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ERS
Band 126
Deliktstypen
des Präventions strafrechts -
zur Dogmatik "moderner"
Gefährdung sdelikte
Von
Wolfgang Wohlers
Wohlers, Wolfgang:
Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik
"moderner" Gefährdungsdelikte / von Wolfgang Wohlers. -
Berlin : Duncker und Humblot, 2000
(Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 126)
Zugl.: Basel, Univ., Habil.-Schr., 1999
ISBN 3-428-09947-8
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen durch andere Instrumente zur Regelung sozialer
Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
(5) Die Lehre vom Verbrechen als Verletzung des rechtlich konstituier-
ten Basisvertrauens (Wolff) .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
(6) Kriminal- und Ordnungsunrecht als graduell abgestufte Unrechts-
formen ............................................................ 100
(7) Der gemischt qualitativ-quantitative Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. \02
(8) Die Angemessenheit der angedrohten Sanktion als Zuordnungskri-
terium ............................................................. \05
5. Kapitel
Ill. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht .... ... ...... ... ......... ...... ........ ... .... 146
2. Die Legitimation der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln ....... 190
a) Das Rechtsgut der "Volksgesundheit" ....................................... 190
b) Die personale Integrität des Drogenkonsumenten ................. . ......... 192
c) Die Beeinträchtigung von Gemeinschaftsinteressen ......................... 196
aal Die Bekämpfung der mit dem Rauschmittelkonsum einhergehenden
Kriminalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
bb) Die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199
d) Zwischenergebnis .......................................................... 202
6. Kapitel
11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen ... . ............ . .......... 215
I. Die grundsätzliche Formulierung des Ansatzes bei John Stuart Mill . . . . . . . . . . . .. 254
7. Kapitel
8. Kapitel
Schlußbetrachtung 338
Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 344
Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 383
Abkürzungsverzeichnis
BVerfG = Bundesverfassungsgericht
BVerfGE = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzw. = beziehungsweise
ChemG = Chemikaliengesetz
dBtmG = Betäubungsmittelgesetz (Bundesrepublik Deutschland)
ders. = derselbe
d. h. = das heißt
Diss. = Dissertation
DJT = Deutscher Juristentag
DÖV = Die Öffentliche Verwaltung
dStGB = Strafgesetzbuch (Bundesrepublik Deutschland)
DVBl. = Deutsches Verwaltungsblatt
Ebd. = Ebenda
EDV = Elektronische Datenverarbeitung
EGMR = Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGStGB = Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
Einl. = Einleitung
ESchG = Embryonenschutzgesetz
f(0. = folgende
FMedG = Fortpflanzungsmedizingesetz
Fußn. = Fußnote
GA = Goltdammer's Archiv für Strafrecht
GenTG = Gentechnikgesetz
GewO = Gewerbeordnung
GG = Grundgesetz
ggf. = gegebenenfalls
GSchG = Gewässerschutzgesetz
GWB = Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
h.M. = herrschende Meinung
i.d.R. = in der Regel
i.d.S. = in diesem Sinne
i.e. = im einzelnen
JA = Juristische Arbeitsblätter
JR = Juristische Rundschau
JuS = Juristische Schulung
JZ = Juristenzeitung
KJ = Kritische Justiz
KK-OWiG = Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz
KO = Konkursordnung
KrimJ = Kriminologisches Journal
krit. = kritisch(er)
KritV = Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung
2 Wohler.
18 Abkürzungsverzeichnis
LH = Lehrheft
lit. = littera
LK = Leipziger Kommentar
LMBG = Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz
MDR Monatsschrift für Deutsches Recht
MedR = Medizinrecht
MschrKrim = Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform
m.w.N. = mit weiteren Nachweisen
NF = Neue Folge
n.E neuer Fassung
NJW Neue Juristische Wochenschrift
NK Nomos Kommentar
Nr. Nummer
NStZ = Neue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RR = Neue Zeitschrift für Strafrecht - Rechtsprechungsreport
NVwZ = Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
ÖJZ = Österreichische Juristenzeitung
öStGB = Strafgesetzbuch (Österreich)
OLG = Oberlandesgericht
OpiumG = Opiumgesetz
OrgKG = Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer
Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität
OWiG = Ordnungswidrigkeitengesetz
PflanzenschG = Pflanzenschutzgesetz
Rdnr. = Randnummer
RGB!. = Reichsgesetzblatt
RGSt = Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
RiStBV = Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren
RKnappschaftsG = Reichsknappschaftsgesetz
Rspr. = Rechtsprechung
RStGB = Reichsstrafgesetzbuch
RVO = Reichsversicherungsordnung
S. = Seite
SchI HA Schleswig-Holsteinische Anzeigen
schwBetmG = Betäubungsmittelgesetz (Schweiz)
schwStGB = Strafgesetzbuch (Schweiz)
SchwStGB Schweizerisches Strafgesetzbuch
SchwStrafR = Schweizerisches Strafrecht
SJZ = Schweizerische Juristenzeitung
SKStGB = Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch
s.o. siehe oben
sog. sogenannte
Abkürzungsverzeichnis 19
2"
J. Kapitel
I Vgl. die Botschaft zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflan-
zung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG), in: BBI. 1996111,205.
2 Vgl. den von Jenny und Kunz erarbeiteten "Bericht und Vorentwurf zur Verstärkung des
strafrechtlichen Schutzes der Umwelt".
I. Einführung in die ProblemstelIung 23
Andererseits: Auch wenn sich das Strafrecht einer Mitwirkung an der Aufgabe,
die grundlegenden Bedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders zu etablieren
bzw. zu gewährleisten, nicht ohne weiteres verweigern kann und es angesichts des
von bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen ausgehenden Problemdrucks so-
gar als naheliegend erscheinen muß, daß gerade das Strafrecht, als das gewichtig-
ste Zwangsmittel im Instrumentarium staatlicher Sozialkontrolle, die insoweit er-
forderlichen präventiven Funktionen mitzutragen hat, müßte ein konsequentes Prä-
ventionsstrafrecht einschneidende Modifizierungen der überkommenen Muster der
Zurechnung personaler Verantwortlichkeit zur Folge haben. Sollen strafrechtliche
Nonnen in ein Gesamtsystem der staatlichen Lenkung und Steuerung gesellschaft-
licher Entwicklungen integriert werden, mit dem schnell und flexibel auf sich wan-
delnde Risikopotentiale reagiert werden kann, wäre es geradezu unangemessen
und sinnlos, erst auf bereits eingetretene Beeinträchtigung von Rechtsgütern mit
Strafe zu reagieren, statt dafür zu sorgen, daß es gar nicht erst zu Rechtsgutsverlet-
zungen kommt. Aufgabe des Strafrechts müßte es sein, das Verhalten der Rechts-
subjekte so zu beeinflussen, daß bereits potentielle Gefahrensituationen ausge-
schlossen werden. Sollen bestimmte Verhaltensweisen mit den Mitteln des Straf-
rechts unterbunden bzw. das Einhalten bestimmter, für das Funktionieren anony-
mer Handlungszusammenhänge unverzichtbarer Verhaltensweisen strafrechtlich
garantiert werden, dann muß der Gesetzgeber notwendigerweise auf Tatbestände
zurückgreifen, die nicht an die Schädigung bzw. konkrete Gefährdung eines be-
stimmten Handlungsobjektes anknüpfen, sondern sich in der bloßen Beschreibung
von Verhaltensweisen erschöpfen, die allein aufgrund ihres abstrakten Störpoten-
tials unterbleiben sollen. Beispielhaft: Eine Rechtsordnung, die umweltschädigen-
de Verhaltensweisen und den Umgang mit bestimmten Stoffen oder Technologien
mit den Mitteln des Strafrechts effektiv unterbinden oder das geordnete Funktio-
nieren wirtschaftlicher Handlungsabläufe strafrechtlich garantieren will, kann aus
rechtstechnischer Sicht nicht darauf verzichten, Verhaltensweisen allein aufgrund
ihrer potentiellen Gefährlichkeit zu pönalisieren.
24 1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung
Die bisherigen Versuche, die Problematik der Legitimität bzw. Illegitimität des
modemen Präventionsstrafrechts zu bewältigen, sind weitgehend durch das Bemü-
hen geprägt, den legitimen Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen über das
Instrumentarium der Rechtsgutstheorie zu bestimmen, wobei dann zum einen über
den Bereich strafrechtswürdiger Rechtsgüter und zum anderen um die Frage ge-
stritten wird, inwieweit auch Verhaltensweisen im Vorfeld der konkreten Beein-
trächtigung grundsätzlich strafrechtswürdiger Rechtsgüter pönalisiert werden dür-
fen. Stratenwerth, der in mehreren Publikationen den Erkenntniswert der Rechts-
gutstheorie angezweifelt hat,5 hat in seinem Einführungsreferat auf der Strafrechts-
lehrertagung 1993 in Basel seinerseits die Forderung erhoben, die Möglichkeiten
auszuloten, die tradierten Grundsätze der Zurechnung strafrechtlicher Verantwort-
6 Vgl. Stratenwerth ZStW 103 (1993),679,691 ff.; ders., Festschrift für Arthur Kaufmann,
S. 357 ff.; ders., Rektoratsrede, S. 15 ff.
7 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 383 ff.; ders. StV 1991,435,437 ff.
26 1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung
lativ unklar ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen diese Vorverlegung als le-
gitim anzuerkennen ist.
Erweisen sich die vom Gesetzgeber verfolgten Interessen dagegen als grundsätz-
lich schutzwürdig, kann die Rechtsgutstheorie die Frage nach der Legitimität der
in Frage stehenden Strafnorm nicht beantworten. Entscheidend ist dann, ob die
vom jeweiligen Straftatbestand konkret erfaßten Verhaltensweisen im Hinblick auf
das dem Straftatbestand zugrundeliegende Schutzgut legitimerweise pönalisiert
werden dürfen. Die Problematik des "Wie" des strafrechtlichen Schutzes betrifft
neben Problemstellungen die, wie z. B. die Frage der Versuchsstrafbarkeit und der
Fahrlässigkeitshaftung, dem Allgemeinen Teil zuzurechnen sind, in besonderem
Maße die Frage nach der Deliktsstruktur. Ersichtlich muß es einen Unterschied ma-
chen, ob ein Straftatbestand Verhaltensweisen erfaßt, die unmittelbar zu einer Be-
einträchtigung des jeweils geschützten Interesses führen, oder aber Verhaltenswei-
sen pönalisiert werden, bei denen dies noch nicht bzw. nicht notwendigerweise der
Fall ist. Übersetzt in die gängigen Kategorien der Strafrechtsdogmatik ist damit
die Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten angesprochen. Be-
rücksichtigt man, daß die Straftatbestände des "modemen" Strafrechts durchgän-
gig als Gefährdungsdelikte aufzufassen sind (5. Kapitel), hängt die Legitimität des
"modemen" Strafrechts entscheidend von den Grenzen ab, die einer "legitimen"
Ausdehnung des Gefährdungsstrafrechts in den VorfeIdbereich realer Rechtsguts-
beeinträchtigungen gesetzt sind.
28 1. Kap.: Gegenstand und Gang der Untersuchung
Die Frage nach den Grenzen des (legitimen) Gefährdungsstrafrechts ist Gegen-
stand des 7. Kapitels. Zielsetzung ist es, zu zeigen, daß die Bewertung der Delikts-
strukturen der Straftatbestände des "modernen" Strafrechts eine ausdifferenzierte
Neukategorisierung der Deliktsgruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte zur Vor-
aussetzung hat. Im Ergebnis wird vorgeschlagen, innerhalb der Deliktsgruppe der
abstrakten Gefährdungsdelikte drei Deliktstypen zu unterscheiden, nämlich: kon-
krete Gefährlichkeitsdelikte, Kumulationsdelikte und Vorbereitungsdelikte. So-
dann wird der Versuch unternommen, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die
Legitimität des Einsatzes der jeweiligen Deliktstypen bewertet werden kann.
Im abschließenden 8. Kapitel werden die im Rahmen der vorliegenden Untersu-
chung beispielhaft analysierten Teilbereiche der Strafrechtsordnung an den im 6.
und 7. Kapitel der Untersuchung gewonnenen Maßstäbe gemessen. Die insoweit
eher skizzenhaften Überlegungen sollen aufzeigen, weIche Fragestellungen im
Rahmen einer Einzelnormanalyse der Normen des Umwelt-, Wirtschafts- und Be-
täubungsmiuelstrafrechts sowie der Straftatbestände des modernen Fortpflan-
zungs-Medizinrechts zu behandeln wären und auf weIche Problemstellungen es
hierbei - im Hinblick auf die Legitimität dieser Strafnormen - entscheidend an-
kommen wird. Die ins Detail gehende Ausführung des Programms würde den Rah-
men einer Einzeluntersuchung sprengen; die vorliegende Untersuchung versteht
sich insoweit als Versuch, eine Grundlage für Arbeiten zu entwickeln, die sich der
speziellen Bewertung einzelner Normen widmen.
2. Kapitel
Die in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkrieges ein-
setzenden Bemühungen um eine grundsätzliche Reform des materiellen Strafrechts
waren hinsichtlich der Überarbeitung des Allgemeinen Teils des StGB mit dem In-
krafttreten des 2. StRG' zum Abschluß gekommen. Eine über die bereits vor dem
Inkrafttreten des 2. StRG durch das 1., 3. und 4. StRG2 bewirkte Teilentkriminali-
sierung des Sexualstrafrechts sowie der Landfriedens- und Demonstrationsdelikte
hinausgehende umfassende Reform auch des Besonderen Teils sollte weiteren Ein-
zeIgesetzen vorbehalten bleiben,3 die ihrerseits den wesentlichen Teil der Straf-
rechtsreform der 70er, 80er und 90er Jahre ausmachen. Anders als noch in den
50er und 60er Jahren hatten die Bemühungen des Gesetzgebers um die Reform des
Besonderen Teils des Strafrechts ab den 70er Jahren allerdings nicht mehr in erster
Linie die Entkriminalisierung zum Ziel, sondern waren vielmehr ausgerichtet auf
die Ausweitung des strafrechtlich relevanten Bereichs abweichenden Verhaltens. 4
Festzustellen ist, daß der in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen entstandene
- häufig massenmedial erzeugte, jedenfalls aber verstärkte - Problemdruck nahezu
automatisch kriminalpolitischen "Handlungsbedarf' zu erzeugen scheint, der sich
dann mehr oder weniger unvermittelt in Reformen der Strafrechtsordnung nieder-
schlägt. Stichwortartig kann an dieser Stelle auf die Verschärfung des politischen
Strafrechts als Reaktion auf linksterroristische und neofaschistische Aktivitäten,
auf die Entstehung bzw. Ausweitung des Betäubungsmittel-, Umwelt- und Wirt-
schaftsstrafrechts sowie - als prägnante Beispiele aus jüngerer Zeit - auf die Be-
mühungen um die Bekämpfung der "Organisierten Kriminalität" und die Kontrolle
der wissenschaftlichen Forschung durch die Straftatbestände des Gentechnikgeset-
zes (GenTG) und des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) verwiesen werden.
5 Vgl. hierzu Schultz, ZStR 99 (1982), 1,5 ff.; ders., ZStW 97 (1985), 371 ff.; ders., ZStR
109 (1992), 3, 8 f.
6 Vgl. Heine, Landesbericht, S. 703 ff., 721 ff.; Heine/Hein, Landesbericht, S. IOIO ff.;
Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1285; Schultz, ZStR 99 (1982), 1, 19 ff.; ders., ZStW 97
(1985),371,378 ff.; ders., ZStR 109 (1992),3,9 ff.
7 Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1281.
Naucke sieht die Entstehung des von ihm mit dem Adjektiv "rechtsstaatlieh"
versehenen Strafrechts darin begründet, daß das bis in das 18. Jahrhundert hinein
als Machtmittel des absoluten Staates mißbrauchte, durch seine Brutalität und poli-
tische Verfügbarkeit diskreditierte Strafrecht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts aus einer aufwendig geführten rechtsphilosophischen Debatte heraus in sei-
nen Grundlagen reformiert worden sei. Kern der Philosophie der Aufklärung sei
zum einen die Erkenntnis des Freiheitsstatus des Bürgers als Grundlage der staat-
lichen Gemeinschaft und zum anderen die Einsicht in die beständige Gefahrdung
dieser Grundfreiheit durch das Verhalten anderer sowie die Machtausübung des
Staates gewesen. Freiheitsverletzungen seien als Verbrechen erkannt und die Auf-
gabe des Staates darin gesehen worden, auf diese Verbr~chen mit Strafe zu reagie-
ren. 13 Das "philosophisch richtige Strafrecht" sei - so Naucke - "die Summe der
Regeln, die gegen die Machtausübung durch den Straftäter und gegen die Macht-
ausübung durch den Staat, also gegen Straftat und Strafe schützen. Diese Summe
von Regeln, die gegen Macht schützen, ist das rechtsstaatliehe Strafrecht.,,14 Sei-
nem klassischen Konzept nach beschränke sich das so legitimierte Strafrecht "auf
die Repression schweren Unrechts an der Freiheit der Person und der Gemein-
schaft. Konkret: das Kriminalrecht sieht die Repression der Gewaltdelikte gegen
die Person, die Freiheit und das Vermögen und die gewaltsame Verunsicherung der
Grundlagen der individuellen Freiheit, nämlich Staat und Gesellschaft, als seine
Zuständigkeit an. Alle anderen Sanktionsnotwendigkeiten, die in einem Gemein-
wesen verspürt werden mögen, gehören nach diesem Konzept in das Polizei-
recht.,,15 Das rechtsstaatliehe Strafrecht sei hart profiliert, es beinhalte einerseits
eine "strenge strafende Reaktion auf die Überwältigung der Freiheit eines anderen,
(und andererseits eine) strenge juristische Kontrolle dieser Reaktion selbst.,,16 Die
kriminalstrafrechtliche Sanktion der Strafe sei ausschließlich als Reaktion auf die
Verletzung gewichtiger Rechtsgüter zu legitimieren,17 insoweit aber gleichzeitig
auch unverzichtbar l8 und damit kriminalpolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen
entzogen. 19 Was strafwiirdig sei, werde nicht beschlossen, sondern "erkannt", d. h.:
strafwürdig seien die jeder konkreten Gesellschaftsform vorgegebenen Mindestre-
geln der Verfassung der allgemeinen Freiheit. 20
18 Naucke, Wechselwirkung, S. 37 f.
19 Naucke, Wechselwirkung, S. 35 ff.; ders., Aushöhlung, S. 485.
Das "modeme" Strafrecht hat nach Auffassung bei der Autoren mit den Traditio-
nen des auf die Gewährleistung bürgerlicher Freiheit abzielenden "klassischen"
Strafrechts gebrochen. Nach Einschätzung Hassemers hat sich das "modeme"
Strafrecht zu einem Mittel gesellschaftlicher Steuerung und zu einem Instrument
der Volkspädagogik entwickelt. 21 Entscheidend für diese Entwicklung sei ein
Orientierungswechsel vom Paradigma der Strafgerechtigkeit zum Paradigma der
Prävention gewesen. Wahrend Folgenorientierung in der Phase des "klassischen"
Strafrechts allenfalls ein ergänzendes Kriterium richtiger Gesetzgebung gewesen
sei, sei es das alles beherrschende Ziel des "modemen" Strafrechts, bestimmte ex-
terne Erfolge zu erreichen. 22 Als Folge dieses Paradigmawechsels sei das Straf-
recht nicht mehr ultima ratio, sondern in zunehmenden Maße prima ratio des Ge-
setzgebers. 23 Der Topos des Rechtsgüterschutzes habe sich von einer negativen
Schranke zu einem verpflichtenden Kriterium der Pönalisierung entwickelt. 24
Naucke vertritt die Auffassung, das de lege lata geltende Strafrecht der Bun-
desrepublik Deutschland lasse allenfalls noch den Grundriß eines rechtsstaatli-
chen Strafrechts erkennen. Tatsächlich entspreche das auf den Fundamenten eines
rechtsstaatlichen Konzeptes errichtete Strafrecht diesen Vorgaben aber nicht
mehr. 25 Ausschlaggebend hierfür ist seiner Auffassung nach eine politisch moti-
vierte Entgrenzung des Strafrechts. Zwar sei das allein auf die Gewährleistung
des Freiheitsstatus des Bürgers abzielende, rechtsstaatlieh bzw. rechtsphiloso-
phisch "richtige" Strafrecht nicht nur philosophisches bzw. strafrechtsdogmati-
sches Konzept geblieben, sondern im 19. Jahrhundert auch in die Rechtswirklich-
keit umgesetzt worden,z6 etwa durch das von Feuerbach konzipierte Bayerische
Strafgesetzbuch von 1813 27 sowie weitere, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts erlassene Strafgesetzbücher?S Parallel zur Entwicklung der Rechtsstaatlich-
3 Wohlers
34 2. Kap.: Die Krise des ,,modernen" Strafrechts
keit sei allerdings - beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine
auf "Zermürbung" des strafrechtlichen Rechtsstaates abzielende Entwicklung
festzustellen. Insgesamt gesehen sei neben das rechtsstaatliche Hauptstrafrecht
ein sich stetig ausdehnendes, parteilich-politisch orientiertes, rechtsstaatswidriges
Nebenstrafrecht getreten. 29 Dieses Strafrecht habe nicht die Aufgabe gehabt, die
Freiheit des Bürgers zu schützen, sondern habe Vorteile bewahren sollen, deren
Gefährdung aufgrund eines in einem stetigen Wandelungsprozeß begriffenen, po-
litisch-pragmatischen Kalküls als Sozialstörung aufgefaßt worden sei. Angesichts
der Schwierigkeiten, vor dem Hintergrund politisch-pragmatischer Erwägungen
den Kreis legitimerweise schützenswerter Rechtsgüter zu bestimmen bzw. zu be-
grenzen, habe sich das Strafrecht insgesamt gesehen in der Folgezeit wieder zu
einem Instrument beliebig gehandhabter, parteilich-politischer Machtausübung
entwickelt. 30 Das auf die Funktion inhaltlich unbegrenzter, politisch-pragmatisch
gehandhabter Prävention von Sozialstörungen bezogene Strafrecht habe seine ei-
genständige Kontur verloren und sei auf den Stand der Zeit vor dem 18. Jahrhun-
dert zurückgefallen. 3J
Mit der Entgrenzung des politisch unabhängigen, auf die Repression schweren
Unrechts beschränkten rechtsstaatlichen Strafrechts rücke das Strafrecht - so die
Einschätzung Nauckes - wieder in die Nähe polizeilicher Ordnungsmechanismen.
Als Folge dieser Entwicklung verlagere sich das strafrechtliche Denken von pro-
fessioneller Rechtsstaatlichkeit zu kriminal politischer Phantasie und zu herbeige-
sehnten Präventionserfolgen. 32 Die mit der Ausrichtung auf präventive Zielsetzun-
gen verbundene Ausdehnung des strafrechtlichen Zugriffs auf den Bereich weniger
schwerwiegender Normverstöße 33 führe zwangsläufig zu einem Verlust an rechts-
staatlicher Förmlichkeit. 34 Ursprünglich rechtsstaatliche Maximen - wie etwa das
Gesetzlichkeitsprinzip oder das Analogieverbot - seien zu rein formalen, einer be-
liebigen inhaltlichen Ausfüllung zugänglichen Prinzipien verkommen. 35 Im Ergeb-
nis sei die Strafrechtsordnung de lege lata damit weder in der Lage, schweres Un-
recht - d. h. schwere Beeinträchtigungen der individuellen Freiheitssphäre - theo-
retisch angemessen hervorzuheben und praktisch verhältnismäßig zu bestrafen,36
noch seien Grenzen strafwürdigen Verhaltens erkennbar. Das Kemstrafrecht, vor
allem aber das Nebenstrafrecht wuchere ohne Grenzen und durchdringe alle gesell-
schaftlichen Bereiche. Die Unterschiede zwischen Strafrecht, Ordnungswidrigkei-
29 Naucke, KritV 1990,244,251 f.; ders., KritV 1993, 135, 144, 157.
30 Naucke, KritV 1993, 135, 154 ff.; ders., KritV 1990,244,254 f.
31 Naucke, KritV 1993, 135, 157/158.
37 Naucke, KritV 1993, 135, 143 ff.; ders., KritV 1990,244,253; vgl. auch Müller-Dietz,
Festschrift für R. Schmitt, S. 101.
38 Naucke, KritV, 1986, 189, 199/200.
39 Hassemer, ZRP 1992, 378, 381; ders., NStZ 1989,553,558; ders., Sozialtechnologie,
S. 329; vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 66 ff.
40 Hassemer, JuS 1987, 257, 265; ders. NStZ 1989, 553, 556; ders., Sozialtechnologie,
S. 331; vgl. auch Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 103; zur Prävention als neues
Paradigma der Kriminalpolitik vgl. auch Park, Vermögensstrafe, S. 140 ff.
41 Hassemer, JuS 1987,257,264; ders., Einführung, S. 276.
3'
36 2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts
benennt Hassemer konkret bestimmte Teilbereiche, innerhalb derer sich der krimi-
nalpolitische "Handlungsbedarf' in der Entstehung "modemen" Strafrechts nieder-
geschlagen habe: "Das zentrale Gebiet strafgesetzlicher Neuerungen ist der Beson-
dere Teil, sowohl im StGB als auch im Nebenstrafrecht. Reformen bestehen hier
nicht in einer Rücknahme von Strafdrohungen, sondern in deren Erweiterung oder
Neuschaffung. Die zentralen Gebiete strafgesetzlicher Neuerungen sind: Umwelt,
Wirtschaft, Datenverarbeitung, Drogen, Steuer, Außenhandel, überhaupt: ,organi-
sierte Kriminalität'. ,,45 Die Gebiete, auf die sich das "modeme" Strafrecht konzen-
triere, hätten "sämtlich mit dem einzelnen Bürger, dem Individuum, nur mittelbar
zu tun. Unmittelbar sind sie Institutionen der Gesellschaft oder auch des Staates.
Der Rechtsgüterschutz wird im modemen Strafrecht zum Institutionenschutz. "
Diese Rechtsgüter seien keine Individual- sondern vielmehr "Universalrechtsgü-
ter", die der Gesetzgeber zum einen "vage und großflächig" formuliere und dar-
über hinaus über den Rückgriff auf die Deliktsform der "abstrakten Gefährdungs-
delikte" in einer Weise strafrechtlich absichere, die nicht nur die tradierten Struk-
turen der Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auflöse und den Bereich
strafrechtlich relevanten Verhaltens erweitere, sondern letztlich den eigenständigen
Charakter strafrechtlich relevanten Unrechts in Frage stelle. 46
Daß der Gesetzgeber strafrechtliche Normen tatsächlich als ein Instrument staat-
licher Sozialkontrolle versteht, durch dessen Einsatz gesellschaftliche Entwicklun-
gen gesteuert und Fehlentwicklungen korrigiert werden sollen, zeigt sich schon im
Titel der meisten bundesdeutschen Änderungsgesetze: "Gesetz zur Bekämp-
fung ... ,,47 Eine weitere Bestätigung ergibt sich aus einem kurzen Blick in die Ent-
wurfsbegründungen der in den letzten Jahrzehnten erlassenen Gesetze zur Reform
des Wirtschafts-, Umwelt- und Betäubungsmittelstrafrechts: Mit dem I. und 2.
WiKG wollte der bundesdeutsche Gesetzgeber einen Beitrag zur "wirksameren Be-
kämpfung der Wirtschaftskriminalität,,48 leisten. Ziel der Reform war sowohl "ein
wirksamerer Strafrechtsschutz als auch eine Verbesserung vorbeugender Maßnah-
men".49 Auch in der Schweiz soll die Revision des Vermögens- und Urkunden-
strafrechts, die am I. Januar 1995 in Kraft getreten ist, "die traditionellen Vor-
46 Hassemer, ZRP 1992, 378, 381 f.; ders., Strafrechtswissenschaft, S. 299; vgl. auch Park,
Vermögensstrafe, S. 130 f., 137 ff.
47 Vgl. Hettinger, NJW 1996,2263,2264; Kempf, NJW 1997, 1729, 1731.
48 BT-Drucks. 10/318, S. I.
schriften des Vermögensstrafrechts stärker auf den Kampf gegen die Wirtschafts-
kriminalität ausrichten. ,,50
Die Wirksamkeit der für die Bundesrepublik Deutschland mit dem 18. StrÄG an-
geziehen Reform der Straftatbestände zur Bekämpfung der Umwehkriminalität war
zwar von den im Gesetzgebungsverfahren angehörten Sachverständigen bezweifelt
worden,51 und auch der amtierende Justizminister Vogel hatte in den Plenarberatun-
gen des Bundestages hervorgehoben, daß ,,keine sensationellen Effekte" zu erwar-
ten seien. 52 Der Gesetzgeber ging aber dennoch davon aus, mit dem Gesetz zur Be-
kämpfung der Umweltkriminalität Möglichkeiten geschaffen zu haben, sowohl
schwerwiegenden Schädigungen und Gefährdungen der Umwelt wirksamer begeg-
nen zu können als auch die Durchsetzbarkeit umweltverwaltungsrechtlicher Rege-
lungen zu erleichtern. 53 Die Erwartungen an die nochmalige Reform des Umwelt-
strafrechts durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, mit dem in
der Bundesrepublik Deutschland nach Einschätzung des damaligen Bundesjustizmi-
nisters Kinkel das "schärfste Umweltstrafrecht der Welt" etabliert worden war, wa-
ren wiederum auf eine nochmalige Intensivierung der präventiven Wirkung gerich-
tet. 54 Auch in der Schweiz zielt die in Aussicht genommene Reform des Umwelt-
strafrechts auf eine "Verstärkung des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt" ab. 55
Auch die Reform des Betäubungsmittelstrafrechts wurde in bei den Ländern von
Präventionserwartungen getragen. Nach den Vorstellungen des bundesdeutschen
Gesetzgebers hatte der Rauschgiftkonsum und die Rauschgiftkriminalität Ende der
sechziger Jahre in einem ungewöhnlichen und besorgniserregenden Maße zuge-
nommen. Zielsetzung des Gesetzgebers war es, "aus dem Opiumgesetz ein wir-
kungsvolles Instrument zur Kontrolle des Verkehrs mit Rauschgiften und zur Be-
kämpfung der Rauschgiftsucht zu machen.,,56 Die Novellierung des Opiumgeset-
zes diene dem Ziel, "der Rauschgiftwelle in der Bundesrepublik Deutschland Ein-
halt zu gebieten und damit große Gefahren für den Einzelnen und die
Allgemeinheit abzuwenden.,,57 Auch in der Schweiz sah sich der Gesetzgeber ver-
anlaßt, dem "in beängstigendem Ausrnass angestiegenen Missbrauch von Betäu-
bungsmitteln und Halluzinogenen in wirksamer Weise entgegenzutreten und so-
wohl die Ursachen als auch die Auswirkungen dieser Erscheinung in sinnvoller
und erfolgversprechender Weise zu bekämpfen.,,58
50 Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militär-
gesetzes vom 24. April 1991, BBI. 1991 II, 969, 971.
51 Vgl. Krüger, Entstehungsgeschichte, S. 161.
52 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 201. Sitzung der 8. Wahlperiode,
Mittwoch 13.2. 1980, S. 16041 (B).
53 Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. I; 8/3633, S. 19,21.
55 So der Titel des von Jenny und Kunz erarbeiteten Berichts und Vorentwurfes.
56 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 7.
58 Vg\. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Ände-
rung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BB\. 1973 I, 1348, 1350. Auch in
der Literatur findet sich die Fonnulierung der "flutartigen Drogenwelle", vg\. Hug-Beeli,
ZStR 115 (\997), 249,250; Schultz, SJZ 68 (\972), 229.
59 BR-Drucks. 546/79, S. 35.
Die Diskussion der Ursachen für die offenbar ständig zunehmende präventive
Orientierung des Strafgesetzgebers wurde in den letzten Jahren wesentlich durch
Bemühungen um die Rezeption einer im Anschluß an Arbeiten des Soziologen UI-
rich Beck unter dem Stichwort der "Risikogesellschaft" bekannt gewordenen Er-
klärungsansatzes geprägt. Gegenstand des kriminalpolitischen Diskurses war die
Frage, ob der "Risikogesellschaft" ein "Risikostrafrecht" korrespondiert bzw. die
im soziologischen Schrifttum mit dem Begriff der Risikogesellschaft umschriebe-
nen gesellschaftlichen Phänomene eine grundsätzliche Neubestimmung der Funk-
tion(en) strafrechtlicher Normen erforderlich machen.
In seiner Untersuchung zum Thema "Strafrecht und Risiko" hat Prittwitz72 den
Versuch unternommen, die für den kriminalpolitischen Diskurs relevanten Ergeb-
67 Gesetz zur Regelung der Gentechnik vom 20. 6. 1990, BGBI. I, S. 1080, Inkraftgetreten
am I. 7. 1990.
6K Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13. 12. 1990, BGBI. I, S. 2746, Inkraftgetreten
am I. I. 1991.
69 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 273 f.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler,
S.653.
70 Vgl. BT-Drucks. II 15622, S. I, 19 ff.
7\ BT-Drucks. 11/5460, S. I.
12 Strafrecht und Risiko, S. 49 ff.; vgl. daneben auch noch Hilgendorf, Strafrechtliche Pro-
duzentenhaftung, S. 17 ff. sowie die kritische Rezension beider Untersuchungen durch Kuh-
len, GA 1994, 347 ff.
40 2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts
73 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 77 ff., 167 f.; ders. StV 1991,435,438; vgl. auch
Callies NJW 1989, 1338; Kindhäuser, Universitas 1992,227,228 f.; Müller-Dietz, Funktio-
nen, S. 97; kritisch zum Ansatz Prittwitz Kuhlen, GA 1994,347,352; vgl. auch ders., a. a. 0.,
S. 357 f. zum Begriff des Risikostrafrechts.
74 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 50 ff.; vgl. auch Heine, Verantwortlichkeit, S. 61 ff.;
Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 23 ff.; Preuß KritV 1989,3,8 f.; Schulz,
Kausalität, S. 75 f.
75 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 65 ff., \03 ff.; vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche
Unsicherheit, S. 54 ff.
76 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. \07 ff.
78 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 378 ff.; vgl. auch Frehsee, StV 1996,222,227.
79 Auch die Kritik von Kuhlen, GA 1994,347,360 f. bezieht sich weniger auf die Einze1-
aussagen als vielmehr auf den von Kuhlen als nicht hinreichend aussagekräftig kritisierten
Versuch Prittwitz, ein Gesamtmodell der Risikogesellschaft zu entwickeln.
80 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 54; vgl. auch Hohmann, Rechtsgut, S. 154;
Lüderssen StV 1987,163, 171.
81 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 58, 69; vgl. auch Kindhäuser, Universitas
1992,227,233; Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 740 f.
82 F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 74 ff.; vgl. auch Hilgendorf, Strafrechtli-
che Produzentenhaftung, S. 89 ff. mit dem Beispiel des mittelalterlichen Lebensmittelstraf-
rechts sowie auch Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnr. 46 f. Ablehnend zu den
Thesen Herzogs: Kratzsch JuS 1994, 372, 374 f., dessen Polemik allerdings in der Sache
nicht zu überzeugen vermag.
42 2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts
83 Vgl. Kuhlen, GA 1994, 347, 358. 366; Naucke, KritV 1993, 135, 144 m. w. N.; vgl.
auch Schünemann, GA 1995, 201, 212, der auf die in den Strafgesetzbüchern der Aufklä-
rungszeit enthaltenen abstrakten Gefahrdungsdelikte verweist.
84 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 183; Krauß, KritV 1993, 183, 184, 193.
KS Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182. 184; vgl. auch ders., KritV 1986,55,58; ders .•
StV 1994,265,266.
K6 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182.202/203; vgl. auch ders., StV 1994,265.266;
Krauß. KritV 1993, 183. 193; Bussmann, in: Kriminalsoziologische Bibliografie, Heft 65,
S. 4 f., 15.
IV. Das Legitimitätsdilemma "moderner" Strafrechtsnormen 43
durch ein "Grundrecht auf Sicherheit" legitimiertes Credo darin bestehe, durch den
instrumentellen Einsatz strafrechtlicher Normen zur Lenkung und Steuerung ge-
sellschaftlicher Prozesse Sicherheit zu produzieren bzw. Ruhe und Ordnung zu ge-
währleisten. 88
Die Einschätzung, daß sich das Strafrecht - insbesondere die als Musterbeispiele
des "modemen" Strafrechts verstandenen Bereiche des Betäubungsmittel-, Um-
welt-und Wirtschaftsstrafrechts - derzeit in einer Krisensituation befindet oder
doch zumindest darauf zusteuert, ist weit verbreitet. Das wesentliche Indiz für die-
sen Befund wird gemeinhin darin gesehen, daß sich das "modeme" Strafrecht als
ungeeignet erwiesen hat, den Erwartungen an die präventive Wirksamkeit der neu
geschaffenen Straftatbestände zu genügen. 89
Anknüpfungspunkt dieser Einschätzung ist die Diskrepanz zwischen den Erwar-
tungen an die präventive Wirksamkeit des modemen Betäubungsmittel-, Umwelt-
und Wirtschaftsstrafrechts einerseits und den in der Rechtswirklichkeit festzustel-
lenden allenfalls marginalen Wirkungen bei der ,,Bekämpfung" der Betäubungs-
mittel-, Umwelt- und Wirtschaftsdelinquenz andererseits, die jedenfalls den öffent-
lich verbreiteten Erwartungen an die präventive Wirkung des Einsatzes strafrecht-
licher Normen in keiner Weise entspricht. Gerade dort, wo der Gesetzgeber - wie
z. B. im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht - den Versuch unternommen bzw.
durch die öffentliche Verbreitung entsprechender Ankündigungen die Erwartung
erzeugt hat, Verhaltensänderungen durch die Androhung strafrechtlicher Sanktio-
nen durchzusetzen, oder - wie insbesondere im Betäubungsmittelstrafrecht - ge-
sellschaftliche Mißstände allein mit den Mittel strafrechtlicher Repression behoben
werden sollen, sind, gemessen an der in den Gesetzgebungsverfahren deutlich ge-
wordenen Erwartungshaltung, geradezu eklatant erscheinende Vollzugsdefizite
festzustellen. 90
Sowohl im Bereich des Umweltstrafrechts als auch in Teilbereichen des Wirt-
schaftsstrafrechts stehen einem als nicht unerheblich eingeschätzten Dunkelfeld91
87 Callies, NJW 1989, 1338 f.; Krauß, KritV 1993, 183, 185.
K8 Krauß, StV 1989,315,317 f.; Heine, JZ 1995, 651, 653; Hesse, Schutzstaat, S. 118.
89 Nestler. Grundlagen. Rdnr. 285 weist zutreffend darauf hin, daß sich das Präventions-
strafrecht an seiner eigenen Zielsetzung messen lassen muß.
90 Vgl. Peter-Alexis Albrecht. KritV 1993, 163; Hassemer, ZRP 1992, 378, 382; Seel-
mann, KritV 1992,452,455.
44 2. Kap.: Die Krise des "modernen" Strafrechts
der Wirtschaftskriminalität werden in der Praxis vornehmlich Fälle der Klein- und
Mittelkriminalität erfaßt. 100 Zumindest in ihrer derzeitigen Ausgestaltung haben
sich die Normen des Umwelt-, Betäubungsmittel- und Wirtschaftstrafrechts damit
als weitgehend ungeeignet erwiesen, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen,
d. h. die jeweiligen gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen bzw. in nennens-
wertem Umfang zu deren Bewältigung beizutragen. 101
Indes: Trotz dieses nicht zu bestreitenden Befundes wäre es verfehlt, die an Voll-
zugsdefiziten festgemachte Krise als ein Problem nur des "modernen" Strafrechts
zu interpretieren. 102 Bei näherer Betrachtung ist nämlich nicht ersichtlich, mit wel-
cher Berechtigung das Verdikt der Ineffizienz gerade auf die Bereiche beschränkt
werden kann, die gemeinhin unter den Oberbegriff des "modernen" Strafrechts
subsumiert werden. Ein empirischer Beleg dafür, daß etwa die §§ 211 ff. dStGBI
Art. 111 ff. schwStGB einen signifikanten Beitrag zur Eindämmung von Tötungs-
handlungen leisten, existiert ebensowenig wie umgekehrt ein Beleg dafür, daß die
Abschaffung der § 324 dStGB I Art. 70 GSchG nicht noch eine Zunahme von Ge-
wässerverschmutzungen zur Folge hätte. 103 Würde man an die § 242 dStGB I
Art. 139 schwStGB die gleichen Maßstäbe anlegen, mit denen man die Ineffektivi-
tät etwa der § 29 dBtmG I Art. 19 schwBetmG begründen will, stände auch die In-
effektivität der § 242 dStGB I Art. 139 schwStGB außer Frage. 104 Ebensowenig
wie § 29 dBtmG ein geeignetes Instrument zur Eindämmung des Konsums illega-
ler Rauschmittel zu sein scheint, kann in § 242 dStGB ein geeignetes Mittel zur
faktischen Eindämmung von Laden- und Fahrraddiebstählen oder Kfz-Aufbrüchen
gesehen werden. 105
Die wesentliche Ursache für die als mangelhaft erscheinende Effektivität straf-
rechtlicher Normen wird man darin sehen müssen, daß das auf den tradierten Prin-
'J9 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 191; Breuer, JZ 1994, 1077, 1080; Jennyl
Kunz, Bericht, S. 6 ff.; Kindhäuser, Festschrift für Helmrich, S. 984; Kloepfer/Vierhaus,
Umweltstrafrecht, Rdnrn. 204, 206; Meinberg, ZStW 100 (1988), 112, 122 ff.; Meurer, NJW
1988, 2065, 2071; Müller-Tuckfeld, Abschaffung, S. 469; ders., KritV 1995,69,72; Ronzani,
Erfolg, S. 64/65.
UW) Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 194 f.; Bussmann, in: Kriminalsoziologi-
sche Bibliografie, Heft 65, S. 3.
JOI Vgl. Heine/Meinberg, Gutachten, D 97 f.; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 245,
369 f.
102 Vgl. Kuhlen, GA 1994,347,363 ff.
einzelnen Täters darf das Strafrecht nur dort abstellen, wo dieser tatsächlich bis
zum Moment der eigentlichen Rechtsgutsverletzung selbst noch in der Lage ist,
den Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung durch eigenverantwortliches Verhal-
ten zu verhindern. Nur in diesem Bereich kann das klassische Erfolgsdelikt als der
im Hinblick auf das Ziel der Gefahrenabwehr angemessene Deliktstypus angese-
hen werden. Überall dort, wo der einzelne Täter mit der Verhinderung des Erfolgs-
eintritts überfordert ist, der zukünftige Eintritt einer Rechtsgutsbeeinträchtigung
mithin allein vom Zufall abhängen würde, ist durch eine entsprechende Ausgestal-
tung des Normensystems sicherzustellen, daß diesen Verhaltensweisen durch ent-
sprechende Verbote entgegengewirkt wird. Regelungsinstrument zur Beherrschung
des Zufalls ist das Gefährdungsdelikt. Für die Situation~n, in denen der Eintritt ei-
ner Rechtsgutsbeeinträchtigung noch durch das Verhalten einzelner Personen (auch
des potentiellen Opfers) abgewendet werden kann, erscheint das konkrete Gefähr-
dungsdelikt als angemessener Deliktstypus, weil hier der Eintritt einer Rechtsguts-
beeinträchtigung erst mit dem Eintritt einer Situation, bei der die zunächst noch
bestehenden Abwehrmöglichkeiten nicht mehr gegeben sind wesentlich vom Zu-
fall abhängt. Gefahrensituationen, die entweder aufgrund multipler Kausalzusam-
menhänge bereits von vornherein individuell nicht beherrschbar sind, oder die aus
Handlungsabläufen entstehen, die wegen gänzlich fehlender oder doch zumindest
eingeschränkter individuell-zwischenmenschlicher Kontakte weitgehend anonym
ablaufen, kann dagegen von vornherein allein durch generell-abstrakte Verhaltens-
verbote entgegengewirkt werden. 6
Sollen bestimmte Verhaltensweisen mit den Mitteln des Strafrechts unterbunden
bzw. die Einhaltung bestimmter Verhaltensweisen strafrechtlich garantiert werden,
die für das Funktionieren anonymer Handlungszusammenhänge notwendig sind,
muß der Gesetzgeber also zwangsläufig auf Tatbestände zurückgreifen, die nicht
an die Schädigung bzw. konkrete Gefährdung eines bestimmten Handlungsobjek-
tes anknüpfen, sondern sich in der bloßen Beschreibung von Verhaltensweisen er-
schöpfen, die aufgrund ihrer generellen Unbeherrschbarkeit unterbleiben sollen.?
Indes: Selbst wenn man unterstellen würde, daß eine auf funktionale Wirkung aus-
gerichtete Strafrechtsordnung tatsächlich in der Lage wäre, das selbstgesteckte Ziel
eines effektiven Rechtsgüterschutzes zu erreichen,8 darf doch andererseits nicht
übersehen werden, daß durch die externe Konstituierung von Handlungsabläufen
gleichzeitig auch individuelle Freiheitssphären festgelegt werden und in dem Ma-
ße, in dem Verhaltensweisen zum Schutz bestimmter Güter unterbunden werden,
die personale Freiheit eingeschränkt wirdY Angesichts dessen, daß die Frage der
Legitimität einer Regelung von der der Funktionalität einer Regelung zu trennen
ist,lO können strafbewehrte Verhaltensgebote bzw. -verbote nicht allein mit der Er-
wägung legitimiert werden, daß eine auf effektiven Rechtsgüterschutz ausgerichte-
te Strafrechtsordnung auf entsprechende Straftatbestände nicht verzichten kann.
Entscheidend ist, ob die unter funktionalen Gesichtspunkten als probat erscheinen-
de Pönalisierung potentiell!! rechtsgutsgefährlicher Verhaltensweisen im Hinblick
auf die ..berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums,,!2 als (noch) legitim be-
gründet werden kann,!3 eine Entscheidung, die ersichtlich maßgebend von den
Kriterien abhängig ist, anhand derer die ,.Berechtigung" eines Freiheitsanspruches
bestimmt wird.
Daß es entscheidend darauf ankommt, weIcher Stellenwert der personalen Frei-
heitssphäre des Einzelnen zuerkannt wird, läßt sich beispielhaft an der von
Kratzsch entwickelten, auf einen ..optimalen" Rechtsgüterschutz!4 abzielenden
Konzeption einer Strafrechtsordnung zeigen. Die Bedeutung, die dem von
Kratzsch als ..materielle(n) Richtpunkt aller strafrechtlichen Regelungen" und als
..das materielle Endziel des Strafrechts" hervorgehobenen ..Rechtszustand, bei
dem jedem Menschen nach Maßgabe des Gleichheitsprinzips" ein .. Grundbestand
an elementaren Freiheitsrechten mit entsprechenden Herrschaftsraum und der
Möglichkeit der Selbstbestimmung (Autonomieprinzip)" zukommen soll, wird in
seiner praktischen Bedeutung weitgehend dadurch entwertet, daß bereits ..der Ver-
stoß gegen das allgemeine Schädigungsverbot, das Verursacherprinzip und, soweit
Gefährdungsdelikte in Frage stehen, das Prinzip der Risikoerhöhung" dazu führen
soll, daß ..derjenige die Aufgaben, Kosten und Risiken des strafrechtlichen Rechts-
güterschutzes zu übernehmen (hat), der mit einer Tat in die geschützte Rechtssphä-
re eines anderen eindringt und damit das ursprüngliche Gleichgewicht in den
Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern stört.,,!5 Wenn im Hinblick auf die an-
9 Dworkin, Bürgerrechte, S. 424; Feinberg, Vol. I, S. 207 f.; Jakobs, StrafR AT, 2/25b;
ders., ZStW 97 (1985),751,771; Kindhäuser, Gefährdung, S. 178, 182, 185; Müssig, Rechts-
güterschutz, S. 200 f.
10 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 363.
II Und damit notwendigerweise auch die Erfassung von Verhaltensweisen, die im konkre-
ten Einzelfall keine spezielle Verletzungsrelevanz aufweisen (vgl. Graul, Gefährdungsdelikte,
S. 150 f.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 231 ff.) bzw. deren Sozialschädlichkeit nicht feststeht,
sondern deren Unschädlichkeit nur nicht erwiesen ist (vgl. Kindhäuser, Gefahrdung, S. 283;
A.H. Meyer, Gefahrlichkeitsdelikte, S. 181 ff.; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337,
340).
12 Schünemann, GA 1995,201,213. Daß das Konzept der Person einer Funktionalisierung
des Strafrechts Grenzen setzt, betonen auch Cattaneo, Aufklärung, S. 35 ff. unter Hinweis auf
Naucke sowie Dworkin, Bürgerrechte, S. 36 f. unter Hinweis auf Hart; vgl. auch NolI, Fest-
schrift für Mayer, S. 220 f.
13 Engisch, Gerechtigkeit, S. 231, 242; Lewisch, Verfassung, S. 316; Müssig, Rechtsgüter-
schutz, S. 204; Zippelius, Gerechtigkeit, S. 82, 86.
14 Kratzsch, Festschrift für Oehler, S. 67/68.
15 Kratzseh, Verhaltenssteuerung, S. 351 ff., ders., GA 1989, 49, 55; ders., Festschrift für
Oehler, S. 69 ff.; ders., JuS 1994,372,377.
4 Wohler.
50 3. Kap.: Integration strafrechtlicher Normen in staatlichen Risikomanagements
Die Auffassung, ein Verzicht auf instrumentelle Funktionen und die Beschrän-
kung auf den Bereich repressiver Vergeltung gewichtiger Freiheitsverletzungen
sei keine Verweigerung einer notwendigen Anpassung des Strafrechts an gewan-
delte gesellschaftliche Verhältnisse, sondern müsse vielmehr als das Ergebnis ei-
ner notwendigen Rückbesinnung auf das für eine freiheitlich-rechtsstaatliche Ge-
sellschaft allein legitime Modell einer Strafrechtsordnung interpretiert werden, ist
in der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion insbesondere von den Frankfurter
Strafrechtslehrern Peter-Alexis Albrecht, Winfried Hassemer und Wolfgang
Naucke artikuliert worden. Wie oben bereits dargelegt wurde, I sind Hassemer
und Naucke in ihren Analysen der Strafrechtsentwicklung der letzten 200 Jahre
zu im wesentlichen übereinstimmenden Ergebnissen gelangt. Albrecht will zwar
die bei Hassemer und Naucke vorzufindende "idealistische rechtsphilosophische
Grundorientierung" durch eine steuerungstheoretische Sichtweise ersetzen, um so
die "gesellschaftstheoretische Abstinenz" juristisch-dogmatischer Modellbildun-
gen zu vermeiden. 2 In der Sache selbst fUhrt seine Interpretation der historischen
Entwicklung allerdings zu identischen Resultaten. Auch Albrecht sieht den we-
sentlichen Aspekt der Strafrechtsentwicklung darin, daß die ursprüngliche Funk-
tion repressiv-vergeltender Strafrechtsanwendung allein darin bestanden habe, die
Freiheit des einzelnen zu schützen, indem bestimmte Erwartungsstrukturen abge-
sichert wurden und so ein formaler Rahmen fUr die Entfaltung gesellschaftlicher
Autonomie entstand. Als Folge des einsetzenden technischen, ökonomischen und
sozialen Wandels sei das statisch-repressive Formalrecht des liberalen Staates
dann durch das dem intervenierenden Sozialstaat adäquate, an materiellen Ord-
nungs- und Gestaltungsvorstellungen orientierte regulatorische Recht abgelöst
worden. 3
Auch wenn Albrecht, Hassemer und Naucke sowohl in der Analyse der Straf-
rechtsentwicklung als auch in der (negativen) Einschätzung des derzeitigen Zu-
stands der Strafrechtsordnung4 zu weithin übereinstimmenden bzw. miteinander
4·
52 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
4 Vgl. insoweit auch die Beiträge in dem vom Frankfurter Institut für Kriminalwisenschaf-
ten 1995 unter dem programmatischen Titel "Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts" her-
ausgegebenen Sammelband.
S Schünemann, GA 1995,201 ff.; vgl. auch Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 29; Zie-
schang, Gefährdungsdelikte, S. 215; vgl. aber die abweichende Selbsteinschätzung bei Peter-
Alexis Albrecht, Festschrift für E. A. Wolff, S. I.
6 Ablehnend hierzu bereits Kindhäuser, GA 1989,493,505.
7 Hasserner, ZRP 1992, 378, 383; ders., KritV 1993, 198, 208; ders., Grundlinien, S. 90 ff.;
vgl. auch Hohmann, GA 1992,76,79; Vormbaum, ZStW \07 (1995), 734, 752.
8 Hasserner, ZRP 1992, 378, 383; ders., KritV 1993, 198, 206 ff.; vgl. auch Hohmann,
Rechtsgut, S. 209 ff.; F. Herzog, ZStW \05 (\993), 727, 749 ff.; Kindhäuser, Universitas
1992,227, 234 sowie Naucke, Wechselwirkung, S. 38 ff., der allerdings auch auf die Gefahr
hinweist, daß lediglich die Mittel der Unterdrückung umetikettiert und in ihrer Anwendung
entgrenzt werden (GA 1984, 199,2\0 f.).
1. Die Heterogenität der "Frankfurter Schule" 53
9 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993, 163, 171; vgl. auch ders., KritV 1988, 182, 192 f.,
197 f .. 205 ff.; Frehsee, StV 1996, 222, 229; Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung,
S.42.
10 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993,163, 180; ders. StV 1994,265,273; ders., Formali-
sierung, S. 256, 266; vgl. auch Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734, 759 f.
11 Berücksichtigt man, daß Albrecht sowohl die Legitimation strafrechtlicher Normen
durch den Gedanken des Schuldausgleichs ,jenseits seines pragmatisch-limitierenden
Zwecks" als "Metapher rur strafrechtliche Festschriften" (KritV 1988, 182,205) als auch die
Legitimation durch (general-)präventive Zielsetzungen als eine sich jeder empirischen Er-
folgsbilanzierung entziehende "terminologische WundeIWaffe" (StV 1994, 265 f.; KritV
1993, 163. 164) velWirft, stellt die Forderung nach Abschaffung instrumentell gesehen inef-
fektiver Strafrechtsnormen letztlich nichts anderes dar als die verklausulierte Forderung nach
gänzlicher Abschaffung des Strafrechts.
54 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
Will man mit Hassemer und Naucke an einem Kernbestand legitimer Straf-
rechtsnonnen festhalten, bedarf es Kriterien, anhand derer entschieden werden
kann, welche konkreten Verhaltensweisen diesem Kernstrafrecht unterfallen (sol-
len). Der Verweis darauf, daß es Rechtsgutsbeeinträchtigungen gebe, auf die not-
wendigerweise mit repressiver Vergeltung reagiert werden müsse (Naucke), bzw.
bei denen der Verzicht auf Strafe "schwer denkbar sei,,12, beschreibt ein gesell-
schaftliches Phänomen, ohne dieses erklären oder gar legitimieren zu können. Da
sowohl die durch die Strafandrohung bewirkte Einschränkung der personalen Frei-
heitssphäre als auch die Bestrafung selbst ein Übel darstellt, das in die grundrecht-
lich geschützte Freiheitssphäre des Nonnadressaten bzw. Bestraften eingreift,
müßte sowohl die Strafandrohung als auch die Bestrafung als eine mit dem Ver-
hältnismäßigkeitsgrundsatz nicht mehr vereinbare und deshalb verfassungswidrige
staatliche Maßnahme angesehen werden, wenn dieser Eingriff zweckfrei erfolgen
sollte. 13 In einer Gesellschaft, die die Existenz staatlicher Gewalt nicht als Selbst-
zweck anerkennt, kann auch Strafgesetzgebung kein Selbstzweck sein, sondern
muß sich - wie jedes andere staatliche Handeln mit Eingriffscharakter auch - als
21 Hieraus folgt im übrigen auch, daß der Satz Kants: "Das Strafgesetz ist ein kategori-
scher Imperativ" jedenfalls nicht auf bestimmte Strafnormen abzielen kann, die aufgrund ih-
res notwendigen Bezuges auf bestimmte empirische Gegebenheiten notwendigerweise nur
als hypothetische Imperative im Sinne der von Kant verwendeten Begrifflichkeiten aufgefaßt
werden können (vgl. auch Papageorgiou, Schaden, S. 78). Die Auffassung, daß entgegen tra-
dierter Auffassungen letztlich weder Kant noch Hegel als Vertreter reiner Vergeltungstheorien
angesprochen werden können, findet im Schrifttum zunehmend Unterstützung: vgl. Biele-
feldt, GA 1990, 108 ff.; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 266 ff.; Mayer, Festschrift für Eng-
isch, S. 69 ff.; Schild, Festschrift für E. A. Wolff, S. 434 ff.; Seelmann, Anerkennungsverlust,
S. 22 ff. (zu Hegel) und S. 127 ff. (zu Kant). Während Hegels Lehre zumindest einige Ele-
mente enthält, die nach heutigem Verständnis als Elemente einer präventiv orientierten Straf-
zwecklehre angesprochen werden müssen (vgl. Seelmann, a. a. O. sowie insbesondere Mül-
ler-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 281 ff. m. w. N. zum Streitstand), stellt sich im Hin-
blick auf die Lehre Kants das Problem, daß Kant die Frage, woraus sich die Berechtigung des
Staates zum Strafen herleitet, zumindest nicht ausdrücklich beantwortet hat (vgl. Höffe, Ka-
tegorische Rechtsprinzipien, S. 220, 227 ff., 243). Mit den Ausführungen zum Strafrecht in
der Metaphysik der Sitten hat Kant nicht eine strikt-absolute Straftheorie positiv begründet,
sondern sich darauf beschränkt, die Möglichkeit einer rein präventiv ausgerichteten Strafbe-
gründung zu widerlegen (vgl. Cattaneo, Strafrechtsphilosophie, S. 326, 329; ders., Aufklä-
rung, S. 43 f.; Papageorgiou, Schaden, S. 26 ff.; a.A. Höffe, Kriminalstrafe, S. 364 f.; vgl.
auch Oberer, Strafrechtslehre, S. 401 ff., der die positive Begründung der Strafberechtigung
aus der Lehre Kants vom höchsten Gut ableiten wiII; zustimmend insoweit Kindhäuser, GA
1989,493,504; kritisch demgegenüber Brandt, Gerechtigkeit, S. 449 ff., der die Auffassung
vertritt, die Notwendigkeit der Strafe als Folge der Normverletzung leite sich daraus her, daß
das Gesetz die Handlung notwendigerweise mit einer Strafe verbinde um die Gerechtigkeit
zu wahren. Daraus folge dann, daß sich der Tater mit seiner Handlung notwendigerweise
auch die Strafe zuziehe).
22 Gallas, Grenzen, S. 4; Maurach I Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 7 Rdnr. 1; Hart, Recht,
S. 66 ff.; Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 265, 274 f.; Neumann, Kritik, S. 150; Papageorgiou,
Schaden, S. 56; Rawls, Regelbegriffe, S. 137 f.; Schild, Festschrift für E. A. Wolff, S. 434 ff.
23 Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 45 f.; Prittwitz, StV 1991,435,437;
Lüderssen, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 489.
11. Kernstrafrecht und Prävention 57
Strafens auch über die aus der Anwendung strafrechtlichen Zwanges resultieren-
den positiven Folgen für den einzelnen Bürger bzw. die Gesellschaft müßte letzt-
lich als ein rechtskulturel1er Rückschritt angesehen werden?4
Erkennt man an, daß sich strafrechtliche Nonnen jedenfalls auch über positive
Folgen der Anwendung strafrechtlichen Zwanges legitimieren müssen, stel1t sich
das Problem, daß die Ergebnisse empirischer Forschung derzeit weder die präven-
tive Wirksamkeit noch die Unwirksamkeit strafbewehrter Verhaltensverbote zu be-
legen vennögen. Relativ eindeutig dürfte allein der Befund sein, daß angesichts
der gesel1schaftlich vorherrschenden Einstellungen gegenüber "Vorbestraften" und
unter den derzeit im Strafvol1zug herrschenden Bedingungen von einer resoziali-
sierenden Wirkung der Vol1streckung von (Freiheits-)Strafen nicht ausgegangen
werden kann. 25 Ob die Androhung und Verhängung von Strafen ein geeignetes
Mittel ist, andere von der Begehung von Straftaten abzuhalten (negative General-
prävention) bzw. zu nonnkonfonnen Verhalten zu veranlassen (positive General-
prävention), ist dagegen weitgehend ungeklärt. Eine abschreckende Wirkung der
Strafandrohung erscheint für die Fälle nicht unplausibel, in denen das Verhalten
des Täters nicht allein emotional gesteuert, sondern zumindest auch rational kalku-
liert wird. Auch im Hinblick auf den kalkulierenden Täter kann die verhaltenssteu-
emde Wirkung anderer Faktoren indes weder ausgeschlossen noch im einzelnen
gewichtet werden, so daß eine - gemessen an den Maßstäben der empirischen So-
zialforschung - konsensfähige Bewertung der abschreckenden Wirkung strafrecht-
licher Zwangsanwendung nicht existiert. 26 Gleiches gilt für das Konzept der positi-
ven Generalprävention: Es erscheint plausibel, anzunehmen, daß die Strafandro-
hung und Strafverhängung die Bevölkerung in ihrem Glauben an die Legitimität
bestimmter Verhaltensgebote und -verbote bestätigt und so eine dispositionel1e
Nonnbindung bestärkt, die Basis und Grundlage des Einzelnen bei Entscheidungen
über situative Nonnbefolgung ist. 27 Die durch die Beobachtung des Al1tagslebens
24 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 376 f.; ders., StV 1991,435,437; Hassemer, Sozial-
technologie, S. 332; ders., JuS 1987,257,264; vgl. auch Lüderssen StV 1987, 163, 172 f.;
Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnrn. 12, 14.
25 V gl. Baratta, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 407/408; Bock, JuS 1994, 89, 94 f.;
Lehne, KrimJ 1994,210,213; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 81 ff.; Noll, Fest-
schrift für Mayer, S. 222/223; w.N.b. Schöch, Festschrift für Jescheck, S. 1082; zu den me-
thodischen Problemen der empirischen Forschung in diesem Bereich vgl. Eisenberg, Krimi-
nologie, § 15 Rdnrn. 13 ff.; Göppinger, Kriminologie, S. 159 ff., 627 ff., jeweils m. w. N.
26 Vgl. Bock, JuS 1994,89,95 f.; Dölling, ZStW 102 (1990), 1,5 ff.; Kaiser, Kriminolo-
gie, § 31 Rdnr. 34; Lehne, KrimJ 1994,210,213 f.; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention,
S. 100 ff.; Schöch, Festschrift für Jescheck, S. 1085, 1098 ff.; Schumann, Beweisbarkeit,
S.18.
58 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
27 Vgl. Baunnann, GA 1994,368,374 ff. sowie 380 f.; DölIing, ZStW 102 (1990), 1,9 ff.;
Kuhlen, GA 1994, 347, 365; ders., Anmerkungen, S. 57 f.; skeptisch aber Lüderssen, Fest-
schrift für Arthur Kaufmann, S. 490.
28 Bock, JuS 1994, 89, 99; Gallas, Grenzen, S. 10 /11; Hoerster, GA 1970, 272, 274; Kai-
ser, Kriminologie, § 31 Rdnr. 44; Kuhlen, GA 1994,347,364 f.; Schmidhäuser, Festschrift
für E. A. Wolff, S. 445 f.
29 Baunnann, GA 1994, 368, 372 f.; Eisenberg, Kriminologie, § 41 Rdnrn. 3 ff.; Kaiser,
Kriminologie, § 31 Rdnrn. 37 f.
30 Zur Problematik der Latenz der angestrebten Nonnstabilisierungsfunktion vgl. i.e.
Bock, JuS 1994, 89, 97 f.; ders., ZStW 103 (1991), 636, 651 ff.
31 Vgl. Bock, JuS 1994,89,98; ders., ~tW 103 (1991), 636, 654 f.; DölIing, ~tW 102
(1990), I, 18 f.
32 Eisenberg, Kriminologie, § 15 Rdnrn. 11 ff., § 41 Rdnrn.6, 11 ff.; Göppinger, Krimino-
logie, S. 179,624; Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 115 ff.; vgl. aber auch Schu-
mann, Beweisbarkeit, S. 19 ff., der eine empirische Verifizierung für notwendig und im
Grundsatz auch möglich erachtet.
33 Dölling, ~tW 102 (1990), 1,20; Göppinger, Kriminologie, S. 179.
34 Schulz, StV 1994,38,42.
35 Vgl. z. B. Hassemer, Theorie, S. 200; ders .. Strafrechtsdogmatik, S. 120; Jäger, Rechts-
güterschutz, S. 123 sowie ausführlich und differenzierend ders., Festschrift für Klug, S. 91 ff.
m.w.N.
11. Kernstrafrecht und Prävention 59
36 Treffend hierzu der Hinweis von H.-L. Günther (JuS 1978, 8, 10), die Fragestellung
müsse richtigerweise nicht lauten: "Im Zweifel für die Freiheit", sondern vielmehr "Im Zwei-
fel für wessen Freiheit"; zustimmend Lagodny, Strafrecht, S. 13; Stächelin, Strafgesetzge-
bung, S. 194/195; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 412 ff.
37 Vgl. H.-L. Günther, JuS 1978,8,10.
38 Böllinger, KJ 1991,393,398 f.; vgl. auch Eisenberg, Kriminologie, § 23 Rdnr. 39; For-
ster, ZSR NF 114 (1995), 11, I, 52 f.; Lagodny, Strafrecht, S. 176 f., 518; Stächelin, Strafge-
setzgebung, S. 184, 198 ff. Vgl. auch Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 534 ff., 545,
speziell zu den unzureichend aufgeklärten Hintergründen des bundesdeutschen Embryonen-
schutzgesetzes.
39 Vgl. hierzu unten S. 192 ff.
40 Böllinger, KJ 1991, 393, 399; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 328; Jäger,
Festschrift für Klug, S. 94 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 173 ff.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I
Rdnr. 11 a.
41 Eisenberg, Kriminologie, § 23 Rdnr. 49; H.-L. Günther, JuS 1978, 8, 11; Schneider, StV
1992,514,515; vgl. auch die abweichende Meinung des Bundesverfassungsrichters Sommer
(BVerfGE 90,145,221). Allgemein zur Pflicht des Gesetzgebers, eine Nachkontrolle durch-
zuführen: Appel, Verfassung, S. 588; NolI, Gesetzgebungslehre, S. 146 ff.; Peine, Systemge-
rechtigkeit, S. 136; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 200 ff.
60 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
Gesetzgeber erst dann verpflichtet sein soll, eine ursprünglich auf einen Gefähr-
lichkeitsverdacht gestützte Pönalisierung zurückzunehmen, wenn der Gefährlich-
keitsverdacht eindeutig widerlegt sei, vermag nicht zu überzeugen. 42
Bezogen auf die Problematik des "modemen" Strafrechts bleibt im übrigen fest-
zuhalten: Soweit die Forderung nach einer Abschaffung des Umwelt-, Wirtschafts-
und Betäubungsmittelstrafrechts mit der "Ineffektivität" dieser Normen begründet
werden soll, ergibt sich wiederum das Problem, daß eine Beschränkung der so be-
gründeten Forderung auf die im Vordergrund der aktuellen kriminalpolitischen
Diskussion stehenden Teilbereiche der Strafrechtsordnung angesichts des Erkennt-
nisstandes zur präventiven Wirksamkeit strafrechtlicher Normen als weitgehend
willkürlich erscheinen muß. Unstreitig ist, daß die Straftatbestände des "moder-
nen" Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrechts die in sie gesetzten
präventiven Hoffnungen nicht erfüllt haben. Andererseits ist aber auch nicht erwie-
sen, daß z. B. ein Verzicht auf das "modeme" Umwelt- und Betäubungsmittelstraf-
recht die bestehenden gesellschaftlichen Probleme eher noch verschärfen würde,
also eine signifikante Zunahme umweltgefährdender Verhaltensweisen bzw. eine
weitere Zunahme des Rauschmittelkonsums 43 die Folge einer Entkriminalisierung
wäre. Letztlich folgt hieraus: Die Legitimität von Straftatbeständen kann nicht en
bloc verhandelt werden. Die Klassifizierung bestimmter Bereiche der Strafrechts-
ordnung unter dem Schlagwort des "modemen" Strafrechts bleibt insoweit ohne
jeden Erkenntnisgewinn. Entscheidend ist, ob sich konkrete Straftatbestände als
gerechtfertigte Einschränkungen der personalen Freiheitssphäre darstellen lassen.
Vor diesem Hintergrund kann es dann aber nicht von vornherein ausgeschlossen
werden, daß es nicht auch im Bereich umweltgefährdender bzw. wirtschaftsdelin-
quenter Verhaltensweisen oder im Hinblick auf den Umgang mit bestimmten Stof-
fen Verhaltensweisen geben soll, die als "Unrechtsspitzen" legitimerweise Strafe
nach sich ziehen müssen.
42 Vgl. BVerfGE 45, 187,252; 39, 1,5 sowie BVerfGE 90, 145, 183, wo gesicherte krimi-
nologische Erkenntnisse verlangt werden; BGHSt 38, 339, 342 sowie auch bereits BayObLG,
NJW 1969,2297. Auch der Gesetzgeber selbst scheint dieser Auffassung anzuhängen: vgl.
BR-Drucks. 546/79, S. 24. In der Literatur stößt die These auf Zustimmung (Gallwas, MDR
1969,892,895; Goerlich, JR 1977,89,90; Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 210 f.)
und Ablehnung (Böllinger, KJ 1991,393,403; ders., KJ 1994,405,408 f., 414; Schneider,
StV 1992,514 f.). Allgemein zur Kontrolldichte der Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick
auf Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers: Vogel, StV 1996, 110, 113 f. sowie La-
godny, Strafrecht, S. 173 ff., 318 f.; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 139 ff.; zur Rechts-
lage in Österreich vgl. Lewisch, Verfassung, S. 225 ff.
43 Vgl. Joset, ZStR 101 (1984), 152, 159 ff. sowie bereits oben S. 44 f.
III. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens 61
Die These, daß es möglich und notwendig sei, das Kriminalstrafrecht auf einen
feststehenden Kanon apriori strafrechtswürdiger Verhaltensweisen zu begrenzen,
wird in der aktuellen Diskussion insbesondere von Naucke vertreten. Strafrechts-
würdig sind seiner Auffassung nach allein die als "absolute Untaten" in ihrem Un-
rechtsgehalt von der jeweiligen Gesellschaftsform unabhängigen gewaltsamen Be-
einträchtigungen des Lebens, der menschlichen Würde, der Gesundheit und der
Freiheit. 44 Strafe als Reaktion auf diese "wirklichen Verbrechen" sei kein der Um-
setzung von Zweckmäßigkeitserwägungen dienendes vorbeugendes Instrument der
Sozialpolitik, sondern habe allein die Funktion, die unantastbare, aber angetastete
Ordnung wiederherzustellen, ein Übel mit einem Übel auszugleichen. 45 Nicht der
Strafgesetzgeber schaffe die Straftat; was strafwürdig sei, werde nicht beschlossen
oder konsentiert, sondern erkannt, und finde dann in der Form des Gesetzes seinen
Ausdruck. Wirklich strafwürdig - gleichzeitig aber auch im Sinne eines kategori-
schen Imperativs zwingend strafbedürftig - seien allein die Verhaltensweisen, die
den Bereich personaler Freiheit beeinträchtigen, der für jeden Bürger eines Staates
unabdingbar wichtig sei, gleichgültig, welches politische System herrsche. Straf-
würdiges Unrecht seien Mißachtungen der Freiheit durch Tötung, Körperverlet-
zung sowie Freiheitsberaubung - Vergewaltigung und Nötigung eingeschlossen.
Eine über diesen Bereich der Beeinträchtigung unabdingbarer personaler Freiheit
hinausgehende Ausweitung des Strafrechts sei Mißbrauch. 46 Betrug, Urkundenfäl-
schung, betrunkenes Fahren ohne Verletzung anderer, Steuerhinterziehung und Be-
stechung seien präventionsbedürftige Verhaltensweisen, die zwar eine Intervention
des Staates legitimieren könnten, keinesfalls aber eine vergeltende Bestrafung.47
Zur Begründung seines Standpunktes stützt sich Naucke auf die von Kant aus
der rechtswissenschaftlichen Diskussion des 18. Jahrhunderts übernommene Un-
terscheidung des kriminalstrafwürdigen "crimen publicum" vom "crimen priva-
tum".4M Kant habe nicht jede Übertretung eines öffentlichen Gesetzes als vergel-
44 Naucke, Wechselwirkung, S. 35 f.
45 Naucke, Wechselwirkung, S. 36.
46 Vgl. Naucke, Wechselwirkung, S. 35 ff. sowie - besonders prägnant - ders., Aushöh-
lung, S. 485.
47 Naucke, Wechselwirkung, S. 38 ff.
tungswürdiges Unrecht angesehen, sondern den Begriff der Verbrechen auf die
Übertretungen beschränkt, "die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbür-
ger zu sein.,,49 Über diese allgemeine Umschreibung hinaus habe Kant den Bereich
der mit Strafe zu vergeltenden Verhaltensweisen nach der objektiven und subjekti-
ven Seite hin positiv bestimmt bzw. gegen nicht-strafwürdiges Verhalten abge-
grenzt: In subjektiver Hinsicht habe Kant alle fahrlässigen Taten aus dem Verbre-
chensbegriff ausgeschieden. 5o Auf der objektiven Seite habe Kant das öffentliche
Verbrechen (crimen publicum) vom Privatverbrechen (crimen privatum) unter-
schieden, wobei er allein die öffentlichen Verbrechen als mit Strafe zu vergeltende
Verhaltensweisen angesehen habe. 51
Öffentliches Verbrechen sei eine Tat nach Kant dann, wenn "das gemeine Wesen
und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird.,,52 Als Privatverbre-
chen und damit nicht-strafwürdige Verhaltensweisen habe Kant "Veruntreuungen,
d.i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren (und) Betrug
im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des anderen,,53 bezeichnet. Zur positi-
ven Bestimmung des Begriffs des crimen publicum habe Kant "falsch Geld oder
Wechsel machen, Diebstahl und Raub",54 Mord und Totschlag,55 Körperverlet-
zung,56 Notzucht,57 Päderastie,58 Hoch- und Landesverrat59, Beleidigung60 und
schließlich ein al1gemeines Verbrechen der "Bestialität" benannt. 61 Naucke hält
die auf Kant zurückgehende Beschränkung des Kriminalunrechts für im Grundsatz
überzeugend und auch in den Einzelheiten für weitgehend zutreffend. Unter Be-
zugnahme auf die von Kant als allgemeine Definition des öffentlichen Verbrechens
verstandene Bezeichnung als "Verletzung der Staatssicherheit" will Naucke einen
Diebstahl aber nur und erst dann als ein strafwürdiges Verbrechen anerkennen,
wenn es sich nicht um einen geringfügigen, sondern um einen großangelegten
Diebstahl handelt62 . Andererseits hält er auch eine Ausweitung des von Kant be-
schriebenen Anwendungsbereichs in bestimmten engen Grenzen für denkbar, wo-
bei er als Beispiel die vorsätzliche Brandstiftung nennt. 63
53 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452; zur Einordnung des Betrugs vgl. Kühl, Festschrift
für Spendei, S. 96.
54 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 452, 454.
57 Ebd., S. 488.
58 Ebd., S. 488.
59 Ebd., S. 455.
60 Ebd., S. 454.
61 Ebd., S. 488
sich gesehen eher als ungeeignet erscheint, das Eigentum aller unsicher zu ma-
chen.68
Unabhängig davon, welchen Maßstab man letztlich anlegen will, wird man ent-
gegen der Auffassung Nauckes ohne Berücksichtigung empirisch-pragmatischer
Erkenntnisse nicht auskommen können. Bereits die von Kant als Beispiel eines öf-
fentlichen Verbrechens genannte Geld- und Wechselfälschung ist offensichtlich
nicht ohne Bezugnahme auf bestimmte Gesellschaftsformen - nämlich solche, die
über eine entwickelte Wirtschaftsordnung verfügen - als strafwürdiges Verhalten
zu "erkennen". Noch deutlicher wird dies, wenn man mit Naucke die Abgrenzung
des (strafwürdigen) großen Diebstahls vom (nicht-strafwürdigen) kleinen Dieb-
stahl für notwendig erachten wollte. Auch die gerade· im Hinblick auf die von
Naucke propagierte Unterscheidung zwischen einfachen und großangelegten Dieb-
stahlstaten in besonderer Weise relevante Frage, unter welchen Umständen ein
Diebstahl geeignet erscheint, das Eigentum aller unsicher zu machen, kann ersicht-
lich nicht ohne Berücksichtigung der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Ver-
hältnisse beurteilt und entschieden werden. 69 Hier ist einerseits zweifelhaft, ob ein
einzelner - auch: großangelegter - Diebstahl für sich gesehen überhaupt geeignet
sein kann, das Eigentum aller unsicher zu machen. Wird dies bejaht, ist dann ande-
rerseits wiederum nicht ohne weiteres - jedenfalls nicht ohne Bezugnahme auf be-
stimmte gesellschaftliche Bedingungen - einsichtig zu machen ist, warum nur ein
großangelegter Diebstahl geeignet sein soll, diesen Effekt zu erzielen. 7o Schließ-
lich würde sich abschließend die Frage stellen, wann ein Diebstahl als "großange-
legt" anzusehen ist. Soll entscheidend sein, daß ein Gemeinwesen durch eine Tat
dieser Art insgesamt verunsichert wird, wird man diese Frage nicht entscheiden
können, ohne die zeitlich und räumlich konkreten Gegebenheiten des gesellschaft-
lichen Umfeldes zugrunde zu legen. 7 )
Wenn Naucke schließlich Angriffe auf die vermögensrechtliche Freiheitssphäre
des Einzelnen nur dann als strafwürdige öffentliche Verbrechen gelten lassen will,
wenn diese durch einen Gewahrsamsbruch gekennzeichnet sind (Diebstahl und
Raub), und Verhaltensweisen, bei denen es an einem Gewahrsamsbruch fehlt (Be-
trug und Unterschlagung) als nicht strafwürdige Privatverbrechen versteht, zeigt
sich, daß die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen nicht allein aus der Beeinträch-
tigung der personalen Freiheitssphäre abgeleitet werden kann, sondern auch die Art
und Weise der Beeinträchtigung von Bedeutung ist. Im Ergebnis zeigt sich damit
dann aber auch an dieser Stelle, daß dem "Erkennen" von "wirklichen Verbrechen"
bestimmte Wertungen vorausgehen müssen bzw. vorausgegangen sind. Die Annah-
me, daß der Einordnung bestimmter Delikte als crimen publicum bzw. crimen pri-
vatum allein apriori geltende Wertungen zugrunde liegen, würde letztlich wohl
auch der Lehre Kants widersprechen, nach der bei der praktischen Umsetzung all-
gemeiner Regeln notwendigerweise das konkrete gesellschaftliche Umfeld zu be-
rücksichtigen und insoweit auf empirische Erkenntnisse zurückzugreifen ist. 72
Die These, daß es sich bei den Normen des (Kern-)Strafrechts um "absolute Un-
taten" handeln müsse, findet eine scheinbare Bestätigung darin, daß es elementare
Bedingungen menschlicher Existenz gibt, die - wie z. B. Leben und körperliche
Integrität - jedenfalls dem Grunde nach nicht zur Disposition stehen können und
deren Beeinträchtigung aus diesem Grund auch stets und in allen Gesellschaftsord-
nungen als strafwürdig anerkannt worden ist. Die Tötung eines Menschens ist denn
wohl auch die Untat, bei der das Prädikat des "Absoluten" noch am ehesten ange-
messen erscheint. 73 Selbst hier ist aber zu konstatieren, daß das - vorbehaltlich et-
waiger Sonderfälle, wie z. B. Notwehrlagen i. S. d. § 32 dStGB I Art. 33
schwStGB74 - grundsätzlich geltende Tötungsverbot de lege lata (vgl. §§ 211 ff.
dStGB I Art. 111 ff. schwStGB) allein für den geborenen Menschen gilt, während
zwar gezeugte, aber noch nicht geborene menschliche Lebewesen bis zum Zeit-
punkt der Nidation strafrechtlich gar nicht und danach - bis zur Geburt - einen in
sich nochmals gestuften, eingeschränkten strafrechtlichen Schutz erfahren
(§§ 218 ff. dStGBI Art. 118 ff. schwStGB).75 Die Begrenzung des absoluten Le-
bensschutzes auf den Bereich zwischen Geburt76 und Tod mag in früheren Zeiten
als ein aus der "Natur der Sache" folgendes Faktum erschienen sein. Der fort-
schreitende naturwissenschaftliche Erkenntnisstand zwingt indes zu der Erkennt-
nis, daß sowohl Endzeitpunkt als auch Anfangszeitpunkt des strafrechtlichen Le-
bensschutzes nicht als ein Faktum "erkannt", sondern aufgrund normativer Wer-
tungen festgelegt werden muß. 77
72 Höffe, Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 31, 1977, 354, 369; ders., Krimi-
nalstrafe. S. 339 ff.; Kühl, GA 1977,353,361 f.; Pogge, Imperative, S. 178 f.
