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Band 1365
Von
Matthias Rost
Von
Matthias Rost
Ursprünglich hatte ich die Absicht, eine Dissertation über die Wettbewerbs-
freiheit zu verfassen. Als „Grundprobleme der Wettbewerbsfreiheit“, so der
damalige Titel, sollten die verfassungsrechtliche Begründung der Wettbewerbs-
freiheit nach Maßgabe des Grundgesetzes und die sich daraus ergebenden Konse-
quenzen insbesondere für die Kartellrechtsproblematik behandelt werden. Doch
damit war ich mit den vielfältigsten und mir unüberwindbar erscheinenden
Schwierigkeiten konfrontiert. Die (verfassungs-)rechtsdogmatische Argumenta-
tion überzeugte mich als Wirtschaftswissenschaftler, der ich von Hause aus bin,
nicht. Da war zum einen die Textlosigkeit, oder anders formuliert: wie läßt sich
eine Wettbewerbsfreiheit als ein durch das Grundgesetz gewährleistetes Recht in
Stellung bringen, obwohl es dort gar nicht steht? Namhafte Rechtswissenschaft-
ler dogmatisieren aber dennoch eine Wettbewerbsfreiheit als unbenanntes
Freiheitsrecht. Zum zweiten fehlt es an einer einheitlichen und überzeugenden
Definition des Wettbewerbsbegriffs. Eine Legaldefinition findet sich nirgends.
Gleichwohl sprechen viele Rechtswissenschaftler vom Wettbewerb als einer staat-
lichen Veranstaltung, ohne allerdings konkret sagen zu können, was der Staat da
veranstaltet. Auch aus der nationalökonomischen Theorienlage läßt sich eine ein-
heitliche Definition nicht ableiten. Und schließlich, drittens, worin besteht denn
wesentlich das freiheitliche Moment bei der Wettbewerbsfreiheit, wenn es wahr
ist, daß der Wettbewerb zwischen Unternehmern und Unternehmen nötigende
Wirkung für die Konkurrenz entfaltet und so zu einem (gewollten) Leistungs-
wettbewerb mit etwa einer verbesserten Faktorallokation und technischem Fort-
schritt führt? Zusammengefaßt: für eine Wettbewerbsfreiheit ließ sich so nicht
überzeugend argumentieren.
Bei diesem Sachstand schien nur noch eine andere Herangehensweise erfolg-
versprechend, nämlich die Argumentation mit der Freiheit beginnen zu lassen.
Dabei war aber an Kants Freiheitsphilosophie nicht vorbei zu kommen, aus wel-
cher Kant seine Rechts- und Staatsphilosophie überzeugend ableitet. Auffallend
ist, wie sehr das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Lehre Kants
und insbesondere seiner Logik der Freiheit folgt, ohne sich allerdings explizit auf
Kant zu berufen. Wenn man die verfassungsrechtliche Ordnung Deutschlands am
höchsten Wert festmacht, nämlich an der Würde des Menschen und damit we-
sentlich an seiner Freiheit, so schließt dies jede Form von Herrschaft aus und
führt mit logischer Stringenz zu einer (kantianisch geprägten) Republiklehre.
Diese hat durchaus weitreichende Konsequenzen auch auf der einfachgesetzli-
chen Ebene, hier insbesondere auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkun-
6 Vorwort
gen und auf die Behandlung des Problems wirtschaftlicher Macht. Macht ist per
se nicht zu kritisieren, weil sie im Grunde jeder inne hat, soweit er frei und hand-
lungsmächtig ist. Auch große Unternehmen, welche durch wirtschaftliches
Wachstum zu mehr Einfluß und damit auch zu Macht gekommen sind als andere,
trifft kein generelles Unbilligkeitsurteil. Damit kommt es wesentlich auf die Art
und Weise an, wie diese Macht ausgeübt wird: sie muß, wie jedes Handeln, für
alle in der bürgerlichen Gemeinschaft zumutbar sein; denn die Freiheit als einzi-
ges angeborenes Recht besteht nur nach Maßgabe der Gleichheit aller in eben
dieser Freiheit: „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde ge-
boren“ – Art. 1 S. 1 der Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Der Mensch ist durch Freiheit definiert, und diese macht seine Würde aus. Es ist
das große Verdienst Kants, dieser Idee der Freiheit eine aufklärerische Vernunft-
begründung gegeben zu haben.
Größten Dank schulde ich meinem Doktorvater, Professor Karl Albrecht
Schachtschneider, für die zahllosen intensiven Gespräche, die teilweise bis in die
frühen Morgenstunden dauerten und in welchen wir Kants Texte regelrecht aus-
einandergenommen und als Interpretationsgrundlage und Begründung seiner re-
publikanischen Staatsrechtslehre wieder zusammengefügt haben, und ohne diese
wäre die hier vorgestellte republikanische Wettbewerbsauffassung nicht zustande
gekommen. Mein tief empfundener Dank gilt auch meinen Eltern, Gisela und
Werner Rost, sowie meiner Frau Bärbel für ihr großes Verständnis, ihre Unter-
stützung und Ermutigungen, insbesondere in den Phasen, in welchen meine Stu-
dien und Überlegungen zu dieser Schrift nicht recht fort wollten. Auch danke ich
Herrn Dr. Peter Wollenschläger, der mir mit seinen umfassenden juristischen
Kenntnissen und bei der redaktionellen Aufarbeitung dieser Schrift zur Seite
stand, und Frau Dr. Christiane Classen für die mühevolle Übernahme der Korrek-
turarbeiten.
1. Kapitel
Kants Freiheitslehre 15
2. Kapitel
c) Die Grund- und Menschenrechte begründen keine Freiheit vom Staat . . 157
5. Keine materiale Vorbestimmtheit von staatlichen und privaten Aufgaben . . 159
V. Das Eigentum als besondere Ausprägung des Rechts zur freien Willkür . . . . . . 161
1. Das Privateigentum ist keine verdinglichte Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
2. Rechtliches Eigentum als ein Apriori der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
3. Republikanische Eigentumsbegründung in der Staatsrechtsliteratur . . . . . . . 166
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
1. Die Gleichheit in der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
2. Gleichheit bedeutet nicht materiale Unterschiedslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 172
3. Die Formalität der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
4. Die Prinzipien der Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip:
Karl Albrecht Schachtschneiders republikanische Wettbewerbslehre 214
6. Kapitel
Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips und Regelungstatbestand
des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen 239
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
Einführung
Die Wettbewerbsfreiheit zählt in Deutschland nach herrschender Auffassung
zu den grundrechtsgeschützten Rechtsgütern1, obwohl der Begriff der Wettbe-
werbsfreiheit im Grundgesetz nicht vorkommt. Einerseits wird die Wettbewerbs-
freiheit zum wirtschafts- und ordnungspolitischen Leitbild der sogenannten so-
zialen Marktwirtschaft gezählt, andererseits ist aber das Grundgesetz nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts2 wirtschaftspolitisch neutral und
verpflichtet den Gesetzgeber nicht auf die Verwirklichung eines wirtschafts- und
ordnungspolitischen Modells. Vor diesem Hintergrund erscheint völlig offen,
welche verfassungsrechtliche (und damit auch politische) Bedeutung der Wettbe-
hergeleitet, BVerfGE 32, 311 (317 f.); G. Dürig dagegen sieht sie in Art. 2 Abs. 1 GG
verankert und zählt sie zu den unbenannten Freiheitsrechten dieses Grundrechts,
Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 48; H.-U. Erichsen, Allgemeine Hand-
lungsfreiheit, Handbuch des Staatsrechts, Bd.VI, § 152, S. 1211, Rdn. 62, für den die
Wettbewerbsfreiheit kaum aus Art. 2 Abs. 1 herauszulesen sei, es gelte der Vorrang der
lex specialis, Rdn. 25; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 210,
argumentiert dahin gehend, daß die Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 Abs. 1 GG als
lex specialis zu Art. 2 Abs. 1 GG das Grundrechtschutz gewährleistende Verfassungsge-
setz sei. Die Wettbewerbsfreiheit sei Bestandteil der darin garantierten Unternehmer-
und Unternehmensfreiheit; bemerkenswert die Darstellung von R. Scholz, in: Maunz/
Dürig, Grundgesetz, Art. 12 GG, Rdn. 136 ff., der die Wettbewerbsfreiheit im Zusam-
menwirken von Art. 12 GG und Art. 14 GG von Verfassungs wegen für gewährleistet
hält. Die Wettbewerbsfreiheit sei eine „Annexfreiheit“ wie etwa die unternehmerische
Dispositions-, Investitions-, Produktions-, Markt-, Wachstums- und Preisfreiheit als
wirtschaftlich-unternehmensmäßige Teilfreiheiten der wirtschaftlichen Betätigung. Dies
seien Handlungen, die in das typische Berufsbild des Unternehmers als selbständigen
Beruf fielen und von daher Berufsausübung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG darstellten.
Auch seien diese Teilfreiheiten gleichzeitig Ausfluß eigentumsrechtlicher Nutzung und
als Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs über Art. 14 Abs. 1 GG
geschützt. Allerdings sollen diese Teilfreiheiten lediglich Ausübungsformen der Berufs-
und Eigentumsfreiheit darstellen, ihr Grundrechtschutz sei damit nur ein mittelbarer.
Nur die Wettbewerbsfreiheit wäre als Annexfreiheit zu den unmittelbar durch Art. 12
Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgütern zu zählen, weil der Wett-
bewerb das Ergebnis freiheitlicher Grundrechtsausübung konkurrierender Grundrechts-
träger darstellt und „funktionstypische Bedeutung (. . .) für die plurale Ausübung und
Nutzung der GR aus Art. 12 und Art. 14 besitzt“. Die Wettbewerbsfreiheit zähle zur
„verallgemeinerungsfähigen Funktionstypik“ des grundrechtlich geschützten Bildes von
Unternehmer und Gewerbetreibenden, oder anders formuliert, der für das Grundgesetz
charakteristische Unternehmer und Gewerbetreibende ist stets einer im Konkurrenzver-
hältnis mit anderen stehender. Von der Konstellation des Einzelfalls abhängig verortet
U. Di Fabio die Wettbewerbsfreiheit sowohl bei Art. 12 Abs. 1 GG als auch bei Art. 2
Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1 GG, Rdn. 116.
2 BVerfGE 4, 7 (17); 50, 290 (337).
12 Einführung
3 Sokrates hatte den Begriff an sich in seiner Tragweite entdeckt und Platon insbe-
sondere in der Politeía als eines der großen Mittel allen wissenschaftlichen Erkennens
bewußt gemacht, vgl. hierzu M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Auf-
sätze zur Wissenschaftslehre, S. 596. Zur Bedeutung des Begriffs und der Begriffsbil-
dung in der Jurisprudenz und der Rechtswissenschaft K. Larenz, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, S. 429 ff., insb. S. 431.
4 So V. Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, Kommentar, § 18, Rdn. 158 ff.,
Rdn. 166.
5 R. Streinz, Europarecht, S. 400 f., Rdn. 1008 ff.; K. A. Schachtschneider, Wirt-
6 Zur Bedeutung der Sprachauffassung für das Recht vgl. R. Alexy, Recht, Vernunft,
Kants Freiheitslehre
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch
letztbegründete Idee
1. Kants Vernunftkritizismus
Die Naturwissenschaft, vorbildlich für Kant die Physik Isaac Newtons1, basiert
auf der Annahme des Kausalitätsgesetzes der Natur, also auf der universellen ge-
setzmäßigen Gültigkeit eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs. Danach wäre
die reale empirische Welt des Menschen eine deterministische, Freiheit aber un-
denkbar. Soll dagegen Freiheit möglich sein, kann die Kausalität keine objektive
Gültigkeit haben, wodurch aber keine gesicherten Erkenntnisse und wirkliches
Wissen über die Natur und die reale empirische Welt des Menschen möglich
sind. Freiheit und Kausalität wären demnach unvereinbare Gegensätze. Eine
mögliche Lösung dieses augenscheinlichen Widerspruchs ist untrennbar mit der
Frage nach der menschlichen Erkenntnis und der menschlichen Erkenntnisfähig-
keit überhaupt verbunden, oder mit Kants Worten: „Was kann ich wissen?“ 2 Nun
kann im Rahmen dieser Abhandlung Kants Erkenntnislehre nicht umfassend dar-
gestellt werden; dennoch sind einige Aspekte davon für Kants Freiheitslehre ele-
mentare Voraussetzung und verdienen eine knappe Darstellung.
a) Humes Skeptizismus
und Theorie des Himmels, S. 242; Isaac Newton sei ein Mann, „nicht sowohl von gro-
ßem Umfange des Geistes, als intensiver Größe desselben, in allem Epoche zu machen,
was er unternimmt“; ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 546; ders., Me-
taphysik der Sitten, S. 319.
2 „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) ver-
einigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was
darf ich hoffen?“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 677.
3 Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auf-
Erkenntnisse ausschließlich auf Erfahrung und nicht auf dem Denken. Jedwede
Metaphysik, die zu erfahrungsunabhängigen Erkenntnissen a priori führen soll,
hat für Hume, wie vor ihm schon für John Locke5, keine Berechtigung6.
Humes Frage war, wie der Mensch die sinnlich wahrgenommen und damit em-
pirisch gewonnenen Daten ordnen und so zu einer einheitlichen Vorstellung von
der Welt gelangen könne. Ohne eine Ordnung würden die Wahrnehmungen ein
zusammenhangloses Datensammelsurium darstellen. Für diese Ordnung des Er-
kenntnisvermögens schien ihm insbesondere die Vorstellung von Kausalität und
Substanz von Bedeutung zu sein, die aber objektive Gültigkeit haben muß, um
funktional ordnend sein zu können. Er war davon überzeugt, daß insbesondere
die Kausalität weder ein Erfahrungsbegriff noch ein Begriff der Vernunft sei7.
Humes Erkenntnistheorie ist eine empirisch verfahrende Erkenntnispsychologie,
ein „Perzeptionsempirismus“ 8, bei dem die sinnliche Wahrnehmung zentral für
die menschliche Erkenntnis ist. Aber die sinnliche Wahrnehmung ist grundsätz-
lich der Gefahr der Täuschung ausgesetzt. Damit sind objektiv gültige Aussagen,
seien sie alltägliche oder wissenschaftliche, über die existierende Außenwelt und
das sie betrachtende Subjekt nicht zu rechtfertigen. Ist die Möglichkeit gesicher-
ter Erkenntnis über die Wirklichkeit, also sowohl über die Außenwelt wie auch
über das perzipierende Ich, nicht gegeben, so ist die tatsächliche Existenz einer
objektiven Außenwelt überhaupt in Frage gestellt. Objektive Wahrheit über die
real existierende Welt würde Kenntnis über „eben das einheitliche allumfassende
und notwendige Gesetz allen Geschehens bedeuten“ 9. Die menschliche Erkennt-
nis müßte also eine totale sein, aber dafür ist in der Tat das Erkenntnisvermögen
bei weitem zu beschränkt10.
5 Für Locke ist das gesamte Erkenntnisvermögen erlernt. Nicht einmal die Vernunft
selbst sei angeboren, vermöge derer man die Wirklichkeit entdecken könne, J. Locke,
Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, S. 31. Auch sei es kein Argument, daß
man die Vernunft gebrauchen lerne, folglich vorausgesetzt und vorhanden sein müsse,
wenn sie erlernbar sein soll, S. 33. Weder spekulative Prinzipien oder Ideen, noch Be-
griffe seien dem Menschen mit der Geburt gegeben. Erkenntnisse a priori oder meta-
physisches Wissen könne es nicht geben, weil diese nicht mit Gewißheit gewußt werden
könnten. Das gelte auch für praktische Prinzipien. Folglich müßten auch alle mora-
lischen Regeln bewiesen werden, auch sie seien nicht angeboren, S. 85.
6 Zwar ist Hume nicht der Auffassung, daß es eine metaphysische Realität nicht ge-
ben kann, vermutlich nicht einmal, daß es eine metaphysische Realität de facto nicht
gibt, sondern nur, daß es dem Menschen niemals möglich sein wird, eine solche zu er-
fassen, N. Hoerster, David Hume, in: Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 2,
S. 11.
7 H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft, Anleitung zur Lektüre, S. 20.
8 N. Hoerster, David Hume, S. 16. Nach R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise,
S. XVIII, wurde seit Francis Bacon und John Locke der Begriff der Logik meist mit
Erkenntnispsychologie inhaltlich belegt.
9 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 46.
10 Der Hume’sche Skeptizismus kommt Fausts Bankrotterklärung gleich: „Da steh’
ich nun ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor, heiße Magister, heiße Doktor gar,
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 17
Aber, Hume weiß, daß für den Menschen ein Mindestmaß an zumindest halb-
wegs sicheren Erkenntnissen über seine Außenwelt lebens- und überlebensnot-
wendig ist, sonst wäre es ihm unmöglich, zu denken, zu urteilen und damit zu
handeln11. Um sich die Welt für die praktische Lebensbewältigung zu erschlie-
ßen, sei es ausreichend, daß der Mensch gerechtfertigte Annahmen über die Rea-
lität trifft und von ungerechtfertigten, die mit der Wirklichkeit offensichtlich in
Widerspruch stehen, unterscheidet, eine Gratwanderung, weil nach Hume rich-
tige, d.h. mit der Realität übereinstimmende Aussagen grundsätzlich gleicher-
maßen logisch möglich und zulässig sind wie solche, welche die Realität nicht
erfassen12. Wahrheit liegt für Hume in der Wirksamkeit und der Bewährung, und
nicht in einer apriori-Demonstration13. Das Wissen wird aus Schlußfolgerungen
generiert, indem das Muster vergangener Erfahrung ins Unbekannte und in die
Zukunft hinein ausgedehnt wird und nicht durch Deduktion wahrer Konklusionen
aus wahren gesicherten Prämissen14; denn schon letzteres gibt es nach Hume
nicht. Die empirische Erkenntnis wird auf das Prinzip der Gewohnheit zurückge-
führt und erhält dadurch seine pragmatische Rechtfertigung15. Das beobachtete
Prinzip der Gewohnheit rechtfertigt durch seine Bewährung in der Vergangenheit
den Induktionsschluß für die Zukunft16. Daraus resultieren aber nur ungefähre
und führe nun seit schon zehn Jahr, meine Schüler an der Nase herum, und sehe, daß
wir nicht wissen können“, Goethe, Faust, Gesamtausgabe (1988), S. 167.
11 N. Hoerster, David Hume, S. 15.
12 „Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder verständlicher
Satz und nicht widerspruchsvoller, als die Behauptung, daß sie aufgehen wird. Wir wür-
den daher vergeblich versuchen, seine Falschheit zu demonstrieren. Wäre er demonstra-
tiv falsch, so enthielte er einen Widerspruch und ließe sich niemals deutlich vom Geiste
vorstellen“, D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 36.
13 R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise, S. XVII.
14 J. Kulenkampff, Einleitung zu David Hume, Eine Untersuchung über den mensch-
Aussagen über die Realität ohne wirkliche Beweiskraft17. Eine logische Begrün-
dung, warum der Mensch zum Ziehen solcher Induktionsschlüsse befähigt und
berechtigt ist, kann Hume allerdings nicht liefern18, weil sie nicht zu leisten ist19.
Der Induktionsschluß basiert auf zwei Voraussetzungen. Erstens, für die Beob-
achtung der Gleichförmigkeit des Weltverlaufs, die eine entsprechende Erwar-
tung in der Zukunft rechtfertigt, ist die Denkkategorie des Vorher–Nachher, also
einer besonderen Form der Kausalität, nämlich der Kausalität in der Zeit20, erfor-
wenn sich die Prognose als wahr, und unbrauchbar, wenn sich die Prognose als falsch
erweist, S. 165. Ein Naturgesetz ist dann eine allgemeine Wirklichkeitsaussage, wenn es
falsifizierbar ist und wenn weiter aus ihm brauchbare Prognosen abgeleitet werden kön-
nen. Das stimmt insoweit auch mit Humes Konzept der Bewährung beobachteter
Gleichförmigkeit des Geschehnisverlaufs und daraus abgeleiteter Prognosen überein.
Fundamental ist für Popper aber die Entdeckung Kants, daß jede Wirklichkeitserkennt-
nis als Möglichkeit der Erfahrung und somit die Objektivität des Erkennens grundsätz-
lich auf dem Bestehen von Gesetzmäßigkeiten beruht, S. 68. Erkennen ist überhaupt
nur das Suchen nach Gesetzmäßigkeiten, genauer, Gesetze aufstellen und methodisch
überprüfen, S. 78. Erforderlich ist dafür nicht, daß es streng allgemeine Gesetzmäßig-
keiten auch tatsächlich gibt, sondern das Erkennen besteht darin, „nach strengen allge-
meinen Gesetzmäßigkeiten zu suchen, als ob es sie gäbe“, S. 79, und daß sich alles so
verhält, „als ob es streng allgemeine Gesetzmäßigkeiten gäbe“, S. 71. Dies ist im Kern
auch der Gesetzmäßigkeitsbegriff nach Kant: „so viel wir bisher wahrgenommen haben,
findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme“, Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 46. Popper bezeichnet dies mit „Als-Ob-Gesetzmäßigkeit“, S. 438.
17 „Die zwei Sätze sind weit davon entfernt, dasselbe auszusagen: ich habe gefunden,
daß ein solcher Gegenstand immer von einer solchen Wirkung begleitet gewesen ist,
und: ich sehe voraus, daß andere Gegenstände, die in der Erscheinung gleichartig sind,
von gleichartigen Wirkungen begleitet sein werden“. Aber, ich „will gern zugeben, daß
der eine Satz mit Recht aus dem anderen abgeleitet werden kann; ich weiß sogar, daß
er immer so abgeleitet wird“, D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen
Verstand, S. 45. Aufgrund der Beobachtung, daß in der Vergangenheit die Sonne all-
morgendlich aufgegangen ist, rechtfertigt sich die Annahme hinreichend, daß sie auch
morgen aufgehen wird. Aber beweisen läßt sich dies durch die gewohnte Beobachtung
in der Vergangenheit nicht; denn die Sonne könnte morgen ausnahmsweise auch nicht
aufgehen. Rein logisch wäre dies keine Unmöglichkeit, sondern durchaus denk- und
vorstellbar.
18 „Die Verknüpfung zwischen diesen Sätzen ist nicht intuitiver Art; es bedarf eines
Mitteldings, das den Geist befähigt, solche Ableitungen zu vollziehen, wenn sie in der
Tat durch Gedankengänge und durch Begründung vollzogen sein sollte. Welche Art die-
ses Mittelglied ist, das übersteigt, gestehe ich, mein Verständnis“, D. Hume, Eine Unter-
suchung über den menschlichen Verstand, S. 45.
19 Es ist demnach „nicht abzusehen, wie wir von dieser Anschauung des Einzelnen
und der Einzelnen jemals zur Anschauung einer objektiven Form des Ganzen gelangen
können. So wenig sich aus der Summierung bloßer ausdehnungsloser Punkte je das
Kontinuum aufbauen und erzeugen läßt: so wenig kann ein wahrhaft objektives und not-
wendiges Gesetz aus der einfachen Aneinanderreihung noch so vieler Einzelfälle er-
reicht und abgeleitet werden“, E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 46.
20 A. Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, S. 158. Die Zeit ist
eine der vier Wurzeln des „Satzes vom zureichenden Grund“, die Kausalität in der Zeit
nannte er den „zureichenden Grunde des Seins“. Für Schopenhauer ist die Einsicht des
Menschen in die Denkkategorie des Vorher–Nachher eine Erkenntnis a priori, kann also
nur metaphysisch vorgestellt werden. Die Bedeutung des Satzes vom zureichenden
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 19
derlich21. Die zweite Voraussetzung ist die Kenntnis von Ursache und Wirkung,
weil auch ein empirischer Sachzusammenhang22 zwischen einer Beobachtung in
der Vergangenheit und der Prognose in der Zukunft existieren muß23. Dieser
Sachzusammenhang ist aber unbeweisbar; denn wir wissen, „daß die Annahme,
die Zukunft gleiche der Vergangenheit, nicht durch Argumente irgendwelcher
Art bewiesen werden kann“ 24. Empirische Erkenntnisse können also nicht mit
Gewißheit gewußt, sondern nur als wahrscheinlich angenommen werden25: der
Mensch ist berechtigt, einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu unterstellen,
weil er ein Zusammen-in-Erscheinung-Treten zweier Tatsachen beobachten kann.
Weil aber der Mensch nicht mehr als diese empirischen Beobachtungen ausma-
chen kann, steht für Hume außer Frage, daß die Kenntnis von Ursache und Wir-
kung „in keinem Falle durch Denkakte a priori gewonnen wird, sondern daß sie
ganz und gar aus der Erfahrung stammt, indem wir finden, daß gewisse Gegen-
stände beständig in Zusammenhang stehen“ 26. Die Kenntnis der Kausalität er-
weist sich erst nach einer langen Reihe von Erfahrungen. Sonst würde man „sich
ersichtlich im Kreise drehen und das für zugestanden nehmen, das gerade der in
Frage stehende Punkt ist“ 27. Für Hume ist die Apriorität des Ursache-Wirkungs-
Zusammenhangs entweder Erfindung oder Willkür28.
Grund des Seins und damit der Dimension Zeit für die menschliche Erkenntnis bleibt
Hume völlig verborgen.
21 D. Hume widmet im 1. Band des Treatise den zweiten Teil (S. 41 ff.) der empiri-
schen Vorstellung von Zeit und Raum. Für Hume ist der Begriff der Zeit nur empirisch
erfaßbar. Der Zeitbegriff offenbart sich dem Menschen durch Beobachten der Verände-
rung von Objekten in der realen Welt. Damit ist der Zeitbegriff niemals losgelöst von
der materialen Welt zu erfassen, womit Hume jedwede metaphysische Apriorität des
Zeitbegriffs zu widerlegen versucht. Welche Bedeutung die Zeitvorstellung für die
menschliche Erkenntnisfähigkeit hat, klärt er allenfalls ansatzweise; seine Vorstellung,
daß der Ursache-Wirkung-Zusammenhang mit der Zeitfolge in Zusammenhang steht,
bleibt vage (Treatise, S. 102). Diese Einsicht liefert erst später Kant.
22 „Die Vorstellung der Ursächlichkeit muß also irgend einer Beziehung zwischen
den Gegenständen entnommen sein“, D. Hume, Treatise, S. 101. Schopenhauer hat die
Einsicht in einen Sachzusammenhang den „Satz vom zureichenden Grund des Wer-
dens“ genannt, A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichen-
den Grund, S. 48 ff., wobei der Kausalbegriff für ihn Apriorität besitzt, S. 67 ff.
23 Wobei diese Kausalrelation grundsätzlich „sowohl eine philosophische als auch
Verknüpfung eines Gegenstandes mit einem anderen überzeugen, auch wenn sie durch
die Erfahrung und die Beobachtung, daß in allen früheren Fällen eine konstante Verbin-
dung zwischen ihnen bestanden hat, unterstützt wird“, Treatise, S. 123.
26 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 37.
27 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 46 f. Hume’s
feste Überzeugung von der Unmöglichkeit aller Denkakte a priori ist erstaunlich: woher
weiß denn Hume mit Gewißheit, daß es kein Wissen a priori gibt? Empirisch beweisen
läßt sich dies nicht, sondern bestenfalls wegen der empirischen Beobachtungen als
20 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Phänomenologie, S. 91.
31 R. Brandt, Einleitung zu Humes Treatise, S. IV.
32 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 113.
33 D. Hume, Treatise, S. 109.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 21
34 N. Hoerster, David Hume, S. 20; auch für E. Cassirer, Zur modernen Physik,
S. 154, hat sich die Hume’sche Skepsis in einem Zirkel verfangen: „daß sie zu ihrem
Erweis implizit auf einen Sachverhalt zurückgreift, den sie explizit leugnen mußte“.
35 Erfahrung allein kann allgemeingültige Wirklichkeitsaussagen nicht abschließend
verifizieren. Für den strengen Positivisten dagegen müssen sich allgemeingültige Wirk-
lichkeitsaussagen ausschließlich durch Erfahrung begründen lassen. Popper dagegen
weist nach, daß gerade der strenge Positivismus beim Auffinden dieser Gesetzmäßigkei-
ten auf Transzendenzen beruht, und zwar namentlich auf der Transzendenz der Darstel-
lung überhaupt sowie auf der Transzendenz der Verallgemeinerung. Ersteres bedeutet,
daß jedes Urteil, jede Darstellung insbesondere aber jedes wissenschaftliche Urteil über
das unmittelbar Gegebene transzendiert, also mehr ist, als eine pedantische genaue Be-
schreibung von reinen Erlebnissen, K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Er-
kenntnistheorie, S. 45 ff. Von sämtlich möglichen empirisch feststellbaren Daten wird
nämlich eine Selektion der Daten vorgenommen, die für diese allgemeine Wirklichkeits-
aussage als relevant erscheinen, und zwar vor der Erfahrung, weil diese Selektion sich
empirisch nicht begründen läßt, S. 46. Der zweite, noch gewichtigere Einwand ist der
der Transzendenz der Verallgemeinerung. Was berechtigt denn, empirische Einzelbeob-
achtungen für allgemeine und allgemeingültige Aussagen zu halten? Eine Begründung,
die rein empirisch geführt werden könnte, läßt sich nicht geben, zumal sich in prakti-
scher Hinsicht die vermeintlich allgemeinen Wirklichkeitsaussagen oft genug als falsch
erwiesen haben, S. 47. Zwar muß auch Popper eingestehen, daß der strenge Positivis-
mus auf rein logischem Wege nicht widerlegbar ist. Er enthält keinen inneren Wider-
spruch und ist demnach nicht logisch und demonstrativ falsch. Soll eine Wirklichkeits-
aussage allgemeingültig sein, muß eine logisch daraus abgeleitete Prognose immer
eintreffen. Die Empirie zeigt aber, daß dies nicht immer der Fall ist. Allgemeine Wirk-
lichkeitsaussagen sind also mehr als eine bloße Extrapolation empirischer Beobachtun-
gen, weil für ihre Annahme oder Verwerfung, insbesondere beim Naturgesetz, auch
andere Beobachtungen von Bedeutung sind, als nur diejenigen, die bei der Aufstellung
und Ableitung der allgemeinen Wirklichkeitsaussagen herangezogen wurden, S. 50. Auf
rein empirischem Wege lassen sich keine wissenschaftlich objektiven Wirklichkeitsaus-
sagen finden oder formulieren. Der Grund dafür ist, daß der strenge Positivismus das
Induktionsproblem nicht zu lösen vermag.
36 Kern des Hume’schen Skeptizismus ist der sogenannte unendliche Induktionsre-
greß. Durch die Induktion versuche man nach Hume mehr zu wissen, als man tatsäch-
lich weiß, weil vorausgesetzt wird, daß es strenge Gesetzmäßigkeiten als allgemeine
Sachverhalte gibt, die durch strenge allgemeine Wirklichkeitsaussagen dargestellt wer-
den könnten, K. R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 33.
Wenn das zutrifft, dann haben synthetische Urteile a priori keine Gültigkeit, sondern
nur die Erfahrung kann über diese Gesetzmäßigkeiten entscheiden. Das bedeutet konse-
quenterweise, daß die Zulässigkeit der Anwendung des Induktionsprinzips selbst nicht
apriori angenommen werden kann, sondern wir müssen verlangen, „daß auch das Induk-
tionsprinzip durch Erfahrung (aposteriori) begründet wird“, S. 37. Nach Popper entsteht
somit eine Hierarchie: „Die Induktion eines Naturgesetzes erfordert ein Induktionsprin-
zip erster Ordnung, das als Aussage über Naturgesetze von höherem Typus sind als
diese; die Induktion eines Induktionsprinzips erfordert wieder ein Induktionsprinzip
zweiter Ordnung, das als Aussage über Induktionsprinzipien erster Ordnung wieder von
höherem Typus ist als diese; und so weiter. Jede allgemeine Wirklichkeitsaussage
braucht, um als Induktum überhaupt Geltungswert (sei er nun wahr oder falsch) aposte-
riori besitzen zu können, ein Induktionsprinzip, das von höherem Typus sein muß als
das Induktum. Darin besteht der unendliche Regress“. Und weiter: „Der unendliche Re-
22 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
aber Metaphysik, die Hume ablehnt. Dieser Zirkel in Humes Argumentation führt
zur Unbeweisbarkeit des Kausalitätsgesetzes. Sollen überhaupt Aussagen über
die Welt möglich sein, so gelingt dies nur durch das psychologisch begründete
Induktionsprinzip beobachteter Gleichförmigkeit, mit welcher der Mensch gei-
stig die ganze Welt und nicht nur ein Bild davon erzeugt. Aber „dieses Erzeugnis
war bloß eine Fiktion, eine innerlich zurechtgemachte und eigentlich ganz vage
Vorstellung“ 37. Damit ist Humes Erkenntnistheorie insgesamt nicht zu retten38,
sein Skeptizismus ist total.
Die Unhaltbarkeit der Hume’schen Erkenntnistheorie hat Konsequenzen für
einen empirisch gewonnenen Freiheitsbegriff. Die empirische Möglichkeit der
Freiheit ist aber auch für Hume untrennbar mit dem Problem der Kausalität ver-
bunden, was er im achten Abschnitt des Enquiry Concerning Human Understan-
ding thematisiert. Hume’s Prüfung der Lehre von der Notwendigkeit39 führt ihn
zum Ergebnis, daß die Notwendigkeit nicht mehr als eine subjektive Empfindung
ist, gewohnheitsmäßig aus der beobachteten Gleichförmigkeit des Weltverlaufs
andere Erscheinungen antreffen zu können40. Der Begriff der Notwendigkeit ist
gress („Induktionsregress“) präzisiert Humes Argument gegen die Zulässigkeit der In-
duktion. Es besagt, daß der reine Induktionsschluß sich logisch nicht rechtfertigen läßt,
daß aus besonderen Beobachtungen niemals allgemeine Sätze abgeleitet werden kön-
nen“, S. 39. Noch grundsätzlicher sieht das Martin Heidegger unter Bezugnahme auf
Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Wesen der Wissenschaft als solcher liegt in der
Enthüllung des Seienden, durch den Entwurf einer Seinsverfassung. Wissenschaft ist
demnach nicht Tatsachenbeobachtung, auch nicht im Bereich der Naturwissenschaften,
weil es so etwas wie Tatsachen nicht gibt; denn in „jeder vermeintlich reinen Tatsachen-
forschung liegen immer schon Vormeinungen über die Bestimmtheit des Gebiets, inner-
halb dessen sie aufgefunden werden, und die Tatsachen für sich vermögen die Seinsver-
fassung als solche nicht aufzuhellen“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation
von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 30. Diese Seinsverfassung, die die Vormeinun-
gen des jeweiligen Wissenschaftsgebietes mit umfaßt, ist in letzter Konsequenz nur
unter Zuhilfenahme der Philosophie mit ihren Wurzeln zu erfassen und zu ergründen,
S. 39. Und genau dies ist der Grund, wieso die Philosophie bemüht werden muß, um
die begriffliche Klärung der Freiheit angehen zu können. Zur Erläuterung: synthetische
Urteile sind Erweiterungsurteile, analytische Urteile Erläuterungsurteile, ausführlich
dazu Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 52 f.
37 E. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 99.
38 N. Hoerster, David Hume, S. 26.
39 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 98 f.: „So ent-
steht unsere Vorstellung von Notwendigkeit und Verursachung denn ganz und gar aus
der Einförmigkeit, die sich in den Vorgängen der Natur beobachten läßt: wo gleich-
artige Gegenstände beständig zusammenhängen, und der Geist durch Gewohnheit ver-
anlaßt wird, den einen aus dem Erscheinen des anderen abzuleiten. Diese beiden
Umstände machen den ganzen Inhalt jener Notwendigkeit aus, die wir dem Reich der
Materie zuschreiben. Über den zuständigen Zusammenhang gleichartiger Gegenstände
und die daraus folgende Herleitung des einen aus dem anderen hinaus haben wir keinen
Begriff irgend einer Notwendigkeit der Materie“.
40 „Die Notwendigkeit also wird konstruiert wie eine sekundäre Eigenschaft, die den
Dingen selbst nicht anhaftet, sondern nur im perzipierenden Subjekt erzeugt wird und
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 23
dann auf Grund einer natürlichen unausweichlichen Illusion nach außen projiziert
wird.“, R. Brandt, Einleitung zu Hume’s Treatise, S. XXV.
41 Das sieht später auch Wittgenstein so. „Auf keine Weise kann aus dem Bestehen
irgend einer Sachlage auf das Bestehen einer von ihr gänzlich verschiedenen geschlos-
sen werden. Einen Kausalnexus, der einen solchen Schluß rechtfertige, gibt es nicht.“,
L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 135 f., S. 48.
42 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 109.
43 D. Hume, Treatise, S. 211. Für Hume ist es dennoch unverständlich, warum man-
che Menschen immer eine „starke Hinneigung zu dem Glauben“ hegen, „daß sie tiefer
in die Kräfte der Natur dringen und so etwas wie eine notwendige Verknüpfung zwi-
schen Ursache und Wirkung auffassen“, ders., Eine Untersuchung über den mensch-
lichen Verstand, S. 109.
44 D. Hume, Treatise, S. 214.
45 D. Hume, Treatise, S. 119.
46 Nicht einmal der Begriff „Anfang“ ließe sich in Stellung bringen, weil der unter
diesen Umständen auch nur durch einen Denkakt a priori gewonnen werden könnte,
denn empirisch müßte sich die Kausalreihe unendlich in die Vergangenheit zurückfüh-
ren lassen, was aber alle Vorstellungskraft sprengt, D. Hume, Treatise, S. 107.
24 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
47 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 111. Freiheit be-
deutet damit empirisch auch, einen Anfang von der Existenz der Dinge zumindest den-
ken zu können.
48 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 113.
49 Erst Kant gelingt es, trotz Kausalitätsgesetz den Begriff der Freiheit zu ermög-
heitsbegriff in einer dialektischen Falle verfangen. Dieses Problem läßt sich erst
mit Kants Erkenntniskritik lösen.
Für Kant hatte die alte Metaphysik ausgedient51, Hume hatte mit seinem Skep-
tizismus gründliche Überzeugungsarbeit geleistet52. Auch Kant war überzeugt
davon, daß der Mensch tatsächlich nichts von Geburt an oder qua Menschseins
über die Begriffe und ihre Inhalte, vor aller Erfahrung, a priori, wissen könne.
Dennoch war Kant der Überzeugung, daß sich in der menschlichen Vernunft
Prinzipien, Kategorien und Gesetzmäßigkeiten aufspüren lassen müssen, die rein
formal zu denken sind, die also zunächst keine empirische Anschauung in der
menschlichen Erkenntniswelt bedeuten53. Wenn Kant also die Metaphysik als
strenge Wissenschaft analog zur Physik begründen will, so muß er zunächst ein-
mal der Physik selbst ein tragfähiges erkenntnistheoretisches Fundament geben,
weil die Physik, insbesondere die Newtonische Mechanik, die Gültigkeit des
Kausalitätsgesetzes und damit das deterministisch-mechanistische Weltbild vor-
aussetzt54. Aber eine objektive allgemeingültige Gesetzmäßigkeit der Kausalität
und in der Folge auch den Determinismus hatte Hume mit seinem Skeptizismus
logisch unmöglich gemacht, und damit auch die Entdeckungen Newtons erst ein-
mal in einen erkenntnistheoretisch undefinierten Raum gestellt. Läßt sich aber
andererseits die Kausalität als objektiv allgemeingültige Gesetzmäßigkeit erwei-
51 Mit der alten Metaphysik ist „alle Vernunft ins Stecken“ geraten, ihr Verfahren sei
„bisher ein großes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen
gewesen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 24; „Man kann und muß alle bisher ge-
machten Versuche, eine Metaphysik dogmatisch zu Stande zu bringen, als ungeschehen
betrachten“, S. 61.
52 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft
wird auftreten können, S. 115, spricht anerkennend über Hume von seinem „scharf-
sinnigen Vorgänger“.
53 Hume „brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen
Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen emp-
fänglichen Zunder getroffen hätte und dessen Glimmer sorgfältig wäre unterhalten und
vergrößert worden“, Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissen-
schaft wird auftreten können, S. 115.
54 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 117. Es sei das ganz große Verdienst Kants als Meta-
theoretiker, der, im Gegensatz zur Skepsis David Humes, der Newton’schen Mechanik
ein sicheres philosophisches Fundament gegeben habe. Verhängnisvoll sei es jedoch,
daß sich damit Kants Denken in die Sphäre der klassischen Physik hat hineinziehen
lassen, so daß sich mit dem Fortschritt der physikalischen Erkenntnis Kants Kritik der
reinen Vernunft relativiere, wenn nicht sogar zunichte gemacht würde. Ein folgenschwe-
rer Irrtum Höffes! Daß die sogenannte moderne Physik, die insbesondere mit der Spe-
ziellen Relativitätstheorie Einsteins und der Heisenberg’schen Unschärferelation in Ver-
bindung gebracht wird, mit Kants Kritik der reinen Vernunft nicht in Widerspruch steht,
sondern diese als erkenntnistheoretisches Fundament gerade voraussetzt, hat E. Cassi-
rer, Zur modernen Physik zweifelsfrei nachgewiesen.
26 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
sen und kann damit das deterministisch-mechanistische Weltbild auf ein erkennt-
nistheoretisch sauberes Fundament gestellt werden, so scheint das nur um die
Preisgabe der Freiheit möglich zu sein; denn, besteht die reale Welt aus lauter
Kausalverhältnissen, aus nichts als aus Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen,
kann es keine Freiheit geben. Geht man andererseits von der Möglichkeit der
Freiheit aus, so opfert man das Kausalitätsgesetz: alles wäre beliebig und die
Welt nichts als Chaos. Freiheit und Kausalität schließen sich augenscheinlich
aus. Bei Hume hatte es diese zugespitzte Brisanz nicht gegeben: Weil er der Kau-
salität jedweden Gesetzlichkeitscharakter abgesprochen hatte, waren in der realen
empirischen Welt Freiheitsgrade möglich (die Sonne könnte ausnahmsweise mor-
gen auch nicht aufgehen), Freiheit also zumindest denkbar. Trotz grundsätzlicher
Einsicht in den Hume’schen Skeptizismus, ließ Kant dieses ungelöste Problem
nicht in Ruhe. Er benötigte etwa zwölf Jahre des Nachdenkens, hatte dann aber
innerhalb von wenigen Monaten die Kritik der reinen Vernunft zu Papier ge-
bracht, in der er einen richtungsweisenden Ausweg aus diesem Dilemma auf-
zeigte. Dieser Durchbruch gelang mit seiner Entdeckung, die als kopernikanische
Wende in die Philosophiegeschichte eingegangen ist55.
Zur kopernikanischen Wende der Denkungsart56 schreibt Kant in der Vorrede
zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Es ist hiemit eben so, als
mit den ersten Gedanken des Kopernikus gewandt, der, nachdem es mit der Er-
klärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das
ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser
gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in
Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegen-
stände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach
der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie
man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als
Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so
kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen
Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann,
sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und die-
sen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe,
wodurch ich diese Bestimmung zu Stande bringe, richten sich auch nach dem
Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wegen der
Art, wie ich hievon etwas wissen könne; oder ich nehme an, oder, welches einer-
lei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt
55 Vgl. hierzu ausführlich L. Kreimendahl, Kant – der Durchbruch von 1769. Zur
Intensität des Hume’schen Einflusses auf Kant S. 61 ff.; zur kopernikanischen Wende
vgl. auch M. Forschner, Gesetz und Freiheit, Zum Problem der Autonomie bei I. Kant,
S. 141 ff.
56 Zur „Entdeckung des kritischen Grundproblems“ ausführlich E. Cassirer, Kants
werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Aus-
kunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen
Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori vor-
aussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich
also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen überein-
stimmen müssen. Was Gegenstände betrifft, so fern sie durch Vernunft und zwar
notwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht
in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche, sie zu denken
(denn denken müssen sie sich doch lassen), hernach ein herrlicher Probierstein
desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart anneh-
men, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst
in sie legen“ 57. Kern der veränderten Methode der Denkungsart ist die Erkennt-
nisfunktion58. Dadurch wird eine neue Stellung des Subjekts zur Objektivität be-
gründet, wenn sich Erkenntnis nicht länger nach dem Gegenstand, sondern der
Gegenstand nach der Erkenntnis richtet. Kant setzt somit die Vernunftkritik an
die Stelle einer Ontologie59 und überwindet damit gleichzeitig den Rationalis-
mus, den Empirismus und den Skeptizismus60, weist den Weg aus der dialek-
tischen Falle zwischen Skeptizismus und dogmatischer Metaphysik61. Seiendes
ist also in keiner Weise zugänglich ohne vorgängiges Seinsverständnis, das dem
Menschen begegnende Seiende muß zuvor schon in seiner Seinsverfassung ver-
standen sein62.
Ausgangspunkt der veränderten Methode der Denkungsart ist die Trennung
der menschlichen Anschauung eines Gegenstandes von eben diesem Gegenstand
als solchem, den Kant das „Ding an sich“ 63 nennt64. Das Ding an sich kann der
Mensch nicht erkennen und damit seine Wesensgesamtheit erfassen. Das Dasein
Problem der Metaphysik, nicht alle Erkenntnis „ist ontische, und wo solche vorliegt,
wird sie nur möglich durch eine ontologische. Durch die Kopernikanische Wendung
wird der ,alte‘ Wahrheitsbegriff im Sinne der ,Angleichung‘ (adaequatio) der Erkenntnis
an das Seiende so wenig erschüttert, daß sie ihn gerade voraussetzt, ja ihn allererst be-
gründet. An Seiendes (,Gegenstände‘) kann sich ontische Erkenntnis nur angleichen,
wenn dieses Seiende als Seiendes zuvor schon offenbar, d.h. in seiner Seinsverfassung
erkannt ist. Nach dieser letzten Erkenntnis müssen sich die Gegenstände, d.h. ihre onti-
sche Bestimmbarkeit richten“, S. 13. Insofern sei die Kritik der reinen Vernunft keine
(ontische) Erkenntnistheorie, sondern die Frage nach der Möglichkeit der ontologischen
Erkenntnis, S. 17.
60 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 53.
61 H. Arendt, Das Urteilen, S. 47.
62 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
der Materie wird vorausgesetzt65, bewirkt beim Menschen aber nur eine sinnliche
Anschauung: „Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erschei-
nung ohne etwas wäre, was da erscheint“ 66. Gleichwohl aber kann der Mensch
„von keinen Gegenstand als Ding an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt
der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis“ haben67.
Menschliche Erkenntnis ist also nur möglich über Erscheinungen von Gegenstän-
den, die Objekte der sinnlichen Anschauung sind. Das betrachtete Objekt hat
folglich eine (gleichwertige68) Doppelnatur, „nämlich als Erscheinung oder als
Ding an sich selbst“ 69. Es hat aber keinen Sinn, das Wesen des Dings an sich
weiter zu ergründen oder hinterfragen zu wollen; denn: „Was die Dinge an sich
sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch gar nicht zu wissen, weil mir
doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann“ 70. Man
kann ein Ding an sich auch gar nicht erkennen können, weil jedwede Erkenntnis
ein Vorstellungsvermögen von Größe, Realität und Substanz voraussetzt, die aber
„immer sinnliche Formen erfordern, in denen sie einen Gegenstand bestim-
men“ 71. Für Kant ist die reale Welt nicht eine gegebene oder vorgefundene Ord-
nung von Einzeldingen oder eine Reihe von Einzeldingen, sondern sie besteht
aus einem System von Begriffen72, das sich im Denken manifestiert und eben in
der Sinnlichkeit seinen (material anschaulichen) Erkenntnisgrund findet73.
Zu diesem System von Begriffen gehört zwingend die Kausalität74. Das Kau-
salitätsgesetz ist eine Bedingung der Möglichkeit jeder menschlichen Erkennt-
nis75, und damit a priori gegeben. Alle Erscheinungen sind nicht nur einem Ur-
sache-Wirkungs-Zusammenhang unterworfen, sondern werden durch diesen erst
möglich gemacht76, ganz im Sinne der kopernikanischen Wende. Die Wahrneh-
etwa die transzendentale Idealität von Raum und Zeit, Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 69 ff., ders., De mundi sensibilis, S. 47 ff., S. 57 ff.; oder die Kategorienlehre, ders.,
Kritik der reinen Vernunft, S. 116 ff., S. 170 ff., kann hier nicht eingegangen werden.
75 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227; zum Begriff der Kausalität vgl.
M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 153 ff.; zur Kausalität als zwingende transzenden-
talphilosophische Basisannahme auch A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grund, S. 40 ff.
76 „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von
mung von Veränderungen77 in der empirischen Welt ist die Feststellung, daß zu
zwei unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Zustände an demselben Ob-
jekt festgestellt werden: „Ich verknüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in
der Zeit“. Diese Verknüpfung ist aber dem Kausalitätsgesetz unterworfen. Nur
dieses „synthetische Vermögen der Einbildungskraft“ ermöglicht, daß der
menschliche Geist einen vorigen Zustand mit einem folgenden in Verbindung
bringen kann, wofür aber „der Begriff des Verhältnisses von Ursache und Wir-
kung“ erforderlich ist. Ursache ist, was einer Wirkung als Folge in der Zeit vor-
ausgeht. Gegenstände der Erfahrung sind nur nach dem Gesetz der Kausalität
denkbar und möglich78, der Kausalsatz konstituiert die Gegenstände der Erfah-
rung79. Eine Veränderung ist als eine solche nur empirisch erkennbar, wenn man
die Wahrnehmung von Folge-Erscheinungen dem Kausalitätsgesetz unterwirft,
anders formuliert, Veränderungen können erst als Veränderung erkannt werden,
wenn man das Kausalitätsgesetz a priori zugrunde legt. Die Bewegung ist
das kausale Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache80. Andernfalls wäre eine
Wirkung als Folge einer Ursache nur, „was bloß in der Einbildung vorhergehen
(oder überall gar nicht wahrgenommen sein) könnte“ 81. Voraussetzung für die
Wahrnehmung der Veränderung ist aber die Annahme einer Stetigkeit in der
Entwicklung der physischen Veränderungen, eine Annahme, die als Grundsatz
Voraussetzung für jede Naturerkenntnis überhaupt ist82. Die zeitliche Folge von
Erscheinungen kann aber erst dann als objektiv gültige Veränderung eines Ge-
genstandes erkannt werden, wenn „die Folge nicht dem Belieben des Wahr-
nehmenden überlassen, sondern als Fall einer Ursache-Wirkungsregel, deshalb –
relativ zur vorliegenden Erscheinungsfolge – als nicht umkehrbar durchschaut
wird“ 83. Stetigkeit der Veränderung bedeutet demnach die Unumkehrbarkeit des
Veränderungsprozesses.
Die Verknüpfung zweier Wahrnehmungen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunk-
ten zu einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang84 setzt eine notwendige Ver-
bindung zwischen Ursache und Wirkung voraus. Dann ist der menschliche Be-
obachter hinreichend zu der Annahme berechtigt, daß die subjektive Folge der
77 Zum Begriff der Veränderung, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 224 f.
78 „Also ist nur dadurch, daß wir die Folge der Erscheinungen, mithin alle Verände-
rung dem Gesetz der Kausalität unterwerfen, selbst Erfahrung, d.i. empirische Erkennt-
nis von denselben, möglich; mithin sind sie selbst, als Gegenstände der Erfahrung, nur
nach diesem Gesetze möglich“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227.
79 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 137, 197.
80 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 149.
81 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 227.
82 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 193.
83 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 127.
84 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 230.
30 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
bloße Folge meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in Beziehung auf
ein Vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekt berechtiget. Also geschieht es
immer in Rücksicht auf die Regel, nach welcher die Erscheinungen in ihrer Folge, d. i.
so wie sie geschehen, durch den vorigen Zustand bestimmt sind, daß ich meine subjek-
tive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache, und, nur unter dieser Voraussetzung
allein, ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich“, Kant, Kritik der
reinen Vernunft, S. 231.
88 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 127.
89 Die zweite Analogie der Erfahrung ist der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Ge-
setz der Kausalität“. Ausgangspunkt ist eine objektive Ordnung in der Zeit, und „daß in
die Mannigfaltigkeit des Zeitflusses bereits der reine Verstandesbegriff der Kausalität
hineingearbeitet ist. Allein dadurch nämlich gewinnen wir den Begriff einer Verände-
rung, wodurch wir allererst eine objektive Folge in der Zeit, und d.h. ein objektives
Früher und Später feststellen können. Diese Zeitordnung ergibt sich dem Gesagten zu-
folge aus der aller Erfahrung zugrunde liegenden Verknüpfung der Erscheinungen nach
dem Verhältnis von Ursache und Wirkung“. H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen
Vernunft, S. 90.
90 St. Kröner, Kant, S. 70.
91 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 154.
92 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 155 f.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 31
Mannigfaltige der Vorstellungen jederzeit nacheinander. Hierdurch wird nun gar kein
Objekt vorgestellt, weil durch diese Folge, die allen Apprehensionen gemein ist, nichts
von andern unterschieden wird. Sobald ich aber wahrnehme, oder im voraus annehme,
daß in dieser Folge eine Beziehung auf den vorherigen Zustand sei, aus welchen die
Vorstellung nach einer Regel folgt: so stellt sich etwas vor als Begebenheit, oder was da
geschieht, d. i. ich erkenne einen Gegenstand, den ich in der Zeit auf eine gewisse be-
stimmte Stelle setzen muß, die ihm, nach dem vorherigen Zustande, nicht anders erteilt
werden kann. Wenn ich also wahrnehme, daß etwas geschieht, so ist in dieser Vorstel-
lung erstlich enthalten: daß etwas vorhergehe, weil eben in Beziehung auf diese die
Erscheinung ihr Zeitverhältnis bekommt, nämlich nach einer vorhergehenden Zeit, in
der sie nicht war, zu existieren. Aber ihre bestimmte Zeitstelle in diesem Verhältnisse
kann sie nur dadurch bekommen, daß im vorhergehenden Zustande etwas vorausgesetzt
wird, worauf es jederzeit, d. i. nach einer Regel, folgt; woraus sich dann ergibt, daß ich
erstlich nicht die Reihe umkehren, und das, was geschieht, demjenigen voransetzen
kann, worauf es folgt: zweitens daß, wenn der Zustand, der vorhergeht, gesetzt wird,
diese bestimmte Begebenheit unausbleiblich und notwendig folge. Dadurch geschieht
es: daß eine Ordnung unter unsern Vorstellungen wird, in welcher das Gegenwärtige (so
fern es geworden) auf irgend einen vorhergehenden Zustand Anweisung gibt, als ein,
obzwar noch unbestimmtes Correlatum dieser Eräugnis, die gegeben ist, welches sich
aber auf diese, als seine Folge, bestimmend bezieht, und sie notwendig mit sich in der
Zeitreihe verknüpft.“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 233 f.
96 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 234.
97 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 121.
98 „Denn nur an den Erscheinungen können wir diese Kontinuität im Zusammen-
hange der Zeiten empirisch erkennen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 234.
99 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 235.
32 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
che die Folge mit Notwendigkeit100 eintritt, kann auch gedacht werden, wenn die
beobachtbaren Zeitunterschiede immer geringer werden, bis hin zur Gleichzeitig-
keit: auch bei Gleichzeitigkeit der beobachteten Erscheinungen verliert das Kau-
salitätsgesetz nicht seine Gültigkeit, es gilt somit losgelöst von der reinen An-
schauung der Zeit an sich.
Der stetige Fortgang der Kausalverhältnisse im Ablauf der Zeit, „eine konti-
nuierliche Handlung der Kausalität“ also, bildet das Gesetz der Kontinuität101.
Die Stetigkeit der Veränderung ist Grundsatz der Naturerkenntnis. Alles, was der
Mensch empirisch erkennen kann, ist nichts weiter als eine ununterbrochene
Fortführung der Wahrnehmung unter Berücksichtigung des Gesetzes der Konti-
nuität. Alles Wahrnehmbare ist über dieses Gesetz auf die Kausalität zurückge-
führt, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt und immer gültig ist. Damit besteht nur
die „Möglichkeit einer kontinuierlichen Bestimmung aller Stellen für die Er-
scheinungen in dieser Zeit, durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen, deren
erstere der letzteren ihr Dasein unausbleiblich nach sich ziehen, und dadurch die
empirische Erkenntnis der Zeitverhältnisse für jede Zeit (allgemein) mithin ob-
jektiv gültig ist“ 102. Durch diesen Regelmechanismus103 ist die Kausalität mit
der Kontinuität des Geschehnisablaufs verflochten: Kausalität setzt die Annahme
der Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens in Form von Ursache und Wirkung
voraus, aber eben diese Gesetzmäßigkeit ist gegründet auf die Annahme der
Stetigkeit des Geschehnisablaufes, somit auf die Kontinuität der Kausalreihe, die
ihrerseits nun wieder auf die Zeit verweist104. Alles, was geschieht und damit
alles Wahrnehmbare, ist demnach dem Gesetz der Kausalität und der Kontinuität
der Veränderung unterworfen105. Jede mögliche Erfahrung setzt also Notwendig-
100 Notwendig ist, was wirklich und zugleich Wirkung einer Ursache ist, H. M. Baum-
so formuliert werden: in der Natur gibt es keine Sprünge, non datur saltus; das Gesetz
der Kausalität und Notwendigkeit so: in der Natur gibt es weder Zufall noch Verhäng-
nis, non datur casus, non datur fatum“, H. M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 94. Das Gesetz der Kontinuität ist kein originäres Postulat Kants gewesen, son-
dern geht auf das Kontinuitätsprinzip Leibniz’ zurück. Das Kontinuitätsprinzip ist, als
allgemeines Ordnungsprinzip, eine Grundvoraussetzung für exaktes Wissen von der
Natur. Schon bei Leibniz ist es kein empirisches Prinzip, das sich aus Einzelbeobach-
tungen ableiten ließe. Aber es gilt nach Leibniz unbedingt für die Logik und die Geo-
metrie, sowie deswegen auch ausnahmslos für die Naturerkenntnis, E. Cassirer, Zur
modernen Physik, S. 309.
103 „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer
Regel folgt“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, Überschrift der Zweiten Analogie in der
ersten Auflage, S. 226.
104 E. Cassirer, Zur modernen Physik, S. 314.
105 „Aller Zuwachs des empirischen Erkenntnisses, und jeder Fortschritt der Wahr-
nehmung ist nichts, als eine Erweiterung der Bestimmung des innern Sinnes, d. i. ein
Fortgang in der Zeit, die Gegenstände mögen sein, welche sie wollen, Erscheinungen
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 33
keit im empirischen Dasein voraus106. Die Kausalität liegt damit eben auch not-
wendig im Erkenntnisobjekt begründet107, wobei diese Notwendigkeit ihrerseits
der Gesetzlichkeit der Erkenntnis folgt108.
Die Wirklichkeit des Menschen ist damit eine stetige und letztlich völlig deter-
minierte Kausalreihe, aus der zwar einzelne Erscheinungen ausgemacht werden
können, indem man die beobachteten Zeitdifferenzen minimiert, die aber wegen
der Gesetzlichkeit der Kausalität immer noch eine Ursache haben müssen. Wenn
die menschliche Realität eine deterministische ist, es also nicht beliebig ist, ob
eine Erscheinung eines Dings an sich ist oder nicht ist, sie also wegen der Not-
wendigkeit des Kausalitätsgesetzes mit Notwendigkeit erscheint, kann es keine
Freiheit geben, die dem Menschen irgendwie erscheinen könnte, wenn man wie
Hume Freiheit als etwas definiert, welches sich von der Notwendigkeit differen-
ziert109. Alles, was als real durch den Menschen erkannt werden kann, ist die
Folge einer Ursache. Für einen Freiheitsbegriff, der Freiheit in der empirischen
Welt für den Menschen erklärbar machte110, gibt es keine Erkenntnismöglich-
keit: Freiheit kann kein Phaenomenon sein.
„Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die
theoretische Philosophie transzendent, d. i. dem kein angemessenes Beispiel in
oder reine Anschauungen. Dieser Fortgang in der Zeit bestimmt alles, und ist an sich
selbst durch nichts weiter bestimmt; d. i. die Teile desselben sind nur in der Zeit, und
durch die Synthesis derselben, sie aber nicht vor ihr gegeben. Um deswillen ist ein je-
der Übergang in der Wahrnehmung zu etwas, was in der Zeit folgt, eine Bestimmung
der Zeit durch die Erzeugung dieser Wahrnehmung, und da jene, immer und in allen
ihren Teilen, eine Größe ist, die Erzeugung einer Wahrnehmung als einer Größe durch
alle Grade, deren keiner der kleinste ist, von dem Zero an, bis zu ihrem bestimmten
Grad. Hieraus erhellet nun die Möglichkeit, ein Gesetz der Veränderung, ihrer Form
nach, a priori zu erkennen. Wir antizipieren nur unsere eigene Apprehension, deren for-
male Bedingung, da sie uns vor aller gegebenen Erscheinung selbst beiwohnt, allerdings
a priori muß erkannt werden können“. Und eben diese formale Bedingung ist die Kau-
salität, die, wie auch erläutert, a priori vom Verstand erkannt und eingesehen wird,
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 241 f.
106 „Alles, was geschieht, ist hypothetisch notwendig; das ist ein Grundsatz, welcher
die Veränderung in der Welt einem Gesetz unterwirft; d. i. einer Regel des notwendigen
Daseins, ohne welche gar nicht einmal die Natur stattfinden würde. Daher ist der Satz:
nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr (. . .) ein Naturgesetz a priori, imgleichen:
keine Notwendigkeit der Natur ist blinde, sondern bedingte, mithin verständliche Not-
wendigkeit“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 257 f.
107 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 199.
108 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 205.
109 „So ist die Freiheit als Gegensatz zu Notwendigkeit nur das Fehlen dieser Nöti-
irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Ge-
genstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht“ 111. Freiheit
muß erfahrungsunabhängig gedacht werden112, der Freiheitsbegriff ist ein trans-
zendentaler113. Kant geht davon aus, daß es nicht gelingen werde, die „Wirk-
lichkeit der Freiheit“ beweisen zu können. Ob also Freiheit wirklich existiert,
darüber kann die menschliche Erkenntnisfähigkeit zu keinem Ergebnis kommen.
Es läßt sich nicht einmal die „Möglichkeit der Freiheit“ beweisen, weil dies dem
Kausalitätsgesetz widerspräche. Freiheit läßt sich dann nur als transzendentale
Idee begreifen, „wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Er-
scheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben gedenkt, dabei
sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem Ver-
stand vorschreibt, verwickelt“ 114. Kant muß beweisen, daß die Natur und ihre
Kausalität der „Kausalität aus Freiheit“, wie er sie nennt, „wenigstens nicht wi-
derstreite“ 115. Diesen Beweis erbringt er in der Auflösung der sogenannten Drit-
ten Antinomie116, weil ohne den Nachweis der Möglichkeit einer transzendental
verstandenen Freiheitsidee auch keine Möglichkeit für Freiheit in praktischer
Hinsicht bestehen könne117.
heit in der Republik, S. 19 ff., 34 ff.; ders., Res publica res populi, S. 333; M. Forsch-
ner, Gesetz und Freiheit, S. 247 f.
114 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 505 f.
115 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 506. H. Jonas, Das Prinzip Leben, S. 198 f.,
spricht von Freiheit als einer eigentümlichen Notwendigkeit, insofern gäbe es nur eine
Freiheit des Tuns, nicht des Unterlassens. Freiheit sei der Ariadnefaden für die Deutung
dessen, was wir Leben nennen, S. 18. Es gibt kein Reich der Freiheit außerhalb des
Reiches der Notwendigkeit, das wäre sonst eine leere Freiheit, die sich selbst aufhebte,
ders., Das Prinzip Verantwortung, S. 364.
116 Kant, Kritik der reinen Vernunft, „Auflösung der kosmologischen Ideen von der
Totalität der Ableitung der Weltgegebenheiten aus ihren Ursachen“, S. 488 ff.
117 Wenn „alle Kausalität in der Sinnenwelt (. . .) jede Handlung als ihren natürlichen
Erfolg notwendig machen müßte(n), so würde die Aufhebung der transzendentalen Frei-
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 35
a) Kants Zweiweltenlehre
Die Dritte Antinomie in Kants Kritik der reinen Vernunft besteht kurz gefaßt
in dem (vermeintlichen) Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalität118, dessen
Auflösung an der Erkenntnis festmacht, daß die Kausalität lediglich in der Welt
der Erscheinungen, nicht aber für ein Ding an sich bewiesen werden kann. „Wenn
Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, mithin Raum und Zeit Formen des
Daseins der Dinge an sich selbst: so würden die Bedingungen mit dem Bedingten
jederzeit als Glieder zu einer und derselben Reihe gehören“ 119, der Kausalreihe
der Natur nämlich: „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Frei-
heit nicht zu retten“ 120. Wenn aber die Erscheinungen nicht Dinge an sich, son-
dern nur Vorstellungen sind, „so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht
Erscheinung sind“, d.h., daß zwar eine Wirkung als Erscheinung erkennbar ist,
damit aber noch nicht zwangsläufig feststeht, daß die Ursache für diese erkannte
Wirkung ebenfalls als Erscheinung zwingend auftreten muß. Diese Ursache kann
auch im Ding an sich begründet liegen, welches den formalen Bedingungen von
Raum und Zeit jeder empirischen Erkenntnis nicht unterworfen ist. In diesem
Falle kann die Ursache „samt ihrer Kausalität außerhalb der Reihe, dagegen ihre
Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die
Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei gedacht, und
doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der
Notwendigkeit der Natur, angesehen werden“ 121. Dadurch ist es zumindest denk-
bar, daß nicht „eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Frei-
heit entspringen müsse“, sondern „vielmehr beides in verschiedener Beziehung
bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden kann“ 122. Zwar hat jede
Beobachtung zwingend eine Ursache, und die Kausalität ist im Reich der Er-
scheinungen demnach immer gegeben. Doch muß dies nicht zwingend für das
Ding an sich selbst gelten, sondern es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß
der Grund für diese Beobachtung trotz notwendiger Ursache als Erscheinung
dennoch als losgelöst von der Kausalität der Erscheinung, von selbst anfangend,
zumindest gedacht werden kann123. Kant geht damit von einer Doppelperspektive
von Freiheit und Notwendigkeit aus, seine „Zweiweltenlehre“ basiert auf zwei
heit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 489 f.; vgl. hierzu L. Kreimendahl, Kant – der Durchbruch von 1769, S. 199.
118 Vgl. M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 165 ff.
119 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 490.
120 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491.
121 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491.
122 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 491.
123 Wenn man Freiheit retten wolle, so „bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines
Dinges, so fern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch eine Kausalität nach dem
Gesetze der Naturnotwendigkeit, bloß der Erscheinung, die Freiheit aber eben demsel-
ben Wesen, als Dinge an sich selbst beizulegen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft,
S. 220.
36 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
verschiedenen Weltbegriffen: zum einen auf dem sensiblen, zum anderen auf
dem intelligiblen124. Freiheit ist eine transzendentale Idee, ein Noumenon.
