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1
Friedrich Hermanni
Metaphysik
Versuche über letzte Fragen
Mohr Siebeck
Friedrich Hermanni, geboren 1958; Doppelstudium der Ev. Theologie und der
Philosophie; Promotion im Fach Philosophie und Habilitation im Fach Systemati-
sche Theologie; seit 2006 o. Professor für Systematische Theologie an der Universität
Tübingen und kooptiert an der dortigen Fakultät für Philosophie; Mitglied der
Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Durch das anhaltende Interesse, das dieses Buch bei Lesern findet, wird
eine zweite Auflage erforderlich.
In der ersten Auflage hatte das Buch keine Widmung. Im Nachhinein
sei es dem Andenken von Volker Drehsen († 2013) gewidmet, dem guten
Freund und liberalen Theologen, der für Metaphysik allerdings nur ein
Stirnrunzeln übrig hatte.
Dem Verlag Mohr Siebeck und insbesondere Frau Dr. Warnke-De No-
bili danke ich für die gute Zusammenarbeit.
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Einleitung
Metaphysik ist der Versuch, letzte Fragen mit Hilfe der Vernunft zu be-
antworten. Solche Fragen betreffen die Welt als ganze, den Grund der
Welt und den Platz des Menschen in der Welt. Sie stellen sich unvermeid-
lich ein, können aber durch die Einzelwissenschaften nicht beantwortet
werden. Gewiss halten die Antworten, welche die Metaphysik gegeben
hat, in vielen Fällen einer kritischen Prüfung nicht stand. Ebenso wenig
überzeugend sind jedoch ältere und neuere Programme, welche die Me-
taphysik grundsätzlich verabschieden wollen. Denn sie beruhen stets auf
Voraussetzungen, die ihrerseits von metaphysischer Art sind. Der Ver-
nunft stellt sich am Ende deshalb nicht die Frage, ob sie überhaupt Meta-
physik betreiben will, sondern nur, in welcher Weise. Im kritischen Ge-
spräch mit der Geschichte der Metaphysik und ihren gegenwärtigen
Gestalten unternimmt das vorliegende Buch den Versuch, die folgenden
Fragen im Zusammenhang zu beantworten: Was ist der Grund für das
Dasein und Sosein der Welt, und in welchem Verhältnis steht dieser
Grund zum Gedanken Gottes? Worin besteht das Wesen der mensch-
lichen Freiheit, und was hat es mit den Übeln auf sich, die der Mensch tut
und die ihm widerfahren? In welcher Beziehung stehen die seelischen
Zustände des Menschen zu seinen körperlichen, und was darf der Mensch
über seinen Tod hinaus hoffen, wenn er etwas hoffen darf? Wie ist das
Verhältnis zwischen den Antworten einzuschätzen, welche die Weltreli-
gionen auf diese Fragen gegeben haben? Um dem Leser von vornherein
offenzulegen, was ihn erwartet, skizziere ich einleitend den gedank-
lichen Weg des vorliegenden Buches und die Ergebnisse, zu denen er
führt.
Im Zentrum des ersten Teils steht die Grundfrage der Metaphysik,
warum überhaupt etwas wirklich ist und nicht vielmehr nichts. Diese
Frage ist dem Verdacht ausgesetzt, ihre Beantwortung prinzipiell auszu-
schließen und deshalb keine sinnvolle Frage zu sein. Denn weil jeder
Versuch, sie zu beantworten, auf etwas hinauszulaufen scheint, das be-
reits wirklich ist, scheint sich die Frage stets von Neuem einzustellen
2 Einleitung
Aus der Antwort auf die eingeschränkte Frage nach dem Grund des
Kontingenten ergeben sich die Anschlussfragen, welches Wesen notwen-
digerweise existiert und warum es nicht nicht existieren kann. Die Me-
taphysik hat diese Frage durch das ontologische Argument zu beantwor-
ten versucht, das im zweiten Kapitel untersucht wird. Dem ontologischen
Argument zufolge ist Gott das Wesen, das notwendigerweise existiert,
da Existenz in seinem Fall zum Begriff gehöre. Denn weil Existenz eine
Vollkommenheit sei, könne sie Gott als höchst vollkommenem Wesen
unmöglich fehlen. Gegen dieses Argument sind in der Geschichte der
Metaphysik eine Reihe von Einwänden vorgebracht worden, die, wie der
sogenannte logische Einwand und der Einwand gegen die Widerspruchs-
freiheit des Gottesgedankens, nicht stichhaltig sind. Anders steht es mit
dem Einwand Kants, der sich gegen das Existenzverständnis richtet, das
im ontologischen Argument vorausgesetzt wird. Nach Kant ist Existenz
keine Vollkommenheit, d. h. kein begrifflicher Gehalt, durch den ein Ge-
genstand charakterisiert wird. Von Gott zu sagen, er existiere, bedeutet
nicht, er habe neben seinen anderen Eigenschaften auch noch die Eigen-
schaft zu existieren. Es bedeutet vielmehr, dass es ein Wesen gibt, auf das
der Gottesbegriff mit allen darin enthaltenen Bestimmungen zutrifft.
Wenn Existenz jedoch kein begrifflicher Gehalt ist, dann misslingt die
klassische Form des ontologischen Argumentes. Zudem kann das not-
wendig Existierende dann nicht deshalb notwendig sein, weil Existenz
ein Element seines Begriffs wäre. Dies bedeutet freilich nicht, dass ein
notwendig Existierendes unmöglich und die Rede davon sinnlos sind,
wie Hume und andere geschlossen haben. Denn durch das kosmolo-
gische Argument sind seine Wirklichkeit und daher auch seine Möglich-
keit erwiesen. Worin aber liegt der Grund für seine notwendige Exis-
tenz, wenn er nicht darin liegen kann, dass Existenz zu seinem Begriff
gehört? Als Antwort auf diese Frage schlage ich eine andere Form des
ontologischen Argumentes vor, die zugleich in der Lage ist, die Grund-
frage der Metaphysik zu beantworten. Diese Form beruht auf der plato-
nisch inspirierten und zu begründenden Annahme, dass das Gute von
sich aus nach Sein strebt, und zwar in dem Grade, in dem es gut ist. Da-
her hat das summum bonum, dasjenige also, was im höchsten Maße sein
soll, die größtmögliche Tendenz, wirklich zu sein, und existiert mithin
notwendigerweise. Mit anderen Worten: Es kann nicht nicht sein, weil es
unbedingt sein soll. Diese Form des ontologischen Argumentes, für die
ich eintrete, ist der Versuch, dem Gedanken eines notwendig Existie-
renden, der sich bei der Frage nach dem letzten Grund des Kontingenten
4 Einleitung
füllbar wäre, sondern auch auf einem Missverständnis beruht. Wer sie
aufstellt, übersieht die Unhintergehbarkeit des Selbst, die in subjektiver
und vielleicht auch in objektiver Hinsicht besteht. Subjektiv unhinter-
gehbar ist das Selbst, weil es nicht sinnvollerweise als Ergebnis von
Fremdbestimmung betrachtet werden kann. Denn die Möglichkeit von
Fremdbestimmung besteht nur unter Voraussetzung des Selbst. Zudem
könnte das Selbst auch in objektiver Hinsicht unhintergehbar sein, weil
es womöglich nicht durch die Vergangenheit der Welt determiniert ist,
sondern diese Vergangenheit seinerseits determiniert. Das wäre dann der
Fall, wenn Gott im Entwurf der möglichen Welt, zu der wir gehören, die
früheren Weltzustände an die späteren und speziell an den Charakter der
Personen angepasst hätte, die in den späteren eingeschlossen sind. Diese
teleologische Deutung des Determinismus mag ungewohnt sein, sie wird
aber durch die Überlegungen zur Feinabstimmung (Kap. 3) nahegelegt.
Das fünfte Kapitel widmet sich dem Problem, vor dem die theistische
Überzeugung, dass ein allmächtiger und vollkommen guter Gott exis-
tiert, angesichts der Übel steht. Um Konfusionen zu vermeiden, muss
zwischen zwei Teilen dieses Problems, einem logischen und einem empi-
rischen Theodizeeproblem, unterschieden werden. Das logische Theo-
dizeeproblem besteht darin, ob die Annahmen, dass es Übel in der Welt
gibt und dass ein allmächtiger und vollkommen guter Gott existiert, im
Verhältnis des Widerspruchs stehen. Das ist zweifellos nicht der Fall.
Denn selbst ein allmächtiges Wesen könnte einen moralisch zureichenden
Grund haben, Übel nicht zu verhindern. Dieser Grund läge vor, wenn
die Zulassung der Übel in logisch notwendiger Weise mit größeren Gü-
tern verknüpft wäre. Worin könnten solche Güter bestehen? Analytische
Religionsphilosophen haben versucht, diese Frage mit der sogenannten
Free-Will-Defense zu beantworten, was freilich zum Scheitern verur-
teilt ist. Denn Freiheit im inkompatibilistischen Sinne hat nicht den er-
forderlichen Wert, um die Zulassung von Übeln zu rechtfertigen; Frei-
heit im kompatibilistischen Sinne dagegen ist mit der Zulassung von
Übeln nicht logisch notwendig verknüpft. Zur Lösung des logischen
Theodizeeproblems schlage ich deshalb eine No-Better-World-Defense
vor. Sie hat die Aufgabe, zweierlei nachzuweisen: (1) Es ist logisch not-
wendig, anzunehmen, dass ein theistischer Gott eine unübertrefflich
gute Welt schaffen und daher alle Übel verhindern würde, ohne welche
die Welt besser wäre. (2) Eine unübertrefflich gute Welt ist nicht notwen-
digerweise übelfrei gut. Daher ist es logisch möglich, anzunehmen, die
wirkliche Welt sei unübertrefflich gut und unter den faktischen Übeln
Einleitung 7
gebe es keine, ohne die sie besser wäre. Wenn beides zutrifft, dann steht
fest, dass und auf welche Weise allein der Theismus mit der Faktizität
von Übeln in der Welt vereinbar ist. Aus dieser Lösung des logischen
Theodizeeproblems ergibt sich das empirische. Es besteht darin, ob die
Annahme, die Welt sei unübertrefflich gut, nicht nur logisch möglich,
sondern auch empirisch plausibel ist. Gibt es unter den faktischen Übeln
nicht augenscheinlich solche, ohne welche die Welt besser wäre? Ist es
deshalb nicht unwahrscheinlich, dass jener theistische Gott existiert, der
eine unübertrefflich gute Welt schaffen und solche Übel verhindern
würde? Ich werde zeigen, dass diese Fragen empirisch weder bejaht noch
verneint werden können, weil ihre Beantwortung unsere empirischen
Erkenntnismöglichkeiten überschreitet. Eine Antwort würde nämlich
nahezu Allwissenheit voraussetzen, um erstens den gesamten (mithin
auch zukünftigen) Verlauf der wirklichen Welt halbwegs zu überblicken,
um zweitens jenen veränderten Verlauf in etwa zu kennen, der sich aus
einer Verhinderung faktischer Übel ergäbe, und um drittens im Besitz
einer rational verbindlichen Axiologie zur vergleichenden Bewertung
möglicher Welten zu sein.
Der dritte Teil geht den beiden Fragen nach, in welchem Verhältnis die
Seele des Menschen zu seinem Körper steht und was er über seinen Tod
hinaus hoffen darf, wenn überhaupt Grund zur Hoffnung besteht. Die
Reihenfolge der Kapitel ergibt sich aus dem Umstand, dass die Beant-
wortung der zweiten Frage von der Beantwortung der ersten abhängt.
Das sechste Kapitel wendet sich gegen die dualistischen und physika-
listischen Lösungen des Leib-Seele-Problems, die in der gegenwärtigen
Philosophie des Geistes in der Regel vertreten werden, und unterbreitet
einen Gegenvorschlag. Jede überzeugende Lösung muss drei gut be-
gründeten Prinzipien gerecht werden: (1) dem methodisch sinnvollen
und empirisch bewährten Prinzip der Erklärungsgeschlossenheit des
Physischen, wonach zur Erklärung physikalisch beschriebener Vorgän-
ge keine anderen als wiederum physikalisch beschriebene in Frage kom-
men; (2) dem Prinzip der Erklärungsrelevanz des Mentalen, demzufolge
mentale Zustände für die Erklärung unseres Verhaltens und Handelns
von Bedeutung sind; (3) dem Prinzip der explanatorischen Irreduzibili-
tät des Mentalen, wonach eine erklärende Zurückführung mentaler Zu-
stände auf physische oder funktionale vor unüberwindlichen Schwierig-
keiten steht. Nun werden die üblichen Versionen des Dualismus und
Physikalismus diesen drei Prinzipien nicht gleichermaßen gerecht. Der
interaktionistische Dualismus verletzt das erste, der epiphänomenalisti-
8 Einleitung
sche Dualismus und der eliminative Materialismus das zweite und die
physikalistische Identitätstheorie das dritte (und streng genommen auch
das zweite) Prinzip. Ich schlage deshalb eine andere Lösung vor. Sie in-
tegriert alle drei Prinzipien, indem sie eine nicht-physikalistische Iden-
titätstheorie mit einem epistemischen Parallelismus verbindet. Dieser
Lösung zufolge sind Leib und Seele bzw. physische und mentale Zu-
stände in dem Sinne identisch, dass dasselbe, was das Wesen des einen
ist, auch das Wesen des anderen ausmacht. Dasjenige, worin beide iden-
tisch sind, ist ein zugrunde liegendes Drittes, nämlich die Person und
ihre Zustände. Dieses Dritte erscheint in doppelter Gestalt, weil es aus
zwei unterschiedlichen Perspektiven erfahren und beschrieben wird:
aus der Perspektive der dritten Person als komplexe Einheit physischer
Prozesse mit physikalisch geschlossenem Erklärungsprofil, aus der Per-
spektive der ersten Person dagegen als Akteur mit bestimmten mentalen
Zuständen und Kompetenzen, die sein Handeln bestimmen. Kurzum,
Leib und Seele verhalten sich zueinander und zur Person in derselben
Weise, wie sich Morgenstern und Abendstern zueinander und zur Ve-
nus verhalten. Diese Lösung des Leib-Seele-Problems ergänzt die frei-
heitstheoretischen Überlegungen des vierten Kapitels, weil sie durch
Integration des zweiten Prinzips sicherstellt, dass eine notwendige Be-
dingung für die Möglichkeit von Freiheit erfüllt ist. Denn nur wenn
mentale Zustände überhaupt für die Erklärung von Handlungen rele-
vant sind, können Handlungen von Wünschen und Überzeugungen be-
stimmt sein, die zum individuellen Charakter des Handelnden gehören
und deshalb frei sind.
Aus der vorgeschlagenen Lösung des Leib-Seele-Problems zieht das
siebte Kapitel die Konsequenzen für das Verständnis des Todes und die
Denkbarkeit seiner Überwindung. Das Standardmodell der christlichen
Eschatologie hat die biblische Auferstehungshoffnung mit der plato-
nischen Annahme verknüpft, der Tod sei die Trennung der unsterblichen
Seele vom Leib. Nach dem Tod, so nahm man an, existiere die Seele in
einem leiblosen Zwischenzustand, bis sie am Jüngsten Tag mit dem auf-
erweckten Leib wiedervereint werde. Die Rezeption des platonischen
Leib-Seele-Dualismus schien notwendig, um das Problem der diachro-
nen personalen Identität zu lösen, vor dem die Auferstehungshoffnung
steht. Denn nur die kontinuierliche Existenz der Seele schien die Identi-
tät der Auferweckten mit den Verstorbenen gewährleisten zu können.
Nun sprechen jedoch gewichtige Gründe gegen die dualistische Annah-
me, die Seele sei eine vom Körper abtrennbare Substanz. Daher wird
Einleitung 9
man annehmen müssen, dass der Tod das Ende des ganzen Menschen ist.
Im Rahmen dieses Todesverständnisses ist die Hoffnung über den Tod
hinaus offenbar nur dann vernünftig, wenn sie sich auf eine radikal ver-
standene Auferstehung der Toten beziehen lässt, die den ganzen Men-
schen betrifft. Dies wiederum setzt voraus, dass die den Tod übergrei-
fende personale Identität ohne eine unsterbliche Seele gedacht werden
kann. Wodurch könnte sie aber stattdessen verbürgt sein? In jüngerer
Zeit wird diese Frage häufig mit dem Hinweis auf das Gedächtnis Gottes
beantwortet, in dem der Mensch nach seinem Tod weiterlebt. Denn da-
durch sei die Kontinuität sichergestellt, von der die personale Identität
der Auferweckten mit den Verstorbenen abhängt. Um diesen anamne-
tischen Vorschlag plausibel zu machen, stelle ich zwei Überlegungen an.
Im ersten Schritt wird die Vermutung, die Verstorbenen blieben im gött-
lichen Gedächtnis präsent, durch ein wahrheitstheoretisches Argument
gestützt. Es besagt, dass ein umfassendes und ewiges Gedächtnis die
notwendige Bedingung für die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen über
die Vergangenheit ist. Der zweite Schritt verteidigt die Annahme der
identitätsstiftenden Leistung des göttlichen Gedächtnisses gegen den so-
genannten Verdopplungseinwand, der in den Debatten über diachrone
personale Identität eine wichtige Rolle spielt. Die eschatologische Versi-
on dieses Einwandes geht von der logischen Möglichkeit aus, dass Gott
eine in seinem Gedächtnis präsente Person zweimal zu einem neuen
selbstständigen Leben erweckt. Nun kann eine Person, wie wir sehen
werden, mit keiner künftigen identisch sein, die einen möglichen Dop-
pelgänger hat. Folglich ist es unmöglich, dass irgendein Auferweckter
mit einem Verstorbenen identisch ist. Erfreulicherweise beruht dieser
Einwand auf einer falschen Voraussetzung. Denn weil jede Person ein-
malig ist und weil sie dem anamnetischen Vorschlag zufolge in ihrer Ein-
maligkeit im göttlichen Gedächtnis weiterlebt, kann sie unmöglich
zweimal auferweckt werden. Das siebte Kapitel kommt deshalb zu dem
Ergebnis, dass die Überwindung des Todes auch unter Bedingungen ei-
ner nicht-dualistischen Lösung des Leib-Seele-Problems denkbar ist.
Der vierte Teil befasst sich mit der Frage, wie die Wahrheitsansprüche
der Religionen und ihr Verhältnis zu beurteilen sind. Wer der Meinung
ist, religiöse Wahrheitsansprüche seien nicht generell unberechtigt, hat
idealtypisch drei Antwortmöglichkeiten. Der Exklusivismus hält die
Wahrheitsansprüche nur einer Religion für berechtigt und bestreitet die
aller anderen. Angesichts der historischen Zusammenhänge und der in-
haltlichen Parallelen zwischen den Religionen ist freilich schwer zu se
10 Einleitung
hen, warum eine von ihnen diese Ausnahmestellung haben sollte. Für
den Inklusivismus sind die Wahrheitsansprüche mehrerer Religionen
berechtigt, im höchsten Maße aber nur die einer einzigen. In seiner dog-
matischen Version setzt der Inklusivismus die Wahrheit der eigenen Re-
ligion fraglos voraus und beurteilt die anderen Religionen nach ihrer
Nähe zur eigenen. Wenn andere Religionen ebenso verfahren, ergibt sich
eine Vielheit von Inklusivismen, die sich unvermittelt gegenüberstehen.
Der Pluralismus nimmt an, die Wahrheitsansprüche mehrerer Religi-
onen seien im höchsten Maße berechtigt. Nach John Hick gehören alle
Weltreligionen zu dieser Gruppe. Denn weil sie gewisse soteriologische
und ethische Kriterien erfüllten, seien sie auf die transzendente Wirk-
lichkeit als Ursache zurückzuführen. Diese Transzendenz übersteigt
nach Hick jedoch unsere Vorstellungskraft. Daher seien die konkur-
rierenden Vorstellungen, die sich die Weltreligionen von ihr bilden, ohne
Ausnahme unzutreffend. Verschiedenen Religionen höchste Geltung
zuzuschreiben, hat somit den Preis, ihre Unterschiede aus der Wahrheit
der Religion auszuschließen. Die Schwierigkeiten, vor denen die genann-
ten Modelle stehen, werden durch ein Modell vermieden, das Hegel und
Schelling entwickelt haben. Beide vertreten einen kritischen Inklusivis-
mus, der die Religionen nicht am externen Maßstab einer bestimmten
Religion misst, sondern am Begriff der Religion, der allen Religionen
zugrunde liegt und in dem ihre Vielheit gründet. Bei Hegel, auf den ich
mich beschränke, ergibt sich der Begriff der Religion aus zwei Annah-
men. Erstens ist Religion das endliche Bewusstsein vom Unendlichen.
Zweitens muss das Unendliche dieses Bewusstsein als Moment einschlie-
ßen. Denn stünde es ihm als ein ganz Anderes gegenüber, wäre es seiner-
seits endlich. Folglich ist Religion das Bewusstsein, in dem der göttliche
Geist durch Vermittlung des menschlichen von sich weiß. In diesem Be-
griff der Religion liegt der Grund für die Vielheit der Religionen. Weil es
dem Geist nämlich widerspricht, von Natur aus ein angemessenes Be-
wusstsein von sich zu haben, muss er einen Prozess durchlaufen, um sich
adäquat zu erkennen. Dieser Prozess ist die Geschichte der Religionen,
in der das, was Religion ihrem Begriff nach ist, dem religiösen Bewusst-
sein zunehmend deutlich wird. Von einem Rückgriff auf Hegels kri-
tischen Inklusivismus würde die gegenwärtige Debatte gewiss profitie-
ren. Dabei wären freilich einige Revisionen erforderlich. Sie beträfen vor
allem das Bild der Religionsgeschichte, die offenbar nicht als universale,
kontinuierlich zu Höherem fortschreitende Folge von Religionstypen
aufgefasst werden kann.
Einleitung 11
Den Plan für das vorliegende Buch hatte ich schon lange gefasst. Vor-
fassungen der Kapitel sind an verschiedenen Stellen erschienen und wur-
den in größerem oder geringerem Maße überarbeitet. Für hilfreiche Dis-
kussionen danke ich Thomas Buchheim, Axel Hutter, Anton Friedrich
Koch, Friedrike Schick und Christoph Schwöbel. Dank gebührt außer-
dem dem Verlag Mohr Siebeck, vor allem Georg Siebeck und Bernd Vill-
hauer, für die gute Zusammenarbeit sowie Stefan Brender, Juliane Klein,
Sarah Caroline Prang und Christoph Schmidt für ihre Hilfe bei der Er-
stellung der Druckvorlage.
Erster Teil
Als Galilei im Jahre 1610 den Nachthimmel durch ein Fernrohr betrach-
tete, entdeckte er, dass der Planet Jupiter von einigen Monden umkreist
wird. Diese Jupitermonde sind für das Auge normalerweise nicht sicht-
bar. Wenn man sie aber zuvor durch ein Teleskop erblickt hat, lassen sie
sich danach unter günstigen Umständen auch mit bloßem Auge wahr-
nehmen. Ähnlich möchte es mit dem Verhältnis zwischen Glaube und
Vernunft bestellt sein.1 Ohne den Glauben, den der Hebräerbrief als
Nichtzweifeln am Unsichtbaren (Hebr. 11, 1) versteht, bleibt für die Ver-
nunft manches im Dunkeln. Wenn sie jedoch zuvor durch das Fernrohr
des Glaubens geblickt hat, kann sie danach zuweilen auch mit eigenen
Augen sehen, was ihr von sich aus verborgen war. Wahrer Glaube jeden-
falls hält das mit Zuversicht für möglich und scheut daher keine An-
strengung, das, was er glaubt, in vernünftige Einsicht zu überführen. Ob
dies auch im Falle des Glaubens an das Geschaffensein des Kosmos und
die Existenz seines Schöpfers gelingt, ist eine strittige Frage, die im Rah-
men der Debatte um Erfolg oder Misserfolg eines kosmologischen Got-
tesbeweises diskutiert wurde und wird.
Ein kosmologischer Gottesbeweis geht von der Existenz oder von sehr
allgemeinen Merkmalen der Welt aus und schließt mit Hilfe des Kausal-
prinzips oder des Satzes vom zureichenden Grund auf Gott zurück.
Durch seinen empirischen Ausgangspunkt unterscheidet er sich von
einem ontologischen und durch die Unbestimmtheit seiner Erfahrungs-
basis von einem teleologischen Beweis.2 Viele bedeutende Theologen
und Philosophen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, sowohl
griechische und arabische wie jüdische und christliche, haben den kos-
1
Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, in: F. W. J. Schelling,
Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, 1. Abt.: 10 Bde. (= SW I–X), 2. Abt.:
4 Bde. (= SW XI–XIV), Stuttgart/Augsburg 1856–1861, Bd. X III, 137.
2
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 591 f., B 619 f. und A 605, B 633, in: I.
Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Sonderausgabe Darmstadt
1981 (= Werke), Bd. 4, 528 und 538.
16 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
Bertrand Russell and Father F. C. Copleston, S. J.«, in: J. Hick (ed.), Classical and
Contemporary Readings in the Philosophy of Religion, Englewood Cliffs/New Jer-
sey second edition 1970, 282–301 (deutsch: »Die Existenz Gottes. Eine Diskussion
zwischen Bertrand Russell und Pater F. C. Copleston, S. J.«, in: B. Russell, Warum
ich kein Christ bin, Reinbek bei Hamburg 1968, 179–206); R. Taylor, Metaphysics,
Englewood Cliffs/New Jersey 2. Aufl. 1974, 102–120; H. A. Meynell, The Intelli
gible Universe. A Cosmological Argument, Totowa/New Jersey 1982; R. Swinburne,
Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 151–174; W. L. Craig, The Kalam Cosmological
Argument, London/Basingstoke 1979; W. L. Craig, The Cosmological Argument
from Plato to Leibniz, London/Basingstoke 1980; W. L. Craig/Q. Smith, Theism,
Atheism, and Big Bang Cosmology, Oxford 1995.
§ 1 Die Kalam-Version 17
4
Vgl. Craig, The Kalam Cosmological Argument und ders., The Cosmological
Argument from Plato to Leibniz, Kapitel 3 und 4 (48–157).
5
Vgl. Craig, The Kalam Cosmological Argument, 63, und J. P. Moreland, »The
Kalam Cosmological Argument«, in: M. Peterson/W. Hasker/B. Reichenbach/D.
Basinger (eds.), Philosophy of Religion. Selected Readings, New York/Oxford
2. Aufl. 2001, 196–209, hier: 197 f.
6
Vgl. D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1, hrsg. von R.
Brandt, Hamburg 1989, 106–110 (Buch I, Teil III, Abschnitt 3), vgl. dazu kritisch
G. E. M. Anscombe, »›Whatever Has a Beginning of Existence Must Have a Cause‹:
Hume’s Argument Exposed«, Analysis 34 (1974), 145–151.
18 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
7
St. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des
Universums, Reinbek bei Hamburg 24. Aufl. 2001, 67.
8
Vgl. St. W. Hawking/R. Penrose, »The Singularities of Gravitational Collapse
and Cosmology«, Proceedings of the Royal Society of London, Series A 314 (1970),
529–548.
9
Der Penrose-Hawking-Beweis setzt zudem voraus, dass das Universum genü-
gend Materie enthält, was aber der Fall zu sein scheint.
§ 1 Die Kalam-Version 19
fung auf den Stand der modernen Kosmologie für die Gültigkeit der Ka-
lam-Version plädieren.10
Unglücklicherweise legte der amerikanische Teilchenphysiker Alan
Guth kurze Zeit später die sogenannte Inflationstheorie vor, welche die
kosmologische Forschung revolutionierte.11 Sie postuliert, dass das frühe
Universum eine kurze Phase beschleunigter, »inflatorischer« Expansion
durchlaufen hat, sich damals also mit zunehmender und nicht wie heute
mit abnehmender Geschwindigkeit ausdehnte. Diese Inflationstheorie
war nötig, um bestimmte Eigenschaften des Universums zu erklären,
nämlich seine enorme Größe, seine Flachheit und extreme Gleichför-
migkeit, die von der herkömmlichen Urknalltheorie nicht erklärt werden
konnten. Der springende Punkt der Inflationstheorie besteht darin, dass
die Gravitationskraft zeitweilig abstoßende, nicht anziehende Wirkung
gehabt haben muss, wenn sich das Universum für kurze Zeit mit rasch
zunehmender Geschwindigkeit ausgedehnt hat. Falls es aber unter Be-
dingungen hoher Dichte zu einer gravitativen Abstoßung kommt, wird
der von Penrose und Hawking geführte Beweis, dass das Universum vor
begrenzter Zeit aus einer Anfangssingularität entstanden ist, hinfällig.
Wenn die Inflationstheorie, die heute von vielen Kosmologen geteilt
wird, zutrifft, dann ist also die Frage, ob das Universum eine endliche
Vergangenheit hat oder nicht, physikalisch erneut offen. Nach John Bar-
row sind für die vorinflationäre Geschichte des Universums verschie-
dene Möglichkeiten denkbar, die mit dem, was wir derzeit über das Uni-
versum wissen, allesamt in Einklang stehen.12 In einigen Modellen hat
das Universum immer schon existiert, in anderen hat es zu einem be-
stimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit zu existieren begonnen.
Eine dritte, raffinierte Denkmöglichkeit hat Stephen Hawking entwi-
ckelt13 und in seinem Bestseller A Brief History of Time einer größeren
Öffentlichkeit vorgestellt. Die Suche nach einer Quantentheorie der
Gravitation, die zwar noch nicht vorliegt, von der man aber schon weiß,
welche Eigenschaften sie haben müsste, führte ihn zu einem Modell der
10
Vgl. Craig, The Kalam Cosmological Argument, 111–130.
11
Vgl. A. Guth, The Inflationary Universe. The Quest for a New Theory of Cos
mic Origins, Reading/Massachusetts 1997 (in diesem Buch hat Guth seine Arbeit
von 1981 auf den neuesten Stand gebracht). Vgl. zur Inflationstheorie auch unten
§ 10.
12
Vgl. J. Barrow, Der Ursprung des Universums. Wie Raum, Zeit und Materie
entstanden, München 2000, 108 f.
13
Vgl. J. B. Hartle/St. W. Hawking, »Wave function of the Universe«, Physical
Review D 28 (1983), 2960–2975.
20 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
Raumzeit, in dem sich die Zeitkoordinate nicht mehr von den Raumko-
ordinaten unterscheidet. In diesem Modell können Raum und Zeit eine
gemeinsame Fläche bilden, die zwar endlich groß ist, aber weder Anfang
noch Ende besitzt – ähnlich wie die Oberfläche einer Kugel. Sollte die
Raumzeit derart beschaffen sein, hätte das nach Hawking weitreichende
Konsequenzen für die Rolle Gottes. »Wenn das Universum einen An-
fang hatte, können wir von der Annahme ausgehen, daß es durch einen
Schöpfer geschaffen worden sei. Doch wenn das Universum [. . .] wirk-
lich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen
Anfang noch ein Ende: Es würde einfach sein. Wo wäre dann noch Raum
für einen Schöpfer?«14 Hawking hat betont, dass das Modell einer end-
lichen Raumzeit ohne Grenze »nur ein Vorschlag«15 ist. Ob das Modell
zutrifft, lässt sich erst entscheiden, wenn daraus empirisch überprüfbare
Voraussagen abgeleitet werden. Davon ist man allerdings weit entfernt.
Eines scheint indes sicher zu sein: Der derzeitige Erkenntnisstand der
Kosmologie taugt nicht für eine Neufassung der Kalam-Version des kos-
mologischen Beweises.
14
Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 179.
15
Ebd., 174.
16
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 426, B 454 (Werke 4, 414).
17
Craig, The Kalam Cosmological Argument, 191–199, hat die neueren Einwände
zusammengestellt und überzeugend zurückgewiesen.
§ 1 Die Kalam-Version 21
18
Vgl. D. A. Conway, »Possibility and Infinite Time: A Logical Paradox in St.
Thomas’ Third Way«, International Philosophical Quarterly 14 (1974), 201–208, und
W. L. Craig, »The Finitude of the Past and the Existence of God«, in: ders./Q. Smith,
Theism, Atheism, and Big Bang Cosmology, Oxford 1995, 3–76, hier: 33 f. Die von Q.
Smith vorgetragene Kritik dieses Argumentes geht meines Erachtens an der Sache
vorbei, vgl. Q. Smith, »Infinity and the Past«, in: W. L. Craig/Q. Smith, Theism,
Atheism, and Big Bang Cosmology, Oxford 1995, 77–91, hier: 85–88.
19
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 427, B 455 (Werke 4, 415).
22 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
kann aber in einer leeren Zeit nichts entstehen. Denn da sich die Teile
einer solchen Zeit nicht voneinander unterscheiden, gibt es keinen
Grund, warum die Welt eher zu diesem als zu jenem Zeitpunkt entstan-
den sein sollte. Also kann sie keinen Anfang haben, sondern muss eine
unendliche Vergangenheit besitzen.
Gegen dieses Argument wird häufig eingewandt, es verstehe die Zeit
als eine unwandelbare Bühne, auf der sich Ereignisse abspielen können
oder auch nicht.20 Der Vorstellung einer absoluten, von den Ereignissen
unabhängigen Zeit sei aber durch die Relativitätstheorie der Garaus ge-
macht worden, und daher sei Kants Rede von einer ereignislosen Zeit
obsolet. Dieser Hinweis ist durchaus berechtigt. Auch die theologische
Tradition von Augustinus bis Schleiermacher hatte aus gutem Grund an-
genommen, dass die Welt nicht in der Zeit, sondern zusammen mit der
Zeit geschaffen wurde.21 Die Zeit ist demzufolge eine Eigenschaft des
Universums und hat vor dessen Beginn nicht existiert.
Durch diesen Einwand ist Kants Argument indes nicht erledigt. Denn
es lässt sich reformulieren, ohne die Vorstellung einer leeren Zeit in An-
spruch zu nehmen, in der das Universum nicht existiert hat. Das Argu-
ment würde dann wie folgt lauten: Nehmen wir an, die Welt habe vor 15
Mrd. Jahren begonnen zu existieren. Wäre dieser Zeitpunkt für ihre Ent-
stehung geeigneter als ein späterer Zeitpunkt? Offenkundig nicht! Nun
gibt es aber stets einen zureichenden Grund dafür, warum etwas zu die-
sem und nicht zu einem späteren Zeitpunkt entsteht. Folglich kann zwar
innerhalb der Welt etwas zu existieren beginnen, die Welt selbst aber
muss eine unendliche Vergangenheit haben. Meines Erachtens ist auch
dieses Argument korrekt, falls der Satz vom zureichenden Grund, auf
den ich in § 3 zurückkomme, zutrifft. Wer immer noch zweifelt, möge
bedenken, dass die Annahme eines Anfangs der Zeit schon aus begriff-
lichen Gründen problematisch ist, weil der Begriff des Anfangs den eines
Vorher zu implizieren scheint.
Resümee: Die Frage, ob die Welt anfangslos ewig ist oder nicht, lässt
sich mit logischen Mitteln nicht entscheiden. Zudem ist sie derzeit auch
20
Vgl. z. B. B. Kanitscheider, Kosmologie. Geschichte und Systematik in philoso
phischer Perspektive, Stuttgart 3. Aufl. 2002, 440.
21
Vgl. A. Augustinus, De civitate dei – Vom Gottesstaat, 2 Bde., übersetzt von W.
Thimme, eingeleitet und erläutert von C. Andresen, Zürich/München 2. Aufl. 1978,
XI, 6, und F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der
evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde., hrsg. von M. Redeker,
Berlin 7. Aufl. 1960, Bd. I, 198–203 (§ 41).
§ 2 Die Thomas-Version 23
22
Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 5 Bde., Madrid 3. Aufl. 1961–1965 (=
STh), I, q. 2, a. 3, c; Übersetzung im Wesentlichen nach Thomas von Aquin, Die
Gottesbeweise in der »Summe gegen die Heiden« und der »Summe der Theologie«,
lat.-dt., Text mit Übersetzung, Einleitung und Kommentar hrsg. von H. Seidl, Ham-
burg 3. Aufl. 1996, 55 und 57.
24 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
nen, auf die Existenz von notwendig Seiendem geschlossen wird, soll im
zweiten Schritt gezeigt werden, dass es unter den notwendigen Dingen
eines geben muss, das von sich selbst her notwendig ist und das von allen
Gott genannt wird. Sehen wir uns diese beiden Schritte im Einzelnen
an.
23
Vgl. Aristotle, On the heavens, I and II, gr.-engl., ed. and translated by St. Leg-
gatt, Warminster 1995, I, 12, 281a 28 ff.
24
Zu diesem Einwand vgl. A. Kenny, The Five Ways. St. Thomas Aquinas’ Proofs
of God’s Existence, London 1972, 58–63.
25
Für diese Interpretation spricht zweierlei. Erstens geht der dritte Gottesbeweis
des Maimonides, der die unmittelbare Vorlage für Thomas’ dritten Weg bildet, von
vergänglichen Dingen aus und versucht nachzuweisen, dass es nicht ausschließlich
vergängliche Dinge geben kann (vgl. Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Buch 2,
übersetzt und hrsg. von A. Weiss, Hamburg 2. Aufl. 1972, 30 f.). Zweitens werden an
der Parallelstelle in der Summa contra gentiles Dinge, die sein und nicht sein können,
mit solchen identifiziert, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind: »Vide-
mus in mundo quaedam quae sunt possibilia esse et non esse, scilicet generabilia et
corruptibilia.« (Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden (= ScG), 1. Bd., Buch
I, lat.-dt., hrsg. und übersetzt von K. Albert/P. Engelhardt, Darmstadt 3. Aufl. 1994,
cap. XV [S. 62]).
26
Vgl. M. Bouyges, S. J., »Exégèse de la ›tertia via‹ de saint Thomas d’Aquin«,
Revue de Philosophie 3 (1932), 113–146, hier: 132–138.
