wollen). Libet gehe davon aus, dass ein Reiz vorbewusst durch einen
zweiten Reiz in der Wahrnehmung modifiziert werde, so dass bereits die
Wahrnehmung fehlerhaft sei und entsprechend auch die Erinnerung zwar der
Wahrnehmung entspreche, aber ihrerseits mit Blick auf die tatsächlichen Ereig-
nisse fehlerhaft sei. Dem stellen sie ein zweites „Orwellsches“ Erklärungsmo-
dell gegenüber (in Anlehnung an das Ministerium für Wahrheit, das in „1984“
die Vergangenheit neu schreibt und allen Nachfolgenden dadurch den Zugang
zur wirklichen Vergangenheit versperrt), demzufolge die Probanden sich des
ersten Reizes durchaus zunächst bewusst gewesen seien, das Auftreten des
zweiten Reizes aber dazu geführt habe, dass der erste Reiz modifiziert in der
Erinnerung abgelegt worden sei. Daraus würde sich ergeben, dass die Wahr-
nehmung mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmte, aber die Erinne-
rung wie im ersten Erklärungsmodell fehlerhaft wäre. Worauf es Dennett und
Kinsbourne ankommt, ist hervorzuheben, dass es nicht nur dem Experimentator
unmöglich ist zu unterscheiden, ob das eine oder das andere Modell trägt, son-
dern die Probanden dies ebensowenig zu sagen vermögen, ihre Perspektive also
keinen „bevorzugten“ Zugang zur Lösung bietet. Weder aus der Außen- noch
aus der Innenperspektive kann also geklärt werden, ob etwas bereits in der
Wahrnehmung „falsch“ erscheint, oder ob erst die Erinnerung trügerisch ist.58
Darauf, dass auch Erinnerungen nachträglich noch Veränderungen erfahren
können, wird noch zurückzukommen sein.59 Dennoch gibt es etwas, was dafür
sprechen könnte, dass jedenfalls auch die Wahrnehmung bereits trügerisch sein
kann. Denn was bei zwei Reizen passiert, das nachträgliche „Auslöschen“ des
ersten Reizes aus der bewussten Erinnerung, könnte freilich bei einem einzigen
Reiz ebenso auftreten. In den Fällen also, in denen Libet die Hirnrinde nur so
lange stimulierte, dass die Probanden überzeugt waren, keinen Reiz gespürt zu
haben, könnte ebenfalls ein Bewusstsein von dem Reiz entstanden sein, ohne
dass die Probanden sich später an diesen erinnerten – vielleicht eine Art Be-
wusstsein, wie wir es von dem Autofahrer kennen, der eine Strecke mit seinem
Fahrzeug zurücklegt und später keine Erinnerung hieran hat. Die Frage, die sich
aufdrängt, ist die, dass bei der Versuchsdurchführung von Libet nicht ersicht-
lich ist, warum sich die Probanden an diesen Reiz nicht hätten erinnern sollen.
Die Probanden waren schließlich mit nichts anderem als ihrer Introspektive
beschäftigt und auch nicht zu müde oder zu erschöpft, als dass man sagen
könnte, die Voraussetzungen für Aufmerksamkeit waren aus Kapazitätsgründen
nicht gegeben, wie man es im Falle von zwei zeitlich eng aufeinanderfolgenden
Reizen vermuten könnte.
_________________
58
Siehe Dennett/Kinsbourne (1992), S. 193.
59
Siehe unten, S. 322.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 257

Eine Erklärung hierfür wäre, dass der Reiz von vornherein nicht die Voraus-
setzungen erfüllte, um im Gedächtnis niedergelegt zu werden; dass Libet also
unter Umständen von den neuronalen Voraussetzungen her nur ein Bewusstsein
hervorrief, das unterhalb der Schwelle zur Erinnerung blieb, weil die mecha-
nisch hervorgerufene neuronale Aktivität für „mehr“ einfach nichts hergab. So
oder so wirft dies die zweite Frage auf, ob man dann von diesem Reiz als einem
dem Probanden bewussten Reiz sprechen kann. Dennett und Kinsbourne finden
hierfür eine einfache Antwort: „Ask him.“60 Die lapidare Beiläufigkeit dieser
Frage deutet an, dass für Dennett und Kinsbourne von der möglichen Antwort
nichts abhängt. Ob dem Probanden etwas bewusst war, ist eine Frage allein
seiner subjektiven Empfindung. Diese muss aber nicht mit den objektiven Be-
funden übereinstimmen. Ob das Gehirn der wahrnehmenden Person dabei et-
was verschoben, selektiert oder hinzugefügt hat, kann nicht allein anhand der
subjektiven Empfindung entschieden werden. Selbst wenn sein Gehirn dabei
etwas verschoben, selektiert oder hinzugefügt hat.
Weiter soll das Problem dieser beiden Erklärungsmodelle an dieser Stelle
nicht diskutiert werden.61 Bevor jedoch auf die Experimente von Eagleman und
Sejnowski eingegangen werden kann, ist es erforderlich, auch hier den Hinter-
grund zu beschreiben, vor dem die Forscher ihre Überlegungen angestellt ha-
ben.

4. Der Flash-lag-Effekt

1958 veröffentlichte Donald M. MacKay eine ähnlich ungewöhnliche Ent-


deckung wie die Crawfords. Ausgehend von der Erkenntnis, dass durch einen
leichten Druck auf den Glaskörper des Auges die Wahrnehmungsobjekte sich
scheinbar verschieben, verglich er diese Verschiebung anhand von konstant
und inkonstant beleuchteten Wahrnehmungsobjekten. Dabei stellte sich heraus,
dass die Verschiebung in der Wahrnehmung zwar bei konstant beleuchteten
Objekten auftrat, aber nicht bei Objekten, die nur fünf bis sechs Mal pro Se-
kunde beleuchtet wurden. Wurde auf den Glaskörper des Auges jedoch über
einen längeren Zeitraum Druck ausgeübt, begannen sich auch die nur temporär
beleuchteten Objekte zu verschieben.62 Dieser Effekt des „Hinterherhinkens“
blinkender Objekte wurde als sogenannter „Flash-lag-Effekt“ bekannt. An-
schaulicher lässt er sich an einer geläufigen Erfahrung darstellen. Sieht man am
nächtlichen Himmel ein Flugzeug über sich hinweg fliegen, an dessen Tragflä-
chen sich blinkende Signallichter befinden, hat man den Eindruck, die Lichter
_________________
60
Dennett/Kinsbourne (1992), S. 195.
61
Näher unten, S. 268, 288 u. 307.
62
Siehe MacKay, Nature 181 (1958), S. 507.
258 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

versetzt und zwar dem Flugzeug nachfolgend wahrzunehmen, als sei das Flug-
zeug bereits weiter geflogen, bevor das Blinken der Lichter gesehen wird.

a) Bewegungsextrapolation

Die Untersuchungen MacKays dienten zunächst dazu, eine Erklärungslücke


zu schließen. Die Erkenntnis, dass die Reizverarbeitung des visuellen Systems
eine nicht unwesentliche Zeitspanne benötigt, hatte das Problem aufgeworfen,
wie dieser Nachteil vom Organismus kompensiert werden könnte. Deutlich
wird die Problematik bei dem Versuch, einen Ball zu fangen. Wenn das visuel-
le System eine Verarbeitungszeit von nur 100 Millisekunden benötigt, würde
ein Ball, der sich mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h nähert, um fast 1,4
Meter in seiner Bewegungsrichtung zurückversetzt wahrgenommen werden.
Nijhawan kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass das Gehirn die Bewegungs-
richtung von Objekten „vorausberechnet“ und damit den Zeitverzug, der durch
die Verarbeitungszeit des visuellen Systems entsteht, kompensiert, wodurch die
räumliche Position des Objekts in der Wahrnehmung annähernd seiner tatsäch-
lichen Position entspricht.63 Das Bild von dem Flugzeug am nächtlichen Him-
mel wäre nach dieser Theorie kein tatsächliches, sondern ein hypothetisches,
während die Wahrnehmung der Signallichter aufgrund mangelnder Kontinuität
keine Vorausberechnung erfährt und entsprechend zeitlich verzögert erfolgt.

b) Latency-difference

Angefochten wird diese Theorie insbesondere von Anhängern eines linearen


Modells, der sogenannten „latency-difference“. Hiernach wird vom Gehirn
nicht, wie Nijhawan annimmt, ein Zeitraum „ausgewertet“ und dem Beobachter
ein hypothetisches Bild vermittelt, sondern es erfolgt die Abbildung der realen
Außenwelt, wobei lediglich unterschiedliche Signale eine unterschiedliche
Verarbeitungsdauer benötigen. Die Verarbeitungsdauer hänge jedoch auch von
der Leuchtintensität der Objekte ab. Habe das bewegte Objekt weniger Leucht-
intensität als das blinkende Licht, so benötige das Blitzlicht regelmäßig eine
längere Verarbeitungszeit als das bewegte Objekt.64 Erhöhe man die Leuchtin-
tensität des sich bewegenden Objektes, verkürze sich seine Verarbeitungsdauer,
während die des blinkenden Lichts bei gleichbleibender Leuchtkraft konstant
bleibe, wodurch sich die wahrgenommene Distanz zwischen den Objekten
_________________
63
Siehe Nijhawan, Nature 370 (1994), S. 256 f.
64
Siehe Baldo/Klein, Nature 378 (1995), S. 565; Purushothaman et al., Nature 396
(1995), S. 424; Whitney/Cavanagh, Science 289 (2000), S. 1107a; Patel et al., Science
290 (2000), S. 1051a.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 259

vergrößere. Bleibt die Leuchtintensität des sich bewegenden Objektes hingegen


konstant und wird die Leuchtkraft des Blitzlichtes verstärkt, erfährt nun das
blinkende Licht eine schnellere Verarbeitung, wodurch sich der wahrgenom-
mene Abstand zwischen den Objekten verringere und sogar umkehre, so dass
das sich bewegende Objekt dem blinkenden in der Wahrnehmung auch nach-
folgen könne. Die Theorie der Bewegungsextrapolation erkläre hingegen nicht,
warum eine erhöhte Helligkeit des blinkenden Lichtes den Effekt des „Nach-
hinkens“ nicht nur aufhebe, sondern sogar umkehre. Es sei daher davon auszu-
gehen, dass nicht das visuelle System die Verarbeitungsdauer ausgleiche, son-
dern vielmehr das motorische.65

c) Motion Integration und Postdiction

Beide Erklärungsmodelle wurden in jüngster Zeit von Eagleman und Sej-


nowski kritisiert und experimentell widerlegt. Sie kommen in ihren „Flash-
lag“-Versuchen zu Ergebnissen, welche darauf schließen lassen, dass das wahr-
genommene Bild von der Umwelt eine Zusammenfassung von visuellen Infor-
mationen eines zurückliegenden Zeitraums ist. Gleichzeitig bestätigen sie damit
Libet in der Annahme, dass das Gehirn die tatsächliche Gegenwart bereits ver-
arbeitet und moduliert hat, bevor sie dem Menschen bewusst wird. Denn nur so
sei es dem Gehirn möglich, einen Teil seiner Informationen so zu verschieben,
dass die bewusst gewordene Abfolge nicht mehr der tatsächlichen entspricht,
wie es Libet beim Vergleich von Haut- und Hirnrindenstimulation festgestellt
hat.66
Die Probanden von Eagleman und Sejnowski beobachteten zunächst einen
sich bewegenden Kreis in dessen Mitte unvermittelt ein Lichtpunkt aufblitzte.
Wanderte der Kreis von links nach rechts, wurde der Lichtblitz als nach links
versetzt wahrgenommen, bewegte sich der Kreis in die entgegengesetzte Rich-
tung, wurde der Lichtblitz entsprechend nach rechts versetzt, also dem Kreis
gleichsam „nachfolgend“ wahrgenommen und dies, obwohl er in beiden Versu-
chen tatsächlich exakt zentriert aufblitzte.

_________________
65
Purushothaman et al., Nature 396 (1995), S. 424.
66
Vgl. Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038.
260 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Soweit entsprechen die Ergebnisse dem bereits bekannten Flash-lag-Effekt.


Nach der Extrapolationstheorie wäre nun zu erwarten, dass bei einem Stoppen
des Kreises zum Zeitpunkt des Aufblitzens des Lichtpunktes dasselbe Ergebnis
erzielt würde, denn auch in diesem Fall hätte das Gehirn die vorangegangene
Bewegungsrichtung entsprechend auswerten müssen. Tatsächlich wurde bei der
Durchführung dieses Versuchs der Lichtpunkt von den Probanden als zentriert
wahrgenommen, was der These einer hypothetischen „Vorausberechnung“ des
Gehirns widerspricht. Eagleman ließ daraufhin den Kreis seine Bewegungsrich-
tung zum Zeitpunkt des Aufblitzens des Lichtpunktes ändern, das heißt der
Kreis startete zunächst von links nach rechts (oder umgekehrt), brach diese
Bewegungsrichtung ohne zu stoppen mit Aufblitzen des Lichtpunktes ab und
bewegte sich wieder zurück zum Startpunkt. Da die Probanden von der Rich-
tungsänderung keine vorhergehende Kenntnis hatten, hätten sie, entsprechend
der ersten Versuchsdurchführung, den Lichtpunkt nach links, das heißt der
ursprünglichen Bewegungsrichtung nachfolgend wahrnehmen müssen. Tat-
sächlich erschien ihnen der Lichtpunkt jedoch nach rechts versetzt, das heißt
der geänderten (umgekehrten) Bewegung nachfolgend. Hieraus leitete Eagle-
man die Annahme ab, dass das Gehirn nicht „vorausberechnet“, sondern statt-
dessen bereits verarbeitete Kenntnis, wie die Richtungsänderung mit dem vor-
ausgehenden Ereignis des Lichtblitzes, kombiniert.67 Bestätigt wurde dies
durch einen weiteren Versuch, in dem den Versuchspersonen nicht bekannt
war, in welche Richtung der rotierende Kreis starten würde. Gleichzeitig mit
dem Start des Kreises leuchtete der Lichtblitz auf. Auch hier wurde der Licht-
blitz jeweils „richtig“ versetzt wahrgenommen, was darauf schließen lässt, dass
das Gehirn die Information der Bewegungsrichtung bereits verarbeitet und mit
dem Lichtblitz kombiniert hatte.68
Mithilfe eines ebenso trivialen Versuchs zogen Eagleman und Sejnowski
auch das Latency-difference-Modell in Zweifel. Wenn bei konstant geringerer
Leuchtkraft des sich bewegenden Objektes das blinkende Objekt diesem immer
eine gewisse Zeitspanne nachfolgt, wie es die Latency-difference-Theorie an-
nimmt, dann müsste es möglich sein, beide Objekte in der Wahrnehmung zu-
sammenzufügen, indem man das sich bewegende Objekt dem blinkenden diese
Zeitspanne nachfolgen lässt. Um dem „Fröhlich-Effekt“69 entgegenzuwirken,
ließen die Forscher einen Stab zunächst einige Zeit im zweidimensionalen
Raum rotieren, bevor man an den Enden Lichtblitze aufleuchten ließ. Der Stab
wurde entweder gleichzeitig mit oder zeitlich versetzt zu dem Aufleuchten der
Lichtblitze angehalten. Die Versuchspersonen sollten nun lediglich angeben, ob
_________________
67
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk.
edu/~eagleman/flashlag/r1.html, Stand: 21.03.2005.
68
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk.
edu/~eagleman/flashlag/r2.html, Stand: 21.03.2005.
69
Dazu oben, S. 257.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 261

sie die Lichtblitze vor dem Halt des Stabs wahrgenommen hatten. Da nach dem
Latency-diffence-Modell Lichtblitze jeweils eine längere Verarbeitungszeit
benötigen als sich bewegende Objekte, hätten die Probanden nach dieser Theo-
rie sowohl bei objektiv nachfolgenden Lichtblitzen als auch bei gleichzeitig mit
dem Halt der Stange auftretenden Lichtblitzen zu dem Ergebnis kommen müs-
sen, dass diese dem Halten der Stange nicht vorangingen. Erst bei einem deutli-
chen zeitlichen Vorangehen der Lichtblitze, hätten diese als tatsächlich voran-
gehend wahrgenommen werden dürfen, während bei einem minimalen „Zeit-
vorsprung“ eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse hätte wahrgenommen werden
müssen.70 Stattdessen erklärte die Hälfte der Probanden bereits bei tatsächlicher
Gleichzeitigkeit der Ereignisse, sie hätten die Lichtblitze zuerst wahrgenommen
und zwar unabhängig von der Helligkeit des Lichtes. Ein Ergebnis, das mit dem
Latency-difference-Modell nicht zu vereinbaren ist.71
Eagleman und Sejnowski kommen aufgrund dieser Untersuchungen zu dem
Ergebnis, dass das Gehirn, anstatt „vorauszuberechnen“, einen gewissen Zeit-
raum zusammenfasst, auswertet und erst das modifizierte Ergebnis zur bewuss-
ten Wahrnehmung gelangen lässt.72 Um herauszufinden, um wieviel Zeit es
sich dabei handelt, wurde ein weiterer Versuch durchgeführt, in dem sich ein
Kreis zunächst in eine Richtung bewegte und dann abrupt die Richtung änderte.
Beim Erscheinen des Kreises leuchtete wiederum zentriert ein Lichtblitz auf;
die Anfangsrichtung des Kreises wurde dabei für unterschiedliche Zeitspannen
beibehalten. Schlug der Kreis die Anfangsrichtung für weniger als 26 Millise-
kunden ein und änderte dann die Bewegungsrichtung, wurde der Lichtblitz
entsprechend versetzt zu der Bewegungsrichtung wahrgenommen, die er nach
den 26 Millisekunden einschlug. Bewegte sich der Kreis für 26 Millisekunden
in die Anfangsrichtung und änderte dann seine Bewegungsrichtung, wurde der
Lichtblitz zentriert wahrgenommen, als ob sich der Kreis überhaupt nicht be-
wegt hätte. Die kurzfristige Bewegung des Kreises zunächst in eine andere
Richtung, wurde also praktisch vom Gehirn „unterschlagen“. Um bei diesem
Versuch einen „normalen“ Flash-lag-Effekt zu erhalten, musste sich der Kreis
67 bis 80 Millisekunden in die Anfangsrichtung bewegen.73 Eagleman und
Sejnowski gehen deshalb davon aus, dass das Gehirn einen Zeitraum von ca. 80
Millisekunden nach dem Erscheinen eines Objektes „auswertet“, bevor das

_________________
70
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 290 (2000), S. 1051a, sowie dies., in Consi-
dering Latency Difference, S. 1 f., u. dies., www.cnl.salk.edu/~eagleman/flashlag/
r4.html, Stand: 21.03.2005.
71
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 290 (2000), S. 1051a; vgl. auch Eagleman/
Sejnowski, Considering Latency Difference, S. 1.
72
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038.
73
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk.
edu/~eagleman/flashlag/r3.html, Stand: 21.03.2005.
262 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Objekt wahrgenommen wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein


konstant bewegtes oder um ein blinkendes Objekt handelt.
Sie nehmen weiterhin an, dass ein unerwarteter Lichtblitz die Auswertung
eines sich bewegenden Objektes durch das Gehirn behindern könnte, indem er
beispielsweise die Aufmerksamkeit an sich bindet. Dies könnte sich auch beim
„Fröhlich-Effekt“ abspielen. Das bewegte Objekt könnte bei seinem plötzlichen
Erscheinen den Effekt eines Lichtblitzes haben, wodurch die Auswertung sei-
ner Bewegungsrichtung verzögert oder unterdrückt würde. Umfasst der vom
Gehirn ausgewertete Zeitraum circa 80 Millisekunden, dann wäre es außerdem
möglich, dass eine im Gehirn eingegangene Information durch eine zweite,
kurz darauf folgende Information verändert werden könnte und lediglich die
vom Gehirn vorgenommene Veränderung ins Bewusstsein dringt, während die
erste Information, so wie sie tatsächlich aufgetreten ist, nie bewusst wahrge-
nommen wird. Damit steht diese Theorie sowohl im Einklang mit den
„Masking“ Effekten74 als auch mit den Versuchen Libets.75

5. Die Antedatierung nach Libet

Die Untersuchungen Eaglemans und Sejnowskis lassen den Rückschluss zu,


dass der Mensch seine Umwelt nicht nur mit einem Zeitverzug, sondern auch
als ein zusammengesetztes Bild von Ereignissen wahrnimmt, die nicht unbe-
dingt zeitgleich erfolgt sein müssen. Kombiniert mit den Untersuchungen Li-
bets hieße dies, dass der Mensch mit seinem subjektiven Erleben nicht nur in
gewissem Sinn in der objektiven Vergangenheit lebt, sondern diese erlebte
Vergangenheit mit den tatsächlichen Geschehnissen nur noch in wesentlichen
Zügen übereinstimmt. Dies wirft die Frage auf, ob und wie der Organismus
diesen Zeitverzug kompensieren könnte.
Bei seinen Untersuchungen zur Dauer der Bewusstwerdung stellte sich für
Libet die Frage, warum Hautreizungen nicht ebenso wie kortikale Reizungen
längere Zeit andauern müssen, um bewusst zu werden.76 Libet verglich deshalb
die Potentialveränderungen bei Reizung der Hautoberfläche mit denen, die bei
Stimulation der Hirnrinde auftreten und kam zu einer Interpretation seiner Er-
gebnisse, die eine Antwort für die Problematik der Bewusstwerdungsdauer
bereithalten könnte.

_________________
74
Siehe oben, S. 254 f.
75
Siehe Eagleman/Sejnowski, The Flash-lag Effect: An Overview; dies., Science
287 (2000), S. 2037 f. Zu den Versuchen Libets oben, S. 250 ff.
76
Siehe Libet (1966), S. 171.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 263

a) Libets vergleichende Untersuchungen

Um auch eine geringe elektrische Aktivität messen zu können, legte Libet


die Elektroden des EEG direkt an der Hirnrinde an (sogenanntes Elektrokorti-
kogramm [EcoG]) und stimulierte dann die Haut der Probanden. Dies geschah
anlässlich medizinisch notwendiger Untersuchungen und mit Einwilligung der
Probanden. Es zeigte sich, dass auch Hautreizungen, die so geringfügig sind,
dass der Proband sie nicht bewusst wahrnimmt, ein evoziertes Potential und
damit Hirnaktivität hervorrufen. Selbst wenn der Proband über die Stimulation
informiert wurde, nahm er diese geringen Reizungen nicht wahr. Sobald die
Reizung jedoch eine Hirnaktivität von einer halben Sekunde und länger hervor-
rief, trat neben dem evozierten Potential auch ein Bewusstsein des Probanden
bezüglich des Reizes auf.77
Zum zeitlichen Vergleich der Wahrnehmung bei Hautoberflächen- und Hirn-
rindenstimulation wurde in der rechten Hand des Probanden ein Kribbeln, aus-
gelöst durch eine Hirnrindenstimulation, hervorgerufen und die linke Hand
direkt an der Hautoberfläche gereizt. Der Proband sollte angeben, ob er die
Reize gleichzeitig oder versetzt, das heißt die Stimulation der linken oder der
rechten Hand zuerst erlebt hatte. Nach den vorangegangenen Versuchen war
dabei zu erwarten, dass die Stimulation der linken Hand nach 0,5 Sekunden
Hirnaktivität vom Probanden wahrgenommen werden würde und ein Kribbeln
in der rechten Hand nach einer Reizung der Hirnrinde von wiederum 0,5 Se-
kunden in das Bewusstsein des Probanden dringen würde. Begann man folglich
mit der Hirnrindenstimulation (rechte Hand) und reizte die Hautoberfläche
(linke Hand) erst anschließend, so war damit zu rechnen, dass der Proband das
Kribbeln der rechten Hand zuerst wahrnahm. Es stellte sich aber heraus, dass
der Proband eine Reizung der linken Hand auch dann noch vor dem durch die
Hirnrindenstimulation ausgelösten Reiz wahrnahm, wenn die Hirnrinde bereits
bis zu 400 ms stimuliert wurde, bevor die Hand gereizt wurde.78
Entgegengesetzte Ergebnisse erzielte Libet hingegen, wenn er anstatt des der
rechten Hand entsprechenden kortikalen Areals das der rechten Hand entspre-
chende Areal des spezifischen Thalamus stimulierte. Eine Stimulation des Tha-
lamus hat zur Folge, dass zur Bewusstwerdung eine ähnlich lange Zeit wie bei
der Reizung der Hirnrinde vergehen muss79, aber wie bei einer Hautreizung ein
evoziertes Potential an der Hirnrinde messbar ist.
In den Versuchen Libets wurde eine gleichzeitig einsetzende Reizung von
Thalamus und Hautoberfläche als gleichzeitig erlebt, während bei einem ent-
_________________
77
Siehe Libet et al. (1967), S. 1598 f.
78
Vgl. Libet (1978), S. 74.
79
Siehe Libet et al. (1979), S. 217.
264 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

sprechenden Vergleich von Hirnrinden- und Hautoberflächenwahrnehmung die


Reizung der Hautoberfläche von den Probanden als vorangegangen erlebt wur-
de.80 Zur Erklärung dieses Phänomens entwickelte Libet eine ungewöhnliche
Theorie: Da für die Bewusstwerdung der Stimulationen der Haut eine Hirnakti-
vität von mindestens einer halben Sekunde notwendig sei, der Hautreiz aber
unmittelbar, also ohne eine halbe Sekunde Verzögerung erlebt werde, wurde
die in dem Versuch auftretende Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung korti-
kaler Stimulation bzw. der Wahrnehmung der Reizung des Thalamus im Ver-
gleich zur Wahrnehmung der Hautreizung von Libet so erklärt, dass das Gehirn
die Bewusstwerdung eines Sinnesreizes „vordatiert“, vermutlich auf den Zeit-
punkt, zu dem sich das evozierte Potential aufbaut81, was seiner Ansicht nach
jedoch nichts an der Verarbeitungsdauer für die Bewusstwerdung ändert.82

b) Kritik

Diese „Antedatierungstheorie“ hat sowohl Zustimmung als auch Ablehnung


in der Wissenschaft erfahren. Während sie sich in dualistische Konzepte des
Gehirn-Geist-Verhältnisses, wie in das des Hirnforschers und Nobelpreisträgers
Sir John C. Eccles scheinbar mühelos integrieren ließ, erfuhr und erfährt sie
noch heute auch vehemente Ablehnung. Eccles, der die gesamte Hirnaktivität
von einem selbstbewussten Geist überwacht sieht83, interpretiert die Experi-
mente Libets dahingehend, dass die Zeit von circa einer halben Sekunde bis zur
Bewusstwerdung die Zeit sei, die neuronale Aktivitätsmuster benötigten, um
sich so aufzubauen, dass sie vom selbstbewussten Geist entdeckt werden könn-
ten. Bei dem Antedatierungsprozess handle es sich um einen „zeitlichen Trick“
des selbstbewussten Geistes zur Vornahme geringfügiger zeitlicher Anpassun-
gen.84 Anhänger monistischer Theorien versuchen dagegen ohne ein solches,
von dem englischen Philosophen Gilbert Ryle auch als „Geist in der Maschine“
bezeichnetes85, von Hirnprozessen unabhängiges Bewusstsein auszukommen.
So weist die Neurowissenschaftlerin Susan Pockett zu Recht darauf hin, dass
die zugrunde gelegten 500 Millisekunden nur ein Durchschnittswert sind, dass
aber auch nach den Messungen Libets die Schwelle zur bewussten Wahrneh-
_________________
80
Siehe Libet (1978), S. 74 ff.
81
Siehe Libet et al. (1979), S. 222, u. ders. (1992), S. 260.
82
Siehe Libet (1992), S. 266.
83
Dazu unten, S. 293 f.
84
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 438.
85
„I shall often speak of it, with deliberate abusiveness, as ‚the dogma of the Ghost
in the Machine‘ “ (Ryle, Concept, S. 15 f.). Vgl. zur Kritik an Descartes auch Dennett,
Philosophie, S. 53 ff.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 265

mung bereits unterhalb dieser Zeitdauer überschritten werden könne.86 Sie


meint daher, die Experimente Libets auch ohne eine „Antedatierung“ auf der
Grundlage unterschiedlich langer Reizverarbeitungszeiten erklären zu können,
kommt aber ihrerseits zu dem Ergebnis, dass von einer Verarbeitungszeit von
wenigstens 60 bis 80 Millisekunden auszugehen sei, die subjektive Wahrneh-
mung äußerer Ereignisse diesen also jedenfalls eine gewisse Zeitspanne nach-
folge.87 Die vergleichenden Untersuchungen Libets liefern insoweit ein ähnli-
ches Bild wie die Experimente Eaglemans88, da sie jeweils darauf schließen
lassen, dass das Gehirn Informationen über einen Zeitraum auswertet, der die
physiologisch erforderliche Dauer zur Reizverarbeitung weit überschreitet und
damit die Möglichkeit bietet, Informationen vor ihrer Bewusstwerdung zu „sor-
tieren“ oder gegenüber reizintensiveren gänzlich zu unterdrücken. Stanley
Klein dagegen kombiniert die Vorstellung von unterschiedlichen Verarbei-
tungszeiten mit einem Aspekt des „Orwellschen“ Erklärungsmodells89. Danach
benötigen die Reize zunächst eine gewisse Verarbeitungszeit, Haut- und Tha-
lamusreiz werden aber in der Erinnerung so niedergelegt, als ob sie bei ihrem
tatsächlichen Auftreten erlebt worden wären.90
Die unterschiedlichen Erklärungsansätze für diese Versuchsergebnisse brau-
chen hier nicht im Detail erörtert zu werden.91 Denn allen Interpretationen ist
gemeinsam, dass sie von einer tatsächlichen Verarbeitungsdauer ausgehen, die
eine Aktivität wie das Fangen eines Balles auf der Grundlage einer bewussten
Wahrnehmung des Balls, die dann zur motorischen Reaktion führt, praktisch
unmöglich erscheinen lassen. Die Cartesischen Geisterchen92 müssten sozusa-
gen schon früher aufstehen, damit der Ball noch gefangen werden kann.
_________________
86
Vgl. Pockett (2002a), S. 146. Zustimmend Breitmeyer (2002), S. 281.
87
Siehe Pockett (2002a), S. 145; dies. (2002b), S. 316. Vgl. auch Birbaumer/Jänig,
die von mindestens 150 bis 300 ms ausgehen (in Schmidt/Thews/Lang, S. 179).
88
Siehe dazu auch Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038.
89
Dazu oben, S. 255.
90
Siehe Klein (2002a), S. 200 u. 211.
91
Siehe dazu P. S. Churchland, Philosophy of Science 48 (1981), S. 165 ff. (mit ei-
ner Erwiderung Libets [1981], S. 182 ff., u. Duplik Churchlands, ebd., S. 492 ff.). Hon-
derich (1984), S. 200 ff. (mit Erwiderung Libets [1985a], S. 563 ff., u. Duplik Honde-
richs [1986]) Kritisch gegenüber einem hieraus abgeleiteten Dualismus Dennett, Philo-
sophie, S. 203 ff.; zustimmend Walter, Neurophilosophie, S. 299 ff., 306; vgl auch
Lycan, Consciousness, S. 761 ff. Zu Libets Experimenten vgl. auch die Reinterpretatio-
nen von Trevena/Miller (2002), S. 163 ff.; Gomes (2002a), S. 225 ff.; (dazu erwidernd
Libet [2002] S. 292 f. u. 297 f. mit Duplik von Miller/Trevena [2002], S. 308 ff., u.
Gomes [2002b], S. 304 ff.); Glynn (1990), S. 478 f. (mit Erwiderung Libets [1991],
S. 27, u. Duplik Glynns [1991], S. 27 f.); Dennett/Kinsbourne (1992), S. 196 ff.
92
Descartes ging davon aus, dass „Geister“ (esprits) von der Zirbeldrüse in die
Muskeln gesendet werden, wenn die Seele eine Bewegung des Körpers veranlasst (vgl.
auch oben, S. 237).
266 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

III. Konsequenzen der dargestellten Untersuchungen für die


Rechtsbegriffe der „Kenntnis“ und der „Erkennbarkeit“

Im Rahmen der „Erkennbarkeit“ wird bei der strafrechtlichen Beurteilung


gefragt, ob der Täter die Folgen seines Handelns hätte vorhersehen können,
weil er sich bestimmter Sachverhalte und Zusammenhänge hätte bewusst sein
müssen. Das Vorhersehen zukünftiger Ereignisse ist für jedermann eine All-
tagserfahrung und eine Notwendigkeit für das gesellschaftliche Miteinander.
„Vorhersehen“ kann der Mensch jedoch nur, wenn einerseits die notwendigen
Informationen bereits im Gedächtnis, also in bestimmten neuronalen Netzen,
verankert sind und wenn andererseits in der jeweiligen Situation auch die not-
wendigen neuronalen Verknüpfungen zwischen diesen Netzwerken entstehen.
Diese entstehen aber nicht zufällig, sondern sind ihrerseits abhängig von den
gesamten Vorerfahrungen eines Menschen sowie seiner genetisch vorgegebe-
nen Grundausrüstung.93 Denkt beispielsweise ein Jäger, er schieße auf ein
Wildschwein, und tötet stattdessen einen Menschen, dann haben seine Neuro-
nen zuvor auf alles reagiert, was einzelne Erkennungsmerkmale eines Wild-
schweins besitzt. Haben sich ausreichend viele dieser Neuronennetze zusam-
mengefunden, „erkennt“ der Jäger in der dunklen Gestalt im Gebüsch subjektiv
ein Wildschwein, wiewohl es sich objektiv um einen Menschen handelt.
Diese schnelle Klassifizierung von Objekten bietet, soweit sie im Wesentli-
chen irrtumsfrei erfolgt, insbesondere im Tierreich bei der Beute- oder Feinder-
kennung einen überlebenswichtigen Vorteil. Begegnungen mit dem einen wie
dem anderen Gegenüber setzen schnelle Reaktionen voraus, die eine vollstän-
dige Überprüfung des Objekts nicht zulassen würden. Dabei wird die Reaktion
vom Gehirn vollkommen „autonom eingeleitet“, sobald es „meint“94, das Ob-
jekt kategorisiert zu haben. Dieser Aspekt der schnellen Reaktion wird im Fol-
genden noch ausführlicher erklärt. Irrtümer sind jedoch bei diesen Verhaltens-
weisen nicht ausgeschlossen. Viele Tiere haben sogar Reaktionen entwickelt,
um sich solche Irrtümer ihrer natürlichen Feinde zunutze zu machen.95
Ist ein Mensch auf der Jagd nach einem Beutetier, dann sind auch in seinem
Hirn bestimmte kategorisierende Aspekte wie Größe, Form, Farbe und Verhal-
tensweisen des Tieres gespeichert. Nun ist es ausreichend, dass in einer be-
stimmten Höhe über dem Boden Blätter rascheln und ein dunkler Schatten
ungefähren Ausmaßes sich im Laubwerk abzuzeichnen scheint, damit das Ge-
_________________
93
Siehe Roth, Gehirn, S. 257.
94
Vgl. zu diesen Begriffen die Anmerkung oben, S. 245, Fn. 18.
95
So z. B. eine Froschart bei Konfrontation mit einer Schlange. Die Frösche machen
sich dabei besonders groß, indem sie sich auf die ansonsten angewinkelten Beine stellen,
und verharren so regungslos, damit die Schlange sie nicht als Beutetier identifizieren
kann (aus einer Fernsehdokumentation).
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung 267

hirn hierin die gesuchte Beute „erkennt“. Hat sich das Gehirn zuvor einmal
„geirrt“ und dadurch negative „Erfahrungen“ gesammelt oder ist es von seiner
früh erworbenen Struktur her eher „vorsichtig“, wird es vielleicht eine Art
„Sicherheitsüberprüfung“ vornehmen, ansonsten wird es unter Umständen die
neuronalen Netzwerke so komplettieren, dass der Jäger den subjektiven Ein-
druck hat, ein Wildschwein zu „sehen“.
Da das Irren an sich nicht strafbar ist, vielmehr allenfalls die „Pflichtwidrig-
keit“ eines (folgenreichen) Irrtums das Strafrecht auf den Plan ruft, lautete der
strafrechtliche Vorwurf, wenn der Jäger statt eines Wildschweins einen Men-
schen trifft, etwa: der Jäger hätte sich vergewissern müssen, dass er keinen
Menschen erschießen würde. Die Arbeiten Roths, Singers und Bonnehs lassen
aber darauf schließen, dass der Mensch nur einen Teil seiner Umwelt bewusst
wahrnimmt und dass auch diese Wahrnehmung entscheidend durch das Ge-
dächtnis beeinflusst wird. Die „Entscheidung“ schließlich darüber, welche
Informationen überhaupt bewusst werden, wird aber entweder bereits vor der
Bewusstwerdung im Gehirn gefällt oder aber es werden im Nachhinein vormals
bewusste Ereignisse nachträglich verändert.
Bewusste Wahrnehmung und damit auch die Nichtwahrnehmung wären in
beiden Fällen Folgen bestimmter neuronaler Aktivitäten. Der Vorwurf unzurei-
chender Aufmerksamkeit bekäme so eine völlig andere Qualität. Er verlangte
vom Menschen einen komplexen von innen heraus nicht steuerbaren Eingriff in
automatisierte und teilweise unbewusste Gehirnprozesse. Soweit eingehende
Informationen bereits vorbewusst vom Gehirn ausgewertet und teilweise ver-
ändert werden, ergäbe sich also die Konsequenz, dass, ginge man von einem
subjektiven „freien Willen“ aus, die Entscheidungsgrundlage bereits „vorsor-
tiert“ wäre. Hängt die bewusste Wahrnehmung insoweit von autonom ablau-
fenden Hirnprozessen ab, dann folgt daraus aber auch, dass der Mensch nur das
erkennen konnte, was er erkannt hat, beziehungsweise was ihm neuronal reprä-
sentiert wurde. Zwar ist es denkbar, dass er in einer erneuten vergleichbaren
Situation schon aufgrund der im Gedächtnis niedergelegten negativen Vorer-
fahrung etwas anderes wahrnehmen würde; für jede in der Vergangenheit lie-
gende Wahrnehmung müsste aber gelten, dass sie jeweils durch Hirnprozesse
determiniert war, also auch nicht anders hätte ausfallen können.
Diese Überlegungen hätten auch Konsequenzen für die Reaktionsgrund-
zeit96. Nach Engels ist ihr wahrscheinlichster Wert 0,93 Sekunden.97 In knapp
einer Sekunde dürfte aber ein Gehirn Informationen wesentlich differenzierter
verarbeiten können, als dies bei einem Kraftwagenfahrer, der mit vorüberzie-
henden Reizen im Straßenverkehr konfrontiert ist, oder bei einem reaktionsbe-
_________________
96
Dazu oben, S. 193.
97
Siehe oben, S. 193, Fn. 241.
268 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

reiten Jäger der Fall ist. Unterhalb dieses situations- und persönlichkeitsbeding-
ten Zeitlimits wird im Strafrecht davon ausgegangen, dass ein Mensch nur
eingeschränkt „erkennen“ kann, ihm mithin aufgrund seiner biophysischen
Voraussetzungen auch nicht mehr „erkennbar“ war. Auch Libet bemerkt hierzu,
dass die erforderliche Zeitspanne zur bewussten Wahrnehmung den Rahmen
derjenigen Aktionen beschränken könne, in denen der freie Wille seinen Aus-
druck finde.98 Geht man aber davon aus, dass die Wahrnehmung insgesamt
durch Hirnprozesse determiniert ist, dann erfolgt auch die differenziertere Ver-
arbeitung von Reizen auf der Grundlage von autonom arbeitenden Hirnprozes-
sen. Das „Ergebnis“ einer Wahrnehmung nach Ablauf einer längeren Zeitspan-
ne tritt dann ebenso notwendig ein wie die Wahrnehmung kurzzeitig präsentier-
ter Reize. Weder das, was innerhalb einer kurzen Zeitspanne nicht erkannt
wurde, noch das, was nach Ablauf einer längeren Zeitspanne nicht erkannt
wurde, wäre damit „erkennbar“ gewesen. Die vom Strafrecht vorgenommene
Differenzierung bei der Reaktionszeit beruhte dann auf der falschen Annahme,
dass unvollständige Wahrnehmungen und darauf basierende Handlungen nach
Ablauf einer gewissen Zeitspanne vermeidbar sind, wohingegen sie vor Ablauf
dieser Zeitspanne unvermeidbar sein sollen.
Ist bewusste Wahrnehmung durch Hirnprozesse determiniert, dann kann der
Schuldvorwurf ersichtlich auch nicht lauten, der Kraftwagenfahrer hätte seine
Aufmerksamkeit bereits vor dem unfallverursachenden Ereignis so weit erhö-
hen müssen, dass er auf dieses besser hätte reagieren können. Denn worauf sich
seine Aufmerksamkeit richtet, hängt dann wiederum nur davon ab, wie sein
Gehirn die Situation verarbeitet und darauf reagiert. Laufen im Gehirn determi-
nierte Prozesse ab, dann hätte die Aufmerksamkeit eines unaufmerksamen
Fahrers nicht stärker sein können, als sie war. Die Untersuchungen Bonnehs
und seiner Kollegen99 zeigen außerdem, dass Aufmerksamkeit auch bei „geisti-
ger Anspannung“ nicht konstant aufrechterhalten werden kann. Die Vermutung
liegt nahe, dass das Gehirn mit der ihm zur Verfügung stehenden Energie
„haushalten“ muss, und Aufmerksamkeit wegen des damit einhergehenden
hohen Energieverbrauchs nur eingeschränkt möglich ist.
Die von Dennett und Kinsbourne gegenübergestellten Modelle vorbewusster
und nachbewusster Modulation eingehender Reize legen schließlich die Frage
nahe, ob von „Kenntnis“ im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB auch dann gesprochen
werden kann, wenn ein bestimmtes Faktum zwar für wenige Millisekunden
bewusst war, hieran aber keine Erinnerung mehr existiert. Im dritten Kapitel
des vorangegangenen Teils dieser Arbeit wurde bereits erörtert, dass für das
Wissenselement des Vorsatzes nach manchen Auffassungen auch eine Form
von „unbewusster Kenntnis“ genügen soll. Das „Orwellsche“ Erklärungsmodell
_________________
98
Siehe Libet (1978), S. 80.
99
Dazu oben, S. 249.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 269

könnte damit eine „Lösung“ für die Spontanreaktionen bieten, die mit § 16
Abs. 1 StGB unter Umständen noch zu vereinbaren wäre. Die zwei profun-
desten Schwierigkeiten, auf die eine Anwendung des „Orwellschen“ Modells
auf die subjektive Tatseite im Strafrecht stößt, sind aber erstens die Nachweis-
barkeit und zweitens die Vorwerfbarkeit. Jene bereitet prozessuale Schwierig-
keiten, weil sich weder der Angeklagte selbst erinnern kann noch ein objektiver
Nachweis möglich ist, dass dieses Modell mit den Tatsachen übereinstimmt;
und diese ist problematisch, weil ein Angeklagter, dem ein Vorwurf aufgrund
einer vermeintlichen Kenntnis von Tatsachen gemacht wird, die er zum Zeit-
punkt des Prozesses subjektiv nicht hat und die auch in seiner Erinnerung nicht
vorhanden ist (denn die Erinnerung ist ja gelöscht), eine Bestrafung sehr wahr-
scheinlich als ungerecht empfinden wird. Denn in seiner Person wird er keinen
Anknüpfungspunkt für den Vorwurf finden können. Das „Orwellsche“ Erklä-
rungsmodell ist damit im Ganzen ungeeignet, über die „Kennntis“ im Sinne des
§ 16 Abs. 1 StGB Aufschluss zu geben.
Die Möglichkeiten einer willentlichen Steuerung der bewussten Wahrneh-
mung müssen mit Blick auf den Schuldvorwurf wohl skeptischer beurteilt wer-
den, als dies bislang geschieht. Es müssen Differenzierungskriterien entwickelt
werden, die eine Grenzziehung zwischen vorwerfbarem und nicht vorwerfba-
rem Unterlassen genügender Aufmerksamkeit plausibel machten. Eine empiri-
sche Grenze, z. B. eine Zeitgrenze, würde ersichtlich noch nichts hinsichtlich
des spezifisch Vorwerfbaren erklären. Hier müssen also vermehrt Anstrengun-
gen unternommen werden. Nachdem dargelegt wurde, dass Wahrnehmen ein
jedenfalls weitgehend automatisierter Vorgang ist, werden nun Untersuchungen
vorgestellt, die im Zusammenhang mit der automatischen und der willentlichen
Initiation von Bewegungen stehen.