73 Papageorgiou, Schaden, S. 172/173.
74 V gl. AppeI. Verfassung, S. 325; Eser, in: Günther 1Keller, S. 285; Keller, in: Günther 1
Keller, S. 119 f.
75 V gl. Eser, in: Schönke 1 Schröder, Vorbem. § § 218 ff. Rdnrn. 33 ff.
76 Entscheidend ist nach herrschender Meinung das Einsetzen der Eröffnungswehen; vgl.
Eser, in: Schönkel Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 13; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 111
Rdnr.3.
5 Wohlers
66 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
77 Hilgendorf, NJW 1996, 758, 759; ders., NJW 1997, 3074, 3075; Hoerster, Abtreibung,
S. 65 ff.; ders., JR 1995,51; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 182; Merke!, JZ 1996, 1145,
1154; Papageorgiou, Schaden, S. 291; Sternberg-Lieben, JA 1997,80,87; Taupitz, JuS 1997,
203,207. A.A. Weiß, JR 1992, 182, 183; ders., GA 1995,373,376; ders., NJW 1996,3064,
dessen Behauptung, der Begriff "Mensch" sei kein hochgradig unbestimmter Begriff, weil
jeder wisse, was gemeint sei und was nicht, angesichts des nachfolgend zu skizzierenden
Streitstandes allerdings nur mit Erstaunen zur Kenntnis genommen werden kann.
78 Vgl. nur Hruschka, JZ 1991,507; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 118 Rdnr. 2 sowie-
ais Protagonisten entgegengesetzter Standpunkte in der Frage des Lebensrechtes Nichtgebo-
rener - Hoerster, Abtreibung, S. 24 ff. sowie Singer, Ethik, S. 118 einerseits und Tröndle,
NJW 1991,2542 andererseits.
79 H.-L. Günther, GA 1987,433,436 f.; Gröner, in: Günther/Keller, S. 306; Hösle, Staat,
S. 37 ff.; Keller, in: Günther/Keller, S. 112 ff., 195; Rilinger, GA 1997,418,420; Tröndle,
NJW 1991,2542 f.; Graf Vitzthum, JZ 1985, 201, 208; ders., in: Günther/Keller, S. 71 ff.;
Weiß, JR 1992, 182, 183; ders., GA 1995, 373, 377 f.; ders., NJW 1996,3064,3065.
Weiß will aus diesem Standpunkt die grundsätzliche Anwendbarkeit der §§ 211 ff., 223 ff.
StGB bei pränatalen Einwirkungen herleiten, wobei er die §§ 211 ff. de lege lata im Hinblick
auf § 218 StGB für gesperrt hält (vgl. Weiß, GA 1995,373,376 f.). Kritisch zur Gleichset-
zung des Begriffs ,,Mensch" mit dem Begriff "menschlichen Wesen" unter Bezugnahme auf
das Kriterium der Spezieszugehörigkeit: Fechner, JZ 1986,653,658; Hilgendorf, NJW 1996,
758,761; Jerouschek, JZ 1989,279,280 f.; Arthur Kaufmann, Festschrift für Oehler, S. 655
sowie insbesondere Hoerster, JZ 1991,503,504; ders., Abtreibung, S. 55 ff.; kritisch zu dem
von Hoerster erhobenen "Speziesismus"-Vorwurf: Hruschka, JZ 1991, 507, 508; Stürner, JZ
1991,505,506.
80 Zippelius, Gerechtigkeit, S. 329; w.N.b. Sternberg-Lieben, JuS 1986, 673, 677; Vief-
hues, GA 1991,455,458.
81 Hofmann, Festschrift für Krause, S. 119; Merkei, JZ 1996,1145,1152; vgl. auch Vief-
hues, GA 1991,455,456 m. w. N.
82 Vgl. die Nachweise bei Sternberg-Lieben, JuS 1986,673,677; Viefhues, GA 1991,455,
457; ablehnend hierzu: Singer, Ethik, S. 182 ff.
83 Vgl. Singer, Ethik, S. 181 f., der diesen Standpunkt allerdings selbst ablehnt.
III. Der Rekurs auf einen vOl1'ositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens 67
84 So Singer, Ethik, S. 232 ff. sowie Hoerster, JuS 1989, 175 ff.; ders., ARSP 1990, 255 ff.;
ders .. Universitas 1991, 19 ff.; ders., Abtreibung, S. 19 ff., 69 ff.; ders., Neugeborene, S. 12 ff.,
der davon ausgeht, daß das Neugeborene ein entsprechendes Überlebensinteresse nicht vor
dem 4. Lebensmonat entwickelt (vgl. Hoerster, Neugeborene, S. 21 f.; ders., Abtreibung,
S. 79 ff.; vgl. auch Singer, Ethik, S. 197), der aber - wegen der Unsicherheit im Einzelfall -
aus "pragmatischen Gründen" im Rahmen einer rechtlichen Regelung dann doch auf den
Zeitpunkt der Geburt abstellen will; vgl. Hoerster, JZ 1991,503 f.; ders., GA 1992,245,248;
ders., Abtreibung, S. 128 ff.; ders., Neugeborene, S. 23 ff.; vgl. auch Singer, Ethik, S. 222).
Für eine Beschränkung auf personale Wesen - unter Ausschluß von Föten und Säuglingen -
als selbständige Interessenträger auch Papageorgiou, Schaden, S. 185 ff. Demgegenüber will
Merkei, in: Hegselmann/Merkel, S. 110 eine ,,minimale Fähigkeit zur subjektiven Empfin-
dung der eigenen Existenz" ausreichen lassen.
8S Fechner, in: Günther I Keller, S. 49 f.
86 Vgl. z. B. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Art. I I Rdnr. 51; Eser, Neuartige
Bedrohungen, S. 33 f., 40 ff.; ders., in: Günther I Keller, S. 122 ff.; Günther, in: Günther IKel-
ler, S. 138 f.; Hilgendorf, MedR 1994,429,430 ff.; ders., MedR 1995,396; ders., NJW 1996,
758,761; Jung, ZStW 100 (1988), 3, 32 ff.; Arthur Kaufman, JZ 1987,837,845; Loseh,
NJW 1992,2926,2930 f.; Singer, Ethik, S. 197; Stemberg-Lieben, JuS 1986,673,677; Zip-
pelius, Gerechtigkeit, S. 331 f.; kritisch hierzu Hoerster, Abtreibung, S. 47 ff.; ders., MedR
1995,394 f.; ders., NJW 1997,773,774, der allerdings selbst auch den ,.Respekt vor indivi-
duellem menschlichen Leben" als einen für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit noch nicht
geborener menschlicher Lebewesen relevanten Gesichtspunkt anerkennt (Hoerster, Abtrei-
bung, S. 109 f.). Der Unterschied zu dem z. B. von Günther und Jerouschek vertretenen An-
satz, die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des Embryos aus einer Ausstrahlungswirkung der
Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. I Abs. I GG als Teil der objektiven Werteordnung abzuleiten (vgl.
H.-L. Günther, GA 1987,433,436; Jerouschek, JZ 1989,279,284 f.), besteht damit nicht im
Ansatz, sondern darin, daß Hoerster zu anderen Abwägungsergebnissen gelangt, weil er die
Interessen der Schwangeren höher gewichtet als das öffentliche Interesse an der Achtung des
Respekts vor individuellem menschlichen Leben (vgl. Hoerster, Abtreibung, S. 112 f.).
87 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 16; Geilen, Festschrift für
Heinitz, S. 380 f.; Höfling, JZ 1995,26,28; Spiuler, JZ 1997,747,748; Stemberg-Lieben, JA
1997,80, 81 f.; Stratenwerth, Festschrift für Engisch, S. 531 ff.
5·
68 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
stellen auf den sog. Himtod, d. h. den irreversiblen Ausfall der Gehirnfunktionen. 88
Abgesehen davon, daß auch hier zu klären bleibt, ob der Ausfall sämtlicher Hirn-
funktionen (sog. Gesamthirntodkonzept) oder aber der Ausfall der höheren Gehirn-
funktionen maßgebend sein soll,89 hat die durch die modeme Intensivmedizin er-
öffnete Möglichkeit, den Körper himtoter Menschen über nicht unerhebliche Zeit-
räume hinweg am endgültigen Absterben zu hindern, die Frage aufgeworfen, ob
man nicht - um der Gefahr entgegenzuwirken, daß Gehimtote als "Ersatzteillager"
mißbraucht werden - auf den unwiderruflichen Ausfall aller Organe abstellen sollte
(Hirn-Herz-Kreislauftod)90 oder andersherum - im Interesse etwaiger Organemp-
ranger - bereits der alsbaldig zu erwartende Eintritt des Gesamthirntodes als
Todeszeitpunkt angenommen werden sol1.91 Auch hier zeigt sich: der Tod ist kein
Ereignis, das erfahrungswissenschaftlieh "erkannt" werden kann, sondern eine Zä-
sur, die aufgrund normativer Maßstäbe gesetzt wird92 und bei der - wiederum -
auch die Möglichkeit eines gestuften Schutzes nicht von vornherein ausgeschlossen
ist. 93
Der Notwendigkeit normativer Zäsuren kann schließlich auch nicht mit der Er-
wägung die Spitze genommen werden, daß das legitime Strafrecht auf einen Kern-
bereich stets und immer als Untaten aufgefaßter Verhaltensweisen begrenzt werden
müsse bzw. begrenzt werden könne. Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt
schnell, daß selbst die aus heutiger Sicht zum Kernbestand der weitgehend konsen-
tierten Wertungen zu zählende Zäsur der Geburt als Beginn des Tötungsverbotes in
anderen Epochen anders gesehen wurde 94 und gerade zu Beginn der Neuzeit das
88 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 18; Hurtado Pozo, Partie
speciale, Rdnrn. 35 ff.; Maurach I Schroeder I Maiwald, StrafR BT I, § I Rdnr. 12; Taupitz,
JuS 1997, 203, 207; Trechsel, SchwStGB, Vor Art. 111 Rdnr. 4, jeweils m. w. N.; kritisch
zum Hirntodkonzept als "Ausdruck eines reduzierten Menschenbildes" z. B. Höfling, JZ
1995,26,32.
89 Vgl. Spiuler, JZ 1997,747,749 f.; Sternberg-Lieben, JA 1997,80,82 ff.
92 Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 211 ff. Rdnr. 18; Geilen, Festschrift für Hei-
nitz, S. 385 ff.; Keller, ZStW 107 (1995), 457, 470 ff.; Merkel, in: Hegselmann/Merkel,
S. 88 ff.
93 Vgl. hierzu Spittler, JZ 1997,747,751.
94 V gl. Fechner, in: Günther I Keller, S. 44; Hruschka, JZ 1991, 507, 508 sowie i.e. Jerou-
schek, Lebensschutz, S. 12 ff., 26 ff., 276 ff.) mit dem Hinweis darauf, daß in antiken Gesell-
schaften Neugeborene erst mit der Annahme durch den Vater zu Mitgliedern der Gesellschaft
wurden. Die im Mittelalter einsetzende Bewertung der Abtreibung als Untat ist zunächst we-
sentlich durch christlich-kirchliche Einflüsse geprägt (vgl. Jerouschek, Lebensschutz, S. 30 ff.,
62 ff.; Singer, Ethik, S. 121 f., 223 f.). Die in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik
Deutschland gescheiterte und in anderen europäischen Ländern durchgesetzte sog. Fristenlö-
sung ist in der Sache nichts anderes als die Rückkehr zu der auf dem Sukzessivbeseelungs-
dogma beruhenden gemeinrechtlichen Rechtszustand (vgl. hierzu i.e. Jerouschek, Lebens-
III. Der Rekurs auf einen vorpositiv-verbindlichen Begriff des Verbrechens 69
Abtreibungsverbot nicht auf die Menschqualität des noch nicht geborenen Fötus,
sondern auf das öffentliche Interesse des Staates an der Mehrung der Bevölkerung
gestützt wurde. 95
schutz, s. 136 ff., 279; Maurach I Schroeder I Maiwald, StrafR BT, Teilbd. I, § 5 Rdnrn. 9,
13).
95 Vgl. Jerouschek, Lebensschutz, S. 208, 231, 285 sowie S. 261 f. unter Hinweis auf die
entsprechenden Positionen Feuerbachs und Mittennaiers.
96 Vgl. Gallas, Grenzen, S. 12.
115 Schall, wistra 1992, 1, 7 sowie Hohmann, Rechtsgut, S. 213 ff., der allerdings seIbst
einräumt, daß die Verschärfung des zivilrechtlichen Haftungssystems den Einsatz strafrechtli-
cher Zwangsmittel nicht vollständig zu ersetzen vermag (a. a. 0., S. 217); vgl. auch Tucht-
feldt, ZStR 94 (1977), 214, 226 ff., der hierin ,.flankierende Maßnahmen" sieht.
116 Rüther, KritV 1993,227,244; vgl. auch F. Herzog, ZStW 105 (1993), 727, 749 f., be-
zogen auf die Kontrolle gentechnischer Forschung.
117 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 192 und 198; Hassemer, KritV 1993,
198,211 f.; ders., StV 1994, 333, 337.
118 Vgl. z. B. Kindhäuser, Legitimität, S. 133.
119 Vgl. Peter-A1exis Albrecht, KritV 1988, 182, 199; Dölling, Gutachten, C 44 ff.; Hasse-
mer, StV 1994, 333, 336; Ransiek, StV 1996,446,451/452,453.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 73
dem Zeitpunkt zu unterbinden vermögen, bis zu dem sich die Täter den neuen Ge-
gebenheiten angepaßt haben, was regelmäßig entweder in der Art geschieht, daß
sich die Begehungsweisen oder aber die Angriffsobjekte verändern. 120 Weiterhin
darf nicht verkannt werden, daß durch Maßnahmen der technischen Prävention
zwar einerseits das Ziel des "target hardening" erreicht werden kann, daß hiermit
aber als unerwünschte Nebenfolge zwangsläufig auch Einschränkungen der perso-
nalen Freiheitssphäre verbunden sind, wenn der private Lebensraum zur Festung
und im Extremfall zum selbstgeschaffenen Gefängnis des potentiellen Opfers
wird. 121
Zweifel daran, daß die Regelung sozialer Konflikte allein durch zivilrechtliche
Normprogramme sachgerecht erfolgen kann, leiten sich zunächst aus dem Um-
stand ab, daß die diesen Normprogrammen überantwortete Reaktion auf bestimmte
soziale Konflikte notwendigerweise sowohl von den individuellen Integritäts- und
Rehabilitierungsinteressen des betroffenen einzelnen als auch von dessen persönli-
cher Durchsetzungsmacht abhängig iSt. 122 Zivilrechtliche Normprogramme allein
erscheinen damit dann als unzureichend, wenn es um Konflikte geht, bei denen
entweder ein als Schaden einer konkreten Person zu definierender Erfolg nicht vor-
liegt, was insbesondere bei im Umweltbereich auftretenden sog. Langzeit- und
Summationsschäden der Fall sein kann,123 wenn es um die Regulierung von Kon-
flikten geht, bei denen die Durchsetzung einer Rechtsposition den Einzelnen über-
fordern würde 124 oder bei denen eine Reaktion im öffentlichen Interesse unabding-
bar erscheint und deswegen nicht von der persönlichen Bereitschaft des - mögli-
cherweise nur zufällig bzw. stellvertretend - betroffenen Einzelnen abhängig sein
sol1. 125 Hinzu kommt, daß ein allein auf die Restitution beschränktes Normensy-
stem die Problematik aufwirft, daß es schon aufgrund faktisch bestehender Entdek-
kungs- und Vollzugsdefizite geradezu rational wäre, zumindest die Option wahrzu-
nehmen, andere Personen zu schädigen. 126
120 Vgl. Kaiser, Kriminologie, § 31 Rdnrn. 27 f., insbesondere zu den Auswirkungen der
Maßnahmen zur technischen Prävention beim Bankraub; tendenziell optimistischer dagegen:
Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 140.
121 Sessar, MschrKrim 1997, 1, 16 f.
122 Albrechtl Heinel Meinberg, ZStW 96 (1984), 943, 947; Heine/Meinberg, GA 1990,1,
9.
123 Vgl. Hefendehl, GA 1997, 119, 134; Heine/Meinberg, GA 1990, 1,9; Schall, wistra
1992, 1,9; Stratenwerth, ZStW 105 (1993),679, 687 f.
124 Vgl. E. Brandt, Bedeutung, S. 149 sowie Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 56
mit dem Hinweis darauf, daß Rechtsgüterschutz nicht zu einer allein für den sozial Besserge-
stellten erreichbaren Ware werden darf.
125 Vgl. Amelung, JZ 1983,617,618; Hefendehl, GA 1997, 119, 126.
126 Niggli, ZStR 111 (1993), 236, 248 ff.; Rehberg. Strafrecht I, S. 4. Soweit - um diesem
Einwand den Boden zu entziehen - die Integration pönaler Elemente in das zivilrechtliehe
Haftungssystem befürwortet wird (vgl. Rosengarten, NJW 1996, 1935, 1937 f.; Stächelin,
Strafgesetzgebung, S. 147 ff.), würde dies auf eine bloße Umetikettierung hinauslaufen. Dar-
über hinaus wäre die Gefahr gegeben, daß von der nun nicht mehr als "Strafe", sondern als
74 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
kann oder sogar hinnehmen muß, jedenfalls auch von der Wertigkeit des geschütz-
ten Interesses mitbeeinflußt wird, ist zu konstatieren, daß präventiv und repressiv
wirkende Maßnahmen jedenfalls im Hinblick auf den Schutz gewichtigerer Inter-
essen von vornherein gar nicht im Verhältnis des "entweder-oder", sondern viel-
mehr in dem des "sowohl-als-auch" stehen. 130
Daß die Streichung von Strafrechtsnormen im übrigen nicht zwingend mit ei-
nem Zuwachs an personaler Freiheit gleichgesetzt werden kann,131 zeigt sich dar-
an, daß ein sozialer Konflikt stets durch andere Maßnahmen als den Einsatz straf-
rechtlichen Zwanges bewältigt werden kann - nötigenfalls eben durch den Ab-
bruch sozialen Kontaktes. 132 Abgesehen davon, daß dies letztlich zu einem im
Hinblick auf die Freiheitssphäre des Einzelnen möglicherweise inakzeptablen
Rückzug in einen als Festung ausgestalteten privaten Lebensraum führen könnte,
ist anzumerken, daß der Wegfall strafbewehrter Verhaltensnormen die Möglichkei-
ten sozialer Interaktion nur theoretisch für alle Mitglieder der Gesellschaft erwei-
tert, tatsächlich aber nur denjenigen zugute kommt, die faktisch in der Lage sind,
von diesem Freiheitsangebot - nötigenfalls auch gegen den Willen anderer - tat-
sächlich Gebrauch zu machen. 133 Vor diesem Hintergrund bedarf der Satz, daß
Strafrechtsnormen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip erst dann zur Anwen-
dung kommen dürfen, wenn andere Instrumente zur Regelung eines sozialen Kon-
fliktes nicht zur Verfügung stehen, einer einschränkenden Ergänzung dahingehend,
daß als Alternativen zur Anwendung strafrechtlichen Zwanges allein solche Maß-
nahmen in Betracht kommen können, deren Auswirkungen die Personen treffen,
denen legitimerweise die Konsequenzen der Bewältigung des sozialen Konfliktes
aufgebürdet werden kann. 134
134 Jakobs, StrafR AT, 2/27; vgl. auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 129 ff., der darauf
hinweist, daß auch die nicht intendierten Nebenfolgen einer Pönalisierung zu beachten sind.
76 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
Interessen des Opfers aus anderen Gründen - unter nonnativen Gesichtspunkten 135
- als nicht schutzwürdig erscheint. 136 Selbst wenn dem Opfer der eigenverantwort-
liche Schutz seiner Interessen grundsätzlich zugemutet werden kann, erscheinen
Straftatbestände jedenfalls dann nicht als illegitim, wenn sie (allein) die Fallgestal-
tungen erfassen, in denen der Tater die dem Opfer legitimerweise zumutbaren
Selbsthilfemaßnahmen unterläuft. 137 Ein Beispiel hierfür ist der Straftatbestand
des Betruges (§ 263 dStGB / Art. 146 schwStGB), durch den die durch Tauschung,
nicht aber die durch bloße - täuschungsfreie - Überredung herbeigeführte Selbst-
schädigung im Vermögensbereich unter Strafe gestellt wird. I38 Der Ansatz, den
Einsatz strafender Sanktionen durch Maßnahmen des Selbstschutzes nicht nur zu
ergänzen, sondern zu ersetzen, kann nach alledem nur in einem sehr eingeschränk-
ten Umfang auf das Subsidiaritätsprinzip gestützt werden. Als ein Beispiel für die
Fallgestaltungen, in denen die Einführung einer Strafrechtsnorm eine Freiheitsbe-
schränkung nicht nur für den "Tater", sondern auch für das "Opfer" bedeutet, 139
kann auf den Straftatbestand des Scheck- und Kreditkartenmißbrauchs (§ 266b
dStGB) verwiesen werden, der den faktisch ohne weiteres zum Selbstschutz fähi-
gen Kreditinstituten letztlich gegen deren erklärten Willen vom Gesetzgeber ge-
radezu aufgezwungen wurde. 140
Im Hinblick auf Maßnahmen des präventiven Verwaltungszwanges hat der Ge-
setzgeber abzuwägen, welche Belastungen welchen Personen und / oder Institutio-
nen zur Vermeidung unerwünschter Konsequenzen bestimmter gesellschaftlicher
Entwicklungen aufgebürdet werden dürfen. Die Argumentation, der angedrohte
strafrechtliche Zwang treffe "nur" etwaige Normbrecher, während tatsächlich flä-
chendeckende Maßnahmen des präventiven Verwaltungszwanges, wie z. B. Aus-
kunfts- und Meldepflichten, auch die sich nonnkonform verhaltende Mehrheit der
Mitglieder einer Gesellschaft in ihrem Freiheitsstatus einschränken,141 vernachläs-
140 Vgl. hierzu einerseits Haffke, KritV 1991, 165, 167 ff. und andererseits Lagodny, Straf-
recht, S. 352 f., 356 ff. Zur entsprechenden Problematik bei Art. 148 schwStGB vgl. Schu-
barth, ZStW 92 (1980), 80, 92 ff.
141 Vgl. hierzu die kontroversen Stellungnahmen von Appel, Verfassung, S. 402 f., 407 f.,
542 ff.; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 291 f.; Heinz, GA 1977, 193, 198; F. Herzog, Ge-
sellschaftliche Unsicherheit, S. 119 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 345 ff.; Otto, ZStW 96
(1984),339,362; ders. MschrKrim 1980,397,404; Tiedemann, ZStW 87 (1975), 253, 266 f.;
ders., Strafrecht, S. 463 f.; ders., Festschrift für Stree/Wessels, S. 531; Volk. JZ 1982, 85, 88;
Weber, ZStW 96 (1984), 376, 380 f.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 77
sigt den spezifischen Charakter und das unterschiedliche Gewicht der jeweils in
Rede stehenden Beeinträchtigungen. Ebensowenig wie allein die bloße Anzahl der
von der Regelung eines sozialen Konfliktes Betroffenen entscheidend sein kann,
kann das Gewicht der in der Bestrafung liegenden Einschränkung der Rechtssphäre
durch die Erwägung marginalisiert werden, daß diese "nur" einen Normbrecher
treffe. Entscheidend ist, ob es der Mehrheit l42 zugemutet werden kann bzw. sogar
zugemutet werden muß, bestimmte Einschränkungen einer zunächst als umfassend
gedachten (vorgesellschaftlichen) Freiheitssphäre als Ausdruck immanenter Gren-
zen der gesellschaftlich konstituierten Freiheitssphäre des Einzelnen hinzunehmen.
Unabhängig hiervon ist die Legitimität der in der Strafandrohung und Bestrafung
liegenden Beschränkung der Freiheitssphäre des ,,Normbrechers" zu bewerten. An-
gesichts der schwerwiegenden Konsequenzen der Strafverhängung wird es regel-
mäßig naheliegen, in erster Linie präventive Maßnahmen zu ergreifen. Einem die
präventiven Maßnahmen sinnvoll ergänzenden Einsatz eines für sich gesehen legi-
timierbaren strafrechtlichen Zwanges steht das Subsidiaritätsprinzip aber jedenfalls
dann nicht entgegen, wenn die Pönalisierung einen über die Wirkung präventiver
Maßnahmen hinausgehenden bzw. diese ergänzenden Beitrag zu leisten vermag. 143
Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Der Einsatz repressiv und präventiv ausgerich-
teter Instrumentarien der sozialen Kontrolle steht nicht im Verhältnis des "entwe-
der-oder", sondern in dem des "sowohl-als-auch".I44 Die Entscheidung über die
Anwendung strafrechtlichen Zwangs wird nicht dadurch präjudiziert, daß auch an-
dere Instrumente der sozialen Kontrolle zur Verfügung stehen. Der Einsatz straf-
rechtlichen Zwanges muß aus sich selbst heraus als legitim begründet werden kön-
nen und kann nicht durch alternative zivil- oder öffentlich-rechtliche Instrumenta-
rien bzw. deren Fehlen präjudiziert werden. 145
Die unter Hinweis auf deren angebliche "Ineffektivität" erhobene Forderung
nach Abschaffung strafrechtlicher Normen kann nach alledem nicht auf den subsi-
diären Charakter des Strafrechts gegründet werden, sondern müßte auf das dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immanente Verbot ungeeigneter oder unangemesse-
ner Zwangsausübung durch die öffentliche Gewalt gestützt werden. Daß die Mög-
lichkeit, mit strafrechtlichen Normen präventive Wirkungen zu erzielen, derzeit
nicht ohne weiteres verneint werden kann und die insoweit bestehenden Bedenken
im übrigen kein spezielles Problem des sog. "modemen" Strafrechts darstellt, ist
bereits dargelegt worden. 146 Die Problematik des unangemessenen Eingriffs kann
142 Vgl. auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 151 f., mit dem zutreffenden Hinweis dar-
auf, daß es auch darum gehe zu klären, ob eine bestimmte Regelung der Gesellschaft als sol-
cher zuzumuten ist.
143 Vgl. Grünwald, ZStW 83 (1971), 265 f.; Rudolphi, ZStW 83 (1971),133 ff.
145 Vgl. Gallas, Grenzen, S. 11 f. A.A. wohl Hamm, KritV 1993,213,215, der die Auffas-
sung vertritt, daß das Strafrecht überall dort, wo Schadensersatz den Rechtsfrieden nicht voll-
ständig wiederherstellen könne, die Aufgabe der kontrollierten Sozialkontrolle habe.
146 Vgl. oben S. 60.
78 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
nur im Hinblick auf konkrete Straftatbestände und nur unter Heranziehung norma-
tiver Maßstäbe beurteilt werden. Daß sich insoweit im Hinblick auf einige der dem
"modernen" Strafrecht zugerechneten Straftatbestände besondere oder neuartige
Probleme ergeben können, ändert nichts daran, daß die Legitimität dieser Straftat-
bestände aus sich selbst heraus begründet werden muß.
a) Das "Interventionsrecht"
Der Eindruck, die von Hassemer erhobene Forderung nach einer Beschränkung
des Kernstrafrechts ziele weniger auf eine Entkriminalisierung als vielmehr auf
eine Abmilderung des repressiven Zugriffs, findet eine Bestätigung darin, daß Has-
semer alternativ zu der wohl eher als Langzeitperspektive zu verstehenden Forde-
rung, die als illegitim angesehenen Strafnormen in einem de lege ferenda erst noch
zu schaffenden "Interventionsrecht" zu konzentrieren, die Forderung erhebt, straf-
rechtliche Normen mit präventiv-instrumentalen Funktionen unter Abmilderung
der Strafrahmen in das Nebenstrafrecht oder in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu
überführen. 152
Aufgegriffen und pointiert vertreten wird dieser Ansatz in der Dissertation sei-
nes Schülers Hohmann, in der dieser die These entwickelt und verteidigt, die Straf-
149 Stratenwerth, 'ZBtW Bd. 105 (1993),679,687 f.; ders., in der Einleitung zu: Ronzani,
Erfolg und individuelle Zurechnung im Umweltstrafrecht. Vgl. aber auch Hassemer, Straf-
rechtswissenschaft, S. 310: "Interventionsrechts ... ohne Zurechnungsprobleme, ohne Schuld-
voraussetzungen, ohne penibles Verfahren - aber dann auch ohne Strafen".
150 So zumindest auch die Einschätzung von Lüderssen, Abschaffen, S. 11; vgl. auch La-
godny, Strafrecht, S. 350,417.
151 Hirsch, Bekämpfung, S. 28; Lüderssen, Abschaffen, S. 11; vgl. auch Appel, Verfas-
sung, S. 596; Kühl, Rechtsgüter, S. 257.
Die gleichen Bedenken müssen dann allerdings auch für einen Vorschlag Lüderssens (StV
1997, 318, 320) gelten, der eine auf fiktiven Größen beruhende Schadensberechnung bei
Wettbewerbskartellen für Straftatbestände des Kriminalstrafrechts ablehnt und stattdessen
eine entsprechende Regelung im Ordnungswidrigkeitenrecht befürwortet.
152 Hassemer, ZRP 1992, 378, 383; kritisch insoweit: Vormbaum, ZStW 107 (1995), 734,
752 ff.
153 Hohmann, Rechtsgut, S. 196; ders., GA 1992,76,84.
80 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
tatbestände des geltenden Umweltstrafrechts seien zwar für sich gesehen - als Ver-
botsnormen - nicht zu beanstanden,153 illegitim sei aber die Zuordnung dieser Nor-
men zum Kernstrafrecht des StGB. Grundlage der Argumentation Hohmanns ist
die von Hassemer entwickelte Konzeption der sog. personalen Rechtsgutslehre,
aus der Hohmann die Maxime ableitet, Normen des Kernstrafrechts dürften allein
dazu dienen, die in einer konkret-historischen Situation als Voraussetzungen und
Bedingungen der personalen Entfaltung der einzelnen Mitglieder einer Sozietät er-
kannten realen Gegebenheiten vor Beeinträchtigungen zu schützen. 154 Werde
durch eine Verhaltensweise ein die individuelle Freiheitssphäre konstituierendes
Individualrechtsgut beeinträchtigt, soll die entsprechende Verbotsnorm ein legiti-
mer Bestandteil des Kernstrafrechts sein. Werden dagegen - wie nach Auffassung
Hohmanns beispielsweise im Bereich des Umweltstrafrechts - lediglich Gefähr-
dungen im Vorfeld der Beeinträchtigung von Individualrechtsgütern abgewehrt
oder aber die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen für eine freie personale
Entfaltung des Bürgers geschützt, seien die entsprechenden Normen mit einem ab-
gemilderten Strafrahmen auszustatten und im Nebenstrafrecht anzusiedeln bzw. in
das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen. 155
Der Gehalt des Vorschlags, als illegitim empfundene Normen des Kernstraf-
rechts in Ordnungswidrigkeitentatbestände umzuwandeln, hängt entscheidend von
dem Verhältnis ab, in dem Kriminalstrafrecht und Ordnungsrecht zueinander ste-
hen: 156 Handelt es sich um zwei wesensmäßig verschiedene Unrechtsbereiche, wä-
re die Überführung der wesensmäßig dem Ordnungsunrecht zugehörigen, de lege
lata aber (rechtsirrigerweise) dem Kriminalstrafrecht zugeordneten Tatbestände in
das Ordnungswidrigkeitenrecht ein zwingendes Gebot sachlich richtiger Rechtsge-
staltung. 157 Besteht ein wesensmäßiger Unterschied zwischen bei den Unrechtsbe-
reichen, ist das Abgrenzungskriterium aber so gestaltet, daß die Zuordnung der
umstrittenen Tatbestände zum Kriminalstrafrecht nicht in Frage gestellt wird, wäre
die Forderung nach einer Umwandlung der betreffenden Straftatbestände in Ord-
nungswidrigkeitentatbestände dagegen abzulehnen. Sollte sich schließlich erwei-
sen, daß ein wesensmäßiger Unterschied gar nicht besteht, würde sich die gefor-
derte Umwandlung als eine Forderung erweisen, deren kriminalpolitische Berech-
tigung zwar nicht abschließend widerlegt wäre, die andererseits aber auch nicht
151 Für die Schweiz, die eine dem bundesdeutschen Recht entsprechende fonnale Tren-
nung zwischen Ordnungswidrigkeiten einerseits und Kriminalstraftaten andererseits nicht
kennt (vgl. Riklin, StrafR AT, § 1 Rdnm. 23 ff.; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 2 Rdnm.
39 ff.), müßte dies gegebenenfalls dann die Forderung nach Einführung einer entsprechenden
Unterscheidung begründen.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 81
mit dem Argument vertreten werden könnte, eine andere Lösung sei mit dem Ge-
bot sachlich richtiger Rechtsgestaltung unvereinbar.
6 Wohler.
82 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
weisen durch die Verwaltungsbehörden dann auch nach dem Ende der nationalso-
zialistischen Herrschaft als eine praktische Notwendigkeit empfunden. 162
Das unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu-
nächst noch im Vordergrund stehende Bemühen, die im totalitären Staat ausgeufer-
te Ahndungsbefugnis der Verwaltungsbehörden auf ein mit dem rechtsstaatlichen
Gewaltenteilungsprinzip zu vereinbarendes Maß zurückzuführen,163 verlor alsbald
an Bedeutung. Festzustellen ist eine in den 50er Jahren einsetzende und bis zum
heutigen Tage anhaltende Tendenz zur kontinuierlichen Ausdehnung des Ord-
nungs(widrigkeiten)rechts neben und auch zu Lasten des eigentlichen Kriminal-
strafrechts. 164 Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren in erster Linie prag-
matische Gründe, insbesondere das Bedürfnis, die Strafjustiz von der Beschäfti-
gung mit minder gewichtigen Normverstößen zu entlasten, um so die gewichtige-
ren Deliktsbegehungen mit dem vorhandenen Bestand an Personal- und Sach-
mitteln bewältigen zu können bzw. diesen nicht im Gleichschritt mit der Zunahme
der Kriminalität aufstocken zu müssen. 165 Im Ergebnis hat sich das Ordnungswid-
rigkeitenrecht derzeit zu einem Sammelbecken heterogener Verhaltensweisen ent-
wickelt, deren gemeinsamer Nenner allein darin besteht, daß es sich um Normver-
stöße handelt, bei denen zwar auf eine repressive staatliche Reaktion nicht verzich-
tet werden soll, bei denen aber eine kriminalstrafrechtliche Ahndung nach Auffas-
sung des Gesetzgebers nicht erforderlich bzw. unangemessen erscheint. 166
Gesetzestechnisch ist die Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts zu ei-
nem - zumindest in formaler Hinsicht - eigenständigen Rechtsgebiet entscheidend
durch das Ordnungswidrigkeitengesetz vom 25. März 1952 und das Reformgesetz
vom 24. Mai 1968 vorangetrieben und schließlich mit der Abschaffung der 1871
eingeführten Kategorie der Übertretungen durch das EGStGB vom 2. März 1974
im wesentlichen abgeschlossen worden. 167 Unterschiede zum Kriminalstrafrecht
bestehen in erster Linie in verfahrensrechtlicher Hinsicht: Bei Ordnungswidrigkei-
ten gilt - anders als im Strafverfahren (§ 152 dStPO) - nicht das Legalitäts-, son-
dern das Opportunitätsprinzip (§ 47 OWiG); die Verfolgung der Ordnungswidrig-
Vg\. hierzu Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rn. 16 ff., 24 ff.; ders., Jura 1984, 11, 15 ff.;
163
Michels, Handlung, S. 16; Eb. Schmidt, SüdJZ 1948, 225, 227 f.; ders., SüdJZ 1948,569,
571; ders., SüdJZ 1949,665,669 f.; ders., Festschrift für Arndt, S. 416 ff.; Tiedemann, ÖJZ
1972, 285, 286 f.
164 Vg\. Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rdnr. 39; ders., Jura 1984, 11, 18; Göhler, JZ 1968,
583; H.-L. Günther, Ordnungswidrigkeiten, S. 385 f.; Lang-Hinrichsen, Festschrift für H.
Mayer, S. 57 ff.; Mattes, Untersuchungen, S. 50, 53 ff.; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,288; We-
ber, ZStW 92 (1980), 313, 319 ff.
165 Eb. Schmidt, JZ 1969,401; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,288; vg\. auch Appel, Verfas-
sung, S. 91 ff.
166 H.-L. Günther, Ordnungswidrigkeiten, S. 388 f.; Lang-Hinrichsen, Festschrift für H.
Mayer, S. 62.
167 Vg\. Bohnert, in: KK-OWiG, Ein\. Rdnm. 36 ff., 41 ff.
IV. Ablösung strafrechtlicher Nonnen 83
keiten obliegt nicht der Staatsanwaltschaft, sondern den für einen Sachbereich zu-
ständigen Verwaltungsbehörden (§§ 35 ff. OWiG); die Strafjustiz wird mit Ord-
nungswidrigkeiten in der Regel nur dann beschäftigt, wenn der Betroffene gegen
den von der Verwaltung erlassenen Bußgeldbescheid Einspruch einlegt (§§ 67 ff.
OWiG); die verfahrensrechtlichen Absicherungen des Betroffenen sind gegenüber
dem bei Kriminaldelikten zur Anwendung kommenden Verfahrensrechts nicht un-
wesentlich beschränkt. 168
In seiner materiellrechtlichen Struktur entspricht das Ordnungswidrigkeiten-
recht dagegen weitgehend dem Kriminalstrafrecht: 169 Sowohl das Kriminalstraf-
recht als auch das Ordnungswidrigkeitenrecht verhängen als Reaktion auf die
Übertretung bestimmter Verhaltensnormen eine repressive Sanktion. Die Ord-
nungswidrigkeitentatbestände entsprechen in ihrer Struktur weitgehend den Straf-
tatbeständen des Kriminalstrafrechts. 170 Unterschiede bestehen allerdings in der
Sanktion selbst. Während im Kriminalstrafrecht neben der Geld- l7l auch Frei-
heitsstrafe verhängt werden kann, kennt das Ordnungswidrigkeitenrecht als
Hauptsanktion allein die Geldbuße (§ 17 OWiG)172, die allerdings - anders als
im Kriminalstrafrecht - auch gegen juristische Personen verhängt werden kann
(§ 30 OWiG). Anders als das Kriminalstrafrecht (§ 43 dStGB) kennt das Ord-
nungswidrigkeitenrecht auch keine Ersatzfreiheitsstrafe (vgl. aber § 96 OWiG:
Erzwingungshaft). Schließlich wird die Geldbuße nicht im Bundeszentralregi-
ster 173 vermerkt und hat im Gegensatz zur Kriminalstrafe nicht die Konsequenz,
daß der Betroffene als vorbestraft gilt.
De lege lata unterscheiden sich das Kriminal- und Ordnungs unrecht damit durch
die angedrohte Sanktion: Hat der Gesetzgeber als Sanktion eine Geldbuße vorgese-
hen, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit (vgl. § 1 Abs. 1 OWiG), hat er
dagegen eine Strafe angedroht, handelt es sich um eine Straftat. 174 Diese rein for-
male Abgrenzung kann indes nicht die Frage beantworten, warum auf bestimmte
Normbrüche mit Strafe zu reagieren ist, während andere Normbrüche eine Geldbu-
Bohnert, in: KK-OwiG, Ein!. Rdnrn. 3, 161, Vor § I Rdnr. 10; Göhler, OWiG, Vor § I
169
Rdnr. 10; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnr. 4, Teil 11 § 2 Rdnr. 2.
170 Im OWiG hat der Gesetzgeber allerdings das sog. Einheitstätersystem etabliert (§ 14
OWiG).
171 Im Rahmen von 10,- DM (§ 40 dStGB) bis zu 7.2000,- DM (§ 40 dStGB i.V.m. § 54
Abs. 2 Satz 2 dStGB).
172 Grundsätzlich in einem Rahmen von 10,- DM bis 2000,- DM, bei entsprechender spe-
zialgesetzlicher Anordnung aber auch weit darüber hinaus.
173 Die Eintragungen in das Gewerbezentralregister (§§ 149 GewO) und das Verkehrsregi-
ster (§ 28 StVG) dienen anderen Zwecken (Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 9).
174 Bohnert, in: KK-OWiG, Ein!. Rdnr. 3; Göhler, OWiG, Ein!. Rdnr. 9; Jakobs, StrafR
AT, 3/6; Jescheck, in: LK, Ein!. Rdnr. I I; Maurach I Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § I Rdnr. 32;
Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I § 3 Rdnr. 4; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 171
18; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105.
6'
84 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
ße nach sich ziehen sollen. 175 Gerade im Hinblick darauf, daß zum einen die Sank-
tionen ihrer Art und ihrem Gewicht nach verschieden sind und zum anderen der
Adressatenkreis des Ordnungswidrigkeitenrechts im Gegensatz zum Strafrecht
auch juristische Personen direkt erfaßt (§ 30 OWiG), bedarf es einer an materiellen
Kriterien orientierten sachgerechten Abgrenzung beider Rechtsgebiete, 176 die dann
auch dem Gesetzgeber als kriminalpolitisches Leitbild dienen kann. 177
175 Jescheckl Weigend, StrafR AT. S. 58 f.; Paulduro. Verfassungsgemäßheit. S. 18; vgl.
auch Gallas. Grenzen. S. 2 bzgl. der grundsätzlichen Entscheidung zur Pönalisierung von
Verhaltensweisen.
176 Mitsch, Ordnungswidrigkeiten. Teil I § 3 Rdnr. 6.
zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat. 179 Der von Goldschmidt selbst
entwickelte Ansatz, Kriminal- und Ordnungsunrecht danach abzugrenzen, daß das
Kriminalstrafrecht die der Abgrenzung und Sicherung der Individualsphäre die-
nenden Rechtsgüter schützt, während das - von Goldschmidt als Verwaltungsun-
recht bezeichnete - Ordnungswidrigkeitenrecht die zur Förderung des über das in-
dividuelle Dasein hinausgehenden allgemeinen Wohls dienenden sog. Verwal-
tungsgüter schützen soll, gilt heute allerdings als überholt. 18o Die diesem Ansatz
zugrundeliegende, einem spätliberalen Staatsverständnis verhaftete Annahme eines
Gegensatzes von Rechts- und Verwaltungsordnung kann im sozialen Rechtsstaat
moderner Prägung nicht aufrechterhalten werden,181 da hier alle Zwecke der staat-
lichen Gemeinschaft und damit auch die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt
Rechtszwecke und im übrigen staatliche Daseinsvorsorge und Freiheitssicherung
auch bereits rein faktisch nicht mehr voneinander zu trennen sind. 182
von Gerechtigkeit ab,186 während das - wie bei Goldschmidt als Verwaltungsstraf-
recht bezeichnete - Ordnungsstrafrecht die Interessen der wohlfahrtsorientierten
Staatsverwaltung schützen soll. 187
Die Frage, weIche Verhaltensweisen als Beeinträchtigungen von Rechts- bzw.
Verwaltungsgütern durch das Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht zu ahnden sind,
ist nach Wolf aus dem Rechts- und Wohlfahrts wert abzuleiten. Da der auf die Her-
stellung von Gerechtigkeit abzielende Rechtswert nur formellen Charakter habe,
müssen die vom Kriminalstrafrecht zu schützenden Rechtsgüter aus Wertnormen
abgeleitet werden, die Wolf im Anschluß an die Kulturnormenlehre M.E.
Mayers 188 mit den das ethische Minimum einer Gesellschaft darstellenden Kultur-
normen gleichsetzt. Kulturnormen sind nach Wolf nur langfristig und im Rahmen
der Wandlung des staatsphilosophischen Denkens Veränderungen zugänglich, wäh-
rend die auf eine Förderung der Wohlfahrt abzielenden Zwecksetzungen situations-
bezogen und damit einer fortlaufenden Veränderung unterworfen sind, mit der Fol-
ge, daß auch die entsprechenden Rechtsregelungen nur mit einem temporären Cha-
rakter ausgestattet seien. 189
Zu der Frage, wann konkret ein Kulturschaden vorliegt, äußert sich Wolf nicht
direkt. Das Vorliegen eines lustizdeliktes ist für ihn aber an die "Verletzung indivi-
dueller Belange" bzw. an einen ,,Angriff auf eine Individualperson" gekoppelt.
Wahrend bei einem lustizdelikt die Schädigung einer Person oder einer Sache es-
sentieller Bestandteil des Tatbestandes sei, soll die Besonderheit des mit dem Ver-
waltungsdelikt verbundenen Verwaltungsschadens "in der Unbezogenheit auf eine
individuelle Person oder Sache, in der Immaterialität des Verletzungserfolges und
in der Nichterfüllung einer konkretisierten (im Einzelfall und für den Einzelfall be-
fohlenen) staatlichen Aufgabe" liegen. 190
Wahrend Tater, die gegen kriminalstrafrechtlich zu schützende Kulturnormen
verstoßen, der inneren ethischen Überzeugung der Rechtsgemeinschaft zuwider-
handeln und damit einen Kulturschaden bewirken, beeinträchtigen Verwaltungsde-
likte allein kulturindifferente Verwaltungsinteressen. Der Verwaltungsschaden er-
schüttere zwar das objektive Rechtsbewußtsein, ein ethischer Vorwurf sei aber -
anders als bei der Bewirkung eines Kulturschadens - nicht zu erheben. 191 Hieraus
ergebe sich ein Unterschied im Wesen der lustiz- und Verwaltungsstrafe: Die Ver-
waltungsstrafe habe den Sinngehalt eines Zuchtmittels. Deshalb sei "mit der Verur-
teilung wegen eines Verwaltungsdeliktes auch keine capitas deminutio verbunden,
wie sie der Verurteilung wegen eines Kriminalverbrechens immanent ist. Geht es
doch hier nicht um die Mißbilligung eines Gesellschaftsfeindes oder rechtsindiffe-
Im Vordergrund der Diskussion steht nun die ebenfalls bereits bei Gold-
schmidt 195 thematisierte, in ihrer grundlegenden Bedeutung aber insbesondere von
Wolf betonte Unterscheidung zwischen sittlich indifferenten bloßen Regelverlet-
zungen einerseits und Verstößen gegen elementare Rechtsnormen andererseits, auf
die mit einer sozialethischen Mißbilligung zu reagieren sei. Die Berechtigung die-
ser Abgrenzung des Ordnungsunrechts vom Kriminalunrecht ist in der Literatur
zwar bis zum heutigen Tage umstritten geblieben,l96 hat aber unter anderem auch
die Rechtsprechung des BGH 197 und des BVerfG 198 beeinflußt.
Problematisch an diesem Ansatz ist zum einen, daß Rechtsordnung und Sitten-
ordnung nicht gleichgesetzt werden dürfen, insbesondere Rechtspflichten nicht di-
rekt (unvermittelt) aus der Sittenordnung abgeleitet werden können. 199 Im übrigen
ist festzustellen, daß es eine vorgegebene sozialethische Werteordnung, an die
ohne weiteres angeknüpft werden könnte, gar nicht gibt,200 das Grenzkriterium der
Sozialethik mithin unsicher bleibt,201 was wiederum der maßgebende Grund dafür
sein dürfte, daß die Maßstäbe, anhand derer sittlich bzw. sozialethisch indifferente
von sittlich bzw. sozialethisch mißbilligenswerten Verhaltensweisen abgegrenzt
werden sollen, bis heute unklar und umstritten geblieben sind.
So haben insbesondere Richard Lange und Hans Gerhard Michels die Auffassung
vertreten, daß das Kriminalunrecht Verstöße gegen Normen erfasse, die dem Ge-
setzgeber vorgegeben sind und von ihm (nur) anerkannt werden, während das Ord-
nungsunrecht Verstöße gegen vom Gesetzgeber selbst neu errichtete Gebote und
Verbote erfasse. Der Unrechtsgehalt eines Verstoßes gegen eine Ordnungsnorm er-
schöpft sich ihrer Auffassung nach in der durch die bloße Zuwiderhandlung gegen
staatlich aufgestellte Verbotsnormen begründeten formellen Rechtswidrigkeit, wäh-
rend ein Verstoß gegen die durch das Kriminalstrafrecht geschützten vorpositiven
Rechtsgüter ein sozialethisches Unwerturteil nach sich ziehen soll?02
Gegen diesen Ansatz ist zunächst einzuwenden, daß jede staatlich gesetzte
Rechtsnorm dem Zweck dienen muß, das gesellschaftliche Miteinander nach den
Maßstäben sozialer Gerechtigkeit zu gestalten?03 Verhaltensnormen, denen die
aus dieser Zwecksetzung abzuleitende verpflichtende Verbindlichkeit fehlt, könn-
ten auch nicht als sittlich indifferente Ordnungsnormen aufrechterhalten (und als
Ordnungswidrigkeiten geahndet) werden, sondern müßten vielmehr gänzlich be-
seitigt werden?04 Entgegen Michels 205 ist ein sozialethischer Unrechtsgehalt aber
selbst bei Verstößen gegen das Rechtsfahrgebot und Geschwindigkeitsbeschrän-
kungen zu bejahen?06 Bei Verstößen gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen er-
gibt sich dies unmittelbar aus dem Gefährdungscharakter, der diesen Verhaltens-
weisen eigen ist. Beim Rechtsfahrgebot kommt es nicht darauf an, daß die entspre-
chende Verhaltensnorm ursprünglich einmal willkürlich gesetzt wurde. Maßgebend
ist die Bedeutung, die der Norm im Kontext der Gesamtrechtsordnung zukommt.
Hier ist es aber so, daß ein Straßenverkehr ohne verbindliche Verhaltensnormen
nicht funktionieren kann bzw. erhebliche Gefährdungen der Verkehrsteilnehmer
die Folge wären?07
Da sich das gesellschaftliche Umfeld ständig ändert, kann der Auftrag zur sozial
gerechten Konstituierung des gesellschaftlichen Miteinanders nicht durch die Be-
wahrung eines überkommenen Normenbestandes erfüllt werden, sondern muß
auch und gerade die als Reaktion auf gewandelte gesellschaftliche Anforderungen
vom Gesetzgeber neu geschaffenen Normen mitumfassen. Wenn aber grundsätz-
lich alle Normen dem materiellen Geltungsgrund der Herstellung sozialer Gerech-
tigkeit verpflichtet sind, kann weder die Zeitbedingtheit einer Norm noch deren
(relative) Neuheit etwas über die sozialethische Relevanz bzw. Indifferenz dieser
Norm aussagen. 208 Im übrigen würde eine auf die Geltungsdauer abhebende Zu-
ordnung schon aufgrund dessen, daß ein Grenzwert für den Umschlag einer Un-
rechtsform in die andere nicht ersichtlich ist, jedenfalls in der praktischen Anwen-
dung auf eine quantitative Abschichtung hinauslaufen,z09
Bezogen auf die für ihn im Vordergrund stehende Abgrenzung zwischen Wirt-
schaftsstraftaten und Wirtschaftsordnungswidrigkeiten war nach Eb. Schmidt eine
Wirtschaftsstraftat dann anzunehmen, wenn eine Zuwiderhandlung im konkreten
Einzelfall nach Umfang oder Auswirkung die Wirtschaftsordnung erheblich beein-
trächtigt oder wenn in der konkreten Tat eine besondere, die Wirtschaftsordnung in
grundsätzlicher Hinsicht mißachtende Einstellung des Taters deutlich wird?12 Ge-
gen diese in § 6 WiStG 1949213 Gesetz gewordene sog. Schmidt'sche Formel wird
geltend gemacht, der Differenzierungsleitsatz werde der von Schmidt selbst propa-
gierten qualitativen Trennung beider Unrechtsbereiche nicht gerecht, weil mit ei-
ner auf den konkreten Einzelfall abstellenden Unterscheidung eine Abgrenzung
nach Unrechtstypen aufgegeben und damit letztlich nicht nach Qualitäten, sondern
nach Quantitäten abgegrenzt werde?14 Die zu Recht gerügte dogmatische Inkonse-
quenz des Ansatzes dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, daß es
Schmidt tatsächlich gar nicht so sehr darum ging, eine dogmatisch schlüssige Kon-
zeption zur Abgrenzung des Kriminalunrechts vom Ordnungsrecht zu begründen,
sondern darum, die den Verwaltungsbehörden während der nationalsozialistischen
Herrschaft - insbesondere im Bereich des Wirtschaftsverkehrs - zugewachsenen
umfassenden Ahndungsbefugnisse auf das einem gewaltengeteilten Rechtsstaat an-
gemessene Maß zurückzuführen. 215
Unabhängig hiervon ist zu fragen, ob die von Schmidt aufgegriffene Trennung
zwischen der sozialethisch zu mißbilligenden Beeinträchtigung personaler Lebens-
interessen einerseits und der sozialethisch indifferenten Beeinträchtigung überper-
sonaler Interessen andererseits zu überzeugen vermag. Letztlich handelt es sich um
eine Abgrenzung, die im Grundansatz auf der Unterscheidung zwischen Indivi-
dualrechtsgütern und überpersonalen Rechtsgütern aufbaut und die der Sache nach
bereits von Feuerbach mit seiner Unterscheidung zwischen Straftaten als Verlet-
zung subjektiver Rechte und Polizeiübertretungen als Verletzungen staatlicher Ge-
bote vertreten wurde. 216 Da bestimmte Verletzungen von Gemeinschaftsinteressen
seit jeher dem Kernbereich des Strafrechts zugerechnet werden, haben sich die
Vertreter dieses Ansatzes allerdings stets genötigt gesehen, den Staat selbst als eine
personifizierte Einheit mit eigenen subjektiven Rechten bzw. individuellen Rechts-
gütern zu behandeln. Daß die Beeinträchtigung bestimmter überindividueller
Rechtsgüter als kriminalstrafwürdig behandelt wird, stellt dann allerdings die Be-
rechtigung des gesamten Grundansatzes in Frage: 217 Zum einen erscheint es als
212 Eb. Schmidt, SüdJZ 1948.225,231 ff.; ders .• SüdJZ 1948.569.572; ders .• Wirtschafts-
sstrafrecht, S. 26 f., 33; ders .• JZ 1951, 101, 103.
213 Vgl. auch § 6 WiStG 1952 sowie § 3 WiStG 1954.
214 Bohnert, in: KK-OWiG, Eint. Rdnr. 75; Jakobs, StrafR AT, 3/5; Krümpelmann, Baga-
telldelikte. S. 153 f.; Mattes. Untersuchungen. S. 88 ff.
21S Vgl. Eb. Schmidt, Wirtschaftsstrafrecht, S. 9, 25, 31 ff., 58; ders., SüdJZ 1948. 225,
230 f.; ders., JZ 1951. 101. 102/103; ders .• Festschrift für Amdt, S. 419, 425 f.; ders., in:
Niederschriften. S. 68. 336.
216 Feuerbach. Lehrbuch. §§ 22.432 f.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 91
willkürlich, den Staat im Wege einer Fiktion als eine personifiziert gedachte Insti-
tution den natürlichen Personen gleichzustellen, nicht aber auch andere gesell-
schaftliche oder staatliche Institutionen entsprechend zu behandeln. Zum anderen
stellt sich die Frage, warum nur bestimmte staatliche Interessen als strafrechtswür-
dig anerkannt werden sollen. Auch die Fiktion, den Staat als personifiziertes We-
sen zu behandeln, ändert nichts daran, daß es sich sowohl bei dem Interesse an der
Bestandserhaltung des Staates als auch bei dem Interesse an der Wahrung der
Funktionstüchtigkeit seiner Organe und Institutionen sämtlich um überpersonale
Interessen handelt. 218 Will man den Bereich kriminalstrafwürdiger Rechtsgutsbe-
einträchtigungen nicht auf die Verletzung von Individualrechtsgütern beschränken,
fehlt es an begrifflichen Kriterien zur Abgrenzung der kriminalschutzwürdigen
überpersonalen Rechtsgüter, was wiederum zur Folge hat, daß auch dieser Ansatz
auf eine quantitative Abschichtung hinauslaufen würde.
Rechtsgutskonzeption zentrale Satz ab, daß "die Interessen der Allgemeinheit und
des Staates vom einzelnen her zu funktionalisieren" sind?25 Hassemer erkennt an,
daß es sich bei dem Menschen um ein vergesellschaftetes Wesen handelt, das seine
Interessen und Güter nur in Gemeinschaft mit anderen und damit in gesellschaft-
lichen und staatlichen Institutionen wahren und verwirklichen kann?26 Der Schutz
dieser Institutionen 227 sei aber nur insoweit als legitim anzuerkennen, "als sie sich
als - vennittelte - Interessen des Individuums nachweisen lassen".228 Der Schutz
gesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen und auch der Schutz von Gütern,
die nicht einzelnen Personen als Teil ihrer individuellen Freiheitssphäre zugeordnet
werden können, darf demzufolge nur so weit reichen, "als er die Bedingung der
Möglichkeit des Personenschutzes ist.,,229
Wegen der nur mittelbaren Bedeutung für die Freiheit der Person sei der Schutz
gesellschaftlicher oder staatlicher Institutionen sowie der Schutz von Gütern, die
der Zuordnung zu einzelnen Personen entzogen seien, in besonderer Weise legiti-
mierungsbedürftig230 und deshalb beim strafrechtlichen Schutz dieser sog. Uni ver-
salrechtsgüter eine besondere Zurückhaltung geboten. Die Erweiterung des Rechts-
güterschutzes durch Verhaltenskriminalisierungen im Vorfeld der unmittelbaren
Beeinträchtigung klassischer Individualrechtsgüter setze zum einen voraus, daß so-
wohl der Wert des geschützten Rechtsguts als auch die Intensität der Bedrohung
als hoch anzusehen seien. 231 Weiterhin müsse die Ausgestaltung der Straftatbestän-
de im Hinblick auf die Strafdrohung "vergleichsweise milde ausfallen" und "die
gebotenen Erleichterungen" aufweisen, worunter Hassemer insbesondere den Ver-
zicht auf die Kriminalisierung fahrlässigen Verhaltens und den Verzicht auf eine
Versuchsstrafbarkeit versteht. 232 Als eine Konsequenz der von ihm vertretenen
Lehre geht Hassemer davon aus, daß die Straftatbestände des Umweltstrafrechts
rung (Hassemer, Theorie, S. 231 ff.). Hohmann betont, daß das personale Staats- und Rechts-
verständnis im Einklang mit der überwiegenden Zahl der in der zeitgenössischen Philosophie
vertretenen Modelle und auch im Einklang mit dem Menschenbild des Grundgesetzes steht
(Hohmann, Rechtsgut, S. 69 f.).
225 Hassemer, Theorie, S. 231 ff.; ders., Grundlinien, S. 90, 92; ders., Produktverantwor-
tung, S. 22.
226 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 281.
227 Hassemer nennt hier beispielhaft: Wirtschaft, Beamtenschaft, Rechtspflege, Versiche-
rungen, Schulen, Militär, Familie (vgl. NK, Vor § I Rdnr. 281).
228 Hassemer, Grundlinien, S. 91 f.; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 275 f.; vgl. auch Hoh-
mann, Rechtsgut, S. 142; ders., GA 1992,76,79.
229 Hassemer, Grundlinien, S. 91.
230 Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 281. Daß die Existenzbe-
rechtigung kollektiver Rechtsgüter in grundSätzlicher Hinsicht nicht bestritten wird, betont
Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 74 ff., 79; ders., Interdependenzen, S. 250 f.; vgl. auch Lü-
derssen, ZStW \07 (1995), 877, 899.
231 Hassemer, Theorie, S. 207 ff., 219 f.
232 Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 280 i.Y.m. Rdnr. 260; vgl.
auch Hohmann, Rechtsgut, S. 142 ff.; ders., GA 1992,76,79.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 93
nicht die Umwelt um ihrer selbst willen schützen, sondern als Medium menschli-
cher Gesundheits- und Lebensbedürfnisse?33 Die Vorschriften des Umweltstraf-
rechts leisten "nicht einen Schutz vor direkten Angriffen auf menschliches Leben
und menschliche Gesundheit ( ... ), sondern einen Schutz vor solchen Angriffen,
die sich gegen die Objekte der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen rich-
ten, denen aber letztlich ein indirekter Angriff auf menschliches Leben und
menschliche Gesundheit innewohnt".234
Aufbauend auf der personalen Rechtsgutslehre Hassemers vertritt Hohmann die
Auffassung, die §§ 324 ff. dStGB seien "zum größten Teil als abstrakte Gefähr-
dungsdelikte bezüglich des Lebens und der Gesundheit des Menschen und nicht,
wie überwiegend angenommen, als Verletzungsdelikte in bezug auf die Umwelt
bzw. deren einzelne Erscheinungsformen Gewässer, Boden, Luft sowie pflanzli-
ches und tierisches Leben zu qualifizieren.'.235 Hieraus leiten sich für ihn dann
weitreichende Konsequenzen ab: Hohmann bejaht zwar die grundsätzliche Not-
wendigkeit, den Schutz der Umwelt (auch) durch die Pönalisierung bestimmter
umweltschädigender Verhaltensweisen sicherzustellen; er erkennt darüber hinaus
sogar an, daß es sich bei den §§ 324 dStGB um Normen handelt, deren grundsätz-
liche Legitimität zu bejahen sei. 236 Weil durch diese Straftatbestände aber "ledig-
lich Gefährdungen menschlichen Lebens und menschlicher Gesundheit und diese
bereits weit im Vorfeld pönalisiert werden", sei es geboten, die Strafrahmen der
Umweltdelikte abzusenken und auch innerhalb der Umweltdelikte danach abzustu-
fen, ob an eine abstrakte Gefährdung, eine konkrete Gefährdung oder eine beson-
ders hohe Intensität der Gefährdung menschlichen Lebens oder menschlicher Ge-
sundheit angeknüpft werde?37 De lege lata sei bei den §§ 324 ff. dStGB zwar eine
Abstufung innerhalb der Deliktsgruppe der Umweltdelikte vorhanden; die Straf-
drohungen seien aber dennoch illegitim, da sie sowohl im Vergleich zu den Kör-
perverletzungsdelikten der §§ 223 ff. dStGB als auch im Hinblick auf die struktu-
rell vergleichbaren Normen des Verkehrsstrafrechts unverhältnismäßig hoch sei-
en?3X Weil die erfaßten Verhaltensweisen nur mit wenig Wahrscheinlichkeit zu ei-
ner wirklichen Gefahr für menschliches Leben und menschliche Gesundheit
führen, seien die Normen - mit Ausnahme der §§ 330, 330a dStGB - nicht im
Kernstrafrecht, sondern - ebenso wie die Verkehrsdelikte - bei gleichzeitiger Ab-
senkung der überzogenen Strafrahmen im Nebenstrafrecht bzw. Ordnungswidrig-
keitenrecht anzusiedeln. 2w
233 Hassemer, Grundlinien, S. 92; ders., in: NK, Vor § I Rdnr. 279.
234 Hohmann, GA 1992,76,84; vgl. auch Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 280.
235 Hohmann, Rechtsgut, S. 197.
236 Hohmann, Rechtsgut, S. 196; ders., GA 1992,76,84.
237 Hohmann, Rechtsgut, S. 198.
m Hohmann, Rechtsgut, S. 198 f.
239 Hohmann, Rechtsgut, S. 199 f.; ders., GA 1992, 76, 85 f.; vgl. auch Hassemer, Grund-
linien, S. 93, dessen Hinweis darauf, daß man "die meisten Tabestände aus dem Katalog der
94 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
Die Frage bleibt, warum Strafnormen, die nicht unmittelbar klassische Indivi-
dualrechtsgüter schützen, zwingend aus dem Kernstrafrecht in das Nebenstrafrecht
bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht verlagert werden müssen. Für Hohmann ergibt
sich die Antwort auf diese Frage aus der von ihm als Grundprämisse vorausgesetz-
ten Notwendigkeit, Individual- und Kollektivrechtsgüter in ein Verhältnis der
Über- / Unterordnung zu setzen, was dann - als Konsequenz der "personalen"
Sichtweise - zu der Schlußfolgerung führen soll, daß das Kernstrafrecht auf den
Schutz der höherwertigen Individualrechtsgüter beschränkt bleiben müsse. Indes:
Worin liegt die Notwendigkeit oder auch nur Plausibilität des von Hohmann im
Anschluß an Hassemer behaupteten zwingenden Über- / Unterordnungsverhältnis-
ses von Individual- und Universalrechtsgütern? Warum sollen nicht auch Uni ver-
salrechtsgüter Straftatbestände des Kernstrafrechts legitimieren können?
Aus dem Umstand, daß die staatliche Gemeinschaft der Gewährleistung der
Freiheit des Einzelnen und damit auch der Schutz von Kollektivrechtsgütern letzt-
lich der Gewährleistung der freien Entfaltung der Gesellschaftsmitglieder zu die-
nen hat,240 kann nicht abgeleitet werden, daß das Kernstrafrecht auf den Schutz
vor Beeinträchtigungen konkreter Individualrechtsgüter beschränkt bleiben
muß?41 Auch die Vertreter personaler Rechtsgutskonzeptionen erkennen an, daß
die Einbindung in die Gesellschaft einen Teil der Personalität des vergesellschafte-
ten Individuums ausmacht. 242 Grundlage der personalen Entfaltung ist ohne Frage
die Anerkennung einer individuellen Freiheitssphäre. Angesichts dessen, daß in ei-
ner modernen Gesellschaft aber praktisch keine Freiräume existieren, die es einem
Mitglied der Gesellschaft ermöglichen würden, von seiner Freiheit in einer über
das forum internum hinausgehenden Art und Weise Gebrauch zu machen, ohne
gleichzeitig die Freiheitssphäre anderer Mitglieder der Gesellschaft zu beeinträch-
tigen bzw. mit deren Freiheitsausübung zumindest potentiell in Konflikt zu gera-
ten,243 müssen neben dem Bestand an individuellen Freiheitsrechten auch die
Grundbedingungen gewährleistet werden, die es dem einzelnen überhaupt erst er-
möglichen, von seiner - insoweit notwendigerweise nicht schrankenlosen - Frei-
heit tatsächlich auch Gebrauch machen zu können?44 Wenn aber die freie Entfal-
tung des einzelnen nicht allein - im Sinne eines status negativus - durch die Frei-
§§ 324 ff. StGB eher als Verwaltungsunrecht qualifizieren müsse", darauf hindeutet, daß er
eine Verschiebung in das Ordnungswidrigkeitenrecht für sachgerecht hält.
240 Hohmann, Rechtsgut, S. 63, 70 f.; vgl. auch bereits Marx, Definition, S. 81.
241 Kritisch hierzu auch Kuhlen, ZStW \05 (1993),697,703 f.; ders., Strafrechtsbegren-
zung, S. 92.
242 Hohmann, Rechtsgut, S. 67 f., 70; vgl. im übrigen hierzu: Marx, Definition, S. 32 f.,
38 ff., 41 ff.
243 Vgl. Höffe, Gerechtigkeit, S. 325, 331 f., 382; Kersting, Freiheit, S. 50 f.
244 Jenny / Kunz, Bericht, S. 48; Marx, Definition, S. 58 ff.; Rüdiger, Bekämpfung, S. 85/
86; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 311; Stratenwerth, Festschrift für A. Kaufmann, S. 357
sowie umfassend - unter Anknüpfung an Rawls und Feinberg - Papageorgiou, Schaden,
S. 131 ff.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 95
heit vor Beeinträchtigungen, sondern auch durch die Möglichkeit bestimmt wird,
von dieser Freiheit faktisch Gebrauch zu machen, erscheint die Gewährleistung
der elementaren Grundvoraussetzungen für die Ausübung von Freiheit (status posi-
tivus) als ein für die freie personale Entfaltung elementarer und deshalb grundsätz-
lich strafschutzwürdiger sozialer Wert. 245 Berücksichtigt man weiterhin, daß be-
stimmte soziale Gegebenheiten, wie z. B. die Erhaltung der unverzichtbaren Le-
bensgrundlagen, nicht - wie etwa Eigentum an bestimmten Sachen - einzelnen In-
dividuen, sondern allein der Gemeinschaft der vergesellschafteten Individuen als
solcher - unter Einschluß auch zukünftiger Generationen 246 - zugeordnet werden
können,247 wird deutlich, daß der möglicherweise der Lebenssituation eines wirt-
schaftlich unabhängigen Besitzbürgers im gesellschaftlichen Umfeld des 18. und
19. Jahrhunderts adäquat erscheinende Bezug auf den alleinigen Schutz vor Beein-
trächtigungen des status negativus 248 jedenfalls dem heutigen gesellschaftlichen
Umfeld und den sich hieraus ergebenden Notwendigkeiten, die Möglichkeit freier
personaler Entfaltung zu schützen, nicht gerecht zu werden vermag. 249
Im übrigen ist der Standpunkt Hohmanns auch unter Zugrundelegung der Prä-
missen der personalen Rechtsgutskonzeption als nicht überzeugend zurückzuwei-
sen: Daß sich um den außer Streit stehenden Kernbereich strafrechtswürdiger Indi-
vidualrechtsgüter (Leben, Leib, Freiheit) eine Vielzahl von Individual- aber auch
Univeralsrechtsgütern gruppieren, die - je nach dem Stand der gesellschaftlichen,
kulturellen und technischen Entwicklung - elementare Garantien für die Gewähr-
leistung der Rechtssphäre des einzelnen darstellen und deren Beeinträchtigung aus
diesem Grunde als strafwürdiges Unrecht anzuerkennen ist, wird nämlich auch von
Hassemer nicht in Frage gestellt. 25o Vielmehr werden "schwere und in ihrem Un-
rechtsgehalt sichtbare Gefährdungen, wie sie etwa unser Strafgesetzbuch in den
§§ 306 ff. immer enthalten hat" als integraler Bestandteil des "Kernstrafrechts" an-
245 Vgl. Hefendehl, GA 1997, 119, 122; Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 856; Kindhäuser,
ZStW 107 (1995), 701, 707; Kunz, Bagatellprinzip, S. 28, 150; ders., recht 1/1990, 15;
Marx, Definition, S. 54 ff., 58 ff., 79 ff.; Mattes, Untersuchungen, S. 107 ff.; Müssig, Rechts-
güterschutz, S. 155 f., 185 f., 192, 224; Qtto, Rechtsgutsbegriff, S. 5; ders., Mißbrauch,
S. 457; Roxin, JuS 1966,377,381 f.; ders., StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 6; Wolff, Abgren-
zung, S. 206/207; M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 64.
246 Bloy, ZStW 100 (1988), 485, 497; Noll, Universitas 1971, 1021; Schünemann, Fest-
schrift für Triffterer, S. 441 sowie umfassend: Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 ff.
247 Kareklas, Rechtsgut, S. 95.
254 Vgl. Kühl, Rechtsgüter, S. 258; Seelmann, Strafrecht, S. 199 sowie Roy Kunz, Verlet-
zungen, S. 21/22, 28; NolI, Umweltschutz, S. 394.
m Hohmann, Rechtsgut, S. 200; in dieser Richtung wohl auch Kasper, Erheblichkeits-
schwelle, S. 96 ff.
256 Hassemer, Grundlinien, S. 88; ders., Theorie, S. 214 ff.; ders., in: NK, Vor § I Rdnr.
196; vgl. auch Hohmann, GA 1992,76, 80.
257 Hassemer, Grundlinien, S. 87; vgl. auch Stächelin, Untermaßverbot, S. 278 f.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 97
Menschenwürde. Schließlich besage der Grundsatz "in dubio pro libertate", daß
Zweifel an der Legitimität einer Kriminalisierung durch den Verzicht auf eine
strafrechtliche Regelung zu lösen seien?58 Da die einzelfallbezogene Konkretisie-
rung der genannten kriminal politischen Maximen einen Wertungsakt voraussetze,
der keine mit mathematischer Sicherheit begründbaren Ableitungen ermögliche,
verbleibe dem Gesetzgeber bei der Definition kriminellen Handeins allerdings not-
wendigerweise ein erheblicher Entscheidungsspielraum, 259 der sich nicht nur auf
das "Ob", sondern auch auf das "Wie" der Kriminalisierung erstrecke. 260 Festzu-
halten bleibt, daß die auf die Unterscheidung der Beeinträchtigung individueller
und überindividueller Rechtsgüter abstellende Forderung, die Straftatbestände der
§§ 324 ff. dStGB unter Abmilderung der Sanktionsrahmen in das Ordnungswidrig-
keitenrecht zu überführen, nach alledem auch unter Heranziehung der Maßstäbe
der personalen Rechtsgutslehre als eine Forderung erscheint, deren sachliche Be-
rechtigung einer näheren Begründung bedürftig wäre, die aber keinesfalls als ein
zwingendes Gebot richtiger Rechtssetzung anerkannt werden kann. 261
258 Hassemer, Theorie, S. 196 ff.; ders., Grundlinien, S. 88; ders., in: NK, Vor § 1 Rdnrn.
202 ff.; Hohmann, Rechtsgut, S. 166 ff.; ders., GA 1992, 76, 80, wo die Illegitimität der
Straftatbestände des geltenden Umweltstrafrechts des StGB nicht aus Rechsgutserwägungen
sondern daraus abgeleitet wird, daß bei der Ausgestaltung dieser Strafnormen andere straf-
rechtliche Grundsätze (der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Subsidiaritätsprinzip, das
Bestimmtheitsgebot und der Grundsatz "in dubio pro libertate") mißachtet werden, was - wie
Hohmann selbst erkennt, a. a. 0., S. 168 - mit der Frage, ob diese Straftatbestände den Vor-
gaben der (personalen) Rechtsgutslehre entsprechen, nichts zu tun hat.
259 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 221; Hohmann, Rechtsgut, S. 168.
260 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 379.
261 Anzumerken ist, daß sich die mit dem Ziel einer Beschränkung des staatlichen Strafens
erhobene Forderung nach einer Abdrängung bestimmter Straftatbestände in das Ordnungs-
widrigkeitenrecht im Ergebnis sogar als kontraproduktiv erweisen kann. Zum einen wird eine
Abmilderung der Sanktionen durch einen Verlust an schützenden Verfahrensgarantien erkauft
(vgl. Naucke, GA 1984, 199,205; Weigend, Festschrift für Miyazawa, S. 556); zum anderen
zeigt sich immer wieder, daß der Gesetzgeber von dem als weniger gewichtig und deshalb
offenbar auch als weniger bedenklich angesehenen Instrument des Ordnungswidrigkeiten-
rechts inflationären Gebrauch macht, was im Ergebnis nicht zu einer Reduktion, sondern zu
einer Ausdehnung der staatlichen Repression führt (vgl. Hirsch, ZStW 92 (1980), 218, 243;
Lang-Hinrichsen, Festschrift für H. Mayer, S. 62; Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil I, § 3
Rn. 16; Vogler, ZStW 90 (1978),132,156; Weber, ZStW 92 (1980), 313, 319 ff.; zu optimi-
stisch daher wohl: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 154 f.).
262 Wolff, Abgrenzung, S. 157.
7 Wohlers
98 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
zung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens, durch die andere oder der Staat
in einer Art verletzt werden, auf die sie sich - in dem von der Rechtsordnung ein-
geräumten selbstorientierten Dasein - nicht aus eigener Kraft einstellen können,263
versucht Wolff Maßstäbe für die Zuordnung bei Beeinträchtigungen sowohl indivi-
dueller als auch überpersonaler Belange zu entwickeln: 264 Als Beispiel für den
Schutz individueller Belange greift Wolff auf das Straßenverkehrsrecht zurück.
Angesichts dessen, daß es sich beim Straßenverkehr um einen Bereich handele, in
dem sich die Bürger nur begrenzt aufeinander einstellen und Gefahren nur unzurei-
chend begegnen könnten, seien Regeln zur Ordnung des Straßenverkehrs sowie
Zwangsregeln zur Durchsetzung dieser Regeln zu akzeptieren. Verstöße gegen die
Regeln des Straßenverkehrs seien dann als Kriminalunrecht aufzufassen, wenn der
Täter "ein Mittel einsetzt, das ihm der Art nach unbeherrschbar ist und andere eine
solche Gefahr nicht in Kauf nehmen würden.,,265 Während Wolff unter Zugrunde-
legung dieses Maßstabes "noch gute Gründe für die Berechtigung" sieht, die Trun-
kenheitsfahrt (§ 316 dStGB) als Kriminaldelikt aufzufassen, soll § 21 Ziff. 2 StVG
(Fahren ohne Fahrerlaubnis) eindeutig eine Ordnungswidrigkeit darstellen. 266
Im Hinblick auf den Schutz überindividueller Belange greift Wolff zunächst das
Beispiel von Einwirkungen in den Tätigkeitsbereich der Polizei heraus. Kriminal-
unrecht stelle die Einwirkung in den Tätigkeitsbereich eines staatlichen Organs
dann dar, wenn das staatliche Organ "bei ordnungsgemäßer Leistung zur Erfüllung
seiner Aufgaben darauf angewiesen ist, solche Angriffe nicht erdulden zu müssen."