Um die Bedeutung von Kants Zweiweltenlehre für die Freiheit als transzen-
dentale Idee darstellen zu können, ist Kants Unterscheidung zwischen Verstand
und Vernunft grundlegend. Der kritische Verstandesbegriff125 ist „selbst nichts
weiter“ „als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das mannigfaltige gegebe-
ner Vorstellungen unter die Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grund-
satz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist“ 126. „Und so ist die syn-
thetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstan-
desgebrauch (. . .) heften muß, ja, dieses Vermögen ist der Verstand selbst“ 127.
Der Verstand ist also die eine Seite der Erkenntnis, mit dem Verstand kann ge-
dacht werden. Aber, unsere „Natur bringe es so mit sich, daß (. . .) die Anschau-
ung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von
den Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand
sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist
der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben,
ohne Verstand keiner gedacht werden (. . .). Der Verstand vermag nichts anzu-
schauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen,
kann Erkenntnis entspringen“ 128. Das oberste Prinzip des Verstandes ist die syn-
thetische Einheit der Apperzeption129, die Einheit des Bewußtseins130. Überhaupt
ist das Vorstellen von Einheit ein Grundakt des Verstandes131. Die sinnliche
Wahrnehmung hingegen ist den formalen Bedingungen von Raum und Zeit un-
terworfen und damit eine endliche Anschauung. Die synthetische Einheit der Ap-
perzeption und die formalen Bedingungen von Raum und Zeit sind die höchsten
Grundsätze jeder menschlichen Erkenntnisfähigkeit132. Der Verstand ist damit
insgesamt das oberste Vermögen in der Endlichkeit der Erkenntnis133. Der reine
Verstand dagegen ist nach Kant losgelöst von der Sinnlichkeit, ist damit also nur
eine Form der möglichen Erkenntnis134. Er enthält die apriorischen Begriffe (die
Kategorien135) und Grundsätze, die nur zur empirischen Erkenntnis gebraucht
werden können136. Sie stellen „reine Schemata zur möglichen Erfahrung“ 137 dar.
Die Metaphysik ist für Kant die Philosophie, „welche die ersten Grundsätze des
Gebrauchs des reinen Verstandes enthält“ 138. Die Begriffe des reinen Verstandes
sind aber nicht angeboren, sondern solche, „die aus den der Erkenntniskraft ein-
gepflanzten Gesetzen (dadurch, daß man auf ihre Handlungen bei Gelegenheit
achtet) abgezogen und folglich erworben“ 139 sind. Die Grundsätze des reinen
Verstandes sind Gesetze, Verstandesgesetze. Kants These ist, daß sich der Begriff
des Naturgesetzes und die Vorstellung der Natur insgesamt nach den Gesetzen
der Verstandestätigkeit richten. Kants Argumentation steht also ganz im Sinne
der kopernikanischen Wende der Metaphysik: die Erkenntnis richtet sich nicht
nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach der Erkenntnis(-fähig-
keit): „Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die nach dem,
was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber ste-
hen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das
verknüpfende Vermögen vorschreibt“ 140. Dieses verknüpfende Vermögen ist der
Verstand als „das Vermögen der Regeln“ 141, und diese „Regeln, sofern sie objek-
tiv sind (mithin der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen) heißen
Gesetze“ 142. Dieses Regelwerk ist aber transzendental zu deduzieren143, weil
reinen Vernunft, S.116 ff. Die transzendentalen Kategorien sind „Funktionen in Aussa-
gen über Gegenstände“. Sie sind „eine rein logische Grammatik“ zur Erkenntnis der
empirischen Welt, Th. M. Seebohm, Über die unmögliche Möglichkeit, andere Katego-
rien zu denken als die unseren; in: Kants transzendentale Deduktion und die Möglich-
keit von Transzendentalphilosophie, S. 16 f.
137 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 268.
138 Kant, De Mundi Sensibilis, S. 37.
139 Kant, De Mundi Sensibilis, S. 38.
140 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156.
141 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 180.
142 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156.
143 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 125 ff. Vgl. hierzu etwa auch Th. M. See-
bohm, Über die unmögliche Möglichkeit, anderer Kategorien zu denken als die unseren;
in: Kants transzendentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphiloso-
phie, S. 11 ff. Seebohm nimmt hier Kant sehr überzeugend gegen die Kritik an seinem
Kategoriensystem, die zuerst von Hegel und Fichte vorgetragen wurde, in Schutz. Sei-
ner Überzeugung nach stellt das Kantische Kategoriensystem die „rein logische
Grammatik“ im Husserl’schen Sinne dar, ohne die der Mensch nicht urteilsfähig ist.
Andere kategorialen Systeme als das Kantische sind zwar grundsätzlich denkbar, kön-
38 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
nen aber keine logisch sinnvolle Bedeutung haben. Die Erkenntnis über die Welt ist nur
unter Bezugnahme auf eben dieses Kategoriensystem sinnvoll möglich. Warum es aber
gerade dieses Kategoriensystem ist, das dem Menschen die Welt erschließt, ist nicht
weiter hinterfragbar. Die Kategorien stellen die „Voraussetzungen unseres Erfahrens“
dar, S. 29. Zwar liefert auch Kant nicht den Nachweis, daß das von ihm aufgezeigte
System mit 12 Kategorien vollständig ist, dennoch ist auch Baumgartner der Auffas-
sung, daß die Synthesisfunktion des Verstandes nicht anders als über diese 12 Katego-
rien als Urteile a priori erfolgen kann, H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen
Vernunft“, S. 74.
144 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 156.
145 „Auf mehrere Gesetzgeber, als die, auf denen eine Natur überhaupt als Gesetzmä-
ßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandes-
vermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzu-
schreiben“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 157.
146 Die Naturgesetze sind besondere „Spezifikationen allgemeiner Verstandesgrund-
das Problem der Metaphysik, S. 118 f. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
sind überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, dieser
Satz bildet den obersten Grundsatz der Transzendenz. „Daher läßt er sich kurz auch so
fassen: das ein Erfahren Ermöglichende ermöglicht zugleich das Erfahrbare bzw. Erfah-
rene als ein solches. Das sagt: Transzendenz macht einem endlichen Wesen das Seiende
an ihm selbst zugänglich. Das ,Zugleichsein‘ in der Formel des obersten synthetischen
Grundsatzes bedeutet nicht nur, daß die beiden Bedingungen immer zugleich vorkom-
men, oder daß, wenn man die eine denke, auch die andere gedacht werden müsse, oder
gar, daß beide Bedingungen identisch seien. Der Grundsatz ist überhaupt kein im Rück-
schluß gewonnenes Prinzip, das man als gültig ansetzen muß, wenn die Erfahrung gel-
ten soll, sondern er ist der Ausdruck der ursprünglichsten phänomenologischen Erkennt-
nis der innersten einheitlichen Struktur der Transzendenz“, ders., Phänomenologische
Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 207, 402.
148 So auch M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der
reinen Vernunft, S. 400. Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe konstituieren ob-
jektive Realität, und darin liegt ihre eigene Objektivität begründet. Insofern ist es durch-
aus richtig, wenn Heidegger auch die Zeit als konstitutiv für den Begriff des Gegen-
standes betrachtet, S. 391.
149 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 200.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 39
selbst der Quell der Gesetze der Natur, so richtig, um dem Gegenstande nämlich
der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung. Zwar können
empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstande
herleiten, so wenig als die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus
der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich begriffen werden kann.
Aber alle empirischen Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Ge-
setze des Verstandes“ 150. Die Verstandesgesetze bilden somit die Grundlage für
die exakten Naturwissenschaften, allen voran für die Physik151.
Kant trennt, wie vor ihm etwa schon Aristoteles152, den Verstand von der Ver-
nunft. Der Verstand enthält die Regeln, mit deren Hilfe die empirische Erkennt-
nisfähigkeit möglich wird. Die Vernunft dagegen bezieht sich nicht auf die empi-
rische Erkenntnis, sondern auf die Tätigkeit des Verstandes per se und liefert
dafür die Regeln und Prinzipien153. Die Aufgabe der Vernunft ist es, die Einheit
der Verstandesregeln durch Prinzipien zu schaffen154. Die Erkenntnis dieser Prin-
zipien der Vernunft erfolgt über Vernunftschlüsse155, die sich nicht auf Gegen-
stände, sondern auf Begriffe in bezug auf den Verstand und dessen Urteile bezie-
hen, wobei nur diese wiederum Sinnliches und Gegenständliches betreffen156.
Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter
Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegen-
stand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Ein-
heit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz
anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann“, Kant, Kritik der rei-
nen Vernunft, S. 314.
154 Daß „die Vernunft im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des
Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen
und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche“, Kant, Kritik der reinen
Vernunft, S. 316.
155 Der Vernunftschluß ist an sich eine Subsumtionsleistung, die wesensbildend für
die Vernunft ist. „In jedem Vernunftschlusse denke ich zuerst eine Regel (maior) durch
den Verstand. Zweitens subsumiere ich eine Erkenntnis unter die Bedingung der Regel
(minor) vermittelst der Urteilskraft. Endlich bestimme ich meine Erkenntnis durch das
Prädikat der Regel (conclusio), mithin a priori durch die Vernunft“. Nach Kant gibt es
drei Kategorien von Vernunftschlüssen, kategorische, hypothetische und disjunktive, die
sich nach dem Verhältnis der Regel als Obersatz und zwischen der Erkenntnis und ihren
Bedingungen richtet, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 315.
156 „Die reine Vernunft hat unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über
das Feld der Erfahrung hinauslägen, zur Absicht, sondern fordert nur Vollständigkeit
des Verstandesgebrauchs im Zusammenhange der Erfahrung. Diese Vollständigkeit
kann aber nur eine Vollständigkeit der Prinzipien, aber nicht der Anschauung und Ge-
40 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Der Vernunftschluß ist „selbst nichts weiter als ein Urteil, vermittelst der Sub-
sumtion seiner Bedingung unter eine allgemeine Regel“ 157. Der logische Ge-
brauch der Vernunft ist die reine Vernunft und verläuft nach dem Grundsatz, „zu
dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die
Einheit desselben vollendet wird. Diese logische Maxime kann aber nicht anders
ein Principium der reinen Vernunft werden, als dadurch, daß man annimmt: wenn
das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter
Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande
seiner Verknüpfung enthalten)“ 158. Die reine Vernunft als rein logische Form, als
logische Maxime wie Kant es ausdrückt, ist das Antriebsmoment für den Ver-
stand, zu einem Bedingten und einer Reihe von Bedingungen das übergeordnete
Unbedingte zu suchen, und dies ausschließlich über Begriffe, nicht über die An-
schauung. Die höchste Einheit der begrifflichen Erkenntnis ist dann erreicht,
wenn bei der aufsteigenden Suche innerhalb der Reihe von Bedingungen dieje-
nige Bedingung gefunden wurde, die selbst nicht mehr bedingt ist159, sie ist das
Schlechthinunbedingte. Dieser Grundsatz der reinen Vernunft enthält also die lo-
gische Maxime des Strebens nach der Erkenntnis des Schlechthinunbedingten160.
Das Erfahrungsganze ist genau genommen kein Sein, sondern ein Werden161.
Weil sich die Tätigkeit der Vernunft nicht auf Gegenstände der Empirie bezieht,
sondern auf die schließenden Urteile über Begriffe als Tätigkeit des Verstan-
des162, müssen die einheitsstiftenden Vernunftbegriffe transzendentale sein. Die
Begriffe der reinen Vernunft, die reinen Vernunftbegriffe also, nennt Kant trans-
zendentale Ideen163. Eine Idee oder der Vernunftbegriff geht über die Erfahrung
der reinen Verstandesbegriffe hinaus164. Hervorzuheben ist, daß die Idee oder der
genstände sein“, Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissen-
schaft wird auftreten können, S. 202.
157 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 317.
158 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 318.
159 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 135.
160 St. Kröner, Kant, S. 89.
161 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 218.
162 Verstehen heißt Urteilen durch Begriffe, H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der
F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 165 ff.; H. M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen
Vernunft“, S. 103, 118.
164 Der „reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht
im reinen Bilde der Sinnlichkeit) heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Mög-
lichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff“, Kant, Kritik
der reinen Vernunft, S. 325. Zum Begriff der Notionen ausführlich M. Heidegger, Phä-
nomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 244. Reine Ver-
standesbegriffe sind a priori gegebene Notionen. „Der reine Verstandesbegriff wird gar
nicht durch die reine formallogische Funktion des Urteils gegeben, sondern er ent-
springt der imaginativen, anschauungs-, d.h. zeitbezogenen Synthesis“, S. 284; vgl. zur
Verstandesbegriffsbildung, ders., Kant und das Problem der Metaphysik, S. 51 ff. Die
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 41
Vernunftbegriff nicht mit objektiver Erkenntnis verwechselt werden darf, weil sie
sich nicht originär auf Gegenständliches beziehen, sondern sie haben primär re-
gulative Funktion, sprechen Regeln für das Verfahren des Verstandes aus, sie sind
gedankliche Bewegungen, „Schemate“ 165 eben. Weil aber die Verstandesleistung
auf die Empirie zielt, muß sich die Idee dennoch auf die erfahrbaren Objekte
anwenden lassen, sie ist die Zielprojektion, der sich die empirische Erkenntnis-
fähigkeit des Menschen bei der Objekterkenntnis annähert, ohne sie allerdings in
ihrer Begrifflichkeit je abschließend erfassen zu können. Somit soll sich die em-
pirische Erkenntnis eben auch der systematischen Einheit der Erkenntnis annä-
hern. Die Idee hat also eine doppelte Funktion: sie soll einheitsstiftend sowohl
für den erkennenden Verstand als auch für das empirisch Erkannte sein. Dieser
Sachverhalt bildet das „kritische“ Ökonomieprinzip des Denkens166.
d) Das Schlechthinunbedingte
Bei der Tätigkeit der Vernunft ist nach Kant von Bedeutung, daß das (ver-
nünftige) Schließen selbst unter Bedingungen steht. Die „vollendete Größe des
Umfanges, in Beziehung auf eine solche Bedingung“ nennt Kant „Totalität der
Bedingungen“ 167, und eben diese Totalität der Bedingungen stellt das Wesent-
liche des transzendentalen Vernunftbegriffes dar168. Die Vernunft treibt den Ver-
stand an, den letzten Grund der menschlichen Erkenntnis und die Totalität der
Vorstellung bildet sich zum Begriff „im Grundakt des vorgängigen Heraussehens des
vielgültigen Einen“, S. 53.
165 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 166.
166 Vgl. hierzu sehr überzeugend F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 192 f.
167 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 328.
168 „Also ist der transzendentale Vernunftbegriff kein anderer, als der von der Totali-
tät der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Da nun das Unbedingte alleine die
Totalität der Bedingungen möglich macht, und umgekehrt die Totalität der Bedingun-
gen jederzeit selbst unbedingt ist: so kann ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch
den Begriff des Unbedingten, so fern er einen Grund der Synthesis des Bedingten
enthält, erklärt werden“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 328. H. Cohen, Kants Be-
gründung der Ethik, S. 79, zufolge ist dieses Unbedingte mit dem Ding an sich iden-
tisch. „Das Prinzip des Schlusses ist die Idee des Unbedingten. Man kann es so formu-
lieren: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist die vollendete Reihe der Bedingungen, das
Unbedingte, welches als ein Gegenstand vorgestellt wird, als Aufgabe zu denken. Die
Idee des Unbedingten ist die vollendete Reihe, ist die Idee der Totalität der Bedingun-
gen für das Bedingte. Es ist die Idee des Ding an sich für die Begriffe der Erscheinun-
gen“. Ideen sind also Vernunfteinheiten des Unbedingten, S. 87. Darüber hinaus sind
sie Realitätsmesser, S. 89, dahin gehend, daß Erkenntnis sich dann einstellt, wenn das
sinnlich Wahrgenommene mit dem Inhalt der Idee weitgehend identisch ist. Die Idee
selbst konstruiert aber nicht selbst die Erkenntnis, sondern wird zur Erkenntnisfindung
regulativ gebraucht, sie ist eine Vernunfteinheit, der sich die Erkenntnis annähern soll.
„Alles Denken der Erscheinungen in Begriffen bildet Einheiten: die Ideen stellen die
zur Vollständigkeit erweiterten Einheiten dar. Das ist das Ziel alles Forschens: die syste-
matische Einheit“, S. 96.
42 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
dingungen wenigstens als Aufgaben, um die Einheit des Verstandes, wo möglich, bis
zum Unbedingten fortzusetzen, notwendig und in der Natur der menschlichen Vernunft
gegründet, (. . .) und sie mithin keinen anderen Nutzen haben, als den Verstand in die
Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich
mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird“, Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 328.
171 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 330.
172 „Ich verstehe unter einer Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kon-
gruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt er-
wogene reine Vernunftbegriffe transzendentale Ideen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 331.
173 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 331.
174 Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auf-
treten können, S. 198: „Jede einzelne Erfahrung ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre
ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Er-
fahrung, und dennoch ein notwendiges Problem vor die Vernunft, zu dessen bloßer Vor-
stellung sie ganz andere Begriffe notwendig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe,
(. . .), indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit
der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausge-
hen, und transzendent werden.“
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 43
können aber die reinen Vernunftbegriffe vom Verstand zwar nicht abschließend
erkannt und erfahren werden, doch trotz ihrer tiefen Unergründlichkeit zumin-
dest als logische Maxime, als regulative Schemata gedacht werden, auch für die
Erkenntnis der Vernunftprinzipien selbst. Es bleibt dennoch „ein Problem ohne
alle Auflösung“.
Der Verstand steuert die Wahrnehmung in der Sinnenwelt, um damit die Welt
der Erscheinungen zu erschließen. Damit kann der Verstand aber nur den Istzu-
stand der den Menschen umgebenen natürlichen Umwelt erkennen. Die Vernunft
dagegen regelt die Tätigkeit des Verstandes und ist „von allen empirischbeding-
ten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloß nach Ideen erwägt und
den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (zwar auch reinen) Begrif-
fen einen empirischen Gebrauch macht“ 175. Die Vernunft schreibt also dem Ver-
stand bei seinem empirischen Gebrauch die Regeln, die Imperative vor. Damit ist
das empirisch unbedingte Sollen als Begriff in Stellung gebracht worden. Das
Sollen kann in der Natur nicht vorkommen, der Verstand jedenfalls könnte es
empirisch nicht erkennen, sondern lediglich den Istzustand ermitteln176. „Dieses
Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders,
als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund
jederzeit eine Erscheinung sein muß. Nun muß die Handlung unter Naturbedin-
gungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist“, wobei allerdings
„diese Naturbedingungen nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Er-
scheinung“ betreffen177. Damit hat die Vernunft wirklich Kausalität „in Anse-
hung der Erscheinungen“ 178. Das Wesentliche des Vernunftbegriffs ist die Totali-
tät der Bedingungen als das an sich Unbedingte. Dies bedeutet, daß die Vernunft
empirisch unbedingt und somit „außer der Reihe der Erscheinungen (im Intelligi-
blen) und mithin keiner sinnlichen Bedingung und keiner Zeitbestimmung durch
vorhergehende Ursachen unterworfen“ ist. Das Kausalitätsgesetz kann also auf
die reine Vernunft nicht angewendet werden, weil sie der Zeitfolge nicht unter-
worfen ist179. Die Vernunft erzeugt den Anfang der Bedingungen und der Reihe
der Bedingungen aus sich selbst heraus180, sie ist das letztlich Unbedingte. Nach-
dem aber die Vernunft durch den Begriff des Sollens die Möglichkeit einer Hand-
lung darstellt, stellt sie eine Kausalität aus Freiheit dar, weil jede menschliche
Handlung nur und ausschließlich empirischen Bedingungen unterworfen, von
den Zeitbedingungen also nicht unabhängig ist und auch von selbst nicht anfan-
gen kann. Weil der Mensch aber selbst nur eine Erscheinung ist, hat das Kausa-
litätsgesetz auch durch die Zeitunabhängigkeit der Vernunft seine grundsätzliche
Gültigkeit nicht verloren. Wenn die Naturkausalität an der Bedingung der Zeit
festgemacht ist, also ein Ereignis in der Welt der Erscheinungen eine der Zeit
nach vorhergehende Ursache haben muß, kann sich dennoch das handelnde Sub-
jekt als Ding an sich zumindest denken. Es begreift sich selbst (und nicht nur
seine Vernunft) als nicht unter Zeitbedingungen stehend, und dabei als durch
selbst gegebene Gesetze der Vernunft bestimmt181: Das Ich-Bewußtsein steht
demnach außerhalb der Zeit182. Die Vernunft ist der letztlich und schlechthin un-
bedingte Grund für die willkürlichen Handlungen, die als frei zumindest gedacht
werden können, obwohl sie gleichzeitig in der empirischen Welt unter der Bedin-
gung der Naturkausalität stehen183: „Freiheit ist die Denkbarkeit, einen neuen
179 „Denn da Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der
Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Kausalität, keine
Zeitfolge statt, und auf sie kann also das dynamische Gesetz der Natur, was die Zeit-
folge nach Regeln bestimmt, nicht angewandt werden“, Kant, Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 502.
180 Wenn „Vernunft Kausalität in Ansehung der Erscheinungen haben kann: so ist sie
ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von
Wirkungen zuerst anfängt. Denn die Bedingung, die in der Vernunft liegt, ist nicht sinn-
lich, und fängt also selbst nicht an“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 501.
181 „Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen,
unter denen der Mensch erscheint. Jede derselben ist im empirischen Charakter des
Menschen vorher bestimmt, ehe noch sie geschieht. In Ansehung des intelligiblen Cha-
rakters, wovon jener nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher, oder Nachher, und
jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen
steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft,
welche mithin frei handelt, ohne in der Kette der Naturursachen, durch äußere oder
innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein, und
diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen
Bedingungen ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursa-
che der Erscheinungen zu sein), sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen,
eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nicht anfängt,
sondern sie, als unbedingte Bedingung jeder willkürlichen Handlung, über sich keine
der Zeit nach vorhergehende Bedingungen verstattet, indessen daß doch ihre Wirkung
in der Reihe der Erscheinungen anfängt, aber darin niemals einen schlechthin ersten
Anfang ausmachen kann“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 502 f.
182 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 169.
183 Daß „obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und
seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer
Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider
ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empiri-
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 45
Anfang zu setzen“ 184. Der Mensch kann sich als „intelligible Ursache“ 185 einer
neuen Kausalreihe denken. Andererseits kann der alleinige Grund für willkür-
liches Handeln gar nicht anders als in der Vernunft begründet gesehen werden,
weil die Wirkung der Handlung nur in der Empirie ausgemacht werden kann, in
der wegen der Naturkausalität ein schlechthin erster Anfang, ein von selbst Be-
ginnen, eine Ursache oder Grund, nicht gefunden werden kann, in Kants Worten:
„keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse heraus zu be-
kommen ist“ 186. Die Kausalität behält nach Kant damit zwar ihre universelle
Gültigkeit. Gedanklich zu unterscheiden ist aber die Kausalität der Natur von der
Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit ist eine besondere Kausalität, bei
der die absolute Spontaneität als Ursache einer neuen Kausalreihe aufgefaßt
wird187, wenn die Vernunft „in der Reihe der Kausalverbindungen sich das Unbe-
dingte denken will“ 188. Spontaneität als ein produktives Vermögen des Bewußt-
seins189 durchdringt den menschlichen Geist durchgängig190. Begrifflich ist Frei-
heit eine logische Möglichkeit, eine transzendentale Idee, ein Noumenon, und
keine empirische Realität; „denn im noumenalen Bereich ist eine Kausalität aus
Freiheit widerspruchsfrei zu denken“ 191. Die Freiheit als transzendentale Idee
muß zumindest als denklogische Möglichkeit zwingend voraus gesetzt werden,
wenn Freiheit praktisch möglich sein soll192.
schen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst an-
zufangen“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 490; dazu J. Timmermann, Sittengesetz
und Freiheit, S. 116 ff.
184 H. Arendt, Was ist Politik?, S. 34, 49.
185 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 117.
186 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 489.
187 Mithin „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, Kant, Kritik
der reinen Vernunft, S. 490; Freiheit ist Spontaneität, aus uns selbst heraus, unabhängig
und von allein einen Zustand zuerst anzufangen, J. Timmermann, Sittengesetz und Frei-
heit, S. 12, 92 f.
188 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 107.
189 „Das, ich denke, drückt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen“, Kant, Kritik
trifft193. Reine Vernunft und praktische Vernunft unterscheiden sich nicht wesent-
lich194. Es gibt nur eine Vernunft195, weil es dasselbe Erkenntnisvermögen ist196.
Praktische Vernunft ist der praktische Gebrauch der (reinen) Vernunft197, Kant
spricht von rein praktischer Vernunft198. Der Unterschied zwischen „rein prakti-
scher Vernunft“ und „praktischer Vernunft“ besteht darin, daß die rein praktische
Vernunft a priori gilt, das erweist das Wort „rein“. Praktische Vernunft gilt hinge-
gen a posteriori199.
Der „Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Ge-
setz der praktischen Vernunft bewiesen ist“ 200, bekommt „objektive Realität, d. i.
die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist“ 201.
Und dieses praktische Gesetz ist das „Grundgesetz der reinen praktischen Ver-
nunft“: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ 202. Durch dieses moralische Ge-
setz, durch das Sittengesetz also, offenbart sich die Idee der Freiheit203. Es zeigt
nämlich, daß der Mensch nicht ausschließlich durch die Gesetze der Natur deter-
miniert ist, sondern sich als Intelligenz davon losgelöst und mit Spontaneität be-
gabt zumindest denken kann und denken muß, wenn er handeln können soll204.
193 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 264, bezeichnet sie als „Postulate der
reinen praktischen Vernunft“: „Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Frei-
heit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligiblen Welt
gehört), und des Daseins Gottes.“
194 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 190.
195 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 16; Th. W. Adorno, Probleme der
Moralphilosophie, S. 45.
196 M. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theo-
notwendigkeit letztlich unbegreiflich ist: „Und so begreifen wir zwar nicht die prak-
tische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch
seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die
bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann“,
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 102; dazu K. A. Schachtschneider,
Freiheit in der Republik, S. 36 ff.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 47
Das Sittengesetz ist also die Erkenntnis eines freien Schöpfungsaktes in unserer
Welt205. Es ist ein Faktum206, dessen Faktizität der Mensch weiß207. Das morali-
sche Gesetz ist die conditio sine qua non für die Erkenntnis der Freiheit, Freiheit
dagegen der Wesensgrund des moralischen Gesetzes: „daß die Freiheit allerdings
die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio
cognescendi der Freiheit sei“ 208. Es ist ein Gesetz der Logik209. Das moralische
Gesetz, „welches wir wissen“ 210, gilt als Grundgesetz der reinen praktischen
Vernunft mit Apriorität211. Folglich kann der Mensch auch die Möglichkeit der
Freiheit, S. 28.
208 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108, Anmerkung; M. Forschner, Gesetz
und Freiheit, S. 272, spricht vom Sittengesetz als Implikat menschlicher Freiheit.
209 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 35, insofern seien die Grundüberlegun-
weil aus der Erfahrung kein Sollen abgeleitet werden kann, H. Cohen, Kants Begrün-
dung der Ethik, S. 218. Das Sollen ist die Notwendigkeit eines vom (sinnlichen) Begeh-
rungsvermögen unterschiedenen Wollens, S. 141, liegt jenseits der Erfahrung und ist
auch methodisch unabhängig von ihr zu denken, S. 144. Das Sittliche ist selbst nur als
regulative Idee zu begreifen und damit als eine Grenzbestimmung der Erfahrung. An
dieser Grenze gelten dann die Ideen, damit auch das Sittliche, als noumenale Maximen,
und zwar a priori, S. 177. Bei der Entdeckung des Moralischen geht es um die Ent-
deckung dieses Aprioris, S. 180. Im Bereich des Praktischen hingegen ist diese nun
möglich durch die Form der allgemeinen Gesetzgebung, „das allein dürfte das Apriori
der Ethik sein: das wir die Gesetzmäßigkeit einer allgemeinen Gesetzgebung denken.
Dieser Gedanke selbst sei der alleinige Beweggrund des praktischen Vernunftgebrauchs.
Sonst gibt es kein Gesetz“. Das praktisch-ethische Apriori besteht in der Gesetzmäßig-
keit, die ihrerseits zweierlei erfordert: zu einen, der Gedanke einer allgemeinen Gesetz-
gebung. Das Gesetz als Vernunftbegriff kann nur gedacht werden in Form einer allge-
meinen Gesetzgebung, also „nicht bloß in sinnlichen Einschränkung, für wechselnde
Zeitverhältnisse, noch für eine ablösbare Anzahl von Individuen geltend: der Vernunft-
idee einer noumenalen Begrenzung aller Erfahrung, auf den praktischen Vernunftge-
brauch bezogen, muss diese Gesetzgebung entsprechend als eine allgemeine“, S. 213 f.
Diese Form der allgemeinen Gesetzgebung als Apriori ist Ausdruck der ethischen Rea-
lität. Zweitens ist erforderlich, daß diese allgemeine Gesetzgebung der alleinige Bestim-
mungsgrund des Willens ist, soll heißen, daß diese Gesetzgebung selbst „das Gesetz der
Erzeugung des Willens“ ist, S. 215. Die Gesetzmäßigkeit des Wollens entspricht der
Form des Gesetzes und stellt den reinen Willen dar. Es ist nicht das Gesetz der Bestim-
48 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Freiheit a priori wissen212. Das (nicht zu leugnende) Sittengesetz ist also das Er-
kenntnisgesetz der Freiheit: Jemand „urteilt also, daß er etwas kann, darum, weil
er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst
ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ 213.
Rein praktische Vernunft ist das „Vermögen zum Wollen“ 214 und gleichzeitig
die Erkenntnis des Sollens an sich215, also daß es ein Sollen überhaupt gibt, un-
abhängig davon, was material gesollt wird. Die rein praktische Vernunft ist die
allgemeine sittliche Bestimmung des Menschen216: „Reine Vernunft ist für sich
allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir
das Sittengesetz nennen“ 217. Der praktische Gebrauch der reinen Vernunft im
Hinblick auf die Freiheit218 läßt sich durch das Handeln beweisen219. Eine Hand-
lung ist eine Tat, bei der der Handelnde Urheber einer Wirkung ist220, und zwar
bei strenger Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes als Naturgesetz im Reich der
menschlichen Lebenswirklichkeit221. Die Tat beweist zusammen mit dem Faktum
des Sittengesetzes die praktische Realität der reinen Vernunft222. Damit liegt die
Moralität in der reinen Vernunft begründet, wobei der Ausdruck rein in einem
mungsgrund der Moral, sondern nur die formale Gesetzmäßigkeit des Wollens, weil
sonst dieser Bestimmungsgrund nicht a priori gedacht werden könnte, weil der nämlich
auf ein Objekt zielte, auf das Gesetz selbst. Der Bestimmungsgrund der Moral läge
dann in der Willensgesinnung im objektiv Empirischen und nicht im erforderlichen
apriorisch-noumenalen Bereich. Der reine Wille rekurriert eben auf diese Gesetzmäßig-
keit des Wollens.
212 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 108.
213 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 139 f.; ders., Metaphysik der Sitten,
nunft an der Verwirklichung des Sollens wird von Kant auch als „reines Interesse“ be-
zeichnet, dazu F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 178, mit Bezug
auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 97, Anmerkung, der an dieser
Stelle von „reinem Vernunftinteresse“ spricht.
217 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 142.
218 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 111.
219 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 213; „Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirk-
lich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und
alles Vernünfteln wider die Möglichkeit es zu sein, ist vergeblich“, Kant, Kritik der
praktischen Vernunft, S. 107.
220 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 329 auf die weiteren Kennzeichen für eine Tat
doppelten Sinn von Kant verwendet wird: rein vernunftgemäß bedeutet im Hin-
blick auf die Erkenntnis „von sinnlichem Material unentstellt“, und in bezug auf
das Handeln, daß es „rein nach Gesetzen der Vernunft“ erfolgt223. Allerdings gilt
auch in praktischer Hinsicht, daß der Antagonismus zwischen der Kausalität „als
Naturmechanism“ und der Freiheit im Grunde bestehen bleibt und im erkennen-
den Subjekt nur dadurch in Einklang gebracht werden kann, indem die Kausalität
aus Freiheit lediglich gedacht, die Kausalität der Natur dagegen in den Erschei-
nungen vorgestellt wird224. Der Mensch ist als Verstandeswesen nicht nur zur
empirischen, sondern gleichzeitig zur intelligiblen Welt zugehörig und insoweit
nicht dem Kausalitätsgesetz (der Natur) unterworfen. So kann er sich zumindest
denken, als unbedingte Ursache einer Kausalität in der empirischen Welt zu wir-
ken225. Dadurch kann eine Handlung als zwar physisch bedingt, weil in der em-
pirischen Welt der Naturkausalität unterworfen, gleichzeitig als frei gedacht wer-
den, wenn sich der Handelnde mit seinem Ich-Bewußtsein als physisch unbedingt
begreift. Die Vorstellung einer freien Handlung ist ja insofern ein Problem, weil
die Handlung in der empirischen Welt erfolgt, also der Naturkausalität unterwor-
fen ist226, die ihrerseits der Bedingung der Zeit unterworfen ist. In der Welt der
Erscheinungen hat eine jetzt erfolgende Handlung ihren Bestimmungsgrund in
der Vergangenheit227, auf die aber der Handelnde keine Einflußmöglichkeit be-
daß der Mensch frei sei, weil er eben auch Ding an sich selbst ist und ihm insofern
auch die Spontaneität zugeschrieben werden müsse, soll heißen, daß es ihm möglich
sei, einen selbständigen Anfang in der Kausalreihe zu machen, vgl. auch die Ausführun-
gen auf S. 162 f., 220.
226 Zwar muß der Handelnde mit seiner Handlung „aber doch Naturnotwendigkeit
bei sich führen, mithin keine transzendentale Freiheit übrig lassen, welche als Unabhän-
gigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß“.
Aber ohne gedachte Loslösung von der Naturnotwendigkeit in der empirischen Welt
wäre die Vorstellung einer Freiheit als praktisch freie Handlung des Menschen nicht
mehr als die „Freiheit eines Bratenwenders (. . .), der auch, wenn er einmal aufgezogen
worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“, Kant, Kritik der praktischen Ver-
nunft, S. 222.
227 Kant hat darauf hingewiesen, daß man die menschlichen Handlungen nach empi-
rischen Gesetzen – in die Vergangenheit gerichtet – erklären, nicht aber, diese dadurch
mit Sicherheit – in die Zukunft gerichtet – voraussagen könne, J. Timmermann, Sitten-
gesetz und Freiheit, S. 128 f. Dies kann überhaupt nur gelingen, wenn man beim Men-
schen Freiheit voraussetzt, und damit voraussetzt, daß er sich als Intelligenz auch bei
entgegen gesetzten empirischen Motivlagen dafür entscheidet, vernünftig und dem Sol-
len gemäß zu handeln. Das menschliche Zusammenleben wäre praktisch unmöglich,
wenn die Menschen in der Gemeinschaft nicht einigermaßen richtig einschätzen könn-
ten, wie die Mitmenschen handeln werden. So wäre jeder Vertragsabschluß völlig sinn-
los, wenn die Einhaltung des Vertrages etwa lediglich vom empirischen Charakter der
Vertragsschließenden abhinge. Das Risiko, daß die Menschen das Sollen verfehlen,
kann natürlich niemals ausgeschlossen werden; dies allerdings ist sittlich/ethisch und
50 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
sitzt. Es würde in der Welt der Erscheinungen eine freie Handlung unmöglich
sein, weil das handelnde Subjekt eben auch Erscheinung ist und keine Gewalt
über die Vergangenheit hat. Weil aber das handelnde Subjekt als nicht unter Zeit-
bedingungen stehend zumindest gedacht werden kann228 und die Vernunft selbst
ebenfalls zeitlos ist, kann eine menschliche Handlung als unabhängig von der
Naturkausalität und somit als von selbst anfangend, eben als frei gedacht wer-
den229.
Jede menschliche Handlung, auch die freie, steht aber damit unter Gesetzen.
Ein und derselbe Mensch lebt in zwei Welten, das ergab die Auflösung der Drit-
ten Antinomie. Als vernünftiges Wesen nimmt er „zwei Standpunkte“ ein, näm-
lich sowohl als zur Sinnenwelt als auch zur Verstandeswelt zugehörig, wobei sich
der Mensch innerhalb der letzteren lediglich als „Intelligenz“ und damit unab-
hängig von der Sinnenwelt denkt230.
Die praktische Realität der Freiheit läßt sich nur durch die Bestimmungs-
gründe für die menschliche Tat beweisen, die rein, also empirisch unbedingt sein
müssen, und nur den Gesetzen der Vernunft entsprechen dürfen. Nach Kants De-
finition ist der Wille das Vermögen, sein Begehren durch Zweckvorstellungen
bestimmen zu lassen: „Das Vermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vor-
stellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist, würde der Wille
sein“ 231, er ist das „Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der
Vorstellung eines Zweckes gemäß zu handeln, bestimmbar ist“ 232: „Keine Hand-
lung kann zwecklos sein“ 233. Nun kann sich die Vernunft aber auch auf den
damit auch rechtlich bewertbar, was ohne Annahme von Freiheit und Sollen nicht mög-
lich wäre.
228 „Aber eben dasselbe Subjekt, das sich andererseits auch seiner, als Dinges an sich
selbst, bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen
steht“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 223.
229 Kant liefert in der Kritik der reinen Vernunft, S. 490, ein Argument für die Hand-
lungsmächtigkeit des Menschen und damit für die praktische Freiheit. Es ist die Er-
kenntnis, daß der Mensch den empirischen Geschehnisverlauf, der nach der Erfahrung
hätte geschehen sollen, beeinflussen kann: Praktische Freiheit setzt voraus, „daß, ob-
gleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in
der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kau-
salität liege, unabhängig von jeden Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und
Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen be-
stimmt ist, mithin einen Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“.
230 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88.
231 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 299.
232 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 135.
233 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66 ff.; ders., Kritik der prakti-
schen Vernunft, S. 144 ff.; ders., Metaphysik der Sitten, S. 514 f.; dazu K. A. Schacht-
schneider, Freiheit in der Republik, S. 62 f.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 51
234 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41; zu den unterschiedlichen
Freiheit in der Republik, S. 60 ff.; J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 30, be-
zeichnet den Willen als „Variante der Kausalität, weil wir durch ihn als Ursache auf die
Welt einwirken“.
236 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 81 f.; dazu M. Forschner, Ge-
setz und Freiheit, S. 227 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 60 ff.
237 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 122.
238 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126.
239 „Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen
eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden auch subjektiv not-
wendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft,
unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt“, Kant,
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41.
240 „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend
ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ“, Kant,
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41.
241 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 98.
242 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 210; Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333.
243 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 53.
244 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126.
52 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
245 Triebfedern sind rein subjektive Gründe des Begehrens, Bewegungsgründe objek-
tive Gründe des Wollens, letztere gelten für alle vernünftige Wesen, Kant, Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, S. 59.
246 F. Kaulbach, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 10, weist darauf hin, daß
der praktisch moralische Wille den gebotenen Pflichteninhalt nicht außer Acht lassen
darf. Aber, der moralische Wille darf sich vom Gedanken an den Erfolg nicht bestim-
men lassen. Er sieht durch den kategorischen Imperativ einen „transzendentalen Per-
spektivismus“ der praktischen Philosophie Kants begründet, weil die moralische Bewer-
tung davon abhinge, die in Frage kommende Handlungsmaxime in der Perspektive der
praktischen Gesetzlichkeit zu beurteilen und auszuwählen, S. 24. Dementsprechend
wird auch Verantwortung aus der Perspektive der Gesinnung zum guten Willen, wo-
durch es erst möglich ist, die Verwirklichung von Zwecken selbst als wertvoll zu be-
urteilen und zu entscheiden, was Verantwortung wert ist, S. 28, vgl. auch S. 138 ff.
247 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126.
248 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 127.
249 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 15; Kant bezeichnet den Willen,
„der ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Prinzipien a priori, bestimmt
werde, und den man einen reinen Willen nennen könnte“. Insofern ist es korrekt, wenn
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, S. 170, den Willen als Ding
an sich qualifiziert, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß für ihn der Wille
das alleinige Ding an sich ist: der Wille ist die „Objektität“ aller „Vorstellung, alles
Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit“.
250 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 263.
251 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 96.
252 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 91.
253 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88.
254 Dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 27.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 53
heit des Willens ist das Vermögen, unabhängig von Naturursachen vernünftig255,
damit aber ausschließlich dem Sittengesetz gemäß zu handeln: „Denn wo das
sittliche Gesetz spricht, da gibt es objektiv keine freie Wahl in Ansehung dessen,
was zu tun sei“ 256. Eine Handlung ist nicht frei, wenn sie nicht gesetzlich ist, und
Gesetzlosigkeit ist ein Unvermögen zur Freiheit257.
Der Wille ist die „wirkende Ursache“ der menschlichen Handlung, sofern sich
der Mensch als „Intelligenz zur Verstandeswelt“ denkt. Weil aber jede Handlung
unter Gesetzen steht, also empirisch unter Naturgesetzen und intelligibel unter
Verstandesgesetzen, muß der Wille als „unmittelbar gesetzgebend“ gedacht wer-
den. Die Idee der Freiheit beinhaltet immer das Gesetz und ist daher untrennbar
mit der Autonomie des Willens verbunden. Wäre der Mensch nichts als Intelli-
genz, so wären alle seine Handlungen „dem Prinzip der Autonomie des reinen
Willens vollkommen gemäß“, der menschliche Wille wäre „der Idealfall eines
heiligen Willens“ 258. Aber, der Mensch ist eben nicht ausschließlich Intelligenz,
sondern auch ein sinnliches Wesen. Aus diesem Grunde kann nur gefordert wer-
den, daß seine Handlungen der Autonomie des Willens „gemäß sein sollen“, und
dieses Sollen gilt kategorisch und a priori259, mit anderen Worten, das katego-
rische Sollen, das Sollen an sich, kann überhaupt nur gedacht werden, weil der
Mensch ein sinnliches Wesen und nicht bloß Intelligenz ist. Aus dieser anthropo-
logischen Dichotomie des Menschen als Vernunft- und Naturwesen zugleich260
ergeben sich für Kant alle moralischen Probleme261. Werden nun beide Stand-
punkte, die zwei Welten zusammen betrachtet, weil es ein und derselbe Mensch
ist, so bedeutet dies: „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen
als Gliedes einer intelligiblen Welt, und wird nur so fern von ihm als Sollen ge-
dacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“. Das ist die
Konsequenz der Auflösung der Dritten Antinomie in Hinblick auf die mensch-
lichen Handlungen: es besteht „kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und
Naturnotwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen“, sondern beide
müssen als „notwendig vereint, in demselben Subjekt gedacht werden“ 262. Wenn
S. 228.
259 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 89 f.
260 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 94 ff.
261 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 56.
262 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 92 f.
54 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
der Mensch dem Sollen gemäß handeln können soll, so ist dies nur denkbar,
wenn er seinen Willen durch das Sittengesetz und nicht durch das Naturgesetz
bestimmen läßt263. Ohne das kategorische Sollen kann die Frage nach Moralität
und Ethik nicht gestellt werden, praktische Philosophie264 als normative Hand-
lungswissenschaft oder gar die Rechtswissenschaft wären unmöglich, weil ohne
moralisches Sollen keine Beurteilung über Handlungen, „die hätten geschehen
sollen, ob sie gleich nicht geschehen sind“ 265, denkbar ist.
Das Sollen als das „eigene notwendige Wollen“ ist die Autonomie des Willens.
Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind „beides Autonomie, mithin
Wechselbegriffe“ 266. Was „kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als
Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ 267?
Angesprochen ist dabei die „Idee eines vernünftigen Wesen, das keinem Gesetze
gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ 268. Die Autonomie des Willens
zielt auf ein Gesetz des Handelns, das sich der Wille selbst und unabhängig von
aller Beschaffenheit der Willensobjekte (der Materie des Wollens)269, also rein,
nur durch seine Form bestimmt, gibt. Der „schlechterdings gute Wille“ zielt auf
die „Form des Wollens“ und ist als Autonomie „selbst das alleinige Gesetz, das
sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne irgend eine
Triebfeder und Interesse derselben als Grund unterzulegen“ 270.
Republik, S. 63 ff.
275 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 157; dies bedeutet allerdings nicht,
daß man, wenn man in einer Situation nach einer bestimmten Maxime gehandelt hat,
nach dieser Maxime auch weiterhin handeln wird.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 55
wählen276. Sie sind Vorschriften der „Geschicklichkeit“ 277, wie der Mensch han-
deln sollte, um einen bestimmten Effekt in seiner Lebenswirklichkeit zu erzie-
len278, setzen also einen gewollten Zweck bereits voraus279. Die Maxime schließt
also den Zweck ein, um dessentwillen der Mensch in einer Situation eines be-
stimmten Typs eine Handlung einer bestimmten Art auszuführen gedenkt280.
Kant nennt die Maxime hypothetische Imperative. Sie sind „zwar praktische Vor-
schriften, aber keine Gesetze“, weil „sie bedingt sind, d. i. nicht den Willen
schlechthin als Willen, sondern nur in Ansehung einer begehrten Wirkung be-
stimmen“ 281. Dies liegt daran, daß die Handlung, die einer Maxime folgt, ledig-
lich vom subjektiven „Begehrungsvermögen“ abhängt, also nicht objektiv zwin-
gend erfolgt. Hypothetische Imperative sind im Wesentlichen nicht mehr als Fest-
stellungen über den Lauf der Natur282. Sie schreiben die Mittel zur Erreichung
eines beabsichtigten Zweckes vor, und „stellen die praktische Notwendigkeit ei-
ner möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will (oder doch
276 St. Kröner, Kant, S. 110. O. Höffe, Ethik und Politik, S. 88 f., hat darauf hinge-
wiesen, daß Maximen nicht für einen unwiederholbaren Fall gelten, sondern für eine
Mehrzahl gleicher Fälle. Außerdem beträfen sie nicht eine Gleichförmigkeit der Hand-
lungen, sondern als selbstgesetzte Regel die Bestimmungsgründe individuellen Wollens.
Dementsprechend bezieht sich Sittlichkeit nicht auf das Handlungsergebnis, sondern
auf den zugrunde liegenden Willen. Diese Auffassung führt dann auch zu der Erkennt-
nis, daß Maximen keine bloßen Handlungsregeln darstellen, die verabsolutiert werden,
sondern daß Handlungen situationsabhängig erfolgen können, S. 96. Sittlichkeit und
Moralität des Handelns erfordern gerade kein starres Handlungskorsett; in diese Rich-
tung argumentiert auch J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 157 f.
277 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 44.
278 Generell werden derartige „subjektive Grundsätze, die nicht von der Beschaffen-
heit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft in Ansehung einer gewissen mög-
lichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts hergenommen sind“, von Kant als
„Maximen“ (der Vernunfterkenntnis) bezeichnet, Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 580. Das bedeutet, daß die Instellungbringung der Freiheitsidee eine subjektive
Maxime ist, die notwendig ist, um die systematische Einheit der Vernunfterkenntnis zu
ermöglichen. Freiheit ist also nicht nur eine logische Möglichkeit, sondern eine zwin-
gende Basisannahme auch für die empirische Erkenntnis. Damit ist die Ethik als Dar-
stellung des regulativen Gebrauchs der (kosmologischen) Ideen auch erforderlich für
die empirische Erkenntnis, H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 102. Als „kos-
mologisch“ bezeichnet Kant alle Ideen, die über die Grenze möglicher Erfahrung hin-
ausreichen. Es sind die Ideen, die bis zum „Unbedingten erweiterte Kategorien“ sind,
Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 402. Darüber hinaus ist die Freiheitsidee als regula-
tive Maxime natürlich für die Möglichkeit der ethischen Erkenntnis, als für das, was
nicht ist, zwingende Voraussetzung, H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 129. Die
Idee der Freiheit ist der höchste, im Transzendentalen festzumachende Punkt der
menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt.
279 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 77.
280 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 151 f.
281 „Alle praktischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens,
als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können
keine praktischen Gesetze abgeben“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 126 f.
282 St. Kröner, Kant, S. 112; so auch O. Höffe, Immanuel Kant, S. 184.
56 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor“ 283. Alle Prinzipien, die sich auf
die sinnlich-empirische Welt beziehen, können keine Gesetze darstellen, sondern
gehören zum Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit und somit in
das Reich der Gefühle und Sinnen. Sie gehören zum „unteren Begehrungsvermö-
gen“ 284. Die „Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wirkun-
gen, als Zwecke und Triebfedern“ haben „keinen unbedingten und moralischen
Wert“ 285: hypothetische Imperative sind moralisch neutral 286.
Reine Vernunft aber muß für sich allein praktisch sein287, also ohne Rücksicht
auf die Sinnen- und Gefühlswelt, weil nur die objektive Nötigung zur Handlung
hinreichend zum Gesetz qualifiziert288. Der Wille darf nur von der Vernunft al-
lein bestimmt werden289, und dann schreibt die Vernunft dem Willen das prak-
283 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 43. Kant unterteilt die hypothe-
hingegen ist diese nur möglich durch die Form der allgemeinen Gesetzgebung, „das
allein dürfte das Apriori der Ethik sein: daß wir die Gesetzmäßigkeit einer allgemeinen
Gesetzgebung denken. Dieser Gedanke selbst sei der alleinige Beweggrund des prak-
tischen Vernunftgebrauchs. Sonst gibt es kein Gesetz“. Das praktisch-ethische Apriori
besteht in der Gesetzmäßigkeit, die ihrerseits zweierlei erfordert: zu einen, der Gedanke
einer allgemeinen Gesetzgebung. Das Gesetz als Vernunftbegriff kann nur gedacht wer-
den in Form einer allgemeinen Gesetzgebung, also „nicht bloß in sinnlichen Einschrän-
kung, für wechselnde Zeitverhältnisse, noch für eine ablösbare Anzahl von Individuen
geltend: der Vernunftidee einer noumenalen Begrenzung aller Erfahrung, auf den prak-
tischen Vernunftgebrauch bezogen, muss diese Gesetzgebung entsprechend als eine
allgemeine“. Diese Form der allgemeinen Gesetzgebung als Apriori ist Ausdruck der
ethischen Realität. Zweitens ist erforderlich, daß diese allgemeine Gesetzgebung der
alleinige Bestimmungsgrund des Willens ist, soll heißen, daß diese Gesetzgebung selbst
„das Gesetz der Erzeugung des Willens“ ist, S. 215. Die Gesetzmäßigkeit des Wollens
entspricht der Form des Gesetzes und stellt den reinen Willen dar. Es ist nicht das Ge-
setz der Bestimmungsgrund der Moral, sondern nur die formale Gesetzmäßigkeit des
Wollens, weil sonst dieser Bestimmungsgrund nicht a priori gedacht werden könnte,
weil der nämlich auf ein Objekt zielte, auf das Gesetz selbst. Der Bestimmungsgrund
der Moral läge dann in der Willensgesinnung im objektiv Empirischen und nicht im
erforderlichen apriorisch-noumenalen Bereich. Der reine Wille rekurriert eben auf diese
Gesetzmäßigkeit des Wollens.
289 Für Adorno ist – metaphysisch gesprochen – der Wille sogar identisch mit der
Vernunft. Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 171. Einen Willen haben
bedeutet, vernunftbegabt zu sein.
I. Freiheit als transzendentalphilosophisch letztbegründete Idee 57
tische Gesetz unmittelbar vor290, was also „die Vernunft schlechthin, mithin ob-
jektiv gebietet (wie es (sic. das Subjekt) handeln soll)“ 291. Das praktische Gesetz
ist das objektive Prinzip, die Maxime das subjektive Prinzip des Wollens292. Die
Willkür nun ist das „Begehrungsvermögen“, sofern „es mit dem Bewußtsein sei-
ner Handlung zur Hervorbringung eines Objektes verbunden ist“. Die mensch-
liche Willkür wird zwar sinnlich „affiziert“, aber dadurch nicht (allein) be-
stimmt, sondern die „Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestim-
mung durch sinnliche Antriebe“: reine Vernunft soll die Willkür bestimmen293,
und zwar unabhängig vom konkret verfolgten materialen Zweck294. Dies ge-
schieht dadurch, daß der Mensch unter der Vielzahl möglicher Handlungsweisen
nur diejenige wählt, die so verallgemeinerungsfähig ist, daß sie sich zum allge-
meinen Gesetz eignet. Umgekehrt gilt allerdings, daß bei einem allgemeinen Ge-
setz die möglichen individuellen Handlungsmaximen sehr unterschiedlich sein
können295, je nach Zwecksetzung und Zweckverfolgung durch den einzelnen
Menschen296. „Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkür die Ma-
ximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts
anderes, als bloß aufs Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden,
weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die
Maxime der Handlung (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch
schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist. Nur die Willkür
also kann frei genannt werden. Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch
das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indiffe-
290 Und „nur, daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich,
die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.
Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinn-
lichkeit) affiziert ist; sie heißt tierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch neces-
sitiert werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber
nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht,
sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung
durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“, ders., Kritik der reinen Vernunft,
S. 489; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 3 ff.
294 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 107.
295 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 331. Insofern erscheint es nicht unproblematisch,
wenn J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 146 ff., den Willen als „legislative“
und die Willkür als „exekutive Instanz des Begehrungsvermögens“ qualifiziert. Es geht
bei der freien Willkür nicht um die Ausführung von Gesetzen, sondern um deren Beach-
tung bei der Wahl und Verfolgung selbst gegebener Zweckvorstellungen.
296 Die jeweiligen Zwecke des Menschen sind also subjektiv, M. Forschner, Gesetz
und Freiheit, S. 182 f., 212; L. W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 94;
F. Kaulbach, Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, S. 53 ff.,
S. 110 ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 62 f.
58 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
rentiae) definiert werden“ 297; denn das ist ein Versagen298 oder Unvermögen299.
Die Freiheit der Willkür bedeutet, daß nur diejenige Handlungsmaxime gewählt
wird, welche dem durch den reinen Willen autonom hervorgebrachten Gesetz ge-
mäß ist und das kategorische Sollen, den kategorischen Imperativ beachtet. Die
Übereinstimmung der „Maxime der Handlung mit dem Gesetz ist die Sittlichkeit
(moralitas)“ dieser Handlung. „Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also:
handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. –
Jede Maxime, die sich hierzu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider“ 300, und
damit der Freiheit301.
Die Willkür hat noch einen zweiten Bezug zur Freiheit. Die Willkür bestimmt
die Wahl der verfolgten Handlungsmaximen302, wobei die Maxime aber bereits
einen beabsichtigten Zweck einer Handlung enthält. Das freiheitliche Moment
besteht darin, daß der Mensch die Zwecke seines Handelns selbst und damit auch
einen neuen Anfang einer Kausalreihe setzen kann: es ist keine freie Handlung
möglich, „ohne daß der Handelnde zugleich einen Zweck (als Materie der Will-
kür) beabsichtigte“. Die Willkür soll die Maximen bestimmen, „indem der sub-
jektive Zweck (den jedermann hat) dem objektiven (den sich jedermann dazu
machen soll) untergeordnet wird“. „Denn Maximen der Handlung können will-
kürlich sein und stehen nur unter der einschränkenden Bedingung der Habilität
zu einer allgemeinen Gesetzgebung, als formalem Prinzip der Handlungen. Ein
Gesetz aber hebt das Willkürliche der Handlungen auf“ 303, indem es die Beach-
297 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332 f., so auch ders., Opus postumum, Akademie-
ausgabe Bd. 21, S. 470 f. Kant kann nicht erklären, wieso der Mensch gegen die Ge-
setze und damit gegen seine eigene Vernunft handelt, „obzwar die Willkür als Phäno-
men davon in der Erfahrung Beispiele gibt“. Umgangssprachlich bezeichnet man eine
Handlung als reine Willkür, wenn sie jeden juridischen oder sonstigen ethisch-morali-
schen Sollenssatz ignoriert. Es ist zwar zur Kenntnis zu nehmen, kann aber nicht erklärt
werden, „daß das Subjekt auch wider das Vernunftgesetz seine Wahl treffen kann (wo-
von wir aber die Möglichkeit nicht begreifen können); denn ein Anderes ist, einen Satz
einzuräumen, ein Anderes, ihm zum Erklärungsprinzip machen und in ihm das unter-
scheidende Merkmal finden wollen“: Wie ließe es sich mit Vernunft erklären, daß je-
mand gegen die Vernunft handelt?
298 J. Timmermann, Gesetz und Freiheit, S. 61.
299 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Repu-
ist blos respektive Spontaneität u. ist libertas phaenomenon“, Kant, Opus postumum,
Akademieausgabe, Bd. 21, S. 470.
302 Die Freiheit der Willkür im Hinblick auf „die Wahl der Maximen der Handlungen
ist absolute Spontaneität u. ist libertas noumenon“, Kant, Opus postumum, Akademie-
ausgabe, Bd. 21, S. 470.
303 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 519 f.; für J. Timmermann, Sittengesetz und Frei-
heit, S. 162, ist die oberste Maxime der Moral rein formal „Ich will den Anforderungen
der Moral als solchen nachkommen und erst dann auf meine egoistischen Interessen
sehen“.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 59
tung der allgemeinen Gesetze zur Pflicht macht: die Freiheit der Willkür kann
nicht, um es zu wiederholen, dadurch definiert werden, für oder wider das Ge-
setz zu handeln. Das ist Kants Logik der praktischen Freiheit304: Der Wille be-
stimmt die Gesetzgebung für die Maximen der Handlung objektiv, welche dann
von der Willkür subjektiver Zwecke entsprechend unter Beachtung dieser Ge-
setze gewählt wird. Die Freiheit der Willkür setzt die Rechtlichkeit des gemein-
samen Lebens der Menschen voraus: die Verallgemeinerungsfähigkeit einer
Maxime, also ihre bloße Tauglichkeit zu einem denkbar möglichen allgemeinen
Gesetz genügt nicht, weil nur durch den Akt der Gesetzgebung ihre objektive
Allgemeinverträglichkeit festgestellt werden kann. Die Maxime eines Unterneh-
mers, etwa seinen Gewinn zu maximieren, ist nur dann eine freie, wenn dafür
eine gesetzliche Grundlage existiert. Eine etwaige gesetzliche Beschränkung
dieser Maxime, so seltsam dies auch klingen mag, verletzt die Freiheit dieses
Unternehmers nicht, bloß weil er in seiner beliebigen Zwecksetzung beschnitten
wurde, sondern verwirklicht sie305.
Das Sittengesetz ist als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft das Er-
kenntnisgesetz der Freiheit als transzendentale Idee, die der Mensch kraft seiner
eigenen Erkenntnisfähigkeit nicht leugnen kann: er muß sich selbst als frei den-
ken. Das wurde dargestellt. In der praktischen Lebenswirklichkeit nun und auf
die menschlichen Handlungen bezogen formuliert Kant das Sittengesetz als kate-
gorischen Imperativ. Es geht um die Sittlichkeit im „bloß gemeinen und prakti-
schen Gebrauche“ 309. Ein Imperativ ist die Formel eines Gebotes, wird durch ein
Sollen ausgedrückt310 und ist kategorisch, wenn er eine Handlung gebietet, die
für sich selbst und ohne Beziehung auf einen anderen Zweck als objektiv-not-
wendig vorgestellt werden muß. Eine solche Handlung ist „an sich gut“. Der ka-
tegorische Imperativ ist der Imperativ der Sittlichkeit311. Es gibt nur einen einzi-
gen kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du
zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ 312. Der kategori-
sche Imperativ gebietet also, daß der Mensch nur nach denjenigen frei wählbaren
Maximen handelt, welche als allgemeines Gesetz gelten könnten, und ist dem-
nach ein Kriterium für die sittliche Unbedenklichkeit von Maximen: jeder darf
seine Maximen so ausbilden, solange er dabei nicht in Konflikt mit sittlichen
Geboten gerät313. Die Ethik setzt Kenntnis der Vernunftprinzipien314 voraus. Die
Beachtung des kategorischen Imperativs ist notwendige Voraussetzung315 sitt-
S. 103, hat darauf hingewiesen, daß der kategorische Imperativ nur zeige, was verboten,
aber noch nicht, welche der Maximen geboten sei; für E. Husserl, Vorlesungen über
Ethik und Wertlehre, S. 41, ist der kategorische Imperativ formal und ein Schutzwehr
„gegen die formale Falschheit, also nicht gegen jede Falschheit, sondern nur gegen die-
jenige, die an der bloß logischen Form hängt“. In diese Richtung argumentiert auch
Th. W. Adorno, Grundprobleme der Moralphilosophie, S. 144 f.: der kategorische Impe-
rativ sei formal, erweise damit aber nicht die materiale Vernünftigkeit; denn dazu
müsse die Vernunft das gesamte Feld der Moralphilosophie und auch notwendigerweise
sich selbst völlig durchdringen können. Dieses „Sichselbstdurchdringen“ sei aber nicht
denkbar, es bliebe ein Rest übrig, der irgendwo an der Grenze einer vernünftigen Be-
stimmbarkeit liege.
314 E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 23.
315 E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, S. 63. Der kategorische Impe-
rativ als logisches Prinzip sei nicht hinreichend, das ethisch Richtige und moralisch Ge-
forderte herauszubekommen, unter den kategorischen Imperativ könne nichts Materia-
les unmittelbar subsumiert werden, S. 66. In der empirischen Welt könne das Beste kei-
nen Absolutwert erreichen, der objektiv wäre. Aber nur ein solcher hätte kategoriale
Bedeutung; nur das Beste ist das Gesollte, weil nur das Beste das Prädikat „katego-
risch“ verdiene: „Unter allen erreichbaren Gütern dann das Beste zu tun, das ist das
absolut Richtige und somit kategorisch Geforderte. Was gut ist, kann formaliter nicht
entschieden werden, ebenso wenig wie, was wahr ist, durch die bloß formale Logik, und
somit auch nicht, was das objektiv Beste ist und das praktische Geforderte“, S. 137 f.
Richtiges Handeln wäre erst dann richtig, wenn es objektiv richtig ist. Axiologisch-
praktisch vernünftig ließe sich das nur beurteilen, wenn jedes faktische Subjekt in der-
selben konkreten Einzelsituation ebenso würde handeln können und sollen. Diese Beur-
teilung erfolge durch die „Fiktion des unbeteiligten Zuschauers“: „Wir setzen uns selbst
in die Rolle des unbeteiligten Zuschauers, wenn wir unser eigenes Handeln nach Rich-
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 61
lichen Handelns. Von Bedeutung ist, daß sich der kategorische Imperativ nicht
auf die äußerliche Handlung, sondern auf die Maxime derselben bezieht316.
Kant hebt auf den objektiven Bestimmungsgrund des Willens ab, daß die Re-
gel in sich selbst begründet liegt und wegen der Form der Allgemeinheit seiner
Gültigkeit Gesetzesqualität besitzt, also wie ein Naturgesetz gilt317. Der katego-
rische Imperativ läßt sich zur Naturgesetzformel umformulieren: „Weil die All-
gemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht,
tigkeit beurteilen. Der unbeteiligte Zuschauer ist hier ein vernünftig auswertendes Sub-
jekt, das sich davon überzeugt, daß die Überzeugungen, die das Handeln fundieren,
richtig sind, daß die Wertungen richtig vollzogen sind, daß das, was gut-werten, in der
Tat seinem Wesen nach, also generell und nach apriorisch materialen Wertgesetzen, als
gut gewertet werden müßte, daß ebenso im Wesen der Gutwerte keinen anderen Bevor-
zugungen ihren rechtmäßigen Anhalt haben, daß demgemäß das Beste wirklich das
Beste ist“, S. 138 f. Nachdem aber durch den kategorischen Imperativ alleine dieses
Beste in jeder konkreten Einzelsituation und für alle Subjekte nicht ermitteln ließe,
könne auch das praktisch Geforderte als etwas absolut Gesolltes nicht bestimmt werden.
Dieser hohe moralische Anspruch müsse demnach herunter geschraubt werden. Hinrei-
chend für sittliches Sollen ist bei Husserl demnach die Beachtung des formal objektiven
Imperativs: „Tue das Beste unter dem erreichbar Guten innerhalb deiner jeweiligen
praktischen Gesamtsphäre“, S. 142. Aber auch für Husserl ist von Bedeutung, daß es
auf das Werturteil über den guten Willen, der das Beste will, ankommt, und dieses Ur-
teil darf kein zufälliges oder blindes, sondern muß vielmehr ein einsichtiges sein: „Ich
muß also nicht nur sonst fragen, was ich kann, und erwägen, was das Beste ist, und
dabei von selbst Vernunfteinstellungen nehmen, sondern ich muß absichtlich das Ziel
möglichster Klarheit und Vernünftigkeit anstreben, wodurch ich nicht nur das sonst und
nur relativ Beste sichere, sondern in der Einsicht selbst einen neuen Wert hinzufüge“,
S. 145; denn: „Nur vernünftiges Wollen ist wertvoll“, S. 153. Diese Auffassung Husserls
ist Ergebnis seiner phänomenologischen Interpretation des kategorischen Imperativs.
Er ignoriert dabei aber das Autonomieprinzip: das Beste bestimmen in einer Gemein-
schaft von Menschen die allgemeinen Gesetze des moralischen Gesetzgebers als vo-
lonté générale.
316 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 174 f.; „Es ist überall nichts in der
Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung
für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. „Der gute Wille ist nicht
durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung
irgend eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut,
und für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was
durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja, wenn man will, der Summe aller Nei-
gungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte“, Kant, Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten, S. 18 f. Die Sittlichkeit einer Handlung kann eben nicht (allein) an
der Handlung selbst oder am Handlungsergebnis bewertet werden, sondern am Willen,
richtig, vernünftig und sittlich zu handeln. Menschen können die richtigen Zwecke ver-
folgen, und sich dennoch bei der Wahl der Mittel irren. Und niemand kann die Konse-
quenzen seines Handelns abschließend voraussehen, das würde Allwissenheit erfordern,
insbesondere die Zukunft zu kennen, die niemand kennt.
317 „Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objektiv in der Regel
und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fä-
hig macht“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 63.
62 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Da-
sein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetze bestimmt ist, so
könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die
Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz
werden sollte“ 318. Dieses erste, objektive Prinzip des Willens319 enthält zwei
Komponenten: zum einen muß die subjektive Maxime auch als Naturgesetz ge-
dacht werden können, und zum zweiten muß der Handelnde wollen können, daß
seine Maxime ein Naturgesetz werde. Kant erläutert dieses objektive Prinzip des
Willens an Beispielen320. So fehlt etwa der Maxime, bei auftretenden unüber-
windlich erscheinenden Problemen bei der Lebensbewältigung, sich selbst zu
töten, die grundsätzliche Eignung zum allgemeinen Gesetz, sie widerspricht dem
Naturgesetz. Die andere Maxime, einem anderen Menschen in dessen Not nicht
beizustehen und eine erbetene Hilfe nicht zu gewähren, ist zwar grundsätzlich als
allgemeines Gesetz denkbar, weil letztlich jeder selbst und allein für sich verant-
wortlich ist. Diese Maxime kann aber nicht gewollt werden, weil derjenige, der
sie verfolgt, selbst einmal auf den Beistand anderer angewiesen sein könnte.
Wenn es dann ein derartiges Gesetz gäbe, so wäre er gegebenenfalls sämtlicher
Hoffnungen auf die Hilfe in der Not beraubt321.