Kapitel 2
Entstehung von Bewegungen

I. Ausgangslage

Um die Problematik der automatisierten Bewegungen neurowissenschaftlich


zu beleuchten, soll zunächst noch einmal der psychophysiologische Kenntnis-
stand zusammengefasst werden, auf dem die Überlegungen zu den automati-
sierten Verhaltensweisen im Strafrecht beruhen.
270 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

1. Handlungsinitiierung aus psychophysiologischer Sicht 1968


(Müller-Limroth)

Nach Müller-Limroth kommt es zu einer bewussten Reaktion, wenn ein In-


formationsstrom über den sensorischen Bereich in das Bewusstsein eindringt,
es durchschreitet und nach Modulation durch Motive über den motorischen
Bereich zu einer Aktion führt.100 „Wenn also eine Willkürhandlung ausgeführt
werden soll, so müssen im Willkürzentrum eine Reihe von Nervenzellen, soge-
nannten Pyramidenzellen, aktiviert werden und eine Impulssalve zu den ent-
sprechenden Vorderhornzellen des Rückenmarks abgeben.“101 Bei Automatis-
men handle es sich um Bewegungsmuster, die zunächst erlernt, also ursprüng-
lich von der Großhirnrinde veranlasst worden seien.102 Der handlungsauslösen-
de Vorgang verlagere sich hingegen in ein tiefer im Gehirn liegendes Gebiet,
bei dem dann, ähnlich einer mit einem Programm versehenen Computer-
Lochkarte, ein Impulsmuster vorhanden sei, welches z. B. die gesamte Hand-
lung im Straßenverkehr, also die Fahrhandlung veranlasse.103 „Eine solche
Automatisierung entlastet gleichsam das Großhirn und damit auch den Kraft-
fahrer selbst. Sobald aber über die Sinnesorgane eine Änderung in der Ver-
kehrssituation oder am Fahrzeug signalisiert wird, dann wird die Handlungs-
auslösung sofort wieder von der Großhirnrinde übernommen.“104 Dabei blieben
die automatischen Bewegungsabläufe unter der ständigen Kontrolle der Willkür
unter Einschluss der aus den Sinnesorganen einlaufenden Informationen.105
Zusammenfassend lässt sich sagen: Voraussetzung für eine selbstbestimmte
Handlung ist, dass das Bewusstsein über das „Willkürzentrum“ des Menschen
handlungsinitiierend wirkt. Bei den Automatismen wird die Selbstbestimmung
dadurch erhalten, dass die Bewegungsabläufe unter ständiger Kontrolle der
Willkür, wiederum unter Einschluss der bewussten Wahrnehmung stehen. Das
würde nach populärer Auffassung für Willkürbewegungen bedeuten, dass In-
formationen von der Außenwelt zum Gehirn eines Menschen geleitet werden
(zum Beispiel Gerüche, Konturen), diese verarbeitet und vom Menschen als
Endprodukt erfasst werden – er nimmt beispielsweise einen Apfel wahr, wor-
aufhin sich der Mensch entschließt, diesen Apfel zu essen oder es nicht zu tun.

_________________
100
Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 296.
101
Müller-Limroth, DAR 1968, S. 297.
102
Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 300.
103
Siehe Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235 und Müller-Limroth, DAR
1968, S. 300.
104
Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235.
105
Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 300.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 271

2. Das Bereitschaftspotential (Kornhuber/Deecke)

Bereits 1964 wurde von Kornhuber und Deecke das sogenannte „Bereit-
schaftspotential“ entdeckt. Mittels EEG wurde am supplementär motorischen
Areal (SMA) die von den Neuronen ausgehende Spannung gemessen. Das
SMA befindet sich am oberen Rand der Innenseite der Hemisphäre und gehört
zum primären motorischen Kortex, der mit der Vorbereitung und Durchführung
von Willkürhandlungen zu tun hat.106 Kornhuber und Deecke registrierten so 1
bis 1,5 Sekunden vor Ausführung einer Willkürbewegung eine langsame, nega-
tive neuronale Aktivität im supplementär motorischen Kortex und nannten
diese das Bereitschaftspotential.107 Weil es in Beziehung zur Aktivität beider
Hemisphären steht, wird es auch als „symmetrisches“ Bereitschaftspotential
bezeichnet.108 Kornhuber und Deecke bemerkten hierzu: „[...] der bioelektri-
sche Vorgang [scheint] zu jenen Hirnprozessen zu gehören, die im Bewußtsein
als Bereitschaft zum Handeln erscheinen.“109 Denn die Wissenschaftler stellten
fest, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials mit der Aufmerksamkeit
und intentionalen Beteiligung ihrer Probanden wuchs, bei Gleichgültigkeit
derselben hingegen abnahm. 110 Diese Deutung erschien auch insofern berech-
tigt, als das Bereitschaftspotential selbst dann auftrat, wenn sich der Proband
die Bewegung lediglich vorstellte, der motorische Kortex also inaktiv blieb.111
Bei sich wiederholenden Willkürbewegungen konnten Kornhuber und
Deecke Intervalle des Bereitschaftspotentials zwischen 0,4 und 4 Sekunden
vom Beginn der Potentialänderung bis zum Bewegungsbeginn (Zeitpunkt 0,0)
feststellen.112 Das kortikale Motorsignal, das entsteht, wenn der motorische
Kortex die Muskeln aktiviert, tritt dagegen regelmäßig nur 50 bis 100
Millisekunden vor Ausführung der Bewegung auf.113

_________________
106
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 444 f.
107
Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284
(1965), S. 4.
108
Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 487.
109
Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 (1965),
S. 15.
110
Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284
(1965), S. 8 f.
111
Siehe Roth, Gehirn, S. 307; vgl. auch die Untersuchungen in Libet et al. (1983a),
S. 369.
112
Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284
(1965), S. 5.
113
Siehe Roth, Gehirn, S. 307.
272 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Die Erkenntnisse Kornhubers und Deeckes integrierte Stennert 1975 in seine


strafrechtliche Untersuchung der automatisierten Verhaltensweisen, indem er
sich dieser Interpretation des Bereitschaftspotentials als der neuronalen Folge
einer Bewegungsintention oder -vorstellung anschloss.114 Eine solche Annahme
würde bedeuten, dass nach dem Entschluss des Menschen, den Apfel zu essen,
dieser Entschluss das Gehirn dahingehend aktiviert, die nötige Handlung, wie
zum Beispiel das Ergreifen des Apfels, vorzubereiten. Auffallend ist, dass
demnach zwischen der Entschlussfassung und dem Ergreifen des Apfels circa
eine halbe Sekunde liegen müsste, nämlich die Zeitspanne, die das Gehirn
benötigt, um das Bereitschaftspotential aufzubauen. Hinzu käme der Zeitraum,
der zwischen dem Eingang des vom Apfel ausgehenden sensorischen Reizes
und dem Entschluss zum Ergreifen desselben liegen müsste.

II. Automatisierte Bewegungen

Diese Zeitspanne erscheint Eduard Dreher als zu lang. Er errechnet für einen
Pianisten, der Schumanns Toccata (Op.7) spielt, bis zu 65 Anschläge in einer
halben Sekunde, und bemerkt: „Solch eine Zahl steht in krassem Widerspruch
zu Libet/Kornhuber.“115 Eine Sekretärin bringe es auf sechs Anschläge in der
Sekunde bei unbekanntem Diktat und ein Tennisspieler habe knapp 0,36 Se-
kunden Zeit, um auf einen Ball von Boris Becker zu reagieren. In der Leicht-
athletik würde man nur 0,10 Sekunden zwischen dem Startschuss und der ers-
ten Bewegung der Läufer messen.116 Diese Zeiten stünden, so meint Dreher, im
klaren Missverhältnis zu der nach den Untersuchungen Libets, Kornhubers und
_________________
114
Vgl. Stennert, S. 97.
115
Dreher, Willensfreiheit, S. 287.
116
Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 288.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 273

Deeckes benötigten Zeitspanne. Hiernach benötige die bewusste Wahrnehmung


0,5 Sekunden und der Aufbau des Bereitschaftspotentials seinerseits circa 0,8
Sekunden, woraus sich durch Addition 1,3 Sekunden ergäben.117
Dreher äußert deshalb Zweifel. Im Autoverkehr könnte dies „geradezu ver-
hängnisvolle Folgen“ haben, weil die aktuelle Lage im Zeitpunkt der Bewusst-
werdung schon nicht mehr der Realität entspreche. Er hat daher „erhebliche
Bedenken gegen die ,Vordatierungstheorie‘“.118 Dabei richtet sich die Kritik
Drehers inhaltlich nicht gegen Libets Antedatierungstheorie, denn diese findet
in die Berechnungen Drehers keinerlei Eingang: die Summe von 1,3 Sekunden
ergibt sich vollkommen unabhängig hiervon. Drehers Bedenken richten sich
vielmehr gegen die experimentelle Untersuchung der zur Bewusstwerdung
notwendigen Zeitspanne. Soweit aber diese Versuchsdurchführung Bedenken
unterliegt, wäre es erforderlich, konkrete Mängel anzuführen, anstatt sich ledig-
lich darauf zu berufen, dass ihre Ergebnisse persönlichen Erfahrungen wider-
sprächen. Hinzu kommt, dass Dreher die Versuche zum Bereitschaftspotential
auch auf automatisiertes, insbesondere spontan reaktives Verhalten überträgt.
Festgestellt wurde ein Bereitschaftspotential von Kornhuber und Deecke jedoch
lediglich bei willkürlichen Bewegungen.119 Auch diesbezüglich kann daher den
Schlussfolgerungen Drehers nicht zugestimmt werden. Problematisch bleibt
aber die Vereinbarkeit der vorgestellten Untersuchungsergebnisse mit dem
Auftreten sehr schneller Reaktionen.120 Ausgangspunkt der Fragestellung ist
deshalb, warum der Mensch auch vor Ablauf einer halben Sekunde auf äußere
Reize reagieren kann. Diesbezüglich hat Libet selbst Überlegungen angestellt,
die im Folgenden erörtert und den kritischen Einwänden Drehers gegenüberge-
stellt werden sollen.

1. Wahrnehmung und Reaktion

Aus den kurzen Reaktionszeiten folgt für Libet, dass diese Reaktionen wahr-
scheinlich unbewusst ablaufen. Die bewusste Wahrnehmung des Reizes wie
auch der Reaktion selbst könne nachfolgend eintreten, manchmal auch gänzlich
ausbleiben. Auch alternative Verhaltensweisen könnten unbewusst erfolgen.
Von einem Entscheidungsverhalten, das auf einem freien Willen oder einer
_________________
117
Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 287. Vgl. auch Penrose, S. 439 ff., 442.
118
Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 288.
119
Zu weiteren Untersuchungen Libets siehe unten, S. 278 ff.
120
Reaktionstests ergeben Reaktionszeiten von 0,05 Sekunden (s. Libet [1965], S. 85,
u. ders., [1966], S. 176). Nach Roth erfolgen Hinwende-, Schreck- und Abwehrreaktio-
nen mit einer Latenz von ca. 30 ms. „Dies ist mehr als zehnmal schneller als die Zeit,
die verstreichen muss, bis uns ein Reiz bewusst wird“ (Fühlen, Denken, Handeln,
S. 444).
274 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

freien Wahl beruht, könne jedoch in diesen Fällen nicht gesprochen werden, da
eine solche Willensbetätigung immer als Ausfluss bewusster Wahrnehmung
angesehen werde. Die Person hätte sich demnach ihrer Reaktion bewusst sein
und bewusste Kontrolle über ihr Verhalten ausüben müssen. Eine bewusste
Intervention könnte in solchen Fällen also allenfalls nachfolgend in einer Ab-
änderung zukünftigen Verhaltens oder der Wiederherstellung des alten Zu-
stands bestehen.121 Eagleman und Sejnowski kommen zu einer ähnlichen Theo-
rie für die problematisierte Situation des Ballfangens: Ihrer Ansicht nach ist
keine Extrapolation der Position des Balles erforderlich, denn der Zeitverzug
könne durch Routine des motorischen Systems ausgeglichen werden.122
Diese Überlegungen werden durch eine Untersuchung der Physiologen
Taylor und McCloskey unterstützt. Sie machten sich den von Crawford
entdeckten Effekt zunutze, dass ein schwacher visueller Reiz, dem ein starker
visueller Reiz unmittelbar folgt, nicht bewusst wahrgenommen wird.123 Sie
forderten ihre Probanden auf, jeweils schnellstmöglich auf einen visuellen
Lichtreiz zu reagieren. Dabei stellte sich heraus, dass die Probanden statt auf
den starken Lichtreiz, der einem schwachen 50 Millisekunden folgte, auf den
von ihnen nicht bewusst wahrgenommen schwachen Lichtreiz reagierten. Dies
wiederholte sich sowohl mit einfachen Reaktionsbewegungen als auch mit
komplexen Bewegungen, die unterschiedliche Muskelaktivitäten in beiden
Körperhälften erforderten.124 Taylor und McCloskey kamen daher zu dem
Ergebnis, dass willkürliche Handlungen (die sie als Handlungen definierten, die
ein Mensch nach seinem Willen durchführen oder unterlassen kann) ohne
bewusste Wahrnehmung des auslösenden Reizes stattfinden können. Noch
bevor der sensorische Reiz bewusst werde, leite das Gehirn „automatisch“ die
willkürliche Handlung ein, auch wenn der Reiz überhaupt nicht in das
Bewusstsein gelange.125
Überträgt man die Untersuchungsergebnisse Libets auf die Problematik der
Reaktionszeiten von Kraftfahrern, dann stellt man zunächst fest, dass die untere
Grenze von 0,6 Sekunden, die die Gerichte für das Einleiten einer „überlegten
Reaktion“ auf ein plötzliches Ereignis hin festgesetzt hatten126, tatsächlich
geeignet ist, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die von Libet gemessene
Zeitspanne für eine bewusste Wahrnehmung erforderlich ist. Damit wird jedoch
_________________
121
Siehe Libet (1965), S. 85; s. auch ders. (1966), S. 176; ders. (1978), S. 80, u. ders.
(1992), S. 267.
122
Siehe Eagleman/Sejnowski, The Flash-lag Effect: An Overview; dies., Science
287 (2000), S. 2037 f.
123
Dazu oben, S. 254.
124
Siehe Taylor/McCloskey, Journal of Neurophysiology 63 (1990), S. 439 ff.
125
Siehe Taylor/McCloskey, Journal of Neurophysiology 63 (1990), S. 444 f.
126
Siehe oben, S. 192.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 275

zugleich fraglich, ob reaktive automatisierte Verhaltensweisen, wie Straten-


werth sich ausdrückt, überhaupt „erlebnismäßig bedingt“ sind.127 Die Überle-
gungen Libets decken sich insoweit mit den Berichten der Betroffenen, wie sie
von Meyer-Gramcko geschildert wurden.128 Denn deren Angabe, sie hätten die
Gefahr erst wahrgenommen, nachdem sie bereits reagiert hatten, findet hier-
nach eine wissenschaftliche Stütze. Und auch das unfallverursachende Reagie-
ren auf das nicht bewusst wahrgenommene Taxi im Beispielsfall von Luff129
erklärte sich hieraus. Diese Erklärungen setzen jedoch voraus, dass das Gehirn
praktisch selbständig und ohne jegliche bewusste Kontrolle in der Lage ist,
Handlungen einzuleiten und ihre Ausführung zu veranlassen.
Außerdem hieße es, dass das Bewusstsein nicht jederzeit die Kontrolle über-
nehmen könnte wie Müller-Limroth und Stennert annahmen; denn jedenfalls
innerhalb der für die bewusste Wahrnehmung erforderlichen Zeitspanne wäre
ihm dies keinesfalls möglich. Die jederzeit mögliche Kontrollübernahme durch
das Bewusstsein ist jedoch ein wesentlicher Aspekt bei der strafrechtlichen
Beurteilung automatisierter Verhaltensweisen.130
Taylor und McCloskey nennen auch unbewusst ablaufende Verhaltenswei-
sen „willkürlich“. Das mag man für diejenigen Verhaltensweisen gelten lassen
können, denen tatsächlich ein Wille voranging wie dem Spaziergang im Park,
dem Boxkampf und auch dem Knopfdruck von Probanden bei einem Reak-
tionstest. Bei den Spontanreaktionen im Straßenverkehr ist die Verwendung
dieses Adjektivs, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben131,
dagegen nicht mehr plausibel.

2. Reiz-Reaktions-Muster

Wenn automatisierte Verhaltensweisen unbewusst erfolgen, stellt sich


weiterhin die Frage, wie sie initiiert werden. Dreher bezog in seine Über-
legungen die Erkenntnisse Libets sowie Kornhubers und Deeckes ein. Dabei
berücksichtigte er jedoch nicht, dass das Bereitschaftspotential von Kornhuber
und Deecke lediglich vor willkürlichen Bewegungen gemessen wurde. Eine
Übertragung dieser Erkenntnisse auf unterschiedliche Arten von unwillkür-
lichem Verhalten, wie sie Dreher vorgenommen hat, ist danach methodisch
nicht gerechtfertigt. Zwar haben nachfolgende Untersuchungen gezeigt, dass
das Bereitschaftspotential bei sich im Alltag ständig wiederholenden Bewe-
_________________
127
Dazu oben, S. 171.
128
Siehe oben, S. 226.
129
Vgl. oben, S. 227, Fn. 375.
130
Ausführlich oben, S. 203 ff.
131
Siehe oben, S. 162 ff. u. 219 f.
276 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

gungen132 und bei einzelnen unbemerkten Körperbewegungen133 ebenfalls auf-


tritt. Es fehlt jedoch bei spontanen Reaktionen auf einen unerwarteten Reiz
sowie bei Reaktionszeittests und konnte auch bei Patienten mit dem Tourettes-
Syndrom, die durch „Ticks“ (plötzliche Zuckungen, spontane Ausrufe) auffal-
len, nicht gemessen werden.134 Es scheint daher möglich, dass schnellen Reak-
tionen auf ein unerwartetes Ereignis zum Beispiel im Straßenverkehr kein
Bereitschaftspotential vorangeht. Das Bereitschaftspotential ist also nur bedingt
geeignet, Aufschluss über den inneren Vorgang in den Fällen automatisierter
Verhaltensweisen und damit auch der typischen Reaktionszeitfälle im Straßen-
verkehr zu geben.
Automatisierte Verhaltensweisen sollen nach heutigem Kenntnisstand, ähn-
lich wie es Müller-Limroth formuliert, durch vom Gedächtnis angelegte Reiz-
Reaktions-Muster hervorgerufen werden, die automatisch und völlig unbewusst
abgerufen werden.135 Dieser Prozess zeigt sich bei eingeübten Handlungen. So
wird beim Radfahren nicht jeder Tritt in die Pedale bewusst vollzogen, ebenso
wie der Gleichgewichtssinn nicht in jeder Sekunde von Bewusstsein begleitet
ist. Der Vorteil dieser Arbeitsweise des Gehirns ist, dass die aufgrund erhöhten
Energieverbrauchs nur begrenzt verfügbare Aufmerksamkeit für andere Dinge,
wie etwa den Straßenverkehr, zur Verfügung steht. Motorisch hat es den Vor-
teil, dass automatisierte Handlungen „flüssiger“ ablaufen. Dies wird insbeson-
dere bei sehr schnellen Bewegungsabläufen deutlich. Würde man den Klavier-
spieler oder die Sekretärin bitten, jeweils mit einem Blinzeln Auskunft darüber
zu geben, wann ein „c“ angeschlagen oder ein „a“ getippt wird, würde das
Blinzeln entweder erheblich nachfolgen oder die Bewegung sich verlangsamen.
Analog würden auch Läufer und Tennisspieler nicht von einer „bewussten“
Reaktion sprechen, sondern vielmehr von einer „automatischen“ Reaktion.136
Roth zufolge arbeitet das Unbewusste schnell und effektiv, irrt sich selten,
ist dabei aber relativ inflexibel. Es kann nur einfache Dinge bearbeiten. Bei
komplexeren Problemen würden andere Netzwerke, vornehmlich im Bereich
des Stirnhirns, aktiviert, die jedoch langsam und fehleranfällig arbeiteten. Sie
_________________
132
Vgl. Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 791 ff., u. Dirnberger et al., Exp
Brain Res 120 (1998), S. 263 ff. Nach Libet kann hieraus nicht darauf geschlossen wer-
den, dass das Bereitschaftspotential auch automatisierte Bewegungsabläufe, wie die
eines Klavierspielers einleitet (s. Libet [1985b], S. 562).
133
Vgl. Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 351 ff. Dazu auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 237.
134
Siehe Libet (1999), S. 52; Papa et al. (1991), S. 217 ff.
135
Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Schmidt, S. 141; s. auch Roth, Grundla-
gen, S. 162,
136
Vgl. Roth, Grundlagen, S. 162; Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Er-
lebten, S. 10. Vgl. auch Searle (2001), S. 18.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 277

hätten aber den entscheidenden Vorteil, dass sie mittels Verbindung unter-
schiedlicher Informationen auch unbekannte Dinge bewältigen könnten.137
Ein beeindruckendes Beispiel für die zeitliche Unterlegenheit bewusstseins-
begleiteter Bewegungen im Gegensatz zu reaktiven Bewegungen soll Niels
Bohr seinen Studenten geliefert haben. Nachdem er im Anschluss an einen
Kinobesuch eine Theorie entwickelt hatte, weshalb bei dem obligatorischen
Westernduell immer der Held und nie der Schurke gewinnt, wurde er von sei-
nen Studenten, die ihm keinen Glauben schenkten, zum Duell mit Spielzeugpis-
tolen herausgefordert. Bohrs These war es, dass der Held, der nie zuerst schoss,
immer nur „reflexartig“ zum Revolver griff, sobald er eine Bewegung der Hand
des Gegenübers wahrnahm, während der Schurke sich zuvor entscheiden muss-
te, wann er schießen wollte, was seine Bewegung hemmt. Niels Bohr, der im
Scheinduell den Helden spielte, „erschoss“ alle seine Studenten.138

3. Folgerungen

Gegen die von Dreher errechnete Zeitspanne von 1,3 Sekunden gibt es daher
zunächst zwei Einwände. Erstens erfordern nicht alle Bewegungen ein Bereit-
schaftspotential, zweitens ist anzunehmen, dass viele Bewegungen, insbesonde-
re schnelle Bewegungsabläufe und Reaktionen, unbewusst anhand von Ge-
dächtnisleistungen vollzogen werden.139 Der Bewegungsapparat würde dann
von nur wenig anderen neuronalen Abläufen bestimmt werden, als dies bei der
Wahrnehmung der Fall ist; unter Umständen könnten sie auch ebenso unaus-
weichlich eintreten.
Worauf es hier jedoch zunächst ankam, war die Frage, ob automatisierte
Verhaltensweisen bewusst eingeleitet oder kontrolliert werden können. Jeden-
falls bei den Spontanreaktionen spricht dagegen als erhebliches Indiz die zur
Bewusstwerdung erforderliche Zeitspanne. Daneben kann darauf verwiesen
werden, dass der menschliche Bewegungsapparat nach den Untersuchungen
Taylors und McCloskeys auch ohne die Bewusstwerdung des auslösenden
Ereignisses vollkommen autonom reagieren kann.140 Bei anderen automatisier-
ten Verhaltensweisen bleibt dagegen die Möglichkeit, dass sie von einem Be-
wusstsein umfasst sind, das zwar nicht jede einzelne Bewegung steuert und
kontrolliert, das aber den „Anstoß“ gegeben hat und jederzeit regulierend ein-
greifen kann. Diese und weitere Fragestellungen hinsichtlich menschlichen
Verhaltens gilt es deshalb mit Blick auf die Zurechnungsproblematik zu klären.
_________________
137
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 2.
138
Bericht Gamows, wiedergegeben in Norretranders, S. 367 f.
139
Siehe Libet (1992), S. 268.
140
Dazu oben, S. 274.
278 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

III. Willkürliche Bewegungen

Nach den bisherigen Erkenntnissen würden zwar nicht automatisierte, wohl


aber willkürliche Reaktionen eine durchschnittliche Zeitspanne von circa 1,3
Sekunden erfordern, da willkürliche Bewegungen auf ein Ereignis erst nach
Ablauf der Zeit zur Bewusstwerdung und dem Aufbau eines Bereitschafts-
potentials erfolgen könnten. Es bleibt also die lange Zeitdifferenz zwischen
Reizdarbietung und Reaktion zu klären. Libet nutzte das von Kornhuber und
Deecke entdeckte Bereitschaftspotential dazu, willkürliche Bewegungen ein-
gehender im Hinblick auf den Zeitpunkt des willentlichen Entschlusses zu
untersuchen. Das im Folgenden dargestellte Experiment ist gewissermaßen
„berühmt“ geworden, da zum ersten Mal versucht wurde, den subjektiv erleb-
ten Willensentschluss in eine experimentelle Untersuchung einzubeziehen.

1. Das Libet-Experiment

Die Versuchsanordnung entsprach zunächst der zur Messung des Bereit-


schaftspotentials.141 Hinzu kam eine „Wundtsche Komplikationsuhr“142, die in
der experimentellen Psychologie zur genaueren Messung von Zeiteinheiten,
zum Beispiel der Reaktionszeit, verwendet wird. Sie besteht aus einer Scheibe
mit Ziffern, auf der im Uhrzeigersinn ein Punkt rotiert, der für eine Umdrehung
lediglich 2,56 Sekunden benötigt. Die Probanden wurden aufgefordert, sich die
Stelle zu merken, an der sich der rotierende Punkt auf der Uhr befand, wenn sie
zuerst den Drang verspürten, den Arm zu bewegen. Der Bewegungsbeginn
wurde mittels eines Elektromyogramms (EMG) gemessen, das auch kleinste
Bewegungen über einen Sensor registriert. Dabei wurden sie aufgefordert, die
Bewegung nicht im Voraus zu planen. Der rotierende Punkt sollte außerdem
vor einer Bewegung zunächst eine volle Umdrehung gemacht haben. Im Übri-
gen gab es keine zeitliche Einschränkung.143
Um mögliche Fehlerquellen auszuschließen, wurde die Versuchsanordnung
variiert. Die Probanden sollten nun nicht mehr den „Uhrzeigerstand“ angeben,
an dem sie ihren Bewegungsdrang verspürten (z. B. „bei fünf Uhr“); vielmehr
sollten sie die Position des rotierenden Punktes im Verhältnis zu einem stillste-
henden Referenzpunkt auf der Komplikationsuhr angeben, der ihnen präsentiert
wurde, nachdem der rotierende Punkt (einige Zeit nach der Aufzeichnung des
Bewegungsbeginns) ausgeblendet worden war. Die Angabe der Probanden
sollte nun nur noch lauten: „Wahrnehmung vorher“ – was besagte: im Kreis des
_________________
141
Siehe oben, S. 271.
142
Nach dem Psychologen und Philosophen Wilhelm Wundt (1832–1920).
143
Vgl. Libet et al. (1982), S. 324; Libet (1999), S. 49.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 279

„Ziffernblatts“ der Uhr vor dem Referenzpunkt (Beispiel: Wahrnehmung des


Bewegungsdrangs, als sich der rotierende Punkt etwa beim Stand „drei Uhr“
befand, während der später eingeblendete Referenzpunkt etwa bei „fünf Uhr“
erschien); oder umgekehrt: „Wahrnehmung des Bewegungsdrangs nachher“
(bzw. „Position des Referenzpunkts vorher“); oder schließlich: „Gleichzeitig“
(nämlich: „Beide Punkte am gleichen Ort“). Aufgrund der geringen Umlaufzeit
des rotierenden Punktes erhielt Libet auf diese Weise eine recht konkrete An-
gabe von dem Zeitpunkt, den seine Probanden wahrnahmen, als sie den Ent-
schluss zur Bewegung verspürten. Die Zeitangabe gibt also, unabhängig von
der physikalischen Nachweisbarkeit eines subjektiv gefassten Entschlusses,
Aufschluss über die zeitliche Einordnung des Momentes, der als „Entschluss-
zeitpunkt“ erlebt wird.144
Der so gefasste Entschluss sollte nach dieser Versuchsanordnung bestimmte
Kriterien erfüllen: Er sollte „von innen heraus“ gefasst sein, das heißt keine
Reaktion auf ein externes Ereignis darstellen. Die Versuchsbedingungen sollten
daher so beschaffen sein, dass die Probanden in ihrer Entscheidung nicht beein-
flusst wären. Dadurch sollte der Entschluss subjektiv als zeitlich frei und auf
eigener Initiative beruhend empfunden werden, was die Probanden auch bestä-
tigten.145 Dabei wählten sie zur Beschreibung ihrer Empfindung in Bezug auf
die Bewegung unterschiedliche Begriffe wie „wanting“, „wishing“, „urging“
oder „intending“.146
Die Ergebnisse lieferten, obwohl nur an fünf Probanden in jeweils wenigs-
tens sechs Reihen von je 40 Versuchen durchgeführt, ein deutliches Bild: Wäh-
rend das Bereitschaftspotential weiterhin vor der Handlung einsetzte, befand
sich der von den Probanden angegebene Zeitpunkt des Entschlusses nicht vor
dem Einsetzen des Bereitschaftspotentials, wie es nach Kornhuber und Deecke
zu erwarten gewesen wäre, sondern folgte diesem zeitlich nach. Der subjektiv
empfundene Entschluss, eine Handlung auszuführen, lag nur circa 0,2 Sekun-
den vor der Handlung.147

_________________
144
Siehe die Versuchsanordnung in Libet et al. (1983b), S. 625 f.
145
Siehe Libet (1985b), S. 529 f.
146
Siehe Libet (1987), S. 320.
147
Siehe Tabelle in Libet et al. (1983b), S. 630 f.; s. auch Libet (1985b), S. 532.
280 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

2. Diskussion

Die Untersuchungen Libets wurden 1985 von zahlreichen Wissenschaftlern


in der Zeitschrift „The Behavioral and Brain Sciences“ diskutiert, darunter John
C. Eccles und Donald M. MacKay. 148 Auch in den folgenden Jahren erschienen
immer wieder kritische Aufsätze; eine neuere ausführliche Diskussion fand im
Jahre 2002 in der Zeitschrift „Consciousness and Cognition“ statt. Zu den teil-
weise zustimmenden, teilweise ablehnenden Anmerkungen hat Libet größten-
teils selbst Stellung genommen. Die wichtigsten kritischen Punkte sollen hier
kurz dargestellt werden.

a) Erlebnisinhalt

Während die physikalische Seite der Versuchsdurchführung wenig Kontro-


versen hervorrief, wurden vielfach Vorbehalte hinsichtlich der Objektivierung
der subjektiven Erlebnisse geäußert. Zunächst wurde die Selbstwahrnehmung
der Probanden sowohl hinsichtlich dessen, was sie erlebt hatten, als auch hin-
sichtlich des Zeitpunktes, zu dem sie es erlebt hatten, in Zweifel gezogen.
Zu der Frage, was die Probanden erlebt hatten, äußerte Ringo, dass die Pro-
banden vielleicht nur den stärksten Punkt des Bewegungsdranges wiedergege-
ben hätten, dieser Bewegungsdrang sich aber bereits mit der Absicht, den In-
struktionen des Versuchsleiters Folge zu leisten, langsam aufgebaut und damit
das Bereitschaftspotential eingeleitet habe.149 Dabei wird man unterscheiden
müssen, ob mit der genannten Absicht oder Intention, den Anweisungen des
Versuchsleiters Folge zu leisten, der Zeitpunkt zu Beginn des gesamten Expe-
riments gemeint ist, wie dies Walter unter Berufung auf die Untersuchungen
von Keller und Heckhausen vertritt150, oder der jeweilige Zeitpunkt zu Beginn
jedes Einzelversuchs, wie es wohl Ringo vorschwebte.
Keller und Heckhausen untersuchten in einem ersten Experiment mittels
EEG die Gehirnaktivität, die entsteht, wenn Probanden Bewegungen ausführen,
die ihnen nicht bewusst sind und zu denen sie nicht aufgrund einer Versuchsan-
leitung aufgefordert wurden, also Bewegungen, die spontan entstehen und
mittels EMG gemessen werden, während die Probanden gedanklich Rechen-
aufgaben lösen. Zum Vergleich führten Keller und Heckhausen ein zweites
dem Libetschen Versuchsaufbau entsprechendes Experiment durch, was gleich-
zeitig die Ergebnisse Libets bestätigte.
_________________
148
Siehe Libet (1985b), S. 529 ff.
149
Siehe Ringo (1985), S. 551.
150
Vgl. Walter, Neurophilosophie, S. 306 f. Vgl. dazu auch Flanagan, Inessentia-
lism, S. 361 ff.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 281

Dabei konnten sie feststellen, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials


in den Libet-Experimenten deutlicher höher ausfiel als diejenige bei den unbe-
wussten Bewegungen während der Rechenaufgabe. Sie führten noch ein drittes
Experiment durch, in dem die Probanden sich auf ihre Arme konzentrieren
sollten und nach jeder mittels EMG gemessenen Bewegung angeben sollten, ob
sie vorher einen Bewegungsdrang verspürt und damit die Bewegung bewusst
ausgeführt hatten oder ob sich die Bewegung im Ganzen unbewusst vollzogen
hatte. Die Probanden wurden vorher nicht aufgefordert, sich zu bewegen, son-
dern nur, ihre Aufmerksamkeit introspektiv ihren Armen zu widmen.
Verspürten die Probanden einen Bewegungsdrang, glich ihr Bereitschaftspo-
tential demjenigen aus den Libet-Experimenten, vollzog sich die Bewegung
unbewusst, blieb die Amplitude so niedrig wie in dem ersten Experiment. Kel-
ler und Heckhausen interpretierten aufgrund dieser Ergebnisse das Libet-
Experiment so, dass es sich bei den Bewegungen, die die Probanden ausgeführt
hatten, eigentlich um unbewusste Bewegungen handelte, die lediglich aufgrund
der Instruktion des Versuchsleiters sich auf die Bewegung zu konzentrieren
(und nicht etwa, sich zu bewegen) bewusst wurden. Durch die Aufmerksamkeit
werde ihrer Ansicht nach das supplementär motorische Areal in die Bewe-
gungsausführung mit einbezogen, was zu einer erhöhten Aktivität des Gehirns
und damit zu einer höheren Amplitude des Bereitschaftspotentials führt.151 Das
Erleben des Bewegungsdranges unmittelbar vor Ausführung der Bewegung
entstehe nur durch die aufgrund der Instruktionen verlangte Aufmerksamkeit
und sei bedeutungslos für die Bewegung selbst.152
Diese Annahme der Bedeutungslosigkeit des unmittelbaren „Bewegungs-
dranges“ verwendet wiederum Walter zur Untermauerung seiner These, dass
die Instruktion des Versuchsleiters „sich so zu verhalten, daß sie im Laufe des
Experimentes [...] ihre Hand bewegen sollten, wann immer sie wollten“ eine
Intention bei den Probanden hervorgerufen hat, die dann in die jeweilige Be-

_________________
151
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 352 ff. Dass Keller und Heckhausen sich für die mögliche Rolle, die die
Instruktion des Versuchsleiters spielte, eine oder mehrere Bewegungen auszuführen, bei
dem Libet-Experiment nicht interessierten, wird auch daran deutlich, dass die Wissen-
schaftler aus ihrem ersten Experiment gewonnene Aufzeichnungen von der Hirnaktivi-
tät, die entsteht, wenn sich die Probanden zwischenzeitlich bewusst bewegten, um ihre
Position zu verändern oder um sich zu kratzen, nicht veröffentlichten. Diese Ergebnisse,
die an sich die Hirnaktivität bei willkürlichen Bewegungen ohne vorangegangene In-
struktion zur Bewegung wiederspiegeln, seien für ihre Zwecke „uninteressant“ (s. Kel-
ler/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 [1990],
S. 354).
152
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 358 ff.
282 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

wegung umgesetzt wurde.153 Was Libet zeitlich festgehalten habe, sei demnach
„allenfalls die bewußte Empfindung des Überschreitens einer Schwelle“.154
Diese Überlegung ist ohne Zweifel jedenfalls teilweise richtig. Es ist anzu-
nehmen, dass die Probanden bei Versuchsbeginn bereits die Absicht hatten, den
Instruktionen des Versuchsleiters nachzukommen und damit die geforderten
Bewegungen auszuführen. Daraus ergäbe sich aber das Folgeproblem, in wel-
chem Verhältnis diese Intention zu den jeweiligen Bewegungen steht. Denn ein
Proband bewegte in sechs Versuchsreihen jeweils etwa 40 mal seinen Arm. Er
konnte dabei eine selbst gewählte Bewegung ausführen z. B. das Handgelenk
beugen oder eine Schnippbewegung mit den Fingern machen.155 Die Intention
müsste also bereits circa 240 Armbewegungen umfasst haben, wenn dem jewei-
ligen Bewegungsdrang keine eigenständige Funktion in Bezug auf die Bewe-
gungen mehr zukommen sollte.
Ein ähnlicher Einwand ergibt sich aus nachfolgenden Experimenten
Haggards und Eimers. Sie ließen ihre Probanden zwischen Bewegungen mit der
linken und der rechten Hand „frei“ wählen und zeichneten dabei neben dem
symmetrischen Bereitschaftspotential auch das sogenannte lateralisierte
Bereitschaftspotential auf. Das lateralisierte Bereitschaftspotential unterschei-
det sich von dem symmetrischen Bereitschaftspotential Kornhubers und
Deeckes dadurch, dass es die neuronale Aktivität bezogen auf eine spezifische
Bewegung widerspiegelt. Es wird nicht wie das von Kornhuber und Deecke in
der Mitte der Hemisphären, sondern seitlich über nur einer Hemisphäre
abgeleitet. Durch dieses Experiment wurden wiederum die Ergebnisse Libets
bestätigt, dass sich auch dieses Bereitschaftspotential vor dem subjektiv
erlebten Entschlusszeitpunkt aufbaut. Darüber hinaus konnten Haggard und
Eimer einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem lateralisierten
Bereitschaftspotential und dem subjektiven Erleben des Entschlusszeitpunktes
ihrer Probanden ausmachen.156 Damit wird die These gestützt, dass eine relativ
konkrete Bewegung (nämlich konkret hinsichtlich der Wahl, ob sie mit der
linken oder rechten Körperhälfte ausgeführt werden soll157) neuronal
vorbereitet wird.158

_________________
153
Siehe Walter, Neurophilosophie, S. 307; so wohl auch Hillenkamp, JZ 2005,
S. 319; NK-Schild, § 20, Rn. 7.
154
Walter, Neurophilosophie, S. 308; so auch Heun, JZ 2005, S. 856.
155
Siehe Libet et al. (1982), S. 324; Libet (1999), S. 49.
156
Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 131. Vgl. auch Mün-
te/Heinze, S. 318. Dagegen noch die Interpretation Libets (1989), S. 41 ff.
157
Eine Folgerung, die bereits die Untersuchungen Kornhubers und Deeckes naheleg-
ten, da auch sie eine relativ erhöhte Aktivität jeweils über der Hemisphäre feststellten,
die der ausführenden Körperhälfte gegenüberliegt (kontralateral). Die Aktivität der
Hemisphäre, die auf einer Seite mit der ausführenden Körperhälfte liegt (ipsilateral)
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 283

Es bliebe also auch zu klären, warum die Intention bei Beginn des Experi-
ments Ausgangspunkt für die Ausführung jeweils unterschiedlicher Bewegun-
gen sein sollte. Denn die bei Versuchsbeginn gefasste Intention enthielt sicher-
lich nicht die Entscheidung, welche Hand in den vielen Versuchsreihen jeweils
bewegt werden sollte.159 Dieser Entschluss dürfte frühestens mit Beginn des
einzelnen Versuchs entstehen. So betrachtet erscheint die ursprüngliche Inten-
tion als ungeeignet, den subjektiven Anknüpfungspunkt für die konkreten Be-
wegungen zu bilden.
Mit dem Experiment von Haggard und Eimer dürfte schließlich auch ein von
Bridgeman erhobener Einwand unhaltbar geworden sein. Er kritisierte an der
Versuchsdurchführung Libets, sie würde sich nicht mit dem „freien Willen“ der
Probanden auseinandersetzen, da dieser bereits durch die Versuchsanweisungen
eingeschränkt werde. So täten die Probanden nichts anderes, als lediglich In-
struktionen zu befolgen. Ihre Aktionen seien daher mit einem Verhalten, wie es
bei Reaktionstests gefordert wird, zu vergleichen und stellten damit keine ge-
willkürten Handlungen dar.160 Bei Wahlbewegungen verbleibt dem Probanden
aber jedenfalls eine gewisse Handlungsfreiheit. Es ist daher anzunehmen, dass
Bridgeman seinen Einwand in Anbetracht dieser neuen Erkenntnisse nicht
aufrechterhalten würde.
Die Interpretation, der unmittelbare „Bewegungsdrang“ sei bedeutungslos,
lässt sich daneben auch schwer mit unseren alltäglichen Erfahrungen in Ein-
klang bringen. Wir würden einem Menschen, der unschlüssig an der Straße
steht und einen geeigneten Zeitpunkt zum Überqueren derselben abwartet, nicht
die Kontrolle über das konkrete Ansetzen zur Überquerung absprechen, weil er
die Intention, die Straße zu überqueren, bereits bei seiner Tagesplanung zu
Hause gefasst hatte. Dies ließe sich auch, wenngleich weniger stark, gegen
Ringo einwenden. Der an der Straße stehende Mensch, der die Intention hat, die
Straße alsbald zu überqueren, würde wohl behaupten, zum konkreten Zeitpunkt
des Bewegungsbeginns aufgrund eines Willensentschlusses zu handeln.