§ 2 Die Thomas-Version 25
Wenn alle Dinge vergänglich wären, dann müsste es »eine Zeit gegeben
haben, in der überhaupt nichts war (aliquando nihil fuit in rebus).« Ge-
meint ist offenbar Folgendes: Wenn jedes Ding vergänglich wäre, dann
würde irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem alle Dinge zugleich
vergangen wären und mithin gar nichts existierte. Dieser Zeitpunkt
müsste sogar schon in der Vergangenheit eingetreten sein, falls die Welt
von Ewigkeit her bestünde.27 (c) Wenn aber in der Vergangenheit alle
Dinge aufgehört hätten zu existieren, würde auch heute nichts existie-
ren. Denn das, was nicht existiert, beginnt nur zu existieren durch etwas
anderes, das bereits existiert (Kausalprinzip). (d) Nun existiert aber heu-
te zweifellos etwas. Folglich können nicht alle Dinge vergänglich sein.
Vielmehr muss es außer den vergänglichen Dingen auch etwas notwen-
dig Seiendes geben.
Um die Annahme zu widerlegen, es gäbe ausschließlich vergängliche
Dinge, geht Thomas interessanterweise von einer ewigen Vergangenheit
der Welt aus. Zwar war er aus offenbarungstheologischen Gründen der
Auffassung, die Welt besitze einen zeitlichen Anfang, aber er hielt diese
Auffassung, durch welche die Erfolgsaussichten eines kosmologischen
Argumentes deutlich steigen würden, für philosophisch nicht demon
strierbar.28 Deshalb führte er den kosmologischen Beweis in einer Versi-
on, die im Unterschied zur Kalam-Version die Ewigkeit der Welt ein-
räumt.
Diese thomasische Version ist freilich schon in ihrem ersten Schritt
einem schwerwiegenden Einwand ausgesetzt: Aus der Annahme, dass
jedes Ding vergänglich ist und daher irgendwann vergangen sein wird,
folgt nämlich keineswegs, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt alle
Dinge zugleich vergangen sein werden und dass dieser Zeitpunkt im Fal-
le der Ewigkeit der Welt schon eingetreten sein muss.29 Daraus, dass mir
27
So interpretieren zu Recht auch F. C. Copleston, Aquinas, Harmondsworth
1975, 124; Kenny, The Five Ways, 57, 63 f., und Craig, The Cosmological Argument
from Plato to Leibniz, 187–189.
28
Vgl. Thomas von Aquin, In quattuor libros Sententiarum, in: S. Thomae Aqui
natis Opera Omnia, hrsg. von R. Busa, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980 (= Sent.),
II, d. 1, q. 1, a. 5; Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden (= ScG), 2. Bd., Buch
II, lat.-dt, hrsg. und übersetzt von K. Albert/P. Engelhardt, Darmstadt 2. Aufl. 1992,
cap. 38; STh I, q. 46, a. 2.
29
Dieser Einwand wird beispielsweise vorgebracht von Kenny, The Five Ways, 56
und 63; W. Rowe, The Cosmological Argument, Princeton/London 1975, 42 f.; J. L.
Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes,
übersetzt von R. Ginters, Stuttgart 1985, 142, und A. Kreiner, »Philosophische Kri-
26 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
im Laufe meines Lebens jedes einzelne Haar einmal ausfallen wird, folgt
ja auch nicht, dass ich eines Tages ohne Haare dastehen werde. Denn
möglicherweise überschneiden sich meine Haare in ihrer Verweildauer
stets derart, dass es nie zu einer Glatze kommt. Dasselbe könnte auch bei
vergänglichen Dingen der Fall sein. Wenn sich die Zeitstrecken, in denen
sie existieren, stets überlappen würden, käme es nie zu einer Lücke, in
der überhaupt nichts existiert.
Die Triftigkeit dieses Einwands hängt meines Erachtens von der An-
zahl der vergänglichen Dinge ab. Falls es ausschließlich vergängliche
Dinge gibt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann eine Existenzlü-
cke entsteht, weil sich die vergänglichen Dinge in ihrer zeitlichen Erstre-
ckung einmal nicht überschneiden, durch zwei Faktoren bedingt: Die
Wahrscheinlichkeit einer Existenzlücke steigt proportional mit der Dau-
er der Zeit, die vergeht, und umgekehrt proportional mit der Anzahl der
vergänglichen Dinge. Wenn nun die Welt eine unendliche Vergangenheit
besäße und wenn die Anzahl der vergänglichen Dinge jederzeit begrenzt
wäre, dann hätte schon in der Vergangenheit eine Existenzlücke eintre-
ten müssen. Um sein Argument aufrechtzuerhalten, müsste Thomas da-
her sicherstellen, dass eine unendliche Anzahl simultan existierender
vergänglicher Dinge unmöglich ist. Nun glaubte er in der Tat, die Exis-
tenz einer aktuell unendlichen Menge ausschließen zu können.30 Wo-
möglich hat er sich aber in diesem Punkt geirrt. Die moderne, auf Georg
Cantor zurückgehende Mengenlehre hat einen widerspruchsfreien Be-
griff des aktuell Unendlichen entwickelt und dadurch mindestens dessen
Möglichkeit nachgewiesen. In welchem Verhältnis diese Theorie des ak-
tuell Unendlichen zur Wirklichkeit steht, ist eine in der heutigen Mathe-
matik höchst umstrittene Frage.31 Solange sie nicht geklärt ist, kann aber
auch der erste Teil des thomasischen Beweises nicht als gelungenes Ar-
gument gelten.
32
Vgl. ScG II, 30; STh I, q. 44, a. 1, obi. 2 und ad 2; STh I, q. 50, a. 5, ad 3; STh I,
q. 75, a. 6, c und ad 2; STh I–II, q. 93, a. 4, obi. 3 und ad 3.
33
Thomas nimmt eine Urmaterie an, die weder entsteht noch vergeht, weil sie bei
jedem Entstehen und Vergehen vorausgesetzt ist (vgl. z. B. Sent. II, d. 1, q. 1, a. 5, obi.
1 und ad 1; STh I, q. 104, a. 4, c), und auch nach heutigem Wissensstand scheint den
vergänglichen Dingen eine unvergängliche Materie-Energie zugrunde zu liegen.
Denn nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik kann innerhalb eines ge-
schlossenen Systems Energie weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur transfor-
miert werden, und der speziellen Relativitätstheorie zufolge sind Masse und Energie
bekanntlich äquivalent (e=mc2).
28 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
Und könnte es daher zur Erklärung der vergänglichen Dinge nicht über-
flüssig sein, eine logisch notwendige Entität anzunehmen? Um diese
Möglichkeiten auszuschließen, hätte Thomas den Satz vom zureichenden
Grund in Anspruch nehmen müssen, wonach es für alles einen Grund
gibt, dass es ist und nicht vielmehr nicht ist. Denn daraus folgt zwin-
gend, dass die Existenz jedes Existierenden entweder in einem anderen
oder in ihm selbst gründet. Eine unvergängliche Urmaterie, die im Falle
ihrer Existenz sicher nicht logisch notwendigerweise existiert, könnte
dann nicht der letzte Grund der Dinge sein.
Der zweite Beweisschritt ist freilich noch in anderer Hinsicht anfecht-
bar. Thomas behauptet, die Kette der unvergänglichen Dinge, die eine
Ursache ihrer Unvergänglichkeit haben, könne nicht bis ins Unendliche
reichen. Zur Begründung verweist er den Leser auf sein im »zweiten
Weg« gegebenes Argument, das wie folgt lautet:
»Es ist aber nicht möglich, daß die Wirkursachen ins Unendliche gehen, weil bei
allen geordneten Wirkursachen das Erste Ursache des Mittleren, und das Mitt-
lere Ursache des Letzten ist, sei es daß das Mittlere mehreres oder nur eines ist.
Ist aber die Ursache entfernt worden, dann wird auch die Wirkung entfernt.
Wenn es also kein Erstes in den Wirkursachen gibt, wird es kein Letztes und
auch kein Mittleres geben. Wenn aber die Wirkursachen ins Unendliche gehen,
wird es keine erste Wirkursache geben, und so wird es weder eine letzte Wir-
kung noch mittlere Wirkursachen geben: was offenbar falsch ist.«34
den Sohn zeugt, verursacht nicht den Zeugungsakt des Sohnes, noch er-
folgen beide Akte zur selben Zeit. Der Stock dagegen wird von der Hand
dazu bewegt, den Stein zu bewegen, und beide bewegen daher simul-
tan.
Nun ist die Kette der unvergänglichen Dinge, deren Unvergänglich-
keit verursacht ist, nach Thomas offenbar eine Kausalreihe des zweiten
Typs, also eine hierarchisch geordnete. Ein Glied dieser Kette verursacht
demnach nicht nur die unvergängliche Existenz des nächsten Gliedes,
sondern auch die kausale Tätigkeit, durch die das nächste Glied, solange
es noch nicht das letzte ist, die unvergängliche Existenz des übernächs-
ten bewirkt. Als hierarchisch geordnete Kausalreihe kann jedoch die
Kette der unvergänglichen Dinge, deren Unvergänglichkeit verursacht
ist, nach Thomas nicht ins Unendliche zurückreichen. Warum das un-
möglich ist, soll aus dem zitierten Argument hervorgehen, das, ange-
wandt auf unseren Fall, Folgendes besagt: In der hierarchisch geordneten
Kausalkette unvergänglicher Dinge hängen die Existenz und die exis-
tenzverursachende Tätigkeit jedes nachgeordneten Gliedes vom ersten
Glied ab. Würde diese Kette ins Unendliche zurückreichen, dann gäbe es
kein erstes Glied und daher auch keine nachgeordneten Glieder. Nun
gibt es aber ein unvergängliches Ding, dessen unvergängliche Existenz
verursacht ist.37 Folglich kann die hierarchisch geordnete Kausalkette
unvergänglicher Dinge nicht unendlich lang sein.
Diese thomasische Argumentation ist unzureichend, weil sie das Pro-
blem nicht löst, sondern lediglich verschiebt. Zweifellos kann eine Kette,
in der die Existenz und die Wirksamkeit der nachgeordneten Glieder
von einem ersten Glied abhängen, nicht ins Unendliche zurückreichen,
weil es ohne ein erstes Glied, mithin im Falle der Unendlichkeit der Ket-
te, überhaupt keine Glieder gäbe. Wieso aber muss eine hierarchisch ge-
ordnete Kausalkette stets eine sein, in der die nachgeordneten Glieder
von einem ersten Glied abhängen? Warum könnten nicht ausnahmslos
alle Glieder anderen nachgeordnet sein? Auf diese Fragen bleibt Thomas
dem Leser die Antwort schuldig. Dass hierarchisch geordnete Kausal-
ketten nicht ohne erstes Glied auskommen, ist eine Annahme, die er
nicht begründet, sondern lediglich voraussetzt.
37
Bei dieser Prämisse handelt es sich um das thomasische Zugeständnis, dass das
unvergänglich existierende Ding, zu dem der erste Beweisschritt gelangte, eines sein
könnte, dessen Existenz äußerlich verursacht und nicht logisch notwendig ist. Ohne
dieses Zugeständnis wäre der zweite Beweisschritt überflüssig.
30 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
38
Für die unmittelbare Gewissheit der Annahme scheinen in seltener Eintracht
beispielsweise Craig, The Cosmological Argument from Plato to Leibniz, 289, und
Mackie, Das Wunder des Theismus, 144 f., plädieren zu wollen.
§ 3 Die Leibniz-Version 31
39
Vgl. S. Clarke, A Demonstration of the Being and Attributes of God and other
Writings, ed. by E. Vailati, Cambridge 1998. Clarkes Argument wird in der ausge-
zeichneten Untersuchung von Rowe, The Cosmological Argument detailliert analy-
siert.
40
Variationen dieses Beweises finden sich in mehreren leibnizschen Schriften,
vgl. G. W. Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Die philosophischen Schrif-
ten von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. von C. I. Gerhardt, 7 Bde., Hildesheim/
New York 1978 (= GP), Bd. V II, 302–308, hier: 302 f.; ders., Die Theodizee, übersetzt
von A. Buchenau, Hamburg 2. Aufl. 1968 (= Theodizee), 100 (§ 7); G. W. Leibniz,
Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison/Vernunftprinzipien der Natur
und der Gnade – Monadologie, franz.-dt., hrsg. von H. Herring, Hamburg 2. Aufl.
1982, 14 f. (Vernunftprinzipien, § 8) und 42 f. (Monadologie, §§ 37 f.).
32 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
warum es überhaupt eine Welt gibt und warum gerade diese und keine
andere. Leibniz schreibt:
»Stellen wir uns vor, das Buch über die Elemente der Geometrie sei ewig gewe-
sen, immer sei eines vom anderen abgeschrieben worden, so leuchtet ein, dass –
wenn auch der Grund für das gegenwärtige Buch in dem früheren, von dem es
abgeschrieben ist, aufgezeigt werden kann – man doch, wenn man auch auf noch
so viele Bücher zurückgeht, nirgends zu einem vollständigen Grunde gelangen
wird. Denn man kann sich immer wundern, warum es seit aller Zeit solche Bü-
cher gegeben hat, warum überhaupt Bücher und warum in dieser Weise ge-
schriebene. Was von den Büchern gilt, gilt auch für die verschiedenen Zustände
der Welt; der folgende ist nämlich gewissermaßen aus dem vorhergehenden ab-
geschrieben (wenn auch nach gewissen Gesetzen des Wechsels). Man wird da-
her, wie weit man auch auf frühere Zustände zurückgeht, niemals in den Zustän-
den einen vollständigen Grund finden, warum überhaupt eine Welt und warum
eine solche besteht.«41
Selbst wenn die Welt eine unendliche Vergangenheit besitzen sollte, hat
sie also den Grund ihres Daseins und Soseins nicht in sich selbst und ist
mithin auch als ganze kontingent. Daher muss es einen von der Welt
unterschiedenen Grund für die Welt geben. Dieser außerweltliche Grund
der Welt aber muss, damit er zureichend ist, ein notwendiges Wesen sein,
das den Grund seines Daseins in sich selbst enthält.
Diese dritte Version des kosmologischen Beweises unterscheidet sich
sowohl von der Kalam-Version als auch von derjenigen, die Thomas von
Aquin vertrat. Anders als die Kalam-Version räumt sie die Möglichkeit
einer unendlichen Vergangenheit der Welt ein. Im Unterschied zur Tho-
mas-Version dagegen nimmt sie zum einen den Satz vom zureichenden
Grund in Anspruch und schließt zum anderen nicht auf ein erstes Glied
in einer Kette von Ursachen, sondern auf einen letzten Grund der ge-
samten Ursachenkette. Ob die dritte Version als gelungen gelten kann,
hängt im Wesentlichen von der Beantwortung dreier Fragekomplexe ab.
(1) Wäre mit der Erklärung jedes einzelnen kontingenten Dinges auch
die ganze Reihe der kontingenten Dinge zureichend erklärt, sodass die
Erklärung der Welt ohne einen außerweltlichen Grund auskäme? (2) Ist
der Satz vom zureichenden Grund gültig, und darf er auf die Welt als
ganze angewendet werden? (3) Ist ein notwendig existierendes Wesen
41
Leibniz, »De rerum originatione radicali«, GP VII, 302; Übersetzung im We-
sentlichen nach G. W. Leibniz, »Über den ersten Ursprung der Dinge«, in: ders.,
Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, übersetzt und hrsg. von H. Herring,
Stuttgart 1966, 39–50, hier: 39.
§ 3 Die Leibniz-Version 33
42
D. Hume, Dialogues concerning natural religion, ed. with commentary by
N. Pike, New York/London 1985, 79 (Übersetzung von F. H.).
34 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
gen, sofern sich diese Frage von der nach den Ursachen der einzelnen Elemente
unterscheiden soll.«43
Cleanthes und Edwards nehmen an, der Grund für die Existenz der Welt
sei nicht außerhalb, sondern innerhalb der Welt zu finden, und stützen
sich dafür auf die beiden folgenden, gleichermaßen unplausiblen Prin-
zipien:
(a) Wenn die Existenz jedes einzelnen Elements einer Reihe erklärt ist,
dann ist auch die Existenz der Reihe als ganze erklärt.
(b) In der unendlichen Reihe der kontingenten Dinge (Welt) ist jedes
Element der Reihe durch die kausale Wirksamkeit anderer Elemente
zureichend erklärt.44
Offenkundig trifft das erste Prinzip nicht auf alle Reihen zu. Schon bei
Reihen mit endlich vielen Elementen ist es nicht immer absurd, über die
Erklärungen der einzelnen Elemente hinaus nach einer Erklärung des
Ganzen zu fragen. Wenn in einer Bibliothek zehn Bücher als Gruppe
zusammenstehen, dann ist mit den Erklärungen, warum jedes einzelne
Buch in der Bibliothek vorhanden ist, nicht notwendigerweise auch die
Existenz der Gruppe erklärt. Denn das Dasein dieser Gruppe könnte
einen zusätzlichen Grund haben, etwa den, dass sie von jemandem als
Semesterapparat zusammengestellt wurde. Das erste Prinzip, das dem
Cleanthes-Edwards-Einwand zugrunde liegt, ist zwar in Fällen gültig,
in denen die Verbindung von Elementen zu einer Reihe lediglich durch
gedankliche Operationen zustande kommt, nicht aber in solchen, in de-
nen diese Verbindung einen objektiven Grund hat.45
Gänzlich unzutreffend ist das Prinzip schließlich dann, wenn es sich
um eine Reihe handelt, in der jedes Element der Reihe durch ein anderes
Element verursacht ist, und die deshalb (sofern keine Kausalschleife vor-
liegt) unendlich viele Elemente hat. Ein Gedankenexperiment Humes
43
P. Edwards, »The Cosmological Argument« (1959), wieder abgedruckt in: B. A.
Brody (ed.), Readings in the Philosophy of Religion. An Analytic Approach, Engle-
wood Cliffs/New Jersey 1974, 71–83, hier: 78 (Übersetzung von F. H.).
44
Vgl. ebd., 80 f., wo Edwards auch dieses zweite Prinzip ausdrücklich in An-
spruch nimmt.
45
So zu Recht auch W. F. Vallicella, »The Hume-Edwards Objection to the Cos-
mological Argument«, Journal of Philosophical Research XXII (1997), 423–443, hier:
426 f. Vallicella unterscheidet zwischen »causal« und »noncausal (logical)« collec-
tions und weist darauf hin, dass nur bei logical collections mit der Erklärung aller
einzelnen Elemente auch die Ansammlung als ganze erklärt ist.
§ 3 Die Leibniz-Version 35
variierend,46 nehme man an, Bücher würden sich wie Organismen fort-
pflanzen, jedes Buch sei durch ein anderes gezeugt und die Reihe der
Bücher reiche daher bis ins Unendliche zurück. Außerdem sei einen Mo-
ment lang angenommen, die Existenz jedes Buchs sei durch den Hinweis
auf die Zeugungstätigkeit eines anderen zureichend erklärt. Obgleich
man in diesem Falle für die Existenz jedes einzelnen Buchs eine zurei-
chende Erklärung hätte, wäre damit die Existenz der Buchreihe keines-
wegs erklärt. Denn da die Erklärung eines einzelnen Buchs stets auf die
Existenz eines anderen Bezug nähme, würde die Summe der Einzeler-
klärungen die Frage offen lassen, warum es überhaupt Bücher gibt und
warum ausgerechnet diese merkwürdigen natürlichen Bücher.47
Ebenso unplausibel wie das erste ist auch das zweite Prinzip, auf dem
der Cleanthes-Edwards-Einwand beruht. Für praktische Zwecke mag es
genügen, Elemente der unendlichen Reihe kontingenter Dinge durch die
kausale Wirksamkeit anderer Elemente dieser Reihe zu erklären. Erklä-
rungen solcher Art sind aber, da sie Kontingentes immer nur auf Kontin-
gentes zurückführen, unvollständig und daher im strikten, theoretischen
Sinne des Wortes unzureichend.
Kurzum: Der Cleanthes-Edwards-Einwand gegen den kosmolo-
gischen Beweis ist nicht stichhaltig, weil mit der Erklärung jedes kontin-
genten Dinges durch die Wirksamkeit eines anderen weder die unend-
liche Reihe der kontingenten Dinge noch irgendein Element dieser Reihe
vollständig erklärt wäre.
46
Vgl. Hume, Dialogues concerning natural religion, 35.
47
Auch nach W. Rowe trifft das erste Prinzip, das dem Cleanthes-Edwards-Ein-
wand zugrunde liegt, nicht auf unendliche Ansammlungen zu, in denen die Existenz
jedes Elements der Ansammlung durch die kausale Wirksamkeit eines anderen Ele-
ments erklärt wird. Irrigerweise glaubt Rowe aber, dieses Prinzip gelte für alle end-
lichen Ansammlungen. Zudem stellt er das zweite Prinzip nicht in Frage (vgl. Rowe,
The Cosmological Argument, 154–157).
48
Vgl. A. Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde, § 14, in: ders., Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe), editorische Mate-
rialien von A. Hübscher, Zürich 1977 (= Werke), Bd. V, 37 f.
36 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
ten, und ist daher nicht logisch notwendig. Gleichwohl machen wir be-
ständig Gebrauch von diesem Satz und scheinen dazu durch die Natur
unserer Vernunft genötigt zu sein. Richard Taylor nennt den Satz vom
zureichenden Grund deshalb zu Recht eine »presupposition of reason
itself«.49 Auch wenn wir für vieles keine Erklärung besitzen, gehen wir
wie selbstverständlich davon aus, alles gehe mit rechten Dingen zu und
sei bei hinreichender Kenntnis erklärbar.
Theorien, die das bestreiten, sind deshalb für unsere Vernunft unbe-
friedigend und fordern ihren Widerstand heraus. Ein berühmtes Beispiel
sind die Auseinandersetzungen um die Quantenmechanik in den zwan-
ziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach der Kopenhagener Deutung
gibt es für quantenmechanische Einzelereignisse, etwa dafür, wann ein
radioaktives Atom zerfällt, keinen Grund, auch keinen verborgenen.
Deshalb traf sie bei Physikern wie Einstein oder Schrödinger auf ener-
gischen Widerspruch. Bei den harten Diskussionen mit Nils Bohr soll
Schrödinger einmal ausgerufen haben: »Wenn es doch bei dieser ver-
dammten Quantenspringerei bleiben soll, dann bedauere ich, mich je-
mals mit der Atomtheorie abgegeben zu haben!«50 Entsprechend schrieb
Einstein an Max Born: »Die Quantenmechanik ist sehr achtung-gebie-
tend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das doch nicht der wahre
Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt
sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht wür-
felt.«51 Vielleicht wird Einstein damit Recht behalten. Das Unbehagen an
einem würfelnden Gott hat jedenfalls zu Deutungen der Quantenme-
chanik geführt, die mit dem Satz vom zureichenden Grund vereinbar
sind.52
49
Taylor, Metaphysics, 105. Dass es für alles irgendeinen Grund gibt, ist nach
Taylor ein Prinzip, »which all men, whether they ever reflect upon it or not, seem
more or less to presuppose« (ebd.).
50
W. Heisenberg, Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze, Mün-
chen 1971, 64.
51
»Aus dem Briefwechsel Einsteins mit Max und Hedwig Born« (Brief Einsteins
vom 4. Dezember 1926), in: M. Born, Physik im Wandel meiner Zeit, Braunschweig
4. Aufl. 1966, 289–299, hier: 294.
52
Beispielsweise hat Hugh Everett die sogenannte Viele-Welten-Deutung der
Quantenmechanik (vgl. B. S. DeWitt/N. Graham [eds.], The Many-Worlds Inter
pretation of Quantum Mechanics, Princeton/New Jersey 1973) entwickelt. Zur ver-
gleichenden Bewertung der Kopenhagener Deutung und der Viele-Welten-Deutung
vgl. unten § 10.
§ 3 Die Leibniz-Version 37
53
Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grun
de, § 4 (Werke V, 16).
54
Leibniz’ fünftes Schreiben, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung
der Philosophie, Bd. I, hrsg. von E. Cassirer, Hamburg 3. Aufl. 1966, 213 f. Dem zi-
tierten Text zufolge lässt sich der Satz vom zureichenden Grund nicht nur durch
empirische, sondern auch durch apriorische Erwägungen rechtfertigen. Möglicher-
weise greift Leibniz damit auf seine frühere Ansicht zurück, wonach der Satz vom
zureichenden Grund aus dem fundamentalen Prinzip folgt, dass in jedem wahren
Satz das Prädikat im Subjekt enthalten und daher jede Wahrheit analytisch ist. So
heißt es beispielsweise in einem Brief an Arnauld vom Juni 1686: »[. . .] für die Ver
knüpfung der Termini einer Aussage muß doch stets eine bestimmte Grundlage vor
handen sein, die sich in ihren Begriffen vorfinden muß. Dies ist mein großes Prinzip,
mit dem, wie ich glaube, alle Philosophen einverstanden sein müssen, und von dem
jenes populäre Axiom, daß nichts sich ereignet, ohne daß sich ein Grund angeben
läßt, warum es eher so als anders erfolgt, nur ein Folgesatz ist.« (Leibniz an Arnauld,
Juni 1686, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie,
Teil II, hrsg. von E. Cassirer, Hamburg 1996, 400). Wie der späte Leibniz diese ana-
lytische Wahrheitstheorie und ihre Beziehung zum Satz vom zureichenden Grund
einschätzt, ist schwer zu beurteilen und in der Sekundärliteratur durchaus umstrit-
ten. Klar ist jedenfalls, dass Leibniz auch in seiner Spätzeit meinte, der Satz vom
zureichenden Grund lasse sich auf apriorische Weise rechtfertigen. Ob das zutrifft,
kann dahingestellt bleiben. Denn schon die dargelegten empirischen Überlegungen
sprechen für die Annahme, dass der Satz vom zureichenden Grund objektive Gültig-
keit besitzt.
38 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
rechtigt, diesen Satz auch auf die Welt als ganze anzuwenden. Diese Ein-
schränkung, für die beispielsweise John Leslie Mackie und John Clay-
ton55 plädieren, ist prima facie wenig plausibel. Ohne gewichtige er-
kenntnistheoretische Zusatzargumente, etwa kantischer Art, ist es völlig
willkürlich, die Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund auf
das zu beschränken, was weniger ist als das Ganze.56 Der Schreibtisch,
an dem ich sitze, hat zweifellos einen Grund für seine Existenz. Daran
würde sich auch dann nichts ändern, wenn die ganze Welt nur aus die-
sem Schreibtisch bestünde. Warum aber sollte eine einfache Welt eines
Grundes für ihre Existenz bedürfen, nicht jedoch die komplexe Welt, in
der wir leben?
In seiner BBC-Debatte mit Frederick Copleston hat Bertrand Russell
behauptet, es sei aus logischen Gründen unsinnig, den Begriff der Ursa-
che auf das Universum als Ganzes anzuwenden.
»Ich kann erläutern, worin meines Erachtens Ihr Fehlschluß besteht. Jeder
Mensch, der existiert, hat eine Mutter; und mir scheint, Ihr Argument lautet,
daß deshalb die Menschengattung eine Mutter haben muß; aber offensichtlich
hat die Menschengattung keine Mutter – das ist eine andere logische Sphäre.«57
Frage nach der Ursache des Universums als einer abstrakten Menge sinnlos, nicht
aber die Frage, warum diese Menge die Elemente hat, die sie hat, statt gar keine zu
haben (vgl. Rowe, The Cosmological Argument, 129–144).
59
Vgl. z. B. Hume, Dialogues concerning natural religion, 77; Russell/Copleston,
»The Existence of God«, 284–287.
60
Vgl. zum Folgenden Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 592–614, B 620–642
(Werke 4, 529–544).
40 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
was Kontingentes existiert, würde die Wirklichkeit und damit auch die
Möglichkeit eines notwendig existierenden Wesens folgen. (b) Oder –
und darin besteht die zweite Lösungsmöglichkeit – man geht von der
Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund aus. In diesem Fall ergibt
sich aus der Existenz des Kontingenten, dass ein Ens necessarium defini-
tiv wirklich und daher auch möglich ist. Wenn es aber möglich, d. h. wi-
derspruchsfrei denkbar ist, dann muss es eines sein, bei dem die Existenz
kein Teil seines Begriffs ist. Denn andernfalls wäre es, da Sein kein reales
Prädikat ist (vgl. § 6), unmöglich.
Von diesen beiden einander ausschließenden Lösungsmöglichkeiten
scheint mir die zweite die richtige zu sein. Denn während man, wie wir
sahen, mit einigem Recht von der Gültigkeit des Satzes vom zureichenden
Grund ausgehen darf, ist keineswegs gewiss, dass ein Wesen nur dann
ein notwendig existierendes sein könnte, wenn sein Begriff die Existenz
als Teilbestimmung einschließen würde. Wenn aber der Satz vom zurei-
chenden Grund gültig ist, dann steht die Möglichkeit eines Ens necessa-
rium unverrückbar fest. Aus dem nicht-prädikativen Charakter von
Existenz folgt dann nicht die Unmöglichkeit eines notwendig Existie-
renden, sondern vielmehr die Art seiner Möglichkeit: Es muss eines sein,
das nicht nicht existieren kann, obgleich die Existenz nicht als Element
in seinem Begriff enthalten ist.
Diese Überlegungen genügen, um jenen Einwand gegen das kosmolo-
gische Argument zurückzuweisen, der die Möglichkeit eines Ens neces-
sarium bestreitet. Sie werfen allerdings die Anschlussfrage auf, worum
es sich bei einem notwendig existierenden Wesen, dessen Existenz kein
Teil seines Begriffs ist, eigentlich handelt. Zur Beantwortung dieser Fra-
ge werde ich im nächsten Kapitel die Annahme vertreten, dass mögliche
Wesenheiten oder Essenzen eine Tendenz besitzen, wirklich zu sein, und
dass die Stärke dieser Tendenz dem Grad ihrer Vollkommenheit ent-
spricht. Sollte das zutreffen, dann hätte die höchst vollkommene Essenz,
also jene, der keine Vollkommenheit fehlt und der jede Vollkommenheit
im höchsten Grad zukommt, die größtmögliche Tendenz, wirklich zu
sein. Sie würde daher notwendigerweise existieren, obgleich Existenz
kein Element ihres Begriffs wäre.
Resümee: Die dritte Version des kosmologischen Beweises hat hohe
Erfolgsaussichten, weil die Einwände, die sich auf die Notwendigkeit
einer transzendenten Erklärung der Welt als ganzer, auf die Gültigkeit
des Satzes vom zureichenden Grund und auf die Denkbarkeit eines not-
wendig existierenden Wesens beziehen, nicht stichhaltig sind.
42 Erstes Kapitel: Das kosmologische Argument
65
Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-dt. Ausgabe von F. S. Schmitt, Stutt
gart-Bad Cannstatt 2. Aufl. 1984, 83 und 85.
Zweites Kapitel
Wer verstanden hat, was Gott ist, muss auch annehmen, dass Gott ist.
Und wer die Existenz Gottes leugnet, hat gar nicht begriffen, wovon die
Rede ist. Nur ein Tor kann dem Psalmisten zufolge auf den Gedanken
kommen: Es ist kein Gott.1 Dass der Atheismus schon aus begrifflichen
Gründen eine Torheit ist, soll durch den berühmtesten aller Gottesbe-
weise gezeigt werden, der seit Kant der ontologische heißt. Er ist der
denkwürdige Versuch, allein vom Begriff Gottes, also unabhängig von
Erfahrung, auf Gottes Existenz zu schließen. Ob dieser Versuch gelingt,
darüber herrscht seit annähernd tausend Jahren ein Streit, an dem sich
fast alle bedeutenden Theologen und Philosophen beteiligt haben. Die
Liste mit den Vertretern und diejenige mit den Kritikern des ontolo-
gischen Beweises enthält gleichermaßen illustre Namen. Auf der ersten
Liste finden sich Namen wie Anselm von Canterbury, Bonaventura,
Duns Scotus, Descartes, Spinoza, Leibniz und Hegel; auf der zweiten
Liste solche wie Thomas von Aquin, Ockham, Gassendi, Hume, Kant,
Schelling und Karl Barth. Im 20. Jahrhundert hat der ontologische Be-
weis in Norman Malcolm, Charles Hartshorne und Alvin Plantinga
neue Verteidiger gefunden, während er in der europäischen Theologie
und Philosophie zumeist kritisiert, fideistisch uminterpretiert oder
schlicht ignoriert wurde.2
1
Vgl. Psalm 14, 1 und 53, 2.
2
Aus der umfangreichen Sekundärliteratur seien nur einige Titel genannt: D.
Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der
Neuzeit, Tübingen 2. Aufl. 1967; J. Hick/A. C. McGill (eds.), The Many-Faced Ar
gument. Recent Studies on the Ontological Argument for the Existence of God, Lon-
don/Melbourne 1968; J. Rohls, Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottes
beweis und seine Kritiker, Gütersloh 1987; M. M. Olivetti (Hg.), L’argomento onto
logico (Archivio di Filosofia 58), Padova 1990; W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft.
Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel,
München 1992; G. Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum
Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 2008.
44 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
und als eine zwischen Christen und Manichäern unstrittige Regel ver-
wendet, an der sich jede Gottesvorstellung messen lassen muss.5 Weil die
Bezeichnung Gottes als etwas, über dem nichts Größeres gedacht wer-
den kann, noch diesseits bestimmter Gottesvorstellungen steht, ist sie
für Anselm ein geeigneter Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung
mit dem Atheismus.
Nach Anselm versteht der Atheist den Ausdruck »etwas, über dem
nichts Größeres gedacht werden kann«, denn anderenfalls könnte er
nicht die Existenz des Wesens bestreiten, auf das sich der Ausdruck be-
zieht. Was er aber versteht, das ist in seinem Verstand, nämlich als Be-
wusstseinsgegenstand. Freilich wird der Atheist behaupten, ein Wesen,
über dem nichts Größeres gedacht werden kann, sei ausschließlich im
Bewusstsein und nicht in der bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit.
Durch eben diese Behauptung, besagtes Wesen besitze nur ein intramen-
tales, kein extramentales Sein, verwickelt er sich aber in einen Wider-
spruch. Denn angenommen, ein Wesen, über dem nichts Größeres ge-
dacht werden kann, sei ausschließlich im Bewusstsein, so kann doch
zumindest gedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit ist. Nun ist ein
Wesen, wenn es sowohl im Bewusstsein als auch in Wirklichkeit ist, grö-
ßer, als wenn es nur im Bewusstsein ist. Für Anselm ist Sein offenbar
eine intensive Größe, die wie Kraft, Licht oder Wärme einer größeren
oder geringeren Stärke fähig ist. Ebenso wie das Sonnenlicht heller ist als
das Licht einer Lampe, so besitzt etwas, das im Bewusstsein und in
Wirklichkeit ist, nach Anselm »mehr« Sein als etwas Entsprechendes,
das nur im Bewusstsein ist. Es liegt auf der Hand, dass es unter dieser
Voraussetzung widersprüchlich ist anzunehmen, etwas, über dem nichts
Größeres gedacht werden kann, sei nur im Bewusstsein. Denn wenn es
nur im Bewusstsein wäre, dann ließe sich etwas Größeres denken. »Es
existiert also ohne Zweifel ›etwas, über dem Größeres nicht gedacht wer-
den kann‹, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.«6
Dieses Ergebnis von Proslogion 2 wird in Proslogion 3 durch eine nä-
here Bestimmung der Existenzweise Gottes präzisiert. Gott muss nicht
nur als existierend, sondern er muss auch als notwendigerweise existie-
5
A. Augustinus, De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum
libri duo, in: Sancti Aureli Augustini Opera 6/7, hrsg. von J. B. Bauer (CSEL 90),
Wien 1992, 1–156, lib. II, 11, 24, bestimmt Gott als etwas, »quo esse aut cogitari
melius nihil possit«.
6
Anselm von Canterbury, Proslogion 2 (Schmitt I, 102, 2 f.), Übersetzung nach
der lat.-dt. Ausgabe von Schmitt.
46 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
7
Ebd., 3 (Schmitt I, 102, 6–103, 2), Übersetzung nach der lat.-dt. Ausgabe von
Schmitt.
8
K. Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im
Zusammenhang seines theologischen Programms (1931), hrsg. von E. Jüngel/I. U.
Dalferth, Zürich 2. Aufl. 1986, 6.
9
Vgl. ebd., 24–27, 40 ff., 53–71.
§ 4 Anselms Argument und der logische Einwand 47
10
Vgl. ebd., 75–80.
11
Vgl. F. S. Schmitt, »Einführung«, in: Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-
dt. Ausgabe von F. S. Schmitt, 9–65, hier: 35–52. Für die Kritik an Barths Anselm-
buch vgl. auch zum Beispiel H. Scholz, »Der Anselmische Gottesbeweis (1950/1951)«,
in: ders., Mathesis Universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissen
schaft, hrsg. von H. Hermes/F. Kambartel/J. Ritter, Darmstadt 1961, 62–74, hier:
63 ff.
12
Anselm von Canterbury, Proslogion 4 (Schmitt I, 104, 5–7), Übersetzung nach
der lat.-dt. Ausgabe von Schmitt.
13
Vgl. A. Stolz, »Zur Theologie Anselms im Proslogion«, Catholica 2 (1933), 1–
24.
14
K. Flasch, »Einleitung«, in: Anselm von Canterbury/Gaunilo von Marmou-
tiers, Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm
von Canterbury und Gaunilo von Marmoutiers, lat.-dt., übersetzt, erläutert und
hrsg. von B. Mojsisch, Mainz 1989, 7–48, hier: 23.