Beim ersten, objektiven Prinzip des Willens wird deutlich, wie Kant den kate-
gorischen Imperativ verstanden wissen will. Er ist ein intelligibel gewirktes Ana-
logon des Naturgesetzes322, das aus der reinen Vernunft entspringt und deshalb
ein Gesetz der Freiheit darstellt. Der kategorische Imperativ ist nur der Form
nach mit dem Naturgesetz identisch, jenes entfaltet die Kausalität aus Freiheit,
dieses die Kausalität der Natur. Aus der reinen Vernunft heraus führt der reine
Wille unter Zugrundelegung des Grundgesetzes der rein praktischen Vernunft
zum Bewußtsein der Freiheit, das wiederum die (freien) Handlungsmaximen un-
ter Beachtung des kategorischen Imperativs bestimmt. Folgt die Handlung dann
dieser Handlungsmaxime, so muß sie mit Notwendigkeit erfolgen, um eine freie
Handlung zu sein, darf also nicht von bloß sinnlichen Triebfedern gesteuert wer-
den, sondern die Vernunft bestimmt die Handlung in der empirischen Welt der
Naturkausalität. Der kategorische Imperativ ist also in der Tat der Form nach mit
dem Naturgesetz identisch. Das ist die logische Konsequenz der Auflösung der
nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man
noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Un-
möglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime
zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst
widersprechen würde“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 54 f.
322 F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 33; M. Forschner,
Dritten Antinomie. Das Problem dabei aber ist, daß beurteilt werden muß, ob
eine in der empirischen Welt vollzogene Handlung dem kategorischen Imperativ
gemäß ist.
Dafür besitzt der Mensch die Urteilskraft323 als ein unselbständiges Erkennt-
nisvermögen. Sie bildet zusammen mit dem Verstand und der Vernunft das
„Denkungsvermögen“, und ist das vermittelnde Bindeglied zwischen Verstand
und Vernunft. Die Urteilskraft ist aber nicht nur ein Vermögen, „das Besondere
unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern
auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden“ 324. Das erste ist
die bestimmende Urteilskraft, das zweite die reflektierende Urteilskraft325. Die
Urteilskraft bezieht sich zunächst auf die empirische Welt der Natur. Vorausge-
setzt dabei wird eine formale Zweckmäßigkeit der Natur, also „denkt sich die
Urteilskraft durch ihr Prinzip eine Zweckmäßigkeit der Natur, in der Spezifika-
tion ihrer Formen durch empirische Gesetze“ 326. Die Natur wird als ein System
mit einer aufsteigenden (Kausal-)Reihe gedacht, in der sich stets das Besondere
unter das Allgemeine bringen läßt327. Die Vernunft enthält das Antriebsmoment
für den Verstand bei seiner empirischen Erkenntnisfunktion, in der nach oben
fortschreitenden Kausalreihe das Schlechthinunbedingte aufzuspüren. Die Ur-
teilskraft, als von der Vernunft nicht unabhängiges Erkenntnisvermögen, soll da-
mit analog zum empirisch Schlechthinunbedingten den absolut allgemeinen Be-
griff hervorbringen. Die Urteilskraft ist die Verbindung zwischen Naturerkennt-
nis und begrifflichem Denken, ja mehr noch, ist Voraussetzung des begrifflichen
Denkens.
Weil der kategorische Imperativ wegen seines Gesetzlichkeitscharakters der
Form nach mit dem Naturgesetz identisch ist, kann die Urteilskraft auch im Be-
reich der praktischen Handlungswelt des Menschen angewendet werden; denn die
Handlung geschieht in der empirischen Welt der Natur. Dieser formale Gesichts-
punkt ist „der Typus des Sittengesetzes“ 328. Die Leistung der Urteilskraft für die
ung, als solche, unterworfen sind, muß ein Schema, d. i. ein allgemeines Verfahren der
Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen
a priori darzustellen), korrespondieren. Aber dem Gesetze der Freiheit (als einer gar
nicht sinnlich bedingten Kausalität), mithin auch dem Begriffe des unbedingt-Guten,
kann keine Anschauung in concreto unterlegt werden. Folglich hat das Sittengesetz kein
anderes, die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkennt-
nisvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Ver-
nunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das
an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz,
64 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Naturerkenntnis ist ein Schema, welches mit Hilfe der menschlichen Einbil-
dungskraft auf den kategorischen Imperativ ausgedehnt wird, weil er der Form
nach denselben Typus des Naturgesetzes hat. Eine Handlungsmaxime wird durch
den Verstand, der kategorische Imperativ durch die (praktische) Vernunft gedacht.
Die Urteilskraft schlägt nun die Brücke zwischen beiden Erkenntnisvermögen329:
Es ist grundsätzlich denkbar, eine Handlung, die durch den Verstand erkannt oder
vorgestellt wird, nach Maßgabe des kategorischen Imperativs als Vernunfter-
kenntnis zu beurteilen. Das ist die „praktische Urteilskraft“ 330. Ihre Leistung hat
selbst Gesetzescharakter, weil sie auch im Bereich des Praktischen eine Regel
enthält: „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Ver-
nunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach
einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie
du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest“ 331. Diese Regel der
praktischen Urteilskraft ermöglicht die Beurteilung, ob eine Handlung sittlich-
gut oder sittlich-böse ist332. Zwar ist das Sittlich-Gute nur ein Vernunftbegriff,
eine Idee, die nicht unmittelbar anschaulich-konkret, besser material, ist. Weil
aber die konkrete Handlung vernünftig auf seine sittliche Qualität hin beurteilt
wird, kann sie auf die Idee des Sittlich-Guten hin ausgerichtet werden. Der Be-
griff des Guten wird durch die Verbindung mit einer gewollten Handlung, die
zum Objekt des Begehrungsvermögens gemacht wird333, materialisiert. Das Sitt-
lich-Gute ist durch die rein praktische Vernunft einsehbar und nicht nur etwas
verworren Gemeintes. Wichtig ist aber, daß die Beurteilung einer Handlung als
sittlich-gut oder sittlich-böse nur dann ein vernünftiges und objektives Urteil dar-
stellen kann, wenn der kategorische Imperativ als ein Analogon des Naturgeset-
zes aufgefaßt wird. Das erste, objektive Prinzip des Willens ist für die Beurtei-
lung der sittlichen Qualität menschlichen Handelns von zentraler Bedeutung. Gut
und böse werden also erst durch den kategorischen Imperativ bestimmt und nicht
schon vorausgesetzt334.
aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterlegen kann, und
dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen“, Kant, Kritik der prak-
tischen Vernunft, S. 188.
329 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 106 ff. Die Urteilskraft gibt a priori „den ver-
mittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff“, der den
Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen Vernunft darstellt. Dieser
vermittelnde Begriff ist die „Zweckmäßigkeit der Natur“, S. 108; vgl. hierzu die exzel-
lenten Ausführungen von M. Horkheimer, Über Kants Kritik der Urteilskraft als Binde-
glied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, S. 15 ff.
330 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 186.
331 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 188.
332 „Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sittlich-gut
setze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 65
nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden
müsse“, ausführlich dazu Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 174 ff., hier S. 180.
335 Vgl. hierzu E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 264; E. R. Sandvoss, Imma-
gen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf
sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichtete Handlungen jederzeit zu-
gleich als Zweck betrachtet werden“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
S. 59 f. Die Selbstzweckformel ist ein vorkritischer Standpunkt Kants, den er bereits in
den Bemerkungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zum Ausdruck bringt,
M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 94. Zwar nicht wörtlich, aber der Sache nach
Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 835, 849.
337 „D. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mit-
hin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist)“, Kant,
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60.
338 „Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht,
hat einen Marktpreis; (. . .); das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein et-
was Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen
Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, S. 68.
339 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60.
340 St. Kröner, Kant, S. 171. Die „objektive und innere Zweckmäßigkeit des Lebendi-
gen läßt sich empirisch nicht beobachten“, O. Höffe, Immanuel Kant, S. 277.
341 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61.
342 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61.
66 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Kant erörtert die Frage nach den Zwecken im zweiten Teil seiner Kritik der
Urteilskraft, genauer in der Kritik der teleologischen Urteilskraft343. Der Mensch
muß bei seiner Erkenntnis über die Natur zwingend von der Idee ausgehen, daß
die Natur ein System von Zwecken ist344 und deshalb keine Naturerscheinung
von ungefähr erscheint. Dies galt bereits bei der Erörterung des ersten, objek-
tiven Prinzips des Willens. Diese Technik der Natur ist allerdings nur eine for-
male, sie ist Richtschnur der Erkenntnis, aber kein in der Natur selbst vorfindba-
rer Grundzug345. Die zwingende Annahme von der Natur als ein System von
Zwecken basiert auf der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes346. Der
Zweck ist ein geistiges Verknüpfungsprinzip347, das Zweckprinzip ist also regu-
lativ348. Erst aus der Annahme dieses zweckorientierten Naturzusammenhangs
rührt die notwendige Annahme der Kausalität her. Kant formuliert den „Grund-
satz der Teleologie: daß, nach der Beschaffenheit des menschlichen Verstandes,
für die Möglichkeit organischer Wesen in der Natur keine andere als absichtlich
wirkende Ursache könne angenommen werden, und der bloße Mechanism der
Natur zur Erklärung dieser ihrer Produkte gar nicht hinlänglich sein könne“ 349.
Alle Produkte und Ereignisse der Natur müssen sich als Folge der Kausalität
Zwecken unterordnen350. Es existiert demnach keine Antinomie zwischen dem
Zweckbegriff und dem Kausalbegriff 351. Kant geht im weiteren Verlauf seiner
Abhandlung der Frage nach dem „Endzweck des Daseins einer Welt, d. i. der
Schöpfung selbst“ nach. „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines anderen als
Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ 352. Allerdings, auch der Endzweck ist nur
eine Idee353. Der Mensch ist also nicht nur Zweck an sich selbst, sondern der
343 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 305 ff.; vgl. zur teleologischen Urteilskraft über-
lichen Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzweckes möglich wird.
347 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 357.
348 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 366.
349 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 368 f.
350 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 371.
351 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 369.
352 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 393 ff.
353 „Ein Ding aber, was notwendig seiner objektiven Beschaffenheit wegen, als End-
zweck einer verständigen Ursache existieren soll, muß von der Art sein, daß es in der
Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee, abhän-
gig ist. Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleo-
logisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, daß das Gesetz,
nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und
von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig vorgestellt wird. Das
Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet; das einzige Natur-
wesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die Freiheit) und sogar das
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 67
Idee nach Endzweck der Schöpfung. Der Idee nach bedeutet, daß sich diese End-
zweckhaftigkeit in der empirischen Realität nicht beweisen läßt354. Die Denkbar-
keit der menschlichen Freiheit qualifiziert ihn zum Endzweck der Schöpfung,
weil er durch diese Denkbarkeit als der Naturkausalität enthoben gedacht werden
kann. Gleichzeitig aber kann nur die Sittlichkeit diese Endzweckhaftigkeit be-
wirken, weil durch den kategorischen Imperativ Sittlichkeit und Freiheit eine un-
trennbare gedankliche Einheit bilden; denn die Freiheit bildet die ratio essendi
des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz die ratio cognescendi der Frei-
heit355. End- und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen korrespondieren wechsel-
seitig mit dem Prinzip des Sittlichen, die Selbstzweckhaftigkeit ist der Selbstwert
des Subjekts des Willens356 und ist das symbolische Gegenbild im Bereich des
objektiven Daseins357. Das sittliche Wesen ist stets ein Unbedingtes, und so „be-
weist sich die Freiheit als praktische Idee, indem sie sich als Zweckprinzip be-
währt“ 358.
Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, welches es sich als höchsten Zweck
vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt) von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit
erkennen können. Von dem Menschen nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der
Welt) als einem moralischen Wesen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in
finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er
vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich kei-
nem Einflusse der Natur unterworfen halten darf (. . .); und nur im Menschen, aber auch
in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung
der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem
die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“, Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 394 f.
354 D. Teichert, Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 119; vgl. auch H. Cohen,
lediglich dem Gesetz unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetz-
gebend, und eben um deswillen allererst den Gesetzen (davon er selbst sich als Urheber
betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß.“
68 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
nen, ohne daß es zu Widersprüchen kommt. Nur so ist es möglich, daß der Wille
als wirklich selbstgesetzgebend gedacht werden kann: Der Mensch handelt nach
eigenen Gesetzen, die zugleich allgemeine Gesetze sind, weil er diese selbst mit
gegeben hat361. Wie die Selbstzweckhaftigkeit zählt es zur Würde des Menschen,
nur selbst gegebenen Gesetzen zu gehorchen362: die „Idee der Würde eines ver-
nünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst
gibt“ 363. Damit ist die politische Freiheit die (einzig denkbare) Würde des Men-
schen364. Dies impliziert natürlich die Verwirklichung der Idee eines republikani-
schen Staates.
Die Gemeinschaft der Menschen ist idealerweise ein „Reich der Zwecke“ 365.
Darin sind die Individuen systematisch durch objektive gemeinschaftliche Ge-
setze untereinander ver- und gebunden. Diese Gesetze regeln die individuellen
Zweck-Mittel-Beziehungen untereinander366. In dieser Gemeinschaft ist der Ein-
zelne (Mit-)Glied, weil er diesen Gesetzen unterworfen ist, aber auch Oberhaupt,
weil er diese Gesetze mitbestimmt367. Sittlichkeit besteht „in der Beziehung aller
Handlungen auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich
ist“ 368. Es geht um „das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens,
das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen“ 369. Sitt-
lichkeit ist die „Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an
361 Autonomie ist positive Freiheit, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 229; dazu
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 83 ff., 203 ff., 274 ff.; ders., Res
publica res populi, S. 275 ff., 410 ff., 494 ff.
362 Vgl. F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 92.
363 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67.
364 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 19 ff.
365 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 81 ff.
366 Insofern macht die Gemeinschaft der Menschen aus der subjektiven Selbstzweck-
heit des Willens möglichen Reich der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied
oder als Oberhaupt. Den Platz des letzteren kann es aber nicht bloß durch die Maxime
seines Willens, sondern nur alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne Be-
dürfnis und Einschränkungen seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten“,
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. Der „Bürger macht sich zum
Bürger des Reiches der Zwecke dadurch, daß er sich dem selbstgegebenen Imperativ
verpflichtet, seine Handlungen an der Idee des Bürgerseins in der Gemeinschaft mit
anderen Bürgern zu orientieren. Autonomie bedeutet demgemäß auch: sich selbst zum
Bürger des Reiches der Zwecke zu machen“, F. Kaulbach, Kants Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, S. 106. Kaulbach spricht in diesem Zusammenhang von der
„Selbsteinbürgerung in das Reich der Zwecke“.
368 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67.
369 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 73.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 69
sich selbst sein kann“ 370, also auch die Bedingung für die Freiheit des Men-
schen371.
Nur die Autonomie des Willens kann eine Handlung zur erlaubten Handlung
qualifizieren372. Wer also bei seinen Handlungen den kategorischen Imperativ
nicht beachtet, begeht eine unerlaubte Handlung. Diese ist unsittlich. Eine uner-
laubte Handlung verstößt gegen die Autonomie des Willens, verletzt deswegen
die Freiheit (des Willens)373, und mißachtet dadurch die Würde des Menschen,
und zwar nicht nur die des durch die Handlung betroffenen Anderen, sondern
auch die des Handelnden selbst. Daraus resultiert die einfache Formel, daß die
Würde des Menschen eben Sittlichkeit zwingend erfordert. Der kategorische Im-
perativ ist auch ein Imperativ der Weisheit374. Einsichtig ist dagegen sofort, daß
erlaubt, die nicht damit stimmt, ist nicht erlaubt“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, S. 74.
373 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 197; E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 98.
374 F. Kaulbach, Immanuel Kant, S. 222 ff.; ders., Kants Grundlegung zur Metaphy-
sik der Sitten, S. 44; „Die Idee der Autonomie, welche der Wille seinem Entscheiden
zugrunde legt, verwandelt sich durch diese Leistung des Willens in die Wirklichkeit der
Freiheit“, S. 187. Die Endzweckhaftigkeit des Menschen in seiner Autonomie, Freiheit
und Würde entspricht der Qualität des Sittengesetzes als Endgesetz: es bedingt sich
selbst und geht aus sich selbst hervor. Durch die Autonomie wird der homo noumenon
zum Selbstgesetzgeber des Moralgesetzes und als solcher Endzweck. Frei sein und End-
zweck sein ist also identisch. Diese Endzweckhaftigkeit erstreckt sich auf die gesamte
Menschheit, schon deshalb, weil die Gemeinschaft der Menschen ein Apriori darstellt,
und zwar die des Sittengesetzes, vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 274.
„Die kürzeste Formel, in welcher sich der kategorische Imperativ, und damit die regula-
70 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
eine Handlung dann erlaubt ist, wenn sie mit den allgemeinen Gesetzen in Ein-
klang steht. Aber, Quelle auch des allgemeinen Gesetzes ist die Autonomie des
Willens. Die Autonomie des Willens erfaßt also nicht nur die Beachtung der all-
gemeinen Gesetze, sondern immanent auch die Beachtung des kategorischen Im-
perativs. Das einem freien Willen folgende Handeln ist nur dann frei, wenn es
der Autonomie des Willens entspricht, weil der autonome Wille nur auf die Form
des Gesetzes zielt375. Nicht erlaubt sind damit Handlungen, die gegen allgemeine
Gesetze und dadurch den kategorischen Imperativ verstoßen376; denn es gibt
keine sittlliche Rechtfertigung für Rechtsverletzungen377. Freies Handeln ist also
stets gesetzesgemäßes Handeln, und diese Gesetzlichkeit schafft Verbindlich-
keit378, deren Einhaltung durch (gesetzliche und daher meist staatliche) Zwangs-
möglichkeiten gewährleistet wird379.
tive Bedeutung der Freiheitsidee sowie des Sittengesetz des Endzwecks ausdrücken las-
sen dürfte, lautet: handle in Selbstbehauptung deiner Freiheit, als deines Endzwecks“,
S. 287.
375 O. Höffe, Immanuel Kant, S. 199 f.
376 Insofern ist es richtig, wenn W. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische
Tugend, S. 29, behauptet, daß das Rechtsgesetz eine spezielle Version des kategorischen
Imperativs mit Bezug auf die erzwingbaren Pflichten darstellt.
377 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 81 ff.
378 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 101.
379 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 100 ff.
380 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 521.
381 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74.
382 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 327.
383 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 22 f.
384 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 26.
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 71
Nur die Achtung fürs Gesetz als Bestimmungsgrund des Wollens gibt einer
Handlung ihren moralischen Wert385. Sie ist ein negatives Gefühl (im Sinne von
Unbehaglichkeit und Unbequemlichkeit)386, weil die Beachtung des Sittengeset-
zes sinnliche Triebfedern zum Handeln nicht zum Zuge kommen läßt387. Ande-
rerseits aber bewirkt die Beachtung des Sittengesetzes das Bewußtsein der Frei-
heit, und eben dieses ist „Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der
Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist, und a priori
erkannt wird“ 388. Die „Demütigung auf der sinnlichen Seite“ ist „eine Erhebung
auf der moralischen“ 389. Obwohl die Achtung für das moralische Gesetz ein Ge-
fühl ist, gehört es nicht zur sinnlich-empirischen Welt. Die Achtung hat ihren
Grund in der Vernunftwelt, weil sie auf die Formalität des moralischen Gesetzes
gerichtet ist390, ist also rein intellektuell und damit als ein „rationales Gefühl“ 391
a priori einsehbar392, welches Kant auch „moralisches Gefühl“ nennt393. Dieses
moralische Gefühl hat jedermann „ursprünglich in sich“ 394. Die Achtung für das
Gesetz ist also der subjektive Bestimmungsgrund395 für die Beachtung des kate-
385 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 74. Weitere Ausführungen zur
objektiv, wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist, (nach der Mensch-
heit in seiner eigenen Person) betrachtet, heilig genug, um das innere Gesetz ungern zu
übertreten; denn es gibt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Übertretung in
sich nicht einen Widerstand fühlete und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er
sich selbst Zwang antun muß“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 508, Anmerkung; dazu
J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 194 f.
387 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 192.
388 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 193 f. „Also ist Achtung fürs moralische
Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses
Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit
wir einsehen können“.
389 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 200; dazu J. Timmermann, Sittengesetz
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 162 f. und S. 167 ff., der das Sittengesetz als
Ursache des Gefühls der Verantwortlichkeit betrachtet.
391 Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 196.
392 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 194; F. Kaulbach, Immanuel Kant,
S. 243; ders., Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 112. Kants Entwicklung
des Achtungsbegriffs ist „auf eine eminent geistreiche und zugleich phänomenologisch
angemessene Weise“ erfolgt, Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, S. 196.
393 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 195.
394 „Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfäng-
lichkeit dieser Empfindung wäre er sittlich tot und, (. . .) so würde sich die Menschheit
(. . .) in die bloße Tierheit auflösen“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 530 f.
395 Weil „das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung“ ist, Kant,
(Zweck) vorgestreckt wird, kann doch offenbar nichts andres sein, als das Gesetz selbst,
durch die Achtung, die es (unbestimmt welche Zwecke man haben und durch dessen
Befolgung erreichen mag) einflößt“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 135 Anmer-
kung.; dazu J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 198.
399 Eine intelligible Bewertung des Gefühls sei geradezu „pervers“, E. R. Sandvoss,
Kritik nicht zu ernst genommen werden sollte. Der Begriff der Achtung für das Sitten-
gesetz wurde schließlich nur eingeführt, um die Art und Weise zu beschreiben, wie das
Sittengesetz den Willen bestimmt. Er ist ein Element in den komplexen Situationen, die
wir ,Pflichtbewußtsein‘ oder ,Konflikt zwischen Pflicht und Neigung‘ nennen, ein Ele-
ment, dessen Vorhandensein in keiner Weise die Möglichkeit ausschließt, daß das Sit-
tengesetz unseren Willen direkt bestimmt.“
401 „Das moralische Gefühl benennt den Ort der Erfahrung unbedingter Verpflich-
tung, begründet sie aber nicht“, M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 108.
402 E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, S. 323 ff. Martin Heidegger geht sogar noch
einen Schritt weiter. Für ihn ermöglicht die Achtung überhaupt erst das Gesetz. „Das
Gesetz ist nicht, was es ist, weil wir Achtung davor haben, sondern umgekehrt: dieses
achtende Gefühlhaben für das Gesetz und damit diese bestimmende Art des Offenbar-
machens des Gesetzes ist die Weise, in der uns das Gesetz als ein solches überhaupt
entgegenkommen kann“. Und weiter: „In der Achtung vor dem Gesetz muß demnach
das achtende Ich sich selbst zugleich in bestimmter Weise offenbar werden, und dies
nicht nachträglich und zuweilen, sondern die Achtung vor dem Gesetz – diese be-
stimmte Art des Offenbarmachens des Gesetzes als des Bestimmungsgrundes des Han-
delns – ist in sich ein Offenbarmachen meiner selbst als des handelnden Selbst. Das,
wovor die Achtung Achtung ist, das moralische Gesetz, gibt die Vernunft als freie sich
selbst. Achtung vor dem Gesetz ist Achtung vor sich selbst als demjenigen Selbst, das
nicht durch Eigendünkel und Eigenliebe bestimmt wird. Die Achtung bezieht sich also
in ihrem spezifischen Offenbarmachen auf die Person“, M. Heidegger, Grundprobleme
II. Kants Konzeption einer freiheitlichen Moralphilosophie 73
denkbar, daß Menschen sittlich und vernünftig handeln? Für Kant ist freies Han-
deln das moralisch gute Handeln nach einer Maxime der Achtung für das Sitten-
gesetz404.
Kant ist gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, er sei durch die Überbe-
tonung des menschlichen Willens zur Gesetzlichkeit ein Vernunftfetischist, und
seine praktische Philosophie beruhe auf einer Vorentscheidung gegen die Welt
der Sinne, Triebe und Leidenschaften, somit auf einem verzerrten, unnatürlichen
und nicht objektiven Menschenbild405. Diese Kritik verkennt Kant. Er klärt, was
unter vernünftigem Handeln unter der Idee der Freiheit zu verstehen ist. Sein
kategorischer Imperativ lautet im Kern: Handle vernünftig!406 Damit ist sittliches
Handeln soviel wie aus reiner Vernunft handeln407. Anders ist die menschliche
Freiheit in einer Lebensgemeinschaft nicht zu retten, gerade weil der Mensch
eben auch sinnliches, triebhaftes und leidenschaftliches Wesen ist408. Der
der Phänomenologie, S. 191; denn, „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals
auf Sachen“, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 197.
403 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 189.
404 J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit, S. 15.
405 E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 99.
406 „Freiheit ist nicht Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Gütern, sondern
der instinktiven Ablehnung durch Goethe und Schiller zu erhärten. Schillers Spottvers
darauf ist bekannt: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung.
Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin“. Sandvoss erkennt natürlich,
daß Schiller den genauen Wortlaut Kants nicht wiedergibt, denn der lautet nicht „mit
Neigung“, sondern „aus Neigung“, E. R. Sandvoss, Immanuel Kant, S. 103. Es wäre
vollkommen falsch, Kant zu unterstellen, daß es seine Auffassung war, sich jedweder
menschlichen Gefühlsregung zu entziehen, um sittlich-moralisch handeln zu können.
Wichtig ist nur, was als Antrieb für die menschliche Handlung dient, die Vernunft oder
die Sinne, Triebe und Leidenschaften. Sehr wohl kann bei sittlich moralischem Handeln
Neigung mit im Spiel sein, sie dürfen die Handlung nur nicht vollständig bestimmen.
Höffe weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, daß sittlich moralisches
Handeln eben nicht bedeutet, nur seinen Freunden in der Not beiseite zu stehen, son-
dern jedem, der in der Notsituation darauf angewiesen ist. Moralität fängt nicht dort
schon an, wo die Neigung oder das gesellschaftlich Übliche zur Handlung auffordern,
O. Höffe, Immanuel Kant, S. 210. Der Vorwurf, Kant hätte seiner Lehre ein völlig ver-
zerrtes Menschenbild zugrunde gelegt, ist daher haltlos, F. Kaulbach, Immanuel Kant,
S. 233. Im übrigen hat auch Schiller seine anfänglich kritische Einstellung gegenüber
der Lehre Kants im Laufe seines Lebens aufgegeben, und statt dessen sich zu einem
Kenner und Verfechter von Kants Philosophie gewandelt, was in seinen Ästhetischen
Briefen klar zu Ausdruck kommt. Die gilt insbesondere für die Kritik der reinen Ver-
nunft, vgl. E. Cassirer, Goethe und die Kantische Philosophie, in: Rousseau, Kant, Goe-
the, S. 63 ff., 91; zu Schillers Spottvers auch J. Timmermann, Sittengesetz und Freiheit,
S. 184.
74 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Kant definiert die praktische Vernunft als „die Vorstellung eines Objekts als
einer möglichen Wirkung durch Freiheit“. Diese Objekte sind die vom Guten und
Bösen414. Gut und böse kann nun aber nicht auf die Sinnlichkeit oder „den Emp-
findungszustand der Person“ bezogen werden, hat also per se nichts mit Wohl
und Übel, Lust und Unlust, Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit zu tun. Gut
und böse betrifft keine Sache, sondern nur die handelnde Person als guten oder
bösen Menschen. Das Beurteilungskriterium ist dabei die Handlungsmaxime des
Handelnden415. Die Begriffe Gut und Böse werden nur durch das moralische Ge-
setz bestimmt, welches der Handelnde in seine Maximen aufnehmen soll416. Nur
dieses formale Gesetz kann a priori der Bestimmungsgrund der praktischen Ver-
nunft sein417. Die individuellen Handlungsmaximen müssen so verallgemeine-
rungsfähig sein, daß sie wie ein Naturgesetz gelten könnten. Sie müssen also all-
gemeine Handlungsmaximen sein, einem „Gemeinwillen“ 418 als „volonté géné-
rale“ als „kollektive Einheit des vereinigten Willens“, welche allerdings nur eine
Idee ist419, entsprechen. Das Problem der Sittlichkeit existiert deshalb, weil der
Mensch nicht nur Vernunftwesen, homo noumenon, sondern eben auch ein trieb-
haft-sinnliches Wesen, homo phaenomenon ist. Sittlichkeit bedeutet, daß der
Mensch seine Handlungen, die eben sehr wohl auch sinnlichen, triebhaften Moti-
ven und Neigungen entspringen, auf ihre Gemeinschaftsverträglichkeit ausrich-
tet. Das Prinzip, daß er dabei beachten muß, ist der kategorische Imperativ, „um
das Mannigfaltige der Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einer im mo-
ralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft, oder eines reinen Willens
a priori zu unterwerfen“ 420. Sittlichkeit hat ihre Geltung also „vor aller Erfah-
rung in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Ver-
nunft“ 421.
„Sittlichkeit, d. i. Freiheit unter Gesetzen“ und dadurch auch „Eigenschaft ei-
ner Person“ 422, weil der Mensch (auch) ein Vernunftwesen ist. Sittlichkeit ist als
praktische Vernunft423 das Ansich-Gute des Menschen in einer Gemeinschaft von
Menschen, weil der sittlich gute Wille an sich gut ist424. Die Gemeinschaft der
Menschen soll ein Reich der Zwecke sein: „Denn vernünftige Wesen stehen alle
unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß
als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.
Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen
durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d. i. ein Reich, welches, weil diese
Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander, als Zwecke und Mittel,
zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann“.
Ein vernünftiges Wesen ist Glied dieses Reiches der Zwecke, wenn es darin ge-
setzgebend, aber auch diesen selbst gegebenen Gesetzen unterworfen ist425. Der
Einzelne muß als durch die Freiheit seines reinen empirisch unbedingten Wil-
lens, also durch die Autonomie desselben, Mitgesetzgeber in diesem Reich sein.
Darin liegt die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz
gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ begründet426.
Die Sittlichkeit als praktische Vernunft ist die Bedingung für „das gute Leben
aller in allgemeiner und gleicher Freiheit“ 427. Sittlichkeit erfordert Moralität:
„Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß
das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willens-
bestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines
Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein
hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht um des Geset-
zes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthal-
ten“ 428. Eine gesetzesgemäße Handlung, die lediglich etwa aus Furcht vor Strafe
erfolgt, hat keinen moralischen Wert. Der Bestimmungsgrund des Handelns muß
das moralische Gesetz selbst sein. Die Beachtung des moralischen Gesetzes um
seiner selbst willen hat „negative Wirkung aufs Gefühl“, indem es empirischen
Neigungen, etwa dem Eigendünkel, „Abbruch“ tut, ermöglicht dadurch aber eine
positive Wirkung, nämlich die „Achtung fürs moralische Gesetz“. Beides zusam-
men bezeichnet Kant als „moralisches Gefühl“ 429. Das war bereits dargestellt
worden. Das moralische Gesetz soll subjektives Handlungsmotiv sein: „Man
nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung
mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität
(Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Ge-
setze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) dersel-
ben“ 430. Die Moralität als Achtung für das Gesetz ist Bestimmungsgrund des
Handelns und führt zur Sittlichkeit einer Handlung431.
Die Sittlichkeit hat aber noch einen weiteren Bezug: das allgemeine juridische
Gesetz muß praktisch vernünftig, also sittlich sein. Die Autonomie des Willens
erfordert Moralität des Gesetzgebers bei der Gesetzgebung. Das gilt für den ein-
zelnen Menschen als Mitgesetzgeber, als Bürger der Republik, als auch für die
Vertreter der Bürger, die Parlamentarier in einer repräsentativen parlamentari-
schen Demokratie: Politik als ausübende Rechtslehre432 erfordert den moralischen
populi, S. 925 f.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 77
Politiker433. Es geht also bei der Gesetzgebung nicht um die Verwirklichung von
empirischen Einzel- oder Gruppeninteressen, sondern um das Allgemeinwoh und
damit die volonté générale434: statt „Verschiedenheit des partikularen Wollens“
„die kollektive Einheit des vereinigten Willens“ 435. Die Sittlichkeit des Gesetzes
ist nur möglich, wenn der einzelne Mitgesetzgeber bei der Gesetzgebung mora-
lisch verfährt, also von seinen empirischen Interessen abstrahiert und nur das all-
gemeine Beste durch das Gesetz zu verwirklichen versucht. Nur das moralisch so
zustande gekommene allgemeine Gesetz ist praktisch vernünftig, sittlich und da-
mit freiheitlich.
Die Moralität des Bürgers als seine Achtung für das Gesetz führt zur Sittlich-
keit in zweifacher Hinsicht: er bringt aus innerem Pflichtgefühl heraus das allge-
meine praktisch vernünftige für sich und alle im Staate lebbare Gesetz mit her-
vor, und er handelt aus demselben Motiv diesen Gesetzen und dem kategorischen
Imperativ gemäß. Eine Gemeinschaft von Menschen, in der diese beiden Prinzi-
pien vollumfänglich umgesetzt werden, ist das Ideal eines Reiches der Zwecke, in
welchem sich das vernünftige Wesen, „das sich durch alle Maximen seines Wil-
lens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte
sich selbst und seine Handlungen zu beurteilen“ 436. Sittlichkeit und praktische
Vernunft sind also nicht herrschaftlich oder obrigkeitlich verordnet, sondern be-
ruhen einzig und allein auf der Moralität des Menschen und Bürgers, der mit
„Vernunft und Gewissen begabt“ ist, wie Art. 1 AEM als Erkenntnissatz formu-
liert. Er ist der Erkenntnis fähig, daß das menschliche Zusammenleben in einer
Gemeinschaft unter der Idee der Freiheit in Frieden anders nicht möglich ist.
433 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 225; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res
aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will,
daß sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen
solle: so muß eine Gesellschaft, in welche Freiheit unter äußeren Gesetzen im
größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen
wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Auf-
gabe der Natur für die Menschengattung sein“ 438. Nun könnte man behaupten,
dies „müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen
Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären“. Dieser
Auffassung ist Kant nicht, stattdessen behauptet er: „Das Problem der Staats-
errichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn
sie nur Verstand haben), auflösbar“. Er vertraut dabei aber nicht auf die mora-
lische Besserung der Menschen, sondern auf einen „Mechanism der Natur“: die
Teufel, die nichts als ihre „Privatgesinnungen“ verfolgen, werden sich dabei
gegenseitig so behindern, daß sie die Notwendigkeit erkennen (vorausgesetzt, sie
haben Verstand!), ihre Mitteufel in diesem Staate in irgendeiner Weise mit einzu-
beziehen und sich letztlich so verhalten, „als ob sie keine solche böse Gesinnung
hätten“ 439. Doch die Errichtung einer gerechten bürgerlichen Verfassung ist das
schwerste Problem für die Menschengattung440.
Die Sittenlehre gründet sich auf den Freiheitsbegriff. Im Hinblick auf die da-
mit verbundenen Pflichten, nämlich pflichtmäßig seine Pflicht zu tun, lassen sich
diese in die Pflichten der inneren Freiheit und die Pflichten der äußeren Freiheit
einteilen. Auf den Pflichten der inneren Freiheit, welche ethisch sind, ist Kants
Tugendlehre441, und auf den Pflichten der äußeren Freiheit, welche äußerer Ge-
setze fähig sind, seine Rechtslehre begründet442.
Die Tugendlehre ist die Lehre von den Pflichten, die „nicht unter äußeren Ge-
setzen stehen“, sondern einen „Selbstzwang“ darstellen443. Es geht dabei um
materiale Zwecke der reinen Vernunft, die zugleich objektiv-notwendige Zwecke
sind, also als „Pflicht vorgestellt“ werden, um Zwecke, die „an sich selbst
Pflicht“ sind444. Die Tugendlehre fragt nach Zwecken, die der Mensch sich set-
zen soll und welche sich nach moralischen Grundsätzen begründen lassen445.
Aber nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, stellt eine Tugendpflicht dar.
Pflichtmäßiges Handeln, etwa die Gesetze bei seinen Handlungen zu beachten,
ist durchaus tugendhaft, stellt aber nur dann eine Tugend dar, wenn es aus Pflicht
erfolgt446. Einen Zweck sich zur Pflicht zu machen stellt deshalb einen Selbst-
zwang dar, weil der Mensch zwar zu Handlungen gezwungen werden kann, nicht
aber dazu, einen Zweck zu haben: jede Zwecksetzung ist ein „Akt der Frei-
heit“ 447. Das gilt auch für die Tugendpflichten als innere Freiheit; denn „sich
selbst einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, ist kein Widerspruch; weil
ich mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen besteht“ 448.
Diese Tugendpflichten sind es, welche die Denkbarkeit eines kategorischen Im-
perativs überhaupt erst ermöglichen: der kategorische Imperativ ist ein Hand-
lungsimperativ und verbindet den Pflichtbegriff mit dem eines Zwecks, weil
keine Handlung zwecklos ist; denn „Zweck ist ein Gegenstand der freien Will-
kür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervor-
gebracht wird“. Es muß also zwingend Zwecke geben, die zugleich Pflicht sind,
sonst wäre ein kategorischer Imperativ unmöglich, eine Unmöglichkeit, welche
„alle Sittenlehre aufhebt“ 449. Diese innere Freiheit wird durch die Achtung des
kategorischen Imperativs verwirklicht450.
Die Tugendpflichten sind zwei: eigene Vollkommenheit und fremde Glück-
seligkeit451. Dagegen können eigene Glückseligkeit und fremde Vollkommenheit
keine Zwecke sein, die sich jemand zur Pflicht machen kann. Die eigene Glück-
seligkeit ist ein Naturtrieb des Menschen und kann keine Pflicht gegen sich selbst
sein: „Was jeder schon unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht
unter den Pflichtbegriff.“ Analoges gilt für die fremde Vollkommenheit eines An-
deren, es kann nicht meine Pflicht sein, „was kein anderer als er selbst tun
kann“ 452. Die eigene Vollkommenheit betrifft erstens die Pflicht, sich aus der
„Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit“ zur Menschheit empor zu arbeiten, um
der Menschheit würdig zu sein und sich überhaupt Zwecke setzen zu können.
Dafür muß der Mensch bemüht sein, „seine Unwissenheit durch Belehrung zu
ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern“. Zweitens soll der Mensch seinen
Willen bis zur reinsten Tugendgesinnung kultivieren und ein „moralisches Ge-
fühl“ als einen besonderen Sinn entwickeln, welches zu einer inneren moralisch-
praktischen Vollkommenheit führt, damit das Gesetz zugleich zur Triebfeder sei-
Die äußere Freiheit ist die rechtliche Freiheit; „sie ist die Befugnis, keinen
äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Bestimmung habe geben
können“ 457. Handeln hat Wirkung auf Andere, weil es Fakten schafft, und Ge-
setze regeln die Zumutbarkeit des Handelns für alle458. Das juridische Gesetz ist
Befugnis, alles zu tun, was man will, wenn man nur keinem Unrecht tut. Das sei eine
leere Tautologie: Wer eine Befugnis zum Handeln hat, kann niemandem Unrecht tun,
weil er befugt ist, also ein Einverständnis zum Handeln besteht.
458 K. A. Schachtschneider, S. 54 f.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiheit-
lichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung 31 (1998), S. 151; ders., Der Anspruch auf
materiale Privatisierung, S. 294 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 81
das Einverständnis aller Bürger mit dem Handeln und den Konsequenzen des
Handelns einzelner Bürger. Nur allgemeine Gesetze in diesem Sinne genügen
nämlich dem Recht, ius459. Der Einzelne muß sich nur legales Handeln Anderer
gefallen lassen, welche das allgemeine Gesetz, dem sie selbst zugestimmt haben,
achtet. Äußere Freiheit ist also die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender
Willkür, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz
zusammen bestehen kann“ 460. Praktische Freiheit bedeutet Rechtlichkeit, und
wird als Autonomie des Willens durch die Gesetze verwirklicht461. Nur wer
selbst (mit-)gegebenen Gesetzen gehorcht, kann in seiner Freiheit nicht verletzt
werden; denn: „volenti non fit iniuria“ 462. Diese politische Freiheit ist untrennbar
mit dem Recht zur freien Willkür verbunden463: die politische Freiheit betrifft
das Allgemeine, das Recht zur freien Willkür das Besondere, das Personale, das
Private. Nur beide Aspekte zusammen genügen der äußeren Freiheit. Die Bürger
bestimmen die Gesetze, unter denen sie in Freiheit und Frieden gemeinsam, also
sittlich, leben wollen und bestimmen sich in freier Willkür unter Beachtung die-
ser Gesetze selbst zum Handeln. Umgekehrt muß das Recht zur freien Willkür
die Autonomie des Willens mit einschließen; denn es ist die Willkür, welche die
Handlungsmaximen bestimmt und sie wird nur zur freien Willkür, wenn sie als
Autonomie des Willens diese Handlungsmaxime durch das allgemeine Gesetz als
gemeinschaftsverträglich und für alle legalisiert hat. Die Autonomie des Willens
und das Recht zur freien Willkür lassen sich zwar gedanklich auseinander halten,
sie bilden aber in praktischer Hinsicht unter dem Aspekt der äußeren Freiheit
eine Einheit. Das ist der Wesensgehalt der republikanischen Freiheit. Jede Herr-
schaftsideologie dagegen, nach welcher die Gesetze obrigkeitsstaatlich verordnet
und den Untertanen Freiräume gewährt werden, innerhalb derer sie willkürlich
handeln dürfen, verkennt den Bürger und ist der Freiheit zuwider464, weil sie die
politische Unabhängigkeit und damit Autonomie des Willens der Bürgerschaft
mißachtet und deshalb die Willkür der Bürger keine freie sein kann.
res populi, S. 275 ff., 325 ff., 410 ff., 449 ff. So auch bei G. W. F. Hegel, Enzyklopädie
der philosophischen Wissenschaften III, § 485, S. 303 f.: „die einfache Wirklichkeit der
Freiheit“ ist „das an sich Allgemeine“. Der Begriffsinhalt der Freiheit ist wahrhaft be-
stimmt „nur in der Form der Allgemeinheit. In dieser für das Bewußtseins der Intelli-
genz gesetzt mit der Bestimmung als geltender Macht, ist es das Gesetz – befreit von
der Unreinheit und Zufälligkeit, die es im praktischen Gefühle und in den Trieben hat“.
462 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432; so auch J. J. Rousseau, Vom Gesellschafts-
vertrag, S. 41: Das allgemeine Gesetz kann nicht unrecht sein, „da niemand gegen sich
ungerecht ist“; dazu auch K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 31;
ders., Res publica res populi, S. 293, 436, 532.
463 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 67 ff.
464 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 127 ff.
82 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Die innere und die äußere Freiheit bilden eine ethische Einheit465. Tugend-
pflichten und Rechtspflichten sind nicht material wesensverschieden, Differen-
zierungskriterium ist nur die Erzwingbarkeit: Tugendpflichten unterliegen dem
Selbstzwang, Rechtspflichten dagegen dem äußeren (rechtlichen) Zwang (dazu
unten). Die Tugendpflicht der fremden Glückseligkeit fordert, die äußere Freiheit
der Anderen und damit deren Würde, welche dem kategorischen Imperativ ge-
mäß ein Selbstzweck ist, zu achten. Andererseits ist Sittlichkeit als moralisches
Handeln und moralische Gesetzgebung nur möglich, wenn der einzelne eben un-
abhängig von der nötigenden Willkür anderer ist, also seine äußere Freiheit ge-
wahrt bleibt466. Mit anderen Worten: Die innere positive Freiheit als Autonomie
des Willens ermöglicht erst die äußere negative Freiheit als Unabhängigkeit von
eines anderen nötigender Willkür, ohne welche aber wiederum die innere Freiheit
als Erfüllung der Pflicht zur Sittlichkeit467 nicht möglich ist468: eine erzwungene
Handlung ist ohne moralischen Wert.
Freiheit ist eine transzendentale Idee, die zwar zwingend gedacht werden muß,
aber als Begriff der reinen Vernunft nicht weiter hinterfragt werden kann. Dieser
Abbruch der Hinterfragbarkeit führt in lebenspraktischer Hinsicht zur logisch
zwingenden Erkenntnis, daß Freiheit ein angeborenes Recht ist, welches um der
Menschheit des Menschseins willen jedem Menschen als Vernunftwesen zu-
kommt469. Das führt logisch und damit denknotwendig zur Gleichheit aller Men-
schen in der Freiheit und damit zur Richtigkeit dieses „uralten Naturrechtsgrund-
satzes“ 470. Alles Recht aber muß die Freiheit voraussetzen, weil es nämlich nicht
gelingt, Recht aus sich selbst heraus zu erklären471. Diesen systematischen Zu-
sammenhang zwischen Freiheit und Recht472 beweist Kant in den metaphy-
sischen Anfangsgründen der Rechtslehre in der Metaphysik der Sitten. Er leistet
eine Vernunftbegründung des Rechts durch reines Denken, also losgelöst von
historisch vorfindbaren Ordnungsregelungen473.
Rechte sind „systematische Lehren“, und zwar erstens als „Naturrecht, das auf
lauter Prinzipien a priori beruht“, und zweitens „das positive (statutarische)
Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht“. Rechte sind das mo-
ralische „Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. als einen gesetzlichen Grund zu
den letzteren (titulum), von denen eine Obereinteilung die in das angeborene und
erworbene Recht ist, deren ersteres dasjenige ist, welches, unabhängig von allem
rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt; das zweite das, wozu ein solcher
Akt erfordert wird“. „Das angeborene Recht ist nur ein einziges: Freiheit (Unab-
hängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen
Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses
einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende
Recht“ 474, welches Kant auch als das „angeborene Mein und Dein“ wie auch
„inneres“ Mein und Dein nennt475. Alle anderen Rechte sind erworben. Die Frei-
heit als Mein und Dein zu bezeichnen, ist wegen der Apriorität des Gemein-
schaftsbezuges des menschlichen Daseins konsequent, weil diese Bezeichnung
auch die angeborene Gleichheit in der Freiheit zum Ausdruck bringt476. Zum
inneren Mein und Dein zählt die Selbständigkeit, sein eigener Herr zu sein. Frei-
heit als angeborenes Recht, als inneres Mein und Dein bedeutet weiter, daß der
Mensch grundsätzlich als unbescholten gilt, „weil er, vor allem rechtlichen Akt,
471 Es geht in der Tat um eine Vorrangstellung des Freiheitsbegriffs in diesem Zu-
sammenhang. Wird nämlich Freiheit nur als subjektive negative Freiheit verstanden,
tritt das Recht lediglich von außen an das Subjekt heran. Das führt zur Auffassung von
„liberalen“ Grundrechten. Dadurch ist aber das Recht nicht immanent vernünftig. Unter
dem Aspekt der objektiven (positiven) Freiheit dient das Recht zur Festlegung und Vor-
abstimmung der Zwecke und Inhalte des Freiheitsgebrauchs. Beide Sichtweisen müssen
vermittelt sein, und auch dazu ist eben das Recht erforderlich; dazu E.-W. Böckenförde,
Recht, Staat, Freiheit, S. 20 f., 44 ff.
472 Zur notwendigen Bedingtheit von Freiheit und Recht und zur These, daß Ord-
oktroyierte oder durch bloße Macht und Gewalt gesatzte Regelungen nicht geleistet
werden kann. So ist etwa ein Legitimationsanspruch „von Gottes Gnaden“ mit Vernunft
nicht zu begründen.
474 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345.
475 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; dazu auch H. Cohen, Kants Begründung der
Ethik, S. 407.
476 „Die angeborene Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von an-
deren verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“,
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345.
84 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
keinem Unrecht getan hat“ 477. Und weil die Gemeinschaft der Menschen stets
auch eine Kommunikationsgemeinschaft ist, wird auch die Rede- und Argumen-
tationsfreiheit aus der Freiheit als angeborenem Recht abgeleitet478. Aus der Frei-
heit als angeborenem Recht leitet sich schließlich die Befugnis ab, „das gegen
andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen
nur nicht annehmen wollen“ 479. Rousseau formuliert: „Im Naturzustand (. . .) bin
ich dem gegenüber, dem ich nichts versprochen habe, zu nichts verpflichtet, ich
erkenne nur das als Besitz des anderen an, was mir zu nichts nütze ist“ 480. Doch
was ist das „ihre“, das sich nicht schmälert, wenn sie sich dessen nicht anneh-
men? Damit aber ist die Frage nach dem Mein und Dein, die Verteilungsfrage,
aufgeworfen worden, welche sich befriedend für alle nur durch das Recht klären
läßt481.
3. Zur Vernunftbegründung des Rechts
aus der angeborenen Freiheit
Die Herleitung des positiven gesetzten Rechts aus der angeborenen Freiheit
leistet Kant über die Möglichkeit des Besitzes und des Gebrauchs als äußeres
Mein und Dein. Das innere Mein und Dein, als angeborenes Recht, muß ein äu-
ßeres Mein und Dein, ein erworbenes Recht werden, welches einen gesetzgebe-
rischen Akt voraussetzt, weil außer der Freiheit alle Rechte erworbene sind.
Es muß um der (angeborenen) Freiheit willen grundsätzlich möglich sein, „einen
477 Dies formuliert sich etwa im Rechtsprinzip „nulla poena sine lege“, daß nämlich
jede Bestrafung ein entsprechendes Gesetz bei Begehung der Tat voraussetzt, wie es
Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB fordert, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des
Rechtsstaates, S. 361 f.; „Jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit
welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten dementsprechend einrichten zu können“,
BVerfGE 57, 250 (262); es gilt ein „Rückwirkungsverbot im Strafrecht“, BVerfGE 95,
96 (131).
478 Für Kant ist der Zeitpunkt der Abschaffung der Redefreiheit der Augenblick für
Rebellion, weil private Handlungsmaximen öffentlich erklärbar sein müssen, wenn sie
rechtmäßig sein sollen, H. Arendt, Über das Urteilen, S. 68 f. Im übrigen, Freiheit
der Rede bedeutet für Kant Freiheit im Denken, S. 58. Zum Recht der freien Rede
K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 41 f.; ders., Res publica res po-
puli, S. 588 ff., 606 ff.
479 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.
480 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 39. Bei Hegel ist der Mensch nur
Person, sofern er das Recht hat, seinen Willen in jede Sache zu legen, und sich so als
Eigentümer über Besitz, welcher Eigentum ist, zu anderen Freien als Person verhält,
J. Rittner, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des
Rechts – Kommentar, S. 55. „Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft.“ Eigentum
ist die „erste Realität meiner Freiheit in einer äußerlichen Sache“, die „Person muß sich
eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“. Und diese äußere Sphäre
ist das Eigentum, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 102, und
zwar das Privateigentum, S. 107 f.
481 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 376 f.; ders., Das Recht
am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 764 ff.; ders., Freiheit in der Repu-
blik, S. 555 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 85
jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“ 482. Kant defi-
niert: „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sondern der Bestimmungs-
grund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen
wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit
dem Bewußtsein des Vermögens einer Handlung zur Hervorbringung des Objekts
verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der
Aktus desselben (der Begehrung) ein Wunsch“ 483. Die Willkür bestimmt, einen
selbst gesetzten Zweck durch Handeln zu verfolgen, um ein bestimmtes Hand-
lungsergebnis zu erzielen oder ein begehrtes Objekt hervorzubringen484. Diese
äußeren Gegenstände der Willkür können drei sein: „1. eine (körperliche) Sache
außer mir; 2. die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat (. . .); 3. der Zu-
stand eines anderen im Verhältnis auf mich“ 485. Mit dem Punkt 2. sind die Lei-
stungsverpflichtungen anderer einem einzelnen gegenüber486 angesprochen, mit
dem Punkt 3. die Rechtsverhältnisse, in denen die Menschen untereinander in
Verbindung stehen, etwa durch das Ehe- und Familienrecht487. Grundsätzlich
kann ein Mensch an jedem Objekt seiner Willkür ein Eigenes haben488. Das er-
weist schon der Sprachgebrauch: dies ist mein Beruf, meine Erfindung, mein(e)
Lebenspartner(in) etc.
Es sind, Kants Systematik des Philosophierens folgend, zwei Fragen zu stel-
len489: erstens, wie läßt es sich überhaupt denken, daß ein Gegenstand als der
meine gedacht werden kann, und zweitens, welche Konsequenzen hat diese
Denkbarkeit in der praktischen Lebenswirklichkeit490. Damit ist die Frage nach
der (Denk-)Möglichkeit des äußeren Mein und Dein eine Frage der Möglichkeit
von Recht per se. Kant zeigt die Denkbarkeit, sich etwas Äußeres als das Meine
zu denken, exemplarisch an den körperlichen Gegenständen der Willkür, sie ist
482 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354. Der Besitz ist die äußerliche Sphäre der
könne. Ob dieser Zweck vernünftig und gut sei, ist keine Frage dieser „hypothetischen“
Imperative, „sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu erreichen“, Kant, Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten, S. 43 f.
485 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 355.
486 Wer erwarten kann, daß ein Anderer seine Erwartungen nicht enttäuschen werde,
hat ein Eigenes an den Handlungen des Anderen, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der
Republik, S. 540 f.
487 Dazu Kant, Metaphysik der Sitten, S. 389 ff.
488 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff.
489 Diese grundsätzliche Art des systematischen Philosophierens zeigt sich bei Kant
etwa in der Kritik der reinen Vernunft, S. 69 ff. Auch Kants Differenzierung von mate-
rialer und formaler Vernunfterkenntnis sowie der empirischen von der reinen Philoso-
phie weist in diese Richtung, Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 11 f.
490 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 358.
86 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
aber auch auf die beiden anderen möglichen Gegenstände der Willkür anwend-
bar491. „Das äußere Meine ist dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Lä-
sion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht als Inhaber des
Gegenstandes) bin“ 492. Das äußere Meine ist mit der Gebrauchsmöglichkeit ei-
nes Gegenstandes verbunden. Unproblematisch ist es, sich einen Gegenstand bei
unmittelbarer physischer Sachherrschaft als ein äußeres Meines zu denken: ich
kann mir einen Gegenstand als den meinen denken, wenn ich ihn derzeit inne-
habe und gebrauchen kann und dadurch Andere von einer Gebrauchsmöglichkei-
ten ausschließe. Der physische Besitz ist die Bedingung der Möglichkeit des Ge-
brauchs. Schwieriger ist es jedoch, sich einen Gegenstand als das äußere Meine
zu denken, wenn diese unmittelbare physische Sachherrschaft nicht vorliegt. Dies
kann nur unter der Voraussetzung gelingen, wenn der Begriff des Besitzes als in
zwei Ausprägungen gedacht wird: zum einen als empirischer, physischer Besitz
als die tatsächliche, sinnlich wahrnehmbare Sachherrschaft eines körperlichen
Gegenstandes. Zum zweiten aber muß der Besitz als intelligibler, bloß-rechtli-
cher Begriff gedacht werden, als ein „Besitz ohne Inhabung“ 493. Der empirische
Besitz ist nicht hinreichend für die Qualifizierung zum Meinen, weil jemand de-
finitionsgemäß im äußeren Seinen auch dann lädiert sein können muß, wenn der
Gegenstand nicht unter seiner unmittelbaren Sachherrschaft steht, ihn also ein
anderer auch ohne dessen Einwilligung gebrauchen könnte. Hinreichendes Krite-
rium für die Qualifizierung zum Meinen ist der noumenale Begriff des intelligi-
blen Besitzes494. Dieser kann aber nur als ein „bloß-rechtlicher“ gedacht werden.
491 „Die Frage: wie ist ein äußeres Mein und Dein möglich? löst sich nun in dieje-
nige auf: wie ist ein bloß-rechtlicher (intelligibler) Besitz möglich? und diese wiederum
in die dritte: wie ist ein synthetischer Rechtssatz a priori möglich?“ Die Objekte der
Willkür sind nicht nur solche, die Erscheinung haben, sondern Kant rückt sie in die
Nähe des Ding an sich und nennt sie „Sachen an sich“: „obgleich der Gegenstand, den
ich besitze, hier nicht so, wie es in der transzendentalen Analytik geschieht, selbst als
Erscheinung, sondern als Sache an sich selbst betrachtet wird“. Das Mein und Dein ist
damit nicht notwendigerweise ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand, sondern er kann
auch durch „den reinen Verstand erkennbar sein“, Kant, Metaphysik der Sitten,
S. 357 f. Ohne dieses erkenntnistheoretische Zugeständnis, das Mein und Dein nicht an
der Erscheinung festzumachen, sondern als Sache an Sich zu betrachten, ließe sich das
Mein und Dein auf die Objekte der Willkür, die nicht körperliche Gegenstände sind,
also etwa auf die Leistungsverpflichtungen anderer und die Rechtsverhältnisse mit an-
deren Menschen nicht anwenden. Material ist der Eigentumsbegriff sehr weit zu fassen:
Eigentum sind die durch die allgemeinen Gesetze begründeten materialen Rechte des
Lebens und des Handelns, Rechte an Handlungen anderer Menschen, Rechte an Sa-
chen, Rechte an Gegenständen aller Art, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das
Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 753.
492 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 357; vgl. hierzu H. Cohen, Kants Begründung der
stanzen zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben und ihr Verhältnis auf eine rein ge-
dankliche Relation verkürzt“. Dementsprechend muß hinsichtlich der Möglichkeit des
Gebrauchs „von jeder Bestimmtheit des Gebrauchs, des brauchbaren Gegenstandes wie
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 87
Niemand kann einen außer- oder vorrechtlichen Anspruch auf Besitz haben, weil
der Besitz (als Begriff) bereits „bloß-rechtlich“ zu denken ist495. Ein äußeres
Mein kann also lediglich als ein Rechtlich-Meines gedacht werden, es „ist dasje-
nige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine
Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde“. Diese Verbunden-
heit mit dem Gegenstand besteht aber nur auf einer rein gedanklichen Ebene,
also losgelöst von den tatsächlichen empirischen Raum-Zeit-Bedingungen des
physischen Inbesitzstehens496. Doch Kant geht noch weiter, „denn das Recht ist
schon ein intellektueller Besitz eines Gegenstandes“, weil nämlich außer der
(angeborenen) Freiheit alle anderen Rechte erworben sind. Das Recht selbst ist
also nur als intelligible Besitzposition denkbar497. Diese Auffassung deckt sich
mit dem Sprachgebrauch, der Mensch hat Recht und hat Rechte. Die Begriffe
des intelligiblen Besitzes und des Rechts verweisen wechselseitig aufeinander
und sind in diesem Zusammenhang durchaus synomym zu verstehen: der Besitz
ist bloß-rechtlich und damit noumenal und intelligibel, Recht aber ist immer
schon intelligibler Besitz498. Somit ist das Recht „ein solcher reiner praktischer
Vernunftbegriff der Willkür unter Freiheitsgesetzen“. Den intelligiblen Besitz als
noumenalen Begriff in Stellung zu bringen, ist auch in der Systematik der Frei-
heitsphilosophie Kants zwingend: das innere Mein und Dein als angeborenes
Recht der Freiheit muß in praktischer Hinsicht als äußeres Mein und Dein Au-
ßenwirkung entfalten, also muß auch der Besitz eine Komponente der Freiheit im
äußeren Bereich darstellen. Und weil ja die Freiheit selbst nur als eine noumenale
gedacht werden kann, muß auch der Begriff des Besitzes als Freiheitskompo-
nente ein noumenaler sein499.
auch des Gebrauchsvermögens und der technischen Kompetenz des Subjekts“ abstra-
hiert werden, „so daß allein das Gebrauchsvermögen oder der Gebrauchswille auf der
subjektiven Seite und das Brauchbare auf der objektiven Seite als Relate des intelligi-
blen Besitzverhältnisses übrig bleiben“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 230 f.
495 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 358.
496 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 363.
497 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353.
498 In ähnlicher Weise argumentiert G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des
Rechts, S. 107.
499 „Es darf auch niemanden befremden, daß die theoretischen Prinzipien des äuße-
ren Mein und Dein sich im Intelligiblen verlieren und kein erweitertes Erkenntnis vor-
stellen; weil der Begriff der Freiheit, auf dem sie beruhen, keiner theoretischen Deduk-
tion seiner Möglichkeiten fähig ist, und nur aus dem praktischen Gesetze der Vernunft
(dem kategorischen Imperativ) als einem Faktum derselben, geschlossen werden kann“,
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 361. Hegel hat hier offensichtlich eine ähnliche Über-
zeugung wie Kant: „Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben, um
als Idee zu sein“. „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der
Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt.
Erst im Eigentume ist die Person als Vernunft“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philoso-
phie des Rechts, S. 102, wobei anzumerken ist, daß Hegel zwischen Besitz und Eigen-
tum keine substanziellen Unterschiede macht, vgl. hierzu J. Ritter, Person und Eigen-
tum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – Kommentar, S. 70 f.
88 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Als äußere Komponente der Freiheit muß der Begriff des Besitzes auch unter
dem Aspekt der Allgemeinheit gedacht werden können, der Gebrauch des äuße-
ren Gegenstandes also einem allgemeinen Gesetz entsprechen. Dies ist entweder
dadurch denkbar, daß ein generelles Verbot des Gebrauchs aller äußeren Gegen-
stände besteht, oder aber, daß alle gleichermaßen zum Gebrauch eines bestimm-
ten Gegenstandes befugt sind. In beiden Fällen läßt sich aber schlechterdings
nicht mehr vom Meinen sprechen. Auch der Aspekt der Allgemeinheit zeigt, daß
der empirische Besitz, die tatsächliche Sachherrschaft, eben nicht hinreichend ist,
um etwas äußeres als das Meine zu qualifizieren, welches, um der allgemeinen
Freiheit willen, den allgemeinen Gesetzen entsprechen muß. Natürlich muß der
Gegenstand der Willkür auch gebraucht werden können und damit auch unter der
tatsächlichen Sachherrschaft eines Menschen stehen500. Das setzt einen Akt der
Willkür voraus, nämlich den des In-die-Gewalt-Bringens501. Davon zu unter-
scheiden ist die Möglichkeit, sich einen Gegenstand der Willkür nur zu denken,
wofür es hinreichend ist, „mir bewußt zu sein, daß ich ihn in meiner Macht
habe“, also unter meine tatsächliche Sachherrschaft bringen und gebrauchen
könnte. Dadurch ist es möglich, jeden Gegenstand unabhängig vom tatsächlichen
Gebrauch oder der rein physischen Sachherrschaft zum Gegenstand meiner Will-
kür „als objektiv-mögliches Mein oder Dein“ anzusehen und zu behandeln502.
Diese Möglichkeit ist ein Postulat der praktischen Vernunft, welches Kant „Er-
laubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft“ nennt. Es gilt a priori
und anders könnte ein Recht zur freien Willkür aus dem „bloßen Begriffe vom
Rechte“ nicht hergeleitet werden503. Die Denkbarkeit des Besitzes eines äußeren
Gegenstandes als den Meinen, auch wenn dieser nicht unmittelbar unter der phy-
sischen Sachherrschaft steht, ist durch die Vernunft gewirkt, und erst dadurch
wird die Willkür freiheitlich, weil sie auf das äußere Mein gerichtet ist und über
den intelligiblen Besitz als bloß-rechtlich zum Recht als solchem wird. Das
Recht zur freien Willkür folgt damit der Möglichkeit, sich jeden beliebigen Ge-
genstand als ein objektiv-mögliches Mein oder Dein zu denken. Durch dieses Er-
laubnisgesetz der praktischen Vernunft wird die Ethik zur Rechtslehre erwei-
tert504, weil es durch die lex permissiva der praktischen Vernunft grundsätzlich
500 „Ein Gegenstand meiner Willkür aber ist das, wovon beliebigen Gebrauch zu ma-
chen ich das physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner Macht (potentia)
steht: wovon noch unterschieden werden muß, denselben Gegenstand in meiner Gewalt
(in potestatem meam redactum) zu haben, welches nicht bloß ein Vermögen, sondern
auch ein Akt der Willkür voraussetzt“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354.
501 Vergleichbar G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 144.
502 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 354 f.
503 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 355.
504 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 409; durch das allgemeine Gesetz und
den Staat kann nämlich der Einzelne gezwungen werden, pflichtmäßig aus Pflicht, also
moralisch zu handeln, weil sonst das Eigene, also die äußeren Möglichkeiten des Han-
delns und Lebens, ja das Leben selbst, nicht gesichert ist, K. A. Schachtschneider, Frei-
heit in der Republik, S. 544 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 89
möglich ist, sich etwas Äußeres als Meines zu denken. Dies können neben Sa-
chen und Gegenständen dann auch alle Rechte außer der angeborenen Freiheit
sein. Aus dem bloßen Begriff vom Recht allein läßt sich diese Denkmöglichkeit
nicht herleiten.
Diese logische Möglichkeit, sich ein Objekt der Willkür als das seine zu den-
ken, bedeutet in praktischer Hinsicht eine Notwendigkeit: die lex permissiva der
praktischen Vernunft ist ein Postulat a priori, also eine Denknotwendigkeit, weil
nämlich ohne die praktische Möglichkeit, „einen äußeren Gegenstand meiner
Willkür als das Meine zu haben“, sich die äußere Freiheit mit sich selbst in
Widerspruch bringen würde505. Das Mein und Dein ist wegen der Freiheit, ihren
Äußerungen und Äußerlichkeiten, dem Leben also, eine zwingende praktische
Notwendigkeit506.
Die freie Willkür kann freiheitlich nur unter dem allgemeinen Gesetz gedacht
werden. Der intelligible Besitz ist ein allgemeingültiges Postulat, ein Grundwert
eines freiheitlichen Gemeinwesens, der von jedem Bürger akzeptiert wird507. Das
ist auch die Aussage von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, der Eigentumsgewährleistung:
505 „Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch
in meiner Macht habe. Sollte es nun doch rechtlich schlechterdings nicht in meiner
Macht stehen, d. i. mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht
zusammen bestehen können (unrecht sein), Gebrauch von demselben zu machen: so
würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegen-
standes derselben berauben, dadurch, daß sie brauchbare Gegenstände außer aller Mög-
lichkeit des Gebrauchs setzte: d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete, und zur
res nullius machte; obgleich die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sachen mit jeder-
manns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte. – Da nun die
reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür
zum Grunde legt, und also von der Materie der Willkür, d. i. der übrigen Beschaffenheit
des Objekts, wenn es nur ein Gegenstand der Willkür ist, abstrahiert, so kann sie in
Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthal-
ten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde“, Kant,
Metaphysik der Sitten, S. 354. „Der Gebrauch von Gegenständen stimmt grundsätzlich
mit der gesetzlichen Freiheit eines jeden zusammen. Würde daher das Recht Willkür-
gegenstände der Gewalt der Willkür entziehen, die Willkür ihrer Gegenstände berauben,
würde es rechtlich mögliche Willkür rechtlich unmöglich machen und sich damit in
einen Widerspruch verwickeln“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 243.
506 „Was anfangs als Möglichkeit gesetzt wurde, und in seiner Möglichkeit befragt
wurde, zeigt sich am Ende als notwendige Voraussetzung der reinen rechtlich-prak-
tischen Vernunft selbst. Ihr Gesetz, zu einer prinzipiellen rechtlichen Beurteilung der
Freiheit der Willkür hinsichtlich des Gebrauchs ihrer Gegenstände herangezogen, er-
weist die Uneingeschränktheit der Willkürfreiheit gegenüber Sachen und damit die
grundsätzliche Eigentumsfähigkeit aller Willkürgegenstände und der Wahrung der Kon-
sistenz der Gesetzgebung der äußeren Freiheit willen als immer schon von ihr vorausge-
setzt“, W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 246.