_________________

betrug im Durchschnitt nur 75 Prozent der kontralateralen (Pflügers Archiv für die
gesamte Physiologie 284 [1965], S. 5); vgl. auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5,
S. 238.
158
Weiterführende Untersuchungen mit dem lateralisierten Bereitschaftspotential zur
Fähigkeit des Menschen auf einen Reiz hin eine geeignete Reaktion zu wählen bei
Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 250 ff.
159
Erklärt wird dies auch nicht von van de Grind, der von einer Art „Urheberschaft“
der anfänglichen Intention, den Versuchsanordnungen nachzukommen, ausgeht und den
jeweiligen bewussten Willen während der Versuche nur als einen kontrollierenden
Beobachter eines durch die Intention bereits in Gang befindlichen Prozesses versteht (s.
van de Grind [2002], S. 259 f.; ähnlich Miller/Travena [2002], S. 308).
160
Siehe Bridgeman, The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 540.
284 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Die Annahme der zitierten Kritiker Libets, die Intention zum „Mitspielen“
bereits am Beginn des gesamten Experiments sei der relevante Anknüpfungs-
punkt für die Zuschreibung der maßgeblichen subjektiven Anteile an den da-
nach vorgenommenen Einzelhandlungen, beharrt letztlich auf der Überzeu-
gung, dass dem Aufbau des Bereitschaftspotentials eine subjektive Entschei-
dung vorangehen müsse. Dieser (kausale) Zusammenhang zwischen der zuvor
gefassten Intention, den Vorgaben des Versuchsleiters Folge zu leisten, und
dem Aufbau des Bereitschaftspotentials findet allerdings keinerlei empirische
Stütze in den Ergebnissen der Versuche. Zum einen sollte der Punkt auf der
Wundtschen Komplikationsuhr bei den Experimenten Libets beziehungsweise
Haggards und Eimers eine Umdrehung gemacht haben, bevor die Bewegung
einsetzen sollte. Das heißt, jeder Bewegung gingen wenigstens 2,56 Sekunden
voran, in denen die Intention, der Versuchsanordnung Folge zu leisten, in den
überwiegenden Fällen wohl auch vorhanden war. Das Bereitschaftspotential
begann sich aber erst circa 550 Millisekunden vor den Bewegungen aufzubau-
en. Wenn man hinzunimmt, dass es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen
dem lateralisierten Bereitschaftspotential und dem erlebten Willensentschluss
gibt, ist nur schwer zu erklären, wie diese zeitliche Diskrepanz zwischen der
Intention und dem Aufbau des Bereitschaftspotentials zustande kommt. Auch
die später von Papa und seinen Kollegen durchgeführten Reaktionszeittests
sprechen gegen diese Annahme. Diesen Untersuchungen zufolge bildet sich bei
normalen Reaktionszeittests kein Bereitschaftspotential, obwohl die Probanden
auch hier zuvor zugestimmt hatten, eine bestimmte Bewegung auf ein Signal
hin auszuführen. Anders jedoch, soweit die Probanden auf das Signal hin noch
200 ms bis 1 sec. mit der Bewegung warten sollten. Hier entsteht ein Bereit-
schaftspotential.161 Diese Unterschiede lassen sich mit der vorangegangen In-
tention nicht erklären, da sie in beiden Testreihen vorhanden war.
Zum anderen hatten Haggard und Eimer – abweichend von Libet – ihre Pro-
banden aufgefordert, den Zeitpunkt anzugeben, „zu dem sie zuerst begannen,
ihre Bewegung vorzubereiten“162, der damit eigentlich dem von Ringo ins Auge
gefassten Zeitpunkt entsprechen dürfte. Dieser Zeitpunkt lag tatsächlich zeitlich
vor dem von Libet im Schnitt ermittelten, allerdings baute sich auch das Bereit-
schaftspotential entsprechend früher auf.163
_________________
161
Siehe Papa et al. (1991), S. 219 ff. Die hier als „Bereitschaftspotential“ benannte
negative Aktivität ist unter einem anderen Namen bekannt (contingent negative variati-
on [CNV]), da sie in Experimenten mit äußerem Auslöser festgestellt wurde. Sie unter-
scheidet sich aber ansonsten nicht vom Bereitschaftspotential (s. Trevena/Miller [2002],
S. 168).
162
„[...] the time at which they ‚first began to prepare the movement‘ [...]“ (Hag-
gard/Eimer, Exp Brain Res 126 [1999], S. 129); vgl. dazu Haggard/Libet (2001), S. 56.
163
Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 129 ff., u. Haggard/Libet
(2001), S. 51.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 285

Neben dieser Kritik gibt es im Zusammenhang mit der Freiheitsdiskussion


auch noch die allgemeine Überlegung, ob denn die von Walter und Ringo ins
Spiel gebrachten Intentionen vollkommen unabhängig von neurologischen
Prozessen entstehen können164; denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich
die aus den Libet-Experimenten resultierende Freiheitsproblematik wirklich
umgehen. Ansonsten stellte sich das Problem lediglich auf einer zeitlich weiter
vorgelagerten Ebene – eben dann, wenn jene Intentionen entstehen. Ginge man
davon aus, dass es zur vorangegangenen Intention ein determiniertes neurobio-
logisches Analogon gibt, dann bliebe für den Kompatibilisten, der die These
vertritt, dass Freiheit und Determinismus miteinander in Einklang gebracht
werden können, zu klären, ob ein solcher Intentionsbegriff als tragfähige Basis
für strafrechtliche Verantwortlichkeit in Betracht kommt.165
Zunächst soll die zweite Problematik im Zusammenhang mit dem subjekti-
ven Erleben ins Blickfeld gerückt werden: ob der Zeitpunkt des Ereignisses,
hier des subjektiv erlebten Dranges, die Bewegung auszuführen, introspektiv
richtig wahrgenommen und in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Zeit
gebracht werden kann.

b) Zeitliche Einordnung des subjektiv Erlebten

Die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Drang zur Bewegung verspürt
wurde, ist vielseitig angreifbar, da es sich hier nicht um ein unmittelbar mess-
bares, sondern ein rein subjektiv erfahrbares Ereignis der Introspektive handelt,
das dem Wissenschaftler nur mittelbar zugänglich ist.166 Eine Schwachstelle
könnte darin liegen, dass subjektiv Erlebtes unter Umständen nicht unmittelbar
verbal wiedergegeben werden kann.167 Dagegen spricht jedoch, dass die Pro-
banden sich nicht unmittelbar verbal zu ihrem Erleben äußern mussten, sondern
erst nachträglich hierzu befragt wurden.168 Außerdem wurde der Versuchsauf-
bau von Keller und Heckhausen sowie Haggard und Eimer auch dahingehend
variiert, dass die Probanden den Zeitpunkt ihres Bewegungsdranges nonverbal
über Eingaben in einen Computer bestimmten.169 Problematisch ist aber der
_________________
164
Wovon Walter freilich nicht ausgeht (s. Neurophilosophie, S. 159 ff.); ebenso
Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 525.
165
Dazu unten, S. 303.
166
Vgl. bspw. Breitmeyer (1985), S. 539; ders. (2002), S. 283; Davis (1987), S. 318 f.
mit Replik Libets (1987), S. 320 f.
167
Vgl. diesen Hinweis Libets in früheren Versuchen (Libet [1965], S. 79; ders.,
[1966], S. 166).
168
Siehe Libet (1985b), S. 535.
169
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 354, u. Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 129.
286 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Zeitpunkt der Visualisierung des rotierenden Punktes auf der Komplikations-


uhr.
Libet fand aufgrund seiner früheren Untersuchungen Argumente für die
Richtigkeit der zeitlichen Einordnung subjektiver Erlebnisse. Der Antedatie-
rungstheorie zufolge170 sollen ja Reizungen der Thalamusregion ebenso wie
Reizungen der Hautoberfläche im Gegensatz zu direkten Stimulationen der
Hirnrinde in der subjektiven Wahrnehmung keinen zeitlichen Verzögerungen
unterliegen. Entsprechend hatten Libets Probanden zwischen Reizungen der
Hirnrinde und der Thalamusregion deutliche Zeitunterschiede in der subjekti-
ven Wahrnehmung ausmachen können. Diese Untersuchungen sind nach Libet
ein wesentlicher Anhaltspunkt dafür, dass der Mensch hinsichtlich nur intro-
spektiv erfahrbarer Erlebnisse durchaus zu hinreichend genauer zeitlicher Be-
stimmung in der Lage ist, auch wenn die Angabe des Zeitpunktes erst im
Nachhinein erfolgt.171
Libet bemühte sich, diese These mit Hilfe der Wundtschen Komplikations-
uhr zu stützen. So forderte er die Probanden zusätzlich auf, den Zeitpunkt auf
der Uhr anzugeben, den sie wahrnahmen, wenn ihnen ein sensorischer Reiz
(Berührung der Hautoberfläche einer Hand) verabreicht wurde. Dieser Zeit-
punkt lag erstaunlicherweise im Durchschnitt 47 Millisekunden vor der tatsäch-
lichen Berührung172, was Libet jedoch als Fehler der Probanden bei der Wie-
dergabe der Zeit interpretierte.173 Ein ähnliches Ergebnis erzielte er, wenn er
seine Probanden befragte, wann sie ihre Hand zu bewegen begannen. Auch
dieser Zeitpunkt lag 86 Millisekunden vor dem mittels EMG aufgezeichneten
Zeitpunkt.
Der Antedatierungstheorie gegenüber wurden bereits Vorbehalte geäußert.174
Hier kommt nun ein zusätzliches Problem hinzu. Während die Antedatierungs-
theorie einem Versuchsaufbau entsprang, bei dem lediglich ein Vorher-nach-
her-Vergleich zwischen zwei Reizerlebnissen vollzogen wurde, musste nun ein
konkreter „Zeigerstand“ auf der Wundtschen Komplikationsuhr zum Zeitpunkt
des Erlebens angegeben werden. Das aber ruft die Problematik der visuellen
Verarbeitungszeit hervor.
Die Untersuchungen Eaglemans und Sejnowskis175 zu dieser Problematik le-
gen nahe, dass der tatsächliche Zeigerstand nicht unmittelbar wahrgenommen
wird. Berücksichtigt man diese Überlegung bei den Experimenten Libets zur
_________________
170
Dazu oben, S. 264.
171
Siehe Libet (1985b), S. 534.
172
Siehe Libet et al. (1983b), S. 631.
173
Vgl. Libet (1985b), S. 533.
174
Vgl. oben, S. 264 f.
175
Dazu oben, S. 259 ff.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 287

Genauigkeit der Zeitangabe, dann ergeben sich folgende Gedankenschritte: Die


Haut der Probanden wurde zum Zeitpunkt t = 0 gereizt. Die Annahme ist, dass
ein Hautreiz (h) eine unbekannte Zeit (t?) benötigt, um wahrgenommen zu
werden. Um herauszufinden, wann die Probanden den Hautreiz wahrnahmen
(wh), sollten sie angeben, wo sich ein rotierender Punkt zum Zeitpunkt ihrer
Wahrnehmung des Hautreizes befand (Abb. 1). Den Untersuchungen Eagle-
mans und Sejnowskis zufolge nehmen die Probanden nicht den tatsächlichen,
sondern einen „veralteten“ Zeigerstand wahr, weil die visuelle Wahrnehmung
dem tatsächlichen Geschehen immer „hinterhinkt“. Wir nehmen der Einfach-
heit halber, und weil dies dem wahren Wert in etwa entsprechen dürfte176, an,
dass die Wahrnehmung des rotierenden Punktes 100 ms benötigt. Zum Zeit-
punkt der Wahrnehmung des Hautreizes (wh) wurde der rotierende Punkt von
den Probanden also dort wahrgenommen, wo er sich vor 100 ms befand
(Abb. 2). Gaben die Probanden zum Zeitpunkt der Wahrnehmung des Hautrei-
zes (wh) für den rotierenden Punkt einen Ort an, an dem er sich 47 ms vor der
Reizung der Haut (h) befand, dann ergibt sich, dass die Hautreizung nach 53 ms
(47+53=100) von den Probanden wahrgenommen wurde (Abb. 3).

Übertragen auf das Erleben eines Bewegungsbeginns hieße dies: Wenn der
Bewegungsbeginn zum Zeitpunkt t = 0 stattfand und die Probanden zum Zeit-
punkt der Wahrnehmung der Bewegung den rotierenden Punkt auf einer Posi-
tion sahen, auf der er sich 86 ms vor der Bewegung befunden hatte, dann hätten
sie den Bewegungsbeginn 14 ms nach der Bewegung wahrgenommen. Der
Bewegungsbeginn hätte auf jeden Fall weniger Zeit als der Hautreiz benötigt,
um erlebt zu werden, wenn man davon ausgeht, dass die Verarbeitungszeit der
visuellen Wahrnehmung bei beiden Versuchen konstant geblieben ist.177 Mög-
lich ist natürlich auch, dass diese Zeitspanne größer oder kleiner ist, also bei-
spielsweise 150 oder 86 Millisekunden. Im letzteren Fall würde der wahrge-
nommene Bewegungsbeginn mit dem tatsächlich gemessenen Bewegungsbe-
ginn zusammenfallen, was bei intern hervorgerufenen Ereignissen jedenfalls
nicht unplausibel erscheint, auch wenn dies hier spekulativ bleiben muss.
Nach der Latency-difference-Theorie178 würde sich der von den Probanden
angegebene Zeitpunkt vor dem tatsächlichen Ereignis ebenfalls aus einer ge-
wissen Verarbeitungszeit erklären, weshalb man diese Zeitangabe nach beiden
_________________
176
Vgl. oben, S. 252, bei und in Fn. 45.
177
Vgl. auch Pockett (2002a), S. 158 f.
178
Vgl. oben, S. 258.
288 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Theorien nicht, wie Libet, als Fehler interpretieren müsste. Mit der Extrapola-
tionstheorie179 würden die Probanden hingegen annähernd den „richtigen“
Zeigerstand wahrnehmen, auch wenn es sich bei der Wahrnehmung lediglich
um eine vom Gehirn vorgenommene fiktive Vorausberechnung handelt.
Nach diesen Vorüberlegungen stellt sich nun die eigentliche Frage, was dies
für die Wiedergabe des Zeitpunktes des subjektiv wahrgenommenen „Willens-
entschlusses“ bedeutet. Breitmeyer und Klein halten eine Verarbeitungszeit
auch bei inneren Vorgängen wie dem Erleben eines Willensentschlusses für
möglich.180 Bittner kommt über die Annahme einer solchen Verarbeitungszeit
zu dem Ergebnis, dass es das Bereitschaftspotential ist, was den bewussten
Willensentschluss repräsentiert und das Erleben des Willensentschlusses eine
Art „Herausfinden“ ist, dass man eine Entscheidung getätigt hat.181 Was hier
gemessen werden könnte, wären allenfalls die Gehirnvorgänge, die das erst
später reflexiv bewusste Erleben eines Willensentschlusses quasi „einleiten“.
Kann dann aber das Einsetzen dieser Gehirnvorgänge als Zeitpunkt des „tat-
sächlichen“ Willensentschlusses gedeutet werden? Sicher nicht, denn das Erle-
ben eines Willensentschlusses ist eine subjektive Erfahrung, die zwar mit be-
stimmten Gehirnvorgängen einhergeht, die sich aber nicht auf einen Gehirn-
vorgang reduzieren lässt.182
Eine Vorverlagerung des Zeitpunktes des (reflexiv) bewussten Willensent-
schlusses auf diesen gegebenenfalls einleitende Gehirnvorgänge ergibt daher
im Hinblick auf die hier interessierende Frage der willentlichen (im Sinne von
reflexiv bewussten) Verhaltenssteuerung nur dann einen Sinn, wenn man mit
dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne annehmen könnte,
dass der Aufbau des Bereitschaftspotentials durch ein Bewusstsein bedingt ist,
das in der Erinnerung nicht festgehalten wird und deshalb für den Handelnden
_________________
179
Dazu oben, S. 258.
180
„No such scales or techniques were available to measure the magnitude of inter-
nally generated stimuli like intentions“ (Breitmeyer [2002], S. 283). Diese These korre-
liert mit der Differenzierung Armstrongs (s. Armstrong, Theory, 6/VI; ders., Nature,
S. 197 ff.) zwischen Bewusstsein und Bewusstsein vom Bewusstsein und führt zu der
spekulativen Annahme, dass, ähnlich der Zeitspanne zwischen der mentalen Repräsenta-
tion eines äußeren Reizes und dessen Wahrnehmung, eine ungewisse Zeitspanne zwi-
schen dem Willensentschluss und dem Bewusstsein vom Willensentschluss eingeräumt
werden müsse (so auch Gomes [1999], S. 68; ders., [2002a], S. 226). Dagegen wird eine
solche Differenzierung von Rosenthal abgelehnt, weil es zum Bewusstsein von etwas
gehöre, dass es im Sinne Armstrongs selbstbewusst ist (s. Rosenthal, Concepts,
S. 329 ff., 347). In diesem Sinne dürfte auch Klein (2002b), S. 275 f., zu verstehen sein.
181
Siehe Bittner (1996), S. 337.
182
Als „Reduktionismus“ wird daher auch die Ansicht bezeichnet, subjektives Erle-
ben lasse sich mit neuronalen Vorgängen in einer bestimmten Weise gleichsetzen. Kri-
tisch Roth, DZPhil 53 (2005), S. 693 ff. Vgl. auch die Ausführungen unten, S. 300 f.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 289

subjektiv nicht existiert.183 Dies ist freilich eine rein spekulative Annahme.
Falls aber doch zu diesem Zeitpunkt der bewusste Willensentschluss stattge-
funden haben sollte, wäre zu klären, warum die Probanden einen Zeitpunkt
nannten, der 300 Millisekunden nach diesem Willensentschluss lag. Eine be-
friedigende, insbesondere überprüfbare Antwort wird es hierauf schwerlich
geben. Dennoch soll die Möglichkeit eines sofort in Vergessenheit geratenen
Bewusstseins nicht verworfen werden. Will man aber wissen, was die Proban-
den als ihr eigenes subjektives Erleben bezeichnen, dann wird man zwangsläu-
fig auf ihren Äußerungen aufbauen müssen, was, wie Libet selbst hervorgeho-
ben hat, natürlich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des Ergebnisses beste-
hen lässt. Eine absolute Sicherheit sei andererseits selbst mit rein physikali-
schen Untersuchungen nicht zu erzielen.184
Der Zeitpunkt, der dann interessiert, ist somit der der Wahrnehmung des
Zeigerstandes der Komplikationsuhr, als die Probanden den Willensentschlus-
ses nach ihren eigenen Angaben erlebten. Mit der Extrapolationstheorie ergä-
ben sich hier keinerlei Probleme, denn der wahrgenommene Zeigerstand ent-
spräche, wie dies auch Libet aufgrund seiner Antedatierungstheorie annimmt185,
dem tatsächlichen. Nimmt man dagegen an, dass der Zeigerstand eine gewisse
Verarbeitungszeit benötigt, um bewusst zu werden, der Proband also ein „veral-
tetes“ Bild wahrnimmt, dann hieße dies, dass der Zeitpunkt, zu dem der Wil-
lensentschluss erlebt wurde, tatsächlich später lag, als Libet annimmt; also noch
näher an der Bewegungsausführung und entsprechend weiter vom Einsetzen
des Bereitschaftspotentials entfernt. An der Gesamtinterpretation des Ergebnis-
ses würde dies ersichtlich nichts ändern, da das Bereitschaftspotential noch
immer vor dem subjektiven Bewegungsentschluss einsetzte.186
Joordens und seine Kollegen führten dagegen ein Experiment aus, das nahe-
legen sollte, die Probanden in Libets Experiment hätten einen späteren als den
tatsächlichen Zeitpunkt ihres Willensentschlusses angegeben. Die Probanden
sahen auf einem blauen „Zeigerblatt“, ähnlich der Wundtschen Komplikations-
uhr, einen weißen Punkt rotieren. Das Zeigerblatt wechselte seine Farbe zu
irgendeinem Zeitpunkt von blau nach gelb bei fortlaufender Rotation des Punk-
tes. Die Probanden sollten anschließend anhand der Position des rotierenden
_________________
183
Dazu Dennett/Kinsbourne (1992), S. 197.
184
Siehe Libet (1992), S. 256; vgl. auch Libet (1965), S. 79 und Libet (1985b),
S. 559. Zu den Problemen experimenteller Integration der Introspektive auch Roth et al.,
Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 6 ff.
185
Siehe Libet (1985b), S. 559.
186
So auch Klein (2002b), S. 276; Pockett (2002a), S. 158. Anders van de Grind,
demzufolge die Position des rotierenden Punktes in der Wahrnehmung der Probanden
im Vergleich zu seiner tatsächlichen Position in die Zukunft verschoben sein soll (s. van
de Grind [2002], S. 258).
290 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Punktes den Zeitpunkt bestimmen, zu dem der Farbwechsel erfolgte. Die Pro-
banden nahmen, ihrer Angabe über die Position des Punktes zufolge, den
Farbwechsel 65 bis 70 Millisekunden später wahr, als er tatsächlich eingetreten
war.187 Joordens und seine Kollegen nehmen an, dass der rotierende Punkt auf
der Komplikationsuhr in der Erinnerung der Probanden „nach vorne“ verscho-
ben (extrapoliert) wird. Übertragen auf das Libet-Experiment hieße dies ihrer
Ansicht nach, dass der Willensentschluss der Probanden tatsächlich vor der
Zeit, die sie angaben, und gegebenenfalls auch vor Beginn des Aufbaus des
Bereitschaftspotentials erfolgte.188
Nach dem bisher Gesagten gibt es für die von Joordens und seinen Kollegen
festgestellte Verzögerung eine naheliegende Erklärung: Der rotierende Punkt
stellt ein sich konstant bewegendes Objekt dar. Der plötzlich auftretende Farb-
wechsel von blau nach gelb könnte dagegen den Effekt des „Blitzes“ aus den
Flash-lag-Versuchen auslösen. Das heißt, dass nach der Theorie von Eagleman
und Sejnowski189 mit dem Farbwechsel die kontinuierliche Verarbeitung des
rotierenden Punktes unterbrochen und seine Position neu bestimmt wurde.
Durch diese Unterbrechung kommt es, wie in den Flash-lag-Versuchen, zum
Fröhlich-Effekt; der rotierende Punkt taucht also erst nach einer gewissen Zeit-
spanne wieder auf, wird aber an dieser späteren Stelle als gleichzeitig mit dem
Farbwechsel wahrgenommen. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Zeit-
punkt des Farbwechsels und dem anhand der wahrgenommenen Position des
Punktes ermittelten Zeitpunkt betrug bei Joordens und seinen Kollegen mindes-
tens circa 66,8 Millisekunden190 (Eagleman und Sejnowski gingen von einer
Verarbeitungszeit von mindestens circa 67 Millisekunden aus191). Dass ein
solcher „Flash lag“ – und es ist sehr wahrscheinlich, dass es genau dieses Phä-
nomen ist, was Joordens und seine Kollegen hier festgestellt haben – bei den
Libet-Experimenten hervorgerufen wurde, erwägt auch Klein. Seiner Meinung
nach könnte der subjektiv erlebte Willensentschluss auf die Wahrnehmung des
rotierenden Punktes den gleichen Einfluss haben wie ein Lichtblitz.192 Der
genaue Zeitpunkt des subjektiv erlebten Willensentschlusses ist deshalb von so
großem Interesse, weil jedenfalls sein Verrücken hin zum Bereitschaftspotential
die Möglichkeit eröffnen würde, die Abfolge „Aufbau des Bereitschaftspoten-
tials – Willensentschluss“ anzuzweifeln. Wenn man davon ausgeht, dass der
_________________
187
Siehe Joordens et al. (2002), S. 235 ff.
188
Siehe Joordens et al. (2002), S. 238.
189
Dazu oben, S. 259 ff.
190
Vgl. Joordens et al., ebd.
191
Vgl. oben, S. 261.
192
Siehe Klein (2002b), S. 275 f. Das Bewusstwerden eines inneren Zustands in Ana-
logie zur Wirkung eines „Lichtblitzes“ auf die Wahrnehmung zu deuten, ist methodisch
durchaus nicht zweifelsfrei, doch mag das hier auf sich beruhen.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 291

rotierende Punkt tatsächlich erst nach circa 70 Millisekunden, aber dennoch


zeitgleich mit dem Willensentschluss wahrgenommen wird, dann wird aber
schnell deutlich, dass diese Zeit nicht annähernd an die 350 Millisekunden
heranreicht, die nach Libet zwischen dem Aufbau des Bereitschaftspotentials
und der Zeitangabe in Bezug auf den Willensentschluss liegt. Diese Überlegung
verlagert den Zeitpunkt des erlebten Willensentschlusses damit zwar nach vor-
ne, aber nicht vor den Beginn des Bereitschaftspotentials.

c) Messung des Bereitschaftspotentials

Aus diesem Grunde haben Trevena und Miller sich vorrangig auf den Zeit-
punkt des Aufbaus des Bereitschaftspotentials konzentriert. Sie haben zunächst
das lateralisierte Bereitschaftspotential zum Gegenstand ihrer Untersuchungen
gemacht und hier mit etwas anderen Berechnungen, als Haggard und Eimer sie
vorgenommen hatten, ein mittleres Einsetzen desselben nur 300 Millisekunden
vor der Bewegung errechnet. In einem weiteren Schritt stellten sie fest, dass 20
Prozent der „Willensentschlüsse“ vor diesem Zeitpunkt lagen. Im Durchschnitt
wurden die Willensentschlüsse dagegen 122 Millisekunden vor der Bewegung
und damit nach Einsetzen des lateralisierten Bereitschaftspotentials erlebt. In
Bezug auf das symmetrische Bereitschaftspotential konnten Trevena und Miller
keinerlei erlebte Willensentschlüsse vor dem Einsetzen desselben registrieren.
In einem dritten Schritt legten sie die Annahme zugrunde, dass sich die Pro-
banden aufgrund der Instruktionen des Versuchsleiters bereits vor ihrer Bewe-
gung entschlossen haben mussten, eine Bewegung auszuführen. Da die For-
scher in 40 Prozent der Versuche Zeitangaben erhielten, wonach der Willens-
entschluss erst später auftrat als der Bewegungsbeginn, zogen sie den Schluss,
dass diese Angaben jedenfalls falsch sein mussten. Aus den 20 Prozent der
Willensentschlüsse, die vor dem Einsetzen des mittleren lateralisierten Bereit-
schaftspotentials registriert wurden, folgerten sie schließlich, dass es damit
möglich wäre, dass sich das lateralisierte Bereitschaftspotential immer erst als
Folge des subjektiv erlebten Willensentschlusses aufbaut.193
Libet hatte zwar selbst auf die Fehleranfälligkeit subjektiver Angaben über
das innere Erleben hingewiesen, es ist ihm jedoch nicht begreiflich, wieso Tre-
vena und Miller die immerhin 80 Prozent der Willensentschlüsse, die nach dem
Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials erlebt wurden, ignorieren und
ihre Folgerungen auf die restlichen 20 Prozent stützen.194 Und natürlich muss
man sich fragen, warum, wenn Trevena und Miller in immerhin 40 Prozent
ihrer Versuche von fehlerhaften Angaben ihrer Probanden ausgehen, von ihnen
_________________
193
Trevena/Miller (2002), S. 177 ff.
194
Siehe Libet (2002), S. 293.
292 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

nicht eher die 20 Prozent der Willensentschlüsse vor dem Einsetzen des latera-
lisierten Bereitschaftspotentials als Irrtümer ausgelegt wurden. Außerdem ist in
Betracht zu ziehen, dass die visuelle Verarbeitungszeit bei der Zeitangabe des
Willensentschlusses auch die von Trevena und Miller ausgemachten 20 Prozent
Willensentschlüsse vor dem Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials
angreifen könnte.195
Abgesehen davon, präsentieren Trevena und Miller ihre Ergebnisse zwar so,
als hätten sie für diese konkreten 20 Prozent der Willensentschlüsse festgestellt,
dass diesen der Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials nachfolgte;
aus ihren Berechnungen ergibt sich dies aber nicht.196 Danach ist keineswegs
ausgeschlossen, dass in diesen 20 Prozent das lateralisierte Bereitschaftspoten-
tial früher als 300 Millisekunden und damit auch vor diesen konkreten Willens-
entschlüssen einsetzte. Dies stünde jedenfalls im Einklang mit den Untersu-
chungen Libets und Haggards und Eimers, bei denen ein früher Willensent-
schluss, also einer, der relativ weit vor dem Bewegungsbeginn lag, mit einem
frühen Aufbau des Bereitschaftspotentials und ein später Willensentschluss
entsprechend mit einem späten Aufbau des Bereitschaftspotentials einherging.
Die Experimente Trevenas und Millers können damit die auch von anderen
Wissenschaftlern bestätigten Ergebnisse Libets nicht erschüttern. Ihre Untersu-
chungen werden sogar als Bestätigung des Libet-Experiments angesehen.197 Es
bleibt anzumerken, dass Trevena und Miller trotz ihrer Kritik keineswegs die
These anzweifeln, dass jeder bewussten Entscheidung kausale unbewusste
Gehirnaktivitäten vorangehen.198

3. Ontologisch-dualistische Interpretationen

Nach Libets Interpretation besagen seine Ergebnisse, dass eine Willkürhand-


lung neuronal vorbereitet wird, bevor ein hierauf bezogener subjektiver Ent-
schluss erlebt wird. Das Initiieren der Willkürhandlung geschehe damit unbe-
wusst.199 Wird eine willkürliche Handlung jedoch bereits vor dem subjektiven
Entschluss hierzu vorbereitet, dann kann es nicht dieser Wille des Menschen
sein, der die Entscheidung über die Handlungsinitiation trifft. Der Unterschied
zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen würde sich, neben
_________________
195
So auch Klein (2002b), S. 274.
196
Gemeint sind die Auswertungen von Figure 4 in Trevena/Miller (2002), S. 176–
178.
197
So Joordens et al. (2002), S. 232.
198
Miller/Trevena (2002), S. 312; so auch Pockett (2002b), S. 323; Gomes (1999),
S. 59.
199
Siehe Libet (1985b), S. 536; Libet (1992), S. 263; Libet (1999), S. 51; vgl. auch
Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 15.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 293

den Differenzen in der Amplitude des Bereitschaftspotentials, darauf reduzie-


ren, dass willkürlichen Bewegungen ein Bewusstsein in Bezug auf die Bewe-
gung vorausgeht, unter Umständen begleitet von einem Entscheidungserlebnis,
unwillkürlichen Bewegungen dieses Bewusstsein hingegen entweder nachfolgt
oder überhaupt nicht eintritt. Ein minimaler Unterschied, so scheint es, der
unsere Intuition, willentliche Kontrolle über unsere Bewegungen auszuüben,
schwerlich zu stützen vermag.
Sowohl Libet selbst als auch Eccles haben deshalb jeder für sich unter-
schiedliche Erklärungsansätze entwickelt, um der geistigen Freiheit in diesem
Modell einen Platz einzuräumen.

a) Eccles und der selbstbewußte Geist

Eccles interpretiert zunächst die Experimente Kornhubers und Deeckes so,


„daß das Wollen einer Aktion zu einem ausgedehnten negativen Potential über
den Scheitel des Gehirns führt, das sich während fast einer Sekunde aufbaut
und sich schließlich auf die Pyramidenzellen konzentriert, die für die Aktion
zuständig sind“.200 Woraus er folgert: „Das Bereitschaftspotential kann als die
neuronale Konsequenz des Willenskommandos betrachtet werden.“201 Es blieb
damit zu erklären, wie der Wille neuronale Ereignisse initiiert.202 Eccles war
die Komplexität des neuronalen Zusammenspiels, die erforderlich ist, um eine
feinmotorische Bewegung auszulösen, bekannt. Allein 200.000 Motoneuronen
im Rückenmark seien für die Kontraktionen der Muskeln mit Ausnahme des
Kopfes zuständig.203 Er äußerte deshalb: „Es ist bemerkenswert, daß wir lernen
können, einzelne Motoneurone in Arm oder Beinmuskeln zu aktivieren und
einmal das eine und einmal das andere willkürlich zu betätigen.“204 Die Anzahl
der im Gehirn insgesamt vorhandenen Neuronen wird heute auf hundert Milli-
arden bis eine Billion geschätzt.205 Mit entsprechend großer Verwunderung
ließe sich fragen, wie es der Mensch anfängt, physiologisch derart komplexe
Aufgaben wie Bewegungsausführungen oder Nachdenken in allen neuronalen
Einzelheiten willentlich zu initiieren und zu kontrollieren.
Eccles selbst sieht sich zu einer wissenschaftlichen Erklärung zunächst nicht
in der Lage.206 Er greift daher zu einem Konstrukt, dem „selbstbewussten
_________________
200
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 337.
201
Eccles in Popper/Eccles, S. 347; ders., Selbst, S. 237.
202
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 337.
203
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 341.
204
Eccles, ebd.
205
Siehe Roth, Grundlagen, S. 167.
206
Eccles in Popper/Eccles, S. 345.
294 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Geist“. Dieser repräsentiert die subjektive Welt des Menschen mit dessen per-
sönlichem Wissen, seinen Erfahrungen und Wahrnehmungen von sich und der
Außenwelt. Darüber hinaus steht er über das Gehirn in Wechselwirkung mit der
objektiven „äußeren“ Welt und stellt auf diese Weise die Verbindung zwischen
Geist und Materie her. Diesem selbstbewussten Geist ist es nach Eccles mög-
lich, über Module der Großhirnrinde das Bereitschaftspotential hervorzuru-
fen.207 Dies bestätige sich empirisch durch die Experimente Kornhubers, auch
wenn sie über die Entstehung des selbstbewussten Geistes keinen Aufschluss
geben könnten.208 Der mentale Vorsatz werde durch eine momentane Zunahme
der Wahrscheinlichkeit einer Exozytose in ausgewählten Bereichen der motori-
schen Neuronen neural wirksam. 209 Ferner sei es dem selbstbewussten Geist
möglich, kontrollierend und interpretierend auf neuronale Ereignisse im Hirn
einzuwirken.210 Es existierten indes keine Experimente, die den Einfluss menta-
ler Ereignisse auf eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Exozytose bestä-
tigen könnten.211
Eccles sieht dieses Konstrukt durch die Experimente Libets nicht gefährdet.
Denn durch die Messung des Bereitschaftspotentials bestätige sich dessen Wir-
kung. Da die Probanden ihren Willensentschluss erst nach dem Aufbau des
Bereitschaftspotentials erlebten, wirke ihr Wille zuvor unbewusst.212

b) Kritik

Wenn sich zuvor die Frage stellte, wie der Mensch Kontrolle über die neuro-
nalen Vorgänge in seinem Gehirn ausüben kann213, so stellt sich nun mit dieser
Theorie die weitere Frage der Beeinflussung des selbstbewussten Geistes, der
wegen seiner Komplexität und der offenbar unbeeinflussten Initialfunktion
seines Tätigwerdens ebensowenig bewusster menschlicher Kontrolle unterlie-
gen könnte wie das Gehirn. Es entsteht damit entweder ein Problem des infini-
ten Regresses oder es müsste erklärt werden, woher dieser Geist kommt. In
jedem Fall bleibt ungeklärt, wie ein solcher Geist gewissermaßen ex nihilo
_________________
207
Konkret über die supplementären motorischen Areale (SMA) (s. Eccles, Arch
Psychiatr Nervenkr 231 [1982], S. 437 ff.).
208
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 338.
209
Siehe Eccles, Selbst, S. 234. Zur Erläuterung des Begriffs „Exozytose“ vgl. oben,
S. 242.
210
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 436.
211
Siehe Eccles, Selbst, S. 216.
212
Siehe Eccles, The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 542.
213
Fraglich ist zudem, ob man überhaupt von „Kontrolle“ sprechen kann, wenn selbst
für die Gehirnforschung bis dato die neuronalen Zusammenhänge zwischen einzelnen
Hirnarealen bei einer Willkürhandlung nicht umfassend geklärt sind.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 295