Vor diesem Hintergrund will Wolff sowohl die Strafvereitelung (§ 258 dStGB) als
auch die falsche Verdächtigung (§ 164 dStGB) als Kriminalunrecht auffassen, nicht
dagegen das Vortäuschen einer Straftat (§ 145d dStGB). Es sei "kein rationaler
Grund ... zu finden, warum der Einzelne jeder anderen noch so wichtigen staatli-
chen Stelle straflos Arbeit bereiten kann, nicht aber der Polizei".267 Bezogen auf
Delikte im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung sei Kriminalunrecht erst
dann gegeben, wenn der Angriff die Möglichkeiten der staatlichen Organe, die Er-
haltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, so vermindere, "daß eine or-
dentliche, auf das Allgemeine ausgerichtete Staatsführung in ihren normalen Tätig-
keiten sich darauf nicht oder nur als Krisenleistung einstellen kann", was beispiels-
weise beim Landfriedensbruch nicht der Fall sei. 268 Demgegenüber wäre das
Gründen und die Unterhaltung von Vereinigungen, die auf die Destabilisierung des
Gemeinwesens durch Angriffe auf Schaltstellen und Schlüsselpersonen des Ge-
meinwesen abzielen, als Kriminalunrecht aufzufassen?69 Gleiches gelte schließ-
263 Wolff, Abgrenzung, S. 212 f.; vgl. auch bereits ders., ZStW 97 (1985), 787, 819.
264 Vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 218 ff.
265 Wolff, Abgrenzung, S. 218 f. Der Sache nach handele es sich um schwere, konkret be-
schriebene Sorgfaltspflichtverletzungen, a. a. 0., S. 220.
266 Wolff, Abgrenzung, S. 220.
267 Wolff, Abgrenzung, S. 220 f.
268 Wolff, Abgrenzung, S. 221.
269 Wolff, Abgrenzung, S. 223.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 99
lieh für die Verletzung der Hilfspflicht in Unglückssituationen, in denen weder der
einzelne selbst sich helfen könne, noch die zur Hilfeleistung bestellten Träger
staatlicher Gewalt zur Stelle seien. 27o
Die von Wolff selbst gegebenen Beispiele belegen indes, daß auch seine Lehre
eine begrifflich scharfe Abgrenzung bei der Unrechtsbereiche nicht zu bieten ver-
mag: Zunächst bleibt stets zu klären, ob das jeweils verletzte Interesse Bestandteil
des grundlegenden Anerkennungsverhältnisses ist, was angesichts des hohen Ab-
straktionsgrades dieses Kriteriums bereits nicht unerhebliche Wertungsspielräume
eröffnet. Darüber hinaus kann aber auch die weitere Frage, ob sich der betroffene
einzelne bzw. das betroffene staatliche Organ auf diese Art der Verletzung einstel-
len kann, ebenfalls nur bewertend gelöst werden, was letztlich dahin führt, daß es
gar nicht darum geht, ob sich der Betroffene auf die Art der Verletzung einstellen
,,kann", sondern vielmehr darum, ob er sich - bei wertender Betrachtung - auf
diese Art der Verletzung einstellen muß bzw. einzustellen hat. 271
Im Hinblick auf das von Wolff herangezogene Beispiel des Straßenverkehrs-
rechts muß also zum einen die Bedrohungsintensität der jeweils in Frage stehenden
Verhaltensweise bewertet und zum anderen entschieden werden, ob andere eine
solche Gefahr in Kauf nehmen würden. Mit anderen Worten: Die Verhaltensweise
selbst und die mit ihr verbundene Gefahrensituation sind jeweils auf einer Skala
einzuordnen, die sich zwischen den Polen "beherrschbar" und "unbeherrschbar"
sowie "tolerabel" und "intolerabel" erstreckt. Erst die Gesamtbetrachtung der vor-
angegangenen Bewertungen ergibt dann die endgültige Zuordnung zum Kriminal-
oder Ordnungsunrecht, die ersichtlich nicht mehr als das Ergebnis einer begriff-
lich-qualitativen Abgrenzung interpretiert werden kann. Die von Wolff vorgenom-
mene Zuordnung der von § 316 dStGB erfaßten Verhaltensweisen zum Bereich des
Kriminalunrechts und der von § 21 StVG erfaßten Verhaltensweisen zum Bereich
des Ordnungsunrechts ist keinesfalls zwingend. 272 Für die weiteren von Wolff her-
angezogenen Beispiele gilt nichts anderes. Sowohl die Frage, welche Beeinträchti-
gungen bei der Durchführung ihrer Aufgaben staatliche Organe "nicht erdulden ...
müssen" als auch die Frage, ob bestimmte Verhaltensweisen die Möglichkeiten
staatlicher Organe, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, so
vermindern, "daß eine ordentliche, auf das Allgemeine ausgerichtete Staatsführung
in ihren normalen Tätigkeiten sich darauf nicht oder nur als Krisenleistung einstel-
len kann",273 setzen komplexe Bewertungen voraus, was dazu führt, daß für die
Abgrenzung beider Unrechtsbereiche jedenfalls in der praktischen Umsetzung die
aliud-These nicht durchgehalten werden kann und einer gleitenden Bewertung des
Unrechtsgehalts weichen muß?74
Vgl. Wolff, ZStW 97 (1985), 787, 819: Verbrechen als Verletzung des "festgelegten"
271
öffentlichen Basisvertrauens.
272 Vgl. hierzu unten S. 315 ff.
273 Richtigerweise müßte es auch hier wieder heißen: " ... einstellen muß."
7"
100 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kemstrafrecht
Als Ergebnis der bisherigen Betrachtung bleibt festzuhalten: Die Versuche, Kri-
minalunrecht und Ordnungsunrecht als wesensverschiedene Unrechtsbereiche von-
einander abzugrenzen, müssen sämtlich als gescheitert angesehen werden. Entwe-
der lassen sich die vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien mit grundlegenden Prä-
missen des modemen Rechtsstaatsdenkens nicht vereinbaren (Goldschmidt, Wolf)
oder sie laufen darauf hinaus, daß unter dem Deckmantel eines angeblichen We-
sensunterschiedes 275 letztlich doch nach quantitativen Maßstäben abgegrenzt wird.
Aus dem Fehlen begrifflich faßbarer Kriterien zur qualitativ-wesensmäßigen Un-
terscheidung bei der Unrechtsbereiche ist von einer nicht unbeträchtlichen Zahl
von Autoren der Schluß gezogen worden, daß es sich beim Kriminal- und Ord-
nungsunrecht um nur quantitativ abzuschichtende Unrechtsabstufungen handeln
könne. 276 Als Konsequenz dieses Ansatzes wird die Auffassung vertreten, daß es
Aufgabe des Gesetzgebers sei, den Anwendungsbereich des Kriminalstrafrechts
abzugrenzen. 277
Dieser Ansatz erscheint zunächst plausibel. Er trägt einerseits dem Umstand
Rechnung, daß ein qualitatives Abgrenzungskriterium zur durchgängigen begriffli-
chen Unterscheidung von Kriminal- und Ordnungsunrecht bisher nicht gefunden
wurde; darüber hinaus verträgt er sich mit dem de lege lata zu konstatierenden hete-
rogenen Gesamtbild des Rechts der Ordnungswidrigkeiten. Soweit die Notwendig-
keit einer quantitativen Abgrenzung allerdings darauf gestützt werden soll, daß das
Ordnungsunrecht de lege lata keine einheitliche Materie darsteIle, die anhand eines
begrifflichen (Abgrenzungs-)Kri teri ums definiert werden könne,278 oder die Un-
274 Soweit Wolff davon auszugehen scheint, daß der Gesetzgeber davon absehen kann,
Kriminalunrecht als solches zu ahnden, und stattdessen eine Ausgestaltung als Ordnungswid-
rigkeit zu wählen (vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 219), ist auch dies mit seinem Grundansatz
einer qualitativ-begrifflichen Abgrenzung beider Unrechtsbereiche nicht ohne weiteres zu
vereinbaren.
m Im einzelnen: Verletzung gesellschaftlich vorgegebener Verhaltensregeln als Gegensatz
zur bloßen Zuwiderhandlung gegen staatlich gesetzte Regeln; sozialethisch indifferente ge-
gen sozialethisch zu mißbilligende Regelverstöße; Verhaltensweisen, auf deren Kompensati-
on der Einzelne oder staatliche Organe sich einstellen können bzw. einstellen müssen oder
nicht einstellen können bzw. einstellen müssen.
276 R. v. Hippe\, Strafrecht, Bd. 2, S. 118 m. w. N. aus dem älteren Schrifttum; Appel, Ver-
fassung, S. 506; Baumann, ZfW 1973,63,66/67; Hirsch, ZStW 92 (\980), 218, 242; Je-
scheck, JZ 1959,457,461; H. Mayer, StrafR AT, S. 72; Sax, Grundsätze, S. 922 f.; Schmid-
häuser, StrafR AT, 8/105; Tiedemann, ÖJZ 1972,285,290; Weber, ZStW 92 (\980),313,
316 ff.; Weigend, Festschrift für Miyazawa, S. 556; Welzel, JZ 1956,238,240 f.; ders., JZ
1957,130,131 f.
277 Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 7; ders., JZ 1968,583,586; Hirsch, Bekämpfung, S. 20;
Hack, Probleme. S. 131 f.; Rehberg, Strafrecht I. S. 5; Stratenwerth. StrafR AT, Rdnr. 42;
ders., SchwStrafR AT I, § 2 Rdnr. 40; Tiedemann, Gutachten, C 38; Trechsell Noll. StrafR
AT!, S. 31.
278 SO Z. B. Jescheck I Weigend, StrafR AT, S. 58; Jescheck. JZ 1959,457,461 f.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 101
möglichkeit einer qualitativen Abgrenzung damit begründet werden soll, daß für
die geltende Rechtsordnung eine qualitative Verschiedenheit von Kriminaldelikten
und Ordnungswidrigkeiten nicht durchgängig zu belegen sei,279 vermag dies nicht
zu überzeugen. Auch wenn der Gesetzgeber praktisch so verfährt und die Rechts-
lage de lege lata folgerichtig nur so zu erklären ist,28o wäre es doch zirkelhaft, aus
der Analyse der de lege lata bestehenden Rechtsordnung die materielle Legitimati-
on eben dieser Rechtsordnung ableiten zu wollen. Die Notwendigkeit externer Ab-
grenzungsmaßstäbe ergibt sich schon daraus, daß der Gesetzgeber selbst auf externe
Maßstäbe angewiesen ist, wenn er zu entscheiden hat, ob neu zu schaffende Sank-
tionstatbestände als Straftatbestand oder als Ordnungswidrigkeit ausgestaltet wer-
den sollen. Eben diese (externen) Maßstäbe können und müssen dann aber auch her-
angezogen werden, wenn die vom Gesetzgeber vorgenommene Abgrenzung beider
Unrechtsbereiche auf ihre materielle Berechtigung hin untersucht wird.
Der Verzicht auf die Konkretisierung externer Abgrenzungsmaßstäbe würde die
Abgrenzung dem Gesetzgeber überantworten, dessen Entscheidungen einer exter-
nen Kontrolle weitgehend entzogen und damit selbst im Hinblick auf systemimma-
nente Fehlleistungen nur eingeschränkt überprüfbar wären. Entgegen Eberhard
Schmidt kann dies nicht mit den Hinweis darauf für unbedenklich erklärt werden,
daß man es dem Gesetzgeber eines Rechtsstaates zutrauen dürfe, die immer erneut
zu lösende Aufgabe der materiellen Unterscheidung zwischen Straftat und Ord-
nungswidrigkeit gewissenhaft zu prüfen?8) Abgesehen davon, daß schon die ver-
breitete - und zum Teil auch in der Sache sehr scharfe - Kritik an den im Einzelfall
vom bundesdeutschen Gesetzgeber vorgenommenen Zuordnungen 282 die Berechti-
gung dieser Einschätzung als zweifelhaft erscheinen läßt, kann es nicht überzeu-
gen, den Verzicht auf Maßstäbe zur Kontrolle der materiellen Berechtigung gesetz-
geberischer Entscheidungen durch den Hinweis auf den zu vermutenden guten
Willen des Gesetzgebers legitimieren zu wollen. Soll es sachgerecht sein, einer-
seits einen qualitativen Unterschied von Kriminal- und Ordnungsunrecht zu leug-
nen und andererseits die jeweiligen Delikte in zwei grundlegend voneinander ab-
weichenden Verfahrensarten zu verfolgen und mit unterschiedlichen Sanktionen zu
ahnden, kann die Zuordnung nicht dem Belieben des Gesetzgebers überantwortet
werden. Der mit der Zuordnung verbundenen unterschiedlichen Sanktion bzw.
staatlichen Reaktion muß eine entsprechende Abgrenzung von Kriminal- und Ord-
nungsunrecht korrespondieren. 283
279 So z. B. Göhler, Vor § I Rdnrn. 4 f.; Jakobs, StrafR AT, 3/8; Lang-Hinrichsen, JZ
1970,796.
280 Vgl. Mattes, Untersuchungen, S. 75 ff.
281 Eb. Schmidt, Festschrift für Arndt, S. 431; ders., JZ 1951, 101, 103; vgl. auch Michels,
Handlung, S. 83 ff.
282 Beispielhaft sei hier auf die Zuordnung der § 264 Abs. 3 dStGB, § 21 StVG zum Be-
reich des Kriminalunrechts und der §§ 38 f. GWB zum Bereich des Ordnungsunrechts ver-
wiesen, vgl. Weber, ZStW 92 (1980), 313, 317; Müller-Dalhoff, Abgrenzung, S. 51 ff.; Tiede-
mann, Gutachten, C 38.
102 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
Das Dilemma, daß einerseits die Vertreter der aliud-Theorien nicht in der Lage
sind, Abgrenzungskriterien zu benennen, anhand derer eine begrifflich-konkrete
Unterscheidung von Kriminal- und Ordnungsunrecht erfolgen kann, und anderer-
seits eine rein quantitative Abgrenzungstheorie die Zuordnung bestimmter Verhal-
tensweisen letztlich dem Belieben des Gesetzgebers überantwortet, damit aber
auch die sachliche Berechtigung der qualitativ unterschiedlichen Art und Weise
der staatlichen Reaktion in Frage stellt, dürfte der maßgebliche Grund dafür sein,
daß heute die Tendenz vorherrschend ist, qualitative und quantitative Kriterien zu
kombinieren. Die Vertreter des sog. gemischt qualitativ-quantitativen Ansatzes ge-
hen davon aus, daß sowohl das Kriminalstrafrecht als auch das Ordnungswidrig-
keitenrecht dem Rechtsgüterschutz dienen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht sei
aber dadurch gekennzeichnet, daß es weniger gefährliche Verhaltensweisen bzw.
weniger schwerwiegende Beeinträchtigungen der geschützten Handlungsobjekte
zum Gegenstand habe. Außerdem fehle es an jenem hohen Grad von Verwerflich-
keit der Tätergesinnung, der allein das der Kriminalstrafe anhaftende schwere so-
zialethische Unrechts urteil rechtfertigen könne. Im Ergebnis bedeute dies, daß es
einerseits einen Kernbereich sozialethisch verwerflicher Verhaltensweisen gebe,
der einer Behandlung als bloßes Ordnungsunrecht nicht zugänglich sei, und ande-
rerseits einen Kernbereich bloßen Ordnungsunrechts, der wiederum nicht als Kri-
minalunrecht behandelt werden dürfe. Außerhalb dieser Kernbereiche soll der Ge-
setzgeber dagegen nach pragmatischen Gesichtspunkten darüber entscheiden kön-
nen, ob eine bestimmte Verhaltensweise als Straftat oder als Ordnungswidrigkeit
auszugestalten sei. 284
Die Bedeutung, die dem gemischt qualitativ-quantitativen Ansatz derzeit zu-
kommt, beruht nicht zuletzt darauf, daß er maßgebend vom BVerfG entwickelt
wurde und seitdem der Rechtsprechung dieses Gerichts zugrunde liegt. Das BVerfG
geht davon aus, daß es einen Kernbereich des Strafrechts gibt, der dem Zugriff des
Gesetzgebers entzogen ist. Zu diesem Kernbereich gehören "alle bedeutsamen Un-
rechtstatbestände"?85 Weiterhin gehören zum Bereich des Strafrechts "auch alle
285 BVerfGE 22, 49, 81; 22, 125, 1321133; 23, 113, 126; 42, 272, 289.
286 BVerfGE 22, 49,81; 23,113,126.
287 BVerfGE 22, 49, 81; 22,125,133; 23,113,126; 27,18,
288 BVErfGE 8,197,207; 9,167,172; vgl. hierzu auch Lagodny, Strafrecht, S. 422/423:
Verletzungen verwaltungsrechtlicher Auflagen; leichtere Verstöße gegen Verkehrsregelungen.
289 BVerfGE9, 167, 172; 27,18,29.
292 BVerfGE 80, 282, 286; a.A. der Verfassungsrichter Sommer in seinem Minderheitsvo-
tum in BVerfGE 90, 145, 213 ff.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei ein Verfassungs-
grundsatz, dessen Einhaltung durch den Gesetzgeber das BVerfG zu überwachen habe, was
notwendigerweise eine eigene wertende Entscheidung des BVerfG erforderlich mache.
104 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
fe sei. 30l Der Buße des Ordnungswidrigkeitenrechts fehle der "Ernst der staatli-
chen Strafe". Mit der an die Ordnungswidrigkeit geknüpften Sanktion sei lediglich
eine "nachdrückliche Pflichtenmahnung" bezweckt. 302 Das BVerfG erkennt an,
daß sich Geldbuße und Geldstrafe in finanzieller Hinsicht für den Betroffenen glei-
chermaßen nachteilig auswirken. 303 Der maßgebende Unterschied sei aber nicht
das Gewicht, mit dem "die Geldstrafe in das Vermögensrecht des Betroffenen ein-
greift. Wesentlich ist das mit der Festsetzung einer Geldstrafe als Kriminalstrafe
notwendig verbundene Unwerturteil, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die
Rechtsordnung und die Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs.,,304 Ande-
rerseits hält das BVerfG aber auch die Eintragung als Vorstrafe und die Möglich-
keit der Umwandlung in eine Freiheitsstrafe für Merkm(!le und Wirkungen, die der
Kriminalstrafe eigentümlich sind, und die - im Hinblick auf die Verhängung durch
den Richter bzw. die Verwaltungsbehörde - unterschiedliche Behandlung von Kri-
minalstrafe und Buße rechtfertigen sollen. 305
Indes: Da sich die Prämisse, daß es sich bei Kriminal- und Ordnungsunrecht um
zwei wesensverschiedene Unrechtsbereiche handeln soll, als unzutreffend erwie-
sen hat, kann hieraus eine wesensmäßige Andersartigkeit von Kriminalstrafe und
Geldbuße nicht abgeleitet werden. 306 Entscheidend ist, ob "Kriminalstrafe" und
"Geldbuße" für sich gesehen als wesensverschiedene Sanktionen angesprochen
werden können. Das Wesen der Kriminalstrafe wird maßgeblich durch zwei Mo-
mente geprägt: Die Strafe ist ein Übel, das einer Person als Konsequenz eines
Normverstoßes zugefügt wird (Strafe als Übelszufügung), und sie ist Ausdruck der
Mißbilligung, daß der Täter der ihm obliegenden Verantwortung für die Einhaltung
der Rechtsordnung nicht gerecht geworden ist (Strafe als Tadel).307 Beide Mo-
mente treffen indes auch auf die Geldbuße zu: Auch die Geldbuße ist ein Übel, das
als Reaktion auf einen schuldhaft begangenen Verstoß gegen eine sanktionsbe-
wehrte Verbotsnorm auferlegt wird. 308 Ebensowenig wie die Kriminalstrafe gleicht
301 BVerfGE 22, 49, 79; 22, 125, 132; 25, 269, 286; 42, 272, 288; 88, 203, 258; 90, 145,
173,200,213.
302 BVerfGE 22, 49, 79; 27,18,33; 42, 272, 288/289; vgl. auch BGH, NJW 1993,3081,
3083.
303 BVerfGE 27,18,33; 42, 272, 290
305 BVerfGE 22, 49,80; vgl. auch BVerfGE 8, 197,207; 9, 167, 172,27,36,40 wo aber
zusätzlich auch auf den "geringeren Unrechtsgehalt" und den "Grad des ethischen Unwertge-
halts" abgestellt wird; in anderen Entscheidungen des BVerfG stehen diese Kriterien gänzlich
im Vordergrund, vgl. BVerfGE 42, 272, 288 f.
306 Vgl. hierzu i.e. Mattes, Untersuchungen, S. 253 ff., insbesondere S. 272 ff., 289.
307 Androulakis, 'Z1)tW 108 (1996), 300, 303 ff.; Baumann 1Weber 1Mitsch, StrafR AT,
§ 34 Rdnrn. I f.; Duff, Prävention, S. 189 ff.; Gallas, Grenzen, S. 4; v. Hirsch, Tadel und
Prävention, S. 103 ff.; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 65; Jescheck, in: LK, Einl. Rdnr. 23;
Hörnle/Hirsch, GA 1995, 261, 265 ff.; Kindhäuser, GA 1989, 493; Neumann/Schroth,
Theorien, S. 6 ff.; Schmidhäuser, Sinn der Strafe, S. 34 ff.; ders., StrafR AT, 217; Welzel,
Strafrecht, § 32 I.I.a.
IV. Ablösung strafrechtlicher Normen 107
die Geldbuße die durch die konkrete Tat bewirkten Schäden aus, sondern dient -
wie jede repressive staatliche Reaktion - allein dem Ausgleich des durch die Tat
bewirkten Geltungsschadens für die übertretene Verhaltensnorm bzw. der Wieder-
herstellung des Geltungsanspruchs der Rechtsordnung. 309 Ihrem Wesen nach ist
die Geldbuße damit aber eine Strafe310 bzw. wie die Strafe eine repressive staatli-
che Sanktion und nicht etwa ein Mittel des Verwaltungszwanges. 311 Andererseits:
Auch wenn es für den Betroffenen damit zunächst als mehr oder weniger gleich-
gültig erscheinen könnte, ob ihm eine den Rechtstadel ausdrückende Vermögens-
einbuße unter der Flagge ,,(Geld-)Strafe" oder aber der ,,(Geld-)Buße" auferlegt
wird, ist doch zu berücksichtigen, daß die Sanktionen des de lege lata geltenden
Ordnungswidrigkeitenrechts zum einen in objektiver Hinsicht grundsätzlich von
geringerem Gewicht sind als die Sanktionen des Kriminalstrafrechts 312 und auch
der mit der Verhängung einer Buße verbundene Diskriminierungseffekt weniger
schwer wiegt als der einer Kriminalstrafe,313 was insbesondere darin zum Aus-
druck kommt, daß nur die kriminalstrafrechtliche Sanktion den Täter in den recht-
lichen Status eines "Vorbestraften" versetzt. 314
Die de lege lata bestehenden Unterschiede in der Ausgestaltung der Sanktionen
ändern zwar nichts daran, daß es sich sowohl bei der Kriminalstrafe als auch bei
der Geldbuße des Ordnungswidrigkeitenrechts ihrer Rechtsnatur nach um repressi-
ve staatliche Sanktionen handelt. 315 Sie sind aber ein Indiz dafür, daß die Abgren-
zung der bei den ihrem Wesen nach nicht qualitativ unterscheidbaren Unrechtsbe-
reiche insoweit nach quantitativen Maßstäben zu erfolgen und hierbei das Maß des
Unrechtsgehalts der Tat dem Gewicht der Sanktion zu entsprechen hat. Wenn es
sich aber beim Kriminalstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht um zwei nur
graduell unterscheidbare Unrechtsbereiche handelt, deren Abgrenzung nach dem
Prinzip der Subsidiarität zu erfolgen hat, bedeutet dies, daß die Ausgestaltung als
Ordnungswidrigkeit dann geboten ist, wenn auch die mildere Art der repressiven
Sanktionierung den mit dieser staatlichen Reaktion auf einen Normbruch verfolg-
ten Sinn und Zweck zu erreichen vermag. 316 Entscheidend wäre hiernach, welches
308 BVerfGE 20,323,331; Göhler, OWiG, Vor § I Rdnr. 10; Schoreit, GA 1967,225,232;
Weber, ZStW 92 (\ 980), 313, 315; Mattes, Untersuchungen, S. 290, 292 f.; Michels, Hand-
lung, S. 33.
309 Mattes, ZStW 82 (\970), 25, 30; ders., Untersuchungen, S. 288 f.
310 Appel, Verfassung, S. 505; Bohnert, in: KK-OWiG, Einl. Rdnr. 81; H. Mayer, StrafR
AT, S. 71 f.
311 Mattes, Untersuchungen, S. 290; Michels, Handlung, S. 33.
312 Vgl. Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil 111, § I Rdnr. 4, der davon spricht, daß die
Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts "weniger Druck" erzeugen.
313 Mitsch, Ordnungswidrigkeiten, Teil III, § I Rdnr. 3.
314 Vgl. Lagodny, Strafrecht, S. 437; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 49.
316 Appel, Verfassung, S. 506 f., 554 ff.; Lagodny, Strafrecht, S. 146; Roxin, StrafR AT,
Teilbd. I, § 2 Rdnr. 49; Schmidhäuser, StrafR AT, 8/105 f.
108 4. Kap.: Die Beschränkung auf ein Kernstrafrecht
317 Seelmann, Strafrecht, S. 197 f.; vgl. auch Tiedemann, ÖJZ 1972,285,290 sowie Kind-
häuser, Gefährdung, S. 343 ff.; Kuhlen, GA 1986,398,406; Lagodny, Strafrecht, S. 359 so-
wie Kunz, Bagatellprinzip, S. 159 ff., der einerseits auf gesellschaftlich existente Strafbedürf-
nisse abstellen will, der andererseits aber dem Gesetzgeber die Berechtigung zuspricht, die-
sen Strafbedürfnissen nicht stets nachzugeben (a. a. 0., S. 163 ff.).
318 Voraussetzung ist aber stets, daß es sich um Verhaltensweisen handelt, bei denen die
Legitimität einer repressiven staatlichen Reaktion im Grundsatz außer Frage steht. Soweit
nicht nur das Gewicht der repressiven Sanktion, sondern die grundsätzliche Legitimität der
Kriminalisierung dieser Verhaltensweisen in Frage steht, wäre die Abdrängung in das Ord-
nungswidrigkeitenrecht keine Lösung der Problematik, da sich nur das Gewicht, nicht aber
der Charakter der repressiven Ahndung ändern würde; vgl. Weigend, Festschrift für Miyaza-
wa, S. 556 (bzgl. straßenverkehrsrechtlicher Verstöße).
319 Vgl. Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 149 ff.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 156 ff., 189 ff.
v. Zwischenergebnis
Die Auseinandersetzung mit den zur Lösung der Legitimitätsprobleme des mo-
demen Präventionsstrafrecht bisher entwickelten Ansätze hat deutlich gemacht,
daß es verfehlt wäre, die Problematik auf eine Entscheidung "zwischen Funktiona-
lismus und ,alteuropäischem' Prinzipiendenken,,322 zurückführen zu wollen. Die
obigen Ausführungen haben einerseits ergeben, daß Strafrechtsnormen notwendi-
gerweise gesellschaftliche Funktionen erfüllen müssen, da sie sonst als ein unver-
hältnismäßiger staatlicher Zwangsmitteleingriff dem Verdikt der Verfassungswid-
rigkeit unterfallen würden. 323 Andererseits hat sich gezeigt, daß die Funktionalität
einer Strafrechtsnorm allein deren Legitimität ebenfalls nicht zu begründen ver-
mag. Auch die unter funktionalen Gesichtspunkten als probates Mittel erscheinen-
de Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen darf die personale Freiheitssphäre
des einzelnen nur so einschränken, daß die "berechtigten Freiheitsansprüche des
Individuums" gewahrt bleiben. 324 Der Beitrag, der von strafrechtlichen Normen
zur Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu erwarten ist, hängt -
wie insbesondere von Stratenwerth und PriUwitz bereits zutreffend hervorgehoben
- entscheidend davon ab, inwieweit tradierte Grundsätze der Zurechnung straf-
rechtlicher Verantwortlichkeit ohne Aufgabe rechtsstaatlich unverzichtbarer Frei-
heitssicherungen so modifiziert werden können, daß die präventive Wirksamkeit
des Strafrechts gesteigert wird. Mit anderen Worten: Entscheidend ist, welche
Deliktstypen legitimerweise im (Kriminal-)Strafrecht zur Anwendung kommen
dürfen.
321 Vgl. auch die Abwägungskriterien bei Feinberg, Vol. I, S. 203 ff.. 216 f.
322 So aber das Generalthema der im Mai 1995 in Rostock abgehaltenen Strafrechtslehrer-
tagung.
323 Vgl. oben S. 54 ff.
324 Vgl. oben S. 47 ff.
5. Kapitel
Nachfolgend soll der Frage nachgegangen werden, was das "modeme" Straf-
recht seinem Wesen nach ausmacht und welche Besonderheiten in der Zurech-
nungsstruktur der Straftatbestände des "modemen" Strafrechts festzustellen sind.
Da eine umfassende Aufarbeitung des Phänomens des "modemen" Strafrechts im
Rahmen einer einzelnen Untersuchung schon aus Kapazitätsgrunden nicht geleistet
werden kann, muß die Analyse von vornherein darauf beschränkt werden, Tenden-
zen und Ergebnisse der jüngeren Strafrechtsreform beispielhaft zu verdeutlichen.
Die Auswahl der in die Untersuchung einbezogenen Teilbereiche orientiert sich
weitgehend an den von Hassemer als zentral benannten Bereichen des "modemen"
Strafrechts:
,,Das zentrale Gebiet strafgesetzlicher Neuerungen ist der Besondere Teil, sowohl im StGB
als auch im Nebenstrafrecht. ( ... ) Die zentralen Gebiete strafgesetzlicher Neuerungen
sind: Umwelt, Wirtschaft, Datenverarbeitung, Drogen, Steuer, Außenhandel, überhaupt:
,organisierte Kriminalität·... l
Angesichts dessen, daß alle der von Hassemer als zentrale Gebiete des "moder-
nen" Strafrechts hervorgehobenen Bereiche entweder noch heute Teil des sog. Ne-
benstrafrechts sind oder aber die heute im Kernstrafrecht angesiedelten Straftatbe-
stände aus dem Nebenstrafrecht in das StGB übernommen wurden, muß die Ana-
lyse die Entwicklung im Nebenstrafrecht einbeziehen. Beispielhaft soll insoweit
die Entwicklung und Struktur des Betäubungsmittelstrafrechts aufgearbeitet wer-
den. Als weitere Beispiele rur eine auf die "Pönalisierung ganzer Bereiche des ge-
sellschaftlichen Lebens" abzielende Reform (auch) im Bereich des Kernstrafrechts
werden die auf die Bekämpfung umweltschädigender und wirtschaftsdelinquenter
Verhaltensweisen abzielenden Bemühungen analysiert. Schließlich soll - insoweit
über die von Hassemer beispielhaft benannten Bereiche hinausgehend - auf die in
jüngster Zeit als Reaktion auf Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie,
Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin in der Bundesrepublik Deutschland
geschaffenen bzw. in der Schweiz im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Straf-
tatbestände eingegangen werden.
Die bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts sowohl von der Masse der Bevöl-
kerung als auch von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der politischen Ent-
scheidungsträger als weitgehend selbstverständlich hingenommene unbegrenzte
Verfügbarkeit der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden hat sich in den letzten
Jahrzehnten zu einem Problemfeld von elementarer gesellschaftspolitischer Bri-
sanz entwickelt. Die wachsende Bedeutung, die dem Schutz der natürlichen
Umwelt zugemessen wurde, schlug sich zu Beginn der 70er Jahre in der Neukodi-
fizierung bzw. Reform von ca. 600 Gesetzen und Verordnungen nieder, deren vor-
nehmliches Ziel darin bestand, den zuständigen Verwaltungsbehörden eine voraus-
schauend-planende Bewirtschaftung sowie den präventiv-kontrollierenden Schutz
einzelner Umweltmedien zu ermöglichen. 2 In die als gewichtiger angesehenen Ko-
difizierungen des Umweltrechts wurden durchgängig Normen eingestellt, durch
die Zuwiderhandlungen gegen die in den jeweiligen Gesetzen statuierten Hand-
lungsnormen bzw. mit denen verwaltungsrechtlich nicht genehmigte Beeinträchti-
gungen der jeweils geschützten Umweltmedien unter Strafe gestellt bzw. als Ord-
nungswidrigkeitentatbestände ausgestaltet wurden? Strafrechtlich geahndet wer-
den sollten insbesondere Gewässerverunreinigungen, bestimmte Formen des Um-
gangs mit Abfällen sowie Luftverunreinigungen.
Gewässerverunreinigungen waren zwar bereits 1957 durch das Wasserhaushalts-
gesetz unter Strafe gestellt worden. 4 Zielsetzung des WHG 1957 war es aber noch
gewesen, Gewässer als Nahrungsmittel, Rohstoff und Betriebsmittel zu erhalten. 5
Im Rahmen einer Bewirtschaftungskonzeption wurde die strafrechtliche Verant-
wortlichkeit an die Verletzung bestimmter Rechtsnormen des WHG gebunden, die
den Schutz der Gewässer gegen Verunreinigungen oder sonstige nachteilige Verän-
derungen ihrer Eigenschaften geWährleisten sollten. 6 Die Beschränkung der ein-
7 Durch das 4. Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes vom 26. 4. 1976, BGBI.
I, S. I 109; vgl. hierzu Riegel, NJW 1976, 783 ff. In der Literatur waren entsprechende Forde-
rungen erhoben worden, vgl. z. B. Kohlhaas, ZfW 1974, 331, 340.
8 BT-Drucks. 7/888, S. 21; 7/1088, S. 20.
9 Zu § 38 WHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. 12. 1976, BGBI. I, S. 3017,
vgl. Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92 (1980), 912, 924 Anm. 49; Leibinger, Beiheft zu
ZStW 90 (1978), 69, 74 f. m. w. N.; Riegel, NJW 1976,783,784 f.; Triffterer, Umweltstraf-
recht, S. 43 f.; Wernicke, NJW 1977, 1662, 1663.
10 Vgl. BT-Drucks. 11/2072, S. 15.
11 V gl. den schriftlichen Bericht des 2. Sonderausschusses - Wasserhaushaltsgesetz - über
den Entwurf eines Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushalts, BT-Drucks. 11 13536, S. 15.
12 BT-Drucks. 7/888, S. 12.
13 Vgl. hierzu: Wernicke, NJW 1977, 1662, 1666 ff.
gitimität der Ausgestaltung als abstraktes Gefährdungsdelikt wurde aus der beson-
deren Gefahrenträchtigkeit der inkriminierten Verhaltensweisen und aus der hohen
Wertigkeit der zu schützenden Rechtsgüter - Leben und Gesundheit der Bürger -
hergeleitet. 17 In Fällen einer konkreten Gefährdung von Leib, Leben oder Sachen
von bedeutendem Wert war wiederum ein Qualifikationstatbestand einschlägig
(§ 16 Abs. 3, 4 AbfG 1977).18 Für den unbefugten Umgang mit Kernbrennstoffen
und sonstigen radioaktiven Stoffen wurden mit den §§ 45 ff. des Atomgesetzes ei-
genständige Straftatbestände geschaffen. 19
Im Bereich des Immissionsschutzrechts wurden die ursprünglich in der GewO
enthaltenen Strafbestimmungen im Jahre 1974 durch die §§ 63 f. BImSchG 20 ab-
gelöst. Auch die §§ 63 f. BImSchG knüpften an die Verletzung bestimmter Betrei-
berpflichten an. Unter Strafe gestellt wurden das Betreiben einer genehmigungsbe-
dürftigen Anlage ohne Genehmigung sowie Zuwiderhandlungen gegen bestimmte
durch Rechtsverordnungen oder aufgrund von Rechtsverordnungen durch Verwal-
tungsakte ergangener Anordnungen, wobei - dem Zuge der Zeit entsprechend -
auf das Erfordernis einer konkreten Gefährlichkeit des Anlagenbetriebs verzichtet
wurde (§ 63 BImSchG 1974). Soweit es zu einer konkreten Gefährdung des Le-
bens oder der Gesundheit eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem
Wert kam, wurden diese Fälle durch einen Qualifikationstatbestand erfaßt (§ 64
BImSchG 1974).2 1
8 Wohlers
114 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
24 BT-Drucks. 8/2382, S. 1,9 ff.; 8/3633, S. 19,21; vgl. auch Sack, NJW 1980, 1424.
Die Verlagerung in das Kernstrafrecht war auch in der strafrechtsdogrnatisch-kriminalpoliti-
sehen Diskussion der 70er Jahre mehrheitlich befürwortet worden, vgl. Laufhütte/Möhren-
schlager, ZStW 92 (1980), 912 f. m. w. N. in Fußn. 3; kritisch hierzu: Steindorf, in: LK, Vor
§ 324 Rdnr. 4 m. w. N.
25 Perschke, wistra 1996, 161; Vgl. auch Heine 1Meinberg, Gutachten, D 19, die anmerken,
daß "kein prinzipieller Mangel an Strafnormen" bestanden habe.
26 BT-Drucks. 8/2382, S. 13 ff.; vgl. auch Bottke, JuS 1980,539,540; LaufhüttelMöh-
renschlager, ZStW 90 (1980), 912, 928 ff.; Sack, NJW 1980, 1424 f.; Tiedemann, Neuord-
nung, S. 15, 19 f.; Triffterer, Umweltstrafrecht, S. 43 ff.
27 BT-Drucks. 8/2382, S. 15 f.; vgl. auch Bottke, JuS 1980,539,540; Laufhütte 1Möhren-
schlager, ZStW 92 (1980), 912, 940 ff.; Tiedemann, Neuordnung, S. 16, 20 ff.; Triffterer,
Umweltstrafrecht, S. 47 ff.
28 Vgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1426.
wurden auch die §§ 327, 328 dStGB 1980 nicht mehr als konkrete Gefahrdungsde-
likte ausgestaltet. Gleiches gilt für den § 329 dStGB 1980, der an die Stelle des
§ 63 Abs. I BImSchG trat. 31 Die bisher in den jeweiligen Spezialgesetzen geregel-
ten Qualifikationstatbestände für die Fälle der konkreten Gefährdung von Leib, Le-
ben oder fremden Sachen von bedeutendem Wert wurden in § 330 dStGB zusam-
mengefaßt. 32 Die einzige durch das 18. StrÄndG neu geschaffene Vorschrift des
§ 330a dStGB ist keine dem Umweltstrafrecht im engeren Sinne zuzurechnende
Strafnonn, sondern ein die Herbeiführung (konkreter) Lebens- und Leibesgefahren
inkriminierender Straftatbestand. 33
Durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität34 wurde die
mit dem 18. StrÄG eingeleitete Refonn des Umweltstrafrecht mit gleicher Ziel-
richtung fortgesetzt. 35 Als wesentliche Neuerungen wurden ein eigenständiger
Straftatbestand zum Schutz des Bodens (§ 324a dStGB) geschaffen und der § 325
dStGB 1980 in zwei Tatbestände aufgespalten: § 325 dStGB n.F. dient dem Schutz
der Luft als Umweltmedium, während die Verursachung von Länn, Erschütterun-
gen und nichtionisierenden Strahlen nunmehr durch § 325a dStGB erfaßt werden
soll.36
Anders als das Umweltstrafrecht der Bundesrepublik Deutschland ist das gelten-
de Umweltstrafrecht der Schweiz auch heute noch in seiner Gesamtheit Teil des
Nebenstrafrechts. 37 In Umkehrung des für die Bundesrepublik Deutschland festzu-
stellenden Trends hin zu einer kernstrafrechtlichen (Teil-)Lösung wurde in der
Schweiz sogar der ursprünglich im Kernstrafrecht angesiedelte Straftatbestand der
Tierquälerei (Art. 264 schwStGB) in das Tierschutzgesetz überführt. 38 Die in der
Literatur befürwortete39 Überführung bestimmter Straftatbestände des Umwelt-
Vgl. Sack, NJW 1980, 1424, 1428 f.; Steindorf, in: LK, § 330 Rdnr. 1.
32
33 Steindorf, in: LK, § 330a Rdnrn. 1 f.
3S Vgl. Möhrenschlager, NStZ 1994, 512, 514; zum Gesetzgebungsverfahren vgl. auch:
Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnrn. 8a ff.
36 Vgl. i.e. Breuer, JZ 1994, 1077, 1081 f., 1087 f.; Möhrenschlager, NStZ 1994,512,
516 ff.; Schmidtl Schöne, NJW 1994,2514,2517 f.
37 Ronzani, Erfolg, S. 5. Zur geschichtlichen Entwicklung des Umweltstrafrechts in der
Schweiz vgl. den Überblick bei Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 18 ff. sowie Vest/Ronzani,
Landesbericht, S. 391 ff.
3S Vgl. Schultz, ZStR 99 (1982), 1,9; ders., ZStW 97 (1985), 371, 378; kritisch hierzu -
im Hinblick auf die in der Verlegung in das Nebenstrafrecht liegende Abwertung des Tier-
schutzes - Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 232.
39 Vgl. Z. B. Roy Kunz, Verletzungen, S. 79; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 487.
8'
116 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
strafrechts in das Kernstrafrecht dürfte nun aber wohl für die Zukunft zur Entschei-
dung anstehen. 4o
De lege lata bedrohen die Straftatbestände des Umweltstrafrechts der Schweiz
als Annexbestimmungen Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Normen des Um-
weltverwaltungsrechts mit Strafe. 41 Neben den Strafbestimmungen einiger Spe-
zialgesetze - verwiesen sei hier insbesondere auf die Art. 70 ff. des Gewässer-
schutzgesetzes (GSchG),42 Art. 43 ff. des Strahlenschutzgesetzes (StSG)43 und
Art. 29 ff. des Atomgesetzes 44 - sind in diesem Zusammenhang die Art. 60 f. des
Umweltschutzgesetzes (USG) von Bedeutung, mit denen Verstöße gegen Verhal-
tensnormen pönalisiert werden, die entweder in dem am 1. Januar 1985 in Kraft
getretenen Umweltschutzgesetz selbst, in anderen umwelt(verwaltungs)rechtlichen
Gesetzen oder aber auf gesetzlicher Grundlage im Verordnungswege statuiert wer-
den. 45 Erfaßt werden Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Normen des Umwelt-
verwaltungsrechts. Zusätzlich zu diesen, gemeinhin als abstrakte Gefahrdungsde-
likte interpretierten Grundtatbeständen46 finden sich regelmäßig Qualifikationstat-
bestände, die eingreifen, wenn es zu einer "schweren" Gefahrdung von Menschen
oder bestimmten Umweltmedien gekommen ist. 47
40 Jenny und Kunz treten in dem Bericht und Vorentwurf zur Verstärkung des strafrechtli-
chen Schutzes der Umwelt für eine Zweiteilung der umweltstrafrechtIichen Normen ein. Die
an die Mißachtung bestimmter Normen des Umweltverwaltungsrechts anknüpfenden straf-
rechtlichen Annexbestimmungen sollen ihrer Auffassung nach im Nebenstrafrecht verblei-
ben. Die neu einzuführende Deliktsgruppe der Tatbestände mit originär ökologischem
Rechtsgutsbezug soll dagegen - zur Beförderung eines gesellschaftlichen Wertewandels - in
das Kernstrafrecht eingestellt werden; vgl. i.e. Jenny I Kunz, Bericht, S. 55 ff.
41 Jenny I Kunz, Bericht, S. 15; Ronzani, Erfolg, S. 5 f.; Vest I Ronzani, Landesbericht,
S.399,447
42 Vgl. hierzu: Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1292.
52 Zu Art. 37 GSchG 1971 vgl. Roy Kunz, Verletzungen, S. 69 ff.; Piraccini, Vergehenstat-
bestände, S. 41 ff.
53 Vgl. nur Piraccini, Vergehenstatbestände, S. 106 ff., 111.
54 Vgl. Piraccini, Vergehenstatbestände, S. 101 ff.
58 Vgl. Peter-AIexis Albrecht, KritV 1988, 182, 188 ff.; Hassemer, NStZ 1989,553,554;
ders., Neue Kriminalpolitik 1989,47; Hegenbarth, ZRP 1981,201,202; Kasper, Erheblich-
keitsschwelle, S. 111 ff.; Kindhäuser, Universitas 1992,227,233; Müller-Tuckfeld, Abschaf-
fung, S. 475 f.; Seelmann, KritV 1992,452,460; Voß, Gesetzgebung, S. 28, 74.
59 Hegenbarth, ZRP 1981,201; Kindermann, Gesetzgebung, S. 222.
62 Vgl. Hassemer, NStZ 1989,553,554 ff.; Pritwitz, Strafrecht und Risiko, S. 255; Seel-
mann, KritV 1992,452,461 ff.; Voß, Gesetzgebung, S. 46 f.
120 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
66 Vgl. Hassemer, NStZ 1989,553,554; Hegenbarth, ZRP 1981, 201, 202; Schmehl, ZRP
1991,251,252.
67 Blankenburg, ARSP 1977, 31, 42; Voß, Gesetzgebung, S. 154 ff.
69 Hassemer, NStZ 1989, 553, 556; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 256.
11. Das Umweltstrafrecht 121
Anders als bei den gesetzgeberischen Wertbekenntnissen soll bei Nonnen mit
Appellcharakter zwar grundsätzlich beabsichtigt sein, auf das faktische Verhalten
der Gesellschaftsmitglieder einzuwirken. Diese Beeinflussung soll aber nicht di-
rekt und durch den instrumentellen Einsatz der Nonn bewirkt werden; beabsichtigt
seien vielmehr Bewußtseinsveränderungen, die zukünftig - in der Regel erst auf
längere Sicht - zu autonomen Verhaltensänderungen führen sollen. 7o Als ein typi-
sches Beispiel gilt hier neben einigen Straftatbeständen des "modemen" Wirt-
schaftsstrafrechts71 in erster Linie das Umweltstrafrecht: 72 Mit der Überführung
der entsprechenden strafbewehrten Verbote aus den Gesetzen des Nebenstrafrechts
in das StGB habe der Gesetzgeber das Bewußtsein für die Gefährlichkeit und So-
zialschädlichkeit umweltgefährdenden Verhaltens stärken wollen, um so allmähli-
che Bewußtseins- und Verhaltens änderungen zu bewirken. 73
Die Beispiele zeigen, daß der gemeinsame Charakter gesetzgeberischer Wertbe-
kenntnisse und Nonnen mit Appellcharakter darin besteht, eine Wertentscheidung
des Gesetzgebers zu dokumentieren und ihr nonnativen Ausdruck zu verleihen.
Der Unterschied beider Nonntypen liegt allein darin, daß bei reinen gesetzgeberi-
schen Wertbekenntnissen ein gesellschaftlich bereits akzeptierter Wert symbolisiert
wird, während bei Nonnen mit Appellcharakter die der gesetzgeberischen Wertent-
scheidung zugrundeliegende Wertvorstellung in der Gesellschaft erst begründet
oder aber bestärkt werden soll. Die sachliche Berechtigung der Unterscheidung
beider Nonntypen ist allerdings zumindest für den Bereich des materiellen Straf-
rechts zu bezweifeln. Angesichts der Schwierigkeiten, verläßliche empirische Da-
ten über die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Wertvorstellungen zu ennit-
teIn, läuft die Zuordnung eines Straftatbestandes zu einer der beiden Kategorien
darauf hinaus, daß sich der Zuordnende entweder an den im Gesetzgebungsverfah-
ren geäußerten Vorstellungen oder Einschätzungen orientiert oder aber seine per-
sönlichen Vorstellungen zugrundelegt. In jedem Fall handelt es sich um eine mehr
oder weniger willkürliche Zuordnung. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß
die instrumentelle Aktualität einer Nonn von ihrem gesellschaftlichen Umfeld ab-
hängig ist, das wiederum selbst Wandlungen unterliegt. Deutlich wird dies, wenn
man sich vor Augen führt, daß selbst eine stets als rein theoretisches Wertbekennt-
nis eingeschätzte Nonn wie der § 220a dStGB (V6Ikennord) unter bestimmten
Voraussetzungen - hier durch die mit den kriegerischen Auseinandersetzungen der
verschiedenen Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien verbundenen Kriegsver-
brechen - praktische Anwendungsrelevanz erfahren kann. 74
70 Voß, Gesetzgebung, S. 28
71 Vgl. hierzu Bussmann, KritV 1989, 126, 127 f.
72 Hassemer, NStZ 1989,553,554; Hegenbarth, ZRP 1981,201,202.
73 Peter-Alexis Albrecht, KritV 1988, 182, 188; Voß, Gesetzgebung, S. 28, 74.
74 Vgl. BayObLG, NJW 1998,392 mit Bespr. Ambos, NStZ 1998,138; vgl. auch Ambos/
Ruegenberg, NStZ-RR 1998, 161, 170 mit Hinweis auf eine weitere Entscheidung des OLG
Düsseldorf.
122 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Darüber hinaus bestehen aber auch aus normativer Sicht Bedenken, allein be-
stimmte Normen des materiellen Strafrechts als "symbolisch" zu etikettieren und
damit implizit einen sachlichen Unterschied zu anderen Strafnormen zu behaupten.
Zu beachten ist, daß die unmittelbare Funktion strafrechtlicher Normen darin be-
steht, bestimmte gesetzgeberische Wertentscheidungen zu symbolisieren und die
Grundlage für die repressive Ahndung etwaiger Verstöße gegen diese Normansprü-
che zu schaffen. Angesichts der derzeit - und aufgrund der bestehenden Schwierig-
keiten bei der Beurteilung präventiver Wirkungen wohl auch zukünftig - fehlenden
empirischen Daten kann die präventive Funktion strafrechtlicher Normen allenfalls
qualitativ begründet, nicht aber quantitativ nachgewiesen werden. 75 Wegen des
Fehlens hinreichender empirischer Daten über die tat~ächliche gesellschaftliche
Verbreitung abweichenden Verhaltens, haben Aussagen zum "symbolischen" Cha-
rakter bestimmter Strafnormen, zumindest dann, wenn ein signifikanter Unter-
schied zu anderen Strafnormen behauptet werden soll, eher den Charakter eines
Glaubensbekenntnisses als den einer empirischen Aussage. 76 Da grundsätzlich al-
len Strafnormen eine symbolische Funktion zukommt, ist die Etikettierung eines
Straftatbestandes als symbolische Norm mithin einerseits eine Selbstverständlich-
keit, andererseits aber irreführend, wenn und soweit mit dieser Bezeichnung ein
grundSätzlicher Unterschied zu anderen nicht-symbolischen Strafnormen behauptet
werden soll.77
R2 Hassemer, NStZ 1989, 553, 554; Voß, Gesetzgebung, S. 146 f., 197 ff.
124 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Blickt man auf die Strafrechtswissenschaft, ist festzustellen, daß sowohl die Fra-
ge der grundsätzlichen Strafwürdigkeit umweltschädigender Verhaltensweisen als
auch die Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung dieser Straftatbestände erst
mit der Überführung einiger dieser Tatbestände in das StGB zu einer Thematik
wurde, die auch außerhalb eines kleinen Kreises von Spezialisten für erörterungs-
würdig erachtet wurde. 99 Ein positiv zu bewertender Effekt der Überführung eini-
ger Normen des Umwelt(neben)strafrechts in das StGB dürfte damit jedenfalls
darin zu sehen sein, daß die - von einigen Autoren 100 mit dieser Verlagerung als
Hoffnung verknüpfte - "verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung und Durch-
dringung" dazu beitragen kann, daß diese, ihrer Struktur nach für das Nebenstraf-
recht geradezu prototypisch anmutenden Tatbestände zum Gegenstand strafrechts-
wissenschaftlicher Forschung geworden sind.
jeweils in Frage stehenden Straftatbestände dem Schutz eines als strafwürdig anzu-
erkennenden Rechtsgutes dienen. Der durch die Ausgestaltung der Zurechnungs-
voraussetzungen bedingten Deliktsstruktur wird demgegenüber eine al1enfal1s
nachrangige Bedeutung zugestanden, die sich im wesentlichen darin erschöpfen
sol1, die Art und Weise der über den Rechtsgutsgedanken als grundsätzlich legitim
erwiesenen Anwendung strafrechtlichen Zwangs technisch auszugestalten. 102
Die Suche nach "dem" Rechtsgut der de lege lata gelt~nden Straftatbestände des
bundesdeutschen Umweltstrafrechts ergibt, daß die §§ 324 ff. dStGB selbst eine in
sich konsistente Rechtsgutskonzeption nur bedingt erkennen lassen. 103 Zwar war
in der Begründung des Entwurfs hervorgehoben worden:
"Der Lebensraum und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen - und zwar so-
wohl des einzelnen Menschen, als auch der gesamten Bevölkerung - verdienen den straf-
rechtlichen Schutz und die Beachtung, die im Kernbereich des Strafrechts zum Schutze
der klassischen, insbesondere individualrechtlichen Rechtsgüter seit langem selbstver-
ständlich sind. Der strafrechtliche Schutz darf sich nicht allein auf den Schutz menschli-
chen Lebens und menschlicher Gesundheit vor den Gefahren der Umwelt beschränken; er
muß auch den Schutz elementarer Lebensgrundlagen wie Wasser, Luft und Boden als Be-
standteile menschlichen Lebensraumes einbeziehen und solche ökologischen Schutzgüter
auch als Rechtsgüter anerkennen. Die Tatbestände des Lebens- und Gesundheitsschutzes
im Strafgesetzbuch, mit denen auch Fälle von umweltschädigendem Verhalten geahndet
werden können, reichen nicht aus. Eine Ergänzung und Erweiterung des Strafrechts, wie
dies zunehmend schon in den verwaltungsrechtlichen Umweltschutzgesetzen, insbesonde-
re in den letzten Jahren vorgenommen wurde, ist daher unumgänglich. " 104
9 Wohler.
130 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
staltung des Tatbestands die Auffassung zugrunde lag, daß der Umgang mit Kern-
brennstoffen per se eine (abstrakte) Gefahrdung der oben genannten Individual-
rechtsgüter beinhaltet. Durchbrochen wird das Prinzip, Individualrechtsgüter im
Vorfeld einer Verletzung zu schützen, dadurch, daß in § 328 Abs. 3 dStGB auch
eine Gefahrdung von "ihm (dem Tater) nicht gehörenden Tiere(n)" unter Strafe ge-
steilt wird. Aus der Abweichung von der Formulierung "oder fremde Sachen" er-
gibt sich, daß hier auch die Gefahrdung von herrenlosen Tieren ausreichen SOIl.116
Die Tatbestände, die bestimmte Tatigkeiten unter Strafe stellen, dienen teilweise
dem Individualgüterschutz (§§ 325a Abs. 1, Abs. 2, 326 Abs. 1 Nr. 1-3 dStGB),
teilweise dem Schutz von Umweltmedien bzw. Bestandteilen der Natur (§ 326
Abs. 1 Nr. 4 dStGB) und teilweise der Gewährleistung der Dispositions- und Ent-
scheidungsbefugnis der zuständigen Genehmigungsbehörden (§ 327 dStGB).ll7
Darüber hinaus werden auch wieder ökologische Rechtsgüter geschützt, nämlich
herrenlose Tiere (§ 325a Abs. 2 dStGB) und Schutzgebiete (§ 329 Abs. 1 Satz 1
dStGB). Bei den Straftatbeständen, die auf bestimmte Schutzobjekte abstellen,
werden bestimmte Umweltmedien, 118 aber auch Individualrechtsgüter geschützt
(§§ 324a Abs. 1 Nr. 1,325 Abs. 1, Abs. 2 LY.m. Abs. 4 dStGB).
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Das geltende bundesdeutsche Umwelt-
strafrecht scheint sowohl auf den Schutz klassischer Individualrechtsgüter abzuzie-
len, als auch auf den Schutz bestimmter UmweItmedien, wobei es sich zum Teil
um elementare Lebensgrundlagen der Menschheit handelt (Wasser, Boden, Luft)
zum Teil aber auch ökologische Werte geschützt werden sollen, bei denen der Be-
zug auf den Schutz elementarer Lebensgrundlagen der Menschheit nicht ohne wei-
teres ersichtlich ist. Bei einigen Strafttatbeständen stellt sich darüber hinaus die
Frage, ob sie letztlich nicht bloßen Verwaltungsungehorsam als solchen unter Stra-
fe stellen.
Das oben skizzierte, relativ heterogen erscheinende Bild des geltenden bundes-
deutschen Umweltstrafrechts findet eine Entsprechung in der Auseinandersetzung
116 Vgl. - zu parallel gelagerten Problemstellungen - Steindorf, in: LK, § 325 Rdnr. 12;
§ 325a Rdnr. 23.
ll7 So z. B. Tröndle, StGB, § 327 Rdnr. 1 sowie - zu § 327 StGB a.F. - Maurach I Schroe-
der/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnr. 20; Rengier, NJW 1990,2506,2513; Horn,
Natur + Recht 1988,63,64; ders., NJW 1988,2335,2337; ders., in: SKStGB, § 327 Rdnr. 1.
118 §§ 324, 324a Abs. 1 Nr. 1: Wasser; § 324a Abs. 1 Nr. 2: Boden; § 325 Abs. 2: Luft;
§§ 324a Abs. 1 Nr. 1, 325 Abs. 1: Flora und Fauna; § 329 Abs. 2, Abs. 3: Schutzgebiete.
Durch die Legaldefinition in § 325 Abs. 4 dStGB bekommt der Schutz der Luft in § 325 Abs. 2
dStGB allerdings auch einen individualschützenden Charakter.
H. Das Umweltstrafrecht 131
über die Frage, weIche Rechtsgüter überhaupt legitimerweise Schutzgut von Straf-
tatbeständen des Umweltstrafrechts sein können. Im wesentlichen sind hier vier
Auffassungen zu unterscheiden:
Von einigen Autoren wird eine sog. (rein) ökologische Sichtweise vertreten. 1l9
Rechtsgut des Umweltstrafrechts sind nach dieser Auffassung die Umwelt und die
ihr angehörenden Umweltgüter um ihrer selbst willen. Die Umwelt bzw. deren Be-
standteile, insbesondere: Boden, Luft, Wasser, Flora und Fauna, werden als eigen-
ständige Schutzgüter angesehen, unabhängig davon, ob ihr Schutz den Lebensbe-
dingungen des Menschen dienlich ist oder nicht. 120
Im Gegensatz hierzu wurde - insbesondere von den Verfassern des Alternativ-
entwurfes zum Strafgesetzbuch - eine rein anthropozentrische Sichtweise vertre-
ten. 121 Schutzgut umweltstrafrechtlicher Normen sind nach dieser Auffassung al-
lein die klassischen Individualrechtsgüter des Menschen, also insbesondere Leben
und Gesundheit. 122 Die Umweltmedien (Luft, Boden, Wasser, Flora und Fauna)
sind allein deshalb und nur in dem Maße schutzwürdige Handlungsobjekte straf-
rechtlicher Verbotsnormen, als diese dem Schutz menschlichen Lebens und
menschlicher Gesundheit vor den Gefahren der Umwelt dienen. Diese, zwischen-
zeitlich in der aktuellen Diskussion weitgehend nicht mehr vertretene Auffassung,
hat jüngst durch die von Hohmann propagierte Anwendung der personalen Rechts-
güterlehre Hassemers eine Renaissance erfahren. 123
Insbesondere von Verwaltungsrechtlern wird die Auffassung vertreten, daß im
Hinblick auf die Notwendigkeit, umweltstrafrechtliche Normen auf die jeweils zu-
grundeliegenden umweltverwaltungsrechtlichen Vorgaben abzustimmen (Stich-
wort: Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts), als Rechtsgut umweltstraf-
rechtlicher Normen allein die behördlich verwaltete Umwelt in Betracht kommen
könne. Schutzgut der Umweltstrafnormen soll hiernach z. B. der von den VerwaJ-
tungsbehörden definierte Zustand eines Gewässers sein 124 bzw. die Dispositionsbe-
fugnis der Wasserbehörden, den Wasserhaushalt zum Wohle der Allgemeinheit
und im Einklang damit zum Nutzen der einzelnen Bürger in optimaler Weise zu
ordnen und zu bewirtschaften. 125
Zu den ethischen Grundlagen vgl. die Darstellung bei Hohmann, Rechtsgut, S. 74 ff.
119
9'
132 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
können. 13l Im Ergebnis würde die Rechtsordnung damit die Funktion verlieren,
grundlegende Regelungen für die soziale Kooperation originär-moralischer Sub-
jekte l32 zu begründen. 133
Der Versuch, die Rechtsordnung über die Regelung des sozialen Miteinanders
hinaus zu einer auch die ökologisch-naturwissenschaftliche Weltordnung umfas-
senden Gesamtregelung weiterzuentwickeln, würde im übrigen auch die Grenzen
dessen sprengen, was eine von Menschen gesetzte Ordnung überhaupt zu leisten
vermag. Eine ökologische Rechtsordnung müßte, wollte man nicht den von vorn-
herein zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, die Entwicklung der Welt
zum Stillstand zu bringen, um so den status quo zu konservieren, zunächst einmal
Maßstäbe für die Bewertung bestimmter Entwicklungen besitzen. Aufgrund des
notwendigerweise nur unzureichenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes
der Menschheit und der Unmöglichkeit, den Faktor ,.Mensch" - auch nur gedank-
lich - aus dem Prozeß der Entwicklung des Planeten Erde herauszurechnen, 134 wä-
re es bereits rein praktisch unmöglich, abschließende Entscheidungen darüber zu
treffen, ob bestimmte, großräumig ablaufende Entwicklungen als Teil der natürli-
chen Entwicklung schützenswert wären, oder aber bekämpft werden müssen, weil
es sich um unnatürliche Eingriffe in die natürliche Entwicklung handelt. 135 Da
man nicht mit der Natur, sondern nur über diese kommunizieren kann,136 ist es un-
abdingbar, daß der Mensch bzw. die für die Rechtsetzung zuständigen Organe der
menschlichen Gesellschaft definieren, welche Rechte der Natur bzw. einzelnen
(ggf. welchen?)137 Bestandteilen der Natur zukommen und wie notwendigerweise
131 Zur notwendigen Korrespondenz von Rechten und Pflichten vgl. Krawietz, Festschrift
für Stree/Wessels, S. 34; a.A. Leimbacher, Rechte, S. 50 f. In älteren Rechtsordnungen war
diesem Grundsatz dadurch Rechnung getragen worden, daß beispielsweise auch Tiere als
Adressaten von (Rechts-)Pflichten behandelt und folgerichtig unter anderem "bestraft" wer-
den konnten, vgl. Höffe, Moral, S. 219 f.; Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 78 ff., wo allerdings
in Abrede gestellt wird, daß hierbei die Vorstellung der Rechtssubjektivität der Tiere maßge-
bend war.
132 Zu den Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung originärer moralischer Subjekte
vgl. beispielsweise Papageorgiou, Schaden, S. 197 ff.; Rawls, Theorie, S. 548 ff.
133 Vgl. Hirsch, Bekämpfung, S. 16; Roxin, JuS 1966,377,381; ders., StrafR AT, Teilbd.
I, § 2 Rdnr. 9; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 159 f.; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I.
Einzuräumen ist, daß nach der hier vertretenen Auffassung die Legitimation des Straftatbe-
stands der Tierquälerei allenfalls als eine Ausnahmevorschrift zu begründen ist, vgl. hierzu
die Diskussion bei Merke\, Strafrecht, S. 285 ff., 310, der dafür eintritt, das "Dogma, Straf-
recht dürfe ausschließlich menschliche Interessen oder Bedingungen menschlichen Sozialle-
bens schützen" insoweit zu modifizieren.
134 Vgl. Höffe, Moral, S. 105 f.; Saladin, recht 1/1989, I: Der Mensch habe schon immer
in die Natur eingegriffen; neuartig seien allein die Art und Weise sowie das Ausmaß der Ein-
griffe.
135 Vgl. Fetscher, Festschrift für Maihofer, S. 146: Es könne nur darum gehen, Eingriffe in
die Natur zu steuern, nicht aber darum, diese zu unterlassen.
136 Krawietz, Festschrift für Stree/Wesels, S. 34 sowie - aus diskursethischer Perspektive
- Ott, Begründung, S. 327 f.: Es handele sich um "advokatorische Diskurse", die Natur habe
die Rolle eines "moral patient" inne.
134 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
131 Vgl. hierzu Hohmann, Rechtsgut, S. 98, der zu Recht darauf hinweist, daß etwa auch
das Aids-Virus bzw. das Pocken virus entsprechende "Rechte" haben könnten bzw. haben
müßten; vgl. auch Arthur Kaufmann, Festschrift für Spende!, S. 63 ff.; Schreiber, Herausfor-
derung, S. 15.
138 Fetscher, Festschrift für Maihofer, S. 141 f.; Hohmann, Rechtsgut, S. 95 ff.; Kareklas,
Rechtsgut, S. 15 f.; Kindhäuser, Festschrift für Helrnrich, S. 970 f., 978 f.; Kühl, Rechtsgüter,
S. 261; Lüderssen, zitiert nach; Vitt, ZStW 105 (1993), 803, 807; Müller-Tuckfeld, Abschaf-
fung, S. 462; Schreiber, Herausforderung, S. 14; vgl. auch Singer, Ethik, S. 173 ff.
139 Krawietz, Festschrift für Stree 1Wesseis, S. 37; vgl. auch Leimbacher, Universitas
1994,106,111/112; Vogel-Etienne, Tierschutz, S. 172 f.
140 Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 13, mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß es
so etwas wie eine "unberührte" Natur nie gegeben hat; ders., ZStW 105 (1993), 679, 683;
vgl. auch Schreiber, Herausforderung, S. 15, sowie Krawietz, Festschrift für Stree 1 Wesseis,
S. 32: "naturalistischer Fehlschluß".
141 Keller, ZStW 107 (1995), 457, 476 Anm. 71; Tiedemann, Neuordnung, S. 28.
142 Vgl. Birnbacher, Natur, S. 132 ff.; Geddert-Steinacher, Umweltschutz, S. 35; Höffe,
Moral, S. 211 ff.; Schreiber, Herausforderung, S. 15; Vest/Ronzani, Landesbericht, S. 443
m. w. N.
143 Bloy, JuS 1997,577,579 f.; vgl. auch Singer, Ethik, der zutreffend darauf hinweist,
daß erstens auch eine anthropozentrische Sichtweise den Schutz der Natur verlangt (a. a. 0.,
S. 340 f., 346 f.) und es - zweitens - auch den Vertretern ökologischer Konzeptionen in der
Sache letztlich darum gehe, eine stärkere Betonung ökologischer Aspekte gerade gegenüber
ökonomischen Belangen durchzusetzen (a. a. 0., S. 350 ff.). Daß diese Einschätzung wohl
zutreffend ist, zeigt sich beispielhaft an den Ausführungen von Leimbacher, Rechte, S. 112 ff.
und passim; vgl. auch Tribe, Plastikbäume, S. 56 ff.
11. Das Umweltstrafrecht 135
144 Daß Ausmaß der aktuellen Umweltprobleme und auch das Tempo des Artensterbens
sind kein qualitativ. sondern vielmehr ein quantitativ "neues" Problem, vgl. Höffe, Moral,
S. 111 ff.
145 In dieser Richtung wohl Rengier NJW 1990, 2506, 2514.
146 Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rn. 13; vgl. auch Feinberg, Rechte der Tiere, S. 158.
136 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
fertigungsgrund darstellt 147 und unabhängig davon, ob auf die nonnative Rechts-
lage (Verwaltungsrechtsakzessorietät) oder auf die durch Einzelentscheidungen der
Verwaltung entstandene Rechtslage (Verwaltungsaktsakzessorietät) abzustellen
ist,148 macht die Abhängigkeit des Umweltstrafrechts von den Vorgaben des Um-
weltverwaltungsrechts dieses in seiner Effektivität von den zugrundeliegenden ver-
waltungsrechtlichen Regelungen und der diese Regelungen umsetzenden Verwal-
tungspraxis abhängig. 149 Offensichtlich ist dies insbesondere dort, wo nur das Han-
deln entgegen einer verwaltungsrechtlichen Anordnung den Tatbestand erfüllt,
oder das Innehaben einer Genehmigung ein tatbestandsmäßiges Verhalten oder
aber die Rechtswidrigkeit ausschließt. Ist im ersten Fall eine verwaltungsrechtliche
Verbotsverfügung nicht erlassen bzw. im zweiten Fall eine verwaltungsrechtlich
gesehen rechtswidrige Genehmigung erteilt worden, werden von der im Umwe1t-
147 Während eine Genehmigung bei § 324 dStGB nahezu unstreitig als ein die Rechtswid-
rigkeit umweltschädigenden Verhaltens ausschließender Rechtfertigungsgrund angesehen
wird (Cramer, in: Schönke/Schröder, Vorbern. §§ 324 ff. Rdnr. 11 f.; Horn, in: SKStGB, Vor
§ 324 Rdnr. 12; § 324 Rdnr. 6; Steindorf, in: LK, § 324 Rdnr. 72 ff.; Tröndle, StGB, Vor § 324
Rdnr. 4b; § 324 Rdnr. 7; vgl. aber auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 37, der zumin-
dest für bestimmte Fallgruppen eine Zuordnung des Merkmals zum Tatbestand befürwortet;
w.N. zu abweichenden Ansichten bei Heine/Meinberg, Gutachten, D 46 Fußn. 90; gleiches
muß im Hinblick auf das in § 326 dStGB enthaltene Merkmal des "unbefugten" HandeIns
gelten; vgl. Steindorf, in: LK, § 326 Rdnr. 133), wird das Verhalten "unter Verletzung verwal-
tungsrechtIicher Pflichten" bei den §§ 324a ff. StGB von der h.M. durchgängig als ein Merk-
mal des objektiven Tatbestands verstanden (Cramer, in: Schönke I Schröder, Vorbem.
§§ 324 ff. Rdnr. 13; Kühl, in: Lackner, § 325 Rdnr. 5; Scheele, Bindung, S. 31 f.; Steindorf,
in: LK, § 325 Rdnr. 26; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 342 f.; Tröndle, StGB,
§ 330d Rdnr. 5, Vor § 324 Rdnr. 4b; Wimmer, JZ 1993,67,68; Winkelbauer, Verwaltungsak-
zessorietät, S. 20 ff.; a.A. Lenckner, Festschrift für Pfeiffer, S. 40 ff.; Horn, UPR 1983,362,
366, die für eine Einordnung als objektive Bedingung der Strafbarkeit eintreten), während
andere Autoren danach unterscheiden wollen, ob ein Tatbestand auch ohne Rekurs auf die
Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflichten einen ausreichend substantiierten Unrechtssach-
verhalt umschreibt, oder aber das Handeln gegen ein Verbot bzw. ohne Genehmigung als In-
dikator für die strafwürdige Sozialschädlichkeit unverzichtbar erscheint (Frisch, Verwal-
tungsakzessorietät, S. 27 ff.; Rengier, ZStW 101 (1989),874,878 f.).
Letztlich dürften beide Auffassungen zu keinen wesentlich abweichenden Ergebnissen füh-
ren. Maßgebend hierfür ist, daß man einen auf die Verletzung verwaltungsrechtIicher Pflich-
ten verzichtenden Unrechtssachverhalt im Bereich umweltschädigenden Verhaltens nur dann
als in sich hinreichend substantiiert wird ansehen können, wenn die zugrundeliegende Ver-
haltsensweisen von der Primärrechtsordnung per se mißbilligt, mithin verwaltungsrechtlich
einem repressiven Verbot (mit Befreiungsvorbehalt) unterworfen werden. Gehört eine Verhal-
tensweise dagegen dem Bereich der grundrechtlich geschützten, aber einem präventiven
Kontrollvorbehalt der Verwaltung unterworfenen Freiheitssphäre an, dürfte die Verletzung
verwaltungsrechtIicher Pflichten regelmäßig ein für die Sozialschädlichkeitswertung unver-
zichtbarer Indikator sein.
148 Zu dieser Unterscheidung vgl. Breuer DÖV 1987, 169, 179; ders., NJW 1988,2072,
2078; ders., JZ 1994, 1077, 1083 f.; Bergmann, Strafbewehrung, S. 21 ff., 34 ff.; Jennyl
Kunz, Bericht, S. 58 f.; Rogall, GA 1995,299,302 f.; Scheele, Bindung, S. 19 ff.; Vest/Ron-
zani, Landesbericht, S. 463.
149 Die Vollzugsdefizite des Umweltstrafrechts sind insoweit (auch) durch die normative
Struktur des Umweltstrafrechts bedingt, vgl. Kunz, recht 1/1990, 15, 17.
11. Das Umweltstrafrecht 137
150 Vgl. z. B. Kühl, in: Lackner, Vor § 324 Rdnr. 3; Schall, wistra 1992, 1,4; ders., NJW
1990,1263,1265 f.
151 Vgl. Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 31.
152 Dies ist der unstreitige Kerngehalt des Topos "Einheit der Rechtsordnung"; vgl. Ro-
gall, GA 1995,299,308 f.; Scheele, Bindung, S. 65 f. m. w. N.
153 Appel, Verfassung, S. 431 ff.; Backes, ZRP 1975,229; Frisch, Verwaltungsakzessorie-
tät, S. 7 ff., 34 ff.; Breuer, NJW 1988, 2072,2078; Heine/Meinberg, GA 1990, 1, 13/14;
Heine, NJW 1990, 2425,2426; Jenny 1Kunz, Bericht, S. 53 f.; Kasper, Erheblichkeitsschwel-
le, S. 85 ff.; Kindhäuser, Festschrift für Helrnrich, S. 979 f.; Kuhlen, ZStW 105 (1993), 697,
709; Meurer, NJW 1988, 2065, 2068/2069; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 521;
Scheele, Bindung, S. 25 f.; Schünemann, Festschrift für Triffterer, S. 443/444; Vest/Ronza-
ni, Landesbericht, S. 463; vgl. auch Hassemer, Festschrift für Lenckner, S. 114 f., der aller-
dings der Auffassung ist, die "auf den Feldern des modernen Strafrechts vermutlich unaus-
weichliche" VerwaItungsakzessorietät bedrohe "die Geltung strafrechtlicher Normen über-
haupt".
138 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
154 Heine/Meinberg, GA 1990, 1, 13, 17 f.; Meinberg, 'ZStW 100 (1988), 112, 155; Ro-
gaB, Festschrift Universität Köln, S. 523; SchaB, wistra 1992, 1,4; Scheele, Bindung, S. 261
27; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 342.
Vgl. auch Alkalay, Umweltstrafrecht, S. 9/10 sowie Kunz, recht 1/1990, 15, 18: Ein et-
waiger Verzicht auf die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung müßte durch den Rückgriff
auf konkrete Gefährdungsdelikte kompensiert werden.
155 A.A. Schünemann, wistra 1986,235,239 f.; ders., Festschrift für Triffterer, S. 444 ff.
Sein Vorschlag, danach zu unterscheiden, ob die jeweils zugrundeliegende Verfügung mit
Wirkung ex tunc oder nur ex nunc zurückgenommen werden könne (wistra 1986, 235, 240),
verkennt, daß zivil- und öffentlich-rechtliche Rückwirkungsfiktionen für das Strafrecht ohne
Bedeutung sind (so zutreffend: Rengier, 'ZStW 101 (1989),874,891; vgl. auch Scheele, Bin-
dung, S. 38 ff., 43). Schünemann will den Bedenken gegen die Konsequenzen seines Stand-
punktes auf der subjektiven Ebene Rechnung tragen (vgl. Schünemann, Festschrift für Triff-
terer, S. 447 f.)
Auch die im Schrifttum im Hinblick auf die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstra-
frechts erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. z. B. SchaB, NJW 1990, 1263,
1266; ders., wistra 1992, 1,5) greifen im Ergebnis nicht durch; vgl. BVerfGE 75, 329 ff. so-
wie aus der Literatur insbesondere Kühl, Festschrift für Lackner, S. 829 ff.
156 Vgl. Bloy, JuS 1997,577,578; Kuhlen, 'ZStW 105 (1993),697,705.
157 Kareklas, Rechtsgut, S. 105; RogaB, Festschrift Universität Köln, S. 511.
158 Kareklas, Rechtsgut, S. 105 Fußn. 50; Kasper, ErheblichkeitschweBe, S. 65; Rengier,
NJW 1990, 2506, 2509; Wachenfeld, Minimierungsgebot, S. 47 f.
11. Das Umweltstrafrecht 139
162 Vgl. auch Zaczyk, Unrecht, S. 174: Umwelt als ein Element der vermittelten Freiheit.
140 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
5. Zurechnungsprobleme im
Anwendungsbereich umweltstrafrechtIicher Normen
Die obigen Ausführungen haben ergeben, daß den Nonnen des Umweltstraf-
rechts mit der Sicherung der für das Überleben der Gattung homo sapiens notwen-
digen Umweltbedingungen eine für sich gesehen legitime Zielsetzung zugrunde
liegt. Als problematisch erweist sich weniger das den Straftatbeständen des gelten-
den Umweltstrafrechts zugrundeliegende Rechtsgut als solches, als vielmehr die
sich aus der - wie oben dargelegt: notwendigen - verwaltungsakzessorischen Aus-
gestaltung dieser Straftatbestände ergebende Einschränkung des Anwendungsbe-
reichs umweltstrafrechtlicher Nonnen. Diese führt einerseits dazu, daß die Straftat-
bestände des geltenden Umweltstrafrechts ihrer Struktur nach Beeinträchtigungen
im Bagatellbereich und / oder Fälle erfassen, bei denen sich das Unrecht der straf-
rechtlich erfaßten Handlungen in der bloßen Nichtbeachtung vorgeschalteter Ge-
nehmigungsverfahren erschöpft,163 während andererseits - wiederum als Folge der
notwendigen verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung - ein nicht unerheblicher
Anteil umweltschädigender Verhaltensweisen dem strafrechtlichen Zugriff bereits
im Ansatz dadurch entzogen ist, daß entweder eine Genehmigung vorliegt oder
aber ein verwaltungsrechtlich gesehen materiell rechtmäßiges Verbot nicht erlassen
wurde.
Hieraus folgt, daß die Nonnen des Umweltstrafrechts sich dadurch von anderen
Strafnonnen unterscheiden, daß sie nicht erst aufgrund faktischer Vollzugsdefi-
zite, 164 sondern bereits aus strukturellen Gründen notwendigerweise darauf be-
schränkt sind, die jeweiligen Schutzgüter nicht umfassend, sondern allein vor den
nach der Primärrechtsordnung unzulässigen Beeinträchtigungen zu schützen. 165
Bedenken erweckt der bereits im Ansatz eingeschränkte Zugriff des Umweltstraf-
rechts zunächst deshalb, weil gerade die prima vacie besonders gewichtig erschei-
nenden industriellen Inanspruchnahmen bzw. Belastungen von Umweltmedien in
der Regel durch entsprechende verwaltungsrechtliche Genehmigungen straflos ge-
stellt werden. 166 Indes: Die Beschränkung auf verwaltungsrechtlich unzulässige
Belastungen der Umwelt ist - wie oben gezeigt wurde - unumgehbar. Die Frage,
ob es angemessen ist, bestimmte Umweltbelastungen strafrechtlich zu verfolgen,
wenn andere (verwaltungsrechtlich erlaubte) von vornherein nicht verfolgbar sind,
beurteilt sich danach, ob ein hinreichend gewichtiges Interesse daran besteht, daß
wenigstens die unzulässigen (verwaltungsrechtlich nicht erlaubten) Belastungen
unterbleiben.