48 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
Wirklichsein zum Begriff gehört, wie im Falle Gottes, muss dem Begriff
nicht etwas Wirkliches entsprechen. Etwas, über dem nichts Größeres
gedacht werden kann, mag nur als existierend gedacht werden können,
gleichwohl ergibt sich aus dem Inhalt dieses Gedankens nichts über sei-
nen Gegenstandsbezug.15 Denn anderenfalls könnte, meint Gaunilo,
auch die Existenz des Vortrefflichsten jeder beliebigen Art bewiesen
werden. Man stelle sich beispielsweise eine Insel vor, die vortrefflicher ist
als alle anderen (möglichen) Inseln.16 Nun ist es vortrefflicher, in der
Vorstellung und in Wirklichkeit als nur in der Vorstellung zu sein. Also
existiert die (denkbar) vortrefflichste Insel auch in Wirklichkeit. Denn
wäre sie nur in der Vorstellung, dann ließe sich eine vortrefflichere vor-
stellen, nämlich eine ihr entsprechende Insel, die auch in Wirklichkeit
existiert. Würde jemand so argumentieren, schreibt Gaunilo, »nähme ich
entweder an, er erlaube sich einen Scherz, oder ich wäre unschlüssig,
wen ich für törichter halten sollte, mich, wenn ich ihm beipflichtete, oder
ihn, wenn er glaubte, für das wesentliche Sein dieser Insel auch nur ir-
gendwie einen sicheren Beweis erbracht zu haben«.17 Nach Gaunilo
steckt im Existenzbeweis der (denkbar) vortrefflichsten Insel und in An-
selms Gottesbeweis derselbe Fehler: Beide Beweise verwechseln die nur
vorgestellte mit der wirklichen Existenz. Zwar gehört die Bestimmung
der Existenz zum Begriff Gottes und zum Begriff einer maximal vor-
trefflichen Insel, aber diese Existenz ist eben nur eine gedachte und nicht
die Existenz der Sache selbst.
Dieser Einwand, den ich mit Dieter Henrich den logischen nenne, ist
in der Geschichte der Metaphysik unzählig oft wiederholt worden, und
er wird noch heute, zum Beispiel von John Leslie Mackie oder Wolfgang
Röd, als der entscheidende betrachtet.18 Trotzdem ist er definitiv falsch,
weil sonst alle Folgerungen aus Begriffen eingeschränkt werden müss-
ten. Beispielsweise dürfte man aus dem Begriff des Junggesellen nicht
mehr schließen, dass alle Junggesellen unverheiratet sind. Man müsste
vielmehr sagen: Nur innerhalb unserer Vorstellungen sind alle Jungge-
sellen unverheiratet, außerhalb unserer Vorstellungen aber möglicher-
15
Vgl. Gaunilo, Quid ad haec respondeat quidam pro insipiente (= Pro Insipiente)
5 (Schmitt I, 127, 25–128, 13).
16
Vgl. ebd. 6 (Schmitt I, 128, 14–32).
17
Ebd. (Schmitt I, 128, 28–30), Übersetzung nach: Anselm von Canterbury/
Gaunilo von Marmoutiers, Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden?, 77.
18
Vgl. Mackie, Das Wunder des Theismus, 78 ff., 85 f., 88 f.; Röd, Der Gott der
reinen Vernunft, 37, 65.
§ 4 Anselms Argument und der logische Einwand 49
weise nicht. Wir können uns Junggesellen nur als unverheiratet denken,
aber wer weiß, in Wirklichkeit ist vielleicht doch der eine oder andere
Junggeselle verheiratet. Offenkundig ist dieser Vorbehalt absurd. Eben-
so absurd ist der logische Einwand gegen den ontologischen Beweis, und
zwar deshalb, weil er sich in einen Widerspruch verwickelt. Wenn Gott
nur als existierend gedacht werden kann, kann nicht zugleich gedacht
werden, dass er möglicherweise nicht existiert.19 Dasselbe gilt auch für
die vortrefflichste aller möglichen Inseln. Natürlich misslingt der Exis-
tenzbeweis dieser Insel, aber der Fehler des Beweises ist ein anderer als
der, den Gaunilo diagnostiziert. Worin er besteht, wird im nächsten Ab-
schnitt deutlich werden.
In der Kirchlichen Dogmatik glaubt übrigens auch Karl Barth, dass
sich die cartesische Version des ontologischen Beweises mit Hilfe des
logischen Einwands widerlegen lasse.20 Dieser Irrtum ist sicher verzeih-
lich, da selbst Denker wie Thomas von Aquin oder David Hume den
logischen Einwand als stichhaltig betrachtet haben. Weniger verzeihlich
ist es aber, wenn Barth in seiner Untersuchung von 1931 suggeriert, für
Anselm selbst gelte der ontologische Beweis nur innerhalb der Grenzen
des logischen Einwands. Nach Barth soll in Proslogion 2 und 3 lediglich
bewiesen werden, dass der Gedanke, Gott existiere nicht oder nicht not-
wendigerweise, dem geoffenbarten Namen Gottes widerspricht. Die
wirkliche, nicht nur gedachte Existenz Gottes sei für Anselm dagegen
eine im Denken nicht einholbare Offenbarungswahrheit, die allein im
Glauben gewiss sei.21 Dieser offenbarungstheologisch angepasste An-
selm hat mit dem wirklichen Anselm des 11. Jahrhunderts nicht das Ge-
ringste zu tun. Er ist ein Produkt der barthschen Phantasie, ersonnen,
um den Begründer der rationalen Theologie und alle, die sich auf ihn
berufen, zum Schweigen zu bringen. Sollte Barth im Himmel auf den
Bischof von Canterbury treffen, wird er einiges zu hören bekommen.
19
Mit demselben Argument wird der logische Einwand auch von Kant in einer
wenig bekannten Notiz zurückgewiesen (vgl. Kant’s gesammelte Schriften, hrsg.
von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band X VII, Dritte Abtheilung:
Handschriftlicher Nachlaß, Band I V: Metaphysik, Erster Theil, Berlin/Leipzig 1926,
Nr. 3706 [S. 240 f.]).
20
Vgl. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung,
1. Teil, Zürich 4. Aufl. 1970, 409 ff.
21
Anders als so lassen sich Barths Ausführungen über die Konklusionen der an-
selmischen Beweise wohl kaum verstehen, vgl. Barth, Fides quaerens intellectum,
131 f. und 146 f.
50 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
Neben dem logischen Einwand haben Gaunilo und Thomas von Aquin
noch einen weiteren Einwand gegen den ontologischen Beweis vorge-
bracht. In Anknüpfung an die respektable Tradition der negativen Theo
logie bestreiten sie die Denkbarkeit jenes unüberbietbar großen Wesens,
von dem im anselmischen Beweis die Rede ist. Nach Gaunilo hat der
Ausdruck »das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«,
gar keine Bedeutung (significatio), weil er sich auf kein bestimmtes We-
sen beziehen lässt. Wenn man aber nicht einmal versteht, um was für ein
Wesen es sich beim unüberbietbar großen handeln soll, dann ist der an-
selmische Beweis von vornherein zum Scheitern verurteilt.22 Denn er
setzt voraus, dass das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann,
ein Gegenstand im Bewusstsein des Toren ist. Aus demselben Grund
misslingt Anselms Beweis auch nach Thomas von Aquin. Zwar ist Got-
tes Sein mit seinem Wesen identisch,23 aber wir können sein Sein nur aus
seinen Wirkungen, nicht aus seinem Wesen erschließen, weil Letzteres
für uns unbegreiflich ist.24 Durch Anselms Vorschlag, Gott als das zu
denken, über dem kein Größeres denkbar ist, wird lediglich definito-
risch festgelegt, dass Gottes Dasein zu seinem Wesen gehört, ohne ver-
ständlich zu machen, welches Wesen unüberbietbar groß ist und inwie-
fern ihm notwendigerweise das Dasein zukommt. Aus Definitionen
dürfen aber nur dann Schlüsse gezogen werden, wenn das Definierte
denkbar ist.
In seiner Antwort auf Gaunilo hat Anselm versucht, die Zweifel an der
Denkbarkeit des unüberbietbar großen Wesens auszuräumen, indem er
dieses Wesen näher bestimmt. Unüberbietbar groß ist dasjenige, das am
Ende jener gedanklichen Bewegung steht, die von weniger großen Gü-
tern zu immer größeren aufsteigt.25 Durch diese (im Proslogion noch
verworfene26) Gleichsetzung des Wesens, über dem Größeres nicht ge-
22
Vgl. Gaunilo, Pro Insipiente 4 (Schmitt I, 126, 29–127, 24).
23
Vgl. Thomas von Aquin, STh I, q. 3, a. 4; ders., ScG I, cap. 22.
24
Vgl. STh I, q. 2, a. 1c; ScG I, cap. 11.
25
Vgl. Anselm, Quid ad haec respondeat editor ipsius libelli 8 (Schmitt I, 137, 6–
138, 3).
26
Nach Proslogion 15 (Schmitt I, 112, 12–17) ist das, über das hinaus nichts Grö-
ßeres gedacht werden kann, etwas Größeres, als gedacht werden kann, weil Letzte-
res denkbar sei. Es liegt auf der Hand, dass diese Argumentation aufgrund ihrer
Selbstwidersprüchlichkeit unhaltbar ist.
§ 5 Descartes, Leibniz und der Einwand gegen die Denkbarkeit Gottes 51
dacht werden kann, mit dem denkbar Größten, hat Anselm den Weg
eingeschlagen, der in der neuzeitlichen Metaphysik konsequent beschrit-
ten wird.
Descartes’ Version des ontologischen Beweises definiert Gott nicht
mehr als das unüberbietbar große, sondern als das höchst vollkommene
Wesen (Ens summe perfectum) und schließt wie folgt: Gott ist das höchst
vollkommene Wesen, dasjenige, das alle Vollkommenheiten besitzt. Nun
ist Existenz eine Vollkommenheit. Also existiert Gott.27 Dieser Beweis
scheint gegen den Einwand von Gaunilo und Thomas immun zu sein,
weil er die Frage beantwortet, um welches Wesen es sich beim unüber-
bietbar großen eigentlich handelt. Aber der Schein trügt; in Wahrheit
verschiebt sich das Problem lediglich. Ebenso wie das unüberbietbar
große könnte auch das Wesen, das alle Vollkommenheiten besitzt, un-
denkbar sein.
Descartes erläutert die Schwierigkeit an einem Beispiel aus der Geo-
metrie,28 wie es typisch ist für die rationalistische Metaphysik der frühen
Neuzeit, welche die Mathematik als methodisches Ideal betrachtete. An-
genommen, ein Kreis wird als eine ebene und geschlossene Kurve defi-
niert, deren Punkte gleich weit vom Mittelpunkt entfernt sind und in die
sich alle vierseitigen Figuren einzeichnen lassen. Aus der Definition
folgt, dass auch ein Rhombus, da er eine vierseitige Figur ist, in einen
Kreis eingezeichnet werden kann. Offenkundig ist diese Folgerung aber
falsch, und zwar deshalb, weil sie auf einer widersprüchlichen Definition
des Kreises beruht. Dasselbe Problem könnte auch beim ontologischen
Beweis bestehen. Vielleicht ist ein Wesen, zu dessen Definition es gehört,
alle Vollkommenheiten zu besitzen, ebenso undenkbar wie ein Kreis, in
den sich alle vierseitigen Figuren sollen einzeichnen lassen. Dies könnte
aus zwei Gründen der Fall sein; entweder, weil Vollkommenheiten als
mögliche Bestimmungen oder weil sie als notwendige Bestimmungen
nicht durchgängig miteinander verträglich sind. Im ersten Fall, auf den
sich Descartes’ Beispiel bezieht, könnte ein Wesen gar nicht alle Voll-
kommenheiten besitzen. Im zweiten Fall dagegen könnte es zwar alle
Vollkommenheiten besitzen, aber nicht alle notwendigerweise, das heißt,
27
Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, V, 7–11; ders., Rationes
Dei existentiam & animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dis
positae, Axiom X et Propositio I, beides in: Œuvres de Descartes, publiées par Ch.
Adam/P. Tannery (= AT), Bd. VII, Neuaufl. Paris 1996, 65–68 und 166 f.; ders.,
Principia Philosophiae, Pars I, 14 (AT VIII, 1, Neuaufl. Paris 1996, 10).
28
Vgl. Meditationes V, 11 (AT VII, 67 f.).
52 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
29
Die beiden Probleme sind sorgfältig voneinander zu unterscheiden, was bei
Descartes leider nicht geschieht. Modallogisch ausgedrückt, besteht das erste Pro-
blem darin, ob ein Wesen in irgendeiner möglichen Welt alle Vollkommenheiten be-
sitzt, das zweite darin, ob ihm in jeder möglichen Welt, zu der es gehört, alle Voll-
kommenheiten zukommen.
§ 5 Descartes, Leibniz und der Einwand gegen die Denkbarkeit Gottes 53
30
Brief an Mandell Creighton vom 5. April 1887, in: J. E. E. Dalberg-Acton, Es
says on Freedom and Power, selected, and with an introduction by G. Himmelfarb,
Boston/Massachusetts second printing 1949, 364 (Übersetzung von F. H.).
54 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
31
Sein einziger, meines Erachtens freilich misslungener Lösungsversuch findet
sich in der Responsio Authoris ad primas Objectiones (AT VII, 118 f.).
32
Vgl. zum Folgenden G. W. Leibniz, »Quod Ens Perfectissimum existit«, GP
VII, 261 f. Vgl. außerdem ders., »Demonstratio quod Ens perfectissimum sit possibi-
le«, Beilage I, in: W. Janke, »Das ontologische Argument in der Frühzeit des Leib-
nizschen Denkens (1676–78). Studien und Quellen zum Anfang der Leibnizschen
Ontotheologie«, Kant-Studien 54 (1963), 259–287, hier: 283 f.
§ 5 Descartes, Leibniz und der Einwand gegen die Denkbarkeit Gottes 55
33
Vgl. B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, with an Ap-
pendix of Leading Passages, with a new Introduction by J. G. Slater, London 2. Aufl.
1992, 174.
34
Der sich auf den späten Wittgenstein berufende Einwand (vgl. zum Beispiel
N. Malcolm, »Anselm’s Ontological Arguments«, in: ders., Knowledge and Certain
ty. Essays and Lectures, Englewood Cliffs/New Jersey 1965, 141–162, hier: 159; Röd,
Der Gott der reinen Vernunft, 117 f.), dass Bestimmungen nie im absoluten Sinne
einfach sein können, sondern immer nur relativ auf ein bestimmtes Sprachspiel, ist
nicht haltbar. Denn er beruht auf jenem selbstwidersprüchlichen Sprachspielrelati-
vismus, der den allgemeinen Anspruch erhebt, dass kein Sprachspiel allgemeine An-
sprüche erheben darf.
56 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
Bislang habe ich zwei Einwände gegen den ontologischen Beweis behan-
delt, den logischen Einwand und den Einwand, der die Denkbarkeit
Gottes bezweifelt. Thema dieses Abschnitts ist ein dritter Einwand, der
meist mit dem Namen Kants verbunden wird und sich gegen das Seins-
und Existenzverständnis richtet, das im ontologischen Beweis vorausge-
setzt wird.
Für Anselm und Descartes ist Existenz eine Bestimmung, durch die
dasjenige, dem sie zukommt, größer bzw. vollkommener wird und die
deshalb dem unüberbietbar großen oder höchst vollkommenen Wesen
nicht fehlen kann. Diese Deutung von Existenz, die weder Gaunilo noch
Thomas in Frage stellen, wird meines Wissens erstmals in der frühen
Neuzeit explizit bestritten, nämlich durch den französischen Naturfor-
scher und Philosophen Petrus Gassendi (1592–1655). Im Rahmen seiner
Einwände gegen Descartes’ Meditationen bemerkt Gassendi, dass »we-
der bei Gott noch bei irgendeinem anderen Dinge das Dasein eine Voll-
kommenheit [ist], sondern das, ohne welches es keine Vollkommenheiten
gibt. Denn was nicht existiert, hat weder Vollkommenheit noch Unvoll-
kommenheit, und was existiert und eine Reihe von Vollkommenheiten
hat, hat nicht das Dasein als noch eine besondere Vollkommenheit, als
eine unter den übrigen, sondern als das, wodurch es selbst wie die Voll-
kommenheiten existierend ist«.35 Gassendi begründet seine Kritik mit
einem interessanten Hinweis auf den Sprachgebrauch.36 Die Annahme,
Dasein sei eine Vollkommenheit oder Eigenschaft, widerspricht der Ver-
nunft der natürlichen Sprache, in der zwar von der Wirklichkeit von Ei-
genschaften, nicht aber von existierender Existenz die Rede sein kann.
Gassendis Einwand stößt bei Descartes auf völliges Unverständnis. »Hier
verstehe ich nicht«, schreibt er in seiner Replik, »von welcher Art nach
Deiner Ansicht das Dasein der Dinge sein soll, und warum es nicht eben-
so wie die Allmacht als eine Eigenschaft bezeichnet werden kann, da man
doch die Bezeichnung Eigenschaft für jedes beliebige Attribut oder für
35
P. Gassendi, »Objectiones Quintae« (AT VII, 323), Übersetzung nach: R. Des-
cartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwän
den und Erwiderungen, übersetzt und hrsg. von A. Buchenau, Hamburg 1972, 297.
36
Vgl. ebd. Ausführlicher hat P. Gassendi seine Kritik des ontologischen Argu-
mentes in seiner Disquisitio metaphysica seu dubitationes et instantiae adversus Re
nati Cartesii Metaphysicam et responsa, lat.-franz., hrsg. von B. Rochot, Paris 1962,
490–507, dargelegt.
§ 6 Der Einwand Kants 57
alles das, was über ein Ding ausgesagt werden kann, setzen kann«.37 Wie
Gassendi beruft sich auch Descartes auf den Sprachgebrauch, genauer
gesagt, auf die grammatische Struktur von Existenzsätzen. Existenz sei
eine Eigenschaft von Gegenständen, meint er, weil sie ebenso wie All-
macht von einem Gegenstand ausgesagt werden kann, das heißt in einem
Urteil der Form »A existiert« als Prädikat verwendet wird.
Es ist keine andere als eben diese Überlegung, die nach Kant den ent-
scheidenden Irrtum darstellt, der dem ontologischen Beweis zugrunde
liegt. Denn sie verwechselt grammatische Prädikate mit semantischen
oder, wie Kant sich ausdrückt, »logische« Prädikate, die einen Gegen-
stand nicht näher bestimmen, mit »realen« Prädikaten, durch die das ge-
schieht. Das berühmte Diktum der Kritik der reinen Vernunft, in dem
Kant sein Existenzverständnis zusammenfasst, lautet: »Sein ist offenbar
kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Be-
griffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines
Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.«38 Damit wird zwei-
erlei gesagt. Erstens ist das Wort »existieren« kein Prädikat im Sinne
eines begrifflichen Gehalts, durch den ein Gegenstand charakterisiert
wird. Zwar wird es, wie in dem Satz »Gott existiert«, als grammatisches
Prädikat verwendet, aber es spielt eine andere Rolle als das Prädikat »all-
mächtig sein« in »Gott ist allmächtig«. Denn während im zweiten Satz
bestimmt wird, was Gott ist, gibt der erste Satz keine Auskunft darüber,
mit was für einem Subjekt man es zu tun hat. Die Aussage »Gott exis-
tiert« besagt nicht, dass Gott neben anderen Eigenschaften wie Allmacht
und vollkommener Güte auch noch die Eigenschaft besitzt zu existieren.
Was aber besagt sie dann? Dem zweiten Teil des kantischen Diktums
zufolge wird in einer Existenzaussage nicht der Subjektbegriff näher be-
stimmt, sondern der diesem Subjekt entsprechende Gegenstand gesetzt.
»Gott existiert« bedeutet, dass es ein Wesen gibt, auf das der Gottesbe-
griff mit allen darin enthaltenen Prädikaten zutrifft.
Für seine nicht-prädikative Auffassung von Existenz gibt Kant eine
einfache und einleuchtende Begründung. Wenn Existenz ein sachhal-
tiges Prädikat wäre, dann wäre es grundsätzlich ausgeschlossen, Begriffe
auf Gegenstände anzuwenden. Denn da den Gegenständen dann ein
Sachgehalt zukäme, der den Begriffen der Gegenstände fehlt, würde et-
37
Descartes, »Responsio Authoris ad quintas Objectiones« (AT VII, 382 f.),
Übersetzung nach: Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie
mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, 350.
38
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 598, B 626 (Werke 4, 533).
58 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
39
Vgl. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 120.
40
Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns
Gottes, A 7 (Werke 2, 632).
41
L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1971, 79
(Teil I, Nr. 109).
42
Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns
Gottes, A 7 (Werke 2, 632).
§ 7 Ein gültiges ontologisches Argument 59
Wenn Existenz kein sachhaltiges Prädikat ist, dann ist die klassische
Form des ontologischen Argumentes zum Scheitern verurteilt. Kant be-
ansprucht freilich nicht nur, die Ungültigkeit bestimmter Formen des
ontologischen Argumentes, sondern dessen prinzipielle »Unmöglich-
keit«45 nachgewiesen zu haben. Dieser weitergehende Anspruch wäre
dann und nur dann berechtigt, wenn jede mögliche Form des ontolo-
gischen Argumentes eine prädikative Deutung von Existenz vorausset-
zen müsste. Ich werde im Folgenden zeigen, dass dies nicht der Fall ist,
und eine andere, meines Erachtens gültige Form des ontologischen Ar-
gumentes entwickeln, die der kantischen Kritik nicht ausgesetzt ist.
Jede Version des ontologischen Argumentes muss durch eine Betrach-
tung des Wesens Gottes zeigen, dass das Dasein mit diesem Wesen ver-
knüpft ist. Nun kann ein A mit einem B auf zweifache Weise verknüpft
sein. Im ersten Fall ist A mit B derart verknüpft, dass die Negation dieser
Verknüpfung zu einem Widerspruch führt. So schließt der Begriff »Jung-
geselle« die Bestimmung »unverheiratet« ein, weshalb es widersprüch-
lich ist, von einem Junggesellen zu behaupten, er sei verheiratet. Sätze
vom Typ »Junggesellen sind unverheiratet« sind notwendigerweise wahr,
43
Vgl. den klassischen Aufsatz von B. Russell, »On Denoting«, Mind 14 (1905),
479–493, sowie W. V. O. Quine, »On what there is«, in: ders., From a Logical Point
of View, Cambridge/Massachusetts 2. Aufl. 1961, 1–19.
44
Vgl. den kurzen Überblick bei E. Tugendhat/U. Wolf, Logisch-semantische
Propädeutik, Stuttgart 1983, 193–200.
45
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 592, B 620 (Werke 4, 529).
60 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
46
Vgl. F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, dritte Abhandlung, Nr. 7, in:
ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von G.
Colli/M. Montinari, München/Berlin/New York 1988 (= KSA), Bd. 5, 350 f.
§ 7 Ein gültiges ontologisches Argument 61
und nicht anders zu handeln, darin, dass ihm die ergriffene Möglichkeit
irgendwie besser erschien als die anderen. Bei überlegtem Handeln ge-
ben Möglichkeiten durch das, was sie sind oder zu sein scheinen, näm-
lich mehr oder weniger erstrebenswert, einen mehr oder weniger starken
Grund dafür ab, sie zu verwirklichen. Innerhalb menschlicher Praxis
kann also aus dem, was eine Möglichkeit ist, folgen, dass sie wirklich
wird, ohne dass ihre Wirklichkeit ein Bestandteil ihres Was-Seins ist.
Ist dieser Begründungszusammenhang zwischen dem Wesen und der
Wirklichkeit von Möglichkeiten geeignet, ein ontologisches Argument
zu entwickeln? In derjenigen Form, in der dieser Zusammenhang im Be-
reich vernünftigen Handelns besteht, ist er es natürlich noch nicht. Zwar
ist es richtig, dass der Grund für die Verwirklichung einer Handlungs-
möglichkeit in dem liegt, was sie ist oder zu sein scheint, und dass eine
Möglichkeit umso mehr Grund abgibt, verwirklicht zu werden, je er-
strebenswerter sie erscheint. Richtig ist aber auch: Eine Handlungsmög-
lichkeit als solche, so erstrebenswert sie auch sein mag, ist kein zurei-
chender Grund für ihre Verwirklichung. Denn einen mehr oder weniger
starken Grund, verwirklicht zu werden, bieten Handlungsmöglichkeiten
nur dann, wenn bereits etwas anderes wirklich ist, nämlich ein Akteur,
der diese Möglichkeiten hat. Nur durch die Wirklichkeit eines Willens,
der für Einsichten empfänglich ist, und nur als Motiv dieses Willens be-
sitzen Handlungsmöglichkeiten eine ihrem wirklichen oder vermeint-
lichen Wert entsprechende Aktualisierungstendenz. Ohne ein Hand-
lungssubjekt kann demnach keine Rede davon sein, dass im Wesen eines
Möglichen der Grund für seine Wirklichkeit liegt und dass die Stärke
dieses Grundes dem Vollkommenheitsgrad des Möglichen entspricht.
Oder etwa doch? Könnte das Mögliche nicht auch unabhängig von et-
was anderem, das bereits wirklich ist, eine Kraft haben, wirklich zu wer-
den? Und könnte diese Kraft nicht umso stärker sein, je vollkommener
das Mögliche ist? Präzisieren wir die Frage: Aristoteles unterschied zwei
Hauptbedeutungen von »möglich«.47 Erstens wird dasjenige möglich ge-
nannt, was nicht notwendigerweise falsch ist. In diesem Sinne ist zum
Beispiel auch anderswo im Weltall intelligentes Leben möglich. Zweitens
wird der Ausdruck »möglich« gebraucht, um einem Gegenstand ein
Können, ein Vermögen oder eine Fähigkeit zuzuschreiben, zum Beispiel
47
Vgl. Aristoteles’ Metaphysik, 1. Halbbd.: Bücher I–VI, gr.-dt., in der Überset-
zung von H. Bonitz, neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von H.
Seidl, gr. Text in der Edition von W. Christ, Hamburg 1978, Buch V, Kapitel 12
(1019b 27 ff.).
62 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
wenn man sagt: Armin Hary war es möglich, die hundert Meter in zehn
Sekunden zu laufen. Besitzt vielleicht das, was im ersten Sinne möglich
ist, auch eine Möglichkeit im zweiten Sinne? Darf man annehmen, dass
alles, was aufgrund der Widerspruchsfreiheit seines Begriffs möglicher-
weise wirklich ist, zugleich ein Vermögen hat, wirklich zu werden, und
zwar ein Vermögen, das keines anderen bedarf, um tätig zu sein?
Spinoza vertrat diese Ansicht und entwickelte auf ihrer Basis ein onto-
logisches Argument. Im Anschluss an den elften Lehrsatz des ersten
Teils seiner Ethik schreibt er: »Nicht existieren können ist ein Unvermö-
gen, existieren können dagegen ein Vermögen (posse existere potentia
est)«. Aus diesem Grundsatz aber lässt sich a priori auf die Existenz
Gottes schließen. »Denn da existieren können ein Vermögen ist, so folgt,
daß je mehr Realität der Natur eines Dinges zukommt, es um so mehr
Kraft aus sich hat, um zu existieren. Daher muß das absolut unendliche
Seiende oder Gott aus sich ein absolut unendliches Vermögen zu existie-
ren haben, und er muß darum absolut existieren.«48 Im Unterschied zum
ontologischen Argument Descartes’ kommt Spinozas Argument ohne
eine prädikative Deutung von Existenz aus und ist daher dem kantischen
Einwand nicht ausgesetzt.49 Leider gibt Spinoza keine Begründung für
die entscheidende Voraussetzung, dass Wesenheiten oder Möglichkeiten
für sich selbst, also ohne einen Akteur, der diese Möglichkeiten hat, eine
ihrem Realitätsgrad entsprechende Tendenz besitzen, wirklich zu wer-
den. Er hält diese Voraussetzung für »selbstverständlich (per se no-
tum)«50 , was sie natürlich keineswegs ist.
Eine plausible Begründung dafür, dass auch außerhalb menschlicher
Handlungspraxis alles Mögliche danach strebt, wirklich zu sein, und
zwar mit einer seinem jeweiligen Vollkommenheitsgrad entsprechenden
48
B. de Spinoza, Die Ethik, lat.-dt., revidierte Übersetzung von J. Stern, Nach-
wort von B. Lakebrink, Stuttgart 1977 (= Ethik), Pars I, Propositio XI, Aliter et
Scholium (S. 26 ff.). In einem Brief an Simon de Vries bemerkt Spinoza: »Der zweite
Beweis, dem ich den Vorzug gebe, ist der: je mehr Attribute ich einem Wesen zuer-
kenne, um so mehr muß ich ihm auch Existenz zuerkennen [. . .].« (B. de Spinoza,
Briefwechsel, Übersetzung und Anmerkungen von C. Gebhardt, hrsg., mit Einlei-
tung, Anhang und erweiterter Bibliographie von M. Walther, Hamburg 3. Aufl.
1986, 9. Brief [S. 39]).
49
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass Spinozas Beweis durch seinen Theo-
riekontext zu Konsequenzen führt, die mit dem Schöpfungsgedanken nicht verein-
bar sind. Denn da das höchst vollkommene Wesen nach Spinoza mit der Gesamtheit
aller Wesen identisch ist, ist sein ontologischer Beweis ein Argument für die Selbst-
aktualisierung der Welt.
50
Spinoza, Ethik, Pars I, Propositio XI, Aliter (Übersetzung von F. H.).
§ 7 Ein gültiges ontologisches Argument 63
Intensität, findet sich dagegen bei Leibniz. Seine Begründung geht von
der berühmten Frage aus, warum überhaupt etwas wirklich ist und nicht
vielmehr nichts. Diese Frage erlaubt offenkundig keine Antwort, die auf
etwas Wirkliches verweist, denn dann würde sie sich erneut einstellen.
Wenn aber kein Wirkliches der Grund dafür sein kann, dass überhaupt
etwas wirklich ist, und wenn es dafür gleichwohl einen Grund gibt, muss
dieser Grund im Möglichen, das noch nicht wirklich ist, gefunden wer-
den. Läge nicht schon im Möglichen als solchem eine Tendenz, wirklich
zu sein, dann wäre überhaupt nichts wirklich.51 Unter welchen Umstän-
den aber kann man sagen, ein Mögliches als solches sei auf Wirklichkeit
aus? Offenbar dann, wenn in ihm der Anspruch liegt zu existieren, wenn
es eines ist, das sein soll, etwas intrinsisch Gutes. Die Frage, warum
überhaupt etwas ist, scheint sich demnach nur durch die Annahme be-
antworten zu lassen, dass ein Mögliches aufgrund seines intrinsischen
Gutseins nach Wirklichkeit strebt.
Nun ist aber nicht alles, was möglich ist, das heißt alles, dessen Begriff
keinen Widerspruch einschließt, auch wirklich. Denn nicht jedes Mög-
liche kann mit jedem anderen Möglichen zusammen wirklich sein, zu
einem Tyrannenmörder Brutus »passt« zum Beispiel kein republikanisch
gesinnter Cäsar. Warum aber ist dasjenige, was wirklich ist, wirklich
und nicht etwas anderes, das an seiner Stelle wirklich sein könnte? Auch
die Antwort auf diese Frage kann letztlich nur im Möglichen gefunden
werden. Dass anstelle des Wirklichen nicht etwas anderes wirklich ist,
lässt sich nur durch die unterschiedliche Intensität erklären, mit der die
möglichen Dinge oder Wesenheiten auf Wirklichkeit aus sind.52 Der
Grund für die unterschiedliche Stärke ihres Wirklichkeitsstrebens wie-
derum muss in dem liegen, worin sich die Wesenheiten voneinander un-
terscheiden. Sie unterscheiden sich aber ausschließlich durch ihre Sach-
51
»Nisi in ipsa Essentiae natura esset quaedam ad existendum inclinatio, nihil
existeret [. . .]«, schreibt Leibniz in »Veritates absolute primae«, GP VII, 194. Am
ausführlichsten entwickelt Leibniz seine Lehre vom Existenzstreben der Möglich-
keiten in »De rerum originatione radicali«, GP VII, 302–308; vgl. außerdem zum
Beispiel das Manuskript GP VII, 289 ff.; Principes de la Nature et de la Grace, fondés
en Raison, § 10 (GP VI, 603); Monadologie, §§ 54 f. (GP VI, 616).
52
Die Annahme, »gewisse Wesenheiten hätten diese Tendenz [zu existieren], an-
dere hätten sie nicht«, scheidet nach Leibniz als Erklärung aus. Denn dies hieße »et-
was ohne Grund sagen, da im allgemeinen die Existenz auf jede Wesenheit in glei-
cher Weise bezogen scheint.« (»Veritates absolute primae«, GP VII, 194 f., Überset-
zung nach G. W. Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik – Opuscules Metaphysiques,
hrsg. und übersetzt von H. H. Holz, Darmstadt 1985, 177 und 179).
64 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
53
Vgl. A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an
Idea, New York 1960, 177–180; Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of
Leibniz, XI.
§ 7 Ein gültiges ontologisches Argument 65
54
Vgl. Leibniz, »De rerum originatione radicali«, GP VII, 304 f.; Essais de Théo
dicée, § 201 (GP VI, 236). Ähnlich interpretieren auch H. Poser, Zur Theorie der
Modalbegriffe bei G. W. Leibniz, Studia Leibnitiana Supplementa, Bd. V I, Wiesba-
den 1969, 61–66; A. Heinekamp, Das Problem des Guten bei Leibniz, Kantstudien
Ergänzungshefte, Bd. 98, Bonn 1969, 192–194; D. Blumenfeld, »Leibniz’s Theory of
the Striving Possibles«, Studia Leibnitiana 5 (1973), 163–177.
66 Zweites Kapitel: Das ontologische Argument
Zu Beginn von Alan Smithees Film Das zeitweilige Überleben des Harry
Hanson findet sich der Titelheld gefesselt und an einen Spielautomaten
angeschlossen. Er weiß, dass ihn ein tödlicher Stromstoß treffen wird,
wenn am Ende des Spiels nicht eine bestimmte Zahlenkombination auf
dem Display des Automaten erscheint. Nun erscheint diese Kombinati-
on tatsächlich, und Harry fragt sich verblüfft, wie sein Überleben zu
erklären ist. Wurde der Spielautomat manipuliert? Oder waren schon
viele arme Teufel mit der Höllenmaschine verkabelt, sodass irgendje-
mand irgendwann überleben musste? Oder arbeitet der Automat nach
Prinzipien, die nur eine Zahlenkombination zulassen? Plötzlich kommt
Harry auf eine ganz andere Idee: Vielleicht verlangt die Kombination,
die sein Leben rettete, gar keine Erklärung. Denn sie ist nicht unwahr-
scheinlicher als jede andere, und irgendeine musste schließlich im Dis-
play erscheinen. Zudem ist sie, weil er bei keiner anderen überlebt hätte,
die einzige, die zu beobachten er erwarten konnte. Als sich Harry mit
dieser Antwort gerade zufrieden geben will, beginnt ein neues Spiel.
Diesmal hat er weniger Glück – und damit endet Harrys Leben und
Smithees Film.
Cineasten wissen, dass es keinen Alan Smithee gibt; der Namen ist nur
ein Pseudonym für Regisseure, die sich ihrer Filme schämen. In unserem
Fall ist es noch schlimmer: Es gibt nicht einmal den Film. Wer passende
Zitate braucht, muss manchmal welche erfinden. Und passend ist die
Szene allemal, weil sie unserer Situation im Universum gleicht. Wäre das
Universum nicht von einer extrem unwahrscheinlichen Zahlenkombina-
tion bestimmt, dann gäbe es uns nicht. Im Folgenden werde ich diesen
Befund zunächst darlegen und begründen, warum er eine Erklärung
verlangt. Danach werden die drei möglichen Erklärungen erwogen: die
gesuchte endgültige Theorie der Physik, die Vermutung, dass viele Wel-
ten mit unterschiedlichen Zahlenkombinationen existieren, und die An-
nahme göttlicher Planung.
68 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
Nahezu die gesamte Materie unseres Universums besteht aus vier Arten
von Elementarteilchen (Protonen, Neutronen, Elektronen und Neutri-
nos), die sich durch vier Grundkräfte (Gravitation, Elektromagnetis-
mus, starke und schwache Wechselwirkung) gegenseitig beeinflussen.
Die Masse dieser Teilchen, die Stärke der Grundkräfte und weitere Para-
meter werden von der Elementarteilchenphysik durch theoretisch nicht
vorausgesagte, experimentell festgestellte Zahlen charakterisiert, die in
vielen Fällen delikate Werte haben. Denn der für die Entstehung von
Leben geeignete Wertbereich, in den die Parameter fallen, ist verglichen
mit dem Wertbereich, in den sie nach gegenwärtigem Erkenntnisstand
der Physik fallen könnten, oft sehr schmal. Geringfügige Veränderungen
der Parameterwerte würden deshalb die Entstehung von Leben, wie wir
es kennen, ausschließen. Einige wenige Beispiele seien genannt1 :
Ein berühmtes Beispiel für die Feinabstimmung der elektromagne-
tischen und der starken Wechselwirkung ist die Herstellung von Koh-
lenstoff und Sauerstoff. Würden nicht hinreichend große Mengen beider
Elemente durch Kernfusion in Sternen produziert, wäre kohlenstoffba-
siertes Leben nicht möglich. Genügend Kohlenstoff und Sauerstoff ent-
stehen in Sternen aber nur dann, wenn die Stärken der elektromagne-
tischen und der starken Wechselwirkung in einen schmalen Wertbereich
fallen. Würde die Intensität der starken Kraft um 0,5% oder die der elek-
tromagnetischen Kraft um 4% verändert, entstünde in Sternen entweder
zu wenig Kohlenstoff oder zu wenig Sauerstoff.2
Für die Entstehung kohlenstoffbasierten Lebens genügt es freilich
nicht, dass hinreichende Mengen beider Elemente erzeugt werden, sie
müssen auch durch Explosionen von Sternen als Supernovae über die
Galaxie verteilt werden. Diese Verteilung aber setzt voraus, dass die In-
1
Für die detaillierte Darlegung des Gesamtbefundes vgl. J. D. Barrow/F. J. Tip-
ler, The Anthropic Cosmological Principle (1986), Oxford/New York 1996; J. Leslie,
Universes, London/New York 1989, 25–65; J. Gribbin/M. Rees, Ein Universum
nach Maß. Bedingungen unserer Existenz, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, 241–267; L.