Materie beeinflussen könnte. „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern


den Austausch von Energie. Wenn also das Immaterielle Energie aufbringen
muß, um neuronale Vorgänge zu beeinflussen, dann muß es über Energie ver-
fügen. Besitzt es aber Energie, dann kann es nicht immateriell sein und muss
den Naturgesetzen unterworfen sein.“214 Schließlich sind diese Annahmen auch
nicht geeignet, subjektive Intuition mit der Gehirnforschung in Einklang zu
bringen, denn es wird keine bewusste, sondern lediglich eine unbewusste geis-
tige Kontrollinstanz eingerichtet, die der menschlichen Erfahrung nicht zugäng-
lich ist. Daneben ist sie auch experimentell nicht nachweisbar und ist damit
wohl nicht mehr als metaphysische Spekulation.215

c) Die Vetotheorie

Für Libet stellte sich die Frage, warum der Mensch überhaupt ein Bewusst-
sein dieser Art entwickelt, wenn es nach dem Gesagten eine scheinbar unnütze
Begleiterscheinung216 darstellt. Er folgert, dass das vor der Handlung einset-
zende Bewusstsein dem Menschen eine „Vetomöglichkeit“ eröffne, die einge-
leitete Handlung noch abzubrechen.217 Da das Bewusstsein im Schnitt bereits
200 Millisekunden und das sogenannte Final-motorische-Potential erst circa 50
Millisekunden vor der Bewegung einsetze, bleibe Libet zufolge für ein Veto
des Bewusstseins eine hinreichend große Zeitspanne.218 Der Mensch würde
danach seine Handlungen zwar nicht initiieren, wäre aber in der Lage, sie ab-
zubrechen und damit auf diese Weise zu kontrollieren.219

d) Experimentelle Überprüfbarkeit

Libet fühlte sich durch eine von ihm selbst als unzureichend empfundene
Versuchsanordnung bestätigt. Er forderte fünf Probanden in zehn Sitzungen zu
je 40 Versuchen auf, sich zwar auf die willkürliche Bewegung eines Fingers
_________________
214
Singer, Grenzen, S. 285.
215
In diesem Sinne scharf kritisch auch Carrier/Mittelstraß, Geist, Gehirn, Verhalten,
S. 131 f. m. w. N.; vgl. auch Birnbacher, EuS 6 (1995), S. 84.
216
Diese Theorie ist auch bekannt als sog. „Epiphänomenalismus“ (vgl. dazu unten,
S. 324 f). Ablehnend Roth/Schwegler, EuS 6 (1995), S. 76.
217
Siehe Libet (1985b), S. 538.
218
Siehe Libet (1985b), S. 536 f.; ders. (2005), S. 177 ff.
219
Ähnlich sieht auch Eccles die Funktionsweise seines „selbstbewussten Geistes“.
Dieser übe keine direkte Aktion auf die motorischen Pyramidenzellen aus (s. Pop-
per/Eccles, S. 439), sondern wirke interpretierend und kontrollierend auf die neuronalen
Ereignisse (s. in Popper/Eccles, S. 436; ders., The Behavioral and Brain Sciences 8
[1985], S. 543).
296 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

einzustellen, diese Intention jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt abzubre-


chen. Es stellte sich dabei heraus, dass genau wie vor einer tatsächlichen Be-
wegung eines Fingers ein Bereitschaftspotential zunächst aufgebaut wurde.220
Libet sieht sich darüber hinaus darin bestätigt, einen Abbruch des Bereit-
schaftspotentials zu der von ihm vorgegebenen Zeit ausmachen zu können.221
Er gibt dabei jedoch zu bedenken, dass die Versuchsanordnung verändert wer-
den müsste, um tatsächlich einen Rückschluss auf ein „freies Veto“ zuzulassen.
So müsste zunächst ein Bereitschaftspotential erzeugt werden, das auf „natürli-
chem“ Wege, das heißt zu einer tatsächlich intendierten Handlungsvorbereitung
entsteht. Dieses müsste daraufhin durch einen plötzlichen internen Entschluss
abgebrochen werden. Jede Einwirkung von außen würde hingegen interferieren
mit der Idee einer vollkommen freien Entschlussfassung und wäre auch tech-
nisch derzeit wegen zu großen Hintergrundrauschens bei der EEG-Messung
nicht durchführbar.222 Ähnlich wie Eccles schwebt Libet der experimentelle
Beweis eines möglichen „bewussten mentalen Feldes“ vor, welches es dem
Bewusstsein erlaubt, ohne neuronale Mittler direkt auf das neuronale Netz des
Gehirns einzuwirken. Zu seinem eigenen Bedauern steht ein solches Experi-
ment jedoch noch aus223, womit aber seine Theorie der Vetomöglichkeit auch
nicht widerlegt sei.224
Libet interpretiert seine Ergebnisse deshalb so, dass sie der Idee eines freien
Willen nicht entgegenstünden, sondern lediglich eine neue Sicht auf die Funk-
tionsweise des freien Willens lieferten. Allerdings könne man nach dieser Sicht
die Menschen nicht mehr für ihre Gedanken moralisch oder ethisch verurteilen.
Auf diese hätten sie keinen Einfluss, da der „Wille“, nämlich der Drang zur
Bewegung, nicht unterdrückt werden könne.225 Nur die gegebenenfalls nachfol-
gende Bewegungsblockade oder eben deren Unterbleiben könne Gegenstand
einer normativen Beurteilung sein.

e) Empirische Einwände

Der Vetotheorie Libets widersprechen zunächst Erkenntnisse aus neueren


Untersuchungen. Die Neurowissenschaftler Praamstra und Kollegen fanden
heraus, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials bei Vorgabe einer be-
_________________
220
Zum Vergleich hirnphysiologischer Vorgänge bei vorgestellten und ausgeführten
Bewegungen siehe Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 260 ff.
221
Vgl. Libet et al. (1983a), S. 369; Libet (1985b), S. 537.
222
Siehe Libet (1985b), S. 538.
223
Vgl. Libet (1999), S. 56; ders. (2005), S. 212 ff. Ein Problem, das er mit Eccles
teilt.
224
Siehe Libet (1992), S. 270.
225
Siehe Libet (1985b), S. 538 f.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 297

stimmten Bewegung immer niedriger ausfiel als bei Wahl- beziehungsweise


Willkürbewegungen. Einzusetzen begannen die jeweiligen Bereitschaftspoten-
tiale jedoch gleichzeitig, wobei die elektrische Aktivität an verschiedenen Stel-
len des Kopfes gemessen wurde.226 Diese Untersuchungen wurden auch von
anderen Wissenschaftlern bestätigt.227 Touge und seine Kollegen interessierten
sich insbesondere für die Unterschiede der kortikalen Potentiale228 (die nun
gemeinhin in Verbindung mit der Bewegung gebracht wurden) bei Parkinson-
patienten und einer „normalen“ Vergleichsgruppe. Dabei heben sich Parkin-
sonpatienten, die an einer Unterproduktion des Neuromodulators Dopamin in
Neuronen der Substantia nigra229 leiden, dadurch hervor, dass sie aus eigener
Initiative kaum spontane Handlungen ausführen können (Akinesie). Hierzu
bedarf es regelmäßig eines externen Motivators wie zum Beispiel eines rhyth-
mischen Händeklatschens. Zum Vergleich ließen Touge und seine Kollegen
beide Gruppen zunächst eine bestimmte Bewegung an einem Joystick wieder-
holt ausführen. Anschließend stellen sie ihnen frei, in welche von vier mögli-
chen Richtungen sie den Joystick bewegen wollten. Wie bei der Untersuchung
Praamstras fiel bei der Vergleichsgruppe die höhere Amplitude bei den Wahl-
bewegungen im Gegensatz zu den wiederholten Bewegungen auf. Dagegen trat
dieser Unterschied bei den Parkinsonpatienten nicht auf. Bei ihnen blieb die
Amplitude durchgängig auf dem Niveau der wiederholten Bewegungen, ob-
wohl sie den Versuch der Anweisung entsprechend durchgeführt hatten.230
Diesen Unterschied brachte Touge mit der Unfähigkeit dieser Patientengruppe
zu endogen motivierten Handlungen in Zusammenhang.231 Daneben untersuch-
te er auch die Amplituden der Vergleichsgruppe genauer. Während Keller und
Heckhausen angenommen hatten, dass sich der Unterschied der Amplituden
dadurch erklären lasse, dass bei frei gewählten Bewegungen neuronale Aktivi-
täten aus dem motorischen Supplementärfeld (SMA), die ungefähr 250 Millise-
kunden vor der Bewegung beginnen, zu den gemessen Aktivitäten hinzukämen
und so die größere Amplitude auslösten232, fand Touge heraus, dass sich zwar
die Amplituden unterscheiden, dies aber über den gesamten Zeitraum hinweg
gleichmäßig.233 Es gibt also keinen sprunghaften Anstieg der Amplitude kurz
_________________
226
Siehe Praamstra et al., Exp Brain Res 103 (1995), S. 429 ff.
227
Vgl. Touge et al., Ann Neurol 37 (1995), S. 791 ff.; Dirnberger et al., Exp Brain
Res 120 (1998), S. 263 ff. Dazu auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 235 ff.
228
Vgl. dazu oben, S. 242.
229
Die Substantia nigra gehört zu den Basalganglien (zur Funktion der Basalganglien
bei Willkürhandlungen unten, S. 299).
230
Siehe die Abbildung in Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 795.
231
Siehe Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 798 f.
232
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 358 ff.
233
Siehe Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 793 ff.
298 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

vor der Bewegung. Die Unterschiede in den Potentialen lassen sich schon mit
deren Aufbau messen.
Wenn aber bereits mit dem Einsetzen des Bereitschaftspotentials bestimmte
Modalitäten der Bewegungsausführung neuronal „berücksichtigt“ sind234, dann
ist es nicht das erst später einsetzende Bewusstsein, das hierüber entscheidet. Es
könnte im Gegenteil auch der Bewusstseinsinhalt bereits mit dem Aufbau des
Bereitschaftspotentials beeinflusst sein. Denn geht man davon aus, dass sich die
Amplituden der Potentiale bei unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen
bereits vor dem Zeitpunkt des Einsetzens des „Bewegungsdrangs“ bei den
willkürlichen Bewegungen unterscheiden, dann kann auch das Einsetzen bzw.
Ausbleiben des „Bewegungsdrangs“ bereits feststehen, bevor er selbst verspürt
wird.
In diese Richtung weisen auch die Versuche von Haggard und Eimer. Der
zeitliche Zusammenhang zwischen dem Einsetzen des lateralisierten Bereit-
schaftspotentials und dem „Entschlusszeitpunkt“ legt nämlich nahe, dass auch
das Bewusstsein selbst von dieser „Vorauswahl“ beeinflusst sein könnte. Hag-
gard und Eimer nehmen daher an, dass sich der „Entschluss“ ihrer Probanden
bereits auf die spezifisch vorbereitete Bewegung beziehen müsse, der seiner-
seits abhängig von dem lateralisierten Bereitschaftspotential sei.235 In diesem
Fall könnte von einem „Veto“, wie es Libet annimmt, nicht mehr gesprochen
werden, denn dann hätte der „Wille“ selbst schon keine Wahl mehr und sein
Entstehen hinge seinerseits von neuronalen Bedingungen ab.

f) Grundsätzliche Kritik

Aber auch wenn man von den späteren Untersuchungen zum lateralisierten
Bereitschaftspotential absieht, stellt sich allgemein die Frage, wie ein Veto
gegen eine bereits spezifisch eingeleitete Bewegung aussehen sollte. Aus den
Untersuchungen Libets ergibt sich, dass eine Bewegung ursächlich auf unbe-
wusste Prozesse im Gehirn zurückzuführen ist. Ein Veto müsste in der Lage
sein, diesen Kausalzusammenhang zu durchbrechen und damit eine erneute
Ursache für das Unterlassen der Bewegung bilden. Gerhard Roth und seine
Kollegen schließen eine kausale Funktion der neuronalen Korrelate (!) der
subjektiv erlebten Entschlussfassung für die Handlungsausführung nicht aus.
Alternativ sei denkbar, dass die Handlungsausführung hiervon unabhängig
zustande kommt und das subjektive Erleben des Handlungsentschlusses nur
eine Nebenfolge darstellt, deren neuronales Korrelat lediglich dafür sorgt, dass
_________________
234
So ist wohl auch Roth zu verstehen (vgl. Fühlen, Denken, Handeln, S. 523).
235
Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 131 f.; vgl. dazu auch Roth,
Fühlen, Denken, Handeln, S. 521 ff.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 299

die Information über die bereits gefallene Entscheidung dem System zur Ver-
fügung gestellt wird, um so die Ausführung zu kontrollieren. In beiden Fällen
wäre jedoch nicht das subjektive Erleben, sondern sein neuronales Korrelat von
Bedeutung. Während die zweite Alternative den neuronalen Korrelaten nur eine
Begleitfunktion einräumt, sind sie der ersten Alternative zufolge wenigstens
mitverursachend, wenn auch nicht die Initiatoren der jeweiligen Handlung,
denn auch in diesem Fall stünden sie selbst unter dem Einfluss subkortikaler
Zentren und folgten der Handlungsinitiierung zeitlich nach.236 Die Ergebnisse
von Keller und Heckhausen237 legen dabei die zweite Alternative nahe. Ihnen
zufolge könnten eigentlich unbewusste Bewegungen durch konzentrierte Auf-
merksamkeit bewusst werden.238 Folgte man dieser Interpretation, so ergäbe
sich die notwendige Schlussfolgerung, dass den neuronalen Korrelaten des
Bewusstseins keinerlei kausale Funktion für die Bewegungen zukäme, da diese
auch ohne Bewusstsein in gleicher Weiser ausgeführt worden wären. Die neu-
ronalen Korrelate des Bewusstseins wären für die Bewegung also nicht erfor-
derlich.
Nach beiden Alternativen ist es also nicht der subjektive Wille, der hand-
lungsinitiierend wirkt. Da subjektive Gedanken und Entscheidungen auch nach
Libet an neuronale Vorgänge gebunden und daher genauso wie diese deter-
miniert sind, käme als freies „Veto“ nur ein transzendentaler Wille in Betracht,
der dann aber nicht mit dem subjektiven Entschluss, eine Handlung zu unter-
drücken, gleichgesetzt werden könnte. Er wäre mit einer experimentellen
Untersuchungsmethode vielmehr überhaupt nicht ermittelbar.
Roth wendet deshalb ein, das Vetorecht könne schon in logischer Konse-
quenz keinen spontanen, unabhängigen Willensentschluss des Menschen dar-
stellen, da man hierfür genauso vorhergehende Gehirnprozesse fordern müsste.
„Ein derartiges Blockieren kann ja nicht aus heiterem Himmel kommen.“239
Heute wisse man zudem, so Roth, dass auch dem Bereitschaftspotential seiner-
seits unbewusste Erregungen in den Basalganglien vorausgehen240, die den
Prozess der Selektion zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen repräsen-
tieren und wiederum unter dem Einfluss des limbischen Systems stehen. Denn
jeder Willkürakt erfordere gleichzeitig die Unterdrückung einer großen Anzahl
alternativer Verhaltensweisen. Diese Funktion der Basalganglien für die Auslö-
sung von Willkürbewegungen habe sich bei der Untersuchung der Parkinson-
_________________
236
Vgl. Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 15 f.
237
Dazu oben, S. 280 f.
238
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology
76 (1990), S. 360.
239
Roth, Gehirn, S. 309; ebenso Birnbacher, EuS 6 (1995), S. 84; vgl. auch diverse
Kritiker, zusammengefasst in der Replik Libets (1985b), S. 563.
240
Siehe Roth, Grundlagen, S. 195.
300 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

schen Krankheit gezeigt.241 Er kommt damit zu dem Ergebnis, dass mit der
Erkenntnis, dass das Ich wenig Zugriff auf Steuerungsmechanismen hat, so-
wohl das traditionelle Menschenbild als auch das abendländische Konzept der
subjektiven Verantwortlichkeit mit aller Radikalität zusammenbreche.242
Auch Libet kommt für den Fall, dass jeder bewusste Entschluss, und damit
auch das Veto, das Ergebnis unbewusster Prozesse ist, zu einem klaren Ergeb-
nis: Zwar gebe es Stimmen, die auch bei dieser Konstellation einen freien Wil-
len annähmen, dem könne er jedoch nicht folgen. Denn in diesem Fall kontrol-
liere das Individuum seine Handlungen nicht bewusst, es erlebe lediglich das
Ergebnis einer unbewusst initiierten Wahl, auf die es keinerlei Einfluss habe.
Freier Wille aber impliziere, dass jemand für seine Handlungswahl verantwort-
lich gemacht werden könne. Für unbewusste Handlungen, bei denen keine
Möglichkeit zu bewusster Kontrolle bestehe, würden Menschen gemeinhin
nicht zur Verantwortung gezogen werden. So seien epileptische Anfälle oder
Bewegungen eines Menschen mit dem Tourettes-Syndrom keine auf freiem
Willen beruhenden Verhaltensweisen. Warum solle dann die unbewusst ent-
wickelte Handlung eines normalen Menschen, ein Prozess, über den er eben-
falls keine bewusste Kontrolle habe, als eine Willenshandlung angesehen wer-
den?243

4. Identitätstheorie

Eine andere Möglichkeit, den bewussten Willen als Kausalfaktor für das
Verhalten aufzufassen, bietet die Identitätstheorie.244 Sie ist so etwas wie das
Gegenstück zur gerade vorgestellten ontologisch-dualistischen Theorie. Denn
ihr zufolge sind Mentales und Physisches nicht unterschiedliche Substanzen,
die wechselseitig aufeinander einwirken können, mehr noch, Mentales und
Physisches weisen nicht nur keinen Unterschied in der Substanz auf, sie sind
auch im Übrigen unterschiedslos, besitzen also insbesondere keine Eigenschaf-
ten, die nur für das eine oder andere gelten.245 Geht einer Bewegung notwendig
_________________
241
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 2; ders. et al., Die funktiona-
le Rolle des bewußt Erlebten, S. 14.
242
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 5.
243
Siehe Libet (1999), S. 52 f.; so auch Fisher, Medical Hypotheses 56 (2001),
S. 366.
244
Einen Überblick über die Theorie und ihre Schwierigkeiten bietet Bieri, Philoso-
phie, S. 36 ff.
245
Anders allerdings der sog. Eigenschaftsdualismus, der auf der Grundlage einer
Identität der Substanz gleichwohl auf der Verschiedenheit der – einerseits objektiven,
andererseits eben subjektiv-phänomenalen – Eigenschaften von Physischem und Menta-
lem insistiert.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 301

neuronale Aktivität voran, die im subjektiven Erleben ein Bewusstsein von der
bevorstehenden Bewegung hervorruft, dann ist nach dieser Theorie das Be-
wusstsein sehr wohl kausal für die Bewegung, weil genau dies eben die neuro-
nale Aktivität ist, die ihrerseits mit dem Bewusstsein identisch ist. Nach dieser
Theorie gelten für die neuronale Aktivität die physikalischen Gesetze; daher
gibt es „Freiheitsräume“ nur dann, wenn die physikalischen Gesetze solche
Räume zu- bzw. offenlassen. Diese letztere Frage blieb oben246 unbeantwortet;
denn auch wenn darauf eine beweisbare Antwort gefunden würde, bliebe im-
mer noch zu klären, wie das Mentale diese Freiräume sich zunutze machen
sollte. Da aber nach dem identitätstheoretischen Ansatz Geist und Materie eins
sind, muss der Geist nicht einwirken; denn er ist selbst bereits die Materie.
Sollte aber für die physische Außenwelt der Determinismus nicht gelten, so
unterliegt eben auch diese Materie keinem geschlossenen Kausalzwang.
Hier scheint sich ein Ausweg in der Freiheitsdiskussion aufzutun. Meines
Erachtens ist er aber, wie immer es sich mit ihm verhalten mag, für einen Frei-
heitsbegriff als Grundlage strafrechtlicher Schuld ungeeignet. Dies hat vor
allem den folgenden Grund: Bewusste Wahrnehmung entsteht nicht ad hoc,
sondern ist, wie dargelegt, das Ergebnis unbewusster Hirnaktivitäten, hängt
also von diesen vorangegangen Aktivitäten ab; damit wird aber auch die be-
wusste Entscheidung bzw. der (ggfs. vorwerfbare) Willensentschluss hiervon
abhängig. Die bewusste Wahrnehmung verleitet zwar zu der Annahme einer
linear abgebildeten Außenwelt. Schon die einfache Vorführung eines Films
macht aber deutlich, dass wesentliche Teile der Wirklichkeit, nämlich der Um-
stand, dass eine Abfolge einzelner Bilder präsentiert wird, nicht Bestandteil der
bewussten Wahrnehmung werden; sie können aber gleichwohl vom Hirn regist-
riert werden und bestimmen, wie die Versuche von Libet247 und von Taylor/
McCloskey248 nahelegen, unter Umständen auch das Verhalten mit.249 Im fol-
genden Kapitel250 wird eingehend dargelegt, dass es einen so großen Anteil
innerer unbewusster Dispositionen gibt, die zur bewussten Entscheidung bei-
tragen, dass es letztlich offen bleiben kann, ob Freiräume existieren, die einen
anderen Verlauf derjenigen neuronalen Aktivität ermöglicht hätten, die das
Bewusstsein ausmacht. Jedenfalls ist der Geist alles andere als unabhängig.
Dass man nach der Identitätstheorie Bewusstsein als notwendige Bedingung
von Handlungen auffassen kann, begründet also nur einen stark reduzierten
_________________
246
Vgl. dazu oben, S. 36 ff.
247
Vgl. oben, S. 253.
248
Dazu oben, S. 274.
249
Im französischen Wahlkampf soll es Ende der achtziger Jahre zu einem Eklat ge-
kommen sein, als man der Regierungspartei die Verwendung von „Subliminals“ in ihren
TV-Werbespots nachgewiesen habe, berichtet eine Internetseite (www.musikmagieund
medizin.com/standard_seiten/subliminals.html, Stand: 5.4.2005).
250
Vgl. S. 309 ff.
302 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Freiheitsbegriff. Zwar kann man damit sagen, dass der bewusste Wille ein
anderer hätte sein können, wenn die neuronalen Aktivitäten andere gewesen
wären (unterstellt, die Welt wäre nicht kausal determiniert); insoweit lässt sich
von einer indeterministischen Position sprechen. Wegen der Abhängigkeit der
neuronalen Aktivitäten, die Bewusstsein sein sollen, von anderen neuronalen
Aktivitäten, die kein Bewusstsein sind, liegt aber die Möglichkeit zur „freien“
Disposition nicht beim Mentalen bzw. den neuronalen Aktivitäten, die das
Mentale sind, sondern vielmehr zu weit überwiegenden Teilen bei den „unfrei-
en“ neuronalen Aktivitäten, die unbewusst bleiben. Damit ist auch hier ein
einleuchtender Anknüpfungspunkt für einen Schuldvorwurf nicht ersichtlich.

5. Rechtliche Einordnung

Die Notwendigkeit einer juristischen Perspektive auf das bisher Gesagte er-
gibt sich schon aus der Selbständigkeit der Rechtswissenschaft. Hier wurden
eine Untersuchungsmethode und ihre Ergebnisse vorgestellt, welche die An-
nahme einer Urheberschaft des menschlichen Willens für Verhaltensweisen
jedenfalls so einfacher Art, wie sie in den einschlägigen Experimenten stattfan-
den, grundsätzlich zweifelhaft, ja unplausibel machen. Das legt die Frage nahe,
ob diese konkreten Ergebnisse auf die Zurechnung strafrechtlich relevanten
(regelmäßig komplexeren) Handelns zum Willen eines Handelnden übertragen
werden können.
Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Validität der Untersuchungen Li-
bets, da sie fachwissenschaftlich nicht angezweifelt werden, auch von juristi-
scher Seite nicht sinnvoll in Abrede gestellt werden kann.251 In Anbetracht der
Versuchswiederholungen seitens anderer Wissenschaftler mit verschiedenen
Testpersonen, in mehreren Testdurchläufen und unter Variierung der jeweiligen
Versuchsanordnung, aber mit gleichem Testergebnis, sind Zweifel an der
Durchführung der Untersuchungen jedenfalls von seiten anderer Wissenschaf-
ten nicht mehr plausibel. Auch Trevena und Miller haben die grundsätzliche
Richtigkeit der Testergebnisse nicht in Abrede gestellt.
Die subjektive Perspektive, die in die Libet-Experimente einbezogen wird,
mag nach dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne nicht das
eigentlich Erlebte wiedergeben. Das aber, was unter der subjektiven Tatseite im
Strafrecht verstanden wird, wäre in Fällen wie diesem Experiment ganz zwei-
felsfrei das, was die Probanden später als ihr Erleben rekapitulieren könnten.
Schwierigkeiten entstünden erst dann, wenn – wie im Fall von Spontanreaktio-
nen, Affekthandlungen oder Handlungen im Zustand des Vollrausches – die
jeweilige Person sich mit dem eigenen Verhalten nicht identifizieren könnte.
_________________
251
Vgl. auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 318.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 303

Bei einfachen willkürlichen Bewegungen wie in den Untersuchungen Libets


ergäben sich für die traditionelle Strafrechtsdogmatik jedoch keine grundsätzli-
chen Zweifel zur subjektiven Tatseite; wären die Berichte der betroffenen Per-
sonen zu ihrem Erleben als subjektiv wahrhaftig anzuerkennen, so ließen sie
keine problematischen Fragen offen.
Libet bemerkt zu dem Problem, dass dem Experimentator niemals das sub-
jektive Erleben zugänglich ist: Auch wenn man subjektive Aussagen auf ihre
Richtigkeit hin überprüfe, sei es im alltäglichen Leben nicht der Fall, dass man
wegen der Erkenntnis der Unzugänglichkeit subjektiv-personalen Erlebens aus
der Außenperspektive Aussagen über die Introspektive grundsätzlich in Frage
stellen würde.252 Wie zudem die Untersuchungen Fröhlichs, Crawfords, Mac-
Kays, Eaglemans und Sejnowskis, Taylors und McCloskeys sowie vieler weite-
rer Wissenschaftler zeigen, stellte die Einbeziehung des subjektiven Erlebens
bereits vor den Untersuchungen Libets einen wesentlichen Aspekt bei experi-
mentellen Untersuchungen dar und ermöglicht auch seither wichtige Einsich-
ten. Anzunehmen ist, dass erst mit Zunahme der Forschung im kognitiven Sek-
tor auch die Skepsis gegenüber der objektiven Validität subjektiver Angaben
wächst und damit die Akzeptanz der hierauf beruhenden Erkenntnisse sinkt.253
Dies unterstützt jedoch zusätzlich die These, dass auch Rechtswissenschaftler
die Grundannahmen des Rechtssystems, die im Bereich der strafrechtlichen
Schuld vom subjektiven Erleben der Handlungszuschreibung stark beeinflusst
sind, in Anbetracht der Erkenntnisse der Neurowissenschaft kritisch hinterfra-
gen müssen.
Mit der Aussage, dass es in Fällen einfacher willkürlicher Bewegungen, die
ohne einen Hinweis auf Abnormitäten auftreten, im Strafrecht darauf ankom-
me, was die Individuen als ihr subjektives Erleben wiedergeben, ist aber noch
nichts darüber gesagt, auf welches Erleben dabei abzustellen ist. So geht Walter
davon aus, dass die willentliche Handlungsinitiierung im Rahmen der Libet-
Experimente bereits im Voraus mit der Intention, den Versuchsinstruktionen
Folge zu leisten, eingetreten sei.254 Aber lässt sich diese Überlegung auch auf
das Strafrecht übertragen? Man stelle sich den Attentäter vor, der geplant hat,
einen Sprengsatz zur Explosion zu bringen, um so Menschenleben zu vernich-
ten. Der Attentäter hält nun in der einen Hand die mit einem Knopf versehene
Vorrichtung zur Auslösung der Explosion. In der anderen Hand hält er sein
Handy, um im Falle des Entdecktwerdens von einem Gehilfen rechtzeitig in-
formiert zu werden. Löst der Attentäter bewusst den Sprengsatz aus, hätte nie-
mand Zweifel daran, dass er mit Tötungswillen handelte. Sieht er aber in der
Nähe des Tatortes stehend zufällig, wie ein Kind von einem Auto angefahren
_________________
252
Siehe Libet (1985b), S. 534.
253
Vgl. auch Singer, Grenzen, S. 287.
254
Siehe S. 282, bei und in Fn. 153; vgl. auch Heun, JZ 2005, S. 856.
304 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

wird und überkommt ihn unvermittelt der Drang, diesem Kind zu helfen, indem
er einen Notarzt herbeiruft, dann würde niemand, wenn der Attentäter nun
anstatt die Handytaste zu bedienen, versehentlich den Sprengsatz auslöst, be-
haupten, er habe dies mit Tötungswillen getan. Es kann also nicht jede Inten-
tion, die sich in einem Taterfolg realisiert, auch als Anknüpfungspunkt für
strafrechtliche Verantwortlichkeit dienen. In § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB heißt es
aus diesem Grunde, dass der maßgebliche Zeitpunkt für das Vorliegen des Vor-
satzes zur Tatbestandsverwirklichung der Zeitpunkt des Begehens der Tat ist;
dass also der Täter genau zu diesem Zeitpunkt, nämlich dem der Tathandlung
(§ 8 Satz 1 StGB), die unter die Tatbestandsmerkmale subsumierbaren Um-
stände des Geschehens kennen muss.
Zur genauen zeitlichen Eingrenzung des subjektiven Elements noch folgen-
des Beispiel aus der Rechtsprechung: Der Täter betätigt einen Klingelknopf
und plant, sein Opfer unmittelbar nach dem Öffnen der Tür zu überwältigen,
um die Wohnung des Opfers auszurauben. Der Bundesgerichtshof zweifelt in
solchen Fällen nicht daran, dass schon das Klingeln an der Tür ein versuchter
Raub sein kann.255 Allerdings wird der relevante Zeitpunkt für das Vorliegen
der subjektiven Tatseite wiederum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB durch den
Zeitpunkt der Tatbegehung begrenzt und dieser ist im vorliegenden Fall nach
§ 22 StGB der Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirk-
lichung. Der Bundesgerichtshof macht diesen Zeitpunkt daran fest, dass der
Klingelnde innerlich eine Schwelle überschreitet, die als das subjektive Gefühl
des „Jetzt-geht-es-los“ beschrieben wird.256 Auffallend ist hier die Ähnlichkeit
zwischen dem Willensdrang, den die Probanden Libets beschrieben haben und
den Walter auch als „bewußte Empfindung des Überschreitens einer Schwelle“
bezeichnet257, und dem „Jetzt-geht-es-los-Gefühl“, das der Bundesgerichtshof
bemüht.258 Hierbei fließt die vorher gefasste Absicht aber nur indirekt mit ein.
Das Unwerturteil knüpft an die innere Haltung des Täters zu genau dem Zeit-
punkt an, an dem er den Klingelknopf betätigt. Sonst könnte eine am frühen
Morgen gefasste Absicht, jemanden nach dem Öffnen einer Tür zu erschießen,
auch dann eine strafbare Handlung begründen, wenn diese Absicht bis zum
Mittag aufgegeben wurde und das Klingeln nun lediglich zum Zweck des Be-
suches erfolgt.
_________________
255
Siehe BGHSt 39, 236, 238 m. w. N.
256
Vgl. BGHSt 26, 201 ff. m. w. N.
257
Siehe oben, S. 282, bei und in Fn. 154. In der Volitionspsychologie auch „Wil-
lensruck“ oder „Fiat“ genannt, vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 523.
258
Das unmittelbare Ansetzen verneint der BGH im Allgemeinen, wenn es zur Er-
folgsherbeiführung „noch eines weiteren – neuen – Willensimpulses“ (BGHSt 31, 178,
182; BGH NStZ 1999, 395, 396) bzw. „eines letzten Willensrucks“ bedarf (BGH StV
1987, 528, 529; vgl. auch Tröndle/Fischer, § 22, Rn. 10 – zu letzterem Begriff auch
Fn. 257).
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 305

Die vor dem unmittelbaren Ansetzen zum Taterfolg gefasste Intention ist als
dolus antecedens also kein tauglicher Anknüpfungspunkt für strafrechtliche
Verantwortlichkeit. Dies gilt sowohl für Versuchs- als auch für vollendete
Delikte. Denn es ist die Konsequenz eines handlungsorientierten Strafrechts,
dass nicht willkürlich Intentionen mit Erfolgen verknüpft werden können. Die
Beispielsfälle zeigen aber auch, dass sich die in der Libetschen Untersuchung
gewonnenen Erkenntnisse auf strafrechtlich relevante Sachverhalte übertragen
lassen, obwohl sich die Verhaltensweise der Libet-Probanden in einer einfa-
chen Bewegung erschöpft. Man muss sich ja nur vorstellen, dass die Probanden
aufgefordert wurden, per Knopfdruck einen Sprengsatz auszulösen, der Men-
schenleben in Gefahr zu bringen geeignet sein sollte.
Weiterhin wurde bereits erläutert, weshalb der Einwand einiger Kritiker, die
Probanden hätten aufgrund der Versuchsinstruktionen keinen willkürlichen
Entschluss gefasst, in Anbetracht neuerer Untersuchungen und wegen der
Schwierigkeit, die Verursachung physischer Vorgänge durch Mentales zu er-
klären, nicht haltbar ist.259 Daneben sei an dieser Stelle darauf hingewiesen,
dass sich diese Argumentation auf das Rechtssystem auch nicht übertragen
ließe. Denn die Haftung entfiele hier weder aufgrund von Vorgaben durch
Rechtsnormen, noch etwa durch Anweisungen eines Versuchsleiters oder eines
sonstigen Anstifters. Derlei Instruktionen sind damit grundsätzlich nicht geeig-
net, die rechtliche Verantwortlichkeit und die damit einhergehende Vorstellung
von Freiheit entfallen lassen. Und der vor Versuchsbeginn gefasste Entschluss
eines Täters, den Vorgaben des Anstifters (oder Versuchsleiters) zu folgen, ist
strafrechtlich irrelevant, auch wenn er – im Sinne von Walters Hypothese –
bereits der innerpsychische Beginn der willentlichen Handlungsinitiierung
wäre.
Schließlich sei noch auf eine speziell strafrechtliche Problematik der Veto-
theorie hingewiesen: Käme dem Menschen lediglich eine Freiheit insoweit zu,
als er gegen einen bereits eingeleiteten Bewegungsdrang ein Veto einlegen
könnte, dann hätte dies nach einigen Theorien zur Abgrenzung von Tun und
Unterlassen Konsequenzen für die Fälle einer Tatbegehung durch bloßes Untä-
tigbleiben. Denn nur dann, wenn der spätere Unterlassungstäter zunächst eine
Bewegung zur Abwendung des Erfolges eingeleitet hat, könnte eine diese un-
terdrückende Willenssteuerung bei ihm stattfinden. Ist aber vom Gehirn schon
keine Bewegung eingeleitet worden, entfällt die Möglichkeit zum Veto von
vornherein: Ein solches Untätigbleiben könnte deshalb dem menschlichen Wil-
len nicht zugerechnet werden. Da es nicht nur Verbotsnormen gegen aktives
Handeln (wie „Du sollst nicht töten!“) gibt, sondern auch Gebotsnormen, die
zur Hilfeleistung in Unglücksfällen oder zur Erfolgsabwendung als Garant
verpflichten, ergäben sich unlösbare Zurechnungsfragen. In ähnlicher Form
_________________
259
Vgl. oben, S. 282 ff.
306 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

träten sie auch beim Rücktritt vom sogenannten „unbeendeten Versuch“ auf:
Nur wenn beim Aufgeben der Tatausführung ein Drang zum Weitermachen
unterdrückt würde, könnte von Freiwilligkeit die Rede sein; hörte der Ausfüh-
rungsdrang hingegen von selbst auf, weil das Gehirn einfach begonnen hätte,
eine andere Verhaltensweise einzuleiten, dann bliebe für Freiwilligkeit kein
Raum. Weil also sowohl der Tätigkeit als auch der Untätigkeit rechtliche Be-
deutung zukommt, müsste auch die Vetotheorie zu einem generellen Umbau
der strafrechtlichen Zurechnungsregeln führen.260
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Probanden Libets nach dem Maßstab
des Strafrechts frei verantwortlich handelten. Hätten sie also wissentlich mit
ihrer Bewegung einen Sprengsatz mit tödlichen Folgen ausgelöst, dann er-
schöpfte sich die objektive Tatseite in dieser einfachen Bewegung und die
subjektive Tatseite in dem Bewegungsdrang, den die Probanden kurz vorher
verspürten, bei gleichzeitiger Kenntnis der tatbestandlich relevanten Tatum-
stände. Allerdings wäre – das eben zeigen Libets Experimente – die den
Sprengsatz auslösende Bewegung nicht durch den für die rechtliche Beurtei-
lung relevanten subjektiven Willen verursacht worden, sondern durch neurona-
le Prozesse, die ohne erlebtes „Willenskommando“ bereits vor dem Willensent-
schluss einsetzten. Zwar lassen sich die Ergebnisse des Libet-Experiments mit
einem identitätstheoretischen Ansatz261 so deuten, dass die Bewegung vom
Bewegungsdrang abhängig war (indem sie nämlich von neuronalen Aktivitäten
abhing, die selber der Bewegungsdrang sein sollen). Dabei werden allerdings
diejenigen neuronalen Aktivitäten nicht berücksichtigt, die unbewusst bleiben,
aber ihrerseits zum Verhalten beitragen, so dass es auch insoweit eine Abhän-
gigkeit des Bewusstseins von (unbewussten) neuronalen Prozessen gibt.
Sollte man jedoch, entgegen der hier vertretenen Ansicht, die angeführten
Untersuchungen für widerlegbar oder für anders interpretierbar halten, käme
man dennoch nicht umhin, sie als gewichtiges Indiz gegen die dem Menschen
zugesprochene Fähigkeit zur willentlichen oder bewussten Verhaltenssteuerung
anzuerkennen. Denn sie bilden ein in sich schlüssiges und durch experimentelle
Forschung erhärtetes Erklärungsmodell. Sie können daher als empirische Er-

_________________
260
Ein Aspekt, der Guss offenbar, wenngleich erstaunlicherweise, nicht irritiert.
Trotz des Hinweises auf Libets Versuch, nach dem das Willenserlebnis erst nach dem
Aufbau des Bereitschaftspotentials auftritt (s. Willensfreiheit, S. 89), verweist er in
seiner Zusammenfassung auf die hierdurch gerade in Frage gestellte Annahme Kornhu-
bers, das Bereitschaftspotential werde erst durch den Willensentschluss gebildet, kom-
biniert diese mit dem Vetorecht und erhält sozusagen „unterm Strich“ eine empirisch
evidente Willensfreiheit (s. ebd., S. 102 f.); kritisch Schiemann, NJW 2004, S. 2058.
Auch Reinelt macht sich über die strafrechtlichen Konsequenzen keine Gedanken (s.
NJW 2004, S. 2793).
261
Dazu oben, S. 300.
Kapitel 2: Entstehung von Bewegungen 307

kenntnisse über Wahrnehmungs- und Bewegungsentstehung nicht von vornher-


ein abgelehnt werden, wenn es hierauf im Strafprozess ankommen sollte.

IV. Folgerungen für willkürliches und unwillkürliches Verhalten

Wegen der Einsicht, dass Bewusstsein ohne neuronale Prozesse nicht exis-
tiert, kann auch das menschliche Bewusstsein oder der menschliche Wille nicht
als übermaterieller Faktor, der aus dem „Nichts“ heraus entsteht, verstanden
werden. Er kann daher auch nicht als „übermaterielle Kraft“ Geschehnisse
beeinflussen. Es ist mithin unerheblich, ob der Wille als handlungsinitiierend
oder lediglich als nachträglich kontrollierend aufgefasst wird; ihm kommt in
beiden Fällen diese Rolle nur im subjektiven Erleben zu. Zwar bestätigen die
Ergebnisse Libets damit nicht den üblicherweise vorausgesetzten Ablauf von
subjektiver Intention und Bewegungseinleitung, sie sprechen dem Menschen
aber auch nicht sein Erleben ab. Sie widerlegen lediglich aus naturwissen-
schaftlicher Perspektive die Möglichkeit der Beeinflussung menschlichen Han-
delns durch eine von Materie und Physik gänzlich unabhängige, rein geistige
Steuerung. Zugleich entwerfen und bestätigen sie ein anderes Modell vom
Ablauf der Ereignisse, die wir „menschliche Handlungen“ nennen: ein Modell,
das dem subjektiven Willen die ihm traditionell zugeschriebene Funktion, Ini-
tiator dieser Handlungen zu sein, nicht mehr zuerkennt.262 Dies gilt nicht nur
für einfache Bewegungen und den sie begleitenden „Willensdrang“, sondern
ebenso für das im Voraus geplante und dann umgesetzte Handlungsgefüge.
Denn akzeptiert man, dass Bewusstsein neuronale Aktivitäten voraussetzt, für
deren Organisation Begriffe wie „Freiheit“ fehl am Platze sind und die nicht
ihrerseits durch einen übermateriellen Geist gesteuert oder kontrolliert werden,
dann ist auch die lange im Voraus geplante Handlung nur im subjektiven Erle-
ben das Produkt einer bewussten, freien Entscheidung, während sie sich objek-
tiv ebenso unvermeidbar darstellt wie jede tierische Verhaltensweise auch.
Wenn nach dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne263
gleichwohl über ein Bewusstsein spekuliert wird, das lediglich später in Ver-
gessenheit gerät, dann verspricht dies keinen Gewinn für die Freiheitsproble-
matik; denn ein solches Bewusstsein könnte ohne seine neuronalen Korrelate ja
ebensowenig existieren wie ein später rekapitulierbares Bewusstsein. Dualisti-
sche Konzepte, die eine Interaktion zwischen einem materie-unabhängigen
Geist und dem Gehirn annehmen, stützt es deshalb nicht, weil es gerade nicht
den „Geist“ repräsentiert, der für die Freiheitsdebatte ausschlaggebend ist.
_________________
262
Im Ergebnis ebenso Neumann/Prinz, S. 210. Das Erleben ist insoweit „real“, vgl.
auch Planck, Willensfreiheit, S. 17.
263
Vgl. oben, S. 268.
308 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Freiheitserleben erwächst nicht aus dem, was letztlich unbewusst bleibt, son-
dern aus dem, was als willentlich verursacht erlebt wird. Ansonsten stritte sich
wohl niemand darum, ob automatisierte Verhaltensweisen noch als „frei“ gel-
ten könnten.
Es ist also nach der hier vorgenommenen Deutung der dargestellten Ergeb-
nisse neurobiologischer Forschung nicht der subjektiv erlebte Wille, der Bewe-
gungen initiiert, kontrolliert oder steuert.264 Insoweit bestehen zwischen will-
kürlichen und unwillkürlichen Bewegungen keine Unterschiede. Zwar geht mit
bewusstseinsbegleiteten Verhaltensweisen eine andere neuronale Aktivität
einher, als dies bei unbewussten der Fall ist; zu einer spezifischen Funktion des
subjektiven Bewusstseins als einer Steuer- oder Kontrollinstanz führt dies je-
doch nicht. Anzunehmen ist nach dem hier Dargelegten vielmehr, dass die
erhöhte und zeitaufwändigere Aktivität der Neuronen bei bewusstem Handeln
einen detaillierteren Abgleich mit bereits gewonnenen Erfahrungen bezie-
hungsweise den hierdurch entstanden neuronalen Netzen ermöglicht, als dies
bei unmittelbaren und damit zunächst unbewusst bleibenden Reaktionen der
Fall ist. Dadurch können bewusste Verhaltensweisen neben dem subjektiven
Gefühl der Kontrolle für den Handelnden auch den Eindruck vermitteln, dem
Gesamtbild der Persönlichkeit eher zu entsprechen. Willkürliche Handlungen
unterscheiden sich damit zwar hinsichtlich der Hirnaktivität und der mit ihnen
einhergehenden bewussten Wahrnehmung von unwillkürlichen Handlungen,
nicht aber mit Blick auf Antrieb oder Steuerung der Handlung durch das Ich-
Bewusstsein. Das Antriebs- und Steuerungsgefühl ist vorhanden, stellt aber
eine Täuschung über die tatsächlichen objektiven Ereignisse dar.
Während das Individuum aus seiner Innenperspektive heraus seine Handlun-
gen also als selbstbestimmt im Sinne von willentlich verursacht erlebt, liegen
jeder Bewegung, objektiv beurteilt, neuronale Prozesse zugrunde, die vor dem
Willensentschluss des Individuums die Bewegung einleiten und damit zum
wirklichen Ursprung ihres Stattfindens werden.