Des weiteren führt die verwaltungsakzessorische Ausgestaltung umweltstraf-
rechtlicher Normen dazu, daß es - jedenfalls vom Wortlaut der Norm her - nicht
darauf ankommt, ob ein bestimmtes Verhalten materiellrechtlich gesehen als ver-
waltungsrechtlich zulässig anzusehen ist, sondern vielmehr entscheidend sein soll,
ob das Verhalten durch formell wirksame ErIaubnisakte der Verwaltung gedeckt
ist. Insbesondere dann, wenn man mit einer in der Literatur verbreitet vertretenen
Auffassung die bloße Genehmigungsfähigkeit formell-illegaler Verhaltensweisen
als strafrechtlich irrelevant erachtet,167 stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die
Frage, ob die bloße Mißachtung verwaltungsrechtlicher ErIaubnisvorbehalte eine
strafrechtliche Ahndung legitimieren kann. Gleiches gilt für die Straftatbestände,
die - wie z. B. die §§ 327, 328 dStGB - den bloßen Umgang mit bestimmten Stof-
fen unter Strafe stellen. Wird hier bloßer Verwaltungsungehorsam um seiner selbst
willen gestraft oder gibt es legitime Gründe, derartige Verhaltensweisen unter
Strafandrohung zu verbieten?
Da zu konstatieren ist, daß es sich bei den, dem strafrechtlichen Zugriff offenste-
henden UmweItbelastungen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil um sozialübliche
Verhaltensweisen handelt, die im übrigen - jedenfalls für sich gesehen - regelmä-
ßig auch eher dem Bagatellbereich zuzurechnen sind, stellt sich die weitere Frage,
ob trotz des Fehlens einer evidentermaßen sozialethisch zu mißbilligenden Un-
rechtshandlung an der kriminalstrafrechtlichen Ahndung festgehalten werden
kann. 168 Zu klären bleibt, ob die erfaßten umweltschädigenden Verhaltensweisen
im Hinblick auf den allenfalls minimalen Unrechtsgehalt der jeweiligen Einzel-
handlung 169 aus dem Strafwürdigkeitsbereich auszuscheiden sind,170 oder aber im
167 Vgl. eramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem §§ 324 ff. Rdnr. 19; Maurach/Schroe-
der 1 Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 2, § 58 Rdnr. 6; Meurer, NJW 1988, 2065, 2068; Rogall,
Festschrift Universität Köln, S. 525; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 343 sowie
Tröndle, StGB, Vor § 324 Rdnr. 4d m. w. N.
Andere Autoren wollen die Strafbarkeit des formell illegalen Verhaltens dann ausschlie-
ßen, wenn der Täter materiellrechtlich gesehen einen gebundenen Anspruch auf Erteilung der
Erlaubnis hat, vgl. Bloy, ZStW 100 (1988), 485, 506; Schall, NJW 1990, 1263, 1267. Ob
gleiches auch dann gelten kann, wenn die Genehmigung im Ermessen der Behörde steht, ist
umstritten: ablehnend z. B. Breuer, NJW 1988, 2072, 2079; Papier, Natur + Recht 1986, 1,6;
Rengier, ZStW 101 (1989), 874, 902 ff.; bejahend z. B. Frisch, Verwaltungsakzessorietät,
S. 46 ff.
16M Vgl. Heine, Vollzugsdefizite, S. 18/19; Ronzani, Erfolg, S. 94 ff.; Seelmann, NJW
1990,1257,1260.
169 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 22 ff.
142 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Hinblick auf die letztlich per saldo doch erheblichen Umweltbelastungen generell
oder unter bestimmten Voraussetzungen als strafwürdig anzusehen sindY I
In der Literatur wird die Pönalisierung bagatell artiger Umweltverstöße von eini-
gen Autoren jedenfalls für die Fälle als legitim erachtet, in denen der Täter wisse
bzw. damit rechne, daß sich sein Verhalten im Zusammenwirken mit dem Verhal-
ten anderer Personen der Summe nach als erheblich darstellen werde bzw. durch
den für sich gesehen minimalen Beitrag des Täters die Erheblichkeitsschwelle
überschritten werde. 172 Hiergegen spricht zunächst, daß der Ansatz, allein die Per-
sonen strafrechtlich haften zu lassen, deren Einzelbeitrag entweder dazu geführt
hat, daß eine Vielzahl von Bagatellbeeinträchtigungen im Ergebnis die Erheblich-
keitsschwelle überschritten haben bzw. die wirksam geworden sind, nachdem die
Erheblichkeitsschwelle bereits überschritten wurde, die strafrechtliche Verantwort-
lichkeit weitgehend willkürlich verteilt. Da für den Bürger nicht erkennbar ist, ob
eine nach normativen Grundsätzen gesetzte Erheblichkeitsschwelle faktisch bereits
überschritten ist bzw. durch seinen Minimalbeitrag überschritten werden wird,
würde letztlich der Zufall darüber entscheiden, wer die strafrechtliche Verantwort-
lichkeit für eine bestimmte Umweltschädigung zu tragen hätte. 173 Im übrigen: Eine
überzeugendende Begründung, warum allein derjenige haften soll, der zufälliger-
weise nicht den vorletzten, sondern den Einzelbeitrag geliefert hat, durch den die
Erheblichkeitsschwelle dann überschritten wurde, ist nicht ersichtlich, insbesonde-
re deshalb nicht, weil ohne die vorhergehenden Einzelbeiträge ein Überschreiten
der Erheblichkeitsschwelle nicht verursacht worden wäre. 174
Will man den Täter nicht für seinen eigenen Bagatellbeitrag, sondern für den
über der Erheblichkeitsschwelle liegenden "Gesamtschaden" haften lassen,175 wür-
de sich im übrigen die Frage stellen, ob dies überhaupt möglich ist, wenn die Vor-
aussetzungen für eine Zurechnung fremden Verhaltens gemäß den §§ 25 ff. dStGB
nicht gegeben sind, ob also mit anderen Worten das bloße Wissen um das mögliche
Fehlverhalten anderer Personen eine ausreichende Grundlage dafür sein kann, dem
Täter die durch andere Personen verursachten Umweltbeeinträchtigungen als eige-
nes Unrecht zuzurechnen. 176 Da eine gesetzliche Grundlage für die Verpflichtung
des einzelnen, sein Verhalten im Hinblick auf das zu antizipierende Verhalten an-
derer Personen einzuschränken, nicht ersichtlich ist,I77 wird man eine strafrechtli -
che Verantwortlichkeit des einzelnen aus der bloßen Mitverursachung des Gesamt-
schadens nicht ohne weiteres herleiten können. 17S
176 Ablehnend hierzu Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 75 ff., 87 ff.: Die §§ 324 ff.
dStGB würden zu Beteiligungsdelikten umgestaltet, was mit dem geltenden System der Be-
teiligungsformen nicht zu vereinbaren sei.
177 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 142: Keine GarantensteIlung des Ersthan-
deInden gegenüber dem Umweltmedium und I oder den anderen handelnden Personen; die
Annahme von Ingerenz wäre zirkelschlüssig.
178 Vgl. Bloy, JuS 1997, 577, 583; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 153 ff., 168 f.;
Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 140; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 264 f.; Puppe, in: NK,
Vor § 13 Rdnr. 77; Samson, ZStW 99 (1987), 617, 628 ff.
179 Geht man - wie es der h.M. entspricht und auch hier vertreten wird, vgl. oben S. 139-
davon aus, daß § 324 dStGB das Umweltmedium Wasser als notwendige Vorausetzung für
die Existenz der Gattung homo sapiens schützen soll, muß sich auch die Definiton des delik-
tischen Erfolgs an dieser Prämisse orientieren, was zur Folge hat, daß nicht jeder Verursa-
chungsbeitrag für sich gesehen bereits als "Erfolg" zu behandeln ist. Vgl. Daxenberger, Ku-
mulationseffekte, S. 56 ff.
180 Kuhlen GA 1986,389,399 ff.; ders., ZStW 105 (1993), 697, 716; ablehnend zur Kon-
zeption des "Kumulationsdelikts": Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 241 ff.
144 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
können. Der Egoismus des Einzelnen, der dahin tendiere, die Normbefolgung den
anderen Gesellschaftsmitgliedern zu überlassen, selbst aber Verhaltensnormen
dann zu mißachten, wenn die Normübertretung für sich gesehen vorteilhaft sei,
zwinge dazu, auch diese Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen abzusi-
chem. 182
Die weitere Frage, ob als Sanktionsnorm ein Straftatbestand die angemessene
Lösung sei, hält Kuhlen für noch nicht abschließend geklärt, er tendiert aber dahin,
dies zu bejahen, da angesichts der mit der drohenden Umweltzerstörung verbunde-
nen gewaltigen Gefahren eine moralische Verpflichtung bestehe, dieser Entwick-
lung mit dem hierzu geeigneten Instrument der Kumulations(strat)tatbestände ent-
gegenzuwirken. Angesichts des hohen Ranges der zu schützenden Rechtsgüter, der
mit dem Phänomen der großen Zahl verbundenen gravierenden sozialen Probleme
und im Hinblick darauf, daß eine überzeugende materielle Abgrenzung von Straf-
taten und Ordnungswidrigkeiten bisher nicht gelungen sei, müsse und dürfe der
Gesetzgeber sich daran orientieren, daß die Ausgestaltung der Sanktionsnorm als
Straftatbestand präventiv wirksamer sei als die Wahl eines Ordnungswidrigkeiten-
tatbestandes. 183 Daß es angesichts der durch den Verzicht auf jeglichen aktuellen
Unrechtsgehalt der konkreten Tathandlung l84 bedingten Auflösung der überkom-
menen Zurechnungs strukturen des traditionellen Strafrechts 185 ausreichen kann,
die Legitimität der Pönalisierung für sich gesehen definitionsgemäß ungefährlicher
Kumulationsbeiträge allein aus der Zweckmäßigkeit einer derartigen Regelung l86
abzuleiten, erscheint indes zweifelhaft. Kuhlen selbst erkennt an, "daß reine Ku-
mulationsbeiträge schwerlich den Handlungs- und Gesinnungsunwert aufweisen,
der ,die schwere moralische Disqualifizierung durch die öffentliche Strafe' erfor-
derlich macht". 187 Diese Erkenntnis wirft dann allerdings nicht nur die von Kuhlen
als Möglichkeit in den Raum gestellte Frage auf, ob nicht z. B. eine Herabstufung
bloßer Kumulationsbeiträge bei Gewässerverschmutzungen zur Ordnungswidrig-
keit angemessen wäre. 188 Zu klären bleibt nicht nur, ob es mildere Möglichkeiten
der Sanktionsbewehrung gibt; entscheidend ist, ob eine positive Begründung dafür
181 Vgl. hierzu: Buchanan, Ethics Vol. 76 (1965 -66), 1,6 ff.
182 Kuhlen, GA 1986,389,402; ders., ZStW 105 (1993), 697, 721.
183 Kuhlen, GA 1986,389,405 f.
184 Hierauf beruht der Vorwurf, der Typus des Kumulationsdeliktes verstoße gegen den
Schuldgrundsatz (vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 65 f.; Müller-Tuckfeld, KritV
1995,69,75; ders., Abschaffung, S. 466; Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 520) und
verkenne den ultima-ratio-Gedanken, weil die entsprechenden Tatbestände letztlich keine
Grenze mehr hätten (vgl. Schulz, Kausalität, S. 83 f.)
185 Vgl. See1mann, NJW 1990, 1257, 1260; ders., Natur, S. 286/287.
186 Die im übrigen auch in Frage gestellt werden kann, vgl. Daxenberger, Kumulationsef-
fekte, S. 65 sowie F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 145 ff., der sich gegen die
"unhaltbare Instrumentalisierung des Strafrechts zu Zwecken der Volkspädagogik" wendet.
187 Kuhlen, GA 1986,389,403 ff.
188 Kuhlen, GA 1986,389,408; vgl. auch ders., ZStW 105 (1993), 697, 717.
11. Das Umweltstrafrecht 145
gefunden werden kann, daß die repressive Ahndung überhaupt eine sachlich ange-
messene Reaktion darstellt. 189
6. Zwischenergebnis
Geht man von der Prämisse aus, daß die Androhung und Anwendung strafrecht-
lichen Zwangs dann legitim sein soll, wenn hierdurch elementare Lebensinteressen
vergesellschafteter menschlicher Individuen geschützt werden sollen, kann die
grundsätzliche Schutzwürdigkeit der für die Fortexistenz menschlicher Lebewesen
unabdingbaren Umweltmedien nicht ernsthaft bestritten werden. Die im Schrifttum
soweit ersichtlich nicht in Frage gestellte Annahme der grundsätzlichen Schutz-
würdigkeit vermag die Frage nach der Legitimität der Straftatbestände des Um-
weltstrafrechts indes in keiner Weise zu beantworten, sondern bildet erst die Basis,
auf deren Grundlage dann die Erwägungen zur Legitimität der Anwendung straf-
rechtlichen Zwangs aufbauen müssen. Die eigentliche Problematik der Straftatbe-
stände des "modernen" Umweltstrafrechts liegt nicht im Rechtsgut, sondern in der
Deliktsstruktur der betreffenden Straftatbestände begründet. 190
Werden Verhaltensweisen als strafwürdig definiert, die überhaupt erst im Zu-
sammenwirken mit anderen - für sich gesehen ebenfalls nicht schädigungswirksa-
men - Verhaltensweisen zu einer im Hinblick auf die (Fort-)Existenz der Mensch-
heit relevanten Beeinträchtigung der jeweiligen Umweltmedien führen können,
handelt es sich um Straftatbestände, die nicht ohne weiteres in das tradierte Sche-
ma der strafrechtlichen Deliktstypen eingeordnet werden können. Die Strafwürdig-
keit von Kumulationsbeiträgen bedarf einer näheren Begründung, die zum einen -
entgegen Kuhlen - nicht einfach allein aus der Notwendigkeit abgeleitet werden
kann, entsprechende Verhaltensverbote praktisch durchzusetzen, die aber zum an-
deren - entgegen F. Herzog - auch nicht mit dem pauschalen Verweis auf die Frag-
würdigkeit eines Gefährdungsstrafrechts überzeugend widerlegt werden kann.
Gleiches gilt im Ergebnis auch für die Straftatbestände des Umweltstrafrechts, bei
189 Bejahend z. B. Ahn, Dogmatik, S. 121, mit dem Hinweis darauf, daß es sich bei der
abstrakten Gefährdung um einen nach unten offenen Begriff handele und das tatbestandsmä-
ßige Verhalten des Kumulationsdelikts dem geschützten Rechtsguts bereits "kritisch gegen-
übersteht". Ablehnend dagegen Brahms, Definition, S. 145, die eine unstatthafte Unrechtsbe-
gründung ex iniuria tertii moniert, sowie Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 61 ff., der die
Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen für kriminalpolitisch kontraproduktiv und für un-
vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erachtet. Soweit Samson, ZStW 99 (1987), 617, 635,
meint, die Konzeption des Kumulationsdelikts laufe darauf hinaus, das Zurechnungsproblem
durch eine Veränderung der Erfolgsdefinition überflüssig zu machen, kann dem nicht gefolgt
werden.
190 So auch VestlRonzani, Landesbericht, S. 487/488: "Als eine zentrale Grundsatzfrage
des Umweltstrafrechts (wie auch anderer Teile des modemen Strafrechts) stellt sich die nach
Vorteilen und Risiken von (abstrakten) Gefahrdungsdelikten, bei denen die vereinfachte Zu-
rechnung durch eine Vorverlagerung des Strafrechts erkauft wird."
10 Wohlers
146 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
denen die bloße Mißachtung eines Erlaubnisvorbehalts als eine für sich gesehen
strafwürdige Verhaltensweise definiert wird. Da - wie oben dargelegt 191 - als
Rechtsgut dieser Straftatbestände nicht die Funktionsfähigkeit der Umweltverwal-
tung angesehen werden kann, stellt sich auch hier die Frage, ob und wenn ja wie
Straftatbestände mit einer derartigen Deliktsstruktur als legitim angesehen werden
können.
!97 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 15; atto, Jura 1989, 24, 26; Schubarth, ZStR 90
(1974), 384, 386.
198 Bottke, wistra 1991, I, 4; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 29 f., 64 ff.; Heinz, GA
1977, 193, 196; atto, ZStW 96 (1984), 339, 342; ders., MschrKrim 1980,397,399/400;
ders., Jura 1989,24,26; Tiedemann, Gutachten, C 29; ders., Wirtschaftsstrafrecht 2, S. 50 ff.;
ders., JuS 1989,689,691; ders., Tatbestandsfunktionen, S. 67, 69; Weber, ZStW 96 (1984),
376, 378; a.A. Schubarth, ZStR 90 (1974), 384, 389, der eine abstrakte Bestimmung der
Straftatbestände, die zu den Wirtschaftsdelikten zu rechnen sind, für unmöglich erachtet.
199 In der Literatur scheint sich die Einteilung des Gesamtbereiches in (I) Strafnormen
zum Schutz der Volkswirtschaft, (2) Strafnormen zum Schutz der Betriebswirtschaft, (3)
Strafnormen zum Schutz der staatlichen Finanzwirtschaft und (4) Strafnormen zum Schutz
der Allgemeinheit und des Verbrauchers durchzusetzen, vgl. atto, ZStW 96 (1984), 339,
351 ff. Auch hier ist aber bei bestimmten Deliktsgrupen - z. B. Verstöße gegen Arbeits-
schutz- und Unfallverhütungsvorschriften, Umweltdelikte, Steuer- und Zolldelikte - frag-
lich, ob diese Tatbestände bestimmte Schutzgegenstände wegen ihrer Funktion als Wirt-
schaftsfaktor erfassen (vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 65 ff.; atto, ZStW 96 (1984),
339. 353 f.).
200 Vgl. z. B. atto, ZStW 96 (1984), 339, 354 m. w. N.
10'
148 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
lung der nicht nur im Strafgesetzbuch selbst, sondern zu einem großen Teil in einer
Vielzahl von Gesetzen des Nebenstrafrechts verstreuten Normen des so verstande-
nen Wirtschaftsstrafrechts kann und soH an dieser SteHe nicht geleistet werden?03
Die sowohl in der Literatur zum Wirtschaftsstrafrecht als auch in den SteHungnah-
men zum "modemen" Strafrecht stets hervorgehobene besondere Bedeutung der
im Rahmen des 1. und 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität
(WiKGl04 neu in das StGB der Bundesrepublik Deutschland eingesteHten Straf-
tatbestände, rechtfertigt es, die nachfolgende Analyse beispielhaft auf die durch
diese bei den Reformgesetze geschaffenen neuen Straftatbestände des "modemen"
Wirtschaftsstrafrechts zu beschränken. Entsprechend bezieht sich die Analyse der
Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts in der Schweiz auf die Revision des Ver-
mögensstrafrechts aus dem Jahre 1995. 205
203 Einen Überblick über die - in ihrer Zuordnung im einzelnen nicht unumstrittenen -
Deliktsgruppen gibt Heinz, System, S. 167 ff.; vg!. auch Eisenberg, Kriminologie, § 47
Rdnr. 24; Kaiser, Kriminologie, § 74 Rdnrn. 24 ff.; Tiedemann, JuS 1989,689,691 ff.
204 Gesetze vorn 29.7. 1976, BGB!. I, S. 2034 sowie vorn 15.5. 1986, BGB!. I, S. 721.
205 Außen vor bleiben sowohl der 1987 in der Schweiz eingeführte sog. Insiderstraftatbe-
stand (Art. 161 schwStGB) als auch die in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutsch-
land neu geschaffenen Straftatbestände zur Bekämpfung der Geldwäsche (Art. 305bis
schwStGB sowie § 261 dStGB). Die Normen sind aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte (vg!.
hierzu - bezogen auf die Rechtsentwicklung in der Schweiz -: Ackermann, Geldwäsche, § 5
Rdnrn. 16 ff.; Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, 134 ff., 140 ff.; Heinel Hein, Landesbericht,
S. 10 10 f.; Heine I Spalinger, Landesbericht, S. 1369; Schmid, Insiderstrafrecht, S. 57 ff.;
Schubarth, Gedächtnischrift für Noll, S. 303 ff.; Trechsell Noll, StrafR AT I, S. 5) zwar kri-
minalpolitisch hochinteressant, dürften aber - gerade wegen ihres spezifischen Hintergrundes
- doch eher ungeeignet sein, Aufschlüsse über die im Rahmen der vorliegenden Untersu-
chung interessierenden "allgemeinen" Entwicklungstendenzen zu geben.
III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht 149
206 Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität wurde und wird als ein in erster Linie
prozessuales (insbesondere: Beweis-)Problem angesehen, vg\. Schultz, ZStW 97 (1985), 371,
395; ders. ZStR 99 (1982), 1,24; ders. ZStR 109 (1992),3,17 sowie die Botschaft über die
Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Strafbare
Handlungen gegen das Vermögen und Urkundenfälschung), in: BB\. 1991 11,969,978.
207 Forster, ZSR NF 114 (1995), 11, I, 149 ff.; Heine, Landesbericht, S, 723; Heine/Rou-
let, Landesbericht, S. 1304 f.; Kunz, ZBJV 132 (1996), 189, 190; Müller, ZStR 113 (1995), I,
4 und 10; Schmid, ZStR 104 (1987), 129; ders., Computer- sowie Check- und Kreditkarten-
kriminalität, § I Rdnr. I; ders., SJZ 91 (1995), I; Schild Trappe, ZBJV 133 (1997), I;
Schultz, ZStW 97 (1985), 371, 394 f.; ders. ZStR 99 (1982), 1,25; ders., ZStR 109 (1992), 3,
17 f.; Trechsell Noll. StrafR AT I, S. 5.
208 BB\. 199111,969,971; vg\. auch bereits Koller, ZStR 109 (1992),338,339: Das neue
Vermögensstrafrecht soll "die Voraussetzungen für eine erfolgreichere Bekämpfung der Wirt-
schaftskriminalität schaffen". Es soll "in erster Linie die verschiedenen Spielarten der Com-
puterdelinquenz sowie des Kreditkartenmissbrauchs erfassen."
209 Vg\. hierzu die Botschaft über die Aenderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches
und des Militärstrafgesetzes (Strafbare Handlungen gegen das Vermögen und Urkundenfäl-
schung), in: BB\. 1991 11,969,972 sowie 997 f.
150 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
210 Die Reform der Schuldbeitreibungs- und Konkursdelikte der Art. 163 bis 171
schwStGB stellt sich demgegenüber in erster Linie als der Versuch dar, die entsprechenden
Straftatbestände an ein geändertes normatives Umfeld anzupassen, vgl. hierzu i.e. Müller,
ZStR 113 (1995), 1,16.
211 Vgl. Kindhäuser, in: NK, Vor §§ 283 bis 283d Rdnr. 15; Tiedemann, in: LK, Vor § 283
Rdnr.38.
212 BT-Drucks. 7/3441, S. 34; vgl. auch die entsprechenden Forderungen von Tiedemann
in seinem Gutachten, zum 49. DJT sowie die Beschlüsse des 49. DJT, in: Verhandlungen des
49. DJT, 1972, Bd. I, C 45; Bd. 11, M 200.
m Außerdem sollte durch die Modifizierung der §§ 239 f. KO zum einen sichergestellt
werden, daß im Falle der Zahlungseinstellung bzw. Eröffnung oder Ablehnung des Konkurs-
verfahrens auch rechtlich neutrale Handlungen zu strafrechtlich relevantem Unrecht führen
konnten (vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 19). Zum anderen sollte die Effektivität des Konkurs-
strafrechts durch eine Ausweitung der Straftatbestände und den Verzicht auf mit Nach-
weisschwierigkeiten behaftete Tatbestandsmerkma1e (insbesondere: die in § 239 KO voraus-
gesetzte sog. Gläubigerbenachteiligungsabsicht) gestärkt werden (BT-Drucks. 7/344 I,
S. 19 f.). Daß damit der Anwendungsbereich der Konkursdelikte erweitert und die strafrecht-
liche Verantwortlichkeit im Ergebnis an eingeschränkte Voraussetzungen geknüpft wurde, ist
eine Frage, die später aufzugreifen sein wird (vgl. unten Seite 154 ff.).
214 BT-Drucks. 10/318. S. 12.25 ff.
III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht 151
Zur Bewertung dieser Tendenz der Gesetzgebung kann auf die entsprechenden
Ausführungen zum Umweltstrafrecht verwiesen werden. Auch hier gilt: Die vom
Gesetzgeber erwarteten präventiven Wirkungen der Verlagerung mögen zweifel-
haft und die Vorgehensweise des Gesetzgebers kriminalpolitisch fragwürdig sein;
in der Sache selbst kommt es allein darauf an, ob sich die Straftatbestände noch als
legitime Einschränkungen der "berechtigten Freiheitsansprüche der Bürger" be-
gründen lassen. Die Antwort auf diese Frage ist dann aber unabhängig davon, ob
sich die entsprechende Norm im StGB oder in einem Gesetz des Nebenstrafrechts
befindet.
Anders liegt es bei dem im Rahmen des 2. WiKG neu geschaffenen Straftatbe-
standes des Mißbrauchs von Scheck- und Kreditkarten (§ 266 b dStGB). Vorder-
gründig wollte der Gesetzgeber zwar auch mit diesem Straftatbestand eine durch
die Rechtsprechung des BGH219 im Grenzbereich zwischen Betrug und Untreue
entstandene Lücke des strafrechtlichen Vermögensschutzes schließen. 22o Zurück-
zuführen war auch diese Strafbarkeitslücke auf bestimmte Veränderungen im ge-
sellschaftlichen Umfeld, konkret: das Auftreten von Euroscheck- und Kreditkarten
als Zahlungsmittel. 221 Anders als bei den Straftatbeständen des Computerstraf-
rechts wurde mit der Einführung des § 266b dStGB aber nicht nur der Anwen-
dungsbereich bereits bestehender Normen an die technische Entwicklung ange-
paßt, sondern - je nach Sichtweise - ein spezieller Untreuetatbestand unter Ver-
zicht auf die Strafbarkeitsvoraussetzung der sonst bei § 266 dStGB vorausgesetz-
ten Vermögensbetreuungspflicht bzw. ein betrugsähnliches Delikt unter Verzicht
auf die bei § 263 dStGB notwendige Strafbarkeitsvoraussetzung des täuschungsbe-
dingten Irrtums kreiert. Diese Ausweitung des Strafbarkeitsbereiches durch Redu-
zierung von Strafbarkeitsvoraussetzungen legt es nahe, den § 266b dStGB weniger
als eine Folge der Anpassung strafrechtlicher Normen an das gewandelte gesell-
schaftliche Umfeld, sondern vielmehr als ein Beispiel für die im Anschluß näher
zu beleuchtende Tendenz des Gesetzgebers zu interpretieren, den Bereich straf-
rechtlich relevanter Verhaltensweisen durch die Reduzierung von Strafbarkeitsvor-
aussetzungen auszuweiten. Gleiches gilt für den ebenfalls als Reaktion auf die eine
Strafbarkeit verneinende Rechtsprechung des Bundesgerichtes222 innerhalb kürze-
ster Zeit 223 geschaffenen Art. 148 schwStGB. Die "Aushilfsfunktion" dieses in sei-
ner Notwendigkeit heftig umstrittenen Straftatbestandes 224 wird insbesondere dar-
318, S. 11, 16 ff., 31 ff.; 10/5058, S. 1,24,28 ff., 33 ff.; Bottke, wistra 1991, 1,6; Hettinger,
Entwicklungen, S. 19; Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 4, Rdnr. 65 für die Bundesre-
publik Deutschland.
219 Konkret war es die Entscheidung BGHSt 33, 244, die den Gestzgeber noch während
des bereits laufenden Gesetzgebungsverfahrens zur Schaffung des § 266b dStGB veranlaßte.
220 Vgl. BT-Drucks. 10/5058, S. 32 sowie Haffke, KritV 1991, 165, 167; Hirsch, Gedächt-
nisschrift für H. Kaufmann, S. 152; Kühl, in: Lackner, § 266b Rdnr. 1; Lenckner, in: Schön-
ke/Schröder, § 266b Rdnr. 1; Ouo, wistra 1986, 150, 151; Ranft, JuS 1988, 673, 674;
Schlüchter, 2. WiKG, S. 106 f.
221 Vgl. hierzu - bezogen auf die entsprechende Rechtlage in der Schweiz -: Buser, Straf-
taten, S. 45 ff., insbesondere S. 107 ff.; Eckert, Erfassung, S. 69 ff.; Schmid, ZStR 104
(1987),129,131 ff.; ders., ZSR NF 104 (1985), 11,135,214 ff.
222 Vgl. BGE 112 IV 79 und hierzu Müller, ZStR 113 (1995), I, 10; Rehberg / Schmid,
Strafrecht III, § 20 vor Ziff. I; Schild Trappe, ZBJV 133 (1997), I, 2 ff.
223 Vgl. Killias / Kuhn, Festschrift für Rehberg, S. 192.
224 Vgl. einerseits - kritisch - Buser, Straftaten, S. 118 ff.; Killias/Kuhn, Festschrift für
Rehberg, S. 190 m. w. N. sowie andererseits - bejahend - Schmidli, Missbrauch, S. 132 ff. In
der Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärge-
setzes vom 24. April 1991, BBl. 1991 11, 969, 1024/ 1025 wird darauf abgestellt, "dass diese
Instrumente des Zahlungs- und Kreditverkehrs, die aus unserem Alltagsleben nicht mehr
wegzudenken sind und die in Zukunft sicherlich eine noch grössere Bedeutung erlangen wer-
den, des strafrechtlichen Schutzes bedürfen."
154 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
an deutlich, daß er als subsidiär zurücktreten soll, wenn der Tatbestand des Betru-
ges (Art. 146 schwStGB) erfüllt ist. 225
Die Zielsetzung des 1. und 2. WiKG bestand darin, die Voraussetzungen für eine
effektivere Bekämpfung wirtschaftskrimineller Verhaltensweisen zu schaffen. Ne-
ben der Erhöhung der präventiven Wirksamkeit bereits bestehender strafrechtlicher
Normen und der Schließung von Strafbarkeitslücken sollte dieses Ziel insbesonde-
re dadurch erreicht werden, daß auf die in der praktischen Anwendung der be-
stehenden Straftatbestände aufgetretenen Nachweisschwierigkeiten mit der Schaf-
fung neuer, den praktischen Beweisproblemen Rechnung tragender Straftatbestän-
de reagiert wurde. Wie bereits oben dargelegt,226 müssen sowohl die Ausgestaltung
der Strafbarkeitsvoraussetzungen des § 266b dStGB als auch die im Rahmen der
Rücküberführung der §§ 283 ff. dStGB in das Strafgesetzbuch vorgenommenen
Modifikationen der Strafbarkeitsvoraussetzungen der Konkursdelikte vor dem Hin-
tergrund dieser Zielsetzung des Gesetzgebers gesehen werden. Die prägnantesten
Beispiele dieser, die Reform des "modemen" Wirtschaftsstrafrechts der Bundesre-
publik Deutschland wesentlich prägenden Entwicklung sind aber die durch das 1.
und 2. WiKG als "abstrakte Gefährdungsdelikte im Vorfeld des Betruges" geschaf-
fenen Sondertatbestände zur Bekämpfung des Subventions-, Kapitalanlage- und
Kreditbetruges (§§ 264, 264a, 265b dStGB).227 In der Schweiz gab und gibt es ent-
sprechende Straftatbestände nicht. 228
225 Trechsel, SchwStGB, Art. 148 Rdnr. 14; zu Einzelheiten vgl. die Botschaft über die
Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärgesetzes vom 24. April
1991, in: BBI. 1991 11,969,1025.
226 Vgl. oben S. 150, Fußn. 213, sowie S. 153 f.
227 Hinzuweisen ist darauf, daß der Gesetzgeber mit dem am 20. 8. 1997 in Kraft getrete-
nen Gesetz zur Bekämpfung der Korruption (Gesetz vom 13.8. 1997, BGBI. I, S. 2038) einen
weiteren Spezialtatbestand (§ 298 dStGB) geschaffen hat, mit dem sog. Submissionsbetrüge-
reien erfaßt werden sollen; vgl. hierzu: Dölling, Gutachten, C 63/64, 93 ff.; Korte, NStZ
1997,513,516 f.; Kudlich, JuS 1998,378,379; Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 3 ff.;
Ouo, ZRP 1996, 300, 302 ff.
228 Vgl. Krauß, Festschrift für Vischer, S. 67 ff., der die Einführung eines dem § 264 StGB
entsprechenden Tatbestandes der Subventionserschleichung für geboten erachtet.
111. Das "moderne" Wirtschaftsstrafrecht 155
239 So bzgl. des § 264 dStGB: BT-Drucks. 7/3441, S. 25; 7/5291, S. 5; bzgl. des § 264a
dStGB: BT-Drucks. 10/318, S. 12; bzgl. des § 265b dStGB: BT-Drucks. 7/5291, S. 14.
240 Vgl. BT-Drucks. 7/5291, S. 4 f.
241 BT-Drucks.7/344I,S.15.
245 BT-Drucks. 7/3441, S. 17, 24. Vgl. auch Krauß, Festschrift für Vi scher, S. 69, der die
Strafwürdigkeit des Gefährdungsdeliktes der Subventionserschleichung aus der Möglichkeit
ableiten will, daß die Vergabebehörde eine Entscheidung treffen könnte, mit der sie den Sub-
ventionszweck sachlich verfehle.
158 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
den individuellen Vermögensschutz hinaus sollte aber auch das Vertrauen in die
Redlichkeit des Kapitalmarktes gestärkt werden, dessen Funktionsfähigkeit für die
Wirtschaftsordnung von wesentlicher Bedeutung sei. 246 Die Notwendigkeit eines
in den Bereich der Vermögensgefährdung vorverlegten strafrechtlichen Anleger-
schutzes wurde damit begründet, daß die zumeist unerfahrenen Anleger in beson-
derem Maße schutzbedürftig, die bestehenden strafrechtlichen Normen aber weit-
gehend ineffektiv seien. 247 Der Gesetzgeber verkenne nicht, "daß praktische
Schwierigkeiten bei der Anwendung des Betrugstatbestandes allein die Einführung
leichter handhabbarer Straftatbestände nicht rechtfertigen. Solche Tatbestände sind
aus rechtsstaatlichen Gründen vielmehr nur dort vertretbar, wo vor allem im Hin-
blick auf das geschützte Rechtsgut das durch Vorfeldtatbestände erfaßte Verhalten
als strafwürdiges Unrecht erscheint." Dies sei aber vorliegend der Fall:
,,Die Bekämpfung des Versuchs, mit täuschenden Angaben andere zur Anlage ihres Geldes
zu veranlassen, dient nämlich nicht nur dem Schutz des individuellen Vermögens. Solche
Verhaltensweisen sind vielmehr, wenn sie in einer gewissen Massenhaftigkeit auftreten,
geeignet, das Vertrauen in den Kapitalmarkt zu erschüttern und damit das Funktionieren
eines wesentlichen Bereichs der geltenden Wirtschaftsordnung zu gefährden. Daß es dem
Entwurf gerade auch um den Schutz dieses überindividuellen Rechtsgutes geht, wird durch
die Ausklammerung der Individualtäuschung sichtbar. In dieser Beschränkung sieht der
Entwurf die Rechtfertigung für die Bestrafung des gefährlichen Verhaltens. ,,248
Anlaß der Regelung des Kreditbetruges (§ 265b dStGB) war die Erwägung, daß
die Vergabe von Krediten an Kreditnehmer, denen die Kreditwürdigkeit fehlt und
die als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr zu einer Vielzahl anderer Personen in
rechtlichen Beziehungen treten, in mehrfacher Hinsicht eine erhebliche Gefahr
darstellt:
"Der Verlust der Kreditsumme mindert nicht nur das Vermögen des Kreditgebers; er bringt
vielmehr auch diejenigen Personen in die Gefahr empfindlicher Vermögensschädigungen,
die ihrerseits den Kreditgebern Kredite gewährt haben. Noch gefährlicher ist die Kreditge-
währung an nicht kreditwürdige Darlehensnehmer aber für diejenigen Personen, denen der
Darlehensnehmer wegen der ihm durch den Kredit verschafften Mittel als kreditwürdig er-
scheint und die deshalb mit ihm in geschäftliche Beziehungen treten oder Forderungen aus
bereits bestehenden Beziehungen stunden. Die Erfahrung zeigt, daß der diesen Personen
durch wirtschaftliche Schwierigkeiten des Kreditnehmers entstandene Schaden vermieden
werden kann, wenn dem Kreditbewerber der Kredit versagt wird. ,,249
249 BT-Drucks.7/344I,S.17.
III. Das "modeme" Wirtschafts strafrecht 159
Die Regelung des § 265b dStGB sei erforderlich, weil sich § 263 dStGB in der
Praxis als nicht ausreichend erwiesen habe, den aus der Kreditvergabe an kreditun-
würdige Personen resultierenden Gefahren zu begegnen. 25o Auch hier heißt es in
der Begründung des Entwurfs, es werde nicht verkannt, "daß allein praktische
Schwierigkeiten bei der Anwendung des Betrugstatbestandes nicht die Einführung
leichter handhabbarer Straftatbestände rechtfertigen. Derartige Refonnen sind viel-
mehr aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann vertretbar, wenn vor allem im Hin-
blick auf das geschützte Rechtsgut auch das durch Vorfeldtatbestände erfaßbare
Verhalten als strafwürdiges Unrecht erscheint." Dies sei hier aber der Fall:
"Wie die eingangs angestellten Überlegungen bereits ergeben, drohen die durch eine wirt-
schaftlich unvertretbare Kreditgewährung an Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr ausgelö-
sten Gefahren nicht nur dem Vermögen des Kreditgebers, sondern einer Vielzahl von Per-
sonen, die mit den Vertragspartnern in rechtlichen Beziehungen stehen. Nehmen solche
Vorgänge entsprechende Größenordnungen an, kann der Fehlschlag der Vorhaben des Kre-
ditnehmers zu Erschütterungen der gesamten Wirtschaftsordnung und zu einem Verlust
des Vertrauens in ihr Funktionieren führen, dem auch mit strafrechtlichen Mitteln entge-
gengewirkt werden muß. Wer deshalb als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr Kredite durch
Täuschung zu erlangen versucht, handelt bereits im Hinblick auf die damit verbundene ge-
nerelle Gefahr strafwürdig. ,,251
253 Das durch § 264 dStGB geschützte Rechtsgut soll nach verbreiteter Auffassung die Pla-
nungs- und Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand sein (vgl. Tröndle, StGB, § 264 Rdnr. 3
m. w. N.; vgl. auch Jung, JuS 1976,757,758). Der hiergegen zu Recht erhobene Einwand, daß
angesichts der Normgebundenheit staatlichen Hande1ns von einer "Freiheit" im eigentlichen
Sinne nicht gesprochen werden könne (vgl. Hack, Probleme, S. 65 f.) und die Planungs- und
Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand jedenfalls kein Selbstzweck sei, sondern bestimm-
ten inhaltlichen Zwecken dienen müsse (Hack, Probleme, S. 65 ff.; Lenckner, in: Schönkel
Schröder, § 264 Rdnr. 4; Maurach/Schroder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 1, § 41 Rn. 165;
Maiwald, ZStW 96 (1984), 66, 77), führt zu der derzeit wohl herrschenden Ansicht, derzufol-
ge § 264 dStGB das Allgemeininteresse an einer wirksamen und zweckgerechten staatlichen
Wirtschaftsförderung schützen soll (Achenbach, JR 1988,251,253; Bottke, wistra 1991, 1,7;
Cerny, MDR 1987,271,272; Geerds, Wirtschafts strafrecht, S. 250; Kühl, in: Lackner, § 264
Rdnr. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 264 Rdnr. 4; Otto, Jura 1989,24,29; Tiedemann,
Wirtschafts strafrecht 1, S. 109 f.; ders., Wirtschafts strafrecht 2, S. 106; ders., in: LK, § 264
Rdnr. 11; Wesseis, StrafR BT 2, Rdnr. 648). Innerhalb der herrschenden Ansicht ist umstritten,
ob zusätzlich auch noch das öffentliche Vermögen geschützt wird (bejahend Jung, JuS 1976,
757,758; Kühl, in: Lackner, § 264 Rdnr. 1; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 264 Rdnr. 4;
Schmidt-Hieber, NJW 1980,322, 324; Wesseis, StrafR BT 2, Rn. 648; ablehnend dagegen:
Tiedemann, in: LK, § 264 Rdnrn. 13 f.). In der Literatur wird z.T. auch die entgegengesetzte
Auffassung vertreten, derzufolge Rechtsgut des § 264 StGB allein das öffentliche Vermögen
sein soll (Hack, Probleme, S. 63 ff.; Hirsch, Bekämpfung, S. 18; Maiwald, ZStW 96 (1984),
66,78; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. I, § 41 Rdnr. 165; Ranft, NJW
1986,3163,3165; Sannwald, Rechtsgut, S. 65; Schmidhäuser, StrafR BT, 11/97). Der mittel-
bare Schutz der Institution des Subventionswesens als wichtiges Instrument der staatlichen
Wirtschaftslenkung ist hiernach ein im Schutz des öffentlichen Vermögens mitenthaltener blo-
ßer Schutzreflex (Hack, Probleme, S. 68, 71; Sannwald, Rechtgut, S. 65).
Geschütztes Rechtsgut des § 264a dStGB ist nach h.M. in erster Linie das Vertrauen der All-
gemeinheit in den Kapitalmarkt, dessen Funktionsfähigkeit eine entscheidende Voraussetzung
für die Entfaltung und Nutzung wirtschaftlicher Produktivkräfte darstelle (BT-Drucks. 101
318, S. 12; Bottke, wistra 1991, I, 8; Cerny, MDR 1987, 271, 272; Cramer, in: Schönkel
Schröder, § 264a Rdnr. I; Geerds, Wirtschafts strafrecht, S. 204 ff.; Jaath, Festschrift für Dün-
nebier, S. 607; Kühl, in: Lackner, § 264a Rdnr. I; Ouo, Jura 1989, 24, 31; Tröndle, StGB,
§ 264a Rdnr. 4; Weber, NStZ 1986,481, 486; Wesseis, StrafR BT 2, Rdnr. 658). Während eini-
ge Vertreter der h.M. der Auffassung sind, daß § 264a dStGB neben der o.g. Zielrichtung auch
dem Schutz individueller Vermögensinteressen von Kapitalanlegem dienen solle (Kühl, in:
Lackner, § 264a Rdnr. I; Tröndle, StGB, § 264a Rdnr. 4; Weber, NStZ 1986, 481, 486), gehen
andere Autoren davon aus, daß allein das Vermögen der Kapitalanleger geschützt werde
(Joecks, wistra 1986, 142, 144; Maurach/Schroeder/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. 1, § 41
Rdnr. 166; Schlüchter, 2. WiKG, S. 156; Samson/Günther, in: SKStGB, § 264a Rdnr. 7; A.
Worms, Anlegerschutz, S. 268, 311; ders., wistra 1987, 242, 245). Der Schutz des redlichen
Umgangs miteinander auf dem Kapitalmarkt ist nach dieser Auffassung lediglich Motiv für
die Schaffung der Vorschrift gewesen (Samson/Günther, in: SKStGB, § 264a Rdnr. 7). Der
durch § 264a StGB bewirkte Vertrauens schutz für den Kapitalmarkt als Institution sei nichts
anderes als ein vom Vermögensschutz ausgehender Reflex (Joecks, wistra 1986, 142, 144; A.
Worms, wistra 1987,242,245; ders., Anlegerschutz, S. 314 f.; vgl. auch Schlüchter, 2. WiKG,
S. 176, die den Kapitalmarkt als Schutzgut mangels einer hinreichenden Abgrenzbarkeit bzw.
Bestimmbarkeit ablehnt).
§ 265b dStGB soll nach allgemeiner Auffassung das Vermögen des einzelnen Kreditgebers
schützen (Heinz, GA 1977, 225, 226; Kühl, in: Lackner, § 265b Rdnr. I; Lenckner, in: Schön-
III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht 161
ke 1Schröder, § 265b Rdnr. 3; Qtto, Jura 1989, 24, 29; Tröndle, StGB, § 265b Rdnr. 6). Um-
stritten ist, ob sich der Schutzzweck der Norm hierin erschöpft (So z. B. Maurach 1Schroe-
der/Maiwald, StrafR BT, Teilbd. \, § 41 Rdnr. 166; Samson/Günther, in: SKStGB, § 265b
Rdnrn. 2 f.; Schmidhäuser, StrafR BT, 1111 (0) oder auch bzw. möglicherweise sogar in er-
ster Linie das Allgemeininteresse an der Verhütung von Gefahren, die der Wirtschaft im gan-
zen infolge der vielfältigen Abhängigkeiten von Gläubigem, Schuldnern und Arbeitnehmern
aus der ungerechtfertigten Vergabe von Wirtschaftskrediten erwachsen können (vgl. Kühl, in:
Lackner, § 265b Rdnr. I), das Kollektivinteresse an der Funktionsfähigkeit des Kredits als
Instrument des Wirtschaftsverkehrs (vgl. Lenckner, in: Schönke 1Schröder, § 265b Rdnr. 3;
Qtto, Jura 1989,24,29; Tröndle, StGB, § 265b Rdnr. 6) bzw. die Institution der Kreditwirt-
schaft (vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 18 f.; 7/5291, S. 14, 16; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht,
S. 233 ff.; Jung, JuS 1976,757,759; Lampe, Kreditbetrug, S. 37 ff.; Lenckner, in: Schönkel
Schröder, § 265b Rdnr. 3; Qtto, Jura 1989, 24, 29; Tiedemann, JuS 1989, 689, 691; ders., in:
LK, § 265b Rdnrn. 9 ff.) als (mit-)geschützt anzusehen ist (ablehnend insoweit Heinz, GA
1977,225,226, mit dem Argument, daß es sich nur um eine mittelbare Folge aufgrund der
Verflochtenheit der Wirtschaft handele).
254 Starck, in: v.Mangoldt 1 Klein 1Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; vgl. auch Frisch, Fest-
schrift für Stree/Wessels, S. 88 f.; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 61.
m Lagodny, Strafrecht, S. 472; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 229 und passim; Rupp, Ge-
setzeskontrolle, S. 380; Starck, in: v. Mangoldt 1Klein 1Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; Wendt,
NVwZ 1988, 778, 783 und 786.
256 Appel, Verfassung, S. 585 ff.; Gusy, NJW 1988, 2505, 2507 f.; Lagodny, Strafrecht,
S. 471; Robbers, DÖV 1988, 749, 755 f.; Rupp, Gesetzeskontrolle, S. 381/382; Schoch,
DVBI. 1988,863,878; Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. I Rdnr. 33; Wendt,
NVwZ 1988.778.780 f. und 7821783; vgl. auch Peine. Systemgerechtigkeit, S. 53 ff.
m Vgl. hierzu A. Worms, Anlegerschutz, S. 245 ff., 274 ff.
11 Wohlers
162 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
los ist, kann die punktuelle Sonderbehandlung bestimmter Kapitalanleger und Kre-
ditgeber als eine innerhalb des Gesamtsystems des strafrechtlichen Vermögens-
schutzes legitime Differenzierung nicht begründet werden.
Gleiches hat im Ergebnis auch für den Straftatbestand des Subventionsbetrugs
(§ 264 dStGB) zu gelten. Die partielle Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes für
bestimmte Angriffe auf das Vermögen der öffentlichen Hand läßt sich mit dem Ge-
bot einer in sich stimmigen Ausgestaltung des Systems des strafrechtlichen Vermö-
gensschutzes nicht vereinbaren. 258 Selbst wenn man unterstellen würde, daß die
vom Gesetzgeber lediglich postulierte Wahrheitspflicht des Subventionsempfän-
gers gegenüber dem öffentlichen Subventionsgeber tatsächlich besteht, wäre damit
nicht zugleich dargetan, daß die bloße Verletzung dieser Wahrheitspflicht ohne
weiteres als ein strafwürdiges Verhalten anzusehen ist. Wenn der Gesetzgeber - im
Anschluß an entsprechende Ausführungen Tiedemanns 259 - die Strafwürdigkeit
des täuschenden Verhaltens des Subventionsempfängers aus einer besonderen
Strafwürdigkeit des Angriffs auf das in seiner Schutzfahigkeit beschränkte Vermö-
gen der öffentlichen Hand herleiten will,260 ist dem entgegenzuhalten, daß die ge-
minderte Schutzfähigkeit der öffentlichen Hand bereits faktisch zweifelhaft er-
scheint. 261
Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, bei täuschenden Angrif-
fen auf das öffentliche Vermögen könne auf den Irrtum als Strafbarkeitsvorausset-
zung verzichtet werden, weil der Irrtum eines Staatsbediensteten angesichts der
Zweckbindung des öffentlichen Vermögens keine adäquate Strafbarkeitsvoraus-
setzung darstelle,262 ist dem entgegenzuhalten, daß es inkonsequent ist, bei den
§ 264 dStGB unterfallenden Subventionen den Irrtum eines Staatsbediensteten
für verzichtbar zu erachten, während bei allen anderen täuschenden Angriffen auf
das öffentliche Vermögen - unter Einschluß der täuschenden Erschleichung von
Subventionen, die nicht dem Anwendungsbereich des § 264 dStGB unterfallen -
an dieser der Sache nach inadäquaten Strafbarkeitsvoraussetzung festgehalten
wird. Wenn schließlich der Verzicht auf die Strafbarkeitsvoraussetzung des Ver-
mögensschadens für unschädlich erklärt wird, weil mit dem täuschenden Verhal-
ten des Subventionsempfängers eine Handlung umschrieben sei, die regelmäßig
zu einem Vermögensschaden der öffentlichen Hand führen würde,263 ändert dies
nichts daran, daß264 das täuschende Verhalten des Subventionsempfängers eben
265 Auf die Schwierigkeiten, in den Fällen des Subventionsbetruges auf der Grundlage des
wirtschaftlichen bzw. juristisch-ökonomischen Vennögensbegriffes einen Vennögensschaden
i. S. d. § 263 StGB zu begründen, sei an dieser Stelle nur hingewiesen; vgl. hierzu i.e. Geerds,
Wirtschaftsstrafrecht. S. 110 ff.
2M Daß die gerade im Hinblick auf § 264 dStGB zu vermutende Intention, den der öffent-
lichen Verwaltung im Rahmen der Subventionsvergabe ansonsten entstehenden Kontrollauf-
wand durch strafbewehrte Verhaltensnormen zu reduzieren, um so Verwaltungskosten einzu-
sparen, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Subventionsempfängers nicht zu begrün-
den vermag, bedarf keiner weiteren Ausführung; vgl. insoweit nur F. Herzog, Gesellschaftli-
che Unsicherheit, S. 131 f.
267 Die auch im Gesetzgebungsverfahren selbst hervorgehobene Parallele zu den Fällen
der Verletzung der Abgabenordnung spricht dafür, daß jedenfalls das durch § 264 Abs. 3
dStGB erfaßte leichtfertige Verhalten - entsprechend § 378 AO - kein Kriminalunrecht dar-
stellt und die leichtfertige Subventionserschleichung deshalb zumindest de lege ferenda als
Ordnungswidrigkeitentatbestand ausgestaltet werden müßte (vgl. Hack, Probleme, S. 143 ff.;
Samson I Günther, in: SKStGB, § 264 Rdnrn. 12, 15,20). Soweit das Wesen des § 264 Abs. 3
dStGB als Kriminalstraftat in der Literatur mit einer höheren kriminellen Energie desjenigen
legitimiert werden soll. der dem Staat vorhandene Mittel entziehe, statt lediglich sein Vermö-
gen dem staatlichen Zugriff vorzuenthalten (Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 314), wird der
Gesichtspunkt vernachlässigt, daß § 378 AO im Gegensatz zu § 264 dStGB einen Vermö-
gensschaden des Staates zur Voraussetzung hat (vgL Hack, Probleme, S. 143 ff.).
Vgl. im übrigen auch Arzt, Beweisschwierigkeiten, S. 94 f., mit dem zutreffenden Hinweis
darauf, daß sich die Überdehnung des Strafbarkeitsbereiches auch dann ergibt, wenn man die
Funktion als Verdachtsbestrafung bei möglicherweise vorsätzlich handelnden Tater akzeptie-
ren würde, weil nicht nur der möglicherweise vorsätzlich handelnde Tater, sondern auch der
eindeutig (nur) fahrlässig handelnde Täter erfaßt wird.
11*
164 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
würde die Annahme, es handele sich bei den §§ 264, 264a, 265b dStGB um Ver-
mögensdelikte, die hergebrachten Strukturen des strafrechtlichen Vermögensschut-
zes sprengen. 268
Gegen die Konzeption, die Legitimation der §§ 264, 264a, 265b dStGB aus
dem Gesichtspunkt der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbe-
reiche der Wirtschaftsordnung abzuleiten, ist - insbesondere im Hinblick auf die
§§ 264a, 265b dStGB - der Einwand erhoben worden, daß diese Straftatbestände
unter Zugrundelegung dieser Rechtsgutskonzeption nicht systemgerecht konzi-
piert wären. Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß unter ZugrundeIegung
der Konzeption der §§ 264a, 265b dStGB als Straftatbestände zum Schutz der
Funktionsfähigkeit bzw. Integrität des Kapitalmarktes bzw. des Kreditwesens als
Teilbereich der Gesamtwirtschaftsordnung bzw. als Instrument des Wirtschafts-
verkehrs konsequenterweise nicht nur die Anbieter von Kapitalanlagen, sondern
auch die Kapitalanleger erfaßt werden müßten, da diese für Störungen des Kapi-
talmarktes zumindest mitverantwortlich seien?7) Im Hinblick auf § 265b dStGB
m So die h.M .• vgl. z. B. Bottke. wistra 1991. 1.7: Kühl, in: Lackner. § 264 Rdnr. I: Ouo.
Jura 1989. 24. 29: Tiedemann. in: LK. § 264 Rdnr. 11: Wesseis. StrafR BT2. Rdnr. 648. je-
weils m. w. N.
III. Das .,moderne" Wirtschaftsstrafrecht 165
wird moniert, daß dann, wenn die Funktionsfähigkeit des Kreditwesens bzw. des
Kredits als Instrument des Wirtschaftsverkehrs gewährleistet werden solle, nicht
nur der Kreditnehmer, sondern auch der unverantwortlich handelnde Kreditgeber
erfaßt werden müsse 274 und es im übrigen nicht auf die Täuschung des Kreditge-
bers ankommen könne, sondern vielmehr die (volks-)wirtschaftliche Vertretbar-
keit des Kreditgeschäfts das maßgebende Kriterium sein müsse. 275 Dem ist entge-
genzuhalten, daß es einen Grundsatz, daß Pönalisierungen wirtschafts bezogener
Verhaltensweisen stets alle an einem Rechtsgeschäft beteiligten Parteien erfassen
müssen, nicht gibt. Insbesondere dann, wenn Anlaß der Pönalisierung ein auf
Täuschung der Gegenseite angelegtes Verhalten einer Vertragspartei ist, wird man
eine asymmetrische Pönalisierung als eine sachlich angemessene Differenzierung
ansehen können. 276
Wenn der Schutz der Handlungsfähigkeit bestimmter Institutionen bzw. der Inte-
grität bestimmter Funktionszusammenhänge als überindividuelle Belange die PÖ-
nalisierung der durch die §§ 264, 264a, 265b dStGB erfaßten bloßen Täuschungs-
handlungen legitimieren soll, setzt dies allerdings voraus, daß derartige Schutzgü-
ter überhaupt legitime Schutzgegenstände strafbewehrter Verhaltensnormen sein
können. Wie bereits oben dargelegt wurde,277 dienen Strafrechtsnormen dem
Schutz der für das Zusammenleben in der Gemeinschaft notwendigen Grundvor-
aussetzungen menschlicher Koexistenz. Grundlage der personalen Entfaltung des
einzelnen ist zum einen die Anerkennung einer individuellen Freiheitssphäre. An-
gesichts dessen, daß in einer modernen Gesellschaft praktisch keine Freiräume
mehr existieren, die es einem Mitglied der Gesellschaft ermöglichen würden, von
seiner Freiheit in einer über das forum internum hinausgehenden Art und Weise
Gebrauch zu machen, ohne gleichzeitig die Freiheitssphäre anderer Gesellschafts-
mitglieder zu beeinträchtigen bzw. mit deren Freiheitsausübung (zumindest poten-
tiell) in Konflikt zu geraten, müssen neben dem Bestand an individuellen Freiheits-
rechten aber auch die Grundbedingungen gewährleistet werden, die es dem einzel-
nen überhaupt erst ermöglichen von seiner - insoweit notwendigerweise nicht
schrankenlosen - Freiheit tatsächlich Gebrauch zu machen.
m Vgl. Joecks, wistra 1986, 142, 144; A. Worms, wistra 1987,242,245; ders., Anleger-
schutz, S. 314 f.
!74 Schubarth, ZStW 92 (1980), 80, 91 f.
Im Hinblick auf die Kategorie der Wirtschaftsdelikte bedeutet dies: 278 Zu den
Grundlagen der personalen Entfaltung gehört auch die Existenz eines Ordnungs-
rahmens, der es dem einzelnen ermöglicht, sich wirtschaftlich zu betätigen und
so seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Da sich die Wirtschaftsordnung im
Laufe ihrer Entwicklung zu einem immer komplexer werdenden sozialen System
ausdifferenziert hat, könnte die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen, die die
Funktionsfähigkeit der Wirtschaftsordnung bzw. bestimmter Abläufe innerhalb
der Wirtschaftsordnung beeinträchtigen oder stören, neben dem Schutzgut der
Funktionsfähigkeit der Wirtschaftsordnung als solcher auch aus der Beeinträchti-
gung bestimmter Institutionen, Handlungsabläufe oder Funktionszusammenhänge
des Wirtschaftslebens abgeleitet werden. Problematisch hieran ist, daß einerseits
unter rein pragmatischen, auf den möglichst effizienten Schutz wirtschaftlicher
und gesellschaftlicher Handlungsabläufe ausgerichteten Gesichtspunkten grund-
sätzlich jedes neu auftretende Schutzinteresse zur Entstehung eines überindivi-
duellen Rechtsguts führen kann, andererseits aber zu berücksichtigen ist, daß eine
schrankenlose Anerkennung von Gemeinwohlinteressen und Gemeinschaftswer-
ten als überindividuelle Rechtsgüter die Gefahr begründen würde, daß der Straf-
rechtsschutz unangemessen ausgeweitet wird?79 Entscheidend ist damit, anhand
welcher Kriterien strafrechtlich als schützenswert anzuerkennende überindividueI-
le Schutzgüter von strafrechtlich nicht schutzwürdigen Schutzgütern abzugrenzen
sind.2 8o
278 Vgl. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 279, 283; lescheck, JZ 1959, 457, 458; Quo,
Mißbrauch, S. 457; Tiedernann, Tatbestandsfunktionen, S. 119 ff.; ders., Wirtschaftsstrafrecht
I,S.139.
279 Vgl. F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 118; Volk, JZ 1982,85,87 f.
28\ Ouo, ZStW 96 (1984),339,347; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980,
397,400 f.; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 54 f.; ders., Jura 1989,24,27; vgl. auch
Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 286 ff.; Costa-Andrade, Strafwürdigkeit, S. 130; H.-L. Gün-
ther, JuS 1978, 8, 12 f.; ders., Strafrechtswidrigkeit, S. 237; Langer, Sonderverbrechen,
S. 330; Schmidhäuser, StrafR AT, 2/ 14.
282 Ouo, ZStW 96 (1984),339,347 f.; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980,
397,401; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 55 f.
168 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
gravierende Eingriffe als die Pönalisierung des Verhaltens, die einen besseren oder
zumindest den gleichen Erfolg versprechen, zur Verfügung stehen,,?83
Den Ausführungen Ottos kann zunächst entnommen werden, daß das maßgebli-
che Kriterium zur Bestimmung der als Kriminalunrecht zu behandelnden Verhal-
tensweisen die Strafwürdigkeit sein soll. Der Strafbedürftigkeit kommt allein die
Funktion eines Korrektivs zu, anhand dessen die tatsächliche Pönalisierungsbe-
dürftigkeit eigentlich strafwürdiger Verhaltensweisen verneint werden soll, wenn
alternativ andere, weniger gravierende, gleichzeitig aber mindestens ebenso wirk-
same Steuerungsmechanismen zur Verfügung stehen.
Die Wirkung, die der Strafbedürftigkeit als ein den Anwendungsbereich straf-
rechtlicher Normen beschränkendes Kriterium in der praktischen Umsetzung zu-
kommen kann, hängt zunächst davon ab, ob man die vergleichende Bewertung der
Eingriffsintensität verschiedener Steuerungsmechanismen auf die Auswirkungen
beschränkt, die diese Maßnahmen für die als potentiellen Tater in Betracht kom-
mende Einzelperson haben, oder ob man auf die gesamtgesellschaftlichen Auswir-
kungen abstellt. Entscheidend wird die Korrekturfunktion der Strafbedürftigkeit
aber vor allem dadurch in Frage gestellt, daß keine zivil- oder verwaltungsrechtli-
chen Präventivmaßnahmen denkbar sind, die es ausgeschlossen erscheinen lassen,
daß es nicht doch - zumindest in Einzelfällen - zu Beeinträchtigungen oder Stö-
rungen der jeweils geschützten Interessen kommt. 284 Wenn aber bestimmte Verhal-
tensweisen als "eigentlich strafwürdig" anzusehen sind, würde die Entscheidung,
die Strafbedürftigkeit im Hinblick auf alternative Regelungsinstrumentarien zu
verneinen, voraussetzen, daß die Beeinträchtigung "eigentlich (straf-)schutzwürdi-
ger" Interessen dann hinzunehmen ist, wenn es sich um nur gelegentlich auftreten-
de Beeinträchtigungen handelt. Ob man das gelegentliche oder seltene Auftreten
eigentlich strafwürdiger Verhaltensweisen hinnehmen kann bzw. soll, stellt ein
Problem "normativer Verzichtbarkeit" dar,285 hängt also von der Bedeutung und
Wertigkeit des geschützten Interesses und damit von der Strafwürdigkeit der in
Frage stehenden Verhaltensweise ab, was wiederum bedeutet, daß außerstrafrecht-
liche Prävention und der Einsatz strafrechtlicher Zwangsandrohungen zumindest
dann, wenn es um Beeinträchtigungen gewichtiger Belange geht, nicht im Verhält-
283 Duo, ZStW 96 (1984),339,348; ders., NJW 1979,681,683; ders., MschrKrim 1980,
397, 403; ders., Jura 1989, 24, 27; ders., Gedächtnisschrift für Schröder, S. 56; vgl. auch
Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 291; H.-L. Günther, JuS 1978,8,11 f.
Kritisch hierzu Alwart, Strafwürdiges Versuchen, S. 58 ff.: zweckorientierte Erwägungen
seien vom Strafwürdigkeitsurteil nicht zu trennen; vgl. auch Romano, Strafwürdigkeit, S. 109.
284 Vgl. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 193/194, sowie oben S. 74 f.
285 Vgl. Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 78 f.; H.-L. Günther, Strafrechtswidrig-
keit, S. 194.
III. Das "modeme" Wirtschaftsstrafrecht 169
286 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 79; Weber, ZStW 96 (1984), 376, 379 f., sowie
oben S. 73.
287 Vgl. auch H.-L. Günther, JuS 1978,8,13.
288 So ausdrücklich Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 112, 142; vgl. auch Sieber,
Computerkriminalität, S. 264.
289 Vgl. Kunz, Bagatellprinzip, S. 127; A. Worms, Anlegerschutz, S. 270/271.
290 Andere Autoren nennen, ohne daß dies soweit ersichtlich zu einer abweichenden Auf-
fassung führt, als Kriterien der Strafwürdigkeit den Rang des beeinträchtigten Rechtsguts
und die Sozialgefahrlichkeit des Angriffsverhaltens; vgl. z. B. Geerds, Wirtschaftsstrafrecht,
S. 288; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 51.
291 Vgl. H.-L. Günther, JuS 1978,8, \0; Heinz GA 1977, 193, 199 ff.; Geerds, Wirtschafts-
strafrecht, S. 46 ff. hält eine auf einer Prognose basierende Verdachtspönalisierung für zuläs-
sig, bejaht aber andererseits auch eine Pflicht des Gesetzgebers, seine Prognose zu verifizie-
ren (a. a. 0., S. 48 ff.). Vgl. auch oben S. 59 f.
170 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
295 Vgl. Alwart. Strafwürdiges Versuchen. S. 30/31; Appel. Verfassung. S. 396 ff.; Frisch.
Festschrift für Stree/Wessels. S. 80; Volk. ZStW 97 (1985). 871. 894 f.
III. Das ..modeme" Wirtschaftsstrafrecht 171
296 Vgl Costa-Andrade, Strafwürdigkeit, S. 131; Volk, ZStW 97 (1985), 871, 872, 898.
297 Vgl. Bottke, wistra 1991, 1,4; ders., Legitimität, S. 115; Otto, MschrKrim 1980,397,
402.
29K Vgl. Bottke, Legitimität, S. 114 ff.
299 Bottke, wistra 1991, I, 4.
300 Otto, ZStW 96 (1984), 339, 357 f., 363.
172 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
politik offenbar unvernünftig erscheint, ist eine andere Frage, die einer gesonderten
Begründung bedürfte?16 Daß das Bestehen eines (Teil-)Marktes sichergestellt wer-
den soll, ist keine Begründung, sondern wirft vielmehr die Frage auf, ob das Fort-
bestehen dieses Teilmarktes als ein strafschutzwürdiges Interesse anzusehen ist.
Dies legt die Vennutung nahe, daß die Annahme eines allgemeinen Vertrauens in
den Kapitalmarkt als solchen in der gesellschaftlichen Kommunikationsstruktur
überhaupt keine Entsprechung findet, was wiederum den Schluß zuläßt, daß § 264a
dStGB auf eine Kommunikationsstruktur abzielt, die in der Wirklichkeit der Anla-
geberatung keine Rolle spielt. 323
Angesichts dessen, daß eine Beeinträchtigung des Kapitalmarktes als Institution
zweifelhaft erscheint, wird die Strafwürdigkeit der von § 264a dStGB erfaßten Ver-
haltensweisen auch in der Literatur aus dem Umstand abgeleitet, daß das Angriffs-
verhalten auf den zweckverfehlten Mitteleinsatz des Anlegers abzielt. 324 Dies läuft
dann aber im Ergebnis auf nichts anderes als einen vorverlegten Vennögensschutz
hinaus, der aus den bereits oben dargelegten Gründen als illegitim erscheint. Des
weiteren fehlt es an einer Begründung dafür, warum hier der Schutz gegen jede -
auch noch so leicht durchschaubare - Lüge der Sphäre des Staates zuzurechnen sein
soll und nicht von den Teilnehmern am Wirtschaftsverkehr autonom zu leisten ist. 325
325 Vgl. Kindhäuser, Legitimität, S. 133; ders., ZStW 103 (1991), 398, 400 ff.; a.A. Bott-
ke, Legitimität, S. 121 f.; vgl. aber auch Schlüchter, 2. WiKG, S. 156, mit dem Hinweis dar-
auf, wie eine Beeinträchtigung des Kapitalmarktes schlüssig dargetan werden soll, wenn es
schon nicht gelingt, das Vermögen eines einzelnen Anlegers als konkret gefahrdet nachzu-
weisen.
326 BT-Drucks. 7/3441, S. 17f.; 7/5291, S. 14.
327 BT-Drucks.7/3441,S.18.
328 Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 336 ff.; Otto, ZStW 96 (1984),339,364; ders., Jura
1989,24, 30; vgl. auch Wolff, Abgrenzung, S. 215 f., mit dem Hinweis darauf, daß keine
Beinträchtigung des Basisvertrauens vorliege.
176 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
betrug ein wesentliches Essential einer freien Marktwirtschaft, nämlich das Funk-
tionieren des Kreditmarktes, bei übersingulärem Auftreten in Frage stellen wür-
de".329
Diese Ausführungen lenken den Blick darauf, daß es sich bei § 265b dStGB -
zumindest dann, wenn man auf den Schutz des Kapitalmarktes als solchen abstellt,
der durch einen einzelnen Kreditbetrug gar nicht geschädigt werden kann 330 - um
einen Straftatbestand handelt, bei dem Verhaltensweisen unter Strafe gestellt wer-
den, die erst dann zu einer Beeinträchtigung des geschützten Rechtsguts beitragen
können, wenn sie massenhaft vorgenommen werden. Daß es sich beim Kredit-
markt bzw. bei der Kreditwirtschaft um Institutionen handelt, deren Integrität der-
artige Pönalisierungen zu legitimieren vermag, bedürfte einer näheren Begrün-
dung. 33 ! Zwar wird die volkswirtschaftliche Bedeutung eines funktionierenden
Kreditmarktes ebensowenig zu bestreiten sein wie die im Gesetzgebungsverfahren
beschworenen, sich aus Kreditbetrügereien größeren Ausmaßes für einzelne Kre-
ditinstitute und infolge weiterer Kettenreaktionen auch gesamtwirtschaftlich erge-
benden Auswirkungen?32 Daß die Funktionsfähigkeit des Kreditwesens, nicht aber
auch die Funktionsfähigkeit des Immobilienmarktes, zu den rechtlich garantierten
Bedingungen der freien Entfaltung des einzelnen gehört, wird man andererseits
ebensowenig behaupten können. 333 Im übrigen: Selbst wenn man unterstellt, daß
es sich beim Kreditmarkt um ein besonders wichtiges Essential einer freien Markt-
wirtschaft handelt, bliebe es doch dabei, daß hier die Pönalisierung von Verhaltens-
weisen zu legitimieren wäre, die für sich gesehen gar nicht in der Lage sind, das
zugrundeliegende Rechtsgut zu beeinträchtigen.
jj) Zwischenergebnis
Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Bemühungen. die Schutzwür-
digkeit bestimmter Institutionen oder Funktionszusammenhänge durch den Rück-
griff auf Strafwürdigkeitskriterien beurteilen zu wollen. sowohl in den Prämissen
als auch in den Ergebnissen weitgehend beliebig bleiben. In der praktischen Um-
setzung bekommt der Schutz bestehender gesellschaftlicher Institutionen regelmä-
ßig ein derartiges Eigengewicht. daß letztlich das Seinsollende weitgehend unre-
flektiert mit dem (angeblich) Soseienden gleichgesetzt wird. Begründungsansätze.
die hinausgehen über die mehr oder weniger substantiiert vorgetragene Behaup-
tung der besonderen Bedeutung, die bestimmten Institutionen für die Funktionsfä-
higkeit der Gesamtgesellschaft zukommen soll, sind trotz der im Ansatz betonten
Bedeutung, die den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften zukommen
soll, nicht ersichtlich.
Im Hinblick auf die Straftatbestände des Subventions-, Kapitalanlage- und Kre-
ditbetrugs (§§ 264, 264a, 265b dStGB) bedeutet dies: Sollen die Pönalisierungsent-
scheidungen des Gesetzgebers auf ihre Sachgerechtigkeit hin bewertet werden, ist
zunächst - als Basis aller weiteren Bewertungsschritte - das jeweils geschützte
Rechtsgut zu bestimmen und auf seine Schutzwürdigkeit hin zu untersuchen. Die
obigen Ausführungen haben ergeben, daß Schutzgut der §§ 264, 264a, 265b dStGB
nicht das Vermögen der öffentlichen Hand oder anderer Vermögensträger sein
kann, sondern allein die Funktionsfähigkeit bestimmter Teilbereiche der Wirt-
schaftsordnung. Im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit dieser Teilmärkte ist in der
Literatur zu Recht kritisiert worden, daß die Annahmen des Gesetzgebers - insbe-
sondere die behaupteten Sog-, Ansteckungs- und Spiral wirkungen - bisher nicht
überzeugend nachgewiesen werden konnten. In gleicher Weise ist zu Recht darauf
verwiesen worden, daß die Straftatbestände auf unzutreffenden Prämissen zur
Struktur der jeweils erfaßten Kommunikationsvorgänge aufbauen könnten.
Aber selbst dann, wenn sich die empirischen Annahmen des Gesetzgebers als
zutreffend erweisen sollten, kann hieraus nicht ohne weiteres auf die Legitimität
der entsprechenden Straftatbestände geschlossen werden. Vielmehr ergibt sich
dann ein weiteres, in der bisherigen Diskussion soweit ersichtlich weitgehend ver-
nachlässigtes Problem: Auch im Hinblick auf die §§ 264, 264a, 265b dStGB ist
nämlich zu konstatieren, daß es sich hier - wie auch schon bei den Straftatbestän-
den des Umweltstrafrechts - um Straftatbestände handelt, die Verhaltensweisen er-
fassen, die für sich gesehen das dem jeweiligen Straftatbestand zugrundeliegende
überindividuelle Rechtsgut gar nicht beeinträchtigen können, deren Strafwürdig-
keit also letztlich aus der Erwägung abgeleitet wird, daß das Rechtsgut Schaden
nehmen könnte, wenn sich viele oder alle Mitglieder einer Gesellschaft entspre-
chend verhalten würden. Angesichts dessen, daß der einzelne Tater für das eigen-
verantwortliche Verhalten anderer Mitglieder der Gesellschaft grundsätzlich nur
unter bestimmten, hier nicht gegebenen Voraussetzungen (vgl. §§ 25 ff. dStGB)
strafrechtlich verantwortlich zu sein scheint, ist jedenfalls nicht ohne weiteres ein-
sichtig, daß die Strafwürdigkeit einer Verhaltensweise legitimerweise aus den im
Falle massenhafter Begehung resultierenden Konsequenzen abgeleitet werden
kann. 334
12 Wohlers
178 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln ist kein erstmalig in den letz-
ten Jahren oder Jahrzehnten auftretendes Phänomen "moderner" Strafgesetzge-
bung. Rechtliche Grundlage des Umgangs mit Betäubungsmitteln war in der Bun-
desrepublik Deutschland das aus dem Jahr 1929 stammende Opiumgesetz und in
der Schweiz das zur Umsetzung des Opiumabkommens aus dem Jahre 1912 erlas-
sene Betäubungsmittelgesetz aus dem Jahre 1924. 335 Beide Gesetze enthielten von
vornherein auch strafrechtliche Sanktionen für den unbefugten Umgang mit Betäu-
bungsmitteln, die in der praktischen Strafrechtsanwendung allerdings zunächst von
eher marginaler Bedeutung waren?36 Der - jedenfalls in quantitativer Hinsicht -
überragende Stellenwert, der dem Betäubungsmittelstrafrecht für die praktische
Strafrechtspflege derzeit zukommt, ist das Ergebnis der in den 70er Jahren einset-
zenden Bemühungen, das gesellschaftliche Problem des zunehmenden Konsums
von Betäubungsmitteln mit den Mitteln des Strafrechts zu "bekämpfen".
Anlaß der Novellierung des Betäubungsmittelrechts war - übereinstimmend in
bei den Ländern - ein nach Einschätzung des Gesetzgebers mit dem Ende der 60er
Jahre in ungewöhnlichem und besorgniserregendem Maße zunehmender Rausch-
mittelkonsum. 337 In der Begründung des aus dem Jahre 1970 stammenden Geset-
zesentwurfs zur Novellierung des bundesdeutschen Opiumgesetzes heißt es hierzu:
,,Der Mißbrauch von Rauschgiften, die im Opiumgesetz als Betäubungsmittel be-
zeichnet werden, droht ein gefährliches Ausmaß zu erreichen. Dieses Phänomen
läßt sich nicht mehr als eine vorübergehende Mode deuten und abtun. Einer Seuche
gleich breitet es sich mehr und mehr auch in der Bundesrepublik Deutschland aus.
Immer weitere Kreise der Bevölkerung werden von dieser Welle erfaßt. In besonde-
rem Maße droht der Jugend Gefahr, oft schon während der Pubertät.,,338 Zielsetzung
des Gesetzgebers war es, "aus dem Opiumgesetz ein wirkungsvolles Instrument zur
Kontrolle des Verkehrs mit Rauschgiften und zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht
zu machen".339 Die Novellierung des Opiumgesetzes diene dem Ziel, "der Rausch-
giftwelle in der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten und damit große
Gefahren für den Einzelnen und die Allgemeinheit abzuwenden". 340
335 Vgl. hierzu Stämpfli, SJZ 22 (1925/26), 193 sowie Heine, Betäubungsmittelstrafrecht,
S. 561; Lüth, ZStR 67 (1952), 474, 475.
336 Vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 251; Nestler, Grundlagen, Rdnr. 19; Schultz,
SJZ 68 (1972), 229; ders., ZStR 113 (1995), 273.
337 Vgl. Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 250 sowie Schultz, SJZ 68 (1972),229, die-
bezogen auf die Situation in der Schweiz - von "flutartigen Drogenwellen" sprechen.
338 BR-Drucks. 665/70 (neu), S. 5.
Auch in der Schweiz war der Gesetzgeber der Auffassung, einem "zunehmenden
Missbrauch von Halluzinogenen" entgegenwirken zu müssen. 341 Es müsse bezwei-
felt werden, daß die geltenden rechtlichen Grundlagen ausreichen würden, dem "in
beängstigendem Ausrnass angestiegenen Missbrauch von Betäubungsmitteln und
Halluzinogenen in wirksamer Weise entgegenzutreten und sowohl die Ursachen
als auch die Auswirkungen dieser Erscheinung in sinnvoller und erfolgverspre-
chender Weise zu bekämpfen". Man habe feststeHen müssen, "dass die geltende
rechtliche Regelung den inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderungen,
d. h. der auch in unserem Lande in weiten Kreisen um sich greifenden WeHe des
Betäubungsmittelmissbrauchs, nicht mehr zu genügen vennochte". 342 An anderer
SteHe heiBt es dann: "Die missbräuchliche Verwendung von Betäubungs- und
Suchtmitteln ist auch in unserem Lande zu einem ernsten und bedeutungsvoHen
Problem geworden. Es besteht die Gefahr, dass immer mehr Mitbürger, insbeson-
dere Jugendliche, in ihrer Gesundheit geschädigt werden. Im Zusammenhang da-
mit stehen als Folgeerscheinungen die Zunahme der Kriminalität und schwere
wirtschaftliche Schäden. Zahlreiche abhängige Personen werden in jungen Jahren
arbeitsunfähig, und die Allgemeinheit hat bedeutende Kräfte und Mittel zur Be-
kämpfung oder Heilung der Sucht aufzuwenden. In der Bundesrepublik Deutsch-
land zählt man bereits Tausende solcher ,1ungrentner' .,,343
Rechtstechnisch hat der Gesetzgeber das Ziel, den Konsum bestimmter Betäu-
bungsmittel durch strafbewehrte Verhaltensverbote effizient zu unterbinden, im
wesentlichen durch den Rückgriff auf zwei gesetzestechnische Gestaltungsmög-
lichkeiten zu erreichen versucht: Zum einen werden die vom BtmG erfaBten Be-
täubungsmittel im Wege einer offenen Verweisung auf eine von der Exekutive im
Wege der Rechtsverordnung zu erlassenden - und damit laufenden Ergänzungen
zugänglichen - Liste verbotener Rauschmittel definiert (§ 1 dBtmG; Art. 1 Abs. 2
und 3 schwBetmG), was die Möglichkeit eröffnet, die Verbotsmaterie laufend zu
aktualisieren, d. h. in der praktischen Umsetzung: durch das Hinzufügen neuer
12*
180 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
344 Vgl. BVerfG, StV 1997,405 f.; BayObLG, NStZ 1995,194. Das BVerfG hatte im Hin-
blick auf Haschisch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG zunächst mit der Begründung
verneint, daß dieser Stoff bereits bei Erlaß des Gesetzes in die Liste aufgenommen war (vgl.