507 Und so „liegt der Grund der Gültigkeit eines solchen Begriffs vom Besitz (pos-
sessio noumenon) als einer allgemeingeltenden Gesetzgebung; denn eine solche ist in
dem Ausdrucke enthalten: dieser äußere Gegenstand ist mein; weil allen andern da-
durch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs
desselben zu enthalten“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 363.
90 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
508 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 544 ff.; ders., Res publica res
populi, S. 387 f.
509 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345.
510 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365.
511 Schon die Gefahr, daß jemandem das Seine genommen werden könnte, ist Lä-
ten Zone Deutschlands nach dem Krieg, in der die sowjetischen Besatzungstruppen
empirisch die Besitzer, die Herren waren, die zwar eine Ordnung, aber kein Recht zu
begründen vermochten, dazu K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden
nach der Revolution, S. 29 ff., 39 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 91
Etwas Äußeres ist nicht von Natur aus das Seine von jemandem, sondern muß
erworben werden. Der intelligible Besitz ist nur die logische Denkbarkeit, einen
Gegenstand der Willkür als „objektiv-mögliches Mein oder Dein“ aufzufassen516.
Dies ist aber keine hinreichende Begründung dafür, daß ein Gegenstand auch in
praktischer Hinsicht das Seine von jemandem ist, sondern hinreichend ist die Er-
werbung. Dabei kommt es nicht auf den bloß empirischen Moment des unter die
Sachherrschaft Bringens an, sondern muß entsprechend dem intelligiblen Besitz
ein Vernunfttitel517 sein, welcher aber nur durch einen Rechtsakt518 unter der
Idee eines a priori vereinigten gesetzgebenden Willen aller in einer Gemein-
schaft519, also im bürgerlichen Zustand, denkbar ist, weil durch einen einseitigen
Willkürakt eines Einzelnen die Besitzerwerbung keine Verbindlichkeit für An-
dere schaffen kann, sich des Gebrauchs dieses erworbenen Gegenstandes zu ent-
halten. Die Erwerbung als Vernunfttitel im bürgerlichen Zustand ist „peremto-
risch“ 520. Durch sie erhält der einzelne den Besitz als Recht an den bereits ge-
nannten denkbaren Objekten der Willkür, nämlich den an körperlichen Sachen,
an Leistungen anderer Personen oder an (Rechts-)Verhältnissen gegenüber ande-
ren Personen521. „Das Prinzip der äußeren Erwerbung ist nun: Was ich (nach dem
Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe, und wovon, als Objekt mei-
ner Willkür, Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Ver-
nunft) das Vermögen habe, endlich was ich (gemäß der Idee eines möglichen
vereinigten Willens) will, es solle mein sein, das ist mein“ 522.
Auch die Ersterwerbung eines bis dahin herrenlosen Gegenstandes bedarf des
Akzepts durch „Vereinigung des Willens aller zu einer allgemeinen Gesetzge-
bung“ 523, wobei anzumerken ist, daß eine derartige Ersterwerbung bei Kant nur
Bestimmung der Grenzen des rechtlich-möglichen Besitzes“, Kant, Metaphysik der Sit-
ten, S. 378.
518 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 368.
519 So auch G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 155.
520 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 375.
521 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370.
522 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 368.
523 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 369.
92 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
auf den Boden im Naturzustand als anwendbar gedacht werden kann524, der aller-
dings in der heutigen Welt angesichts verteilter Besitzverhältnisse gerade in Be-
zug auf den Boden wohl keine praktische Bedeutung mehr zukommt525. Dennoch
ist Kants Auffassung über die Ersterwerbung in unserer Zeit durchaus weiterfüh-
rend, wenn man die Ersterwerbung nicht lediglich auf Sachen bezieht. Eine Er-
findung kann nur aufgrund eines Gesetzes dem Erfinder als seine Erfindung zu-
geteilt werden, in Deutschland erfolgt dies durch das Patentgesetz. Ein Patent ist
das gewerbliche Nutzungsrecht einer neuen Erfindung, die auf einer erfinderi-
schen Tätigkeit beruht (§ 1 Abs. 1 PatG). Das Patent hat die Wirkung, daß allein
der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung zu benutzen. Dies ist ohne
seine Zustimmung Dritten verboten (§ 9 PatG). Wegen der angeborenen Freiheit
als innerem Mein und Dein hat jeder Mensch einen Anspruch darauf, daß jedes
Objekt seiner Willkür ihm, peremtorisch, als rechtlich-seines gesichert wird. Jede
peremtorische und damit gesetzesrechtliche Sicherung als das Seine von jeman-
dem setzt voraus, daß es in irgendeiner Weise bereits das Seine von ihm ist, im
vorliegenden Fall seine Erfindung aufgrund seiner erfinderischen Tätigkeit ist.
Das ist ein „provisorisch-rechtlicher Besitz“, welcher „die rechtliche Präsumtion
für sich hat, ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen
Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen“. Damit hat jeder Mensch wegen
der äußeren Freiheit als angeborenem Recht einen (Naturrechts-)Anspruch dar-
auf, daß jedes Objekt seiner Willkür ihm durch ein allgemeines Gesetz gesichert
wird526. Der Mensch hat ein provisorisches Recht auf alle denkbaren Objekte
seines Begehrungsvermögens, welche ihm aber nur nach Maßgabe allgemeiner
Gesetze zugeteilt und (rechtlich) gesichert werden. Allerdings, dieses provisori-
sche Recht ermächtigt nicht zur grenzenlosen Inbesitznahme, sondern freiheitlich
ist diese Erwerbung nur nach Maßgabe des kategorischen Imperativs: Die Aneig-
nung darf nur in dem Ausmaße erfolgen, wie es in einer Gemeinschaft von Men-
schen als allgemein zustimmungsfähig gedacht werden kann. Grenzenlose Raff-
nunft kommt jedermann das Vermögen zu, „einen äußeren Gegenstand seiner Willkür
als das Seine zu haben, mithin jede Inhabung ein Zustand ist, dessen Rechtmäßigkeit
sich auf jedem Postulat durch einen Akt des vorhergehenden Willens gründet, und der,
wenn nicht ein älterer Besitz eines anderen von ebendemselben Gegenstande dawider
ist, also vorläufig, nach dem Gesetz der äußeren (sic. und damit angeborenen) Freiheit,
jedermann, der mit mir nicht in den Zustand einer öffentliche gesetzlichen Freiheit tre-
ten will, von aller Anmaßung des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes abzuhalten
berechtigt, um, dem Postulat der Vernunft gemäß, eine Sache, die sonst praktisch ver-
nichtet sein würde, seinem Gebrauch zu unterwerfen“.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 93
erste Besitznahme eines Stück Landes ist u. a. an die Bedingung geknüpft, daß man
nicht mehr in Besitz nimmt, als man zum Unterhalt benötigt und zweitens auch bewirt-
schaften kann. Die Bewirtschaftung durch Arbeit sei der einzige Ausweis von Eigen-
tum, welchen alle Anderen im vorgesetzlichen Zustande zu achten hätten, zum Eigen-
tum durch Arbeit, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 579 ff.
528 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370.
529 Eine Beschränkung des Eigentumsbegriffs auf geldwertes Vermögen ist demnach
ohne Sinn, schon weil alle Handlungsmöglichkeiten einen Geldwert haben können,
K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner,
S. 747 ff.
530 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382 f.
531 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 386.
532 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 387.
533 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 383.
94 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Der Naturzustand ist der Zustand von Gesetzlosigkeit, und dadurch schon ein
Zustand des Krieges; denn selbst ohne Ausbruch von Feindseligkeiten besteht für
jeden eine fortwährende Bedrohung. Dieser Bedrohungszustand ist bei Kant
bereits eine „Läsion“ durch jeden Anderen. Der Mensch wird schon durch die
Gefahr „lädiert“, daß ihm das Seine durch einen Anderen genommen werden
könnte537. Eigentum kann nicht Eigentum sein, solange die Privatheit des Ei-
genen nicht gesichert und nicht geschützt wird538. Diese Sicherheit kann der
Einzelne nur im gesetzlichen Zustand erfahren. Deshalb kann ich den Anderen
„nötigen, entweder mit mir in einem gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu
treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen“. Im Naturzustand darf ich
448 ff., 452; ders., Res publica res populi, S. 55, 383 f.
537 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leis-
jeden „als meinen Feind behandeln“ 539. Dieser „juridische Naturzustand“ ist „der
Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von
Zwangsgesetzen“, „ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jeder-
mann gegen jedermann (. . .), aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in
einen politischbürgerlichen zu treten“. Dies ist keine Pflicht von Menschen
gegen Menschen, sondern eine des „menschlichen Geschlechts gegen sich
selbst“ 540. Nach diesem menschheitlichen Recht auf Sicherheit hat jeder Mensch
einen Anspruch auf die Sicherheit gewährleistende allgemeine Gesetzlichkeit und
damit auf Staatlichkeit, wodurch, allgemein gesprochen, die Möglichkeiten des
Handelns und des Lebens, des Eigenen also, gesichert werden. Es besteht ein
(menschheitliches) Recht auf (Gesetzes-)Recht, weil sich sonst niemand in seiner
Freiheit sicher sein kann541.
Voraussetzung allen positiven Rechts und damit der äußeren Freiheit ist der
bürgerliche Zustand542, die Republik. „Der bürgerliche Zustand, bloß als recht-
licher Zustand betrachtet, ist auf folgende Prinzipien a priori gegründet: 1. Die
Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben
mit jedem anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines ge-
meinen Wesens, als Bürger“. Die Freiheit als Mensch ist die Leitidee des Ge-
meinwesens schlechthin und besteht in dem allgemeinen Recht zur freien Will-
kür für alle: „ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher
ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke
nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen, allge-
meinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte der anderen)
nicht Abbruch tut“. Der bürgerliche Zustand ist unvereinbar mit jeder Form von
Herrschaft, auch mit der des Weisen Diktators bei Platon543.
Die (denknotwendige) Gleichheit in der Freiheit führt zur Zwangsbefugnis
durch das Recht544; denn „Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden“ 545.
ner, S. 752 f.
542 In ähnlicher Weise auch Hegel, für den das Recht an sich der allgemeine Wille
Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium pa-
ternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können,
was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt
sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und,
daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare
Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte
haben, aufhebt)“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145 f.; so auch H. Arendt, Was ist
Politik?, S. 41; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 54 ff., 83 ff., 349.
544 Dazu W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 454; J. Ha-
Das Recht zur freien Willkür, nach eigenen Vorstellungen sein Glück zu suchen,
ist kein Recht zur Beliebigkeit der Willkür, sondern nur zu einer eingeschränkten.
Die Bürger müssen sich in einem Zustand „der Gleichheit der Wirkung und Ge-
genwirkung einer dem allgemeinen Freiheitsgesetze gemäß einander einschrän-
kenden Willkür (welcher der bürgerliche Zustand heißt) befinden: so ist das
angeborene Recht eines jeden in diesem Zustande (d. i. vor aller rechtliche Tat
desselben) in Ansehung der Befugnis, jeden andern zu zwingen, damit er immer
innerhalb der Grenzen der Einstimmung des Gebrauchs seiner Freiheit mit der
meinigen bleibe, durchgängig gleich“. Das ist mit dem Recht identisch; denn
„Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“ 546. Der Zwang, Recht
und Gesetz einzuhalten, ist eine „Verhinderung eines Hindernisses der Frei-
heit“ 547. Rousseau sieht darin einen Zwang zur Freiheit548. Aus der Gleichheit in
der Freiheit folgt, daß es keine Privilegien als Geburtsrechte oder angeborene
Standesunterschiede geben darf 549.
Der bürgerliche Zustand ist nicht nur für die logische, sondern auch für die
empirisch-praktische Möglichkeit, die Voraussetzung, nicht nur ein Objekt der
Willkür als das Seine zu denken, sondern auch etwas Äußeres als das Seine zu
haben. Ein Objekt der Willkür als das Seine zu haben, bedeutet eine Verbindlich-
keit für alle anderen, sich des Gebrauchs zu enthalten. Diese Verbindlichkeit setzt
die allseitige „Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel“ vor-
aus550. Weil aber Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, der einzelne
aber nicht rechtlos durch Gewaltanwendung und damit freiheitswidrig zwingen
darf 551, folgt, daß „nur ein jeden anderen verbindender, mithin kollektiv-allge-
meiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige (ist), welcher jeder-
zur Metaphysik der Sitten“, S. 209 f.; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, S. 29 ff.;
dazu auch K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 203 ff.; ders., Res pu-
blica res populi, S. 553 ff.
545 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338, 464; ders., Über den Gemeinspruch, S. 144,
169.
546 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 340.
547 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338.
548 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 21.
549 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 148; ders., Zum ewigen Frieden, S. 205 Anmer-
sen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des
meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten“, Kant, Metaphysik der Sitten,
S. 365.
551 Der einzelne Mensch darf persönlich Gewalt ausüben, wenn und soweit das allge-
meine Gesetz dies zuläßt, etwa bei Notwehr (§ 227 BGB, § 32 StGB). Der Terminus
vom Gewaltmonopol des Staates ist daher irreführend, dazu K. A. Schachtschneider,
Prinzipien des Rechtsstaates, S. 119 ff.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 97
mann jene Sicherheit leisten kann“ 552. Im bürgerlichen Zustand553, in der Repu-
blik obliegt die höchste Zwangsgewalt dem Staate554.
Die grundsätzliche logische Möglichkeit und Notwendigkeit des Mein und
Dein und die daraus abgeleitete Erforderlichkeit des bürgerlichen Zustandes im
Hinblick auf die praktische Möglichkeit des Mein und Dein, führt zur Befugnis
eines jeden einzelnen, jeden anderen zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bür-
gerliche Verfassung einzutreten555. Grundsätzlich übernimmt damit der Staat, die
Republik als Verwirklichung des bürgerlichen Zustandes, die Garantie des Sei-
nen556, und zwar dort, wo das Besitzrecht als unmittelbares Gebrauchsrecht
wegen der bloß physischen Sachherrschaft endet557. (Rechtliches) Eigentum und
(Rechts-)Staat stehen also in einer wechselseitigen Voraussetzung558.
haben: so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit
des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen
in eine bürgerliche Verfassung zu treten“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366; dazu
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 141 ff.
556 „Alle Garantie setzt also das Seine von jemandem (dem es gesichert wird) schon
voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äuße-
res Mein und Dein als möglich angenommen werden, und zugleich ein Recht, jeder-
mann, mit dem wir irgend auf eine Art in Verkehr kommen könnten, zu nötigen, mit
uns in einer Verfassung zusammen zu treten, worin jenes gesichert werden kann“, Kant,
Metaphysik der Sitten, S. 366; dazu auch O. Höffe, Ethik und Politik, S. 307.
557 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 422.
558 Historisch gesehen begründet die französische Revolution die „Erwerbsgesell-
schaft“, E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 216; dazu auch W. Kersting, Recht,
Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 70.
559 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 141 ff.
98 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
welchen jeder mit jedem und damit alle mit allen abschließen, zur bürgerlichen
Gemeinschaft, zum Staat. Der Staat ist eine „Vereinigung einer Menge von Men-
schen unter Rechtsgesetzen“ 560. Kants Staat kann folglich nur als Rechtsstaat be-
griffen werden561, Rechtlichkeit ist der Zweck des Staates562. Diese Vereinigung
zum Staat erfolgt durch den allgemeinen Volkswillen, „in einem ursprünglichen
Vertrag (der doch das Prinzip aller Rechte ist)“ 563.
Dieser ursprüngliche Vertrag ist allerdings nur eine Idee der Vernunft. Ur-
sprünglich bedeutet nicht uranfänglich und bezieht sich nicht auf den Akt eines
historisch tatsächlich vorgenommenen Vertragsschluß, sondern verweist auf eine
rechtsmetaphysische Begründung564: die Menschen haben sich der Idee nach
durch einen allseitigen Vertrag zu einem Staat zusammengeschlossen. Kant ab-
strahiert mit dieser Vertragsidee von allen empirischen und geschichtlichen Um-
ständen der Staatsgründung, schon weil die Staatsgründungen in der Vergangen-
heit ohnehin größtenteils auf Gewalt und Macht beruhten. Außerdem könnte ein
tatsächlich stattgefundener Vertragsschluß für die nachfolgenden Generationen
kein freiheitlicher Geltungsgrund einer Staatsgründung darstellen: jeder wird in
eine bereits existierende Rechtsgemeinschaft hinein geboren. Jedenfalls fehlt
eine (empirisch und geschichtlich tatsächlich erfolgte) Legitimation eines Verfas-
sungsgesetzes oder anderer in Kraft befindlicher allgemeiner Gesetze durch die
nachfolgenden Generationen, aber auch durch unmündige Kinder oder andere
nicht wahlberechtigter Personen565. Kant schreibt: „Hier ist nun ein ursprüng-
licher Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche
Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden
kann. – Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale ge-
nannt), als Koalition jedes besonderen und Privatwillens in einem Volk zu einem
gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen
Gesetzgebung) ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein
solches gar nicht möglich); gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher
bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten
wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrich-
tet, und eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns, mündlich oder
schriftlich, hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürger-
liche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine bloße Idee der Ver-
nunft, die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich jeden Ge-
setzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten
Willen eines ganzen Volks habe entspringen können, und jeden Untertan, so fern
er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusam-
men gestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines je-
den öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk
unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. daß eine gewisse
Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so
ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen
stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten“ 566. Der ursprüngliche
Vertrag ist keine Gründungs- sondern eine „Vernunfturkunde“ 567, er ist das Prin-
zip der öffentlichen distributiven Gerechtigkeit, weil er die Bestimmung der
Rechtmäßigkeit der positiven Gesetze ermöglicht568. Der ursprüngliche Vertrag
ist außerdem die Fiktion, daß jeder, der Bürger sein will und damit auch ein Ver-
treter der nachfolgenden Generationen, den Gesetzen, auch einem möglichen
Verfassungsgesetz, zugestimmt hat.
Jeder Mensch hat aufgrund des angeborenen Menschenrechts der Freiheit ei-
nen Anspruch auf „gesetzliche Freiheit, keinem Gesetz zu gehorchen, als zu wel-
chem er seine Beistimmung gegeben hat“ 569 und damit einen Anspruch auf eine
rechtssichernde Republik570. Adressiert ist dieser Anspruch an den Gesetzgeber,
wer immer im Staatswesen dies auch sein mag: selbst ein Souverän von Gottes
Gnaden kann das Gedankenexperiment durchführen, ob das von ihm zu gebende
Gesetz auch von seinen Untertanen gegeben sein könnte. Ist dies nicht denkbar,
so ist das Gesetz ungerecht. Damit kann in jedem historisch vorgefunden Staats-
wesen zu jeder Zeit mit der Verwirklichung der Freiheit der Menschen durch ge-
rechte Gesetze begonnen werden. Gleichzeitig kann die Idee des ursprünglichen
Vertrages als Richtschnur für die Staatsorganisation dienen: jeder geschichtliche
Staat, gleichgültig wie er entstanden sein mag, ist aufgefordert, sich so zu organi-
sieren, als ob seine Organisation dem gemeinschaftlichen Willen einer vertrag-
lich entstandenen Vereinigung entstammen würde571. Die Menschen haben ein
Recht auf Recht572 und damit untrennbar verbunden ein Recht auf den (Rechts-)
Staat573.
logon zum kategorischen Imperativ: „Wie der kategorische Imperativ als Moralprinzip
die Gesetzmäßigkeit der Maximen zu beurteilen gestattet, so vermag der ursprüngliche
Kontrakt als Prinzip der öffentlichen Gerechtigkeit die Rechtmäßigkeit positiver Ge-
setze zu bestimmen.“
569 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432.
570 W. Kersting, Kant über Recht, S. 142.
571 W. Kersting, Kant über Recht, S. 116.
572 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 52 ff.; ders., Res publica
Diesen Anspruch auf den Rechtsstaat dürfen die Untertanen allerdings nicht
durch Gewalt und Widerstand gegen die Staatsführung durchsetzen. Kant lehnt
jedes Widerstandsrecht der Untertanen ab und ist erklärter Gegner der Revolu-
tion. Revolution beseitigt die existierende staatliche Ordnung und führt zur Anar-
chie. Für Kant dagegen ist jede Ordnung, auch die eines rechtswidrig eingerich-
teten Staates besser als keine574; denn Anarchie ist ein Rückfall in den Natur-
zustand und damit in den Zustand des Krieges aller gegen alle, aus dem die
Menschen herauszutreten aber die Pflicht haben. Daraus leitet Kant die Gehor-
samspflicht der Untertanen ab575. Revolution ist rechtlos, weil ein „öffentliches
Gesetz“ dazu fehlt576. Außerdem müsste im „Streit zwischen Volk und Souve-
rän“ das strittige Recht erst einmal geklärt sein, was aber einen Richter erfordern
würde. Keinesfalls darf sich das Volk zum Richter „in seiner eigenen Sache“ ma-
chen577. Die Entwicklung zum Rechtsstaat ist durch Reformen des Souveräns zu
bewirken578: die Annäherung an das „Ideal des öffentlichen Rechts“ ist eine
Frage der „Staatsweisheit“ 579 und damit der Vernunft.
Die Rechtlichkeit ist die Wirklichkeit der Freiheit, weil nur die Gesetze, wenn
sie rechtens sind, der republikanischen Idee nach die Allgemeinheit der Freiheit
verwirklichen können580. Kant spricht von der Freiheit als Autonomie der rein
praktischen Vernunft. Das ist die Fähigkeit zur eigenen Gesetzgebung581, Freiheit
ist (Selbst-)Gesetzgebung582. Das bezieht sich sowohl auf die individuelle Maxi-
menbestimmung als auch auf die juridische Gesetzgebung, weil der Mensch als
Zweck an sich selbst in der Gemeinschaft mit anderen, im Reich der Zwecke
lebt: er muß als Bürger (Mit-)Gesetzgeber im Staat sein. Er ist „Oberhaupt“ im
Reich der Zwecke, welches die Gesetze gibt, und gleichzeitig Untertan, weil er
sie zu befolgen hat. Der einzelne Mensch ist frei, wenn er Gesetzen gehorcht,
573 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 447 f.; ders., Freiheit in der
hier nicht nachgegangen werden. Er lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ord-
nung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Ab-
hilfe nicht möglich ist.“
577 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 440.
578 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 441.
579 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 234, Anmerkung.
580 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 49 ff.
581 Und die Unabhängigkeit von sinnlich-empirischen Antriebsmomenten, Kant, Kri-
Die menschliche Gemeinschaft soll ein Reich der Zwecke sein586; denn „der
Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich
selbst“ 587. Daraus folgt, daß der Mensch, „dessen Dasein an sich selbst einen
absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze
sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen
kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“ 588. Nur die Selbst-
zweckhaftigkeit des Menschen kann ein objektiver Zweck, ein absoluter Wert589
sein, und als dieser Grund des praktischen Gesetzes erst ist der Mensch Per-
son590. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist der transzendentalphiloso-
phisch letzte Grund für jede Möglichkeit eines praktischen Gesetzes, und damit
auch der Grund- und Menschenrechte. Freiheitliche Grundrechte sind kategori-
sche Grundrechte591.
Zum Begriff der Würde macht Kant folgende definitorischen Bemerkungen:
„Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was
einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt
werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstat-
tet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen
und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was auch ohne ein Bedürfnis
vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am blo-
lieben vorsetzt (materiale Zwecke), sind insgesamt nur relativ; denn nur bloß ihr Ver-
hältnis auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjekts gibt ihnen den
Wert, der daher keine allgemeine für alle vernünftigen Wesen, und auch nicht für jedes
Wollen gültige und notwendige Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben
kann“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59.
590 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60.
591 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 29.
102 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
ger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als
Glied zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch
diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als ge-
setzgebend keinem Willen eines anderen unterworfen ist. Das vernünftige Wesen muß
sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche
der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied, oder als Oberhaupt. Den Platz des
letzteren kann es aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur als-
dann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne Bedürfnisse und Einschränkungen
seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten“, Kant, Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten, S. 66 f.
600 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 393.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 103
mögen denken, die Natur zu unterwerfen und seine Umwelt zu gestalten. „Ein
Ding aber, was notwendig seiner objektiven Beschaffenheit wegen, als Endzweck
einer verständigen Ursache existieren soll, muß von der Art sein, daß es in der
Ordnung der Zwecke von keiner anderweitigen Bedingung, als bloß seiner Idee,
abhängig ist. Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kau-
salität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen
ist, daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben (sic.
nämlich die Gesetze der menschlichen Erkenntnis), von ihnen selbst als unbe-
dingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig, vorge-
stellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet;
das einzige Naturwesen, an welchem wir doch ein übersinnliches Vermögen (die
Freiheit) und sogar das Gesetz der Kausalität, samt dem Objekte derselben, wel-
ches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt)
von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können. Von dem Menschen
nun (und so jedem vernünftigen Wesen in der Welt), als einem moralischen We-
sen, kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein
Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die
ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Ein-
flusse der Natur unterworfen halten darf. – Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer
Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ur-
sache bedürfen, so ist der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen
wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegrün-
det; und nur im Menschen ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der
Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein,
dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“ 601. Kant beweist hier die
Notwendigkeit, daß sich der Mensch als Endzweck zu denken hat, schon deshalb,
weil er kraft der Gesetzmäßigkeit seines Erkenntnisvermögens schlechterdings
Urheber der Naturkausalität ist. Als Endzweck ist der Mensch unbedingt. Aber,
als Urheber der Gesetze schlechthin, damit auch der Naturgesetze, und im Be-
wußtsein seiner Freiheit muß der Mensch als Endzweck zwingend Subjekt der
Sittlichkeit sein. Als solches ist er Zweck an sich selbst602. Insgesamt umfaßt da-
mit die Würde des Menschen zum einen seine unbedingte Endzweckhaftigkeit
und zum zweiten seine Selbstzweckhaftigkeit in der menschlichen Gemeinschaft
als Reich der Zwecke. Für beides, also für die End- und Selbstzweckhaftigkeit,
ist die Sittlichkeit die entscheidende Bedingung, nämlich aus Erkenntnisgründen
für die Endzweckhaftigkeit und aus Gründen der Gemeinschaftlichkeit des Le-
bens für die Selbstzweckhaftigkeit.
Die Menschenwürde als Selbst- und Endzweckhaftigkeit des Menschen kommt
nach den Ausführungen Kants nur dem Menschen als moralischem Wesen zu.
Das Reich der Zwecke ist die Umschreibung der Gemeinschaftlichkeit a priori
der menschlichen Existenz, wie Martin Heidegger es gesehen hatte603.
Die Würde des Menschen ist ein innerer Wert, der zwar absolut und objektiv
ist, der aber empirisch, besser material nicht erfaßt werden kann; denn dadurch
würde die Würde zu einem Preis relativiert. Kant spricht denn auch von der
„Idee der Würde“, die Menschenwürde ist ein Noumenon! Es ist demnach nur
die Bedingung angebbar, unter der die Idee der Würde widerspruchsfrei gedacht
werden kann, und dies ist die Befähigung des Menschen zur Sittlichkeit, weil
eben nur sie die Selbst- und Endzweckhaftigkeit des Menschen und die Gemein-
schaft der Menschen als Reich der Zwecke denkbar macht. Insofern ist es völlig
richtig, wenn Ernst Benda die Würde des Menschen als einen sittlichen Wert
qualifiziert604. Das Reich der Zwecke als „systematische Verbindung vernünfti-
ger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze“ 605 ist der Staat als „die
Gemeinschaft der Glieder eines gemeinen Wesens nach Regeln des Rechts“, ein
„System, welches Staat heißt“ 606. Damit ist die Sittlichkeit auch die denknotwen-
dige Bedingung für den (Rechts-)Staat selbst.
Die Würde des Menschen als moralische Person ist seine Endzweckhaftigkeit
der Schöpfung und seine Selbstzweckhaftigkeit in der menschlichen Gemein-
schaft, im Reich der Zwecke, in der Republik. Und „Autonomie ist also der
Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ 607, seine Frei-
heit demnach. Und diese wiederum ist ein angeborenes Recht, kraft der Heilig-
keit der Menschheit in seiner Person. Diese Freiheit als Autonomie ist, weil sie
schon aus Erkenntnisgründen moralisch begründet ist, heilig, also unverletzlich.
Aus der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen heraus, leitet sich die politische
Freiheit des Menschen als Bürger ab, weil rechtlich die Freiheit u. a. so definiert
ist, daß der Mensch keinen äußeren Gesetzen gehorchen solle, zu denen er nicht
seine „Zustimmung habe geben können“. Damit muß die bürgerliche Verfassung
im Staate eine republikanische sein608. Der Mensch muß als Bürger Mitgesetzge-
ber im Reich der Zwecke sein. Aus der Endzweckhaftigkeit des Menschen leitet
Kant die Glückseligkeit als ein davon abgeleiteter Zweck ab: „daß die Glück-
seligkeit nur bedingter Zweck, der Mensch also, nur als moralisches Wesen, End-
zweck der Schöpfung sein könne; was aber seinen Zustand betrifft, Glückselig-
keit nur als Folge, nach Maßgabe der Übereinstimmung mit jenem Zweck, als
dem Zweck seines Daseins, in Verbindung stehe“ 609. Die Glückseligkeit ist dem-
nach eine Folge, und zwar durchaus notwendige Folge der Endzweckhaftigkeit
des Menschen, weil diese nur noumenal begriffen werden kann, jene aber den
empirischen, sozusagen phänomenalen Zustand des Menschen betrifft. Damit lei-
tet sich teleologisch das Recht zur freien Willkür aus der Menschenwürde als
Endzweckhaftigkeit des Menschen ab. Die Menschenwürde ist die Freiheit des
Menschen als moralische Person. Dies bedeutet im Reich der Zwecke nun zwei-
erlei: zum einen, daß der einzelne Mensch als Bürger Mitgesetzgeber im Staate
sein muß, und zum zweiten, daß er ein Recht zur freien Willkür hat, sein eigenes
Glück zu suchen und zu befördern.
S. 72 f.
106 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
kann“ 613. Wichtig ist hier die Formulierung „sein kann“: auch die bloße Mög-
lichkeit, daß der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker
sein könnte bzw. der Vollstrecker die Gesetze geben könnte, ist für Kant bereits
despotisch. Republikanisch ist nur die strikte Trennung der Legislative von der
Exekutive und die größtmögliche repräsentative Beteiligung der Bürger an der
Gesetzgebung614. Die Frage nach der Staatsform spielt für den Bürger eine eher
untergeordnete Rolle615, weitaus wichtiger ist die Frage nach der Regierungs-
form, d.h. das Ausmaß der Beteiligung der Bürger an der Gesetzgebung. Erst
durch bestmögliche Repräsentation der Bürger am Gesetzgebungsprozeß ist eine
vollkommen rechtliche Verfassung möglich616. Kant bringt hier zum Ausdruck,
daß eine Regierungsform, die nach „Rechtsbegriffen“, also nach Recht und Ge-
setz möglich sein soll, nur dann rechtmäßig sein kann, wenn sie republikanisch,
also die Legislative von der Exekutive strikt getrennt ist. In der republikanischen
Regierungsform erst geht die Forderung nach dem verwirklichten bürgerlichen
Zustand auf, weil nur darin wegen der lex permissiva der rein praktischen Ver-
nunft Recht überhaupt erst denkbar ist. So ist das auch grundsätzlich im Grund-
gesetz verfaßt617. Jede andere Regierungsform als die repräsentative kann dem
Erfordernis der Rechtmäßigkeit schon aus Erkenntnisgründen zum Rechtsbegriff
nicht gerecht werden, und ist schon begrifflich als despotisch einzustufen618. Der
613 Ähnlich bei Rousseau: „Wenn der Souverän als solcher auch gleichzeitig exeku-
tive Gewalt hätte, würden das Recht und seine Anwendung dermaßen vermengt, daß
man nicht mehr wüßte, was Gesetz ist und was nicht, und die so entartete politische
Körperschaft wäre alsdann ein Opfer jener Gewalt, gegen die sie eingerichtet worden
war“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 106.
614 Außerdem gibt Kant seiner Skepsis Ausdruck, daß die demokratische Regierungs-
form überhaupt funktionieren kann, „weil alles da Herr sein will. Man kann also sagen:
je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher) je größer dagegen die
Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des
Republikanism“, Kant, Zum ewigen Frieden, S. 207. Auch Rousseau hatte bemerkt, daß
„die Erfüllung der Staatsgeschäfte umso schwerfälliger werde, je mehr Leute damit be-
traut sind“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 69.
615 Für Kant ist auch die Monarchie durchaus mit einer dem repräsentativen System
gemäßen Regierungsart vereinbar. Dies galt für ihn insbesondere für die Regierung un-
ter Friedrich II. von Preußen, der sich selbst als erster Diener im Staate verstand, Kant,
Zum ewigen Frieden, S. 207.
616 „Zu einer jeden Regierungsart, wenn sich einem Rechtsbegriffe gemäß sein soll,
tisch auf den „beiden großen Grundpfeilern der Menschenrechte (Art. 1) als dem sub-
jektiv-rechtlichen und der gewaltenteilenden Verfassungsstaatlichkeit (Art. 20) als dem
objektiv-rechtlichen Element“. Also ist auch unter dem Grundgesetz die republikanische
Gewaltenteilung neben den Menschenrechten die Basisbedingung für jede Staatlichkeit
aus Recht, also Rechtsstaatlichkeit, E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR I, § 24,
Rdn. 30, S. 1003.
618 Nun mag man allerdings die Auffassung vertreten, daß Kant es mit seiner Diffe-
renzierung zwischen Staats- und Regierungsform übertrieben habe, sie nur aus seinem
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 107
Staat, in dem der einzelne Bürger die Mitgesetzgeberschaft innehat, ist die Repu-
blik; denn nur in der Republik kann die Freiheit des einzelnen sowie die Gleich-
heit aller in eben dieser Freiheit bestmöglich verwirklicht werden. Der Kern der
republikanischen Freiheitsidee ist die Autonomie des Willens der Bürger. In der
Republik bestimmen die Bürger, unter welchen Gesetzen sie leben wollen. Sie
herrschen also über sich selbst, nicht über andere. Und in ihrer gemeinsamen Ge-
setzgebung besteht das Prinzip ihrer bürgerlichen Freiheit. Die Republik ist damit
die „Form der Freiheit“ 619. Zur Autonomie zählt aber auch, nicht durch sinnliche
Antriebsmomente im Handeln bestimmt zu werden, sondern Herr und Meister
über sich selbst zu sein620. Der autonome Bürger muß sich demnach über seine
eigenen Interessen stellen, um „das Richtige für das gute Leben aller in allgemei-
ner Freiheit, das Rechtsgesetz“ (mit-)hervorbringen zu können621. Damit ist die
Sittlichkeit durch Moralität der republikanische Kern der Freiheit. Die republi-
kanische Verfassung ist die einzige, die „erstlich nach Prinzipien der Freiheit der
Glieder einer Gesellschaft (als Mensch), zweitens nach der Abhängigkeit aller
von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertan) und drittens, die
nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfas-
sung“ gegründet ist.622 Die republikanische Verfassung ist damit die staatsrecht-
liche Ausprägung des bürgerlichen Zustandes mit seinen drei Konstitutionsprinzi-
pien: erstens, der Freiheit jedes einzelnen als Mensch, zweitens, ihrer Gleichheit
und drittens ihrer Selbständigkeit als Bürger623.
Die dritte Voraussetzung für den bürgerlichen Zustand ist die Selbständigkeit
des Bürgers624, und bedeutet, daß der Bürger wirtschaften muß. Nur wer (hinrei-
chend) selbständig ist, kann Mitgesetzgeber im Staat sein. Das Stimmrecht quali-
fiziert zum Bürger625. Erforderlich dafür ist aber, „daß er sein eigener Herr (sui
iuris) sei“ 626. Demnach besteht ein immanenter Zusammenhang zwischen Frei-
heit und Wirtschaft, das Erfordernis des Wirtschaftens ist notwendig, richtiges
Wirtschaften ist Tugendpflicht. Im Unterschied zur Rechtspflicht, die sich aus
der äußeren Freiheit ergibt, ist die Tugendpflicht aus der inneren Freiheit, d.h.
Meister und Herr über sich selbst und ein vernünftiger sittlich autonomer Bürger
zu sein, abgeleitet. Eine edle Gemütsart besitzt derjenige, der seine Affekte ge-
zähmt und die Leidenschaften beherrscht hat627. Meister und Herr über sich
selbst zu sein ist eine Pflicht, die der moralischen Nötigung der eigenen gesetz-
gebenden Vernunft folgt und damit auf die Endzweckhaftigkeit des Menschen
verweist628. Die beiden Kardinaltugenden sind die eigene Vollkommenheit und
die fremde Glückseligkeit629. Weil die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit be-
reits schon in der Naturveranlagung des Menschen verwurzelt ist, kann sie nicht
auch noch eine originäre und unmittelbare Pflicht sein630; denn das hieße, aus
empirischen Gegebenheiten auf das Sollen zu schließen. Wohl aber besteht eine
Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich
alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mit-
hin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich von seinen Gefüh-
len und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzu
kommt; weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene
über den Menschen den Meister spielen“, S. 540.
629 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515 ff.
630 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 109
631 „Die eigene Glückseligkeit zu befördern ist Pflicht (wenigstens indirekt), denn
der Mangel an Zufriedenheit mit seinem Zustande, in einem Gedränge von vielen Sor-
gen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen, können leicht eine Versuchung zur
Übertretung der Pflichten werden“, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
S. 25.
632 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 518.
633 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 566 ff. Dies erhellt aber die These Husserls, daß
das richtige Handeln sich nicht allein aus dem Sittengesetz, das ja den Tugendpflichten
110 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
Wohlhabenheit ist also sittliche Tugendpflicht jedes einzelnen. Aus Gründen der
Freiheit haben alle Bürger sowohl die ethische Verpflichtung, aber auch die poli-
tische Verantwortung für das gemeinsame Leben, zu welcher aber die Solidarität,
die Brüderlichkeit, gehört634.
Das dritte Prinzip a priori des bürgerlichen Zustandes ist die Selbständigkeit
jedes Gliedes der Gemeinschaft als Bürger635. Zur Bürgerschaftlichkeit des Men-
schen zählt das Stimmrecht, der Bürger ist Mitgesetzgeber im Staat. Einzige Vor-
aussetzung dafür ist die Fähigkeit, sein eigener Herr zu sein, der „mithin ein
Eigentum habe, (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wis-
senschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er, in den Fällen,
wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen
was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen
Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemandem als dem gemeinen We-
sen im eigentlichen Sinne des Wortes diene“ 636. Kant spricht hier das Eigentum
durch Arbeit an637, selbständig aber konnte nur der Gewerbetreibende, der Hand-
werker, der Künstler, der Werke erschafft, oder auch der Wissenschaftler, der
Bücher schreibt, sein; nicht dagegen der Ladendiener, der Tagelöhner oder der
Friseur, weil dieser Personenkreis anderen diene. Diese Auffassung ist allerdings
Ausfluß der Wertvorstellungen, die zu Lebzeiten Kants Geltung hatte638. Kant
zugrunde liegt, ergibt. Denn hier ist es in der Tat erforderlich, seinen formal objektiven
Imperativ zu beachten: Tue das Beste unter dem erreichbaren Guten innerhalb deiner
jeweiligen praktischen Gesamtsphäre, E. Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wert-
lehre, S. 142.
634 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff.
635 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145.
636 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 151.
637 „Derjenige, welcher ein Opus verfertigt, dann es durch Veräußerung an einen an-
deren bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre“, Kant, Über den Gemeinspruch,
S. 151; dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS
W. Leisner, S. 775 ff.
638 Wie etwa Kants Überzeugungen zum Ehe-, Familien- und Hausrecht, Kant, Meta-
physik der Sitten, S. 389 ff. Es wäre zur damaligen Zeit in Preußen als revolutionär
betrachtet worden, hätte Kant den Personenkreis, der zum eigenen Herrn und damit
zum Bürger qualifiziert wäre, dem auch das Stimmrecht hätte zugestanden werden müs-
sen, nicht möglichst eng umgrenzt. Fraglich ist, ob diese enge Umgrenzung tatsächlich
Kants eigene Überzeugung war, oder ob sie nicht aus Furcht vor der Zensur und der
Obrigkeit erfolgte, von der Kant eben als Professor vor allem wirtschaftlich abhängig
war. Überzeugender in diesem Zusammenhang argumentierte Hegel bezüglich des Be-
griffs der Person und ihrer natürlichen Existenz: „Kenntnisse, Wissenschaften, Talente
usf. sind freilich dem freien Geiste eigen und ein innerliches desselben, nicht ein Äußer-
liches, aber ebensosehr kann er ihnen durch die Äußerung ein äußerliches Dasein geben
und sie veräußern, wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt werden“, wo-
durch es dann „unter die Bestimmungen eine juristisch-rechtlichen Eigentums fällt“,
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 104 f. Damit ist dieses Inner-
liche der Kenntnisse, Wissenschaften und Talenten und sonstigen Geschicklichkeiten
grundsätzlich veräußerbar, S. 144.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 111
gibt aber zu, daß es ungemein schwierig sei, diejenigen Erfordernisse zu bestim-
men, die zum eigenen Herrn qualifizieren639, hat allerdings die Leistung eines
anderen als ein Objekt des äußeren Mein und Dein betrachtet, welches grundsätz-
lich der Erwerbung und damit auch der Veräußerung fähig ist640. Eine weitere
Formulierung geht in dieselbe Richtung: „Der Besitz der Willkür eines anderen,
als Vermögen, sie, durch die meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat
zu bestimmen (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines an-
deren), ist ein Recht“ 641. Der Einzelne kann also Inhaber eines Rechts sein, einen
anderen zu einer Leistung zu verpflichten. Rechtliche Grundlage dafür ist der
gegenseitige Vertrag642, durch welchen man aber nicht unmittelbar Eigentümer
einer Sache wird, sondern nur das Versprechen eines anderen zu einer bestimm-
ten Leistung erwirbt, und dies kann, nicht nur aus heutiger Sicht, auch eine reine
Dienstleistung und nicht bloß die Übereignung eines körperlichen Gegenstandes
sein. Jeder wirtschaftende Mensch ist sein eigener Herr und damit Bürger643: der
homo republicanicus ist (auch) homo oeconomicus644.
Ein wichtiger Gesichtspunkt kommt hinzu: erst durch die repräsentative, repu-
blikanische Regierungsform wird Freiheit rechtlich möglich. Es ist das Prinzip
der äußeren, rechtlichen Freiheit, daß niemand einem Gesetz gehorchen muß, zu
dem er nicht seine „Beistimmung habe geben können“ 645. Das bedeutet nun drei-
auch F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung,
S. 85.
644 Dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 258 ff.
645 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 204. Diese Formulierung beinhaltet, daß es nicht
darauf ankommt, ob der einzelne seine Zustimmung zum Gesetz faktisch und tatsäch-
lich gegeben hat, sondern nur, daß er sie habe geben können, also die (tatsächliche oder
repräsentierte) Möglichkeit dazu ist ausreichend, ihm dann auch gehorchen zu müssen.
Bei Rousseau dagegen ergibt sich hier eine Schwierigkeit, die er im Gesellschaftsver-
trag nicht zu lösen vermochte: Souverän und Untertan sind Wechselbegriffe, „deren
Idee in dem einen Begriff des Bürgers vereint ist“, J. J. Rousseau, Vom Gesellschafts-
vertrag, S. 100. Der Souverän ist das Gesamtwesen, und nur durch sich selbst vertreten.
Demgemäß bedeutet Souveränität die Ausübung des Gemeinwillens, S. 27, der Souve-
rän herrscht als Legislative, S. 98. Und genau hier taucht das Problem auf, weil der
Gemeinwille im Gesetz festgestellt werden muß, und zwar bei Rousseau ohne Reprä-
sentation. Weil das aber im Flächenstaat oder im Staat mit großer Bevölkerung undurch-
führbar ist, wird im modernen Staat die Volksvertretung dazwischen geschaltet. Ande-
rerseits aber sieht Rousseau die grundsätzliche Gefahr, daß Sonderinteressen die Volks-
versammlungen bestimmen und das öffentliche Interesse nicht angemessen zur Geltung
112 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
kommt. „Da das Gesetz nur die Bekundung des Gemeinwillens ist, ist es offenbar, daß
das Volk als Legislative nicht vertreten werden kann“, S. 104. „Die Abgeordneten des
Volkes sind also nicht seine Vertreter, noch können sie es sein, sie sind nur seine Beauf-
tragten; sie können nicht endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst
beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz“, S. 103. Einen Ausweg aus
diesem Dilemma wollte Rousseau in einer folgenden Abhandlung aufzeigen, S. 106.
646 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 318 ff.
647 Zur republikanischen Repräsentation K. A. Schachtschneider, Res publica res po-
puli, S. 62 ff., 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 146 ff., 191 ff., 424 ff., 599 ff.;
ders., Souveränität, S. 256.
648 „Die öffentliche Gesetze werden genau dann mit Notwendigkeit der Vertragsnorm
widersprechen, wenn sie selbst die Bedingungen verletzen, unter denen der Vertrag al-
lein entstanden sein kann und die diesen Vertrag als den einzig möglichen vernunft-
rechtskonformen Konstitutionsakt des Rechtszustandes bestimmen (. . .) und dies sind
die Momente der Freiheit, Gleichheit, Reziprozität und Wechselseitigkeit. Der kategori-
sche Imperativ ist die Operationsregel des Universalismus der Moral“, W. Kersting,
Wohlgeordnete Freiheit, S. 32, 36. Die faktische Zustimmung jedes einzelnen Bürgers
ist demnach nicht erforderlich, S. 402.
649 Demokratie begründet keine Herrschaft von Menschen über Menschen, dazu
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 136 ff., 173 ff.; ders., Res publica
res populi, S. 124 ff.; ders., Souveränität, S. 289 ff.
650 Publizität ist gemäß der Moralphilosophie Kants das Kriterium für Rechtmäßig-
keit, H. Arendt, Über das Urteilen, S. 68; zur Rechtsetzung als öffentlicher Diskurs
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 584 ff., 669 ff., 956 ff., 1195 ff.;
ders., Souveränität, S. 282.
651 „Es müssen aber auch alle, die dieses Stimmrecht haben, zu diesem Gesetz der
Parlamentarismus als Repräsentation der Bürger bei der Gesetzgebung wie auch
die Mehrheitsregel sind hinreichend, um die Gesetze als vom Einzelnen mitgege-
ben zu rechtfertigen (dazu unten).
Der Staat ist Republik, wenn er dem Recht genügt. Die Staatlichkeit per se ist
immer republikanisch, wenn unter Staat ein Rechtsbegriff verstanden wird652.
Damit ist die Republik ein Rechtsstaat, die rechtliche Form des bürgerlichen Zu-
standes, bei dem alle Bürger das Interesse haben, im rechtlichen Zustand, also
frei zu sein. Der rechtliche Zustand bedarf aber einer Verfassung, damit das
Volk, als Menge von Menschen, dem Recht auch teilhaftig werden kann. Das
Verfassungsgesetz ist in erster Linie Rechtserzeugungsquelle653, der rechtliche
Zustand des als vereinigt gedachten Willens des Volkes654 also. Damit ist der
Staat selbst eine Form von Rechtsgesetzen, die a priori notwendig sind, damit die
wirkliche Vereinigung zur res publica, zum gemeinen Wesen möglich wird. Zur
Konstituierung der res publica gehört aber zwingend die Umsetzung des Grund-
satzes der Gewaltenteilung. Republikanisch konsequenter ist es allerdings, von
gewaltteiligen Funktionenordnung zu sprechen, weil es nur eine Staatsgewalt
gibt, die nach Art. 20 GG vom Volke ausgeht und deren Ausübung in die Funk-
tionen Legislative, Exekutive und Judikative ordnend aufgeteilt ist655. „Ein jeder
Auch bei der Mehrheitsentscheidung wird die Freiheit insgesamt verwirklicht, wenn das
Gesetz die volonté générale beinhaltet, auch dann, wenn sie den Privatinteressen der
Minderheit entgegensteht; zur Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Res publica res
populi, S. 641 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 335; ders., Freiheit in der Re-
publik, S. 163 ff.
652 „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um
einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht. – Dieses ist also
ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, (. . .) die, im
wechselseitigen Einflusse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter ei-
nem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was
Rechtens ist, teilhaftig zu werden. – Dieser Zustand der einzelnen im Volke, im Verhält-
nis untereinander, heißt der bürgerliche (status civilis), und das Ganze derselben, in
Beziehung auf seine eigene Glieder, der Staat (civitas), welcher, seiner Form wegen, als
verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustand zu sein das
gemeine Wesen (res publica latius sic dicta) genannt wird“, Kant, Metaphysik der Sit-
ten, S. 429.
653 Unter dem Grundgesetz allerdings auch Rechtserkenntnisquelle, P. Kirchhof, Die
gesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren
Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind, ist seine Form eine Form
des Staates überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien
sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inne-
ren) zur Richtschnur (norma) hat“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431.
655 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 181 ff.
114 1. Kap.: Kants Freiheitslehre
staatlichen Handeln, die Exekutive die Kraft zum staatlichen Handeln. Auch bei Rous-
seau kommt es auf das Gewaltteilungsprinzip an, S. 61. Souverän ist das Volk, Kant,
Metaphysik der Sitten, S. 461 f.
661 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 121. Daraus ergibt sich die sitt-
Rechtsstaates, S. 32 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 264 ff.; ders., Souveränität,
S. 253 f.
663 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432.
III. Kants freiheitliche Rechts- und Staatsphilosophie 115
664 „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich,
daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt
(denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille
aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen,
mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“, Kant, Metaphysik
der Sitten, S. 432.
665 „Der Regent des Staates (. . .) ist diejenige (moralische oder physische) Person,
welcher die ausübende Gewalt (. . .) zukommt: der Agent des Staates. Als moralische
Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung. (. . .) Eine Regierung, die zu-
gleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein“. Und dies deshalb, weil
„der Beherrscher des Volkes (der Gesetzgeber)“ nicht zugleich Regent sein kann; „denn
dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen,
dem Souverän, verpflichtet. Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn abset-
zen, oder seine Verwaltung reformieren“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436.
666 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 188 ff.
667 „Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie
Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Akt besonders, dazu ernannt
werden“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436.
668 „Denn der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Ge-
mit der Hilfe der Exekutive die richterliche Gewalt zu vollstrecken669. Durch die
Wahl der Richter, die Stellvertreter des Volkes für die Rechtsprechung sind, rich-
tet das Volk, allerdings nur mittelbar, über seine Bürger670.
Durch diese drei gewaltteiligen Funktionen bekommt der Staat seine Autono-
mie, „d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“, und in ihrer Ver-
einigung „besteht das Heil des Staates“, das in dem „Zustand der größten Über-
einstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien“ besteht, „als nach welchem
zu streben und die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich
macht“ 671, und dies insbesondere deshalb, weil es eine menschliche Vernunft-
erkenntnis ist, daß es „die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“
sei, zu einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung“ zu gelangen, in
der die bürgerliche Gesellschaft in Freiheit ihr Recht selbst verwaltet672.
669 Weil Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, Kant, Metaphysik der
Sitten, S. 338.
670 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436 f.; zur demokratischen Legitimation der
Republikanische Freiheit
unter dem Grundgesetz Deutschlands
Die vernunftkritische idealistische Philosophie Kants führt logisch zu einer
sittlichen Konzeption des Staatswesens, zur Republik1. Die Verwirklichung der
Freiheit erfordert die bestmögliche Annäherung an die Idee der Republik2: „Die
Republik als Verfassung der Freiheit bestimmt die Prinzipien des Rechts und
des Staates als die der rechtlichen Gesetzlichkeit“ 3. Das Grundgesetz verfaßt
Deutschland als einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat zur Bundesrepu-
blik. Es würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen, sollten die
vielfältigen grundgesetzlichen Regelungen und ihre (kantisch) idealrepublikani-
schen Vorzeichnungen dargestellt werden. In diesem Kapitel sollen diejenigen
prinzipiellen Gesichtspunkte der Freiheits- und Staatsphilosophie Kants und ihre
(bestmögliche) grundgesetzliche Umsetzung skizziert werden, welche für die
Verwirklichung der Freiheit der Bürger in Deutschland von herausragender Be-
deutung sind. Diese sind, erstens: die Unvereinbarkeit von Freiheit mit jeder
Form von Herrschaft; zweitens: alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, der Staat
ist um der Menschen willen da; drittens, die Würde des Menschen ist ein unver-
gleichlicher Wert, sie ist unantastbar; viertens: jeder hat das Recht, sein Glück
auf selbst bestimmten Wegen zu suchen und seine Persönlichkeit frei zu entfal-
ten, wozu schließlich fünftens Eigentum zwingend erforderlich ist, welches aller-
dings, sechstens, verteilt sein will.
1 Dazu ausführlich K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 54 ff.; ders.,
dert werden, weil die Republik das Ideal einer freiheitsverwirklichenden Staatskonzep-
tion ist, welches aber immer unerreichbar bleiben wird. Allerdings ist die bestmögliche
Annäherung an dieses Ideal aus Gründen der Freiheit des Menschen zwingend zu ver-
folgen. Es gilt, das Sein an das Sollen anzunähern.
3 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 2.
118 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
plin soll die Chance heißen, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl promp-
ten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit
von Menschen zu finden“ 4. Die Ausübung der Herrschaft sei mit oder ohne Exi-
stenz eines Verwaltungsstabes denkbar, Herrschaft sei ein „Tatbestand“. Der
Staat sei ein „politischer Verband“ als „Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein
Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die
Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ 5. Das soziale Handeln des
Einzelnen, aber auch des Staates selbst, wäre grundsätzlich durch Herrschaft ge-
kennzeichnet6. Der Staat herrsche mit seinem Verwaltungsstab und bediene sich
der Herrschaft als Mittel: „in der Art nämlich, wie eben staatliche Gewalten sie
ausüben“, nämlich mit „Gewaltsamkeiten“ 7. Max Weber trennt Herrschaft be-
grifflich von Macht, wobei Macht jede Chance bedeuten soll, „innerhalb einer
sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen,
gleichviel worauf diese Chance beruht“ 8. Max Webers Frage war in diesem Zu-
sammenhang nur die Frage nach der Legitimität von Herrschaft, weil Herrschaft
als ein Tatbestand unabänderlich sei9. Für Max Weber ist legitime Gewaltsamkeit
tiert werden könne „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Ver-
halten anderer“. Dies gelte insbesondere für das nach Erwartungen orientierte Handeln
im Bereich der Wirtschaft, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28.
9 In eine ähnliche Richtung wie Max Weber dachte offensichtlich Hegel in bezug auf
den Staat. Nach ihm ist der Staat „eine äußerliche Notwendigkeit und ein höhere
Macht“, der die Gesetze und Interessen „der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“
untergeordnet seien, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 407. Der
Staat wäre damit das verwirklichte Allgemeine: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des
substanziellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen
Selbstbewußtsein hat“, S. 399, also das „mit sich identischen allgemeinen Denkens“,
„die eigentlich denkende Sittlichkeit“, das „Irdisch-Göttliche“, B. Bourgeois, Der Be-
griff des Staates, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Kommen-
tar, S. 231 ff. Der Staat wird zur Hypostase. Erst im Staat und durch den Staat verwirk-
licht sich die Freiheit der Individuen, allerdings nur insoweit, als sich die Besonderhei-
ten der Individualinteressen unter die Allgemeinheit des Staates als Absolutposition
subsumieren lassen. Hegels Paradigma der Staatsrechtsphilosophie lautet, daß die Men-
schen um des Staates willen da sind: der notwendig vorausgesetzte Staat mache den
Menschen zum Menschen, B. Bourgeois, Der Begriff des Staates, S. 225. Die Hegel-
sche Rechtsphilosophie indoktriniert eine Herrschaftslehre, dem Staat als der an sich
selbst gedachten Vernunft hat sich der Einzelne schlicht unterzuordnen. Eine parlamen-
tarische Massendemokratie ist für Hegel jedenfalls keine Verfassung der Freiheit, die
Deklaration von Grund- und Menschenrechten hielt er für Ideologie, und eine Appella-
tionsinstanz der Individuen gegen staatliches Handeln gibt es in Hegels Staat nicht,
dazu H. Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der
Philosophie des Rechts, Kommentar, S. 257 ff. Die Übermacht von Hegels Staat ist ab-
solut. Versteht man Hegels Rechtsphilosophie als den Versuch einer Rekonstruktion des
historisch vorgefundenen Staates zu seinen Lebzeiten, was sich etwa an Hegels Lehre
I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze 119
eine Frage der staatlichen Ordnung, inwieweit sie eben Gewalt erlaubt oder vor-
schreibt10. Andererseits setze Herrschaft bei der Beherrschten auch ein Mindest-
maß an „Gehorchenwollen“ voraus11. Die legitime staatliche Herrschaft beruhe
auf ihrer Legalität, also auf dem Recht, welches durch „Paktierung oder Ok-
troyierung“ gesatzt werden könne, wobei „jedes Recht seinem Wesen nach ein
Kosmos abstrakter, normalerweise: absichtsvoll gesatzter Regeln“ sei. Der „le-
gale Herr“ wäre „Vorgesetzter, indem er anordnet und mithin befiehlt, seinerseits
der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welche er seine Anordnungen orien-
tiert“, was auch für einen gewählten Staatspräsidenten gelte. Der Gehorchende
gehorcht als Genosse dem Recht12. Herrschaftsverhältnisse wären demnach
Rechtsverhältnisse, weil diese nicht nur unter gleichrangigen Personen im priva-
ten Bereich gölten, sondern der Staat selbst ein derartiges Rechtsverhältnis dar-
stelle, auch dann, wenn der Herrscher subjektiv allein zum Befehlen berechtigt
sei13. Das Recht hat bei Max Weber eine dienende Funktion, es liefert die
Rechtssicherheit im Bereich des individuellen Handelns, weil durch das Recht,
Max Weber führt hier vor allem das Schuldrecht an, das individuelle Handeln der
Mitmenschen berechenbar werde14. Dies wären die subjektiven Rechte, die sich
aus der Ordnung ergäben, die gesatzt, aber staatlich garantiert seien15. Die Ge-
nossen hätten also ein Interesse am allgemeinen Gehorsam gegenüber der legalen
Herrschaft, gegenüber der Herrschaft des Rechts, weil ansonsten ihre individuel-
len Rechte ebenfalls in Gefahr wären. Die Herrschaft wäre durch ihre allgemeine
Akzeptanz und durch die Interessen wahrende Akzeptanz des Rechts legiti-
miert16.
von der Majestät zeigt, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts,
S. 455 ff., so wird klar, daß der aufkommende Liberalismus in Deutschland im vorver-
gangenen Jahrhundert sich gegen diese staatliche Absolutposition wenden mußte: der
staatlichen Übermacht mußten Individualrechte, insbesondere Grund- und Menschen-
rechte und deren verwaltungsgerichtlicher wie auch verfassungsgerichtlicher Schutz-
möglichkeiten entgegengesetzt werden, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res
populi, S. 175 ff. Das freiheitliche Recht des Individuums mußte nicht nur Recht zwi-
schen den Bürgern, sondern auch Abwehrrecht gegen die Übermacht des Staates sein.
Damit aber bleiben die Position des freien Individuums und die des Staates im wesent-
lichen unvereinbare Gegensätze, ohne aber auf der anderen Seite das grundsätzliche
Über-Unterordnungsverhältnis von Staat und Individuum zu beseitigen: individuelle
Freiheitsrechte wurden vom Staat gewährt.
10 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 30.
11 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122.
12 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125.
13 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 189.
14 „Das Recht und die Konvention sind als Ursache und Wirkung verflochten in das
Mit-, Neben- und Gegeneinanderhandeln der Menschen“ und ermögliche die Abschät-
zung der „Wahrscheinlichkeit, mit welchem der Handelnde auf bestimmte Folgen seines
Handelns zählen kann“, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 192.
15 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 198.
16 Richtig hat D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, kommentiert: „Der
große Heidelberger Gelehrte Max Weber, der die moderne Soziologie eigentlich begrün-
120 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
In diesem Zusammenhang taucht bei Max Weber der Begriff der Freiheit nicht
auf. Herrschaft ist, auch aus der historischen Erfahrung heraus, ein soziologi-
sches Faktum. Die Ordnung ist durch Paktierung oder Oktroyierung gesatzt und
steht damit grundsätzlich nicht zur Disposition. Es bleibt damit bei der Herr-
schaft von Menschen über Menschen. Webers Herrschaftslehre, wie jede andere,
indoktriniert den Führerstaat und führt damit auch zur Starrheit des Gemeinwe-
sens17.
2. Die kopernikanische Wende der Staatslehre
Im diametralen Gegensatz dazu steht die Position Kants: Der Mensch ist End-
zweck der Schöpfung und Zweck an sich selbst, in seiner Freiheit besteht seine
Würde. Der Staat ist für die Verwirklichung der Freiheit zwar eine zwingende
Notwendigkeit, vor allem wegen des Aspekts der Gleichheit aller in der Freiheit
innerhalb des Gemeinwesens, ist damit aber kein absoluter Selbstzweck, der ein
Selbstbewußtsein hätte oder dem eine sich selbst denkende Vernünftigkeit zuge-
sprochen werden könnte, wie Hegel18 meinte. Kants Ausgangsposition für seine
gesamte praktische Philosophie ist das freie Individuum. Es geht bei Kant nicht
um eine Hypostasierung der Staatsidee, sondern der Staat ist um der Menschen
willen da und nicht umgekehrt. Darin besteht die „kopernikanische Wende“ der
Staatsrechtslehre19. Vor diesem Hintergrund versteht sich Kants Forderung nach
der Verwirklichung der Republik: erst in der Republik und durch die Republik
kann der Staatsbürger als nicht mehr subordiniert unter dem hoheitlichen Staat
begriffen werden; denn jede Art der Über- und Unterordnung widerspricht dem
republikanischen Prinzip der Gleichheit aller in der Freiheit20. Vielmehr gewäh-
det hat, war von dem Begriff der Herrschaft so besessen, daß er kein anderes Motiv
politischer Ordnung oder doch keine andere Bezeichnung und Beschreibung politischer
Verbände mochte gelten lassen“, S. 16. Er spricht sogar von „Max Webers Verblen-
dung“, S. 19. Natürlich sei es richtig, daß auch der Bürger des Verfassungsstaates dem
staatlichen Befehl Gehorsam schulde, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß er
gesetzlich begründet sei: „das Gute selbst wirkt (wie Hobbes gesagt hat) als Befehl.
Dieses Merkmal rührt aber nicht davon her, daß im Verfassungsstaat offen oder ver-
deckte Herrschaft ausgeübt wird, (. . .) sondern es erwächst ganz im Gegenteil aus der
bürgerlichen Vereinbarung, Herrschaft zu verhüten, sie durch verfassungsmäßige Ein-
richtungen und Verfahrensweisen zu ersetzen“, S. 24. Exakter läßt sich die „Herr-
schaftsfreiheit“ im Verfassungsstaat kaum formulieren. Verfassungstreue der westlichen
Welt lebe „auf und aus dem Grunde bürgerlicher Legitimität“ und eben nicht „aus den
Quellen charismatischer Legitimität“ wie bei Max Weber, S. 63.
17 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 50 ff.
18 „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substanziellen Willens, die er in dem zu
seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich
Vernünftige. Diese substanzielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck“, G. W. F.
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399.
19 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 195; so auch K. A.
Schachtschneider, Res publica res populi, S. 486; E. W. Böckenförde, Recht, Staat, Frei-
heit, S. 62.
20 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 131 ff.
I. Herrschaft und Freiheit als unvereinbare Gegensätze 121
ren und bestimmen die Bürger ihre Rechte selbst, sie sind der Staat. Der Staat ist
ein rechtlicher Verband freier Bürger, der durch das Verfassungsgesetz etabliert
wird; Verfassung ist aber nicht Herrschaft21, allerdings auch kein „politisches
Schlaraffenland für Emanzipationsschwärmer“, wie Dolf Sternberger es treffend
formuliert hat. Es sei am Satze des Aristoteles festzuhalten, „daß es die Tugend
des Bürgers wie des Mannes sei, zu regieren und sich regieren zu lassen. Es gibt
zur herrschaftlichen – griechisch: zur despotischen – Ordnung nur eine einzige
Alternative: Das ist nicht die Anarchie, sondern (. . .) die bürgerliche Regierung,
die Verfassungsordnung“ 22.
Die kopernikanische Wende in der Staatsrechtslehre führt konsequent zu der
Erkenntnis, daß es in der Republik keine liberalistische Trennung von Staat und
Gesellschaft gibt23. Die Republik ist nicht so verfaßt, wie es die Verfechter einer
indoktrinierten Herrschaftslehre sehen: oben der Staat, der befiehlt, und unten
die Gesellschaft, das Volk, dem befohlen wird. Selbstverständlich hat die Freiheit
in der Republik einen liberalen Aspekt; denn niemand soll der nötigenden Will-
kür anderer ausgesetzt sein, auch nicht der des Staates. Die Republik ist notwen-
dig bürgerschaftlich verfaßt und damit demokratisch. Das darf aber nicht als die
Herrschaft des Volkes mißverstanden werden24. Der Staat ist kein politischer
Verband oder Anstaltsbetrieb, der Herrschaft ausübt, wie Max Weber es gesehen
hatte. Stattdessen ist er als sinnvolle Einrichtung von Menschen für die Verwirk-
lichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit zu begreifen. Die Aus-
übung der Staatsgewalt ist Sache des Volkes25 und ist eben keine Herrschaft von
Menschen über Menschen. So bestimmt es Art. 20 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Nach der Logik der Republik kann ein
Herrscher nicht demokratisch legitimiert sein, weil das mit der Freiheit in der
Republik völlig unvereinbar wäre, in der eben alle die gleiche Freiheit haben.
Und es ist die Aufgabe des Rechts, diese gleiche Freiheit zu verwirklichen26. Da-
mit ist der grundgesetzliche Verfassungsstaat notwendigerweise eine Republik27,
und die Republik notwendigerweise ein Rechtsstaat. Die Republik ist aus der
21 Allemal dann, wenn der Begriff der Herrschaft keine verfassungsrechtliche Ver-
steht gegen jede Art staatlicher Herrschaft; denn Herrschaft des als Bürgerschaft ver-
standenen Volkes über die Vielheit der Bürger als das Volk ist nicht denkbar, weil der
Bürger durch seine Selbständigkeit, durch seine Unabhängigkeit von anderer nötigender
Willkür, durch Freiheit nämlich, definiert ist“, K. A. Schachtschneider, Res publica res
populi, S. 3.
25 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 16 f., 537 ff.; so auch E.-W. Bök-
kenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR I, § 22, S. 890 f., Rdn. 5 ff.
26 Und der Sinn aller Politik ist Freiheit, H. Arendt, Was ist Politik?, S. 28.
27 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 25.