Smolin, Warum gibt es die Welt? Die Evolution des Kosmos, München 1999, 46–57,
131–140; M. Rees, Just Six Numbers. The Deep Forces that Shape the Universe, Lon-
don 2000; R. Collins, »Evidence for Fine-Tuning«, in: N. A. Manson (ed.), God and
Design. The Teleological Argument and Modern Science, London/New York 2003,
178–199.
2
Vgl. Leslie, Universes, 35 f.; Gribbin/Rees, Ein Universum nach Maß, 244–247;
Collins, »Evidence for Fine-Tuning«, 184 f.
§ 8 Die Feinabstimmung und ihre Erklärungsbedürftigkeit 69
6
Vgl. G. Fulmer, »A Fatal Logical Flaw in Anthropic Principle Design Argu-
ments«, International Journal for Philosophy of Religion 49 (2001), 101–110; ähnlich
schon Mackie, Das Wunder des Theismus, 225.
7
Vgl. Leslie, Universes, 17 f., 53; ders., »The Prerequisites of Life in our Universe«,
in: W. L. Craig (ed.), Philosophy of Religion. A Reader and Guide, Edinburgh 2002,
114–129, hier: 124 f.
§ 8 Die Feinabstimmung und ihre Erklärungsbedürftigkeit 71
zogen werden. Hätte eine andere oder gar keine gewonnen, würde er sich
auch nicht wundern.
Diese scheinbar plausible Argumentation ist indes irreführend, weil
bei einer Konstellation von Ereignissen, die eine geringe Ausgangswahr-
scheinlichkeit hat, zwei Arten von Fällen zu unterscheiden sind. In Fäl-
len der ersten Art wären wir, wenn die Konstellation zufälligerweise
einträte, nicht überrascht, während Fälle der zweiten Art uns erstaunen
und deshalb nach einer Erklärung verlangen ließen. Nicht überraschend
wäre es beispielsweise, wenn ein Affe auf einer Schreibmaschine eine
bestimmte, semantisch bedeutungslose Folge von 15 Zeichen tippen
würde. Würde er aber stattdessen den Satz »Ich heiße Oskar« schreiben,
wären wir erstaunt, obgleich diese Sequenz von ebenfalls 15 Zeichen
(Leerzeichen eingerechnet) keine geringere Ausgangswahrscheinlichkeit
hat als die erste. 8 Worin besteht der Unterschied? Im Fall der semantisch
bedeutungslosen Zeichenfolge würden wir annehmen, sie sei in dem
Sinne zufällig, dass die Zusammenstellung der Zeichen keinen besonde-
ren Grund hat, auch wenn es für jedes einzelne Zeichen einen Grund
geben mag. Bei dem Satz »Ich heiße Oskar« hingegen würden wir eine
zufällige Zusammenstellung bezweifeln. Denn andere und durchaus na-
heliegende Annahmen, die von einem besonderen Grund für die Zusam-
menstellung ausgehen, machen die Buchstabenfolge wahrscheinlicher,
zum Beispiel die Vermutung, der Affe sei dressiert worden. Solche An-
nahmen, die zugleich naheliegend wären und Erklärungskraft hätten,
lassen sich für die semantisch bedeutungslose Zeichenfolge nicht aufstel-
len. Erklärende Annahmen wären in diesem Fall ähnlich abwegig wie
die, der Affe habe mit Hilfe einer speziellen Verschlüsselungsmethode
eine geheime Nachricht für seinen Pfleger verfasst. Nun gehört die le-
bensermöglichende Konstellation von Parameterwerten in unserem
Universum offenbar zu der zweiten Art von Fällen. Obgleich sie keine
geringere Ausgangswahrscheinlichkeit hat als eine bestimmte, ebenfalls
sehr unwahrscheinliche Konstellation von Parameterwerten, die Leben
ausschließen würde, ist sie im Unterschied zu dieser erklärungsbedürf-
tig. Denn wir wären, wenn die lebensfreundliche Konstellation zufälli-
8
W. L. Craig, »The Teleological Argument and the Anthropic Principle«, in:
ders./M. S. McLeod (ed.), The Logic of Rational Theism, Lewiston/New York,
Queenston/Ontario 1990, 127–153, hier: 142, glaubt irrtümlicherweise eine seman-
tisch sinnvolle Sequenz von Zeichen habe eine geringere Ausgangswahrscheinlich-
keit als eine bestimmte, semantisch sinnlose mit gleicher Zeichenzahl.
72 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
In Humes Dialogen über natürliche Religion bemerkt Philo, der die Rol-
le des unbekümmerten Skeptikers spielt:
9
Eine ähnliche Begründung für die Erklärungsbedürftigkeit bestimmter Ereig-
nisse mit geringer Ausgangswahrscheinlichkeit gibt Peter van Inwagen, Metaphy
sics, Boulder/Colorado, Oxford second edition 2002, 152 f. Van Inwagens Begrün-
dung ist allerdings weniger allgemein und erfasst deshalb nicht alle Fälle von Ereig-
nissen mit geringer Ausgangswahrscheinlichkeit, die eine Erklärung verlangen.
10
Wir werden sehen, dass die Planungshypothese mit einer endgültigen physika-
lischen Theorie und mit allen Versionen der Viele-Welten-Hypothese kompatibel ist.
Diejenigen Versionen der Viele-Welten-Hypothese hingegen, die eine zufällige Fest-
legung der Parameterwerte eines Universums annehmen, sind mit einer endgültigen
physikalischen Theorie nicht vereinbar.
§ 9 Eine endgültige physikalische Theorie 73
»Und wäre ich genötigt, ein bestimmtes einzelnes Weltsystem zu verteidigen
(was ich nie freiwillig tun würde), so erachte ich keines für annehmbarer als das,
welches der Welt ein ewiges, ihrem Wesen angehöriges Prinzip der Ordnung
[. . .] zuschreibt. [. . .] Jedes Ding ist sicher durch stetige unverletzliche Gesetze
beherrscht. Und wäre das innere Wesen der Dinge uns offengelegt, wir würden
ein Schauspiel sehen, wovon wir jetzt keine Vorstellung haben können. Anstatt
die Ordnung der natürlichen Dinge zu bewundern, würden wir deutlich sehen,
daß es ihnen absolut unmöglich war, selbst im kleinsten Stück eine andere Ge-
staltung zuzulassen.«11
13
Zu der durch das Standardmodell erreichten Vereinheitlichung sowie zu den
Ambitionen und Schwächen der String-Theorie vgl. im Einzelnen Smolin, Warum
gibt es die Welt?, 58–89.
14
Vgl. z. B. St. Weinberg, »A Universe with No Designer«, Annals of the New
York Academy of Sciences 950 (2001), 169–174, hier: 170 f.
15
Vgl. dazu auch Leslie, Universes, 93–95.
§ 9 Eine endgültige physikalische Theorie 75
17
Metaphysische Versionen der Viele-Welten-Hypothese, denen zufolge alle lo-
gisch möglichen Welten (D. Lewis) oder alle mathematisch konsistenten Strukturen
(M. Tegmark) nicht durch einen physikalischen Mechanismus, sondern von sich
selbst her wirklich sind, müssen im gegenwärtigen Kontext außer Betracht bleiben;
vgl. D. Lewis, On the Plurality of Worlds, New York 1986 und M. Tegmark, »Is ›the
Theory of Everything‹ Merely the Ultimate Ensemble Theory?«, Annals of Physics
270 (1989), 1–51.
18
Vgl. Hume, Dialogues concerning natural religion, 69–73.
19
Vgl. ebd., 61–66.
§ 10 Die Viele-Welten-Hypothese 77
20
Vgl. z. B. Leslie, Universes, 1 f., 54 f., 57, 148 f., 164, 198; J. J. C. Smart, Our Place
in the Universe. A Metaphysical Discussion, Oxford/New York 1989, 166–178; B.
Kanitscheider, Im Innern der Natur. Philosophie und moderne Physik, Darmstadt
1996, 120–127; D. Parfit, »Why anything? Why this?«, London Review of Books 22
(1998), 24–27; M. Rees, »Other Universes. A scientific perspective«, in: N. A. Man-
son (ed.), God and Design. The Teleological Argument and Modern Science, Lon-
don/New York 2003, 211–220; van Inwagen, Metaphysics, 156–162; G. Oppy, Ar
guing about Gods, Cambridge/New York 2006, 200–228.
78 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
21
Vgl. Ch. W. Misner/K. S. Thorne/J. A. Wheeler, Gravitation, San Francisco
1973, 1196–1217.
22
Vgl. B. S. DeWitt/N. Graham (eds.), The Many-Worlds Interpretation of Quan
tum Mechanics.
§ 10 Die Viele-Welten-Hypothese 79
23
Vgl. z. B. die polemischen Äußerungen von R. Swinburne, »Argument from the
Fine-Tuning of the Universe«, in: J. Leslie (ed.), Physical Cosmology and Philosophy,
New York 1990, 154–173, hier: 171.
24
J. C. Polkinghorne, The quantum world, London/New York 1984, 33 (Über-
setzung von F. H.).
25
Vgl. A. Guth, The Inflationary Universe. Einen guten Überblick bietet der Ar-
tikel A. Guth/P. J. Steinhardt, »Das inflationäre Universum«, Spektrum der Wissen
schaft, Juli 1984, 80–94.
80 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
26
Leslie, Universes, 75–78, und R. Collins, »Design and the Many-Worlds Hypo-
thesis«, in: Craig (ed.), Philosophy of Religion, 130–148, hier: 133 f., zeigen, dass und
auf welche Weise dieser Fall im Rahmen der gegenwärtigen Physik denkbar ist.
§ 10 Die Viele-Welten-Hypothese 81
27
Vgl. I. Hacking, »The Inverse Gambler’s Fallacy: the Argument from Design.
The Anthropic Principle Applied to Wheeler Universes«, Mind 76 (1987), 331–340.
82 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
28
Vgl. J. Leslie, »No Inverse Gambler’s Fallacy in Cosmology«, Mind 97 (1988),
269–272; Leslie, Universes, 142–144; P. J. McGrath, »The Inverse Gambler’s Fallacy
and Cosmology – A Reply to Hacking«, Mind 97 (1988), 265–268; M. A. B. Whita-
ker, »On Hacking’s Criticism of the Wheeler Anthropic Principle«, Mind 97 (1988),
259–264; Oppy, Arguing about Gods, 223–227.
29
Die beiden Analogiefälle entnehme ich aus Oppy, Arguing about Gods, 225.
§ 10 Die Viele-Welten-Hypothese 83
30
Ähnlich argumentiert auch R. White in seinem brillanten Aufsatz »Fine-Tu-
ning and Multiple Universes«, in: N. A. Manson (ed.), God and Design. The Teleolo
gical Argument and Modern Science, London/New York 2003, 229–250, hier: 235–
238 und 244, gegenüber den von McGrath, »The Inverse Gambler’s Fallacy and Cos-
mology«, angeführten Analogiefällen.
31
White, »Fine-Tuning and Multiple Universes«, 232 f., glaubt dagegen irrtümli-
cherweise, alle Versionen seien von dem Einwand betroffen. Einen Überblick über
die neuere Debatte bietet N. Bostrom, Anthropic Bias. Observation Selection Effects
in Science and Philosophy, New York/London 2002, 11–41.
32
Anders liegt der Fall natürlich, wenn die Viele-Welten-Deutung mit den Mo-
dellen von Wheeler und/oder Guth kombiniert wird, wogegen in logischer Hinsicht
nichts spricht.
84 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
33
Vgl. Smolin, Warum gibt es die Welt?, insbesondere 93–140 und 361–388.
§ 11 Die Planungshypothese 85
sich zwar mehrfach bestätigt, aber ein Urteil über Smolins Modell wäre
dennoch verfrüht. Ob es zutrifft, muss eine Quantentheorie der Gravi-
tation entscheiden, die zurzeit noch nicht vorliegt. Denn weil durch die
Horizonte Schwarzer Löcher keine Signale nach außen dringen, lässt
sich nur durch diese Theorie klären, was in ihnen tatsächlich passiert.
34
Diese fundamentale Theorie ist natürlich keine physica triumphans im Sinne
von § 9. Denn wenn sie alle Parameterwerte vorschriebe, wäre sie mit der inflatio-
nären Version der Viele-Welten-Hypothese nicht vereinbar.
86 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
35
Vgl. dazu im Einzelnen Collins, »Design and the Many-Worlds Hypothesis«,
135 f.
36
Van Inwagen, Metaphysics, 160, nimmt dagegen an, dass die fundamentale The-
orie (the »set of laws of hyperphysics«), die zur Entstehung verschiedener Welten
führen würde, die einzig mögliche Theorie wäre und ihre Geltung deshalb keine
Erklärung erforderte. Diese Annahme ist allerdings ein Irrtum, weil die fundamen-
tale Theorie aus dem genannten Grund (vgl. auch van Inwagens eigene Überle-
gungen, ebd., 153–155 und 165, Anmerkung 4) keineswegs die einzig mögliche wäre.
Wenn an ihrer Stelle aber auch andere, lebensunfreundliche Konkurrenztheorien
gelten könnten, dann würde die Geltung der lebensfreundlichen Fundamentaltheo-
rie, und zwar auch nach van Inwagens Kriterium für die Erklärungsbedürftigkeit
bestimmter Befunde (vgl. ebd., 152 f.), eine Erklärung erfordern. Van Inwagens Ein-
wand gegen das teleologische Argument ist deshalb nicht triftig.
§ 11 Die Planungshypothese 87
37
Hume, Dialogues concerning natural religion, 64 f., Übersetzung nach Hume,
Dialoge über natürliche Religion, 62.
38
Hume, Dialogues concerning natural religion, 66, Übersetzung nach Hume,
Dialoge über natürliche Religion, 63 f. Zum unbestimmten Ergebnis des »physiko-
theologischen« Argumentes vgl. auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 620–630,
B 648–658; ders., Kritik der Urteilskraft, A 395–405, B 400–410 (Werke 4, 548–555;
Werke 8, 560–567).
88 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
39
Hume, Dialogues concerning natural religion, 51, Übersetzung im Wesent-
lichen nach Hume, Dialoge über natürliche Religion, 49.
§ 11 Die Planungshypothese 89
wenn sie sich in der üblichen Weise bestimmen ließen, zu keiner Ent-
scheidung führen. Natürlich ist es am einfachsten anzunehmen, die Welt
sei von einem einzigen, höchst vollkommenen Gott geschaffen worden,
der von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert. Die Ausgangswahrscheinlichkeit
einer Hypothese bemisst sich jedoch nicht nur am Grad ihrer Einfach-
heit, sondern auch an unserem Hintergrundwissen von dem, was norma-
lerweise der Fall ist. Nun wissen wir aber ansonsten von keinem Wesen,
das alle zum Bau einer Welt erforderlichen Eigenschaften in sich verei-
nen oder ewig existieren würde. Gemessen an unserem Hintergrundwis-
sen, wäre es deshalb naheliegender anzunehmen, die Eigenschaften seien
auf viele Götter mit endlicher Lebenszeit verteilt.40
Ein teleologisches Argument, das von empirischen Einzelbefunden
wie den Parameterwerten unseres Universums auf die Wirklichkeit einer
intelligenten Weltursache zurückschließt, führt zu einem unbestimmten
Ergebnis. Diese Unbestimmtheit ließe sich nur durch eine invertierte
und alle Erfahrung umfassende Version des Argumentes vermeiden.
Statt von einzelnen Beschaffenheiten der Welt würde sie von einem
wohlbestimmten Begriff der Weltursache ausgehen und die Existenz
dieser Ursache durch Vorhersage der faktischen Gesamtbeschaffenheit
der Wirkung nachweisen. Eine derart anspruchsvolle Version des teleo-
logischen Argumentes hat der späte Schelling ausgearbeitet und als »po-
sitive Philosophie« bezeichnet.41 Nach Schelling ist die Wirklichkeit
Gottes allein durch empirische Bestätigung der Erwartungen zu bewei-
sen, die sich aus dem Gottesbegriff der reinen Vernunft für die Verfas-
sung der natürlichen und geschichtlichen Welt ergeben. Der teleologische
Gottesbeweis wird damit zu einem umfassenden und bis auf Weiteres
nicht abschließbaren Projekt. Er ist, schreibt Schelling,
»nicht bloß der Anfang oder ein Theil der Wissenschaft (am wenigsten irgend
ein an die Spitze der Philosophie gestellter syllogistischer Beweis), er ist die gan-
ze Wissenschaft, nämlich die ganze positive Philosophie, – diese ist nichts ande-
res als der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende
Erweis des wirklich existirenden Gottes, und weil das Reich der Wirklichkeit,
in welchem er sich bewegt, kein vollendetes und abgeschlossenes ist [. . .], so ist
40
Vgl. Hume, Dialogues concerning natural religion, 52, sowie zur Frage der
Ewigkeit des Welturhebers 43 f. und 73.
41
Vgl. Th. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in
Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992, 106 f.; vgl. auch die lehrreichen Ausfüh-
rungen Buchheims über die Aufgabe der positiven Philosophie, ebd., 17–23.
90 Drittes Kapitel: Das teleologische Argument
auch der Beweis nie abgeschlossen, und darum auch diese Wissenschaft nur Phi-
lo-sophie.«42
42
Schelling, Philosophie der Offenbarung, SW XIII, 131.
Zweiter Teil
1
J. Milton, Paradise Lost, ed. by G. Teskey, New York/London 2005, 42 (Buch II,
Zeile 561).
2
Vgl. G. W. Leibniz, Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de
l’Homme et l’Origine du Mal, Preface sowie Discours preliminaire, § 24, 25 (GP 6,
29 und 65).
94 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
3
Vgl. P. van Inwagen, An Essay on Free Will, Oxford 1983, 55–105.
4
M. Luther, De servo arbitrio, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamt
ausgabe (= WA), Abt.1, Bd. 18, Weimar 1908, 715, Zeile 18–20.
5
Ebd., 721, Zeile 8–9.
6
In der neueren Religionsphilosophie wurde das theologische Konsequenzargu-
§ 12 Ein Konsequenzargument 95
ment meines Wissens zuerst von N. Pike, »Divine Omniscience and Voluntary Ac-
tion«, The Philosophical Review 74 (1965), 27–46, mit wünschenswerter Klarheit
entwickelt. Vgl. außerdem z. B. J. M. Fischer (ed.), God, Foreknowledge, and Free
dom, Stanford 1989; L. T. Zagzebski, The Dilemma of Freedom and Foreknowledge,
New York/Oxford 1991; L. T. Zagzebski, »Recent Work on Divine Foreknowledge
and Free Will«, in: R. Kane (ed.), The Oxford Handbook of Free Will, Oxford/New
York 2002, 45–64.
7
Vgl. Boethius, Trost der Philosophie – Consolatio philosophiae, lat.-dt., hrsg. und
übersetzt von E. Gegenschatz/O. Gigon, München/Zürich 1990, 3. p. bis 6. p. (236–
275).
8
Vgl. z. B. Anselm von Canterbury, De concordia praescientiae et praedestinatio
nis et gratiae dei cum libero arbitrio, in: ders., Freiheitsschriften, lat.-dt., übersetzt
und eingeleitet von H. Verweyen, Freiburg i.B. 1994, 270 ff.; Thomas von Aquin,
STh, z. B. I, q.14, a.9; E. Stump/N. K retzmann, »Eternity«, The Journal of Philoso
phy 78 (1981), 429–458.
96 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
ein anderer gewesen wäre. Obgleich Gott unser faktisches Handeln un-
fehlbar vorherwusste, hätten wir deshalb, meinen Ockhamisten, auch
anders handeln können und waren der Freiheit keineswegs beraubt.11
Diese ockhamistische Strategie ist zweifellos subtil. Dennoch führt sie
nicht zum gewünschten Ergebnis, weil wir auch dann, wenn Gottes un-
fehlbares Vorherwissen eine weiche Vergangenheit ist, nicht unter den
selben Umständen anders handeln können, als wir es tun. Denn erstens
hätte Gott, wenn wir anders handeln würden, immer schon anderes vor-
hergewusst. Daher wäre die Vergangenheit von jeher eine andere gewe-
sen, und wir hätten mithin unter anderen Umständen gehandelt als im
faktischen Fall. Modallogisch ausgedrückt: Die mögliche Welt, in der
wir anders handeln als in der wirklichen, ist bis zum Zeitpunkt des Han-
delns nicht mit der wirklichen identisch, weil der Inhalt des göttlichen
Vorherwissens ein anderer ist. Zweitens kann sich die Vergangenheit der
einen Welt von der Vergangenheit der anderen nicht ausschließlich durch
Gottes Vorherwissen unterscheiden. Denn unter welchen Umständen
kann unfehlbar vorhergewusst werden, was die Zukunft bringt? Offen-
bar nur dann, wenn das Spätere aus dem Früheren ableitbar ist. In diesem
Fall aber muss unserem faktischen Handeln eine andere Vergangenheit
vorausgehen als dem kontrafaktischen. Wenn Gott unser Handeln un-
fehlbar vorherweiß, können wir daher nicht unter denselben Umständen
anders handeln, als wir es tun. Folglich ist auch die zweite Strategie, dem
Konsequenzargument zu entgehen, erfolglos.
Eine dritte denkbare Strategie setzt statt beim Zukunftswissen Gottes
bei der menschlichen Freiheit an, um die Vereinbarkeit beider nachzu-
weisen. Mit Berufung auf Harry Frankfurt12 wird jetzt die Prämisse des
Konsequenzargumentes bestritten, dass wir nur dann frei handeln, wenn
wir auch anders hätten handeln können. Raffiniert konstruierte Fälle
wie der folgende belegen nach Frankfurt indes das Gegenteil: Angenom-
men, ein skrupelloser Neurochirurg namens Black will, dass Mrs. Jones
ihren verhassten Mann umbringt. Um den Mord sicherzustellen, im-
plantiert er während einer Operation heimlich ein Gerät in ihr Gehirn,
das er nur aktivieren muss, damit die Frau in seinem Sinne entscheidet
und handelt. Es wäre ihm allerdings lieber, wenn sie den Entschluss aus
11
Dasselbe gilt mutatis mutandis für unser gegenwärtiges und zukünftiges Han-
deln.
12
Vgl. H. G. Frankfurt, »Alternate possibilities and moral responsibility«, in:
ders., The importance of what we care about. Philosophical essays, Cambridge 1988,
1–10.
98 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
13
Vgl. dagegen z. B. D. Widerker, »Libertarianism and Frankfurt’s Attack on the
Principle of Alternative Possibilities«, The Philosophical Review 104 (1995), 247–
261.
14
Ähnlich argumentiert z. B. auch B. Guckes, Ist Freiheit eine Illusion? Eine me
taphysische Untersuchung, Paderborn 2003, 97–101, gegen Frankfurt, sie zieht dar-
aus aber einen inkompatibilistischen Schluss.
§ 13 Freiheit und Zufall 99
Muss man aus den bisherigen Überlegungen schließen, dass Gottes Zu-
kunftswissen und unsere Freiheit unverträglich sind? Dieser Schluss
wäre zwingend, wenn Freiheit nicht nur an alternative Handlungsmög-
lichkeiten gebunden wäre, sondern auch voraussetzen würde, dass wir
unter denselben äußeren und inneren Umständen anders handeln kön-
nen, als wir es tun. Daher stellt sich die Frage, wie das Prinzip alternati-
ver Handlungsmöglichkeiten zu verstehen ist.
Um sie zu beantworten, gehe ich von einem Vorverständnis von Frei-
heit aus, das mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann. Trotz der
Komplexität der Freiheitsdebatte ist unstrittig, dass freies Handeln von
zwei anderen Weisen des Handelns unterschieden werden muss. Einer-
seits ist es offenbar von fremdbestimmtem Handeln abzugrenzen, einem
Verhalten beispielsweise, zu dem man gezwungen wird. Andererseits
sind freie Handlungen nicht mit zufälligen zu verwechseln, also solchen,
die ohne Grund, gleichsam »aus heiterem Himmel«, geschehen und da-
her unverständlich sind. Wenn sich Freiheit aber sowohl von Fremdbe-
stimmung als auch von Unbestimmtheit oder Zufall unterscheidet, kann
sie nur als Selbstbestimmung aufgefasst werden. Wie ist vor dem Hinter-
grund dieses unstrittigen Freiheitsverständnisses das umstrittene Prin-
zip alternativer Handlungsmöglichkeiten zu deuten?
Viele Freiheitstheoretiker gehen von einer engen Lesart aus. Sie glau-
ben, eine Handlung sei nur dann selbstbestimmt, wenn der Akteur unter
denselben äußeren und inneren Umständen auch anders hätte handeln
können. Wer nämlich unter identischen Umständen nicht anders han-
deln kann, der handelt nach ihrer Ansicht fremdbestimmt und daher
nicht frei. Hätten sie Recht, dann wären Freiheit und Determinismus
inkompatibel, weil alternative Möglichkeiten in diesem Sinne innerhalb
einer deterministisch verfassten Welt nicht bestehen können. Inkompa-
tibilisten, die von der Wirklichkeit menschlicher Freiheit ausgehen, die
sogenannten Libertarier also, müssen deshalb zeigen, dass der Determi-
nismus falsch15 und damit auch ein unfehlbares Wissen Gottes um unse-
15
Zu diesem Zweck genügt es nicht, auf die Quantenmechanik zu verweisen.
Denn erstens ist die orthodoxe indeterministische Deutung der Quantenmechanik
strittig (zur Kopenhagener Deutung und zur Viele-Welten-Deutung der Quanten-
mechanik vgl. oben § 10). Zweitens ist unklar, ob sich die Indeterminiertheit von der
mikrophysikalischen Ebene auf die Makro-Ebene des Handelns übertragen würde,
vgl. dazu beispielsweise T. Honderich, »Determinism as True, Both Compatibilism
100 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
and Incompatibilism as False, and the Real Problem«, in: R. Kane (ed.), The Oxford
Handbook of Free Will, Oxford/New York 2002, 461–476.
16
R. M. Chisholm, »Human Freedom and the Self«, in: G. Watson (ed.), Free
Will, Oxford 1982, 24–35, hier: 32.
§ 13 Freiheit und Zufall 101
nur dann vom Handelnden selbst bestimmt, wenn die Gründe des Han-
delnden den Ausschlag geben, welche Handlungsmöglichkeit er ergreift.
Nun ist aber ein freier Akteur im Sinne Chisholms an diese Gründe
nicht gebunden. Er kann sich ebenso über sie hinwegsetzen, ohne dazu
durch Gründe höherer Ordnung bestimmt zu sein. Zwar handelt er ge-
legentlich in Übereinstimmung mit seinen Gründen, aber nie aus ihnen.
Wenn aber die Gründe des Akteurs nicht erklären, warum er auf die eine
statt auf die andere Weise handelt, ist nicht einzusehen, wieso er sein
Handeln selbst bestimmt. Der Hinweis auf einen geheimnisvollen, an
Gründe nicht gebundenen Akteur gibt darüber nicht den geringsten
Aufschluss. Das Konzept der Akteurskausalität ist also erfolglos, weil es
ihm nicht gelingt, selbstbestimmte Handlungen von zufälligen zu unter-
scheiden.
Diese Schwierigkeit hat zur Entwicklung von libertarischen Freiheits-
theorien anderer Art geführt, die keinen besonderen, von Ereigniskausa-
lität unterschiedenen Kausalitätstyp voraussetzen. Auch sie gehen davon
aus, dass Handlungen nur dann frei sein können, wenn sie unter densel-
ben äußeren und inneren Umständen anders hätten ausfallen können.
Denn ansonsten wären sie, so wird behauptet, fremdbestimmt und daher
nicht frei. Libertarische Theorien der zweiten Art fordern außerdem,
dass freie Handlungen aus Motiven des Handelnden erfolgen müssen,
denen keine stärkeren Motive entgegenstehen. Anderenfalls wären sie
nämlich unverständlich, daher nicht von zufälligen Begebenheiten zu
unterscheiden und somit ebenfalls nicht frei. Libertarische Konzepte,
die auch die zweite Anforderung an freie Handlungen stellen, werden als
Theorien teleologischer Intelligibilität17 bezeichnet und in der gegen-
wärtigen Debatte von David Wiggins, Robert Kane und anderen vertre-
ten. Um nachzuweisen, dass indeterminierte Handlungen zugleich aus
Motiven verständlich und daher frei sein können, wurden mehrere Sze-
narien vorgeschlagen, die ich an einem Beispiel illustriere. Angenom-
men, Oskar ist der pflichtbewusste Bürgermeister einer Kleinstadt. Er
hat kurzfristig zu entscheiden, ob die noch verbliebenen Haushaltsmittel
der Stadt für die erforderliche Sanierung des Kindergartens oder für den
Ausbau einer überlasteten Umgehungsstraße eingesetzt werden, und er
entscheidet zugunsten des Kindergartens. Libertarier des zweiten Typs
haben behauptet, Oskars Entscheidung sei dann frei, wenn sie auf eine
17
Vgl. G. Watson, »Introduction«, in: ders. (ed.), Free Will, Oxford 1982, 1–14,
hier: 11.
102 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
Pistole dazu gebracht wird, die Flugroute zu ändern. Äußerer Zwang ist
eine, allerdings nicht die einzige mit Freiheit unverträgliche Form von
Fremdbestimmung, wie klassische Kompatibilisten fälschlich anneh-
men. Nach ihrer Ansicht ist jemand schon dann frei, wenn sein Handeln
von seinem Willen abhängt und daher weder zufällig noch äußerlich
erzwungen ist. David Hume etwa definiert Freiheit als »eine Macht zu
handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Wil
lens«.20 Diese Freiheit wird nach Hume erstens »einem jeden allgemein
zugestanden, der nicht ein Gefangener in Ketten ist«21, also keinen äuße-
ren Zwängen unterliegt, und sie genügt zweitens, um jemanden zu Recht
für sein Handeln moralisch verantwortlich zu machen. Damit verkennt
Hume, dass es neben dem äußeren Zwang zwei weitere Formen von
Fremdbestimmung gibt, durch die Freiheit und Verantwortung ausge-
schlossen werden.
Die zweite Form ist der innere Zwang. Innerlich gezwungen handelt
jemand, wenn sein Handeln durch die Macht einer Neigung oder Abnei-
gung bestimmt wird, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln, und von
der er nicht möchte, dass sie handlungswirksam ist. Einen Fall dieser Art
von Unfreiheit hat Paulus in Röm 7 vor Augen:
»Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.
Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute,
das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die
in mir wohnt.« (Vers 18–20)
handeln, von denen man möchte, dass sie handlungswirksam sind. Denn
Handlungen können auch dann fremdbestimmt sein, wenn sich der
Handelnde mit den Gründen, aus denen er handelt, in Übereinstimmung
befindet. Die dritte Form der Fremdbestimmung ist eine verdeckte, weil
sie im Unterschied zum äußeren und inneren Zwang vom Handelnden
nicht registriert wird. Auf verdeckte Weise wird jemand fremdbestimmt,
wenn »seine« Identifikation mit den handlungswirksamen Gründen
durch Manipulation zustande kommt und daher Merkmalen wider-
spricht, die für ihn charakteristisch sind. Typische Beispiele sind Fälle
von »Gehirnwäsche« oder Hypnose, in denen jemand aus den Gründen,
aus denen er handelt, auch handeln möchte, obgleich er sie verabscheuen
würde, wenn er nicht manipuliert wäre. Anders als der bedrohte Pilot
und der Sünder wider Willen weiß er sich keiner fremden Macht ausge-
liefert, ist aber dennoch fremdbestimmt. Kompatibilistische Konzepte,
die ausschließlich die subjektive Perspektive berücksichtigen und Frei-
heit als Harmonie des Handlungssubjekts mit seinen handlungswirk-
samen Gründen verstehen, greifen deshalb zu kurz.23
Den bisherigen Überlegungen zufolge ist eine Handlung dann und
nur dann in einem für moralische Verantwortung hinreichenden Sinne
frei, wenn sie weder zufällig erfolgt noch auf eine der drei Weisen fremd-
bestimmt ist. Freie Handlungen sind vielmehr von Überzeugungen und
Wünschen bestimmt, die zum individuellen Charakter einer Person,
ihrem »Selbst«, gehören. Das Selbst, von dem hier die Rede ist, unter-
scheidet sich von dem intelligiblen Selbst im Sinne Kants, dessen Kausa-
lität nicht von empirischen Bedingungen abhängt und ausschließlich
durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Denn Kants Lehre vom
intelligiblen Selbst und seiner Kausalität aus Freiheit ist bekanntlich mit
einer schweren moralphilosophischen Hypothek belastet. Wenn näm-
lich selbstbestimmtes Handeln stets ein Handeln aus Pflicht wäre,24
könnten Handlungen, die aus Neigung erfolgen, seien sie nun pflichtge-
mäß oder pflichtwidrig, nicht frei sein und dem Subjekt deshalb auch
nicht moralisch zugerechnet werden. Um diese, auch für Kantianer
schwer annehmbare Konsequenz zu vermeiden, verstehe ich das Selbst,
von dem freie Handlungen abhängen, als Inbegriff derjenigen Merkmale,
die für den individuellen Charakter einer Person konstitutiv sind. Wel-
23
Vgl. auch Guckes, Ist Freiheit eine Illusion?, 112 f., 120–122.
24
Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 98 (Werke 6, 82); ders.,
Kritik der praktischen Vernunft, A 52 f. (Werke 6, 139).
106 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
25
Luther, WA, Abt. 1, Bd. 7, Weimar 1897, 838 (Übersetzung nach M. Brecht,
Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 2. Aufl. 1983,
438 f.).
26
Vgl. R. Kane, The Significance of Free Will, New York/Oxford 1996, 77 f., so-
wie ders., A Contemporary Introduction to Free Will, New York/Oxford 2005, 82 f.
108 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
Schelling versteht diese intelligible Tat, die auch Kant und Schopenhau-
er29 postuliert haben, freilich nicht als einen bewussten und vom Wesen
der Person bestimmten Akt. Weil sie nämlich das Bewusstsein und We-
sen erst konstituiert, muss sie beidem vorangehen.30 Mit einer intelligi
blen Tat in diesem Sinne ist deshalb, so könnte man meinen, in moralphi-
losophischer Hinsicht nichts gewonnen. Denn wie kann eine Tat, die
27
Vgl. z. B. Chisholm, »Human Freedom and the Self«, 25; Th. Nagel, The View
from Nowhere, New York/Oxford 1986, 118 f., 123, 126; G. Strawson, »Conscious-
ness, Free Will, and the Unimportance of Determinism«, Inquiry 32 (1989), 3–27,
hier: 10; ders., »The Bounds of Freedom«, in: R. Kane (ed.), The Oxford Handbook
of Free Will, Oxford/New York 2002, 441–460, hier: 453–458.
28
Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen
Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (= Freiheitsschrift), SW
VII, 385.
29
Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 175 (Werke 6, 223); ders., Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 6 f., 48 (Werke 7, 667 und
694); Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, Werke VI, 131–139.
30
Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, 386, und ders., Philosophie der Mytho
logie, SW XI, 462.
§ 15 Eine Komplikation 109
dem Wesen der Person vorhergeht und ihr mithin nicht zurechenbar ist,
die Verantwortung für Handlungen begründen, die aus diesem Wesen
folgen?
Neuere Freiheitstheoretiker scheinen daher mit Recht höhere Ansprü-
che zu stellen: Damit ein Handelnder frei und für sein Handeln verant-
wortlich ist, scheint es von ihm selbst abhängen zu müssen, welchen
handlungsbestimmenden Charakter er besitzt. Dieser Charakter müsste
deshalb seinerseits durch selbstbestimmtes Handeln entweder hervorge-
bracht oder zumindest in beliebigem Grade veränderbar sein. Wie leicht
einzusehen ist, liegt aber weder das eine noch das andere im Bereich des
Möglichen. Im ersten Fall wird unterstellt, der Akteur habe seinen hand-
lungsbestimmenden Charakter durch selbstbestimmtes Handeln erwor-
ben. Dieses charakterbestimmende Handeln könnte aber nur dann
selbstbestimmt sein, wenn der Handelnde einen Charakter zweiter Ord-
nung besäße, durch den es bestimmt würde. Denn anderenfalls wäre es
entweder fremdbestimmt oder zufällig. Nun müsste der Charakter zwei-
ter Ordnung seinerseits durch selbstbestimmtes Handeln zustande kom-
men, wenn sich das Ausgangsproblem nicht erneut einstellen soll. Daher
wäre ein Charakter dritter Ordnung erforderlich, der dem Handelnden
ebenfalls nicht vorgegeben sein dürfte. Kurzum: Die Annahme, der
Handelnde habe seinen handlungsbestimmenden Charakter selbstbe-
stimmt hervorgebracht, führt in einen Regress. Dasselbe gilt im zweiten
Fall, in dem der Akteur diesen Charakter zwar vorfindet, ihn aber
gleichsam »von außen« betrachtet und in selbstbestimmter Weise entwe-
der bestätigt oder in beliebigem Maß verändert. Kant etwa rechnet, weil
er vom Sollen auf das Können schließt, mit der Möglichkeit einer Ge
sinnungsrevolution, in der ein Mensch »den obersten Grund seiner Ma-
ximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwan
delbare Entschließung umkehrt (und hiermit einen neuen Menschen
anzieht)«.31 Nun kann die Umkehrung des handlungsbestimmenden
Charakters aber nur dann selbstbestimmt sein, wenn der Akteur wie-
derum einen Charakter höherer Ordnung besitzt, durch den er bestimmt
wird. Daher führt auch der zweite Fall in einen Regress. Dieser Regress
ließe sich nur dann vermeiden, wenn der Mensch wäre, was er nicht sein
kann: eine causa sui. In Jenseits von Gut und Böse bemerkt Nietzsche:
31
Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 54 f. (Werke
7, 698).