BVerfG, NJW 1992, 107).
345 Vgl. Peter Albrecht, Betäubungsmittelstrafrecht, Einl. Rdnr. 16; Kaschkat, Festschrift
für Krause, S. 123 ff.
346 Zum Bedeutungsgehalt des Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG, § I StGB
vgl. Appel, Verfassung, S. 116 ff.; Eser, in: Schönkel Schröder, § I Rdnrn. 18 ff.; Gribbohm,
in: LK, § I Rdnrn. 26 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz 1Dürig, Art. 103 11 Rdnrn. 178 ff.,
jeweils m. w. N. Zu Art. I schwStGB vgl. NoH, ZStR 72 (1957), 361, 363 ff.; kritisch zur
Umsetzung der normativen Postulate Süß, Bestimmtheitsgebot, S. 209 ff.
347 Vgl. Hasserner, JuS 1987,257,258; ders., KritV 1993, 198,203; Köhler, ZStW 104
(1992), 3, 8; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 187 f.; Scheerer, Genese, S. 82 f.
348 Vgl. beispielhaft - bezogen auf die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland -
die Tatbegehungskataloge in den §§ 52a ff. WaffG und 95 ff. AMG.
34~ Gesetz vom 10. 12. 1929, RGBII, S. 215.
350 Vgl. hierzu i.e. Stämpfli, SJZ 22 (1925/26), 193, 199.
35\ Peter Albrecht, plädoyer 1/1990,26; ders., BtmStrafR, Einl. Rdnr. 25, Art. 19 Rdnrn.
3,36; Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 564, 567 ff.; Joset, ZStR 101 (1984), 152, 155.
352 Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 35 sowie die Botschaft des Bundesrates
an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bun-
desgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI. 1968 I, 737, 743 f.
IV. Das BetäubungsmitteIstrafrecht 181
m VgI. i.e. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines
Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI.
1968 I. 737. 743.
354 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesge-
setzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel. in: BBI. 1968 I,
737.743.
m VgI. Schütz. Strafbestimmungen. S. 31 sowie die Botschaft des Bundesrates an die
Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesge-
setzes über die Betäubungsmittel. in: BBI. 1973 H. 1347. 1352.
356 VgI. Peter Albrecht. BtmStrafR. Art. 19 Rdnrn. 7. 115 ff.• 129 ff.; Vest. Landesbericht,
S.71O.
m VgI. z. B. BGE 95 IV 179 sowie Peter Albrecht, BtmStrafR. Art. 19a Rdnr. I; Heine.
Betäubungsmittelstrafrecht, S. 562.
358 Ablehnend z. B. Schultz SlZ 68 (1972). 229 ff., ders .• SlZ 69 (1973), 65 ff.; vgI. auch
ders., ZStR 113 (1995), 273, 275; bejahend dagegen Bertschi, SlZ 68 (1972), 369 ff.; Schütz,
Strafbestimmungen, S. 63 f.; abwägend: Wartburg, Drogenmissbrauch, S. 312 ff.
35~ VgI. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines
Bundesgesetzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBI.
1973 H, 1347, 1367 sowie Peter Albrecht, BlM 1983,217; ders., BtmStrafR, Art. 19a Rdnr.
I; Schultz, ZStR 113 (1995), 273, 274.
182 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
360 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf eines Bundesge-
setzes über die Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel, in: BBl. 1973 H,
1347,1348. Vgl. auch Peter Albrecht, plädoyer, 3/1983, 7; Killias/Grapendaal, ZStR 115
(1997),94, 101; Schütz, Strafbestimmungen, S. 31; Schultz, ZStR 113 (1995), 273; Weiss,
ZStR 95 (1978),191,192.
361 So auch Schultz, ZStW 97 (1985), 371, 403.
362 Die Rechtsprechung gewährt allein dem ausschließlichen Eigenkosmumenten die Privi-
legierung gemäß den Art. 19a, 19b BetmG (vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnrn.
18 ff. m. w. N.; Heine/Roulet, Landesbericht, S. 1326; Vest, Landesbericht, S. 710) und be-
handelt alle auch-Konsumenten als Händler: BGE 102 IV 125; 1181V 202 ff.; 119 IV 180,
183; vgl. auch Heine, Betäubungsmittelstrafrecht, S. 580 f.; Schmid, SJZ 72 (1976), 91 ff.; kri-
tisch hierzu: Peter Albrecht, BJM 1983,217,223; ders., plädoyer 1/1990,26,27; Joset, ZStR
100 (1983),187, 189 f.; ders., ZStR 101 (1984), 152, 156; Weiss, ZStR 95 (\978), 191,203 f.
363 Die Forderung nach einer Entkriminalisierung des Drogenkonsums wird nicht nur in
der Literatur erhoben (vgl. z. B. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnrn. 8 f. m. w. N.;
Schultz, ZStR 113 (1995) 273, 278), sondern auch von Expertenkommissionen für die Revi-
sion des BetmG unterstützt (vgl. Heine/Hein, Landesbericht, S. 1026; Killias/Grapendaal,
ZStR 115 (1997), 94,101).
364 Vgl. BR-Drucks 665170 (neu), S. 13 ff.
366 Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung sicherstellen, daß durch die Pönalisierung
des Bereitstellens von Geldmitteln als eigenständiges täterschaftliches Verhalten die Versor-
gung des illegalen Rauschgiftmarktes mit zusätzlichen Geldmitteln auch dann strafrechtlich
geahndet werden kann, wenn die Haupttat (= das Handeltreiben mit Btm) nicht begangen
oder versucht wird; vgl. BR-Drucks. 546179, S. 35 f.
367 Hasserner, KritV 1993, 198,203.
IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 183
368 Zur Strafbarkeit der Ausgabe von Fixerutensilien, insbesondere Spritzen vgI. Körner,
BtmG, § 29 Rdnm. 1016 ff.
Zu der in der Grundanlage vergleichbaren Diskussion über die Zulässigkeit einer kontrol-
lierten Abgabe von Heroin vgI. die Kontroverse zwischen Huber, SJZ 88 (1992), 47 ff. und
Jenny, plädoyer 2/1992, 44 ff.
369 Hierzu Körner, BtrnG, § 29 Rdnm. 1034 ff.; ders., ZRP 1995,453 ff. m. w. N. Zur
Rechtslage in der Schweiz vgI. Schultz, ZStR 106 (1989), 276 ff.
370 VgI. den Überblick bei Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 320 ff., 357 ff.; Paul, StV 1998,
623.
371 VgI. BGHSt 43, 158, 161/162 m. w. N.; BGH, StV 1985, 14; 1995, 198 f.; BGH,
NSIZ-RR 1996,374. Allerdings betont auch der Bundesgerichtshof, daß "nicht jede Eigen-
nützigkeit" für die Annahme täterschaftlicher Begehung ausreichen soll (BGH, NSIZ-RR
1997, 86). Insbesondere "eine ganz untergeordnete Tätigkeit genügt in aller Regel nicht"
(BGH, StV 1995, 198 f.); kritisch zur Rspr.: Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 189.
372 VgI. BGH, NSIZ 1993,44,45; 1996,93.
373 BGH, NSIZ 1992,38,39; 1992, 191; 1994,441 mit abI. Bespr. Krack, JuS 1995,585,
586 f.; BGH, NSIZ-RR 1996, 374; BGH, StV 1996,662,663; vgI. auch bereits BGHSt 6,
246,247 zu § 10 Abs. I Nr. 1 OpiumG.
374 VgI. BGH, StV 1992,517 mit krit. Anm. Roxin, 519 f.; vgI. auch Roxin, StrafR AT,
Teilbd. I, § 2 Rdnr. 26: die Rechtsprechung nähere "sich bedenklich einem Gesinnungsstraf-
recht".
184 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
375 Kempf, NJW 1997, 1729, 1732; Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 189; Nestler,
Grundlagen, Rdnr. 357, 360 ff., 364 ff.; Paul, StV 1998,623,624 f. Vg!. auch Harzer, StV
1996, 336, 337, die darlegt, daß die Auslegung des Handeltreibens als Unternehmensdelikt
im Ergebnis zur Pönalisierung des "Versuchs des Versuchs des Handeltreibens" führt.
376 Peter Albrecht, plädoyer I! 1990, 26; ders., BtmStrafR, Ein!. Rdnr. 25; Joset, ZStR 101
(1984), 152, ISS.
377 Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 254 ff.; vg!. auch Heine! Spalinger, Landesbericht,
S. 1399 f.; Heine! Hein, Landesbericht, S. 1042; Schütz, Strafbestimmungen, S. 60.
378 BGE 118 IV 200, 205.
379 BGE 106 IV 227; 111 IV 31; kritisch hierzu insbesondere Jenny, Beiheft Nr. I zur
ZSR, S. 97 ff.; anders jetzt BGE 117 IV 314, 319 ff.
IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 185
380 Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 71 Cf.; Heine, Betäubungsmittelstraf-
recht, S. 570 f.
381 BGE 121 IV 293; zustimmend hierzu Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 95;
kritsch dagegen Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 257 Cf.
382 BGE 117 IV 309, 312 f.; zustimmend bzw. noch weitergehend Peter Albrecht,
BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 124, 127 f.; kritisch Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 257 ff.
383 BGE 117 IV 309, 312 f.; zustimmend Peter Albrecht, plädoyer 4/1992, 28, 29; ableh-
nend dagegen Hug-Beeli, ZStR 115 (1997), 249, 262 ff.
384 BGE 119 IV 180; vgl. hierzu Vest, Landesbericht, S. 711.
385 Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 33; 7/5291, S. 18 zu § 283 Abs. I Nr. 8 dStGB.
Um der Gefahr entgegenzuwirken, die durch einen konkreten Sach- und Perso-
nalmittelbestand in ihrer Verarbeitungskapazität beschränkte Strafrechtspflege fak-
tisch zu überfordern, hat der Gesetzgeber materieHrechtliche Korrektive und pro-
zessuale Instrumentarien geschaffen, die es ermöglichen soHen, in FäHen, in denen
dies opportun erscheint, von einem Einschreiten abzusehen. 389 Auf materiellrecht-
licher Ebene werden die grundsätzlich auf eine möglichst umfassende Pönalisie-
rung abzielenden Zurechnungsstrukturen durch Korrektive ergänzt, die - wie z. B.
das Merkmal der "Unbefugtheit" in § 324 Abs. 1 dStGB oder das Merkmal des
"den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft grob widersprechenden"
Verhaltens in § 283 Abs. 1 Nr. 8 dStGB - die Möglichkeit eröffnen, den Strafbar-
keitsbereich zumindest in gewissem Umfang wieder. einzugrenzen. Der unbe-
stimmte bzw. wertungsabhängige Charakter sowohl der strafbarkeitsbegründenden
als auch strafbarkeitsbegrenzenden Zurechnungselemente führt insgesamt gesehen
aHerdings dazu, daß die Entscheidung darüber, welche Verhaltensweisen konkret
dem Strafbarkeitsbereich unterfaHen, in weitem Umfang erst bei der Bewertung
konkreter Sachverhalte erfolgen kann und damit in erster Linie durch und aufgrund
von Entscheidungen der Strafverfolgungsorgane getroffen wird.
Die bestimmende RoHe, die den Strafverfolgungsorganen bei der Konkretisie-
rung des Strafbarkeitsbereichs zukommt, beschränkt sich indes nicht mehr nur dar-
auf, wertungsabhängige Elemente der materiellrechtlichen Zurechnungsstruktur
auszufüHen, sondern geht weit darüber hinaus. In der Bundesrepublik Deutschland
haben sich insbesondere die §§ 153 ff. dStPO zum praktisch wichtigsten Instru-
ment der verfahrensrechtlichen Aussonderung in concreto nicht-strafbedürftiger
Tatbestandsverwirklichungen entwickelt,390 die es den Strafverfolgungsorganen
nunmehr bis weit in den Bereich der mittleren Kriminalität hinein ermöglichen,
entweder bereits von vornherein auf eine Strafverfolgung zu verzichten oder aber
das Verfahren gegen Auferlegung von Weisungen oder Auflagen ohne Entschei-
dung über das Vorliegen einer Straftat zu beenden. 391 Zu verweisen ist außerdem
auf die §§ 29 Abs. 5, 31, 31a dBtmG, die für den quantitativ bedeutsamen Bereich
der Betäubungsmittelkriminalität weitere Möglichkeiten eröffnen, in BagateHfäHen
bzw. als Gegenleistung für eine Kooperation des Beschuldigten mit den Strafver-
folgungsbehörden das Verfahren einzusteHen bzw. von einer Bestrafung abzuse-
hen. In der Schweiz existiert eine entsprechende Regelung in Art. 19a Ziff. 2
388 Vgl. BT-Drucks. 8/2382, S. 10 f., 13 sowie Tiedemann, Neuordnung, S. 30 mit dem
Hinweis darauf, daß ein "absoluter" Gewässerschutz bereits durch § 38 WHG 1976 etabliert
worden war.
389 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, KritV 1993, 163, 171 f.; ders., StV 1994,265,269 f.; Has-
semer, ZRP 1992, 378, 383.
390 Vgl. Fezer, ZStW 106 (\994), I, 26 f.; Hirsch, Gedächtnisschrift für H. Kaufmann,
S. 141, jeweils m. w. N.
39\ So verstehen z. B. Heine/Meinberg, Gutachten, D 92/93 die Rolle der §§ 153, 153a
StPO dahingehend, den Strafverfolgungsorganen die Aussonderung von Grenzfällen der
Strafwürdigkeit zu ermöglichen, die aufgrund der Weite des § 324 dStGB zu Unrecht in die
Verfolgung gelangt sind; vgl. auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 125.
IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 187
394 BVerfGE 90, 145 mit abI. Bespr. Nelles/Velten, NStZ 1994, 366 ff.
396 Die von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des BVerfG auf dem 20. Strafverteidi-
gertag vorgetragene Interpretation des Cannabis-Beschlusses, derzufolge nach Auffassung
des BVerfG die umfassende Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln - einschließ-
lich der Tatbestandsaltemativen des Besitzes und des Erwerbs - aus generalpräventiven
Gründen legitim sein soll, dürfte mit dem Beschluß selbst nur schwer zur Deckung zu brin-
gen sein; vgl. aber Franke, Strafgewalt, S. 232.
397 BVerfGE 90, 145, 189 ff., 193; vgl. auch BVerfG, NStZ 1995, 37; zur äußerst restrikti-
ven Umsetzung der Vorgaben des BVerfG durch die Strafrechtsprechung vgl. BayObLG,
NStZ 1994, 496 f.; OLG Düsseldorf, NStZ 1995, 94,95; OLG Zweibrücken, NStZ 1995,
193, 194; zu den Richtlininen zur Anwendung des § 31a BtmG vgl. Schneider, StV 1994,
390 ff.
39M Vgl. Franke, Strafgewalt, S. 232; grundsätzlich bejahend zur Austauschbarkeit von ma-
teriellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Lösungen auch Appel, Verfassung, S. 589 f.;
Gössel, Festschrift für Dünnebier, S. 135/136; Wolter, Dogmatik, S. 3 ff. sowie Kuhlen,
Strafrechtsbegrenzung, S. 95; kritisch hierzu Frisch, Straftat, S. 202 f. mit dem Hinweis dar-
auf, daß dies in der Sache darauf hinauslaufe, "Sachverhalte, die die Schwelle des Kriminal-
unrechts nicht erreichen, aber in gewisser Weise ahndungsbedürftig erscheinen (Normbe-
188 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
lieh, wenn der Gesetzgeber ein Verhalten einerseits materiellrechtlich für strafbar
erklärt und andererseits darauf setzt, daß die Strafverfolgungsorgane von verfah-
rensrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen werden, von einer Verfolgung
abzusehen. 399 Darüber hinaus darf nicht vernachlässigt werden, daß die erst wäh-
rend des Strafverfahrens mögliche Korrektur materiellrechtlich zu weit gefaßter
Straftatbestände dazu führt, daß der bei materiellrechtlicher Betrachtung letztlich
zu Unrecht Beschuldigte zunächst einmal belastenden Ermittlungsmaßnahmen
ausgesetzt ist. 4OO Weiterhin ist er der Gefahr ausgesetzt, mit den Kosten seiner Ver-
teidigung und möglicherweise auch mit den Kosten des Verfahrens belastet zu wer-
den. Schließlich bleiben die Möglichkeiten, Rechtsanwendungsgleichheit bzw. die
Respektierung der verfassungsrechtlich gebotenen Strafwürdigkeitsgrenzen gegen
bzw. durch die Strafverfolgungsorgane durchzusetzen, weit hinter den Möglichkei-
ten zurück, die eine materiellrechtliche Entkriminalisierung eröffnen würde. 401 Da
das Problem der übermäßigen Reichweite von Strafrechtsnormen ein Problem des
materiellen Rechts ist, erscheint es nach alledem sachgerecht, auch die Lösung des
Problems im materiellen Recht anzusiedeln. 402
Die prozessuale Verfolgungsbeschränkung stellt aber nicht nur die für den be-
troffenen Bürger gegenüber einer materiellen Tatbestandskorrektur belastendere
Alternative dar. Mißachtet wird darüber hinaus auch der Grundsatz, daß es in einer
gewaltengeteilten Demokratie Aufgabe des Gesetzgebers ist, den Bereich strafba-
ren Verhaltens abstrakt-generell abzugrenzen und gesetzlich bestimmt zu bezeich-
nen. 403 Das Bundesverfassungsgericht selbst betont in ständiger Rechtsprechung,
400 Nach der Einschätzung von Kreuzer, Festschrift für Miyazawa, S. 190, ist dies jeden-
falls im Hinblick auf das Betäubungsmittelstrafrecht auch gewollt.
401 Nelles/Velten, NStZ 1994, 366, 367 ff.; Gusy, JZ 1994, 863, 864; Schneider, StV
1994,390,391; Wolter, GA 1996,207,229; vgl. auch bereits Frisch, Festschrift für Streel
WesseIs, S. 105; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 126, 132; Kasper, Erheblichkeitsschwel-
le, S. 107 f.; Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 40 f.; Naucke, GA 1984, 199, 206; vgl. aber auch
Killias/Grapendaal, ZStR 115 (1997),94, 106 f., die der Gefahr der WiIIkürlichkeit durch
die Anwendung von Richtlinien begegnen wollen. Vgl. auch Lagodny, Strafrecht, S. 461 ff.,
mit dem Hinweis darauf, daß de lege lata auch der Richter zu einem ungerechtfertigten
Schuldspruch gezwungen werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft die Zustimmung zu ei-
ner sachlich gebotenen Einstellung des Verfahrens verweigere.
402 Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 105; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 134;
Weigend, ZStW 109 (1997), 103, 106 m. w. N.; vgl. auch Driendl, ZStR 97 (1980), I, 10.
IV. Das Betäubungsmiuelstrafrecht 189
Art. 103 Abs. 2 GG sei die Verpflichtung des Gesetzgebers zu entnehmen, die Vor-
aussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und An-
wendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung
ermitteln lassen. Diese Verpflichtung diene - so das Bundesverfassungsgericht -
einerseits dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten, der vorhersehen kön-
nen soll, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei. Darüber hinaus
soll sichergestellt werden, "daß nur der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entschei-
det." Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen strengen Gesetzesvorbehalt, "der es der
vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, über die Voraussetzun-
gen einer Bestrafung selbst zu entscheiden. ,,404 Wenn aber Straftatbestände entwe-
der über umfassende Tathandlungkataloge oder über generalklauselartig vage um-
schriebene Tatbestandsmerkmale zunächst einmal uferlos weit gefaßt werden und
die "Tendenzangaben,,405 des Gesetzgebers dann erst im Einzelfall und durch Ent-
scheidungen der Strafverfolgungsorgane auf den materiell legitimen Bereich straf-
würdigen Verhaltens zurückgeführt werden können, wird der Grundsatz, "daß der
Gesetzgeber und nicht erst die Gerichte über die Ahndbarkeit entscheiden",406
mißachtet. 407 Daß sich die Aufgabe des Gesetzgebers nicht darin erschöpfen kann,
den äußersten Rahmen des potentiell strafbaren Bereichs zu umschreiben, sondern
darüber hinaus die Grenzlinie zwischen strafbarem und nicht-strafbarem Verhalten
durch den Gesetzgeber selbst zu bestimmen ist, hat die entscheidungstragende
Mehrheit des BVerfG im Cannabis-Beschluß verkannt, wo allein auf die Kompo-
nente der Vorhersehbarkeit der Bestrafung - genauer: der Möglichkeit der Bestra-
fung - abgestellt wird. 408
403 Nelles I Velten, NStZ 1994, 366, 370; Wolter, GA 1996, 207, 229; Frisch, Strafbarkeits-
voraussetzungen, S. 231; ders. , VelWaltungsakzessorietät, S. 126, 132, 134.
Allgemein zur Bedeutung des Prinzips der gewaltengeteilten Demokratie für den Grund-
satz der Gesetzesbestimmtheit vgl. Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 5 Rdnr. 20 sowie das Son-
dervotum des Verfassungsrichters Sommer zum Cannabis-Beschluß des BVerfG, NJW 1994,
1588, 1590 sowie die insoweit zus!. Anmerkungen von Ambos, MschrKrim 1995,47,48 f.;
Böllinger, KJ 1994, 405, 408; Kniesei, ZRP 1994, 352, 357; Lüderssen, StV 1994, 508, 509
Fußn. 15; a.A. Lampe, Festschrift für R. Schmitt, S. 93, der dem Richter die Aufgabe zu-
spricht, auf der Basis des StGB gestaltend in das soziale Leben einzugreifen.
404 BVerfG, NJW 1995,2776,2777; BVerfGE47, 109, 120; 71,103,114; 75,329,341;
87,209,223 f.; 87, 363, 391; BVerfG, NStZ 1989,229,230; vgl. auch Appel, Verfassung,
S. 118; Grünwald, ZStW 76 (\964), I, 13 f., 16; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 116;
Krey, Festschrift für Blau, S. 130 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 103 Abs. II
Rdnrn. 180, 184.
405 Frisch, VelWaltungsakzessorietät, S. 126.
406 BVerfGE87, 399,411; vgl. auch BVerfGE92, I, 12; BVerfG, StV 1997,407.
In der Diktion des Bundesgerichtshofes liest sich dies vergleichbar wie folgt:
"Schutzgut der betäubungsmiuelrechtlichen Strafnormen sind nicht allein und in erster Li-
nie das Leben und die Gesundheit des einzelnen wie bei den §§ 211 f., 222, 223 ff. StGB.
Vielmehr sol\ Schäden vorgebeugt werden, die sich für die Allgemeinheit aus dem verbrei-
teten Konsum vor allem harter Drogen und den daraus herrührenden Gesundheitsbeein-
trächtigungen der einzelnen ergeben (Schutzgut ,Volksgesundheit'; ... )".412
Gegen die Verwendung des Begriffs der Volks gesundheit ist einzuwenden, daß
von einem über die Summe der Körper der einer Gesellschaft angehörigen jeweili-
gen Einzelindividuen hinausgehenden, gesonderten "Volkskörper" allenfalls in ei-
nem metaphorischen Sinne gesprochen werden kann, die Volksgesundheit mithin
nichts anderes ist bzw. sein kann, als eine Bezeichnung für die Summe der Gesund-
heit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder.413 Das Schlagwort des Schutzes der
Volksgesundheit ist damit bereits begrifflich ungeeignet, die im Gesetzgebungsver-
fahren für die Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln genannten Ziel-
setzungen adäquat zu erfassen.
Eine allein begriffliche Kritik am Schlagwort der Volksgesundheit würde indes
zu kurz greifen. Tatsächlich will nämlich auch der Gesetzgeber die Straftatbestän-
de des Betäubungsmittelstrafrechts gar nicht durch den Schutz der Gesundheit ei-
nes wie auch immer gearteten "Volkskörpers" legitimieren. Verfolgt werden viel-
mehr mehrere verschiedene Schutzinteressen, insbesondere: 414 der Schutz des Le-
bens sowie der personalen (physischen und psychischen) Integrität des Drogenkon-
sumenten, das Interesse, einer Desintegration der Gesellschaft durch grundsätzlich
abweichende Lebensstile entgegenzuwirken, das Interesse, die durch den drogen-
bedingten Ausfall einzelner Gesellschaftsmitglieder und die zu deren Wiederein-
gliederung notwendigen Rehabilitierungsmaßnahmen sowie die mit dem Drogen-
konsum verbundene Begleitkriminalität, insbesondere in der Form der sog. Be-
schaffungskriminalität, zu vermeiden, und schließlich das Interesse, die - unter an-
derem - im Bereich des Drogenhandels tätige "Organisierte Kriminalität" zu
bekämpfen und den insoweit von der Bundesrepublik Deutschland - bzw. der
Schweiz - eingegangenen internationalen Verpflichtungen zu genügen. Maßge-
bend ist damit, ob diese im Gesetzgebungsverfahren benannten konkreten Interes-
sen geeignet sind, die Strafnormen zu legitimieren.
Die Klärung der Frage, ob die oben genannten Interessen das strafbewehrte Ver-
bot des Umgangs mit Rauschmitteln zu legitimieren vermögen, wird weiterhin da-
durch kompliziert, daß - bedingt durch die Tatbestandsstruktur der §§ 29 ff.
dBtmG / Art. 19 ff. schwBetmG sowie den durch die Bezugnahme auf die in § 1
dBtmG / Art. 1 schwBetmG genannten Rechtsverordnungen außerordentlich weit
gefaßten Anwendungsbereich - weitere Differenzierungen erforderlich sind: Zum
einen ist zu trennen zwischen Tatbestandsalternativen, die Verhaltensweisen des
Betäubungsmittelkonsumenten selbst betreffen, und solchen, die Verhaltensweisen
von Personen erfassen, die anderen Personen den Konsum ermöglichen. Darüber
412 BGHSt 37,179,182 mit zustimmenden Anm. Beulke/Schröder, NStZ 1991, 393, 394
und Rudolphi, JR 1991, 572, 573 f. sowie einer krit. Anm. von Nestler-Tremel, StV 1992,
273,276.
413 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 216/217; ders., Festschrift für Stree I Wesseis,
S. 94; Köhler, MDR 1992,739; ders., ZStW 104 (1992),3,27 f.; Puppe, in: NK, Vor § 13
Rdnr. 174.
414 Vgl. hierzu Peter Albrecht, BtmStrafR, Einl. Rdnm. 30 ff.; Jenny, Drogenpolitik,
S. 169; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 24 ff.
192 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
hinaus ist jeweils innerhalb dieser Gruppen nochmals zwischen den verschiedenen
Suchtstoffen zu differenzieren, insbesondere zwischen Betäubungsmitteln mit ge-
ringem Gefährdungspotential (sog. weiche Drogen) und Betäubungsmitteln mit ho-
hem Gefährdungspotential (sog. harte Drogen).
Sollen Gefährdungen für das Leben, die Psyche und den Körper des Drogenkon-
sumenten die Pönalisierung des Umgangs mit bestimmten Rauschmitteln legiti-
mieren, stellt sich zunächst das Problem, das Gefährdungspotential eines konkreten
Rauschmittels empirisch zu erfassen. Angesichts der Schwierigkeit, insoweit ver-
läßliche Erkenntnisse zu gewinnen,415 ist auf die bereits oben dargestellten Grund-
sätze zu verweisen: 416 Einerseits vermag bereits die Vermutung der Gefährlichkeit
eine vorbeugende Pönalisierung zu rechtfertigen, andererseits wird die vorläufige
Pönalisierung illegitim, wenn die Gefährlichkeitsvermutung entweder falsifiziert
oder aber nicht innerhalb eines überschau baren Zeitraumes positiv bestätigt wird.
Beispielhaft: Die Pönalisierung des Umgangs mit Cannabisprodukten wird man
angesichts dessen, daß die Annahme einer von diesen Produkten ausgehenden Ge-
fahr für Körper und Gesundheit des Konsumenten von den Ergebnissen der empiri-
schen Drogenforschung widerlegt wird oder doch zumindest nicht bestätigt werden
konnte, nicht mehr auf den Gesichtspunkt stützen können, daß dies dem Schutz der
personalen Integrität potentieller Konsumenten dienen SOll.417
Selbst dann, wenn - wie beispielsweise für Heroin418 - die Gefährlichkeit eines
Rauschmittels nachgewiesen ist, folgt hieraus aber noch nicht ohne weiteres, daß
die Pönalisierung des Umgangs mit diesem Stoff durch die Zielsetzung, die perso-
nalen Rechtsgüter des Konsumenten schützen zu wollen, ohne weiteres begründet
werden kann. Zu berücksichtigen ist, daß grundsätzlich niemand von Rechts wegen
verpflichtet ist, seinen Körper gesund bzw. sich selbst am Leben zu erhalten, die
bloße Selbstgefährdung also kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellt. 419
Wenn aber der Drogenkonsument seine Gesundheit und auch sein Leben gefährden
darf, kann weder die Pönalisierung des Konsums gefährlicher Rauschmittel noch
die Pönalisierung der den Eigenkonsum vorbereitenden Verhaltensweisen des Kon-
sumenten im Hinblick auf dessen Selbstgefährdung legitimiert werden. 42o Im Er-
gebnis dürfte diese These weitgehend unstreitig sein. Die auf den ersten Blick ge-
genteilige Auffassung des Bundesgerichtshofes, derzufolge der Schutzzweck der
Vorschriften des BtmG eine Einschränkung des Prinzips der Selbstverantwortung
und damit der Grundsätze der bewußten Selbstgefährdung verlange, basiert auf der
Annahme, daß die Straftatbestände des BtmG neben dem Schutz der körperlichen
Integrität noch weitere Schutzzwecke verfolgen, die der Disposition des Drogen-
konsumenten entzogen sind. 421 Dieser Frage wird weiter unten nachzugehen sein.
Festzuhalten bleibt, daß unabhängig davon, welches Gefährlichkeitspotential ein
bestimmtes Rauschmittel konkret besitzt, die Pönalisierung von Verhaltensweisen
auf der Konsumentenseite jedenfalls nicht auf das Rechtsgut der körperlichen Inte-
grität bzw. des Lebens gestützt werden kann. 422
Der Grundsatz, daß die bewußt und eigenverantwortlich423 eingegangene Selbst-
gefährdung kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellen kann, hat aber nicht
nur Bedeutung für das selbstgefährdende Verhalten des Drogenkonsumenten
selbst. Er ist darüber hinaus von Bedeutung für das Verhalten von Personen, die
13 Wohler.
194 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
durch ihr Verhalten anderen Personen den Konsum ermöglichen. Behält der Kon-
sument die freie Entscheidung darüber, ob er ein Rauschmittel konsumieren will
oder nicht, kann die strafrechtliche Relevanz des Verhaltens der Personen, die ihm
den Konsum ermöglicht haben, nicht auf die Zielsetzung gestützt werden, das Le-
ben bzw. die körperliche Integrität des Konsumenten gegen dessen freien Willen
zu schützen. 424 Insoweit kann nichts anderes gelten als im Rahmen der Tötungs-
und KörperverietzungsdeJikte: 425 Abgesehen von den Fällen der Nötigungs- bzw.
Irrtumsherrschaft ist auch ein fremdgefährdendes Verhalten erst dann strafrechtlich
relevant, wenn die Entscheidung zur Selbstgefährdung nach den Maßgaben der
Strafrechtsordnung keine Entlastung des Dritten bewirken kann, etwa weil der Ein-
willigende z. B. aufgrund seiner Jugend oder infolge einer - insbesondere: sucht-
bedingten - Beeinträchtigung seiner Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit habituell
bzw. situativ nicht kompetent ist, eine eigenverantwortliche Entscheidung zu tref-
fen. 426
Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, daß bei Rauschmitteln
mit besonders hohem Suchtpotential - beispielhaft: Heroin - ein umfassendes Ver-
bot umsatz- und abgabeorientierter Verhaltensweisen aufgrund des ihnen innewoh-
nenden unbeherrschbaren Gefahrenpotentials legitim sein soll,427 kann dem nicht
gefolgt werden. Der Gesichtspunkt, daß sich Konsumenten bestimmter, mit einem
besonders hohen Suchtpotential ausgestatteter Rauschmittel mehr oder weniger
424 Vgl. Frisch, Festschrift für Stree 1Wesseis, S. 95; Nestler-Tremel, StV 1992,273,274;
Neumann, GA 1996,36,38 f.; Rudolphi, JR 1991,572,573; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr.
79a; a.A. Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 173, die aus der positivrechtlichen Pönalisierung des
Inverkehrbringens von Betäubungsmitteln auf die Möglichkeit der Zurechnung beim Betäu-
bungsmittellieferanten schließen will.
425 Grundlegend hierzu: BGHSt 32, 262 ff. mit Anm. Kienapfel, JZ 1984,751, Anm. Ro-
xin NStZ 1984,411 und Bespr. Stree, JuS 1985, 179 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhal-
ten, S. 154 ff.; ders., NStZ 1992, 1,6; ders., NStZ 1992,62,63; Nestler, Grundlagen, Rdnrn.
102 ff.; vgl. jetzt aber auch BGHSt 39, 322, 325 f. mit Bespr. Bernsmann/Zieschang, JuS
1995, 775 ff.; a.A. Weber, Festschrift für Spende!, S. 373 ff., der gerade im Gegenteil aus
dem Bestehen der Normen des BtmG folgern will, daß auch hinsichtlich der §§ 222,230 eine
Zurechnung geboten sei.
426 Böllinger, KJ 1991,393,406; Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 156; Fein-
berg, Vol. I, S. 116; ders., Vol. 3, S. !O; Gusy, JZ 1994, 863; Hohmann, MDR 1991, 1117 f.;
Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 36 f.; Lenckner, in: Schönkel Schröder, Vorbem §§ 13 ff. Rdnr.
!OIe; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 75 Fußn. 55; Nestler-Tremel, StV 1992,273,275 Fußn.
29; Papageorgiou, Schaden, S. 225, 228 f.; Rdolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 79b. Daß bei
einer Teil-Entpönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln Mißbräuche nicht auszu-
schließen sind, kann eine umfassende Pönaisierung ebenfalls nicht legitimieren; vgl. inso-
weit: Haffke, ZStW !O7 (1995), 761, 781 f.; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 65.
427 Vgl. Harzer, StV 1996, 336, 337/338 sowie Köhler, ZStW 104 (1992), 3, 38 f., bezo-
gen auf "qualifiziert gefährliche" Drogen wie z. B. Heroin. Der Sache nach muß dieser
Standpunkt auch von den Autoren geteilt werden, die aus der auf Hegel zurückgehenden
Pflicht ,,Person zu sein" die Legitimität des Selbstmordes ableiten, vgl. z. B. Hösle, Staat,
S. 50 ff., der allerdings im Hinblick auf die Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmit-
teln auf die gesellschaftlichen Folgekosten verweist; ablehnend: Nestler, Grundlagen, Rdnrn.
206 ff.; ders., Buffalo Criminal Law Review, Vol. 1(1998),661,675 f.
IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 195
428 Vgl. Charlesworth, Leben, S. 42 f.; Feinberg, Vol. 3, S. 71 ff.; Frisch, Selbstbestim-
mung, S. 117. 120, 124/125, sowie Nestler, Grundlagen, Rdnm. 206 ff., mit dem Hinweis
darauf, daB der als Folge des Konsum von Betäubungsmitteln - auch sog. harter Drogen, wie
z. B. Heroin - eintretende Freiheitsverlust schon empirisch gesehen nicht mit dem aus einer
Selbstversklavung resultierenden Freiheitsverlust gleichgesetzt werden kann, da weder ein
vollständiger noch ein irreversibler Freiheitsverlust eintrete.
429 So Köhler, ZStW 104 (1992), \, 21.
430 Eine Fallgestaltung, in der sich die Pflicht, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen,
aus einer besonderen Rechtspflicht gegenüber anderen herleitet - wie z. B. bei dem in § 17
WStG erfaBten Verbot der Selbstverstümmelung - liegt hier ersichtlich nicht vor (vgl. Köhler,
ZStW 104 (1992), 1,21). Abgesehen davon, würde dieser Ansatz - ebenso wie das von Fein-
berg, Vol. 3, S. 22/23 vorgeschlagene "garrison model", demzufolge es Situationen geben
kann, in denen sich der einzelne der Mitwirkung an der Erhaltung der Gemeinschaft nicht
entziehen darf, den Gesichtspunkt des Schutzes personaler Interessen (des Konsumenten)
überschreiten.
431 Auf die Unkontrollierbarkeit der Verbreitung und die hieraus resultierenden Gefahren
für nicht veranwortungsfahige Konsumenten heben ab: Köhler, ZStW 104 (1992), 1,37 ff.;
Roxin. StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 19; vgl. auch Feinberg, Vol. 3, S. 175.
432 Papageorgiou, Schaden, S. 235 FuBn. 385 zur Parallelproblematik bei § 216 dStGB.
13'
196 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
436 Köhler, MDR 1992, 739 f., der hieraus schlußfolgert, das Rechtsgut der betäubungs-
mittelstrafrechtIichen Tatbestände könne allein personale Qualität haben.
437 Vgl. oben S. 94 ff.
438 Vgl. Beck, Unrechtsbegründung, S. 56 ff., insbesondere S. 60; Köhler, ZStW 104
(1992),3,15 f.; Nestler, Rechtsgüterschutz, S. 71 f.
439 Vgl. oben S. 94 f. sowie Beck, Unrechtsbegründung, S. 84 f.
440 Vgl. oben S. 94,139 sowie Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 152 ff., 185 f., 192,224.
IV. Das Betäubungsmittelstrafrecht 197
441 Diese zu bestimmen, ist das grundlegende Problem präventiv orientierter Strafrechtssy-
steme (v gl. Beck, Unrechtsbegründung, S. 46 ff., 53; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 72, 94 f.,
137, 142, 165; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 58).
442 Vgl. hierzu oben S. 159 ff. sowie Nestler, Grundlagen, Rdnrn. \09 f., 240 ff., mit dem
Hinweis darauf, daß das Prinzip der Selbstbestimmung der Zurechnung der (Beschaffungs-)
Straftaten beim Hintermann entgegensteht.
443 Vgl. Z. B. die Anlage E Ziff. 2 zu den RiStBY.
198 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
lich nicht mehr als ein Appell an affektbeladene Bedrohungsgefühle. Weiterhin ist
anzumerken, daß es widersprüchlich erscheinen muß, Kriminalität, deren (organi-
sierte) Begehung bekämpft werden soll, durch die Pönalisierung bestimmter Ver-
haltensweisen erst zu schaffen, damit man sie dann bekämpfen kann. 444 Abgesehen
von allen sonstigen, mit der Pönalisierung des Umgangs mit Betäubungsmitteln
einhergehenden negativen Effekten 445 ist der Verweis auf die Bekämpfung der (or-
ganisierten) Drogenkriminalität mithin schlicht zirkelhaft. 446 Geht man davon aus,
daß die Organisierte Kriminalität auch auf anderen Gebieten kriminell tätig ist,
würde dieser Vorwurf zwar entfallen. Bedenklich wäre dann aber, daß der Umgang
mit Drogen pönalisiert wird, weil man bestimmte Personen, die man präsumtiv als
besonders gefährliche Kriminelle eingestuft hat, im Hinblick auf ihre sonstigen
Aktivitäten nicht zu fassen vermag. Die Grenzen einer tatorientierten Strafwürdig-
keitsbestimmung wären hier eindeutig überschritten. 447
Gleiches gilt im Ergebnis für den Topos, wonach das strafbewehrte Verbot des
Umgangs mit Rauschmitteln dem Ziel diene, Verpflichtungen zu erfüllen, die die
Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz durch den Abschluß von internatio-
nalen Verträgen und Übereinkommen betreffend die Kontrolle von Suchtstoffen
und psychotropen Stoffen eingegangen sind. Abgesehen davon, daß bereits fraglich
ist, in weIchem Umfang diesen internationalen Verträgen und Übereinkommen
überhaupt eine Verpflichtung zum Erlaß strafbewehrter Umgangsverbote zu ent-
nehmen ist,448 können Verhaltensweisen nicht allein deshalb als sozialethisch zu
mißbilligendes Kriminalunrecht angesehen werden, weil sich die Bundesrepublik
Deutschland und die Schweiz im Rahmen internationaler Vereinbarungen ver-
pflichtet haben, diesen Verhaltensweisen entgegenzuwirken. 449 Festzuhalten
bleibt: Die Zielsetzung, das Phänomen der Organisierten Kriminalität bekämpfen
zu wollen, kann die Pönalisierung des Umgangs mit Rauschmitteln nicht legitimie-
ren - und dies unabhängig davon, ob diese Zielsetzung durch innerstaatliche oder
supranationale Erwägungen motiviert wird.
450 Vgl. Haffke, ZStW 107 (1995), 761, 782; Nestler, Grundlagen, Rdnrn. 223 ff.; a.A. -
ohne überzeugende Begründung - Schütz, Strafbestimmungen, S. 61 f.
451 Vgl. Böllinger, KJ 1991,393,394 f.; Köhler, ZStW 104 (1992),3, ll, 34 f.; Nestler,
Grundlagen, Rdnr. 212.
452 Vgl. Hassemer, KritV 1993, 198,204 ff.; Köhler, ZStW 104 (1992),3, 10 ff.
m Vgl. Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19a Rdnr. 5; Böllinger KJ 1991,393,406; Fein-
berg, Vol. 1, S. 24 f.; ders., Vol. 3, S. 92 f, 138 ff.; Haffke, ZStW 107 (1995), 761, 780; Hoh-
mann / Matt, JuS 1993, 370, 372; Jenny, Drogenpolitik, S. 170 sowie Nestler, Grundlagen,
Rdnrn. 236 f., mit dem Hinweis darauf, daß die Vernachlässigung sozialer Verpflichtungen
200 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
457 Peter Albrecht, BtmStrafR, Ein\. Rdnrn. 47 f.; Köhler, 'ZStW 104 (1992), 3, 8; Papage-
orgiou, Schaden, S. 224 Fußn. 370; vg\. auch Schneider, StV 1992,514,516, der diesen To-
pos als Grund einer Kriminalisierung offenbar grundsätzlich für legitim hält, im konkreten
Zusammenhang mit dem Konsum von Cannabisprodukten aber darauf abstellen will, daß der
Drogenkonsum heutzutage kein Symbol der Revolte gegen die bestehende Ordnung mehr
sei, nicht zuletzt auch wegen der weiten Verbreitung diesen Verhaltens in der Bevölkerung.
458 Vg\. Haffke, 'ZStW 107 (1995), 761, 787 sowie Papageorgiou, Schaden, S. 230: Es ge-
he um die Bekämpfung lasterhaften Verhaltens, vergleichbar etwa "abnormalen" Sexualprak-
tiken.
459 Böllinger, KJ 1991,393,406; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 217.
460 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 318 ff.; Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 38 f.; Jung, 'ZStW
100 (1988),3, 12; Marx, Definition, S. 84 ff.; Roxin, JuS 1966,377,382; ders., StrafR AT,
Teilbd. I, § 2 Rdnr. 12; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 10
461 Vg\. oben S. 65 ff.
d) Zwischenergebnis
Während in den 70er Jahren die von der Zerstörung bzw. chemischen Vergiftung
der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden ausgehenden Gefahren im Vorder-
grund der gesellschaftlichen und kriminal politischen Auseinandersetzung standen,
trat beginnend mit den 80er Jahren eine neuartige Gefährdung in den Vordergrund:
Die aufgrund von Entwicklungen in der Molekularbiologie sowie Reproduktions-
und Gentechnologie nunmehr zumindest in den Bereich des Möglichen gerückte
Veränderung von Flora und Fauna sowie des Menschen selbst. Den möglichen Vor-
teilen dieser Entwicklung - beispielsweise im Bereich der Nahrungsmittelproduk-
tion und bei der Bekämpfung von Umweltschäden und Krankheiten - korrespon-
diert neben dem Szenario einer durch gentechnisch manipulierte Organismen her-
vorgerufenen, in ihren Konsequenzen nicht einschätzbaren Veränderung der Um-
welt vor allem die Befürchtung, daß die gleichen Erkenntnisse letztlich auch zu
manipulativen Eingriffen in die genetische Identität des Menschen führen und da-
mit letztlich die gezielte Züchtung von Menschen mit bestimmten Eigenschaften
ermöglichen könnten.467 Die Ambivalenz der antizipierten Entwicklung zeigt sich
beispielhaft daran, daß ein elaboriertes genetisches Screening einerseits helfen
kann, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, andererseits aber auch die Grundla-
gen für Differenzierungen nach genetischen Potentialen schafft, die von einer Ab-
stufung des Krankenversicherungsschutzes bis zu einer eugenisch motivierten Ab-
treibungspraxis reichen können. 468
465 So auch: Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnrn. 19 ff.; Nestler, Grundlagen, Rdnr.
265; Wartburg, Drogenmissbrauch, S. 303.
466 Zweifel an der Legitimierbarkeit bei Peter Albrecht, BtmStrafR, Art. 19 Rdnr. 25.
467 Vg!. beispielsweise die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates über die Volksini-
tiative ,,zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie"
vom 26. Juni 1996, BB!. 1996 IlI, 205, insbesondere S. 208, 219, 227.
468 Vg!. H.-L. Günther, in: Günther/Keller, S. 226 ff.; Jung, ZStW 100 (1988),3,36 f.;
Arthur Kaufmann, Prometheus, S. 262; Rolf Keller, JR 1991,441,445 f.; Lange, in: Gün-
ther / Keller, S. 9, 16 f.; Graf Vitzthum, in: Günther / Keller, S. 68 f.
204 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Die Zwecksetzung des Gentechnikgesetzes besteht zum einen darin, Leben und
Gesundheit von Menschen, Tiere, Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem
zungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BBl. 1996111,205,210 ff. sowie Wie-
senbart, Landesbericht, S. 190 ff.
476 Vgl. BGE 115 la 234; 119 la 460.
47H Hirsch 1Schmidt-Didczuhn, ZRP 1989,458; zum Regelungsinhalt i.e. vgl. Fritsch 1Ha-
verkamp, BB 1990, Beilage 31, S. 3 ff.; Hirsch 1 Schmidt-Didczuhn, NVwZ 1990,713,715 ff.
479 Hirsch 1Schmidt-Didczuhn, ZRP 1989,458,462; dies., NVwZ 1990,713,717.
4KO Vgl. BT-Drucks. 11/5622, S. 2, 21.
206 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
Die Legitimität der Straftatbestände des GenTG setzt zunächst voraus. daß es
von der Sache her überhaupt angemessen ist. auf die Mißachtung von Erlaubnis-
vorbehalten repressiv ahndend zu reagieren. Kann diese Frage bejaht werden. wür-
de sich die weitere Frage stellen. ob bzw. unter welchen Voraussetzungen eine
Ausgestaltung als Straftatbestand und nicht als Ordnungswidrigkeitentatbestand
sachangemessen erscheint. Bei der Abklärung beider Fragestellungen wird zu be-
rücksichtigen sein. daß anders als bei den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts.
wo im Grundsatz gesichert erscheint. daß eine massenhafte Begehung der pönali-
sierten Verhaltensweisen die Umweltbedingungen negativ beeinträchtigen würde.
im Hinblick auf die durch die Straftatbestände des GenTG erfaßten Verhaltenswei-
sen eine vergleichbar gesichert erscheinende Erkenntnisgrundlage nicht existiert.
Konkret stellt sich damit die Frage. ob es legitim sein kann. die Beachtung von Er-
laubnisvorbehalten mit den Mitteln strafrechtlichen Zwangs sicherstellen zu wol-
len. wenn nur die mehr oder weniger schlüssig begründete bzw. nicht zu widerle-
gende Vermutung besteht. daß entsprechende Verhaltensweisen negative Auswir-
kungen auf ein an sich gesehen strafschutzwürdiges Schutzgut haben können.
Anders als das bundesdeutsche ESchG ist das FMedG nicht als ein reines Straf-
gesetz konzipiert, sondern soll in umfassender Weise festlegen, "unter welchen
Voraussetzungen die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung beim
Menschen angewendet werden dürfen" (Art. 1 Abs. 1 Entw. FMedG). Die im 4.
Kapitel des Gesetzes (Art. 29 ff. des Entwurfs) zusammengefaßten Strafbestim-
mungen entsprechen inhaltlich allerdings weitgehend den Normen des bundesdeut-
schen ESchG. Pönalisiert werden sollen: die mißbräuchliche Gewinnung bzw. Ver-
wendung menschlicher Embryonen (Art. 29 bis 32 Entw. FMedG), die Ge-
schlechtswahl (Art. 33 Entw. FMedG), die eigenmächtige Befruchtung (Art. 34
Entw. FMedG), die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen (Art. 35
Entw. FMedG), das Klonen sowie die Chimären- und Hybridbildung (Art. 36
Entw. FMedG). Schließlich sollen durch Art. 37 Entw. FMedG Zuwiderhandlun-
gen gegen bestimmte Regelungen des FMedG als Übertretungen geahndet werden.
Daß der Gesetzgeber der Anwendung bzw. Umsetzung der im Rahmen naturwis-
senschaftlicher Forschung gewonnenen Erkenntnisse Grenzen setzen kann und
auch setzen muß, wenn von dieser Gefahren ausgehen, dürfte im Grundsatz un-
streitig sein. Problematisch ist aber, in welcher Weise dies geschehen kann, insbe-
sondere, ob insoweit der Einsatz strafrechtlicher Normen als ein legitimes Instru-
ment angesehen werden kann. 483 In der Literatur war die im bundesdeutschen Ge-
setzgebungsverfahren selbst vollkommen unstreitige Notwendigkeit des Rückgriffs
auf strafrechtliche Normen484 vornehmlich mit dem Argument in Zweifel gezogen
worden, der Gesetzgeber würde hier Normen zur Regelung von science-fiction-
Sachverhalten schaffen. 485 Indes: Abgesehen davon, daß der Gesetzgeber vor der
Situation stand, daß vor dem Inkrafttreten des ESchG zumindest mit extra korporal
erzeugten und nicht auf eine Frau übertragenen Embryonen praktisch nach Belie-
ben verfahren werden konnte,486 vernachlässigt dieser Einwand die Besonderheit
des rasanten und in Sprüngen fortschreitenden naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
prozesses, der - wenn er denn vom Gesetzgeber überhaupt gesteuert bzw. in be-
stimmten Bahnen gehalten werden soll - notwendigerweise dazu zwingt, die zu er-
wartenden Entwicklungen der naturwissenschaftlichen Forschung vorausschauend
zu bewerten und Normen zu schaffen, mit denen das Verhalten der Forscherge-
meinschaft präventiv gesteuert wird. 487
Die in der Sache entscheidende Frage, ob es angemessen ist, diese Steuerung
mit den Mitteln des Strafrechts leisten zu wollen, ist in der Diskussion regelmäßig
allenfalls beiläufig behandelt und soweit ersichtlich fast durchgängig bejahend be-
handelt worden. 488 Interpretiert werden die Straftatbestände des ESchG gemeinhin
als Schutznormen im Hinblick auf die personale Würde des Menschen. 489 Analy-
siert man die Straftatbestände näher, zeigt sich allerdings schnell, daß allein das
strafbewehrte Verbot der eigenmächtigen Befruchtung auf den Schutz des Persön-
lichkeitsrechts und des Selbstbestimmungsrechts des Samenspenders und der Ei-
spenderin abzielt,490 während alle anderen Straftatbestände dazu dienen sollen, das
Vitzthum, in: Günther / Keller, S. 77; Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 533; a.A. z. B.
Fechner, JZ 1986,653,661; H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 276; ders., in: Keller/
Günther / Kaiser, B IV. Rdnr. 19; Hofmann, JZ 1986, 253, 254 und im Ergebnis auch Schmid,
Festschrift für Hegnauer, S. 436 f., der allerdings zu Recht die Notwendigkeit empirischer Er-
kenntnisse betont.
486 Vgl. Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 8 ff.; ders., in: Günther/Keller, S. 266; H.-L.
Günther, in: Günther/Keller, S. 138 f.; Hektor, S. 12 ff.; Jung, ZStW 100 (1988),3,7 f. und
19 f.; Rolf Keller, in: Keller/Günther/Kaiser, B I Rdnrn. 1 ff.; Sternberg-Lieben, JuS 1996,
673,675; zu den diesbezüglichen Regelungen des ärztlichen Standesrechts vgl. Eser, Neuarti-
ge Bedrohungen, S. 10 f., Hektor, S. 10 ff. Auch das kurz zuvor erlassene GenTG hat den
Bereich der Humangenetik nicht erfaßt, vgl. Rolf Keller, JR 1991, 441, 442 unter Hinweis
auf BT-Drucks. 11/5622, S. 23; zur ähnlich unbefriedigenden Rechtslage in der Schweiz vgl.
Schmid, Festschrift für Hegnauer, S. 438 f., 447 f.
487 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990),269,276 f.; ders., in: Keller/Günther/Kaiser, B IV.
Rdnr. 14 ff.
488 Dezidiert ablehnend zum Einsatz strafrechtlichen Zwangs soweit ersichtlich allein F.
Herzog, ZStW 105 (1993), 727 ff., dessen Vorschlag, auf ein Verfahren der Selbstkontrolle
durch die Forschungsgemeinschaft bzw. Ethikkommissionen zu vertrauen, von anderen Auto-
ren als nicht hinreichende Alternative angesehen wird, vgl. z. B. H.-L. Günther, in: Günther/
Keller, S. 144; Gröner, in: Günther/ Keller, S. 316 f.; Rolf Keller, in: Günther/ Keller, S. 196.
Daß dieser Vorschlag das Problem der Legitimität der Anwendung strafrechtlichen Zwangs
nicht löst, sondern lediglich verlagert, ist bereits oben (vgl. S. 74) dargelegt worden.
489 Im Entwurf des schweizerischen FMedG wird der intendierte Schutz der Menschen-
würde in Art. lAbs. 2 sogar ausdrücklich betont. Vg!. aber auch die Botschaft des Schweize-
rischen Bundesrates zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung
(Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vom 26. Juni 1996, in: BB!. 1996 II1, 205, 222 ff.,
wo richtigerweise der Status dieser Regelung als konkretisierungsbedürftige Progammlinie
hervorgehoben wird.
V. Molekularbiologische und gentechnologische Verfahren 209
490 Vgl. Jung, ZStW 100 (1988),3,26; Rolf Keller, in: Keller/Günther/Kaiser, § 4 Rdnr.
4. Daß diese Norm neben den bereits bestehenden §§ 223, 240 dStGB eher überflüssig ist,
zeigt Schroeder, Festschrift für Miyazawa, S. 543.
491 H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 291; ders., in: Günther/Keller, S. 142 f.; Jung,
ZStW 100 (1988),3, 15 f.; ders., JuS 1991,431,433; Schroeder, Festschrift für Miyazawa,
S. 534 ff.; Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 488 ff.
492 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. I I Rdnr. 58; Feinberg, Vol. 1,
S. 99 ff.; ders., Vol. 4, S. 27 ff.; Seelmann, Festschrift für E. A. Wolff, S. 485 f.
493 Vgl. Eser, Neuartige Bedrohungen, S. 37 f.; Fechner, JZ 1986,653,655; Hektor, S. 75;
Hofmann, JZ 1986, 253, 259 f. Deutlich wird dies bei Gröner, in: Günther / Keller, S. 308,
310, wo ausgeführt wird, daß es auf die persönliche Einwilligung des Klon-Vorbildes und des
Klons nicht ankommen könne, weil Leitidee der Verfassung nicht das Leben an sich, sondern
menschenwürdiges Leben sei und hieraus dann abgeleitet wird, daß Leben, das notwendiger-
weise ohne Verletzung der Menschenwürde nicht möglich sei, nicht zur Entstehung gelangen
dürfe. Vgl. auch Hösle, Staat, S. 47: Delikte gegen die Menschenwürde als Handlungen, die
sich nicht gegen eine konkrete lebende Person richten, sondern "gegen etwas, das als Symbol
des Menschen fungiert, und die dasjenige radikal in Frage stellen, was den innersten Wert des
Menschen als Geisteswesen ausmacht".
494 Zur Unzulässigkeit einer "verbrauchenden" Forschung vgl. auch bereits BGE ll9 Ia
460,502 f.
495 Vgl. Z. B. H.-L. Günther, ZStW 102 (1990), 269, 289; Hegnauer, Festschrift für Häfe-
\in, S. 142; Jung, ZStW 100 (1988), 3, 31/32; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 319/
320.
496 Zur Notwendigkeit, diese Leerformel zu konkretisieren, vgl. Arthur Kaufmann,
Rechtsphilosophie, S. 314, 323 f. sowie Schroeder, Festschrift ftir Miyazawa, S. 540 f.
14 Wohlers
210 5. Kap.: Analyse des "modernen" Strafrechts
stellungen davon, welche Art des Umgangs mit menschlichem Leben gesellschaft-
lich toleriert werden kann. Erst auf der Basis eines um entsprechende Wertungen
angereicherten Menschenbildes kann begründet werden, daß jede Form von Euge-
nik sittenwidrig und tabu sei,497 genetische Manipulationen das Recht eines Men-
schen beeinträchtigen, "Produkt eines Zufalls zu sein und um das eigene Schicksal
nicht zu wissen",498 daß Klonen menschlicher Lebewesen den Anspruch verletzen
soll, "nicht Kopie eines anderen Individuums zu sein, sondern eine eigene, unwie-
derholbare Persönlichkeit,,499 und deshalb zur Beeinträchtigung des ,,Mindestindi-
vidualitätsschutzes" führe,soo daß die Chimären- bzw. Hybridbildung wegen eines
Verstoßes gegen ein ,,Demütigungsverbot" abzulehnen sei SO! bzw. zur Durchbre-
chung "naturgegebener" Grenzen zwischen den Arten führe und so das Wesen und
die Einzigartigkeit des Menschen antaste. S02
Als ein letztes Beispiel sei auf das Verbot der Geschlechterwahl verwiesen. Da
die geschlechtsspezifisch ausgerichtete Auswahl bereits vor der Befruchtung statt-
gefunden hat, werden auch hier keine Sachverhalte erfaßt, bei denen bereits be-
fruchtete Eizellen abgetötet werden. s03 Geschützt werden also nicht konkret exi-
stente, artspezifisch menschliche Lebewesen, sondern vielmehr "das Menschenbild
des genetisch nicht manipulierten Menschen".s04
Festzuhalten bleibt: Bei den Straftatbestände des ESchG und des FMedG geht es
nicht um den Schutz individueller Interessen, sondern um die Zuschreibung von
Lebensinteressen, ein Prozeß, der seinerseits maßgeblich durch den jeweiligen
"weltanschaulichen Standpunkt"SOs bzw. den Horizont gesellschaftlicher Wertvor-
497 Vgl. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 I Rdnr. 61; Arthur
Kaufmann, Festschrift für Oehler, S. 666.
498 Vgl. Benda, NJW 1985, 1730, 1732; Arthur Kaufmann, JZ 1987, 837, 845/846; ders.,
Rechtsphilosophie, S. 326 f.; Graf Vitzthum, JZ 1985,201,208.
499 So die Botschaft des Schweizerischen Bundesrates zu einern Bundesgesetz über die
medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vorn 26. Juni
1996, in: BBI. 1996111,205,283.
soo Vgl. Benda, NJW 1985, 1730, 1733; Gröner, in: Günther/Keller, S. 307 f.; Arthur
Kaufmann, Prometheus, S. 272 f.; ders., JZ 1987, 837, 841; Rolf Keller, Festschrift für
Lenckner, S. 480/481: "Dem auf solche Weise erzeugten Menschen würden seine Erbanla-
gen von anderen zugeteilt, er würde zum Objekt herabgewürdigt, ihm würde die Individuali-
tät der menschlichen Persönlichkeit geraubt und menschliches Leben würde instrumentali-
siert."
SOl Vgl. Arthur Kaufmann, JZ 1987, 837, 841; vgl. auch Gröner, in: Günther/Keller,
S. 303 f., 312 ff.
S02 V gl. Gröner, in: Günther / Keller, S. 304
sos Vgl. Zippelius, Gerechtigkeit, S. 329. Bestätigt wird dies, wenn Deutsch, NJW 1991,
721, 723 als Schutzgegenstand der Regelungen des ESchG die Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2
und Art. 6 GG als Teil der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes versteht und Benda,
NJW 1985, 1730, 1733 den Grund für ein Verbot genetischer Untersuchungen darin sieht,
V. Molekularbiologische und gentechnologische Verfahren 211
daß es die Würde des Menschen in schwerster Weise verletzen würde, wenn entschieden wür-
de. "was krankhafte Abweichung von einer Norm ist, die besagt, wie Menschen beschaffen
sein sollten." Tatsächlich ist dann nicht die personelle Würde bestimmter menschlicher Lebe-
wesen, sondern das Menschenbild verletzt, demzufolge alle menschlichen Lebewesen unab-
hängig von ihrer körperlichen und geistigen in gleicher Weise "wertvoll" sind.
S06 Eser, in: Günther / Keller, S. 286 f.; Fechner, in: Günther I Keller, S. 38 f., 48.
14"
212 5. Kap.: Analyse des "modemen" Strafrechts
VI. Zwischenergebnis
I. Einleitung
schutzwürdige Belange handelt. Wie bereits oben dargelegt wurde,2 führt die An-
wendung strafrechtlichen Zwanges notwendigerweise zu Grundrechtseingriffen, so
daß die Freiheit des Gesetzgeber bei der Bestimmung des legitimen Anwendungs-
bereichs strafrechtlicher Normen von vornherein jedenfalls durch die von der Ver-
fassungsrechtsordnung vorgegebenen Werte und Prinzipien beschränkt ist. 3 Wei-
chen Bindungen der Gesetzgeber bei seinen Pönalisierungsentscheidungen im ein-
zelnen unterliegt, ist allerdings weitgehend ungeklärt. Die Bemühungen der Straf-
rechtswissenschaft, den materialen Gehalt strafwürdigen Verhaltens zu erfassen,
konzentrieren sich derzeit vornehmlich auf die Lehre vom Rechtsgut. Daß sich das
materielle Substrat der Straftat aus einer Rechtsgutsbeeinträchtigung ergeben
müsse und es folglich Strafvorschriften ohne Rechtsgutsbezug legitimerweise nicht
geben dürfe, kann zwar als Grundsatz in nahezu allen Standardwerken des Straf-
rechts nachgelesen werden. 4 Eine nähere Auseinandersetzung mit dem derzeitigen
Stand der Rechtsgutstheorie führt dann allerdings zu einem im Hinblick auf den
vorgeblich zentralen Stellenwert dieser Theorie doch überraschenden Befund: So-
weit ersichtlich ist es bisher nämlich weder gelungen, einen Kreis strafrechtlich re-
levanter Rechtsgüter zu bestimmen,5 noch kann - trotz nicht unerheblicher Bemü-
hungen 6 - der Gehalt oder auch nur der Begriff des Rechtsguts selbst als geklärt
angesehen werden. 7
2 Vgl. oben S. 48 f.
3 Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 8.
4 Vgl. den Überblick über den Meinungsstand bei Stratenwerth, Festschrift für Lenckner,
S. 377 m. w. N. in den Fußnoten 3 und 4. Stratenwerth spricht insoweit von einem ,,Dogma".
S Roxin, StrafR AT, Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 5; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnrn. 54,56, 58;
Lagodny, Strafrecht, S. 148 ff.; Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 6.
6 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung vgl. insbesondere die umfassenden Arbeiten
von Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft; Hasserner, Theorie und Sozio-
logie des Verbrechens; Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs "Rechts-
gut".
1 Vgl. Appel, Verfassung, S. 344 ff.; Hurtado Pozo, Partie generale, Rdnrn. 32 ff.; Kühl,
Rechtsgüter, S. 248, sowie insbesondere die Ausführungen von Stratenwerth, Festschrift für
Lenckner, S. 379 ff.; vgl. auch bereits ders., SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 6 f.; ähnlich pessimi-
stisch Trechsel, in: Trechsell NolI, StrafR AT I, S. 24: ,,Letztlich erweist sich dieser Begriff
als inhaltsleer und verzichtbar." Vgl. auch Merkei, Strafrecht, S. 276 mit dem Hinweis dar-
auf, es wäre "eine Art Wunder der logischen Transsubstation, könnte man zwar ansonsten
und außerhalb des Rechtsgutsbegriffs nicht sagen, was der Staat bestrafen darf, brauchte aber
für eine Antwort auf die Frage nichts weiter als die Einsetzung der Formel vom ,Rechtsgut'
in ein entsprechendes Votum pro oder contra." Optimistischer dagegen Eser, Festschrift für
Mestmäcker, S. 1011: "immer noch ausstehende endgültige Klärung".
11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen 215
8 Welzel, Strafrecht, S. 3; ders., Festschrift für Gierke, S. 297; vgl. auch Appel, Verfas-
sung, S. 452 ff.; Krümpelmann, Bagatelldelikte, S. 77, 84; Tiedemann, Tatbestandsfunktio-
nen, S. 116.
9 Vgl. i. e. oben S. 57 f. sowie Appel, Verfassung, S. 440 ff., 459 ff.
11 Welzel, Strafrecht, S. 3.
216 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
12 Welzel, Strafrecht, S. 3.
13 Vgl. z. B. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 368; Rudolphi, in:
SKStGB, Vor § I Rdnr. 2; MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 73 f. m. w. N.; vgl. aber
auch die relativierende Stellungnahme von Kühl, Unterscheidung, S. 152 ff.
14 Vgl. Bettiol, ZStW 72 (1960), 276, 280; Stratenwerth, ZStR 79 (1963), 233, 239.
15 So auch die Einschätzung von Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnrn. 251 f.; Roxin, StrafR
AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 45; kritisch hierzu: Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 33 f.
Hinzuweisen ist darauf, daß Welzel selbst (Strafrecht, S. 80) vor den Gefahren eines Gesin-
nungsstrafrechts ausdrücklich gewarnt hat. Vgl. im übrigen auch Amelung, Rechtsgüter-
schutz, S. 273 ff. sowie allgemein zur Problematik der Unterscheidung von Gesinnungswer-
ten und Rechtsgütern: Papageorgiou, Schaden, S. 97 f.
16 Welzel, Strafrecht, S. 4.
17 Welzel, Strafrecht, S. 5.
18 Welzel, Strafrecht. S. 4.
11. Rechtsgüterschutz als Funktion strafrechtlicher Normen 217
21 Jakobs, StrafR AT, 217; vgl. auch bereits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 512 Fußn. 30.
22 V gl. auch Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 142, 151. So aber Appel, Verfassung, S. 440 ff.,
der die Funktion der Strafrechtsnormen darin sieht, die Autorität der normsetzenden Instanz
bzw. die Rechtsstellung des Rechtsunterworfenen zur Rechtsgemeinschaft zu verdeutlichen
(a. a. 0., S. 464).
23 V gl. Müller-Tuckfeld, Integrationsprävention, S. 68 mit dem Hinweis darauf, daß funk-
tionalistische Strafrechtslehren zu diesem Zweck der Ergänzung durch eine normative Theo-
rie bedürfen. Appel, Verfassung, S. 442, 491 ff., 558 ff., verweist insoweit auf die Grundrech-
te und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
218 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
JO Vgl. Hasserner, Theorie, S. 57 ff.; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 258 f.; Jescheck,
in: LK, Vor § 13 Rdnr. 8; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 9; Mau-
rach 1Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 17.
111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 219
31 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 381; Fischer, Öffentlicher Frie-
de, S. 539 ff.; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 203; Marx, Definition, S. 14, 19 ff.;
Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 174 f.; Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 154; Stächelin,
Strafgesetzgebung, S. 34; MJ. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 24; tendenziell a.A. Ja-
kobs, StrafR AT, 2/ 12, der einen Rest kritischer Potenz darin sehen will, daß der Gesetzgeber
angehalten wird, einen Wert überhaupt zu benennen.
32 Appel, Verfassung, S. 342 f.; Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 261; Rudolphi, Fest-
schrift für Honig, S. 154; einen Überblick über die neueren systemkritischen Ansätze gibt
MJ. Worrns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 31 ff.; kritisch hierzu Amelung, Rechtsgüterschutz,
S. 208 ff.; ders., Sozialschädlichkeit, S. 278, der die Auffassung vertritt, der Rechtsgutsbe-
griff könne nicht mehr leisten als das, was die systemimmanenten Rechtsgutstheorien errei-
chen wollen.
33 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/16 ff.; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 17/18; ders., ZStW
105 (1993), 679, 694; ders., ZStR 115 (1997), 86,92.
34 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 5.
35 Hassemer, in: NK, Vor § 1 Rdnr.261.
220 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
39 Otto, Rechtsgutsbegriff, S. 8.
44 Vgl. hierzu aus neuerer Zeit die Arbeit von MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung,
S. 31 ff.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 221
Die Frage nach der notwendigen Substanzhaltigkeit des Rechtsguts steht mit der
heute unstreitig anerkannten Unterscheidung des Rechtsguts vom Handlungsobjekt
in einem nur äußerlichen Zusammenhang. Wahrend das Rechtsgut das "Etwas" ist,
auf dessen Erhalt bzw. Schutz sich das Interesse des Gesetzgebers bezieht, ist das
Handlungsobjekt der reale Gegenstand, an dem sich die tatbestandsmäßige Hand-
lung vollzieht. 58 Bei einigen Straftatbeständen, wie insbesondere den Tötungs- und
Körperverletzungsdelikten, sind Rechtsgut und Handlungsobjekt zwar scheinbar
identisch. 59 Selbst bei Individualrechtsgütern klassischer Prägung ist dies aber
nicht der Regelfall. So ist beispielsweise beim Diebstahl das Handlungsobjekt (die
Sache) nicht mit dem Rechtsgut (der tatsächlichen Herrschaftsbeziehung über die
Sache) identisch. Vermeidet man die Gleichsetzung des Rechtsguts mit dem Hand-
lungsobjekt, wird deutlich, daß auch Individualrechtsgüter klassischer Prägung,
wie z. B. die beim klassischen Diebstahlstatbestand geschützte Herrschaftsmacht
über bestimmte Sachen, nicht selbst gegenständlich-substanzhaft sind, sondern
sich auf ein gegenständlich-substanzhaftes Substrat beziehen. 60 Deutlicher wird
dies noch bei überindividuellen Rechtsgütern. So ist beispielsweise beim Straftat-
bestand des Widerstands gegen die Staatsgewalt das geschützte Rechtsgut die un-
gestörte Vollstreckungstätigkeit der staatlichen Organe, während Handlungsobjekt
der einzelne angegriffene Vollstreckungsbeamte ist. Im vorliegenden Zusammen-
hang geht es nicht um die Differenzierung von Rechtsgut und Handlungsobjekt,
sondern allein um die Frage, inwieweit das Rechtsgut selbst, also: das ,,Etwas",
auf dessen Schutz sich das Interesse des Gesetzgebers bezieht, substanzhaften Cha-
rakter haben muß.
Eine Einschränkung des Kreises legitimerweise strafschutzwürdiger Belange
könnte sich aus der Erwägung herleiten, daß über den Rechtsgutsbegriff die Straf-
würdigkeit von Verhaltensweisen im Hinblick auf die mit diesen Verhaltensweisen
verbundenen sozialethischen bzw. sozialschädlichen Auswirkungen bewertet wer-
den soll. Möglich ist diese Bewertung nämlich nur dann, wenn die als Rechtsgüter
in Betracht gezogenen Interessen derart konkretisiert sind, daß die Auswirkungen
konkreter Verhaltensweisen auf die Integrität des Rechtsguts rational beurteilt wer-
den können. 61
60 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 381/382; Rudolphi, Festschrift
für Honig, S. 164; ders., in: SKStGB, Vor § 1 Rdnr. 9; Stratenwerth, Festschrift für Lenckner,
S.384.
61 Vgl. Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 17; Kindhäuser, Legitimität, S. 129; Schlüchter, 2.
WiKG, S. 4 ff., 42 ff.; MJ. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 82.
224 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
15 Wuhlers
226 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
strafrechtlich relevantes Rechtsgut sein wie der freie bzw. faire Wettbewerb,78 die
öffentliche Ordnung,19 der öffentliche Friede,8o die Sittlichkeit,81 die innere Si-
cherheit 82 oder auch die Umwelt als solche. 83 Demgegenüber wird diesem Erfor-
dernis offensichtlich entsprochen, wenn sich der zu schützende Belang wie etwa
beim Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit in einem physisch-kausal verletz-
baren konkreten Handlungsobjekt verkörpert. Indes: Da die für das Leben in einer
modemen Gesellschaft relevanten Belange nicht überzeugend als eine Anhäufung
bzw. ein Bestand gegenständlich verfestigter Güter beschrieben werden können,84
wäre es verfehlt, eine Beschränkung auf konkret-gegenständliche ("handfeste")
Rechtsgüter zu verlangen. Auch bei Schutzgütern, die - wie z. B. das "Kreditwe-
sen", der "Kapitalanlagemarkt" oder das "Subventionswesen" - auf ein empirisch
feststell bares Substrat konkreter Interaktionszusammenhänge und Handlungsab-
läufe aufbauen, kann die reale Beeinträchtigungsfähigkeit85 und damit die für die
Annahme der Legitimität strafrechtlichen Schutzes grundlegende Beeinträchti-
gungsfähigkeit nicht von vornherein in Abrede gestellt werden.
Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß - abgesehen von einigen, die personale
Freiheitssphäre unmittelbar konstituierenden Rechtsgütern, insbesondere: Leben
und körperliche Unversehrtheit - Rechtsgüter regelmäßig nicht umfassend, son-
dern nur gegen bestimmte Formen der Beeinträchtigung geschützt werden. Ebenso
wie beispielsweise die Straftatbestände zum Schutz des Vermögens nur bestimmte
Formen der Beeinträchtigung, nämlich: täuschungsbedingte (§ 263 dStGB /
Art. 146 schwStGB), nötigungsbedingte (§ 253 dStGB / Art. 156 schwStGB) und
unter Ausnutzung bestimmter Vertrauensstellungen (§ 266 dStGB / Art. 158
schwStGB) bewirkte Vermögensschädigungen erfassen, wird auch überindividuel-
len Belangen kein umfassender, sondern lediglich ein partieller Strafrechtsschutz
gewährt. Wie bereits oben dargelegt,86 schützen z. B. die §§ 264a, 265b dStGB
nicht das Kreditwesen als solches bzw. die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes
umfassend, sondern nur in einem bestimmten Ausschnitt und in bestimmter Hin-
sicht, d. h. gegen eine bestimmte Art und Weise der Beeinträchtigung. Konkret: Er-
faßt wird allein die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Kreditmarktes
83 Bloy, JuS 1997,577,579 f.; Hirsch, Bekämpfung, S. 16; Jenny/Kunz, Bericht, S. 49;
Ronzani, Erfolg, S. 36 ff., 43; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 9.
84 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 155 f.; Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 17; vgl. auch be-
reits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 514 f.
85 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 199.
86 Vgl.obenS.157ff.,174ff.
111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 227
87 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß nur bestimmte Institutionen und
Funktionszusammenhänge, nicht aber das "Vertrauen" in die Funktionsfähigkeit von Institu-
tionen oder Funktionszusammenhängen Schutzgut strafrechtlicher Normen sein kann. Abge-
sehen davon, daß das "Vertrauen" ein in seiner Schädigungsfähigkeit ebensowenig greifbarer
Begriff ist wie "die Wirtschaftsordnung", "die Umwelt" oder "die öffentliche Ordnung", ist
Grundlage der personalen Existenz nicht das Vertrauen in bestimmte Funktionszusammen-
hänge, sondern deren Funktionsfähigkeit selbst. Zwar kann diese durch einen Vertrauensver-
lust in Frage gestelJt werden. Dies ändert aber nichts daran, daß über den Vertrauensschutz
letztlich die Verfügbarkeit des Funktionszusammenhanges selbst gewährleistet werden solJ
(so zutreffend: DölJing, Gutachten, C 49; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 311).
88 Vgl. nur Roxin, StrafR AT, Teilbd. J, § 2 Rdnr. 11 f.
89 Hassemer, Strafrechtswissenschaft, S. 283 f.; ders., Festschrift für E. A. Wolff, S. 110;
Kühl, Rechtsgüter, S. 250 f.
90 Frisch, Festschrift für Stree I Wesseis, S. 72 f.; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen,
S.206.
15'
228 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
91 Vgl. Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, 12; Lüderssen, ZStW 107 (1995), 977, 898;
Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 10 unter Hinweis auf Locke und Humboldt.
92 Wolfenden Report, hier zitiert nach: Devlin, Enforcement, S. 3; vgl. auch Feinberg, Vol.
4, S. 134; Hart, Morality, S. 14/15.
93 Vgl. M.J. Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 52 sowie Zaczyk, Unrecht, S. 199 mit
dem zutreffenden Hinweis darauf, daß der gleiche Einwand auch im Hinblick auf Aussagede-
likte sowie Delikte gegen die Willensfreiheit (Nötigung und Delikte gegen die sexuelle
Selbstbestimmung) zu erheben wäre. Zur besonderen Bedeutung der Ehre vgl. auch Rawls,
Theorie, S. 479 ff., 590 ff.; ders., Idee, S. 189 ff.: Grundgut der Selbstachtung.
94 Vgl. den Überblick über den Meinungsstand bei Herdegen, in: LK, 10. Auflage, Vor
§ 185 Rdnrn. 5 ff.; Stratenwerth, SchwStrafR BT I, § 11 Rdnrn. 2 ff.
9~ Keller, ZStW 107 (1995), 457, 475.