122 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
Idee der Freiheit geboren28. Notwendigerweise muß aber diese Freiheit für alle
Bürger im Staate gleichermaßen Wirklichkeit sein. Damit reicht die verwirklichte
Freiheit aller über die Möglichkeiten liberaler Freiheitsrechte weit hinaus, mit
deren Hilfe nur die Verfolgung von Individualinteressen im Zentrum der Betrach-
tung steht. Die Freiheitsverwirklichung aller im Gemeinwesen erfordert die
uneingeschränkte Moralität und eben nicht bloß die liberale Möglichkeit zur un-
eingeschränkten Verfolgung der Individualinteressen. Die Freiheit aller muß
demnach dem Sittlichkeitserfordernis bestmöglich Rechnung tragen, ist also stets
eine verantwortete Freiheit und kann deshalb nur in der Republik verwirklicht
werden29.
3. Das freiheitliche Demokratieprinzip
Eine Republik muß um der Freiheit willen demokratisch sein, und das Demo-
kratieprinzip hat unter anderem die Mehrheitsregel zum Inhalt30. Doch die Ent-
scheidung der Mehrheit begründet keine Herrschaft der Mehrheit über die Min-
derheit31 oder die Durchsetzung der Interessen der Mehrheit gegen die Interessen
der Minderheit. Noch vernunftwidriger wäre es, die Demokratie als Akklamation
des Volkes zur Legitimation der Herrschaft von Parteiführern mißzuverstehen32.
Das Demokratieprinzip ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedin-
gung für die Verwirklichung der Freiheit33, weil es bei der Verwirklichung der
Freiheit auch darum geht, der Gleichheit aller in ihrer Freiheit gerecht zu wer-
den, also das richtige Gesetz zu finden, welches praktisch vernünftig sein muß;
denn die staatlichen Organe sollen das gute Leben aller auf der Grundlage der
Rechtsstaates, S. 29 f.
29 „Die Freiheit aller und damit die Gleichheit aller in der Freiheit ist die politische
Grundentscheidung der Republik, ihre Idee und ihr Zweck, auch die nach dem Grund-
gesetz“, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 4 f.
30 Zur freiheitlichen Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik,
S. 163 ff.; ders., Res publica res populi, S. 119 ff.; J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsver-
trag, S. 116 f.
31 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 92 ff., 106 ff.; ders., Prin-
Rechtsstaates, S. 54 f.
33 D. Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, S. 127. Hier greift auch das Argu-
ment von Sternberger, daß die (demokratische) Wahl nicht bloß ein Akt „irgendeiner
Bestallungstechnik“ sein dürfe, sondern zu ihrer Legitimität die Identität des Amtes
ausmache und der Charakter der Ausübung auf Zeit „wirklicher Grund der Rechtmäßig-
keit“ sei, wobei er mit „Identität des Amtes“ seinen Erhalt innerhalb vorgesehener Gren-
zen und Befugnisse meinte. Auch dies also ein Argument, daß legitime Demokratie und
demokratische Wahl keine Herrschaft oder die Wahl von Herrschern sein kann. Zum
republikanischen Amtsprinzip K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates,
S. 346 ff.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger 123
Freiheit und der Wahrheit verwirklichen34. Diese Vernünftigkeit ist die Einheit
von Sittlichkeit und Legalität35. Der Erkenntnisprozeß des Richtigen und Ver-
nünftigen muß bürgerlich sein, und Politik ist der Diskurs, der Recht hervor-
bringt. Weil nun Recht grundsätzlich mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist,
wie Kant richtig lehrt, läßt sich durchaus von der Herrschaft des Rechts spre-
chen. Doch diese Herrschaft ist keine Herrschaft im Sinne eines Über-Unterord-
nungsverhältnisses, einer Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern
schlicht das durchgängige Akzept der Vernunft auf der Erkenntnisgrundlage ei-
ner Allgemeinheitlichkeit der Freiheit, damit jeder Bürger „immer innerhalb der
Grenzen der Einstimmung des Gebrauchs seiner Freiheit mit der meinigen
bleibe“ 36. Nur die Herrschaft des Rechts, und damit die Herrschaft der Vernunft,
ist freiheitlich37.
Freiheit ist für Kant die Autonomie der rein praktischen Vernunft. Dazu gehört
die Fähigkeit zur eigenen Gesetzgebung38, Freiheit ist (Selbst-)Gesetzgebung39.
Dazu muß der Bürger als politisch freier (Mit-)Gesetzgeber im Reich der Zwecke
sein. Er ist „Oberhaupt“ im Staat, welches die Gesetze gibt und gleichzeitig Un-
tertan, weil er sie zu befolgen hat. Der einzelne Mensch ist frei, weil er Gesetzen
gehorcht, die er selbst mitgegeben hat. Das entspricht seiner Menschenwürde als
mit seiner Stimme, der sich gegen die Mehrheit stellt als die Mehrheit Stimmengewicht
hat. Insofern ist die demokratische Mehrheitsregel durchaus akzeptabel, dazu K. A.
Schachtschneider, Res publica res populi, S. 119 ff. Außerdem würde ein Einstimmig-
keitserfordernis den politischen Prozeß in einem großen Gemeinwesen wie Deutschland
wohl weitgehend lahmlegen, weil man bei der Gesetzesfindung, die grundsätzlich die
Erkenntnis des Richtigen sein soll, auf die Einsichtsfähigkeit auch des letzten Mitge-
setzgebers, in der repräsentativen Demokratie auf die des letzten Abgeordneten ange-
wiesen wäre. Es besteht ja durchaus die Möglichkeit des Irrtums des einzelnen Mitge-
setzgebers bei der Erkenntnis des Richtigen und Vernünftigen, was Rousseau sagen
ließ, daß die Minderheit sich eben geirrt habe, als sie gegen das Gesetz stimmte, und
sie sei unter dem richtigen Gesetz, das die Mehrheit gefunden habe, frei, J. J. Rousseau,
Vom Gesellschaftsvertrag, S. 117; in keinem Falle bedeutet dies aber die Herrschaft der
Mehrheit, K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 153 ff., a. A. aber M. Hät-
tich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S. 41 ff., wohl auch W. Maihofer, HVerfR,
S. 462 ff., 472 ff.
35 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 115; ders., Prinzipien des
Rechtsstaates, S. 21 ff.
36 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 339.
37 Dazu scharfsinnig H. Arendt, Was ist Politik? S. 39 ff.
38 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 144, und die Unabhängigkeit von sinn-
lich-empirischen Antriebsmomenten.
39 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 86, Freiheit und die eigene Ge-
„Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als
dem, das es zugleich selbst gibt“ 40. Damit ist die Gesetzgebung durch die Men-
schen in der vereinigten Bürgerschaft, der Bürger im Staat also, die elementare
Voraussetzung für ihre Würde und ihre Freiheit.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundes-
staat“, Art. 20 Abs. 1 GG. Die Staatsbezeichnung Bundesrepublik Deutschland
ist nicht bloß Firmierung, sondern eine normative Entscheidung für die Repu-
blik41, hat also programmatischen Charakter, welcher sich aus der Logik der
Gleichheit aller in der Freiheit ergibt42. Damit zählt das republikanische Prinzip
zu den von Art. 79 Abs. 3 GG in ihrem Bestand gesicherten Grundsätzen, die
auch nicht von einer verfassungsändernden Mehrheit von Bundestag und Bundes-
rat preisgegeben werden können. Die Unabänderlichkeit des republikanischen
Prinzips gilt wegen Art. 28 Abs. 1 GG sowohl für den Bund als auch für die Län-
der43. In der staatsrechtlichen Literatur wird im republikanischen Prinzip aller-
dings oft lediglich eine Absage an die Monarchie gesehen44, die alle Staatsge-
walt in sich vereinige. Für die Republik sei entscheidend, daß der Präsident seine
Legitimation unmittelbar oder mittelbar durch einen Berufungsakt des Volkes er-
hält45. Dies allerdings ergibt sich ohne Schwierigkeit schon aus dem Wortlaut des
Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Der Gehalt des
republikanischen Prinzips erschöpft sich nicht im Monarchieverbot46, sondern ist
ein grundlegendes Verfassungsprinzip47, weil sich sonst der Begriff der Republik
zur Demokratie verengt48. Bedeutungsvoll ist, daß das republikanische Prinzip
die Verhinderung der Vereinigung der Herrschaftsgewalt in einer Einzelperson
S. 581, aber auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, II, Rdn. 90.
46 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 12 f.
47 W. Henke, Die Republik, HStR I, § 21, S. 867, Rd. 7 ff.; zum republikanischen
ewigen Frieden, S. 206 ff. hatte sie kritisiert. Aber auch Platon, Der Staat, 8. Buch, 564 a
15, S. 391, weist deutlich auf die Gefahren der Entwicklung von der Demokratie zur
Tyrannis hin: „Und mit Recht entsteht somit, denke ich, die Tyrannis aus keiner anderen
Verfassung als aus der Demokratie.“ F. A. v. Hayek, Verfassung der Freiheit, S. 132, ist
der Meinung, daß Demokratie noch nicht Freiheit sei, das bloße Bestehen der Demokra-
tie sichere die Freiheit keineswegs.
54 Zur „Phänomenologie“ des Demokratiebegriffs ausführlich: K. Stern, Staatsrecht,
gigkeit von eines Anderen nötigender Willkür definiert ist; drittens, daß der Staat
als die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen, als verei-
nigte Bürgerschaft begriffen wird; viertens, daß die Freiheit als Bürger in diesem
Staat auch darin besteht, keinem Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine
Zustimmung gegeben hat; und wer dem zufolge und schließlich fünftens, erkannt
hat, daß Freiheit und Herrschaft unvereinbare Gegensätze darstellen, weil ein
Mensch entweder beherrscht wird oder frei ist, für den rückt die Souveränität des
Volkes und der Bürger ins Zentrum der Betrachtung.
Demokratie im Rechtsstaat ist nicht die bloße Wahl der Regierung57, schon gar
nicht eine Staatsform als „Organisation politischer Herrschaft“ 58; denn Herr-
schaft und Freiheit sind unvereinbare Gegensätze. Demokratisch bedeutet, daß
die Volkssouveränität das bestimmende Prinzip der Staatsform ist59, ganz wie
Kant lehrt: das Volk ist Souverän60, ist Herrscher, allerdings nicht als eine Herr-
schaft von Menschen über Menschen verstanden, sondern als der vereinigte Wille
des Volkes, der in der Gesetzgebung seinen Niederschlag findet. Souveränität ist
nach allgemeiner Auffassung die höchste Gewalt im Staat, welche zu einer
Macht berechtigt, sich gegenüber jeder anderen Gewalt durchzusetzen. Aufgabe
des Souveräns ist es, das Gemeinwesen zu befrieden und es zugleich vor Feinden
zu schützen. Dies gilt allgemein und unabhängig davon, wem der Status des Sou-
veräns in personaler Hinsicht zukommt, dem Fürsten, dem Volk, der Partei oder
den Bürgern61. Volkssouveränität, besser die (höchste) Staatsgewalt des Volkes62,
ist insbesondere die Souveränität des Volkes als Gesetzgeber63. Es besteht ein
Zusammenhang mit der Regierungsform. Weil das demokratische Prinzip in
Deutschland strikt repräsentativ ist64 und unmittelbar auf das parlamentarische
57 R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, HStR, Bd. II, § 23, Rdn. 53.
58 So aber P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 972.
59 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 888,
Rdn. 2 ff.
60 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 461 f.
61 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 277.
62 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 281.
63 Anders hingegen K. Stern, Volkssouveränität beträfe den Aufbau des Staates von
unten nach oben und damit eine Legitimation der Herrschaft durch das Volk, Staats-
recht, Bd. 1, S. 593. Damit bleibt auch für Stern die Herrschaft das staatstragende Prin-
zip, S. 592. Stern fordert die Herrschaft „von unten nach oben“, S. 605. Das würde
konsequenterweise bedeuten, daß das Volk befiehlt und die Regierung zu gehorchen
hat, jedenfalls dann, wenn man den Herrschaftsbegriff Max Webers zugrunde legt. Das
dürfte indessen nicht die Herrschaftsvorstellung sein, die Klaus Stern hier vorschwebt.
Schon Rousseau hatte festgestellt, daß es keine echte Demokratie gibt oder jemals ge-
ben wird: „Es geht gegen die natürliche Ordnung, daß die Mehrzahl regiert und die
Minderheit regiert wird.“ Bei Rousseau gilt dies in besonderem Maße für die Regie-
rung, wodurch er seine Ablehnung der Demokratie als Regierungsform im Grundsatz
begründete, J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 72 f.
64 K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 608.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger 127
Rdn. 8.
70 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22,
S. 894 f., Rdn. 11. Das ist natürlich auch eine Frage des Rechtsstaatsprinzips, weil die
Rechtsstaatlichkeit eine Frage nach Inhalt, Umfang und Verfahrensweisen staatlicher
Tätigkeit ist, S. 941, Rd. 83.
73 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 901,
wird. Die politische Willensbildung und die Ausübung der Staatsgewalt haben als
„Willensbildung des Volkes“ (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) strikt demokratisch zu
sein. Dieser Wille manifestiert sich „durchgehend vor allem im Gesetz oder ist
das Gesetz76. Das Gesetz ist ein „Akt der Souveränität“ 77 und als Gesetz des
Volkes der allgemeine Wille, der Wille aller Bürger als Bürgerschaft, der ver-
einigte Wille des Volkes, die volonté générale also78: die Freiheit wird durch die
Gesetze verwirklicht79.
Souveränität ist die Freiheit des Bürgers, und nur der Bürger ist souverän80,
nicht der Staat, welcher die Souveränität für die Bürger ausübt. Souveränität ist
also ein Rechtsprinzip des Staates81. Genausowenig wie das Volk82 hat der Staat
eine von den Bürgern unabhängige Existenz, ein eigenes Sein83. Er ist eine Orga-
nisation, welche institutionell der Verwirklichung der Freiheit der Bürger in prak-
tischer Vernunft durch Gesetze dient. Er hat keinen Willen und kann auch nicht
herrschen84. Der Staat im weiteren Sinne ist das zum Staat verfaßte Volk, die
Bürgerschaft, der existenzielle Staat. Der Staat im engeren Sinne ist die Menge
der Organe des Volkes85. Diese Organe, die Staatsorgane, sind keine Subjekte
und haben nicht die Souveränität inne86. Sie „sind Einrichtungen, mittels derer
das Volk vertreten wird. Sie dienen dem Volk für dessen Zwecke, das gemeinen
Wohl nach Maßgabe der Verfassung und des Verfassungsgesetzes. Sie handeln im
Namen des Volkes, die Bundesorgane im Namen der Bundesrepublik Deutsch-
land, des Rechtssubjekts, mittels dem die Deutschen sich zum Bundesstaat ver-
eint haben“ 87; denn der „Staat (civitas) ist eine Vereinigung einer Menge von
Menschen unter Rechtsgesetzen“ 88. Der ,pouvoir constitué‘ ist folglich durch das
Verfassungsgesetz als Staat organisiert, die Staatsorgane als Organe des Volkes
S. 97.
84 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 310 f.
85 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 308 f.
86 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 304 f.
87 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 306.
88 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 431; dazu K. A. Schachtschneider, Souveränität,
S. 416 ff.; zum Staat als Rechtsgemeinschaft, ders., Freiheit in der Republik, S. 49 ff.,
285 ff.; ders., Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates,
S. 30 ff., 55 ff.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger 129
K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 560 ff., 584 f.; ders., Prinzipien des
Rechtsstaates, S. 354; R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, § 23, HStR, Bd. II,
Rdn. 66.
93 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432.
94 Dazu W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 182.
95 K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 314.
96 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 152 f.
97 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 103.
130 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
ten also weder ihren Wahlkreis, geschweige denn ihre Partei98. Diese Legitima-
tion zur Mitwirkung an der Gesetzgebung im Parlament bedeutet einerseits keine
inhaltliche Vorbestimmtheit im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten der Ab-
geordneten bei der Verabschiedung von Gesetzen99, sie sind etwa an ihre ,Wahl-
versprechen‘ nicht gebunden. Andererseits sind wegen der Souveränität des Vol-
kes seine Abgeordneten nur dazu legitimiert, das allgemeine Beste aller Bürger
durch die Gesetze hervorzubringen und bei der Gesetzgebung nicht Privat- oder
Sonderinteressen und damit einer Pfründenwirtschaft gefällig zu sein100. Das ist
republikanisch; denn der „im Prinzip der Republik mitklingende Gedanke der res
publica, der Verpflichtung auf das gemeine Beste“ 101 muß bestmöglich zum Tra-
gen kommen.
Gesetze sind nur richtig und praktisch vernünftig, wenn sie sachgerecht sind.
Die Erkenntnis des Richtigen und des praktisch Vernünftigen erfordert also Sach-
verstand und damit größtmögliche Wissenschaftlichkeit. Die demokratische Wahl
der Abgeordneten muß demnach eine Bestenauslese sein, weil grundsätzlich gilt,
daß bei der Ausübung der Staatsgewalt eine größtmögliche Befähigung zum
Amte erforderlich ist, weil die bestmögliche Ausübung der Staatsgewalt durch
die Stellvertreter des Volkes die Maxime für alles staatliche Handeln ist102. Das
ist in Art. 33 Abs. 2 und 4 GG geregelt103 und ist der Sinn der res publica104.
Die Gesetzgebung muß um der Freiheit der Bürger willen in Moralität des Ge-
setzgebers erfolgen, nur durch diese Moralität lassen sich Gesetze freiheitlich
populi, S. 810 ff.; R. Gröschner, Die Republik, Zweitbearbeitung, § 23, HStR, Bd. II,
Rdn. 67.
99 Der politische Prozeß ist grundsätzlich inhaltlich offen, P. Badura, Die parlamen-
tarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 971, Rdn. 31, also nicht inhaltlich von vorn-
herein determiniert: es soll die volonté générale als das bestmögliche Gesetz aus der
Sicht des Souveräns, des Gesetzgebers also, hervorgebracht werden. Damit steht der
Gesetzgeber über den materiellen Interessen der Bürger oder Bürgergruppen und kann
nur so auch der Moralität verpflichtet bleiben. Das ist kantisch.
100 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 31, der Gesamtwille sieht nicht auf
das Gemeininteresse, sondern „auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine
Summe von Sonderwillen“.
101 P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten,
HStR, Bd. I, § 19, S. 807, Rdn. 76, aber auch S. 803, Rdn. 68.
102 In diese Richtung argumentiert E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungs-
prinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 933 ff., Rdn. 70 ff., gerade vor dem Hintergrund der in
der Regel sehr komplex gewordenen Sachfragen, die die Politik zu behandeln und zu
entscheiden hat.
103 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 809 f.; ders., Prinzipien
gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ (Art. 33 Abs. 2 GG); „Die Ausübung
hoheitlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffent-
lichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treuever-
hältnis stehen“ (Art. 33 Abs. 4 GG).
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger 131
105 Kant, Zum ewigen Frieden, S. 239; K. A. Schachtschneider, Res publica res
Republik, S. 264 ff.; zur Moral als guter Wille im Sinne Kants, ders., Souveränität,
S. 245.
107 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 572 ff.
108 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 858.
109 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 857.
110 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 520 ff., ders., Prinzipien des
Rechtsstaates, S. 21.
111 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 937,
Rdn. 75.
112 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 116 f.; zur Mehrheitsregel K. A.
Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 163 ff.; ders., Res publica res populi,
S. 641 ff.
113 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 641 f.
114 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 163 ff., 424 ff.; ders.,
115 W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 877, Rdn. 23.
116 K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, S. 605.
117 Dennoch bringt Böckenförde in ebendiesem Zusammenhang die politische Herr-
schaft ins Spiel: vor dem Hintergrund kantischen Verständnisses von gesetzlicher Frei-
heit, daß niemand Gesetzen zu gehorchen hat, denen „er nicht seine Beistimmung gege-
ben hat“, ein Grundsatz, den Böckenförde bejaht, vertritt er die Auffassung, daß die
Demokratie die freiheitsgemäße Form der politischen Herrschaft sei, E.-W. Böcken-
förde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 910, Rdn. 35. Demge-
genüber wird hier die These vertreten, daß republikanische Freiheit eben nicht demokra-
tische Herrschaft ist!
118 Zur Bestenauslese K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 166 ff.;
ders., Res publica res populi, S. 662 ff., 675 ff., 681 ff.
119 W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 873, Rdn. 16.
120 So verstanden ist es korrekt, daß es nicht um die Herrschaft der Besten und Ge-
eignetsten geht, vgl. W. Henke, Die Republik, HStR, Bd. I, § 21, S. 873, Rdn. 16. Doch
so war das von Henke an dieser Stelle nicht gemeint. Das Republikprinzip besteht eben
nicht darin, wie Henke meint, daß zwar in einer gesetzlichen Ordnung Menschen regie-
ren, was unbestritten ist, und daß es nicht darauf ankomme, diese Menschen auch erset-
zen zu können, „sondern darauf, ihre Macht zur Amtsgewalt zu wandeln“, S. 883,
Rdn. 36. Daß aber auch Amtsgewalt herrschaftlich ist, scheint für Henke kein Problem
zu sein, denn die Macht im Staat sei immer schon verteilt, S. 874, Rdn. 17, damit aber
immer schon vorhanden. Dies kann allerdings nur dann gelten, wenn man wie Henke
davon ausgeht, daß grundsätzlich nicht die Gesetze, sondern Menschen herrschen. Er
übersieht dabei offensichtlich, daß jedwede Form von Herrschaft durch Menschen über
Menschen nicht mit der Freiheit vereinbar ist, jedenfalls nicht mit dem Freiheitsbegriff
Kants, von dem hier als die einzig denklogische Möglichkeit die Rede ist.
121 J. J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 62.
122 W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, S. 187, unter Bezug-
nahme auf Montesquieus „Liebe zu den Gesetzen“ als Tugend der Bürger. Das kann
durchaus als Moralität bei Kant gewertet werden.
II. Die politische Freiheit als Souveränität des Volkes und der Bürger 133
mit freiheitliche Pflicht, die Gesetze zu befolgen, und weil er sie selbst mitgege-
ben hat, ist er frei: volenti non fit iniuria123.
Die Gesetze haben durchaus Zwangscharakter, schon deshalb, weil Recht be-
grifflich bereits mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist124. In praktischer
Hinsicht ist dies wegen der Gleichheit aller in der Freiheit erforderlich, damit
jeder beim Gebrauch seiner Freiheit stets im Einklang mit der Freiheit der Mit-
bürger bleibt: Zwang ist das Hindernis eines Hindernisses der Freiheit125. Es
kann damit beim demokratischen Prinzip in der Republik nicht um eine Begren-
zung von irgendeiner Art von Herrschaft gehen, sondern um die bestmögliche
Verwirklichung individueller Freiheit für alle Bürger zusammen126. Das sieht
auch das Bundesverfassungsgericht im KPD-Urteil so, in welchem bei der For-
mulierung der Ziele der Politik im Rahmen der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung der Begriff der Herrschaft überhaupt nicht vorkommt127. Es geht
rerschaft, das der Anerkennung der Geführten bedürfe, E.-W. Böckenförde, Demokratie
als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 920, Rdn. 51. Aber wie bei der Herrschaft
ist auch bei der Führerschaft stets mitklingende Gedanke der einer gewissen Unmündig-
keit der Bürger: die Masse der Bevölkerung bedarf der herrschaftlichen Führung, der
sich anvertraut und unterwirft. Darin liegt die Tendenz zum Führerstaat, die das Grund-
gesetz zu verhindern trachtet.
124 Das Verfassungsgesetz beansprucht Geltung, wodurch eine Befolgungsfähigkeit
Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 914, Rdn. 41. Im Zentrum des Rechtsstaates
steht die Freiheit der Bürger, R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, III,
Rdn. 12.
127 Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17.8.1956, BVerfGE 5, 85
(204 ff.): „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste
Wert. Sie ist unantastbar, vom Staate zu achten und zu schützen. Der Mensch ist danach
eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ,Persönlich-
keit‘. Sein Verhalten und sein Denken können daher durch seine Klassenlage nicht ein-
deutig determiniert sein. Er wird vielmehr als fähig angesehen, und es wird ihm demge-
mäß abgefordert, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen. Um
seiner Würde willen muß ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlich-
keit gesichert werden. Für den politisch-sozialen Bereich bedeutet das, daß es nicht ge-
nügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ,Untertanen‘ zu
sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch
an der Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg
zu öffnen; das geschieht in erster Linie dadurch, daß der geistige Kampf, die Auseinan-
dersetzung der Ideen frei ist, daß mit anderen Worten geistige Freiheit gewährleistet
wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie entscheidend
wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung; sie
bewahrt es insbesondere vor Erstarrung und zeigt die Fülle der Lösungsmöglichkeiten
für die Sachprobleme auf. Da Menschenwürde und Freiheit jedem Menschen zukom-
134 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
nicht um eine Befugnis zur Herrschaft in der Demokratie als Herrschaft auf
Zeit128, sondern um die Freiheitsverwirklichung in der Republik, wobei die Aus-
übung der Staatgewalt sich an den Gesetzen zu orientieren und auf die Gesetzge-
bung hin auszurichten hat129. Erst durch diese Sichtweise gelingt die Erkenntnis
einer (zumindest als Idee gedachte130) Identität von Regierenden und Regierten
in der Republik131. In der Orientierung auf die Freiheit der Bürger besteht der
men, die Menschen insoweit gleich sind, ist das Prinzip der Gleichbehandlung aller für
die freiheitliche Demokratie ein selbstverständliches Postulat. Das Recht auf Freiheit
und Gleichbehandlung durch den Staat schließt jede wirkliche Unterdrückung des Bür-
gers durch den Staat aus, weil alle staatliche Entscheidungen den Eigenwert der Person
achten und die Spannung zwischen Person und Gemeinschaft im Rahmen des auch dem
Einzelnen zumutbaren ausgleichen soll. Der kommunistische Begriff von ,Unterdrük-
kung‘, die in jeder staatlichen Machtausübung überhaupt gesehen wird, ist dem System
der freiheitlichen Demokratie von Grund aus fremd; ,Unterdrückung‘ entspringt einer
auch den Staat erniedrigenden im Grunde inhumanen Vorstellungswelt. Der Staat ist ein
Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung, nicht der Unterdrückung durch die
Ausbeuter zur Aufrechterhaltung ihrer Ausbeuterstellung. Es wird zwischen notwendi-
ger Ordnung und Unterdrückung unterschieden. Unterdrückung wäre in der freiheitli-
chen Demokratie nur in Staatsmaßnahmen zu erblicken, die nach vernünftigen – freilich
nicht unwandelbaren – Maßstäben eine Vergewaltigung des Einzelnen darstellen, als
seine Freiheit oder sein Recht auf Gleichbehandlung mit den deren in einer unzumutba-
ren Weise verletzen würden. Darüber hinaus entnimmt die freiheitlich demokratische
Grundordnung dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch
im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen.
Dazu gehört, daß eine Ausnutzung des einen durch den anderen verhindert wird. Aller-
dings lehnt die freiheitliche Demokratie es ab, den wirtschaftlichen Tatbestand der
Lohnarbeit im Dienste privater Unternehmer als solchen allgemein als Ausbeutung zu
kennzeichnen. Sie sieht es aber als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich
Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichenden Lohn zu
unterbinden. Vorzüglich darum ist das Sozialstaatsprinzip zum Verfassungsprinzip erho-
ben worden; es soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und
die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maß verwirk-
lichen. Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelin-
gen könnte, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Span-
nungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu
entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern“.
128 So aber E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I,
§ 22, S. 920, Rdn. 51; auch P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR I, § 23,
S. 972, Rd. 33, ist der Auffassung, Demokratie sei die Ordnung der Herrschaft.
129 „Auch eine Regierung des bürgerlichen Einverständnisses und der bürgerlichen
Anvertrauung erteilt Befehle und übt Zwang aus, aber sie tut es vermöge einer funda-
mentalen Vereinbarung – wir nennen sie die Verfassung. Sie herrscht nicht über Men-
schen. Regieren ist nicht Herrschaft. Wo immer sie in Herrschaft übergeht, (. . .), da
büßt sie ihre bürgerliche Rechtmäßigkeit ein. Denn diese haftet gerade nicht an Herr-
schaft, sondern an der Vereinbarung, an der Übereinkunft“, D. Sternberger, Herrschaft
und Vereinbarung, S. 51.
130 A. A. P. Badura, Die parlamentarische Demokratie, HStR, Bd. I, § 23, S. 973,
Rdn. 36. Dennoch, die Identität von Regierenden und Regierten ist sehr wohl eine Fik-
tion, weil gerade nicht jeder Bürger regiert, sondern Gesetze gibt.
131 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 23, S. 919,
Rdn. 49.
III. Die Würde des Menschen 135
Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat132, weil eben die Freiheit eine
rechtlich geordnete Freiheit zu sein hat133, die eine gesetzliche Freiheit ist. Im
Zentrum der republikanischen Freiheitslehre steht damit der Bürger als Per-
son134, welche zwei Sollensordnungen untersteht, nämlich einer juridischen und
einer moralischen135. Er gehorcht zwar den Gesetzen, die aber seine Freiheit
nicht verletzen, weil er sie selbst mitgegeben hat. Dazu sind politische Freiheits-
rechte136 erforderlich. Die Forderung nach der Moralität des Gesetzgebers ver-
weist in der Republik zunächst einmal auf die Moralität des Bürgers, denn er ist
(Mit-)Gesetzgeber. Sollen die Handlungen der Bürger freie Handlungen sein, so
müssen sie dem moralischen Grundgesetz der rein praktischen Vernunft, dem
Sittengesetz oder kategorischen Imperativ genügen. Diese Moralität schließt aber
die Legalität mit ein, als die Gesetze des Rechts allgemeine Gesetze sind, denen
die Handlungsmaximen der Bürger genügen müssen. Es besteht also aus morali-
schen Gründen eine Pflicht zur Legalität137. Weil aber der Bürger in der verwirk-
lichten Republik diese Gesetze mitgibt, sind sie freiheitlich, und um Recht zu
sein, ist Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden138. Die Pflicht zur Legali-
tät bedeutet eine (moralische) Pflicht zur Politik139, das richtige Gesetz mit her-
vorzubringen. Unter diesen Voraussetzungen allein wird die Freiheit durch die
Gesetze verwirklicht140: die Gesetzlichkeit ist die Wirklichkeit der Freiheit141.
„Die Würde des Menschen in unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – Art. 1 Abs. 1 GG. Der Verfassungsge-
setzgeber habe sich mit der Formulierung zum „sittlichen Wert der Menschen-
132 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, § 22, S. 942,
Rdn. 84.
133 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, HStR, Bd. I, § 24, S. 1003, Rdn. 31.
134 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 217; W. Kersting, Wohlgeord-
würde bekannt“, „nachdem ein Hinweis auf Gott als den Urgrund alles Geschaf-
fenen nicht durchgesetzt werden konnte“ 142. Die beste Ausformulierung dieses
sittlichen Wertes der Menschenwürde findet Günter Dürig in einer Formel des
bayerischen Verfassungsgerichtshofes: „Der Mensch als Person ist Träger höch-
ster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unver-
lierbar und auch jedem Anspruch der Gemeinschaft, insbesondere allen poli-
tischen und rechtlichen Zugriffen des Staates und der Gesellschaft gegenüber
eigenständig und unantastbar ist. Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist
dieser innere und zugleich soziale Wert- und Achtungsanspruch, der dem Men-
schen um dessentwillen zukommt“. Zwar habe im Zuge der Rechtsentwicklung
Art. 1 Abs. 1 GG seine Klagestütze und Anspruchsgrundlage eingebüßt, weil die-
ses Grundrecht kein Individualrecht mehr sei, gewonnen wurde aber ein Wert-
system, „das sich weitgehend zugleich als ein rechtslogisches Anspruchssystem
erweist, in dem sich der Hauptwert zu den Teilwerten wie der rechtliche Obersatz
zu den Teilrechtssätzen verhält“ 143. Damit würde die Verfassung mit einem ob-
jektiven Wert begründet144. Das Bundesverfassungsgericht stellt die Grundrechte
in einen wertsystematischen Zusammenhang mit der Menschenwürde und er-
kennt in ihr den Ausgangspunkt der Grundrechte, insbesondere des Rechts zur
freien Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG145. Die Menschen-
würde, als raum-zeit-unabhängige Wertaussage „besteht in folgendem: Jeder
Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen
Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu
werden, sich selbst zu bestimmen und sich die Umwelt zu gestalten“, so Dürigs
Definition der Menschenwürde. Sie teile sich dann dogmatisch in zwei Haupt-
grundrechte auf, nämlich in die Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und die Gleichheit
(Art. 3 Abs. 1 GG), wobei allerdings zu beachten sei, daß es sich bei der inhalt-
lichen Bestimmung dieser Freiheit denknotwendiger Weise lediglich um eine ab-
strakte Freiheit handeln könne, also um eine Freiheit „die dem Menschen an sich
eigen ist. Der allgemein menschliche Eigenwert der Würde kann somit von vorn-
herein nicht in der jederzeitigen gleichen Verwirklichung beim konkreten Men-
schen bestehen, sondern in der gleichen abstrakten Möglichkeit (potentielle
Fähigkeit) zur Verwirklichung“ 146. So gesehen wäre die Menschenwürde ein ab-
straktes Recht im Sinne Hegels, also eine Erlaubnis oder Befugnis. Aber „es ist
nicht absolut notwendig, daß ich mein Recht verfolge, weil es nur eine Seite des
ganzen Verhältnisses ist. Möglichkeit ist nämlich Sein, das die Bedeutung hat,
auch nicht zu sein“ 147. Nach dieser Interpretation hätte die Menschenwürde ihren
Absolutwert eingebüßt und wäre lediglich ein relativer Wert, ein Preis im Sinne
Kants, mit welchem in der Konsequenz die Verfassung nicht objektiv begründet
werden könnte. Gerade dies aber ist der verfassungsrechtliche Anspruch, wenn
Art. 1 Abs. 2 GG unter Verweis auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde
(„darum“) das Bekenntnis zu den Menschenrechten formuliert und den Absatz 1
zur Grundlage dieses Bekenntnisses macht148. Die Menschenwürde kann nur
dann als der höchste Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung, als
oberster Verfassungswert gelten149, wenn sie absolut und objektiv Geltung hat
und entgegen Dürig in der Verwirklichung beim konkreten Menschen besteht.
Die bloße Akklamation der Menschenwürde zu einem absoluten Wert ist nicht
hinreichend für eine objektive Wertbegründung der Verfassung. Ein objektiver
Wert muß a priori durch rein praktische Vernunft einsehbar sein, was aber bei
dem Versuch einer bloß materialen Bestimmung der Menschenwürde fehlschlägt.
Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und die Gestaltung der Umwelt haben le-
diglich relative Bedeutung: Zwecke, „die sich ein vernünftiges Wesen als Wir-
kung seiner Handlung nach Belieben vorsetzt (materiale Zwecke), sind insgesamt
nur relativ; denn nur bloß ihr Verhältnis auf ein besonders geartetes Begehrungs-
vermögen des Subjekts gibt ihnen den Wert, der daher keine allgemeine für alle
vernünftigen Wesen, und auch nicht für jedes Wollen gültige und notwendige
Prinzipien, d. i. praktische Gesetze, an die Hand geben kann“ 150. Genau dies aber
ist zu fordern: die Würde muß auch einem Menschen zugesprochen werden, der
die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestaltung von vornherein nicht
hat151, etwa der geistig Behinderte. Richtig erkennt das Bundesverfassungsge-
richt: „Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde und ober-
ster Verfassungswert. Jeder Mensch besitzt als Person die Würde, ohne Rücksicht
auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Lei-
stungen und seinen sozialen Status“ 152..Keinesfalls kann einem Menschen seine
Würde abgesprochen werden, schon gar nicht mit Vernunftgründen, „sie kann
keinem Menschen genommen werden“ 153 Die Menschenwürde ist ein allgemei-
ner menschlicher Eigenwert154; denn wo „menschliches Leben existiert, kommt
ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser
Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, § 20,
S. 821, Rdn. 7.
150 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59.
151 H. Hofmann, Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 1, Rdn. 7.
152 BVerfGE 115, 118 (151); aber auch 87, 209 (288); 96, 375 (399).
153 BVerfGE 115, 118 (151); 87, 209, (228).
154 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 20.
138 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im mensch-
lichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde
zu begründen“ 155.
Die Menschenwürde ist entgegen der Auffassung Dürigs ein subjektives öf-
fentliches Recht156; die Menschenwürde „zu achten und zu schützen ist Aufgabe
aller staatlichen Gewalt“, welche eine Achtungs- und eine Schutzpflicht des Staa-
tes begründet157 und die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Verwaltung
an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet158. Sie schützen die
Menschheit des Menschen im Menschen und damit den Menschen als Person.159
Die Menschheitlichkeit des Menschen begründet seine Würde, der Begriff der
Würde selbst bedarf keiner „weiteren juristischen Definition“ 160; denn verletzbar
ist der Achtungsanspruch, der sich aus der Würde ergibt161, die Würde selbst ist
unverletzlich, unantastbar162.
Mit Kant ist es möglich, den Begriff der Würde des Menschen exakt zu be-
stimmen163. Der Mensch ist Selbstzweck, „der Mensch, und überhaupt jedes ver-
nünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst“ 164. Die Menschenwürde ist
„getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur
vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“, so Günter Dürigs Objektformel165.
Daraus folgt, daß der Mensch, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten
wissenschaftlich zu behandelnden Vorgängen“ und sei von Kant mit auf den Weg ge-
bracht worden, P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemein-
schaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 833, Rdn. 32.
164 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 59.
165 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 28; dazu auch K. A.
Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein
könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kate-
gorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“ 166. Die Selbstzweckhaf-
tigkeit des Menschen ist der transzendentalphilosophisch letzte Grund für jede
Möglichkeit eines praktischen Gesetzes, und damit auch der Grund- und Men-
schenrechte. Nur die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen kann als objektiver
Zweck, als absoluter Wert gewertet werden, und als dieser Grund des praktischen
Gesetzes erst ist der Mensch Person167. Der Kern der Menschenwürde besteht
darin, daß der Mensch Zweck an sich selbst ist168.
Die Würde des Menschen als moralische Person ist seine Selbstzweckhaftig-
keit in der menschlichen Gemeinschaft, im Reich der Zwecke, im Staat. Freiheit
als „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder ver-
nünftigen Natur“ 169. Und diese wiederum ist ein angeborenes Recht, kraft der
Heiligkeit der Menschheit in der Person jedes Menschen. Die Würde ist als (in-
nere) Freiheit die Autonomie des Willens170, und ist, weil sie schon aus Erkennt-
nisgründen ethisch begründet ist, heilig, also unverletzlich. Demnach gilt: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar“ – Art. 1 Abs. 1 GG171. Dieser Satz ist auch
zumal Stern selbst die imago-dei-Lehre mit dem Hinweis ablehnt, daß der christliche
Glaube nicht mehr Gemeingut der Rechtsgemeinschaft sei, Staatsrecht, Bd. III/1 S. 9 f.
Im Zeitalter der Aufklärung verbleibt dann nur eine Vernunftbegründung, und es ist
doch die entscheidende Frage, wie dem Menschen, gleich wie er beschaffen ist und wie
er sich verhält, diesem empirischen Wesen als homo phaenomenon, der selbst unheilig
genug ist, weil er durch Schwächen gekennzeichnet ist und dem bei seinen Handlungen
auch enorme Fehler unterlaufen, weil er durchaus seinen Mitmenschen schweres Un-
recht antun kann, wie eben diesem Wesen dennoch der unvergleichlich hohe und abso-
lute Wert der Würde zugesprochen werden kann? Darauf macht Stern nicht einmal den
Versuch einer Antwort. Statt dessen weist er auf die Jahrhunderte alte Tradition des
Personenbegriffs hin: jedem einzelnen Menschen muß die Personeneigenschaft zuge-
sprochen werden, und als Person kommen ihm dann zwingend angeborene Rechte auch
gegenüber dem Staat zu. Die Menschenwürde sei damit eine (wohl bloß positivistische)
Rechtsfrage und damit Schlüsselbegriff des Verhältnisses des Menschen zum Staat,
Staatsrecht Bd. III/1 S. 14 f. Auf die Darstellung zur „Idee der Persönlichkeit“ und die
Zusprechung der Personenhaftigkeit jeden einzelnen Menschen bei Kant, vor allem in
der Kritik der praktischen Vernunft, S. 210 f., geht Stern geflissentlich überhaupt nicht
ein; zum Menschen als Person überzeugend J. Hruschka, Die Würde des Menschen bei
Kant, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), 2002, S. 436 ff., 474 ff. Sterns
Behauptung ist falsch, daß Kant nicht jedem Menschen Würde zugesprochen und sich
zur Würde eher bloß beiläufig geäußert habe. „Allein der Mensch als Person betrachtet
(. . .) besitzt eine Würde (einen absolut inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünf-
tigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen
und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 569.
„Es ist nämlich etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn
wir es einmal ins Auge gefaßt haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die
Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen, als Gegenstand
der Erfahrung, nicht vermuten sollte“. Angesprochen ist hier die Befähigung zur Mora-
lität jedes Einzelnen, „diese moralische von der Menschheit unzertrennliche Anlage in
uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung“ und deshalb muß sie jedem einzel-
nen Menschen zugesprochen werden, weil er eben an der Idee der Würde der Mensch-
heit teilhaftig ist, Kant, Streit der Fakultäten, S. 327 f. Kant, Von der Pädagogik, S. 749,
hält es für eine Pflicht, „diese Würde der Menschheit in seiner eigenen Person nicht zu
verleugnen“. Die „Menschheit in der Person“ eines jeden Einzelnen ist zu erhalten und
zu ehren, gleich wie die Lebensumstände auch sein mögen, Lebenswürdigkeit bedeutet
die Erhaltung der eigenen Menschenwürde, Kant, Kritik der praktischen Vernunft,
S. 211. Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß Kant jedem Menschen qua
Menschseins Würde zuspricht, so auch J. Hruschka, Die Würde des Menschen bei
Kant, ARSP, 2002, S. 477 f. Im übrigen, Kants kategorischer Imperativ ist nicht bloß
rein formal und inhaltsarm, wie Stern meint, worauf R. Dreier, Recht, Moral, Ideologie,
S. 302, zu Recht hinweist; Formalität ist weder Offenheit noch Inhaltslosigkeit, dazu
K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 69 ff., zur Formalität des Sittenge-
setzes, ders., Res publica res populi, S. 267 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privat-
recht, S. 107 ff.
172 Dies bleibt Stern aber mit seiner Kantkritik offensichtlich völlig verborgen, daß
nämlich bei Kant nun gerade in diesem Zusammenhang der Mensch nicht als empiri-
sches Wesen, sondern als der intelligiblen Welt zugehörig gedacht werden muß, der
Mensch also als Noumenon angesprochen ist. Als Noumenon ist er reines Vernunft-
wesen, das durch freiheitliche Autonomie gekennzeichnet ist: es hat das Bewußtsein des
Faktums des Sittengesetzes als ratio cognescendi der Freiheit. Als homo noumenon
kommt dem Menschen die Idee der Würde zu, schon deshalb, weil die Würde selbst
III. Die Würde des Menschen 141
eine Idee ist, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 67. Es ist also zwingend,
wenn Kant zunächst nur der Sittlichkeit und der Menschheit eine Würde zugesteht, weil
nämlich das Sittengesetz selbst heilig weil unverletzlich ist, es ist ein Erkenntnissatz.
Kant begreift die Menschheit als die Noumenalität des Menschen, woraus dann folgt,
daß wegen der Freiheit nur die Moralität die einzige Bedingung für die Würde des Men-
schen sein kann. Das bedeutet aber, weil der Mensch aufgrund seiner Zweiweltenzuge-
hörigkeit zwingend auch als ein empirisches Wesen gedacht werden muß, jeder einzelne
Mensch diese „Menschheit in deiner Person, und in der Person jedes anderen“ repräsen-
tiert, Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 69. Deswegen kommt jedem
Menschen qua Menschseins Würde zu, und zwar unabhängig davon, wie er beschaffen
ist und wie er sich verhält, weil niemanden die Vernunftbegabung und damit die grund-
sätzliche Befähigung zur Moralität abgesprochen werden kann: es gibt keine Vernunft-
begründung, einem einzelnen Menschen die Würde abzusprechen; denn man müßte be-
gründen, daß ein Einzelner unter bestimmten Umständen nicht Teil der Menschheit sei.
Das ist schlicht undenkbar.
173 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1, Rdn. 9; dazu auch W. Maihofer,
seiner Person muß ihm heilig sein. (. . .) Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Ge-
setzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seines Willens“, Kant, Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, S. 69.
176 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 395, Fußnote.
142 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
griffen werden kann, jene aber den empirischen, sozusagen phänomenalen Zu-
stand des Menschen betrifft. Damit leitet sich teleologisch das Recht zur freien
Willkür aus der Menschenwürde als Endzweck des Menschen ab. Dieser Zusam-
menhang, auf den Kant hier verweist, ist allerdings empirischer Natur; denn die
Glückseligkeit zu befördern ist zwar nicht Selbstzweck, sondern letztlich ein Mit-
tel zur Aufrechterhaltung der eigenen Sittlichkeit, insofern ist die Verfolgung der
eigenen Glückseligkeit funktional notwendig, weil eben nur der Mensch als mo-
ralisches Wesen die Heiligkeit der Menschheit in seiner Person verkörpert. Damit
ist aber auch das Recht zur freien Willkür aus der Menschenwürde abgeleitet.
Wenn man nun richtigerweise davon ausgeht, daß das Recht zur freien Willkür
durch Art. 2 Abs. 1 GG verwirklicht wird, so bedeutet dies dann auch rechtsdog-
matisch seine Ableitung aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, wie Günter Dürig das gesehen
hat.
Die Würde des Menschen ist eine transzendentale Idee und als solche material
nicht definierbar. Wohl aber sind die Bedingungen bestimmbar, unter denen sie
verwirklicht werden kann. Dies ist zum einen die politische Freiheit der Bürger
als ihre Autonomie des Willens und zweitens ihr Recht, auf selbst und allein
bestimmen Wegen ihr Glück zu suchen und zu verfolgen. Dies gilt dann auch
notwendigerweise für diejenigen Personenkreise, welche dazu nicht oder nur ein-
geschränkt fähig sind, seien es etwa Kinder oder sozial Schwächere. Auch diesen
Menschen muß ein glückswürdiges Leben beschieden werden, auch ihre Glück-
seligkeit ist bestmöglich im Reich der Zwecke zu befördern, weil sie eben eine
indirekte Voraussetzung für Autonomie und Sittlichkeit Aller im Staat darstellt.
Die Idee der Würde begründet die Idee des Sozialstaates, weil die Gemeinschaft
der Menschen wegen der Allgemeinheit der Freiheit Verantwortung auch für
jeden Einzelnen trägt. Es ist zwingend, daß der Staat die Mindestvoraussetzun-
gen für ein menschenwürdiges Dasein schafft177; denn die Menschenwürde zu
achten und zu schützen ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ – Art. 1
Abs. 1 S. 2 GG. Die Sozialstaatlichkeit, welche in Art. 20 Abs. 1 GG verankert
ist, ist (auch) der Menschenwürde verpflichtet. Insofern geht es also nicht darum,
die Menschenwürde mit Sozialstandards „aufzuladen“ 178, sondern der Staat soll
den einzelnen bestmöglich in die Lage versetzen, ein autonomer Bürger in der
Gemeinschaft zu sein oder zu werden. Daraus ergibt sich dann in der Tat ein
„leistungsrechtlicher Anspruch des einzelnen auf das materielle Existenzmini-
mum“, grundsätzlich aber auch der staatliche Schul- und Bildungsauftrag179. Der
Sozialstaat dient der Selbständigkeit seiner Bürger180, sie ist ein Rechtsgut, wel-
ches zu schützen Aufgabe des Staates ist181. Der Sozialstaat ist der „Freiheits-
fürsorge“ seiner Bürger verpflichtet, welche „die Gewährleistung des Maßes an
faktischer Freiheit, das Menschen brauchen, um handeln und das Leben einer
Person führen zu können“, verlangt182. Gerade der die Freiheit verwirklichende
Sozialstaat bedarf einer privatheitlichen Eigentumsordnung183, weil die Grund-
rechte auch soziale Teilhaberechte sind184. Das Selbständigkeitsprinzip allerdings
bedeutet für jeden Bürger die Selbst- und Alleinverantwortung. Durch die soziale
Fürsorge dürfen die Menschen nicht zu materiellen Untertanen werden und da-
durch ihre Bürgerlichkeit einbüßen; sie ist demnach auf das erforderliche Mini-
mum zu begrenzen. Nur wenn es dem Bürger nicht gelingt, die Chancen, welche
ihm die allgemeinen Gesetze geben, sich seine Selbständigkeit zu erarbeiten und
zu erhalten, ist der Staat zur Hilfe verpflichtet185: „Der Sozialstaat übernimmt
gleichsam in solchen Fällen die freiheitliche Ausfallbürgschaft“ 186.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Würde geboren“ – Art. 1
S. 1 AEMR, welcher die (aufklärerische) Formel Kants von der angeborenen
Gleichheit als Prinzip der angeborenen Freiheit187 klar zum Ausdruck bringt.
Freiheit als Autonomie des Willens ist der Bestimmungsgrund der Würde des
Menschen. Die Gleichheit in der Freiheit bedeutet folglich die Gleichheit in der
Würde. Wegen dieser Gleichheit ist es richtig, daß sich die Menschen „im Geiste
der Brüderlichkeit begegnen“ sollen – Art. 1 S. 2 AEMR. Das bedeutet aber
auch, daß die materiellen Güter in einer bürgerlichen Gemeinschaft brüderlich zu
HStR, Bd. I, § 20, S. 851 f., Rdn. 77 f.; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz,
Art. 3 Abs. 1, Rdn. 91, spricht in diesem Zusammenhang von der Rechtsgleichheit „der
Startchancen und Förderungschancen“, diese „Startchancengleichheit“ zähle zu den
„Sockelrechten“, Rdn. 140.
180 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 636 ff.
181 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 45.
182 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 47 ff.; so auch K. A. Schachtschneider, Frei-
teilen sind188. Das führt zwingend zum Sozialprinzip. Freilich darf das Sozial-
prinzip nicht zu einem (sozialistischen) Egalitarismus führen189, sozial heißt
nicht Unterschiedslosigkeit. Andererseits müssen die Unterschiede insbesondere
im Hinblick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen für Alle im Staat
zumutbar und gerechtfertigt sein. Dies aber erfordert die Moralität des Gesetz-
gebers, der das praktisch vernünftige und damit sozial befriedende, also sittliche
Gesetz hervorbringen soll. Alles andere verletzt die Autonomie der Bürger. Folg-
lich gilt: die Würde des Menschen begründet die Idee des Sozialstaats, allerdings
auch nur als Idee; denn verfassungsrechtlich wird die Sozialstaatlichkeit aus
Art. 20 Abs. 1 GG nicht mit der Menschenwürde des Art. 1 GG in Zusammen-
hang gebracht190.
Die Freiheit erschöpft sich nicht in der Autonomie des Willens als Gesetzge-
bung, sondern Freiheit bedeutet in praktischer Hinsicht auch, seine Glücksvor-
stellungen auf selbst und allein bestimmten Wegen zu suchen und zu verfolgen.
Das ist die Freiheit zur Willkür. Aber, die Willkür muß eine freie sein. Das Recht
zur freien Willkür ist kein Recht zur Beliebigkeit. Der Gemeinschaftsbezug der
gesamten menschlichen Existenz ist ein Apriori der Vernunft, von welchem der
einzelne Mensch nicht abstrahieren kann. Alle in der menschlichen Gemein-
schaft, im Staat, haben die gleiche Freiheit als Unabhängigkeit von eines anderen
nötigender Willkür. Das führt dann zu der Erkenntnis, daß die Menschen zwar
nach ihren Vorstellungen handeln, sich dabei aber nur so wenig wie möglich stö-
ren dürfen. Das Streben nach Glück muß sittlich sein und darf nicht zu Lasten
Anderer gehen, also „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“ –
Nr. 4 der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789. Was
aber der Einzelne von Anderen hinzunehmen hat und was nicht, das regeln frei-
188 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 551 ff.; ders., Das So-
zialprinzip, S. 40 ff., 48 ff.; vgl. auch Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 ff., 432 ff.;
ders., Über den Gemeinspruch, S. 150 f.
189 Es gibt keinen einseitigen Vorrang des Sozialstaatsprinzips, R. Herzog, in:
Art. 74, Art. 119 und Art. 120 GG kein geschlossenes Bild, keine „Ausführungskonzep-
tion“ des Sozialstaatsprinzips entwickeln, R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz,
Art. 20, VIII, Rdn. 5 u. 21. Letztendlich bleiben das Sozialprinzip und das Sozialstaats-
prinzip in ihrer Ideenhaftigkeit stecken. Sie werden, wie die Freiheit auch, durch (sitt-
liche) Gesetze des moralischen Gesetzgebers verwirklicht. Dies aber kann praktisch
vernünftig nur lagebedingt erfolgen. Die Materialisierung des Sozialprinzips und des
Sozialstaatsprinzips ist also wandelbar, weil das Leben dynamisch zu begreifen ist. Ein
geschlossenes Bild, eine Ausführungskonzeption ist aus diesem Grunde nicht möglich.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit 145
heitlich für alle die allgemeinen Gesetze191. „Jeder hat das Recht zur freien Ent-
faltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und
nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ –
Art. 2 Abs. 1 GG.
Nun ist hier nicht der Ort, die republikanische Interpretation von Art. 2 Abs. 1
GG umfassend darzustellen. Für diese Thematik ist allerdings von Bedeutung,
daß Art. 2 Abs. 1 GG den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Privatheit der
Lebensbewältigung enthält192. Dieser hat entscheidende Bedeutung für die repu-
blikanische Sicht auf Wirtschaft und Wettbewerb. Vorangestellt werden soll, daß
bei allem Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten und sein
Glück zu versuchen, eine materiale Bestimmung dessen, was das Glück denn
ausmacht, unsicher ist.
Bei allem berechtigen menschlichen Streben nach Glück stellt sich die Frage,
was darunter zu verstehen ist: „Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der
Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu
dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst ein-
stimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon
ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt
empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl
zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefin-
dens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustandes erforderlich
ist. (. . .) Kurz, er ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völli-
ger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaft glücklich machen werde, darum,
weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein würde“. Die Glückseligkeit als „das
ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande“ 193 ist damit keine
Vernunftangelegenheit, sondern ein Ideal der Einbildungskraft194, welches der
Mensch besser durch Instinkt als durch Vernunft befördern könne195: der Mensch
stellt sich zunächst nur vor, was ihn glücklich machen könnte, um anschließend
danach zu handeln. Eine korrekte Beurteilung darüber, ob sich der angestrebte
Glückszustand einstellt, wenn die verfolgten Verhältnisse sich eingestellt haben,
ist aber nur ex post möglich. Der Glückszustand ist im Grunde immer nur rein
zufällig: wir können ex ante nicht wissen, was uns wirklich glücklich macht;
denn dazu wäre Allwissenheit erforderlich. Dennoch schreibt Kant: „Glücklich
191 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 332 ff.; ders., Freiheit in
zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens,
und also ein unvermeintlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.
Denn Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher
Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbst-
genügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst
ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft
die Materie seines Begehrungsvermögens“ 196. Dazu zählt auch das Streben nach
materiellen Gütern197. Das menschliche Streben nach Glück ist demnach eine
notwendige Folge des endlichen irdischen Daseins des Menschen198, welches
durch Knappheit und damit grundsätzlicher von Bedürftigkeit gekennzeichnet
ist: um (auch über-)leben zu können, muß er nach Glückseligkeit streben, und
dies, ohne eindeutig zu wissen, worin sie material besteht. Der Begriff der Glück-
seligkeit ist also ein „schwankender“ Begriff. Im übrigen würde das, „was der
Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der Tat sein eigener letzter Na-
turzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine
Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und
befriedigt zu werden“ 199. Das Einzige, was der Mensch tun kann, ist es, sich so
zu verhalten, daß er des Glücks würdig ist200: „Die Natur hat gewollt, daß der
Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins
geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit
oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt
durch eigene Vernunft verschafft hat“. Insofern scheint „der Natur darum gar
nicht zu tun gewesen zu sein, daß er wohl lebe; sondern daß er sich so weit her-
vorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens
würdig zumachen“ 201. Der Glückseligkeit unwürdig wird der Mensch durch
Übertretung seiner Pflichten202. Das höchste Gut besteht in der Glückseligkeit
„in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch
sie derselben würdig sind“ 203. Allerdings, Moral ist lediglich die „Vernunftbe-
der drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?
Die zweite Frage beantwortet Kant mit dem Satz: „Tue das, wodurch du würdig wirst,
glücklich zu sein“. Als Antwort auf die dritte Frage formuliert Kant die durch die
menschliche Vernunft mit Notwendigkeit zu treffende Annahme, „daß jedermann die
Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in sei-
nem Verhalten würdig gemacht hat, und das also das System der Sittlichkeit mit dem
der Glückseligkeit unzertrennlich (. . .) verbunden sei“, Kant, Kritik der reinen Vernunft,
S. 679 f.
201 Kant, Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 36 f.
202 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 623.
203 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 683.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit 147
dingung (conditio sine qua non)“ und kein „Erwerbsmittel“ für Glückseligkeit204:
sie lehrt nicht, „wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden
sollen“ 205.
2. Keine Heteronomie der Willkür
Die Welt ist dem Menschen als Endzweck der Schöpfung teleologisch unter-
geordnet. Deshalb kann er durch seine Kausalität aus Freiheit sein Umfeld nach
seinen Vorstellungen gestalten. Dies zählt zur Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Aber, als Endzweck der Schöpfung kann der Mensch nur als moralische Person
gedacht werden. Das Streben nach Glück verliert sich nicht im bloß Empiri-
schen. Das Streben nach Glückseligkeit ist eine Maxime206, als subjektives Prin-
zips des Willens207. Alle Imperative, welche bestimmte Handlungen als Mittel
für etwas anderes, zur Erreichung eines materialen Zwecks, empfehlen, sind
hypothetisch. Sie sind Klugheitsregeln, mit welchen Mitteln die eigene Glück-
seligkeit befördert werden kann208, „Imperative der Geschicklichkeit“ 209: „ich
soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes will“. Dabei „kommt jederzeit He-
teronomie heraus“ 210. Durch die Beachtung hypothetischer Imperative ist der
Mensch aber nicht frei, weil die Bedingung für die negative innere Freiheit nicht
erfüllt ist, nämlich nicht durch sinnliche Antriebsmomente zum Handeln genötigt
zu werden. Nun könnte man dafür argumentieren, daß es dem Einzelnen völlig
gleichgültig sein könne, ob er innerlich und negativ frei sei oder nicht, Haupt-
sache, das Glück(-sgefühl) stelle sich ein. Insofern wäre dann die Beachtung der
hypothetischen Imperative als Regeln der Geschicklichkeit ausreichend. Aber, al-
les Handeln und damit auch das Streben nach Glück setzt aus Erkenntnisgründen
die Kausalität aus Freiheit voraus. Das Bewußtsein der Freiheit, nämlich daß der
Mensch sich als frei denken muß, wenn er handeln will, ist a priori mit dem
Bewußtsein der Faktizität des Sollens verbunden. Die Verwirklichung der Frei-
heit erfordert wegen der Gemeinschaftlichkeit des Lebens die Beachtung des Sit-
tengesetzes. Das ist aber nicht Heteronomie, sondern die freie Willkür. Dennoch
gilt, daß Ausgangspunkt allen menschlichen Handelns das Streben nach Glück
ist, weil der Mensch eben der empirischen Natur nicht entkommen kann; er ist
und bleibt grundsätzlich bedürftig.
Gewährt211 wird aber nicht das Recht zur Willkür, also zur Beliebigkeit indivi-
dueller Handlungsmaximen, sondern nur das Recht zur freien Willkür: die freie
Willkür ist wegen der Autonomie auf die Gesetzlichkeit der Handlungsmaximen
hinorientiert, d.h. die willkürliche Selbstbestimmung der Handlungsmaximen hat
die juridischen Gesetze als auch das Sittengesetz zu beachten. Die Entfaltung des
Einzelnen ist frei, es gibt also keine materielle Determiniertheit212 durch das Ge-
setz. Daneben sind selbstverständlich auch die Grundsätze für die freiheitliche
politische Willensbildung im Gesetzgebungsprozeß aller zu beachten, die ja den
formalen Aspekt der Freiheit betreffen, demnach die republikanische Verfassung.
All diese Aspekte sind im Begriff der Autonomie des Willens angesprochen213.
Art. 2 Abs. 1 GG ist das Recht zur freien Willkür als äußeres Mein und Dein:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er
nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ord-
nung oder das Sittengesetz verstößt“. Die Entfaltung der Persönlichkeit umfaßt
sowohl die Gestaltung der eigenen individuellen äußeren Lebensumstände, aber
auch, die individuellen Anlagen und Befähigungen bestmöglich zu befördern,
und zwar nach ausschließlich eigenen Vorstellungen. Das ist die (Heteronomie
der) Willkür. Die Entfaltung der Persönlichkeit darf aber nur eine freie sein, und
ist deswegen an die Autonomie des Willens gebunden, darf also nicht gegen die
Gesetzlichkeit gerichtet sein; denn die Autonomie des Willens umfaßt nicht nur
das individuelle Recht zur Allein- und Selbstbestimmung als Selbstgesetzge-
bung214, sondern weiter die bürgerliche Pflicht zur Mitgesetzgebung im Staat, als
211 Die Gewährung ist aber wegen der Apriorität der lex permissiva im bürgerlichen
der Bürger durch die (politische) Freiheit definiert ist, keinem Gesetze zu gehor-
chen, das er nicht selbst mitgegeben hat215. Dies verdeutlicht der Soweit-Satz, er
ist im Grunde eine Erläuterung des Wortes „frei“: die Willkür des Einzelnen ist
keine beliebige, sondern eine freie, d.h. die Rechte der Mitmenschen, vor allem
ihre Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, dürfen nicht verletzt
werden. Der Einzelne darf, zweitens, nicht gegen die verfassungsmäßige Ord-
nung, die gesamte Rechtsordnung also, verstoßen. Eine Freiheit gegen die allge-
meinen staatlichen Gesetze ist in der Republik nicht denkbar; denn die Gesetze
sind vom einzelnen Bürger qua seiner Willensautonomie selbst mitgegeben. Glei-
ches gilt auch für Verträge; denn sie werden auf der Grundlage der allgemeinen
staatlichen Gesetze geschlossen und sind verbindlich216. Drittens darf auch nicht
gegen das Sittengesetz, gegen den kategorischen Imperativ, verstoßen werden und
zwar für die Fälle, in denen die individuelle Handlungsmaxime nicht durch ein
gesetzliches Ge- oder Verbot ihre materiale Orientierung erfahren. Art. 2 Abs. 1
GG beinhaltet kein Recht zur Beliebigkeit der Willkür: erlaubt ist nicht, was nur
nicht verboten ist, sondern eben nur insoweit, wie die Maxime als einem allge-
meinen Gesetz fähig angesehen werden kann. In jedem Falle muß also das indivi-
duelle Handeln um der Freiheit willen dem kategorischen Imperativ gemäß sein,
weil es schon begrifflich Freiheit ohne sittliche Bindung nicht geben kann217.
Sittlichkeit ist um der Freiheit aller willen oberster Grundsatz in einem freiheitli-
chen Gemeinwesen, im Staat. Die Konstruktionslogik ist einfach: freies Handeln
muß sittliches Handeln sein. Was aber sittlich und damit rechtens ist, das muß
wegen der erforderlichen Allgemeinverträglichkeit des individuellen Handelns in
erster Linie durch das allgemeine Gesetz festgelegt werden. Aus diesem Grunde
kommt es zunächst einmal auf die Legalität des individuellen Handelns an218.
Nur in Fällen, in denen das Gesetz nicht positiv bestimmt, besteht für die freie
Willkür des Einzelnen ein gewisser Handlungsspielraum219, welchen er aber
durch die Moralität seiner Sittlichkeit, an Gesetzes statt, auszufüllen hat. Erlaubt
und rechtens ist nicht, was gesetzlich nicht verboten, sondern wegen der Gleich-
heit in der Freiheit für Alle in einer Gemeinschaft zumutbar ist. Die nicht
erzwingbaren Tugendpflichten, in diesem Zusammenhang die der eigenen Voll-
kommenheit, dürfen das Legalitätsprinzip nicht relativieren220. Nur Moralität
bei Auftreten von Gesetzeslücken wegen des Legalitätsprinzips es eine Pflicht des Han-
150 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
führt zur Sittlichkeit und damit auch zur Rechtlichkeit, das gilt gleichermaßen für
die Gesetze wie für individuelles Handeln: ein unsittliches Gesetz schafft ge-
nauso wenig Recht wie unsittliches Handeln rechtens sein kann, selbst wenn hier-
bei eine Gesetzeslücke vorhanden sein sollte. Die Beachtung des kategorischen
Imperativs ist zwar nicht erzwingbar, weil dazu ein Gesetz erforderlich wäre. Sie
ist aber eine ethische Pflicht, welche auch privat gelebt werden muß, weil andern-
falls der totale Staat erforderlich wäre, welcher keine oder nur geringe Privatheit
zuließe, wenn und weil die Privatheit entgegen dem Sittengesetz mißbraucht wer-
den würde. Private Sittlichkeit rechtfertigt und ermöglicht den Grundsatz der Pri-
vatheit des Lebensbewältigung, das Privatheitsprinzip also221. Dadurch gelingt in
(lebens-)praktischer Hinsicht eine größtmögliche Selbstbestimmung jedes einzel-
nen Menschen bei gleichzeitiger Ausrichtung auf die Gemeinschaftlichkeit des
menschlichen Daseins: soviel individuelle willkürliche Handlungsmaximenbe-
stimmung und -verfolgung wie möglich bei soviel Gemeinschaftsbezogenheit
wie nötig. Denn es ist in der Tat so, wie Kant es sieht, durch Handeln ist Unrecht
immer denkbar222, welchem aber durch die Bestimmungen des Soweit-Satzes in
Art. 2 Abs. 1 GG bestmöglich begegnet werden soll.
Ein Aspekt der republikanischen Freiheit ist der Vorrang der Privatheit der
Lebensbewältigung223 im Verhältnis zur staatlichen Aufgabenbewältigung, das
menschenrechtliche Subsidiaritätsprinzip224. Der Begriff der Privatheit ist der
Gegenbegriff zum Staatlichen, zum Allgemeinen, zum Öffentlichen. Die Grenz-
ziehung zwischen dem Staatlichen und dem Privaten ist allerdings variabel, dyna-
misch und damit politisch. Das Private ist das, was der Bürger allein bestimmt,
wenn es durch die allgemeinen Gesetze legalisiert ist225. Kant lehrt: „Die Frei-
heit als Mensch, deren Prinzip für die Konstruktion eines gemeinsamen Wesens
ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er
sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder
darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt,
wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die
delnden gebe, für ein wirksames Gesetz zu sorgen, bevor die Handlung vollzogen
werde, weil ohne allgemeines Gesetz die Handlung nicht legal sein könne.
221 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff.
222 „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich,
daß er ihm dadurch unrecht tue“, Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432.