110 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
»Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden
ist, eine Art logische Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz
des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem
Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach ›Freiheit des Willens‹, in jenem me-
taphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der
Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwor-
tung für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall,
Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene
causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich
selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn.«32
Halten wir zweierlei fest: Erstens kann der Mensch seinen handlungsbe-
stimmenden Charakter weder selbstbestimmt hervorbringen noch in
selbstbestimmter Weise bestätigen oder beliebig umwandeln. Folglich
könnte er zweitens keine Freiheit besitzen, falls Freiheit an eine der bei-
den Möglichkeiten gebunden wäre. Für Theoretiker, die diese Verbin-
dung herstellen und Selbstverursachung allenfalls Gott zuschreiben, ist
menschliche Freiheit und Verantwortung deshalb unmöglich. Das klas-
sische Beispiel dieses freiheitstheoretischen Impossibilismus, den gegen-
wärtig z. B. Thomas Nagel und Galen Strawson vertreten,33 ist Spinoza.
Nach Spinoza wird dasjenige frei genannt, »das nur aus der Notwendig-
keit seiner eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zum
Handeln bestimmt wird«.34 Frei in diesem Sinne ist aber ausschließlich
die all-eine, göttliche Substanz,35 welche die immanente Ursache aller
anderen Dinge ist. Der Mensch dagegen ist unfrei, weil er keine selbstge-
nügsame Substanz, sondern nur deren Folge ist. Er verdankt seine Exis-
tenz nicht sich selbst und wird in seinem Wirken durch von außen er-
regte Affekte bestimmt.36
32
F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zu
kunft, KSA V, 35.
33
Vgl. Nagel, The View from Nowhere, 113–124; Strawson, »The Bounds of Free-
dom«, 441–460.
34
Spinoza, Ethik, I, Def. 7.
35
Vgl. ebd., I, Lehrsatz 17, Zusatz 2.
36
Vgl. ebd., I, Lehrsatz 28 und 32 sowie II, Lehrsatz 49 Anm. und III, Lehrsatz 2
Anm.
§ 16 Ehrliche Lutheraner 111
In seinem berühmten Gespräch mit Jacobi hat sich Lessing zur Position
Spinozas bekannt und sie mit der lutherischen verknüpft. Auf Jacobis
emphatische Verteidigung der Willensfreiheit antwortet er ironisch:
»Sie drücken sich beinah so herzhaft aus, wie der Reichstagsschluß zu Augs-
burg; aber ich bleibe ein ehrlicher Lutheraner, und behalte ›den mehr viehischen
als menschlichen Irrtum und Gotteslästerung, daß kein freier Will sei,‹ worein
der helle reine Kopf Ihres Spinoza sich doch auch zu finden wußte.«37
37
F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Men
delssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von K. Hammacher und I.-M. Piske bear-
beitet von M. Lauschke, Darmstadt 2000, 34.
38
Vgl. Luther, De servo arbitrio, WA, Abt. 1, Bd. 18, 617, 636 f., 662, 664, 712.
39
Ebd., 636, Zeile 31 f.
40
Vgl. ebd., 638, 672, 781.
41
Vgl. ebd., 664 f., 776, 780.
42
Vgl. ebd., 636, 780.
43
Vgl. Luthers Deutung der Weigerung Pharaos, das Volk Israel ziehen zu lassen,
ebd., 710–714.
112 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
Gebrauch seines Geldes und über manches andere frei entscheiden, aber
auch diese Entscheidungen werden, wie Luther ausdrücklich hinzusetzt,
»durch den freien Willen Gottes allein gelenkt, wohin auch immer es ihm
gefallen mag.«44 Bezogen auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit,
die dem Menschen in einem begrenzten Bereich eingeräumt ist, vertritt
Luther also eine kompatibilistische Position.
Damit ist die Frage, ob ehrliche Lutheraner dem Menschen Verant-
wortung zuschreiben können, allerdings nicht beantwortet. Denn in
entscheidender Hinsicht besitzt der Mensch nach Luther eben keinen
freien Willen. Zwar werden seine Handlungen oft durch seinen Willen
bestimmt, aber dieser Wille ist in zweifacher Weise seiner selbst nicht
mächtig. Erstens ist seine Grundorientierung, sein sittlicher Charakter,
kein Resultat seiner freien Wahl, sondern immer schon entschieden. Lu-
ther vergleicht den menschlichen Willen deshalb mit einem Lasttier, das
entweder von Gott oder vom Satan geritten wird.45 Nach dem Sündenfall
ist der Wille in allem, was er im Einzelnen will, unwillkürlich durch die
Abkehr von Gott und die Selbstliebe bestimmt. Dies folgt nach Luther
aus dem Erlösungswerk Christi. Denn wenn der menschliche Wille sei-
nen sittlichen Charakter selbst wählen könnte und daher grundsätzlich
jenseits von Gut und Böse stünde, wäre er gar nicht erlösungsbedürftig.46
Zweitens fehlt dem menschlichen Willen die Macht, den sittlichen Cha-
rakter zu verändern, in dem er sich vorfindet und der allen einzelnen
Willensakten zugrunde liegt. Von der Selbstsucht, die ihn nach dem
Sündenfall unwillkürlich bestimmt, kann er nur dadurch befreit werden,
dass Gott seinen Geist verleiht. Wenn das geschieht, ist er wiederum au-
ßerstande, die Grundrichtung seiner Tätigkeit umzukehren. Weder der
Wille des gottverlassenen noch der des geisterfüllten Menschen ist also
nach Luther fähig, seinen sittlichen Charakter zu verändern.47 Aber muss
die Möglichkeit nicht zumindest im Fall der Umwandlung vom Bösen
ins Gute bestehen, weil sonst das moralische Gesetz, durch das sie gefor-
dert ist, sinnlos wäre? Mit Berufung auf Paulus bestreitet Luther zu
Recht diesen Schluss vom Sollen aufs Können, den Erasmus und später
44
Ebd., 638, Zeile 8 f.
45
Vgl. ebd., 635.
46
Vgl. ebd., 779 f.
47
Vgl. ebd., 634 f. Das trifft nach Luther auch auf Adam vor dem Fall zu, vgl. F.
Hermanni, »Luther oder Erasmus. Der Streit um die Freiheit des menschlichen Wil-
lens«, in: F. Hermanni/P. Koslowski (Hgg.), Der freie und der unfreie Wille. Philo
sophische und theologische Perspektiven, München 2004, 165–187, hier: 170.
§ 16 Ehrliche Lutheraner 113
Kant gezogen haben. Denn das Gesetz hat auch dann einen Sinn, wenn
es dem Menschen kein Können anzeigt, sondern eine Unfähigkeit
erschließt, die ihm ansonsten verborgen bliebe, und damit die Notwen-
digkeit der Gnade offenbart.48 Zudem ist es, nach Kants eigenem Ein
geständnis, für uns unbegreiflich, wie ein im Grunde seiner Maximen
verdorbener Mensch seine sittliche Selbstbesserung zustande bringen
kann.49
Nach Luther kann der Mensch also die Grundrichtung seines Wol-
lens, seinen sittlichen Charakter, weder wählen noch zum Guten um-
wenden. Denn wäre er dazu fähig, dann hinge es nicht ausschließlich von
göttlicher Gnade ab, ob er dem Bösen entrinnt. Die Lehre vom unfreien
Willen, die sich oben schon aus anderen Gründen nahelegte, ist für Lu-
ther unverzichtbar, weil sie aus dem »sola gratia« notwendig folgt.
Nun scheint diese Lehre aber Konsequenzen zu haben, die schwer an-
nehmbar sind. Wie kann der Mensch, wenn er in Bezug auf seinen sitt-
lichen Charakter keine alternativen Möglichkeiten besitzt, für Hand-
lungen verantwortlich sein, die durch diesen Charakter bestimmt sind?
Und wie kann Gott gut und gerecht sein, wenn er Menschen dennoch
für ihre Sünden zur Verantwortung zieht? Diese Fragen gehören nach
Luther zu den undurchdringlichen Rätseln, die sich erst im Lichte der
Herrlichkeit auflösen.50 So lange wollten die meisten evangelischen Theo
logen freilich nicht warten. Um die Verantwortung des Menschen zu
begreifen, meinten sie, mit Luthers Lehre von der Unfreiheit des Willens
und der Alleinwirksamkeit der Gnade brechen zu müssen.51 Muss ein
ehrlicher Lutheraner demnach umgekehrt die Denkbarkeit menschlicher
Verantwortung preisgeben und sich wie Lessing zum Spinozismus be-
kennen?
Dazu wäre er verpflichtet, wenn die Verantwortung für Handlun-
gen voraussetzen würde, dass der Handelnde seinen handlungsbestim
menden Charakter wählen oder über dessen Umwandlung entscheiden
48
Vgl. Luther, De servo arbitrio, WA, Abt. 1, Bd. 18, 673–683.
49
Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 49 f., 54,
59 f. (Werke 7, 695, 698, 702).
50
Vgl. Luther, De servo arbitrio, WA, Abt. 1, Bd. 18, 784 f.
51
Schon Melanchthon hat dem Menschen die Freiheit zugeschrieben, das allge-
meine Gnadenangebot Gottes annehmen oder ablehnen zu können, vgl. Ph. Me-
lanchthon, Loci praecipui theologici von 1559, in: Melanchthons Werke in Auswahl,
hrsg. von R. Stupperich, II. Bd., 1. Teil, Gütersloh 1952, 236–252 (De humanis viri-
bus seu de libero arbitrio); II. Bd., 2. Teil, Gütersloh 1953, 592–602 (De praedestina-
tione).
114 Viertes Kapitel: Das Wesen der menschlichen Freiheit
52
Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, 385.
53
Im Kontext der Freiheitsdebatte haben Th. Buchheim, Unser Verlangen nach
Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg 2006, 75 f., und A. F.
Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, Pa-
derborn 2006, 155, jüngst auf diesen Unterschied hingewiesen.
§ 16 Ehrliche Lutheraner 115
wurf der möglichen Welt, zu der wir gehören, den früheren Weltzustand
an den späteren und speziell an den Charakter der Personen angepasst
hat, die im späteren eingeschlossen sind. Der Determinationszusam-
menhang zwischen beiden hätte dann, wie der christliche Schöpfungs-
glaube annimmt, eine teleologische Ausrichtung. In diesem Fall aber
wären wir berechtigt, uns als verantwortliche Akteure zu verstehen, ob-
gleich sich im Prinzip zeigen ließe, dass wir unter der Voraussetzung des
früheren Weltzustandes und der Naturgesetze genau die Personen mit
den Charakteren werden mussten, die wir geworden sind. Denn in der
möglichen Welt, die Gott verwirklicht hat, wären wir es immer schon
gewesen, und zwar in einer nun auch objektiv unhintergehbaren Weise.
So gesehen, behalten die libertarischen Freiheitstheorien, die auch end-
lichen Personen ein Vermögen absoluter Spontaneität zuschreiben, eine
gewisse Berechtigung. Libertarier sollten allerdings einräumen, dass
diese Personen keine weltlosen Subjekte sind, die gleichsam »von außen«
auf die Welt einwirken können. Vielmehr sind sie, um einen anderen ehr-
lichen Lutheraner zu zitieren, Spiegel der Welt, in der sie leben.54 Und
Miltons Engel? Wenn sie glauben, es sei notwendig, ein Gott zu sein, um
schuldig zu werden, sind sie in der Tat »in wand’ring mazes lost«.
Das Theodizeeproblem
Keine andere Erfahrung hat die Überzeugung, dass ein allmächtiger, all-
wissender und vollkommen guter Schöpfergott existiert, in ähnlich radi-
kaler Weise in Frage gestellt wie die Erfahrung des Schlechten in der
Welt. In klassischer Weise wurde die Schwierigkeit, vor der der Theis-
mus angesichts der Übel steht, bereits von Epikur formuliert:
»Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und
will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es.
Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft.
Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd
ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch
schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich
für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht
weg?«1
1
Epikur, Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruch
sammlung, Fragmente, übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen ver-
sehen von O. Gigon, München 1991, 136.
§ 17 Die Unvereinbarkeitsthese und ihre Kritik 117
bis (3) falsch ist. Aber auf welche der Annahmen sollte verzichtet wer-
den?
Die Preisgabe der Annahme (1) kommt nicht in Frage, weil die gene-
relle Leugnung von Übeln in der Welt aus folgendem Grund unhaltbar
ist: Wenn es in Wahrheit gar keine Übel gäbe, würden sich die meisten
von uns täuschen, weil sie glauben, es gäbe welche. Nun ist aber auch die
Täuschung ein Übel, ein Erkenntnis-Übel nämlich. Demnach sind ent-
weder die Tatbestände, die wir üblicherweise für Übel halten, tatsächlich
Übel oder es ist ein Übel, sie dafür zu halten. Folglich lässt sich die Exis-
tenz von Übeln, mithin die Wahrheit der Annahme (1), nicht ohne Wi-
derspruch bestreiten.2
Wer behauptet, die Annahmen (1) bis (3) seien unvereinbar, muss des-
halb entweder auf die Annahme (2) oder (3) oder auf beide verzichten.
Besonders in den beiden vergangenen Jahrhunderten hat man häufig die
letztere, also atheistische Konsequenz gezogen. »Die einzige Entschul-
digung Gottes ist, daß er nicht existiert«, heißt jenes Bonmot Stendhals,
um das ihn Nietzsche beneidete.3 Dasselbe kommt in Georg Büchners
Drama Dantons Tod zum Ausdruck:
»Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren,
Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz;
nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke
dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leises-
te Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß
in der Schöpfung von oben bis unten.«4
2
Ähnlich hat bereits Augustin argumentiert: Zweifellos fürchten wir uns und
dasjenige, was wir fürchten, ist ein Übel. Angenommen, es gibt gar keine Übel, dann
hat unsere Furcht, die als Tatsache nicht zu bestreiten ist, gar keinen Grund. Eine
grundlose Furcht aber wäre sinnlos und damit selbst ein Übel. »Entweder also ist da
ein Übel, das wir fürchten, oder das schon ist ein Übel, daß wir uns fürchten.« (A.
Augustinus, Confessionum libri XIII, in: Sancti Aureli Augustini Opera 1/1, hrsg.
von P. Knöll [CSEL 33], Prag/Wien/Leipzig 1896 [= Conf.], VII 5, 7; Übersetzung
nach A. Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, lat.-dt., eingeleitet, übersetzt und
erläutert von J. Bernhart, München 4. Aufl. 1980, 315).
3
Vgl. F. Nietzsche, Ecce homo, »Warum ich so klug bin«, 3 (KSA 6, 286). Das
Bonmot lässt sich in Stendhals Werken m.W. nicht nachweisen, vermutlich handelt es
sich um eine mündliche Äußerung. Nietzsche kannte es offenbar aus P. Alberts Buch
über die französische Literatur des 19. Jahrhunderts, vgl. P. D’Iorio, »Beiträge zur
Quellenforschung«, Nietzsche-Studien 21 (1992), 398–400, hier: 400.
4
G. Büchner, Dantons Tod. Ein Drama, in: ders., Werke in einem Band, Dort-
mund 1982, 7–68, hier: 44. Vgl. auch das berühmte Kapitel »Die Auflehnung«, in:
F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen übertragen von H.
§ 17 Die Unvereinbarkeitsthese und ihre Kritik 119
Natürlich ist die atheistische Bestreitung der Existenz Gottes nicht die
einzig mögliche Konsequenz aus der unterstellten Unvereinbarkeit der
Annahmen (1) bis (3), denn diese Unvereinbarkeit besagt lediglich, dass
eine der Annahmen falsch sein muss. Da die Preisgabe der Annahme (1)
nicht in Frage kommt, bleiben zwei Positionen übrig, die zwar beide den
Theismus ablehnen, zugleich aber den Atheismus unterlaufen, nämlich
die Einschränkung der göttlichen Güte oder der göttlichen Macht. Ent-
weder hält man an der Allmacht Gottes fest, dann können Liebe und
Güte allenfalls eine Seite Gottes sein, neben der es noch eine andere,
dunkle Seite gibt.5 Oder man hält an der vollkommenen Güte Gottes
fest, dann kann er keine grenzenlose Macht besitzen. Im ersten Fall muss
man einen internen Dualismus zwischen der Potenz der Güte und einer
anderen ihr in Gott gegenüberstehenden Potenz in Kauf nehmen. Im
Grenzfall wird der Grund der Welt sogar zu einem moralisch indiffe-
renten Wesen wie bei Spinoza oder – wie bei Schopenhauer – zu einer
Art allmächtigem Teufel. Im zweiten Fall, der Entmächtigung Gottes,
muss man einen externen Dualismus zwischen Gott und einer außer ihm
bestehenden Macht annehmen, im Grenzfall sogar die völlige Ohnmacht
Gottes.
Beide Varianten des Dualismus können auf eine lange Tradition zu-
rückblicken, und ihre »Lösung« des Theodizeeproblems gleicht der rabi-
aten Therapie, Kopfschmerzen durch Abschlagen des Kopfes zu »hei-
len«. Ein interner Dualismus, der Gottes Güte einschränkt oder bestrei-
tet, wird beispielsweise von Hiob im Dialog mit seinen Freunden
vertreten. Aus der Tatsache seines unschuldigen Leidens schließt Hiob
nicht auf die Ohnmacht oder die Nichtexistenz Gottes, sondern auf sei-
ne Ungerechtigkeit und Grausamkeit. 6 »Den Schuldlosen und den Schul-
digen«, so klagt er, »bringt er [Gott] (gleichermaßen) um. Wenn die Gei-
ßel plötzlich tötet, spottet er über die Verzweiflung der Unschuldigen.
Die Erde ist in die Hand eines Frevlers gegeben.« (Hi 9, 22 ff.) Diese und
Ruoff/R. Hoffmann, Zürich 1974, 319–332 (Buch 5, Kap. 4), sowie A. Camus, Der
Mensch in der Revolte. Essays, Reinbek bei Hamburg 1969, 22 ff.
5
Vgl. W. Dietrich/Chr. Link, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1: Willkür und Ge
walt, Neukirchen-Vluyn 4. Aufl. 2002; Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukir-
chen-Vluyn 2000.
6
Vgl. H. Spieckermann, »Die Satanisierung Gottes. Zur inneren Konkordanz
von Novelle, Dialog und Gottesreden im Hiobbuch«, in: I. Kottsieper/J. van Oor-
schot/D. Römheld/H. M. Wahl (Hgg.), ›Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?‹
Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels, FS für O. Kaiser, Göttingen
1994, 431–444.
120 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
andere Stellen, an denen Gott als Despot erscheint, der sich willkürlich
über das Recht hinwegsetzt, oder gar als grausamer, im menschlichen
Leid sich austobender Sadist (vgl. Hi 16, 9–14), haben freilich nicht nur
behauptenden, sondern auch auffordernden Sinn. Sie sollen Gott offen-
bar bis aufs Äußerste provozieren, sich womöglich doch noch als gut
und gerecht zu erweisen. Zu einem internen Dualismus tendiert auch die
Theologie des späten Augustin; denn dort kehrt der zuvor verworfene
extern-manichäische Dualismus intern in der Gestalt der unbegreif-
lichen absoluten Souveränität zurück, mit welcher der verborgene Gott
einige zum Heil und die meisten zum Unheil prädestiniert. Eine Ein-
schränkung der Güte Gottes liegt ebenso in der Annahme des spätmit-
telalterlichen Voluntarismus, der göttliche Wille sei nicht an die Gesetze
des Guten und Gerechten gebunden, in Luthers Unterscheidung zwi-
schen Deus absconditus und Deus revelatus und in Böhmes Spekulation
über eine Grimmschicht in Gott. Böhmes Lehre ist später in Schellings
Unterscheidung zwischen Gott selbst und dem Grund in Gott sowie in
Heideggers Rede von jenem strittigen Sein eingegangen, in dem gleicher-
maßen »das Heile und das Grimmige [. . .] wesen«.7
Ebenso wie der interne Dualismus in Gott hat auch der externe Dua
lismus zwischen Gott und anderen Mächten eine lange Tradition. Solche
Konzepte finden sich antik und mittelalterlich bei Empedokles, bei Pla-
ton, im Manichäismus, in der Apokalyptik, in der Gnosis und in der
Kabbala. Neuzeitlich wird der externe Dualismus im französischen
Sprachraum von P. Bayle erwogen, nach dem Erdbeben von Lissabon
von Voltaire als einzig mögliche »Lösung« des Theodizeeproblems ver-
treten und von Rousseau – nach anfänglicher Ablehnung – in seiner Leh-
re von der ewigen Koexistenz zwischen einem göttlich-aktiven und
einem materiell-passiven Prinzip aufgenommen. Im englischen Sprach-
raum hat J. St. Mill8 eine partielle Entmächtigung Gottes vorgeschlagen,
die dann bei W. James9 gegen den pantheistischen Monismus der schot-
tischen Idealisten gewendet wird.
7
M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 8. Aufl. 1981, 49.
8
Vgl. J. St. Mill, »Die Nützlichkeit der Religion«, in: ders., Drei Essays über Re
ligion. Natur – Die Nützlichkeit der Religion – Theismus, auf der Grundlage der
Übersetzung von E. Lehmann, neu bearbeitet und mit Anmerkungen und einem
Nachwort versehen von D. Birnbacher, Stuttgart 1984, 63–107, besonders 102 f.
9
Vgl. W. James, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature,
London/New York/Bombay/Calcutta 1912, 131 f.
§ 17 Die Unvereinbarkeitsthese und ihre Kritik 121
10
J. Ebach, »Die Welt, ›in der Erlösung nicht vorweggenommen werden kann‹ (G.
Scholem) oder: Wider den ›Trug für Gott‹ (Hi 13, 7)«, in: W. Oelmüller (Hg.), Lei
den (Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie, Bd. 9), Paderborn/München/Wien/
Zürich 1986, 20–27, hier: 22 f.
11
Vgl. E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des
Reichs, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1989, 156–159.
122 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
(5) Ein allmächtiger Gott könnte jedes Übel verhindern, das er verhin
dern wollte.
Aus diesen Zusatzannahmen schließen Theismuskritiker,12 dass es keine
Übel gäbe, wenn ein zugleich allmächtiger und vollkommen guter Gott
existieren würde. Folglich müsse mindestens eine der drei ersten Annah-
men falsch sein.
Ist diese Argumentation zwingend? Keineswegs! Denn eine ihrer Prä-
missen, nämlich die Annahme (4), trifft nicht zu.13 In der Tat würde ein
vollkommen guter Gott nach Möglichkeit jedes Übel verhindern, aller-
dings nur dann, wenn keine moralisch hinreichenden Gründe dagegen
sprächen. Von welcher Art wären diese Gründe? Im Allgemeinen ist man
zur Zulassung von Übeln, die man verhindern könnte, dann berechtigt
oder sogar verpflichtet, wenn durch deren Verhinderung Güter verloren
gingen, deren Wert den Unwert dieser Übel übersteigt. Diese allgemeine
moralische Regel muss im Falle eines theistischen Gottes allerdings ein-
geschränkt werden. Denn ein allmächtiger und allwissender Gott wäre
anders als menschliche Akteure an keinerlei Regeln gebunden, durch die
Übel mit größeren Gütern faktisch verknüpft sind. Aufgrund seiner All-
macht und Allwissenheit wäre er vielmehr in der Lage, diese Güter zu
verwirklichen, ohne die Übel in Kauf zu nehmen. Der Zusammenhang
zwischen Übeln und größeren Gütern müsste vielmehr logisch notwen
dig sein, sodass es logisch unmöglich wäre, diese Güter zu realisieren,
ohne die Übel zuzulassen oder zu bewirken. Nur in diesem Fall hätte
auch ein allmächtiger und allwissender Gott, weil ihm nichts logisch Un-
mögliches zugeschrieben werden kann, einen moralisch hinreichenden
Grund, Übel nicht zu verhindern. Die Annahmen (1) bis (3) sind dem-
nach dann und nur dann vereinbar, wenn folgende Annahme zutrifft:
(6) Es ist logisch möglich, dass die Übel vom allmächtigen und vollkom
men guten Gott deshalb nicht verhindert werden, weil ihre Zulas
sung mit größeren Gütern und/oder der Abwesenheit größerer Übel
in logisch notwendiger Weise verknüpft ist.
12
Vgl. z. B. J. L. Mackie, »Evil and Omnipotence«, Mind 64 (1955), 200–212, wie-
der abgedruckt in: M. M. Adams/R. M. Adams (eds.), The Problem of Evil, Oxford
1990, 25–37, und N. Hoerster, »Zur Unlösbarkeit des Theodizee-Problems«, Theo
logie und Philosophie 60 (1985), 400–409.
13
So zu Recht auch N. Pike, »Hume on Evil«, The Philosophical Review 72 (1963),
180–197, wieder abgedruckt in: M. M. Adams/R. M. Adams (eds.), The Problem of
Evil, Oxford 1990, 38–52.
§ 17 Die Unvereinbarkeitsthese und ihre Kritik 123
14
Vgl. z. B. A. Plantinga, »The Free Will Defence«, in: M. Black (ed.), Philosophy
in America, London 1965, 204–220; A. Plantinga, »God, Evil, and the Metaphysics
of Freedom«, in: ders., The Nature of Necessity, Oxford 1974, 164–195; ders., »The
Problem of Evil«, in: ders., God, Freedom, and Evil, Michigan 1991, 7–64; R. Swin-
burne, »The Free Will Defence«, in: M. M. Olivetti (Hg.), Teodicea oggi? (Archivio
di Filosofia 56), Padova 1988, 585–596; R. Swinburne, Die Existenz Gottes, 243–308;
ders., Providence and the Problem of Evil, Oxford 1998.
124 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
diese Weise hätte er das moralisch Böse und dessen leidvolle Konse-
quenzen verhindern können, ohne jene kreatürliche Freiheit einzu-
schränken oder aufzuheben, die einen Wert besitzt. Der moralisch hin-
reichende Grund, der diesen Gott berechtigen könnte, das malum mora-
le zuzulassen, kann folglich nicht darin bestehen, Freiheit im Sinne
vernünftiger Selbstbestimmung ermöglichen zu wollen.15 Die Free-Will-
Defense befindet sich demnach in einer ausweglosen Lage. Die indeter-
ministisch verstandene Freiheit, die sie in Anspruch nimmt, besitzt nicht
den erforderlichen Wert, um die göttliche Zulassung von Übeln zu recht-
fertigen, die mit dieser Freiheit verknüpft sind. Freiheit im Sinne ver-
nünftiger Selbstbestimmung hingegen besitzt zwar einen hohen Wert;
um sie zu ermöglichen, müsste ein theistischer Gott aber keine mora-
lischen Übel zulassen.16
Zur Spezifikation der Annahme (6) soll deshalb im Folgenden ein an-
derer Vorschlag gemacht werden, den ich als No-Better-World-Defense
bezeichne. Er besagt: Es ist logisch möglich, dass die Übel von einem
allmächtigen, allwissenden und vollkommen guten Gott deshalb nicht
verhindert werden, weil sie logisch notwendige Elemente der von ihm
geschaffenen unübertrefflich guten Welt sind und weil die Existenz die-
ser Welt ihrer Nichtexistenz vorzuziehen ist.
Dass die Welt unübertrefflich gut sein muss, wenn sie von einem voll-
kommenen Gott geschaffen wurde, ist in der Tat keine absurde Neue-
rung zu Beginn des 18. Jahrhunderts, vielmehr eine seit langem gewon-
nene, wenn auch oft bestrittene Einsicht der theologischen und philoso-
phischen Tradition. Bekanntlich schließt schon die Priesterschrift ihren
Bericht vom Sechs-Tage-Werk Gottes mit der zusammenfassenden, su-
perlativischen Billigungsformel: »Und Gott sah alles an, was er gemacht
hatte, und siehe, es war sehr gut.« (Gen 1, 31) Auch die alttestament-
lichen Schöpfungspsalmen (vgl. Ps 8, 19, 104, 139) würden Jahwe wohl
kaum für die Vollkommenheit seiner Werke preisen, wenn sie annäh-
men, er hätte die Welt vollkommener machen können. Entsprechend hat
nach Platons Timaios der gute, von aller Missgunst freie Weltbaumeister
(demiurgos) einen Kosmos geschaffen, der »ihm möglichst ähnlich« ist
und daher »das seiner Natur nach schönste und beste Werk« darstellt.
Denn »dem Besten war es weder noch ist es gestattet, etwas anderes als
das Schönste zu tun.«18 In dieses Loblied, das der Timaios auf den Kos-
mos singt, stimmt Plotin, der Gründer der neuplatonischen Schule, ein,
um sich von der Dämonisierung der Welt im spätantiken Gnostizismus
abzugrenzen. Die Forderung nach einer übelfrei guten Welt erscheint
ihm unbillig, weil sie den Abbildcharakter der Welt verkennt. Trotz aller
Widrigkeiten kann man sich nämlich »ein Abbild der oberen Welt, wel-
ches schöner wäre als dieser Kosmos, [. . .] nicht vorstellen.«19
Augustin hat diese (neu-)platonische Weltdeutung mit dem biblischen
Schöpfungsglauben verknüpft. Die Welt ist für ihn in einer unübertreff-
17
Kant, »Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus«, A 3 (Werke 2,
587).
18
Platon, Timaios, 29e–30b (Übersetzung nach Platon, Werke in acht Bänden,
gr.-dt., Sonderausgabe, hrsg. von G. Eigler, Darmstadt 1990 [= Werke], Bd. 7, 37 und
39); vgl. auch 29a und 92c.
19
Plotin, Πρὸς τοὺς γνωστικούς – Gegen die Gnostiker (Enn. II 9), in: Plotins
Schriften, übersetzt von R. Harder, Neubearbeitung mit gr. Lesetext und Anmer-
kungen fortgeführt von R. Beutler/W. Theiler, Bd. III: Die Schriften 30–38 der
chronologischen Reihenfolge, (a) Text und Übersetzung, Hamburg 1964, 104–161,
hier: 115 (Enn. II 9, 4).
126 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
lichen Weise vollkommen, weil sie von einem Gott geschaffen wurde,
der das summum bonum ist. Zwar sind die einzelnen Dinge nicht »im
höchsten Maße gleich und unveränderlich gut; [. . .] aber die Gesamtheit
aller Dinge [ist] sehr gut (valde bona), weil in der Gesamtheit die bewun-
dernswerte Schönheit des Weltalls besteht.«20 Hätte aber Gott nicht doch
eine bessere Welt schaffen können, wenn er anstelle der Dinge, die nicht
in maximaler Weise gut sind, andere, bessere geschaffen hätte? Augustin
hat diese Frage mit folgender Begründung verneint: Alle besseren Dinge,
von denen sich die mit den göttlichen Ideen verbundene menschliche
Vernunft eine wahre Vorstellung bilden kann, sind von Gott tatsächlich
erschaffen worden, auch wenn der Mensch sie nicht sinnlich wahr-
nimmt.21 Hätte Gott aber anstelle der weniger guten Dinge die Zahl der
besseren vergrößert, dann wäre die Welt insgesamt schlechter. Denn de-
ren unübertrefflicher Wert besteht nach Augustin gerade darin, die ver-
schiedenen Stufen der Vollkommenheit zu enthalten.22
Die Liste der Autoren, die annehmen, Gott habe aufgrund seiner
höchsten Vollkommenheit eine unübertrefflich gute Welt geschaffen und
die Übel nicht verhindert, weil sie konstitutiv zu diesem höchsten abge-
leiteten Gut gehören, ließe sich mühelos verlängern. Im islamischen
Denken wurde diese Annahme von Al-Gazali (1059-1111), dem bedeu-
tendsten sunnitischen Theologen, vertreten und bis ins 19. Jahrhundert
kontrovers diskutiert.23 Im christlichen Mittelalter findet sie sich bei-
spielsweise bei Abaelard und Ulrich von Straßburg, einem Ordensbru-
der des Thomas von Aquin,24 und in der Neuzeit etwa bei N. Malebran-
che25 und G. W. Leibniz.26
20
A. Augustinus, Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate, in: Aurelii
Augustini Opera 13/2, hrsg. von E. Evans (CCL 46), Turnhout 1969 (S. 21–114), 3,
10; Übersetzung nach A. Augustinus, Das Handbüchlein, übertragen und erläutert
von P. Simon, Paderborn 1984.
21
Vgl. A. Augustinus, De libero arbitrio libri tres, hrsg. von W. M. Green, in:
Aurelii Augustini Opera 2/2 (CCL 29), Turnhout 1970, S. 211–321 (= de lib. arb.), III
5, 13 f.
22
Vgl. ebd., III 9, 24–26.
23
Vgl. E. L. Ormsby, Theodicy in Islamic Thought. The Dispute over al-Ghazali’s
›Best of all Possible Worlds‹, Princeton/New Jersey 1984.
24
Vgl. Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 2, Tractatus 1–4, hrsg. von
A. de Libera, Hamburg 1987, tract. 3, cap. 3 : »De bono universi« (S. 51–54).
25
Vgl. N. Malebranche, Entretiens sur la métaphysique et sur la religion, IX, §§
VIII–X, in: Œuvres de Malebranche, Tomes XII–XIII, édité par A. Robinet, Paris
1965, 208–215.
26
Zum Begriff der bestmöglichen Welt vgl. T. Ramelow, Gott, Freiheit, Welten
§ 18 Die Lösung des logischen Theodizeeproblems 127
wahl. Der Ursprung des Begriffs der besten aller möglichen Welten in der Metaphy
sik der Willensfreiheit zwischen Antonio Peres S. J. (1599–1649) und G. W. Leibniz
(1646–1716), Leiden/New York/Köln 1997; S. K. Knebel, »Necessitas moralis ad
optimum. Zum historischen Hintergrund der Wahl der besten aller möglichen
Welten«, Studia Leibnitiana 23 (1991), 3–24.
128 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
28
Nach Augustinus, de lib. arb., III 9, 26 f.; 11, 32 f.; 12, 35, kann sich die geschaf-
fene Welt aufgrund der indeterministisch verstandenen Willensfreiheit vernünftiger
Geschöpfe in verschiedene Richtungen entwickeln. Welcher durchgängig bestimm-
ten möglichen Welt die wirkliche entspricht, ist daher nicht prädeterminiert, son-
dern entscheidet sich erst durch die faktisch eingeschlagene Richtung. Angesichts
der faktischen Entwicklung hat Gott geeignete Maßnahmen ergriffen, um trotz des
menschlichen Freiheitsmissbrauchs das unübertreffliche Gutsein der Welt zu ge-
währleisten, und Entsprechendes hätte er laut Augustin auch im Fall jeder anderen
möglichen Entwicklung getan. »Wohin sich auch unsere Betrachtung wenden mag,
stets findet sie Gott, den besten Schöpfer und gerechtesten Lenker (conditorem op-
timum et administratorem iustissimum) aller Wesen, unaussprechlichen Lobes wür-
dig« (ebd., III 12, 35, Übersetzung nach A. Augustinus, Theologische Frühschriften:
Vom freien Willen – Von der wahren Religion, lat.-dt., übersetzt und erläutert von
W. Thimme, Zürich/Stuttgart 1962).
29
Vgl. A. Augustinus, De musica, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina
32, S. 1081–1192, Buch VI 11, 29: »Carmen universitatis«.
30
Vgl. nochmals Augustinus, de lib. arb., III 9, 26.
130 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
31
Dieses Bonmot geht zurück auf J. B. Cabell, The Silver Stallion, New York
1926, Kap. 26.
§ 18 Die Lösung des logischen Theodizeeproblems 131
theistischen Gott demnach sehr wohl eine logische, allerdings keine mo-
ralische Alternative. Denn wenn Gott eine schlechtere Welt schüfe, als er
schaffen könnte, widerspräche er seiner vollkommenen Güte und würde
sich selbst untreu. Die unverbrüchliche Treue zu sich selbst aber ist keine
Restriktion der göttlichen Freiheit, sondern ihr Wesen. Falls es eine
Mehrzahl von wertmaximalen möglichen Welten gibt, ist die Schöpfung
der wirklichen übrigens nicht einmal moralisch notwendig, wie Leibniz
annahm. Denn die vollkommene Weisheit und Güte Gottes würde die
Wahl der zu schaffenden Welt in diesem Fall zwar auf die Menge der
wertmaximalen Welten einschränken, zugunsten einer bestimmten Welt
aber entschiede sich Gott ohne weiteren Grund. Die geschaffene und
unübertrefflich gute Welt würde dann auf einer glücklichen Verbindung
zwischen einem absoluten göttlichen Entschluss und jener moralischen
Notwendigkeit beruhen, welche die »Seele« der göttlichen Freiheit aus-
macht.