_________________
264
So auch die Interpretationen von M. Pauen, Grundprobleme, S. 90, und Roth,
Grundlagen, S. 195, der Untersuchungen Libets.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 309

Kapitel 3
Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben

I. Selbstzuschreibung von Handlungen aus


neurowissenschaftlicher Sicht

Die Problematik, die vor allem durch die Libet-Experimente aufgeworfen


wurde, die sich aber durch die Untersuchungen anderer Wissenschaftler noch
verschärft hat, ist also die, dass dem subjektiven Erleben, dem Bewusstsein
oder dem Geist, nicht die Funktion zuzukommen scheint, die ihm aufgrund der
Innenperspektive des Menschen zugeschrieben wird. Der Geist erscheint nicht
mehr als freier Urheber von Handlungen, weil er wie die Handlung selbst in
Abhängigkeit von neuronalen Prozessen steht. Im letzten Kapitel sollen nun
einige Untersuchungen zusammengetragen werden, die sich damit auseinander-
setzen, welche Gehirnaktivitäten bei einer „Entscheidung“ mitwirken und wie
es zur Selbstzuschreibung der damit in Einklang stehenden Handlungen
kommt. Für rechtliche Erwägungen ist daneben die Möglichkeit zur Verhal-
tensänderung, die Verlässlichkeit subjektiven Erlebens und die Relevanz von
Zielvorstellungen bedeutsam.

1. Emotion und Motivation

Libet differenziert in einer jüngeren Publikation dahingehend, dass die


Wahrnehmung einer bewussten Entscheidung als solche gegebenenfalls auf
unbewussten Prozessen beruhe, der Inhalt dieser Entscheidung aber nicht not-
wendig unbewusste Abläufe voraussetze.265 Neuere Untersuchungen bezüglich
der Verbindungen zwischen dem unbewussten limbischen System und dem
Kortex legen indes nahe, dass auch der Entscheidungsinhalt durch unbewusste
neuronale Vorgaben bestimmt wird.
Wird eine Handlung im präfrontalen Kortex, dem Stirnhirn, geplant, so wird
die entsprechende Information nicht direkt an die motorische Hirnrinde weiter-
gegeben, um so ungefiltert zur Ausführung zu gelangen, sondern wird zunächst
zu den Basalganglien des limbischen Systems, deren Bedeutung für Willkür-
handlungen bereits dargestellt wurde266, weitergeleitet.267 Das limbische System

_________________
265
Siehe Libet (1999), S. 53; vgl. auch ders. (2005), S. 187 f. Vgl. zur Ansicht Libets
auch Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 12.
266
Vgl. oben, S. 299.
267
Siehe Roth, Vortrag, S. 5; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 7 ff.
310 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

gilt als das „Bewertungssystem“ des Gehirns268 und durchzieht das gesamte
Gehirn.269 Die Handlungsbewertung vollziehe sich, so Roth, soweit bekannt
nach einem einfachen Muster. Durch Verbindung der Basalkerne zu Arealen
des Gehirns, in denen sämtliche positiven und negativen Vorerfahrungen mit
Verhaltensweisen seit der pränatalen Phase gesammelt worden seien, erfahre
jede Handlung einen Abgleich mit bereits durchlebten emotionalen Erfahrun-
gen. Von den Basalganglien gelange ein positives Ergebnis dieses Abgleichs,
also die „Entscheidung“270, die Handlung auszuführen, über das Zwischenhirn
in die Großhirnrinde, während bei einem negativen Ergebnis die Großhirnrinde
nicht entsprechend aktiviert werde und damit die Handlung vollständig unter-
bleibe oder stattdessen eine nach dem Erfahrungsgedächtnis naheliegende,
gewohnte Handlung ausgeführt werde.271
Ausgewählt werde damit nach dem Erfahrungsprinzip: Hat ein Organismus
positive Erfahrungen gesammelt, wird er eine Verhaltensweise wiederholen,
hat er hingegen schlechte Erfahrungen gemacht, wird er die Verhaltensweise
zukünftig vermeiden.272 Das limbische System sei dabei weitgehend ein emoti-
onales Gedächtnis, dessen wesentliche Bewertungskriterien bereits gegen Ende
des dritten Lebensjahres entwickelt seien.273
Zum limbischen System zählt die Amygdala, ein subkortikales Kerngebiet in
der Tiefe des Temporallappens.274 Versuche an Affen haben gezeigt, dass die
Zerstörung der Amygdala zu einer Änderung der Hierarchie in einer Affenhor-
de führt. Die betroffenen Affen sind nach einer bilateralen Läsion der Amygda-
la verhaltensgestört, das heißt unfähig, geordnete Verhaltensweisen zu zeigen,
die soziale Bedeutung von außen eintreffender Signale zu erkennen und zu den
eigenen zentralnervösen Zuständen in Beziehung zu setzen.275
Von außen eintreffende Signale gelangen über den menschlichen Kortex und
den Thalamus zur Amygdala. Die thalamischen Eingänge erreichen die Amyg-
dala dabei vor oder mindestens zeitgleich mit den kortikalen Eingängen. Es
gelangen also zunächst vorverarbeitete Reize über subkortikale thalamische
Projektionsbahnen zur Amygdala, wodurch eine unbewusste und präkognitive
_________________
268
Siehe Roth, Gehirn, S. 194; dabei wird sich in jüngster Zeit insbesondere auf die
Amygdala konzentriert (s. Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 479).
269
Siehe Roth, Gehirn, S. 198; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 9 ff.; vgl.
auch die Darstellung bei Schmidt/Thews/ Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177.
270
Vgl. zu diesen Begriffen die Anmerkung oben, S. 245, Fn. 18.
271
Siehe Roth, Vortrag, S. 6.
272
Vgl. auch Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 180; Singer, FAZ vom 8.1.
2004, S. 33.
273
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 1.
274
Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177.
275
Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177 f.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 311

Reizverarbeitung ermöglicht wird.276 Der Bewertungsvorgang bleibe damit


unbewusst. Das Gefühl, eine Handlung zu wollen, entstehe erst, nachdem das
limbische System „entschieden“ habe und das Ergebnis an die Großhirnrinde
weitergereicht worden sei.277 Genauer gesagt, wirkten, Roth zufolge, die Pro-
zesse des limbischen Systems auf den motorischen Planungsapparat im engeren
Sinne ein, der seinerseits teils bewusst (präfrontaler Kortex), teils unbewusst
(Basalganglien, laterales Kleinhirn) arbeite.278 Dieser Planungsapparat wirke
wiederum auf die prämotorischen Kortexareale ein, die ihrerseits den Motor-
kortex kontrollierten, der dann im Zusammenspiel mit dem medialen Kleinhirn
die aktuelle Bewegung steuere. Der subjektiv erlebte Entschluss, die Handlung
auszuführen, werde dabei, so Roth und seine Kollegen, offenbar beim Über-
gang der Aktivität vom prämotorischen zum motorischen Kortex ausgelöst.279
Denn werde die Bewegung eines Patienten mittels mechanischer Einwirkung
auf den motorischen Kortex ausgelöst, so empfinde der Patient dies als aufge-
zwungen.280
Es wird angenommen, dass auch der präfrontale Kortex seinerseits die sub-
kortikalen Prozesse beeinflussen kann.281 In experimentellen Untersuchungen,
in denen Ratten darauf konditioniert wurden, auf einen auditorischen Reiz mit
Angst zu reagieren, zeigte sich, dass es für die Auslösung von Angst-
konditionierten Reaktionen auf einen einfachen Reiz lediglich der Verarbeitung
des Reizes in einem subkortikalen Schaltkreis (Thalamus-Amygdala) bedarf,
wodurch eine schnelle emotionale Reaktion, wie Flucht oder Bewegungslosig-
keit ermöglicht wird. Komplexe auditorische Reize können dagegen vom audi-
torischen Thalamus nicht erkannt werden. Es sei daher denkbar, dass neben der
Verarbeitung im subkortikalen Schaltkreis eine parallele Verarbeitung im Kor-
tex-Amygdala-Netzwerk stattfindet, die eine „falsche“ (= der äußeren Situation
nicht angemessene) thalamische Reaktion aufgrund der kortikalen Auswertung
abbrechen könnte, wobei die kortikalen Netzwerke jedoch mehr Zeit benötigten
als die subkortikalen.282 Die Verbindungen der Amygdala zu Thalamus und

_________________
276
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 479.
277
Siehe Roth, Vortrag, S. 6; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 9.
278
Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 488 ff., 490 ff.
279
Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 14; vgl. auch die
graphische Darstellung bei Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 13.
280
Siehe die Schilderung dieses Penfield-Versuches aus dem Jahre 1958 bei Roth,
Fühlen, Denken, Handeln, S. 515 f. (W. Penfield ist ein bekannter amerikanischer Neu-
rophysiologe, der seine hier in Bezug genommenen Forschungsergebnisse 1958 in dem
Buch „The Excitable Cortex in Conscious Man“ veröffentlicht hat.)
281
Dazu Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 179; Roth, Biologie in unserer
Zeit 28 (1998), S. 12; Dudel/Menzel/ Schmidt-Gahr, S. 481.
282
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 481.
312 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Kortex sind dabei bei Primaten und Ratten ähnlich verschaltet.283 Es könne
jedoch keinen Zweifel daran geben, dass auch der präfrontale Kortex zutiefst
von unbewussten Erfahrungen, Motiven und Antrieben beeinflusst werde, die
in den Zentren des limbischen Systems liegen.284 Wird beispielsweise der zent-
rale Nukleus der Amygdala elektrisch stimuliert, wird auch das EEG des Neo-
kortex gestört. Über die indirekte Verbindung der Amygdala zum Neokortex
könnte damit die emotionale Reizverarbeitung in der Amygdala die kognitiven
Prozesse wie Reizrepräsentation, Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung oder
logisches Schließen im Neokortex verändern.285
Affektive Erkrankungen und deren Behandlung bei Menschen sowie die Er-
kenntnisse aus Tierexperimenten haben bereits Hinweise auf die Zusammen-
hänge zwischen chemischen Substanzen, welche Veränderungen im Neu-
rotransmittersystem hervorrufen, und emotionalen Zuständen geliefert. Eine
Zuführung von Benzodiazeptinen in den lateralen und basalen Nukleus der
Amygdala, in dem sich von Natur aus eine hohe Dichte an Benzodiazeptin-
Rezeptoren befindet, bewirkt beispielsweise eine Verringerung von Angstreak-
tionen, während die Infusion von Benzodiazeptin-Antagonisten zu einer Zu-
nahme der Angstreaktionen führt. Dopamin und endogene Opiate scheinen eine
wichtige Rolle bei der Kontrolle positiv bewerteter Zustände zu spielen, wäh-
rend Noradrenalin und Serotonin bei depressiven Zuständen von Bedeutung
sind.286 Emotionale Zustände stehen also in engem Zusammenhang mit bio-
chemischen Reaktionen im Nervensystem.
Dies hat Auswirkungen auf den „Charakter“ eines Menschen. So werden Pa-
tienten mit einer Störung des orbitofrontalen Kortex, der unmittelbar über den
Augenhöhlen liegt und mit den emotionalen und motivationalen Aspekten einer
Handlungsplanung in Beziehung steht, allgemein als gefühlskalt bis rücksichts-
los eingestuft, was damit zusammenhängt, dass diese Patienten aufgrund ihrer
Läsion unfähig sind, einen sozial-kommunikativen Kontext wie die Mimik von
Gesichtern oder die Bedeutung von Szenendarstellungen zu erfassen. Daneben
werden sie durch negative Konsequenzen ihres Handelns nicht emotional be-

_________________
283
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 482.
284
Siehe Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 12; diese Annahme steht
daneben im Einklang mit den Überlegungen zur „Affektlogik“ bei Kargl, Handlung und
Ordnung, S. 151 ff.
285
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 480.
286
Ausführlich hierzu Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 483 f.; s. auch Nemeroff,
Spektrum der Wissenschaft/ Digest 2 (2001), S. 84.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 313

rührt, so dass sie nach fremd- wie nach selbstschädigenden Verhaltensweisen


keine Einsicht zeigen.287
Der wohl bekannteste Fall in diesem Zusammenhang ist der des
Amerikaners Phineas Gage. Anhand der erhaltenen Dokumente hat diesen Fall
auch der Neurologe Antonio Damasio untersucht. Gage war bis zu dem Tag,
der seinem Leben eine vollkommen neue Richtung gab, Vorarbeiter einer
amerikanischen Eisenbahngesellschaft. Im Sommer 1848 kam es bei einer
Sprengung, die Gage versehentlich selbst ausgelöst hatte, zu einem tragischen
Unfall. Eine fast zwei Meter lange Eisenstange mit einem Durchmesser von
etwas über drei Zentimetern durchbohrte den Schädel des 25jährigen. Die
Eisenstange drang unterhalb seines linken Wangenknochens in den Schädel ein
und trat aus dem vorderen Schädeldach wieder aus. Gage war nach dem Unfall
bei Bewusstsein, konnte sprechen und gehen. Er wurde medizinisch versorgt
und zwei Monate später für geheilt erklärt. Äußerlich war nur sein linkes Auge
beeinträchtigt, mit dem er nicht mehr sehen konnte. Die Stange hatte aber im
vorderen Teil seiner linken Gehirnhälfte Schaden angerichtet. Ein Teil der
Orbitalregion war verletzt worden. Der vormals charakterstarke, geschäfts-
tüchtige und beliebte Mann wurde den Berichten seines Arztes zufolge lau-
nisch, respektlos gegenüber seinen Mitmenschen, ungeduldig, halsstarrig und
wankelmütig. Seine Ausdrucksweise wurde so gemein und abscheulich, dass
man, wie Damasio den Bericht des Arztes widergibt, Frauen riet, sich nicht
lange in seiner Gegenwart aufzuhalten. Gage verlor seine Arbeit bei der Eisen-
bahngesellschaft und arbeitete nun in wechselnden Stellungen. Unter anderem
trat er als Zirkusattraktion auf und stellte seine Narben und die Eisenstange zur
Schau. Lange hielt er es aber nirgendwo aus und wohl auch niemand mit ihm.
Er bekam epileptische Anfälle, an denen er 1861 im Alter von 38 Jahren
verstarb.288 Damasio führt Gages Verlust der Fähigkeit, seine Zukunft zu
planen, sich nach sozialen Regeln zu richten und effiziente Handlungsabläufe
zu wählen, auf die Schädigung seines Gehirns zurück289 und berichtet von
einem Patienten mit dem Pseudonym „Elliot“, bei dem nach der Entfernung
eines Hirntumors ähnliche Verhaltensweisen zu beobachten waren. Weil mit
der Entfernung des Hirntumors auch umliegendes geschädigtes Hirngewebe
entnommen wurde, wies „Elliot“ im orbitalen Bereich, wo sich der Tumor
befunden hatte, Schädigungen auf. Im Gegensatz zu Phineas Gage war bei
„Elliot“ aber die rechte Gehirnhälfte stärker in Mitleidenschaft gezogen.290
Nach der Operation war der vormals beruflich und persönlich erfolgreiche
_________________
287
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 282 f., teilweise unter Bezugnahme auf
die Untersuchungen Damasios; vgl. auch die Ausführungen bei Walter, Entscheidungen,
S. 158 ff., u. Singer, Grenzen, S. 289.
288
Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 25 ff.
289
Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 63.
290
Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 64 ff.
314 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

„Elliot“ unfähig, seinen Tagesablauf sinnvoll zu organisieren. Er hatte Mühe,


morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, und verlief sich während der
Arbeit oft in Nebensächlichkeiten, die ihn sein eigentliches Ziel aus den Augen
verlieren ließen. Nach wiederholten Hinweisen und Ermahnungen wurde ihm
gekündigt. Er ging daraufhin wechselnde Geschäftsbeziehungen ein, auch mit
Personen, denen er mehr Vertrauen entgegenbrachte, als angezeigt gewesen
wäre, und war schließlich finanziell ruiniert. Sein privates Leben löste sich
ebenfalls auf: es kam zur ersten, nach einer weiteren kurzen Ehe zur zweiten
Scheidung. Weil „Elliot“ bei Intelligenztests aber keinerlei Auffälligkeiten
zeigte, die auf eine Störung gedeutet hätten, sogar überdurchschnittliche
Ergebnisse erzielte, wurde eine hirnorganische Ursache ausgeschlossen.
„Elliot“ meisterte sogar spezielle „Stirnhirntests“ und zeigte auch bei
Persönlichkeitstests normale Leistungen. Sein Verstand arbeitete offenkundig
einwandfrei und ermöglichte es ihm dennoch nicht, im persönlichen und
sozialen Umfeld die angemessenen Entscheidungen zu treffen.291 Allerdings
gab es etwas, dass auch „Elliot“ selber bewusst geworden war: Er empfand seit
der Operation keine emotionalen Höhen und Tiefen mehr. Er war gewisser-
maßen emotional „neutral“ geworden.292 Damasio entwickelt aus der Untersu-
chung verschiedener Personen mit emotionalen Defekten die Hypothese der
„somatischen Marker“. Sie besteht, kurz gesagt, darin, dass negative und posi-
tive Erfahrungen im Gedächtnis des Menschen gespeichert werden und an jeder
aktuellen Entscheidungsfindung mitwirken, indem sie körperliche Signale
hervorrufen. Bei der Vorstellung einer Handlungsalternative entsteht, Damasio
zufolge, ein angenehmes oder unangenehmes „Bauchgefühl“, das als Warn-
oder Startsignal wirkt.293 „Elliot“ hatte wie Gage, so die Theorie Damasios,
diese Fähigkeit der Verknüpfung einer aktuellen Entscheidung mit zuvor
erworbenen Erfahrungen bezüglich negativer und positiver Folgen einer Hand-
lung verloren. Sie waren nach Damasio durch die Hirnverletzung unfähig
geworden, die Folgen ihrer Handlung mithilfe bereits erworbener Erfahrungen
zu antizipieren.294 Weiter soll diese Theorie nicht verfolgt werden. Die geschil-
derten Fälle veranschaulichen die enge Beziehung zwischen dem, was gemein-
hin als der „Charakter“ einer Person bezeichnet wird, und dem Organ Gehirn.
Daneben legen sie auch einen engen Zusammenhang zwischen der Funktions-
weise des Gehirns und sozial, moralisch und schließlich rechtlich „richtigem“
Verhalten nahe.

_________________
291
Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 75.
292
Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 76 ff.
293
Ausführlich Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 227 ff.
294
Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 277 ff.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 315

Auch eine Studie von Greene und seinen Kollegen belegt eindrucksvoll die
Bedeutung von Emotionen bei moralischen Entscheidungen.295 Sie konfrontier-
ten ihre Probanden mit moralisch (und rechtlich) schwierigen Situationen. Die
von den Probanden zu treffenden Entscheidungen wurden eingeteilt in „moral-
personal“, „moral-impersonal“ und „non-moral“. „Non-moral“ waren dabei
beispielsweise Entscheidungen, die sich auf die Wahl bezogen, eine Strecke in
bestimmter Zeit entweder mit dem Bus oder mit dem Zug zurückzulegen oder
beim Einkauf zwischen verschiedenen Coupons zu wählen. Zu den „moral-
impersonal“ Entscheidungen gehörten solche, Geld aus einer gefundenen Brief-
tasche zu behalten oder nicht. Auch der unter Juristen vieldiskutierte „Wei-
chensteller-Fall“296, in der Variante, dass ein Zug auf fünf Personen zurast und
durch Umlegen einer Weiche auf ein anderes Gleis gesetzt werden kann, auf
dem sich aber ebenfalls eine Person befindet, die dann sterben müsste, gehört
nach der Einteilung von Greene und seinen Kollegen zu diesem „moral-
impersonal“-Typus von Entscheidungen. Eine Variante des Weichenstellerfal-
les wird dagegen von den Versuchsleitern den „moral-personal“ Entscheidun-
gen zugeordnet: Hier kann der Zug, der wiederum auf fünf Menschen zurast,
dadurch gestoppt werden, dass ein Mensch von einer Brücke auf die Gleise
gestoßen wird und so den Zug blockiert – freilich unter Verlust seines Lebens.
Eine ebenfalls „moral-personal“ Entscheidung bildet die Variante, dass einem
Menschen seine (lebenswichtigen) Organe geraubt werden, um damit fünf
andere Menschen am Leben zu erhalten. Während die Probanden zu entschei-
den hatten, ob sie die Handlung für moralisch angemessen hielten, wurden ihre
Hirnaktivitäten mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT)
aufgezeichnet. Greene und seine Kollegen stellten fest, dass Bereiche im Ge-
hirn, die mit Emotionen assoziiert werden, bei den „moral-personal“ Entschei-
dungen signifikant stärker aktiv waren, als bei den „moral-impersonal“ Ent-
scheidungen. Umgekehrt war das Arbeitsgedächtnis, das bei emotionalen Pro-
zessen weniger eingebunden ist als bei kognitiven, bei den „moral-personal“
Entscheidungen signifikant schwächer aktiv als bei den „moral-impersonal“
Entscheidungen. Das Arbeitsgedächtnis umfasst alle Strukturen und Prozesse,
die der vorübergehenden Speicherung und Verarbeitung von Informationen
dienen, und ermöglicht so ein kontinuierliches Erleben der Wirklichkeit. Zwi-
schen der Hirnaktivität bei „moral-impersonal“ und „non-moral“ Entscheidun-
gen konnten hingegen keine signifikanten Unterschiede gemessen werden.
Greene und seine Kollegen folgern daraus, dass aus neurowissenschaftlicher

_________________
295
Siehe Greene et al., Science 293 (2001), S. 2105 ff.; vgl auch Greene/Haidt,
Trends in Cognitive Sciences 6 (2002), S. 517 ff.
296
Dazu Welzel, ZStW 63 (1951), S. 51; die gleiche Konstellation wird übrigens auch
in der angelsächsischen Moral- und Rechtsphilosophie (und gewiss ohne Kenntnis des
Welzelschen Aufsatzes) erörtert; vgl. insb. Thomson, Rights, S. 39.
316 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Sicht der wesentliche Unterschied zwischen diesen Formen moralischen Ent-


scheidens in der Aktivität der mit Emotionen korrelierten Hirnbereiche liege.297
Moralische Entscheidungsprozesse sind damit ebenso abhängig von be-
stimmten Hirnaktivitäten wie Entscheidungen ohne moralische Implikationen.
Erstaunlich ist vor allem die Entdeckung von Greene und seinen Kollegen, dass
zwischen der Entscheidung, einen Bus oder einen Zug zu nehmen, und der
Entscheidung, Geld aus einer fremden Brieftasche zu behalten, aus hirnphysio-
logischer Sicht keine signifikanten Unterschiede in der Beteiligung emotionaler
Bereiche bestehen.
Im Folgenden soll die Bedeutung von Emotionen anhand der Entwicklung
des einzelnen Menschen verdeutlicht werden und in Zusammenhang mit dem
Verantwortungsgefühl für eine Handlung gebracht werden. Aufschluss hierüber
gewährt ein Abgleich von Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung.

2. Entwicklung

In der frühen Embryogenese wird die Wanderung der Neuroblasten an ihren


endgültigen Standort im Gehirn von genetisch bedingten Informationen gesteu-
ert. Die Neuroblasten bilden Axone und Dendriden aus, die schließlich ihrer-
seits Synapsen bilden, um so mit anderen Neuronen kommunizieren zu kön-
nen.298 Die Synapsendichte steigt bei Säugetieren in der späten Embryonalpha-
se an. Dieser Anstieg erreicht sein Maximum in den ersten Lebensmonaten,
wonach die Synapsendichte aufgrund von Selektion und Elimination unter dem
Einfluss sensorischer Stimulation wieder zurückgeht.299 Dieser Vorgang lässt
sich postnatal heute mittels SPECT und PET beobachten.300 Er wird größten-
teils durch den Kontakt des Kindes mit seiner Umwelt beeinflusst.301 Die neu-
ronalen Verbindungen entstehen also zunächst nach einem vorläufigen Muster,
das nur eine grobe Annäherung an den endgültigen Zustand darstellt. Findet in
der postnatalen Phase keine ausreichende Stimulation wichtiger Neuronenver-
bände statt, verlangsamt sich Beobachtungen zufolge die Entwicklung des
Kindes.302 Etabliert scheint schließlich zu sein, dass es kritische zentralnervöse
Entwicklungsphasen gibt, die offenbar einem präzisen genetischen Kalender
_________________
297
Siehe Greene et al., Science 293 (2001), S. 2107; Greene/Haidt, Trends in Cogni-
tive Sciences 6 (2002), S. 522.
298
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 495.
299
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 498; s. auch Roth, Fühlen, Denken, Han-
deln, S. 387 f.; Singer, Was kann ein Mensch wann lernen?, S. 47.
300
Zu diesen bildgebenden Verfahren vgl. die Ausführungen oben, S. 243 f.
301
Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 351 f.
302
Siehe Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 346.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 317

folgen. Werden bestimmte Fähigkeiten nicht bis zu einem gewissen Lebensalter


erlernt oder einige Fehlentwicklungen des Nervensystems nicht innerhalb einer
bestimmten Entwicklungsphase behoben, dann lassen sich die entstandenen
Zustände später kaum mehr beheben.303 Jenseits der genetischen Veranlagung
wird die Entwicklung des Nervensystems also auch durch die Qualität der Be-
ziehung des Kindes zu seiner Umwelt beeinflusst.304
Im Gegensatz zu kognitiven Zentren ist das limbische System bereits vor der
Geburt funktionstüchtig. Der Säugling erfährt daher bereits vor der Geburt
emotional afferente Zustände der Mutter, die unbewusst verarbeitet werden.305
Erst mit zweieinhalb Jahren findet ein Reifesprung des präfrontalen Kortex
hinsichtlich des dendritischen Längenwachstums und der synaptischen Fein-
verknüpfungen statt, wodurch die Ausbildung reflexiven Denkens und anderer
höherer kognitiver Leistungen sowie des Ich-Bewusstseins stattfinden kann.306
Der Säugling verfügt danach bei der Geburt über ein emotionales System, wel-
ches sein Zu- oder Misstrauen gegenüber der Welt bereits beeinflusst, bevor
eine bewusste rationale Reaktion stattfinden kann. Roth zufolge ist es daher
fraglich, inwieweit später einsetzende bewusste Prozesse noch Einfluss auf
bereits vorhandene emotionale Bewertungen nehmen können.307
Wegen des fehlenden Arbeitsgedächtnisses stehen alle Erlebnisse für das
Neugeborene noch unverbunden nebeneinander. Sein Gehirn entwickelt sich
jedoch so schnell, dass der Säugling bereits mit drei bis sieben Monaten in der
Lage ist, einfache Handlungen zu verstehen und Erwartungshaltungen zu zei-
gen. In dieser Zeit entwickelt sich ein vorbewusstes Gedächtnis.308 Bis zum
achtzehnten Lebensmonat hat der Säugling ein Konzept von innerer und äuße-
rer Motivation entwickelt. Das Kind hat nun außerdem ein deklaratives Ge-
dächtnis für Fakten und Ereignisse sowie ein Arbeitsgedächtnis entwickelt.
Hinzu kommt, dass das Kind beginnt, sich seiner emotionalen Erlebnisse be-
wusst zu werden. Dabei spricht es jedoch in der dritten Person von sich selbst
und geht noch davon aus, dass das innere Wesen bei allen Menschen gleich ist.

_________________
303
Dies betreffe beispielsweise die Sehfähigkeit schielender Kinder oder Deprivatio-
nen sog. „Kaspar-Hauser-Kinder“; s. Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 348; vgl.
auch Singer, Was kann ein Mensch lernen?, S. 48.
304
Siehe Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 352; vgl. auch Teuchert-Noodt/
Schmitz, S. 146 f.
305
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 382; Teuchert-Noodt/Schmitz, S. 140.
306
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 391 f.
307
So Roth, Eröffnungsvortrag 1998. Vgl. dazu auch Teuchert-Noodt/Schmitz, S. 141.
Siehe zum empirischen Nachweis daneben M. Pauen, Selbstbewußtsein, S. 113–116.
308
Vgl. L. Köhler, S. 153 ff.
318 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Es projiziert, mit anderen Worten, die eigenen emotionalen Erlebnisse und


Erwartungen in andere Menschen.309
Bis zum sechsunddreißigsten Monat hat sich ein reflexives Bewusstsein
entwickelt. Das Kind gebraucht nun Wörter wie „ich“ oder „mein“, ohne dass
ihm jedoch deren Bedeutung unbedingt bewusst ist.310 Erst zwischen dem drit-
ten und vierten Lebensjahr bilden sich klare Erinnerungen, das Kind erkennt
die persönliche Bedeutung von Sachen, beginnt Vorhersagen zu treffen und
über seine inneren Absichten Auskunft zu geben.311 Komplexere kognitive
Leistungen wie operationales Denken entwickeln sich im Alter von sieben bis
elf Jahren mit der Ausreifung des präfrontalen Kortex. Vom Ende des zehnten
Lebensjahres an zeigt sich die Fähigkeit zu abstrakt logischem Denken. Es
können komplizierte Verhaltensentscheidungen in komplexen Situationen ge-
troffen werden, die mit der Entwicklung des orbifrontalen Kortex einhergehen.
Die neuronale Grundlage für „vernünftiges“ Verhalten beginnt sich zu entfal-
ten. Der Reifungsprozess des Neocortex312 als Träger des bewussten Ichs ist
schließlich erst mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen.313
Der Vergleich von Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung macht
deutlich, dass das Verständnis des Menschen von sich und seiner Umwelt mit
der Entwicklung seines Gehirns einhergeht. Das Ich-Gefühl und damit den
Eindruck, Initiator von Handlungen zu sein, bringt der Mensch nicht mit auf die
Welt. Ebenso wie das Kind mit drei Jahren einen Namen auf sich bezieht und
diesen verwendet, um sein inneres Erleben oder seine subjektiven Zustände
auszudrücken („Hans hat Hunger.“), erlernt es auch die Rückführung von
Handlungen auf die Initiative seines Willens.
Mit dem bewussten „Ich“ verbindet sich wegen seiner erst späten Entwick-
lung über Sprache und Erziehung eine soziale Komponente. Es entwickelt sich
damit lange nachdem die wesentlichen emotionalen Bewertungskriterien her-
ausgebildet wurden.314 Roth nimmt daher an, dass das mit dem Ich-Gefühl
_________________
309
Siehe L. Köhler, S. 166 ff.
310
Vgl. L. Köhler, S. 175 ff.
311
So Roth, Eröffnungsvortrag 1998; vgl. auch ders., Grundlagen, S. 203; S. Pauen,
S. 291 ff.; Newen, S. 40 ff.
312
So bezeichnet, weil er phylogenetisch erst bei Säugern auftritt.
313
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 392; vgl. auch Singer, Was kann ein
Mensch lernen?, S. 54. Nach Rothenberger geht aus Messungen mittels SPECT und
PET hervor, dass der Metabolismusanstieg, der mit dendritischer Entwicklung und
Synaptogenese einhergeht, zuerst in tiefer liegenden Regionen und im primären Kortex
beobachtet wird und erst danach in assoziativen Hirnrindenbereichen (Enzyklopädie C/I
5, S. 351).
314
Vgl. auch Singer: „Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensin-
halte, die über genetisch Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewusste Lernvor-
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 319

einhergehende Bewusstsein nur ein besonderes Hilfsmittel ist, das eingesetzt


werde, wenn komplexe neuartige Situationen auftauchten, für welche die bishe-
rige Erfahrung keine Lösung anbiete.315 Aus der zeitlich verzögerten Entwick-
lung des Selbstbewusstseins gegenüber dem biologisch-egoistisch arbeitenden
Bewertungssystem könnten Konflikte im Sozialverhalten entstehen, die sich
das Individuum selbst nicht erklären kann oder wofür es fadenscheinige Be-
gründungen angibt.316 Denn die tatsächlichen Antriebe und Grundstrukturen
des Handelns seien, weil weitestgehend unbewusst erworben, dem Individuum
nur zu einem geringen Teil einsichtig.317 Dafür spreche auch, dass die Bahnen,
die von Gehirnarealen der unbewussten Verarbeitung zu der an Bewusstseins-
prozessen beteiligten Großhirnrinde führen, viel stärker ausgeprägt sind als die
Bahnen in umgekehrter Richtung. Hieraus schließt Roth, dass bewusste Vor-
gänge stark vom unbewussten limbischen System beeinflusst werden, selbst
aber nur geringe Einwirkungsmöglichkeiten zurück haben.318 „Das Bewußtsein
kann deshalb auch nicht herausbekommen, woher Gedanken, Gefühle und
Antriebe kommen, und nimmt fälschlich an, daß sie von ihm selbst stammen
oder ,aus heiterem Himmel‘. Gleichzeitig stellt unser Bewußtsein fest, daß das
Gehirn und unser Körper etwas tun, und hält sich ebenso fälschlich für den
wahren Verursacher.“319

3. Zielvorstellungen

Wie sich bereits bei der Diskussion des Handlungsbegriffs herauskristalli-


siert hat, ist es nicht nur das Erleben des Entschlusses, eine unmittelbare Bewe-
gung auszuführen, welches dem Menschen sein Freiheitsgefühl vermittelt,
sondern daneben auch der Eindruck, entferntere Zielvorstellungen umsetzen zu
können. Zwar wurden im Libet-Experiment nur einfache willkürliche Bewe-
gungen mit unmittelbar vorangehenden Willensentschlüssen untersucht. Die
_________________

gänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewußtmachung entziehen, stehen [...]
nicht als Variablen für bewußte Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken
sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewußte Entscheidungsprozesse (Verschaltun-
gen, S. 59).
315
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 1.
316
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 4.
317
Siehe Roth, Vortrag, S. 1; vgl. auch Singer: „Es scheinen [...] nur solche Erre-
gungsmuster bewußt zu werden, die zumindest Teillösungen repräsentieren“ (Grenzen,
S. 294).
318
Siehe Roth, Vortrag, S. 6.
319
Roth, Vortrag, S. 7; vgl. auch Singer: „Wenn die Prämisse gilt, daß neuronale Pro-
zesse erst dann bewußt werden können, wenn sie sich Lösungen nähern, dann bleibt die
Erfahrung, frei zu sein, widerspruchsfrei, weil wir uns der Aktivitäten nicht gewahr
werden, welche die Entscheidungen vorbereiten“ (Grenzen, S. 296 f.).
320 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

Überlegung aber, dass der subjektive Wille dann vielleicht als über einen länge-
ren Zeitraum planende Zielvorstellung Handlungen beeinflussen könnte, igno-
riert nach dem Gesagten die Tatsache, dass diese Zielvorstellung ebenfalls nicht
ohne neuronale Korrelate entsteht.320 Wohl mag man sagen, dass ohne die er-
lebten Zielvorstellungen auch die Handlung sehr wahrscheinlich anders ausge-
fallen wäre und darin eine Form der „Mitverursachung“ von Handlungen durch
subjektives Erleben sehen; diese Mitverursachung begründet aber keinerlei
„Freiheitsspielraum“ im herkömmlichen und für die Zuweisung von Schuld
erforderlichen Sinne.321
Roth und seine Kollegen nehmen an, dass die Aufnahme der Zielrepräsenta-
tion in das neuronale Korrelat des Bewusstseins dazu dienen könnte, diese
Neuronennetze für verschiedene, anatomisch möglicherweise weit auseinander
liegende Teilprozesse des Nervensystems zur Verfügung zu stellen. Das neuro-
nale Korrelat der bewussten Zielvorstellung scheine gegenüber dem neuronalen
Korrelat einer einfachen bewussten Vorstellung einen besonderen Zugriff auf
das motorische System zu haben, so dass die Differenz zwischen der Repräsen-
tation des aktuellen Zustandes und der des Zielzustandes minimiert werden
könnte. Eine solche Interpretation der Handlungsorganisation stimme auch
überein mit dem phänomenologischen Faktum der Attraktivität des Ziels.322
Anzunehmen sei, so die Theorie von Lotte Köhler, dass die subjektiv erfah-
renen Zielvorstellungen oder Intentionen einen Zweck erfüllten. Ihre neurona-
len Korrelate seien vermutlich die Grundlage für ein Bewusstsein von dem
zukünftigen Verhalten anderer, wodurch ein Selektionsvorteil entstünde.323
Einen neuen Ansatz im Verständnis des Zusammenhanges zwischen Wahr-
nehmung und gezielter Handlung hat Prinz entwickelt. In seinem Arbeitsmodell
ordnet er, kurz zusammengefasst, zunächst jeder Bewegung eine beliebige
Anzahl mit ihr einhergehender, wahrnehmbarer Effekte, unter anderem Verän-
derungen in der Umwelt, zu. Da die jeweilige Bewegungsausführung regelmä-
ßig mit diesen Effekten einhergeht, kann dieser Wirkungszusammenhang er-
lernt werden. Es bilden sich sogenannte „Handlungscodes“, das heißt entfernte-
re Effekte („Zielcodes“) werden mit den hierzu erforderlichen Bewegungen
(„Bewegungscodes“) kombiniert und im Gedächtnis niedergelegt. Die motori-
sche Ausführung der Bewegungen ist ihrerseits erlernt und an den Bewegungs-
_________________
320
Vgl. dazu Roth, Lampe-FS, S. 53 f.; ders., Fühlen, Denken, Handeln, S. 526.
321
Vgl. dazu auch die Kritik an der Identitätstheorie, die ebenfalls eine Kausalität des
Bewusstseins zu erklären vermag, S. 300, sowie unten, S. 324.
322
Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 16.
323
Vgl. L. Köhler, S. 167. Auch hier gilt freilich, dass das Gehirn oder seine neurona-
len Strukturen keine Intentionen oder Vorstellungen bilden. Sie operieren auf der Basis
vorhandener Netzwerke, weshalb die mentale Repräsentation in Gestalt einer Vorstel-
lung nicht mit den korrelierten neuronalen Vorgängen zu verwechseln ist.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 321

code gebunden. Mit der Aktivierung eines Handlungscodes und der Spezifizie-
rung der geeigneten Bewegung wird damit auch die hierfür erforderliche Moto-
rik abgerufen.324 Da Handlungscodes lediglich gespeicherte Wahrnehmungen
von Ereignissen repräsentieren, werden mit jeder entsprechenden aktuellen
Wahrnehmung auch Handlungstendenzen induziert, denn die aktuell wahrge-
nommenen Ereignisse sind, zergliedert in Einzeleffekte, bereits in den Hand-
lungscodes gespeichert und werden entsprechend abgerufen. Wahrnehmung
und Handlung stünden danach in einem Wirkungszusammenhang, in dem „die
Endprodukte der Wahrnehmung aus dem gleichen Stoff gemacht sind wie die
Ausgangsprodukte der Handlungssteuerung“.325 Auch nach diesem Modell
entfällt also die subjektive Willenserscheinung als handlungsauslösender Fak-
tor. Handlungsverursachend sind Prozesse, die sich nach Ansicht Prinz’ im
Prinzip neurobiologisch beschreiben lassen.326