223 Zum Vorrang privater Lebensbewältigung K. A. Schachtschneider, Res publica res
populi, S. 189, 386 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 158; ders., Freiheit
in der Republik, S. 449 ff.; BVerfGE 5, 85 (197).
224 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 346 ff.; ders., Prinzipien
des Rechtsstaates, S. 45 f.
225 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit 151
mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zu-
sammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut“ 226.
Die Nähe zu Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht zu übersehen. Das Streben nach dem
eigenen Glück ist eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins227. Dazu
zählt auch das Streben nach materiellen Gütern228. Weil aber Freiheit nur als
gleiche Freiheit aller gedacht werden kann, kann kein Mensch einem anderen das
Recht einräumen, glücklich zu sein229, sondern jeder besitzt dieses Recht schon
von vornherein, weil eben Freiheit ein angeborenes Recht ist230. Aus der Mensch-
heit des Menschen, aus seiner Freiheit, läßt sich der Grundsatz privater Lebens-
bewältigung herleiten231. Die Freiheit, auch im Streben nach Glück, ist also kein
(herrschaftlich wohlwollend) gewährtes Recht, sondern ein ursprüngliches. Jeder
hat das Recht, das eigene Glück zu suchen, nach eigenen Vorstellungen gut zu
leben, seine Interessen und Zwecke selbst zu bestimmen232. Das ist das angebo-
rene Recht der Freiheit als die äußere negative Freiheit, nämlich die „Unabhän-
gigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ 233. Daraus folgt zwingend, daß die
Bürger verpflichtet sind, sich im individuellen Streben nach Glück und dem eige-
nen guten Leben so wenig wie möglich gegenseitig zu stören234. Damit ist auch
die individuelle Willkür des Einzelnen dahin gehend begrenzt, daß Maßstab für
das Recht zur freien Willkür die allgemeinen Gesetze sind235, aber auch privat
gelebte Sittlichkeit236. Die Staatlichkeit ist unabdingbar mit der allgemeinen
Gesetzgebung verbunden, staatliche Aufgabenbereiche werden durch Gesetze be-
publik, S. 60 ff.
230 „Dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zuste-
S. 144 ff.
234 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 300 f.
235 „Diese allgemeine Gesetzgebung muß, um nicht nötigend, d.h. herrschaftlich zu
sein, Einigung aller über richtigen Maximen für das gute Leben sein“, K. A. Schacht-
schneider, Res publica res populi, S. 301; so auch ders., Freiheit in der Republik,
S. 78 ff.
236 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff.
152 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
stimmt. Zwar gibt es Aufgaben, die typisch staatlich bewältigt werden, aber keine
Aufgaben, die begrifflich und per se staatlich wären: die Bürgerschaft bestimmt,
welche Aufgaben die Allgemeinheit und welche der Einzelne, als das Besondere
und Private, erfüllt. Der Gemeinschaftsbezug des menschlichen Daseins beinhal-
tet natürlich auch ein gewisses Erfordernis an gemeinsamer Lebensbewältigung,
aber es sind Gesetze, die dem Staat die Aufgaben zuweisen. Dabei ist aus Grün-
den der individuellen (und durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten) Freiheit vom
Vorrang der privaten vor der staatlichen Aufgabenbewältigung auszugehen237,
damit nämlich die grundrechtsgeschützte Freiheit der freien Entfaltung der Per-
sönlichkeit nicht leerläuft. Das Privatheitsprinzip ist das judiziable menschen-
rechtliche Subsidiaritätsprinzip der Staatlichkeit, muß aber eine Grundlage im
Verfassungsgesetz oder in den Gesetzen haben, weil es nämlich die staatlichen
Gesetze sind, welche die private und die staatliche Lebensbewältigung vernünftig
verteilen. Dabei sind Aufgaben dem Staat so zweckbestimmt wie möglich, den
Privaten dagegen zweckoffen zu übertragen. Der Grundsatz der Privatheit der
Lebensbewältigung folgt formal aus der Gesetzlichkeit des Staatlichen, erfordert
aber subjektive Rechte der Privatheit238: die transzendentale Idee der Freiheit ist
in praktischer Hinsicht formal und wird durch die Gesetze verwirklicht. Art. 2
Abs. 1 GG gewährt das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Weil aber
die Freiheit formal ist, kann auch die Privatheit der Lebensbewältigung nur als
formaler Grundsatz239 gedacht werden, welcher durch die allgemeinen Gesetze,
aber auch durch die besonderen Grundrechte, näher materialisiert wird, die dann
allerdings subjektive Rechte der Bürger als Private begründen. Insofern enthält
Art. 2 Abs. 1 GG keine materialen subjektiven Rechte wie etwa eine allgemeine
Handlungsfreiheit240 oder gar ein unbenanntes Freiheitsrecht, auch wenn dies so
dogmatisiert wird241, etwa für die Wettbewerbsfreiheit242. Er enthält allerdings
das freiheitliche Menschenrecht auf Recht und größtmögliche Privatheit243, also
einen verfassungsrechtlich verankerten Anspruch etwa auf eine Eigentumsord-
nung, welche die Privatnützigkeit des Eigentums so weit wie irgend möglich ge-
237 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 198 ff.; ders., Der An-
S. 475.
240 Es gibt keine allgemeine Handlungsfreiheit, die material begriffen werden könnte
244 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 387; ders., Freiheit in der Re-
ziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 43, hält die „Preisfreiheit“ für ein „wesent-
liches Element der Vertragsfreiheit“. Die rechtliche Befugnis, daß die Vertragspartner
Preise aushandeln dürfen, steht aber dennoch unter dem Vorbehalt des Gesetzes wie
etwa das Beispiel der Preisbindung für Verlagserzeugnisse im Sinne des § 30 GWB
zeigt, dazu V. Emmerich, Kartellrecht, S. 108 f.; i. d. S. BVerfGE 10, 118 (121) st. Rspr.;
zur Buchpreisbindung etwa BGHZ 135, 74 (77).
249 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 500 ff.
250 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513 ff.; dazu B. Rebe, Privat-
251 Recht ist immer öffentlich, weil es allgemeine öffentliche Gesetze sind: „Der In-
begriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen recht-
lichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht“, Kant, Metaphysik der Sit-
ten, S. 429.
252 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 336.
253 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 338; ders., Freiheit in der Re-
sittlichen Freiheit des Menschen“, K. Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürger-
lichen Rechts, S. 81 ff.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit 155
Gesetzen gemäß sein und den guten Sitten entsprechen. Deshalb kann die Ver-
tragsfreiheit nicht grenzenlos gewährt werden und sollte dies auch nicht258.
Zur Vertragsfreiheit zählt schließlich auch, daß sich jeder Bürger seinen Ver-
tragspartner aussuchen darf. Folglich müssen es Menschen hinnehmen, wenn ihre
Vertragsangebote abgelehnt und ihre besonderen Interessen nicht berücksichtigt
werden. Gerade darauf beruht das Wettbewerbsprinzip des Marktes.
„Das Grundgesetz folgt Kant“ 259, das gilt insbesondere für Art. 2 Abs. 1
GG260. Die Persönlichkeitsentfaltung ist frei261: der einzelne Bürger hat das
Recht zur freien Willkür, bei der seine Maximenwahl durch die Gesetzestauglich-
keit seiner Handlungsmaximen bestimmt ist. Das erweist schon aus Erkenntnis-
gründen das Wort „frei“. Die sogenannte Schrankentrias des Soweit-Satzes von
Art. 2 Abs. 1 GG bindet den Einzelnen in die Gemeinschaft der Bürger ein: er ist
kein „isoliertes und selbstherrliches Individuum, sondern gemeinschaftsbezogene
und gemeinschaftsgebundene Person“ 262 und darf bei der Entfaltung seiner Per-
sönlichkeit, bei seinem Recht auf freie Willkür, nicht die Rechte anderer als
deren Recht auf freie Willkür verletzten, und auch nicht gegen die verfassungs-
mäßige Ordnung als Inbegriff der Gesetzlichkeit Deutschlands oder gegen das
Sittengesetz verstoßen263. Gleichwohl ist die Freiheit mit ihrer grundsätzlichen
Gesetzesabhängigkeit keine beschränkte, sondern eine uneingeschränkte264, weil
Freiheit in der Republik formal zu begreifen ist. Das gilt auch für Art. 2 Abs. 1
GG, weil dieses Recht kein materiales, sondern ein formales ist265. Die Privatheit
schneider, Res publica res populi, S. 334, darf jeder die Zwecke seines Handelns selbst
und allein bestimmen; ders., Freiheit in der Republik, S. 314 ff.
262 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 12, 45 (51); 30, 173 (193); 32, 98 (108); 33, 303 (334); 50,
mal. Der Rechtscharakter dieses Rechts der Freiheit ist identisch mit dem Prinzip der
Gesetzlichkeit des gemeinsamen Lebens; denn Freiheit ist Autonomie des Willens.
Diese Willensautonomie schließt logisch die Privatheit ein, soweit allgemeine Gesetze
diese ermöglichen und damit die Freiheit verwirklichen. Dieses Prinzip ist Ausdruck
der bürgerlichen Verfassung, die das Grundgesetz gibt. Es garantiert nicht nur Gesetze
156 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
als solche ist keine Entscheidung des Gesetzgebers, sie ist ein staatlich geschütz-
tes und begrenztes Recht zur privaten freien Willkür266. Aus Art. 2 Abs. 1 GG
leitet sich der Grundsatz und der Vorrang der privaten Lebensbewältigung ab267.
Das Recht zur Privatheit ist das Recht zur freien Willkür des Einzelnen, nämlich
daß die Maximen des Handelns durch den Einzelnen allein, also unabhängig von
allgemeiner staatlicher Bestimmung268, materialisiert werden dürfen. Gleichwohl
aber gibt es keine allgemeine Handlungsfreiheit, in dem Sinne, daß der Einzelne
nun tun und lassen könne, was er gerade will; denn die individuellen Handlungen
müssen den Rechts- und Tugendpflichten genügen269, um eben freie Handlungen
zu sein. Die grundsätzliche Möglichkeit, die Zwecke des eigenen Handelns selbst
und allein bestimmen und auch verfolgen zu dürfen, entbindet keinesfalls von der
Beachtung der Gesetze in der Privatsphäre270. Es gibt keinen Gegensatz zwischen
Freiheit und Recht271; denn die staatliche Gesetzlichkeit verwirklicht die gleiche
Freiheit aller272. Die Staatlichkeit der Republik dient der Verwirklichung der
Freiheit273, weil die Republik die Staatsform der Gesetzlichkeit ist274. Der
der Freiheit, sondern auch deren Verwirklichung als Schutz der Freiheit“, K. A. Schacht-
schneider, Res publica res populi, S. 357, dazu ders., Freiheit in der Republik, S. 297 ff.
266 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff., anders noch als Recht
setzgeber, eine Rechtsordnung zu gestalten, welche den Bürgern und Menschen die
größtmögliche Vielfalt der Persönlichkeitsentfaltung, der alleinbestimmten Wege zum
Glück, ermöglichen, wenn sie dadurch nur anderen nicht schaden, d.h., wenn ihr Leben,
ihr Handeln also, allgemeinverträglich bleibt“, K. A. Schachtschneider, Res publica res
populi, S. 387.
268 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 375; ders., Freiheit in der Re-
nachdem welche Zwecke die allgemeinen Gesetze verfolgen. Die subjektiven Rechte
der Privatheit können unterschiedlich materialisiert sein. Grundsätzlich sind die Rechte
der Privatheit aber subjektive Rechte des Menschen, sein Glück zu suchen, die nicht
zweckbestimmt und damit einer funktionalen Begrenzung nicht fähig sind. Diese
Rechte machen den Lebensbereich aus, der vielfach als ,Privatsphäre‘ oder auch ,Frei-
heitssphäre‘ dogmatisiert wird. Auch in diesem Bereich muß der Mensch vielfältige all-
gemeine Gesetze achten. Alles Handeln von Privaten ist nämlich staatlich und allge-
meine Gesetze und privat durch private Gesetze zugeich bestimmt“, K. A. Schacht-
schneider, Freiheit in der Republik, S. 458.
271 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 484, ders., Freiheit in der Repu-
blik, S. 194 ff.; i. d. S. bereits J. Locke, Über die Regierung, S. 19, 43.
272 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 84 ff., J. Isensee, Staat und Ver-
fassung, HStR, Bd. I, § 13, S. 640 ff., 660, Rdn. 174; H. Hofmann, Grundpflichten als
verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 ff., 69.
273 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Freiheit in der
Republik, S. 522 ff.; P Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Ge-
meinschaft, HStR, Bd. I, § 20, S. 845 ff., Rdn. 60 ff.
274 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 534 f.
IV. Das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit 157
Zweck des Staates ist damit das gute Leben aller und das Recht275, welches
durch rechtmäßige Gesetze materialisiert wird, wodurch die allgemeine Moralität
im Gemeinwesen gesichert wird, weil eben nur unter dieser Voraussetzung die
allgemeine Freiheit verwirklicht werden kann.
275 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 451, ders., Freiheit in der Repu-
Freiheit in der Republik, S. 355 ff.; i. d. S. auch J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehr-
recht und staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, § 111, S. 181 ff., Rdn. 77 ff.
278 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 444; ders., Freiheit in der Re-
publik, S. 355 ff.; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Nor-
men, Der Staat, 29 (1990) S. 49 ff., 65, 68.
279 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 465; ders., Freiheit in der Re-
die eigene Glückseligkeit des Menschen als seinen Naturzweck gesehen hat. In diesem
Sinne auch S. 575 und insbesondere S. 631 f., ders., Freiheit in der Republik, S. 465 ff.
281 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519; ders., Freiheit in der Re-
publik, S. 49 ff.
282 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 453.
283 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 219 ff., 470; ders., Staatsunter-
nehmen und Privatrecht, S. 184, weil der „Private nicht nur Privatrechts-, sondern auch
Staatsrechtssubjekt“ ist; ders., Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
158 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
des privaten Handelns einen Bezug zur Allgemeinheit haben, oder weil privates
Handeln auf der Grundlage staatlicher Gesetze vollzogen wird (wie etwa beim
Abschluß privater Verträge), oder weil die Gesetze den Vollzug bestimmter in-
dividueller Handlungsmaximen entweder vorschreiben oder untersagen. Es ist
schlechterdings eine Illusion, daß es einen Freiheitsraum geben könnte, der einer
gesetzlichen Reglementierung nicht zugänglich wäre284. Privatheit und staatliche
Gesetzlichkeit verwirklichen die allgemeine Freiheit in der Gleichheit. Die
Grenze zwischen dem, was für die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit an
Privatheit notwendig und ab wann das staatliche Gesetz erforderlich ist, ist eine
Grenze, die die Politik mit praktischer Vernunft, mit Sittlichkeit durch Moralität,
ziehen muß. Dabei sind aber durch den Gesetzgeber Verfassungsprinzipien zu
beachten, etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip285. Über den vernünftigen Ab-
gleich der subjektiven Dimension der Grundrechte, soweit sich also subjektive
Rechte aus den Grundrechten herleiten lassen, und der objektiven Dimension,
also auch die politisch Entscheidung darüber, ob und inwieweit Gesetze zur Ver-
wirklichung der Freiheit notwendig und zulässig sind, darüber „wachen die Hüter
der Verfassung, insbesondere die Verfassungsgerichte“ 286. Die Grundrechte sind
Leitentscheidungen der und für die Politik287. Sie sind Prinzipien288, sie sind
Rechte, die oft als Freiheiten bezeichnet werden, welche die formale Freiheit (als
Recht) in besonderer Weise verwirklichen289. Weil aber die Grundrechte Leitent-
284 Was etwa ein privater Grundstückseigentümer auf seinem Eigentum für Gebäude
errichten darf, ist den Reglementierungen des Baugesetzbuches unterworfen – trotz der
vermeintlichen „Eigentumsfreiheit“ des Art. 14 GG, und die Unverletzlichkeit der Woh-
nung aus Art. 13 GG steht dem Sexualstrafrecht nicht entgegen. Einen Freiheitsraum
der Bürger, der sich einer Reglementierung durch den Gesetzgeber entziehen könnte,
kann es nicht geben. Dies schon deshalb nicht, weil Freiheit eben keine räumliche Kate-
gorie ist, K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 466, insbesondere schon aus
Erkenntnisgründen nicht; zur herrschaftlichen Gewährung von Freiheitsräumen, ders.,
Freiheit in der Republik, S. 274 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19
Abs. 2 Grundgesetz, S. 145 f.
285 „In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
populi, S. 1034.
288 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 825 f.; J. Habermas, Faktizität
scheidungen sind, können sie material nicht abschließend bestimmt sein. Es be-
steht eine relative materiale Offenheit der Grundrechte290, relativ deshalb, weil
sie Leitentscheidungen für die Politik und damit für die Gesetzgebung sind und
damit grundsätzlich einer näheren materialen Bestimmung durch die Gesetze be-
dürfen. Andererseits binden sie den Gesetzgeber und stellen somit eine Grenze
bei der Gesetzgebungsbefugnis dar291. Dadurch bleibt der materiale Gehalt des
Rechts durch die Politik gestaltbar, das Recht ist flexibel, um auf die sich wan-
delnden Lebensverhältnisse in der Gemeinschaft der Bürger reagieren zu können,
ermöglicht also die Sachgerechtigkeit der Politik292. Andererseits bleibt die Poli-
tik der Freiheit verpflichtet und damit auch dem Vorrang der Privatheit der Le-
bensbewältigung der Bürger. Insofern kann es auch keinen Widerspruch zwischen
Recht und Politik geben293. Die Grundrechte als liberalistische Abwehrrechte
gegen den Staat als Gemeinschaft der Bürger zu qualifizieren, ist nach republi-
kanischer Rechtsdogmatik verfehlt, schon deshalb, weil es nach ihr keine libe-
ralistische Trennung von Staat und Gesellschaft gibt294. Allerdings schützen die
Grundrechte vor Fehl- und Mißbrauch staatlicher Kompetenzen.
290 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 823 ff., zu den besonderen
gemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, § 124, S. 943 ff., Rdn. 235 ff.
293 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 926 ff.
294 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 395 ff.
295 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253 ff., 440; ders.,
Res publica res populi, S. 211 ff., 370 ff.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freibe-
ruflichen Selbstverwaltung; Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff.
296 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253 ff., 261 ff.,
275 ff.; ders., Res publica res populi, S. 211 ff., 259 ff.; ders., Grundgesetzliche
Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung; Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff.
297 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 235 ff., 261 ff.,
440; ders., Res publica res populi, S. 519 ff.; ders., Grundgesetzliche Aspekte der frei-
beruflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung 31 (1998), S. 140 ff.
160 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
298 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, Das Rechtsgeschäft,
men und Privatrecht, S. 5 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung,
S. 184 ff., so aber BVerfGE 27, 364 (374 f.); BVerwGE 7, 180 (181 f.); 38, 281
(283 f.); 39, 364 (374); 89, 329 (377).
301 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 181, 260 ff.,
288 ff.
302 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 465 ff.
303 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 449 ff.
304 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 22 f., 41, 256, 262;
ders., Res publica res populi, S. 184, 202, 451 f., 473.
305 Die Abgrenzung, was öffentlich ist und was nicht, ist lagebedingt zu beurteilen.
Ein großes multinational tätiges deutsches Unternehmen ist sicher für Deutschland von
öffentlichem Interesse. Dies kann aber in einer Gemeinde auch ein weitaus kleineres
Unternehmen sein, wenn es in dieser etwa der größte Arbeitgeber ist. Die Versorgung
der Bevölkerung mit Gütern und Leistungen ist von herausragendem öffentlichem Inter-
esse und stellt eine öffentliche Aufgabe dar. Das bedeutet nun aber keinesfalls, daß der
Staat die Verteilung zu übernehmen hätte, solange dies durch Private am Markt befriedi-
gend erfolgt.
V. Das Eigentum 161
keit des Eigenen, denn eigen verweist stets auf das Individuelle, K. A. Schachtschneider,
Res publica res populi, S. 1025.
310 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 849.
311 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 35 ff.
312 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 11.
313 Dagegen richtig K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigen-
tum, FS W. Leisner, S. 744, für den Eigentum in seiner Materialität gerade nicht die
Freiheit ist.
162 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
zu übersehen314. Der hatte die Freiheit, die das bürgerliche Recht im Eigentum
setzt, als Dasein (Existenz) der Freiheit in allen Stufen ihrer Verwirklichung be-
griffen315. Eigentum wäre demnach verdinglichte Freiheit, wenn der freie Wille
314 So auch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS
W. Leisner, S. 770.
315 J. Ritter, Person und Eigentum, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie
sich auf Sachen bezöge. Das Grundgesetz hingegen folgt Kant, nicht Hegel, was
gerade bei der Eigentumsfrage deutlich wird. Eigentum ist in erster Konsequenz
eine Rechtsfrage316, und weil Recht originär eine Frage der Freiheit als Autono-
mie des Willens ist, ist das Eigentum nur mittelbar und in zweiter Konsequenz
eine Frage der Freiheit. Das Eigentum vergegenständlicht nicht die Freiheit; denn
die Freiheit selbst ist formal317. Nicht die (formale) Freiheit, sondern erst die all-
gemeinen staatlichen Gesetze ermöglichen Eigentum318. Nur die „Eigentums-
ordnung ist kraft der allgemeinen Gesetze der Freiheit gleich, nicht aber das
Eigentum, das von Möglichkeiten abhängt. Wäre Eigentum Freiheit, so wäre die
Freiheit ungleich verteilt“ 319. Dieses Argument überzeugt. Nur das Recht schafft
die Eigentumsordnung320, nach der bestimmt werden kann, woran der Einzelne
überhaupt Eigentum haben und erwerben kann321; denn, weil „ein absoluter Ei-
gentumsbegriff fehlt, ist die Regelungsbefugnis bei der gesetzlichen Inhalts- und
Schrankenbefugnis nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG notwendig und auch verfas-
sungsgemäß“ 322. Wäre das Recht nicht die Voraussetzung des Eigentums, so
zwingend die Besitzergreifung: „Sich zueignen heißt im Grunde somit nur die Hoheit
meines Willens gegen die Sache manifestieren und aufweisen, daß diese nicht an und
für sich, nicht Selbstzweck ist“, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 114 f.
316 Empirisch vorgefundene Besitzverhältnisse stellen keine Vernunftbegründung für
die Verteilung des Eigentums dar, schon deshalb nicht, weil sie keine Vernunftbegrün-
dung des Rechts in der Republik sind. Natürlich kann historisch nicht übersehen wer-
den, daß die Klasse der Besitzenden vielfach in der Lage gewesen ist, ihre Besitz- und
Eigentumsinteressen durch Macht, Gewalt und Zwang über eine oktroyierte Ordnung
herrschaftlich durchzusetzen. Das ist aber freiheitswidrig und damit antirepublikanisch.
Kants Paradigma könnte man so formulieren: erst kommt das Recht, und dann das Ei-
gentum, nicht umgekehrt.
317 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leis-
ner, S. 744.
318 Nur das Recht sichert jedem das Seine, damit ist auch die Wirklichkeit des Eigen-
tums Zweck des Staates, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf
Eigentum, FS W. Leisner, S. 751; dazu auch W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 7 ff.,
S. 19 f.
319 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 511. Erst die Eigentumsord-
nung klärt die Verteilungsfrage, dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das
Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 755.
320 Aus der Allgemeinheit der Freiheit folgt logisch ein Recht auf Recht, K. A.
Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 753.
Im Hinblick auf das Eigentum bedeutet dies, daß es zumindest ein Recht auf eine
Eigentumsordnung geben muß. Dazu zählt dann eben auch der Schutz des Eigen-
tums, weil ohne diesen das Eigene nicht gesichert sein kann, wie es eben das Privat-
nützigkeitsprinzip erfordert. Erst der Schutz des Eigenen macht Eigenes zu Eigentum,
S. 754.
321 Nur das den Gesetzen gemäß Erworbene kann gerechtes Eigentum sein, welches
könnte es auch keine befriedende Funktion323 im Hinblick auf die Frage der Ei-
gentumsverteilung haben, der Krieg aller gegen alle324 wäre die Folge. Auch die
Wirklichkeit des Eigentums ist Zweck des Staates325. Das aus Gründen der Men-
schenwürde normative Leitbild besteht darin, daß der Mensch eine eigenverant-
wortlich, zur selbstbestimmten Lebensführung berechtigte (und gleichzeitig tu-
gendlich verpflichtete) Person ist. Materielle Ressourcen dienen nicht nur der
Existenzsicherung, sondern sind freiheitliche Voraussetzungen der Selbständig-
keit, sind Voraussetzungen „von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Exi-
stenz“ 326. Das Eigene ist personal, das Seine gehört zur Persönlichkeit des Men-
schen, welche er nach Art. 2 Abs. 1 GG frei entfalten darf327.
Daß es Eigentum geben muß, es also grundsätzlich möglich sein muß, einen
äußeren Gegenstand als den seinen zu betrachten, ist eine logische Denknotwen-
digkeit, die sich aus der (Idee der) Freiheit ableitet. Das Rechtsinstitut des Eigen-
tums folgt unmittelbar der Logik vom Recht überhaupt: jeder hat die Möglich-
keit, sich einen beliebigen Gegenstand seiner Willkür als den Seinen zu denken,
und diese Möglichkeit als intelligibler Besitz begründet ein Recht auf Recht, ein
Recht auf eine bürgerliche Verfassung328 und damit auch wesentlich ein Recht
auf eine gesetzliche Eigentumsordnung329. Ohne diese Möglichkeit, etwas als
das Seine zu haben, wäre Recht nicht denkbar. Die Ermangelung einer Rechtsbe-
fugnis zum Gebrauch von Gegenständen der eigenen Willkür wäre darüber hin-
aus auch ein Widerspruch mit der Freiheit330, so aber ist der Gebrauch dieser
323 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 8 f.; ders., Prinzipien des
Rechtsstaates, S. 70 f.
324 Th. Hobbes, Leviathan, I, 14, II, 17, 18; dazu K. A. Schachtschneider, Das Recht
ner, S. 745.
328 Zur Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als Recht auf Recht K. A. Schachtschneider,
folgert Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366, die Erlaubnis des einzelnen Menschen,
„jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt zu-
kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten“ . . .
„worin jenes (sic. das äußere Mein und Dein) gesichert werden kann“; dazu K. A.
Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 44 ff.; ders., Res publica res populi,
S. 209 f.; dazu auch W. Kersting, Kant über Recht, S. 51 ff., 107 ff.
330 Für die Eigentumsverhältnisse ist es wesentlich, wer Eigentümer ist, weil die Ei-
gentümerposition die Möglichkeiten der Eigentumsnutzung bestimmt, die für jeden je-
V. Das Eigentum 165
Gegenstände nur nach der Maßgabe der allgemeinen Gesetze freiheitlich mög-
lich. Durch das allgemeine Gesetz wird anderen eine Verbindlichkeit auferlegt,
sich des Gebrauchs dieser Gegenstände zu enthalten, weil sonst die Freiheit als
Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür lädiert würde: „Der äu-
ßere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemandem ist, ist des-
sen Eigentum (dominium), welchem alle Rechte in dieser Sache (. . .) inhärieren,
über welche der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann“. Eigentum
ist damit das Recht der uneingeschränkten Sachherrschaft, d.h. der Geltendma-
chung aller Rechte gegenüber Dritten, die der Sache inhärieren. Welche materia-
len Rechte dies nun sind, muß sich zwar aus dem Gesetz ergeben, dies aber kann
nicht losgelöst von der Natur der Sache sein. Es kommt also darauf an, um wel-
che Objekte es sich handelt. Eigentum ist eine Rechtsposition, welche dem Ei-
gentümer zusteht, als solche aber auch eine intelligible Besitzposition, durch die
sich der Eigentümer mit den Gegenständen seiner Willkür als das Seine verbun-
den fühlt. Dieses ist sein rechtliches Eigentum, weil es nämlich andere von deren
Einwirkungsmöglichkeiten rechtlich ausschließt. Damit ist Eigentum stets nur als
Eigentum Privater denkbar331. Es ist zum einen ein Rechtsinstitut, weil es die
Rechte aus den Gegenständen der Willkür zuordnet. Es ist zum zweiten aber
auch das subjektive Recht auf Eigentum332. Beides zusammen ist der Gehalt der
Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Eigentum setzt Recht vor-
aus333, weil ohne staatlichen Rechtsschutz Eigentum aufhört, eben Eigentum als
staatlich geschütztes Eigenes zu sein. Das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte
Recht ist das Eigentum Privater, das es wegen der „lex permissiva der rein prakti-
schen Vernunft“ und dem daraus abgeleiteten intelligiblen Besitz im Rechtsstaat
zwingend geben muß. Eigentum wird also nicht herrschaftlich vom Staat ge-
währt, sondern das Rechtsinstitut der Eigentumsgewährleistung ist ein Rechtssatz
a priori334. Weil aber Eigentum durch Art. 14 GG ein positives juridisches Recht
ist, ist es durch die allgemeinen Gesetze gestaltbar: das Gesetz bestimmt die Ei-
gentumsordnung, also welche Rechte der Sache inhärieren und zudem, wie das
Eigentum erworben oder veräußert werden kann. Art. 14 Abs. 1 GG folgt nach
weiligen Eigentümer unterschiedlich sind; das ist Ausfluß der Personalität des Eigen-
tums, dazu näher K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum,
FS W. Leisner, S. 747.
331 Dem steht natürlich eine Sachherrschaft des Staates grundsätzlich nicht entgegen,
nur ist sie nicht als Eigentum zu werten. Staatseigentum, verstanden als Sachherrschaft
des Staates fällt jedenfalls nicht unter die Eigentumsgewährleistung des Art.14 GG,
dazu K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 278.
332 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 527 ff.
333 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
Mein und Dein der Bürger, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf
Eigentum, FS W. Leisner, S. 767.
166 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
alledem Kant: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und
Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“.
3. Republikanische Eigentumsbegründung
in der Staatsrechtsliteratur
335 „Zwischen der Garantie des Privateigentums und den grundrechtlichen Gewähr-
leistungen der persönlichen Freiheit bestehen enge Zusammenhänge“, H.-J. Papier, in:
Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 1.
336 BVerfGE 105, 17 (31).
337 BVerfGE 24, 367 (389). Dazu H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz,
Deutschland, Art. 14, Rdn. 48. Insofern ist es terminologisch verfehlt, von einer Eigen-
tumsfreiheit zu sprechen im Sinne eines Abwehrrechts gegenüber dem Staat.
339 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 2. Die Eigentumsga-
rantie ist kein Recht auf Eigentum, „auf Verschaffung oder Bereitstellung vermögens-
werter Rechte für den Einzelnen. Sie gibt keinen Anspruch auf staatliche Verschaffung
von Rechten, z. B. auf Subventionen, selbst wenn sie zur Existenzsicherung erforderlich
wären“; P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 342.
V. Das Eigentum 167
351 Dann natürlich mit funktional gesetzgebender Funktion: „Mit dem Begriff Eigen-
tum delegiert das Grundgesetz mittels der Wesensgehaltsgarantie des Art.19 Abs. 2 GG
die Entscheidung über die den legislativen Gesetzgeber bindende Eigentumsverfassung
des Grundgesetzes wesentlich dem Bundesverfassungsgericht, diesem in besonderer
Weise der Politik und damit richtiger Gesetzgebung verpflichteten Gericht“, K. A.
Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1024.
352 Mit weiteren Nachweisen H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland, Art. 14, Rdn. 33. Dabei ist aber festzuhalten, daß das
Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung zu Recht bestimmt hat, daß
Art. 14 GG nicht das Privateigentum, sondern das „Eigentum Privater“ schütze,
BVerfGE 61, 82 (108 f.). Diese Differenzierung ist deshalb von Bedeutung, weil damit
klar gestellt wird, daß staatliches Eigentum im Grunde genommen ein Widerspruch in
sich darstellt und folglich keinen Grundrechtsschutz genießt, K. A. Schachtschneider,
Res publica res populi, S. 1025; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 277 ff.,
insbes. S. 278.
353 P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 342; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und
ner, S. 748 f.
357 Dazu H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 8.
358 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
„Zum Kernbestand der Rechtsnormen, die Art. 14 Abs. 1 zur Sicherung des Instituts
,Privateigentum‘ gewährleistet, gehört grundsätzlich die Veräußerungsfreiheit des
Eigentümers“, so H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 14, wobei
man besser nicht von „Veräußerungsfreiheit“ sprechen sollte, sondern richtigerweise
vom Recht zur beliebigen Veräußerung. Ungeachtet dieser terminologischen Kritik
kennzeichnet die Veräußerungsmöglichkeit jedenfalls die Eigentümerposition, das hat-
ten bereits Hegel und Kant so gesehen.
V. Das Eigentum 169
chung des Stimmrechts im Staat ist es Voraussetzung360, daß er sein eigener Herr
sei, „mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder
schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i.
daß er, in den Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch
Veräußerung dessen, was sein ist erwerbe“. Kunst, Handwerk, schöne Kunst und
Wissenschaft zählen zum Eigentum, wobei wichtig ist, daß Kant damit das dar-
aus resultierende Werk im Auge hat361, Eigentum ist alles selbst erschaffene, ein
Kunstwerk, eine Erfindung, eine wissenschaftliche Erkenntnis, ein selbst gefer-
tigtes Produkt, eine handwerkliche Leistung etc. In dieselbe Richtung argumen-
tiert Hegel. Zu den näheren Bestimmungen des Eigentums zählen u. a. das Recht
zur Besitznahme und die Veräußerbarkeit362. Das, was nach Kant und Hegel Ei-
gentum darstellt oder wie Eigentum anzusehen ist, sofern es veräußerbar ist, fällt
nach der herrschenden Lehrmeinung unter den Eigentumsschutz des Art. 14
Abs. 1 GG, soweit es sich dabei um in der Regel in Geldgrößen bewertbare
Rechtspositionen, als Vermögen handelt: das vermögenswerte Ergebnis eigener
schöpferischer Leistung, patentfähige Erfindungen, Warenzeichen als Vermö-
gensrechte363, aber auch in weitem Umfange das, was zum Recht am eingerich-
teten und ausgeübten Gewerbebetrieb gehört364, wie auch sonstige Rechte wie
Materialgüterrechte, Forderungen, Renten und Aktien, Anteilseigentum und das
Eigentum der Unternehmensträger365. Das kann hier im Detail nicht weiter ver-
tieft werden. Festzuhalten ist aber, daß es sich beim grundgesetzlich geschützten
Eigentum um vermögenswerte Rechtspositionen handelt366, die grundsätzlich
auch den Gesetzen gemäß367 veräußerbar sind. Jedenfalls sind Veräußerungsver-
360 Vgl. zum Zusammenhang von Eigentum und Wahlrecht H. Rittstieg, Alternativ-
deren bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre“, Kant, Über den Gemeinspruch,
S. 151.
362 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 117 f. „Meines Eigen-
tums kann ich mich entäußern, da es das meinige nur ist, insofern ich meinen Willen
darein lege, – so daß ich meine Sache überhaupt von mir als herrenlos lasse (derelin-
quire) oder sie dem Willen eines anderen zum Besitzen überlasse“, S. 140. Auch
„Kenntnisse, Wissenschaften Talente usf.“ sind veräußerbar, „wodurch sie unter die Be-
stimmung von Sachen gesetzt werden“, S. 104. „Von meinen besonderen, körperlichen
und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Tätigkeit kann ich einzelnen
Produktionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem anderen ver-
äußern“, S. 144.
363 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 187 ff.
364 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 96 ff.
365 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14, Rdn. 15 f.
366 So auch P. Badura, Eigentum, HVerfR, S. 329.
367 Folglich fällt nicht das irgendwie in den Besitz gekommene Mein und Dein unter
die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG, sondern nur das den Gesetzen ge-
mäß erworbene, K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS
Walter Leisner, S. 765.
170 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
bote nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig, und auch nur dann, wenn sie
durch Gemeinwohlbelange gerechtfertigt sind, „denen im Verhältnis zur Eigen-
tumsgewährleistung eindeutig der Vorrang gebührt, und sich außerdem strikt am
Übermaßverbot orientieren“ 368. Wesentliches Kriterium des Eigentums bleibt da-
mit die Veräußerbarkeit. Art. 14 GG schützt neben Eigentumsbestand, Eigentums-
gebrauch- und -nutzungsmöglichkeit auch den Eigentumswert als Tauschwert369,
weil nämlich die Veräußerbarkeit einen grundsätzlichen Tauschwert des Eigen-
tums voraussetzt. Dem steht nicht entgegen, daß die Eigentumsgewährleistung
das Erworbene schützt, weil nämlich die Veräußerungsmöglichkeit grundsätzlich
seine Erwerbsmöglichkeit mit einschließt, Erwerb und Veräußerung in einem in-
neren sachlogischen Zusammenhang stehen370.
Wichtig ist die Sichtweise, daß die Gewährleistung des Eigentums eine Aus-
prägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1
GG darstellt371, in der hier vorgestellten Ausformulierung als Recht zur freien
Willkür. „Zum Bereich des persönlichen Eigentums gehören allerdings über kör-
perliche Gegenstände hinaus auch Forderungen und sonstige vermögenswerte
Rechte, soweit sie der persönlichen Lebensgestaltung und Lebensvorsorge sowie
der eigenen Arbeit dienen“ 372. Damit steht das Eigentum in engstem Verhältnis
zum Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung, wie er in Art. 2 Abs. 1 GG
verankert ist, weil sonst die Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2
GG im Grunde sinnlos wäre373. Weil der Einzelne wirtschaften muß, um zu le-
ben, gehören damit auch Produktionsmittel und Unternehmen zum grundgesetz-
lich geschützten Eigentum374. Der Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG be-
zieht sich zunächst einmal auf die oft so bezeichnete Garantie des Eigentums
Privater375. Eigentum ist also ein Recht zur Privatheit als Recht zur freien Will-
kür. § 903 BGB zeigt das“ 376. Eigentum ermöglicht Selbständigkeit und Persona-
lität in der Privatheit377.
368 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 14.
369 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14, Rdn. 8.
370 Insofern ist es nicht nachvollziehbar, wieso das Bundesverfassungsgericht aus-
führt: „Art. 14 Abs. 1 GG schütze das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung („das
Ergebnis geleisteter Arbeit“), Art. 12 Abs. 1 GG dagegen den Erwerb, die Betätigung
selbst“, BVerfGE 30, 292 (344 f.).
371 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 14, Rdn. 14.
372 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
land, Art. 14, Rdn. 75; so auch K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf
Eigentum, FS W. Leisner, S. 748 f., 753.
373 In diese Richtung argumentiert K. A. Schachtschneider, Res publica res populi,
S. 387.
374 H. Rittstieg, Alternativkommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch-
Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit 171
Freiheit ist ein angeborenes Recht, welches jedem Menschen qua seiner
Menschheit zugesprochen werden muß. Demnach sind alle Menschen in ihrer
Freiheit gleich. „Die Ungleichheit kann nicht angeboren sein, sonst wäre der
Mangel an Freiheit angeboren“ 379. Um in praktischer Hinsicht frei sein zu kön-
nen, bedarf es aber des Eigentums. Dadurch liegt der Schluß nahe, daß die
Gleichheit der Freiheit auch die materiale Gleichheit der Verteilung des Eigen-
tums rechtfertige. Auf der anderen Seite bedeutet Freiheit aber auch, daß jeder-
mann seine Persönlichkeit frei entfalten darf (Art. 2 Abs. 1 GG), und demnach
selbst und allein bestimmt, worin sein Glück besteht und damit auch, wie viel
Besitz und Eigentum nach seinen Vorstellungen dafür erforderlich sind. Die
Frage nach der Verteilung des Eigentums veranschaulicht das in der Staatsrechts-
literatur gern dogmatisierte Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleich-
heit380: „Zwischen Freiheit und Gleichheit besteht ein inneres Spannungsverhält-
nis. Je mehr Gleichheit verwirklicht wird, um so fragwürdiger wird die Freiheit.
Und je mehr Freiheit gesichert ist, um so problematischer wird die Gleich-
heit“ 381. Auch das Bundesverfassungsgericht folgt dieser Dogmatik: „Die frei-
heitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen
nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“ – § 903 S. 1
BGB.
377 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leis-
ner, S. 769.
378 L. Raiser, Wirtschaftsverfassung als Rechtsproblem, FS J. Gierke, 1950, S. 121.
379 Kant, Opus postumum, Akademieausgabe, Bd. 21, S. 462; zur Ungleichheit der
Menschen im Hinblick auf das allgemeine Menschrecht, der Freiheit nämlich, hat „die
Natur den Menschen gewiß nicht bestimmt“, ders., Idee zu einer Geschichte in weltbür-
gerlicher Absicht, Anm. S. 95.
380 Dazu mit ausführlichen Nachweisen K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Repu-
könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Span-
nungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksam-
keit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern“ 382.
Ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit gibt es nicht383.
Statt dessen liegt die angeborene Gleichheit „schon im Prinzip der angeborenen
Freiheit“ begründet384. Die Forderung nach Gleichheit geht aus der vorgängigen
Ordnung der Freiheit hervor385. Das beinhaltet die Formel von der Gleichheit in
der Freiheit386. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit erfolgt in einer Gemein-
schaft von Menschen mit der gleichen Freiheit387.
Jeder Mensch ist einzigartig. Und diese Einzigartigkeit ist es, die seine Per-
sönlichkeit ausmacht und in der sich jeder Mensch von allen anderen Menschen
dieser Welt unterscheidet. Vor dem Hintergrund dieser empirischen Erkenntnis
erscheint es geradezu absurd, die Frage der Gleichheit überhaupt zu stellen, ge-
schweige denn sie zu einem Verfassungsprinzip machen zu wollen. Das ist über-
haupt nur denkbar, wenn, erstens, Gleichheit nicht materiale Unterschiedslosig-
keit bedeutet388. Das erfordert angesichts der Einzigartigkeit jedes Menschen
und der Heterogenität der Lebenswirklichkeit, zweitens, einen Maßstab, anhand
dessen die Gleichheit oder die Ungleichheit festgestellt werden kann.
Die Gleichheit kann demnach nicht material, sondern, wie die Freiheit auch,
nur formal begriffen werden. Gleichheit ist also eine Frage des (vernünftigen)
Beurteilungskriteriums, welches freiheitsverwirklichend für alle Bürger im Staat
nur durch den Gesetzgeber festgelegt werden kann. Es gibt also keine Gleichheit
ohne Recht389, sondern die Gleichheit in der Freiheit wird, wie die Freiheit auch,
„Freiheits-Gleichheit“.
387 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff.
388 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 132. Sonst wäre etwa eine
durch das Gesetz verwirklicht: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ –
Art. 3 Abs. 1 GG. Republikanisch verwirklicht sich die Gleichheit also im Ge-
setzlichkeitsprinzip, weil das Gesetz allgemein sein muß, um ein Gesetz aller in
der Republik zu sein. Diese Rechtsetzungsgleichheit ist die Logik der Gleichheit
in der Freiheit. Diese formale Gesetzgebungsgleichheit verpflichtet den Gesetz-
geber allerdings nicht, gleichheitliche Gesetze zu geben, sondern er darf und
muß Unterschiede machen, welche sich aber sachlich rechtfertigen lassen müs-
sen. Jedes Gesetz muß, wie jede Politik, sachlich, vernünftig und willkürfrei sein.
Die Gesetzgebungsgleichheit ist das Willkürverbot: „Der Gleichheitssatz ist ver-
letzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder
sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder
Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkür-
lich bezeichnet werden muß“ 390. Dieses Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG hat
das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung zum Begründbar-
keitsgebot umformuliert: „Die Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor
dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem
dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen
Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ 391. Differenzierungen des Gesetz-
gebers sind durch Begründungen zu rechtfertigen. Das ergibt sich aus dem
Sachlichkeitsprinzip. Demnach sind gesetzlich vorgeschriebene Ungleichbehand-
lungen, wenn sie sachlich begründet und gerechtfertigt sind, gleichheitlich. Bei
der Wahl des Maßstabes oder Beurteilungskriteriums, welches das allgemeine
Gesetz bestimmt, ist der Gesetzgeber im Rahmen seines „Beurteilungs- und Ge-
staltungsermessens“ allerdings weitgehend frei392. Die Gleichheit ist damit auf
die Moralität der Abgeordneten als Gesetzgeber verwiesen393, welche das sitt-
liche Gesetz hervor zu bringen haben, welches für alle Bürger leb- und zumut-
bar sein muß. Gleichheit in der Republik bedeutet dann einen fairen und sach-
lich begründeten Interessenausgleich in der Gemeinschaft der Bürger, im Staat394.
Soziale Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit bedeutet „größt-
mögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Ge-
rechtigkeit für Alle“ 395.
390 BVerfGE 1, 14 (52); vgl. auch BVerfGE 33, 367 (384); 54 11 (25 f.); 102, 254
(299, 302).
391 BVerfGE 55, 72 (88); so etwa auch BVerfGE 58, 369 (374); 60, 329 (346); 70,
Wolfgang Kersting hat die These vertreten, dem Sozialstaat liege ein „duales
Schema“ von Staat und Markt zugrunde396. Allerdings stehen Staat und Markt
nicht in einem dichotomen Verhältnis zueinander. Einerseits ist es richtig, daß
staatliche Institutionen selbst Anbieter von öffentlichen Gütern sind. Anderer-
seits bezieht ein Sozialhilfeempfänger seine Güter eben auch über den Markt,
wobei die dafür erforderlichen finanziellen Mittel von staatlichen Stellen zur
Verfügung gestellt werden. Eine trennscharfe Unterscheidung, ob staatlich oder
marktlich verteilt wird, ist mit diesem dualen Schema demnach nicht möglich
und greift dann auch bei der Beantwortung der Frage nach der praktisch vernünf-
tigen und gerechten Verteilung zu kurz. Dafür erscheint es geboten, zusätzlich
drei unterscheidbare Verteilungsprinzipien heran zu ziehen: das Bedarfsprinzip,
das Leistungsprinzip397 und das Wettbewerbsprinzip398. Die Sicherung des wirt-
schaftlichen Existenzminimums der Bürger399 hat staatlich nach dem Bedarfs-
prinzip zu erfolgen400. Die Verteilung nach dem Wettbewerbsprinzip erfolgt aus-
schließlich nach dem rationalen Mechanismus von Angebot und Nachfrage von
Gütern und Dienstleistungen am Markt401 und fragt nicht nach dem existenziel-
len Minimum und auch nicht nach der sozialen Gerechtigkeit des Verteilungs-
ergebnisses: der Markt ist kein „Gerechtigkeitsgarant“ 402. Beim Leistungsprinzip
erfolgt die Verteilung äquivalent zur erbrachten Leistung, etwa der Arbeitslei-
stung eines Menschen. Das Problem des Leistungsprinzips ist, daß ein Bewer-
tungsmaßstab erforderlich ist, mit dessen Hilfe die Leistung ökonomisch gemes-
sen werden kann. Dieser Bewertungsmaßstab kann nun einerseits das Ergebnis
des Preismechanismus des Marktes sein, er kann auch administrativ auf der
Grundlage staatlicher Gesetze festgelegt werden403. Der Markt ist nicht allein
S. 586 ff.
399 „Egalitär ist das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wo es vor-
handen ist, darf es nicht angetastet werden. Wo es fehlt, ist es zu schaffen, auch wenn
dadurch Güterumverteilungsvorgänge erforderlich sind“, G. Dürig, in: Maunz/Dürig,
Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 69.
400 Zur Sicherung des materiellen Existenzminimums W. Kersting, Kritik der Gleich-
heit, S. 44 f.; K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS
W. Leisner, S. 767 f.; zum Bedarfsprinzip bei der Sozialhilfe, ders., Freiheit in der Re-
publik, S. 544 ff.
401 Das Marktprinzip und das Wettbewerbsprinzip sind keine identischen Prinzipien.
Zwar setzt Wettbewerb stets den Markt voraus, umgekehrt bedeutet Marktlichkeit nicht
notwendigerweise Wettbewerb, weil etwa ein Monopolist seine Güter und Leistungen
auch über den Markt absetzt.
402 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 51.
403 So etwa durch das gemeinsame Preissystem im Rahmen der gemeinsamen
Agrarpolitik der Europäischen Union, dazu Th. Oppermann, Europarecht, § 21, S. 445,
VI. Die Verteilung des Eigentums als Frage der Gleichheit 175
legitimiert, den Wert der Leistung zu bestimmen404. Welches der genannten Kri-
terien zum Tragen kommen soll, läßt sich generell nicht entscheiden: „Die Frage
gerechter Verteilungskriterien für materiale Güter gehört zu den dunkelsten Zo-
nen des moralischen Bewußtseins“. Dem Sozialstaat ermangelt bis heute einer
verbindlichen normativen Hintergrundtheorie405. Daraus kann man aber dennoch
einen Schluß ziehen: jedes der genannten Verteilungskriterien hat für sich ge-
sehen seine vernünftige Berechtigung, und keines kann gegen die übrigen aus-
gespielt werden. Die Entscheidung darüber, welches der Kriterien in welchem
Umfang zum Tragen kommt, ist in der Republik Sache des moralischen Gesetz-
gebers als Ergebnis vernünftiger und sachgerechter Politik: „Der Sozialstaat ist
konsequent ausgeübte Rechtslehre“ 406. Damit steht aber auch das Markt- und
Wettbewerbsprinzip grundsätzlich zur Disposition des Gesetzgebers, obwohl dies
mitunter nicht den Anschein hat, wenn etwa Art. 4 Abs. 1 EGV/Art. 119 Abs. 1
und 2 AEUV die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft
auf den Grundsatz „einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb ver-
pflichtet“. Wenn es wahr ist, daß die Privatheit der Lebensbewältigung Markt-
und Wettbewerblichkeit im Lebensbereich der Wirtschaft bedeutet, so folgt dar-
aus, daß der verfassungsrechtlich geforderte Vorrang dieser Privatheit auch einen
Vorrang des Markt- und Wettbewerbsprinzips umfasst. Damit kann das Markt-
und Wettbewerbsprinzip nur insoweit gerechtfertigt werden, wie das Privatheits-
prinzip gerechtfertigt ist: der empirisch schwer zu leugnende Effekt, daß Markt
und Wettbewerb eine effizientere Alloziierung volkswirtschaftlicher Ressourcen
bewirkt, ist für sich gesehen normativ ohne Bedeutung; denn dies hieße, vom
Sein auf das Sollen zu schließen, eine nach Kants Erkenntnislehre logisch un-
mögliche geistige Operation, welche auch seine Rechtslehre nicht erlaubt407.
Und die Rechtfertigung des Markt- und Wettbewerbsprinzips aus dem Privat-
heitsprinzip heraus gilt auch nicht ohne Einschränkung. Die wettbewerbliche
Verteilung über den Markt ist nur zu rechtfertigen, wenn der Wettbewerb sittlich
ner, S. 777.
405 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 23 f.
406 W. Kersting, Kritik der Gleichheit, S. 45.
407 „Denn in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der
Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider) die
Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun
soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan
wird“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 325; L. W. Beck, „Kants Kritik der prakti-
schen Vernunft“, S. 77, 112, 153; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privat-
recht, S. 101; ders., Freiheit in der Republik, S. 34 ff.
176 2. Kap.: Republikanische Freiheit unter dem Grundgesetz Deutschlands
ist408. Dies sollen die Wettbewerbsgesetze leisten. Zweitens müssen die Unter-
schiede in der Verteilung wegen der angeborenen Gleichheit in der Freiheit be-
gründbar sein. Als Kriterium dafür kommt die Leistung des Einzelnen in Be-
tracht, welche sich formal als Erfüllung der Pflichten gegenüber der Gemein-
schaft der Bürger definieren läßt409. Das Leistungsprinzip rechtfertigt es nicht,
daß arm und reich übermäßig auseinanderklaffen410. Jedenfalls ist das dezentrale
wettbewerbliche Marktsystem weder ein Heiligtum noch ein etwa aus Gründen
der Globalisierung der bürgerlichen Gemeinschaft exogen aufgedrungenes Prin-
zip. Um der Gerechtigkeit und der Freiheit willen müssen „Ressourcen der Ver-
teilungshoheit des Marktes entzogen und in die Verteilungszuständigkeit des
Staates übergehen“ 411; denn es ist eine Staatsaufgabe, das soziale Gleichgewicht
zu sichern412. Dies klug auszutarieren, ist Ergebnis vernünftiger Politik und da-
mit Sache des Gesetzgebers.
408 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leis-
ner, S. 761.
409 K. A. Schachtschneider, Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leis-
Das dritte Prinzip a priori des bürgerlichen Zustandes ist die Selbständigkeit
jedes Gliedes der Gemeinschaft als Bürger3 und setzt voraus, daß er „ein Eigen-
tum habe, (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissen-
schaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er, in denen Fällen, wo
er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen was
sein ist erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften
Gebrauch zu machen, folglich daß er niemandem als dem gemeinen Wesen im
eigentlichen Sinne des Wortes diene“ 4. Kant spricht hier das Eigentum durch
Arbeit an5, selbständig aber konnte nur der Gewerbetreibende, der Handwerker,
der Künstler, der Werke erschafft, oder auch der Wissenschaftler, der Bücher
schreibt, sein; nicht dagegen der Ladendiener, der Taglöhner oder der Friseur,
weil dieser Personenkreis anderen diene. Diese Auffassung ist allerdings Ausfluß
der Wertvorstellungen, die zu Lebzeiten Kants Geltung hatte6. Einsehbar ist sie
physik der Sitten, S. 389 ff. Es wäre zur damaligen Zeit in Preußen als revolutionär
betrachtet worden, hätte Kant den Personenkreis, der zum eigenen Herrn und damit
zum Bürger qualifiziert wäre, dem auch das Stimmrecht hätte zugestanden werden müs-
sen, nicht möglichst eng umgrenzt. Fraglich ist, ob dieser engen Umgrenzung tatsäch-
lich Kants eigene Überzeugung war, oder ob sie nicht aus Furcht vor der Zensur und
der Obrigkeit erfolgte, von der Kant eben als Professor vor allem wirtschaftlich abhän-
gig war. Überzeugender in diesem Zusammenhang argumentierte Hegel bezüglich des
178 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
jedenfalls aus heutiger Sicht nicht, reine Dienstleister könnten sonst keine Bürger
sein. Überdies gibt Kant selbst zu, daß es ungemein schwierig sei, diejenigen Er-
fordernisse zu bestimmen, die zum eigenen Herrn qualifizieren7. Kant hat aber
die Leistung eines anderen als ein Objekt des äußeren Mein und Dein betrachtet,
welches grundsätzlich der Erwerbung und damit auch der Veräußerung fähig ist8:
„Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine, nach
Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen (das äußere Mein und
Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen), ist ein Recht“ 9. Der Einzelne
kann also Inhaber eines Rechts sein, einen anderen zu einer Leistung zu ver-
pflichten. Grundlage dafür ist der gegenseitige Vertrag10, durch den man aber
nicht unmittelbar Eigentümer einer Sache wird, sondern nur das Versprechen ei-
nes anderen zu einer bestimmten Leistung erwirbt, und dies kann, nicht nur aus
heutiger Sicht, auch eine reine Dienstleistung und nicht bloß die Übereignung
eines körperlichen Gegenstandes sein. Kants Differenzierung, daß nur bestimmte
Berufe zum Bürger qualifizieren und andere nicht, ist damit nicht zu halten. Un-
abhängig und damit Bürger ist jeder, der eine eigene Leistung erbringt und damit
wirtschaftet11: der homo republicanicus ist homo oeconomicus.
Begriffs der Person und ihrer natürlichen Existenz: „Kenntnisse, Wissenschaften, Ta-
lente usf. sind freilich dem freien Geiste eigen und ein innerliches desselben, nicht ein
Äußerliches, aber ebensosehr kann er ihnen durch die Äußerung ein äußerliches Dasein
geben und sie veräußern, wodurch sie unter die Bestimmung von Sachen gesetzt wer-
den“, wodurch es dann „unter die Bestimmungen eine juristisch-rechtlichen Eigentums
fällt“, G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 104 f. Damit ist dieses
Innerliche der Kenntnisse, Wissenschaften und Talenten und sonstigen Geschicklichkei-
ten grundsätzlich veräußerbar, S. 144.
7 Kant, Über den Gemeinspruch, Fußnote auf S. 151.
8 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 370.
9 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382.
10 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 383.
11 Zum Zusammenhang von individueller Wohlfahrt und politischer Freiheit vgl.
auch F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung,
S. 85.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger 179
werden, weil die empirische Rationalität des Wirtschaftens eben eine gewisse
Funktionalität für das Autonomieprinzip besitzt. Damit stellt sich folglich die
Frage, ob dem Wirtschaften als empirische Notwendigkeit überhaupt ein norma-
tiver Charakter zugesprochen werden kann; denn man unterläge dem naturalisti-
schen Fehlschluß, wenn man von einer empirischen Notwendigkeit auf das Sollen
schlösse. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, daß dies nach
Kants Erkenntnislehre eine logisch unmögliche Denkoperation darstellt. Wie ist
es also denkbar, daß empirisch rationales Wirtschaften und damit auch wirt-
schaftlicher Wettbewerb einer Sollensordnung unterliegen kann? Dafür kann nur
unter der Voraussetzung argumentiert werden, wenn das Wirtschaften nicht aus-
schließlich dem empirischen Dasein zugeordnet wird, sondern in der transzen-
dentalen Seinsverfassung des Menschen zumindest angelegt ist. Wirtschaft und
Wettbewerb müssen sowohl zur empirischen, als auch zur intelligiblen Welt zuge-
hörig gedacht werden können, ganz im Sinne von Kants Zweiweltenlehre. Das
Erfordernis des Wirtschaftens läßt sich aber durchaus transzendental begründen,
allerdings nicht mit Kant, aber durchaus kantianisch mit Heidegger: „Freilich ist
die Autorität nicht als solche begründend, und etwas ist nicht deshalb wahr, weil
Kant es gesagt hat. Wohl aber hat Kant die große Bedeutung in der Erziehung
zum wissenschaftlichen philosophischen Antrieb: man kann ihm schlechthin ver-
trauen. Man hat bei Kant wie bei keinem Denker sonst die unmittelbare Gewiß-
heit: er schwindelt nicht. Und es ist die ungeheuerste Gefahr, die in der Philoso-
phie selbst liegt, zu schwindeln, weil alle Bemühung nicht den massiven Charak-
ter eines naturwissenschaftlichen Experiments oder einer geschichtlichen Quelle
hat. Aber wo die größte Gefahr des Schwindelns ist, da ist auch die höchste Mög-
lichkeit der Echtheit des Denkens und Fragens“ 12. Es sollen zunächst aber einige
Parallelen zwischen Heideggers Denken zu zentralen Positionen Kants skizziert
werden, um zu zeigen, daß in diesem Punkt über Kant hinaus gegangen wird,
ansonsten aber Kants Positionen mit Heidegger nicht verlassen werden.
Für Heidegger ist die Freiheit eine Frage der menschlichen Existenz über-
haupt, das menschliche Dasein ist konstituierend für seine Welt13. Das Ich als ein
,Ich denke‘ ist Freiheit, weil der Verstand in sich frei ist14. Das Sein ist gebunden
nunft, S. 431.
13 „Das menschliche Dasein, das eine Welt hat, ist ein Seiendes, dem es um seine
eigene Existenz geht, so zwar, daß es sich selbst wählt oder sich der Wahl begibt. Die
Existenz, die je unser Sein mit ausmacht, nicht aber allein bestimmt, ist das unserer
Freiheit, und nur Seiendes, das sich entschließen kann und zu sich so oder so entschlos-
sen hat, kann eine Welt haben. Welt und Freiheit stehen als Grundbestimmung mensch-
licher Existenz im engsten Zusammenhang“, M. Heidegger, Phänomenologische Inter-
pretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 20. Das ist wohl auch gegen Adorno
in Stellung zu bringen, bei dem Unfreiheit und Welt im Zusammenhang stehen, Th. W.
Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 23 f.
14 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 382.
180 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
an die Zeit, die menschliche Erkenntnisfähigkeit und die Einheit der Apperzep-
tion sind wie bei Kant an die Zeitlichkeit gebunden, ja mehr noch, der Ursprung
der Verstandeskategorien ist die Zeit selbst15. Dies kann der Mensch wissen, weil
er sich in jeden beliebigen Zeitpunkt geistig hineinversetzen kann16. Die Mög-
lichkeit dieser Bindung an die Zeit liegt bei Heidegger in der Freiheit des
menschlichen Geistes begründet17 und bedeutet in ihrer Erweiterung, daß die
menschliche Erkenntnisfähigkeit als solche eben an gewisse apriorischen Regeln
überhaupt gebunden ist, dies aber aus der Freiheit, verstanden als geistige Spon-
taneität. Dieses freie Sich-Binden des Subjekts an die apriorischen Regeln der
Verstandestätigkeit intendiert die Gegenständlichkeit als solche, mit dem Wort
Gegenstand ist dann das gemeint, was eine apriorische Regelung aller empiri-
schen Erkenntnis vorgibt. Damit ist die Erkenntnis eines Gegenstandes nun nicht
mehr ein beliebiges, ungebundenes, regelloses Zusammenstellen von Vorstellun-
gen18. Das Ausschlagen der Beliebigkeit innerhalb der menschlichen Erkenntnis
ist dann auch das, was mit dem Begriff des Sollens zum Ausdruck gebracht wird.
Der Verstand ist frei und eine reine Selbsttätigkeit, die sich nur durch sich selbst
bestimmt; denn ohne diese Spontaneität wären alle menschlichen Gedanken nur
empirischen Gesetzen unterworfen, eine Erkenntnis a priori demnach völlig un-
möglich. Und das Vermögen, a priori zu denken, ist die einzige Bedingung der
Möglichkeit des Ursprunges aller Erscheinungen überhaupt19. Die Freiheit des
nunft, S. 364 f.: „Die Synthesis der Apprehension ist bezogen auf die Gegenwart, die
der Reproduktion auf die Vergangenheit und die der Prae-cognition auf die Zukunft.
Sofern alle drei Modi der Synthesis auf die Zeit bezogen sind, diese Momente der Zeit
aber die Einheit der Zeit selbst ausmachen, erhalten die drei Synthesen den einheitli-
chen Grund ihrer Selbst in der Einheit der Zeit“, und weiter, „Wenn aber auch die Syn-
thesis des Verstandes als Synthesis der Recognition im Begriff zeitbezogen ist, und
wenn gerade dieser Synthesis als Verstandeshandlung die Kategorien entwachsen, dann
ist der Ursprung der Kategorien – wenn anders die drei Synthesen auf dem Grunde der
Zeit zusammengehören – die Zeit selbst“. Ursprung der Kategorien des Verstandes ist
damit die Zeit; Heidegger erweitert hier sehr überzeugend den Bezug der menschlichen
Verstandestätigkeit zur Zeit auf sämtliche Verstandeskategorien, den Kant allerdings nur
bei der Ableitung des Kausalitätsgesetzes sehr deutlich gemacht hatte.
16 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 353.
17 „Im Subjekt selbst also liegt für es und seine apriorischen Handlungen als solche
eine Bindung, die nichts mit physischem Zwang zu tun hat, sondern die im Gegenteil
gerade im Zentrum des Subjekts selbst, in seiner Spontaneität verwurzelt ist – eine Bin-
dung, die ihrem Wesen nach die Freiheit ist. Diese Freiheit ist in sich die Voraussetzung
für die Möglichkeit aller apriorischen Notwendigkeit der Einigungen der reinen Synthe-
sen in der Zeit“, M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der
reinen Vernunft, S. 370.
18 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 369.
19 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 371.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger 181
20 „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst
würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches
eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für
nicht nichts sein“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 136; zu Descartes ego cogito als
transzendentale Subjektivität überzeugend auch E. Husserl, Cartesianische Meditatio-
nen, S. 20 ff., S. 22: „Ich kann in keine andere Welt hineinleben, hineinerfahren, hin-
eindenken, hineinwerten und -handeln als die in mir und aus mir selbst Sinn und Gel-
tung hat“.
21 D.h. als „gehörig zu einem ursprünglichen Wissen um Einheit“, M. Heidegger,
nunft, S. 378.
23 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Ver-
nunft, S. 382.
24 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 209.
25 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 181.
26 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 182.
182 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
gung des eigenen Menschseins zu sein, sondern als Grenze und Begrenzung der eige-
nen rechtlichen Freiheit, eben nur als der Andere, dessen Recht zu achten ist. Das Men-
schenrecht der Freiheit basiere, mit Karl Marx, nicht auf Verbindung des Menschen mit
den Menschen, sondern es sei das Recht auf Absonderung, das Recht des auf sich selbst
beschränkten Individuums. In die heutige Rechtsordnung ginge der Mensch nicht mit
seiner metaphysischen oder transzendentalen Bestimmung ein, sondern lediglich als ein
in rechtliche Freiheit gesetztes Individuum, das seine Bestimmung selbst suchen und
wählen, sie aber auch verfehlen könne, ohne vom Recht eine Vorgabe für diese Wahl zu
erhalten, E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 59 f. Diese Darstellung überzeugt
nicht. Natürlich ist es richtig, daß Freiheit in praktischer Hinsicht auch ein Selbstbestim-
mungsrecht darstellt. Dies aber als Absonderungsrecht zu qualifizieren, ist verfehlt. Es
stellt sich nämlich zum einen die Frage, wovon der Mensch sich abzusondern das Recht
hätte. Vom Mitdasein Anderer kann aber nicht abstrahiert werden, denn dies ist die Be-
dingung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt, das ist der transzendentale Sinn des
Sittengesetzes und damit, als ratio cognescendi der Freiheit, Bedingung der Möglichkeit
der eigenen Freiheit auch in praktischer Hinsicht und damit eben auch Bedingung der
Möglichkeit des eigenen Menschseins, der durch Freiheit definiert ist. Zweitens stellt
sich die Frage, wieso es für diese Absonderung überhaupt ein Recht geben müsse, wie
Böckenförde meint, weil es auch Recht ohne Mitmenschen nicht geben kann, was das
Autonomieprinzip als Ausprägung des kategorischen Imperativs erweist; denn dem
Recht kommt ja überhaupt erst dann Bedeutung zu, wenn die abgesonderte Individual-
sphäre verlassen wird, weil individuelle Handlungen eben Außenwirkung entfalten. In
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger 183
als personalitas moralis ist Zweck an sich selbst34, das Reich der Zwecke ist das
Miteinandersein der freien Personen als das intelligible Reich der Freiheit35. Das
Menschsein ist intellektuell, als Intelligenz bestimmt: „Die Intelligenzen, die mo-
ralischen Personen, sind Subjekte, deren Sein das Handeln ist“ 36; denn es geht im
Reich der Zwecke, in einer intelligiblen Welt, um das Offenbarmachen des eige-
nen Ich als Subjekt, was aber nur durch die Offenbarmachung seiner selbst als
des Handelnden gelingen kann. In diesem Zusammenhang spielt das moralische
Selbstbewußtsein die Ausschlag gebende Bedeutung: es ist als das moralische
Gefühl das Gefühl der eigenen Existenz, das sich in der Handlung offenbart. Es
ist zu unterscheiden vom bloß theoretischen Wissen des „Ich denke mich“ 37. Das
moralische Gefühl ist für Kant die Achtung, die als Achtung vor dem Gesetz rein
von der Vernunft gewirkt ist. „Kants Interpretation des Phänomens der Achtung
ist wohl die glänzendste phänomenologische Analyse des Phänomens der Morali-
tät, die wir von Kant besitzen“ 38. Diese Achtung vor dem Gesetz ist aber auch
die Achtung des handelnden Ich „vor sich selbst als dem Selbst, das nicht durch
Eigendünkel und Eigenliebe verstanden (ist). Achtung als Achtung vor dem Ge-
setz bezieht sich zugleich in ihrem spezifischen Offenbarmachen auf die Per-
son“ 39. Also ist Achtung vor dem Gesetz „nichts anderes als das Verantwort-
lichsein des Selbst sich selbst gegenüber und für sich selbst. Dieses moralische
Gefühl ist eine ausgezeichnete Weise, in der das Ich sich selbst als Ich direkt,
rein und frei von aller sinnlichen Bestimmtheit versteht. Und durch das Unter-
werfen unter das Gesetz, unterwirft sich der Einzelne selbst seiner reinen Ver-
nunft, erhebt sich aber dadurch gleichzeitig zu einem freien, sich selbst be-
stimmten Wesen. Dieses unterwerfende Sicherheben meiner selbst zu mir selbst
offenbart, erschließt als solches mich mir selbst in meiner Würde“. Und: „Die
Achtung ist die Weise des Bei-sich-selbst-seins des Ich“ 40. Diese Achtung vor
dem Gesetz ist damit seinskonstituierend für die Person, „daß ich in der Ach-
tung selbst bin, d.h. handele. Achtung vor dem Gesetz heißt eo ipso Handeln“ 41.