Die vorstehenden Ausführungen legen die Vermutung nahe, daß sich die "sy-
stemkritische" Funktion der Rechtsgutstheorie im wesentlichen darauf beschrän-
ken muß. dem Gesetzgeber gegenüber die - im Hinblick auf die verfassungsrecht-
liche Fundierung des Strafrechts auch ohne Bezugnahme auf die Rechtsgutstheorie
selbstverständliche - Notwendigkeit zu betonen, die mit einer Pönalisierung ver-
folgten Zielsetzungen offenzulegen, um so eine Basis zu schaffen, auf der dann die
Legitimität der jeweils in Frage stehenden Normen diskutiert werden kann. 99 Will
man an der Rechtsgutslehre als einem wesentlichen Prüfstein legitimer Strafge-
setzgebung festhalten, 100 muß die an begriffliche Merkmale anknüpfende Rechts-
gutslehre verabschiedet und durch einen auf gesellschaftstheoretischer Grundlage
neu konzipierten Ansatz ersetzt werden. 101 Die für die Konstituierung von Rechts-
gütern maßgebenden Kriterien können nicht dem Rechtsgutsbegriff entnommen
werden,102 sondern müssen vielmehr von außen an die Rechtsgutstheorie herange-
tragen und in diese integriert werden. 103 Rechtsgüter sind deshalb als das Produkt
eines wesentlich durch den jeweiligen Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Ver-
ständigung über die den Bedürfnissen des einzelnen und der Gesamtheit entspre-
98 Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966), 345, 375 f. (insbesondere zum
Stellenwert der individuellen Freiheit); Trechsell Noll, StrafR AT I, S. 25; Stratenwerth,
SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 8.
99 So Killias/Rehbinder, ZBJV 119 (1983), 291,293; vgl. auch Frisch, Festschrift für
Stree/Wessels, S. 72; Jakobs, StrafR AT, 2/12; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnrn.
10 ff.
100 Die systemimmanenten Funktionen der Rechtsgutstheorie stehen außer Streit und sol-
len auch durch die obigen Ausführungen nicht in Zweifel gezogen werden.
101 Roxin, JA 1980,545,546/547.
IO~ Jakobs, StrafR AT. 21 15; vg. auch Frisch, Festschrift für Stree/Wessels, S. 72 f.; ders.,
Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 205.
103 Jakobs, StrafR AT. 2/22; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnrn. 64 ff.
230 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
108 v. Liszt, Lehrbuch, S. 4; vgl. auch ders., Zweckgedanke, S. 147; ders., Handlungsbe-
griff, S. 223.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 231
sehe Basis dieses Ansatzes ist die These, "das Seinsollende (könne) ausschließ-
lich aus dem Seienden abgeleitet werden. Oder genauer gesprochen: Indem wir
das Seiende als ein geschichtlich Gewordenes betrachten und danach das Werden-
de bestimmen, erkennen wir das Seinsollende. Werdendes und Seinsollendes sind
insoweit identische Begriffe. Nur die erkannte Entwicklungstendenz gibt uns über
das Seinsollende Aufschluß; für unsere menschliche Zwecksetzung bleibt uns nur
die Hemmung oder Förderung eines von menschlicher Willkür unabhängigen Ent-
wicklungsganges."I09
Dieser an die Kulturnormenlehre M. E. Mayers anknüpfende Ansatz ist - dies
ist heute soweit ersichtlich unstreitig - durchgreifenden Einwänden ausgesetzt:
Anzuerkennen ist, daß rechtliche Regelungen stets in historisch gewachsenen Si-
tuationen geschaffen werden und notwendigerweise darauf abzielen, ein konkretes
soziales Umfeld zu gestalten. Daß das Recht der sozialen Wirklichkeit Rechnung
zu tragen hat und der Gesetzgeber deswegen die Erkenntnisse der Wissenschafts-
zweige, die sich mit der Erforschung der gesellschaftlichen Realität befassen, nicht
übergehen darf, wenn er sachgerechte Regelungen treffen will, ist insoweit unstrei-
tig, als der Gesetzgeber gehalten ist, keine Normen zu setzen, die faktisch Unmög-
liches verlangen bzw. zur Durchsetzung eines bestimmten Zweckes ungeeignete
Maßnahmen anordnen würden. 110 Anzuerkennen ist also, daß das geschichtlich-so-
ziale Umfeld die zur Regelung eines konkreten Problems zur Verfügung stehenden
Alternativen von vornherein auf die Lösungen beschränkt, die sich in die bestehen·
de Rechtsordnung einfügen 11 I und auf der Grundlage der geschichtlich gewachse-
nen gesellschaftlichen Wertungen, Interessen und Zwecksetzungen überhaupt
denk-, diskussions- und durchsetzungsfähig sein können. 112
Daß aus den auf erfahrungs wissenschaftlicher Grundlage gewonnenen Erkennt
nissen über die Realität des gesellschaftlichen Miteinanders (den sog. Seinstatsa-
chen) darüber hinaus auch in positiver Hinsicht konkrete Regelungsinhalte (Sol·
lensnormen) abgeleitet werden können, kann demgegenüber nicht angenommen
werden. Gegen die These von der Ableitbarkeit des Seinsollenden aus dem Seien
den, mit der v. Liszt bereits im zeitgenössischen Schrifttum wenig Anklang gefun-
den hat,1I3 ist zunächst einzuwenden, daß die Annahme, es sei der menschlichen
109 v. Liszt, ZStW 26 (1906),553,556; ders., ZStW 27 (1907), 91, 92 ff.; vgl. auch Feisen
berger, ZStW 27 (1907), 460: Aus dem Seienden sei der Zweck zu entnehmen, der dann das
Seinsollende setzt; an hand des Zwecks könne aus dem Seienden das Seinsollende erkannt
werden; Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1696.
110 Coing, Rechtsphilosophie, S. 187 ff.; Engisch, Gerechtigkeit, S. 238 ff.; Habermas.
Faktizität und Geltung, S. 394 f.; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 98 ff.; Radbruch, Natur der
Sache, S. 233 f.; Stratenwerth, Problem, S. 27; Würtenberger, JZ 1955, 1,3.
111 Vgl. Luhmann, Rechtsoziologie, S. 239, 325.
112 Vgl. Forster, ZSR NF 114 (1995),11, I, \03; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 126, 140,
298 ff.; Radbruch, Natur der Sache, S. 237; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 3 Rdnr. 4.
113 Vgl. Mezger, Sein, S. 42 ff. sowie Radbruch ZStW 27 (1907), 246 und 742, jeweils
m.w.N.
232 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
114 Daß die vorgefundenen Interessen "gegeneinander abgewogen" werden müssen, hatte
auch v. Liszt nicht in Abrede gestellt; vgl. ders., Zweckgedanke, S. 147.
115 Zur fehlenden inhaltlichen Begrenzung der Liszt'schen Rechtsgutslehre vgl. Le. Ame-
lung, Rechtsgüterschutz, S. 87 ff.; kritisch zur Unbestimmtheit des Liszt'schen Ansatzes auch
Jakobs, StrafR AT, 2/13; Papageorgiou, Schaden, S. 93,106.
Vgl. auch Bohnert, Straftheorie, S. 33 ff.: v. Liszt habe gar nicht ernsthaft die geschichtli-
che Entwicklung aufgearbeitet,sondern diese als Folie für die Darstellung seiner rechtspoliti-
schen Ziele genutzt. Bei dem Liszt'schen Ansatz handele es sich um einen teleologischen An-
satz in dem das ,,richtigerweise" zu Sollende tatsächlich normativ gesetzt werde.
116 Lüderssen, Genesis, S. 49, 150.
117 Dreier, Begriff, S. 116; Engisch, Gerechtigkeit, S. 221 f., 230 f., 237 f.; Kaufmann, Bei-
träge, S. 81; Stratenwerth, Problem, S. 20.
118 Engisch, Gerechtigkeit, S. 237 f., 244 f.; Seelmann, Rechtsphilosophie, § 8 Rdnr. 22.
119 Coing, Rechtsphilosophie, S. 190; Radbruch, Natur der Sache, S. 235; Stratenwerth,
Problem, S. 22, 24 f., 27; vgl. aber auch Küpper, Grenzen, S. 35 f.: Der Rekurs auf die Natur
der Sache solle nur die vorschnelle Zuflucht zu Wertungen verhindern.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 233
aber die tatsächlich maßgeblichen Wertungen hinter dem Postulat der Erkenntnis
einer dem Sachverhalt immanenten Ordnung verborgen werden. 120 Zur Illustrie-
rung kann beispielhaft auf die Bemühungen Maihofers zum Rechtsquellencharak-
ter der ,,Natur der Sache,,121 verwiesen werden. Maihofer vertritt hier die These,
daß aus der Seinsstruktur von Lebenssachverhalten Sinnstrukturen abgeleitet wer-
den können. Maßgebend sollen die Erwartungen sein, die die Träger sozialer Le-
bensrollen 122 an den Anderen als Solchen stellen. Ermittelt werden sollen die Rol-
lenerwartungen dadurch, daß sich der Träger eine Rolle (z. B.: als Sohn) die Frage
stellt, was er als Träger der komplementären Rolle des Anderen (im Beispiel: als
Vater) von Trägern der anderen Rolle (im Beispiel: als Sohn) erwarten würde. 123
Was konkret von einem "vernünftigen" Träger einer Rolle "berechtigterweise" er-
wartet werden darf, soll und kann nach Maihofer anhand der Goldenen Regel und
des Kategorischen Imperativs ermittelt werden. 124
Hierzu ist anzumerken, daß der Kategorische Imperativ als solcher von Kant
nicht als Maßstab zur Ableitung des Seinsollenden verstanden worden ist,125 son-
dern allein die Auswahl von Verhaltensmaximen ermöglichen soll - und zwar vor
dem Hintergrund bestimmter, als feststehend vorausgesetzter gesellschaftlicher In-
stitutionen bzw. menschlicher Interessen. 126 Bei seinen in der Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten zur Erläuterung des Kategorischen Imperativs herangezoge-
nen Beispielen der Selbsttötung aus Lebensüberdruß, 127 des Menschen, der sich
dem Vergnügen ergibt, statt an der Entwicklung seiner naturgegebenen Anlagen
und Talente zu arbeiten 128 sowie des Menschen, der sich gegenüber der Not ande-
rer gleichgültig verhält,129 setzt Kant voraus, daß es im Interesse des Menschen
liege, Selbsttötungen zu unterlassen,130 an der Erweiterung und Verbesserung der
120 Vgl. Dreier, Begriff, S. 117 ff.; GutzwiIler, Lehre, S. 21 f.; E. Kaufmann, JuS 1987,
848,850 f.
121 Maihofer, Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 44 (1958), 145, 163 ff.
122 Maihofer nennt als Beispiele die Rollenpaare Vater und Sohn sowie Lehrer und Schüler.
124 Maihofer, Archiv für Rechtsphilosophie, Bd. 44 (1958), 145, 167 ff.
125 Dieser Gesichtspunkt verliert allerdings an Gewicht, wenn man in dem insoweit wohl
einschlägigen allgemeinen Rechtsgesetz der (äußeren) Freiheit (Metaphysik der Sitten, Ein-
leitung in die Rechtslehre, § B) eine spezialisierte Version des Kategorischen Imperativs
sieht; vgl. hierzu: Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 290 ff.; Kersting, Freiheit, S. 26, 128;
Kühl, Unterscheidung, S. 142.
126 Engisch, Gerechtigkeit, S. 210; Höffe, Verallgemeinerung, S. 212/213; Pogge, Impera-
tive, S. 190; vgl. auch Maus, Demokratietheorie, S. 267 ff., 283 f., 330 f.: der kategorische
Imperativ als Instrument zum Ausschluß bestimmter Maximen.
127 Kant, Grundlegung zur Metaphyik der Sitten, S. 52
128 Ebd., S. 53 f.
130 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 373 ff.; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 470 f.;
Kelsen, Rechtslehre, S. 370; Welzel, Naturecht, S. 171; kritisch zur Argumentation bei Kant:
Papageorgiou, ARSP-Beiheft 51 (1993), 198,203 f.
234 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
131 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 380 f.; ders., Verallgemeinerung, S. 225; Hoerster,
Kategorischer Imperativ, S. 473; Kelsen, Rechtslehre, S. 371; Pogge, Imperative, S. 180.
132 Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 383; ders., Verallgemeinerung, S. 225; Hoerster,
Kategorischer Imperativ, S. 471 ff.; Kelsen, Rechtslehre, S. 372; Pogge, Imperative, S. 179 f.;
vgl. auch Rawls, Theorie, S. 374.
133 Daß es bei den von Kant gebildeten Beispielen nicht um logisch widersprüchliche Re-
geln geht, steht außer Streit, vgl. nur Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 302; Höffe, Kategori-
scher Imperativ, S. 373 ff.; Hoerster, Kategorischer Imperativ, S. 458 ff.; Kelsen, Rechtslehre,
S. 369 ff.; Patzig. Ethik, S. 154.
134 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphyik der Sitten, S. 61 ff. sowie Patzig, Ethik,
S. 156/157.
135 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 52 f.
140 Hegel, Behandlung des Naturrechts, S. 462; vgl. auch Hoerster, Kategorischer Impera-
tiv, S. 467 f.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 235
wenn es kein Depositum mehr gäbe. Angesichts dessen, daß grundsätzlich jede Re-
gel mit beliebigem Inhalt zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann,
wenn und soweit man nur bereit ist, die Konsequenzen aus diesem Gesetz zu tra-
gen,141 müßte die bloße Anwendung des Kategorischen Imperativs in seiner
(Grund-)Form als Prinzip der Verallgemeinerung tatsächlich dazu führen, daß sich
allein die Maximen als selbstwidersprüchlich erweisen würden, bei denen eine Re-
gel nur im Einzelfall gebrochen werden soll, wie z. B. im Falle eines Diebstahls
durch eine Person, die für sich selbst und grundsätzlich an der Institution des Pri-
vateigentums festhalten Will. 142
Soll die Ableitung bestimmter inhaltlicher Strukturen des Seinsollenden ermög-
licht werden, setzt dies also voraus, daß der Kategorische Imperativ zuvor mit ent-
sprechenden inhaltlichen Grundsätzen aufgeladen wird, was etwa bei Kant über
die Formel geschieht, daß der Mensch stets und unter allen Umständen als Zweck
an sich zu behandeln sei,143 ein Ansatz, der von anderen Autoren aufgegriffen und
vertieft worden ist,l44 der dann aber darauf hinausläuft, daß sich die vordergründig
anhand des Kategorischen Imperativs entwickelten Inhalte tatsächlich aus diesem
Menschen- oder Weltbild herieiten. 145 Beispielhaft: Beim lügnerischen Verspre-
chen leitet Kant die Unvereinbarkeit der Maxime mit dem Kategorischen Impera-
tiv daraus her, daß sich derjenige, der "ein lügenhaftes Versprechen gegen andere
zu tun im Sinne hat, sofort einsehen (muß), daß er sich eines anderen Menschen
bloß als mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte.
Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen
will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also
selbst den Zweck dieser Handlung enthalten." Deutlicher werde der Widerstreit ge-
gen das Prinzip - so Kant - noch bei Angriffen auf Freiheit und Eigentum anderer.
Hier leuchte klar ein, daß sich der Täter "der Person anderer bloß als Mittel be-
diene, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie, als vernünftige Wesen, jederzeit zu-
gleich als Zwecke, d.i. nur als solche, die von derselben Handlung auch in sich den
Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen". 146
Wenn aber die Frage, ob eine Maxime in der praktischen Anwendung als allge-
meines Verhaltensgebot tauglich ist, stets auch vom gesellschaftlichen Kontext ab-
hängig ist, in dem sie praktiziert werden soll, verweist dies auf die Notwendigkeit
empirischer Erkenntnisse bzw. bestimmter Annahmen zum gesellschaftlichen Um-
feld. 147 Bezogen auf den Versuch Maihofers, den Kategorischen Imperativ heran-
zuziehen, um aus der Seinsstruktur bestimmter Lebenssachverhalte Sinnstrukturen
ableiten zu können, führt dies in einen Zirkel: Bei der Anwendung des Maßstabs,
anhand dessen die Sinnstruktur eines Lebenssachverhalts ermittelt werden soll,
müßte man sich auf eben die Seinsstrukturen stützten, deren Sinnstruktur erst noch
ermittelt werden soll. Vor diesem Hintergrund bleibt letztlich offen, wie die von
Maihofer geforderte Abgrenzung berechtigter / vernünftiger von unberechtigten /
unvernünftigen Erwartungen erfolgen SOll.148 Tatsächlich scheint Maihofer selbst
implizit die Grundnorm anzuwenden, daß man sich so verhalten soll, wie es der
Vernunft entspricht, was dann aber darauf hinausläuft, daß der wahre Willen "ver-
nünftiger" Personen tatsächlich nicht anders als durch eine Bewertung und Abwä-
gung der jeweils in Frage stehenden kollidierenden Interessen ermittelt und das Er-
gebnis dieser Bewertung dann als die in der Seinsstruktur des Lebenssachverhalts
angelegte Sinnstruktur präsentiert wird. 149
Die These, das Seiende - und anhand dieser Erkenntnis das Seinsollende - ob-
jektiv bestimmen zu können, führt letztlich dahin, daß bestimmte kulturelle, geisti-
ge oder materielle Gegebenheiten aus der Gesamtheit des Seins als die für die Be-
stimmung der maßgeblichen Seinsstrukturen herausgegriffen werden, ohne daß der
notwendigerweise wertende und damit in gewisser Weise auch voluntaristische
Charakter dieses Prozesses offengelegt oder auch nur anerkannt wird. ISO Unver-
146 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61/62; vgl. auch Pogge, Imperative,
S. 184. Höffe will im Hinblick auf das Beispiel des lügnerischen Versprechens die Selbstwi-
dersprüchlichkeit der Maxime mit der Erwägung begründen, daß dem Versprechen eine
Selbstbindungskomponente innewohne, die bei einem lügnerischen Versprechen notwendi-
gerweise zu einem Selbstwiderspruch führe (Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 378 f.; ders.,-
Verallgemeinerung, S. 224, 226 ff.; ebenso: Patzig, Ethik, S. 154). Ob diese Begründung für
das Beispiel des lügnerischen Versprechens zu überzeugen vermag, kann hier dahinstehen, da
jedenfalls eine Übertragung auf andere Beispiel - insbesondere das des Depositums - nicht
möglich erscheint (vgl. Patzig, Ethik, S. 57 f., 154; a.A. Wolff, Abgrenzung, S. 173 f., der
offenbar von einer konkludenten Zusicherung der Rückgabe ausgeht).
147 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 40; Dreier, Recht-Moral-Ideologie,
S. 303 ff.; Höffe, Kategorischer Imperativ, S. 369; ders., Kriminalstrafe, S. 339 ff.; ders .. Ver-
allgemeinerung, S. 213 f.; Arthur Kaufmann, Problemgeschichte, S. 71; Kühl, GA 1977,353,
361 f.; Pogge, Imperative, S. 178 f.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 107; vgl. auch Zaczyk.
Unrecht, S. 149 ff., 163, 165 ff.
148 Ellscheid, Naturrechtsproblem, S. 238.
ziehtbare Voraussetzung einer rationalen Gesetzgebung ist es aber, daß die sowohl
in die Ennittlung als auch in die Bewertung des Seienden notwendigerweise ein-
fließenden Wertungen offengelegt und damit überhaupt erst einer kritischen Dis-
kussion zugänglich gemacht werden. Der entscheidende Mangel der auf system-
theoretischen Prämissen beruhenden Ansätze zur Strukturierung der (Straf-)
Rechtsordnung liegt nach al1edem weniger in der Wertneutralität und hieraus resul-
tierenden inhaltlichen Offenheit systemtheoretischer Ansätze,151 als vielmehr dar-
in, daß der nicht nur aber doch gerade bei den Vertretern systemtheoretisch fun-
dierter Strafrechtsmodel1e vorzufindende Ansatz, "al1ein" darzustel1en, wie die als
System verstandene Gesel1schaft strukturiert sei, den bereits bei von Liszt vorhan-
denen Fehlschluß wiederholt. Daß die sowohl beim Prozeß der Konstruktion der
gesel1schaftlichen Realität als auch bei der Bewertung des - angeblich wertfrei er-
mittelten - Soseins der gesel1schaftlichen Ordnung einfließenden Wertungen nicht
offengelegt werden, hat zur Folge, daß das auch bei den Vertretern systemtheoreti-
scher Ansätze notwendigerweise nonnativ begründete Vorverständnis davon, wie
eine Gesel1schaft strukturiert sein SOll,152 der Diskussion entzogen wird, was kon-
kret bedeutet, daß entweder die faktisch herrschenden Vorstel1ungen davon, wie
eine Gesellschaft strukturiert sein sol1, als gegeben zugrundelegt und gegen Kritik
abgeschinnt oder aber unter dem Deckmantel der angeblich wertfreien Erkenntnis
des Soseins das eigene nonnativ begründete Vorverständnis der jeweiligen Autoren
verschleiert wird. 153
151 Vgl. hierzu Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 254; Hohmann, Rechtsgut, S. 1301131;
Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701, 708 f.; Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 72, 142, 165;
Schild, GA 1995, 101, 119. Letztlich wird dies von den Vertretern systemtheoretisch ausge-
richteter Strafrechtssysteme auch gar nicht bestritten, vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz,
S. 359 f., 366; Jakobs, StrafR AT, 1/1,2/25; ders., ZStW 107 (1995), 843, 847 Anm. 10.
152 Hassemer, in: NK, Vor § I Rdnr. 254; Hohmann, Rechtsgut, S. 127; vgl. auch Jakobs,
Nonn, S. 64.
153 Lüderssen, Genesis, S. 89, 150.
154 Der grundlegende Fortschritt des v. Liszt'schen Ansatzes ist deshalb mit Merkel (Straf-
recht, S. 282 f.) in der Öffnung des Strafrechtsdenkens hin zu den Sozialwissenschaften zu
sehen.
155 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 330 ff.; kritisch hierzu im Hinblick auf den mangelnden
Erkenntniswert des Begriffs der Sozialschädlichkeit: Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 22 ff.
238 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
Auch Amelung erkennt an, daß die von ihm als Theorie zur Ermittlung der Bedin-
gungen des menschlichen Zusammenlebens favorisierte soziologische Systemtheo-
rie allein darauf beschränkt ist, die sich als Störungen von Interaktionsprozessen
und Beeinträchtigungen individueller Handlungschancen niederschlagenden Fol-
gen bestimmter Verhaltensweisen aufzudecken. 161 Die für die Einordnung der
aufgedeckten Konsequenzen als sozialschädlich oder -nützlich unverzichtbaren
normativen Bewertungskriterien seien der Systemtheorie extern vorzugeben. 162
Wahrend Hassemer die normative Bewertung als ein von der eigentlichen Rechts-
gutskonstitution zu trennendes Problem der "Schutztechnik" versteht,163 will Ame-
lung die Bewertung der Sozialschädlichkeit von Verhaltensweisen unter Rückgriff
auf die Verfassungsrechtsordnung vornehmen. 164
Festzuhalten bleibt: Anhand erfahrungswissenschaftlich gewonnener Erkennt-
nisse über die Struktur einer Gesellschaft kann allenfalls entschieden werden, weI-
che Verhaltensweisen unterbunden werden müssen, um den Bestand einer Gesell-
schaftsordnung zu gewährleisten; ob aber die konkrete Struktur der Gesellschaft
überhaupt als erhaltenswürdig anzusehen ist, muß anhand von Wertungen entschie-
den werden, die ihrerseits weder erfahrungswissenschaftlich gewonnen noch be-
gründet werden können. 165 Beispielhaft: Selbst wenn sich erfahrungswissenschaft-
Iich belegen ließe, daß die rechtlichen Regelungen über die Zulässigkeit oder Un-
zulässigkeit von Abtreibungen Einfluß darauf hätten, daß Schwangerschaften in
größerem oder kleinerem Umfang unterbrochen werden, hängt die Frage, ob Ab-
treibungen zugelassen oder - möglicherweise auch unter Strafandrohung - verbo-
ten werden sollen, davon ab, wie man die erfahrungswissenschaftlich gewonnenen
Erkenntnisse über die Auswirkungen der jeweiligen Regelung bewertet, insbeson-
dere davon, welchen Stellenwert man dem Selbstbestimmungsrecht der Schwange-
ren, dem Lebensrecht des Fötus und den Auswirkungen von Schwangerschaftsun-
terbrechungen auf das Bevölkerungswachstum beimißt. 166
Versuchen, S. 50 ff.; Volk, Z15tW 97 (1985), 871, 895 f.; zum normativen Gehalt der Lehre
Hassemers vgl. auch: Kayßer, Abtreibung, S. 27.
161 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 350 ff.; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 368.
162 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 359/360, 363 Fußn. 67, 368.
163 Hassemer, Theorie, S. 192 ff., insbesondere S. 213 ff.
164 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 369, 389 f.; ders., Sozialschädlichkeit, S. 278. Kritisch
zum - aus seiner Sicht: unzureichenden - Verfassungsbezug bei Amelung: Appel, Verfas-
sung, S. 309.
165 Daß Sollensnormen nicht aus Seinstatsachen abgeleitet werden können, ist bereits
durch Hume und Kant im einzelnen dargelegt worden (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 498 ff.) und steht in der heutigen Diskussion außer Frage, vgl. Höffe, Staat, S. 42; ders.,
Gerechtigkeit, S. 102 ff.; Papageorgiou, Schaden, S. 247; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 97,
99; Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 21 f.; a.A. Maclntyre, Verlust, S. 75 ff.
166 Bobbio, Begriff, S. 94/95; vgl. hierzu den Überblick bei Kindl, Bewertungsmöglich-
keiten, S. 74 ff.
240 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
170 Vgl. Rudolphi. in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 7 sowie umfassend Lüderssen. ZStW \07
(1995).877.893 ff.; Müssig, Rechtsgüterschutz. S. 163 ff.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 241
herer Betrachtung als gar nicht existent herausstellt oder der so wie beabsichtigt
gar nicht geschützt werden kann. Abgesehen von den Fällen der fehlenden Zweck-
tauglichkeit einer in Aussicht genommenen Pönalisierung wird durch die gesell-
schaftstheoretische Analyse allein die Basis für eine an normativen Maßstäben
orientierte kritische Reflexion geschaffen, die dann den eigentlich entscheidenden
Kern der strafrechtlichen Legitimationsproblematik darstellt. 171
176 Vgl. hierzu i.e. H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 186 f., 192 ff., 214 ff.
177 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, 11. Abschnitt VII, Rdnr. 71; M.Ch. Jakobs,
DVBI. 1985,97. 101; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 109: "straflimitierender Faktor".
16 Wohler.
242 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
cher Nonnen zu beachten. 178 Ausdruck des auch für strafrechtliche Nonnen gel-
tenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nach verbreiteter Auffassung insbeson-
dere der Subsidiaritätsgrundsatz, demzufolge auf strafrechtliche Verbotsnonnen
nur als letztes Mittel (ultima ratio) staatlichen Zwangs zurückgegriffen werden
darf. 179 Abgesehen davon, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz damit bereits im
Ansatz als Ennächtigungsgrundlage für staatliche Eingriffsbefugnisse ausscheidet,
darf auch seine begrenzende Funktion nicht überschätzt werden. 180
Als ungeeignet erweisen sich nur die Nonnen, die den empirischen (Vor-)Gege-
benheiten der Nonnsetzung nicht hinreichend Rechnung tragen. Zumindest dann,
wenn man - wie es hier vertreten wird - davon ausgeht, daß strafrechtliche Nor-
men präventive Wirkungen entfalten können, beschränkt sich die Funktion des Kri-
teriums der Geeignetheit darauf, Strafnonnen zu delegitimieren, die etwas faktisch
Unmögliches verlangen bzw. an faktisch nicht gegebene Voraussetzungen anknüp-
fen. 181 Daß sich das aus dem Gebot der Erforderlichkeit staatlicher Zwangsanwen-
dung abgeleitete Prinzip der Subsidiarität strafrechtlicher Nonnen bei näherem
Hinsehen als eine vordergründige Scheinlösung erweist, die nicht darüber hinweg-
täuschen kann und darf, daß es letztlich allein auf die Zumutbarkeit der Anwen-
dung strafrechtlichen Zwangs ankommt, wurde bereits oben dargelegt. 182 Schließ-
lich ist zu konstatieren, daß auch die die Nonnsetzungskompetenz des Gesetzge-
bers beschränkende Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. (Zumut-
barkeit) letztlich davon abhängig ist, welchen Stellenwert der von staatlicher
Bevonnundung freien personalen Freiheitssphäre zugesprochen wird.
178 BVerfGE 6, 389,433; 39, 1,47; 88, 203, 257 f.; 90, 145, 172 f.; Appel, Verfassung,
S. 171 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 77; Gal1was, MDR 1969, 892, 893 Fußn.
7; Groth, NJW 1979,743,744 ff.; H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit, S. 179 ff.; Hektor,
Relevanz, S. 159 ff.; Lewisch, Verfassung, S. 194 ff.; Paulduro, Verfassungsgemäßheit,
S. 108 ff.; Roos, Entkriminalisierungstendenzen, S. 207 f.; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I
Rdnrn. 12 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. \01 ff.; Vogel, StV 1996, 110, 113 ff.
179 Vgl. BVerfGE 39, I, 47; R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 19 ff.; Jakobs, StrafR
AT, 2/27; Jescheck, in: LK, Einl. Rdnr. 3; Maurach/Zipf, StrafR AT, 1. Teilbd., § 2 Rdnr.
13; Mül1er-Dietz, Festschrift für Dreher, S. \08 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnrn.
38 ff.; Rudolphi ZStW 83 (1971), 105, 114 f.; ders., in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 14; Schmid-
häuser, StrafR AT, 1/5,2/14; weitergehend Brandt, Bedeutung, S. 152, der im Anschluß an
Arthur Kaufmann (Festschrift für Henkel, S. 89 ff.) neben der negativen Komponente eine
positive Komponente des Subsidiaritätsprinzips betont, die besagen soll, daß der Staat, soweit
dies möglich ist, Konfliktregulierungen kleineren sozialen Einheiten zu überlassen hat.
180 Vgl. hierzu Appel, Verfassung, S. 181 ff.
183 BVerfGE 39, 1, 46 f.; 46, 160, 164 f.; 88, 203, 257 f.
184 BVerfGE 39, 1,44 ff.; 88,203,254.
185 BVerfGE 39, 1,47; 88, 203, 257 f.; vgl. auch BVerfGE 46, 160, 164 f.; 77, 170,215;
Müller-Dietz, Festschrift für Dreher, S. 108 ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 51.
186 BVerfGE 39, 1,44 ff.; 46, 160, 164; 50, 142, 162; 88, 203, 255; Alexy, Grundrechte,
S. 420 ff.; Appel, Verfassung, S. 70 ff.; Eser, in: Schönkel Schröder, Vorbem § I Rdnr. 29;
Hassemer, in: NK, Vor § 1 Rdnr. 199; Hermes, Grundrecht, S. 263; Hesse, Verfassungsrecht,
Rdnr. 350; Isensee, Sicherheit, S. 39 ff., 46 f.; ders., Handbuch, § 111 Rdnrn. 8, 151 ff.; Klein,
NJW 1989,1633,1637 f.; Klein, DVBI. 1994,489,495; Peine, Systemgerechtigkeit, S. 126;
vgl. auch Robbers, Sicherheit, S. 204 ff., der die Leitfunktion des Parlaments bei der Zuord-
nung und Konkretisierung der Schutzrechte betont sowie Unruh, Schutzpflichten, S. 23 f.,
74 ff., der hervorhebt, es handele sich um Optimierungsgebote, die der Umsetzung durch Ge-
setze bedürften.
187 Kriele, JZ 1975, 222; Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497, 504; Müller-Dietz, Fest-
schrift für Dreher, S. 114; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 92; Roxin, StrafR AT, Teilbd.
I, § 2 Rdnr. 37; Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. I; Zipf, Kriminalpolitik, S. 105.; auch
insoweit zweifelnd: Appel, Verfassung, S. 68 f. Zur Bedeutung des bereits in BVerfGE 39, I,
51 angedeuteten (vgl. Kriele, JZ 1975, 222, 223; Müller-Dietz, Festschrift für Dreher,
S. 115 f.) und nunmehr von BVerfGE 88, 203, 257 f. ausdrücklich als Korrektiv eingeführten
sog. "Untermaßverbotes" vgl. die kritischen Stellungnahmen von Starck, JZ 1993, 816, 817
und Hain, DVBI. 1993,982 ff.; kritisch auch Unruh, Schutzpflichten, S. 83 ff.
16'
244 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
\93 Bottke, JuS 1980, 539, 540; Steindorf, in: LK, Vor § 324 Rdnr. 11; vgl. auch Kühl,
Festschrift für Lackner, S. 838 f.; Schmidt 1Schöne, NJW 1994,2514,2516; Kriele, JZ 1975,
222, 224 hatte diese Forderung als Konsequenz der Entscheidung BVerfGE 39, I vorhergese-
hen.
\94 Art. 2 Abs. 2 Satz I GG kann ein umfassendes Grundrecht auf Umweltschutz nicht
entnommen werden; vgl. Kunig, in: v. Münch, Grundgesetzkommentar, Art. 2 Rdnr. 71; v.
Mangoldtl Klein 1Starck, Grundgesetz, Art. 2 Rdnr. 158; BVerwGE 54,211,219.
111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 245
195 Vg\. BVerfGE 56. 54, 63; Geddert-Steinacher. Umweltschutz, S. 38; Hofmann. Tech-
nik. § 21 Rdnrn. 33. 37 f.; Scholz. in: Maunz I Dürig. Art. 20a Rdnr. 8; Steinberg. NJW 1996,
1985. 1987 ff.; Tsai. Umweltschutzpflicht. S. 183 ff.
196 Klein. NJW 1989. 1633, 1638; vg\. auch Lagodny. Strafrecht, S. 445 ff., der auf die
Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers verweist; Tsai, Umweltschutzpflicht. S. 209 f .•
der auf das sog. Untermaßverbot verweist, im Ergebnis aber auch die Leistungsfähigkeit der
grundrechtlich fundierten Schutzpflichtkonstruktion als "nicht sonderlich hoch" veran-
schlagt.
197 Eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. 10. 1994, BGB\.
I,S.3146.
198 Scholz, in: Maunz I Dürig. Art. 20a Rdnrn. 17 f., 32.
199 Jarras/Pieroth, GG, Art. 20a Rdnr. 7; Scholz. in: Maunz/Dürig, Art. 20a Rdnm. 18,
46; Tsai. Umweltschutzpflicht, S. 125.
200 Jarras/Pieroth, GG, Art. 20a Rdnrn. 4, 7; Schmidt-Bleibtreu I Klein. GG, Art. 20a
Rdnr. 4; Sc holz, in: Maunz/Dürig, Art. 20a Rdnrn. 18,35,47; Schröder. DVB\. 1994,835,
837; Steinberg, NJW 1996. 1985. 1991 f.; Tsai. Umweltschutzpflicht. S. 115 ff., 122 ff.,
154 ff.
201 Geddert-Steinacher, Umweltschutz, S. 52; Scholz. in: Maunz/Dürig. Art. 20a Rdnm.
41. 47 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein. Grundgesetz, Art. 20a Rdnr. 5; Tsai. Umweltschutz-
pflicht. S. 88 ff.. 132 ff.; Uhle. DÖV 1993.947.951.
246 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
lasse sich "an Hand der grundgesetzlichen Werteordnung mit hinreichender Be-
stimmtheit ennitteln." Mit gleicher Bestimmtheit lasse sich sagen, "daß gewisse,
minder gewichtige, überkommene strafrechtliche Tatbestände aus diesem Kembe-
reich herausfallen. ,,202 An konkreten Zuordnungen kann der Rechtsprechung des
BVerfG allerdings allein entnommen werden, daß Beeinträchtigungen der Unver-
letzlichkeit menschlichen Lebens zum Kembereich des Kriminalunrechts zu rech-
nen sind,203 die Regelung des Bagatelldiebstahls dagegen bereits in den Grenzbe-
reich fällt. 204 Darüber hinaus verweist das BVerfG darauf, daß es sich bei den dem
Kriminalunrecht zuzurechnenden Normverstößen um die "Verletzung elementarer
Werte des Gemeinschaftslebens" handeln müsse, die über ihr bloßes Verbotensein
hinaus "in besonderer Weise sozialschädlich" seien und deren Verhinderung daher
für das geordnete Zusammenleben der Menschen "besonders dringend" ist. 205
In der Literatur hat insbesondere Sax die strafrechtliche Rechtsgüterordnung als
Konkretisierung grundgesetzlicher Wertentscheidungen interpretiert. Die straf-
rechtlich geschützten Rechtsgüter sollen seiner Auffassung nach als ,,Mittelwerte"
die Grundlage für die Entfaltung der sozialethischen Grundwerte (der "Überwer-
te") des Grundrechtskataloges bilden. 206 Die Problematik dieses Ansatzes besteht
darin, daß die verfassungsrechtliche Werteordnung - jedenfalls dann, wenn man
sie nicht allein auf die durch den Grundrechtskatalog der Art. 1 ff. GG ausdrück-
lich geschützten Werte beschränkt 207 und I oder den Schutzbereich des Art. 2
Abs. 1 GG der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend weit be-
stimmt 208 - praktisch keinen "wertfreien" Raum offenläßt, sich also ein als Legiti-
mationstopos für eine strafrechtliche Norm verwendungsfähiger verfassungsrecht-
lich relevanter Wert stets finden läßt. Soll der Anwendungsbereich strafrechtlicher
Normen begrenzt werden, kann dies vor diesem Hintergrund nur dann geschehen,
wenn man die Aufgabe des Strafrechts - in Übereinstimmung mit der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - auf den Schutz gewichtiger bzw.
elementarer Rechtsgüter beschränkt. 209
202 BVerfGE 27,18,29 f.; vgl. auch BVerfGE 37, 201, 212; 42, 272, 289; 51, 60, 74; 80,
282,286;90,145,173.
203 BVerfGE 80, 203, 257.
204 BVerfGE 50, 205, 213.
205 BVerfGE 50, 205, 213; 88, 203, 258; vgl. auch Paulduro, Verfassungsgemäßheit,
S. 126 ff. sowie Vogel, StV 1996, 110, 111 ff., der darlegt, daß in der praktischen Umsetzung
der restriktive Gehalt dieser Maxime nicht zum Tragen gekommen sei, da das BVerfG bisher
praktisch jeden über den Bereich des bloßen Verwaltungs ungehorsams hinausgehenden Ge-
meinschaftsbelang als strafschutzwürdig anerkannt habe.
206 Sax, Grundsätze, S. 912 f.; kritisch hierzu Appel, Verfassung, S. 372 ff.
207 Die Notwendigkeit der Einbeziehung der außerhalb des eigentlichen Grundrechtska-
taloges liegenden Wertentscheidungen betont zu Recht Amelung, Rechsgüterschutz, S. 312 f.
208 BVerfGE 6,32,36 ff. und seither std. Rspr., vgl. z. B. BVerfGE 80,137,152 ff.
209 BVerfGE 45, 187,253; 51. 60, 74 f.; 80, 244, 255 f.; 88, 203, 257; 90, 145, 175 sowie
184; vgl. auch die Analyse der Rspr. des BVerfG bei Vogel, StV 1996, 110, 111 ff.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 247
Indes: Selbst für den engeren Bereich der grundrechtlieh geschützten Freiheits-
rechte können der Verfassungsrechtsordnung jedenfalls keine unmittelbar umsetz-
baren Handlungsdirektiven entnommen werden. Notwendig ist zum einen eine
Exegese des verfassungsrechtlich geschützten Wertes selbst - beispielhaft: was
umfaßt die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG? Worin konstituiert sich die Freiheit
der Person i. S. d. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG? Wann beginnt bzw. endet das mensch-
liche Leben?2\O Zum anderen muß entschieden werden, welche Beeinträchtigun-
gen einer grundrechtlieh geschützten Freiheitssphäre auch unter Berücksichtigung
entgegenstehender - in der Regel ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter bzw.
anerkannter - Werte als strafrechtswürdige Beeinträchtigung etwa des Eigentums
i. S. d. Art. 14 GG, der körperlichen Freiheit i. S. d. Art. 2 Abs. 2 GG oder der
Willensfreiheit i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG anzusehen sind.
Hinzu kommt, daß der notwendigerweise abstrakten Verfassungsrechtsordnung
Aussagen über die sozialethische Bewertung einzelner Phänomene des gesell-
schaftlichen Zusammenlebens regelmäßig nur im Wege einer Exegese entnommen
werden können. Verdeutlichen läßt sich dies am Beispiel des bundesdeutschen
Wirtschaftsstrafrechts: 211 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ge-
währleistet kein konkretes Wirtschaftssystem, sondern konstituiert allein be-
stimmte Rahmenbedingungen, wie z. B. die Vertragsfreiheit, die Koalitionsfreiheit,
die Tarifautonomie, die Berufsfreiheit, das Institut des (sozialgebundenen) Privat-
eigentums und die Möglichkeit der Verstaatlichung?12 Den Art. 2 Abs. I, 9, 11,
12, 14, 15,20 Abs. 1 und 109 GG kann damit zwar die - über Art. 79 Abs. 3 GG
verfestigte - Absage sowohl an eine rein liberalistische, jede wirtschaftspolitische
Einflußnahme des Staates ausschließende, als auch an eine staatsautoritäre, allein
auf dirigistischen staatlichen Eingriffen aufbauende Wirtschaftsordnung, sowie das
Bekenntnis zu einer gemischt liberalsozialen Wirtschaftsverfassung entnommen
werden, in der einerseits die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des einzelnen ge-
währleistet sein soll, andererseits aber auch gegen eine mißbräuchliche Marktbe-
herrschung eingeschritten werden kann?13 Die Ausgestaltung der Wirtschaftsord-
nung ist dann aber Aufgabe des Gesetzgebers, dessen grundSätzliche Gestaltungs-
freiheit allein durch die bundesstaatliehe Kompetenzverteilung sowie dadurch
Grenzen gesetzt werden, daß er den sozialstaatlichen Auftrag, rechtsstaatliehe Ver-
214 BVerfGE 50,290,337 f.; Badura, JuS 1976,205,208 f.; ders., in: Schmidt-Aßmann, 3.
Abschnitt Rdnm. 19 f.; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 32.
215 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 369; Bottke, wistra 1991, 1,3 f.; Dingeldey, Insider-
Handel, S. 129; Geerds, Wirtschaftsstrafrecht, S. 288 f.; Otto ZStW 96 (1984), 339, 356 f.;
ders., MschrKrim 1980, 397, 401 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 148 ff.; A.
Worms, Anlegerschutz, S. 270.
216 Vgl. hierzu Hassemer, Theorie, S. 234 ff.; Papageorgiou, Schaden, S. 249.
217 Vgl. Woesner, NJW 1966, 1729; Zipf, Kriminalpolitik, S. 103, 106.
218 Vgl. Rudolphi, ZStW 83 (1971), lOS, 115 f.
219 Weber, in: Baumann I Weber I Mitsch, StratR AT, § 3 Rdnr. 12.
220 Vgl. hierzu die letztlich nicht über eine Ansammlung wenig konkreter Leittopoi (Idee
der materialen Gerechtigkeit, Achtung personaler Freiheit, Gebot der Toleranz) hinausrei-
chenden Bemühungen um die Konkretisierung des Aussagegehalts des Rechtsstaaatsprinzip
bei Rudolphi, Festschrift für Honig, S. 159; kritisch hierzu: Appel, Verfassung, S. 308, 311.
Zur Notwendigkeit eines Bezuges auf überpositive Prinzipien vgl. auch Naucke, Legitimati-
on, S. 156 ff., insbesondere S. 158, 168.
III. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 249
Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn man mit Jakobs die "Wirklichkeit des
sozialen Lebens" und die "verfassungsrechtlichen Normen" als alleinige Maßstäbe
der materiellen Legitimität der Strafrechtsordnung zurückweist223 und für eine An-
bindung der Zurechnung strafrechtlicher Schuld an die Anerkennung des Men-
schen als Person und Bürger plädiert: Jakobs leitet aus dem Begriff der Person die
Stellung des einzelnen als gleichberechtigter Träger von Rechten her. 224 Aus der
mit dem Status als Bürger - einer "freiheitlichen" Gesellschaft - verbundenen Exi-
stenz einer der gesellschaftlichen Kontrolle vollständig entzogenen Privatsphäre
ergibt sich für ihn, daß auch bei einem über die Privatsphäre hinauswirkenden Ver-
halten die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit erst dann zulässig sein
kann, wenn und soweit sich der einzelne "aktuell anmaßt, fremde Organisations-
kreise zu gestalten. ,,225
Kindhäuser hat insoweit zutreffend angemerkt, die von Jakobs eingeführte Kate-
gorie des "Bürgers" verweise der Sache nach allein darauf, daß im Rahmen der
Normgenese auch die Grundrechte des Täters hinreichend zu berücksichtigen sei-
en?26 Entscheidend bleibt also auch bei diesem Ansatz, anhand welcher Kriterien
bestimmt werden kann bzw. bestimmt wird, was - "in einer freiheitlichen Gesell-
schaft" - Teil der jeder staatlichen Einwirkung entzogenen Privatsphäre ist bzw.
wann - "in einer freiheitlichen Gesellschaft" - eine Anmaßung der Gestaltung
fremder Organisationskreise zu konstatieren ist. Daß dies bei einem entsprechen-
den Vorverständnis zu einer sehr weitgehenden Beschneidung der personalen Frei-
heit führen kann, zeigt in aller Deutlichkeit die von Kratzsch entwickelte, auf "op-
timalen Rechtsgüterschutz" abstellende Konzeption einer Strafrechtsordnung. 227
221 Vgl. die diesbezüglichen Bemühungen von Thoss, Verhältnis, S. 75 ff. sowie hierzu die
kritische Stellungnahme von Stratenwerth, Strafrechtsreform, S. 19 f.
222 Eser, Festschrift für Mestmäcker, S. 1019; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem.
§§ \3 ff. Rdnr. 10; vgl. auch Müller-Dietz, Festschrift für R. Schmitt, S. 115, der hierin den
Grund für die Wiederbelebung der Bemühungen um rechts philosophische Orientierung sieht.
223 Jakobs, StrafR AT, 1/15 Anm. 15 a.E., 2/1.
224 Jakobs, ZStW 107 (1995), 843, 853 ff.; ders., Schuldprinzip, S. 26 f.; ders., ZStW 101
(1989), 516, 537; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 388 ff., der ebenfalls liberale
Grenzen des am Sozialschädlichkeitsgedanken orientierten funktional ausgerichteten Straf-
rechtssystems anerkennen will.
225 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 755 f., 762.
226 Kindhäuser, Gefährdung, S. 183, 185/186.
227 Vgl. oben S. 49 f.
250 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
228 Dtto, Rechtsgutsbegriff, S. 15; vgl. auch Appel, Verfassung, S. 66, 199,330/331 und
passim.
229 Vgl. aber auch Amelung, Sozialschädlichkeit, S. 278; Appel, Verfassung, S. 21, 51,
55 ff. und passim; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 7; Lagodny, Strafrecht, S. 151 ff., MJ.
Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 83.
230 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 9.
231 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnrn. 11 f.
232 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 2 Rdnr. 13.
233 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 5.
234 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 5 a.E.
111. Das systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie 251
Gesetzgeber zum Erlaß einer Strafnorm nur dann, wenn sie zur Wahrung und Si-
cherung der Lebensbedingungen unserer auf der Freiheit und Verantwortung der
Person basierenden Gesellschaft notwendig ist. Dagegen hat der Staat nicht das
Recht, den einzelnen mit Hilfe von Strafdrohungen zu zwingen, bestimmte reli-
giöse, moralische oder sonstige Wertvorstellungen zur Richtschnur seines Verhal-
tens zu wählen, wenn deren Befolgen keinerlei Funktion für die Schaffung oder
Einhaltung eines auf der Freiheit und Verantwortung des Individuums beruhenden
gesellschaftlichen Lebens zukommt.,,235 Des weiteren ergebe sich, "daß der Schutz
von Universalinteressen nur insoweit legitim ist, soweit er sich als notwendig er-
weist, um die für eine freie Entfaltung der Bürger notwendigen Voraussetzungen
zu sichern. Der Schutz staatlicher Einrichtungen und sonstiger Universalinteressen
darf daher nicht um ihrer selbst willen erfolgen.,,236
Die zitierten Passagen lassen deutlich erkennen, daß es sich bei der von Roxin
und Rudolphi befürworteten Rechtsgutstheorie um einen verfassungspositivisti-
schen Ansatz handelt. So kann beispielsweise das Verbot, seine Bürger in religiöser
Hinsicht zu bevormunden zwar für ein säkulares und pluralistisch verfaßtes Gesell-
schaftssystem ohne weiteres aus der rein weltlichen Zielsetzung des Staates herge-
leitet werden 237 - für ein religiös-fundamentalistisches Staatswesen müßten aber
ersichtlich andere Grundsätze gelten. 238 Daß ein an verfassungsrechtlichen Vorga-
ben orientierter Ansatz dem Strafrecht von vornherein keine zeitlos gültigen, son-
dern allenfalls die in einer bestimmten historischen Situation für eine konkrete Ge-
sellschaft verbindlichen Grenzen zu setzen vermag, spricht allerdings nicht gegen
diesen Ansatz, sondern ist nichts anderes als die zwingende Konsequenz der oben
bereits aufgezeigten Geschichtlichkeit des Rechts. 239
Auch dann, wenn man den modemen Verfassungsstaat westlicher Prägung als
Positivierung des aufgeklärten Vernunft(rechts)denkens versteht,240 kann die
Orientierung an den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht durch einen Rekurs auf
ein ethisches Hintergrundkonzept ersetzt bzw. überspielt werden. Anerkannterma-
ßen können weder aus den von Kant in den §§ Bund C der Einleitung zur Rechts-
lehre aufgestellten Grundsätzen 241 noch aus den im Zuge vertragstheoretischer
werden kann." (Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B) "Eine jede
Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit je-
dermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc" (a. a. 0.,
§ C). Der Sache nach entspricht dies dem I. Gerechtigkeitsgrundsatz bei Rawls, vgl. Rawls,
Idee, S. 60. Zur Neufassung dieses Satzes vgl. Rawls, Idee, S. 160 f., 203 ff.
242 Als Beispiel einer vertragstheoretischen Reformulierung sei hier auf die von Rawls
entwickelte Gerechtigkeitskonzeption verwiesen. Rawls selbst versteht seinen Ansatz als eine
Fortführung der Kantischen Lehre, vgl. Rawls, Theorie, S. 12, 27, 283 ff., insbesondere
S. 289; ders., Idee, S. 80 ff., 75; ders. Politischer Liberalismus, S. 399: "prozedurale Deutung
der Kantischen Lehre". Zu den Unterschieden zwischen beiden Konzeptionen vgl. Rawls, Po-
litischer Liberalismus, S. 180 ff. sowie Pogge, Rawls, S. 189 ff. Als diskursethische Reformu-
lierung des Kantischen Ansatzes kann auf die Habermas'sche Diskursethik verwiesen wer-
den, vgl. insbesondere: Habermas, Faktizität und Geltung, S. 49 ff.; Kersting, Freiheit, S. 19 f ..
36. Daß es sich bei der Diskurstheorie um eine Reformulierung der Lehre Kants handelt, be-
tont auch Alexy, ARSP-Beiheft 51 (1993), 11, 14 ff.
243 Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 275 ff. und auch K. Günther, Möglich-
keiten, S. 210: Die Diskursethik könne nicht aus sich selbst heraus bestimmen, "weIche
Rechte in weIcher Weise geschützt werden sollen".
244 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 297; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 157. Zur
Konzeption der "Person" als notwendigem inhaltlichen Fundament prozeduraIer Ansätze vgl.
Arthur Kaufmann. Rechtsphilosophie, S. 205, 292 ff.
245 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 157, 193; Höffe, Gerechtigkeit. S. 429; Arthur
Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 84, 148; Köhler, StrafR AT, S. 17, 36; Rawls, Theorie.
S. 224 f.; ders., Idee, S. 62, 163, 211; ders., Politischer Liberalismus, S. 408, 414 sowie bei-
spielhaft S. 457 ff.; Wolff, Abgrenzung, S. 185 ff., 194 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 162/163, 165 ff.
246 Zur Konzeption des Vorrangs des Rechten vor dem Guten vgl. Rawls, Theorie, S. 50,
486 ff., 610 f.; ders., Idee, S. 288 ff., 296 ff., 323 ff., 334; ders., Politischer Liberalismus,
S. 266 ff.
247 Höffe, Gerechtigkeit, S. 428 ff.; Wolff, ZStW 97 (1985), 786, 814 ff.; ders., Abgren-
zung, S. 202 ff.; Zaczyk, Unrecht, S. 181 ff.
248 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 238; Kersting, Freiheit, S. 212; Köhler,
StrafR AT, S. 16,36; Merkei, Strafrecht, S. 280 f.; Zaczyk, Unrecht, S. 184.
249 Vgl. hierzu Rawls, Theorie, S. 30, 224 ff.; ders., Idee, S. 163, 168, 209 ff.; Wittig,
ZStW 107 (1995), 251, 273 f.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 253
Wie eben dargelegt, kann die Frage nach den Grenzen des legitimen Anwen-
dungsbereichs strafrechtlicher Normen nur vor dem Hintergrund einer konkreten
gesellschaftlichen Konzeption gestellt und nicht in zeitlos-gültiger Art und Weise,
sondern ebenfalls nur bezogen auf ein konkretes gesellschaftliches Modell beant-
wortet werden. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies: Es ist der Frage
nachzugehen, ob und wenn ja welche Grenzen der Anwendung strafrechtlichen
Zwangs in einer wesentlich durch die Modellvorstellung einer Gemeinschaft freier
250 Höffe, Gerechtigkeit, S. 284; Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,364; Marx, Definition,
S. 31 ff.; M.J. Wonns, Bekenntnisbeschimpfung, S. 54 ff.
251 Vgl. Appel, Verfassung, S. 388, 450, 454, 486 f. und passim; Forster, ZSR NF 114
(\ 995), 11, I, 51. Soweit die Verfassung - wie z. B. Art. 24novies BV im Hinblick auf die
Regelung der Fortpflanzungsmedizin - sehr dezidierte Detailregelungen enthält, führt dies
zwingend zu einer entsprechend weitgehenden Vorfestlegung des Strafgesetzgebers.
252 Zur Bindung an die jeweils übergeordnete Ebene vgl. auch Rawls, Idee, S. 213; ders.,
Politischer Liberalismus, S. 460.
254 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
Dieser neben dem bereits oben zitierten Wolfenden Report auch in einer Bot-
schaft des Schweizer Bundesrates aus dem Jahre 1985 254 anklingende Ansatz ist
bereits 1859 in einer insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtskreis wirkungs-
geschichtlich bedeutsamen Art und Weise von John Stuart Mill in seinem Essay
On Liberty entwickelt worden?55
Im vierten Kapitel dieses Essays, in dem er die Grenzen der Autorität der Ge-
sellschaft über das Individuum thematisiert, faßt Mill die Problematik knapp und
prägnant in drei Fragen zusammen: "Wo ist denn nun also die gerechte Grenze für
die Herrschaft des Individuums über sich selbst? Und wo beginnt die Autorität der
Gesellschaft? Ein wie großer Teil des menschlichen Lebens sollte dem Individu-
um, wieviel davon der Gesellschaft vorbehalten bleiben?,,256 Bereits in der Einlei-
tung dieser Schrift hatte Mill die Auffassung vertreten, "daß der einzige Grund,
2S3 Zur rein negativen Funktion der Verfassungsrechtsordnung als Rahmen der Strafge-
setzgebung vgl. auch bereits Eser, Duquesne University Law Review 4 (I %6), 345, 400 und
415.
254 Vgl. Stratenwerth, Rektoratsrede, S. 11.
255 Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Schadensprinzips vgl. Papageorgiou, S. 101
m.w.N.
256 MiII, Freiheit, S. 103.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 255
aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines
ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Daß der
einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds
einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung
anderer zu verhüten ... Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht,
ist jemand der Gesellschaft verantwortlich."257 Der allein der eigenverantwortli-
chen Selbstbestimmung unterliegende Bereich umfaßt nach Mill "als erstes das in-
nere Feld des Bewußtseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne,
ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung
und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer,
wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur. Die Freiheit, Meinungen
in Wort und Schrift zu vertreten, scheint unter einen andersartigen Grundsatz zu
fallen, da sie zu dem Teil persönlicher Lebensführung gehört, die andere Leute
mitbetrifft. Aber da sie fast von gleicher Bedeutung ist wie Gedankenfreiheit
selbst, und zum großen Teil auf denselben Gründen beruht, ist sie praktisch un-
trennbar von ihr. Zweitens verlangt dies Prinzip Freiheit des Geschmacks und der
Studien, Freiheit, einen Lebensplan, der unseren eigenen Charakteranlagen ent-
spricht, zu entwerfen und zu tun, was uns beliebt, ohne Rücksicht auf die Folgen
und ohne uns von unseren Zeitgenossen stören zu lassen - solange wir ihnen nichts
zuleide tun -, selbst wenn sie unser Benehmen für verrückt, verderbt, oder falsch
halten. Drittens: aus dieser Freiheit jedes einzelnen folgt - in denselben Grenzen -
diejenige, sich zusammenzuschließen, die Erlaubnis, sich zu jedem Zweck zu ver-
einigen, der andere nicht schädigt, unter der Voraussetzung, daß die sich vereinen-
den Personen voll erwachsen sind und nicht unter Zwang oder veraniaßt durch Vor-
spiegelungen in eine Verbindung treten.,,258
Das wesentliche Defizit seines Ansatzes besteht darin, daß Mill es unterlassen
hat, den Gehalt der selbst in der oben zitierten zentralen Passage nur skizzenhaft
entworfenen Grundsätze näher zu bestimmen. 259 Trotz oder auch gerade wegen ei-
niger im weiteren Verlauf seiner Ausführungen angeführter Beispiele bleibt die
von ihm befürwortete Abgrenzung der dem staatlichen Zugriff offenstehenden
bzw. verschlossenen Sphären weitgehend dunkel. Beispielhaft sei nur darauf ver-
wiesen, daß Mill - ausweislich des obigen Zitats - zwar einerseits die Verderbtheit
eines Verhaltens nicht als einen Grund anerkennen will, der die Einbeziehung eines
Verhaltens in die Sphäre der Gesellschaft zu rechtfertigen vermag, daß er aber an-
dererseits im weiteren Verlauf seiner Ausführungen Vergehen gegen die Schick-
lichkeit als Beleidigung der guten Sitten ansieht und ihre Bestrafung ohne weiteres
für legitim erachtet. 260 Insgesamt gesehen ist zu konstatieren: Da - was Mill selbst
S. 112/113: die eine Ergänzung durch das "Ärgernisprinzip" (offen se principle) für notwen-
dig erachten.
261 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/22 f. sowie bereits Welzel, ZStW 58 (1938), 491, 516.
berg nach den für eine liberale Gesellschaft verbindlichen "liberty-limiting prin-
ci pies" bzw. "coercion-Iegitimizing principles",263 wobei er neben dem bereits von
Mill selbst propagierten Schadensprinzip (harm-principle) als weitere potentielle
Kriminalisierungsgründe das Belästigungsprinzip (offense-principle) sowie zwei
Formen moralistischer Erwägungen (legal paternalism sowie legal moralism) erör-
tert. Ziel seiner Untersuchung ist es, den Nachweis zu erbringen, daß in einer libe-
ralen Gesellschaft die Pönalisierung von Verhaltensweisen legitimerweise neben
einem elaborierten harm-principle auch auf ein entsprechend ausdifferenziertes of-
fense-principle gestützt werden kann, während paternalistische oder sonstige mora-
listische Erwägungen eine Pönalisierungsentscheidung in keiner Weise zu tragen
vermögen. 264 Methodisch beginnt Feinberg mit dem von ihm als Kriminalisie-
rungsgrund für im Grundansatz unproblematisch erachteten Schadensprinzip (Vol.
1: Harm to Others),265 um sich dann den als schwieriger und kontrovers einge-
schätzten Prinzipien zuzuwenden: dem Belästigungsprinzip (Vol. 2: Offense to
Others), dem Strafrechtspaternalismus (Vol. 3: Harm to Self) und dem Strafrechts-
moralismus (Vol. 4: Harmless Wrongdoing).
Den ersten Band widmet Feinberg einer Aufarbeitung des im Ansatz bereits von
Mill (als einzig tragfähige Begründung für eine Einschränkung der personalen
Freiheit) postulierten Schadensprinzip (harm-principle). Daß die Schädigung ande-
rer Personen als ein im Hinblick auf die Pönalisierung von Verhaltensweisen rele-
vanter Gesichtspunkt anzuerkennen ist, steht für Feinberg außer Frage. Ausgehend
von der Erkenntnis, daß mit der Institution des Strafrechts nicht Schäden als solche
verhindert werden können, sondern schädigenden Verhaltensweisen (acts of har-
ming) entgegengewirkt werden soll,266 definiert Feinberg die strafrechtlich rele-
vante Schädigung (harm) als Beeinträchtigung von Interessen (setback of interest),
die sich gleichzeitig auch als Verletzung eines Rechts (violation of a person's
rights) darstellt. 267 Als strafrechtlich relevante Interessen erkennt Feinberg weder
die bloßen Wünsche und Neigungen (passing wants) noch die Zielsetzungen (in-
strumental wants, focal aims) einer Person an, sondern allein Wohlfahrtsinteressen
(welfare interests),268 d. h. Interessen, die gerichtet sind auf die Gewährleistung
der Grundvoraussetzungen für die Umsetzung einer eigenständigen Lebensplanung
("basic requisites of a man's well-being,,).269
Werden eine oder mehrere Personen durch ein Verhalten in ihren Wohlfahrtsin-
teressen beeinträchtigt270 und stellt sich das Verhalten gleichzeitig noch als Ein-
269 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 37,57; vgl. hierzu 1. C. Wolf, Zeitschrift für Philosophische
Forschung 42 (1988), 454, 457 ff.
17 Wohlers
258 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
griff in fremde Rechtspositionen dar, ist zwar eine im Grundsatz strafrechtlich rele-
vante Schädigung gegeben. Einen Automatismus dergestalt, daß aus dem Vorlie-
gen einer strafrechtlich relevanten Schädigung unmittelbar auf die Legitimität der
Pönalisierung geschlossen werden muß, weist Feinberg allerdings zurück. Die mit
der Pönalisierung einer Verhaltensweise verbundene Einschränkung der Freiheit
macht seiner Auffassung nach vielmehr eine Abwägung erforderlich, die er durch
mehrere Abwägungsmaßstäbe (mediating maxims) zu strukturieren versucht. 271
Festzuhalten bleibt: Die strafrechtliche relevante Schädigung einer oder mehrerer
anderer Personen ist nach Feinberg ein Umstand, der den Gesetzgeber zur Pönali-
sierung einer Verhaltensweise berechtigen kann, nicht aber zwingend berechtigen
muß.
Neben dem Schädigungsprinzip (harm-principle) will Feinberg mit dem Belästi-
gungsprinzip (offense-principle) einen weiteren Gesichtspunkt anerkennen, der
eine Kriminalisierung grundsätzlich zu rechtfertigen vermag. 2n Mit dem Begriff
der "offenses" will Feinberg nicht weniger gewichtige "harms", sondern die von
Schädigungen zu unterscheidenden Phänomene der als negativ empfundenen Ge-
fühlszustände (disliked states of mind) erfassen. 273 Feinberg ist der Auffassung,
daß das Hervorrufen einer Belästigung unter zwei Voraussetzungen als Grund für
eine Kriminalisierung anzuerkennen sei: Zum ersten muß es sich um ein Verhalten
handeln, das gleichzeitig auch als Eingriff in fremde Rechte anzusehen ist (wrong-
ful offensive conduct);274 zum zweiten müssen die Interessen des sich-gestört-Füh-
lenden gegen die Interessen der agierenden Person abgewogen werden. 275
Im dritten und vierten Band seines Gesamtwerkes setzt sich Feinberg dann aus-
führlich mit den Phänomenen des "legal paternalism" und des "legal moralism"
auseinander. Eine paternalistisch begründete Legitimation strafrechtlicher Normen
lehnt er als eine mit der Autonomie der Person unvereinbare Erwägung ab. Eine in
der Tradition des politischen Liberalismus stehende Gesellschaft dürfe die für ein
"gutes" Leben relevanten ,,richtigen" Werte und Ziele nicht von Staats wegen ver-
bindlich vorschreiben, sondern müsse es dem einzelnen überlassen, seine persönli-
che Konzeption des Guten innerhalb des durch die Freiheit der anderen Bürger ge-
setzten Rahmens selbst und eigenverantwortlich zu finden. 276 Auch eine eigenstän-
dig-moralistische Begründung strafrechtlicher Normen lehnt Feinberg als mit der
Autonomie der Person unvereinbar ab. Er erkennt an, daß auf normative Erwägun-
270 Zur Einbeziehung kollektiver Interessen in die Interessensphäre einer Person vgl. Fein-
berg, Vol. I, S. 63.
271 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 187 ff., 218 ff.
272 Feinberg, Vol. 2, S. I f.
273 Feinberg, Vol. 2, S. 3 ff.
274 Feinberg, Vol. 2, S. I f., 68.
275 Zu den im Rahmen des Abwägungsprozesses (balancing test) relevanten Topoi vgl.
i.e.: Feinberg, Vol. 2, S. 25 ff.
276 Feinberg, Vol. 3, S. 52 ff., insbesondere S. 57 ff.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 259
gen bei der Bestimmung von strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen nicht ver-
zichtet werden kann?77 Die Berücksichtigung normativer Gesichtspunkte bei der
Bestimmung strafrechtlich relevanter Schädigungen (wrongful harms) und Belästi-
gungen (wrongful offenses) könne aber nicht gleichgesetzt werden mit der Durch-
setzung partikularer Wertvorstellungen um ihrer selbst willen,278 ein Gesichts-
punkt, der für eine dem Grundwert der Autonomie der Person verpflichtete und da-
mit zwingend pluralistisch strukturierte liberale Gesellschaft 279 von vornherein als
legitimer Grund für die Kriminalisierung von Verhaltensweisen auszuscheiden ha-
be. 28o
277 Feinberg, Vol. 4, S. 11 f.; vgl. auch die obigen Ausführungen zur normativen Kompo-
nente des hann-principle und offense-principle.
278 Feinberg, Vol. 4, S. 12; vgl. auch MacCormick, Disestablishment, S. 220 f.
279 Vgl. Feinberg, Vol. 4, Kapitel 29A. insbesondere S. 108 ff. Zur Abgrenzung des Libe-
ralismus vom Relativismus vgl. auch Feinberg, Vol. 4. S. 305 ff., 333 ff.
280 Feinberg. Vol. 4, S. 67/68.
281 Die Frage. ob die durch Feuerbach entwickelte Konzeption die Möglichkeit einer an-
dersartigen Entwicklung geboten hätte, kann hier dahinstehen, da dieser Ansatz neben der
sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts durchsetzenden Variante der Rechtsgutstheorie keine
weitergehende strafrechtspraktische oder dogmengeschichtliche Wirkung gehabt hat; vgl.
hierzu i.e.: Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 28 ff., 52 ff.
282 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 256 f., 279.
17'
260 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
Freiheit des einzelnen schützende, sondern auch die Freiheit einschränkende Insti-
tution darstellt, sucht Papageorgiou nach Gründen, die eine Pönalisierung von Ver-
haltensweisen zu rechtfertigen vennögen. Den stärksten und seiner Auffassung
nach letztlich auch einzigen Grund zum Kriminalisieren sieht er im sog. Schadens-
prinzip. Etwaigen anderen Prinzipien (Paternalismus-, Belästigungs- und Moralis-
musprinzip) mißt Papageorgiou keine eigenständige, sondern nur eine negativ, ab-
grenzende Funktion zu: diese Prinzipien seien als Abgrenzungstopoi des Schadens-
prinzips selbst zu verstehen. 283
Den Begriff der Schädigung definiert Papageorgiou zunächst im Anschluß an
Feinberg als Beeinträchtigung von Interessen?84 Interessen sind nach Papageor-
giou die begründende Basis moralischer und rechtlicher personale~85 Ansprüche
und Verpflichtungen?86 Eine in diesem Sinne als Schädigung anzusehende Interes-
senbeeinträchtigung liege - so Papageorgiou - weder in der Nichterfüllung subjek-
tiver Zwecksetzungen (Wünsche, Neigungen etc.)287 noch in der bloßen objektiven
SChlechterstellung,288 noch in der Nichtverwirklichung eines Entwicklungsinteres-
ses (wie z. B. ein guter Musiker oder Sportler zu werden).289 Unter Anlehnung an
die Vorarbeiten Feinbergs definiert Papageorgiou den Begriff des strafrechtlich re-
levanten Schadens zunächst als Beeinträchtigung von Wohlfahrtsinteressen, d. h.
als Beeinträchtigung der - in der konkreten Ausgestaltung vom jeweils gegebenen
sozialen Umfeld abhängigen 290 - Grundvoraussetzungen zur Verwirklichung indi-
vidueller Lebensplanungen. 291 Abweichend von der Konzeption Feinbergs, dem er
einen zu flachen, allein an der Beeinträchtigung äußerlich verletzbarer, substanz-
hafter Entitäten orientierten Schadensbegriff vorwirft,292 ersetzt Papageorgiou den
Begriff des Wohlfahrtsinteresses letztlich dann durch den des Sicherheitsinteres-
ses. 293 Zwar sollen auch Sicherheitsinteressen eine fundamentale Rolle für das
Entwicklungsanliegen der Individuen haben, aber: ,,Ihr Anspruchskern besteht im
Gegensatz zu den Wohlfahrtsinteressen nicht in der Leistung eines bestimmten
Wohlfahrtsniveaus, sondern lediglich in der symbolisch manifestierbaren Achtung
gegenüber gewissen Positionen, deren symbolische Unverbrüchlichkeit (Sicher-
heit) eine notwendige Bedingung zur Konzipierung und Entfaltung eines würdigen
Lebens ist. ,,294
Welche Verhaltensweisen als Beeinträchtigung der unerläßlichen Voraussetzun-
gen für die Umsetzung der autonomen Konzeption eines "guten" Lebens als Beein-
trächtigung von Sicherheitsinteressen und deshalb als strafwürdig anzusehen seien,
lasse sich nicht apriori und ein für allemal sagen, sondern sei "eine Frage des kul-
turellen Zusammenhangs", wobei auf der Hand liege, daß hier "gewisse quantitati-
ve Kriterien, wie etwa die von Winfried Hassemer vorgeschlagenen Kategorien
der Häufigkeit einer Interessenverletzung, der Bedarfsintensität des verletzten Guts
und der gesellschaftlich wahrgenommenen Bedrohungsintensität der Verletzung
ausschlaggebend sein dürften".295 Eine dem normativen Prozeß der Konstituierung
von Sicherheitsinteressen vorgegebene inhaltliche Beschränkung will Papageorgou
allerdings durch die den Sicherheitsinteressen gegenübergestellte Kategorie der
Freiheitsinteressen erreichen. 296 Das Freiheitsinteresse fordere, die im Hinblick
auf die Anerkennung der Autonomie der Person als oberster Wert elementaren Be-
dingungen der Authentizität einer individuellen Lebensplanung zu gewährlei-
sten. 297 Zwar sei auch die konkrete Ausgestaltung des Freiheitsinteresses kontext-
abhängig; an der grundsätzlichen Notwendigkeit, die Autonomie der Person - ver-
standen als Urheberschaft über den eigenen Lebensplan - jedenfalls im Grundsatz
zu gewährleisten, ändere dies nichts 298 - jedenfalls nicht für eine Gesellschaft, die
es grundsätzlich dem einzelnen selbst überlassen will, zu entscheiden, was er unter
einem "guten" oder "würdigen" Leben zu verstehen hat?99
Wie bereits oben angedeutet, erkennt Papageorgiou weder das Belästigungsprin-
zip ("offense-principle,,)3oo noch - insoweit in voller Übereinstimmung mit Fein-
berg - paternalistische oder moralistische Prinzipien 301 als eigenständige Krimina-
lisierungsgründe an. Die von Feinberg über das offense-principle erfaßten Belästi-
gungen will Papageorgiou erst und nur dann als Kriminalisierungsgrund anerken-
nen, wenn hiervon Interessen betroffen werden, die unter normativen Gesichts-
punkten als dem Zugriff Dritter entzogene Sicherheitsinteressen anerkannt sind.
Beispielhaft nennt er das Interesse an der Achtung der Persönlichkeit (Ehre) und
das Interesse an der Herrschaft bzw. Kontrolle über den privaten Bereich (Haus-
recht).302 Hinsichtlich paternalistischer bzw. moralistischer Erwägungen vertritt
299 Zum Charakter des Freiheitsinteresses als quasideontologische Sperre gegenüber den
konsequentialistischen Sicherheitsinteressen vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 159 ff.
300 Papageorgiou, Schaden, S. 263 ff.
301 Zum Paternalismus als Pönalisierungsgrund vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 216 ff.;
zum Moralismus vgl. a. a. 0., S. 243 ff.
262 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, die Frage zu beantworten, ob in ei-
ner modemen pluralistischen. Gesellschaft eine wie auch immer abzugrenzende,
302 Papageorgiou, Schaden, S. 269. In dieser Richtung wohl auch MacCormick, Disesta-
blishment. S. 220; vgl. auch Marshall, Feminism, S. 387: Der durch Pornografie hervorgeru-
fene ,,harm" resultiere aus der Erniedrigung der Frau zum Objekt. .
303 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 254 f.
Zugrundelegung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität ist le-
diglich der direkte Zugriff auf die Gesinnung als solche unstatthafe ll - Verhaltens-
weisen, die Ausdruck einer Gesinnung sind, und die Grenzen der äußeren Freiheit
überschreiten, können dagegen sehr wohl Gegenstand rechtlicher Regelungen sein.
310 Zu den Schwierigkeiten, einen "echten" Strafrechtsmoralisten zu finden vgl. auch Pa-
pageorgiou, Schaden, S. 257 ff.; zur Schwierigkeit der Bestimmung "bloßer" Moralwidrig-
keiten vgl. Appel, Verfassung, S. 355 f.
311 Vgl. Kühl, Unterscheidung, S. 146 f.; ders., Festschrift für Spende!, S. 84.
312 Etwas anderes soll nur dann gelten, wenn die Verlobten ernsthaft zur Ehe entschlossen
sind, der Eheschließung aber zwingende Hindernisse entgegenstehen, die von den Verlobten
nicht zu verantworten sind und in absehbarer Zeit nicht behoben werden können; vgl. BGHSt
6,46,54 f.
313 BGHSt 6, 46,52; zustimmend Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1691.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 265
314 BGHSt 6, 46, 53; vgl. auch Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1691.
315 BGHSt 6, 46, 53 f.
316 Vgl. hierzu Papageorgiou, Schaden, S. 258 f.
317 Bestätigt wird diese Interpretation durch die Entscheidung BGHSt 6, 147, 153, in der
der Große Senat die Verpflichtung zur Abwendung eines Selbstmordes ebenfalls aus einem
vorgegebenen Sittengesetz abgeleitet hat; vgl. auch Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,362.
318 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 39 Fußn. 2; Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,363.
320 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 439 sowie umfassend Rawls, Idee, S. 364 ff., ders., Po-
litischer Liberalismus, S. 266 ff., der im übrigen auch immer wieder darauf hinweist, daß das
Faktums des Pluralismus nicht als Manko aufzufassen ist, sondern als eine zwingende Kon-
266 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
lich ist, wie der konkrete Gehalt des objektiven Sittengesetzes überhaupt bestimmt
werden soll. Will man - was der Senat ja ausdrücklich abgelehnt hat - nicht auf
die Vorstellungen bestimmter (welcher?) gesellschaftlicher Gruppen abstellen,
läuft dieser Ansatz letztlich darauf hinaus, daß die persönlichen Wertvorstellungen
des zur Bestimmung der Wert- bzw. Moralvorstellungen berufenen Organe der Le-
gislative bzw. Judikative die für eine Gesellschaft "gültigen" Maßstäbe bestimmen.
Die Vorstellung eines zeitlos-gültigen Sittengesetzes ist nicht nur durch die nach-
folgende Reform der Sittlichkeitsdelikte in praktischer Hinsicht widerlegt worden;
auch der Bundesgerichtshof geht nunmehr davon aus, daß die Vorstellungen dar-
über, was mit dem Grundbestand der für die Gemeinschaft verbindlichen Wertvor-
stellungen nicht mehr vereinbar ist, einem Wandel unterliegt?21 Festzuhalten
bleibt: Da es ein allgemein und zeitlos gültiges Sittengesetz nicht gibt,322 kann die
Pönalisierung von Verhaltensweisen auf diesem Wege nicht legitimitert werden.
Ausgangspunkt der Überlegungen Devlins ist die Prämisse, die Koexistenz von
Individuen innerhalb einer Gesellschaft sei an ein Mindestmaß allgemein aner-
kannter Wertvorstellungen gebunden,323 was zur Konsequenz hat, daß zumindest
der Schutz der für eine bestimmte Gesellschaftsform zentralen Wertvorstellungen
nicht nur dem Schutz von Moralvorstellungen um ihrer selbst willen dient, sondern
vielmehr auf den Erhalt des gesellschaftlichen status quo abzielt und aus diesem
Grunde - und in diesem Rahmen - als legitim anzusehen sein soll.324
Abgesehen davon, daß dieser Ansatz ersichtlich über den Schutz bloßer Moral-
widrigkeiten um ihrer selbst willen hinausgeht, tatsächlich also wohl schon nicht
mehr als Versuch der Begründung eines "echten" Strafrechtsmoralismus zu inter-
pretieren ist,325 stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien man schlicht-mora-
lische Positionen von den für eine Gesellschaft zentralen Wertvorstellungen bzw.
Überzeugungen abschichten kann, deren Beeinträchtigung öffentliche Interessen
sequenz der Bürden der Vernunft (Rawls, Idee, S. 336 ff.; ders., Politischer Liberalismus,
S. 127 ff., 134 ff.; vgl. auch Köhler, StrafR AT, S. 16; Wolff, Abgrenzung, S. 185).
321 BGHSt 23, 40, 42 f.; 23, 240, 243; 24, 318, 319; vgl. auch EGMR, NJW 1984,541,
543 sowie Arthur Kaufmann, JuS 1978,361,362.
322 Vgl. Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 34.
323 DevIin, Enforcement, S. 10, 114; vgl. auch Feinberg, Vol. 4, S. 135 f.; Hart, Morality,
S. 48, 51; Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 783; ders., Norm, S. 72 f.; Patzig, Ethik, S. 21; Post-
ema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 421 ff.; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 63.
324 DevIin, Enforcement, S. 7 ff.; vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 346 f., 378;
Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 207; Jung, ZStW 100 (1988), 3,13; Lewisch, Verfas-
sung, S. 224.
m Vgl. Dworkin, Bürgerrechte, S. 393 f.; Kleinig, ARSP 65 (1979), 329, 333 sowie insbe-
sondere Devlin, Enforcement, S. 17, wo deutlich wird, daß es DevIin um die Auswirkungen
von Verhaltensweisen und nicht um deren Unmoral als solche geht.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 267
326 Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung betont zu Recht Jung, ZStW 100 (1988), 3,
39.
327 Vgl. Hoerster, ZStW 82 (1970), 538, 547 f.
328 Ablehnend: Hart, Morality, S. 63, 68; vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte, S. 219, sowie
oben S. 169 f.