4. Grenzen subjektiven Erlebens

Es soll nun ein Thema aufgegriffen werden, das bereits im ersten Teil dieser
Arbeit kurz gestreift wurde und auch im zweiten und dritten Teil immer wieder
eine Rolle spielte. Es geht um die Verlässlichkeit des eigenen subjektiven
Erlebens. Trugschlüsse im subjektiven Erleben sind in der Gehirnforschung seit
langem bekannt und liefern einen weiteren Hinweis darauf, wie eng Gehirn-
funktionen und subjektives Erleben miteinander verbunden sind. Dieser Zusam-
menhang lässt sich an Patienten mit Gehirnläsionen, insbesondere der „Ano-
sognosie“ gut studieren.
Anosognosie wird eine Krankheit genannt, bei welcher der Patient seine neu-
rologischen Ausfälle selbst nicht erkennt oder zur Kenntnis nimmt. In der Re-
gel liegt hier eine Verknüpfung zwischen zwei Krankheiten vor. Die eine be-
steht zum Beispiel in einer einseitigen Lähmung nach einem Schlaganfall oder
im Verlust motorischer Kontrolle, die andere in der Schädigung bestimmter
Areale des Gehirns, bei denen man davon ausgeht, dass sie das subjektive Erle-
ben beeinflussen. Nach Roth überlieferte Seneca den ältesten bekannten dieser
Fälle, in welchem eine Patientin den Ausfall ihres Sehvermögens damit erklär-
te, dass es bei ihr zu Hause so dunkel sei.327 Roth berichtet außerdem: „Fordert
man Anosognosie-Patienten, die eine Lähmung der linken Körperhälfte haben,
auf, die linke Hand zu reichen, so ignorieren sie entweder die Aufforderung,
versuchen abzulenken oder geben Pseudoerklärungen wie: ,Ich kann den Arm
_________________
324
Siehe Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 43 ff.
325
Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 46.
326
Siehe Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 40.
327
Roth, Gehirn, S. 216.
322 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

nicht heben, weil ich so müde bin.‘ “328 In einem anderen Fall habe ein Patient
statt der linken die rechte Hand gegeben und, als er darauf aufmerksam ge-
macht wurde, behauptet, er habe drei Hände, eine linke, die er tatsächlich nicht
bewegt hatte, die rechte, die er seiner Meinung nach nicht bewegt hatte und
eine imaginäre dritte, die nach seiner Ansicht vorhanden sein musste, weil sein
Gehirn meldete, dass tatsächlich eine Hand bewegt wurde.329 Die Krankheit
kann sich auch daran zeigen, dass Gliedmaßen als fremd angesehen werden.
Patienten behaupteten dann, man habe ihnen über Nacht ein fremdes Bein an-
genäht oder ins Bett gelegt.330
Diese Fälle verdeutlichen die Abhängigkeit des subjektiven Erlebens von
funktionierenden Gehirnprozessen und lassen damit die Verlässlichkeit des
eigenen Empfindens nur als relativ erscheinen.331 So stellten Fried und seine
Kollegen bei Untersuchungen fest, dass eine elektrische Stimulation des SMA
unterschiedliche Gefühle bei den Probanden hervorrief. Einige berichteten von
einem „Drang“ zur Bewegung, andere hatten den Eindruck, eine Bewegung
ihres Körpers stünde unmittelbar bevor.332 Die Ähnlichkeit zum Erleben der
Probanden Libets bedarf kaum eines Hinweises. Es erscheint damit möglich,
dass auch das Gefühl, welches in der strafrechtlichen Versuchslehre mit den
Worten „Jetzt-geht-es-los“ umschrieben wird, eine Folge neuronaler Prozesse
im Bereich des SMA ist, die automatisch eingeleitet werden, sobald ein Ab-
gleich der aktuellen Situation mit gespeicherten Informationen ein bestimmtes
Bewegungsmuster aktiviert.
Ein solches Erleben ist jedoch für die betroffene Person ebenso real wie die
ohne äußere Einwirkung auf das Gehirn erzeugten Erlebniszustände. Denn
ebenso wie Anosognosie-Patienten können sich auch gesunde Menschen nicht
außerhalb ihres eigenen Erlebens stellen. Auch sie sind also nicht in der Lage,
eine ihnen rational und emotional sinnvoll erscheinende Motivation objektiv
noch weiter zu hinterfragen.333
„Falsche“ Motivationen können jedoch nicht nur im Organismus selbst er-
zeugt, sondern ebenso von außen vermittelt werden. Denn jeder Abruf einer
Erinnerung verändert, Lotte Köhler zufolge, die ursprüngliche Erinnerung bei
_________________
328
Roth, Gehirn, S. 217.
329
Vgl. Roth, Gehirn, S. 217.
330
Vgl. Roth, ebd.
331
Dazu auch Roth, Lampe-FS, S. 56.
332
Fried et al., The Journal of Neuroscience, S. 3658 ff.; vgl. dazu auch Lang/
Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 234. Eine Beteiligung des SMA konnten auch Naito et
al. ausmachen, als sie durch Stimulation des Bizeps Tendon mit 70–80 Hz Frequenzen
lediglich die Illusion einer Armbewegung hervorriefen (s. Naito et al., The Journal of
Neuroscience 19/14 [1999], S. 6137 ff.).
333
Vgl. auch Singer, FAZ v. 8.1.2004, S. 33.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 323

Kindern wie auch bei Erwachsenen. Da aber auch leicht veränderte Gegeben-
heiten bei einem Neuabruf in die Erinnerung eingebaut würden, stehe die ur-
sprüngliche Erinnerung nicht mehr zur Verfügung. Dies sei für Zeugenaussa-
gen von Belang.334 Erinnerungen und entsprechend die subjektiven Aussagen
über eine Motivation wären damit nur mit weit größerer Vorsicht zu verwerten,
als dies dem persönlichen Erleben des Aussagenden entspricht, der die eigene
Erinnerung regelmäßig für eine getreue Wiedergabe des tatsächlich Geschehen-
en hält.335
Zu dieser Verwechslung kommt es, weil der Mensch in seinem Erleben ab-
hängig ist von den neuronalen Vorgaben seines Gehirns. Außerhalb des beste-
henden biologischen Systems ist es ihm nicht möglich zu denken oder zu füh-
len. Wegen des Fehlens eines Einblicks des erlebten „Ichs“ in neuronale Pro-
zesse sind ihm damit Grenzen gesetzt. Weil der Mensch keine Kenntnis von
den komplizierten neuronalen Vorgängen habe, die dem erlebten Willen und
jeder Handlung unmittelbar vorangehen, komme er, so Roth, zu dem Eindruck,
der Wille stünde außerhalb kausaler Verursachung und steuere unmittelbar die
Handlungen.336 Deshalb nehme der Mensch an, selbstbestimmte Gründe und
nicht natürliche Ursachen steuerten sein Handeln. „Es ist diese Selbst-
zuschreibung, die uns das Gefühl, etwas frei zu wollen, vermittelt.“337 Diesen
Ansatz verfolgt auch der amerikanische Psychologe Wegner. In mehreren Ver-
suchen hat er die „erlebte“ kausale Rolle des Mentalen in Bezug auf das Ver-
halten in Zweifel gezogen. Es zeigte sich, dass Probanden sich bei bestimmten
Versuchsanordnungen Verhaltensweisen zuschrieben, die tatsächlich fremdver-
ursacht waren. Als Willensbetätigung wird nach Wegner eine Bewegung erfah-
ren, wenn Gedanken als Ursache der Bewegung interpretiert werden. Dazu ist
_________________
334
Vgl. L. Köhler, S. 157; vgl. auch Machleidt, S. 478 f. Bestätigung findet dies
durch die Untersuchungen von Elizabeth F. Loftus. Sie zeigte, wie leicht Erwachsene
dahingehend zu beeinflussen sind, „falsche“, also nicht tatsächlich erlebte Erinnerungen,
als eigene Erinnerungen anzunehmen. Derartiges könne nach Ansicht Loftus bei polizei-
lichen Verhören wie auch bei therapeutischen Sitzungen auftreten. Ein lediglich vorge-
stelltes Ereignis „schleicht“ sich dabei in die Erinnerung und wird später als tatsächlich
erlebt empfunden. Besonders einfach zu manipulieren seien dabei die ohnehin nur lü-
ckenhaft vorhandenen Kindheitserinnerungen. „Offensichtlich wird einem ein intensiv
vorgestelltes Ereignis scheinbar vertrauter, und diese Vertrautheit bringt man dann
irrtümlich mit Kindheitserinnerungen in Verbindung statt mit dem Vorstellungsakt. Eine
solche Quellenverwechslung – bei der man sich nicht mehr an die Herkunft der Informa-
tion erinnert – ist in Zusammenhang mit den entlegenen Ereignissen der Kindheit oft
besonders ausgeprägt“ (Loftus, Spektrum der Wissenschaft/Digest 2 [2001], S. 64 f.;
vgl. auch dies., Nature Reviews: Neuroscience 4 [2003], S. 231 ff.).
335
Vgl. zu diesem Problem auch Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, S. 78 f.
336
Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 397; vgl. auch Singer, Verschaltungen,
S. 50.
337
Roth, Fühlen, Denken, Handeln (1. Aufl.), S. 445.
324 Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften

erforderlich, dass der Gedanke inhaltlich mit der Bewegung übereinstimmt,


dass dieser Gedanke der Bewegung eine bestimmte Zeitspanne vorangeht und
dass für den Handelnden andere Ursachen der Bewegung nicht in Betracht
kommen. Tatsächlich gehen Wegner zufolge Gedanken und Bewegungen je-
weils unbewusste Ursachen voran; Bewegungen würden nicht durch Gedanken
verursacht.338
Auch Prinz weist darauf hin, dass sich die Psychologie auf fast allen For-
schungsgebieten mit Ausnahme der Willens- und Handlungstheorie schon seit
langer Zeit von der Vorstellung verabschiedet habe, „dass die Beobachtung der
eigenen geistigen Tätigkeit ein auch nur annähernd zutreffendes Bild von den
zugrundeliegenden kognitiven Prozessen liefern kann“.339

II. Exkurs: Epiphänomenalismus

Wenn Handlungen auf neuronalen Prozessen beruhen und nicht durch den
Willen verursacht werden und auch Zielvorstellungen nicht geeignet erschei-
nen, Handlungsabläufe zu beeinflussen, dann drängt sich die Annahme auf,
dass der menschliche Geist etwas sein könnte, das zwar irgendwie vorhanden
ist, dem aber keinerlei Funktion zukommt. Libet fiel es schwer, das Bewusst-
sein als eine bloße „Begleiterscheinung“ zu begreifen, die ohne jeden Einfluss
auf unsere Handlungen bleibt. Aus einer solchen Qualifizierung (oder Disquali-
fizierung) des Bewusstseins zum „Epiphänomen“ würde folgen, dass wir unse-
re Handlungen auch ohne Bewusstsein ganz genauso vollziehen würden.340
Dieser Vorstellung einer vollständigen und durchgängigen Substrahierbarkeit
des Bewusstseins vom menschlichen Handeln, ohne dass dieses Handeln selbst
im Mindesten modifiziert würde, liegt ersichtlich ein dualistischer Trugschluss
zugrunde. Denn es wird nicht berücksichtigt, dass die neuronalen Prozesse
ihrerseits andere wären, wenn die konkrete Entscheidung nicht subjektiv erfah-
ren würde. Roth führt die Beobachtung an, dass Patienten mit schweren Ich-
Störungen zugleich massive Verhaltensstörungen aufweisen341, eine Tatsache,
die deutlich macht, dass nicht einfach bestimmte subjektive Phänomene weg-
gedacht werden können, ohne dass sich der gesamte Organismus verändert. Das
heißt nicht, dass die subjektive Entscheidung die neurobiologischen Prozesse
beeinflusst, wohl aber, dass die neuronalen Korrelate dieser subjektiven Ent-
scheidung für den nächsten neuronalen Zustand mitbestimmend sind. Das
_________________
338
Vgl. Wegner/Wheatley, American Psychologist 54 (1999), S. 480 ff.; D. M. Weg-
ner, Illusion, S. 63 ff.; zustimmend Markowitsch, Psychologische Rundschau 55 (2004),
S. 167.
339
Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 41.
340
Vgl. auch die Darstellung des Epiphänomenalismus bei Searle (2001), S. 13 ff.
341
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 395.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben 325

menschliche Bewusstsein kann daher nicht hinweggedacht werden, ohne dass


sich zugleich auch neuronale Prozesse und damit das gesamte Verhalten verän-
dern würden.
Im Übrigen kommt dem bewussten Erleben in der Entwicklungsgeschichte
des Menschen als auch in der von Tieren ganz offenkundig eine wichtige Funk-
tion zu. Jedenfalls erweitert es insbesondere mit den Gedächtnisleistungen die
Handlungsmöglichkeiten des jeweiligen Organismus. Eine Bedeutung des Be-
wusstseins für das Verhalten ist damit schwerlich in Abrede zu stellen. Aber für
die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, die dem spezifisch menschlichen
„Ich-Bewusstsein“ zugesprochen werden, spricht damit allein ersichtlich eben
noch nichts.
Teil 4

Fazit

Kapitel 1
Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht

I. Die willentliche Verhaltenssteuerung in der Dogmatik

Der normative Rahmen, in dem Schuld zugesprochen wird, findet im Straf-


prozess eine faktische Grenze in den empirischen Sachverhalten, die der recht-
lichen Beurteilung zugrunde liegen. Zu ihnen wird allgemein die willentliche
Verhaltenssteuerung gerechnet, die als begriffliches Konglomerat aus subjekti-
vem Erleben und metaphysischer Überzeugung über die Konzeption eines
„allgemeinen, von jedem geteilten Erlebens“ als eine der abstrakten Bedingun-
gen strafrechtlicher Schuld gilt. Dass sie im Strafprozess als (vermeintlich)
empirisches Faktum in Erscheinung tritt, ergab zunächst eine Analyse der Kri-
terien, die für das Vorliegen einer Nichthandlung sprechen.1 Ließe man hier die
willentliche Steuerung als Kriterium der Abgrenzung von Handlungen und
Nichthandlungen entfallen, stünde kein durchgängig anwendbares Abgren-
zungsmerkmal mehr zur Verfügung, sondern nur noch eine Gruppe unzusam-
menhängender einzelner Kriterien mit jeweils bloß beschränkter Reichweite,
orientiert am Bewusstsein oder – im Fall von Reflexhandlungen – an der blo-
ßen neuronalen Verarbeitung von Stimuli der Außenwelt. Es gäbe jedoch keine
alle Nichthandlungen umfassende Systematik mehr, mittels deren sich für jeden
Einzelfall ableiten ließe, wann eine Nichthandlung vorliegt. Daneben wird auch
unter dem systematischen Titel „Vermeidbarkeit“ danach gefragt, ob ein ande-
res als das tatsächlich vollzogene Verhalten hätte realisiert werden können. Da
diese Möglichkeit aber ihrerseits wenigstens willentliche Verhaltenssteuerung
voraussetzt, eröffnet sie sich nur bei Vorliegen einer Handlung, setzt also all
das voraus, was bereits für die Handlungsqualität gefordert wird.2 Schließlich
ist die bewusste Kenntnis des eigenen Verhaltens als eines objektiven Tatum-
stands im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB unabdingbare Voraussetzung für die
_________________
1
Siehe oben, S. 143 ff., 158.
2
Vgl. oben, S. 187 ff., 207 f.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 327

Bejahung der inneren Tatseite. Dieser subjektive Erlebnisgehalt einer Willens-


betätigung bezieht sich entweder auf das unmittelbar den Verletzungserfolg
herbeiführende Verhalten3 oder auf ein dem Erfolg zeitlich vorangehendes,
einen Sorgfaltspflichtverstoß begründendes Verhalten.4 Es handelt sich inso-
weit einerseits beim „natürlichen Willen“ als Voraussetzung einer Handlung
(der Willensbetätigung) lediglich um ein „Minus“ gegenüber dem „Vorsatzwil-
len“5, andererseits zeigt sich an der Anerkennung der unbewussten Fahrlässig-
keit als eines möglichen tatbestandsmäßigen Verhaltens, dass nicht nur eine
Fähigkeit zur realen Willensbetätigung, sondern auch eine solche zur Willens-
erzeugung verlangt wird (wobei die letztere Forderung das Postulat eines kog-
nitiven Aktes – nämlich: eine bestimmte Wahrnehmung zu haben beziehungs-
weise zu machen – einschließt). Diese Anforderungen harmonieren mit der
üblichen Vorstellung, das Bewusstsein gehe dem Verhalten mit zeitlichem
Vorsprung voran; denn dann und genau deshalb – so diese Auffassung – kann
ein normativ „vernünftiger“ Wille gebildet (und gegebenenfalls die Un-
rechtseinsicht im Sinne von § 17 StGB erlangt) werden, der seinerseits das
anschließende Verhalten erzeugt. Ausgehend von den neurowissenschaftlichen
Untersuchungen Libets und anderer lassen sich die Bedingungen der Entste-
hung menschlichen Verhaltens jedoch mit diesen Vorstellungen eines steuern-
den beziehungsweise erzeugbaren Willens nicht in Einklang bringen.
Da die bewegungseinleitende neuronale Aktivität immer vor dem subjektiv
erlebten Willensentschluss zur Durchführung der konkreten Bewegung einsetzt,
kann dem Willen keine Initiativfunktion für die Bewegung zukommen.6 Ein
vorangegangener allgemeiner Entschluss, irgendwann eine bestimmte Bewe-
gung auszuführen, versagt nicht nur bei der Erklärung des Aufbaus mehrerer
Bereitschaftspotentiale, sondern ist als dolus antecedens auch strafrechtlich
kein tauglicher Anknüpfungspunkt. Daneben kann auch das Zustandekommen
dieses Entschlusses nicht unbesehen als Letztbegründung einer Verhaltenswei-
se postuliert werden. Denn auch dem bewussten Entschluss oder der bewussten
Planung gehen unbewusste neuronale Aktivitäten voran, ohne die Bewusstsein
nicht entstehen kann und die ihrerseits der menschlichen Willkür entzogen sind.
Von diesem Mangel einer Initiativfunktion abgesehen, kommt dem Willen aber
_________________
3
Siehe oben, S. 213 ff., 221.
4
Dazu oben, S. 222 ff., 232.
5
Genauer – da viele einen echten Vorsatzwillen nicht verlangen: die Vorsatzkennt-
nis muss, soweit sie sich auf die sorgfaltswidrige Handlung bezieht, natürlich auch deren
Voraussetzungen, also auch den natürlichen Handlungswillen umfassen. Man kann aber
nicht sinnvoll sagen, jemand wisse, dass er einen Willen hat, weil dies über die Feststel-
lung hinaus, dass er eben diesen Willen hat, keinerlei zusätzliche Aussage enthält. Daher
gehört zur Vorsatzkenntnis notwendig das Element des „natürlichen Willens“ zur Hand-
lung.
6
Dazu oben, S. 307 f.
328 Teil 4: Fazit

auch keine Wahlfunktion zu.7 Im neurowissenschaftlichen Experiment lässt


sich anhand der Lokalisation der neuronalen Aktivität bereits vor dem Bewe-
gungsbeginn erkennen, mit welcher Körperhälfte die Bewegung ausgeführt
werden wird; und das bedeutet, dass eine Spezifikation bereits erfolgt ist. Dar-
über entscheidet also nicht erst der erlebte Willensentschluss. Schließlich
kommt dem menschlichen Willen auch keine Vetofunktion zu.8 Denn der erleb-
te Willensentschluss bei den Willkürbewegungen steht seinerseits in Abhän-
gigkeit von neuronaler Aktivität. Hierauf deutet insbesondere die Möglichkeit
hin, durch künstliche Stimulation eines bestimmten Hirnareals das subjektive
Erleben eines Willensentschlusses hervorzurufen. Entsteht das subjektive Erle-
ben und mit ihm der erlebte Wille selbst in Folge neuronaler Aktivität, dann
wird auch der Abbruch einer Bewegung lediglich von dem Erleben eines „Ab-
bruchwillens“ begleitet und nicht hierdurch hervorgerufen.
Mit diesen Erörterungen wird zunächst nur die Strafbegründungsschuld
berührt. Da die Annahme der Möglichkeit einer willentlichen Verhaltens-
steuerung aber sowohl Elemente der Außenperspektive (das wahrnehmbare
Verhalten) als auch der Innenperspektive (den nur subjektiv erfahrbaren
Willen) umfasst, wird mit ihr eine Brücke von der empirisch zugänglichen
Außenwelt, in der die Willensbetätigung erfolgt, zur Innenwelt geschlagen, in
der allenfalls eine strafrechtlich relevante Willensbildung stattfinden kann.
Hiervon wird somit auch die Annahme von „Willensfreiheit“ berührt, und
deshalb sind die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auch für die Voraus-
setzungen der Schuldidee bedeutsam, die nach verbreiteter Auffassung eben
jene Annahme eines freien Willens voraussetzt.9 Die Konsequenzen für die
behandelten strafrechtsdogmatischen Voraussetzungen und Schuldtheorien
sollen daher noch einmal im Lichte der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse
betrachtet werden.

1. Sachliches Kriterium zur Differenzierung?

Die zur Bewertung, Abgrenzung und rechtlich unterschiedlichen Behandlung


von Sachverhalten herangezogenen Kriterien müssen nach dem Bundesverfas-
sungsgericht sachlich begründet sein, um den Forderungen des Art. 3 Abs. 1
GG zu genügen.10 Soll also nach unserem Strafrecht die willentliche Verhal-
tenssteuerung eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld sein, so muss man
zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Verhaltensweisen unterscheiden
_________________
7
Dazu oben, S. 298.
8
Siehe oben, S. 296 ff.
9
Vgl. dazu oben, S. 31 ff.
10
Dazu oben, S. 119 ff.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 329

können. Diese Bewegungen lassen sich nicht nur mittels der Messung der damit
einhergehenden neuronalen Aktivität unterscheiden11; vielmehr legen Men-
schen mit Störungen des subjektiven Erlebens auch äußerlich andere Verhal-
tensmuster an den Tag,12 so dass sich insoweit vom subjektiven Erleben als
einer Bedingung bestimmter Verhaltensweisen sprechen lässt. Diese Unter-
schiede allein berechtigen jedoch nicht dazu, Verantwortlichkeit mit der Exis-
tenz erlebten Willens zu begründen. Auch wenn man hinzufügte, dass der Be-
wegung ein subjektiv erlebter Wille zwar nur Sekundenbruchteile, aber jeden-
falls regelmäßig vorangeht, wodurch im Übrigen sehr wahrscheinlich auch das
subjektive Erleben einer willentlichen Verhaltenssteuerung und damit einer
geistigen Einflussmöglichkeit auf die Bewegung hervorgerufen wird, reichte
dieser Umstand nicht, um Verantwortung zu begründen. Man könnte den Wil-
len zwar als insofern „kausal“ für das Verhalten ansehen, als dieses ohne das
subjektive Erleben anders ausfallen würde. Für eine Zurechnung bedarf es aber,
wie sich aus den Voraussetzungen der Strafbegründungsschuld ergibt, einer
objektiv feststellbaren Möglichkeit zur Steuerung, die von den neurowissen-
schaftlichen Untersuchungen gerade nicht bestätigt wird. Vielmehr erweist sich
in deren Licht eine entsprechende Annahme als unhaltbar.
Im Hinblick auf diesen objektiven Befund wurde im ersten Teil dieser Arbeit
zunächst festgestellt, dass das Zurücktreten subjektiver Überzeugungen hinter
erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen im Strafprozess das Ergebnis einer
historischen Entwicklung des Rechts ist.13 Sie war als solche nicht selbstver-
ständlich (wie sich an den frühneuzeitlichen Diskussionen um die Flugfähigkeit
von Hexen ablesen lässt), hat sich jedoch ohne Abstriche und mit guten Grün-
den durchgesetzt. Aber nicht nur die subjektive Überzeugung des Richters muss
sich an objektiven Anhaltspunkten festmachen, sondern ebenso das dem Straf-
verdikt zugrunde gelegte subjektive Erleben des Täters, das dem Richter stets
nur mittelbar, vermittelt eben über objektive Anhaltspunkte, zugänglich ist. Der
Sachverhalt wird im Strafprozess also gänzlich objektiviert, sei es auch nur auf
der Grundlage von Evidenzen und bestimmten Rekonstruktionen.
Es wurden daher im zweiten Teil der Arbeit die dogmatischen Vorausset-
zungen der Schuld unter dem Aspekt untersucht, ob auf der Grundlage empiri-
scher Evidenz sachgerechte Ergebnisse mit der willentlichen Verhaltenssteue-
rung als Differenzierungskriterium erzielt werden können. Die Schwierigkeiten
ließen sich am Beispiel der automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere der
Spontanreaktionen, gut demonstrieren. Denn die Spontanreaktionen stehen den
Reflexen, denen die strafrechtliche Relevanz abgesprochen wird, vom inneren
Erleben her näher als willkürliches Verhalten, sie sind jedoch, soweit es sich
_________________
11
Siehe dazu oben, S. 296 f.
12
Dazu oben, S. 324.
13
Vgl. oben, S. 119 ff., 133.
330 Teil 4: Fazit

um komplexe Bewegungsabläufe handelt, äußerlich von Willkürbewegungen


nicht zu unterscheiden. Da sich einerseits die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass
ein großer Teil alltäglicher Bewegungen automatisch, das heißt ohne bewusste
Teilnahme abläuft, andererseits nur schwer vorstellbar ist, dass diese Bewe-
gungsabläufe ohne willentliche Kontrolle ablaufen könnten, besteht ein Be-
dürfnis – viele würden wohl sagen ein Erfordernis –, die automatisierten Ver-
haltensweisen nicht von vornherein als strafloses Verhalten zu deklarieren.
Dies führt jedoch auf den verschiedenen Ebenen der Deliktsprüfung zwangsläu-
fig zu Inkonsistenzen. Insbesondere bei den Spontanreaktionen im Kraftfahr-
zeugverkehr kann der zeitliche Verzug bewusster Wahrnehmung selbst indirekt
erlebt werden, was dazu führt, dass sie subjektiv als nicht willentlich gesteuert
empfunden werden. Möglich ist dies aber auch bei anderen automatisierten
Verhaltensweisen, die gerade aus diesem Grunde auch als „automatisiert“ be-
zeichnet werden. Die subjektive „empirische Evidenz“ willentlicher Verhal-
tenssteuerung, auf die deren Zuschreibung zum Täter nach vorherrschender
Auffassung gegründet werden muss und kann, versagt damit immer dort, wo
Verhaltensweisen ins Spiel kommen, die sich der Täter selber nicht zuschreibt,
weil er sie als nicht willentlich gesteuert erlebt. Denn empirisch evident ist bei
diesen Verhaltensweisen im Gegenteil, dass sie gerade ohne Antriebs- und
Steuerungserleben verlaufen. Dass die strafrechtliche Relevanz hier dennoch
nicht generell entfallen soll, macht bereits deutlich, dass es nicht die empirische
Evidenz sein kann, auf deren Grundlage die Zuschreibung bei diesen Verhal-
tensweisen erfolgt. Die Ergebnisse für die einzelnen Stufen des Deliktsaufbaus
sollen zunächst noch einmal unter Einbeziehung der neurowissenschaftlichen
Erkenntnisse zusammengefasst werden.

a) Handlungsbegriff

Postuliert man einen unabhängigen Handlungsbegriff, so liegt dessen haupt-


sächliche Schwierigkeit darin, dass der originär nur subjektiv erlebte Zusam-
menhang zwischen Wille und Verhalten aufgrund des Erfordernisses seiner
strafprozessualen Nachweisbarkeit objektiv feststellbar sein muss. Die Recht-
sprechung stellt deshalb und um eine Vermengung mit dem Vorsatzbegriff zu
vermeiden nicht auf die emotionale Beziehung der Person zu ihrem Verhalten
ab, sondern behilft sich mit der normativen Konstruktion eines „natürlichen
Willens“, dessen empirische Voraussetzungen im Regelfall vorliegen sollen.
Mit dem Begriff des „natürlichen Willens“ werden jedoch nicht nur gewisse
Vorprüfungen zur subjektiven Tatseite umgangen, es entfallen auch die spezi-
fisch subjektiven Attribute der Willensbetätigung wie Antriebserlebnis und
Gefühl der Handlungskontrolle. Daran, dass die Handlungsqualität im „Epilep-
tiker-Fall“ des Bundesgerichtshofs trotz des deutlichen subjektiven Erlebens
einer (objektiv fehlenden) Verhaltenssteuerung verneint wird, offenbart sich die
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 331

vollständige Abkehr vom Kriterium des (geäußerten) subjektiven Erlebens bei


der Feststellung einer Handlung.14
Wird dem individuell-subjektiven Erleben für die Frage der Handlungsquali-
tät keine Bedeutung beigemessen, dann kann auch eine subjektive Evidenz hier
keinen Platz haben. Darüber hinaus wird insbesondere bei den Reflexen deut-
lich, dass der Handlungsbegriff durch naturwissenschaftliche Überlegungen
mitbestimmt wird. Deshalb gilt: Falls objektiv bei keiner menschlichen Verhal-
tensweise eine unabhängige geistige Kontrollmöglichkeit vorhanden ist, dann
kann auch ein rein normatives Verständnis von Willenssteuerung, das sich zur
Behauptung ihres Nichtvorliegens in bestimmten Einzelfällen sehr wohl auf
empirische Erkenntnisse stützt, kein überzeugendes sachliches Kriterium für
eine Abgrenzung von Handlung- und Nichthandlung sein. Der Konstruktions-
fehler eines seiner subjektiven Attribute weitestgehend beraubten Handlungs-
begriffs liegt also in seiner vermeintlichen Objektivität, die jedoch lediglich auf
intuitiven Annahmen aufbaut. Mangels eines erfahrungswissenschaftlichen
Zugangs zur Beziehung zwischen subjektivem Willen und Verhalten hat sich
die Vorstellung vom verursachenden Willen wegen der „empirischen Evidenz“
einer Art Quasi-Gesetzmäßigkeit dieses Zusammenhangs zwar bisher als prak-
tikabel bei der rechtlichen Beurteilung von Bewegungsverursachung erwiesen,
weil sich so die Differenzierung von Handlung und Nichthandlung relativ plau-
sibel und einheitlich gewährleisten ließ. Annahmen, die lediglich auf subjekti-
ver Evidenz bauen, müssen jedoch dann zurücktreten, wenn sich das subjektive
Erleben im Widerspruch zu objektiven Erkenntnissen befindet und nach letzte-
ren gefragt werden muss.
Naturalistische15 und symptomatische16 Handlungslehre gehen also fehl, so-
weit sie eine prozessual feststellbare willentliche Verhaltensverursachung für
das Vorliegen einer Handlung nicht nur fordern, sondern auch für nachweisbar
halten. Auch die finale Handlungslehre Welzels17 vermag keine Brücke zu
schlagen, indem sie den Blick, vom Willen ausgehend, von der physischen
Bewegung weg auf deren Ziel richtet; denn auch der erlebten Zielvorstellung
oder Intention kommt objektiv betrachtet nicht die Rolle der Handlungsinitiato-
rin zu. Zwar wird man grundsätzlich von der einzelnen Bewegung abstrahieren
und das Verhalten als Gesamtkomplex betrachten können; dies schließt aber
beim Handlungsbegriff nicht die Strafbarkeitslücken im Bereich der Spontanre-
aktionen und verlagert die Problematik der willentlichen Verhaltenssteuerung
lediglich auf eine andere Ebene, nämlich die einer komplexen Aggregation von
nicht-willentlich initiierten „primitiven“ Einzelbewegungen zur Gesamthand-
_________________
14
Dazu oben. S. 152.
15
Siehe dazu oben, S. 166.
16
Vgl. dazu oben, S. 168.
17
Dazu oben, S. 169.
332 Teil 4: Fazit

lung, die dann freilich ebenfalls nicht willentlich initiiert sein kann. Straten-
werth gründet seinen Handlungsbegriff deshalb auf die grundsätzliche Mög-
lichkeit zur bewussten Handlungssteuerung, was aber aus den bereits genannten
Gründen ebenfalls zu keiner Lösung verhilft.18 Auch sein Zurechnungskriteri-
um einer erlebnismäßig bedingten Reaktion verfehlt, objektiv betrachtet, nicht
nur bei den Spontanreaktionen die Tatsachen, weil dem subjektiven Erleben
eben keine Initiativfunktion zugeschrieben werden kann.

b) Vermeidbarkeit

Wird die Problematik der Willenssteuerung im Handlungsbegriff umgangen


oder kein eigenständiger Handlungsbegriff gebildet, dann begegnet sie einem
bei der Frage der Vermeidbarkeit wieder, wohin sie unter anderen von Sche-
we19, Engisch20, Maihofer21 und Jakobs22 verlagert wird. Die Gegenüberstel-
lung von Fällen automatisierter Verhaltensweisen und den Reaktionszeitfällen
hat hier ergeben, dass bei den Überlegungen zur Reaktionszeit wissenschaftli-
che Erkenntnisse herangezogen werden, die auf alle Fälle spontaner Verhal-
tensweisen übertragen werden müssen. Diese Erkenntnisse über die Zeitdauer
bewusster Wahrnehmung und Verarbeitung sind auch maßgeblich für die nor-
mative Bewertung des Verhaltens. Wird die für bewußte Wahrnehmung und
Verarbeitung eines Ereignisses erforderliche Zeitspanne unterschritten, gilt das
unmittelbar den Verletzungserfolg herbeiführende Verhalten als unvermeidbar,
weil der Täter nicht nach seiner Einsicht handeln konnte. Er hatte weder die
Möglichkeit einer Wahl noch die eines Vetos. Weil die normative Bewertung
der Reaktionszeitfälle auf anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen be-
ruht, die in gleicher Weise bei den Spontanreaktionen zum tragen kommen,
müssen sie immer auch in die Bewertung der letzteren mit einfließen. Im Er-
gebnis sind damit alle Reaktionen, die innerhalb einer Zeitdauer von circa einer
halben Sekunde auf ein Ereignis hin erfolgen, für den Menschen unvermeidbar.
Dies muss über die Spontanreaktionen hinaus aber für jedes reaktive automati-
sierte Verhalten gelten, das sich gerade durch seinen schnellen Bewegungsab-
lauf auszeichnet.
Die für das Bewusstsein erforderliche Zeitspanne ist deshalb so maßgebend
für die Frage der Vermeidbarkeit, weil die bewusste Verarbeitung der Tatum-
stände die Grundlage für die Willensbildung darstellt und damit auch für die
_________________
18
Dazu oben, S. 171 f., 226.
19
Vgl. dazu oben, S. 172, 218.
20
Siehe oben, S. 173 f.
21
Dazu oben, S. 174.
22
Vgl. oben, S. 183 f., 188, 229.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 333

(zumindest mögliche) Unrechtseinsicht, die § 17 StGB verlangt. Tritt also das


Verhalten vor Abschluss der Reaktionszeit auf, kann es sich nicht um eine
willentlich gesteuerte Reaktion handeln. Noch deutlicher als beim Handlungs-
begriff tritt hier deshalb zutage, dass für die strafrechtliche Verantwortlichkeit
eine willentliche Beeinflussbarkeit des verletzenden Verhaltens zwingend er-
forderlich ist. Da diese Möglichkeit über die automatisierten Reaktionen hinaus
aber auch bei subjektiv als willkürlich erlebtem Verhalten objektiv nicht gege-
ben ist, müsste menschliches Verhalten insgesamt unter den normativen Begriff
der Unvermeidbarkeit fallen.
Damit hätten bereits die Erkenntnisse zur Reaktionszeit eigentlich grundsätz-
liche Skepsis in Bezug auf das herkömmliche Verständnis von Bewegungsver-
ursachung durch geistige Bestimmung über den Bereich des Fehlverhaltens von
Autofahrern hinaus hervorrufen müssen. Stattdessen haben sich Rechtswissen-
schaftler wie Roxin23 und Arthur Kaufmann24 in ihren Handlungslehren jedoch
auf den Begriff einer hinter dem erlebten Willen existierenden geistigen Sphäre
zurückgezogen, die sich auch ohne konkretes Bewusstsein im Verhalten mani-
festieren soll. Vor der bewussten Wahrnehmung finden Prozesse im Gehirn
statt, die – soweit ersichtlich und soweit dem Beweis zugänglich – zwar nicht
durch eine Art „selbstbewussten Geist“ (Eccles)25 oder den „Willen a priori“
eines „noumenalen Subjekts“ (Kant)26 hervorgerufen werden, die sich aber im
menschlichen Verhalten niederschlagen. Weil diese Prozesse beim Nachweis
der Voraussetzungen für strafbares Verhalten eine tragende Rolle spielen, müs-
sen sie auch Berücksichtigung finden. Den Strafvorwurf aber gegenüber einem
unbewussten Willen zu erheben, ist noch weniger verständlich, als ihn einem
Willen zu machen, der wie das Schuldgefühl immerhin subjektiv erlebt werden
kann.

c) Subjektive Tatseite

Damit hängt zusammen, dass das reine subjektive Erleben auch für die sub-
jektive Tatseite eine zweifelhafte Basis bildet. Wird das Erleben des Täters im
Prozess relevant, dann werden bei Zweifeln oder Beweisschwierigkeiten in der
Regel objektive Anhaltspunkte zur Untermauerung oder zur Widerlegung her-
angezogen. Durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft erfährt dieses Vor-
gehen eine gewichtige Unterstützung. Denn sie legen nahe, dass die subjektive
Kenntnis nur bedingten Aufschluss über das neuronal tatsächlich Verarbeitete
_________________
23
Dazu oben, S. 177.
24
Siehe oben, S. 179.
25
Vgl. oben, S. 293.
26
Siehe dazu im ersten Teil, erstes Kapitel, bei und in Fn. 6.
334 Teil 4: Fazit

liefern kann. Zum einen verarbeitet das Gehirn wesentlich mehr Informationen,
als dem Individuum bewusst werden, zum anderen gelangen die Informationen
nicht linear gleichförmig in das Bewusstsein. Ob ein Verhalten der „kognitiven
Kontrolle“ unterliegt, lässt sich, wie Kargl27 zutreffend anmerkt, also nicht
unbedingt mithilfe der subjektiven Kenntnis des Individuums allein erschlie-
ßen, sondern müsste zusätzlich davon abhängig gemacht werden, welche In-
formationen tatsächlich vom Gehirn verarbeitet wurden.
Was hier futuristisch klingen mag, erscheint in Anbetracht der Möglichkei-
ten der Neurowissenschaft keineswegs weit hergeholt. Ein Beispiel: Lässt sich
anhand der Interpretation neuronaler Aktivität in unterschiedlichen Hirnregio-
nen darauf schließen, ob eine Information neu oder bereits bekannt ist, dann
könnten die modernen bildgebenden Verfahren durchaus geeignet sein, Wider-
sprüche zwischen neuronaler Informationsverarbeitung und subjektiver Kennt-
nis hiervon aufzudecken und so als Mittel zu einer spezifischen Wahrheitsfin-
dung dienen, wenn denn gerade diese gefragt ist. Eine solche Situation könnte
eintreten, wenn ein (unschuldig) Verdächtigter beispielsweise einen Einbruch
gesteht. Man könnte ihn dann mit Gegenständen aus der Wohnung konfrontie-
ren und an seinen Hirnaktivitäten „ablesen“, ob er diese Gegenstände schon
einmal gesehen hat. Der Unschuldige könnte noch so eindringlich behaupten –
und selber auch davon überzeugt sein –, den Einbruch begangen zu haben; wird
diese Behauptung vom Gehirn nicht „bestätigt“, wird man ihm den Einbruch
nicht glauben.28 Ein anderes Beispiel: Könnten mittels bildgebender Verfahren
„echte“ Erinnerungen von nachträglich erworbenen Informationen unterschie-
den werden, so wäre nicht einzusehen, weshalb beispielsweise in einem Prozess
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern deren subjektive „Erinnerung“
gegenüber einem objektiven Verfahren, welches es ermöglicht, das tatsächlich
Erlebte von nachträglich Erzähltem zu unterscheiden, als Beweismittel bevor-
zugt werden sollte. Anders wäre dies, wenn es darum ginge, das subjektive
Erleben der Kinder zu beurteilen. Wo aber objektive Tatsachen in Frage stehen,
wie der dem sexuellen Missbrauch zugrundeliegende Sachverhalt, müssen diese
möglichst nach dem neuesten Stand der Wissenschaft geklärt werden. Damit
bleibt festzuhalten, dass die subjektive Kenntnis des Täters nicht nur wegen
ihrer äußeren Unzugänglichkeit prozessuale Schwierigkeiten erzeugt, sondern
auch eine unsichere Basis bildet, wenn man erfahren will, welche Informatio-
nen der Mensch tatsächlich verarbeitet hat.
Diese Beschränktheit des subjektiven Erlebens gilt freilich auch für die Be-
weggründe eines Täters. Sie dürften nach dem Gesagten regelmäßig aus einer
_________________
27
Dazu oben, S. 182.
28
Kritisch gegenüber den Möglichkeiten der Neurotechnologie im umgekehrten Fall
des sog. „brain fingerprinting“ Wolpe et al., The American Journal of Bioethics, 5
(2005), S. 39 ff.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 335

Gemengelage bewusst und unbewusst verarbeiteter Informationen bestehen, so


dass der Täter im besten Fall nur unzureichende, im schlechteren einfach un-
richtige Auskunft über seine Motivation zu geben vermag. Dieses Manko ist
bekannt; in gravierenden Fällen versucht man es durch psychologische Gesprä-
che auszugleichen, wobei auch die fachkundigen Gesprächspartner regelmäßig
gezwungen sind, das dem Täter nicht Bewusste durch objektive Anhaltspunkte
zu erschließen und zu vervollständigen. Was dem Täter allerdings ins Bewusst-
sein gelangt, ist von ihm ebenso wenig willentlich steuerbar wie seine Bewe-
gungen, da dem subjektiven Erleben seinerseits neuronale Prozesse vorange-
hen. Dies ist sowohl hinsichtlich eines etwaigen „Wollenselements“ als auch
mit Blick auf die Erkennbarkeit der Tatumstände einschließlich des Erfolges
für den Täter zu beachten. Denn es bedeutet, dass der Täter seine innere Ein-
stellung zur Tat nicht „wählt“ und damit auch nicht vermeiden kann und dass
Umstände, die ihm zum Zeitpunkt seiner Tat nicht bewusst waren, ihm auch
nicht hätten bewusst sein können, mag nun sein Gehirn bestimmte Informatio-
nen überhaupt nicht verarbeitet haben oder sich bezüglich verarbeiteter Infor-
mationen kein Bewusstsein eingestellt haben.