Der erste Einwand ist zumeist mit der voluntaristischen Annahme
verknüpft, dass das Kriterium für »gut« allein im absoluten, an keine
Wertmaßstäbe gebundenen Willen Gottes liegt. Gott müsse daher nicht
eine von den möglichen Welten aktualisieren, die, gemessen an diesen
Maßstäben, unübertrefflich gut sind. Als Manifestation des göttlichen
Willens sei die geschaffene Welt vielmehr per definitionem gut. Dieser
theologische Voluntarismus gehört zu jenen Scheinlösungen des Theo-
dizeeproblems, die in Wahrheit den theistischen Rahmen zerstören, in-
nerhalb dessen das Problem sich stellt. Denn wenn jeder beliebige, folg-
lich auch ein moralisch ruchloser Entschluss gut wäre, sofern er von
Gott getroffen würde, verlöre die Rede von der vollkommenen Güte
Gottes ihre Bedeutung. Gott wäre dann nichts weiter als ein zur All-
macht gelangter Despot, der kein Vertrauen verdient und auf Verehrung
keinerlei Anspruch hätte. Über die voluntaristische Verteidigung des
Schöpfergottes bemerkt Kant treffend: »Diese Apologie, in welcher die
Verantwortung ärger ist als die Beschwerde, bedarf keiner Widerlegung;
und kann sicher der Verabscheuung jedes Menschen, der das mindeste
Gefühl für Sittlichkeit hat, frei überlassen werden.«32
(b) Dem zweiten Einwand zufolge ist es logisch unmöglich, dass eine
unübertrefflich gute oder die bestmögliche Welt etwas Schlechtes ein-
schließt. Denn jede mögliche Welt W, die ein Übel enthält, ist schlechter
32
Kant, »Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee«,
A 201 (Werke 9, 109); vgl. auch Leibniz, Theodizee, §§ 177 ff.
132 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
als eine mögliche Welt W*, die dieses Übel nicht enthält und ansonsten
mit W identisch ist. Über jeder möglichen und nicht übelfreien Welt ist
daher eine andere möglich, die besser ist als sie. Folglich muss eine un
übertrefflich gute oder die bestmögliche Welt übelfrei gut sein, und um-
gekehrt kann es sich bei der wirklichen Welt, da in ihr Schlechtes vor-
kommt, unmöglich um eine wertmaximale oder die wertoptimale mög-
liche Welt handeln.
Auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig, wie die folgenden Überle-
gungen zeigen. Der Einwand nimmt an, es gebe zu jeder möglichen Welt
W, die einen schlechten Sachverhalt einschließt, eine mögliche Welt W*,
die ihn ausschließt und ansonsten mit W identisch ist. Aus dieser An-
nahme folgt jedoch nicht, dass es zu jeder möglichen und nicht übel-
freien Welt eine bessere gibt. Vielmehr kann eine mögliche Welt W gera-
de aufgrund eines schlechten Sachverhaltes einen höheren Gesamtwert
besitzen als eine mögliche Welt W*, die diesen Sachverhalt ausschließt
und ansonsten mit W identisch ist. Es ist das Verdienst von R. Chisholm,
auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht zu haben.33 Man betrachte
folgende Sachverhalte:
(A) Jemand glaubt (ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt), dass
ein anderer schwer erkrankt ist.
(B) Jemand ist über etwas, das er glaubt, glücklich oder jedenfalls nicht
unglücklich.
(C) Jemand ist über etwas, das er glaubt, unglücklich.
Nun ist es offenbar intrinsisch gut, glücklich zu sein, intrinsisch schlecht,
unglücklich zu sein, und intrinsisch wertneutral, etwas zu glauben oder
zu vermuten. Gleichwohl ist es intrinsisch besser, über die schwere
Krankheit, von der man jemand anderen betroffen glaubt, unglücklich
als darüber glücklich oder nicht unglücklich zu sein. Demnach kann
eine Verbindung von Sachverhalten (A+C), die einen schlechten Sach-
verhalt (C) enthält, einen höheren Gesamtwert besitzen als diejenige
Verbindung (A+B), in welcher der schlechte Sachverhalt durch den ihm
entgegengesetzten guten oder wertneutralen (B) ersetzt wird. Da eine
33
Vgl. R. M. Chisholm, »The Defeat of Good and Evil« (1968/69), in: M. M.
Adams/R. M. Adams (eds.), The Problem of Evil, Oxford 1990, 53–68. Ähnliche
Überlegungen wurden bereits angestellt von G. E. Moore, Principia Ethica, London
1903 (deutsch: G. E. Moore, Principia Ethica, aus dem Englischen übersetzt und
hrsg. von B. Wisser, Stuttgart 1970), und J. Wisdom, »God and Evil«, Mind 44 (1935),
1–20.
§ 19 Die Unlösbarkeit des empirischen Theodizeeproblems 133
die sich daraus ergeben, dass ein theistischer Gott Übel durch zeitweilige
Suspension oder durch Substitution von Gesetzen verhindern könnte,34
werde ich im Folgenden behandeln. Zuvor ist aber noch eine allgemeine
Überlegung angebracht. Sie betrifft die notwendigen Voraussetzungen,
die erfüllt sein müssten, um das empirische Theodizeeproblem in me-
thodisch sicherer Weise zu klären.
(e) In W ist das Verhältnis zwischen den moralisch guten und bösen
Entscheidungen, die vernünftige Wesen treffen, günstiger als in W*.
(f) In W ist die Verknüpfung zwischen der Sittlichkeit vernünftiger We-
sen und dem Maß an Glück und Unglück, das sie erfahren, gerechter
als in W*.37
Nehmen wir für einen Moment an, diese oder andere Kriterien würden
sich als verbindlich oder rational zwingend erweisen und es ließe sich
zudem die Vollständigkeit der Kriterienliste sicherstellen. Selbst in die-
sem Fall könnte der Wert, den die wirkliche Welt W im Vergleich mit
einer möglichen Welt W* besitzt, nur dann bestimmt werden, wenn eine
weitere, zweite Voraussetzung erfüllt wäre. Inwiefern?
Eine vergleichende Gesamtbewertung von W und W* müsste alle Kri-
terien, nach denen sich der Wert einer möglichen Welt bemisst, berück-
sichtigen. Nun ist nicht auszuschließen, dass einige dieser Kriterien sich
anders als proportional zueinander verhalten oder gar im Verhältnis der
Gegenläufigkeit stehen. Wenn das der Fall ist – und bei den genannten
Kriterien ist es offenkundig der Fall –, dann können Vergleiche zwischen
dem Wert von W und dem von W*, die unterschiedliche Bewertungskri-
terien zugrunde legen, zu gegensätzlichen Ergebnissen führen. Ceteris
paribus ist beispielsweise eine mögliche Welt, die keine Raubtiere ein-
schließt, gemessen am dritten Kriterium (Verhältnis von Freud und Leid)
vielleicht besser, gemessen am ersten (Artenvielfalt) dagegen zweifellos
schlechter als die wirkliche Welt. Um abschließend und eindeutig ent-
scheiden zu können, ob eine mögliche Welt W* besser oder schlechter ist
als die wirkliche, müsste man folglich ein alle Kriterien umfassendes und
ihr relatives Gewicht bestimmendes Prinzip besitzen. Man müsste, an-
ders gesagt, über eine einheitliche Bewertungsfunktion verfügen, aus der
sich alle Umrechnungsfaktoren zwischen den an verschiedenen Krite-
rien bemessenen Werten ergäben, eine Funktion, mit der sich etwa er-
riums (vgl. z. B. J. Hick, Evil and the God of Love (1966), Nachdruck der 3. Aufl.
1985, London 1993, 167 f., 256 f., 308). Kant resümiert seine diesbezüglichen Überle-
gungen mit den Worten: »[. . .] die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen
Gesetzen, kann also allein als Endzweck vom Dasein einer Welt gedacht werden.«
(Kritik der Urteilskraft, A 418, B 423 [Werke 8, 576]).
37
Am sechsten Kriterium, dem der Gerechtigkeit, wurde die Welt bekanntlich
von Hiob über Augustin bis Kant bemessen. Nach Kant macht »Glückseligkeit,
ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit
glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt« aus (Kritik der
praktischen Vernunft, A 199 [Werke 6, 239]).
136 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
mitteln ließe, wie viel Leiden von Beutetieren die Existenz von Raubtie-
ren wert ist. Eine verbindliche Kriteriologie, die diesen Ansprüchen ge-
nügen würde, liegt nicht vor, und man darf skeptisch sein, ob endliche
Vernunftwesen mit je eigenen Präferenzstrukturen und individuell »ge-
färbten«, rational nicht restlos einholbaren Werturteilen in der Lage
sind, sie zu entwickeln.38
Die klassische Metaphysik von Augustin über Thomas bis Leibniz
konnte auf eine Kriteriologie dieser Art verzichten, weil sie ihre Über-
zeugung von der unübertrefflichen Güte der wirklichen Welt statt auf
einen Vergleich mit anderen möglichen Welten auf die als gesichert gel-
tende Existenz eines theistischen Gottes stützte. Unverzichtbar ist eine
solche Kriteriologie dagegen, wenn man die Begründungslogik umkeh-
ren und in methodisch einigermaßen sicherer Weise zeigen will, dass ein
theistischer Gott wahrscheinlich nicht existiert, weil eine bessere Welt
als die wirkliche allem Anschein nach möglich ist. Mangels einer ausge-
arbeiteten Theorie über die vergleichende Bewertung möglicher Welten
bewegen sich daher sowohl der empirische Einwand gegen den Theismus
wie die theistischen Versuche, ihn auf empirischem Wege zu entkräften,
auf höchst unsicherem Terrain.
Trotz ihrer kriteriologischen Unsicherheit wären freilich empirische
Versuche, den relativen Gesamtwert der wirklichen Welt zu bestimmen,
nicht gänzlich abwegig, wenn sie nicht wegen notorischer Überschrei-
tung menschlicher Erkenntnisgrenzen prinzipiell zum Scheitern verur-
teilt wären. Dieses prinzipielle Misslingen nachzuweisen, ist Aufgabe
der beiden folgenden Abschnitte, in denen die beiden Formen des empi-
rischen Theodizeeproblems behandelt werden.
38
Die moderne Spiel- und Entscheidungstheorie umgeht dieses Problem dadurch,
dass der Wert von etwas an den Stellen bemessen wird, die es auf den Präferenzlisten
verschiedener Individuen einnimmt. Markt und Demokratie fungieren insofern als
letzte Entscheidungsinstanzen über die Güte eines Gegenstands.
39
In präzisester Weise wird diese Variante des empirischen Einwands von R. K.
Perkins, Jr., »An Atheistic Argument from the Improvability of the Universe«, Noûs
17 (1983), 239–250, entwickelt.
§ 19 Die Unlösbarkeit des empirischen Theodizeeproblems 137
(8) Ein theistischer Gott würde eine unübertrefflich gute Welt schaffen
und daher alle Übel verhindern, ohne die die Welt besser wäre.
(9) Nun gibt es unter den faktischen Übeln augenscheinlich solche, ohne
die die Welt besser wäre, wenn sie durch Suspension der an ihrer
Entstehung beteiligten Gesetze (Wunder) verhindert würden. Die
wirkliche Welt ist daher offenbar nicht unübertrefflich gut.
(10) Folglich existiert ein theistischer Gott wahrscheinlich nicht.
Um den zwischen Theisten und Theismuskritikern strittigen Untersatz
zu prüfen, stelle man sich zunächst die mögliche Welt W* vor, die aktuell
wäre, wenn Gott alle in der wirklichen Welt W eingeschlossenen Übel
durch Wunder ausschließen würde. Diese mögliche Welt W* unterschei-
det sich von der wirklichen nicht nur durch das Fehlen von Übeln, son-
dern auch in mehreren anderen wertrelevanten Hinsichten.
(a) Die Arten des Lebendigen, die wir kennen, sind bekanntlich das
Ergebnis einer Entwicklung, die im Wesentlichen auf dem Wechselspiel
von Mutation, Rekombination und adaptiver Selektion beruht und mit-
hin das Leiden und den frühzeitigen Tod vergleichsweise weniger gut
angepasster Individuen und Arten voraussetzt.40 Die Evolution des Le-
bens käme daher wohl kaum über die ersten Stufen hinaus, wenn alle
diese Übel durch zeitweilige Suspension der an ihrer Entstehung betei
ligten Gesetze verhindert würden. Die mögliche Welt W* enthält des-
halb weniger Arten von Lebendigem als die wirkliche Welt W und
schließt insbesondere die einzige uns bekannte Art vernünftiger und
moralisch zurechnungsfähiger Lebewesen, den Menschen, aus.41
(b) Aber selbst wenn die mögliche Welt W* Menschen einschließen
würde, was nicht der Fall ist, wären diese nicht in der Lage, ihre Welt zu
erkennen und planvoll zu gestalten, und zwar aus folgendem Grund: Um
alle in der wirklichen Welt vorkommenden Übel durch Wunder zu ver-
hindern, müsste Gott die an ihrer Entstehung beteiligten Gesetze so oft
außer Kraft setzen, dass von einem gesetzlich geregelten Zusammenhang
zwischen Ereignissen nicht mehr die Rede sein könnte. Nun ist die Welt
für erkenntnisfähige Subjekte aber nur dann erkennbar, wenn ihr Ereig-
nisverlauf durch allgemeine Regeln bestimmt ist. Die Erkennbarkeit der
Welt ist wiederum eine notwendige Voraussetzung für ein zweckratio-
nales Handeln dieser Subjekte. In einer theoretisch völlig undurchsich-
40
Vgl. H. Mohr, »Leiden und Sterben als Faktoren der Evolution«, in: W. Böhme
(Hg.), Das Übel in der Evolution und die Güte Gottes, Karlsruhe 1983, 9–25.
41
Zu diesem Ergebnis kommt auch J. Hick, Evil and the God of Love, 306.
138 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
tigen Welt, in der sich ständig Wunder ereignen, sind daher zweckratio-
nale, mithin auch moralisch qualifizierbare Handlungen unmöglich,
weil die Akteure nicht wissen, welche Konsequenzen ihre Handlungen
haben und welche Handlungen nötig sind, um einen vorgestellten Zweck
zu verwirklichen. Zu Recht bemerkt F. R. Tennant :
»It cannot be too strongly insisted that a world which is to be a moral order must
be a physical order characterised by law or regularity. [. . .] The theist is only
concerned to invoke the fact that law-abidingness [. . .] is an essential condition
of the world being a theatre of moral life. Without such regularity in physical
phenomena there could be no probability to guide us: no prediction, no pru-
dence, no accumulation of ordered experience, no pursuit of premeditated ends,
no formation of habit, no possibility of character or of culture. Our intellectual
faculties could not have developed. [. . .] And without rationality, morality is im-
possible [. . .].«42
42
F. R. Tennant, Philosophical Theology, Vol. II: The World, the Soul, and God,
Cambridge 1937, 199 f. Dieser Argumentation haben sich u. a. B. R. Reichenbach,
»Theodicy for Natural Evils«, in: ders., Evil and a Good God, New York 3. Aufl.
1995, 87–120, hier: 103–107, D. Basinger, Divine Power in Process Theism: A Philo
sophical Critique, Albany 1988, 64, und A. Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltig
keit der Theodizee-Argumente, Freiburg/Basel/Wien 1997, 335 f., angeschlossen.
43
So argumentieren z. B. Theismuskritiker wie E. H. Madden/P. H. Hare, Evil
and the Concept of God, Springfield/Illinois 1968, 55, und G. Streminger, Gottes
Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem, Tübingen 1992, 70 f.
§ 19 Die Unlösbarkeit des empirischen Theodizeeproblems 139
richtung der Dinge, wo die Ursachen verborgen und veränderlich und zusam-
mengesetzt sind. Ein paar kleine Striche am Gehirn des Caligula in seiner Ju-
gend hätten aus ihm vielleicht einen Trajan gemacht; eine Welle, ein wenig höher
als die übrigen, hätte Cäsar und sein Glück auf dem Grunde des Meeres begra-
ben und damit einem erheblichen Teile der Menschheit die Freiheit zurückgeben
können.«44
44
Hume, Dialogues concerning natural religion, 98 (Übersetzung nach Hume,
Dialoge über natürliche Religion, 96).
45
Vgl. z. B. die entscheidende Bemerkung bei Perkins, Jr., »An Atheistic Argu-
ment from the Improvability of the Universe«, 243: »The universes A and P, then,
contain exactly the same events, except that P, if actualized, would contain an event
E’ k [. . .] which would be slightly less painful than the corresponding event Ek in A.
Otherwise the histories of A and P do not differ.« A steht bei Perkins für die wirk-
liche Welt und P soll für eine mögliche Welt stehen, die besser ist als A und die ein
theistischer Gott anstelle von A aktualisieren könnte. Da P aber aus dem im Haupt-
text genannten Grund keine mögliche Welt ist, misslingt Perkins’ Theismuskritik.
46
Vgl. Leibniz, Theodizee, §§ 9 und 249. Übrigens hat Leibniz in den §§ 211–214
anhand eines mathematischen Beispiels gezeigt, dass der Teil eines optimalen Ganzen
nicht notwendigerweise der, für sich betrachtet, optimale Teil ist. Dieser Grundsatz
gilt nur bei einem gleichförmigen Ganzen und ist folglich auf das ungleichförmige
Weltganze nicht anwendbar. Im Fall der Welt ist deshalb nicht auszuschließen, dass
Teilverbesserungen zu Verschlechterungen des Ganzen führen.
140 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
47
Diese prinzipielle Unvollständigkeit folgt aus den in der Quantenmechanik
entdeckten unüberschreitbaren Grenzen unserer möglichen Annäherung an physi-
kalische Phänomene im Messprozess.
§ 19 Die Unlösbarkeit des empirischen Theodizeeproblems 141
Ermüdung, könnten sie statt Schmerz eine Verminderung der Lust fühlen, wo-
durch sie bewogen würden, den Gegenstand zu suchen, der für ihre Erhaltung
notwendig ist. Der Mensch verfolgt Lust ebenso eifrig, wie er Schmerz vermei-
det, wenigstens könnte er so beschaffen sein. Es scheint daher völlig möglich,
das Geschäft des Lebens ohne Schmerz in Gang zu halten.«48
Anderen Vorschlägen zufolge würde die Welt besser, wenn an die Stelle
faktischer Naturgesetze solche träten, die den Prozentsatz ungünstiger
und deshalb leiderzeugender Mutationen verringern49 oder Umweltwid-
rigkeiten wie Erdbeben, Wirbelstürme, Flutkatastrophen etc. ausschlie-
ßen würden.50 Schon Alfons X., der Weise, König von Kastilien und
León (1252–1282), soll angesichts der Umständlichkeiten des ptolemä-
ischen Weltsystems bemerkt haben, Gott hätte ihn bei der Schöpfung zu
Rate ziehen sollen, um etwas Besseres zustande zu bringen.51
Der Plausibilitätsanspruch der Annahme (12) stützt sich wie schon
derjenige der Annahme (9) auf folgende Voraussetzung: Die wirkliche
Welt W und die mögliche Welt W*, die aktuell wäre, wenn gewisse in W
eingeschlossene Übel durch Substitution von Gesetzen ausgeschlossen
würden, sind – abgesehen von der Präsenz dieser Übel in W und ihrer
Absenz in W* – identisch oder weitgehend ähnlich. Diese Vorausset-
zung, durch Substitution von Gesetzen sei eine regionale Verbesserung
der Welt möglich, ohne ihren gesamten Ereignisverlauf und ihre Ge-
samtstruktur zu verändern, trifft aus demselben Grund nicht zu, der
bereits im letzten Abschnitt ausschlaggebend war: Wenn an die Stelle
48
Hume, Dialogues concerning natural religion, 97 (Übersetzung nach Hume,
Dialoge über natürliche Religion, 94 f.). Dieselbe Überlegung bildet den Kern der
von P. Draper, »Pain and Pleasure: An Evidential Problem for Theists«, Nous 23
(1989), 331–350, entwickelten Theismuskritik. Hick, Evil and the God of Love,
303 f., macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Humes Vorschlag keineswegs zur
Abschaffung von Unlust und Schmerz, sondern lediglich zu einer zwar kontrast
ärmeren, aber wiederum angenehme und unangenehme Empfindungen umfassenden
Empfindungsskala führen würde. Denn ob eine Empfindung angenehm oder unan-
genehm ist und in welchem Grad sie es ist, ergibt sich erst aus ihrer Beziehung zu
anderen, vergleichsweise angenehmeren und unangenehmeren Empfindungen.
49
Vgl. Madden/Hare, Evil and the Concept of God, 55 f.
50
Vgl. G. S. Kane, »The Failure of Soul-Making Theodicy«, International Journal
for Philosophy of Religion 6 (1975), 1–22, hier: 6 f. Für die genannten und weitere
Optimierungsvorschläge vgl. außerdem z. B. Hume, Dialogues concerning natural
religion, 98–102; H. J. McCloskey, God and Evil, The Hague 1974, 93–95; Q. Smith,
»An Atheological Argument from Evil Natural Laws«, International Journal for
Philosophy of Religion 29 (1991), 159–174.
51
Diese Bemerkung Alfons’ wird kolportiert und kommentiert bei Leibniz, Theo
dizee, § 193, und Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, 397.
142 Fünftes Kapitel: Das Theodizeeproblem
52
Natürlich würde ein vergleichendes Werturteil, das sich ausschließlich am Kri-
§ 19 Die Unlösbarkeit des empirischen Theodizeeproblems 143
»Der es erlebt, wird es nicht vergessen, was ihm der alte Mann auf dem Kran-
kenlager anvertraute. Er werde sich im letzten Gericht nicht nur fragen lassen,
sondern auch selber fragen; er hoffe in Zuversicht, daß ihm dann der Engel die
wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die
Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine
›Theodizee‹ und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können:
Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschul-
digen, die Schuld?«55
Schlussbemerkung: Wie jede Theodizee wird auch die von mir vorge-
schlagene No-Better-World-Defense mit einem Vorwurf rechnen müs-
sen, der zuerst von Schopenhauer, später vor allem von der Kritischen
Theorie erhoben wurde und der inzwischen zum festen Bestandteil der
deutschsprachigen Theodizeedebatte gehört. Theodizeen gelten »nicht
bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Den-
kungsart [. . .], als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der
Menschheit.«56 Sie gelten als zweifelhaftes Unternehmen, sich hinter
dem Rücken der Leidenden mit Gott zu versöhnen. Solche moralischen
Verwerfungen wären dann und nur dann berechtigt, wenn zuvor auf
theoretischer Ebene gezeigt würde, dass es unter den faktischen Übeln
solche gibt, die ein theistischer Gott verhindert hätte und die deshalb
gegen dessen Existenz sprechen. Da in der deutschsprachigen Gegen-
wartsdebatte aber kaum nennenswerte Anstrengungen unternommen
werden, diesen Nachweis zu erbringen, liegen den mit großer Selbstver-
ständlichkeit erhobenen Verharmlosungsvorwürfen offenbar theorieex-
terne Motive zugrunde. Es gehört hierzulande zum guten Ton, Theorien
des Bösen, die dessen Sinnlosigkeit nicht für ausgemacht halten, von
vornherein als sinnlose und böse Theorien zu diskreditieren. Einer the-
oriescheuen moralischen Überheblichkeit dieser Art ist mit Argumenten
nicht beizukommen. Daher bleibt nur zu hoffen, dass sie sich auf Dauer
von selbst erledigt.
55
E. Biser, Interpretation und Veränderung. Werk und Wirkung Romano Guar
dinis, Paderborn/München/Wien/Zürich 1979, 132 f.
56
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 4. Buch, § 59 (Werke II,
407 f.).
Dritter Teil
Das Leib-Seele-Problem
In aller Regel gehen wir davon aus, dass unsere Wünsche, Überzeu-
gungen und Empfindungen zu den Gründen für unser Verhalten und
148 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
1
Vgl. K. R. Popper/J. C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, München/Zürich 1982,
102–105.
2
F. Jackson, »Epiphenomenal Qualia«, Philosophical Quarterly 32 (1982), 127–
136, der einen epiphänomenalistischen Eigenschaftsdualismus verteidigt, hat er
widert (vgl. ebd., 133 f.), die darwinsche Theorie besage lediglich, dass evolutionär
herausgebildete Eigenschaften entweder selbst überlebensdienlich oder Begleiter-
scheinungen von überlebensdienlichen Eigenschaften seien. Auf gewisse mentale
Eigenschaften aber könne Letzteres zutreffen. Diese Replik ist m. E. wenig plausibel,
weil sie in folgendes Dilemma führt: (a) Entweder kann der Epiphänomenalist die
naheliegende Annahme vertreten, mentale Eigenschaften seien kontingente Begleit-
erscheinungen von überlebensdienlichen physischen Eigenschaften. In diesem Fall
bliebe die Entwicklung des Bewusstseins evolutionstheoretisch ein Rätsel. Denn
dann wäre die Evolutionstheorie prinzipiell außerstande zu erklären, warum phy-
sische Eigenschaften mit ihren mentalen Begleiterscheinungen selektiert wurden
statt ohne sie. (b) Oder der Epiphänomenalist kann annehmen, mentale Eigen-
schaften seien notwendige Begleiterscheinungen von überlebensdienlichen phy-
sischen Eigenschaften. In diesem Fall würde er eine Ad-hoc-Annahme bilden, die
allein dazu dient, eine evolutionstheoretische Erklärung des Bewusstseins nicht aus-
zuschließen, für die aber keine weiteren, unabhängigen Gründe sprechen.
3
Vgl. z. B. G. Vollmer, Was können wir wissen?, Bd. 2 : Die Erkenntnis der Natur.
§ 2 0 Kritik des Dualismus 149
Beiträge zur modernen Naturphilosophie, Stuttgart 2. Aufl. 1988, 87; D. C. Dennett,
Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg 1994, 55; A. Beckermann,
Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin/New York 2. Aufl.
2001, 51 f. Zu Recht haben dagegen E. Averill/B. F. Keating, »Does Interactionism
Violate a Law of Classical Physics?«, Mind 90 (1981), 102–107, darauf hingewiesen,
dass der Interaktionismus den Erhaltungsgesetzen der Physik keineswegs wider-
spricht.
4
Zu gegenteiligen Behauptungen vgl. z. B. D. M. MacKay, »Selves and Brains«,
Neuroscience 3 (1978), 599–606.
5
Durch ihren rein epistemischen Charakter unterscheiden sich diese beiden
Prinzipien von denen der kausalen Geschlossenheit des Physischen und der Wirk-
samkeit des Mentalen auf das Physische. Der Grund für die vorsichtigere, episte-
mische Fassung der Prinzipien wird unten in § 22 deutlich werden.
150 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
nach Kripke deshalb und allein deshalb, weil wir Wärme durch ihre zu-
fällige Eigenschaft herausgreifen, als Wärme empfunden zu werden.
Ganz anders verhält es sich beim Schmerz. Es ist keine zufällige Eigen-
schaft meines Schmerzes als Schmerz empfunden zu werden. Das, was
als Schmerz empfunden wird, ist vielmehr auch Schmerz. Während man
sich die Nichtidentität von Wärme und mittlerer kinetischer Energie von
Molekülen nicht klar und deutlich vorstellen kann, kann man sich nach
Kripke deshalb sehr wohl einen Gehirnzustand vom Typ N ohne
Schmerz und Schmerz ohne einen Gehirnzustand vom Typ N klar und
deutlich vorstellen. Denn demjenigen, der sich das vorstellt, indem er
sich beispielsweise ein fremdes Lebewesen denkt, das Schmerzen emp-
findet, ohne Gehirnzustände vom Typ N zu besitzen, kann nicht erwi-
dert werden, er stelle sich in Wahrheit nur eine Situation vor, in der
Schmerz zwar empfunden werde, in der aber gar kein Schmerz vorliege.
Da diese Täuschung ausgeschlossen ist und da man sich nach Kripke nur
auf diese Weise über die Vorstellbarkeit einer Nichtidentität täuschen
kann, ist klar und deutlich vorstellbar, dass Schmerz nicht mit einem
Gehirnzustand vom Typ N identisch ist. Soweit der zweite, meines Er-
achtens problematische Schritt von Kripkes Argument.
(c) Nun ist dasjenige, was klar und deutlich vorgestellt werden kann,
auch objektiv möglich. Daher gibt es eine mögliche Welt, in der Schmerz
nicht mit einem Gehirnzustand vom Typ N identisch ist. Folglich muss
die Annahme, Schmerz sei ein Gehirnzustand vom Typ N, falsch sein.
Denn wäre sie wahr, dann wäre sie notwendigerweise, d. h. in allen mög-
lichen Welten wahr.
Es hat einige Versuche gegeben, dieses Argument und die entspre-
chenden Argumente von Descartes und Swinburne zu widerlegen. So
wurde beispielsweise gegen den dritten Schritt von Kripkes Argument
eingewandt, etwas könne auch dann objektiv unmöglich sein, wenn es
klar und deutlich vorgestellt werden kann.7 Diesem Einwand möchte ich
mich schon deshalb nicht anschließen, weil er mit hohen, vielleicht zu
7
Vgl. J. Levine, »On Leaving Out What It’s Like«, in: M. Davies/G. W. Hum-
phreys (eds.), Consciousness. Psychological and Philosophical Essays, Oxford, Cam
bridge/Massachusetts 1993, 121–136, hier: 122–124. Eine andere, auf Überlegungen
von Th. Nagel zurückgehende Kritik an Kripke findet sich bei Ch. S. Hill, »Imagina-
bility, Conceivability, Possibility and the Mind-Body Problem«, Philosophical Stu
dies 87 (1997), 61–85 (dt. Übersetzung: Ch. S. Hill, »Vorstellbarkeit, Denkbarkeit,
Möglichkeit und das Leib-Seele Problem«, in: M. Pauen/A. Stephan [Hgg.], Phäno
menales Bewusstsein – Rückkehr zur Identitätstheorie?, Paderborn 2002, 184–207).
152 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
hohen Kosten verbunden ist. Kripkes Fehler ist vielmehr in seinem zwei-
ten Gedankenschritt zu suchen, und zwar in seiner Annahme, es gebe
nur einen möglichen Grund, sich über die Vorstellbarkeit einer Nicht
identität zu täuschen. Kommen wir noch einmal auf sein Wärmebeispiel
zurück. Über lange Zeit hielt man Wärme für eine eigene Substanz,
nämlich für Wärmestoff, und glaubte daher, sich vorstellen zu können,
sie sei nicht mit der Bewegung von Teilchen eines beliebigen Stoffs iden-
tisch. Dieser Irrtum über die Vorstellbarkeit der Nichtidentität von
Wärme und Teilchenbewegung beruhte offenkundig nicht darauf, dass
man Wärme mit der Empfindung von Wärme verwechselte. Für diesen
damaligen Irrtum war vielmehr eine falsche Annahme über die physika-
lische Natur der Wärme verantwortlich. Die Täuschung, man könne sich
die Nichtidentität von Wärme und der Bewegung von Teilchen vorstel-
len, kann somit nicht nur einen, sondern mindestens zwei Gründe ha-
ben, nämlich entweder das irrtümliche Herausgreifen der Sache durch
ihre subjektive Empfindung oder ein unzulänglicher Begriff der Sache
selbst. Nun behauptet Kripke zu Recht, dass man sich über die Vorstell-
barkeit der Nichtidentität von Schmerz mit einem Gehirnzustand vom
Typ N nicht auf die erste Weise täuschen kann. Denn das, was als
Schmerz empfunden wird, ist wie gesagt auch Schmerz. Aber womög-
lich hat man einen unzulänglichen Begriff von der Natur des Schmerzes,
wenn man glaubt, sich Schmerz ohne einen Gehirnzustand vom Typ N
vorstellen zu können. Solange aber diese Irrtumsmöglichkeit nicht aus-
geschlossen ist, ist nicht gewährleistet, dass man über eine klare und
deutliche Vorstellung der Nichtidentität des Schmerzes und eines be-
stimmten Gehirnzustandes verfügt. Folglich ist Kripkes modallogisches
Argument für den Dualismus selbst dann nicht stichhaltig, wenn aus der
klaren und deutlichen Vorstellung von etwas seine objektive Möglichkeit
folgt. Derselbe Einwand lässt sich auch gegen Descartes ins Feld führen.
Denn sein Argument beruht auf der zweifelhaften Voraussetzung, dass
ich klar und deutlich einsehe, allein mit der Eigenschaft des Denkens
ohne alle körperlichen Eigenschaften existieren zu können.8
8
Nach Peter Strawson ist besagte Voraussetzung sogar mehr als zweifelhaft, weil
einem Subjekt nur dann Bewusstseinszustände zugeschrieben werden können, wenn
ihm auch körperliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Zu diesem Ergebnis ge-
langt Strawson durch eine Überlegung, die er wie folgt zusammenfasst: »Es könnte
nicht die Rede davon sein, die eigenen Bewußtseinszustände oder Erfahrungen ir-
gendeinem Subjekt zuzuschreiben, wenn man nicht bereit und in der Lage wäre,
Bewußtseinszustände oder Erfahrungen anderen Individuen zuzuschreiben, die
§ 21 Kritik des Physikalismus 153
demselben logischen Typ angehören wie das Subjekt, dem man die eigenen Bewußt-
seinszustände zuschreibt. Voraussetzung dafür, daß man sich selbst als Subjekt der-
artiger Prädikate betrachtet, ist, daß man auch andere als Subjekte derartiger Prädi-
kate betrachtet. Dies wiederum ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß man
imstande ist, verschiedene Subjekte für derartige Prädikate, d. h. verschiedene Indi-
viduen des besagten Typs voneinander zu unterscheiden und zu identifizieren. Dies
wiederum hat zur Voraussetzung, daß die besagten Individuen, einschließlich einem
selbst, einem ganz bestimmten einzigartigen Typ zugehören: der Art nämlich, daß
man jedem Individuum dieses Typs sowohl Bewußtseinszustände als auch körper-
liche Eigenschaften zuschreibt oder zuschreiben kann.« (P. F. Strawson, Einzelding
und logisches Subjekt [Individuals]. Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, aus
dem Englischen übersetzt von F. Scholz, Stuttgart 2003, 133 f.).
9
Vgl. U. T. Place, »Is Consciousness a Brain Process?«, The British Journal of
Psychology 47 (1956), 44–50 (dt. Übersetzung: U. T. Place, »Ist Bewusstsein ein Ge-
hirnprozess?«, in: M. Pauen/A. Stephan [Hgg.], Phänomenales Bewusstsein – Rück
kehr zur Identitätstheorie?, Paderborn 2002, 73–82); J. J. C. Smart, »Sensations and
Brain Processes«, The Philosophical Review 68 (1959), 141–156.
154 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
Zuständen eines bestimmten Typs identisch sind, nicht bei anderen Le-
bewesen durch andere physische Zustände realisiert werden? Um dieses
Problem zu umgehen, wurde eine schwächere Version der Identitäts
theorie entwickelt. Sie lässt offen, ob Typen mentaler und physischer
Zustände miteinander identisch sind, und behauptet lediglich, dass jeder
bestimmte mentale Zustand von einem bestimmten physischen Zustand
realisiert wird (Tokenidentitätstheorie).10 Diese schwächere Version
wird vor allem im Funktionalismus vertreten, der mentale Zustands
typen nicht mit physischen, sondern mit abstrakteren, funktionalen Zu-
standstypen identifiziert und annimmt, ein funktionaler Zustandstyp
könne durch verschiedene Arten von physischen Zuständen realisiert
werden. Als Realisierung von Schmerzempfindungen können demnach
alle Arten von physischen Zuständen gelten, die gewisse Funktionen er-
füllen, indem sie zum Beispiel durch Verletzungen verursacht werden,
Vermeidungsbestrebungen in Gang setzen und Abneigungen gegen ge-
wisse Umstände hervorrufen. Wenn aber Typen von mentalen Zustän-
den mit funktionalen Zustandstypen identisch sind, die unterschied-
liche physische Realisierungen erlauben, dann könnten wir auch, wie
Hilary Putnam schreibt, »aus Schweizer Käse bestehen und es würde
uns nichts ausmachen.«11
Wie ist diese psychophysische und psychofunktionale Identitätstheo-
rie einzuschätzen? Oben wurde gesagt, eine überzeugende Lösung des
Leib-Seele-Problems müsse dem Prinzip der Erklärungsgeschlossenheit
der physischen Welt und dem Prinzip der Erklärungsrelevanz des Men-
talen Rechnung tragen, ohne dadurch andere unüberwindliche Schwie-
rigkeiten zu schaffen. Auf den ersten Blick scheint die physikalistische
Identitätstheorie diese Anforderungen zu erfüllen. Trivialerweise wird
sie wie jede andere Form des Physikalismus dem ersten Prinzip gerecht.
Denn wenn es keine anderen Ereignisse und Zustände gibt als physische,
dann sind alle physischen Ereignisse und Zustände, falls sie überhaupt
erklärbar sind, durch andere physische Ereignisse und Zustände erklär-
10
Ned Block hat indes gezeigt, dass sich das Problem der multiplen Realisierung
mutatis mutandis auch bei einer Tokenidentitätstheorie stellt, vgl. N. Block, »Trou-
bles with Functionalism«, in: C. W. Savage (ed.), Perception and Cognition. Issues in
the Foundations of Psychology (Minnesota Studies in the Philosophy of Science,
Vol. 9), Minneapolis 1978, 261–325.
11
H. Putnam, »Philosophy and our mental life«, in: ders., Mind, Language, and
Reality (Philosophical Papers, Vol. 2), Cambridge 1975, 291–303, hier: 291 (Überset-
zung von F. H.).
§ 21 Kritik des Physikalismus 155
12
Vgl. z. B. Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 118–120; Th. Zoglauer, Geist
und Gehirn. Das Leib-Seele-Problem in der aktuellen Diskussion, Göttingen 1998,
198–200.
13
Freilich wird sie diesem Prinzip nur in einem eingeschränkten Sinne gerecht,
wie ich unten in § 22 zeigen werde.
156 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
Die von Place geforderte Erklärung steht indes bis heute aus, und man-
ches spricht dafür, sie sei sogar prinzipiell nicht durchführbar. »Man
muß [. . .] notwendig zugestehen«, bemerkt bereits Leibniz in seiner Mo
nadologie, »daß die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mecha
nischen Gründen, d. h. aus Figuren und Bewegungen, nicht erklärbar
ist.«16 Um sein bekanntes Gedankenexperiment zu variieren, stelle man
sich ein tätiges menschliches Gehirn derart vergrößert vor, dass man
hineintreten und sich darin umsehen könnte. Bei der Besichtigung seines
Inneren würde man zwar viele in Kausalbeziehungen stehende physische
Dinge wie Neuronen, Nervenzellen und Synapsen zu Gesicht bekom-
men, nach Leibniz aber nichts, woraus eine Überzeugung oder eine
Empfindung zu erklären wäre. Der Versuch, Mentales auf Physisches
zurückzuführen, mit dessen Gelingen die physikalistische Identitätsthe-
orie steht und fällt, ist mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert.