Weil der Mensch Selbstzweck ist, ist die Moral der Endzweck des Menschen als
die Rechtsordnung geht der Mensch damit sehr wohl mit seiner metaphysischen oder
transzendentalen Bestimmung ein, sie ist der letzte Grund des Rechts überhaupt: ohne
die transzendentale Idee der Freiheit gibt es weder Recht noch Ethik und Moral. Hei-
degger überzeugt mit seinen Ausführungen zur personalitas moralis und der mensch-
lichen Daseinsbestimmung aus dem ontologischen Mitdasein Anderer.
34 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 195.
35 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 200.
36 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 200.
37 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 188.
38 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 189.
39 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 191.
40 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 192.
41 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 194.
184 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
Menschen42. Kants Achtung vor dem Gesetz ist bei Heidegger wegen der damit
mitbegriffenen Seinskonstitution des Handelns im Ergebnis nichts anderes als die
Achtung vor dem Mitdasein Anderer, also vor der Existenz an sich und damit
sowohl der eigenen Würde wie der der Mitmenschen. Es ist also zwingend, daß
jeder Mensch nur als auch moralische Person verstanden werden kann. Das ist
kantianisch gedacht.
Die Notwendigkeit des Wirtschaftens erweist sich auch durch einen weiteren
seinskonstituierenden Gesichtspunkt, der aber über Kant hinausgeht. Es ist Hei-
deggers Versuch, das Sein und das Dasein des Menschen aus der Sorge heraus zu
erklären43. Ontologisch gesprochen ist der Sinn des Seins Sorge überhaupt44, wo-
bei Sorge hier nun nicht als etwas ontisch-konkretes aufzufassen ist, sondern ge-
meint ist das abstrakt-ontologische Sich-Sorgen-Um45. Das Dasein existiert zwar
faktisch46, ist aber gleichwohl ein Noch-Nicht47, weil das Dasein dem Tode ent-
gegenstrebt. Insofern ist der Tod als Ende des Daseins nach Heidegger eine „un-
bestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins“ 48, Dasein ist also eine onto-
logische Möglichkeit als ein „Vorlaufen zum Tode“ 49. Der Mensch hat demnach
eine Angst vor dem Verfall schlechthin, und das, wovor er sich ängstigt, ist das
In-der-Welt-sein als solches, die Welt als solche50. Das Dasein ist ein permanen-
tes Sich-vorweg-sein51, weil es unaufhaltsam dem Tode entgegenstrebt. Es über-
zeugt durchaus, wenn Heidegger die Zeitlichkeit auch als den ontologischen Sinn
der Sorge qualifiziert52. Das In-der-Welt-sein ist wesenhaft Sorge53, die Sorge ist
ontologisch betrachtet daseinskonstituierend54. Weil eben Dasein auf das Noch-
Nicht verweist, setzt auch Wünschen die Sorge voraus55. Und so blickt auch im
Phänomen des Wollens die zugrundeliegende Ganzheit der Sorge durch56. Die
Sorge hat also fundamentale Bedeutung für die Konstitution des Seins als Da-
sein, für ein faktisches In-der-Welt-sein. Weil das Dasein nur als Faktizität des
nunft, S. 60.
43 M. Heidegger, „Die Sorge als Sein des Daseins“, Sein und Zeit, S. 180 ff.
44 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 183.
45 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 192.
46 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 181.
47 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 244.
48 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 258 f.
49 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 267.
50 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 186 f
51 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 192.
52 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 323 ff.
53 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 193.
54 Denn erst der Tod ermöglicht den Selbsterhaltungstrieb, H. Jonas, Das Prinzip Le-
ben, S. 391.
55 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 195.
56 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 194.
II. Exkurs: Das Wirtschaften bei Heidegger 185
In-der-Welt-seins aufgefaßt werden kann, gehört dazu aber auch das Besorgen
des eigenen Daseins. „Weil zu Dasein wesenhaft das In-der-Welt-sein gehört, ist
sein Sein zur Welt wesenhaft Besorgen“. Dazu zählt es aber auch, daß „das
Dasein zunächst und in großem Ausmaß ökonomisch und praktisch ist“ 57. Die
Sorge ist also nicht nur ontologisch für das Sein konstituierend, sondern auch
ontisch bedeutsam für das Dasein in der real existierenden Welt. Die Sorge be-
zieht sich auf die Zukunftssicherung des Daseins, weil das Dasein ein Noch-
Nicht, ein Entwurf in die Zukunft ist. Die Zukunftssicherung des eigenen Da-
seins bedeutet aber immer auch die Absicherung der wirtschaftlichen Existenz
für die und in der Zukunft. Das Erfordernis des Wirtschaftens erklärt sich dem-
nach aus der existenziellen weil seinskonstituierenden Sorge heraus. Insofern ist
der Mensch stets homo oeconomicus, zwar nicht ausschließlich, wohl aber mitbe-
griffen. Das Sein des Daseins des Menschen umschließt demnach sein Bewußt-
sein als homo oeconomicus.
Erklärt sich das Erfordernis des Wirtschaftens aus dem Sorgecharakter des ei-
genen Daseins, und ist weiter das Dasein stets auch das Mitdasein Anderer und
mit Anderen, so erhellt dies, daß jeder für sich und alle zusammen für die Zu-
kunftssicherung jedes Einzelnen und aller zusammen eben wirtschaften müssen.
Dieses zwingende Wirtschaftenmüssen führt dann notwendigerweise zum Wett-
bewerb. Das wird noch zu erläutern sein. Als Grund der Seinssorge war die
Angst um den (eigenen) Verfall genannt worden, weil das Dasein dem Tode ge-
weiht, also endlich ist. Diese seinsbegründende Endlichkeit des Daseins kann
aber auch als die zwingende Gewißheit über die Knappheit aller irdischen Güter
gewertet werden; denn Endlichkeit des Daseins in der Welt ist stets Beschrän-
kung des In-der-Welt-vorhandenen schlechthin. Es ist als nie unbegrenzt, sondern
immer nur knapp vorhanden. Das ist schon deshalb richtig, weil nämlich die
menschliche Erkenntnisfähigkeit nur eine endliche ist.
Heidegger bestätigt die Freiheit als transzendentale Idee, sie wird mit dem Ich-
denke identifiziert, weil das Ich-denke Selbständigkeit darstellt. Diese Selbstän-
digkeit ist aber an die Regeln des Verstandes von sich selbst heraus und insofern
aus eigener Freiheit heraus gebunden. Die Freiheit liegt damit transzendental in
der Selbstidentifizierung des Ich mit sich selbst begründet. Aus dieser Selbst-
identifizierung des Ich ergibt sich die Personenhaftigkeit, soweit es sich der eige-
nen reinen Vernunft und damit der eigenen Gesetzgebung unterwirft. In der Ach-
tung vor eben diesem Gesetz liegt die Würde des Menschen begründet in der
Weise des Bei-sich-selbst-seins des Ich. Offenbar wird die Personenhaftigkeit
über die Achtung durch das Handeln. Der Mensch ist damit Selbstzweck, und die
menschliche Freiheit existiert im intelligiblen Reich der Zwecke. Es ist schon von
großer Bedeutung, daß Heidegger aus seiner phänomenologisch-ontologischen
Sicht an Kants transzendentaler Idee der Freiheit nicht vorbeikommt.
Sein mitkonstituierend ist: vom Mitdasein der Anderen kann aus transzendental-
philosophischen Gründen nicht abstrahiert werden, es ist somit a priori stets mit-
begriffen. Weil nun aber die ontologisch begründete Seinssorge auf der Seite des
ontischen Daseins die Knappheit stets die Begrenztheit und Endlichkeit alles Em-
pirischen erfaßt, bedeutet Wirtschaften als Besorgen des eigenen Daseins eine
Konfrontation mit der Knappheit und eine bestmögliche Bewältigung derselben.
Das gilt auch in zeitlicher Hinsicht; denn was zu einem Zeitpunkt im Überfluß
vorhanden ist, daran kann zu einem anderen Zeitpunkt großer Mangel herrschen:
von der Zeitlichkeit des gesamten menschlichen Seins kann nicht abstrahiert wer-
den. Weil nun weiter das selbstige ontologisch begründete Sein das Mitdasein
anderer umschließt, die ja vor eben demselben Problem der Endlichkeit und Be-
grenztheit des ontischen Daseins und der irdischen Güter stehen und damit in
einem Konkurrenzverhältnis mit den Mitmenschen; denn die seinskonstituie-
rende Endlichkeit der ontischen Gegebenheiten ist eine absolute. Notwendiger-
weise muß damit jeder das Bewußtsein haben, mit anderen im Wettbewerb zu
stehen. Weil dies nicht nur in ökonomischer Hinsicht gilt59 und das Dasein als
Faktum des In-der-Welt-Seins stets auch mit Anderen ist, besitzt der Wettbewerb
dieselbe Faktizität wie das Dasein selbst, das Faktum des Wettbewerbs erklärt
sich aus der unleugbaren Faktizität des Daseins und der darin begründeten Ge-
meinschaftlichkeit a priori der menschlichen Existenz.
Kant argumentiert in diesem Zusammenhang weniger transzendentalphiloso-
phisch als praktisch-empirisch, zielt aber mit seinen Aussagen in dieselbe Rich-
tung wie Heidegger. Den (ontologischen) Sorgecharakter des Seins und das (on-
tische) Besorgen des eigenen Daseins leitet Kant empirisch schlicht aus der Natur
ab: „Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische An-
ordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe,
und keiner anderen Glückseligkeit, oder Vollkommenheit, teilhaftig werde, als
die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat“ 60. Der
Mensch muß sich neben der Sicherung der rein physischen Existenz „alle Ergötz-
lichkeit, die das Leben angenehm machen kann“, erarbeiten und versuchen,
durch seine Vernunft „zur größten Geschicklichkeit“ und „innerer Vollkommen-
heit der Denkungsart“ zu gelangen und sich dadurch zur „Glückseligkeit empor
gearbeitet haben“ 61. Er wird dabei mit einem „ganzen Heer von Mühseligkeiten“
konfrontiert, weil ihn die Natur nicht dazu bestimmt hat, „daß er wohl lebe; son-
59 Politiker stehen um die Gunst der Wähler genau so mit einander im Wettbewerb
S. 36.
61 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 36.
188 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
dern, daß er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens
und des Wohlbefindens würdig zu machen“ 62. Die Vernunft ermöglicht eine
„vernünftige Selbstschätzung“, sich des Lebens und Wohlbefindens würdig zu
machen, obwohl eben auch dies durch vernünftiges Handeln besorgt sein will
und muß.
Auch die Gemeinschaft des menschlichen Daseins ist ein von der Natur be-
stimmtes Phänomen, ein Mittel der Natur, um die natürliche Veranlagung des
Menschen offenbar zu machen und voranzutreiben. Es ist eine Naturveranlagung
des Menschen, daß er einerseits die Gesellschaft seiner Mitmenschen braucht und
sucht, sich andererseits aber auch von ihr distanziert und separiert63. Dieser
„Antagonismus“ mobilisiert die menschlichen Kräfte, um „sich einen Rang unter
den Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch
nicht lassen kann“. Die „mißgünstige wetteifernde Eitelkeit“ ist von der Natur
und von einem weisen Schöpfer vorbestimmt, und dient der Kultivierung der
menschlichen Fähigkeiten, das eigene Dasein trotz vieler Mühseligkeiten zu be-
sorgen: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstige
wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder
auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der
Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber
die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er
will gemächlich und vergnügt leben; die Natur aber will, er soll aus der Lässig-
keit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten
stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den
letzteren heraus zu ziehen“ 64. Das Leben ist also mühevoll und erfordert An-
strengungen, sich gegenüber den naturbedingten Widrigkeiten des Daseins und
gegenüber der wetteifernden Mißgunst der Mitmenschen zu behaupten. Es erfor-
dert aber auch Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, weil der Mensch vernunft-
geleitet handeln muß, um durch Vervollkommnung der eigenen Veranlagung
glückswürdig zu werden. Damit ist auch das Wettbewerbsprinzip ein Apriori der
Vernunft und als solches eben ein Faktum menschlichen Lebens65. Allerdings be-
rechtigt dieses Kantzitat auch zu der These, daß das Wettbewerbsprinzip trotz
seiner Apriorität empirisch unter der Bedingung der Eintracht unter den Men-
schen keine Wirkung entfaltet: Einigkeit unter den Menschen setzt das Wettbe-
werbsprinzip zwischen ihnen über die Sachverhalte, über die Einigkeit besteht,
außer Kraft. Das wird für die noch zu behandelnde Kartellproblematik von Be-
deutung sein.
Die größte Freiheit besteht nach Kant in diesem Antagonismus der ungeselli-
gen Geselligkeit des Menschen, in welcher die wetteifernde Eitelkeit zum Wohle
der eigenen Entwicklung und des eigenen Daseins voll zum Tragen kommt66.
Das Wettbewerbsprinzip fördert also die eigene Glückseligkeit und führt dazu,
ihrer würdig zu werden. Als Mittel der Natur dient es empirisch der Entfaltung
der Persönlichkeit des Einzelnen. In einer Gemeinschaft von Menschen muß die
wetteifernde Eitelkeit aber mit der gleichen Freiheit aller vereinbar sein, und dies
gelingt nur durch die allgemeine Gesetzlichkeit innerhalb der Bürgerschaft67: die
Entfaltung der Persönlichkeit muß eine freie sein. Wettbewerb setzt also das all-
gemeine staatliche Gesetz voraus. Das entspricht auch Kants Zweiweltenlehre.
Die wetteifernde Eitelkeit ist die empirische Triebfeder für das Streben nach frei-
heitlicher Glückseligkeit durch das menschliche Handeln. Aber der Wetteifer
setzt a priori wenigstens einen Mitmenschen voraus, mit dem man wetteifern
kann. Wetteiferndes Bemühen kann freiheitlich wegen der Apriorität des Mit-
daseins des Konkurrenten überhaupt nur nach der Maßgabe des Faktums des Sol-
lens gedacht werden. Das beweist das Sittengesetz als ratio cognescendi der Frei-
heit, welche als negative Eigenschaft einer Person definiert ist, nämlich nicht
durch empirische Triebfedern zum Handeln genötigt zu werden. Freies wettbe-
werbliches Handeln ist damit gleichzeitig der intelligiblen Welt zuzuordnen und
kann daher grundsätzlich nur im Rahmen einer Sollensordnung praktisch ver-
wirklicht werden. Der Mensch ist nach alledem der wetteifernden Eitelkeit seiner
Mitmenschen eben nicht mit der Unausweichlichkeit eines Naturgesetzes ausge-
setzt, sondern nur insoweit, wie deren wettbewerbliches Handeln nach Maßgabe
der allgemeinen juridischen Gesetze zumutbar ist. Und dies ist in erster Linie
Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 39, in der Naturveranlagung des Men-
schen begründet: der „menschliche Trieb der Selbstbehauptung und das dem Menschen
innewohnende Vermögen, zum Zweck der Daseinserweiterung mit seinesgleichen auf
der Basis der Koordination zu kooperieren, gehört rein der Natur an“. Damit seien
Wettbewerb und Preismechanismus ein Verfahren zur Koordination individueller und
autonomer Wirtschaftspläne, aber auch ein Leistungs- und Bestenausleseverfahren.
67 „Da nur in der Gesellschaft, und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin
einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genaueste Bestimmung
und Sicherung ihrer Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer be-
stehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwicklung
aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß
sie diesen, so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung, sich selbst verschaffen solle: so muß
eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade
mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen ge-
rechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung
sein“, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 39.
190 3. Kap.: Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant
68 „Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit zieret, die schönste gesellschaft-
liche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich
zu disziplinieren, und so, durch abgedrungene Kunst, die Keime der Natur vollständig
zu entwickeln“, Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab-
sicht, S. 40.
69 „Die Zivilisation führt zu einer endlosen Vielfalt von verschiedenen Lebensakti-
vitäten und zu einer auf Wettbewerb beruhenden Entwicklung aller menschlichen Fä-
higkeiten“, A. W. Wood, Kants Entwurf für einen ewigen Frieden, in: Zum ewigen Frie-
den; Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, S. 67 ff.,
83; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 467, spricht von der gesellschaftlichen Ergie-
bigkeit des Wettbewerbs: die Konkurrenz individueller Motivationen sei der „Zauber-
stab“, der eine Gesamtleistung von unübertroffener Höhe in jeder Beziehung aus den
eingesetzten Elementen hervorgehen ließe. Indem jeder Wettbewerber sich für sich an-
strenge, leiste er zugleich der Allgemeinheit den besten Dienst, der er ihr zu leisten
vermöge.
70 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 40 f.
71 Die bürgerliche Verfassung ist nun aber nicht für einen Staat alleine zu verwirk-
populi, S. 545 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 55 ff., 118 ff.
3 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 465 ff., S. 481 ff.; ders., Staats-
unternehmen und Privatrecht, S. 272 f.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisie-
rung, S. 61 ff., 146 ff.; H. H. Rupp, HStR, Bd. I, § 28, Rdn. 51 ff.; A. Emmerich-Frit-
sche, Privatisierung der Wasserversorgung in Bayern und kommunale Aufgabenverwal-
tung, BayVBl. 2007, S. 1ff.
4 K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 75 ff.
5 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 455 ff.
6 Dazu K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 473 ff.
192 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
dies einen Vorrang der Wettbewerblichkeit des gemeinsamen Lebens der Men-
schen in der Gemeinschaft7; denn der Wettbewerb hat den Charakter eines Natur-
gesetzes und führt wegen der grundsätzlichen „Zwietracht“ unter den Menschen
zur „ungeselligen Geselligkeit“, zum Wettbewerb unter den Menschen. Der Wett-
bewerb ist Bestandteil der gesamten menschlichen Existenz, weil vom Mitdasein
Anderer und ihren besonderen Vorstellungen vom Glück nicht abstrahiert werden
kann. Der grundgesetzliche Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung be-
inhaltet immer auch die vorrangige Wettbewerblichkeit des Lebens, allemal
dann, wenn es um die Verteilung, insbesondere von Einkommen und Vermögen,
geht. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer der Wettbewerbsordnung
prinzipientreuen Wirtschaftspolitik ist nicht nur dem Grundgesetz nicht zu ent-
nehmen, wie das Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht erkennt, sondern sie
ist wegen des Naturgesetzescharakters des Wettbewerbs auch überflüssig: der
Wettbewerb ist ein Faktum, wenn und soweit das Privatheitsprinzip verwirklicht
ist8. Ob und wieweit das Privatheitsprinzip aber verwirklicht wird, ist eine Frage
der praktischen Vernunft, welche der Gesetzgeber zu beantworten hat9; sie ist
damit aber eine Frage der vernünftigen Abwägung mit anderen Rechtsgütern ins-
besondere nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
Der Staat muß die Privatheit und den Wettbewerb in größtmöglichem Umfange
zulassen, alles andere würde die Natur des Menschen völlig verkennen; größt-
mögliche Privatheit ist Humanität10. Eine Entscheidung des Gesetzgebers, daß
bestimmte Aufgaben von Privaten zu bewältigen sind, bedeutet aber keine Belie-
bigkeit der Handlungsmaximen der am Wettbewerbsprozeß beteiligten Akteure;
denn die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs unterliegen grundsätzlich der
Regelung durch den Gesetzgeber. So überlässt der Gesetzgeber etwa die Gesund-
heitsfürsorge der Bevölkerung in weitem Umfang den niedergelassenen Ärzten,
den Privaten also. Die Vergütungen für kassenärztliche Leistungen unterliegen
nach den gesetzlichen Bestimmungen aber gerade keinem Preiswettbewerb11,
obwohl der Preis sicherlich einen äußerst bedeutsamen Wettbewerbsparameter
che Privatheit ist eine praktische Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens; in diesem
Sinne auch W. Maihofer, HVerfR, S. 500 ff., der die „größtmögliche und gleichberech-
tigte Freiheit des Einzelnen bei notwendiger Sicherheit Aller“ und „dem größten mögli-
chen Freiheitsraum für die Entfesselung des Wettstreits der Freiheit in einer Gesell-
schaft“ als das „Prinzip einer liberalen Demokratie“ erkennt, S. 502 f.
8 „Die Ausübung der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie führt zum Wettbewerb“,
E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen zum
Privatrecht, AcP 168 (1968), S. 235 ff., 235.
9 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 473 ff.
10 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513.
11 Zur Ausschaltung des Preismechanismus durch das Vergütungssystem der Ver-
Zur Zeit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war der Ordolibera-
lismus die vorrangige Ordnungsvorstellung für den Bereich der Wirtschaft. Die
Wirtschaftsordnung Deutschlands ist entscheidend von neo- oder ordoliberalen
Vorstellungen geprägt worden, nach welchen die Verkehrswirtschaft nur in der
Form der Wettbewerbswirtschaft wirtschafts- und sozialpolitisch vertretbar sein
soll13. Der zentrale Gedanke des ORDO war eine „von Menschen vorgefundene,
nicht geschaffene Ordnung, eine Ordnung, die gekennzeichnet ist durch Freiheit
des Planens unter der Herrschaft eines Gesetzes (also eine Ordnung, wie sie etwa
durch die Privatrechtsordnung bei voll verwirklichter Privatautonomie gewährt
wird) im Gegensatz zu einer durch Befehl und Gehorsam charakterisierten Ord-
nung, bei der von Menschen entworfene Gesamtpläne durch andere Menschen in
Unterwerfung unter die Weisungsgewalt rechtlich übergeordneter Individuen, die
ihr Recht zur Herrschaft entweder von Gott oder vom Volkwillen ableiten, aus-
geführt wird“. Der wettbewerbliche Marktpreismechanismus sei auf wirtschaft-
lichem Gebiet die steuernde Kraft, der sich der einzelne wie einem Naturgesetz
unterwerfe und seine Pläne daran ausrichte, ansonsten aber selbst und allein be-
stimme. Dies führe dann zu einer gleichgewichtigen „Harmonie“, weil niemand,
auch nicht der Staat, einem anderen Wirtschaftssubjekt Wirtschaftspläne aufnöti-
gen dürfe14. Zwar ist die Verfassung des Menschen, seine Freiheit nämlich, eine
menschheitliche Erkenntnis a priori. Das beweist das Sittengesetz. Ordnung da-
vorstellung lehnt Böhm an die „prästabilisierte Harmonie“ von Leibniz, womit die libe-
rale Freiheit deistisch letztbegründet werden soll, Freiheit damit aber eben keine
menschheitliche Vernunfterkenntnis im Sinne Kants darstellt. Zum Naturgesetzcharak-
ter der Verkehrswirtschaft E.-J. Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 34 ff.
194 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
gegen ist aber kein Naturgesetz, sondern eine Kulturleistung, weil sie von Men-
schen geschaffen wird15. Eine (mögliche Wirtschafts-)Verfassung ist grundsätz-
lich gestaltbar, damit aber Sache des Volkes, und nur ihm kommt als zum Staat
verfaßte Bürgerschaft die Verfassungsgesetzgebungshoheit zu. Dieses Prinzip ist
in Art. 20 GG verankert und durch Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich ge-
schützt16.
Eine Wirtschaftsverfassung soll vier Dimensionen haben: Zum einen soll dem
Grundgesetz Deutschlands die Normierung eines bestimmten ökonomischen Mo-
dells, nämlich der sozialen Marktwirtschaft zu entnehmen sein; zweitens soll es
bei der Wirtschaftsverfassung um die Summe der Verfassungsvorschriften, die
der staatlichen Intervention eine bestimmte Richtung und Aufgabe zuweisen;
drittens, soll es sich um die von der Verfassung zur Verfügung gestellten Instru-
mente für die Staatsintervention handeln und schließlich viertens um die verfas-
sungsrechtlichen Schranken und Grenzen der Staatsintervention17. Wichtig sei,
daß die Wirtschaftsverfassung, verstanden als rechtliche Fixierung ökonomischer
Postulate „ohne Blick auf die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft nicht
zu begreifen ist“ 18. Diese Auffassung bleibt aber der liberalistischen Trennung
von Staat und Gesellschaft verhaftet: die Wirtschaft vollzieht sich innerhalb der
Gesellschaft, welcher der intervenierende Staat gegenübersteht. Das ist antikan-
tianisch und wider die Idee der Republik gedacht. Außerdem wird der Staat als
Wirtschaftsfaktor bei dieser Sichtweise völlig ignoriert; denn auch der Staat ist
Anbieter und Nachfrager von Gütern und Leistungen. Angesichts einer Staats-
quote (Anteil der Gesamtausgaben des Staates am Bruttoinlandsprodukt) in Höhe
von 44,3 % im Jahr 201419 ist das Dogma von der Trennung von Staat und Ge-
sellschaft gerade im Hinblick auf die Wirtschaft völlig überholt. Zweitens ist der
Begriff der Wirtschaftsverfassung selbst problematisch, weil es „die Wirtschaft“
per se nicht gibt; denn die Wirtschaft stellt lediglich eine Aggregation von plane-
risch selbständigen Einzelwirtschaften, nämlich den der privaten Haushalte, der
Unternehmen und der staatlichen Institutionen dar20. Die Volkswirtschaft
15 „Kultur ist immer das Ergebnis menschlicher Gestaltung aus Freiheit“, L. Raiser,
menschlichen Bedarfs an privaten und öffentlichen Gütern“ und wird durch die Volks-
wirtschaftliche Gesamtrechnung beschrieben, H. C. Recktenwald, Wörterbuch der Wirt-
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 195
schaft, S. 621 f. Diese Aggregation begründet dann wohl auch die Idee einer Volkswirt-
schaft als Einheit.
21 „Der Mensch verwirklicht sich wesentlich auch als wirtschaftendes Wesen“,
teilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, der bis auf die Gemeinden
durchgreifende Finanzausgleich, die Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaat-
lichkeit und der Demokratie; die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der
Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Subsidiarität; die speziellen Probleme der
Überwachung rechtsetzender Gewalt auf die Exekutive, der Ausdehnung des Vorbehalts
des Gesetzes auf die Leistungsverwaltung, des Maßnahmegesetzes und des Plangewähr-
leistungsanspruchs; die Probleme um die Wirtschaftspolitik durch Steuern, Haushaltsge-
setz und Subventionen und schließlich das grundsätzliche Verhältnis des Staates zur Ge-
sellschaft, wie es mit der konzertierten Aktion und Hearing-Praktiken angesprochen
wird, alle diese und zahlreiche weitere Fragenkreise gehören zur Wirtschaftsverfassung.“
196 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
der Wirtschaftsverfassung scheint dagegen den Schluß nahe zu legen, daß es sich
dabei um eine besondere oder spezielle Verfaßtheit (des Lebensbereichs) der
Wirtschaft handele, die sich aus dem Grundgesetz ergibt25. Weil die allgemeine
Gleichheit in der Freiheit die Verfassung des gemeinsamen Lebens aller Bürger
ist, gibt es keinen Bereich, der (. . .) etwa nur ökonomisch“ wäre.26 Das Grund-
gesetz gilt allgemein und universell für alle menschlichen Lebensbereiche glei-
chermaßen27 und enthält die Prinzipien der Freiheit und die Grundsätze für die
Politik, die beachtet werden müssen, damit das gute Leben aller und das Zusam-
menleben der Bürger in allgemeiner und gleicher Freiheit möglich ist28. Durch
die Politik soll das gute Leben Aller, das grundsätzlich dynamisch zu begreifen
ist, gestaltet und so an die wechselnden Lebensumstände angepaßt werden kön-
nen29.
Die Frage nach einer möglichen oder geforderten Wirtschaftsverfassung unter
dem Grundgesetz ist unergiebig30, wenn damit die Frage nach einem (wirt-
schaftspolitischen oder ordnungspolitischen) Modell gestellt ist31. Zwar hatte
etwa Walter Eucken die Notwendigkeit betont, Modelle zu bilden, weil die Wirk-
lichkeit viel zu komplex sei und ohne Modellbildung keine generellen oder allge-
meingültigen Aussagen formuliert werden könnten. Er sprach von der „Morpho-
logie“ der wirtschaftlichen Wirklichkeit, aus der sich grundsätzlich die reinen
Formen der Wirtschaft von Privathaushalten und Unternehmen ableiten ließen.
Im Ergebnis liefe dies immer auf die Marktformenlehre hinaus32. Die Modell-
bildung mag für die Wissenschaft der Nationalökonomie erforderlich sein, weil
sie der Komplexitätsreduzierung der wirtschaftlichen Wirklichkeit dient. Theore-
tische Modelle können aber nicht zur Maßgabe des richtigen und sachgerechten
25 So aber F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 388 ff., der in der Wirt-
rechten, wie sie in der Lehre von der Wirtschaftsverfassung gestellt wird, hat metho-
disch weit über ihren unmittelbaren Gegenstand hinausreichende Bedeutung“, E.-J.
Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, S. 42.
28 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 275 ff., 325 ff., 410 ff., 422 ff.;
blica res populi, S. 674 ff., 897 ff., 984 ff., 990 ff.
30 Jedenfalls dann, wenn damit mehr als die dezentrale Wirtschaftsplanung durch die
Bürger auszudrücken versucht wird, so im Ergebnis E.-J. Mestmäcker, Recht und ökono-
misches Gesetz, S. 61 f. Angesprochen ist also nicht mehr als der Grundsatz der Privat-
heit der Lebensbewältigung, dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates,
S. 34; ders., Das Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 744 ff.
31 Weil modelltheoretische ökonomische Aussagen bei der Frage von Wettbewerb
und Wettbewerbsfreiheit als Problem des Rechts keine entscheidende Rolle spielen,
R. Lukes, Zum Verständnis des Wettbewerbs und des Marktes in der Denkkategorie des
Rechts, S. 217.
32 W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 20 f.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 197
staatlichen Handelns gemacht werden33, welches das Leben der Bürger und Zu-
sammenleben der Bürgerschaft in Freiheit ermöglichen soll: Das Leben steht
nicht unter ceteris paribus Bedingungen wie nationalökonomische Modelle34.
Nationalökonomische Modelle sind deskriptiv und sollen die Wirklichkeit als
empirisches Dasein beschreiben. Sie haben aber keinen normativen Gehalt; denn
das würde bedeuten, vom empirischen Dasein auf das Sollen zu schließen, was
nach Kants Erkenntnislehre eine logisch unmögliche Operation darstellt. Darauf
wurde bereits hingewiesen.
Dem gegenüber kennt das Grundgesetz keine Wirtschaftsverfassung „im Sinne
eines ordnungspolitisch geschlossenen Systems“ 35 und ist wirtschaftspolitisch
neutral36. Der Gesetzgeber darf „jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschafts-
politik verfolgen (. . .), sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grund-
rechte beachtet“ 37. „Allerdings darf die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit
des Gesetzgebers nicht zu einer Verkürzung dessen führen, was die Verfassung in
allem Wandel unverändert gewährleisten will, namentlich nicht zu einer Verkür-
zung der in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen Freiheiten“ 38. Da-
33 Ein theoretisches Modell kann nicht zur Kategorie des Rechts gemacht werden,
weil Recht keine Theorie ist, R. Lukes, Zum Verständnis des Wettbewerbs und des
Marktes in der Denkkategorie des Rechts, S. 214.
34 Es stellt sich ohnehin die Frage, wie denn Modelle, die die Wirklichkeit komplexi-
schaftsverfassung, DÖV 2000, S. 361 ff., 363, hält die These von der wirtschaftspoliti-
schen Neutralität des Grundgesetzes für irreführend. Insbesondere die ausdifferenzierte
Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu einzelnen Freiheitsrechten ließe sich als
„Kronzeugin“ gegen die Neutralitätsthese anführen. Dagegen bedeutet Neutralität nicht
Beliebigkeit, sondern lediglich, daß das Grundgesetz im Hinblick auf wirtschaftspoliti-
sche Systementwürfe, ordnungspolitische Leitvorstellungen und nationalökonomische
Theoriengebäude wertneutral ist, und welche deshalb durch die Wirtschaftspolitik nicht
zwingend zu beachten sind. Sinn und Zweck aller Politik ist die Verwirklichung der
Freiheit der Bürger. Bewertungsmaßstab für die praktische Wirtschaftspolitik kann da-
her nur die in den Einzelgrundrechten materialisierte Freiheit sein. Das Grundgesetz ist
wirtschaftspolitisch (wert-)neutral, die Wirtschaftspolitik dagegen nicht beliebig, son-
dern an die Beachtung der Grundrechte gebunden. Insoweit ist es dann richtig, daß die
Wirtschaftsordnung „nicht beliebig gestaltbar, sondern eingebunden in das vielschich-
tige Mosaik grundrechtlicher Normativität“ ist, H. H. Rupp, Grundgesetz und „Wirt-
schaftsverfassung“, S. 7: „Die Rechtsverfassung läßt sich also durchaus darnach befra-
198 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
mit ist der Gesetzgeber nicht einem wirtschafts- oder ordnungspolitischen Mo-
dell39, sondern ausschließlich dem Grundgesetz verpflichtet40. Es steht völlig
außer Frage, daß die Grundrechte der staatlichen Wirtschaftsplanung Grenzen
setzen, wohl aber hat das Bundesverfassungsgericht „die Funktionalisierung der
Grundrechte im Dienste eines Wirtschaftssystems“ zurückgewiesen41. Aus repu-
blikanischer Sicht bedeutet dies für die Wirtschaftspolitik erstens, daß der Ge-
setzgeber das Gesetz als volonté générale42 als das allgemeine Beste und eben
dadurch die Freiheit aller Bürger verwirklicht43. Wettbewerb ist nicht uneinge-
schränkt nützlich und auch nicht uneingeschränkt akzeptabel44. Das erfordert
zweitens, daß die Bürger politisch durch den moralischen Gesetzgeber vertreten
Freiheitsrechte durch das Grundgesetz garantiert, also unmittelbar geltendes und voll-
ziehbares Recht und keine Programmsätze und Verfassungsaufträge geschaffen werden,
H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 801.
41 M. Kriele, Recht – Vernunft – Wirklichkeit, S. 332.
42 F. Böhm hat die volonté générale darin gesehen, daß ein wirtschaftliches Len-
kungssystem etabliert werde, welches der Verhinderung und Auflösung von Marktmacht
verpflichtet ist, F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 124, weil ihre
staatliche Kontrolle nicht ausreichend sei, S. 79, insbesondere aus Gründen der Auf-
rechterhaltung des Rechts: „sobald wirtschaftliche Macht auf dem Plan erscheint, gerät
die Rechtsordnung ins Hintertreffen, sie mag so vortrefflich sein wie sie will“, weil
nämlich der wirtschaftlich Mächtige auf seine eigene Macht vertraue und nicht auf die
Macht des Gesetzes, dabei aber den Schwachen überrenne, der seinen Interessen im
Wege stünde, S. 72.
43 Die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen seien keine ökonomischen, sondern poli-
werb nicht „im Vertrauen auf eine Unfehlbarkeit sich selbst überlassen. Es bedarf viel-
mehr gerade hier der ständigen Überwachung von Arbeit und Leistung, und zwar nicht
etwa nur darauf, ob die Teilnehmer nicht selbst den Wettbewerb beschränken“, H. Krü-
ger, Allgemeine Staatslehre, S. 473.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 199
werden45, daß also die Parlamentarier nur ihrem Gewissen (und nicht etwa einer
Partei oder anderen Interessengruppen verpflichtet) unterworfen und bestmöglich
sachkundig sind46. Daß der Gesetzgeber die Grundrechte als unverzichtbare Frei-
heitsrechte und Prinzipien der Freiheit zu beachten hat, ist selbstverständlich,
weil dies nicht nur für die Wirtschaftspolitik, sondern generell zwingend ist. Die
Leitlinie der Gesetzgebung muß die Beachtung des sich aus Art. 2 Abs. 1 GG
ergebenden Grundsatzes der Privatheit der Lebensbewältigung sein, mit der
Folge, daß der Einzelne seine Handlungsmaxime so weit wie irgend möglich
selbst und allein bestimmt. Aus diesem Grunde ist grundsätzlich von einer ver-
kehrswirtschaftlichen Koordination der Wirtschaft und damit verbunden einer
„autonomen“ Planung bei privaten Unternehmen und den Haushalten der Bürger
auszugehen47. Die Privatheit der Unternehmen und der Verbraucher führt in der
Konsequenz zu Markt und Wettbewerb. Weil aber nach aller Erfahrung die
Marktlichkeit und die Wettbewerblichkeit der Wirtschaft dem Gemeinwohl dien-
lich ist, gebietet das in Art. 2 Abs. 1 GG immanent verankerte Privatheitsprinzip
eine Wirtschaftsordnung der Marktlichkeit und Wettbewerblichkeit, welche auch
durch andere Grundrechte, insbesondere durch die Eigentumsgewährleistung des
Art. 14 Abs. 1 GG gestützt wird48. Allerdings bedeutet dies nicht, daß die Frei-
heitsrechte für eine „optimale Wettbewerbsordnung“ instrumentalisiert oder funk-
tionalisiert werden dürfen, sie sind keine Verpflichtung zu ausschließlich öko-
nomisch-zweckrationalem oder rein ökonomisch determinierten Handeln49; denn
der Mensch ist eben nicht nur homo oeconomicus. Aber der Zutritt zum Markt
und die Teilnahme am Wettbewerb muß für Jedermann gestattet sein50.
Die Freiheit als Begriff der praktischen Vernunft ist das Recht zur freien Will-
kür, welches durch Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist. Das be-
deutet, daß jeder nach seinen individuellen Maximen mit dem ökonomischen
45 Die Herrschaft des Gesetzes setzt die Moralität des Gesetzgebers voraus. Zwar ist
in einer Demokratie die Mehrheitsregel akzeptabel, entbindet aber diese Mehrheit nicht
von der Pflicht zur Moralität, F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 130, schon
deshalb nicht, weil Mehrheitsbeschlüsse keine höhere Weisheit darstellten, S. 135.
46 Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 312, 365 ff.
47 Insofern bestünde dann doch eine gewisse Komplementarität zwischen freiheits-
Grundproblem des Menschen, der Überwindung der Knappheit, umgehen darf 51.
Allerdings ist das Recht zur freien Willkür nicht das Recht zur Beliebigkeit. Die
Selbst- und Alleinbestimmung der Handlungsmaximen hat sittlich zu erfolgen52,
die Handlungsmaximen müssen also den allgemeinen staatlichen Gesetzen ge-
mäß sein. Die Beachtung des Gesetzes bei der Ausbildung von Handlungsmaxi-
men schließt in einer Gemeinschaft von Menschen immer das soziale Moment
mit ein53. Ein unsoziales Gesetz kann nicht der volonté générale entsprechen,
weil es nicht die allgemeine Freiheit verwirklicht. Die Freiheit des Einzelnen ist
in ihrer praktischen Dimension stets eine sozial verantwortete Freiheit54. Auch
das ergibt sich etwa aus Art. 14 Abs. 2 GG: „Eigentum verpflichtet. Sein Ge-
brauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“. Damit scheidet eine
freie Marktwirtschaft, verstanden als eine monistisch an den Kapitaleignerinter-
essen orientierte Wirtschaftsform aus55. Genau genommen bedeutet das Wort
„frei“ in diesem Zusammenhang eben diese soziale Verantwortung und damit die
Sittlichkeit der Wirtschaftssubjekte und gerade nicht die Freiheit von gesetzlicher
Reglementierung und Sittlichkeit56. Republikanisch gewendet ist damit eine so-
ziale Marktwirtschaft eine marktliche Sozialwirtschaft57, weil nur einer sozialen
wirtschaftlichen Betätigung das Attribut „frei“ zugesprochen werden kann: Frei-
51 Allen Individuen in der Gesellschaft sei „ein und derselbe, gleiche rechtlich Status
darf er die Freiheitssphäre der anderen mißachten“. „Hier an der Freiheitssphäre der
anderen findet seine Person ihre Grenzen. Indem er diese Freiheitssphäre achtet, übt er
Humanität aus“, W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 199. Das Prinzip Frei-
heit ist an das Prinzip Verantwortung gebunden, sie bilden eine Einheit, G. Prosi, Wett-
bewerb – Das Prinzip Freiheit und das Prinzip Verantwortung, S. 129.
55 Zwar sei das Privateigentum an Produktionsmitteln eine Voraussetzung der Wett-
und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, 2000, S. 65; ders., Das Recht am und
das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 743 ff., 768; ders., W. Hankel, W. Nölling,
J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998, S. 200 ff., 254 f.; ders., (O Gast), Sozialistische
Schulden nach der Revolution, S. 8, 155.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 201
4. Keine Zentralverwaltungswirtschaft
che Dirigismuskompetenz ein Element der politischen Willkür darstellten und ihre wirt-
schaftlichen Auswirkungen wenig berechenbar und durchsichtig seien, F. Böhm, Freiheit
und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 27 f.
61 Wirtschaftspläne sollen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht subordiniert,
sondern koordiniert werden, dazu F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für
die politische Verfassung, S. 93. Die Zentralverwaltungswirtschaft sei die schlechteste
aller möglichen Wirtschaftsordnungen, selbst Zerrformen der Verkehrswirtschaft sei der
Vorzug zu geben; ders., Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 20.
62 Außerdem führt eine Plan- und Befehlswirtschaft zu schweren Funktionsstörungen
in der Wirtschaft, welche letztlich immer zu Lasten der Verbraucher gehen, H. C. Nip-
perdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 15 f.
63 „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substanziellen Willens, die er in dem zu
seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtseins hat, das an und für sich
Vernünftige“. Der Staat ist „objektiver Geist“, das Individuum hat selbst nur „Objek-
tivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist“, G. F. W. Hegel, Grund-
linien der Philosophie des Rechts, S. 399 f.
64 Dies schon allein deshalb nicht, weil das dafür erforderliche staatliche Handlungs-
instrumentarium dem Grundgesetz völlig fremd sei, H.-J. Papier, Grundgesetz und
Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 808.
65 Gegen die Möglichkeit einer effizienten zentralen Planung aller wirtschaftlichen
Tätigkeit, schon weil die dafür erforderlichen quantitativen Methoden weit überschätzt
werden, wendet sich zu Recht H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung,
HVerfR, S. 804.
202 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
Dies bedeutet nun kein „laisser faire, laisser aller“ in Fragen zur Wirtschaft
durch den Staat74, mit der Konsequenz einer ausschließlichen Marktlichkeit öko-
S. 802, aber auch F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 28, 42.
67 Weil nämlich das Autonomieprinzip elementarer Bestandteil der Menschenrechte
System von Marktpreisen vollzogen werde, H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschafts-
ordnung, HVerfR, S. 802.
70 So auch H.-J. Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, HVerfR, S. 806.
71 Der Grundsatz der Privatheit der Lebensbewältigung bedeutet das Primat der
S. 137 ff. Wettbewerb ist „kein Krieg aller gegen alle“ im Sinne Th. Hobbes, Leviathan,
I, 14, II, 17, 18. Dazu auch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 457, es sei ein „uto-
pischer Liberalismus“, wenn sich zumindest im Wirtschaftsbereich, die beste Ordnung
einer natürlichen Gesetzlichkeit heraus von selbst ergäbe, „die Menschen aber werden,
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 203
lediglich von ihren natürlichen Trieben bestimmt, diese Ordnung vollziehen und sie da-
durch reiche Frucht tragen lassen“.
75 Eine völlig freie, reine oder liberalistische Marktwirtschaft, welche verfassungs-
rechtlich auf „die Garantie des Grundsatzes der staatlichen Nichtintervention“ gegrün-
det ist, gibt es unter dem Grundgesetz nicht, H. C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft
und Grundgesetz, S. 9 ff.
76 Ohnehin sei das reale Wirtschaftssystem ein „Mischsystem“, in dem „markt-
W. Leisner, S. 766 ff.; zum republikanischen Sozialprinzip ders., Res publica res populi,
S. 234 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 553 ff.
80 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff.; ders., Freiheit in
der Republik, S. 636 ff.; W. Freitag, Unternehmen in der Republik, S. 122 ff.
81 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 221 ff.; ders., Freiheit in der
Die Würde des Menschen ist seine Freiheit. Grundsätzlich ist der Staat aus
Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet, Einflüsse abzuwehren, welche die Freiheit der
Menschen gefährden83. Demgemäß muß der Staat die Ausübung privater Macht
begrenzen84. Die politische Gleichberechtigung der Bürger läßt in der Republik
keine Privilegierten zu85. Durch die Begrenzung wirtschaftlicher Macht soll best-
möglich erreicht werden, daß es nicht zu einer nicht zu rechtfertigenden Un-
gleichverteilung der Chancen unter den Bürgern kommt86. Das ergibt sich aus
dem demokratischen Prinzip87. Das Wettbewerbsrecht dient damit dem Schutz
der freien Willkür und der Willensautonomie Aller, nicht einem vermeintlichen
Schutz des Wettbewerbs an sich88. Selbständigkeit und ökonomische Selbstver-
antwortung sind nur bei weitgehender Unabhängigkeit von der Willkür anderer
möglich. Es darf also weder politisch noch wirtschaftlich zu Machtansammlun-
gen kommen89. Was aber an Willkür und damit an (privater) Machtausübung An-
derer hingenommen werden muß, können freiheitlich nur die Gesetze, in diesem
Zusammenhang also die Wettbewerbsgesetze bestimmen.
Nun darf aber nicht übersehen werden, daß der Staat nicht dem Privatwohl
oder dem Wohl privater Interessengruppen verpflichtet ist, sondern dem Gemein-
wohl90. Das selbst- und alleinbestimmte Privatwohl ist deshalb keineswegs iden-
tisch mit dem Gemeinwohl, weil ersteres Privatinteressen beinhaltet. Alles Staat-
liche hat aber das allgemeine Beste für alle zum Ziel, und das allgemeine Beste
ist nicht die Summe bestmöglich verwirklichter Privatinteressen in einer Gemein-
schaft. Zwar wird gerade in Bezug auf die Wettbewerbswirtschaft oft in diese
Richtung argumentiert, weil eben in der Wettbewerbswirtschaft es zum einen den
Wirtschaftssubjekten möglich ist, ihren wirtschaftlichen (Netto-)Nutzen an ihren
subjektiven Nutzenkalkülen hin auszurichten und ihn nach Möglichkeit zu maxi-
mieren91. Diese maximierten Individualnutzen würden dann auch zu einem Ma-
ximum an Wohlfahrt der Gemeinschaft der Wirtschaftssubjekte führen, weil eben
der Wettbewerbsmechanismus zu einer Optimierung volkswirtschaftlicher Res-
sourcen führe und die Summe maximierter Individualnutzen auch das Maximum
an Gemeinwohl sei. Doch wird das Gemeinwohl durch die volonté générale und
eben nicht durch die volonté des tous definiert92. Folglich ist das Gemeinwohl
gerade nicht die Summe wenn auch maximierter Individualnutzen oder bestmög-
lich verwirklichter Individualinteressen93, weil eine Summe keine Aussagen über
die (gerechte) Verteilung beinhaltet94. Der Gesetzgeber hat zwar dafür zu sorgen,
wenn „der Beste nur ein klein wenig besser ist als alle seine Konkurrenten –, womit bei
Lichte besehen und bildlich gesprochen festgestellt ist, daß im Grunde das schlechteste
Pferd die Geschwindigkeit des Spitzenpferdes bestimmt“, H. Krüger, Allgemeine
Staatslehre, S. 458.
94 Die Verteilungsgerechtigkeit aber ist material nicht zu definieren, jedenfalls wür-
den (staatliche) Bestrebungen, eine solche sicher zu stellen, zu einer totalitären Ord-
206 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
daß der Einzelne seinen Vorstellungen gemäß seinen Nutzen auch maximieren
oder bestmöglich seinen eigenen Interessen nachgehen kann, bleibt aber dennoch
ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet95, wie das etwa § 1 StWG vor-
schreibt: „Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen
Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu be-
achten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirt-
schaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einen hohen
Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bei stetigem und
angemessenen Wirtschaftswachstum beitragen“.
In der Republik ist dies aber kein Widerspruch, weil es keine Trennung von
Staat und Gesellschaft gibt. Institutionell kann der grundgesetzliche Staat nur als
Staat des Volkes begriffen werden, und dieses Volk ist die Gesamtheit aller Deut-
schen. In diesem Staat geht alle Staatsgewalt vom Volke aus – Art. 20 Abs. 2 S. 1
GG96. Demnach dürfen die Zwecke des Staates allein durch das Volk festgelegt
werden und sind in der grundgesetzlichen Demokratie prinzipiell nicht materiell
nung führen, weil das individuelle menschliche Handeln auf bestimmte Zwecke hin aus-
gerichtet würde, was aber die Grundlage für einen funktionierenden Markt zerstöre,
F. A. v. Hayek, Freiburger Studien, S. 119. So aber im Ansatz schon Kant: „Denn mit
Freiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuß an Lebensannehmlichkeit, die ihm
auch von anderen (und hier von der Regierung) zu Teil werden kann; sondern auf das
Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft. Wohlfahrt aber hat kein
Prinzip, weder für den der sie empfängt, noch für den der sie austeilt (der eine setzt sie
hierin, der andere darin); weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches
empirisch, und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist“, Kant, Streit der Fakultä-
ten, S. 359 f., zweite Anmerkung. Die Gerechtigkeit der Verteilung kann also nur auf
der Grundlage formaler Prinzipien erreicht werden. Neben dem Leistungsprinzip und
dem Bedarfsprinzip ist dies das Wettbewerbsprinzip, dazu K. A. Schachtschneider, Das
Recht am und das Recht auf Eigentum, FS W. Leisner, S. 760 ff. Die Verteilung über
(Wettbewerbs-)Märkte hat also zumindest eine Gerechtigkeitsvermutung für sich,
S. 781. Sozialpolitik hat demnach die entscheidende Frage zu beantworten, in welchem
Bereich welches der drei Verteilungsprinzipien bis zu welchem Grad Anwendung fin-
den soll.
95 H.-J. Papier spricht davon, daß der „Mischcharakter der realen Wirtschaftsord-
vorbestimmt. Das folgt daraus, daß sich die Autonomie des Willens (schon be-
grifflich) auf die Gesetzgebung97 und nicht auf beliebige materiale Zwecke Pri-
vater bezieht; denn letzteres tut die freie Willkür. Die prinzipielle Unbestimmt-
heit von staatlichen Zwecksetzungen basiert also auf der Autonomie des Willens
und damit auf der Menschenwürde98. Es ist Sache des Volkes, ob Zwecke staat-
lich oder nichtstaatlich verwirklicht werden99. Das ergibt sich aus dem „Reprä-
sentationsprinzip als Realisierung des Konsensprinzips“ bei der Gesetzgebung.
„Der Gesetzgeber muß also legeferieren, als ob er das Volk wäre“ 100; so sieht es
schon Kant: „Was ein Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann der
Gesetzgeber auch nicht über das Volk beschließen“ 101.
Genauso wenig wie das Volk sind auch die Vertreter des Volkes als parlamen-
tarische Gesetzgeber an materielle Orientierungsrahmen gebunden. Das bedeutet
aber keine Beliebigkeit, sondern lediglich eine materielle Unbestimmtheit. Auch
die Vertreter des Volkes sind bei der Gemeinwohlbestimmung an allgemeine
Rechtsprinzipien gebunden102, neben prozeduralen Verfahrensvorschriften103 auch
formale Rechtsprinzipien wie etwa dem der Sachlichkeit und dem der Wissen-
schaftlichkeit104. Schon wegen der erforderlichen lagebedingten Sachgemäßheit
kann der Gesetzgeber keine vorbestimmten materiellen Werte oder Lehrmeinun-
gen umsetzen, also auch nicht ein bestimmtes wirtschafts- oder ordnungspoli-
tisches Modell105.
97 Allerdings nicht nur auf die staatliche Gesetzgebung, sondern auch auf die private,
verstanden als den Abschluß von Verträgen, welche zwar nicht allgemein verbindlich
sind, wohl aber für die Vertragsparteien. Verträge machen das Handeln der Vertrags-
schließenden genauso verbindlich wie das staatliche allgemeine Gesetz.
98 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 237.
99 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 240: „Wenn eine
Aufgabe entsteht, die von hinreichend vielen Menschen oder von maßgeblichen Persön-
lichkeiten so eingeschätzt wird, daß sie vom Staat erfüllt werden sollte, so kann und
darf es zu einer rechtsverbindlichen Entscheidung des Staates kommen, diese Aufgabe
zu übernehmen, wenn die Grundrechte der Menschen und die sonstigen Verfassungsbe-
stimmungen das erlauben und die Aufgabenerweiterung des Staates eine legitimierende
Ermächtigung im Grundgesetz findet. Die Grundrechte schützen wiederum die Men-
schen, die der Übernahme der Aufgabe durch den Staat nicht zustimmen. Jede Etablie-
rung von Staatsaufgaben beeinträchtigt die Privatheit der Lebensbewältigung. Schon
das ergibt einen umfassenden demokratiefreiheitsrechtlichen, nicht individualfreiheits-
rechtlichen Verfassungsvorbehalt für die Begründung von Staatsaufgaben.“
100 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 241.
101 Kant, Über den Gemeinspruch, S. 162.
102 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 658 ff.
103 Zum Verfahrensprinzip K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates,
wegen der Offenheit des Gemeinwohls sind jedoch Kompetenz- und Verfahrensregelun-
gen die Essenz für die Rechtmäßigkeit staatlichen Verhaltens, also die besonderen
staatsadäquaten Verhaltensregeln des Grundgesetzes und des einfachen Rechts. Richtig-
208 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
Damit ist die Frage nach der Wirtschaftsverfassung und dem damit verbunde-
nen Problem nach den staatlichen Kompetenzen zur Wirtschaftssteuerung zurück
zu führen auf die Frage nach Sachlichkeit und Rechtlichkeit der Gemeinwohl-
materialisierung durch den Staat: der Staat hat ausschließlich nach der Maßgabe
des Rechts zu agieren106, und eben dies bedeutet auch die Beachtung des Grund-
satzes der Verhältnismäßigkeit. Der Staat darf sich Ziele setzen, allerdings nur
nach Maßgabe der materiellen und prozeduralen Gesetze. Auch darf er die dazu
erforderlichen und geeigneten Mittel einsetzen. Ziele und Mittel müssen verfas-
sungsgemäß sein, mit dem Ergebnis, daß auch die Ziel-Mittel-Relationen ange-
messen sein müssen: das Übermaßverbot oder das Proportionalitätsprinzip sind
zu beachten107. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip ist eine allgemeine Verhal-
tensmaxime für den Staat und keine grundrechtliche Schrankenschranke108,
durch welches staatliches Handeln zum verfassungsgemäßen Handeln wird.
Staatliche Wirtschaftssteuerung, auch die staatliche Wirtschaftsbetätigung in For-
men des Privatrechts, ist ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet109, soll
aber gleichzeitig die Verfolgung von Privatinteressen durch die Bürger bestmög-
lich gewährleisten. Es ist vom Prinzip des Vorrangs privater Wirtschaft auszu-
gehen. Dieses Prinzip hat hinter den im Grundgesetz verankerten Gemeinwohl-
interessen mit der Maßgabe zurückzutreten, daß das zwar weite Sozialprinzip zu
beachten ist, welches „aber doch verschiedenartige Politiken des Gesetzgebers
verfassungsmäßig“ zu rechtfertigen vermag110. Die Materialisierung des Gemein-
wohls kann nur im Einzelfall und lagebedingt vorgenommen werden111. Eingriffe
in den Wettbewerb sind jedenfalls kein Sakrileg, trotz der grundsätzlichen Markt-
lichkeit des wirtschaftlichen Geschehens112. Wenn es keine materielle Vorbe-
stimmtheit des Gemeinwohls gibt, kann es folglich auch keine grundgesetzlich
materiell vorbestimmte Wirtschaftsverfassung geben.
keit staatlichen Verhaltens ist unter einem Begriff offenen Gemeinwohls allein dessen
staatsrechtliche Gesetzmäßigkeit. Staatsrechtsmäßigkeit wird damit zum ausschließ-
lichen Kriterium der verfassungsgemäßen Gemeinwohlverwirklichung durch der Staat“,
S. 248.
106 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 253.
107 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 384 ff., 393 ff.
108 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 254.
109 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 255 ff.
110 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 319.
111 Grundsätzlich gäbe es drei Funktionsweisen der staatlichen Wirtschaftslenkung:
erstens, die über den Wettbewerb; zweitens könne der Staat aus nationalen Gründen be-
stimmte Wirtschaftszweige entwickeln, fördern oder zurück drängen, um dadurch einer
normalen Entwicklung, die sich nach den Kräften des Marktes ergeben würde, entge-
genzuwirken; und drittens könne sich der Staat als Platzhalter des Wettbewerbs verste-
hen, um durch die Ordnung der Wirtschaftsabläufe die Ergebnisse zu erzielen, die sich
einspielen würden, wenn Wettbewerb existierte, das Wettbewerbsprinzip sich aber prak-
tisch nicht anwenden läßt, R. Blum, Soziale Marktwirtschaft, S. 59. Im letztgenannten
Fall könne von einer „Wirtschaftspolitik des Als-Ob“ gesprochen werden, S. 77.
112 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 473.
II. Grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung? 209
Die Frage nach einem durch die Verfassung festgelegten oder (vor-)bestimm-
ten oder anzustrebenden wirtschafts- und ordnungspolitischen Modell stellt sich
demnach nicht. Der Gesetzgeber kann jede Wirtschaftspolitik verfolgen, die er
für die Gemeinwohlmaterialisierung für sachlich erforderlich und angemessen
hält, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte, die verfas-
sungsgemäßen Verfahrensregeln bei der Gesetzgebung, die materiellen Verfas-
sungsprinzipien wie etwa das Sozialprinzip und den Grundsatz der Privatheit der
Lebensbewältigung beachtet. Der wirtschaftspolitische Gesetzgeber ist damit an
prinzipielle Leitentscheidungen des Grundgesetzes gebunden. Aus denen lassen
sich aber keine Aussagen zu einem ökonomischen Modell herleiten, das für das
Wirtschaftsgeschehen und die politischen Steuerungs- und Einflußmöglichkeiten
des Gesetzgebers einen normativen Orientierungsrahmen abgeben könnte. Jedes
Modell wird zur Komplexitätsreduzierung gebildet, reduziert die Wirklichkeit
damit aber stets auf eine Formelmäßigkeit, die nur in den wenigsten konkreten
Anwendungsfällen sachgerecht sein kann. Wirtschaftsverfassung beinhaltet die
Kompetenzen des Staates für die Intervention im Bereich der Wirtschaft sowie
die Grundrechte der Bürger, damit sie in ökonomischer Hinsicht ihre selbst- und
alleinbestimmten Vorstellungen vom guten Leben und Glück verwirklichen. Wel-
che Kompetenzen und Grundrechte dies sind, hängt lagebedingt vom konkreten
Einzelfall ab. Das schließt nun nicht aus, daß es Grundrechte gibt, welche einen
sehr engen Bezug zum Bereich der Wirtschaft aufweisen, wie etwa die Berufs-
freiheit des Art. 12 GG und die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG, und
weswegen sie mit Recht auch als Wirtschaftsgrundrechte bezeichnet werden.
Aber es gibt eben auch andere Grundrechte, welche keinen vordergründig wirt-
schaftlichen Bezug haben, wie etwa Art. 4 Abs. 1 GG, als sogenannte Religions-
freiheit113 dogmatisiert, welche auch die wirtschaftliche Betätigung der carita-
tiven Organisationen der Kirchen schützt114. Wenn also im folgenden dem allge-
meinen Sprachgebrauch gemäß von Wirtschaftsverfassung die Rede ist, so soll
damit nicht eine in sich geschlossene verfassungsrechtliche Teilordnung im Sinne
Franz Böhms gemeint sein. Wirtschaftsverfassung umfaßt somit alle verfassungs-
rechtlichen Regelungen, welche den Bürger als homo oeconomicus betreffen
können.115 Und dies ergibt sich, wie gesagt, lagebedingt nach dem konkreten
Einzelfall und ist eine Frage der Sachlichkeit, der praktischen Vernunft.
nehmen K. A. Schachtschneider, Aspekte der Innovation in der Diakonie aus staats- und
wettbewerblicher Sicht, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, S. 348 ff., 354 ff.
115 R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung – Grundprobleme, S. 135: „Die
Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, der bis auf die Gemeinden
durchgreifende Finanzausgleich, die Prinzipien der Sozialstaatlichkeit, der Rechtsstaat-
lichkeit und der Demokratie; die allgemeinen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der
Erforderlichkeit, der Geeignetheit und der Subsidiarität; die speziellen Probleme der
210 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
Der Vorrang der Privatheit der Lebensbewältigung bedeutet auch die bestmög-
liche Marktlichkeit der Wirtschaft, um den republikanischen Grundprinzipien der
Freiheit und des Eigentums zu genügen. Das Markt- und Wettbewerbsprinzip ist
aber nicht der einzige und nicht zwingend der beste Weg zur Lösung ökonomi-
scher Probleme116, neben dem Markt- und Wettbewerbsprinzip sind eben auch
das Bedarfs- und das Leistungsprinzip117 zu beachten. Welches Prinzip zum Tra-
gen kommen sollte, ist Sache der praktischen Vernunft und der politischen Klug-
heit, damit also in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Und es sind die Gesetze,
die Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen (Art. 14 Abs.1 S.2 GG). Die
Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG läßt sich nicht liberalistisch oder neoli-
beral konzipieren. Die Politik ist dem höchstrangigen Sozialprinzip verpflichtet;
denn die Bundesrepublik Deutschland ist ausweislich Art. 20 Abs. 1 GG Sozial-
staat. Neben der Privatnützigkeit des Eigentums118 steht gleichrangig seine So-
zialpflichtigkeit: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl
der Allgemeinheit dienen“ (Art. 14 Abs. 2 GG). Leitprinzip des Eigentums-
gebrauchs ist damit der kategorische Imperativ119. In der Republik hat demnach
das Eigentum trotz aller Privatnützigkeit eine dienende Funktion, welche desto
stärker zur Geltung kommen muß, je mehr der Eigentumsgebrauch für das Ge-
meinwesen, die Bürgerschaft, von allgemeiner Bedeutung ist. Die Bayerische
Verfassung von 1946 bringt das in Art. 151 in aller Klarheit zum Ausdruck:
(1) Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere
der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der all-
mählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.
(2) Innerhalb dieser Zwecke gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze.
Die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit
der selbständigen Betätigung des einzelnen in der Wirtschaft werden grund-
sätzlich anerkannt. Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre
Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderun-
gen des Gemeinwohls. Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte,
Übertragung rechtsetzender Gewalt auf die Exekutive, der Ausdehnung des Vorbehalts
des Gesetzes auf die Leistungspolitik durch Steuern, Haushaltsgesetz und Subventionen
und schließlich das grundsätzliche Verhältnis des Staates zur Gesellschaft, wie es mit
der konzertierten Aktion und Hearing-Praktiken angesprochen wird, alle diese und zahl-
reiche weitere Fragenkreise gehören zur Wirtschaftsverfassung.“
116 Es gibt keinen Beweis dafür, daß der Wettbewerb für die Allgemeinheit stets das
gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche
Regierung (imperium paternale), wo die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht
unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv
zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des
Staatsoberhauptes, und daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten:
ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die
alsdann gar keine Recht haben, aufhebt)“, Kant, Über den Gemeinspruch, S. 146 f.
212 4. Kap.: Der Wettbewerb als Bestandteil des Privatheitsprinzips
générale ist125 Dieses Allgemeine aber kann sich nur aus den allgemeinen Geset-
zen und nicht aus dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wett-
bewerb ergeben. Das Wettbewerbsprinzip ist keine ultima ratio, weil der Wettbe-
werb nicht mit Notwendigkeit zum allgemeinen Besten führt. Zwar gibt es eine
Gerechtigkeitsvermutung zugunsten der Verteilung von Gütern und Einkommen
am Markt, allemal unter Wettbewerbsbedingungen, Beurteilungsmaßstab ist aber
das grundgesetzlich höchstrangige Sozialprinzip.
Die Freiheit des Menschen, sei sie nun staatlich oder privat verwirklich, ist
untrennbar mit dem Sozialprinzip verbunden. Freies Handeln, welches sein Ge-
setz nicht im kategorischen Imperativ hat, ist nicht denkbar, weil dies kein Han-
deln als Vernunftwesen, kein Handeln in praktischer Vernunft ist. Vom Menschen
als einem Wesen in einer Gemeinschaft von anderen Menschen kann nicht abstra-
hiert werden. Der kategorische Imperativ bedeutet immer die Einbeziehung des
Anderen, die Brüderlichkeit, die Nächstenliebe, und in Bezug auf die vereinigte
Bürgerschaft, die Republik nämlich, das Sozialprinzip. Freies Handeln ist sitt-
liches Handeln, und etwas Anderes schützt das Grundgesetz ausweislich Art. 2
Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG nicht. Die freiheitlich vom Sozialprinzip bestimmten
Begriffe von Eigentum und Freiheit erlauben eine dogmatische Einheit der
Grundprinzipien der Republik, wie sie das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 GG
verfaßt, nämlich die Einheit des demokratischen, des sozialen und des rechts-
staatlichen, aber auch des föderativen Prinzips und des republikanischen Prin-
zips, zusammengefaßt des Rechtsprinzips. Nur an einer Europäischen Union,
welche diesem Rechtsprinzip genügt, darf die Bundesrepublik Deutschland aus-
weislich Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG mitwirken, um ein vereinigtes Europa zu ver-
wirklichen. Nichts anderes lassen auch die Art. 1 und 20 GG nach Maßgabe der
sogenannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG zu, welche die Verfassung
der Deutschen formulieren. Ein liberalistischer Freiheitsbegriff, der mit einem
Herrschaftsprinzip verbunden ist und die Freiheit von der Sittlichkeit löst, ist völ-
lig unvereinbar mit dem demokratischen Prinzip, unvereinbar mit dem Sozial-
prinzip und unvereinbar mit dem Rechtsprinzip, weil er die staatliche wie die
private Lebensverwirklichung der Herrschaft ausliefert und gerade nicht der
praktischen Vernunft verpflichtet. Auf einem solchen Freiheitsbegriff läßt sich
keine Republik bauen, das Gemeinwesen freier Menschen, die Gemeinschaft der
Bürger als freier Bürgerschaft.