329 Kritisch hierzu: Dworkin, Bürgerrechte, S. 219 f., 237 ff.; Feinberg, Vol. 4, S. 52; Hart,
Morality, S. 77 ff.; Pawlowski, ARSP-Beiheft 44 (1991),260,267; allgemein zur Problema-
tik der Mehrheitsregel: Rawls, Theorie, S. 392 ff.
330 Devlin, Enforcement, S. 15; vgl. auch S. IX ("average Englishman").
331 Auch diese Umschreibung wird von Devlin selbst benutzt: Devlin, Enforcement, S. 15
("the man in the street"); vgl. auch a. a. 0., S. 90: "the ordinary man".
332 Vgl. Ashworth, Principles, S. 43 f.; Charlesworth, Leben, S. 33 f.; Feinberg, Vol. 4,
S. 137 f.; Hoerster, ZStW 82 (1970), 538, 540 f.
333 DevIin, Enforcement, S. 15: "For my purpose I should like to call hirn the man in the
jury box, for the moral judgement of society must be something about wh ich any twelve men
or women drawn at random might after discussion be expected to be unanimous." Vgl. auch
a. a. 0., 90 ff.
268 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
337 Feinberg, Vol. 4. S. 52 ff.; Hart, Morality, S. 50 ff., 69 ff.; ders., Recht, S. 88 ff.; Hoer-
ster, 'Z1ltW 82 (1970), 538, 554 ff.; vgl. auch Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 432;
a.A. wohl Weinkauff, NJW 1960, 1689, 1696.
338 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 56 ff.
340 Vgl. Feinberg, Vol. 4, S. 65 f. und Postema, Ethics Vol. 97 (1986-87), 414, 438, mit
dem Hinweis darauf, daß auch der Liberalismus eine Konzeption von "public morality" dar-
stellt.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 269
Verbreitet wird die Störung des öffentlichen Friedens als das Kriterium angese-
hen, anhand dessen die Abgrenzung "reiner" Moralwidrigkeiten von strafrechtlich
relevantem (moral widrigen) Verhalten vorzunehmen ist. Bei Roxin heißt es etwa:
"Die Verweisung reiner Moralwidrigkeiten aus dem Strafrecht bedeutet nicht, daß
nicht auch "Empfindungen" und dergleichen ggf. strafrechtlich geschützt werden
dürften. Wer das weltanschauliche Bekenntnis eines anderen öffentlich beschimpft
(§ 166), wer Leichtenteile wegnimmt (§ 168) oder öffentlich sexuelle Handlungen
vornimmt (§ 183a), stört durch die empörte Erregung, die er dadurch bei dem Be-
troffenen oder der Allgemeinheit hervorruft, den öffentlichen Frieden, ohne den
auch ein freiheitliches soziales System nicht bestehen kann.,,343
Gegen die Annahme, daß es sich bei der empörten Erregung der Betroffenen
oder der Allgemeinheit um einen Gesichtspunkt handelt, der für sich gesehen PÖ-
nalisierungsentscheidungen zu legitimieren vermag, sind indes Einwände zu erhe-
ben: Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das bloße Abstellen auf das Faktum der
341 In der Literatur ist verschiedentlich erwogen worden, Gefühle bzw. seelische Zustände
als Schutzgut strafrechtlicher Normen anzuerkennen (vgl. Schrag, Gefühl zustände, S. 26;
Misch, Gefühle, S. 50; Rüping, GA 1977,299,304 f.). Als problematisch hat sich hierbei er-
wiesen, daß Gefühle weder standardisiert noch typisiert werden können, weshalb eine Be-
schränkung auf bestimmte Gefühle unumgehbar ist (vgl. Schrag, Gefühlzustände, S. 120 ff.,
124; Misch, Gefühle, S. 50 f.). Dies bedeutet dann aber, daß es nicht um Gefühle an sich,
sondern um das hinter den Gefühlen stehende "Etwas" geht.
342 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch bereits Schrag, Gefühlszustände, S. 118.
empörten Reaktion die Frage nach der Berechtigung der Empörung abschneiden
und damit die Pönalisierungsentscheidungen des Gesetzgebers auf den Nachvoll-
zug - gegebenenfalls auch vollkommen irrationaler344 - gesellschaftlicher Reak-
tionen reduzieren würde. 345 Dem insbesondere von Hassemer 346 und Jakobs 347
vorgetragenen Argument, ein gewisses Maß an Irrationalität sei als Grundfaktum
einer nicht vollständig rationalen Gesellschaft zu akzeptieren und auch bei Krimi-
nalisierungsentscheidungen in Rechnung zu stellen, kann allenfalls als Beschrei-
bung des faktischen Ist-Zustandes anerkannt werden. 348 Im übrigen ist aber daran
festzuhalten, daß auch in einer nur unvollkommen rational agierenden Gesellschaft
eine Kriminalisierungsentscheidung durch Argumente gestützt werden muß und
nicht durch den Verweis auf die faktisch gegebene Empörung einzelner Betroffener
oder der Allgemeinheit legitimiert werden kann. 349 Eine derartige Verkürzung der
Legitimationsanforderungen würde letztlich den Einwand des naturalistischen
Fehlschlusses begründen. 35o
Der Umstand, daß neben dem bloßen Faktum der Empörung auch die Berechti-
gung der Empörung bzw. die nonnative Berechtigung der desorientierenden Wir-
kung des die Empörung hervorrufenden Verhaltens entgegenzutreten, in die Pöna-
lisierungsentscheidungen miteinbezogen werden muß, macht deutlich, daß der Be-
griff des öffentlichen Friedens nicht einen Zustand faktischer Ungestörtheit um-
schreibt, sondern den Zustand des Rechtsfriedens, d. h. der öffentliche Friede ist
gestört, wenn Rechte bzw. Rechtspositionen nicht mehr gesichert bzw. in Frage ge-
stellt sind. 351 Der öffentliche Friede hat damit aber keinen eigenständigen argu-
mentativen Gehalt, sondern stellt nichts anderes dar als eine Leerfonnel für die Ge-
samtheit der in einer Gesellschaft (nonnativ) anerkannten Rechtspositionen. 352
344 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 264 Fußn. 438 mit dem Hinweis darauf, daß bei die-
sem Ansatz auch das Verbot von eindeutig gesellschaftlich wertvollen Verhaltensweisen
denkbar wäre.
345 Rawls, Theorie, S. 261 weist darauf hin, daß die Stärke von Gefühlen nichts mit Ge-
rechtigkeit zu tun hat, sondern allein für die politische Umsetzbarkeit einer bestimmten Re-
gelung von Bedeutung ist.
346 Hasserner, Theorie, S. 242 ff.
347 Jakobs, StrafR AT, 2/20.
348 Vgl. aber Kunz, Bagatellprinzip, S. 162 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß die - im
Grundsatz auch von ihm bejahte - Abhängigkeit des Strafgesetzgebers von dem in einer Ge-
sellschaft vorhandenen Strafschutzverlangen keine absolute, sondern eine relative ist.
349 Dworkin, Bürgerrechte, S. 412 ff.; vgl. auch a. a. 0., S. 405, wo Dworkin zu Recht
darauf hinweist, daß Empörung einer Grundlage bedarf, um als berechtigt anerkannt zu wer-
den, nicht aber als bloße Faktum selbst Grundlage für normative Schlußfolgerungen sein
kann. Zu Tabuverletzungen vgl. auch Feinberg, Vol. 4, S. 21.
350 Treffend Dworkin, Bürgerrechte, S. 390, mit dem Hinweis darauf, daß auch die Moral
des größten Pöbelhaufens nicht - aus sich selbst heraus - zur verbürgten Wahrheit werden
könne.
351 Vgl. Fischer, NStZ 1988,159,163; ders., GA 1989,445,451.
352 Fischer, Öffentlicher Friede, S. 599 f.; ders., NStZ 1988, 159, 163.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 271
Maßgebend für die Berechtigung der Pönalisierung kann nicht das bloße Faktum
der in der Empörung zum Ausdruck kommenden Störung des inneren Gleichge-
wichts einzelner Personen bzw. von Gruppen innerhalb der Gesellschaft sein; ent-
scheidend ist, ob die Empörung unter normativen Gesichtspunkten als berechtigt
anzusehen ist, was dann zu bejahen ist, wenn durch das die Empörung hervorrufen-
de Verhalten in der Gesellschaft anerkannte Rechtspositionen in einer nicht ge-
rechtfertigten Art und Weise beeinträchtigt werden. 353 Beispielhaft kann insoweit
auf eine Entscheidung des Bundesgerichts verwiesen werden, derzufolge Verhal-
tensweisen, die eine bestimmte religiöse Auffassung beschimpfen oder verspotten
erst und nur dann strafrechtsrelevant sind, wenn es sich um schwerwiegende Belei-
digungen bzw. Provokationen handelt, nämlich: um "auf Hohn und Schmähung
ausgerichtete, durch Form und / oder Inhalt das elementare Gebot der Toleranz
(Glaubens- und Kultusfreiheit) verletzende" Verhaltensweisen. 354
Hieraus folgt, daß nicht bereits die im Hinblick auf eine empörte Erregung Drit-
ter oder der Allgemeinheit gegebene Gefahrdung des sozialen Friedens die Annah-
me strafwürdigen Unrechts zu tragen vermag,355 sondern die mit der Verhaltens-
weise verfolgten Interessen mit den Interessen anderer Gesellschaftsmitglieder ab-
gewogen werden müssen, in ihren eigenen (abweichenden) Wertvorstellungen und
Überzeugungen bzw. in der Integrität ihres Gefühlszustandes nicht beeinträchtigt
zu werden. 356 Basis dieses Abwägungsprozesses sind notwendigerweise Vorab-
Annahmen zum maßgeblichen Grundkonsens der jeweiligen Gesellschaft, insbe-
sondere im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des Bereichs der jeder staat-
lichen und damit auch strafrechtlichen Einwirkung entzogenen (Privat-)Sphäre des
Bürgers. 357
353 Vgl. Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 386; Zipf, NJW 1969, 1944: Friedens-
schutz als Existenzvoraussetzung für eine pluralistische Gesellschaft, d. h.: das Strafrecht
steckt den äußeren Rahmen für weltanschauliche Auseinandersetzungen ab.
354 BG, Urteil des Kassationshofes vom 13. März 1986, in: Blätter für Zürcherische Recht-
sprechung, 85 (1986), 97, 113.
355 Vgl. aber Rudolphi, in: SKStGB, Vor § I Rdnr. 11; ders., Festschrift für Honig, S. 165,
der - unter Hinweis auf Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 346 ff. - die Pönalisierung von ma-
nifesten Verstößen gegen die in einer Gesellschaft tief institutionalisierten Kultumormen im
Hinblick auf die Gefahr sonst drohender Selbsthilfemaßnahmen der Bevölkerung für legitim
erachtet, gleichzeitig aber flir einen zurückhaltenden Umgang mit den Friedensschutzdelikten
eintritt, da diesen die Gefahr immanent sei, daß der Gesetzgeber die Bürger bevormunde.
356 Vgl. Ashworth, Principles, S. 45 ff.; Frisch, in: Festschrift für Stree und WesseIs,
S. 73 f.; Marx, Definition, S. 87; MerkeI, Strafrecht, S. 307 f., 420 f.; Schrag, Gefühlzustände,
S. 124 f.; vgl auch Wasek, ZStW 99 (1987), 288, 302, der als Maßstab auf ein ,,moralisches
Minimum" abstellen will, worunter er die elementaren moralischen Werte versteht, die im
allgemeinen in der Gesellschaft nicht in Zweifel gezogen werden und deren Beachtung ohne
besondere Entsagungen sowie ohne persönliche Gefahrdungen möglich ist. Kritisch gegen-
über einem strafrechtlichen Schutz bestimmter Wertvorstellungen demgegenüber Seelmann,
Festschrift für E. A. Wolff, S. 492 f., der nur den Schutz der Orientierungskompetenz als sol-
cher für legitim erachtet.
357 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 207 f.; Jakobs, StrafR AT, 2121; Rudolphi,
Festschrift für Honig, S. 160 f.; vgl. auch Stratenwerth, Festschrift für Lenckner, S. 389 f.
272 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
18 Wohlers
274 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
seits ist es aber auch nicht so, daß Verhaltensweisen, mit denen ein bestimmter Le-
bensstil propagiert und / oder umgesetzt wird, einer Kriminalisierung Stets und unter
allen Umständen entzogen sind. Zum einen kann die Propagierung bzw. Umsetzung
radikal unduldsamer Ideologien die Vertreter anderer Lebenskonzeptionen in ihren
rechtlich anerkannten Interessen beeinträchtigen, wenn und soweit sie darauf abzie-
len, andere Überzeugungen aktiv kämpferisch auszuschließen. 37o Unabhängig hier-
von kann auch die Art und Weise, in der beliebige Wertvorstellungen propagiert
werden, bereits für sich gesehen mit den Grundsätzen einer pluralistischen Gesell-
schaft nicht zu vereinbaren sein. 371 Schließlich können die Folgen der Umsetzung
eines Lebensstils andere Personen in ihren Rechten beeinträchtigen: Zum einen
führt bereits die Endlichkeit der natürlichen Lebenswelt dazu, daß das Ausleben ei-
ner Lebensplanung Ressourcen verbraucht und Platz in Anspruch nimmt, wodurch
andere Personen in der Möglichkeit der Entfaltung beeinträchtigt werden (kön-
nen).372 Zum anderen kann die Umsetzung eines Lebensstils die Interessen anderer
Personen dadurch beeinträchtigen, daß sich der einzelne der Mitwirkung an einer
Gemeinschaftsaufgabe (beispielhaft: Steuerzahlung) entzieht.
Festzuhalten bleibt: Eine Verhaltensweise kann Anlaß zur Pönalisierung geben,
wenn die sozialen Auswirkungen des Verhaltens andere Personen in rechtlich ge-
schützten Interessen beeinträchtigen. 373 Ob tatsächlich Anlaß zur Pönalisierung
besteht, hängt davon ab, daß die sozialen Auswirkungen der zur Pönalisierung an-
stehenden Verhaltensweise die Einschränkung der Freiheit des Handelnden auch
unter Berücksichtigung seiner Interessen als angemessen erscheinen lassen. 374 Un-
370 Vgl. Charlesworth. Leben, S. 35; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 339 ff.;
Rawls. Theorie. S. 246 ff.; ders .• Idee. S. 312 ff .• 364 ff.• 381 f.; ders .• Politischer Liberalis-
mus. S. 268 f.. 309.
Derartige Verhaltensweisen verlassen den für eine pluralistische Gesellschaft verbindli-
chen Rahmen des Rechten. da Pluralismus nicht mit Relativismus gleichgesetzt werden darf
(vgl. Charlesworth. Leben. S. 10; Feinberg. Vol. 4 .• S. 305 ff .• 333 ff.; Rawls. Idee. S. 312 ff .•
364 ff.). sondern vielmehr - innerhalb bzw. für eine pluralistische Gesellschaft - der tolerante
Umgang mit abweichenden Auffassungen seinerseits einen Grundwert darstellt (Charles-
worth. Leben. S. 24 f .• 33 ff.; Feinberg. Vol. 4. S. 88. 108 ff.; Höffe. Staat. S. 112 ff.; Rawls.
Idee. S. 306 ff.. 388 ff.).
Kritisch zur Legitimität der politischen Kommunikationsdelikte im Hinblick auf die grund-
legende Bedeutung der Kommunikation für eine freie Gesellschaft beispielsweise Jakobs.
ZStW 97 (1985). 751. 781 ff.; grundSätzlich ablehnend auch Köhler. NJW 1985. 2389.
2390 f .• der die Auffassung vertritt. die Inkriminierung betimmter Gesinnungen (auch faschi-
stischer) könne kein legitimer Gegenstand einer Pönalisierung sein ...insofern dadurch nicht
tätig-entschlossen die rechtlich-äußere Freiheit anderer beeinträchtigt wird".
371 Erfaßt werden hier zum einen die auf Zwang oder Manipulation beruhenden. den Sta-
tus des Individuums als autonome Person in Frage stellenden Verhaltensweisen. zum anderen
aber auch die Beeinflussung von Jugendlichen oder anderen nicht voll verantwortlichen Per-
sonen. vgl. Ashworth. Principles. S. 44 f.
372 Vgl. hierzu Höffe. Gerechtigkeit. S. 325. 331 f.. 382; Kersting. Freiheit. S. 50 f.
373 Papageorgiou. Schaden. S. 269.
374 Vgl. Eser. Duquesne University Law Review 4 (1966).345.396 sowie 414; Feinberg.
Vol. 1. S. 202 ff.; ders .. Vol. 2. S. 26 ff.; Trechsel/Noll. StrafR AT I. S. 26.
IV. Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 275
375 Folgt man der Rechtsprechung des BVerfG. so beschränkt sich der jedem staatlichen
Zugriff absolut entzogene "Kernbereich privater Lebensgestaltung" de facto auf Verhaltens-
weisen ohne jeden Sozialbezug (vgl. Paulduro, Verfassungsgemäßheit. S. 96/97,107,126).
376 Vgl. Papageorgiou, Schaden, S. 229 ff.; Rawls. Politischer Liberalismus, S. 135 f.,
224 f., 289; Riklin, StrafR AT I, § 4 Rdnr. 15. sowie oben S. 273 f.
276 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
377 Vgl. oben S. 273 f. sowie Appel, Verfassung, S. 110 f., 517.
378 Vgl.obenS.192ff.
379 Neumann, ARSP 1986, 118, 124; vgl. auch Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 172:
Die Pönalisierung selbstgefahrdenden Verhaltens müsse auf Gemeinschaftsbelange gestützt
werden, die mit dem durch die Selbstgefährdung betroffenen personalen Interesse nicht "teil-
identisch" seien; sowie von Hirsch, Harm Principle, S. 262: Die Interessen müssen für sich
gesehen die Kriminalisierung legitimieren können. Vor diesem Hintergrund kann dann z. B.
das Interesse daran, daß ein UnterhaItsverpflichteter seine Arbeitskraft möglichst optimal ein-
setzt, nicht herangezogen werden. Die Rechtsprechung zur Strafbarkeit wegen Unterhalts-
pflichtverletzungen durch das Herbeiführen der Arbeitsunfähigkeit bzw. des Arbeitsplatzver-
lustes (vgl. hierzu: Lenckner, in: Schönkel Schröder, § 170b Rdnr. 27; Trechsel, SchwStGB,
Art. 217 Rdnr. 13) wird diesen Grundsätzen nicht gerecht.
380 Insoweit a.A. wohl MilI, Freiheit, S. 112.
IV, Grenzen der Strafgewalt im pluralistischen Staat 277
381 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 188, 192; ders., Vol. 2, S. 33 f.; Frisch, Tatbestandsmäßiges
Verhalten, S. 128; Papageorgiou, ARSP-Beiheft 51 (1993), 198,210; Stächelin, Strafgesetz-
gebung, S. 62.
382 Vgl. Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,396 f. und 414 f.
währt wird,385 kommt es neben der Bestimmung des als strafschutzwürdig aner-
kannten Interesses entscheidend darauf an, in welchem Umfang und gegenüber
welchen Angriffsarten Schutz gewährt werden soll.386 Mit anderen Worten: Die
Legitimität eines Straftatbestandes kann nicht bereits dann bejaht werden, wenn
feststeht, daß mit einer Strafnorm ein für sich gesehen wertvolles ,,Etwas" ge-
schützt werden soll; maßgebend ist vielmehr, ob die vom jeweiligen Straftatbe-
stand konkret erfaßten Verhaltensweisen im Hinblick auf das dem Straftatbestand
zugrundeliegende Schutzgut legitimerweise pönalisiert werden dürfen. Beispiel-
haft: Die Legitimität der §§ 253, 263 dStGB / Art. 146, 156 schwStGB ist nicht an
der Frage zu messen, ob das Vermögen ein schützenswertes Rechtsgut ist. Ent-
scheidend ist, ob es legitim erscheint, auf täuschungsbedingte bzw. durch Nötigung
mit Gewalt oder Drohung veranlaßte Selbstschädigungen mit dem Mittel straf-
rechtlicher Sanktionen zu reagieren.
Daß die Legitimität eines Straftatbestandes neben der Bewertung des als grund-
sätzlich strafschutzwürdig anerkannten Interesses - dem "Ob" der Pönalisierungs-
entscheidung - entscheidend davon abhängt, in welchem Umfang und gegenüber
welchen Angriffsarten - also "wie" - diesen Interessen strafrechtlicher Schutz ge-
währt werden soll, wird zwar im Grundsatz anerkannt. 387 Die Bedeutung des
"Wie" des strafrechtlichen Schutzes ist bisher allerdings vornehmlich als Einwand
gegen die Rechtsgutstheorie geltend gemacht worden. 388 Von den Vertretern der
Rechtsgutstheorie selbst ist das "Wie" des strafrechtlichen Schutzes dagegen als
eine neben der Bestimmung des Rechtsguts offenbar eher nachrangig angesehene
Fragestellung weitgehend vernachlässigt worden. Allein Hassemer hat die eigen-
ständige Funktion dieser - auch von il)m allerdings bezeichnenderweise mit dem
eher abwertenden Begriff der "Schutztechnik" bezeichneten - Problematik einige
Aufmerksamkeit gewidmet. Seine diesbezüglichen Ausftihrungen 389 bleiben je-
doch in relativ allgemein gehaltenen Ansätzen stecken und beziehen sich dort, wo
sie konkreter werden, auf Problemstellungen, die dem Allgemeinen Teil zuzurech-
nen sind, wie z. B. die Versuchsstrafbarkeit und die Strafbarkeit fahrlässigen Ver-
haltens.
Daß es sich bei der Tatbestandsstruktur selbst um einen im Rahmen des Abwä-
gungsprozesses mit eigenständigem Gewicht ausgestatteten Gesichtspunkt handeln
385 Jakobs, StrafR AT, 2/4, 23; Jenny, ZBJV 124 (1988), 393, 396; A.H. Meyer, Gefähr-
lichkeitsdelikte, S. 180.
386 Eser, Duquesne University Law Review 4 (1966),345,399; Jakobs, StrafR AT, 2/23 f.;
Jenny, ZBJV 124 (1988), 393, 397 f.; Maurach 1Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 7; Tie-
demann, Tatbestandsfunktionen, S. 115/116.
387 Jakobs, StrafR AT, 2/23 f.; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. I, § 19 Rdnr. 7 sowie
umfassend: Feinberg, Vol. I, S. 187 ff.
388 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 2/4, 23; A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 180; Welzel,
Strafrecht, S. 5.
389 Hassemer, Theorie, S. 204 ff., 215 f.; Schulz, Rechtsgut, S. 279; Stächelin, Strafgesetz-
gebung, S. 56.
V. Zwischenergebnis 279
könnte, wird demgegenüber nicht vertieft. 39O Tatsächlich muß es aber einen grund-
legenden Unterschied machen, ob ein Straftatbestand Verhaltensweisen erfaßt, die
unmittelbar zu einer Beeinträchtigung des jeweils geschützten Interesses führen,
oder aber Verhaltensweisen pönalisiert werden, die für sich gesehen noch nicht
bzw. nicht notwendigerweise zu einer realen Beeinträchtigung des in Frage stehen-
den Interesses führen. 391 Eine Strafrechtsdogmatik, die sich mit der - gerade im
Hinblick auf die Normen des "modemen" Strafrechts - unzureichenden Differen-
zierung zwischen Erfolgsdelikten einerseits und konkreten sowie abstrakten Ge-
fährdungsdelikten andererseits zufriedengibt, fehlt es bereits an einer der Proble-
matik angemessenen Systematik.
v. Zwischenergebnis
Der Versuch, dem Anwendungsbereich strafrechtlicher Normen mit dem Instru-
mentarium der Rechtsgutstheorie allein Grenzen setzen zu wollen, hat sich als un-
zureichend erwiesen. Dem Rechtsgutsbegriff selbst fehlt ein eigenständiger mate-
rieller Gehalt. Ein kritisches Potential kommt der Rechtsgutstheorie deshalb nur
dann und in dem Maße zu, in dem der Rechtsgutsbegriff normativ angereichert
wird. Das systemkritische Potential und auch der liberale oder autoritäre Gehalt
der Rechtsgutstheorie werden damit aber nicht durch den Rechtsgutsbegriff vorge-
geben, sondern hängen von den Maßstäben ab, die von außen an die Rechtsguts-
lehre herangetragen und in diese integriert werden.
Das eigenständige systemkritische Potential der Rechtsgutstheorie beschränkt
sich im übrigen darauf, aus den vom Gesetzgeber mit dem Erlaß einer Strafnorm
verfolgten Zielsetzungen diejenigen auszufiltern, die sich vor dem Hintergrund der
normativen Verständigung einer Gesellschaft als illegitim begründen lassen. Er-
weisen sich die Zielsetzungen, die der Gesetzgeber verfolgt als von vornherein il-
legitim, ist die entsprechende Strafnorm delegitimiert. Wie oben dargelegt, wird
man dies bei den Normen des Betäubungsmittelstrafrechts sowie bei den Normen
des ESchG und FMedG zumindest in Erwägung zu ziehen haben. 392
Erweisen sich die Zielsetzungen des Gesetzgebers dagegen als grundsätzlich le-
gitim, hängt die Legitimität der in Frage stehenden Strafnormen entscheidend von
der sich aus dem Verhältnis der jeweils erfaßten Verhaltensweisen zu dem als
Rechtsgut geschützten "Etwas" ergebenden Deliktsstruktur ab. Beispielhaft: Sieht
390 Vgl. aber Schulz, Rechtsgut, S. 279, der eine Bestimmung der "angemessenen Schutz-
modi" anmahnt, sowie Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 55; ders., Interdependenzen, S. 246 f.,
252 ff.: Abzustellen sei auf die ,.Angriffswege".
391 So auch Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 90; vgl. auch von Hirsch, Harm Principle,
S. 262 ff., der eine Ergänzung der "Standard-Harm-Analysis" durch ,,fair-imputative-princip-
les" für erforderlich erachtet.
392 Vgl. oben S. 190 ff., 207 ff.
280 6. Kap.: Die Rechtsgutstheorie als Maßstab der Legitimität
393 In der Herangehensweise ist der Ansatz, auf Deliktstypen als Zwischenstufen zwischen
den Einzeltatbeständen und dem aHgemeinen Verbrechensbegriff abzusteHen, dem Bemühen
Erik Wolfs verpflichtet, aHgemeine Lehren des Besonderen Teils zu entwickeln, vgl. Wolf,
Typen der Tatbestandsmäßigkeit, 1931. Kritisch zum Wert der Tatbestandslehre als "Al1ge-
meiner Teil des Besonderen Teils" Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20 Rdnr. 25.
7. Kapitel
1 Vgl. Graven, L'infraction, S. 82 f.; Jescheck, in: LK, Vor § 13 Rdnr. 50; Lenckner, in:
Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 129; Maurach/Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20
Rdnr. 29; Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 10 Rdnr. 122; Schroeder, ZStW Beiheft 1982,.1,2 f.;
Schwander, ZStR 66 (1951), 440, 441/442; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 9 Rdnr. 15;
Trechsel/Noll, StrafR AT I, S. 68 f.
2 Brehm, JuS 1976, 22; eramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnrn. 2 f.;
Gallas, Festschrift für Heinitz, S. 183; Jakobs, StrafR AT, 6/78, 86; Jescheck/Weigend,
StrafR AT, S. 264; Köhler, StrafR AT, S. 31; Ostendorf, JuS 1982,426; Saal, Straftat, S. 63;
Schneider, Jura 1988,460,461; Schröder, ZStW 81 (1969),7; Schünemann, JA 1975,787,
793; Schwander, ZStR 66 (1951), 440, 442 und 450; Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 212;
ders., SchwStrafR AT I, § 9 Rdnr. 15; Trechsel/Noll, StrafR AT I, S. 69; Weber, ZStW
282 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
Beiheft 1987, 1, 21; Welzel, Strafrecht, § 12 11; kritisch hierzu: Zieschang, Gefährdungsde-
likte, S. 15 ff.
3 Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnrn. 44 f.; Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 8
Rdnrn. 42 f.; Brehm, Dogmatik, S. 9; Fischer, GA 1989,445; Jescheck/Weigend, StrafR AT,
S. 264; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 425, 431; Maurach / Zipf, StrafR AT, Teilbd. 1, § 20 Rdnr.
31; Ostendorf, JuS 1982,426,428 f.; Riklin, StrafR AT I, § 9 Rdnr. 15; Roxin, StrafR AT,
Teilbd. 1, § 2 Rdnr. 25, § 10 Rdnr. 123, § 11 Rdnr. 121, 127; Saal, Straftat, S. 63/64; Schmid-
häuser, StrafR AT, 8/41, 103; Schneider, Jura 1988, 460, 461; Schroeder, ZStW Beiheft
1982, 1,3; Schünemann, JA 1975,787,793; Tröndle, StGB, Vor § I3 Rdnr. 13a. Abstrakte
Gefahrdungsdelikte können sowohl Tätigkeits- als auch Erfolgsdelikte (im formellen Sinne)
sein, vgl. Graul, Gefahrdungsdelike, S. 108 ff.; a.A. Arzt, ZStR 107 (1990), 168, 170.
4 Vgl. Ronzani, Erfolg, S. 15 ff. Abgesehen davon, daß es auch im StGB eine nicht unwe-
sentliche Anzahl von Gefahrdungsdelikten gibt (vgl. Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 50 f.;
Kindhäuser, Gefahrdung, S. 225), entspricht dies dem heutigen Bild der Strafrechtsordnung
jedenfalls dann nicht mehr, wenn man das Nebenstrafrecht in die Betrachtung einbezieht, wo
die Gefahrdungsdelikte eindeutig dominieren; vgl. Weber, ZStW Beiheft 1987, I sowie Berz,
Tatbestandsverwirklichung, S. 53 f.; Schünemann, JA 1975,787,792.
S Vgl. z. B. Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2, Rdnr. 5; Kindhäuser, Gefährdung, S. 163; Stä-
chelin, Strafgesetzgebung, S. 91.
6 Vgl. insbesondere Hassemer, Theorie, S. 204 f.
7 Vgl. z. B. Hassemer, Theorie, S. 207 f.; A.H. Meyer, Gefahrlichkeitsdelikte, S. 206; kri-
tisch hierzu Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 90.
s BT-Drucks. 8/3633, S. 22.
1. Dogmatik der Gefahrdungsdelikte 283
9 Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 265b Rdnr. 4; vgl. auch Ahn, Dogmatik, S. 121.
10 Dölling, JZ 1985, 461, 463.
11 Lagodny, Strafrecht, S. 520, vgl. auch a. a. 0., S. 442, 483.
12 Vgl. auch Ronzani, Erfolg, S. 23, der ein auf den fehlenden äußerlichen Erfolg zurück-
zuführendes Defizit an corpus-delicti-Funktion konstatiert. Arzt, ZStR 107 (1990), 168, 171 f.
meint, dieser Mangel könne durch eine größere Bestimmtheit der Tathandlungsbeschreibung
ausgeglichen werden. Die Frage ist aber doch, woraus sich die Legitimität der Pönalisierung
der - unterstellt: genau beschriebenen - Verhaltensverbote herleiten soll.
284 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
schließlich nicht einmal zu einer konkreten Gefährdung eines Menschen oder einer
Sache gekommen zu sein; hier reicht es bereits aus, daß der Täter das Fahrzeug in
fahruntüchtigem Zustand geführt hat. 13
Obwohl der Deliktstypus der abstrakten Gefährdungsdelikte gemeinhin ex nega-
tivo definiert wird, d. h.: abstrakte Gefährdungsdelikte (stets) dann vorliegen sol-
len, wenn der Gesetzgeber weder eine Verletzung noch eine konkrete Gefährdung
des durch die Norm geschützten Rechtsguts als tatbestandlichen Erfolg vorgesehen
hat,14 versucht man dennoch, auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten - wenig-
stens verbal - den Rechtsgutsbezug aufrechtzuerhalten. Beispielhaft hierfür ist die
von Cramer entwickelte Lehre des Stufenverhältnisses von Verletzungs- und Ge-
fährdungsdelikten. Cramer geht davon aus, daß "nicht das Motiv des Gesetzgebers,
sondern die von einem Verhalten ausgehende tatsächliche oder potentielle Beein-
trächtigung eines Rechtsguts ... für das Verbrechen kennzeichnend (ist). Man wird
deshalb die abstrakten Gefährdungsdelikte als eine Vorstufe der konkreten zu be-
zeichnen haben, als eine Vorstufe nämlich, die - entsprechend dem Verhältnis zwi-
schen konkreter Gefährdung und Verletzung - die Wahrscheinlichkeit einer
Rechtsgutsgefährdung in sich trägt. Damit sind die möglichen Beziehungen zwi-
schen den hier in Betracht kommenden Deliktsarten einerseits und dem angegriffe-
nen Rechtsgut andererseits hergestellt: Verletzung bedeutet den Eintritt eines Scha-
dens, konkrete Gefährdung die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung und abstrakte
Gefährdung die Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefährdung.,,15
13 Kindhäuser, Gefahrdung, S. 226 weist zu Recht darauf hin, daß § 316 dStGB aufgrund
seiner fonnellen Subsidiarität sogar ausschließlich dann zur Anwendung kommt, wenn es zu
einer Gefährdung/Verletzung gerade nicht gekommen ist.
14 Vgl. z. B. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 57; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 140 f.;
Kindhäuser, Gefahrdung, S. 225.
15 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 68/69; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 119; in
der Sache ähnlich: Ahn, Dogmatik, S. 103; kritisch hierzu: Zieschang, Gefahrdungsdelikte,
S. 23 ff., 68 ff.
16 Vgl. hierzu: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2 Rdnrn. 64 ff.; Crarner, in: Schönke/Schrö-
der, Vorbem. §§ 306 ff. Rdnr. 5; Gallas, Festschrift für Heinitz, S. 177 ff.; Hoyer, Eignungs-
delikte, S. 73 ff., 92 ff.; Horn, Gefahrdungsdelikte, S. 31 ff.; ders., in: SKStGB, Vor § 306
Rdnr. 5 ff.; Kindhäuser, Gefährdung, S. 192 ff., 201 ff.; Osten dorf, JuS 1982,426,429 ff.;
Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 122 ff.; Schroeder, ZStW Beiheft 1982, I, 11 ff.;
I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte 285
20 Insoweit ist es richtig, daß die abstrakten Gefährdungsdelikte das dem Wesen überindi-
vidueller Rechtsgüter entsprechende Mittel der Gesetzestechnik darstellen, vgl. Tiedemann,
Wirtschaftsstrafrecht Bd. I, S. 85 f.; ütto, ZStW 96 (1984), 339, 362; kritisch hierzu Herzog,
Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 129 f., der allerdings zu übersehen scheint, daß mit dieser
Erkenntnis nicht zwingend auch der Schluß verbunden ist, daß es dann legitim sein muß, ab-
strakte Gefährdungstatbestände zu schaffen.
286 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
kenheitsfahrt auf einem einsam gelegenen und menschenleeren Feldweg oder die
,.kontrollierte" Inbrandsetzung eines Ferienbungalows außerhalb der Saison ver-
wiesen. Die Legitimation stratbewehrter abstrakter Gefährdungsverbote muß auch
und gerade die Berechtigung der Pönalisierung dieser Fallgestaltungen befriedi-
gend erklären (können).26
Das aus der Etablierung abstrakter Gefährdungsdelikte einerseits und dem Fest-
halten am Angriffsparadigma der Rechtsgutstheorie als Legitimationsgrundlage
strafrechtlicher Normen andererseits resultierende Dilemma hatte einige Autoren
zu der Forderung veraniaßt, die Anwendung abstrakter Gefährdungsdelikte jeden-
falls fUr die Fallgestaltungen auszuschließen, bei denen Rechtsgutsbeeinträchtigun-
gen sicher ausgeschlossen sind. Den insoweit von Rabl, Schröder und Backmann27
entwickelten Ansätzen zur Reduktion des Anwendungsbereichs abstrakter Gefähr-
dungsdelikte liegt die Prämisse zugrunde, daß eigentlich nur die Verletzung bzw.
konkrete Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts strafwürdig ist und die Pönalisierung
abstrakter Gefährdungen deswegen auf einer Fiktion bzw. Präsumtion der Gefähr-
dung autbauen muß. 28 Während Rabl dem Angeklagten die Möglichkeit eröffnen
will, den Gegenbeweis der Ungefährlichkeit zu fUhren,29 soll nach den von Back-
mann und Schröder entwickelten Konzeptionen das Gericht von Amts wegen die
gesicherte Nichtexistenz einer Gefahr zu prüfen haben. 30
Gegenüber diesen Ansätzen ist zunächst der Einwand zu erheben, daß die Ge-
fahrpräsumtion unvermeidbarerweise zu Friktionen mit dem Schuldgrundsatz des
materiellen Rechts fUhren muß und darüber hinaus - jedenfalls dann, wenn die Be-
weislast für das Vorliegen einer Situation hinreichender Ungefährlichkeit dem An-
geklagten obliegt - mit elementaren Grundsätzen des Strafverfahrensrechts, na-
mentlich der Amtsaufklärungsmaxime und dem Grundsatz "in dubio pro reo" in
Widerspruch gerät. 31 Des weiteren ist zu konstatieren, daß eine konsequente Re-
26 Die Rechtsprechung des BVerfG ist insoweit eher unergiebig. Den einschlägigen Ent-
scheidungen kann lediglich entnommen werden, daß der Rückgriff des Gesetzgebers auf ab-
strakte Gefährdungsdelikte nach Auffassung des BVerfG "von Verfassungs wegen keinen Be-
denken begegnet" bzw. nicht als "schlechthin verfassungswidrig" angesehen werden muß;
vgl. BVerfGE 28, 175, 188; BVerfG, NJW 1977, 2207 sowie hierzu: Lagodny, Straftat,
S. 438 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 96; Vogel, StV 1996, 110, 113.
27 Backmann, JuS 1977,444,447 f.; Rabl, Gefahrdungsvorsatz, S. 19 ff.; Schröder, 'ZStW
81 (1969),7, 16f.
28 So ausdrücklich Schröder, ZStW 81 (\969),7,16; vgl. auch Graul, Gefährdungsdelikte,
S. 151 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1963,425,432.
29 Rabl, Gefährdungsvorsatz, S. 21
30 Vgl. Backmann, JuS 1977,444,448; Schröder, ZStW 81 (1969),7,16.
31 Vgl. Brehm, Dogmatik, S. 38 ff.; Graul, Gefährdungsdelikte, S. 232 ff.; Hoyer, Eig-
nungsdelikte, S. 42; Martin, Strafbarkeit, S. 62 ff.; Volz, Unrecht, S. 32 ff.
288 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
weisen leite sich aus dem Umstand ab, daß auch (nur) potentiell gefährliche Ver-
haltensweisen ihrer sozialen Bedeutung nach auf die Erschütterung der Daseinsge-
wißheit gerichtet seien. 37
Gegenüber diesem Ansatz ist von verschiedener Seite der Einwand erhoben
worden, Cramer begründe die Unwertigkeit der bloß gefährlichen Handlung nicht
aus sich heraus, sondern leite diese in nicht tragfähiger Weise aus einer Beziehung
der bloß gefährlichen Handlung zur konkreten Gefährdung ab. 38 Seine Konzeption
stelle den untauglichen Versuch dar, beim abstrakten Gefährdungsdelikt einen Er-
folg zu begründen. 39 Die Berechtigung dieser - wohl im wesentlichen durch die
von Cramer entwickelte und bereits oben zitierte Definition der Deliktstypen40 -
von ihm selbst provozierten Kritik soll hier nicht weiter verfolgt werden. 41 Ein
durchgreifender Mangel seiner Konzeption liegt jedenfalls darin, daß Cramer seine
These, generell gefährliche Verhaltensweisen seien ,,ihrer sozialen Bedeutung nach
auf die Erschütterung der Daseinsgewißheit gerichtet", weder in ihren Vorausset-
zungen noch in ihren Konsequenzen näher beleuchtet. 42 Vor diesem Hintergrund
bleibt dunkel, ob sich die Strafwürdigkeit aus einer potentiellen oder aktuellen Er-
schütterung der Daseinsgewißheit in objektiver Hinsicht ergeben soll, oder ob der
subjektive Wille, eine Handlung in Kenntnis ihres Potentials zur Erschütterung der
Daseinsgewißheit vorzunehmen, ausreichen soll, die Strafwürdigkeit des Verhal-
tens zu begründen.
Andere Autoren haben den Versuch unternommen, den Unwertgehalt abstrakter
Gefährdungsdelikte ausdrücklich vom Erfolgsunrecht abzukoppeln und allein über
das Verhaltensunrecht zu begründen. So ist beispielsweise Volz der Auffassung,
der Unrechts- und Schuldgehalt des abstrakten Gefährdungsdelikts werde durch
das Eingehen des mit einer generell gefährlichen Handlung verbundenen Risikos
der möglichen Verletzung eines Rechtsguts bestimmt; der Unwert der Verhaltens-
weise ergebe sich aus der mit der Risikoeingehung verbundenen Pflichtverlet-
zung. 43 Brehm vertritt die Auffassung, strafwürdig sei bereits die in der Mißach-
tung einer Verhaltenspflicht liegende Pflichtwidrigkeit als solche. 44 Festzustellen
ist allerdings, daß es weder Volz noch Brehm gelungen ist, aufzuzeigen, daß und
warum die bloße Pflichtwidrigkeit bereits für sich gesehen eine Pönalisierung zu
19 Wohlers
290 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
4S Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 252 f. und 259 f., der zu Recht darauf hinweist, daß
die Verletzung von Sorgfaltsnormen für sich gesehen nicht ohne weiteres eine Pönalisierung
zu legitimieren vermag.
46 Brehm, Dogmatik, S. 137.
47 Brehm begründet die einschränkende Auslegung des § 306 dStGB a.F. mit der Notwen-
digkeit eines Rechtsgutsbezugs (Dogmatik, S. 126). Volz will in analoger Anwendung der
§§ 90a Abs. 6, 158, 186,310 (a.F.) dStGB den Täter wenigstens straffrei stellen, wenn er dem
Entstehen der generellen Gefahr bewußt entgegengewirkt hat (Unrecht, S. 162 ff.; kritisch
hierzu: Saal, Straftat, S. 81 f. m. w. N.). Für eigentlich angemessen hält er einen Tatbestands-
ausschluß (Volz, Unrecht, S. 167 f., 170).
48 Vgl. Wolter, Zurechnung, S. 287.
so Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 234 f. mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß die
spezielle Verletzungsrelevanz bei den abstrakten Gefährdungsdelikten gerade irrelevant ist
und deswegen ein Gegenbeweis der Ungefährlichkeit nicht in Betracht kommen könne.
SI Brehm, Dogmatik, S. 138.
I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte 291
55 Vgl. neben Brehm (s.o. Fußn. 51 f.) noch Graul, Gefährdungsdelikte, S. 151; Arthur
Kaufmann, JZ 1963,425,433; Schröder, ZStW 81 (1969),7, 16 f.
56 So aber insbesondere Kratzsch, Verhaltenssteuerung, passim; vgl. auch Martin, Strafbar-
keit, S. 55; Saal, Straftat, S. 75 f.: Die Ausweitung des Bereichs strafrechtlich relevanten Ver-
haltens wird als eine Wohltat für den Normadressaten interpretiert, mit der dem einzelnen die
Last einer von ihm selbst gar nicht zu erbringenden Leistung abgenommen werde.
57 V gl. beispielsweise Martin, Straftat, S. 55; kritisch hierzu: Kindhäuser, Gefährdung,
S. 239 f.
58 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227.
59 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227.
19"
292 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
men ist, dies möglicherweise sogar von vornherein auszuschließen war. Anders als
Verletzungsdelikte sind Gefährdungsdelikte deshalb von vornherein nicht unter
dem Gesichtspunkt der Venneidung einer Rechtsgutsverletzung zu legitimieren,
sondern bedürfen einer dem spezifischen Unwertgehalt der jeweils erfaßten Ver-
haltensweise angemessenen eigenständigen Legitimation. 60
60 Kindhäuser, Gefährdung, S. 227; ders., Rechtsgüterschutz, S. 272 f.; vgl. hierzu auch
bereits oben S. 215 ff.
61 Kindhäuser, Gefährdung, S. 272 ff.
62 Ebd., S. 132 ff.
63 Ebd., S. 153.
64 Ebd., S. 153/154.
6S Ebd., S. 154 ff.; vgl. zu dieser Argumentation auch: Höffe, Staat, S. 70 ff.; Raw1s, Theo-
rie, S. 300 ff.
66 Kindhäuser, Gefährdung, S. 159.
I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte 293
67 Ebd., S. 279.
68 Ebd., S. 280.
69 Ebd., S. 280 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 276.
70 Kindhäuser, Gefährdung, S. 284 ff.; kritisch zum "Recht auf Freisein von Furcht" Rob-
bers, Sicherheit, S. 223 ff.
71 Kindhäuser, Gefährdung, S. 287.
72 Ebd., S. 282.
Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit ein rationales Subjekt berechtig-
terweise sorgelos sein kann? Anhand welcher Kriterien ist zu entscheiden, ob diese
Bedingungen autonom (durch das Subjekt selbst) oder heteronom (durch die
Rechtsordnung) zu gewährleisten sind?
Die Problematik der Abgrenzung autonom und heteronom zu gewährleistender
Sicherheit erledigt Kindhäuser mit dem knappen Hinweis darauf, daß sich "die An-
schauungen über die sozial nützliche Be- und Entlastung des einzelnen mit Risiken
ständig (wandeln) und zudem bereichsabhängig sind; insoweit ist ein gewisses
Maß an Positivismus durchaus angebracht".75 Darüber hinaus soll aber auch bei
der Bestimmung der Bedingungen berechtigter Sorgelosigkeit gelten, daß "die Be-
dingungen der Sicherheit und dementsprechend Art und Weise ihrer Beeinträchti-
gung bereichsabhängig (sind). Deshalb scheint es kaum möglich zu sein, Merk-
male abstrakt gefährdenden Verhaltens zu benennen, die auf so unterschiedliche
Bereiche wie die Sicherheit des Rechtsverkehrs oder die Sicherheit des Bahn-,
Luft-, Schiffs- oder Straßenverkehrs, rur technische und soziale Sicherheit oder für
die Sicherheit von Lebensbedingungen (Nahrung, Wohnung, Umwelt usw.) glei-
chermaßen zutreffen.,,76 Im Ergebnis schlägt Kindhäuser vor, die Legitimation ab-
strakter Gefährdungsverbote in fünf Schritten prüfen: 77
1. Zunächst sei nach dem Zweck der Norm zu fragen, d. h. nach der Art und
Weise der Verfügung über Güter, die frei von Sorge erfolgen können soll.
2. Sodann sei der Gegenstand der Sorge zu definieren. Zu klären sei, vor was
man bei der in Frage stehenden Verfügung über Güter Furcht haben könne.
3. In einem dritten Analyseschritt sei nach der Berechtigung der Sorge zu fra-
gen.
4. ,,Des weiteren ist unter dem Aspekt der Interessenkoordination zu klären, ob
die Schadensvorsorge Sache des einzelnen ist oder ob sie seine Kapazitäten über-
steigt bzw. unzumutbar ist." Bei der Entscheidung dieser Frage seien dann nicht
nur die sozialen Folgekosten, sondern auch die "normative Verständigung" der Ge-
sellschaft über den Grad des tolerierbaren Mißbrauchs zu berücksichtigen.
5. "Steht fest, daß die Schadensvorsorge dem einzelnen nicht obliegt, für die sor-
gelose Verfügung über Güter aber erforderlich ist, so ist sie normativ auszugleichen.
Mit Blick auf diese normative Kompensation und ihren Zweck, Sorgelosigkeit zu
vermitteln, ist im Rahmen des letzten Analyseschrittes der jeweilige Delikts-
tatbestand auszulegen." Die Sicherung der normativen Kompensation sei Zweck
der Sanktionsnorm; diese habe der normativen Garantie Geltung zu verschaffen.
Kindhäuser verkennt nicht, daß sowohl die Bestimmung der Bedingungen be-
rechtigter Sorgelosigkeit als auch die Frage, ob die (autonome) Schadensvorsorge
78 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 287, 289, 294 f.; ders., Rechtsgüterschutz, S. 277. Vor
diesem Hintergrund erscheint die auf die durch das AbsteHen auf das subjektive Sicherheits-
empfinden des einzelnen begründete Gefahr einer uferlosen Ausdehnung der Strafbarkeit ver-
weisende Kritik (vgl. Saal, Straftat, S. 87 m. w. N.) als nicht berechtigt.
79 Kindhäuser, Gefährdung, S. 294.
80 Ebd., S. 294 f.
81 Ebd., S. 310.
82 Ebd., S. 311.
83 Ebd., S. 338.
84 Ebd., S. 339.
85 Ebd., S. 340 ff.
296 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
Die von Kindhäuser in ihrer eigenständigen Bedeutung verkannte Frage ist also,
ob die mit einer strafrechtlichen Verhaltensregulierung verbundenen, je nach Wahl
des Deliktstyps unterschiedlich verteilten "Kosten" den ,,richtigen" Adressaten
treffen bzw. gerecht unter den potentiellen Regelungsadressaten aufgeteilt sind. Im
Hinblick auf die Pönalisierung bestimmter, als generell gefährlich eingeschätzter
Verhaltensweisen muß gezeigt werden, daß bereits die bloße Zuwiderhandlung -
auch dann, wenn im konkreten Einzelfall eine Gefährdung und! oder Beeinträchti-
gung ausgeschlossen ist - eine Bestrafung zu legitimieren vennag. Diese Frage
kann weder über den Hinweis auf eine besondere Wertigkeit der - zumindest in
einem bestimmten Bruchteil von Fällen gar nicht gefährdeten - geschützten
Rechtsgüter noch durch den Verweis auf ein Grundrecht auf Sicherheit erledigt
werden. Erforderlich ist vielmehr eine differenzierte Bewertung der in Frage ste-
henden Risikotypen. 89 Zu klären ist, ob überhaupt und wenn ja, bei welchen "Ty-
pen der Risikoschaffung" eine Pönalisierung zu legitimieren ist.
Die obigen Ausführungen haben ergeben, daß die gemeinhin unter der Bezeich-
nung "abstrakte Gefährdungsdelikte" zusammengefaßten Straftatbestände ex nega-
86 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 197 ff. unter Hinweis auf Jakobs, StrafR AT, 6/77 ff.;
vgl. auch Jakobs, Norm, S. 86 f.
87 So richtig Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 204 f. sowie Lagodny, Strafrecht, S. 291 ff.;
vgl. auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 77 ff.
88 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 80.
89 Die Notwendigkeit, verschiedene "Typen der Risikoschaffung" zu unterscheiden, betont
auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 78.
I. Dogmatik der Gefahrdungsdelikte 297
tivo über das Fehlen einer realen Rechtsgutsbeeinträchtigung bzw. einer konkreten
Gefahr für ein Rechtsgut nur höchst unzureichend definiert werden können. Was
üblicherweise als "abstrakte Gefährdung" firmiert, ist tatsächlich die "typische"
bzw. "generelle Gefährlichkeit der Verhaltensweise". Entgegen einer in der Litera-
tur verschiedentlich geäußerten Auffassung,90 können im übrigen auch schon im
geltenden Recht innerhalb der Gruppe der abstrakten Gefährdungsdelikte ohne
weiteres verschiedene Subkategorien generell gefährlicher Verhaltensweisen unter-
schieden werden, was es geboten erscheinen läßt, eine differenzierte Neukategori-
sierung dieser Deliktsgruppe anzustreben. 91
93 Tröndle, StGB, Vor § 13 Rdnr. Ba; vgl. auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 101 f.
94 Vgl. insbesondere: Hoyer, Eignungsdelikte, passim; ders., JA 1990, 183 ff.
96 Schröder, ZStW 81 (1969),7,21 f.; ders., JZ 1967,522,523 ff.; kritisch zu der Diffe-
renzierung Schröders: Hoyer, Eignungsdelikte, S. 20 ff.; Wolter, Zurechnung, S. 186 tT.; Zie-
schang, Gefährdungsdelikte, S. 171 ff.
298 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
nungsdelikte heute entweder als dritte Kategorie zwischen den abstrakten und kon-
kreten Gefährdungsdelikten98 oder aber als besondere Gestaltungsform der ab-
strakten Gefährdungsdelikte interpretiert. 99
Mit den Eignungsdelikten soll der von den Vertretern der Präsumtionstheorien
angenommene Verstoß gegen das Schuldprinzip abgemildert und so die "Anstößig-
keit abstrakter Gefährdungstatbestände im Hinblick auf das Schuldprinzip" ausge-
räumt lOO bzw. der nach Auffassung der Vertreter der generellen Gefährlichkeit not-
wendige "straflegitimierende Rechtsgutsbezug" hergestellt werden. 101 Problema-
tisch ist dieser Ansatz deshalb, weil anerkanntermaßen von der Feststellung einer
generellen Eignung zur Gefährdung nicht auf die tatsächliche Gefährdung im Ein-
zelfall geschlossen werden kann. 102 Zu Recht sieht Hoyer deshalb die Funktion
von Eignungsklauseln darin, daß der Gesetzgeber nicht mehr tolerable Gefahren-
quellen definiere. 103 Verhaltensweisen, die das Entstehen derartiger Gefahrenquel-
len zur Folge haben, seien als verletzungsbezogen fahrlässigkeitsvermittlungsfähi-
ges Verhalten strafwürdig. 104 Der Eignungsklausel komme die Funktion zu, den
Grenzwert nicht mehr tolerabler Risikosetzungen zu umschreiben. lOS
Abgesehen davon, daß sich an dieser Stelle wiederum die Frage erheben würde,
welche Risikosetzungen der Gesetzgeber aus welchen Gründen legitimerweise als
nicht mehr tolerabel einstufen darf, wird man den von Hoyer entwickelten Ansatz
letztlich nicht auf die Eignungsdelikte im formellen Sinne beschränken können,
sondern als einen für alle abstrakten Gefährdungsdelikte relevanten Gesichtspunkt
begreifen müssen: 106 Der Sache nach geht es darum, zu zeigen, daß bestimmte
Verhaltensweisen aufgrund der ihnen innewohnenden Gefährlichkeit bei Strafe
verboten sein sollen. Daß es neben den "normalen" abstrakten Gefährdungsdelik-
ten (= generelle Gefährdungsverbote ohne Geeignetheitsklausel) noch die Gruppe
97 Vgl. GaIlas, Festschrift flir Heinitz, S. 181 f.; ablehnend Hoyer, Eignungsdelikte, S. 26 f.;
Graul, Gefährdungsdelikte, S. 117 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 166 ff.
98 Hoyer, Eignungsdelikte, S. 201; ders., JA 1990, 183; Baumann/Weber/Mitsch, StrafR
AT, § 8 Rdnr. 44 und wohl auch Fischer, GA 1989,445, 454.
99 Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 60; Cramer, in: Schönke/Schröder, Vorbem.
§§ 306 ff. Rdnr. 3; GaIlas, Festschrift für Heinitz, S. 175, 183; Horn, in: SKStGB, Vor § 306
Rdnrn. 3, 18; Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 264; Kasper, ErheblichkeitsschweIle, S. 191/
192; Martin, Strafbarkeit, S. 98 f.; Roxin, StrafR AT, Teilbei. I, § II Rdnr. 135; Saal, Straftat,
S. 65; Schroeder, ZStW Beiheft 1982, I, 4; Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2,
Rdnrn. 80 ff.; vgI. auch BGH, JR 1997,253,253/254 m. w. N. aus der Rspr. des BGH.
100 Vgl. z. B. Weber, in: Arzt/Weber, StrafR BT, LH 2 Rdnrn. 54, 80 ff.
101 Vgl. Hoyer, Eignungsdelikte, S. 37, 47.
102 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 52 f.; zur Problematik der Unklarheit über den Gehalt
des "Geeignetheitsmerkmals" vgl. Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 197 ff.
103 Vgl. Hoyer,JA 1990, 183, 186f.
104 Vgl. i.e. Hoyer, Eignungsdelikte, S. 49 f., 55 ff., \07.
105 Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 279.
106 Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 200 f., 208. Den Darlegungen in JA 1990, 183,
186 ff. ist zu entnehmen, daß dies letztlich wohl auch den Intentionen Hoyers entspricht.
I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte 299
der Eignungsdelikte im formellen Sinne gibt, wird erklärlich, wenn man berück-
sichtigt, daß in einigen Fällen die nicht tolerablen Risiken allein durch die Um-
schreibung bestimmter Verhaltensweisen definiert werden können,107 während bei
anderen Verhaltensweisen eine zusätzliche - an jeweils unterschiedlich gefaßte
Kriterien gebundene - Gefährlichkeitsprüfung hinzukommen muß. 108
Eine Fortftihrung dieses Ansatzes müßte sich mit der Frage auseinandersetzen,
wie weit der Gesetzgeber die Gefahrkriterien zu konkretisieren hat. 109 Des weite-
ren wäre zu klären, ob eine wie auch immer ausgestaltete Eignungsklausel im We-
ge der Auslegung auch in die abstrakten Gefährdungsdelikte hineinzulesen ist, die
eine solche nicht enthalten. HO Eine Beschäftigung mit diesen Fragestellungen kann
an dieser Stelle zurückgestellt werden. Festzuhalten bleibt, daß dieser Ansatz zwar
die spezifische Legitimationsbedürftigkeit der Pönalisierung generell gefährlicher
Verhaltensweisen aufzeigt, gleichzeitig aber auch deutlich macht, daß der struktu-
rellen Heterogenität der unter dem Sammelbegriff der abstrakten Gefährdungsde-
likte zusammengefaßten Deliktstypen hinreichend Rechnung zu tragen ist.
107 Volz, Unrecht, S. 148. Diese Auffassung dürfte auch der Entscheidung BGH, JR 1997,
253, 253/254 mit Anm. Sack zugrundezuliegen.
108 Vgl. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 59 f.; Brehm, Dogmatik, S. 83; Cramer, Voll-
rauschtatbestand, S. 69 f.; Martin, Strafbarkeit, S. 99 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte,
S. 201 f. sowie Fischer, GA 1989,445,447/448, der in der Eignungsklausel ein "restriktives
Tatbestandsmerkmal" sieht.
Vgl. Berz, Tatbestandsverwirklichung, S. 59; zu den für die Annahme eines "konkret ge-
fährlichen Zustands" relevanten Umständen und Maßstäben vgl. Zieschang, Gefährdungsde-
likte, S. 87 ff.
109 Vgl. Hoyer, JA 1990, 183, 184; Iburg, NStZ 1997,547 m. w. N.
120 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rndr. 133; Schünemann, JA 1975,798; Woher, Zu-
rechnung, S. 187,277,319 f.; vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/88; Ahn, S. 118 ff.; Graul, Ge-
fährdungselikte, S. 154 Fußn. 70; Hoyer, JA 1990, 183, 185; Lagodny, Strafrecht, S. 442,
481; kritisch hierzu: F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 35.
121 WoIter, Zurechnung, S. 303.
122 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 134; Schünemann, JA 1975,787,793 und 798;
Woher, Zurechnung, S. 303, 328 f.; vgl. auch Saal, Straftat, S. 103 ff.; kritisch hierzu Jakobs,
StrafR AT, 2/25b a.E.
I. Dogmatik der Gefährdungsdelikte 301
und letzte Kategorie bilden dann schließlich die bereits oben angesprochenen Eig-
nungsdelikte. 123
Gegen die skizzierte Kategorienbildung ist einzuwenden, daß das Bedürfnis
nach Verhaltenssteuerung mit der Legitimation des Einsatzes strafrechtlichen
Zwangs vermengt wird. Insbesondere die Subkategorien der ,,Massenhandlungen"
und der "Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut" erschöpfen sich darin, eine
aus pragmatischen Gründen für opportun gehaltene Pönalisierung mit einer
Scheinbegründung zu legitimieren. 124 Soweit zur Unterscheidung der - in der Ter-
minologie Roxins - ,,klassischen abstrakten Gefahrdungsdelikte" von den ,,Mas-
senhandlungen" wesentlich darauf abgestellt wird, daß bei der einen Kategorie
eine einschränkende Auslegung des Anwendungsbereichs geboten und bei der an-
deren Kategorie ausgeschlossen sei, mag dies eine für den Rechtsanwender rele-
vante Differenzierung sein; bezogen auf die Rolle des Gesetzgebers beschreibt die
Begründung, bei den sog. Massenhandlungen sei eine strikte Pönalisierung unab-
dingbar, einen geradezu klassischen Zirkelschluß: die Legitimität der Norm hängt
ja gerade davon ab, daß es legitim ist, die sog. Massenhandlungen allein aufgrund
ihrer generellen Gefährlichkeit unter Strafandrohung zu stellen. Der Verweis auf
"lerntheoretische" Notwendigkeiten führt ebenfalls nicht weiter, sondern ver-
schiebt allein die Fragestellung. Zu begründen 125 wäre, daß "lerntheoretische"
Notwendigkeiten eine Pönalisierung zu tragen vermögen. 126
Die Kategorien der ,,Eignungsdelikte" und der ,,Delikte mit vergeistigtem Zwi-
schenrechtsgut" erschöpfen sich im wesentlichen darin, bestimmte, de lege lata
geltende Straftatbestände anhand bestimmter Merkmale in Kategorien zusammen-
zufassen. Abgesehen davon, daß man - wie bereits oben dargestellt wurde - die
123 Roxin, StrafR AT, Teilbd. I, § 11 Rdnr. 135; Schünemann, JA 1975,787,793; Wolter,
Zurechnung, S. 321 ff.
124 Vgl. auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 34 ff.; Kindhäuser, Gefähr-
dung, S. 269.
125 Eine materielle Begründung für die Strafwürdigkeit von Massenhandlungen will Hoyer
daraus herleiten, daß die Integrität des in Frage stehenden Rechtsguts nicht der Beurteilungs-
kompetenz der jeweils handelnden Personen ausgesetzt werden solle (JA 1990, 183, 185).
Strafgrund sei - wie auch beim untauglichen Versuch - das sich aus der Möglichkeit von
Fehleinschätzungen ergebende Irrtumsrisiko (JA 1990, 183, 186). Die Frage ist aber: Kann
dies auch dann gelten, wenn es an dem für den (untauglichen) Versuch konstitutiven subjekti-
ven Bezug auf den Unrechtserfolg fehlt?
126 Kritisch insoweit auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 373. Gleiches gilt für einen
von Saal entwickelten Ansatz, der danach unterscheiden will, ob durch das abstrakte Gefähr-
dungsdelikt ein Individualrechtsgut oder ein Rechtsgut der Allgemeinheit geschützt werden
soll. Während er bei der erstgenannten Kategorie eine Ausscheidung der erwiesenermaßen
ungefährlichen Verhaltensweisen aus dem Strafbarkeitsbereich für geboten erachtet, soll dies
bei der zweiten Kategorie nicht möglich und (deshalb?) auch nicht geboten sein (Saal, Straf-
tat, S. 90 ff.). Für notwendig erachtet er dann allerdings die Ausgrenzung von Minimalverstö-
ßen (Ebd., S. 95 ff., 112 ff.). Daß es legitim ist, die nicht unter die Bagatellklausel fallenden,
möglicherweise für Kollektivrechtsgüter gefährlichen Verhaltensweisen unter Strafe zu stei-
len, wird von Saal dann allerdings nicht begründet, sondern schlicht vorausgesetzt.
302 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
Kategorie der Eignungsdelikte wohl eher nicht als eine unter materiellen Gesichts-
punkten eigenständige Deliktskategorie anerkennen kann und die Kategorie der
Delikte mit vergeistigtem Zwischenrechtsgut alle bereits oben dargelegten Proble-
me der Rechtsgutstheorie übernimmt und deshalb allenfalls zu einer sehr randun-
scharfen Deliktskategorie führen kann,127 bleibt auch hier die eigentliche Legiti-
mationsproblematik offen: Wann bzw. unter welchen Voraussetzungen ist es legi-
tim, auf die Deliktsgruppe der Eignungsdelikte zurückzugreifen? Wann bzw. unter
welchen Voraussetzungen darf der Gesetzgeber welchen - wie auch immer be-
stimmten bzw. konkretisierten - vergeistigten Zwischenrechtsgütern strafrechtli-
chen Schutz gewähren? Da abstrakte Gefahrdungsdelikte unstreitig eine Auswei-
tung des Stratbarkeitsbereiches auf Verhaltensweisen zur Folge haben, die weder
von Verletzungs- noch von konkreten Gefahrdungsdelikten erfaßt wären, ist maß-
gebend, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen es legitim sein kann, eine
Verhaltensweise allein aufgrund der ihr innewohnenden generellen bzw. typischen
Gefahrlichkeit zu pönalisieren.
Jakobs erkennt an, daß das Bedürfnis nach abstrakten Gefährdungsdelikten von
den Voraussetzungen zu trennen ist, unter denen der Erlaß entsprechender Nonnen
legitim sein kann. Das Bedürfnis für abstrakte Gefährdungsdelikte leitet sich für
ihn aus der Notwendigkeit der Standardisierung von Verhaltensweisen ab. 135 Hin-
sichtlich der Legitimierung entsprechender Straftatbestände geht er von der Prä-
misse aus, daß der Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes nicht verabsolutiert wer-
den dürfe, sondern vielmehr - in einer freiheitlichen Gesellschaft - ein dem staat-
lichen Zugriff entzogener Freiraum des Individuums zu respektieren sei. 136 Dieser
Freiraum umfasse neben dem unstreitigen Bereich des forum internum auch die
der Privatsphäre des 9ürgers zuzurechnenden Verhaltensweisen, wie z. B. einver-
nehmliche Kontakte mit anderen Bürgern, sozialadäquates sowie per se unauffälli-
ges externes Verhalten. 137 Legitim könne eine Pönalisierung erst dann sein, wenn
sich der Bürger anmaße, fremde Organisationskreise in einer ihm nicht zukommen-
den Art und Weise zu organisieren. 138 Zur Bewertung der in Frage stehenden Straf-
tatbestände will Jakobs auf drei Tatbestandstypen zurückgreifen: 139
1. Externes Verhalten, das eo ipso störe und bei dem lediglich die Schadensnei-
gung generalisierend bestimmt werde. Beispiele seien hier die Aussagedelikte der
§§ 153 ff. dStGB sowie die schwere Brandstiftung gemäß § 306 (a.F.) dStGB.
2. Verhaltensweisen, bei denen die externe Störung generalisierend festgelegt
werde. Als Beispiele nennt Jakobs hier neben der folgenlosen Trunkenheitsfahrt
(§ 316 dStGB) die §§ 283, 328 dStGB.
3. Verhaltensweisen, die ohne ein nachfolgendes Zutun des Täters oder einer an-
deren Person überhaupt nicht oder allenfalls minimal gefährlich seien. Beispielhaft
seien hier die Straftatbestände der §§ 52 ff. WaffG.
Die Legitimation der in die beiden erstgenannten Kategorien einzuordnenden
Straftatbestände scheint Jakobs für zumindest im Grundsatz weitgehend unproble-
matisch zu halten. Da hier das gefährliche Verhalten komplett vollzogen sei, sei
die Vorverlagerung der Strafbarkeit nicht größer als beim vollendeten Versuch. 140
Diese ,,kleinstmögliche" Vorverlagerung sei als legitim anzusehen, wenn der Täter
sich der Möglichkeit begeben habe, "eine riskante Gestaltung seines Organisati-
136 Jakobs, StrafR AT, 21 25a, 25b; ders., ZStW 97 (\985), 751, 753 ff.
137 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 761 f.; kritisch zur mangelnden Klarheit der Abgren-
zung: Hirsch, Lampe, Kühl und Tiedemann, zitiert nach: Gropp, ZStW 97 (1985), 919, 922 f.,
925 f. und hierzu wiederum die Entgegnung von Jakobs, zitiert nach Gropp, ZStW 97 (1985),
919,928 f.
138 Jakobs, StrafR AT, 2/25a, 6/86a; ders., ZStW 97 (1985), 751, 762.
139 Jakobs, StrafR AT, 61 86a; ders., ZStW 97 (\985), 751, 768 ff.
140 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173; ders., ZStW 97 (\985), 751, 769.
304 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
146 Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173; ders., ZStW 97 (1985), 751, 770 f.; vgl. auch Ahn,
Dogmatik, S. 123 ff., der die Pönalisierung des unerlaubten Waffenbesitzes für unverhältnis-
mäßig, die Pönalisierung der Ge\dfälschung und des unerlaubten Besitzes von Betäubungs-
mitteln dagegen für legitimierbar erachtet.
147 Vgl. insoweit auch Ahn, Dogmatik, S. 122 f., der ebenfalls die Legitimität der Straf-
norm verneint.
14M Jakobs, StrafR AT, 6/86a, S. 173/174; ders., ZStW 97 (1985), 751, 758 ff., 771 ff.
11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 305
wortlichkeit durch das Kriterium der unerlaubt riskanten Gestaltung des eigenen
Organisationskreises bzw. der - damit verbundenen? - Anmaßung der Gestaltung
anderer Organisationskreise zu bestimmen, erscheint ausbaufahig, aber auch aus-
baubedürftig. Notwendig dürfte insbesondere eine genauere Ausarbeitung der Kri-
terien sein, anhand derer zu beurteilen ist, ab wann eine Gestaltung des eigenen
Organisationskreises als unerlaubt riskant anzusehen ist. Da praktisch jede Verhal-
tensweise Auswirkungen auf den sozialen Nah- und/oder Fernbereich des Han-
delnden hat,149 wird man nicht auf eine faktische Beherrschbarkeit der Folgewir-
kungen abstellen können, sondern vielmehr Kriterien heranziehen müssen, anhand
derer die normativ noch als tolerabel erscheinenden von den nicht mehr hinnehm-
baren Risiken unterschieden werden können. Zu berücksichtigen ist dann aber
auch, daß generell gefährliche Verhaltensweisen höchst unterschiedliche Risikopo-
tentiale aufweisen: Während das immanente Risiko einiger Verhaltensweisen darin
besteht, daß bereits das unbewußte Verhalten anderer Personen das Risiko zur kon-
kreten Gefährdung oder gar Schädigung eines Interesses komplettieren kann - bei-
spielhaft: der Passant betritt die Fahrbahn, auf der sich der alkoholisierte Kraftfah-
rer nähert -, ist bei anderen Verhaltensweisen ein bewußtes Anknüpfen des Täters
oder einer anderen Person notwendig - beispielhaft: die Schädigung kollektiver
Rechtsgüter setzt regelmäßig gleichgerichtete Verhaltensweisen einer Vielzahl von
Personen voraus. Bei wieder anderen Verhaltensweisen muß der Handelnde selbst
oder eine andere Person das "Ergebnis" der Verhaltensweise zum Ausgangspunkt
für eine eigene Handlung nehmen. Die entscheidende Fragestellung lautet also:
Welches nachfolgende Verhalten welcher Person muß der Täter als Teil des von
ihm zu organisierenden Verhaltenskreises mitverantworten und aus diesem Grunde
in seine Verhaltensorientierung einbeziehen?lso
1. Einführung
Als ein wesentliches Ergebnis der obigen Ausftihrungen bleibt festzuhalten, daß
abstrakte Gefährdungsdelikte nicht über das Fehlen einer realen Rechtsgutsbeein-
trächtigung und / oder das Fehlen einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgutsobjekt
definiert werden können. Der gemeinsame Nenner der in dieser Deliktsgruppe ver-
sammelten Straftatbestände ist nicht die "abstrakte Gefährdung" eine Rechtsguts,
sondern vielmehr die den jeweils in Frage stehenden einzelnen Verhaltensweisen
immanente "generelle Gefahrlichkeit". Der Sache nach sind abstrakte Gefähr-
149 Hierzu bereits Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,20; vgl. auch oben S. 273 f.
ISO Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 770; vgl. auch von Hirsch, Hann Principle, S. 266/267.
20 Wohlers
306 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
151 So bereits zutreffend Hirsch, Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 549 f., 558 im An-
schluß an A.H. Meyer, Gefährlichkeitsdelikte, S. 183 ff.; vgl. auch Horn, in: SKStGB, Vor
§ 306 Rdnr. 15.
152 Vgl. auch bereits Jenny I Kunz, Bericht, S. 96, die in dem von ihnen als potentielles
Gefährdungsdelikt bezeichnete Deliktstyp eine für weite Bereiche des Umweltstrafrechts
..angemessene Risikovertypung" sehen.
153 Vgl. auch die entsprechende Vorgehensweise bei Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhal-
ten, S. 86 ff.
11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 307
chend angepaßt werden, ohne daß dies die sonstige Systematik mitsamt der aus ihr
gewonnenen Erkenntnisse zwingend entwerten würde.
Die ausschließlich dienende Funktion der nachfolgend zu entfaltenden Systema-
tik zeigt sich schließlich auch daran, daß eine randscharfe Zuordnung einzelner
Straftatbestände weder beabsichtigt noch notwendig ist. Wenn bei einzelnen Straf-
tatbeständen des geltenden Rechts mehrere der nachfolgend entwickelten Typen
der Risikoschaffung kombiniert auftreten, stellt dies nicht die Systematik als sol-
che in Frage, sondern bedeutet nur, daß die Legitimität dieser Straftatbestände im
Hinblick auf die durch die kombinierten Deliktstypen in ihrer Gesamtheit reprä-
sentierten Problemstellungen begründet werden muß.
Im Rahmen einer auf das Kriterium des immanenten Risikopotentials von Ver-
haltensweisen abstellenden Systematik müssen zunächst in grundsätzlicher Hin-
sicht zwei Kategorien von Straftatbeständen unterschieden werden: zum einen die
Tatbestände, die Verhaltensweisen erfassen, durch die Interessen (Rechtsgüter) un-
mittelbar beeinträchtigt werden; zum anderen Tatbestände, die Verhaltensweisen
erfassen, die für sich allein gesehen ein gegebenes Interesse (Rechtsgut) noch nicht
unmittelbar beeinträchtigen.
Die erste Kategorie bilden die in herkömmlicher Terminologie als Erfolgsdelikte
und konkrete Gefährdungsdelikte bezeichneten Straftatbestände - wenn und soweit
sie auf den Schutz personaler Interessen (Individualrechtsgüter) abzielen. Hierbei
kann es auch Fälle geben, in denen das Interesse am Bestand bzw. an der Nutzbar-
keit personaler Interessen erst durch die Summierung mehrerer, unabhängig von-
einander erbrachter Einzelbeiträge verschiedener Personen beeinträchtigt wird.
Zur Veranschaulichung kann neben dem von Daxenberger erörterten Beispiel des
durch zahlreiche Passanten im Laufe eines Jahres verursachten "Trampelpfades"
auf einem Grundstück l54 insbesondere auf das Rechtsgut der ,,Ehre" verwiesen
werden: Das Interesse an der Wahrung eines gesellschaftlichen Achtungsanspru-
ches wird erst dadurch real beeinträchtigt, daß dem Rechtsgutsträger von einer als
relevant anzusehenden Anzahl von Gesellschaftsmitgliedem der ihm zukommende
Achtungsanspruch abgesprochen bzw. dieser in der sozialen Interaktion nicht ge-
bührend beachtet wird. Unter Zugrundelegung der hier zu entwickelnden Systema-
tik handelt es sich bei den Ehrdelikten damit um den Sonderfall eines auf den
Schutz eines personalen Interesses abzielenden kombinierten Kumulations- und
Vorbereitungsdelikts. 155 Dies alles ändert aber nichts daran, daß im Regelfall per-
20'
308 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
sonale Interessen bereits durch das Verhalten einer einzelnen Person effektiv beein-
trächtigt - und das heißt: geschädigt - werden können. 156
Grundlegend anders ist dies bei kollektiven Interessen: Ein auf den Schutz kol-
lektiver Interessen abzielender Einsatz von Erfolgs- und I oder konkreten Gefahr-
dungsdelikten wäre auf die - aus praktischer Sicht eher irrelevant, wenn nicht so-
gar absurd anmutende - Pönalisierung von ,,Megaverstößen" (Hefendehl) be-
schränkt. Beispielhaft: Das Interesse an der Funktionsfähigkeit bestimmter staatli-
cher Institutionen, wie z. B. der Rechtspflege, der Verwaltung usw., kann schon
von vornherein durch das Verhalten einzelner Personen nicht in einer als relevant
anzusehenden Art und Weise beeinträchtigt werden. 157 Andere kollektive Interes-
sen, wie z. B. das Interesse an intakten Umweltmedien, können zwar zumindest
theoretisch durch ,,Megaverstöße" relevant beeinträchtigt werden. Hier würde sich
aber nicht nur die Frage stellen, ob nach derartigen ,,Megaverstößen" überhaupt
noch eine Institution zur Verfügung steht, die eine strafrechtliche Ahndung durch-
setzen kann, sondern auch, welchem Zweck diese Ahndung dann noch dienen soll.
Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß derartige ,,Megaverstöße" regelmäßig gar
nicht das Werk einer einzelnen Person sind, sondern vielmehr das Ergebnis der
Summation einer Vielzahl für sich gesehen irrelevant erscheinender Einzelbeiträ-
ge. Sollen kollektive Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen katastrophaler Art ge-
schützt werden, müssen die einzelnen Kumulationsbeiträge erfaßt werden, bevor
sich diese zu einer ,,Megabeeinträchtigung" summieren können. 158 Hieraus folgt:
Ein auf den Schutz kollektiver Rechtsgüter abzielender Gesetzgeber kann sich
nicht auf den Deliktstypus des Erfolgsdelikts zurückziehen, sondern muß Verhal-
tensweisen erfassen, die zwar fur sich gesehen das jeweils betroffene kollektive in-
teresse (Rechtsgut) nicht in relevanter Art und Weise beeinträchtigen können, die
aber, wenn und soweit es zu einer Vielzahl gleichgerichteter Handlungen kommt,
als Teilbeitrag zu einem ,,Megaverstoß" anzusehen wären. 159 Erfaßt werden müs-
sen damit aber notwendigerweise Verhaltensweisen, die ein kollektives Interesse
nicht unmittelbar beeinträchtigen, sondern vielmehr Verhaltensweisen, die zwar
mittelbar zu einer Beeinträchtigung führen können, bei denen es aber nicht sicher
ist, ob es zu einer derartigen Schädigung tatsächlich kommen wird. Der Schutz
156 Auch in den Fällen der Schädigung eines personalen Interesses als Folge einer Summa-
tion für sich gesehen nicht ausreichender Einzelbeiträge bei unbewußtem Zusammenwirken
mehrerer Personen stellt sich das Problem der objektiven Zurechenbarkeit des Gesamtscha-
dens.
157 Vgl. Feinberg, Vol. I, S. 11,225,228; Papageorgiou, Schaden, S. 282; Weber, ZStW
Beiheft 1987, 1,9 f. mit dem Hinweis darauf, daß auch der Bestand eines Staates nur durch
das arbeitsteilige - nicht aber notwendig unter die Voraussetzungen der §§ 25 ff. dStGB fal-
lende - Zusammenwirken mehrerer Personen konkret gefährdet bzw. beeinträchtigt werden
kann.