14
So zu Recht Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 133; vgl. auch M. Carri-
er/J. Mittelstrass, Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem und die Philo
sophie der Psychologie, Berlin/New York 1989, 56 f.
15
Place, »Ist Bewusstsein ein Gehirnprozess?«, 79.
16
Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison/Vernunftprin
zipien der Natur und der Gnade – Monadologie, 33 (Monadologie, § 17).
§ 21 Kritik des Physikalismus 157
Eine der Schwierigkeiten, die durch die Arbeiten von Thomas Nagel,
Joseph Levine und David J. Chalmers ins Zentrum der Aufmerksamkeit
gerückt ist, besteht darin, den subjektiven oder qualitativen Charakter,
der mit mentalen Zuständen wie Farbempfindungen oder Schmerzen
verknüpft ist, die Tatsache nämlich, dass es so und so ist, sich in derar-
tigen Zuständen zu befinden, naturwissenschaftlich zu erklären.17
Levine hat gezeigt, dass sich psychophysische Identitätsbehauptungen
wie »Schmerz ist mit der Reizung von C-Fasern identisch« von Identi-
tätsaussagen in der Physik und Chemie, beispielsweise von der Aussage
»Wasser ist identisch mit H2O«, grundsätzlich unterscheiden. Denn
während chemische Erkenntnisse über H2O sämtliche Eigenschaften
von Wasser verständlich machen können, ist die Neurobiologie zu einer
vollständigen Erklärung mentaler Zustände prinzipiell nicht in der Lage.
Der Grund für diesen Unterschied ist folgender: Unser Alltagsbegriff
von Wasser erschöpft sich im Wissen um dessen typische kausale Eigen-
schaften: Wasser ist der Stoff, der bei Raumtemperatur flüssig ist, bei 100
°C verdampft, bei 0 °C gefriert usf. Nun kann die Chemie zeigen, dass
H2O genau diejenigen kausalen Rollen spielt, die unseren Alltagsbegriff
von Wasser ausmachen. Daher ist man berechtigt, Wasser mit H2O zu
identifizieren. Um Identitätsaussagen wie die angeführte zu rechtferti-
gen, ist also eine erklärende Reduktion notwendig, die im ersten Schritt
das zu reduzierende Phänomen durch sein typisches Verhalten bestimmt
und im zweiten Schritt den zugrunde liegenden Mechanismus namhaft
macht, der besagtes Verhalten realisiert.18 Diese Form der Reduktion, die
als einzige das zu Reduzierende aus einem zugrunde Liegenden erklärt
und daher zu Identitätsaussagen berechtigt, ist nun bei mentalen Zustän-
den wie Farbempfindungen und Schmerzen zum Scheitern verurteilt.
Denn unser Begriff von solchen mentalen Zuständen umfasst klarerwei-
se mehr als die kausalen Rollen, die sie bei der Vermittlung zwischen
17
Vgl. Th. Nagel, »What is it like to be a bat?«, Philosophical Review 83 (1974),
435–450 (dt. Übersetzung: Th. Nagel, »Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?«, in: P.
Bieri [Hg.], Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 2. Aufl. 1993, 261–275);
J. Levine, »Materialism and Qualia: The Explanatory Gap«, Pacific Philosophical
Quarterly 64 (1983), 354–361 (dt. Übersetzung: J. Levine, »Materialismus und Qua-
lia. Die explanatorische Lücke«, in: M. Pauen/A. Stephan [Hgg.], Phänomenales
Bewusstsein – Rückkehr zur Identitätstheorie?, Paderborn 2002, 91–102); Levine,
»On Leaving Out What It’s Like«; D. J. Chalmers, »Das Rätsel des bewußten Erle-
bens«, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1996, 40–47; ders., The Conscious Mind.
In Search of a Fundamental Theory, New York/Oxford 1996.
18
Vgl. Levine, »On Leaving Out What It’s Like«, 132.
158 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
19
Ebd., 134 (Übersetzung F. H.).
20
Dieser Weg, die Erklärungslücke auf Dauer zu überwinden, schwebt M. Pauen,
Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a. M.
3. Aufl. 2002, 199–210, vor. Vgl. auch ders., »Gründe, Ursachen und das phänome-
nale Bewusstsein. Unlösbare Probleme für den Physikalismus?«, in: F. Hermanni/
Th. Buchheim (Hgg.), Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-
naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006,
139–161. Ähnliche frühere Vorschläge hat Karl Popper nicht zu Unrecht als »Schuld-
scheinmaterialismus« bezeichnet (vgl. Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn,
130–132).
§ 22 Ein heterodoxer Vorschlag 159
21
Vgl. z. B. P. M. Churchland, A Neurocomputational Perspective: The Nature of
Mind and the Structure of Science, Cambridge/Massachusetts 1989; ders., The Engi
ne of Reason, the Seat of the Soul. A Philosophical Journey into the Brain, Cam
bridge/Massachusetts 1995; P. S. Churchland, Neurophilosophy: Toward a Unified
Science of the Mind-Brain, Cambridge/Massachusetts 1986.
22
Vgl. F. Jackson, »Epiphenomenal Qualia«, und ders., »What Mary didn’t
know«, The Journal of Philosophy 83 (1986), 291–295.
160 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
tracht. Das zweite Prinzip besagt, dass mentale Zustände wie Überzeu-
gungen, Empfindungen und Willensakte Gründe für unser unabsicht-
liches Verhalten und für unsere Handlungen sein können. Nach dem
dritten Prinzip schließlich ist es nicht möglich, mentale Zustände voll-
ständig durch physische zu erklären. Nun werden aber weder die Versi-
onen des Dualismus noch die des Physikalismus, welche die gleichsam
orthodoxen Positionen in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes bil-
den, diesen drei Prinzipien gleichermaßen gerecht. Der Interaktionismus
verletzt das Prinzip der Erklärungsgeschlossenheit der physischen Welt,
der Epiphänomenalismus dasjenige der Erklärungsrelevanz mentaler
Zustände und die physikalistische Identitätstheorie ist mit dem Prinzip
der Irreduzibilität mentaler Zustände auf physische unvereinbar. Folg-
lich wird man sich nach einer heterodoxen Lösung für das Leib-Seele-
Problem umsehen müssen, die allen drei Prinzipien Rechnung trägt.
Unter diesen Umständen läge es nahe, jene klassischen Konzeptionen
der abendländischen Philosophie, die sich sowohl vom Dualismus wie
vom Physikalismus unterscheiden, erneut in Augenschein zu nehmen.
Dabei kämen innerhalb der neuzeitlichen Philosophie insbesondere zwei
Positionen in Betracht. Zum einen der von Leibniz entwickelte objektive
Idealismus oder Mentalismus, den Kant in seiner praktischen Philoso-
phie modifiziert und den eine Reihe von Nachkantianern, darunter
Schopenhauer, vertreten. Danach ist die naturwissenschaftlich beschreib
bare Welt der Atome, Organismen und Gehirne die äußere Erscheinung
einer zugrunde liegenden mentalen Wirklichkeit. Lohnender Gegen-
stand einer kritischen Rückbesinnung wäre zum anderen die von Spino-
za, später von Schelling und im 20. Jahrhundert von Bertrand Russell
vorgeschlagene Identitätstheorie, die im Unterschied zur neueren physi-
kalistischen ontologisch neutral ist. Sie versteht das Physische und das
Mentale als verschiedene Attribute, Potenzen oder theoretische Kons-
truktionen ein und derselben fundamentalen Wirklichkeit. So reizvoll es
wäre, diesen beiden neuzeitlichen Konzeptionen im Einzelnen nachzu-
gehen, muss darauf im gegenwärtigen Zusammenhang verzichtet wer-
den. Ohne die theoriegeschichtlichen Hintergründe näher darzulegen,
werde ich stattdessen gleichsam auf eigene Faust eine Lösung für das
Leib-Seele-Problem vorschlagen. Dieser Vorschlag umfasst zwei Teile,
nämlich erstens eine nicht-physikalistische Identitätstheorie und zwei-
tens einen epistemischen Parallelismus. Was ist damit gemeint?
(1) Im Gegensatz zum Dualismus geht die nicht-physikalistische Iden-
titätstheorie davon aus, dass mentale und physische Zustände eins sind.
§ 22 Ein heterodoxer Vorschlag 161
Näherhin behauptet sie, jeder konkrete mentale Zustand sei mit einem
konkreten physischen Zustand identisch, lässt aber dahingestellt, ob
mentale und physische Zustandstypen zu identifizieren sind. Denn wo-
möglich können sich verschiedene Lebewesen in einem mentalen Zu-
stand desselben Typs befinden, z. B. in einem Schmerzzustand, aber in
physischen Zuständen unterschiedlichen Typs. Insoweit stimmt die
nicht-physikalistische Identitätstheorie, die ich vorschlage, mit der oben
dargelegten schwächeren Version der physikalistischen (Tokenidenti-
tätstheorie) noch gänzlich überein.
Der Unterschied ergibt sich erst durch eine andere Deutung der Iden-
titätsbeziehung. Diese Differenz lässt sich an den beiden Identitätsaussa-
gen »Wasser ist H2O« und »Der Verfasser des Buches ›Die soziale Frage
des 19. Jahrhunderts‹ ist der größte Fan von Schalke 04« illustrieren, in
denen das Wort »ist« offenbar unterschiedliche Bedeutungen hat. In der
ersten Aussage meint »ist« augenscheinlich »ist nichts anderes als«. Da-
her kann der Satz »Wasser ist H2O« sinngemäß durch den Ausdruck
»und sonst nichts« ergänzt werden. Im zweiten Satz dagegen wäre diese
Ergänzung gleichermaßen unsinnig wie boshaft. Denn gemeint ist sicher
nicht, der Autor des besagten Buches, nämlich der Bochumer Sozialethi-
ker Günter Brakelmann, sei nichts anderes als der größte Anhänger des
traditionsreichen Gelsenkirchener Fußballclubs. Die zweite Identitäts-
aussage besagt vielmehr: Ein und dieselbe Person, eben Günter Brakel-
mann, ist das eine und, wenngleich in anderer Hinsicht, auch das andere.
Nun nehmen die Vertreter der physikalistischen Identitätstheorie an,
mentale Zustände seien mit physischen oder neuronalen Zuständen in
genau dem Sinne identisch, wie Wasser mit H2O und Blitze mit elek-
trischen Entladungen in der Atmosphäre identisch sind. Das Wort »ist«,
sofern es in psychophysischen Identitätsaussagen vorkommt, hat für sie
also die Bedeutung »ist nichts anderes als« oder »ist sonst nichts als«.23
Demgegenüber verstehe ich dieses »ist« im zweiten, nicht-reduktionisti-
schen Sinne, sodass psychophysische Identitätsaussagen die Bedeutung
haben: Ein und dasselbe, was dieser konkrete mentale Zustand ist, ist aus
anderer Perspektive auch dieser konkrete physische Zustand.
In der Einleitung seiner Freiheitsschrift beklagt Schelling, Identität
werde häufig als »Einerleiheit« oder »unvermittelter Zusammenhang«
missverstanden.24 Dieses Missverständnis liege auch dem französischen
Entsprechend schlage ich vor, die Identität zwischen Leib und Seele und
zwischen physischen und mentalen Zuständen in dem Sinne zu verste-
hen, dass dasselbe, welches das Wesen des einen ist, auch das Wesen des
anderen ausmacht. Dasjenige, worin beide identisch sind, ist demnach
ein ihnen zugrunde liegendes Drittes, das von den beiden identifizierten
Relaten zu unterscheiden und nicht wie in der physikalistischen Identi-
tätstheorie mit einem der Relata, nämlich dem Physischen, schlechthin
gleichzusetzen ist.
In struktureller Hinsicht ähnelt dieser Vorschlag dem von David J.
Chalmers. Nach Chalmers ist bewusstes Erleben (conscious experience)
ein fundamentaler Wesenszug der Welt, der sich mit Mitteln der Neuro-
wissenschaften nicht vollständig erklären lässt. Ein mentaler Zustand
und der ihm entsprechende Gehirnzustand seien vielmehr »als unter-
schiedliche Aspekte eines einzigen Informationszustands [zu] betrach-
ten, der gleichzeitig durch physische Verarbeitung und als bewußtes Er-
lebnis realisiert wird.«26 Zur Kennzeichnung des zugrunde liegenden
Dritten scheint mir freilich der einseitig objektivistische Begriff der In-
formation wenig geeignet. Denn dadurch verwandelt sich vermutlich die
ursprüngliche Erklärungslücke zwischen neurobiologischem und phä-
nomenalem Wissen zu einer zwischen Informationstheorie und Alltags-
psychologie. Warum sollte der subjektive Charakter mentaler Zustände
25
Ebd., 342. Der Satzanfang »Bei solchen Mißverständnissen« wurde um der
grammatischen Korrektheit willen durch »Solche Mißverständnisse« ersetzt. Dass
Schelling sich an dieser Stelle auf den französischen Materialismus, insbesondere auf
P. H. T. Baron d’Holbach, Système de la nature ou des loix du monde physique & du
monde moral, London 1770, bezieht, ist der Parallelstelle in den Stuttgarter Privat
vorlesungen, SW VII, 444 f., zu entnehmen.
26
Chalmers, »Das Rätsel des bewußten Erlebens«, 47.
§ 22 Ein heterodoxer Vorschlag 163
27
Dies wendet H. G. Frankfurt, »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in:
ders., Freiheit und Selbstbestimmung, hrsg. von M. Betzler/B. Guckes, Berlin 2001,
65–83, hier: 65, zu Recht gegen P. Strawsons Analyse des Personenbegriffs ein.
28
R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und
›jemand‹, Stuttgart 2. Aufl. 1998, 9.
29
Vgl. B. Russell, The Analysis of Mind (1921), London/New York 1971, 307.
164 Sechstes Kapitel: Das Leib-Seele-Problem
30
Anders müsste man womöglich urteilen, wenn die panpsychistische Behaup-
tung, jeder physische Vorgang besitze eine psychische oder protopsychische Innen-
seite, zuträfe. Zur Kritik dieser Position, die in jüngerer Zeit von dem Biologen
Bernhard Rensch vertreten wurde (vgl. B. Rensch, Biophilosophie, Stuttgart 1968;
ders., Das universale Weltbild, Frankfurt a. M. 1977; ders., Gesetzlichkeit, psycho
physischer Zusammenhang, Willensfreiheit und Ethik, Berlin 1979), siehe Popper/
Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 98–101, sowie V. Hösle, »Encephalius. Ein Ge-
spräch über das Leib-Seele-Problem«, in: F. Hermanni/Th. Buchheim (Hgg.), Das
Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher,
philosophischer und theologischer Sicht, München 2006, 107–136.
§ 22 Ein heterodoxer Vorschlag 165
31
Platon, Phaidon, 98e–99a; Übersetzung nach Platon, Phaidon oder von der
Unsterblichkeit der Seele, nach der Übersetzung von F. Schleiermacher, neu durch-
gesehen, Stuttgart 1973, 97 f.
32
Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1986, 902.
Siebtes Kapitel
Die uralte Befürchtung, die Seele werde beim Tode »von den Winden
verweht«3 , vermag uns Heutigen kein sokratischer Schwanengesang
leicht auszureden; zu gründlich ist die Rede von der Seele und ihrer Un-
sterblichkeit neuzeitlich in Misskredit geraten. Die neuere evangelische
Theologie mochte deshalb die biblische Auferstehungshoffnung durch
keine Unsterblichkeitslehre trüben. Der Abschied vom Platonismus
scheint allerdings in eine theologische Aporie zu führen. Denn ohne eine
unsterbliche Seele, die zwischen Tod und Auferweckung vermittelt,
scheint die personale Identität der künftig Auferweckten mit den gegen-
wärtig Lebenden undenkbar zu werden. Diese Identität ist aber, bei aller
erhofften Verwandlung des gegenwärtigen Lebens, für den Auferste-
hungsglauben konstitutiv. Im Choral »Jesus, meine Zuversicht« (1653)
heißt es daher: »Dieser meiner Augen Licht / wird ihn, meinen Heiland,
kennen, / ich, ich selbst, ein Fremder nicht, / werd in seiner Liebe bren-
nen; / nur die Schwachheit um und an / wird von mir sein abgetan.«4
1
Platon, Phaidon, 67d (Werke 3, 34); Übersetzung nach Platon, Werke. Überset
zung und Kommentar, I 4, Phaidon, Übersetzung und Kommentar von Th. Ebert,
Göttingen 2004, 25.
2
Ders., Phaidon, 70a (Werke 3, 44), Übersetzung nach: Platon, Werke. Überset
zung und Kommentar, I 4, Phaidon, 28.
3
Ders., Phaidon, 84b (Werke 3, 94), Übersetzung von F. H.
4
Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen
168 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
Wie Platon verstand auch die christliche Theologie den Tod als Tren-
nung einer immateriellen (Geist-)Seele vom Leib. Nach dem Tod exis-
tiert die Seele in einem unkörperlichen Zwischenzustand, bis Gott den
Körper am Jüngsten Tag auferweckt, ihn verherrlicht und mit der Seele
wiedervereinigt. Über mehr als eineinhalb Jahrtausende hat sich dieses
Standardmodell den unzähligen theologischen Kontroversen fast voll-
ständig entzogen. Nicht einmal die Reformation, Luther nicht und am
wenigsten Calvin, hat in dieser Hinsicht mit der altkirchlichen und mit-
telalterlichen Theologie gebrochen. Innerhalb des Standardmodells gab
es allerdings gewichtige theologische Differenzen, von denen zwei ge-
nannt werden sollen.
6
Konstitution »Benedictus Deus«, 29. Januar 1336, in: H. Denzinger, Enchiridi
on symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hrsg. von P.
Hünermann, Freiburg i.B./Basel/Rom/Wien 38. Aufl. 1999 (= DH), 1000 (S. 406).
7
Vgl. Althaus, Die letzten Dinge, 144–146.
8
Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 183, B 192 f.
Fußnote (Werke 7, 794).
9
Luther, WA, Abt. 2, Bd. 5, Weimar 1919, Nr. 5534 (S. 219); Anpassung an heutige
Schreibweise.
10
Luther, WA, Abt. 1, Bd. 17/2, Weimar 1927, 235; Anpassung an heutige Schreib-
weise.
170 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
11
Vgl. z. B. Swinburne, The Evolution of the Soul, chap. 15 (298–312), und M.
Peterson/W. Hasker/B. Reichenbach/D. Basinger, Reason and Religious Belief. An
Introduction to the Philosophy of Religion, New York/Oxford 3. Aufl. 2003, 202 f.
12
Vgl. Justin, Dialogus, 5 f., in: E. J. Goodspeed (Hg.), Die ältesten Apologeten.
Texte mit kurzen Einleitungen, Neudruck der 1. Aufl. von 1914, Göttingen 1984, 97 f.;
Tatianus, Oratio ad graecos, 13, in: Goodspeed (Hg.), Die ältesten Apologeten, 280 f.
13
Vgl. Tertullian, De anima, XIV, 1 und XXII, 2, in: Tertullian, Über die Seele –
Über die Seele (De anima), Das Zeugnis der Seele (De testimonio animae), Vom Ur
sprung der Seele (De censu animae), eingeleitet, übersetzt und erläutert von J. H.
Waszink, Zürich/München 1980, 75 und 98; Origenes, Vier Bücher von den Prin
zipien, hrsg., übersetzt, mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen von
H. Görgemanns/H. Karpp, Darmstadt 1976, III, 1, 13 (S. 509); IV, 4, 9 (S. 813–819).
14
Vgl. z. B. Thomas von Aquin, STh I, q. 75, a. 6.
15
Vgl. die Bulle »Apostolici regiminis«, 19. Dezember 1513, DH 1440 f. (S. 482 f.).
§ 2 3 Das Standardmodell von Tod und Auferstehung 171
16
Vgl. P. Pomponazzi, Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, lat.-dt.,
übersetzt und mit einer Einleitung hrsg. von B. Mojsisch, Hamburg 1990.
17
Diese Deutung der einschlägigen Lutherstellen ist allerdings umstritten, vgl.
dazu A. Ahlbrecht, Tod und Unsterblichkeit in der evangelischen Theologie der Ge
genwart, Paderborn 1964, 33–44.
18
Vgl. die Belegstellen bei Althaus, Die letzten Dinge, 90.
19
Vgl. Platon, Phaidon, 78b–80e (Werke 3, 70–80).
20
Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 414 (Werke 4, 350 f.).
172 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
21
Ob auch Aristoteles dieser Meinung war, ist sehr fraglich. Aus seiner Annah-
me, dass die denkende Seele, der Nous, womöglich vom Körper abtrennbar ist (vgl.
Aristoteles, Über die Seele, gr.-dt., mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar
hrsg. von H. Seidl, Hamburg 1995, I, 1, 403a3–12; II, 2, 413b24–29; III, 4, 429b2–5),
folgt nämlich nicht die Unsterblichkeit der menschlichen Einzelseele. Nach der
Deutung von Averroes, die allerdings von christlichen Aristotelikern bestritten
wurde, ist der Nous, der sich beim Tode vom Körper trennt, nichts Individuelles und
daher geht das menschliche Individuum ebenso wie jedes andere beseelte Wesen
beim Tode zugrunde.
22
Vgl. Platon, Phaidon, 79d-80b (Werke 3, 76 und 78); Politeia, 611e (Werke 4,
844).
23
Vgl. die Anathematismen gegen Origenes auf der Synode von Konstantinopel
543, DH 403 und 410 (S. 189 f.).
24
Vgl. Platon, Gorgias, 493a (Werke 2, 404); Phaidon, 82e (Werke 3, 88); Kratylos,
400c (Werke 3, 450).
§ 24 Das Verhältnis zu Platon und zum Neuen Testament 173
»Was ist denn der Mensch, wenn nicht das aus Seele und Leib bestehende ver-
nunftbesitzende Lebewesen? Die Seele ist doch nicht für sich allein Mensch?
Nein, sondern [nur] die Seele des Menschen. Es dürfte doch nicht etwa der Leib
›Mensch‹ genannt werden? Nein, vielmehr wird er ›Leib des Menschen‹ genannt.
Wenn also keines von diesen beiden für sich allein Mensch ist, sondern das, [was]
aus der Verflechtung beider [besteht], Mensch genannt wird, Gott aber den
Menschen zu Leben und Auferstehung berufen hat, [dann] hat er ihn nicht teil-
weise, sondern ganz [dazu] berufen, [und] das heißt: die Seele und den Leib.«25
Mit dieser zweiten Abgrenzung gegen Platon hängt eine dritte eng zu-
sammen. Weil der Mensch als Vereinigung von Seele und Leib verstan-
den wurde, richtete sich die christliche Hoffnung letztendlich auf die
Auferstehung der Toten, bei der die Seele mit dem Leib wiedervereinigt
und der leiblose Zwischenzustand beendet wird. Zwar ging auch Platon
von Wiederverkörperungen der Seele aus, aber die körpergebundene
Existenzweise der Seele erschien ihm als unvollkommener Zustand, den
es durch tugendhaftes Leben endgültig zu überwinden gilt.26 Die christ-
liche Theologie dagegen hat die eschatologische Vollendung des Men-
schen von jeher als körperliche Erneuerung gedacht, auch wenn der vor-
läufige Charakter des unkörperlichen Zwischenzustands der Seele theo-
logiegeschichtlich zeitweise in den Hintergrund trat.
Um Platons Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele
christlich rezipieren zu können, waren demnach einschneidende Modi-
fikationen erforderlich. Warum aber erschien es der christlichen Theolo-
gie überhaupt notwendig, die biblische Auferstehungshoffnung mit der
platonischen Unsterblichkeitslehre zu verknüpfen? Die Antwort liegt
auf der Hand und wurde bereits angedeutet. Zum Auferstehungsglauben
gehört untrennbar die Annahme, dass die künftig Auferweckten trotz
aller erhofften Verwandlung mit den jetzt Lebenden beziehungsweise
den Verstorbenen identisch sind. Nun scheint diese zeitübergreifende
personale Identität aber vorauszusetzen, dass der Mensch beim Tode
nicht ganz und gar zugrunde geht. Die theologische Tradition glaubte
deshalb, mit Platon von einer unsterblichen menschlichen Seele ausgehen
zu müssen, die auch zwischen Tod und Auferweckung existiert und wel-
che die Identität der Person im Keim bewahrt.
25
Pseudojustin, Über die Auferstehung, 8, in: M. Heimgartner, Pseudojustin –
Über die Auferstehung, Text und Studie, Berlin/New York 2001, 121.
26
Vgl. Platon, Phaidon, 76e-77d und 80e-83e (Werke 3, 66–68 und 80–92).
174 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
109–113, und E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther, Kap. 1, 1–7, 16 (Ökume-
nischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, Bd. 8 /1), Gütersloh/Würz-
burg 2002, 184, 186–191, 197, 201.
31
So interpretiert z. B. M. Reiser, »›Wir alle müssen erscheinen vor dem Richter-
stuhl Christi‹ (2 Kor 5, 10). Bilder des Jüngsten Gerichts bei Paulus«, Erbe und Auf
trag 75 (1999), 456–468, hier: 460 und 462.
32
Luther, WA, Abt. 1, Bd. 10/3, Weimar 1905, 194; Anpassung an heutige Schreib-
weise.
33
Da dieser Text von der Auferstehung in ein Leben handelt, das wiederum dem
Tode entgegengeht, ist allerdings fraglich, ob man ihn in unserem Zusammenhang
überhaupt zu Rate ziehen darf.
34
So auch W. Wiefel, Das Evangelium nach Lukas (Theologischer Handkom-
mentar zum Neuen Testament, Bd. III), Berlin 1988, 299.
176 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
Einst hat Johannes Calvin die Ansicht, dass beim Tode »der ganze
Mensch umkäme und die Seelen also samt den Leibern auferstehen wür-
den« als »viehische[n] Irrtum«37 verworfen. Seit Beginn des 20. Jahrhun-
derts dagegen ist eben diese Ansicht in der evangelischen Theologie zur
beherrschenden geworden. Die Väter der sogenannten Ganztodtheorie,
die später von vielen evangelischen Theologen übernommen und weiter-
entwickelt wurde, waren Adolf Schlatter, Carl Stange und Paul Althaus.
Im Gegenzug zur platonischen Unsterblichkeitslehre und ihrer Rezepti-
on im Standardmodell nehmen sie an, dass sich die Seele eines Menschen
beim Tode nicht etwa von seinem Körper trennt und fortexistiert, son-
dern vielmehr mit ihm zugrunde geht.
»Indem der Tod uns entleibt«, schreibt Paul Althaus, »entgeistet er uns auch.
Sterben heißt mehr, als daß dem Geiste sein Organ, zu empfangen und zu han-
deln, genommen wird; es heißt, daß er selber sich genommen wird. Im Tode
werden wir uns ganz genommen. Darum graut uns vor dem Sterben, weil es auf
uns zukommt als das Ende unserer gesamten Lebendigkeit. Leib und Seele
›schwinden‹ (Ps. 73, 26). In der Sprache der Kirchenlieder: Auch ›das Herz‹ ›zer-
bricht‹, nicht nur der Leib. Von uns aus gesehen ist der Tod Sinken ins Boden-
lose, Ausgang in das Nichts.«38
35
Vgl. auch Offb 20, 4.
36
Vgl. O. Cullmann, Unsterblichkeit der Seele, 22–31.
37
J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion – Institutio christianae religi
onis, nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen-
Vluyn 6. Aufl. 1997, III, 25, 6 (S. 671).
38
Althaus, Die letzten Dinge, 80. Entsprechend haben sich auch A. Schlatter und
C. Stange geäußert, vgl. z. B. A. Schlatter, Jesu Gottheit und das Kreuz, Gütersloh
§ 25 Die Ganztodtheorie 177
Für diesen Bruch mit der theologischen Tradition hat Althaus zwei
Gründe geltend gemacht. Erstens stehe die Vorstellung vom Fortleben
der Seele nach dem Tod im Gegensatz zum biblischen Verständnis des
Todes als Gericht über den sündigen Menschen (Röm 6, 23).39 Zweitens
sei sie nicht mit dem biblischen Verständnis der Auferstehung verträg-
lich, wonach Gott den ganzen Menschen und nicht nur seinen Leib auf-
erweckt.40 Diese beiden Argumente für die Ganztodtheorie sind sicher
bedenkenswert, allerdings nicht zwingend. Sie sind es schon deshalb
nicht, weil das Standardmodell den Gerichtscharakter des Todes keines-
wegs ausschließen muss und weil zumindest Luthers Version des Stan-
dardmodells, seine Hypothese vom Seelenschlaf, dem ganzheitlichen
Sinn biblischer Auferstehungshoffnung ebenfalls Rechnung trägt.
Die eigentliche Schwierigkeit des Standardmodells und der plato-
nischen Unsterblichkeitslehre ist eine andere. Sie besteht darin, dass bei-
de einen Dualismus voraussetzen, der die Seele des Menschen als eine
von seinem Körper unterschiedene und abtrennbare immaterielle Sub
stanz versteht. Dieser Substanzdualismus entspricht aber wohl kaum der
biblischen Gesamtsicht menschlicher Existenz, auch wenn einzelne bib
lische Texte, etwa die zitierten Stellen bei Lukas, in eine andere Richtung
zu deuten scheinen. Zudem ist der Substanzdualismus aus einer Reihe
von Gründen, von denen nur zwei genannt seien, wenig plausibel (vgl.
oben § 20).
Erstens gibt es für die Annahme einer Seelensubstanz keine empirische
Rechtfertigung, wie insbesondere Hume und Kant gezeigt haben. Zwar
können einzelne seelische Zustände Gegenstand unserer Erfahrung wer-
den, nicht aber jene Seelensubstanz, die ihnen als Träger zugrunde liegen
soll. Zu Recht bemerkt Hume:
»Ich meines Teils kann, wenn ich mir das, was ich als ›mich‹ bezeichne, so un-
mittelbar als irgend möglich vergegenwärtige, nicht umhin, jedesmal über die
eine oder die andere bestimmte Perzeption zu stolpern, die Perzeption der Wär-
me oder Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust
oder Unlust. Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an und niemals kann
ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption.«41
2. Aufl. 1913, 61; C. Stange, Luther und das sittliche Ideal, Gütersloh 1919, 31 f.; ders.,
Die Unsterblichkeit der Seele, Gütersloh 1925.
39
Vgl. Althaus, Die letzten Dinge, 81 f., 87, 91, 104, 107.
40
Vgl. ebd., 91, 107 f. Fußnote, 116, 148.
41
Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1, 326.
178 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
Diese Kritik einer substantialistischen Deutung der Seele ist von Kant
aufgenommen und durch gewichtige Argumente vertieft worden. Unse-
re inneren Vorstellungen sind zwar kein bloßes Bündel isolierter Ein
zelerlebnisse, wie Hume glaubte, vielmehr gehören sie durch das »Ich
denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]«42 , zu
einem einheitlichen Bewusstsein. Aber dieses »Ich denke« ist lediglich
ein logisches Einheitsprinzip und kann nicht als selbstständiges Wesen,
als Seelensubstanz, aufgefasst werden. Denn um die Substanzkategorie
anwenden zu dürfen, wäre sinnliche Anschauung erforderlich, die uns
im Falle des »Ich denke« aber gerade fehlt.43 Die Annahme einer Seelen-
substanz beruht nach Kant demnach auf einer unberechtigten Verding-
lichung des transzendentalen Selbstbewusstseins.
Der zweite Grund, der gegen einen Leib-Seele-Dualismus spricht, be-
trifft die Schwierigkeit, eine immaterielle Seele als Ursache körperlicher
Zustände zu betrachten. Diese Betrachtungsweise widerstreitet nämlich
dem Prinzip, dass zur Erklärung physikalisch beschriebener Vorgänge
nur andere physikalisch beschriebene Vorgänge in Frage kommen. Nun
ist dieses Prinzip der Erklärungsgeschlossenheit der physischen Welt
zum einen eine methodisch sinnvolle Maxime empirischer Forschung.
Zum anderen hat sich dieses Prinzip bisher ausnahmslos bewährt. Den
Vertretern des Leib-Seele-Dualismus ist es bislang nicht gelungen, über-
zeugende empirische Belege für die von ihnen vorausgesagten Lücken in
den Kausalabläufen neurophysiologischer Vorgänge zu liefern.
Diese und andere Schwierigkeiten, mit denen der Leib-Seele-Dualis-
mus belastet ist, sowie der biblische Gesamtbefund sprechen für die
Ganztodtheorie. Wenn der Mensch keine von seinem Körper abtrenn-
bare Seele besitzt, dann wird man davon ausgehen müssen, dass er beim
Tod ganz und gar zugrunde geht. Die Konsequenzen, die sich daraus für
die Zukunftshoffnungen des Menschen ergeben, liegen auf der Hand;
denn offenkundig sind weder die platonische Unsterblichkeitslehre noch
das Standardmodell christlicher Individualeschatologie mit der Einsicht
verträglich, dass die Seele des Menschen untrennbar mit seinem Leib
verknüpft ist und daher gemeinsam mit ihm stirbt. Dasselbe gilt für jene
Formen des Reinkarnationsglaubens, die eine vom Körper abtrennbare
individuelle Seele des Menschen voraussetzen.44 Wenn der Mensch wirk-
42
Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131 (Werke 3, 136).
43
Vgl. ebd., B 407 f. (Werke 4, 346 f.).
44
Zu den verschiedenen Versionen der Reinkarnationslehre vgl. J. Hick, Death
and Eternal Life (1976), Louisville/Kentucky 1994, 297–396.
§ 26 Kritik der materialistischen Auferstehungsdeutung 179
lich nach Leib und Seele stirbt, ist die Hoffnung über den Tod hinaus nur
dann nicht illusionär, wenn sie sich auf eine radikal verstandene Aufer-
stehung der Toten beziehen lässt, bei welcher der ganze Mensch von
Gott neu geschaffen wird.
Diese radikale Auferstehungshoffnung, die ihre Erfüllung ganz und
gar auf Gott setzt, steht allerdings vor dem eingangs erwähnten Pro-
blem. Ohne eine Seele, die auch zwischen Tod und Auferweckung exis-
tiert und die personale Identität keimhaft bewahrt, scheint die Selbigkeit
der Auferweckten mit denen, die einst gelebt haben, ausgeschlossen zu
sein.45 An diesem Problem ändert sich auch dann nichts, wenn man an-
nehmen wollte, dass der Tod eines Menschen mit seiner Auferweckung
zeitlich zusammenfällt, weil vor Gott »tausend Jahre wie ein Tag sind«
(Ps 90, 4; 2Petr 3, 8). Denn in diesem Fall bestünde zwischen Tod und
Auferweckung zwar kein zeitlicher, wohl aber ein sachlicher Bruch.
Steht die christliche Zukunftshoffnung demnach vor einem unange-
nehmen Dilemma? Muss sie in ihrer radikalen Form am Identitäts-
problem scheitern, nachdem sie in ihrer platonisierenden Standardversi-
on am Leib-Seele-Problem gescheitert war? Meines Erachtens kann die-
se Frage mit guten Gründen verneint werden, wie nun gezeigt werden
soll.
Die personale Identität der künftig auferweckten mit den jetzt lebenden
beziehungsweise den verstorbenen Menschen ist eine Annahme, die zum
Kern der Auferstehungshoffnung gehört. »Dies Verwesliche muss anzie-
hen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche die Unsterblichkeit«,
schreibt Paulus in 1Kor 15, 53. Dem christlichen Auferstehungsglauben
zufolge will Gott uns zwar ganz neu schaffen, aber er will es eben an uns
tun. Wenn die Lehre vom Ganztod des Menschen zutrifft – und dies
scheint der Fall zu sein –, ist die zeitübergreifende Identität einer Person
45
Selbst evangelische Theologen haben deshalb in jüngerer Zeit dafür plädiert,
die Ganztodtheorie aufzugeben, vgl. z. B. Th. Mahlmann, »Auferstehung der Toten
und ewiges Leben«, in: K. Stock (Hg.), Die Zukunft der Erlösung. Zur neueren Dis
kussion um die Eschatologie, Gütersloh 1994, 108–131, und Chr. Henning, »Wirklich
ganz tot? Neue Gedanken zur Unsterblichkeit der Seele vor dem Hintergrund der
Ganztodtheorie«, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilo
sophie 43 (2001), 236–252.
180 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
allerdings nicht durch die Fortexistenz ihrer Seele nach dem Tod sicher-
gestellt. Wodurch aber könnte sie stattdessen gewährleistet sein? Ich
möchte zwei Antwortversuche erörtern, nämlich erstens einen materia-
listischen, den ich zurückweisen, und zweitens einen anamnetischen,
den ich verteidigen werde.
Zunächst zum materialistischen Lösungsvorschlag. Bedeutende christ-
liche Theologen wie Augustin, Thomas von Aquin oder Calvin haben
angenommen, dass für die im Eschaton bewahrte Identität einer Person
neben der Fortexistenz ihrer Seele nach dem Tod noch etwas Weiteres
erforderlich ist: Gott muss ihren Auferstehungsleib aus denselben oder
einigen von denselben materiellen Bestandteilen schaffen, die schon ih-
ren irdischen Leib ausgemacht haben.46
»Damit numerisch derselbe Mensch aufersteht«, schreibt Thomas von Aquin,
»ist es außerdem notwendig, daß seine wesentlichen Teile numerisch dieselben
sind. Würde also der Körper des auferstehenden Menschen nicht aus diesem
Fleisch und diesen Knochen bestehen, aus denen er jetzt zusammengesetzt ist,
so würde es sich beim Auferstehenden nicht um numerisch denselben Menschen
handeln.«47
46
Vgl. Augustinus, Das Handbüchlein, XXIII, 88 f.; Augustinus, De civitate dei
– Vom Gottesstaat, XXII, 20 f.; Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden (=
ScG), 4. Bd., Buch IV, lat.-dt., hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen
von M. H. Wörner, Darmstadt 1996, cap. 81, 84, 85; Calvin, Institutio christianae
religionis, III, 25, 7.