128 J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, Ein philosophischer Entwurf als An-
hang zu Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik, 1800, 1922.
5. Kapitel
Ein Wettkampf von Läufern ergibt sich erst, wenn zwei Läufer um den Sieg
laufen. Ein Wettkampf ist das auch nur, wenn beide Läufer gleiche Chancen zu
siegen haben, wenn also der gemeinsame Lauf um den Sieg fair geregelt ist.
Selbst wenn einer der beiden Läufer einen Vorsprung bekommt, weil er schwä-
cher ist, ist das ein Wettkampf. Auch ist der Siegeswillen jedes der beiden Läufer
eine notwendige Voraussetzung allen Wettkampfes. Wettkampf setzt die verbind-
liche Ordnung voraus, also die Wettkampfordnung. Es ist kein Wettkampf mehr,
wenn selbst der schnellere Läufer gegenüber dem langsameren Läufer aufgrund
der Laufregelung keine Chance hat, den Lauf zu gewinnen. Eine solche Ausein-
andersetzung widerspricht nicht nur dem Fairneßprinzip, das aus dem Gleich-
behandlungsprinzip1 erwächst, sondern verletzt mit der Sittlichkeit, dem katego-
rischen Imperativ, auch die Menschenwürde. Das ist eine Verhöhnung des Wett-
kampfprinzips, welches das menschliche Leistungsprinzip mit dem ebenso
menschlichen Gleichheitsprinzip verbindet2. Konkurrenz (concurrere – zusam-
menlaufen/treffen) ohne Chancengleichheit ist rechtlos, nämlich Willkür, also
grobes Unrecht3. Diese Überlegungen zum sportlichen Wettbewerb sind auch für
das Verständnis des unternehmerischen Wettbewerbs hilfreich.
bewerb“ und Unternehmertum sind so „zwei Seiten einer Medaille“, der des
„Marktprozesses“. Der Wettbewerb ist somit ein Faktum, das sich aus der Mehr-
heit des Angebots gleicher oder austauschbarer Leistungen ergibt, unter denen
die jeweilige Marktgegenseite, nämlich Nachfrager oder Anbieter, wählen kön-
nen. Auch die Chance zum Markteinstieg muß man als Wettbewerbslage insbe-
sondere eines Monopols ansehen. Wie das Laufen zum Wettkampf führt, schafft
die Rivalität der Konkurrenten den Wettbewerb. Die Marktgegenseite entscheidet,
welcher der Unternehmer das Geschäft macht, nach der Vorstellung der Wettbe-
werbstheoretiker (und bisweilen auch in der Praxis) derjenige, der das bessere
Angebot unterbreitet, insbesondere den geringeren Preis für die gleiche oder so-
gar bessere Leistung verlangt. Das ist freilich Modelltheorie, nicht Empirie6. Das
allseitige Streben nach Glück kann zum Wettbewerb führen. Das entspricht der
Natur des Menschen7. Kant hat die neuronale Natur des Menschen noch nicht
gekannt und formuliert: „Dank sei der Natur für die Unvertragsamkeiten, für die
mißgünstige wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum
Haben, oder auch zum Herrschen. Ohne sie würden die vortrefflichen Naturanla-
gen in der Menschheit ewig unterentwickelt schlummern. Der Mensch will Ein-
tracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwie-
tracht“ 8.
Der Wille zur Eintracht ist das lebenswichtige Bedürfnis nach Zusammen-
arbeit, das freilich den Wettbewerb nicht ausschließt, wie das Leben zeigt.
werbs bemüht, mit wenig Erfolg. Wettbewerbspolitik erlaubt es somit, die Wirt-
schaftsgrundrechte, die (materiale) Handlungsfreiheit (selbstverständlich nicht
die formale Freiheit) usw. einzuschränken; dabei dürfen aber die Grundrechte
nicht verletzt werden. Die Substanz der Wirtschaftsgrundrechte ist die grundsätz-
liche Privatheit auch der Wirtschaft, also eine Unternehmensfreiheit, die durch
Privatheit gekennzeichnet ist.
Es kann keine Pflicht zum Wettbewerb9 und darum auch kein Recht auf Wett-
bewerb geben, solange und soweit das unternehmerische Handeln privatheitlich,
also selbst- und alleinbestimmt ist10. Ein Rechtssatz, der Menschen zum Wettbe-
werb berechtigen oder verpflichten wollte, wäre menschheitswidrig. Es gibt einen
solchen Rechtssatz nicht11. Das Wettbewerbsprinzip bringt keinen Rechtssatz
hervor, der geböte, Wettbewerb zu betreiben, wettbewerblich zu handeln. Wettbe-
werb müßte als Gegenstand eines besonderen Rechtssatzes selbst eine besonders
geregelte Handlungsweise sein, etwa die des Rivalisierens. Dieses ist aber eine
unternehmerische Handlungsweise unter mannigfachen anderen und als Unter-
nehmensfreiheit durch Art. 16 Grundrechtecharta der Europäischen Union schwach
und wenig klar geschützt: „Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unions-
recht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anerkannt“. Die Freiheit, wel-
che das Recht einschließt, sein Glück im Rahmen der Gesetze alleinbestimmt zu
suchen, die freiheitliche Privatheit12, ist die Grundlage des Rechts aller Men-
schen, ihr Leben zu unternehmen, und damit die Grundlage des gemeinsamen
Lebens, das Wettbewerb mit sich bringen kann, auch insbesondere den Wettbe-
werb der Unternehmer im engeren Sinne des Wettbewerbsrechts. Die Privatheit-
lichkeit ist somit die wesentliche Voraussetzung des Wettbewerbs und dessen
alleiniges Rechtsprinzip. Darum spricht das Bundesverfassungsgericht auch nur
vom Recht auf „Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedin-
gungen“ 13. Dies aber setzt den Wettbewerb als Faktum voraus. Ein Recht auf
Wettbewerb hätte dagegen zum Inhalt, daß die Unternehmer Dritte oder der Staat
Private verpflichten könnten, sich durch konkurrierende Angebote oder kon-
kurrierende Nachfrage in Rivalität und damit in gewollten Wettbewerb um be-
9 F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 256, sieht eine (wahrlich
schiefe) „Parallele“ zum Wahlrecht: es werde gewährt, damit freie Wahlvorgänge statt-
fänden. Gleichwohl bestünde keine gesetzliche Pflicht zur Wahl. Ebenso verhielte es
sich mit dem Wettbewerb: Wettbewerbsfreiheit werde gewährt, damit tatsächlicher
Wettbewerb stattfinden könne.
10 Gegen eine Wettbewerbspflicht auch F. Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfrei-
heit, in: Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 256, aber für die Wettbewerbs-
freiheit, S. 233 ff.; E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht,
§ 2, Rdn. 73 f., S. 72, Rdn. 5, S. 262.
11 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 467 ff.; E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer,
III. Wettbewerbsfreiheit?
Die bemerkenswerte und vielfach, wenn nicht überwiegend vertretene Auffas-
sung, unternehmerischer Wettbewerb lasse sich nicht definieren, überzeugt für
einen verfassungsgesetzlichen Wettbewerbsbegriff nicht. Ein solcher kann dem
Gesetzgeber eine verbindliche Orientierung für die Ordnung der Wirtschaft ge-
ben. Weil kein Rechtssatz spezifisch zum Wettbewerb berechtigt oder verpflich-
tet, gibt es entgegen verbreiteter Meinung auch kein besonders Grundrecht des
Wettbewerbs16, also keine grundgesetzliche Wettbewerbsfreiheit, weder in der
subjektiven noch gar in der objektiven Dimension eines Grundrechts. Freilich
wird das Wort Wettbewerbsfreiheit mit ganz unterschiedlicher Begriffsmaterie
benutzt, meist ohne Definition.
14 Ein Läufer muß eben aus eigenem Antrieb am Wettkampf teilnehmen und auch
siegen wollen.
15 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 395; ders., Der Anspruch auf
materiale Privatisierung, S. 183 ff.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 173 ff.;
ders., Freiheit in der Republik, S. 250, 496 f.
16 So aber BVerfGE 30, 191 (198); 60, 154 (159); 65, 167 (174); tendenziell auch
BVerfGE 105, 252 (265 ff.); klar F. Böhm, Wettbewerbsfreiheit und Kartellfreiheit,
S. 233 ff. (als Vertragsfreiheit); aber auch E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäi-
sches Wettbewerbsrecht, § 2, Rdn. 74, 81, 95, S. 72, 75, 81; § 10, Rdn. 5 f., S. 262 u. ö.
17 § 14 BGB: „(1) Unternehmer ist eine natürliche oder juristische Person oder eine
18 § 13 BGB: „Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu ei-
nem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer beruflichen Tätigkeit
zugerechnet werden kann.“
19 E. Hoppmann, Zum Problem einer wirtschaftspolitisch praktikablen Definition des
Res publica res populi, S. 256 ff., 333 ff.; L.-W. Beck, Kants „Kritik der praktischen
Vernunft“, S. 169 ff.
24 E. Hoppmann, Marktmacht und Wettbewerb, in: ders., Wirtschaftsordnung und
kung (Kausalität) auf andere, letztlich auf alle, hat. Äußere Freiheit ist aber die
„Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant).
Freiheit ist ein Lebens- und damit ein Rechtsprinzip. Der Bürger ist dem Staat
gegenüber durch verschiedene Grundrechte, vor allem durch die allgemeine Frei-
heit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Wesentlich für das Freiheitsverständnis im
gemeinsamen Leben mit anderen Menschen ist, daß die Freiheit nicht individua-
listisch als vorstaatliche, vorbürgerliche „wilde“ Freiheit (miß-)verstanden wird,
weil sonst die Menschen durch all ihr Handeln die Freiheit der anderen verletzen
würden. Freiheit in einer menschlichen Gemeinschaft und damit im Staat ist nur
die allgemeine Freiheit, welche durch die freiheitliche Gesetzlichkeit aller Bürger
und Menschen gekennzeichnet ist. Sie ist ohne die Gesetzlichkeit als Gesetze
aller Bürger nicht denkbar und darum ist die äußere Freiheit eine Einheit mit der
inneren Freiheit, der Sittlichkeit, deren Gesetz der kategorische Imperativ, das
Rechtsprinzip ist. Demgemäß definiert Kant das „einzige“ „angeborene Recht“:
„Freiheit, (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür); sofern sie mit
der Freiheit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen
bestehen kann, ist dieses einzige ursprünglich, jedem Menschen, kraft seiner
Menschheit, zustehende Recht“ 27. Diese Freiheit schützt Art. 2 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte28 und das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1. Die
Wirklichkeit der Freiheit durch Gesetzlichkeit macht den Staat notwendig29.
Die Gesetze begründen und begrenzen die Privatheit, die wiederum die unter-
nehmerische Tätigkeit ermöglicht. Die Freiheit im Staat, die bürgerliche Freiheit,
ist das Leben und Handeln unter den Gesetzen, die Gesetzlichkeit des gemeinsa-
men Lebens und damit die Unternehmensfreiheit als Recht, im Rahmen der Ge-
setze die eigenen unternehmerischen Zwecke zu verfolgen. Wenn Unternehmer
die Gesetze achten, achten sie auch die Freiheit der anderen. Wettbewerbsfreiheit
gegenüber anderen Unternehmern wäre demnach nichts anderes als, objektiv, die
Rechtlichkeit des gemeinsamen Lebens, die allgemeine Gesetzlichkeit, und, sub-
jektiv, das Recht auf Recht30. Folglich gibt es keine eigenständige Wettbewerbs-
freiheit gegenüber anderen oder Dritten, welche zum Gesetzlichkeitsprinzip, zum
Prinzip der Legalität, hinzukäme. Kein Unternehmer muß eine Wettbewerbsfrei-
definiert werden könnte und zum anderen ein Gemeinwesen ein solches Recht
nicht hinnehmen könnte; denn dadurch würde die Wirtschaftsverfassung fest-
gelegt, die der Staat aber nach den Notwendigkeiten der Lage gestalten können
muß. Das Grundgesetz verfaßt eben keine Marktwirtschaft, sondern eine markt-
liche Sozialwirtschaft. Das primäre Unionsrecht ist gespalten und die Unionspra-
xis (außer in der Agrarpolitik) marktwirtschaftlich (neoliberal). Freilich müßte,
jedenfalls im deutschen Recht, ein Grundrecht der Wettbewerbsfreiheit einen Ge-
setzesvorbehalt haben. Im Übrigen wäre eine allgemeine Wettbewerbsfreiheit ein
Widerspruch zur Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 GG. Wettbewerb ent-
faltet sich durch die Tätigkeiten der Unternehmer, die sich auf die durch die
sogenannten (Wirtschafts-)Grundrechte geschützte Unternehmensfreiheit berufen
können. Diese ergeben ein Privatheitsprinzip, das zudem von den unionsrechtli-
chen Grundfreiheiten verstärkt wird35. Das Privatheitsprinzip hat Schutzwirkung
für den Wettbewerb, freilich nur nach Maßgabe der Wirtschaftsgrundrechte. Eine
Wettbewerbsfreiheit, etwa im Sinne eines verfassungsgeschützten Rechts, „sich
durch freie Leistungskonkurrenz auf dem Markt gegenüber anderen Unterneh-
men durchzusetzen“ 36, macht das nicht aus. Das Bundesverfassungsgericht sieht
demgemäß nur ein Recht auf „Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner
Funktionsbedingungen“ 37, wie dieses auch gestaltet sei, durch die Berufsaus-
übungsfreiheit des Art. 12 Abs.1 S. 2 GG geschützt. Die Reduzierung der Privat-
heit der Unternehmer, der Unternehmensfreiheit, auf eine Wettbewerbsfreiheit,
wäre, abgesehen von dem Begriffsproblem, eine menschheitswidrige Verkürzung
des freiheitlichen Privatheitsprinzips; denn der Mensch kann nicht verpflichtet
werden, mit anderen zu rivalisieren. Er darf auch kooperieren. Er darf auch Bru-
der sein, seinen Nächsten lieben. Er soll das sogar. Eine irregeleitete Grund-
rechtsdogmatik würde der positiven Wettbewerbsfreiheit, eine negative an die
Seite stellen38.
3. Freiheit als Schutzpflicht des Staates
S. 71 f.
36 So E. R. Huber, Der Streit um die Wirtschaftsverfassung, DÖV 1956, S. 137; fol-
20, 175 (207 ff., 215 ff.); 30, 195 (203); BVerfGE 50, 290 (366 ff.), 5, 7 (22), 57, 224
(245); 64, 208 (213 f.); 73, 261 (270); 84, 212 (224); 93, 352 (357); grundsätzliche
Kritik M. Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, zugleich ein Beitrag zur negativen Ko-
alitionsfreiheit, S. 48 ff., 143 ff.
III. Wettbewerbsfreiheit? 223
42 Die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit ist keine liberalistische Freiheit vom Staat,
sondern Freiheit unter den Gesetzen, weil nämlich die Freisetzung individueller Zweck-
setzung nur unter den Rahmenbedingungen, welche durch Recht und Politik geschaffen
wurden, möglich und vertretbar sind, F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 285.
43 Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 f.
44 E. Hoppmann, Wettbewerbspolitik in Deutschland, S. 356 f.; ders., Marktmacht
licht werden47. Den kennt niemand und kann niemand kennen. Wenn und weil
der Staat das versucht, „pervertiert“ er den Wettbewerb48.
Slg. 1979, 461, Rdn. 91; EuGH v. 11.12.1980 – Rs. 31/80 (L’Oréal/De nieuwe Amck),
Slg. 1980, 3775, Rdn. 28.
48 E. Hoppmann, Wettbewerbspolitik in Deutschland, S. 366 ff.
49 Vgl. R. A. Posner, The Economics of Antitrust, 1949, Neuauflage: Antitrust Law,
2001.
50 F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 3, 10; E. Hoppmann,
Eine vielfache genannte Wirkung des Wettbewerbs und damit einer seiner
wichtigsten Zwecke ist die optimale Allokation der Ressourcen. Das soll „als In-
stitution der Marktwirtschaft“ Wohlstand und Fortschritt fördern55. Optimale Al-
lokation ist der Zustand vollkommener Konkurrenz auf allen Märkten, also ein
fragwürdiger gleichgewichtstheoretischer Begriff, bei dem alle Marktteilnehmer
über Produkte und Preise vollständig informiert sind, der Marktzutritt keinerlei
Beschränkungen unterliegt, tatsächlich oder potenziell zahlreiche Anbieter vor-
handen sind und deswegen die Preise auf Dauer nicht höher sein können als die
durchschnittlichen Produktionskosten56. Diese durch keine Empirie erwiesene
(neoliberale oder neoklassische markt-, preis- und gleichgewichtstheoretische)
Modellvorstellung57 ideologisiert gegenwärtig sogar den Standortwechsel von
Unternehmen, ein wesentlicher Schritt der Gewinnmaximierung zu Lasten vor
allem der entwickelten Volkswirtschaften mit hohen Kosten, wie Deutschland.
Meist sind es die Gesetze, vor allem die Steuergesetze. Für den Wettbewerb ist
die Allokation allenfalls nachrangig, es sei denn, man bezieht alle Aspekte im
S. 78.
53 E. Hoppmann, Grundsätze marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik, in: ders.,
Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 309 ff., 315 ff.; deutlich ders., Workable Com-
petition als wettbewerbspolitisches Konzept, daselbst S. 226 ff. (gegen das Kriterium
„wesentlicher Wettbewerb“).
54 Zur Verdeutlichung § 35 S. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetz: „Verwaltungsakt
ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde
zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf
unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.“
55 BGHZ 13, 33 ff.; W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 245 (für den
„vollständigen Wettbewerb“).
56 M. Neumann, Wettbewerbspolitik, S. 7, gestützt auf F. H. Knight, Risk, Uncertainty
S. 196 f., mit Fn. 45 (zum Bundeskartellamt, für das „funktionsfähig“ und „wirksam“
synonyme Begriffe seien); E.-J. Mestmäcker/H. Schweitzer, Europäisches Verfassungs-
recht, § 2, Rdn. 88 f., S. 79.
62 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbstheorie, in: Gabler, Volkswirtschaftslexikon,
S. 1278 ff., 1280 f.; vgl. E. Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs
S. 15 ff., bei dem das 6. Kriterium bemerkenswerterweise nicht genannt ist.
228 5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
3. Rechtsstaatliche Unternehmensverwaltung
Wettbewerb hat zu viele Erscheinungsformen, als daß sein Begriff mit verwal-
tungsrechtlicher65 Bestimmtheit definiert werden könnte. Wettbewerb ereignet
sich als jeweiliges Faktum privaten Handelns, das sich aus den vielfältigen Hand-
lungen von Unternehmen, aber auch von Arbeitnehmern und Verbrauchern, Ver-
bänden und Medien, Staat und Staaten, aus dem bunten Leben entwickelt, nicht
werb, S. 389 f.; ders., Wettbewerbspolitik in Deutschland, daselbst, S. 362 ff.; ähnliche
Kritik am „Konstruktivismus“ M. Neumann, Wettbewerbspolitik S. 34 f., weil dieser
den „evolutionären Ansatz“ des Wettbewerbs, den „dynamischen Prozeß“, das „Ent-
deckungsverfahren“ verkenne.
64 I. d. S. (kritisch) E. Hoppmann, Zum Schutzobjekt des GWB. Die sogenannten
voraussehbar und keinesfalls für die Zukunft, die niemand kennt, verbindlich
festlegbar, wenn man so will, als „spontane Ordnung“, ständig in Bewegung, ins-
gesamt ohne Ziel und Zweck. Eine materiale, das unternehmerische Handeln und
wettbewerbsbehördliches Verwalten verpflichtende Definition könnte und würde
die unternehmerische Entfaltung folgenschwer lähmen, das wettbewerbliche Ent-
deckungsverfahren behindern. Der notwendigen Dynamik des Wettbewerbs ge-
nügt nur eine Offenheit des Wettbewerbsbegriffs, welcher die Erscheinungsviel-
falt des Wettbewerbs nicht grundlos einengt, zumal Wettbewerb nicht die einzige
mögliche Option von Unternehmern ist, die auch im Unternehmensinteresse und
durchaus auch zum Wohle des Gemeinwesens auf Wettbewerb verzichten, also
anstatt eines Gegeneinanders ein Miteinander betreiben können, wie es der ko-
operativen Natur des Menschen eher entspricht als das im Kern darwinistische
Konzept des Fortschritts durch den Sieg des Stärkeren über den Schwächeren.
Als Verwaltungsbegriff kann ein derart offener Wettbewerbsbegriff der Vielfalt
des Lebens gemäß unterschiedlich, zudem orientiert an unterschiedlichen Wett-
bewerbstheorien (dem „Schlachtfeld von Modellruinen, auf denen in erhabener
Einsamkeit je ein Nationalökonom sitzt“)66, materialisiert werden. Wegen der
mit administrativen Wettbewerbsregelungen verbundenen Grundrechtseingriffe
ist ein solcher Vertrags- und Gesetzesbegriff rechtsstaatswidrig. Rechtsstaatlich
tragfähig sind allein Verwaltungsakte, welche Gesetze vollziehen, die bestimmte
wettbewerbsrelevante (nämlich privatheitliche) Unternehmenshandlungen verbie-
ten, weil diese erfahrungsgemäß dem Gemeinwohl schaden, wie insbesondere die
Kartelle (als Verträge zu Lasten Dritter). Die Verbote müssen hinreichend be-
stimmt sein. Der Begriff des Wettbewerbs, der allenfalls eine geringe Materialität
hat, kann deswegen kein Verbotskriterium sein. Er eignet sich nur als wirtschafts-
politischer Leitbegriff auf Verfassungsebene, der in Abwägung mit anderen poli-
tischen Leitentscheidungen des Verfassungsgesetzes die Wirtschafts- und Unter-
nehmenspolitik des Gesetzgebers leitet. Als orientierende Entscheidungsmaxime
wird der Wettbewerbsbegriff denn auch angewendet, durchaus in Abwägung mit
anderen Maximen und Zielen, etwa den vielfältigen Zielen des Unionsrechts67,
aber eben von der Exekutive, nicht von der Legislative und damit entgegen dem
rechtsstaatlichen Bestimmtheitsprinzip68 und der gewaltteiligen Funktionenord-
nung69. Das rechtsstaatliche Dilemma der Wettbewerbspolitik ist unentrinnbar,
aber ein offener Wettbewerbsbegriff ist rechtsstaatlich nicht administrierbar.
F. Böhm, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, S. 11, ist Voraussetzung der
Marktrationalität die uneingeschränkte Entscheidungs- und Dispositionsfreiheit der
Marktteilnehmer. Dem Preismechanismus komme die zentrale Steuerungsfunktion zu,
die eine rationale Abstimmung Millionen individueller Wirtschaftspläne in einer ar-
beitsteiligen Gesellschaft ermögliche, ohne daß der Einzelne sich einem fremden Wirt-
schaftsplan unterordnen müsse. Auch würde durch die Wettbewerbsordnung der Rei-
bungswiderstand asozialer Motive und Interessen auf ein Mindestmaß herabgemindert.
71 I. d. S. Senator John Sherman, der den Sherman Act 1890 eingebracht hat, gegen
unternehmen und Privatrecht, S. 374 ff.; etwa RGZ 48, 114 (124), 1901; RGZ Gr.
S. 150, 1 (5), 1936 („gesundes Volksempfinden“); RGZ 166 315 (318 f.); BGHZ 10,
228 (232); 34, 169 (176).
75 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 304 ff.
76 RGZ 134, 342 (353 f.), Benrather Tankstellenfall, 1931.
77 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung und Welthandelsordnung, S. 624 ff.;
ders., Freiheit in der Republik, S. 592 ff.; zu den Unternehmen von öffentlicher Bedeu-
tung H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 407 ff., 430 ff.
232 5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
S. 294 ff.
79 Dazu F. A. v. Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, S. 8 f.; E. Hoppmann,
322 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 492 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale
Privatisierung, S. 190 ff., 300 ff., 306.
84 BGHZ 37, 1 (126 ff.); 51, 236 (242); 66, 229 (232 f.); 67, 81 (84); 81, 291 (295);
82, 375 (381 ff.); 102, 280 (285); BVerfGE 17, 306, (313); 39, 329 (337).
V. Sittliche Lebensbewältigung und Grenzen der Privatheit 233
85 BVerfGE 61, 82 (107); ebenso BVerwGE 39, 329 (333 f.); BGHZ 82, 375
(381 ff.).
86 Vgl. BVerfGE 20, 257 (270); BVerwGE 12, 162 (167); 13, 214 (222 f.); 26, 305
(368 ff.).
87 Zum rent-seeking in den USA J. Stieglitz, Der Preis der Ungleichheit: Wie die
NVwZ 1986, 1045 ff.; tendenziell wie der Text des OLG Hamm, JZ 1998, 577; VGH
Mannheim, NJW 1984, 251 ff.; vgl. auch BVerwGE 39, 329 (330 ff.); dazu K. A.
Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 153 ff.
91 K. A. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, in: ders. (Hrsg.),
Rechtsfragen der Weltwirtschaft, S. 274 ff., 289 ff., 308 ff.; ders., Demokratische und
soziale Defizite, der Globalisierung, in: Freiheit – Recht – Staat, hrsg. v. D. Siebold/
A. Emmerich-Fritsche, S. 683 ff., 692 ff.
92 Dazu nicht unkritisch H. Steinmann/A. Löhr, Grundlagen der Unternehmensethik,
zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Ent-
schädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft
überführt werden. Für die Entschädigung gilt Art. 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entspre-
chend.“
95 Für Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 15, Rdn. 7, kann die interna-
Das Wettbewerbsprinzip ist dem Prinzip der Sittlichkeit, dessen Gesetz der ka-
tegorische Imperativ ist, geradezu entgegengesetzt. Es setzt auf die Neigungen
des Menschen, nämlich dessen Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht96, nicht
aber auf dessen praktische Vernunft. Die Idee der Freiheit als Menschheit der
Menschen, also die republikanische Freiheit, ist dem vermeintlichen Realismus
der Wettbewerbstheorien und Wettbewerbsregeln fremd. Für einen solchen Wett-
bewerbsrealismus fehlt allerdings die hinreichende Möglichkeit, die Wirklichkeit
zu kennen, welche zu ermitteln nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem die
Behörden und Gerichte überfordert97. Friedrich August von Hayek hat das mit
seiner von so gut wie allen Wettbewerbstheoretikern nachempfundenen Vorstel-
lung von Wettbewerb als Entdeckungsverfahren vor Augen geführt. Das könnte
der Grund sein, warum der Urvater des Wettbewerbsprinzips, Adam Smith, von
der „invisible hand“ gesprochen hat, welche die Vielheit der Handlungen, mit
denen die Unternehmer und Verbraucher ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht
auf die Interessen anderer verfolgen, damit „wealth of nations“ 98 forme. Recht
96 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 439 f., 463 ff.; zum Begriff der Neigung
aber beruht auf Sittlichkeit und Moralität99. Der Wettbewerb trägt zur Rechtlich-
keit nur insoweit bei, als er im Interesse des guten Lebens aller, des allgemeinen
Wohlstandes, vom Staat gestaltet wird, also trotz seiner nötigenden Wirkung legal
ist. Als Rechtsprinzip muß auch das Wettbewerbsprinzip auf der allgemeinen
Freiheit als praktischer Vernunft beruhen, also auf dem allgemeinen Gesetz, das
ein Gesetz des Rechts sein muß. Das Wettbewerbsprinzip will die Neigungen der
Menschen nutzen, den starken erotischen (Verlangen, Gier) oder thymotischen
Antrieb (Mut, Zorn, Herz) vieler Menschen100, und ist folglich dem Recht des
Menschen als (sozialem, kooperierendem) Vernunftwesen entgegengesetzt.
Wettbewerb entsteht, wenn Menschen, durchaus auch als Unternehmer, nach
freier Willkür, also sittlich, handeln. Das schützen die Menschen- und Grund-
rechte. Das schützt der Staat. Das Gegen- und Miteinander, der menschliche Ant-
agonismus, die „ungesellige Geselligkeit“, ist in der Natur des Menschen, eines
Primaten, angelegt, sowohl das „Konkurrenzdenken“ als auch das „Prinzip der
Gegenseitigkeit“ 101, das aus dem kategorischen Imperativ erwächst. Das Faktum
des Wettbewerbs wird von den Menschen toleriert, weil die Menschen die allsei-
tige Freiheit, zu der die Privatheit gehört, akzeptieren und um der Menschheit des
Menschen willen, die in den Grundtexten des Rechts, wie vor allem in der All-
gemeinen Erklärung der Menschenrechte, aber auch im Grundgesetz in Art. 1
und Art. 2 formuliert ist, als ihre Verfassung dem gemeinsamen Leben zugrunde-
legen. Die Handlungen von Unternehmern freilich, welche ein Volk sich nicht
zumuten lassen will, unterbindet es durch seine Gesetze, wie etwa die Kartelle,
eben durch das mißlungene Recht der Wettbewerbsbeschränkungen. Freilich
müssen Gesetze, welche das Handeln von Menschen unterbindet, demokratisch
erkannt und beschlossen sein und die vollziehende Gewalt und die Rechtspre-
chung hinreichend binden, also dem Bestimmtheitsprinzip genügen102. Die Wirk-
lichkeit des Rechtsstaates, nicht irgendein nicht definierbarer wirksamer Wettbe-
werb, ist das sittliche Gebot der Menschheit. Freilich muß das Recht die „Un-
vertragsamkeit“ des Menschen, dessen „mißgünstig wetteifernde Eitelkeit“, seine
„nicht zu befriedigende Begierde zum Haben und auch zum Herrschen“ berück-
sichtigen, um der stets gefährdeten Sittlichkeit des gemeinsamen Lebens eine
Chance zu geben. Das Gemeinwesen darf und soll durchaus auch die Triebkräfte,
die Kant „vortreffliche Naturanlagen“ nennt103, nutzen, soweit das dem Gemein-
wohl dient. Die Grenzen sind Sache der praktischen Vernunft, der Gesetze also.
99 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290 ff., 325 ff., 493 ff., 519 ff.;
ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 23 ff., insb. S. 40 ff.; ders., Freiheit in der Republik,
S. 49 ff., 83 ff., 281 ff., 318 ff., 405 ff.
100 P. Sloterdijk, Zorn und Zeit, ein politisch-psychologischer Versuch, insb. S. 50 ff.
101 Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 37.
102 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 273 ff.
103 Beide Zitate Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab-
sicht, S. 38.
238 5. Kap.: Wettbewerb der Unternehmen als Faktum und als Rechtsprinzip
Ein Staat jedoch, der Effizienz eigennützigen Handelns der Unternehmer er-
zwingen will und sei es aufgrund der Erfahrung eines Nutzens von Wettbewerb,
hat die Grundprinzipien freiheitlicher Gemeinwesen verkannt. Ein solcher Staat,
der sich berechtigt und verpflichtet sieht, die Effizienz unternehmerischen Han-
delns sicherzustellen, ist der Sache nach ein totalitär auf von der Zinswirtschaft
erzwungenes Wachstum ausgerichteter Staat, selbst wenn er reklamiert, eine
Freiheit zu verwirklichen, nämlich die vermeintliche Wettbewerbsfreiheit. Sie
wäre ohnehin nur die Freiheit der Unternehmer zu Lasten der Freiheit der Ver-
braucher. Wesentlich ist, daß der der neoliberalen Wettbewerbsideologie zu-
grundeliegende Freiheitsbegriff der menschheitswidrige Freiheitsbegriff ist. Ein
fundamentales Wettbewerbsprinzip erweist sich als staatswidrig. Es will den
Schlachten der Unternehmen Nutzen für die Allgemeinheit abgewinnen. Dieses
Projekt ist allenfalls in engen Grenzen erfolgreich. Vor allem findet das Wettbe-
werbsprinzip nicht zu Rechtsbegriffen, welche dem Rechtsprinzip gemäß gehand-
habt werden können, und ist deshalb mit den Prinzipien eines Rechtsstaates un-
vereinbar.
6. Kapitel
1 Dazu Ch. Grüneberg in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Einf. v. § 320 BGB,
sprünglich die Kampfordnung bei Turnieren. Als Begriff des Völkerrechts i. S. e. Ab-
240 6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
kommens zwischen Staaten betraf ein Kartell Regelungen von geringerer politischer
Bedeutung zur Verbesserung oder Erleichterung von Verwaltungsmaßnahmen, etwa im
Zollwesen, aber auch die wechselseitige Auslieferung von Deserteuren. Ansonsten ist
ein Kartell eine „vertragsmäßige Vereinbarung zwischen selbständig bleibenden Unter-
nehmen des gleichen Gewerbezweigs, die durch Regelungen von Einkauf, Erzeugung
oder Absatz ihren Markt beeinflussen und dabei vielfach monopolistische Zwecke ver-
folgen“, Der große Brockhaus, Bd. 15, 1931, S. 748 f.; zum Ursprung des Kartellbe-
griffs auch K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 2, S. 59.
4 K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB, Rdn. 1, S. 59, in der
8. GWB-Novelle taucht der Begriff des Kartells nicht auf. Der EuGH versteht unter
Wettbewerb die „wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Unternehmen auf dem von
ihnen vorgefundenen Markt“ (EuGH, 29.10.1980, „FEDETAB“, Slg. 1980, 3125; „Ja-
vico“, 28.4.1998, C – 306/96, Slg.1998, I – 01983, Tz. 13; „Asnef-Equifax“, 23.11.
2006 – C 238/05, Slg. 2006, I – 11125, Tz. 52).
5 W. Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, S. 54.
6 F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbs-
menden Willen haben, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten, M. Pasch-
ke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1,
Art. 101 AEUV, Rdn. 11.
9 K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 17, S. 65.
10 K. Krauß, in: Langen/Beute, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 92, S. 95, wobei ein
Noack, NK-BGB, Vor. § 116–124, S. 69, Rdn. 12; R. Singer, in: Staudinger/Hertel, Kom-
I. Das Kartell als ein Typus des Vertrages 241
bestimmten Verhaltens, auf welches dann das eigene Handeln abgestellt wird12.
Auf die Form von Verträgen kommt es grundsätzlich nicht an13, es sei denn, daß
sich aus den allgemeinen Gesetzen bestimmte Formvorschriften ergeben14. Der
Begriff der Vereinbarung ist demnach weit auszulegen, Vereinbarungen bedürfen
keinen besonderen Form15, obwohl Kartelle als Verbindungen des Privatrechts
vielfach in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts auftreten, aber
auch als rechtsfähiger oder nichtrechtsfähiger Verein oder als Doppelgesellschaft
(eine GbR mit z. B. einer GmbH als Ausführungsorgan)16. Die Menschen schlie-
ßen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, weil sie der Meinung sind, daß sie so
ihre Ziele besser verwirklichen können, als wenn dies jeder für sich allein ver-
sucht. Kartelle im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind
„Vereinbarungen von durch ein Gesellschaftsverhältnis verbundenen, in ihren Be-
ziehungen zueinander selbständig bleibenden Unternehmen zur Beschränkung
des zwischen ihnen ohne diese Verbindung möglichen Wettbewerbs, die geeignet
sind, die Faktoren, die bei vollständiger Konkurrenz allein für den Ablauf des
Marktgeschehens maßgeblich sein sollten, nämlich eine sich aus den natürlichen
Gegebenheiten des Marktes ergebende Bildung von Angebot und Nachfrage und
einen sich daraus entwickelnden Preis und Absatz, zu beeinflussen“ 17. Grund-
sätzlich beinhaltet Art. 9 Abs. 1 GG mit seinem individualrechtlichen Grundbe-
zug18 den Schutz des „Sich-Vereinigens“ 19 und damit die „Persönlichkeitsver-
mentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Allgem. Teil 3, § 116, S. 467, Rdn. 53 f.;
R. Brock, Allgemeiner Teil des BGB, § 116, S. 223, Rdn. 573, S. 408.
12 Zur Vertragsverbindlichkeit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik,
meinsamen Willen, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten, tatsächlich
zum Ausdruck gebracht haben. Das muß nicht schriftlich oder mündlich erfolgen,
K. Krauß, in: Langen/Beute, Kartellrecht, Bd. 1, § 1, Rdn. 64 f., S. 84 f., auch ist kein
Rechtsbindungswille erforderlich, Rdn. 68, S. 86; so auch M. Paschke, in: Münchner
Kommentar, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV,
Rdn. 18, 63 a.
16 Zu den Rechtsformen der Kartelle auch W. Fikentscher, Die Interessengemein-
Vorbemerkung zu § 1, Rdn. 1.
18 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 21; Ch. Kannengießer, in:
20 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 34, Ch. Kannengießer, in:
Vorgänge, die durch eine Reihe persönlicher, formeller und sachlich-inhaltlicher Krite-
rien abgegrenzt werden, K. Krauß, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 1 GWB,
Rdn. 3, S. 59 f.
24 Arbeitsgemeinschaften können auch zu einer Intensivierung des Wettbewerbs füh-
ren, wenn „die Untenehmen ohne Zusammenarbeit überhaupt nicht imstande wären, auf
dem Markt tätig zu werden“, (notwendige Arbeitsgemeinschaft), F. J. Säcker, in: Münch-
ner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 1 GWB, Rdn. 39,
S. 26.
25 Ch. Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartell-
sig. Sie kann aber kartellrechtlich relevant werden, wenn sie die wettbewerbliche Hand-
lungsfreiheit der beteiligten Unternehmen spürbar einschränkt, wobei die Grenzen zur
wettbewerbsbeschränkungsfreien Zusammenarbeit „nicht immer und augenfällig er-
kennbar“ sind, Ch. Hootz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches
Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar, 1. Lieferung, Rdn. 145.
28 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 64.
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip 243
29 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 513 ff.; ders., Res publica res
populi, S. 408 f.
30 So im Ergebnis E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbe-
sind aber die Ausnahmen vom Kartellverbot, nämlich die Normen- und Typen-
kartelle sowie die Konditionenkartelle (§ 2 GWB a. F.), die Spezialisierungs-
kartelle (§ 3 GWB a. F.), die Rationalisierungskartelle (§ 5 GWB a. F.) und die
Strukturkrisenkartelle (§ 6 GWB a. F.). Beibehalten wurden die Ausnahmen für
Mittelstandskartelle (§ 3 GWB, § 4 GWB a. F.) und die sonstigen Kartelle, wel-
che vom Verbot des § 1 GWB freigestellt sind, wenn sie unter angemessener Be-
teiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn „zur Verbesserung der
Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirt-
schaftlichen Fortschritts beitragen“ (§ 2 GWB, § 7 GWB a. F.)35. Das GWB geht
von der grundsätzlichen Zulässigkeit von Kartellen aus, auch von solchen, wel-
che den Wettbewerb beschränken. Das ist wegen des umfassenden Privatheits-
prinzip und dem damit verbundenen Recht zur Kooperation auch zwingend.
Kartelle im Sinne des § 2 GWB sind ohne Verwaltungsverfahren vom Kartell-
verbot des § 1 GWB freistellt36: „Vom Verbot des § 1 freigestellt sind Verein-
barungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen
oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die unter angemessener Betei-
ligungen der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der
Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirt-
schaftlichen Fortschritts betragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen
1. Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele
nicht unerläßlich sind, oder
2. Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden
Waren den Wettbewerb auszuschalten.“
Ob die in § 2 Abs. 1 GWB aufgeführten Freistellungstatbestände erfüllt sind,
entscheiden nicht mehr die Wettbewerbsbehörden im Rahmen eines entsprechen-
den Verwaltungsverfahrens ex ante, sondern darüber befinden die kartellierenden
Unternehmen in ihrer Privatheit37 zunächst allein38. Die Befugnisse der Kartell-
35 Daß sich der Gesetzgeber positive ökonomische Wirkungen von den zugelassenen
S. 210.
37 „Auf Basis ihrer Selbsteinschätzung“, H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartell-
behörden reduzieren sich auf eine Mißbrauchsaufsicht39 ex post40, indem sie ge-
mäß § 32 GWB41 Zuwiderhandlungen nachträglich feststellen und abstellen kön-
nen42. Damit sind alle Kartelle von Anfang an rechtswirksam und dürfen zu-
nächst praktiziert werden. Es gibt keine generelle Vermutung der Nichtigkeit von
Kartellen43. Dazu gehören „die vertragliche Festsetzung von Preisen, die Ein-
schränkung des Wettbewerbs in der Produktion, im Absatz oder bei den Investi-
tionen sowie die Aufteilung von Märkten oder Versorgungsquellen“ 44. Das Ver-
bot einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung greift nur dann ein, wenn die
Kartellbehörden oder die Gerichte durch ihre Entscheidung feststellen, daß Frei-
stellungsmerkmale nicht zu den in § 2 Abs. 1 GWB genannt Vorteilen beitra-
gen45. Dann müssen Beschränkungen auferlegt werden, die für diese positiven
Ziele46 nicht unerläßlich sind, und es ist darzulegen, ob die Möglichkeit eröffnet
mission vom 21.3.2014). Dazu F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäisches und
Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 2 GWB, Rdn. 5, S. 32; H.-H. Schneider, in: Langen/
Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 2 GWB, Rdn. 63 ff., S. 225 ff.
39 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999,
von Unternehmen verpflichten, eine Zuwiderhandlung gegen eine Vorschrift dieses Ge-
setzes oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Union
abstellen.“
42 Zur Funktion der Abstellungsverfügung, J. Bornmann, in: Langen/Bunte, Kartell-
wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszu-
schalten47. Die Unternehmen, welche sich auf diese Voraussetzungen für eine
Ausnahme vom Kartellverbot berufen, haben insoweit auch die Darlegungs- und
Beweislast48. Die Unternehmen müssen nicht mehr vor der Ausübung der Kar-
tellierung ihre Anhaltspunkte darlegen, die für eine Ausnahme vom Kartellverbot
sprechen, sondern erst dann, wenn sie ins Visier der Mißbrauchsaufsicht durch
die Kartellbehörden geraten. Diese Legitimationskriterien im Rahmen der Rechts-
und Verwaltungspraxis näher zu materialisieren erfordert aber Daten, welche sich
erst durch den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ergeben müßten, obwohl
gerade dieser empirisch nicht stattgefunden hat. Die Kritik Karl Albrecht
Schachtschneiders an dieser Praxis wurde im vergangenen Kapitel dargestellt.
Obwohl Kartelle zur wirtschaftlichen Wirklichkeit zählen und an der Tagesord-
nung sind, ist aber dennoch kein Kartelliberalismus49 gerechtfertigt. Gleichwohl
bleiben Kartelle aber ein Massenproblem50. Eine Grenze, wie weit das Privat-
heitsprinzip reicht und ab welchem Punkt eine Kooperation von Unternehmen
die Freiheit von Konkurrenten und Mitbewerbern am Markt in unzumutbarer
Weise beschränkt, läßt sich nicht mit Marktrationalität bestimmen.
Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen enthält aber auch klare Hand-
lungsverbote, etwa das Boykottverbot gemäß § 21 Abs. 1 GWB: „Unternehmen
und Vereinigungen von Unternehmen dürfen nicht ein anderes Unternehmen oder
Vereinigungen von Unternehmen in der Absicht, bestimmte Unternehmen unbil-
lig zu beeinträchtigen, zu Liefersperren oder Bezugssperren auffordern.“ Diese
Vorschrift stellt nicht auf eine Beeinträchtigung der Marktrationalität durch Wett-
bewerbsbeschränkung ab, sondern unmittelbar auf den Schutz der unternehmeri-
schen Freiheit von Konkurrenten und Mitbewerbern, welche nicht durch Boykott-
orientierter oder struktureller Art vorschreiben, die gegenüber der festgestellten Zuwi-
derhandlung verhältnismäßig und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung
erforderlich sind“, H.-H. Schneider, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 32 GWB,
Rdn. 29, S. 815, unter Bezugnahmen auf Begr.Reg.E., BT-Drucks. 17/9852, S. 26.
48 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999,
S. 523 ff., 526; zur Beweislast auch F. J. Säcker, in: Münchner Kommentar, Europäi-
sches und Deutsches Kartellrecht, Bd. 2, § 2 GWB, Rdn. 12, S. 34.
49 Dem „Monopolsyndikalismus bislang unbekannten Ausmaßes“ müsse „ein Riegel
S. 523 ff., 524; „Jedenfalls ist es undenkbar, daß die Unternehmen Tausende von Ver-
einbarungen anmelden, die die Kommission zu untersuchen hätte“, Europäische Kom-
mission, Weissbuch über die Modernisierung der Vorschriften der Artikel 85 und 86
EG-Vertrag, EG Abl. C 132/16 vom 12.5.1999, im Übrigen sind in der über 35jährigen
Anwendung der Verordnung 17/62 nach Anmeldung einer Vereinbarung (ohne Vorlie-
gen einer Beschwerde) nur neun Verbotsentscheidungen erlassen worden, 132/21 Fuß-
note; in Deutschland konnten in den Jahren 2006–2009 lediglich 14 Kartellverfahren
abgeschlossen werden, Bundeskartellamt, Erfolgversprechende Kartellverfahren, Nut-
zen für Wirtschaft und Verbraucher, Bonn, 2011, S. 7.
II. Die Rechtfertigung der Kartelle durch das Privatheitsprinzip 247
wobei es aber eine beabsichtige Beeinträchtigung sein muß; der „tatsächlich Eintritt ei-
ner Beeinträchtigung reicht nicht aus, wenn sich die Absicht des Auffordernden nicht
hierauf richtete. Andererseits ist die tatsächlich Nachteilszuführung nicht erforderlich,
sofern eine entsprechende Absicht des Auffordernden feststellbar ist“.
52 J. Keßler, in: Münchner Kommentar, Europäisches und Deutsches Kartellrecht,
Bd. 2, § 32 GWB, Rdn. 47 ff., S. 492 ff. Diese Verfügungen müssen dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit genügen, Rdn. 50 ff., S. 593 ff. Zum Verhältnismäßigkeitsprin-
zip grundsätzlich K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 342 ff.
53 Fraglich ist, ob das allgemeine Unbilligkeitsurteil von Preiskartellen gerechtfertigt
ist oder ob sie nicht vielleicht doch durch das Privatheitsprinzip gedeckt sind, auch
dann, wenn sie zu erheblichen Mehreinnahmen seitens der sich kartellierenden Unter-
nehmen führen. Als Beispiel soll die Entscheidung der EU-Kommission vom 21. No-
vember 2001 angeführt werden (zusammenfassend EC IP/01/1625), in welcher die EU-
Kommission „gegen acht Vitaminhersteller wegen Beteiligung an acht geheimen Markt-
aufteilungs- und Preisfestsetzungsabsprachen Geldbußen in Höhe von insgesamt 855,22
Mio. EUR verhängt“ hatte, wobei auf die deutsche BASF AG A 296,16 Mio. entfielen.
Wenn und soweit die Einnahme von Vitaminpräparaten aus gesundheitlichen Gründen
nicht zwingend erforderlich ist, damit eher eine Frage der Mode oder des Lifestyles und
ihr Konsum durchaus verzichtbar ist, könnte man durchaus dafür argumentieren, daß
die durch die Kartellabsprachen höheren Preise zu einem für die Verbraucher lediglich
wirtschaftlichen Nachteil führen, welcher aber hinnehmbar ist, nachdem Unternehmen
grundsätzlich auch in Kooperation ihre Gewinne maximieren dürfen. Ohnehin ist rich-
tig, daß Unternehmen nicht wirklich zum Wettbewerb gezwungen werden können. Ge-
nau darum ist die Kommission mit ihrer Entscheidung aber bemüht. Anders ist die
Sachlage zu bewerten, wenn die Einnahme von Vitaminen aus medizinischen Gründen
erforderlich ist. Dann sind solche Präparate Arzneimittel und werden regelmäßig ärzt-
lich verordnet. In diesen Fällen sind die Patienten und Krankenkassen, falls und soweit
diese die überhöhten Kosten für diese Mittel mittragen, der nötigenden Willkür der sich
kartellierenden Unternehmen zwingend ausgesetzt und dadurch in ihrer (äußeren) Frei-
heit verletzt, weil Patienten auf die Einnahme solcher Präparate nicht verzichten können
und dadurch gezwungen sind, die höheren Preise zu bezahlen. Unter diesen Umständen
wären solche Kartelle aus Gründen der Sittlichkeit nicht durch das Privatheitsprinzip
gedeckt und damit zu verbieten, allemal in einer marktlichen Sozialwirtschaft. Solche
sachlich durchaus gerechtfertigten Differenzierungen kennt das GWB aber nicht. Diese
wenigen Hinweise mögen genügen.
248 6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
Das gilt auch für das Verbot des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stel-
lung gemäß § 19 Abs. 1 GWB: „Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbe-
herrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten“. Ab-
satz 2 hat die besonderen Tatbestandsmerkmale für den Mißbrauch zum Inhalt.
§ 19 GWB schützt die unternehmerische „Freiheit als Freiheit von Machtaus-
übung“ 54, oder in Kants Worten, die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigen-
der Willkür“ 55. Es geht also um die vom Staat „zu schützende Freiheitsausübung
der Akteure“ am Markt. Dabei sei es Aufgabe des Rechts, auf die Wahrung der
Grundrechtspositionen der beteiligten Parteien (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12. Abs. 1
GG, Art. 14 Abs. 1 GG) hinzuwirken um zu verhindern, daß sich für die einzel-
nen Vertragsparteien „die Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verkehrt“. Da-
mit ließen sich viele der übrigen Zielfunktionen des Wettbewerbsrechts insgesamt
abbilden56, also auch der Schutz des Wettbewerbs als Institution57.
Vor diesem Hintergrund sind der Schadensersatzanspruch und der Unterlas-
sungsanspruch aus § 33 GWB differenziert zu betrachten. Den Unterlassungs-
anspruch bei Verstoß gegen eine Vorschrift des Gesetzes gegen Wettbewerbs-
beschränkungen oder eine erlassene Verfügung der Kartellbehörde oder der Be-
schwerdegerichte, welche den Schutz eines Anderen58 bezwecken, wie das bereits
genannte Boykottverbot aus § 21 Abs. 1 GWB rechtlich durchzusetzen, ist unpro-
blematisch59. Anders ist das im Hinblick auf den Schadensersatzanspruch zu be-
werten, soweit es die Feststellung der Höhe des entstandenen Schadens für Mit-
bewerber und Konkurrenten betrifft60. Auch das Bundeskartellamt muß eingeste-
hen, daß im konkreten Einzelfall die Bestimmung des Preiseffekts des Kartells
auf verschiedenen „Annahmen“ beruhe, welche unvermeidlich seien und zu Schät-
zungen führen, welche mit Unsicherheiten behaftet seien. Das gelte auch für die
Vorhersage, wie lange ein Kartell ohne Aufdeckung noch bestanden hätte61.
das Interesse des Einzelnen soll geschützt werden, wobei § 33 GWB kein Schutzgesetz
i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB darstellt. Der geschützte Personenkreis ist grundsätzlich unter-
schiedlich, entweder nur Mitbewerber oder nur Abnehmer und Lieferanten, oder alle
diese Gruppen, Rdn. 34, S. 863.
59 Zur Durchsetzung von Beseitigungs- und Unterlassungsansprüchen, ggf. auch
und Verbraucher, S. 14, Fn. 12, wobei für das Bundeskartellamt „solche Schätzungen
III. Zur Wettbewerbsbeschränkung durch Kartelle 249
Auch das Bundeskartellamt kennt die Zukunft nicht, insofern sind solche Schät-
zungen des Schadens spekulativ62 und eine entsprechende Quantifizierung der
Schadensersatzleistung, welche auf der Grundlage der Ermittlung der Schadens-
höhe etwa nach der Differenzhypothese erfolgt63, fragwürdig.
einen wertvollen Eindruck von der Sozialschädlichkeit dieser extremen Form der Wett-
bewerbsbeschränkung und einen entsprechend vorsichtigen Wert für die mit der Kartell-
verfolgung direkt verbundenen wirtschaftlichen Vorteile“ vermitteln.
62 Auch die OECD geht davon aus, daß Kartelle zwar Schäden verursachten, wie
groß der angerichtete Schaden allerdings sei, darüber gebe es kaum Erkenntnisse,
OECD, Übersicht Bekämpfung von Hard-Core-Kartellen, verursachter Schaden, wirk-
same Sanktionen und Bonusregelung, 2002, S. 2. Unter Hard-Core-Kartellen werden
hier Preis-, Submissions-, Mengen- und Marktaufteilungsabsprachen verstanden.
63 Dazu H. Bornkamm, in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Bd. 1, § 33 GWB, Rdn. 117,
S. 883, der Umfang und die Anspruchshöhe ist die Differenz zwischen dem tatsächlich
gezahlten Kartellpreis und dem hypothetischen Preis, der sich unter Wettbewerbsbedin-
gungen ergeben hätte. Zu weiteren Methoden und Möglichkeiten, etwa der Vergleichs-
marktmethode oder der Regressionsanalyse Th. Lübbig, in: Münchner Kommentar, Eu-
ropäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 2, § 33 GWB, Rdn. 9 ff., S. 548 ff.;
vgl. dazu die Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen „Praktischer Leitfaden zur
Ermittlung des Schadensumfangs bei Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit Zu-
widerhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union“, Abl. C 167/19 v. 13.9.2013.
64 W. Fikentscher, Die Interessengemeinschaft, S. 17.
65 F. A. v. Hayek, Freiburger Studien, S. 250.
66 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 309.
67 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 479.
250 6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
beschränken, ist dies keine hinreichende Legitimation für ein generelles Kartell-
verbot. So hatte die Europäische Kommission die Auffassung vertreten, daß
Art. 101 AEUV keine Vermutung zu entnehmen sei, wonach wettbewerbsbe-
schränkende Vereinbarungen gegen Art. 101 AEUV verstoßen würden68. Maß-
geblich ist demnach nicht die Wettbewerbsbeschränkung per se, sondern die dar-
aus resultierende Marktbeeinflussung. Es geht um den Schutz der Freiheit der
nicht am Kartell beteiligten Personen, seien es Mitbewerber, Lieferanten oder
Kunden, um deren „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, wie
Kant die äußere Freiheit definierte69, zu schützen70. Der Wettbewerb kann nicht
dadurch definiert werden, daß die Verbraucher Wahlmöglichkeiten haben71, den-
noch ist es eine Voraussetzung für den funktionierenden Wettbewerb, daß die
Kunden nach ihren Präferenzen zwischen mehreren potentiellen Anbietern und
deren Leistungsangeboten auswählen können. „Die Vorteile des Wettbewerbs sol-
len den Verbrauchern in Form niedriger Preise, höherer Qualität und eines größt-
möglichen Angebots an neuen oder verbesserten Waren oder Dienstleistungen
zugutekommen“ 72. Es ist durchaus von Bedeutung, daß auf dem Markt eine hin-
reichende Anzahl von Anbietern und Nachfragern vorhanden ist, welche unter-
nehmerisch und wirtschaftlich unabhängig voneinander auf dem Markt agieren73.
Durch Kartellierung von Unternehmen reduziert sich die Anzahl von Unter-
nehmen mit unkoordiniertem Marktauftritt, wodurch die Wahlmöglichkeiten der
Kunden auf der Marktgegenseite abnehmen. Durch diese Wettbewerbsbeschrän-
kungen werden die Entscheidungs- und Dispositionsfreiheit der Akteure auf der
Marktgegenseite eingeschränkt, weil sie auf ein reduziertes Leistungsangebot,
welches im Verhältnis zu einer Situation ohne kartellierte Unternehmen differen-
zierter und vielfältiger vorhanden wäre, angewiesen sind. Wegen dieser Verknap-
pung des Leistungsangebots durch Kartelle können die Präferenzen der Verbrau-
cher nicht mehr in ihrer Vielfältigkeit befriedigt werden und wären demnach der
nötigenden Willkür kartellierter Unternehmen ausgesetzt74. Es gelte vor diesem
68 E.-J. Mestmäcker, Versuch einer kartellpolitischen Wende in der EU, EuZW 1999,
populi, S. 443 ff., 494 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 50 ff., 67 ff., 322 ff.,
456 ff., 509 ff.
70 So im Ergebnis W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kar-
S. 26.
73 Zwar seien Kartelle durch Art. 9 Abs. 1 GG grundrechtsgeschützt, allerdings
nicht, wenn die Unternehmen lediglich ein bestimmtes Marktverhalten kartellmäßig ko-
ordinierten, R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9, Rdn. 64 übersieht hier
den wesentlichen Zweck eines Kartells.
74 Wirtschaftliche Transaktionen kommen in der Marktwirtschaft nur zustande, wenn
sie auch für den Partner vorteilhaft sind; denn sie beruhen auf dem Prinzip des freiwilli-
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle 251
Hintergrund als praktisch vernünftig, wenn der Staat die Bildung von Kartellen
durch Unternehmen überwacht, um so „die Marktteilnehmer immer wieder zu
Vereinzelung und zur Gegnerschaft“ zu nötigen75.
Diese Argumentation überzeugt nicht. Zwar sind bestimmte Kartelle durch das
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verboten, wodurch diese Kooperatio-
nen von Unternehmen unterbunden werden sollen und diese so zur „Vereinze-
lung“ genötigt werden. Zum Wettbewerb hingegen kann wegen des Privatheits-
prinzips niemand gezwungen werden, auch Unternehmen nicht. Die These mag
dahingestellt bleiben, daß Kartelle zu einer Verknappung des Leistungsangebots
führen oder führen können, wodurch die Präferenzen der Verbraucher nicht mehr
in ihrer Vielfältigkeit befriedigt werden. Das ist aber unproblematisch, es sei
denn, es bestünde ein Anspruch der Verbraucher auf größtmögliche Vielfalt der
Leistungsspektren von Unternehmen zu geringstmöglichen Preisen. Das Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen jedenfalls gibt einen solchen rechtlichen An-
spruch nicht her. Auf einen Wettbewerb, welcher die größtmögliche Befriedigung
der Präferenzen von Verbrauchern gewährleisten soll, kommt es nicht an; denn in
der Republik muß alles Handeln, auch das von einzelnen oder miteinander ko-
operierenden Unternehmen, für alle, also etwa Verbraucher, Konkurrenten und
Mitbewerber am Markt, Lieferanten, Kredit- und Kapitalgeber sowie für die Ar-
beitnehmer, zumutbar und damit sittlich sein. Sittlichkeit verlangt die Sozialbin-
dung des Eigentums und damit auch die Sozialbindung des Eigentums am Unter-
nehmen; denn „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl
der Allgemeinheit dienen“, Art. 14 Abs. 2 GG. Das Wohl der Allgemeinheit ver-
wirklichen die allgemeinen staatlichen Gesetze, nicht der Wettbewerb, welcher
als marktliches Verteilungsinstrument keine Gewähr für eine Verteilungsgerech-
tigkeit leistet; denn suum cuique.
gen Tausches. Ein Unternehmen kann also nur dann überleben, wenn es allen Vertrags-
partnern Angebote macht, die so attraktiv sind, daß es sich für die Partner lohnt, sie
anzunehmen. Das gilt generell, also etwa für die Abnehmer unternehmerischer Leistun-
gen, aber auch für Arbeitnehmer und Kapitaleigner, H. Demmler, Profit und Moral –
Eine Auseinandersetzung mit der Kritik am Gewinnprinzip in der Marktwirtschaft, in:
Marktwirtschaft, P. Harbusch, D. Wiek (Hrsg.), 1975, S. 2 ff. Reduziert sich durch Kar-
tellierung die Vorteilhaftigkeit des Vertragsangebotes, reduziert sich damit auch die
Freiwilligkeit der Vertragsannahme. Ist die unternehmerische Leistung bei funktionie-
rendem Wettbewerb das Kriterium für die Annahme von Vertragsangeboten, so bietet
der Wettbewerb auch „Minderheiten Schutz von der Anwendung willkürlicher Krite-
rien“, S. 30.
75 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 479.
252 6. Kap.: Das Kartell als Problem des Privatheitsprinzips
1986, S. 525 ff., 526; dazu M. Paschke, in: Münchner Kommentar, Europäisches und
Deutsches Wettbewerbsrecht, Bd. 1, Art. 101 AEUV, Rdn. 81 ff.
77 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 38 f.
78 Zum Eigentum aus Arbeit K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik,
S. 579.
79 Zu den unternehmerischen Wettbewerbsstrategien etwa H. Steinmann/G. Schrey-
nicht übersehen werden kann, daß durch Kartelle die wirtschaftliche Macht der
sich kartellierenden Unternehmen regelmäßig verstärkt wird oder sich zumindest
verstärken kann. Das Recht, seine Marktmacht zu gebrauchen, ist kritisch zu
bewerten, wenn Macht mit Max Weber als Chance verstanden wird, „innerhalb
einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzu-
setzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ 81; denn setzen Unternehmen ihre
Ziele und Zwecke mit Macht durch, sind die übrigen Marktteilnehmer in ihrer
äußeren (negativen) Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender
Willkür“ getroffen. Fraglich ist, ob und inwieweit diese den Machteinfluß hinzu-
nehmen haben oder anders formuliert, wie weit der rechtmäßige Gebrauch wirt-
schaftlicher Macht reicht und ab wann dieser in einen unrechtmäßigen Gebrauch,
in Mißbrauch der Marktmacht umschlägt.
Die Antwort auf diese Frage hat auch verfassungsrechtliche Relevanz. Die
„Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ ist Gegenstand der
konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG). Die Zuständigkeit des
Gesetzgebers „erstreckt sich nur auf den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstel-
lung, nicht auf den Gebrauch, und auch beim Mißbrauch nur auf die Verhütung“,
und „Mißbrauch ist ein Gebrauch, der vom normalen, von der Rechtsordnung
gebilligten Gebrauch abweicht und eine entartete Machtausübung darstellt“ 82.
Mißbrauchsabwehr bedeutet nicht die Beseitigung von wirtschaftlicher Macht-
stellung und auch nicht die Verhütung des Entstehens wirtschaftlicher Macht83.
Das Grundgesetz geht demnach von der Existenz wirtschaftlicher Macht und de-
ren rechtmäßigen Gebrauch durch Unternehmen aus. Zu verhüten ist der unrecht-
mäßige Gebrauch als Mißbrauch. Dabei „kann ein Mißbrauch auch dadurch ver-
hütet werden, daß gewisse, für Mißbrauch besonders anfällige Tätigkeiten durch
Gesetz verboten oder darauf sich beziehende Verträge und Beschlüsse für un-
wirksam erklärt werden“ 84. Ersteres hat der Gesetzgeber in § 19 Abs. 2 in Ver-
bindung mit Abs. 1 GWB getan85. Es liegt die Vermutung nahe, daß marktbeherr-
81 Weil das „soziale Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens)“ orien-
tiert werden könne „am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Ver-
halten anderer“. Dies gelte insbesondere für das nach Erwartungen orientierte Handeln
im Bereich der Wirtschaft, M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28.
82 Th. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 74 Nr. 16, Rdn. 191 f.; dazu K. A.
Technik“, in: Freiheit – Recht – Staat, S. 121 ff., 137 f.; ders., Prinzipien des Rechts-
staates, S. 352.
87 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 311 ff.
m.v. w. Nachw.
IV. Zum Problem wirtschaftlicher Macht durch Kartelle 255
104 K. A. Schachtschneider, Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Freiheit –
res populi, S. 553 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 110 ff.
106 F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, S. 30, „sobald wirtschaftliche
Macht auf dem Plan erscheint, gerät die Rechtsordnung ins Hintertreffen, mag sie so
vortrefflich sein wie sie will“; dazu auch K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen
und Privatrecht, S. 140 ff.
107 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkun-
110 Nicht der Erwerb, sondern die Verteidigung und Ausdehnung von Marktmacht
sind die typischen Tatbestände des Machtmißbrauchs. Insofern zählt auch der Erwerb
von anderen Unternehmen zum Machtmißbrauch, E.-J. Mestmäcker, Europäisches Wett-
bewerbsrecht, S. 414.
111 So schon die Begründung des Regierungsentwurfes zum Gesetz gegen Wettbe-
werbsbeschränkung von 1955, Begr.Reg.E, 1955, BT-Drucks. 1158, daß nämlich der
Mißbrauch von Monopolmacht geeignet sei, die Wettbewerbsordnung und die Rechts-
ordnung an sich zu gefährden, S. 21. Die Wettbewerbsordnung unter Einschluß der Ver-
hinderung der mißbräuchlichen Ausnutzung der Marktstellung sei das wirtschaftliche
Gegenstück zur politischen Demokratie, S. 22, und führe zu Vorteilen für den Verbrau-
cherschutz und die Optimierung der Allokation von Produktionsfaktoren, S. 21.
112 W. Möschel, Ökonomische Kriterien in der Anwendung des Kartellgesetzes, JA
117 E.-J. Mestmäcker, Über das Verhältnis des Rechts der Wettbewerbsbeschränkun-
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Macht
Notwendigkeit 23
– Begrenzung wirtschaftlicher 204
– Mißbrauch wirtschaftlicher 230, 255 Ordoliberalismus 193
– politische 257
– politische durch Untenehmen 235 personalitas moralis 182
– unternehmerische 219 Persönlichkeit, freie Entfaltung 148
– wirtschaftliche 243 Perzeptionsempirismus 16
– zum Handeln 24 Pflicht 59, 70, 108
Markt und Wettbewerb 175 Politik, als ausübende Rechtslehre 76
Marktbeeinflussung 240, 250 Preisvorschriften 258
Marktbeherrschung 225, 258 Private
Markteintritt 216, 226 – funktional 211
Marktführerschaft 252 – institutionell 160, 211
Marktmacht 252, 258 Privatheit 199, 220
– Mißbrauch 253 – als Form der Staatlichkeit 157
Marktpreismechanismus 193 – der Lebensbewältigung 145, 150, 151,
Marktprozeß 215, 216 157, 170, 191, 201, 203, 210, 212, 239,
252, 259
Marktrationalität 230, 246, 247
– der Lebensbewältigung, Vorrang 154
Marktrisiko 249
– freiheitliche 154
Marktwirtschaft, freie 200
– Grenzen 235
Marktwirtschaft, soziale 194, 216, 242
Privatheitsprinzip 150, 175, 191, 199,
Maximen 54, 156 212, 222, 234, 244, 251
– als hypothetische Imperative 55 Privatrechtsgesllschaft 221
– als subjektives Prinzip 57
Mehrheitsregel 113, 122, 131 Recht
Menschenrechte 157 – als Befugnis zu zwingen 95, 133
Metaphysik 16, 22 – auf Recht 99, 152
– als strenge Wissenschaft 25 – aus Recht 220
Mißbrauch – provisorisches 92
– als Begriff 255 – zur freien Willkür 96, 105
– wirtschaftlicher Macht 243 – zur Kooperation 244
Mißbrauch, marktbeherrschende Stellung Rechtsfähigkeit 115
248 Rechtsprechung 115
Mißbrauchsaufsicht 219 Rechtsprinzip 213, 220
Modelle, nationalökonomische 197 Rechtsstaat 101, 113, 121, 135
Monarchieverbot 124 Rechtsstaatsprinzip 125
278 Sachwortverzeichnis