158 Angesichts der ,,Robustheit" kollektiver Güter wäre dieses Ziel aus rein funktionalisti-
scher Sicht bereits dann erreicht, wenn eine Minderheit der Bürger veranlaßt werden könnte,
an der Bereitstellung eines kollektiven Gutes mitzuwirken (vgl. Baurrnann, Markt, S. 564).
159 Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 124.
11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 309
kollektiver Rechtsgüter fällt damit grundsätzlich in den Bereich der zweiten De-
liktskategorie.
Das gemeinsame Kennzeichen der durch die zweite Deliktskategorie erfaßten
Verhaltensweisen liegt darin, daß hier eine reale Beeinträchtigung eines gegebenen
Interesses nicht aus der durch den Straftatbestand erfaßten Verhaltensweise allein
resultieren kann, sondern der Erfolg erst durch ein weiteres Verhalten des Täters
oder einer anderen Person (des Opfers oder eines Dritten) herbeigeführt wird. Bei
den Straftatbeständen des geltenden Rechts lassen sich im wesentlichen drei Sub-
kategorien mit jeweils unterschiedlichem Risikopotential unterscheiden: 160
I. Die Verhaltensweisen, deren Gefährlichkeit darauf beruht, daß sie zu Situatio-
nen führen, die für den Tater nicht mehr steuerbar sind und die - wenn nur ein ent-
sprechendes Tatobjekt (Rechtsgutsobjekt) in den Einwirkungsbereich des Täters
gelangt wäre - ohne weiteres eine konkrete Gefährdung und gegebenenfalls auch
eine Beeinträchtigung zur Folge gehabt hätten. 161 Im Anschluß an Hans Joachim
Hirsch 162 wird man diese Tatbestände als "konkrete Gefährlichkeitsdelikte" be-
zeichnen köm~en. 163 Der Sache nach handelt es sich um potentielle Erfolgs- bzw.
potentiell-konkrete Gefährdungsdelikte. 164 Der Anwendungsbereich dieses De-
Iiktstyps ist folgerichtig wiederum auf den Schutz personaler Interessen (Indivi-
dualrechtsgüter) beschränkt. Charakteristische Beispiele aus dem de lege lata gel-
tenden Strafrecht wären insoweit die folgenlose Trunkenheitsfahrt (§ 316 dStGB)
sowie die schwere Brandstiftung (§ 306 dStGB a.F. = § 306a dStGB n.F.).
2. Die Verhaltensweisen, die zwar für sich allein gesehen ein rechtlich geschütz-
tes Interesse nicht zu beeinträchtigen vermögen, die aber im Zusammenwirken mit
anderen, gleichgerichteten Verhaltensweisen zu einer relevanten Beeinträchtigung
160 Übereinstimmung in der Sache besteht zu der Kategorisierung bei von Hirsch, Harrn
Principle, S. 262 ff. Zieschang unterscheidet im Rahmen seiner Untersuchung vier Subkate-
gorien von nicht-Verletzungsdelikten: konkrete Gefährdungsdelikte, abstrakte Gefährdungs-
delikte, potentielle Gefährdungsdelikte und konkrete Gefährlichkeitsdelikte (Gefährdungsde-
likte, S. 347). Hinsichtlich der Subkategorie des konkreten Gefährlichkeitsdeliktes besteht
eine Parallele zu der vorliegenden Unersuchung. Die der Subkategorie der abstrakten und po-
tentiellen Gefährdungsdelikte zugerechneten Delikte werden in der vorliegenden Untersu-
chung den Subkategorien der Kumulations- und Vorbereitungsdelikte zugerechnet. Die weite-
re Subkategorie der konkreten Gefährdungsdelikte ist bereits behandelt worden (vgl. oben
S. 284 ff.).
161 Vgl. Hoyer, JA 1990, 183, 187 f.; ders., Eignungsdelikte, S. 97 ff., 107 sowie Martin,
Strafbarkeit, S. 83 ff., die in der Etablierung derartiger Gefahrenquellen eine dem Erfolg der
konkreten Gefährdung eines Rechtsgutsobjekts strukturell vergleichbare Verursachung eines
"abstrakten Gefahrerfolgs" sehen.
162 Festschrift für Arthur Kaufmann, S. 559; vgl. auch Zieschang, Gefahrdungsdelikte,
S. 53 f.
163 Näher zur Bedeutung des Adjektivs "konkret" in diesem Zusammenhang: A.H. Meyer,
Gefährlichkeitsdelikte, S. 191 ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 54 ff.
164 Zum Begriff der potentiell konkreten Gefahr vgl. bereits Jakobs, ZStW 97 (1985), 751,
767 Fußn. 20.
310 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
führen können. Wie bereits oben dargelegt wurde,I65 ist der Hauptanwendungsbe-
reich für diesen, hier in Fortführung der von Kuhlen geprägten Begrifflichkeit als
Kumulationsdelikt bezeichneten Deliktstypus der Schutz kollektiver Interessen.
Beispiele des geltenden Rechts sind neben den Straftatbeständen zum Schutz von
Umweltmedien (§§ 324 ff. dStGB) die auf den Schutz bestimmter Institutionen des
Staates (z. B.: Rechtspflege) bzw. gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge
(z. B.: §§ 264 ff. dStGB) abzielenden Straftatbestände.
3. Die Verhaltensweisen, deren Risikopotential darin besteht, daß entweder der
Handelnde selbst oder aber eine andere Person an das Ergebnis der in Frage ste-
henden Verhaltensweise zur Verwirklichung deliktischer Zwecke anknüpfen kann.
Dieser - hier als Vorbereitungsdelikt bezeichnete - Deliktstypus hat im geltenden
Recht sowohl im Hinblick auf personale als auch kollektive Interessen Bedeutung.
Als Beispiel für das Bemühen, möglichen Beeinträchtigungen personaler Interes-
sen bereits im Vorfeld einer realen Gefährdung entgegenzuwirken, kann auf die
Straftatbestände verwiesen werden, die den Umgang mit gefährlichen Stoffen
(Chemikalien, Arzneimittel usw.) oder Gegenständen (Waffen, Sprengstoff usw.)
unter Strafe stellen. Bei den Straftatbeständen, die bestimmte Verhaltensweisen im
Vorfeld der Beeinträchtigung kollektiver Interessen unter Strafe stellen, liegt regel-
mäßig eine Kombination von Vorbereitungs- und Kumulationsdelikten vor. Bei-
spielhaft: die §§ 146 Abs. 1 Nr. 1 und 2, 149, 152a, 267 Abs. I, 1. und 2. Alt., 275
dStGB erfassen Vorbereitungshandlungen, die nur bzw. erst dann zu einer realen
Beeinträchtigung des geschützten kollektiven Interesses führen (können), wenn es
in einer relativ großen Zahl von Einzelfällen zu entsprechenden Vorbereitungs-
und Anknüpfungstaten kommt.
Die Einordnung konkreter Straftatbestände in die oben entwickelte Systematik
hängt entscheidend von der Auswahl der zur Legitimation des Straftatbestandes
herangezogenen Interessen ab. Anschaulich läßt sich dies an den Straftatbeständen
des Betäubungsmiuelstrafrechts belegen: Stellt man - unter Vernachlässigung bzw.
vorbehaltlich der besonderen Problematik der bewußten Selbstgefährdung - auf
den Schutz der körperlichen Integrität des Drogenkonsumenten ab, stellen sich die
Straftatbestände, die das Verhalten auf der Anbieterseite erfassen, als Vorberei-
tungsdelikte zum Schutz eines personalen Interesses dar. Stellt man demgegenüber
auf die sozialen Folgekosten des Drogenkonsums ab, handelt es sich - soweit das
Verhalten des Konsumenten unter Strafe gestellt wird - um ein Kumulationsdelikt
sowie um ein kombiniertes Vorbereitungs- und Kumulationsdelikt, soweit das Ver-
halten auf der Anbieterseite erfaßt ist. Ein weiteres Beispiel sind die §§ 326, 327,
328 dStGB: Sieht man das geschützte Interesse in der Gewährleistung der körper-
lichen Integrität einzelner Individuen, handelt es sich bei diesen Straftatbeständen
um konkrete Gefährlichkeitsdelikte; stellt man dagegen auf das kollektive Inter-
esse an der Erhaltung der Umweltmedien ab, würde es sich um Kumulationsdelikte
handeln.
166 Vgl. insoweit auch Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 380 ff., der - basierend auf der
von ihm vorgenommenen Kategorisierung der Gefährdungsdelikte (vgl. oben Seite 309 FuBn.
160) - die Subkategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte als illegitim ablehnt. Die de lege
lata existenten abstrakten Gefährdungsdelikte seien entweder in konkrete Gefährlichkeits-
oder potentielle Gefährdungsdelikte umzuwandeln (a.a.O. S. 384 f., 389) oder aber in das
Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen (a. a. 0., S. 392 f.). Die Subkategorien der konkre-
ten Gefährlichkeits- und potentiellen Gefährdungsdelikte hält Zieschang für legitim, soweit
es um den Schutz "besonders bedeutsamer Rechtsgüter" gehe (a. a. 0., S. 388, 389 f.). Die
vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß diese Argumentation zu kurz greift.
167 Für die insoweit heranzuziehenden Maßstäbe wird auf die Darlegungen oben am Ende
des 6. Kapitels (S. 275 ff.) sowie auf die Darstellung der "Standard-Harm-Analysis" bei von
Hirsch, Harm Principle, S. 261 verwiesen.
168 Zur Notwendigkeit einer Ergänzung der Standard-Harm-Analysis durch den Gesichts-
punkt der "fair-imputation" vgl. auch bereits von Hirsch, Harm Principle. S. 262 ff.
169 Vgl. Köhler, StrafR AT, S. 148.
312 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
im Hinblick auf die Legitimität dieses Deliktstypus relevante Frage lautet: Unter
welchen Voraussetzungen ist der Gesetzgeber legitimerweise berechtigt, potentiell
gefährliche Verhaltensweisen für sich gesehen, d. h. ohne einen - auch nur subjek-
tiven - Bezug zur Schädigung bzw. konkreten Gefährdung eines Rechtsguts(ob-
jekts), als verselbständigte Gefahrsetzungen unter Strafandrohung zu stellen?
Die Strafrechtswissenschaft hat sich mit dieser Frage bisher eher am Rande be-
schäftigt. Charakteristisch für die eher beiläufige, die Legitimitätsproblematik
weitgehend vernachlässigende Herangehensweise sind Stellungnahmen, in denen
die Berechtigung des Gesetzgebers, gefährliche Verhaltensweisen bereits im Vor-
feld realer Gefährdungen bzw. Verletzungen zu unterbinden, entweder begrün-
dungslos postuliert oder aber mit dem Verweis auf einen effizienteren Rechtsgüter-
schutz legitimiert wird. Beide Ansätze greifen zu kurz: Wenn beispielsweise
Schröder ausführt, es werde "in der Tat kaum zu bestreiten sein, daß der Gesetz-
geber legitimiert sein muß, bestimmte Formen menschlichen Verhaltens allein des-
wegen unter Strafe zu stellen, weil aus ihnen typischerweise Gefahren für rechtlich
geschützte Interessen zu resultieren pflegen",170 mag diese Aussage letztlich rich-
tig sein - sie bedarf dann aber einer Begründung, die über den von Schröder gege-
benen Hinweis auf die unkontrollierbaren Folgen bestimmter Verhaltensweisen
und die Unpraktikabilität einer ausschließlich auf dem Prinzip der konkreten Ge-
fährdung aufbauenden Strafrechtsordnung l71 hinausgehen muß. Dem Ansatz, die
Legitimation der Pönalisierung generell gefährlicher Verhaltensweisen im Vorfeld
realer Beeinträchtigungen mit dem Gesichtspunkt einer Verbesserung des Rechts-
güterschutzes begründen zu wollen,l72 ist entgegenzuhalten, daß - wie bereits
mehrfach betont wurde - die Funktionalität einer normativen Regelung nicht mit
deren Legitimität vermengt werden darf. 173 Die Frage bleibt also: Stellt die einer
Verhaltensweise immanente generelle Gefährlichkeit einen Umstand dar, der eine
Pönalisierung zu legitimieren vermag?
Binding war der Auffassung, der Gesetzgeber sei berechtigt, generell gefährli-
che Verhaltensweisen zu pönalisieren, wenn die nicht zu vermeidende (Mit-)Erfas-
179 Vgl. Cramer, in: Schönkel Schröder, § 15 Rdnr. 144; Frisch, Tatbestandsmäßiges Ver-
halten, S. 90 ff., 105 f.; Jakobs, StrafR AT, 7/35, 42; ders., 'ZStW Beiheft 1974,6,12 ff.
180 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 7/76 f.
181 Vgl. auch bereits Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 72, 105 mit dem Hinweis
darauf, daß ein "bei jedwedem Risiko ansetzendes Verhaltensverbot zu einer absoluten Kne-
belung der Handlungsfreiheit führen" würde.
182 Wie bereits oben Seite 97 ff. in Auseinandersetzung mit dem von E.A. Wolff zur Ab-
grenzung des legitimen Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen entwickelten Ansatz
dargelegt wurde, handelt es sich hierbei um ein normatives Korrektiv; vgl. auch Frisch, Tat-
bestandsmäßiges Verhalten, S. 104 - dort allerdings im Hinblick auf das Verhalten eines po-
tentiellen Täters.
183 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 96, 98; Hoyer, Eignungsdelikte, S. 95 ff.
184 Vgl. Wolff, Abgrenzung, S. 219.
185 So auch: Wolff, Abgrenzung, S. 220.
11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 315
186 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 7/35, 42 ff. sowie ders., ZStW Beiheft 1974,6, 13, 15/16, der
ebenfalls die Notwendigkeit betont, strafrechtlich irrelevante (erlaubte) von strafrechtlich re-
levanten (unerlaubten) Risiken im Rahmen einer Abwägung der jeweils in Frage stehenden
Interessen abzugrenzen.
187 Soweit in bezug auf die schwere Brandstiftung Einschränkungen des Anwendungsbe-
reichs für die Fälle hinreichender Vorsorge gegenüber einer Gefahrverwirklichung diskutiert
wird, dürfte es sich weitgehend um ein Scheinproblem handeln. Wenn in der Literatur eine
Reduktion des Anwendungsbereiches der Norm für die Fälle befürwortet wird, in denen der
objektiven Sachlage nach "eine Gefahrdung von Menschenleben offensichtlich ausgeschlos-
sen war, und der Täter sich vor der Tat davon in einer jeden Zweifel behebenden Weise Ge-
wißheit verschafft hat," kann dies von vornherein allenfalls "bei kleineren, auf einen Blick
überschaubaren Objekten" in Betracht kommen (vgl. Wesseis, StrafR BT 1, Rdnr. 927). Tat-
sächlich wird man eine hinreichend zuverlässige Abschirmung des Risikopotentials aber
selbst für die von BGHSt 26, 121, 125 offengelassene Fallgruppe der Inbrandsetzung von
"einräumigen Hütten oder Häuschen" nicht ohne weiteres annehmen können - Voraussetzung
wäre hier, daß das Objekt durchsucht und darüber hinaus sichergestellt wird, daß auch nach
der Inbrandsetzung niemand in das Objekt hineingelangen kann.
Im übrigen: Die in der Literatur befürwortete Reduktion des Anwendungsbereiches würde
den Gewaltenteilungsgrundsatz verletzen, vgl. hierzu: Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 94, 97
m.w.N.
188 Soweit es darum geht, etwaigen Sonderfällen gerecht zu werden (beispielhaft: der ein-
zig erreichbare, aber alkoholisierte Arzt wird zu einem Notfallpatienten gerufen), ist dies
keine Frage der Tatbestandsmäßigkeit. Etwaige Beschränkungen des Stratbarkeitsbereiches
sind hier über die Etablierung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen zu gewähr-
leisten.
316 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
Vergehen, sondern eine Ordnungswidrigkeit, und das ist so sicher, daß man minde-
stens Ziffer 2 der Vorschrift für verfassungswidrig halten muß".189 Auf eine nähere
Begründung dieser Einschätzung hat Wolff verzichtet, was insbesondere deshalb
bedauerlich ist, weil andere Autoren zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis
gelangen. So ist beispielsweise Lagodny der Auffassung, die Ausgestaltung des
Fahrens ohne Fahrerlaubnis als Kriminalstraftat sei verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Zur Begründung führt er aus: "Kraftfahrzeuge soll man erst führen,
wenn staatlicherseits die grundsätzliche Eignung festgestellt ist; es soll nicht dar-
auf ankommen, ob ein Individuum sich selbst in der Lage fühlt, ein Kraftfahrzeug
sicher zu führen .... Da es andererseits um die ,Jnanspruchnahme" einer Gefahren-
quelle geht, die für Leib und Leben von Verkehrsteilnehmern und Nichtverkehrs-
teilnehmern sehr erheblich ist, kann auch das "Gemeinwohlinteresse" der Verhal-
tensvorschrift nicht so gering veranschlagt werden, daß der strafrechtliche Vorwurf
nicht legitimiert werden könnte."l90
Entscheidend ist: Kann die Mißachtung der Einschätzungsprärogative der Ver-
waltung eine Pönalisierung legitimieren? Die Auffassung, bei Verhaltensweisen,
die einerseits nicht generell untersagt werden können, weil an ihnen ein anerken-
nenswertes Interesse besteht, die andererseits aber generell als gefrihrlich anzuse-
hen seien, könne der Gesetzgeber zu Kontrollzwecken zum Erlaubnisvorbehalt
greifen und diesen dann auch strafrechtlich absichern, ist weit verbreitet. 191 Will
man der Gefahr entgehen, bloßen Verwaltungsungehorsam allein um seiner selbst
willen zu ahnden, müssen die in Frage stehenden Verhaltensweisen allerdings ei-
nen über den rein formellen Genehmigungsverstoß hinausgehenden materiellen
Unwertgehalt aufweisen. Zu bejahen ist dies bei Verhaltensweisen, die nach den
vorrangigen Wertungen der Primärrechtsordnung kein Bestandteil der grund-
rechtlich geschützten Freiheitssphäre des einzelnen sind. Derartige Verhaltens-
weisen können allenfalls dann als erlaubt angesehen werden, wenn die Verwal-
tung, der insoweit vom Gesetzgeber die Befugnis erteilt worden ist, die der
grundrechtlich geschützten Handlungsfreiheit entzogene Verhaltensweise im Ein-
zelfall und ausgerichtet an den vom Gesetzgeber vorgegebenen Abwägungskrlte-
rien zu gestatten, eine entsprechende Genehmigung auch tatsächlich erteilt hat
(sog. repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt).192 Die Benutzung eines Kraft-
fahrzeuges ist nun allerdings unstreitig Teil der grundrechtlich geschützten Frei-
heitssphäre, so daß der materielle Unrechtsgehalt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis
nicht aus einer generellen Unwertigkeit des Fahrzeugführens an sich abgeleitet
werden kann.
Zu klären bleibt, was hinsichtlich der Verhaltensweisen gilt, die zwar einerseits
als Teil der grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre des einzelnen anzusehen
sind, die andererseits aber dennoch einem präventiven Erlaubnisvorbehalt unterlie-
gen. Kindhäuser will eine Pönalisierung hier dann für legitim erachten, wenn nur
über das Verwaltungsverfahren die für die künftige Gefahrlosigkeit im Umgang
mit Gütern notwendigen Erkenntnisse gewonnen werden können, wenn also erst
die Prüfung durch die Verwaltung einen Vertrauenstatbestand schaffe, der das Ein-
gehen des Risikos als hinnehmbar erscheinen lasse. 193 Legitim sei die Pönalisie-
rung des Verwaltungsungehorsams dann, "wenn der verwaltungsrechtlichen Gefah-
renkontrolle als solcher ein hoher Wert zukommt, was namentlich anzunehmen ist,
wenn durch die Gefahrenkontrolle elementaren Ängsten begegnet werden soll.,,194
Gegen diesen Ansatz ist einzuwenden, daß das bloße Abstellen auf subjektive Si-
cherheitsbedürfnisse kein hinreichend klares Abgrenzungskriterium zu bieten ver-
mag. 195 Ein materieller Unwertgehalt kommt einem Verstoß gegen den Erlaubnis-
vorbehalt nur dann zu, wenn die entsprechenden Verhaltensweisen überhaupt erst
nach vorgängiger behördlicher Kontrolle als noch bzw. schon tolerabel erscheinen-
de Gefahrenquellen anerkannt werden können. 196 Demgegenüber fehlt es an einem
materiellen Unwertgehalt, wenn der Genehmigungsvorbehalt allein anderen Zwek-
ken dient, wie insbesondere der Erleichterung der behördlichen Aufgabenerfül-
lung. 197 Hinsichtlich des Beispiels des Fahrens ohne Fahrerlaubnis dürfte unstrei-
tig sein, daß der Genehmigungsvorbehalt nicht der Erleichterung der behördlichen
Aufgabenerfüllung dienen, sondern vielmehr sicherstellen soll, daß nur die Perso-
nen ein Kraftfahrzeug führen, bei denen aufgrund der Anforderungen, die an die
Erteilung der Fahrerlaubnis geknüpft sind, davon ausgegangen werden kann, daß
das hieraus resultierende Risiko hingenommen werden kann. Jedenfalls im Hin-
blick auf die Tat nach § 21 Abs. 1 Ziff. 1 StVG wird man damit von einem legiti-
men Gefährlichkeitsdelikt ausgehen müssen. 198 Soweit Wolff in seiner Kritik an
§ 21 StVG insbesondere die Verfassungswidrigkeit "der Ziffer 2" hervorhebt, kann
die Berechtigung dieser Bewertung an dieser Stelle noch nicht entschieden werden.
§ 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG stellt die Überlassung eines Kraftfahrzeugs an einen ande-
ren unter Strafe, der seinerseits die erforderliche Fahrerlaubnis nicht besitzt. § 21
193 Vgl. Kindhäuser, Gefährdung, S. 325 sowie Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337,
343. Der Sache nach ist dies der Gedanke, der auch hinter den von den Verfassern des Alter-
nativentwurfs vorgeschlagenen Prüfstellendelikten stand, vgl. Horn, Festschrift für Welzel,
S. 733 f. sowie die Begründung des Altemativentwurfs, S. 75.
194 Tiedemann I Kindhäuser, NStZ 1988, 337, 343; vgl. auch Kleine-Cosack, Kausalitäts-
probleme, S. 180.
195 Kritisch hierzu bereits Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 109 Fußn. 319 a.E.
198 Geht man mit dem hier vertretenen Ansatz davon aus, daß sich Kriminalstraftaten und
Ordnungswidrigkeiten nicht qualitativ, sondern quantitativ unterscheiden, kann es angemes-
sen sein, das Fahren ohne Fahrerlaubnis als Ordnungswidrigkeit zu ahnden - zwingend ist
dies indes nicht.
318 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
Abs. 1 Nr. 2 StVG stellt damit im Rahmen der hier zugrundeliegenden Systematik
überhaupt kein konkretes Gerahrlichkeitsdelikt dar, sondern vielmehr ein Vorberei-
tungsdelikt.
4. Das Kumulationsdelikt
Der hier - im Anschluß an die von Kuhlen geprägte Begrifflichkeit - als Kumu-
lationsdelikt bezeichnete Deliktstypus ist im Verlauf der Untersuchung erstmalig
im Zusammenhang mit den Straftatbeständen des Umweltstrafrechts hervorgetre-
ten. 199 Im weiteren Verlauf der Untersuchung hat sich dann gezeigt, daß es sich
hierbei nicht nur um einen im Rahmen der "modernen" Strafrechtsgesetzgebung
immer wieder auftauchenden Deliktstyp handelt, sondern vielmehr um den
Deliktstyp, der allgemein mit dem Schutz kollektiver Interessen verbunden ist. Mit
dem Kumulationsdelikt sollen Verhaltensweisen erfaßt werden, die zwar für sich
gesehen das jeweils geschützte - zumeist: kollektive - Gut in seiner Integrität we-
der real beeinträchtigen noch auch nur konkret gefahrden können, bei denen aber
andererseits eine Beeinträchtigung nicht auszuschließen ist, wenn sich eine Viel-
zahl von Personen entsprechend verhalten würde. Wie ebenfalls bereits dargelegt
wurde,2oo kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht unter Bezugnahme auf
den aus der Kumulation der unabhängig voneinander erbrachten Einzelbeiträge
(möglicherweise) resultierenden Gesamtschaden begründet werden. Die Frage
bleibt: Können Verhaltensweisen, die nur in Kumulation mit dem Verhalten ande-
rer zu Schädigungen führen können, überhaupt legitimerweise pönalisiert wer-
den?201
Wie bereits oben dargelegt wurde, hatte bereits Kuhlen einerseits anerkannt,
"daß reine Kumulationsbeiträge schwerlich den Handlungs- und Gesinnungsun-
wert aufweisen, der ,die schwere moralische Disqualifizierung durch die öffentli-
che Strafe' erforderlich macht." Andererseits könne aber - so Kuhlen - angesichts
der aus dem Phänomen der großen Zahe02 resultierenden gravierenden sozialen
Probleme - wie z. B. der drohenden Umweltzerstörung - gar nicht darauf verzich-
tet werden, die zur Erhaltung der in Frage stehenden (kollektiven) Güter notwendi-
gen Verhaltensnormen durch Sanktionsnormen abzusichern. 203 Insoweit gilt aber
auch hier: Der Versuch, die Legitimität der Pönalisierung von Kumulationsbeiträ-
gen aus der faktischen ,,Notwendigkeit" abzuleiten, Verhaltensnormen durch Sank-
tionsnormen abzusichern, verwechselt Funktionalität mit Legitimität. Der Hinweis
darauf, daß es darum gehe, die schädlichen Konsequenzen zu vermeiden, die ein-
treten würden, wenn sich alle oder doch eine größere Anzahl von Personen ent-
sprechend verhalten,204 mag das Motiv offenlegen, das den Gesetzgeber veranlaßt
(hat), entsprechende Sanktionsnormen zu schaffen. Abgesehen davon, daß auf die-
sem Wege jedenfalls im Grundsatz die Sanktionsbewehrung jeglichen Verhaltens-
verbots "legitimiert" werden könnte,20S ist damit aber noch keine Begründung da-
für ersichtlich, daß dzr Gesetzgeber diese Zielsetzung legitimerweise gerade mit
dem Mittel der Pönalisierung verfolgen darf. Gleiches gilt für die Erwägung, der
Egoismus des einzelnen tendiere dahin, die für den Erhalt bestimmter Güter not-
wendige Normbefolgung den anderen Gesellschaftsmitgliedern zu überlassen, sich
selbst aber von der Normbefolgung freizustellen. 206 Abgesehen davon, daß zum
einen der umschriebene Verhaltensmodus nicht ohne weiteres auf jede Verhaltens-
norm übertragen werden kann,207 und zum anderen die Bereitstellung bzw. Erhal-
tung kollektiver Güter gar nicht an die durchgängige Mitwirkung sämtlicher
Mitglieder der Gesellschaft gebunden ist,20S bleibt festzuhalten, daß diese Argu-
mentation das Problem des sog. "Trittbrettfahrens" allein beschreibt. Die Schluß-
folgerung, daß die Absicherung der entsprechenden Verhaltensnormen durch Sank-
tionsnormen angemessen sei, bedarf einer über funktionalistische Erwägungen hin-
ausgehenden, eigenständigen Begründung.
Die nachfolgend zu entwickelnde Begründung der grundsätzlichen Legitimität
von Kumulationsdelikten kann an einige Äußerungen Feinbergs anknüpfen. Fein-
berg ist der Auffassung, Trittbrettfahren ("freeloading") sei "generally thought to
be the clearest example of unfair advantage-taking. ,,209 Entscheidend für diese
Bewertung sei - so Feinberg -, daß der Trittbrettfahrer seine Mitmenschen aus-
beute: "In various cooperative undertakings, each person must do his own share
if all are to gain, but it is possible for a person to cheat, not do his share, and thus
208 Vgl. Baurrnann, Markt, S. 564 f.: Ausreichend ist bereits die loyale Mitwirkung einer
Minderheit, im Einzelfall kann ein kollektives Gut rein faktisch sogar durch ein einzelnes In-
dividuum bereitgestellt werden.
209 Feinberg, Vol. 4, S. 183 (Hervorhebung im Original).
320 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
take his benefit as "free" only because the others are doing their shares. By chea-
ting, the freeloader exploits the others' cooperativeness to his own benefit. He
"takes advantage of them," as we say. If many of his partners did the same, then
the result would be hann to the interests of everyone in the group. But when no
others do the same, hannful effects of one free-ridermay be so trivial and diluted
as to count for nothing. When one rider (only) avoids paying his train fare, the
others' shares of the costs of the railroad, reflected in the owner's adjusted prices,
may go up only a tiny fraction of a penny because of his nonpayment. But the
others have voluntarily foregone the benefits he got in expectation that he would
forgo them too. Their grievance is not that their interests were hanned, and surely
not that they were morally offended by what he did (They were offended because
of the perceived wrong done them; the basis of the wrong was not simply that
they were offended.) Their grievance is simply that he took unfair advantage of
their trust and profited only because of their forbearance.,,210 An späterer Stelle
heißt es dann: "Part of what seems outrageous in the cheating and freeloading
cases is that A, who is morally defective, should gain relative to B and others
precisely because B and the others are morally superior to hirn. This puts the mo-
ral uni verse out of joint: untrustworthiness ist rewarded and honesty is penalized
(or at least unrewarded).,,211 The "distinctively offensive element ist not that B
has suffered a loss but that A has made a profit. We are not indignant that B must
pay an additional penny on his telephone bill, but that A has made a good thing
for hirnself out of his nonpayment.,,212
Die Frage ist nun: Kann die Berechtigung zur Pönalisierung von Kumulations-
beiträgen aus dem Gesichtspunkt abgeleitet werden, daß der "Trittbrettfahrer" sich
der Mitwirkung an der Erhaltung eines kollektiven Gutes verweigert? Feinberg ist
der Auffassung, daß sich die Pönalisierung der hier in Frage stehenden Kumulati-
onsbeiträge über das hann-Prinzip legitimieren läßt: "The hann principle also can
be stretched without strain to handle the cases of cheating and freeloading ( ... )
When a cheater takes unfair advantage of the law-abiding forbearance of others to
achieve a gain for hirnself, he may not directly cause hann to anyone, but if his
conduct were to become common, then it would have immensely hannful conse-
quences for social practices and institutions in which all have a stake. The ultimati-
ve rationale of rules proscribing such conduct is to protect us from social hanns be
preventing the frequent occurrence of cheating.,,213 Indes: Wie bereits dargelegt
wurde, kann der letztlich zu erwartende Gesamtschaden nicht zur Begründung der
auf die Mitwirkung an der Bereitstellung und Erhaltung kollektiver Güter abzielen-
den Verhaltensnormen herangezogen werden. Des weiteren ist festzustellen, daß
eine allein an den Umstand der Mißachtung der Verhaltensnorm anknüpfende Le-
219 In diese Richtung argumentiert möglicherweise auch Papageorgiou, Schaden, S. 282 ff.,
der die Legitimation der Pönalisierung von Kumulationsbeiträgen damit begründet, daß der
Verlust an individueller Autonomie im Hinblick auf den Bestand einer kollektiven Sicher-
heitsmoralität hinnehmbar sei. Anderer Ansicht aber wohl Buchanan, Ethics, Vol. 76 (1965-
21 Wohler,
322 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
Erkennt man an, daß die Legitimation strafrechtlicher Sanktionen dem Täter ge-
genüber in der Wiederherstellung des durch sein Verhalten gestörten Rechtsgleich-
heitsverhältnisses liegt,22o wird schnell deutlich, daß die Pönalisierung von Kumu-
lationsbeiträgen auf dieser Ebene keinen grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt ist.
Als problematisch erweist sich damit nicht die Legitimation der Pönalisierung von
Kumulationsbeiträgen als solche, sondern vielmehr die Auswahl der konkret zu
pönalisierenden Verhaltensweisen. Wie oben bereits dargelegt wurde, bedarf die
Etablierung konkreter Straftatbestände einer zweifachen Legitimation: zum einen
muß sich die Androhung und gegebenenfalls Verhängung einer Strafsanktion als
Maßnahme zur Wiederherstellung des gestörten Rechtsgleichheitsverhältnisses
rechtfertigen lassen - wie soeben dargelegt, ist dies vorliegend zu bejahen. Zum
zweiten muß sich der mit der Strafandrohung und Sanktionierung verbundene Ein-
griff als eine gesellschaftlich gesehen sinnvolle und im Hinblick auf das Verhalten
des Täters verhältnismäßige Einschränkung seiner grundrechtlich geschützten Frei-
heitssphäre begründen lassen. 221 Hinsichtlich einer Pönalisierung von Kumulati-
onsbeiträgen sind insoweit zwei Problembereiche von besonderer Relevanz: zum
einen kann ein Kumulationsbeitrag nur dann als hinreichend sozialschädlich ange-
sehen werden, wenn die Annahme von Kumulationseffekten hinreichend reali-
stisch ist; zum zweiten stellt sich die Frage, ob ein Kumulationsbeitrag ein be-
stimmtes minimales Eigengewicht haben muß, wenn er als strafwürdig behandelt
werden soll.
Daß die Pönalisierung auf Verhaltensweisen zu beschränken ist, bei denen reali-
stischerweise mit Kumulationseffekten zu rechnen ist, steht zwar im Grundsatz au-
ßer Streit. 222 Als problematisch erweist sich aber die Suche nach praktisch hand-
habbaren Maßstäben. 223 Einen ersten Eindruck der in diesem Zusammenhang auf-
tretenden diffizilen Problemstellungen vermitteln die folgenden Ausführungen
Feinbergs: "The legislator must consider not only how many people would refrain
from doing certain actions even if those actions were legally permitted, but also
why they would refrain. Some types of behaviour are socially harmful if generally
66), 1,9: "The individual is simply reacting to an enviroment in which he finds hirnself, to
,,nature", so to speak, not in any way against his fellow citizens."
220 Vgl. hierzu oben S. 54 ff.
done, socially innocuous if done only by a few, and yet such that not many would
want to engage in them, or would find it in their interests to do so, even if they
were permitted. The harm principle provides no warrant for the prohibition of such
conduct. On the other hand, some types of behaviour are harmful if widely done,
harmless if done by only a few, and in almost everyone's interest to do; yet even if
permitted, these acts would not be done by enough people to cause harm, because
many or most people would refrain out of moral scruples or civic spirit from doing
what is in their interest. In this example, it is only because many or most people
sacrifice their own interests out of higher motives in refraining from doing what ist
legally permitted, that the conduct in question is "harmless." If the legislature's
application of the harm principle is informed by a sense of justice, the conduct in
question will not be permitted.,,224
In grundsätzlicher Hinsicht sind zunächst einmal zwei Kategorien von Progno-
seentscheidungen zu unterscheiden: zum einen die Prognose, bei der die Auswir-
kungen der in Frage stehenden Verhaltensweisen bekannt sind, bei denen es also
allein um die Frage geht, wie sicher davon ausgegangen werden kann, daß es zu
einer hinreichenden Vielzahl von Einzelbeiträgen kommen wird; zum zweiten die
Prognose, bei der bereits unsicher ist, welche Auswirkungen die in Frage stehen-
den Verhaltensweisen haben werden. Auch wenn eine randscharfe Zuordnung in
der Praxis nur in den seltensten Fällen möglich sein wird, lassen sich einzelne
Straftatbestände doch zumindest schwerpunktmäßig der einen oder anderen Kate-
gorie zuordnen. Ein Beispiel für die erste Kategorie dürften die Straftatbestände
zum Schutz bestimmter Umweltmedien darstellen. Beispielhaft: Daß - und grund-
sätzlich auch: wie - die Einleitung bestimmter Stoffe in ein Gewässer dessen Ei-
genschaften verändern kann, ist von den empirischen Wissenschaften hinreichend
geklärt. Die Frage ist, ob tatsächlich mit einer Anzahl von Einzelbeiträgen zu rech-
nen ist, die in der Kumulation das Kollektivgut beeinträchtigen würden. Für die
Beantwortung dieser Frage gelten die bereits oben dargelegten Grundsätze, d. h.:
die Einschätzungsprärogative liegt einerseits grundsätzlich beim Gesetzgeber; die-
ser hat aber andererseits kein freies Ermessen, sondern muß sich an den Erkennt-
nissen der empirischen Wissenschaften orientieren und gegebenenfalls dafür sor-
gen, daß entsprechende Erkenntnisse gewonnen werden (Verifizierungsverpflich-
tung).225
Beispiele für die zweite Prognosekategorie sind die Straftatbestände des Sub-
ventions-, Kapitalanlage- und Kreditbetrugs (§§ 264, 264a, 265b dStGB). Bei die-
sen Straftatbeständen ist nicht nur unsicher, ob es überhaupt in einer als relevant
anzusehenden Anzahl von Einzelfällen zu entsprechenden Täuschungsversuchen
kommen würde. Als problematisch erweisen sich darüber hinaus auch die zur Le-
gitimation dieser Straftatbestände immer wieder ins Feld geführten "Sog-, Anstek-
kungs- und Spiralwirkungen", für die es bisher soweit ersichtlich ebenfalls an em-
21'
324 7. Kap.: Grenzen des Geflihrdungsstrafrechts
pirischen Belegen fehlt. 226 Noch krasser liegt es bei den Straftatbeständen des bun-
desdeutschen Embryonenschutzgesetzes. Der zur Legitimation dieser Straftatbe-
stände herangezogene Gesichtspunkt des potentiellen Wertewandels bzw. -verlu-
stes basiert allein und ausschließlich auf der Annahme, die in Frage stehenden Ver-
haltensweisen könnten einen Dammbruch zur Folge haben, der dann letztlich zu
anerkanntermaßen katastrophalen Ergebnissen führen würde (Menschenzüchtung,
gesellschaftliche Nichtakzeptanz Behinderter usw.). Empirische Erkenntnisse, die
diese Vermutung bestätigen oder widerlegen könnten, sind indes nicht vorhanden.
Zu klären ist, welcher Stellenwert derartigen Argumentationsmustern ("Damm-
brucherwägungen", "Schiefe-Bahn-Argumentationen") im Rahmen der Legitimati-
on von Pönalisierungsentscheidungen zukommen kann. Für die Berücksichtigung
derartiger Argumentationsmuster sprechen zwei Gesichtspunkte: zum einen die Er-
wägung, daß man Verhaltensmaßstäbe verteidigen muß, wenn und solange man sie
noch hat;227 zum anderen der Umstand, daß bestimmte Interessen ein derartiges
Gewicht haben können, daß auch bereits geringe Risiken inakzeptabel erscheinen
müssen. 228 Andererseits stellt die Argumentation mit ,,Dammbruchgefahren" aber
ein nahezu beliebig verwendbares ad hoc-Argument dar, mit dem dann angesichts
der grundsätzlich nie auszuschließenden Möglichkeit eines "mißbräuchlichen"
Verhaltens das Verbot praktisch jeder technischen Neuerung legitimiert werden
könnte. 229 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die bloße Behauptung eines
"Schiefe-Bahn-Effektes" erst dann zu einem "Schiefe-Bahn-Argument" wird,
wenn als Beleg für diese Behauptung mehr vorgetragen werden kann "als nur die
logische Möglichkeit, daß ... etwas schiefgehen könnte, denn diese logische Mög-
lichkeit besteht überall und jederzeit; n;tan sollte vielmehr mindestens Indizien an-
geben können und den Mechanismus des Ins-Rutschen-Kommens auf Basis mög-
lichst guter psychologischer und gesellschaftswissenschaftlicher Theorien zu skiz-
zieren versuchen".23o
229 Vgl. Wolf, in: Hegselmann/Merkel. S. 194. Anzumerken ist. daß konsequenterweise
nicht nur etwaige Neuerungen, sondern jede wie auch immer geartete Verwendung bestehen-
der technischer Verfahren als potentielle Quelle verwerflicher Mißbräuche und I oder Ent-
wicklungen anzusehen wäre.
230 Hegselmann, in: Hegselmann/Merkel, S. 207 f.
11. Abstrakte Gefährdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 325
231 Vgl. Kuhlen, GA 1986, 389, 407 f.; ders., WiVerw 1991, 181, 199 und 201; ders.,
ZStW 105 (1993),697,717; Lenckner, in: Schönkel Schröder, Vorbern. §§ 13 ff. Rdnr. 83.
232 So die plastische Kennzeichnung von Heine, Vollzugsdefizite, S. 22.
m Vgl. Kasper, Erheblichkeitschwelle, S. 77 ff., der allerdings auch zutreffend darauf hin-
weist, daß in der praktischen Anwendung des § 324 dStGB die Erheblichkeitsschwelle eher
niedrig angesetzt wird, was dahin führt, daß die Einbeziehung bagatellartiger Verhaltenswei-
sen eher die Regel als die Ausnahme darstellt.
234 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 49 sowie Saal, Straftat, S. 112/113, jeweils
unter Bezugnahme auf die umfassenden Arbeiten von Kunz und Krümpelmann.
235 Vgl. Brahms, Definition, S. 139 f.; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 50 ff.; Frisch,
Festschrift für Stree/Wessels, S. 106; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 43 ff.; Krümpel-
man, Bagatelldelikte, S. 38 ff.; Kunz, Bagatellprinzip, S. 244 f. und passim; Roxin, StrafR
AT, Teilbd. 1, § 10 Rdnr. 41; Saal, Straftat, S. 122,124.
236 Vgl. Z. B. Brahms, Definition, S. 142 ff., die im Hinblick auf Gewässerverunreinigun-
gen die Aufstellung von Toleranzwerten im Rahmen von Bewirtschaftungskonzeptionen be-
fürwortet.
237 Vgl. Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 50 Fußn. 80, 52 f.; Ronzani, Erfolg, S. 62,
105 f.
238 Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 134 ff.; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 189.
239 Rogall, Festschrift Universität Köln, S. 519 f.; Kuhlen, ZStW 105 (1993),697,717 f.;
Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 236 ff.
326 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
250 Zu der entsprechenden Regelung in § 180 Abs. 2 öStGB vgl. Ronzani, Erfolg, S. 67.
251 Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 214.
252 Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 214 ff.; vgl. auch Frisch, Verwaltungsakzessorietät,
S. 141; Kuhlen, ZStW 105 (1993), 697, 717.
m Vgl. Frisch, Verwaltungsakzessorietät, S. 139; Kasper, Erheblichkeitsschwelle, S. 215.
328 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
gründen läßt, erweist sich die vorgeschlagene Zuordnung gravierender und weni-
ger gravierender Verschmutzungsbeiträge als sachangemessen und geboten - je-
denfalls soweit eine Rechtsordnung die Unterscheidung von Kriminalstraftaten
und Ordnungswidrigkeiten kennt. Andererseits: Rechtsordnungen, in denen diese
Trennung nicht existiert, sind keinesfalls gehalten, die weniger gravierenden Ver-
schmutzungsbeiträge straflos zu stellen - wären diese einer repressiven Ahndung
von vornherein nicht zugänglich, käme nämlich auch die Ahndung als Ordnungs-
widrigkeit nicht in Betracht. 254
5. Das Vorbereitungsdelikt
Wie oben dargelegt wurde, liegt das spezifische Risikopotential der hier als Vor-
bereitungsdelikte bezeichneten Verhaltensweisen darin, daß entweder der Handeln-
de selbst oder aber eine andere Person an das Ergebnis der in Frage stehenden Ver-
haltensweise anknüpfen und hieraus dann die Beeinträchtigung eines Interesses re-
sultieren kann. Der Unterschied zum Kumulationsdelikt besteht darin, daß die vor-
liegend zu untersuchenden Verhaltensweisen keinen unmittelbaren (Teil-)Beitrag
zur Schädigung des in Frage stehenden Interesses leisten, sondern lediglich eine
Situation schaffen, auf die zu deliktischen Zwecken aufgebaut werden kann. Bei-
spielhaft: Selbst die massenhafte Herstellung falscher Banknoten oder gefährlicher
Gerätschaften - wie z. B. Waffen - ist für sich gesehen ungeeignet, irgendwelche
rechtlich zu schützenden Interessen real zu beeinträchtigen. Hierfür bedarf es viel-
mehr bestimmter Anknüpfungshandlungen: Banknoten müssen in den Verkehr ge-
bracht, Waffen müssen benutzt werden. Unter Strafe gestellt ist aber nach gelten-
dem Recht nicht nur das Inverkehrbringen falscher Banknoten bzw. das Benutzen
einer Waffe, sondern bereits das bloße Herstellen von Falschgeld (§ 146 Abs. 1
Nr. 1 dStGB I Art. 240 Abs. 1 schwStGB) und sogar Vorbereitungshandlungen zum
Herstellen von Falschgeld (§ 149 dStGBI Art. 247 schwStGB); neben dem bloßen
(unberechtigten) Besitz einer Waffe ist auch das nicht genehmigte Herstellen, In-
standsetzen, Erwerben, Vertreiben und Überlassen von Waffen strafbar (vgl. §§ 52a
f. WaffG). Neben einigen weiteren Normen des Kernstrafrechts (vgl. etwa § 267
Abs.l 1. Alt. dStGBI Art. 251 schwStGB)255 finden sich weitere Vorbereitungsde-
likte insbesondere in den Gesetzen des Nebenstrafrechts, in denen der Umgang mit
bestimmten Stoffen oder Gegenständen unter Strafe gestellt wird. Lediglich bei-
spielhaft sei hier auf die § 29 dBtmG I Art. 19 schwBetmG verwiesen?56
Die Frage ist nun: Können Verhaltensweisen, die, wie z. B. der bloße Besitz ei-
nes als potentiell gefährlich anzusehenden Objektes, für sich gesehen rechtlich re-
levante Interessen gar nicht zu schädigen vennögen, legitimerweise unter Strafan-
drohung gestellt werden?2s7 Nach der in der Rechtsprechung und auch im Schrift-
tum vorherrschenden Meinung können Vorbereitungshandlungen zwar dann, wenn
die Anforderungen der §§ 25 ff. dStGB erfüllt sind, eine strafrechtliche Verant-
wortlichkeit im Hinblick auf einen im konkreten Einzelfall eingetretenen delikti-
schen Erfolg begründen. Voraussetzung ist hier aber stets ein Handeln in bezug auf
den konkret eingetretenen deliktischen Erfolg.2s8 Entscheidend ist damit, ob die
Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit auch dann zu legitimieren ist,
wenn es an dem von den §§ 25 ff. dStGB vorausgesetzten subjektiven Bezug fehlt.
Zu berücksichtigen ist hier, daß die Strafbewehrung, wenn und sOweit sich die Ver-
haltensweisen, mit denen entweder der Handelnde selbst oder aber andere Perso-
nen an die Vorbereitungshandlung anknüpfen, als eigenverantwortliches Handeln
darstellen,2s9letztlich darauf hinausläuft, bestimmten Personen die Verantwortlich-
keit für die vorweggenommene Abwehr potentiellen deliktischen Verhaltens ande-
rer Personen aufzuerlegen.260
Dem könnte nun allerdings das in der modemen Dogmatik weithin anerkannte
Prinzip der Selbst- bzw. Eigenverantwortlichkeit entgegenstehen: Dieses soll- so-
zusagen als Kehrseite der für das Strafrecht konstitutiven Autonomiefiktion - be-
sagen, daß "der dem einzelnen zugewiesene Verantwortungsbereich und die ihn
darin treffenden Verhaltenspflichten in der Weise zu begrenzen sind, daß man sich
grundsätzlich nicht darauf einstellen muß, daß andere sich Dritten oder sich selbst
gegenüber sorgfaltswidrig verhalten". 261 Hieraus ergebe sich, "daß der Verantwor-
tungsbereich des einzelnen sich grundSätzlich auf sein eigenes Handeln beschränkt
und nur unter besonderen Umständen auch dasjenige anderer mitumfaßt. .. Dage-
gen gibt es grundsätzlich kein Verbot von Handlungen, durch die andere zu sich
selbst oder Dritte gefährdendem Verhalten veraniaßt werden können. Denn wie je-
mand auf mein Verhalten reagiert, unterliegt grundSätzlich allein seiner Verantwor-
tung.,,262 "Soll abweichend von diesem Grundsatz auch sein (= des mittelbaren
Mitverursachers) Beitrag als Unrecht angesehen werden, er also Verantwortung
oder Mitverantwortung für das Tun eines anderen tragen, so bedarf dies folglich
besonderer Gründe",263 die es rechtfertigen können, "den Verantwortungsbereich
257 Lagodny, Strafrecht, S. 321 ff., 335 hält reine Besitzdelikte für verfassungswidrig. weil
diese auf eine allein dem Polizeirecht angemessene Zustandshaftung hinauslaufen.
258 Vgl. Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 148.
259 Fehlt es hieran, kann sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vorbereitungstäters
unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren Täterschaft ergeben.
260 Vgl. Bloy, Beteiligungsform, S. 138; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 312.
261 Schumann, Handlungsunrecht, S. 5; vgl. auch Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15
Rdnr. 148; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr. 101; ders., Festschrift
für Engisch, S. 506.
262 Schumann, Handlungsunrecht S. 6; vgl. auch a. a. 0., S. 42, 69.
330 7. Kap.: Grenzen des Gefährdungsstrafrechts
des mitverursachenden Hintermanns auf das Handeln einer anderen Person zu er-
strecken" .164
Die Problematik, unter welchen Voraussetzungen der Bereich strafrechtlicher
Verantwortlichkeit einer Person das Verhalten anderer Personen mitumfaßt, ist so-
weit ersichtlich bisher vornehmlich im Hinblick auf die Zurechenbarkeit konkreter
deliktischer Erfolge behandelt worden. Zwar werden im Hinblick auf die Pönali-
sierung von Vorbereitungshandlungen als solche - d. h.: von Pönalisierungen ohne
Bezugnahme auf die Mitverursachung einer Schädigung im Einzelfall und ohne
Anknüpfung an einen konkreten Planungszusammenhang - nicht ohne weiteres die
gleichen Maßstäbe gelten können. Eine Auseinandersetzung mit den im Rahmen
der Zurechnungslehren gewonnenen Erkenntnissen dürfte aber dennoch weiterfüh-
rend sein. Man wird nämlich davon ausgehen können, daß überhaupt nur die Ver-
haltensweisen, die im Falle eines entsprechenden subjektiven Bezuges zu einer
konkreten Rechtsgutsverletzung eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für einen
konkret eingetretenen deliktischen Erfolg begründen können, auch als Gegenstand
eines eigenständigen Vorbereitungsdeliktes in Betracht kommen können.
Ausgangspunkt der Diskussion über die Zurechnung mittelbar bewirkter delikti-
scher Erfolge ist die Lehre vom Regreßverbot gewesen. Den Vertretern dieser Leh-
re ging es in erster Linie darum, die These zu begründen, daß jedenfalls eine fahr-
lässig ermöglichte Vorsatztat eines Zweithandelnden eine strafrechtliche Verant-
wortlichkeit des Ersthandelnden nicht zu begründen vermöge. 26S Die auf eine Un-
terbrechung des Kausalzusammenhangs abstellende ursprüngliche Variante der
Lehre vom Regreßverbot wird zwar heute soweit ersichtlich allgemein als nicht
überzeugend abgelehnt. 266 Andererseits wird aber zunehmend anerkannt, daß die
aus dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortlichkeit resultierende Beschränkung
individueller Verantwortungsbereiche auf die Bewertung sowohl der fahrlässigen
als auch der vorsätzlichen Mitwirkung am Vorsatzdelikt eines anderen auswirken
muß und unter bestimmten Voraussetzungen eine Unterbrechung des Zurechnungs-
zusammenhangs bewirken kann. 267 Allerdings gilt noch immer das 1981 von Stra-
tenwerth gezogene Fazit: "Die weitere Frage, nach welchen Kriterien die Verant-
wortungsbereiche gegeneinander abzugrenzen sind, ist vorerst allerdings noch we-
nig geklärt. ,,268
Neben dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit des (deliktischen) Handeins an-
derer Personen werden als Maßstäbe zum einen die Sozialadäquanz des Verhaltens
und zum anderen ein sog. Vertrauensgrundsatz diskutiert. Die Lehre von der So-
zialadäquanz soll besagen, daß Verhaltensweisen, die sich völlig im Rahmen der
normalen, geschichtlich gewachsenen sozialen Ordnung des Lebens bewegen,
auch dann eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht zu begründen vermögen,
wenn sie vom Wortlaut einer Strafnorm mitumfaßt sind. 269 Abgesehen von der völ-
ligen Unbestimmtheit dieses Maßstabes - wann ist eine Verhaltensweise "im sozia-
len Leben gänzlich unverdächtig,,?27o - muß dieser Ansatz jedenfalls daran schei-
tern, daß zum einen grundsätzlich jede Verhaltensweise in einen deliktischen Sinn-
zusammenhang integriert werden kann und zum anderen das im Verkehr Übliche
nicht zwingend mit dem vom Recht Gewollten identisch sein muß. 271 So kann bei-
spielsweise der Verkauf eines Gegenstandes nicht allein deshalb aus dem Bereich
strafrechtlich relevanten Verhaltens ausgeschieden werden, weil die Durchführung
von Kaufgeschäften ein für sich allein gesehen sozial unauffälliges bzw. übliches
Geschehen darstellt; entscheidend ist vielmehr, wie die Verantwortungsbereiche
von Käufer und Verkäufer gezogen werden. Soll der Verkäufer strafrechtlich dafür
einzustehen haben, daß mit dem Kaufgegenstand keine deliktischen Pläne verfolgt
werden? Im Ergebnis wird die Bestimmung des Verantwortungsbereichs zum einen
vom jeweiligen Kaufgegenstand abhängen müssen - der Verkauf einer Schußwaffe
kann nicht ohne weiteres dem Verkauf eines Stemmeisens und dieses Geschehen
wiederum nicht dem Verkauf eines Schraubenziehers gleichgesetzt werden. Zum
anderen muß die Bestimmung der Verantwortungsbereiche anhand normativer
Maßstäbe erfolgen, d. h.: es geht um die Abgrenzung der wegen ihrer Unverzicht-
barkeit für die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenlebens in einer bestimm-
ten Gesellschaft für unerläßlich erachteten und deshalb erlaubten Risiken von den
nicht mehr erlaubten. 272
Noch deutlicher wird die Notwendigkeit einer normativen Abgrenzung, wenn
man die Bemühungen verfolgt, die strafrechtliche Irrelevanz bestimmter Verhal-
273 Cramer, in: Schönke/Schröder, § 15 Rdnr. 151; Graven, L'infraction, S. 217; Rehberg,
Strafrecht I, S. 244; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 49; TrechsellNoll, StrafR AT
I, S. 240; Wehrle, Regressverbot, S. 54 ff.
274 Schumann, Handlungsunrecht, S. 7; vgl. auch Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 150; Ro-
xin, Festschrift für Tröndle, S. 1861187; Stratenwerth, SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 49;
Wehrle, Regressverbot, S. 52 f.
275 Bloy, Beteiligungsform, S. 139 f.; Daxenberger, Kumulationseffekte, S. 144; Jakobs,
StrafR AT, 7/51; Stratenwerth, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 392 f.
276 Zur Frage, wann dies im einzelnen anzunehmen ist, vgl. Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,
14; ders., ZStW Beiheft 1974,6, 16 ff.; ders., StrafR AT, 7/54 ff.; Puppe, in: NK, Vor § 13
Rdnrn. 150, 152; Stratenwerth, Festschrift für Eb. Schmidt, S. 392, 397 ff.; ders., StrafR AT,
Rdnrn. 1157 ff.; ders., SchwStrafR AT I, § 16 Rdnrn. 50 ff.
277 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 237 f.
278 Rudolphi, in: SKStGB, Vor § 1 Rdnr. 73; vgl. auch Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 156
sowie umfassend: Schmoller, Festschrift für Triffterer, S. 227 ff., 239 ff.
11. Abstrakte Gefahrdungsdelikte als Typen der Risikoschaffung 333
dagegen der Fall, "in dem ein Jäger in einer Wirtsstube, während ein heftiger Streit
im Gange ist, ein geladenes Gewehr an die Wand hängt: Sofern nämlich aufgrund
des Streits ein Gebrauchmachen von der Waffe absehbar ist, handelt es sich um
einen Fall des Voraussehbaren nachträglichen Fehlverhaltens. ,,280
Die zunächst stringent erscheinende Unterscheidung zwischen konkret vorher-
sehbarem einerseits und nicht vorhersehbarem Fehlverhalten Dritter andererseits
verliert seine Plausibilität spätestens dann, wenn Fälle in die Betrachtung einbezo-
gen werden, deren Zuordnung nicht so offensichtlich iSt. 281 In der Entscheidung
RGSt 34, 91, 94 hat der 4. Strafsenat des Reichsgerichts es für hinreichend vorher-
sehbar gehalten, daß ein an der Garderobe in der Tasche eines Mantels abgegebe-
ner geladener Revolver "auf irgend eine Weise in die Hände eines Anderen gelan-
gen, sich dabei entladen und daß in dem mit Menschen gefüllten Raume jemand
von dem Geschosse getroffen werden konnte". Die Entscheidung zeigt, daß es we-
niger auf die faktisch-empirische Vorhersehbarkeit eines konkreten deliktischen
Erfolgs ankommt, als vielmehr darauf, daß aus der Herrschaft über eine Gefahren-
quelle bestimmte Anforderungen an das Verhalten resultieren. Welche Anforderun-
gen dies im einzelnen sind, richtet sich nach der Art des gefährlichen Gegenstan-
des bzw. Stoffes. 282 Daß das Herumliegenlassen einer geladenen Schußwaffe -
völlig unabhängig von einem im Einzelfall konkret naheliegenden Mißbrauch -
mit den in § 42 WaffG zum Ausdruck kommenden Wertungen zu vereinbaren ist,
erscheint durchaus zweifelhaft,283 ist aber jedenfalls eine Frage, die ersichtlich
nicht anhand empirischer, sondern vielmehr normativer Maßstäbe zu entscheiden
ist.
Stratenwerth und auch Jakobs vertreten die Auffassung, daß die Mitwirkung an
der Deliktsverwirklichung durch einen anderen nur dann eine strafrechtliche Ver-
antwortlichkeit des Hintermannes begründen soll, wenn das mittelbar verursa-
chende Verhalten gar nicht anders als ein Beitrag zur Durchführung eines Delik-
tes interpretiert werden kann, wenn also der Charakter der Verhaltensweise als
,,Deliktsbeitrag nicht nur als möglicher, sondern als ihr einzig denkbarer Zweck
erscheint".284 Auch Lesch ist der Auffassung, daß es entscheidend darauf an-
komme, ob "ein Verhalten keine andere sozial sinnvolle Erklärung mehr zuläßt,
als diejenige, daß eine solidarische Assoziation mit den Organisations akten ande-
rer zur Desavouierung einer ganz bestimmten Norm gewollt ist. Solange ein Ver-
halten hingegen nach seiner objektiven Erscheinung unter Berücksichtigung des
sozialen Kontextes und der Rolle des Akteurs noch sinnvoll als ubiquitär bzw.
sozialadäquat interpretiert werden kann, geht den Handelnden der deliktische
Ausgang nichts an: Er braucht sich den normverletzenden Verhaltenssinn eines
anderen nicht aufdrängen lassen. ,,285 Aus dem Verkauf eines Messers durch den
Inhaber eines Haushaltswarengeschäftes resultiere auch dann keine strafrechtliche
Verantwortlichkeit, wenn zum Zeitpunkt des Verkaufs vor dem Geschäft eine
Schlägerei stattfindet: Das Verhalten des Geschäftsinhabers "ist mit seiner sozia-
len Rolle sinnvoll erklärbar und auf ein Verhalten des Täters bezogen, das an sich
legal ist, sowie auch ohne nachfolgende strafbare Handlungen sozial und indivi-
duell sinnvoll bleibt". 286
Andere Stimmen in der Literatur halten eine derartige Einschränkung des Verant-
wortungsbereichs für nicht sachgerecht, da man im allgemeinen nicht "auf das Aus-
bleiben einer Vorsatztat vertrauen dürfe, auch wenn Anhaltspunkte für das Gegen-
teil bestehen. Auch die Ermöglichung oder Erleichterung einer vorsätzlichen Straf-
tat, zu der sich ein anderer erkennbar entschließen könnte, muß die Fahrlässigkeits-
haftung begründen".287 Die Sorgfaltspflichtverletzung beginne "nicht erst, wenn
die Handlung objektiv keinen anderen Sinn haben kann, als Beihilfe zu einer vor-
sätzlichen Rechtsverletzung zu leisten".288 "Die Gefahr, Mittel, Gelegenheit oder
Motive zu einem Verbrechen zu liefern, unterscheidet sich als Grund von Sorgfalts-
pflichten durch nichts prinzipiell von der Gefahr, eine Mitursache für einen natürli-
chen Schadensprozeß zu setzen. Für beide Gefahrenarten gilt, daß das Recht sinn-
vollerweise nicht jede schlechthin denkbare Vorkehrung gegen sie verlangt; man
darf Brötchen oder Pralinenschachteln an potentielle Giftmörder verkaufen, aber
auch Autos, Motorräder oder Segelboote an potentielle Unfallverursacher. Gleich-
wohl gebietet das Recht auch eine gewisse Sorgfalt zur Vorbeugung gegen Verbre-
chen wie gegen Unglücksfälle. Einen allgemeinen Grundsatz, daß die Verbrechen
anderer einen nichts angehen, sofern man nicht vorsätzlich und in Zusammenarbeit
mit den Tätern an ihnen teilnimmt, oder daß man unter allen Umständen darauf ver-
trauen dürfe, daß andere keine Verbrechen begehen, gibt es nicht. ..289
Ob die Kritiker den von Stratenwerth, Jakobs und Lesch vertretenen Ansatz
richtig interpretieren, wenn sie davon ausgehen, daß eine strafrechtliche Verant-
284 Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 1164; vgl. auch Jakobs, ZStW 89 (1977), 1,23 ff.; je-
denfalls im Ergebnis übereinstimmend wohl auch Samson, ZStW 99 (1987), 617, 633.
285 Lesch, ZStW 105 (1993), 271, 285/286.
290 So neben Puppe, in: NK, Vor § 13 Rdnr. 156 auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhal-
ten, S. 290 bei und in Fußn. 209; Roxin, Festschrift für Tröndle, S. 190; ders., StrafR AT,
Teilbd. 1, § 24 Rdnr. 29.
291 Vgl. Jakobs, ZStW 89 (1977),1,20; ders., StrafR AT, 7/35; Lenckner, Festschrift für
Engisch, S. 493; Roxin, Festschrift flir Tröndle, S. 187; ders., StrafR AT, Teilbd. I, § 24 Rdnr.
26; Wehrle, Regressverbot, S. 74.
292 Stratenwerth, StrafR AT, Rdnr. 1164 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch ders.,
SchwStrafR AT I, § 16 Rdnr. 55.
293 Einerseits kann der Verkauf von Gegenständen mit einem eher niedrigen Gefährdungs-
potential (Brötchen, Pralinen etc.) in einen deliktischen Planungszusammenhang integriert
werden; andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß ein potentiell gefährlicher Gegenstand
zu anderen als deliktischen Zwecken genutzt wird (beispielhaft: der Waffennarr hortet seine
ungeladenen Pistolen in einem Tresor).
294 Die nachfolgende Differenzierung lehnt sich an die von Frisch, Tatbestandsmäßiges
Verhalten, S. 280 ff. entwickelte Kategorisierung an.
295 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 253,269 f.
336 7. Kap.: Grenzen des Gefahrdungsstrafrechts
erkannt werden. Hieraus folgt dann aber nicht nur, daß der Handelnde für die aus
etwaigen Anknüpfungstaten resultierenden deliktischen Erfolge verantwortlich ge-
macht werden kann?OO Als Anmaßung einer ihm nicht zustehenden Rechtsposition
kann sein Verhalten darüber hinaus auch Gegenstand einer eigenständigen Sankti-
onsnorm sein.
300 Vgl. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 250 ff., 334 f. mit dem Hinweis darauf,
daß es sich der Sache nach um eine Haftung nach UnterlassensgrundSätzen handelt.
22 Wohlers
8. Kapitel
Schlußbetrachtung
Wenden wir uns abschließend wieder der Ausgangsfrage der Untersuchung zu,
so ist zunächst festzuhalten, daß der Streit über die Legitimität des "modemen"
Strafrechts auf einer bereits im Ansatz verfehlten Prämisse aufbaut. Die als Kenn-
zeichen des "modemen" Strafrechts angesehene "Vorverlegung des Strafrechts in
den Gefahrdungsbereich" (Felix Herzog) erhält angesichts der aktuellen kriminal-
politischen Entwicklung zwar einen besonderen Stellenwert, unter dogmatischen
Gesichtspunkten handelt es sich hierbei jedoch um eine für jede Strafrechtsord-
nung grundlegende Problemstellung. In der Sache selbst haben sich alle Bemühun-
gen um eine pauschale Lösung der Problematik als verfehlt erwiesen: Weder kann
der Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz individueller Rechtsgüter zuge-
stimmt werden, 1 noch hat sich das Geflihrdungsstrafrecht als solches als eine per
se illegitime Ausdehnung des Anwendungsbereichs strafrechtlicher Normen erwie-
sen? Eine Lösung kann mithin von vornherein nicht en bloc erfolgen,3 sondern
muß den ebenso beschwerlichen wie unspektakulären Weg der Einzelnormprüfung
gehen. 4 Konkret bedeutet dies, daß nicht zu verhandeln ist über die Legitimität des
"modemen" Strafrechts, der abstrakten Geflihrdungsdelikte oder auch nur über die
Statthaftigkeit der Pönalisierung von generell geflihrlichen Handlungen, von Ku-
mulationsbeiträgen oder von Vorbereitungshandlungen. Zu untersuchen ist viel-
mehr die Legitimität konkreter Einzelnormen, wobei dann - insoweit wird man
der Einschätzung Roxins folgen können - eine Durcharbeitung der einzelnen Tat-
bestände ergeben wird, daß sich "viele von ihnen als rechtsstaatlich unhaltbar er-
weisen".5
Der Versuch, auch nur die Straftatbestände der im Rahmen der vorliegenden Un-
tersuchung beispielhaft analysierten Teilbereiche der Strafrechtsordnung einer ent-
sprechenden Einzelnormprüfung zu unterziehen, würde den Rahmen der vorliegen-
den Untersuchung sprengen. Die nachfolgenden skizzenhaften Überlegungen sol-
len jedoch andeuten, auf welche Fragestellungen derartige Arbeiten zum Umwelt-,
Wirtschafts- und Betäubungsmittelstrafrecht sowie zu den Straftatbeständen des
ESchG und des in Aussicht genommenen FMedG eingehen müssen und auf welche
Problemstellungen es letztlich entscheidend ankommen wird.
I. Die Problematik des Umweltstrafrechts liegt nach der hier vertretenen Auffas-
sung ersichtlich nicht im Bereich der Rechtsgutstheorie: die Gewährleistung der
überlebensnotwendigen Umweltbedingungen stellt unstreitig ein für jede Gesell-
schaft sozialwichtiges bonum dar. Zumindest die Gewährleistung der Integrität der
wesentlichen Umweltmedien (Wasser, Boden, Luft) muß vor diesem Hintergrund
als ein grundsätzlich strafschutzwürdiges Kollektivinteresse anerkannt werden. 6
Das eigentliche Legitimationsproblem liegt in der Deliktsstruktur. Wie gezeigt,
handelt es sich bei den entsprechenden Straftatbeständen (beispielhaft: § 324
dStGB) um Kumulationsdelikte, deren Legitimation wesentlich davon abhängt, ob
schädigungsrelevante Kumulationseffekte tatsächlich mit hinreichender Sicherheit
zu erwarten sind. 7 Hier muß zunächst entschieden werden, was als ein relevanter
Kumulationseffekt anzusehen ist; ob derartige Effekte zu erwarten sind, ist dann
eine letztlich empirische Fragestellung. 8 Des weiteren ist anhand normativer Maß-
stäbe zu entscheiden, ob erst Kumulationsbeiträge ab einem bestimmen Eigenge-
wicht als strafrechtlich relevant anerkannt werden sollen, was jedenfalls im Hin-
blick auf umweltschädigende Verhaltensweisen letztlich wohl zu verneinen ist. 9
Soweit umweltstrafrechtliche Normen nicht bestimmte Umweltmedien, sondern
vielmehr einzelne Personen vor Beeinträchtigungen als Folge umweltschädigender
Verhaltensweisen schützen sollen (beispielhaft: § 326 Abs. 1 Nr. 1-3 dStGB),
handelt es sich der Sache nach um Normen zum Schutz des unstreitig als straf-
schutzwürdig anerkannten Schutzgutes der Gewährleistung der körperlichen Inte-
grität. Der Deliktsstruktur nach handelt es sich bei diesen Straftatbeständen um
konkrete Gefahrlichkeitsdelikte, die nur dann als legitim anerkannt werden kön-
nen, wenn sie Verhaltensweisen erfassen, deren immanentes Risiko weder durch
den Handelnden selbst, noch - im Rahmen zumutbarer Anstrengungen - durch an-
dere Personen hinreichend kompensiert werden kann. 10
Soweit Straftatbestände des Umweltstrafrechts weder an einen realen Beitrag
zur Schädigung eines Umweltmediums noch an die Gefahrdung konkreter Indivi-
duen anknüpfen, sondern Verhaltensweisen erfassen, bei denen schon die Möglich-
keit eines Kumulationsbeitrages ausreichen soll (beispielhaft: Art. 70 Abs. 1 lit. a
und b GSchG) oder die bloße Zuwiderhandlung gegen Anordnungen der Umwelt-
verwaltung unter Strafandrohung gestellt wird (beispielhaft: Art. 70 Abs. 1 lit. c -
g GSchG), erscheint deren Legitimität höchst zweifelhaft. Ebenso wie bei der Ge-
fährdung individueller Rechtsgutsinteressen wird man auch im Hinblick auf die
Gefährdung kollektiver Rechtsgüter an die Verursachung einer unbeherrschbaren
22'
340 Schluß betrachtung
Menschen ausmacht bzw. ausmachen soll.25 Aus der bisherigen Diskussion dieser
Problematik wird nicht deutlich, daß es sich hierbei um mehr handelt als um den
Versuch, ein partikulares Weltbild zu schützen, was dann konsequenterweise dazu
führen müßte, die Strafschutzwürdigkeit jedenfalls für eine weltanschaulich neu-
trale Gesellschaft abzulehnen. Im übrigen wäre selbst dann, wenn man davon aus-
gehen wollte, daß es sich bei dem geschützten ,.Menschenbild" um einen Bestand-
teil des normativen Grundkonsenses einer Gesellschaft handelt, allenfalls der erste
Schritt zur Legitimation dieser Normen getan.
Etwaige Mißbräuche der Fortpflanzungsmedizin können - jedenfalls für sich ge-
sehen - weder den Grundkonsens der Gesellschaft noch das diesen Grundkonsens
widerspiegelnde Menschenbild in Frage stellen. Tatsächlich geht es den Befürwor-
tern strafrechtlicher Lösungen auch nicht um die konkrete Einzelhandlung, son-
dern um die Folgewirkungen der als mißbräuchlich definierten Anwendungen der
Fortpflanzungsmedizin. Befürchtet wird ein schleichender Werteverlust, der im Er-
gebnis nachteilige Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander oder für
bestimmte Personengruppen, wie z. B. körperlich oder geistig Behinderte, haben
kann. 26 Da ein derartiger Effekt ersichtlich nicht von einem Einzelfall der miß-
bräuchlichen Anwendung fortpflanzungsmedizinischer Techniken hervorgerufen
werden kann und im übrigen zur Voraussetzung hat, daß ein nicht unerheblicher
Teil der Mitglieder einer Gesellschaft in seinen Wertvorstellungen beeinflußt wird,
handelt es sich bei den in Frage stehenden Strafrechtsnormen wiederum um kom-
binierte Kumulations-Vorbereitungsdelikte. Die Legitimität dieser Straftatbestände
muß schon deshalb als zweifelhaft angesehen werden, weil die entsprechenden Er-
wägungen über den Status bloßer Behauptungen bzw. Befürchtungen eines
,.Dammbruchs" nicht hinausgehen. Den Anforderungen an realistischerweise zu
erwartende Kumulationseffekte genügt dies nicht. 27 Hinzu kommt, daß es gerade
in einer auf der Konzeption des Bürgers als autonome Person aufbauenden Gesell-
schaft widersprüchlich erscheint, diesen Bürger paternalistisch mit den Mitteln des
Strafrechts vor einer etwaigen - nicht durch Tauschung und loder Drohung be-
wirkten - Veränderung seines Welt- oder Menschenbildes bewahren zu wollen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß sich Grenzen eines noch legitimen
Gefährdungsstrafrechts nicht abstrakt benennen lassen. Die im Rahmen der vorlie-
genden Untersuchung entwickelte Systematik erhebt aber den Anspruch, ein In-
strumentarium für eine differenziertere und damit zumindest tendenziell auch
sachlich angemessenere Bewertung einzelner Normen des Gefährdungsstrafrechts
zur Verfügung zu stellen: Ausgangspunkt der Bewertung konkreter Einzelnormen
ist und bleibt die Bestimmung des durch die Norm geschützten Interesses (Rechts-
guts). Die Rechtsgutstheorie selbst ist allerdings von vornherein darauf beschränkt,
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fahrlässiger Versuch 290, 299, 304 - -abwägung 99,108 f., 271, 312 ff.
Feststellungsschwierigkeiten, siehe: Be- - kollektive 308, 319, 339
weisschwierigkeiten - personale 307, siehe auch: Rechtsgüter,
Folgenorientierung (des Strafrechts), siehe: individuelle
Prävention, Orientierung des Gesetzge- - Sicherheits-, siehe: hann principle
bers - Standardisierung von - 276 ff.
Fortpflanzungsmedizin 203 ff. - Unterscheidung personaler und überper-
Fortpflanzungsmedizingesetz 207 sonaler 89 ff., 98
Frankfurter Schule 30, 51 ff. - Wohlfahrts- , siehe: hann principle
Freiheitssphäre (bürgerliche) 52 Interventionsrecht 78 f.
- als Begrenzung und Korrektiv für staatli-
che Eingriffe 49,249,303 Kapazitätsausweitung, siehe: Ausweitung
- status negativus 94,165,196,222,321 des Strafrechts
- status positivus 94 f., 139, 165, 196,222, Kapitalanlagebetrug 155, 157 f., 160 Fußn.
321 253,161,174 f., 226 f., 240
kategorischer Imperativ 56 Fußn. 21,233 ff.
Gefährdungsdelikte, siehe auch: abstrakte Kernstrafrecht
Gefährdungsdelikte - Beschränkung auf ein - 33 f., 52, 54
- abstrakt-konkrete 126, 297
- Lehre vom Kembereich (BVerfG) 102 ff.,
- konkrete 118, 281 f., 284
245 f.
- potentielle 118
- Verbrechen als absolute Untaten 61 ff.
Gefahrgesellschaft 40
Kollektivgut, siehe: Rechtsgüter, kollektive
Generalprävention 57
konkrete Gefährlichkeitsdelikte 306, 309,
generelle Gefährlichkeit, siehe: Verhalten
311 ff., 339
Gentechnikgesetz 39, 204 f.
Konkursdelikte 150
Gentechnologie 203 ff.
Konzeption des Guten 252, 265, 275
Geschichtlichkeit des Strafrechts 68 ff., 88 f.,
Kreditbetrug 155 f., 158 f., 160 Fußn. 253,
231,251 ff.
161, 175 f., 226 f., 240, 283
Gesetz der großen Zahl, siehe: Phänomen
Kriminalstrafe 105 ff.
der großen Zahl
Krise des (modernen) Strafrechts 45
Gesinnungsstrafrecht 215 ff.
- siehe auch: Vollzugsdefizite
(unerlaubt riskante) Gestaltung fremder Or-
Kumulations
ganisationskreise 303 ff., 313 f.
Großregelung 291 - -beiträge 144 f., 176, 307 f.
Grundrecht auf Sicherheit 43 - -delikte 143, 145, 177,283,310,318 ff.,
Güterabwägung, siehe: Interessenabwägung 340 ff.
- -effekte (realistische) 322 ff., 339 f., 342
Haftung inuria tertii 142 f. - Erfassung von Bagatellen 325 ff.
Handeln unter Ungewißheit 57 ff. - siehe auch: Phänomen der großen Zahl
Handlungsobjekt 223
harm principle 254 f., 257 f., 260 ff. Legitimation staatlichen Strafens 54 ff.
Humangenetik 203 ff.
Massenhandlungen 300 f.
in dubio pro Iibertate 58, 97 Mensch
Individualrechtsgüter, siehe: Rechtsgüter, - Beginn des Menschseins 66 f.
individuelle - Ende des Menschseins 67 f.
Institutionen, siehe: Rechtsgüter - Menschenbild, siehe: Menschenwürde
Interessen Menschenwürde 208 ff.
Sachwortverzeichnis 385
25 Wohlers
386 Sachwortverzeichnis
Ungehorsam (bloßer), siehe: Verwaltungs- Vorbereitungsdelikte 307, 310, 328 ff., 341 f.
ungehorsam Vorfeldkriminalisierung 92
Universalrechtsgüter, siehe: Rechtsgüter, Vorhersehbarkeit (des Fehlverhaltens ande-
überindividuelle rer) 332 f.
Vorverlegung des Strafrechtsschutzes
Verfolgungsdefizite, siehe: Vollzugsdefizite - durch Gefährdungsdelikte 283 f., 303,
Verfahrenseinstellung, siehe: Ausweitung 338
des Strafrechts, prozessuale Korrektive - Straftatbestände im Vorfeld des Betruges
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 241 f. 154 ff., 340
Verhalten
- generell gefährliches 281, 297, 305 Wirtschaftskriminalität
- immanentes Risikopotential 303 ff.,
- Begriff 146 ff.
309 ff.
- Ansteckungs-, Sog- und Spiralwirkungen
- typischerweise gefährliches 281, 297
158 f., 173, 177,323 f.
Verhaltensnorm 292, 318
- Sozialschädlichkeit 171 ff.
Verhaltenssteuerung durch Strafrecht 30,
Wirtschaftsstrafrecht
285 f.
Verlagerung von Strafnormen in das Kern- - Entwicklung 148 ff.
strafrecht 113 ff. - präventive (Un-)wirksamkeit 43 ff.
Verifizierungsverpflichtung (des Gesetzge- - zum Schutz individueller Interessen
bers) 60 159 ff.
Verletzungsdelikte 282 - zum Schutz überindividueller Interessen
Vertrauensgrundsatz 332 165 f.
Verunsicherung (gesellschaftliche) 40 f. - verfassungsrechtliche Pönalisierungsge-
Verwaltungsakzessorietät 135 ff., 140 f. bote 247 f.
Verwaltungsschaden I Verwaltungsstraf- Wohlfahrtsinteressen, siehe: harm principle
recht/Verwaltungsunrecht 84 ff.
Verwaltungsungehorsam, bloßer 130, 141, Zurechnungsprobleme bei anonymen oder
145 f., 302, 316ff., 339 komplexen Handlungsstrukturen 45 f.
Vollzugsdefizite 43 ff. Zwischenrechtsgut, siehe: Rechtsgüter
25'