2. Ergebnis

Schuld kann subjektiv erlebt werden, ist aber im Recht ein normativer, also
objektiver Begriff. Sie existiert rechtlich somit zunächst nur als abstrakter Ter-
minus technicus, nicht als Gegenstand irgendeiner Anschauung. Etwas anderes
gilt für die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen Schuld zugesprochen
wird. Diese können ihren Ursprung sowohl im subjektiven Erleben als auch in
messbaren, äußerlich zugänglichen Kriterien haben. Hier gibt es jedoch einen
prozessualen Vorrang objektiver Kriterien. So kann die Schuldfähigkeit eines
Täters auch entgegen seinem eigenen Freiheits- oder Schulderleben bei Vorlie-
gen konkreter neuronaler Fehlfunktionen als beeinträchtigt oder ausgeschlossen
festgestellt werden. Existieren in dem vom Richter zu beurteilendem Bereich
anerkannte Gesetzmäßigkeiten, so müssen diese sogar dann berücksichtigt
werden, wenn der äußere Anschein im konkreten Fall hierzu im Widerspruch
steht. Es ist – um ein pointiertes Beispiel zu wählen – dem Richter deshalb
nicht möglich, im Falle einer Frau, die von mehreren Zeugen angeblich flie-
gend auf einem Besenstiel gesehen wurde, seine normative Bewertung auf den
Umstand der Flugfähigkeit dieser Frau zu stützen; denn einer solchen Feststel-
lung stünde das Gravitationsgesetz entgegen. Solche Gesetzmäßigkeiten kön-
nen durch neuere Erkenntnisse zwar grundsätzlich abgelöst werden, solange sie
jedoch in den Naturwissenschaften anerkannt sind und Aufschluss in Bezug auf
den zu beurteilenden Sachverhalt geben können, wäre es ein Verstoß gegen die
richterliche Aufklärungspflicht, sie zu ignorieren.
336 Teil 4: Fazit

Die Auffassungen vom menschlichen Geist, die im Handlungs- und Vermei-


dungsbegriff des Strafrechts sowie bei der subjektiven Tatseite der Deliktsprü-
fung hervorgehoben werden und die insgesamt das Bild einer willentlichen
Verhaltenssteuerung projizieren, behaupten eine Initiativ-, eine Veto- und eine
Wahlfunktion menschlichen Willens, die mit den neurowissenschaftlichen
Experimenten widerlegt worden sind. Dem subjektiven Erleben sind die ihm
vorangehenden Gehirnprozesse nicht zugänglich; diese aber schließen jede
Initiativ-, Wahl- und Vetofunktion des Willens objektiv aus. Damit wird das
subjektive Erleben willentlicher Steuerung nicht in seiner Existenz negiert,
sondern lediglich seine vermeintliche Rolle als Täuschung über die objektiven
Vorgänge entlarvt. Es ist daher entscheidend, in welchem systematischen Kon-
text sich die Frage nach dem Vorliegen einer willentlichen Verhaltenssteuerung
stellt. So mag man etwa fragen, wie das Verhältnis der Sonne zur Erde subjek-
tiv erlebt wird und als durchaus richtige Antwort erhalten, dass die Sonne um
die Erde kreist; fragt man aber nach dem objektiven Verhältnis der beiden zu-
einander, so wäre diese Antwort falsch. Denn das Erleben vermittelt in diesem
Fall eine Vorstellung von objektiven Abläufen, die – strafrechtlich gespro-
chen – einem Tatumstandsirrtum gleichkommt.29
In der Deliktsprüfung wird, mit Ausnahme der subjektiven Tatseite, nicht
nach dem subjektiven Erleben, auch nicht in der Form „empirischer Evidenz“
gefragt, sondern, soweit möglich, nach erfahrungswissenschaftlichen Begrün-
dungen. Auf der Ebene neuronaler Prozesse hat der subjektiv erlebte Wille
jedoch keine Funktion. Willentliche Verursachung von Verhalten ist damit
ebensowenig ein brauchbares Instrument zur Differenzierung von schuldhaftem
und schuldlosem Verhalten wie (umgekehrt) die „biologische Determination“,
die eben bei jedem Verhalten vorliegt. Wird auf die Prämisse einer solchen
Initiativfunktion des Willens verzichtet, dann entfällt aber auch die Brücke, die
eine normative Zurechnung zum menschlichen Willen ermöglichen soll und auf
die im folgenden Abschnitt noch zurück zu kommen sein wird. Allenfalls den
neuronalen Korrelaten des subjektiven Erlebens ließe sich die Verhaltenssteue-
rung objektiv zurechnen.
Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse machen damit neue Begründun-
gen für die Zurechnung menschlichen Verhaltens erforderlich. Denn auf der
Fähigkeit zu willentlicher Verhaltensteuerung beruhende Abgrenzungen als
Grundlage einer Verhängung strafrechtlicher Rechtsfolgen verstoßen wegen
_________________
29
Treffend insoweit K. Günther: „Die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, war
unter den Erfahrungsbedingungen der Vergangenheit sicher rational akzeptierbar – unter
den besseren Erfahrungsbedingungen der Neuzeit wissen wir jedoch, daß jene Bedin-
gungen von den idealen Bedingungen der rationalen Akzeptierbarkeit weiter entfernt
gewesen sind als die gegenwärtigen“ (s. Zuschreibung, S. 342 ff., 345); und Bauer:
„Bekanntermaßen dreht sich – aller Wahrnehmung zum Trotz – die Sonne nicht um die
Erde“ (Verbrechen, S. 18).
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 337

des Prinzips materieller Gerechtigkeit in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG


gegen die Verfassung. Dass es sich dabei keinesfalls nur um dogmatische Pro-
bleme in Form von Strafbarkeitslücken handelt, die es durch geeignetere Defi-
nitionen zu schließen gilt, bedarf nach den vorstehenden Untersuchungen kei-
ner besonderen Bekräftigung mehr. Inwieweit die Schuldidee als Ganzes hier-
von betroffen ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

II. Die Willenssteuerung in der „Schuldidee“

Es stellt sich nach dem Gesagten die Frage, woran ein strafrechtlicher
Schuldvorwurf geknüpft werden kann. Weder Neuronenverbänden noch Ionen
gegenüber wird man eine Vorwurfshaltung einnehmen wollen oder – schon
begrifflich – auch nur einnehmen können. Dabei gilt hinsichtlich der Vermeid-
barkeit ihrer „Aktivität“ nichts anderes als in Bezug auf menschliches Verhal-
ten. Auch hier ließe sich unschwer mit einem negativen Freiheitsbegriff operie-
ren: Hätte es nicht die Information eines äußeren Stimulus gegeben oder wären
nicht bestimmte Hirnregionen geschädigt, so wäre es beim Handelnden zu einer
anderen neuronalen Aktivität gekommen. Die Neuronen hätten sich also rein
physikalisch anders „verhalten“ können, die „Handlung“ wäre dann vermieden
worden. Diese Form der Vermeidbarkeit ist offensichtlich nicht ausreichend,
um „Schuld“ zu begründen. Hinzu kommt, dass der Richter den zu bewerten-
den Vorgang aus der Rückschau betrachtet. Zwar lässt sich mit den heutigen
Methoden menschlichen Erkennens aus der Prospektive nicht vorhersagen,
welches Verhalten eintreten wird30, und für den Einzelnen mag dieses Wissen
für immer logisch verschlossen sein31, aus der Retrospektive handelt es sich
jedoch immer um unvermeidbares Verhalten. Wie die Diskussion um die Be-
weisbarkeit der Schuld gezeigt hat32, kann das rein subjektive Erleben schon
wegen seiner absoluten Privatheit keine Voraussetzung strafrechtlicher Ver-
antwortung bilden. Bestätigt wird dies durch die stets empirisch zugänglichen
Ausschlusskriterien. Freiheitserleben und biologische Determination sind damit
zwei Ebenen, die zwar nebeneinander existieren, von denen aber nur die eine,
die empirische, für die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit heran-
gezogen werden kann.
Die dargelegten Erkenntnisse vermögen damit die bereits vorgebrachten kri-
tischen Stellungnahmen zu den im ersten Teil aufgeführten Schuldlehren33 zu
untermauern. Da die Inhalte des Bewusstseins maßgeblich durch Vorerfahrun-
_________________
30
Vgl. dazu oben, S. 36 ff.
31
Siehe oben, S. 43.
32
Siehe oben, S. 135 ff.
33
Siehe oben, S. 49 ff.
338 Teil 4: Fazit

gen beeinflusst werden, die teilweise schon pränatal erworben werden und
ihrerseits von der genetischen Veranlagung abhängen, besitzt jeder Mensch ein
einzigartiges neuronales System, mit dem neue Informationen verarbeitet wer-
den. Dies hat zur Konsequenz, dass auch die „psychische Struktur“ (Graf zu
Dohna)34 unterschiedlicher Menschen jeweils einzigartig ist. Voneinander ab-
weichende Reaktionen lassen sich also mit der unterschiedlichen Informations-
verarbeitung in den neuronalen Netzwerken erklären. Die formelhafte Erset-
zung eines Menschen durch einen anderen in bestimmten Schuldlehren („ein
anderer hätte an Stelle des Täters …“) basiert demgegenüber auf der still-
schweigenden Annahme, dass jeder Mensch Informationen identisch verarbei-
tet, das heißt jedem menschlichen Bewusstsein dieselben Informationen zur
Verfügung stehen, die dann nur mit den normativen Anforderungen der Gesell-
schaft verglichen werden müssen. Dadurch jedoch, dass Situationen individuell
unterschiedlich wahrgenommen beziehungsweise neuronal verarbeitet werden,
kann es zu normabweichenden Reaktionen kommen, deren Motivation auch
vom Handelnden selber kaum hinreichend verstanden werden kann. Damit
bestätigt sich ein Punkt der Kritik an der Auffassung Kargls35, der Mensch
könne aufgrund seiner Kenntnis von sich selber seine Handlungsdisposition
verändern. Auch die subjektive Kenntnis der motivationalen Faktoren würde
schließlich nicht dazu führen, dass der Mensch seine Handlungsdisposition
verändern kann. Denn weder Emotionen noch Gedanken und schließlich auch
nicht die Verhaltensweisen unterliegen einer unabhängigen „geistigen“ Kon-
trolle. Verhaltensregulation ist nach dem Gesagten ausschließlich eine Folge
der Selbstkorrektur des Organismus. Zwar ist Kargl insoweit zuzustimmen, als
die neuronalen Korrelate jeweils neuer Bewusstseinszustände das Verhalten
ihrerseits beeinflussen können; dies unterliegt jedoch wiederum nicht einem
irgend gearteten willentlichen Einfluss des Menschen. Das heißt, das Indivi-
duum kann sich nicht aufgrund der sozialen Erwartungshaltung willentlich dazu
entschließen, ein anderer Mensch zu werden oder auch nur Verhaltensmuster
aufzugeben.
Damit sind Vorstellungen von der Möglichkeit zur bewussten Strukturierung
des Bewusstseins, wie sie in der Forderung nach Aufwendung gebotener Be-
sorgnis (Engisch)36, aber auch in der Annahme, dem unaufmerksam Agieren-
den stehe eine Weltgestaltung mit Aufmerksamkeit zur Verfügung (Jakobs)37
zum Ausdruck gebracht werden, mit Blick auf die realen Möglichkeiten des
Individuums nicht mehr überzeugend. Die Kompetenz zur richtigen Gestaltung
der sozialen Welt, also die Möglichkeit, normativen Erwartungen Folge zu
_________________
34
Dazu oben, S. 56.
35
Vgl. oben, S. 64.
36
Vgl. dazu oben, S. 54.
37
Siehe oben, S. 58.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht 339

leisten, wird von Jakobs für die Person zwar lediglich fingiert, bildet aber
gleichwohl die Grundlage für eine reale Bestrafung des Individuums, das gera-
de nicht anders handeln konnte. Richtig ist, dass der Grundsatz „ultra posse
nemo obligatur“ auf der personalen Ebene nicht verletzt werden kann, wenn der
Person die abverlangten Fähigkeiten bereits per definitionem zugeschrieben
werden. In diesem Zirkelschluss verliert er aber jeden Sinn. Will man anderer-
seits den Grund für den Vollzug mit Jakobs primär in einer restitutiven Vertei-
digung der Normenordnung sehen, so ist hierfür die Zuschreibung von persona-
ler Schuld nicht erforderlich. Die Grenze zur Bestimmung, wann einer Person
Schuld zugerechnet wird und wann nicht, wird zwar ihrerseits normativ gezo-
gen, die Grenzziehung orientiert sich aber an empirischen Sachverhalten. Unter
bestimmten faktischen Voraussetzungen wird die Möglichkeit, nach einer „Ein-
sicht“ zu handeln, ausgeschlossen. Ist die Kompetenz zur normgerechten Ge-
staltung der sozialen Welt somit von der Fähigkeit zur Willenssteuerung ab-
hängig, war diese zum Zeitpunkt der Tat beim geistig gesunden Täter aber
ebenso wenig vorhanden wie beim geistig kranken, dann taugt das Kriterium
der willentlichen Handlungssteuerung jedenfalls dann nicht als Schuldvoraus-
setzung, wenn ihm ein hinreichend beglaubigter empirischer Sachverhalt zu-
grundeliegen soll. Dass dem so ist, haben die Ausführungen zum Handlungs-
begriff und zur Vermeidbarkeit gezeigt.38 Damit wird dem Menschen aber eine
Fähigkeit zugeschrieben, der nachzukommen er in Bezug auf die deliktische
Tat tatsächlich nicht in der Lage war.
Die Zuschreibung konkreter Fähigkeiten oder Eigenschaften zu einem be-
stimmten Personenkreis als Kriterium der Verantwortlichkeit (oder auch des
Ausschlusses der Verantwortlichkeit) gerade dieser Personen wirft ersichtlich
sofort Legitimationsprobleme auf, wenn die fragliche Fähigkeit oder Eigen-
schaft nicht nur bei dem spezifizierten Personenkreis, sondern auch bei allen
anderen Personen fehlt. Beispielhaft: Wenn weißhaarige Menschen aufgrund
dieser Eigenschaft im Gegensatz zu allen anderen Menschen als schuldunfähig
angesehen würden, und es erwiese sich, dass jede Haarfarbe nur aufgrund einer
optischen Täuschung durch das Sonnenlicht entsteht, in Wirklichkeit also alle
Menschen weißhaarig sind, dann geböte es diese Erkenntnis der Wissenschaft,
die Differenzierung zwischen Schuld und Unschuld nicht länger an den subjek-
tiven Eindruck der Haarfarbe zu knüpfen. Sie geböte es ganz offenkundig des-
halb, weil Bestrafungen, die sich aus Bedingungen legitimieren, welche gegen
Naturgesetze verstoßen (wie etwa die Hexenverbrennungen), ungerecht sind.
Sie werden übrigens, sobald sie von späteren Generationen als naturgesetzwid-
rig durchschaut sind, regelmäßig mit einer Art historischer ex-tunc-Wirkung als
ungerecht auch schon für die vergangenen Zeiten ihrer Anwendung empfunden.
Auch dies zeigt das Beispiel Hexenverbrennung deutlich. In dem Augenblick
_________________
38
Dazu oben, S. 143 ff. u. 187 ff.
340 Teil 4: Fazit

also, in dem eine neue wissenschaftliche Erkenntnis einen gewissen Grad der
Beglaubigung erlangt hat, lassen sich ihr widersprechende rechtliche Wertun-
gen nicht mehr legitimieren.
Zwar kann man, wie es auch ein negativer Schuldbegriff nahelegen würde,
versuchen, aus neuronaler Aktivität, die bestimmte Schwellenwerte über- oder
unterschreitet, besondere Konsequenzen abzuleiten; damit ist jedoch für einen
Schuldbegriff innerhalb dieser Begrenzungen noch nichts gewonnen. Das Di-
lemma lässt sich so zusammenfassen: Die Grenzen eines Schuldbegriffes,
gleichviel ob dieser metaphysisch, aus empirischer Evidenz oder normativ
begründet wird, bedürfen wegen der Vorgaben für die richterliche Wahrheits-
findung eines beschreibungsfähigen Sachverhalts als ihrer Grundlage; die
Kehrseite dieses Sachverhalts führt dann aber auch zu Umkehrschlüssen hin-
sichtlich der Schuldbegründung. Nun kann man aber nicht pro culpa metaphy-
sisch und gleichzeitig contra culpam empirisch argumentieren; denn beide
Herangehensweisen haben nur einen und denselben Gegenstand ihrer normati-
ven Beurteilung, sei dieser nun a priori oder empirisch gegeben. Werden also
zur Bestimmung der Schuldunfähigkeit sowie zur Bewertung weiterer Negativ-
voraussetzungen der Schuldbegründung (wie Nichthandlung und Unvermeid-
barkeit) erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen, dann muss
auch ein positiver Begriff von Schuld als Minimum zwingend die Kehrseite
dieser empirischen Annahmen enthalten. Hierzu gehört die Steuerung des Ver-
haltens durch den Willen. Dass diese Möglichkeit in der Perspektive, in der im
Prozess nach ihr gefragt wird, nicht existiert, hat deshalb weitreichende Konse-
quenzen.
Nicht ersichtlich ist, wie kompatibilistische Freiheitstheorien, wie die von
Bieri39 oder Pauen40, diesem Dilemma entgehen könnten. Selbst wenn die Vor-
aussetzungen, die sie für verantwortliches Handeln aufstellen, hinreichend
bestimmt und auch prozesstauglich wären, reichten sie zur Legitimation eines
Schuldvorwurfs nicht aus. Der Schuldvorwurf richtet sich gegen das Innere der
Person: gegen ihren (bösen) Willen, und geht damit über den Ausdruck des
Unwerts einer Handlung und seiner Gerichtetheit gegen die (äußere) Person als
kausaler Bedingung für den Erfolgseintritt hinaus. Schuld einer Person ist aber
ohne eine Letztverantwortung des Menschen, die auf seinem Willen als „causa
sui“ gründet, nicht denkbar.41 Der Umstand, dass nach den von der Neurowis-
senschaft zutage geförderten Indizien alles gegen einen solche Letztursächlich-
keit des bewussten Willens spricht, ändert nichts an der normativen Möglich-
keit und Bestimmbarkeit von Zurechnung. Nur müssen deren empirische Vor-
aussetzungen neu definiert und die Zuschreibung von Schuld entweder gänzlich
_________________
39
Dazu oben, S. 69.
40
Dazu oben, S. 73.
41
Vgl. dazu oben, S. 72, 76 f.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe 341

anders, das heißt ohne Vorwurfsimplikation begründet, oder aber aufgegeben


werden.
Bieri und Pauen bemühen sich aber richtigerweise darum zu begründen,
wann einer Person die Verantwortung für ihr Handeln zukommt. Bereits Scho-
penhauer hatte diesen Bezug hergestellt und eine „Charakterschuld“ formuliert,
aus der nach der Überzeugung Schopenhauers aber freilich kein staatlich erho-
bener moralischer Vorwurf erwachsen durfte.42 Dennoch mag man sich verlei-
tet fühlen, eine sogenannte Lebensführungsschuld zu formulieren. Weil die
Neurowissenschaften aber nahelegen, dass die Grundstrukturen einer Person im
Umgang mit Situationen bereits im (vorbewussten) Kindesalter entstehen und
teilweise sogar auf pränatale Einflüsse zurückzuführen sind,43 bietet auch ein
Rückblick auf das gesamte Leben des Rechtsbrechers keinen Anknüpfungs-
punkt für einen Schuldvorwurf. Wer eine „Lebensführungsschuld“ behauptet,
müsste also begründen können, woraus bei einer Lebensführung, die aus der
Rückschau nicht anders hätte verlaufen können und die durch viele Dinge ge-
prägt ist (Gene, vorgeburtliche und frühkindliche Einflüsse etc.), die dem Be-
wusstsein nicht zugänglich sind, Schuld erwachsen soll.

Kapitel 2
Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe

I. Schuldbegründung und Schuldausgleich

Das Schuldprinzip wurde bezüglich seiner Legitimation von zwei Seiten in


den Blick genommen: von seinem Rechtsgrund und von seiner Rechtsfolge her.
Dabei wurde die enge Verbindung dieser Betrachtungsweisen bereits im ersten
Teil dieser Arbeit44 deutlich, als sich die Rechtsfolgenseite, der Schuldaus-
gleich, als unzureichend für eine Legitimation erwies, die aus einem an der
Selbstbestimmung orientierten Menschenbild des Grundgesetzes folgen soll. Es
wurden die Schwachstellen und Inkonsistenzen aufgezeigt, die sich für ein
Eingriffsrecht des Staates auf der Grundlage einer vorausgesetzten freien
Selbstbestimmung des Menschen ergeben. Der Widerspruch, der entsteht, wenn
menschliche Selbstbestimmung einerseits zur Grundlage menschlicher Würde
erhoben und andererseits als Voraussetzung strafrechtlicher Schuldfähigkeit
angesehen wird, lässt sich ohne einen Wechsel der Interpretation des Würde-

_________________
42
Siehe dazu oben, S. 46.
43
Vgl. oben, S. 319.
44
Vgl. oben, S. 78 ff., 117 f.
342 Teil 4: Fazit

begriffs nicht beheben.45 Daneben ist zu bedenken, dass das Maßregelrecht


nach der geltenden Rechtsordnung nicht als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG
gewertet wird. Die Beachtung der Menschenwürde erfordert es daher offenbar,
dass in bestimmten Fällen die Strafsanktion gerade nicht eingreifen darf.46
Warum sich dann aber das Schuldprinzip unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG soll
ableiten lassen, ist unverständlich.
Solche grundsätzlichen Bedenken ergaben sich in ähnlicher Form aus der
Diskussion des Rechtsgrundes, der Schuldbegründung, mit Blick auf die inner-
dogmatischen Schwierigkeiten. Dieser Blick soll nun noch einmal, diesmal
unter Berücksichtigung der neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die ver-
fassungsrechtlichen Legitimationsfragen einbeziehen.

1. Die Innenperspektive

Die Begriffe Schuld und Sühne stehen in engem Zusammenhang mit Emoti-
onen, die auch das Bild des Menschen von sich selbst als einem freien Wesen
prägen. Diese „inneren Interpretationen“ des Schuldbegriffs begrenzen die
staatliche Gewalt jedoch nicht, sondern leisten der Möglichkeit Vorschub, unter
dem Deckmantel metaphysisch aufgeladener Begriffe wie Schuld und Sühne,
die einem objektiven Verfahren der Feststellung in Wahrheit nicht zugänglich
sind, emotionale Bedürfnisse zu verschleiern, die mit einem tatsächlich erfor-
derlichen Schutz der Gesellschaft oder des Täters nichts zu tun haben, wie
Demütigung oder Rache.47 Diese dem Schuldprinzip immanente Missbrauchs-
gefahr wird paradoxerweise mit Verweis auf die Objektformel zu Art. 1 Abs. 1
GG übergangen. Dabei führt gerade die Zuschreibung der Fähigkeit einer freien
Selbstbestimmung zur praktischen Inkonsequenz: Zunächst werden die Unter-
schiede zwischen den Menschen ignoriert, indem man freie Selbstbestimmung
als Pendant der Menschenwürde jedem zuschreibt, um das Strafrecht auf der
Grundlage dieser nur dem Menschen zugestandenen Verantwortungsfähigkeit
überhaupt zu legitimieren; dann aber werden sie wieder beschworen, wenn es
darum geht, zwischen schuldfähigen und schuldunfähigen Tätern zu differen-
zieren. Das Schuldprinzip legitimiert sich also aus einer Objektivierung des
Menschen am Maßstab eines abstrakten „Bildes“, das ihn als freien darstellt,
um ihn zur Verantwortung ziehen zu können, und ihn gegebenenfalls zur Ver-
antwortung zieht, weil er frei sei.48 Dass der Mensch in diesem circulus vitiosus
verglichen mit einem alternativen Eingriffsrecht des Staates besser gestellt sein
_________________
45
Dazu oben, S. 99 ff.
46
Siehe dazu oben, S. 100 f.
47
Vgl. dazu oben, S. 107 f.
48
Dazu oben, S. 113 f.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe 343

soll, ist lediglich eine hypothetische Annahme. Erforderlich wäre indessen ihr
Beweis, wenn man ausgerechnet die Grundrechte der Bürger heranzieht, um
staatliche Gewalt gegenüber diesen Bürgern zu legitimieren.49
Die metaphysischen Annahmen ebenso wie das Freiheitserleben entstammen
der Innenperspektive. Für das Freiheitserleben lässt sich aufgrund der neuro-
wissenschaftlichen Untersuchungen sagen, dass es selber neuronale Prozesse
voraussetzt. Dies gilt damit prinzipiell auch für metaphysische Annahmen wie
den (Schopenhauerschen) „Willen als Ding an sich“. Allerdings besteht bei
dieser letzteren Annahme die Besonderheit, dass nach ihr auch die Außenper-
spektive bereits das Ergebnis – in einem außerkausalen Verständnis – des „Wil-
lens als Ding an sich“ sein soll. So gesehen, können die neurowissenschaftli-
chen Erkenntnisse über den Willen „als Ding an sich“ natürlich nichts aussagen
(ähnlich wie das Bewusstsein nichts über die ihm vorangehenden neuronalen
Prozesse erfahren kann), weil sie ontologisch zu einer Kategorie gehören, in-
nerhalb deren über den „Willen als Ding an sich“ überhaupt keine Erkenntnisse
gewonnen werden können. Die Neurowissenschaften gehören jedoch genau in
den Bereich, aus dem sich der Strafrichter zur Ermittlung von Tatsachen be-
dient, weshalb auch im Strafprozess ein positiver Freiheitsbegriff niemals Ge-
genstand der Untersuchung ist.
Dass die „innenperspektivischen“ Interpretationen des Schuldbegriffs für ei-
ne Legitimation staatlicher Gewalt nicht ausreichen können, zeigt sich jedoch
nicht erst daran, dass im konkreten Fall alle Freiheitsfragen lediglich mithilfe
von Ausschlussgründen, also negativen Freiheitsbegriffen auf erfahrungswis-
senschaftlicher Grundlage, beantwortet werden, sondern bereits mit Blick auf
den Regelungsbereich des Rechts allgemein, der das ausschließlich innere Er-
leben nicht unmittelbar, sondern immer nur über eine Veränderung äußerer
Bedingungen berührt.50 Auch das Strafrecht kann also nicht direkt den inneren
Ausgleich menschlicher Schuld, die Sühne, herbeiführen; das Mittel der Ver-
geltung reicht über einen objektiven „Ausgleich“ zunächst nicht hinaus.

2. Die Außenperspektive

Der Richter steht insoweit zur Schuld wie der Physiker zur Zeit: Er muss mit
ihr operieren. Und diese Operation findet in einem Rahmen statt, der Aussagen
über das, was außerhalb dieses Rahmens liegt, nicht zulässt.51 Wenn der Physi-
_________________
49
Siehe dazu oben, S. 105 ff.
50
Ausführlich oben, S. 80 ff.
51
Stübinger brachte diese Schwierigkeit im Umgang mit der Schuld in einem an Au-
gustinus‘ Diktum über die Zeit (s. Augustinus, Bekenntnisse, 11. Buch, Kap. XIV) ange-
lehnten Zitat zum Ausdruck: „Was also ist Schuld? Wenn niemand mich danach fragt,
344 Teil 4: Fazit

ker t = 0 setzt, dann heißt das ebensowenig, dass Zeit nicht existiert, wie der
Schuldausschluss durch den Richter bedeutete, dass der Begriff „Schuld“ in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht verwendbar wäre. Diese Arbeit versucht
das Schuldprinzip nur innerhalb des Rahmens zu hinterfragen, der ihm durch
die verfassungsmäßige Ordnung vorgegeben wird. Nach den Ausführungen zur
Rechtsfolgenseite wurde daher Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1
Abs. 1 GG als Ausgangspunkt herangezogen, um die Schuldbegründung hin-
sichtlich ihrer sachlichen Kriterien zu untersuchen.52 Die vorgenommenen
Differenzierungen in diesem Bereich verstoßen nach dem Gesagten gegen das
Willkürverbot: Sie beruhen auf unsystematischen, teilweise subjektiv-intuiti-
ven, empirisch nicht bestätigungsfähigen Unterscheidungen. Da auf der einen
Seite eine Selbstbestimmung im metaphysischen Bereich den Regelungsbereich
des Rechts und damit die Voraussetzungen der Schuldbegründung im Strafrecht
nicht berührt, auf der anderen Seite bloß subjektiv evidente Vorstellungen über
diese Voraussetzungen gegenüber objektiv-empirischen Erkenntnissen zurück-
treten müssen, ist menschliches Verhalten nach den Kriterien des Strafrechts
insgesamt als unvermeidbar zu bewerten. Die Zurechnung des Erfolges über
das Verhalten zum Willen hat damit zwar gegenüber der Zuschreibung eines
bloß fingierten Erfolges zum Willen, wie sie zur Zeit der Hexenverfolgung
vorgenommen wurde, einen erheblichen rechtlichen Fortschritt bewirkt; die seit
jeher spekulativ gebliebene „empirische“ Anbindung des Verhaltens an den
Willen steht jedoch mit den Anforderungen an das heutige Recht nicht mehr im
Einklang.
In Anbetracht dieser Überlegungen verwundert es nicht, wenn der Strafvoll-
zug regelmäßig keinen positiven Effekt beim Täter hinterlässt. Denn was be-
straft werden soll, ist ein Wille, der ohne Schuld, und ein Handeln, das ohne
Initiation des Willens entstanden ist. Der Mensch wird in seiner Eigenschaft als
geistiges Wesen gezwungen, für etwas einzustehen, was er mit seinem Geist
objektiv nicht verhindern konnte. Wenn Geist und Wille das Verhalten gerade
nicht auslösen, dann kann eine gleichwohl auf dieser Grundlage beruhende
Strafe nur noch so gedeutet werden, dass dem Menschen zur Vermeidung der
Bestrafung schlichtweg Übermenschliches abgefordert wird. Das Strafrecht
befindet sich damit im Widerspruch zur Verfassung, gleichviel ob eine Inter-
pretation der Verfassung zugrunde gelegt wird, die auf dem Bild eines freien
selbstbestimmten Individuums gründet, oder ob sie in einer Weise ausgelegt
wird, die ohne metaphysische Grundannahmen auskommt.
_________________

weiß ich es; wenn ich aber gefragt werde und es erklären will, weiß ich es nicht“ (KJ
1993, S. 33). In Anlehnung an Einsteins Zitat über die Zeit („Zeit ist das, was die Uhr
anzeigt“) wird hier eine andere Herangehensweise an diese Problematik bevorzugt, denn
Schuld ist – strafrechtlich betrachtet – jedenfalls das, was der Richter zur Verurteilung
feststellt.
52
Vgl. oben, S. 119 ff.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe 345

II. Ausblick: Perspektive des Schuldprinzips

Abschließend stellt sich die Frage, ob eine und, wenn ja, welche Konsequenz
für das Schuldprinzip aus den vorangegangenen Erörterungen folgt. Denn, so
ließe sich einwenden, auch ein Wandel im Rechtssystem könne nur unter der
Annahme einer tatsächlich existierenden menschlichen Freiheit erfolgen. Denn
auch der Forderung, das einfache Recht in Übereinstimmung mit der Verfas-
sung zu bringen, könne eben nur eine Person nachkommen, die entweder frei
sei oder jedenfalls als frei gedacht werden müsse. Dieser Einwand ist allerdings
nicht berechtigt. Selbstverständlich können Gründe für eine bestimmte Position
auch dann objektiv zutreffend sein, wenn ihre subjektive Annahme und daraus
etwa gezogene Konsequenzen nicht auf einer „willensfreien“ Akzeptanz und
einem davon initiierten Handeln beruhen. Anders formuliert: Selbstverständlich
kann jemand neuronal determiniert bestimmte Argumente als zutreffend akzep-
tieren, ohne dass dies die Richtigkeit (oder Falschheit) der Argumente irgend-
wie berühren könnte. Das gleiche gilt natürlich auch für den, der solche Argu-
mente formuliert. Das mag er, wie Reinhard Merkel zutreffend ausführt, neuro-
nal determiniert oder frei tun, die Richtigkeit (oder Falschheit) der Argumente
hängt davon nicht ab – so wenig wie ganz generell der objektive Zustand der
Welt von den Bedingungen des Zustandekommens unserer Erkenntnisse dar-
über abhängt.53
Weil negative Sanktionen, die sich nicht aus einem Schuldvorwurf legitimie-
ren, keine „gerechte Strafe“ eines vorwerfbaren Vergehens mehr darstellten,
müssten sie neu legitimiert werden. Dabei wird ihnen immer, wie dies Pothast
zutreffend erkannt hat54, eine Ungerechtigkeit innewohnen. Noch weniger mit
Gerechtigkeitserwägungen zu begründen wäre es allerdings, wenn das Un-
glück, mit dem Delinquenten dann belastet wären, ohne dass es ihnen vorge-
worfen werden könnte, auf Dritte abgewälzt würde. Zugleich ist in dieser im-
manenten Ungerechtigkeit aber die Chance eines alternativen Sanktionenrechts
zu sehen. Denn gerade hierdurch würden die (glücklichen) Dritten, die den
ihnen erwachsenden Vorteil zwar legitimieren, aber nicht ohne Ungerechtigkeit
zu vermeiden durchsetzen könnten, mit zur Verantwortung gezogen. Die Ver-
antwortung bestünde in der Pflicht, die Ungerechtigkeit so gering wie möglich
zu halten. Damit wäre einem alternativen Sanktionenrecht, das auf den Schuld-
vorwurf verzichtete, eine Begrenzung immanent, die das Strafrecht nicht auf-
weisen kann. Zur Eingrenzung der staatlichen Reaktion auf Normbrüche bedarf
es also einerseits keiner Schuldidee; andererseits erscheint diese hierzu nicht
etwa mehr, sondern eher weniger tauglich als andere Gerechtigkeitsprinzipien,

_________________
53
Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 436.
54
Vgl. oben, S. 115.
346 Teil 4: Fazit

die mit unserer Verfassung in Einklang stehen. Deshalb darf der Mensch vor
dem Richter auch nicht mehr so behandelt werden, „als ob“ er frei wäre.
Dabei ist es wichtig, Alternativkonzepte zum Strafrecht ebenso kritisch zu
prüfen wie das Strafrecht selber. Sollten eines Tages Eingriffe in die Gehirne
von Delinquenten eine Aussicht auf „Besserung“ bieten, dann ist selbstver-
ständlich gerade hier Art. 1 GG in der hier vorgenommenen Deutung zu
beachten: Der Mensch ist so zu respektieren, wie er ist. Deshalb kann auch
zukünftig kein Delinquent zwangsweise operiert oder therapiert werden, um
Rechtstreue zu bewirken. Ungeeignet sind auch amerikanische Konzepte, die
den Delinquenten erniedrigen sollen. Sie sind Folgen einer übersteigerten
Vorwurfshaltung. Einem Delinquenten, der seine Tat nicht vermeiden konnte,
darf aber kein Vorwurf gemacht werden. Es darf und muss der Unwert der Tat
zum Ausdruck gebracht werden, keinesfalls aber ein Unwert der Person. Dies
gilt selbstverständlich auch dann, wenn erniedrigende Maßnahmen tatsächlich
geeignet wären, eine „Besserung“ zu bewirken. Die Erkenntnisse der Neuro-
wissenschaften weisen den Weg in einen therapeutischen Maßnahmevollzug.
Weil der Mensch Zeit seines Lebens in der Lage ist zu lernen, darf der Blick
der Gesellschaft nicht nur auf der Erziehung der Kinder ruhen; es müssen viel-
mehr auch Therapiekonzepte für kriminelle Erwachsene entwickelt werden, die
es den Delinquenten ermöglichen, wirklich zu lernen. Ansätze hierzu finden
sich im Jugendstrafrecht und im Maßregelrecht. Diese gilt es auszubauen.55 Der
geschlossene Vollzug hat sich hier längst als ungeeignet erwiesen.56 Er muss
daher wieder auf seine ursprüngliche Funktion, nämlich die Sicherung, redu-
ziert werden. Dass auch mit einem umfangreichen Therapie- und Sicherungs-
konzept keinesfalls die Normen preisgegeben werden, liegt auf der Hand: Der
Delinquent wird staatlich zu „vertrauensbildenden Maßnahmen“ verpflichtet.
Das bedeutet einen Eingriff des Staates und damit, normativ gesehen, ein
„Übel“.
Es ist anzunehmen, dass dem Strafrecht jedenfalls derzeit eine wichtige ge-
sellschaftliche Funktion zukommt. Solange das Schuldprinzip überwiegenden
Interessen dient, ist mit einer Änderung der staatlichen Befugnisse im Straf-
_________________
55
Noch einmal: Eine solche Veränderung wird nur unter der Voraussetzung befür-
wortet, dass dem Menschen aus Art. 1 Abs. 1 u. 2 Abs. 1 GG das Recht zugestanden
wird, so zu sein, wie er ist. Hochhuth will dagegen einzelne Erkenntnisse der Hirnfor-
schung vor dem Hintergrund des Schuldstrafrechts nutzbar machen: „Denn die lebens-
lange, wenn auch nur mit eigener Anstrengung mögliche Veränderbarkeit der Hirnstruk-
turen eröffnet Aussichten auf Umsetzung der idealistisch klingenden Position Kants, des
,Du kannst, denn Du sollst!‘, bei einem viel größeren Anteil der Bevölkerung, auch der
kriminellen, auch der psychisch schwer gestörten, als man es, vor Beginn der einschlä-
gigen Lektüre, je für möglich gehalten hätte“ (JZ 2005, S. 753). Hier scheint mir die
Missbrauchsgefahr auf der Hand zu liegen.
56
Ausführlich Spieß, What Works?, S. 19 ff.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe 347

recht und ihrer symbolischen Untermauerung durch die vermeintliche Berech-


tigung eines „sozialethischen Tadels“ kaum zu rechnen, denn Veränderungen
setzen sich in eingespielten Systemen nur schwer durch. Denkbar ist aber, dass
sich im Zuge fortschreitender Einsicht in die Ursachen menschlichen Handelns
oder auch aufgrund einer Resignation in Bezug auf positive Wirkungen des
staatlichen Strafvollzugs die Haltung der Gesellschaft gegenüber delinquentem
Verhalten langsam, aber generell verändert und dass nach anderen Möglichkei-
ten der Konfliktbewältigung Ausschau gehalten wird. Vorstellbar ist es deshalb,
dass das herkömmliche Strafsystem und ein therapeutischer Maßnahmevollzug
(jedenfalls zunächst) nebeneinander existieren, letzterer jedoch allen Delin-
quenten statt wie bisher nur bestimmten Personengruppen zugänglich gemacht
wird. Ihnen könnte die Wahl eingeräumt werden, ob sie an einer therapeuti-
schen Maßnahme teilnehmen oder die herkömmliche Geld- oder Freiheitsstrafe
auf sich nehmen. In Fällen freilich, in denen eine schwere Gefahr vom Delin-
quenten ausgeht, müsste ein Vorrang sichernder Maßnahmen bestehen, in deren
Rahmen therapeutische Hilfsangebote unterbreitet werden könnten.
Diese Wahlmöglichkeit mag einerseits jene beruhigen, die ein unbegrenztes
Maßregelrecht und damit ein ausuferndes Eingriffsrecht des Staates befürchten.
Andererseits dürfte mit einer solchen Möglichkeit der Wahl auch der Fortbe-
stand der überkommenen Strafen legitimiert sein. Zudem sollte ein solches
Sanktionensystem geeignet sein, an die Erwartungshaltung der Gesellschaft
anzuknüpfen: Die herkömmliche Übelszufügung mag auf den ersten Blick
härter erscheinen und befriedigt eher das Vergeltungsbedürfnis, die andere
fordert aber eine größere persönliche Anstrengung des Delinquenten und ver-
spricht einen größeren zukünftigen Gewinn für die Gesellschaft. Die Erarbei-
tung eines solchen Modells im Detail bedarf freilich der Mitwirkung anderer
Disziplinen. Wichtig ist, dass intensiver als bisher über plausible Alternativen
zum Strafvollzug nachgedacht wird.
Der Ansatz hierzu liegt im Verständnis des eigenen Verhaltens. Denn wer
meint, er habe aufgrund „geistiger Kontrolle“ seine Gesetzestreue allein sich
selbst zu verdanken, der kommt nur schwer umhin, eine solche Möglichkeit
auch in anderen zu sehen.57 Aber auch der schlechterdings gesetzestreue Bürger
– sofern es ihn überhaupt gibt – kann nicht anders und hält sich lediglich für
„frei“. Ist diese Einsicht einmal entstanden, dann können sachliche Überlegun-
gen an die Stelle des „moralischen Zeigefingers“ treten. Ob sich allerdings eine
solche Einsicht einmal durchsetzen, ob sie das Schuldprinzip verdrängen wird
und ob das, was vielleicht danach kommt, besser ist als das Strafrecht58, lässt
_________________
57
Deutlich wird dieser Aspekt auch bei Braun, JZ 2004, S. 612.
58
Immerhin könnte damit ein Weg zur Verwirklichung des prognostischen und pro-
grammatischen Gedankens Radbruchs eröffnet sein, „daß die Entwicklung des Straf-
rechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Straf-
348 Teil 4: Fazit

sich heute nicht sicher sagen. Was sich aber sagen lässt, ist, dass es nach den
Maßstäben, die derzeit für das Recht gelten, jedenfalls gerechter wäre, den
Menschen so zu nehmen, wie er ist.

_________________

rechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und
Bewahrungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das
Strafrecht wäre“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 157).
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Verfassungsgerichtliche Entscheidungen

BVerfG – 2 BvG 1/51 v. 23.10.1951 = BVerfGE 1, 14 ff. 122


BVerfG – 1 BvR 137/52 v. 13.6.1952 = BVerfGE 1, 332 ff. 112
BVerfG – 1 BvR 1/47 v. 17.12.1953 = BVerfGE 3, 58 ff. 121
BVerfG – 1 BvR 459, 484, 548, 555, 623, 651, 748, 783, 114
801/52, 5, 9/53, 96, 114/54 v. 20.7.1954 = BVerfGE 4, 7 ff.
BVerfG – 1 BvR 253/56 v. 16.1.1957 = BVerfGE 6, 32 ff. 80, 83
(Elfes-Urteil)
BVerfG – 1 BvR 550/52 v. 10.5.1957 = BVerfGE 6, 389 112, 119
BVerfG – 1 BvL 23/52 v. 24.7.1957 = BVerfGE 7, 89 ff. 90
BVerfG – 1 BvR 678/57 v. 12.12.1957 = BVerfGE 7, 194 ff. 90
BVerfG – 1 BvR 400/51 v. 15.1.1958 = BVerfGE 7, 198 ff. 105
(Lüth-Urteil)
BVerfG – 1 BvR 197/53 v. 4.2.1959 = BVerfGE 9, 167 ff. 111
BVerfG – 1 BvR 71/57 v. 16.6.1959 = BVerfGE 9, 338 ff. 122
BVerfG – 1 BvL 21/60 v. 20.12.1960 = BVerfGE 12, 45 ff. 114
BVerfG – 2 BvR 108/62 v. 8.10.1963 = BVerfGE 17, 122 ff. 122
BVerfG – 1 BvR 513/65 v. 15.12.1965 = BVerfGE 19, 342 ff. 91
BVerfG – 1 BvR 58/66 v. 3.5.1966 = BVerfGE 20, 45 ff. 91
BVerfG – 1 BvR 296/66 v. 27.7.1966 = BVerfGE 20, 144 ff. 91
BVerfG – 2 BvR 506/63 v. 25.10.1966 = BVerfGE 20, 323 ff. 90, 112, 119
= JZ 1967, 171 ff.
BVerfG – 2 BvL 15, 23/68 v. 26.2.1969 = BVerfGE 25, 269 ff. 89, 119
BVerfG – 1 BvL 24/69 v. 9.6.1970 = BVerfGE 28, 386 ff. 110
BVerfG – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 v. 7.7.1970 104
= BVerfGE 30, 1 ff.
BVerfG – 2 BvL 7/71 v. 19.7.1972 = BVerfGE 33, 367 ff. 91
BVerfG – 1 BvR 536/72 v. 5.6.1973 = BVerfGE 35, 202 ff. 91, 105
386 Entscheidungsregister

BVerfG – 2 BvR 65/74 v. 15.1.1975 = BVerfGE 38, 312 ff. 91


BVerfG – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 v. 25.2.1975 = BVerfGE 39, 92, 105
1 ff.
BVerfG – 2 BvR 135, 136, 137, 138, 139/75 v. 11.3.1975 91
= BVerfGE 39, 156 ff.
BVerfG – 1 BvL 24/75 v. 17.12.1975 = BVerfGE 41, 121 ff. 90, 121
BVerfG – 2 BvR 941/75 v. 21.1.1976 = BVerfGE 41, 246 ff. 91
BVerfG – 1 BvL 14/76 v. 21.6.1977 = BVerfGE 45, 187 ff. 89 f., 102, 110,
112 f., 119
BVerfG – 2 BvR 631/77 v. 20.10.1977 = BVerfGE 46, 214 ff. 91
BVerfG – 2 BvL 4/77 v. 16.1.1979 = BVerfGE 50, 125 ff. 89 f., 110, 112,
119
BVerfG – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 u. 1 BvL 21/78 v. 105
1.3.1979 = BVerfGE 50, 290 ff.
BVerfG – 2 BvR 1060/78 v. 19.6.1979 = BVerfGE 51, 324 ff. 91
BVerfG – 2 BvR 215/81 v. 26.5.1981 = BVerfGE 57, 250 ff. 89, 110, 129
BVerfG – 2 BvL 4/83 v. 15.10.1985 = BVerfGE 71, 39 ff. 122
BVerfG – 2 BvR 624, 1080, 2029/83 v. 29.10.87 105
= BVerfGE 77, 170 ff.
BVerfG – 1 BvR 921/85 v. 6.6.1989 = BVerfGE 80, 137 ff. 83
BVerfG – 2 BvR 1041/88, 78/89 v. 3.6.1992 = BVerfGE 86, 106, 119
288 ff.
BVerfG – 1 BvL 38/92 v. 26.1.1993 = BVerfG NJW 1993, 122
1517 f.
BVerfG – 2 BvF 2/90 u. 4, 5/92 v. 28.5.1993 = BVerfGE 88, 92
203 ff.
BVerfG – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 v. 86, 89, 111, 119
9.3.1994 = BVerfGE 90, 145 ff. = NJW 1994, 1577 ff.
BVerfG – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342, 348/90 v. 25.1094 = 105
BVerfGE 92, 26 ff.
BVerfG – 1 BvR 409/90 v. 6.5.97 = BVerfGE 96, 56 ff. 105
BVerfG – 2 BvR 794/95 v. 20.3.2002 = BVerfGE 105, 135 ff. 119

Strafgerichtliche Entscheidungen

RG – IV 443/07 v. 4.6.1908 = RG JW 1908, 485 f. 127


RG – IV 479/17 v. 23.11.1917 = RGSt 52, 61 ff. 127
Entscheidungsregister 387

RG – I 2/27 v. 15.2.1927 = RGSt 61, 202 ff. 130


RG – I 86/27 v. 1.4.1927 = RGSt 61, 273 f. 127
RG – II 1442/28 v. 14.2.1929 = RGSt 63, 46 ff. 154
RG – II 369/28 v. 2.12.1929 = RGSt 64, 113 ff. 127
RG – I 322/30 v. 10.10.1930 = RGSt 64, 349 ff. 154
RG – 1 D 242/31 v. 14.4.1931 = JW 1931, 2495 127
RG – 2 D 544/33 v. 21.9.1933 = JW 1933, 2650 f. 191 f.
RG – 4 D 247/34 v. 29.6.1934 = JW 1934, 2469 127
RG – 1 D 549/34 v. 9.11.1934 = JW 1935, 543 127
RG – 4 D 315/35 v. 16.4.1935 = RGSt 69, 189 ff. 154
RG – 1 D 1467/34 v. 14.5.1935 = DAR 1935, 144 201
RG – 1 D 765/38 v. 25.11.1938 = RGSt 73, 11 ff. 154
RG – 1 D 838/38 v. 29.11.1938 = VAE 1939, 70 f. 198, 201
RG – 1 D 1028/38 v. 17.1.1939 = VAE 1939, 128 201
RG – 4 D 203/39 v. 21.4.1939 = RGSt 73, 177 ff. 154
RG – 1 D 373/39 v. 7.7.1939 = HRR 1940, Nr. 38 201
RG – 4 D 88/41 v. 4.4.1941 = VAE 1941, 121 f. 201

BGH – 2 StR 83/50 v. 5.1.1951 = BGHSt 1, 20 ff. 167


BGH – 4 StR 78/50 v. 12.4.1951 = BGHSt 1, 124 ff. 154
BGH – 4 StR 26/51 v. 21.6.1951 = NJW 1952, 193 f. 154
BGH – GSSt 2/51 v. 18.3.1952 = BGHSt 2, 194 ff. 76, 100
BGH – 1 StR 510/52 v. 11.11.1952 = BGHSt 3, 287 ff. 154
BGH – 1 StR 809/52 v. 16.6.1953 = BGHSt 5, 34 ff. 128
BGH – 3 StR 695/53 v. 14.1.1954 = VRS 6, 193 ff. 192 f., 197, 199
BGH – 3 StR 87/53 v. 18.3.1954 = BGHSt 6, 70 ff. 128
BGH – 2 StR 74/54 v. 9.4.1954 = BGHSt 6, 81 f. 167
BGH – 3 StR 183/54 v. 16.6.1954 = LM § 222 Nr. 23 192 f., 199
BGH – 4 StR 342/56 v. 25.10.1956 = VRS 11, 430 ff. 192
BGH – 2 StR 508/56 v. 9.2.1957 = BGHSt 10, 208 ff. 128
BGH – 4 StR 21/57 v. 10.10.1957 = BGHSt 11, 20 ff. 100
BGH – 4 StR 95/60 v. 20.5.1960 = VRS 19, 108 ff. 192, 197
388 Entscheidungsregister

BGH – 4 StR 272/60 v. 2.9.1960 = VRS 19, 343 ff. 192


BGH – 4 StR 178/61 v. 4.8.1961 = VRS 21, 293 ff. 192, 197
BGH – 4 StR 142/62 v. 22.6.1962 = VRS 23, 215 ff. 194, 203
(„Jagdhund-Fall“)
BGH – 4 StR 91/62 v. 27.7.1962 = VRS 23, 369 ff. 197
BGH – 3 StR 28/62 v. 1.8.1962 = BGHSt 17, 382 ff. 128
BGH – 4 StR 383/62 v. 30.11.1962 = VRS 24, 202 ff. 192
BGH – 1 StR 26/64 v. 5.5.1964 = BGHSt 19, 295 ff. 209
BGH – 4 StR 14/64 v. 22.5.1964 = VRS 27, 119 ff. 192 f., 197
BGH – 4 StR 157/64 v. 5.6.1964 = VRS 27, 100 ff. 192
BGH – 4 StR 119/66 v. 9.12.1966 = BGHSt 21, 157 ff. 128
BGH – 4 StR 459/67 v. 17.11.1967 = VRS 34, 205 ff. 192, 197
BGH – 4 StR 361/68 v. 16.10.1968 = VRS 36, 36 f. 220
BGH – 4 StR 286/69 v. 17.9.1969 = VRS 38, 44 f. 192
BGH – 4 StR 66/69 v. 18.11.1969 = BGHSt 23, 156 ff. 173
BGH – 3 StR 249/68 v. 21.11.1969 = BGHSt 23, 176 ff. 42
BGH – 4 StR 472/69 v. 26.11.1969 = VRS 38, 119 f. 197 f.
BGH – 1 StR 353/70 v. 8.12.1970 = BGHSt 24, 40 ff. 91
BGH – 4 StR 574/70 v. 19.8.1971 = BGHSt 24, 200 ff. 128
BGH – 4 StR 130/73 v. 11.12.1973 = BGHSt 25, 246 ff. 128
BGH – 1 StR 264/75 v. 16.9.1975 = BGHSt 26, 201 ff. 304
BGH – 4 StR 47/79 v. 22.3.1979 = BGH, VRS 56, 447 ff. 148, 154
BGH – 4 StR 441/78 v. 7.6.1979 = BGHSt 29, 18 ff. 128
BGH – 4 StR 60/82 v. 7.6.1982 = BGHSt 31, 86 ff. 128
BGH – 1 StR 662/82 v. 21.12.1982 = BGHSt 31, 278 ff. 304
BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984 (unveröffentlicht) 147, 159, 163,
(„Kriminalhauptmeister-Fall“) 189 f., 206, 214 f.,
232
BGH – 4 StR 303/87 v. 23.7.1987 = StV 1987, 528 f. 304
BGH – 1 StR 16/89 v. 21.3.1989 = NJW 1989, 1739 f. 209
BGH – 2 StR 158/93 v. 2.6.1993 = BGHSt 39, 236 ff. 303
BGH – 4 StR 441/94 v. 17.11.1994 = BGHSt 40, 341 ff. 102 f., 148 f., 155,
= NJW 1995, 795 („Epileptiker-Fall“) 158, 178, 330
Entscheidungsregister 389

BGH – 2 StR 221/94 v. 2.8.1995 = BGHSt 41, 206 ff. 130


BGH – 4 StR 76/99 v. 22.4.1999 = BGH NStZ 1999, 395 f. 304
BGH – 1 StR 483/02 v. 25.3.2003 = BGHSt 48, 255 ff. 151

Bay ObLG – 1 St 551/79 v. 18.2.1980 = VRS 58, 445 ff. 192


Bay ObLG – RReg 1 St 371/81 v. 5.11.1981 = VRS 62, 211 f. 201
OLG Celle – 1 Ss 374/55 v. 25.1.1956 = GA 56, 360 148, 154
OLG Celle – 1 Ss 416/56 v. 24.4.1957 = VRS 13, 224 f. 197
OLG Frankfurt – 2 Ss 1026/64 v. 16.12.1964 = VRS 28, 364 ff. 160, 163, 172,
(„Kleintier-Fall“) 183, 189 f., 194 f.,
228
OLG Frankfurt – 1 Ws (B) 163/83 v. 1.2.1984 159
= DAR 1984, 157 f. = VRS 66, 372 ff.
OLG Hamburg – Ss 464/49 v. 13.12.1949 = JR 1950, 408 f. 146, 158
OLG Hamburg – Ss 2/58 v. 5.2.1958 = VRS 15, 205 f. 154
OLG Hamm – 5 Ss 331/74 v. 16.7.1974 = JZ 1974, 716 f. 148, 160, 163,
= NJW 1975, 657 („Fliege-Fall“) 189, 195, 228
OLG München – 2 Ss 75/49 v. 13.11.1949 = NJW 1950, 556 193
OLG Saarbrücken – Ss 12/67 v. 15.6.1967 = VRS 34, 228 ff. 192
OLG Saarbrücken – Ss 84/90 v. 27.6.1991 = NJW 1991, 3045 154
OLG Schleswig – Ss 93/60 v. 3.8.1960 = DAR 1961, 201 f. 192 f., 195 f., 203
(„Fahrertür-Fall“)
OLG Schleswig – 1 Ss 688/82 v. 14.2.1983 = VRS 64, 429 ff. 148 f., 154
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994 (unveröffentlicht) 150
AG Castrop-Rauxel – 5 Cs 49/65 v. 23.7.1965 = DAR 1965, 146, 158
330 f. („LKW-Fall“)
AG Kappeln – Ds 13/64 v. 26.6.1964 = BA 3 (1965/66), 31 f. 154

Zivilgerichtliche Entscheidungen

OGH – II ZS 223/49 v. 9.1.1950 = OGHZ 3, 119 ff. 128


BGH – III ZR 8/50 v. 25.10.1951 = VRS 4, 91 ff. 192, 201
OLG Düsseldorf – 4 U 232/65 v. 14.12.1965 = NJW 1966, 664 202, 228
OLG Hamm – 6 U 207/91 v. 16.5.1994 = NZV 1995, 357 f. 202
OLG Hamm – 13 U 197/95 v. 17.4.1996 = NZV 1996, 410 f. 202
OLG Karlsruhe – 1 U 12/86 v. 5.11.1986 = VRS 74, 86 ff. 201
Sachwortregister

Abschreckung (s. Strafzwecke) – u. Fahrlässigkeit 213 ff., 222 ff.


Abwehrrechte (s. Grundrechte) – u. Kontrollübernahme 190 f., 221,
Abwertung (s. Degradierung des Tä- 275
ters) – u. „menschliche Seinsäußerung“
176, 186
Achtung (s. Menschenwürde)
– u. naturalistischer Handlungsbegriff
actio libera in causa 150, 188 Fn. 211
167
Affekt 31, 154 Fn. 59, 216 Fn. 330 u.
– u. personaler Handlungsbegriff 177
332, 217 Fn. 335, 302
– u. Reaktionszeit 191 ff., 204 f.
Aktionspotential 242
– u. Unterlassen 204 f.
Alltagssprache (s. Schuld) – u. Vermeidbarkeit 187 ff., 200, 206
Anosognosie 321 f. – u. Vorsatzwille 220 f., 233 ff., 302
Ansprechbarkeit – u. Vorverschulden 167, 170, 188 f.,
– normative 52 Fn. 123 191, 194, 196, 205 Fn. 280, 206 f.,
Antedatierungstheorie 262 ff., 273, 232
286, 289 – u. zivilrechtliche Haftung 201
Antrieb 30 Fn. 25, 58, 155, 319, 330 Automatisierte Wahrnehmung 230,
– erlebter 163, 215, 308 232, 235
– tiefenseelischer 216 Autonomie des Geistes 136
– unbewusster 180, 312, 319 Autopoiesis
– willentlicher 164, 308 – Begriff 63 Fn. 166
Arbeitsgedächtnis 315, 317 Autopoietische Systeme 63, 65
Augenblicksdeterminismus 35 Fn. 181
Aussagedelikte 139 Fn. 462
Automatisierte Verhaltensweise Begrenzungsfunktion der Schuld (s. a.
– Begriff 159 ff. Maß der Schuld) 92, 105 ff., 345
– Entstehungsbedingungen 270 ff. Bereitschaftspotential 271 ff., 278 ff.,
– u. finaler Handlungsbegriff 169, 291 ff., 327
171 f. – lateralisiertes 282, 284, 291, 298
– u. funktionaler Handlungsbegriff – symmetrisches 271, 282, 291
183 f. Besserung des Täters (s. Strafzwecke)
– u. Handlungsqualität 145, 147, 159, Bestimmbarkeit durch Motive 49,
166, 308, 329 f., 332 f. 50 ff., 57
Sachwortregister 391

Bewegungsextrapolation (s. Extrapola- Einzel-Photonen-Emissions-


tionstheorie) Computertomographie 243, 316,
Beweisbarkeit der Schuld 78, 135 ff. 318 Fn. 313
Beweisbedürftigkeit der Schuld 78 ff. Elektroenzephalographie 42, 243,
Beweiswürdigung (s. Freiheit der 247, 252, 263, 271, 280, 296, 312
richterlichen Überzeugungsbildung) Elektrokortikogramm 263
Bewusstlose Verhaltensweisen 145, Elektromyogramm 278, 280, 286
148 ff., 158 „Elfes-Urteil“ 80, 83
Bildgebende Verfahren 243 f., 334 „Epileptiker-Fall“ 102 f., 148 f., 155,
Binokularer Wettstreit 248 158, 178, 330
Blickzuwendungsdauer 202, 225 Epiphänomenalismus 295 Fn. 216,
Bremsansprechzeit 192 f., 195, 199 324 ff.
Erfolgshaftung 87, 231 Fn. 391
Charakter 27, 46 f., 50, 74, 82, 180, Erfolgsunrecht 186, 200, 203
312, 314 Erkennbarkeit (s. a. Fahrlässigkeit,
Charakterschuld 53 ff., 76, 341 unbewusste) 170, 222 ff., 228 ff.,
232, 235 f., 240, 247, 266 ff., 335
Constitutio Criminalis Carolina 93 f.
Erlaubtes Risiko 189, 228 Fn. 381
„Crawford-Effekt“ 254 ff., 274
Erwartungshaltung der Gesellschaft
59 f., 64 f., 184 f., 338
Dammbruchgefahr 129
Evidenz 113, 122 ff., 133 f., 329 f.,
Degradierung des Täters 58 Fn. 145, 336, 340
109, 113
Evoziertes Potential 252, 254, 263 f.
Demütigung des Täters 342
Exozytose 242, 294
Determinismus 23, 26, 33 ff., 43, 48,
Extrapolationstheorie 258 ff., 274,
68, 75 f., 86, 141, 285, 301
288 f.
– Augenblicks- 35
– u. Fatalismus 37
„Fahrertür-Fall“ 192 f., 195 f., 203
– u. Freiheitserleben 309 ff.
– psychologischer 35 Fn. 45 Fahrlässigkeit (s. a. Ungefährtat)
– bewusste (s. a. Kenntnis) 208 ff.,
dolus antecedens (s. a. Vorsatz) 167,
222 Fn. 355
305, 327
– u. Determination 51, 56 f.
Dualismus 136, 265 Fn. 91
– u. Handlungsbegriff 98 Fn. 311,
– Eigenschafts- 300 Fn. 245
168
– u. „Orwellsches“ Modell 256, 265,
– u. Reaktionszeit 195 ff., 202, 206
268, 288, 302, 307
– unbewusste (s. a. Erkennbarkeit)
– u. „Stalinistisches“ Modell 255
56, 207, 222 ff., 327
– u. visuelle Wahrnehmung 240
Einverständnis
Fatalismus 37
– tatbestandsausschließendes 85, 179
392 Sachwortregister

„Flash-lag-Effekt“ 257 ff., 290 „Fröhlich-Effekt“ 250 f., 260, 262,


„Fliege-Fall“ 148, 160, 163, 189, 290
195, 228
Freiheit (s. a. Handlungsfreiheit u. Gedächtnis,
Willensfreiheit) – Arbeits- 315, 317
– absolute 48, 67 – autobiographisches 246
– abstrakte 103, 229 – deklaratives 317
– äußere 111 – emotionales 310
– „existenzielle“ 180 – prozedurales 161
– u. Fiktion 134 – vorbewusstes 317
– u. Identitätstheorie 300 f. Geltung der Norm (s. Strafzwecke)
– kommunikative 65 Fn. 182 Generalprävention (s. Strafzwecke)
– u. Letztverantwortung 340 Gerechtigkeit 60, 80, 90 f., 98, 115 f.,
– metaphysische 45, 343 119, 121, 124, 131, 133, 158, 212,
– negative 28, 31, 49, 85, 337, 343 337, 345
– positive 28, 36 ff., 343 Gewalt (s. vis absoluta)
– relative 34, 60 Fn. 158, 174, 185 „Großmutterneuron“ 245
– der richterlichen Überzeugungsbil-
Grundrechte
dung (s. a. Intuition des Richters)
– als Abwehrrechte 83, 105, 109
125 ff., 329
– als Schutzrechte (s. a. Strafzwecke)
– u. Selbstverwaltung 58
83, 105, 114, 116
– sittliche 176
– Geltungskraft 105 f.
– transzendentale 82, 110, 118
Freiheitsbegriff
Haftung
– kompatibilistischer 28, 36, 43, 68,
– Erfolgs- 87, 231 Fn. 391
76, 285, 340
– zivilrechtliche 200
– normativer 44 f.
– schwacher 28 Handlungsbegriff
– starker 28, 48, 82, 115 – Abgrenzung v. Nichthandlungen
33, 144, 148, 151, 172, 176 f., 180,
– subjektiver (s. a. Freiheitserleben)
183, 326
32, 43, 45, 82, 118, 133
– eigenständiger 172, 185, 207, 220,
Freiheitserleben
332
– u. Grundgesetz 82 ff., 104, 110,
– finaler 95, 153, 165, 168 ff., 184,
120, 133, 343
331
– u. Handlungswille 155
– funktionaler 183 ff.
– u. neuronale Determination 43 f.,
– individueller 207 Fn. 283
69, 308 ff., 337, 343
– intentionaler 170 Fn. 133, 221
– u. objektive Erkenntnis 39 ff., 124,
Fn. 354
138
– kognitiver 181, 221
– u. Strafprozess 39 ff., 131, 133, 335
Sachwortregister 393

– naturalistischer 166, 168 f., 179 Indeterminismus,


Fn. 176, 184, 331 – Begriff 26
– negativer 168 Fn. 126 – epistemischer 43, 49, 62
– Neutralitätsfunktion 143, 155, 176, – u. Erleben 39 Fn. 59
220 – u. Naturwissenschaft 34 ff., 78
– personaler 168, 170 Fn. 134, 173 Fn. 220, 141
Fn. 146, 177 ff., 185, 245 Fn. 18 – relativer 35 Fn. 44
– realer 172 Fn. 139 – u. Schuld 33, 46 Fn. 80, 98
– u. willentliche Selbstbestimmung Initiation von Bewegungen 154, 158,
102 f., 336, 339 208, 220, 237, 292, 327 f., 332,
– sozialer 168, 173 ff. 336 f., 344
– symptomatischer 165, 168 f., 184, Instrumentalisierungsverbot (s. a.
331 Mensch als Objekt, Objektformel)
– Verbindungsfunktion 176 111
Handlungsfreiheit Intuition des Richters (s. a. Freiheit der
– u. Art. 2 Abs. 1 GG 80 ff. richterlichen Überzeugungsbildung)
– Begriff 26 157 ff.
– erlebte (s. a. Antrieb, erlebter) 40,
82 ff., 123, 132, 140, 155 Fn. 63, „Jagdhund-Fall“ 194, 203
235 „Jetzt-geht-es-los-“Gefühl 304, 322
– u. Handlungsbegriff 165 ff.
Jugendstrafrecht 346
– u. Libet-Experiment 283
– u. Menschenwürde 104 ff.
Kategorischer Imperativ 81,
– u. prozessualer Nachweis 32 ff.,
140 Fn. 465
140
Kenntnis
– u. Schuld 45 ff., 97
– als aktuelles Vorstellungsbild 215 f.
– u. Spontanreaktionen 235
– u. bewusste Wahrnehmung 240,
– u. Willensfreiheit 29 ff., 32 f.,
268, 333
155 Fn. 63, 187,
– als Bewusstseinsfeld 218, 230, 235
Handlungsspielraum 28, 30, 40, 83,
– u. Erkennbarkeit der Umstände
85
222 ff.
Handlungsunrecht 186, 189, 200,
– u. Irrtum 139, 336
235 f.
– als Mitbewusstsein 209 f., 216 ff.,
Hexenverfolgung 89, 94 ff., 130, 339,
227, 234
344
– u. Spontanreaktion 213, 215 ff.,
Homosexualität 71 221, 233 ff., 269, 277
– unbewusste 218
Ich-Bewusstsein 317 ff., 323 f. Kernspinresonanztomographie 243 f.,
Identitätstheorie 300 f., 306, 320 315
Fn. 321 Kippfigur 244
394 Sachwortregister

„Kleintier-Fall“ 160, 163, 172, 183, „Menschliche Seinsäußerung“


189 f., 194 f., 228 175 ff., 186
Kompatibilismus 28, 36, 43, 68, 76, Metaphysik (s. Freiheit)
285, 340 Milgram-Experiment 38
Komplikationsuhr 278 f., 284, 286 ff. Mitbewusstsein (s. a. Kenntnis)
Konstruktion 209 f., 216 ff., 227, 234
– normative 120 f., 130, 133 f., 330 Motion-induced blindness 249 f.
Kontrollübernahme 190 f., 221, 275 Motion Integration and Postdiction
Korrelat 259 ff.
– neuronales 68, 73, 298, 307, 320 f.,
324, 336, 338 „Natürlicher Wille“ 150, 154 f.
„Kriminalhauptmeister-Fall“ 147, – u. Vorsatzwille 186, 220, 327, 330
159, 163, 189 f., 206, 214 f., 232 Neuronales Korrelat 68, 73, 298, 307,
320 f., 324, 336, 338
Latency-difference-Theorie 258 ff., Normative Konstruktion 120 f., 130,
287 133 f., 330
Lebensführungsschuld 230 f., 235, Normgeltung (s. Strafzwecke)
341
Leib-Seele-Problem 135 Objektformel (s. a. Instrumentalisie-
– u. Quantenpysik 39, rungsverbot, Mensch als Objekt)
– u. Identitätstheorie 300 104, 342
Letztverantwortung 340 Objektive Wertordnung 92 Fn. 273,
„Libet-Experiment“ 278 ff., 319 105 f., 117
Limbisches System 246, 299, 309 ff., omissio libera in causa 205 Fn. 280
317, 319 „Orwellsches“ Modell 256, 265, 268,
„LKW-Fall“ 146, 158 288, 302, 307
„Lüth-Urteil“ 105
Pädophilie 71 ff.
Magnetoenzephalographie 243 Persönlichkeitskerntheorie 80
Maß der Schuld (s. a. Begrenzungs- Persönlichkeitsschuldlehre 55
funktion) 92, 107, 118, 212 Fn. 130
Maßnahme- / Maßregelrecht 101, Personale Präferenz 74 ff.
108 f., 145, 157, 342, 346 Positronen-Emissions-Tomographie
Mensch als Objekt (s. a. Instrumentali- 243, 316, 318 Fn. 313
sierungsverbot, Objektformel) 110, poena talionis (s. Talionsprinzip),
114, 117 Potentialschwankung 243, 247
Menschenwürde 79, 87 ff., 104 ff., Prozess (s. Strafprozess),
341 f.
„Psychische Struktur“ 56 f., 67, 236,
338
Sachwortregister 395

Psychoanalyse 120 Fn. 363, 128 f., – u. Altagssprache 130 Fn. 431
180, 186 – Begrenzungsfunktion (s. a. Maß der
Putativnotwehr 139 Schuld) 105 ff., 345
– Beweisbarkeit 78, 135 ff., 337
Rache (s. a. Vergeltung) 79 Fn. 221, – Beweisbedürftigkeit 78 ff.
212, 342 – Charakter- 53 ff., 76, 341
Rausch 31, 69 f., 154, 220, 302 – u. Evidenz 113, 122 ff., 133 f.,
329 f., 336, 340
Reaktionsgrundzeit 193, 267
– Lebensführungs- 230 f., 235, 341
Reaktionszeit 188, 191 ff., 218, 222,
– u. Letztverantwortung 340
225, 234, 268, 273 f., 276, 278, 284,
332 f. – u. moralischer Vorwurf - (s. a.
Schuld, personale) 47, 66, 72, 76 f.,
Reaktionszeittest 275 f., 283 f.
81, 109, 116, 187, 296, 341, 347
Rechtsgüterschutz 106 Fn. 344,
– Persönlichkeits- 55 Fn. 130
174 Fn. 154, 177, 186, 234
– personale 77, 339 f., 346
Rechtsgutsbeeinträchtigung 149, 176,
– Postulat 119, 120 Fn. 386, 124
204, 210, 214, 231
– psychologischer -begriff 48
Rechtsstaatsprinzip 79, 89 f., 112,
– rechtliche 77
129
– u. Unrecht 143
Reduktionismus 288 Fn. 182
– §§ 20, 21 StGB (s. a. Schuld[un]-
Reflexbewegung 102 f., 145 ff., fähigkeit) 25, 31, 33, 42, 52,
152 ff., 158, 162, 164, 172, 178, 53 Fn. 123, 61, 71 f., 76 f.,
180, 203 f., 234, 326, 331 86 Fn. 249, 99 f., 128, 131, 140 f.,
– u. automatisierte Verhaltensweise 150
159 ff., 329 Schuld(un)fähigkeit (s. a. §§ 20, 21
Richterliche Überzeugungsbildung (s. StGB) 25, 35 Fn. 43, 99 ff.,
Freiheit der -) 121 Fn. 386, 128 f., 133,
Risiko (s. erlaubtes Risiko) 139 Fn. 464, 141, 150, 154 f., 157,
Risikogewöhnung 229 Fn. 381, 231 238 Fn. 415, 335, 340, 341
Rücktritt 306 – u. Dammbruchgefahr 129
Schuldidee 25 f., 33, 98 Fn. 312, 328,
337 ff., 345
Sanktion (s. a. Übel) 42 Fn. 67,
56 Fn. 134, 58 ff., 77, 84, 88 ff., – u. Strafbegründungsschuld 25, 33
107, 113 ff., 119, 176 Fn. 158, 342, Schulenstreit 34, 51, 137
345 Schutzrechte (s. Grundrechte)
Schlafwandler 178, 180 Selbstbestimmung 27, 45, 49
Schreckreaktion (s. a. Spontanreakti- Fn. 100, 64 Fn. 177, 73, 78 Fn. 220,
on) 145, 189 80, 89, 98 ff., 112 Fn. 362 u. 364,
Schrecksekunde/-zeit 192, 194 ff. 114 Fn. 371, 117, 270, 341 ff.

Schuld Selbstzuschreibung 60, 131 Fn. 431,


170 Fn. 133, 221, 234 f., 309, 323
396 Sachwortregister

„Selbstbewusster Geist“ 264, 293 f., – u. freie richterliche Überzeugungs-


295 Fn. 219, 333 bildung 125, f., 127 ff., 131 f., 329
Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft – u. Freiheitserleben 42, 131 f.,
(s. a. Grundrechte als Schutzrechte) 133 f., 140 ff., 326, 343
114 – u. Handlungs- / Willensfreiheit
Sicherung des Täters (s. Strafzwecke) 30 Fn. 25, 32 ff., 140
Sicherungsverwahrung 107 – u. metaphysischer Freiheitsbegriff
122, 326, 343
Sittenbildende Kraft der Norm 81
– u. „Orwellsches Modell“ 269
„Somatische Marker“ 314
– u. Strafbegründungsschuld 25, 122,
Spezialprävention (s. Strafzwecke)
125, 138, 326, 340
Spontanreaktion – u. Vorsatzwille 211 f., 333 f.
– u. finale Handlungslehre 169 ff. – u. Willensbetätigung / -steuerung
– u. Handlungsqualität 145, 160 ff., 77, 152, 158, 236, 307, 326, 330 f.,
163 ff., 184, 187, 196, 203, 206 ff., 340
275, 329, 331 f.
Strafzwecke
– u. Kenntnis 213, 215 ff., 218, 221,
– Abschreckung 51, 88, 106, 113 f.
233 ff., 269, 277
– Besserung des Täters 50 ff.,
– u. kognitive Handlungslehre 182
55 Fn. 133, 67, 346 f.
– u. „menschliche Seinsäußerung“
– Normgeltung 51, 58 ff., 83,
176
109 Fn. 352, 113, 117, 184 f., 339 f.,
– u. naturalistische Handlungslehre 346
167
– Sicherung des Täters 51, 107, 114,
– u. soziale Handlungslehre 174 f. 117, 342, 346
– u. symptomatische Handlungslehre
Strukturdeterminismus 35 Fn. 45,
168
62 ff., 182 f.
– u. unbewusste Fahrlässigkeit 222,
Supplementär motorisches Areal 271,
226 ff., 232 ff.
281, 294 Fn. 207, 297, 322
– u. Vorverhalten 189
Sühne 55 Fn. 133, 86 f., 90 Fn. 263,
– u. Vorsatzwille 220 f., 233 ff., 302
106 Fn. 344, 108 Fn. 118, 119, 132
„Stalinistisches“ Modell 255 Fn. 434, 342 f.
Stigmatisierung 60, 111 Fn. 362 Synchronisation 248
Strafbegründungsschuld 25, 33, 48 f.,
122, 129, 328 f.
Tadel 64, 67, 106 Fn. 344, 347
– u. Schuldidee 25, 33
Talionsprinzip 88, 118
Strafe, absolute (s. Vergeltung, Tali-
Tatschuld (s. Maß der Schuld)
onsprinzip)
Tatumstandsirrtum 139, 336
Strafprozess
– u. epistemischer Indeterminismus Therapie (s. a Strafzwecke) 52, 71,
44 108 Fn. 348, 346 f.
Sachwortregister 397

Tourette-Syndrom 178, 276, 300 – u. unmittelbares Ansetzen 283, 304


– untauglicher 186 Fn. 204
Übel 53 Fn. 123, 62 Fn. 162, 66, Veto 295 ff., 305 f., 328, 332, 336
88 Fn. 259, 116, 346 vis absoluta 102 f., 145 ff., 152, 158,
Übermaßverbot (s. a. Maß der Schuld) 173 f., 178 ff., 206
92 – u. vis compulsiva 145
Übernahme der Situation 183, 188, Vorausberechenbarkeit des Rechts
196 Fn. 254, 205 Fn. 280 144
ultima ratio 109 Vorhersehbarkeit
ultra posse nemo obligatur 44, 59, 95, – u. Quantenphysik 34, 38
119 Fn. 380, 339 – u. Reaktionszeit 196
Unbestimmtheitsrelation (s. Unschär- Vorsatz
ferelation) – dolus antecedens 167, 305, 327
Unfallflucht 220 f. – u. Fahrlässigkeit 208 ff.
Ungefährtat (s. a. Fahrlässigkeit) 93 – u. Handlungswille 186, 220, 327,
Unmittelbares Ansetzen 283, 304 330
Unrechtseinsicht 31, 52, 72, 77, 131, – u. Spontanreaktion 220 f., 233 ff.,
140 f., 150, 327, 333, 339 302
– Wissenselement (s. a. Kenntnis)
Unschärferelation 34 ff., 123, 238
268
Fn. 415
– Wollenselement 211 ff., 219 ff.
Unterbewusstsein 150, 185, 202, 220
– Zeitpunkt 304
Unterlassen 57, 95, 165, 183, 190,
Vorverschulden 151 Fn. 44, 170,
201, 205 Fn. 280, 207, 229, 232,
188 f., 191, 194, 196, 205 Fn. 280,
236, 269, 298, 305
206 f., 232
Untermaßverbot 92
Unvermeidbarkeit (s. Vermeidbarkeit)
Wahlfunktion des Willens 328, 336
Unwerturteil (s. a. Degradierung des
Wahrnehmung
Täters) 66, 76, 111 f., 304, 346
– automatisierte 230, 232, 235
– u. Reaktionszeit 193 f., 203
Ventrikellehre 135
– subliminale 253, 301 Fn. 249
Vergeltung (s. a. Talionsprinzip) 38
– visuelle 223, 229, 240
Fn. 54, 50, 79 Fn. 221, 88, 90, 92
Wille
Fn. 272, 106 Fn. 344, 112, 113
Fn. 367, 116, 343 – natürlicher 150, 154 f., 220, 327,
330
Verhältnismäßigkeitsprinzip 86,
108 f., 116, 118 Willensfreiheit
– u. Art. 2 Abs. 1 GG 80 f.,
Versuch
87 Fn. 253,
– u. „Jetzt-geht-es-los-“Gefühl 304,
– Begriff 26 f.,
322
398 Sachwortregister

– erlebte 32 f., 82, 137, 238 Fn. 415, Willkürverbot 60, 104, 118 ff., 135,
– fiktive 44 Fn. 77, 113 187, 196, 205, 237, 344
– u. Handlungsbegriff 154, 171, 174, Würde (s. Menschenwürde)
176, 184, 187, 208
– u. Handlungsfreiheit 29 ff., Zeugenaussage 227, 323
155 Fn. 63, 187,
Zielvorstellung 61 Fn. 160, 214, 309,
– u. Kriminalstatistik 35 Fn. 44 319 f., 324, 331
– metaphysische 80, 119
Zufallshaftung (s. Erfolgshaftung)
– u. Nachweisbarkeit 32 f., 78
Zwang
Fn. 220 f., 99 Fn. 315, 306 Fn. 260
– äußerer 70, 74, 82, 145, 174, 185
– u. personale Freiheit 69
– gesetzlicher / staatlicher
– u. personale Zurechnung
61 Fn. 160, 66, 82 f., 89,
49 Fn. 100, 58
115 Fn. 373, 346
– u. Schuld 46 Fn. 80, 78 Fn. 220 f.,
– innerer 69 f., 235
98, 187, 236, 328,
– normativer -begriff 49 Fn. 100
– u. Selbstbestimmung (s. a. Selbstbe-
– unmittelbarer 189
stimmung) 28
– unwiderstehlicher (s. vis absoluta)
– u. Strukturdeterminismus
63 Fn. 169 Zwangstheorie 47 Fn. 90, 176, 186,
234
Willensschuld 196
Zweckstrafe (s. Strafzwecke)

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