47
Thomas von Aquin, ScG IV, cap. 84.
§ 26 Kritik der materialistischen Auferstehungsdeutung 181
48
Vgl. Augustinus, Das Handbüchlein, XXIII, 88; De civitate dei – Vom Gottes
staat, XXII, 20.
49
Vgl. Thomas von Aquin, ScG IV, cap. 81 [zu 5]; zur Kritik der thomasischen
Lösung des Kannibalenproblems vgl. Swinburne, The Evolution of the Soul, 300.
50
Vgl. Athenagoras, Legatio and De Resurrectione, gr.-engl., ed. and translated
by W. R. Schoedel, Oxford 1972, De Resurrectione, 5 ff.
182 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
sich bei Peter van Inwagen.51 Nach van Inwagen wird die zeitübergrei-
fende Selbigkeit einer Person nicht durch materielle Identität, sondern
durch materielle und kausale Kontinuität konstituiert.52 Zum Beispiel ist
ein heute achtzigjähriger Mann mit einem jungen Mann im Jahre 1950
dann und nur dann identisch, wenn sich sein Körper bruchlos aus dem
des jungen Mannes entwickelt hat. Dasselbe gilt nach van Inwagen auch
für einen Menschen, den Gott am Jüngsten Tag auferweckt. Damit er
mit einem jetzt lebenden identisch ist, muss zwischen ihren Körpern
eine materielle und kausale Kontinuität bestehen. Aus der Wahrheit des
christlichen Auferstehungsglaubens muss man nach van Inwagen des-
halb schließen, dass Gott auf irgendeine Weise unseren toten Körper
wenigstens teilweise bewahrt, um ihn bei der Auferstehung der Toten
mit neuem Fleisch zu überkleiden. Aber wie soll das zugehen? Zerfällt
unser Körper nach dem Tod nicht allem Anschein nach in seine Bestand-
teile, sodass die Kette materieller und kausaler Kontinuität unwiderruf-
lich zerbricht? Nach van Inwagen muss dieser Anschein täuschen, wenn
der christliche Auferstehungsglaube wahr ist. Wider allen Augenschein
wird Gott vielmehr unseren Leichnam irgendwie vor seiner Auflösung
schützen.
»Vielleicht nimmt Gott beim Tode eines jeden Menschen seinen Leichnam fort
und ersetzt ihn durch ein Scheinbild (simulacrum), das verbrannt wird oder
verfault. [. . .] Vielleicht nimmt er auch nur die ›Kernperson‹, also das Gehirn und
das zentrale Nervensystem, oder Teile davon fort, um sie sicher aufzubewah-
ren.«53
Was soll man von diesen Überlegungen halten? Um die Möglichkeit un-
serer eschatologischen Identität zu gewährleisten, erzählt van Inwagen
eine Geschichte, die einigermaßen bizarr ist. Zudem wird Gott in sei-
nem Szenario zu einem Genius malignus, der uns über den wahren Ver-
lauf der Dinge, nämlich über das Schicksal des Leichnams, täuscht. Van
51
Vgl. P. van Inwagen, »The Possibility of Resurrection«, International Journal
for Philosophy of Religion 9 (1978), 114–121; ders., »Dualism and Materialism:
Athens and Jerusalem?«, Faith and Philosophy 12 (1995), 475–488.
52
Auch nach P. Geach, God and the Soul, South Bend/Indiana second edition
1969, IX und 26–29, ist für die den Tod übergreifende Identität einer Person eine
Eins-zu-Eins-Relation materieller Kontinuität zwischen ihrem irdischen Leib und
ihrem Auferstehungsleib notwendig. Im Unterschied zu van Inwagen vertritt Geach
allerdings keine materialistische Auferstehungsdeutung, sondern die thomasische
Version des Standardmodells.
53
Van Inwagen, »The Possibility of Resurrection«, 121 (Übersetzung von F. H.).
§ 26 Kritik der materialistischen Auferstehungsdeutung 183
mer noch diejenige, die einst Sokrates gab: »Wie immer ihr wollt [. . .],
vorausgesetzt, ihr bekommt mich zu fassen und ich bin euch nicht ent-
wischt.«56
56
Platon, Phaidon, 115c (Werke 3, 196), Übersetzung nach: Platon, Werke. Über
setzung und Kommentar, I 4, Phaidon, 81.
§ 27 Das Gedächtnis Gottes 185
57
Vgl. Ps 6, 6; 30, 10; Jes 38, 11. Nach der Deutung von F. Crüsemann dagegen
kommt in Ps 88 keine grundsätzliche Distanz Gottes zu den Toten zum Ausdruck,
vgl. F. Crüsemann, »Rhetorische Fragen!? Eine Aufkündigung des Konsenses über
Psalm 88: 11–13 und seine Bedeutung für das alttestamentliche Reden von Gott und
Tod«, Biblical Interpretation 11, 3/4 (2003), 345–360.
58
Vgl. Ps 73, 23 ff.; Hi 19, 25.
59
Vgl. z. B. 1Thess 5, 10; Röm 14, 8.
60
Nach P. Althaus geht der »christliche Glaube [. . .] nicht von [der] Unsterblich-
keit der Seele, sondern von der ›Unsterblichkeit‹, Unaufhebbarkeit des personhaften
Gottesverhältnisses« aus (Althaus, Die letzten Dinge, 109).
186 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
61
Vgl. zum Folgenden H. Jonas, »Vergangenheit und Wahrheit. Ein später Nach-
trag zu den sogenannten Gottesbeweisen«, in: ders., Philosophische Untersuchungen
und metaphysische Vermutungen, Leipzig 1992, 173–189.
62
Begründungsbedürftig sind vor allem die von Jonas vorausgesetzte Adäquati-
onstheorie der Wahrheit und seine implizite Annahme, dass die drei genannten
Möglichkeiten für die Präsenz des Vergangenen eine vollständige Disjunktion bil-
den.
§ 27 Das Gedächtnis Gottes 187
genden Ausführungen beanspruchen lediglich, die auf die göttliche Erinnerung be-
zogene Variante dieses Einwandes zu widerlegen.
67
Vgl. J. Hick, Death and Eternal Life, 290–293; St. T. Davis, »The Resurrection
of the Dead«, in: ders. (ed.), Death and Afterlife, London 1989, 119–144, hier: 139 f.
§ 27 Das Gedächtnis Gottes 189
auferweckt wird. Denn würden beide auferweckt, dann wäre keiner von
beiden der verstorbene Oskar. Folglich ist es schon durch die bloße Mög-
lichkeit, Oskar zweimal aufzuerwecken, unmöglich, dass irgendein Auf-
erweckter der verstorbene Oskar ist. Wenn Gott den in seinem Geist
aufbewahrten Oskar zweimal auferwecken kann, dann nützt es gar
nichts, es nur einmal zu tun: Es wird in keinem Fall Oskar sein. 68
Muss man daraus schließen, dass das Weiterleben in Gottes Erinne-
rung doch nicht die personale Identität eines auferweckten mit einem
verstorbenen Menschen gewährleisten kann und die christliche Aufer-
stehungshoffnung daher illusionär ist? Keineswegs! Denn der Verdopp-
lungseinwand gegen die identitätsstiftende Rolle der göttlichen Erinne-
rung beruht auf einer falschen Voraussetzung. In Wahrheit besteht nicht
einmal die logische Möglichkeit, Oskar mehrfach aufzuerwecken, und
zwar aus folgendem Grund: Wie jede andere Person ist Oskar einmalig,
weil er durch seine unverwechselbare Lebensgeschichte konstituiert
wird. Wenn es wirklich Oskar ist, der nach seinem Tod in Gottes Ge-
dächtnis bleibt, kann er daher unmöglich mehrfach auferweckt werden.
Wäre das möglich, dann hätte sich Gott nicht an Oskar in seiner biogra-
phischen Einmaligkeit erinnert, sondern nur an allgemeine Züge, die er
mit anderen teilt. Folglich kann das Gedächtnis Gottes sehr wohl die
Aufgabe übernehmen, die im Standardmodell der unsterblichen mensch-
lichen Seele zugedacht war. Es stellt sicher, dass am Jüngsten Tag die
Toten auferweckt und nicht stattdessen neue Personen geschaffen wer-
den.
Schlussbemerkung: Die Hoffnung über den Tod hinaus ist mit lo-
gischen Mitteln nicht zu widerlegen. Aber ist sie auch wahr? Nachdem
Sokrates im Phaidon sein drittes Argument für die Unsterblichkeit der
Seele entwickelt hat, entgegnet ihm Simmias skeptisch:
»Mir scheint [. . .], daß ein sicheres Wissen über solche Dinge in diesem Leben
entweder unmöglich oder doch ungemein schwierig ist, daß es aber andererseits
ein Zeichen von großer Bequemlichkeit ist, die dazu vorliegenden Ansichten
nicht auf alle Weise zu untersuchen und damit etwa aufzuhören, bevor man sie
68
Die Annahme von J. Hick und St. T. Davis, die Identität von Oskar 1 mit Oskar
hinge davon ab, ob Gott seine Möglichkeit, auch Oskar 2 aufzuerwecken, unver-
wirklicht lässt, führt zu absurden Konsequenzen. Wenn sie wahr wäre, bestünde
z. B. die merkwürdige Möglichkeit, dem auferweckten Oskar sein Auferstehungsle-
ben durch die Auferweckung von Oskar 2 zu nehmen. Zudem könnte es ihm durch
die Vernichtung von Oskar 2 zurückgegeben werden, was nicht weniger seltsam ist;
vgl. J. Perry, A Dialogue on Personal Identity and Immortality, Indianapolis 1978,
33–36.
190 Siebtes Kapitel: Tod und Auferstehungshoffnung
nicht in jeder Hinsicht geprüft hat. Denn man muß hier zu einer der folgenden
Alternativen kommen: Entweder von anderen in Erfahrung zu bringen oder
selber herauszufinden, was die Wahrheit ist, oder aber, wenn das unmöglich ist,
sich wenigstens an die beste und am schwierigsten zu widerlegende menschliche
Meinung zu halten und darauf wie auf einem Floß die Fahrt durchs Leben zu
wagen, solange wie sich nicht die Möglichkeit bietet, auf einem Gefährt von
größerer Sicherheit, auf einem göttlichen Wort, das Leben geschützter und ge-
fahrloser zu durchreisen.«69
Auf dieses göttliche Wort, das verlässlicher ist als menschliche Mei-
nungen, verweist Jesus die Sadduzäer, die bekanntlich die Auferweckung
der Toten bestritten haben: »Dass aber die Toten auferstehen, habt ihr
das nicht im Buch des Mose gelesen, in der Geschichte vom Dornbusch,
in der Gott zu Mose sprach: ›Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks
und der Gott Jakobs‹? Er ist doch nicht ein Gott der Toten, sondern der
Lebenden« (Mk 12, 26 f.).
69
Platon, Phaidon, 85c–d (Werke 3, 96 und 98); Übersetzung (mit geringen Ab-
weichungen) nach: Platon, Werke. Übersetzung und Kommentar, I 4, Phaidon, 48.
Vierter Teil
Die Rede des Paulus auf dem Areopag in Athen, von der im 17. Kapitel
der Apostelgeschichte berichtet wird, beginnt mit den berühmten Wor-
ten: »Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stü-
cken sehr verehrt. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer
angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbe-
kannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.«
(Vers 22 f.) Dieser Gott, so fährt Paulus fort, ist der Schöpfer und Herr
der Welt, der nicht in Tempeln wohnt und keinen Kultus nötig hat. Die
Menschen wurden mit der Bestimmung geschaffen, dass sie ihn »suchen
sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist
nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und
sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines
Geschlechts.« (Vers 27 f.) Die Areopagrede liest sich fast wie der Ent-
wurf eines religionstheologischen Programms, das mit zwei Grundan-
nahmen operiert. Nach der ersten Annahme kann sich der Mensch durch
die Religion deshalb auf Gott beziehen, weil er in Gott lebt und webt,
und nach der zweiten bezieht er sich in den anderen Religionen unwis-
send auf jenen Gott, der in der christlichen Religion bekannt ist. Genau
diese beiden programmatischen Annahmen hat der bedeutendste Religi-
onsphilosoph der Moderne, nämlich Hegel, zu einer eindrucksvollen
inklusivistischen Theorie der Religionen ausgearbeitet. Im dritten Teil
meiner folgenden Überlegungen werde ich Hegels Theorie vorstellen
und für ihre Aktualisierung plädieren. Denn durch ihre Erklärungskraft
ist sie, wie mir scheint, den religionstheologischen Entwürfen unserer
Tage überlegen, zumal der pluralistischen Religionstheologie, die im
zweiten Teil behandelt und als nicht überzeugend zurückgewiesen wer-
den soll. Zunächst aber werde ich in einem ersten, kurzen Teil erwägen,
welche religionstheologischen Optionen überhaupt möglich sind.
192 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
Die Religionstheologie befasst sich mit der Frage, wie die Wahrheitsan-
sprüche der Religionen und ihr Verhältnis zu beurteilen sind. Seit gut
zwei Jahrzehnten ist es üblich geworden, zwischen drei prinzipiell mög-
lichen Antworten auf diese Frage zu unterscheiden. Ein religionstheolo-
gischer Exklusivismus nimmt an, dass die Wahrheitsansprüche nur einer
Religion berechtigt sind, und bestreitet die aller anderen Religionen. Für
einen religionstheologischen Inklusivismus dagegen sind die Wahrheits-
ansprüche mehrerer Religionen berechtigt, in höchstem Maße aber nur
die einer einzigen. Nach Auffassung eines religionstheologischen Plura
lismus schließlich sind die Wahrheitsansprüche von mehr als einer Reli-
gion in höchstem Maße berechtigt. Nun erschöpft diese Einteilung of-
fenkundig nicht jede mögliche Antwort. Deshalb wird das Dreierschema
häufig durch die Hinzunahme einer vierten, religionskritischen oder na
turalistischen Option erweitert, wonach die Wahrheitsansprüche keiner
einzigen Religion berechtigt sind.
Gegen diese Klassifikation möglicher Antworten und gegen ihre Voll-
ständigkeit sind eine Reihe von Einwänden erhoben worden.1 Die beiden
wichtigsten hat Andreas Grünschloß in seiner Auseinandersetzung mit
Perry Schmidt-Leukel vorgebracht.2 Der erste Einwand ergibt sich aus
dem Umstand, dass nicht nur die Gesamtansprüche von Religionen auf
vierfache Weise in Beziehung gesetzt werden können, sondern auch ihre
Teilansprüche. Nun mag eine Religionstheologie, je nachdem welche
Teilansprüche sie vergleichend bewertet, zu unterschiedlichen Urteilen
kommen. Wenn sie beispielsweise die Ansprüche verschiedener Religi-
onen auf Vermittlung von Heil, auf Erkenntnis der letzten Wirklichkeit
oder auf den gültigen Moralkodex untersucht, mag sie in der einen Hin-
sicht exklusivistisch, in der anderen inklusivistisch und in der dritten
pluralistisch urteilen. In solchen Fällen ergeben sich für die Verhältnis-
bestimmung von Religionen als Gesamtheiten Mischpositionen, die kei-
1
Vgl. P. Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische
Theologie der Religionen, Gütersloh 2005, 75–87.
2
Vgl. P. Schmidt-Leukel, »Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle«,
Catholica 47 (1993), 163–183; A. Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube.
Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus
und Christentum, Tübingen 1999, 21–27. Vgl. zu den beiden Einwänden außerdem
M. Hüttenhoff, Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem. Religionstheo
logische Studien, Leipzig 2001, 31–37, 68–70, 75 f.
§ 28 Die religionstheologischen Antwortmöglichkeiten 193
3
Vgl. P. Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argu
mente, Neuried 1997, 79 (Anm. 42), 82 f., sowie ders., Gott ohne Grenzen, 68 f.
194 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
4
Vgl. J. Hick, The Rainbow of Faiths. Critical Dialogues on Religious Pluralism,
London 1995, 42 f. und 112 f.
5
Vgl. Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube, 281; A. Feldtkeller »Inter-
religiöser Dialog und pluralistische Religionstheologie – ein Traumpaar?«, Ökume
nische Rundschau 49 (2000), 273–286, hier: 282–284.
6
Mein Einwand lässt sich nicht durch die Behauptung entkräften, er verwechsle
einen religionstheologischen Inklusivismus mit einem hermeneutischen, demzufol-
ge neue Einsichten stets in den eigenen Verständnishorizont inkludiert werden und
der deshalb allen religionstheologischen Positionen eigen ist (vgl. Schmidt-Leukel,
Gott ohne Grenzen, 73 und 78 f.). Denn gegenüber der faktischen Gestalt der Welt-
religionen vertritt der Pluralist aus den genannten Gründen zweifellos einen religi
onstheologischen Inklusivismus.
§ 29 Kritik der pluralistischen Religionstheologie 195
7
Beispielsweise hat M. Hüttenhoff, »Die Möglichkeit einer am Rechtfertigungs-
gedanken orientierten pluralistischen Theologie der Religionen«, in: Chr. Danz/
U. H. J. Körtner (Hgg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven
evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005, 121–150, die bemerkenswerten
Parallelen zwischen dem evangelischen Glauben an einen rechtfertigenden Gott und
der indischen Bhakti-Frömmigkeit hervorgehoben.
8
Unter den zahlreichen Publikationen, in denen Hick seine religionstheologische
Position dargelegt hat, vgl. vor allem J. Hick, An Interpretation of Religion. Human
Responses to the Transcendent, New Haven 1989, dt. Übersetzung: ders., Religion.
Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, übersetzt von C.
Wilhelm, bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von A. Kreiner, München
1996; Hick, The Rainbow of Faiths.
196 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
9
Vgl. ders., An Interpretation of Religion, 210–230, sowie Hicks frühes Buch
Faith and Knowledge. A Modern Introduction to the Problem of Religious Know
ledge, New York 1957.
10
Vgl. ders., An Interpretation of Religion, 111–125; im Detail hat Hick seine
»Soul-Making-Theodicy« in seinem Buch Evil and the God of Love entwickelt.
§ 29 Kritik der pluralistischen Religionstheologie 197
11
Vgl. ders., An Interpretation of Religion, 233–251; ders., The Rainbow of Faiths,
11–30; ders., »A Philosophy of Religious Pluralism«, in: ders., Problems of Religious
Pluralism, New York 1985, 28–45.
12
Auch P. Schmidt-Leukel, der die strikte Unterscheidung zwischen der trans-
zendenten Wirklichkeit an sich und den religiösen Vorstellungen von ihr als »ent-
scheidende Grundlage einer pluralistischen Religionstheologie« (Schmidt-Leukel,
Gott ohne Grenzen, 206) bezeichnet, schließt aus der Unendlichkeit der transzen-
denten Wirklichkeit an sich auf ihre Unbegreiflichkeit (vgl. ebd., 200–209).
13
Hick, An Interpretation of Religion, 350; Übersetzung nach Hick, Religion.
Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, 375 f.; vgl. auch
S. 246 in der englischen Ausgabe sowie ders., The Rainbow of Faiths, 27 f.
14
Vgl. z. B. ders., An Interpretation of Religion, 167 und 244.
198 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
15
Vgl. zu Hicks Kriterium vor allem ebd., 299–342.
16
Der christliche Ausgangspunkt Hicks wird z. B. in ders., The Rainbow of
Faiths, 50, deutlich.
§ 29 Kritik der pluralistischen Religionstheologie 199
der Nächstenliebe abzulesen ist. Nun ist diese Umwandlung samt ihrer
Früchte nach Hick nicht nur eine angemessene Reaktion auf den christ-
lichen Gott, sondern auch auf die transzendente Wirklichkeit an sich. Sie
soll daher verbürgen, dass im christlichen Gott tatsächlich die transzen-
dente Wirklichkeit erfahren wird. Aber wieso, so könnte man einwen-
den, ist diese Reaktion auch der transzendenten Wirklichkeit an sich
angemessen? Schließlich lässt sich über sie nichts aussagen, abgesehen
davon, dass sie existiert und auf das menschliche Bewusstsein wirkt.
Nach Hick kann diese Frage nur durch einen Glaubenszirkel beantwor-
tet werden.17 Einerseits ist die Überwindung der menschlichen Selbst-
zentriertheit, die sich in tätiger Nächstenliebe äußert, deshalb eine ange-
messene Reaktion auf das Reale an sich, weil der christliche Gott, der sie
bewirkt, als authentische Manifestation der transzendenten Wirklich-
keit geglaubt wird. Andererseits erweist sich dieser Gott umgekehrt da-
durch als authentische Manifestation, dass er jene heilshafte Umwand-
lung und deren moralische Früchte erzeugt, die sich im Glauben als an-
gemessene Reaktion auf die transzendente Wirklichkeit an sich darstellen.
Hick gewinnt also sein soteriologisches und ethisches Kriterium zur Be-
wertung der Religionen, hinter dem unschwer das jesuanische Doppel-
gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu erkennen ist, aus dem christli-
chen Glauben.18
Nun zeigt sich aber, dass die Götter und Absoluta, an welche die An-
hänger der anderen großen Weltreligionen auf der Basis ihrer religiösen
Erfahrungen glauben, ebenfalls eine Umwandlung des Menschen aus der
Selbstzentriertheit in die Zentriertheit auf die geglaubte Wirklichkeit
hervorrufen, die nach allem, was wir wissen, keine geringeren spiritu-
ellen und moralischen Früchte trägt. Daher muss man den Glaubenszir-
kel auf diese Religionen ausdehnen19 und auch ihre Götter und Absoluta
als authentische Manifestationen der transzendenten Wirklichkeit be-
trachten. Vorstellungen von höchsten Wesen dagegen, die ihre Gläubigen
nicht aus der Selbstzentriertheit herausführen und statt Mitleid und Lie-
be Gleichgültigkeit und Hass in ihnen erzeugen, können nicht als au-
17
Vgl. ders., An Interpretation of Religion, 248 und 352 f., sowie ders., The Rain
bow of Faiths, 78 f.
18
Ebenso interpretiert auch Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 241–243 und
253.
19
Hick spricht in The Rainbow of Faiths, 75, von einem »expanded circle of faith«.
Für die Ausweitung des Glaubenszirkels auf die impersonalen Absoluta vgl. ders.,
An Interpretation of Religion, 278 f.
200 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
haft so fragen würde, wüsste nicht einmal, mit welcher Art von Gegen-
stand er es bei Empfindungen zu tun hat, und könnte es auch durch die
richtige Antwort nicht erfahren. Das bedeutet freilich keineswegs, dass
einem Existierenden in solchen Fällen beide Eigenschaften fehlen, son-
dern vielmehr, dass ihm eine von beiden notwendigerweise zukommt.
Weil Empfindungen keine physischen Gegenstände sind und deshalb
nicht grün oder andersfarbig sein können, sind sie notwendigerweise
nicht-grün. Kurzum, alles, was existiert, ist durchgängig bestimmt und
unterscheidet sich dadurch von Allgemeinbegriffen. Nun ist aber Hicks
transzendente Wirklichkeit an sich nicht durchgängig bestimmt. Folg-
lich kann sie nicht existieren, sondern nur ein Allgemeinbegriff sein, und
zwar ein hochabstrakter.
Mein zweiter Einwand bezieht sich auf Hicks grundlegende Unter-
scheidung zwischen dem endlichen Subjekt und der transzendenten
Wirklichkeit an sich, die dem Subjekt gegenüberstehen und auf das Sub-
jekt wirken soll. Diese Unterscheidung ist schwerlich mit der pluralisti-
schen Annahme vereinbar, dass die großen Weltreligionen gleichwertig
sind.23 Denn während theistische Religionsformen die Unterscheidung
teilen mögen, wird sie in nicht-theistischen gerade bestritten. So ver-
steht beispielsweise eine der bedeutendsten Richtungen des Hinduis-
mus, der advaitische Vedanta, Brahman als nicht-personales Absolutes,
mit dem alles, auch das wahre Selbst des Menschen, der Atman, iden-
tisch ist. Das von Brahman getrennte, empirische Selbst dagegen ist ein
Trugbild, einem bösen Traum ähnlich, aus dem zu erwachen Erlösung
bedeutet. Vergleichbare monistische Annahmen wurden auch im Maha-
yana-Buddhismus vertreten. Für Nagarjuna (um 200 n. Chr.) etwa, den
bedeutendsten Vertreter der Shunyavada-Schule, ist allein das Leere
(shunya) wahrhaft wirklich, während die endlichen Dinge und Subjekte
nur eine Scheinrealität besitzen. Sub specie aeternitatis sind sie mit dem
Leeren eins, auch wenn sie sich in ihrer Verblendung für unterschieden
halten. Durch seine pluralistische Hypothese fordert Hick nun vom
Hinduismus und Buddhismus, solche monistischen Annahmen aufzu-
geben, sich die strikte Unterscheidung zwischen dem endlichen Subjekt
und der transzendenten Wirklichkeit anzueignen und deshalb konse-
quent zwischen der transzendenten Wirklichkeit an sich und ihrer Er-
23
Ähnlich argumentiert auch K. E. Yandell, Philosophy of Religion. A contempo
rary introduction, London/New York 1999, 72 f.
202 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
24
Vgl. Hick, An Interpretation of Religion, 291–295.
25
Vgl. Hüttenhoff, Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem, 255 f.,
259.
26
Vgl. z. B. Hick, An Interpretation of Religion, 237 f.
27
P. Tillich, Der Mut zum Sein, Berlin/New York 1991, 137.
§ 30 Hegels kritischer Inklusivismus 203
treffen. Nach diesem Prinzip ist es vernünftig, auf der Basis seiner ei
genen religiösen Erfahrungen an einen personalen Gott oder ein im-
personales Absolutes zu glauben, sofern keine angemessenen Grün-
de vorliegen, seinen Erfahrungen zu misstrauen. Hick begründet das
Glaubwürdigkeitsprinzip damit, dass die Welt mehrdeutig ist, also mit
dem gleichen theoretischen Recht naturalistisch oder religiös gedeutet
werden kann. Nun trifft diese Mehrdeutigkeit aber nach Hick auch auf
die religiöse Erfahrung zu. Auch sie kann religiös oder religionskritisch
interpretiert werden. Wenn das aber zutrifft, dann ist jemand durch die
religiöse Erfahrung, die er macht, vernünftigerweise nicht berechtigt, an
das zu glauben, was er erfährt. Wenn die Welt einschließlich der Religion
wirklich mehrdeutig wäre, dann wäre religiöse Erfahrung kein geeig-
netes Mittel diese theoretische Pattsituation zugunsten des Gottesglau-
bens aufzulösen. Die vernünftige Reaktion wäre dann vielmehr die Ur-
teilsenthaltung, der Agnostizismus. Unter den Bedingungen einer mehr-
deutigen Welt ist Hicks Prinzip der Glaubwürdigkeit religiöser Erfahrung
ein Freibrief zur intellektuellen Willkür, eine Maxime des blanken Dezi-
sionismus. Kein Wunder also, dass dieses Prinzip zu einer Religionstheo
logie führt, die unhaltbar ist.
bührte.28 Dabei befasse ich mich erstens mit Hegels Begriff der Religion
und zweitens mit dem kritischen Inklusivismus, der sich daraus ergibt.
In beiden Zusammenhängen werden die Vorteile zur Sprache kommen,
die Hegels Konzeption gegenüber der pluralistischen Religionstheologie
unserer Tage besitzt.
Das Unendliche ist also nur dann wahrhaft unendlich und zugleich vom
Endlichen unterschieden, wenn es die in sich differenzierte Einheit sei-
ner selbst und des Endlichen ist.
Aus diesem Begriff des Unendlichen lässt sich mit Hilfe einer Prämis-
se, die ich zusätzlich einführen möchte, Hegels Begriff der Religion ab-
leiten. Bei der Zusatzprämisse handelt es sich um die vorläufige Bestim-
mung von Religion als Bewusstsein einer höheren, unendlichen Wirk-
lichkeit. Diese Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass der
Glaube an Gott in einer Reihe von Religionen keine oder nur eine unter-
geordnete Rolle spielt. Das Bewusstsein einer höheren, unendlichen
Wirklichkeit dagegen scheint ein konstitutives Element von Religion zu
sein, ohne das sich die anderen Elemente, die sich in den Religionen fin-
den, die Annahmen über die Beschaffenheit der Welt, die Vorschriften,
Gebräuche und Verhaltensweisen, die Feste und Institutionen usf.,
schwerlich als »religiöse« qualifizieren lassen. Gemessen an diesem vor-
läufigen Verständnis von Religion, können die großen säkularen Ideolo-
gien, für die das Unendliche keine Wirklichkeit besitzt, trotz mancher
Analogien nicht im eigentlichen Sinne als Religionen gelten.
Aus beiden Prämissen zusammen ergibt sich Hegels Begriff der Reli-
gion. Der ersten Prämisse zufolge muss das endliche Bewusstsein des
Unendlichen ein wesentliches Moment des Unendlichen sein. Nach der
zweiten Prämisse ist Religion das endliche Bewusstsein einer höheren,
unendlichen Wirklichkeit. Wenn beides zutrifft, muss man annehmen,
dass Religion ein wesentliches Moment des Unendlichen ist. Sie ist dem-
nach keine bloß subjektive Angelegenheit des Menschen, sondern das
Bewusstsein, welches das Unendliche durch die Vermittlung des Men-
schen von sich selbst hat. Dieser Begriff der Religion lässt sich konkreti-
sieren, sobald man der Frage nachgeht, was das Unendliche eigentlich ist,
wenn es konstitutiv zu ihm gehört, sich im menschlichen Bewusstsein
seiner selbst bewusst zu sein. Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist
Geist.
Denn »der Geist ist dies: sich zu manifestieren, für den Geist zu sein. Der Geist
ist für den Geist, und zwar nicht nur auf äußerliche, zufällige Weise, sondern er
ist nur insofern Geist, als er für den Geist ist; dies macht den Begriff des Geistes
30
Ebd., 178.
206 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
selbst aus. Oder, um es mehr theologisch auszudrücken, Gott ist Geist wesent-
lich, insofern er in seiner Gemeinde ist. Man hat gesagt, die Welt, das sinnliche
Universum, müsse Zuschauer haben und für den Geist sein, – so muß Gott noch
viel mehr für den Geist sein.«31
Durch die Bestimmung des Unendlichen als Geist lässt sich der Begriff
der Religion näherhin so fassen: Wenn Religion der Ort ist, an dem sich
der menschliche Geist auf das Unendliche, mithin auf den absoluten
Geist, bezieht, und wenn es konstitutiv zum absoluten Geist gehört, im
endlichen Geist von sich zu wissen, dann ist Religion nichts anderes als
das »Wissen des göttlichen Geistes von sich durch Vermittlung des end
lichen Geistes.«32 Gewiss, auf den ersten Blick erscheint Religion als
bloß subjektive Tätigkeit, in der sich das menschliche Bewusstsein zu
einem wirklichen oder vermeintlichen Unendlichen verhält. Nun ist
dieses Unendliche, der absolute Geist, aber jene Fülle, die das mensch-
liche Bewusstsein des Unendlichen einschließt. Folglich ist Religion,
genau besehen, »ein Erzeugnis des göttlichen Geistes, nicht Erfindung
des Menschen, sondern Werk des göttlichen Wirkens und Hervorbrin-
gens in ihm«.33 Kurzum, Religion ist »das Selbstbewußtsein des absolu
ten Geistes.«34
Dieser spekulative Begriff der Religion mag im Kontext heutiger De-
batten ungewohnt sein, aber was ist die Alternative? Wenn Religion
nichts anderes als eine Orientierungsleistung des menschlichen Geistes
wäre, wenn der göttliche Geist in ihr nicht am Werk sein würde, wäre sie
von Gott verlassen.35 Man müsste sie dann mit Karl Barth als Gottlosig-
keit oder »Unglaube« beurteilen.36 Denn wie sollte der menschliche
Geist zum Unendlichen gelangen, wenn nicht das Unendliche selbst, der
göttliche Geist, im menschlichen Geist zu sich käme? »Der Mensch weiß
nur von Gott«, schreibt Hegel, »insofern Gott im Menschen von sich
selbst weiß«.37
31
Ebd., 52 f.; zu Hegels Begriff des Geistes vgl. näherhin ders., Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften III, §§ 381–384, 553–555 (Werke 10, 17–32, 366 f.).
32
Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 198.
33
Ebd., 40.
34
Ebd., 197 f.
35
So zu Recht auch V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität
und das Problem der Intersubjektivität, ungekürzte Studienausgabe, Hamburg
1988, 645.
36
Vgl. K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. I : Die Lehre vom Wort Gottes, 2.
Halbbd., Zollikon-Zürich 5. Aufl. 1960, § 17 (S. 304–397).
37
Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, Werke 17, 480.
§ 30 Hegels kritischer Inklusivismus 207
Hegels Begriff der Religion lässt sich als Alternative zum Religionsbe-
griff verstehen, den Schleiermacher fast zeitgleich in seiner Glaubensleh
re entwickelt hat.38 Im Unterschied zur älteren Theologie stimmen beide
darin überein, dass Gott und das religiöse Bewusstsein nicht voneinan-
der zu trennen sind. Während aber Schleiermacher Gott von der Religi-
on her versteht, begreift Hegel die Religion von Gott her. Schleiermacher
geht von der Religion bzw. von der Frömmigkeit aus, die ihm als Gefühl
schlechthinniger Abhängigkeit gilt, und bestimmt Gott in Beziehung
auf dieses Gefühl, nämlich als das im Gefühl »mitgesetzte Woher«39 un-
seres Daseins. Nach Hegel dagegen führt die Bestimmung des Unend-
lichen als jenes absoluten Geistes, zu dem es konstitutiv gehört, für den
Geist zu sein, gerade umgekehrt zur Religion. Nicht zu Unrecht be-
fürchtet Hegel, dass in Schleiermachers bewusstseinstheoretischem An-
satz der Gottesgedanke verloren geht; denn Gott wird dort in Abhängig-
keit von dem begriffen, was vorgibt, sich von ihm abhängig zu fühlen.
Nach Hegel kann Gott nicht als Moment des religiösen Bewusstseins
gedeutet werden, sondern das religiöse Bewusstsein ist vielmehr als Mo-
ment des absoluten Geistes zu begreifen, dem es widerspräche, bei sich
zu bleiben, statt in seiner Gemeinde zu sein.
Die bisherigen Überlegungen erhellen den ersten von drei Vorteilen,
den die hegelsche Religionsphilosophie verglichen mit der pluralisti-
schen Religionstheologie besitzt: Sie kann erklären, warum es überhaupt
Religion gibt. Der religionstheologische Pluralismus nimmt an, dass die
transzendente oder unendliche Wirklichkeit an sich unbegreiflich und
keiner unserer Begriffe, abgesehen von formalen, auf sie anwendbar ist.
Wenn das zutrifft, dann darf man ihr keine Eigenschaft beilegen, die
verständlich machen könnte, wieso sie sich im menschlichen Bewusst-
sein manifestiert, statt mit sich allein zu bleiben. Für die pluralistische
Religionstheologie ist Religion deshalb eine nackte Tatsache, die man
nur zur Kenntnis nehmen, aber nicht begreifen kann. Nach Hegel dage-
gen kann das Unendliche dem endlichen Bewusstsein nicht als Jenseits
gegenüberstehen, weil es sonst seinerseits ein Endliches wäre. Um wahr-
haft unendlich zu sein, muss es vielmehr das endliche Bewusstsein als
wesentliches Moment einschließen und daher als absoluter Geist begrif-
fen werden. Denn weil es für den absoluten Geist konstitutiv ist, von sich
38
Schleiermachers Glaubenslehre erschien im Jahre 1821, in dem Hegel sein ers-
tes Kolleg über Religionsphilosophie hielt.
39
Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. I, § 4, 4 (S. 28).
208 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
Anders als der Exklusivismus nimmt Hegel an, dass der göttliche Geist
in allen Religionen wirksam ist und von sich weiß. Wenn das aber zu-
trifft, warum verstehen die Religionen das Unendliche dann nicht durch-
gängig als absoluten Geist und das Bewusstsein vom Unendlichen als
dessen Moment? Warum haben sie vielmehr höchst unterschiedliche
Vorstellungen von der unendlichen Wirklichkeit, vom endlichen Subjekt
und von der Beziehung zwischen beiden? Hegel beantwortet diese Frage
mit dem naheliegenden Hinweis, dass die Religionen über das, was sie
40
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 82. Zur The-
se, die Religionen seien Priesterbetrug, die sich mit einem religionstheologischen
Exklusivismus, der die eigene Religion ausnimmt, gut verträgt, vgl. auch ebd., 102,
sowie ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke 18, 83.
§ 30 Hegels kritischer Inklusivismus 209
41
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 263.
42
Zur Darstellung und kritischen Würdigung von Hegels Behandlung der außer-
christlichen Religionen vgl. R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel,
Göttingen 1975; St. Dunning, »Particularity not Scandalous: Hegel’s Contribution
to Philosophy of Religion«, in: D. Kolb (ed.), New Perspectives on Hegel’s Philoso
phy of Religion, Albany/New York 1992, 143–158; L. Dupré, »Transitions and Ten-
210 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
sions in Hegel’s Treatment of Determinate Religion«, in: D. Kolb (ed.), New Per
spectives on Hegel’s Philosophy of Religion, Albany/New York 1992, 81–92.
43
Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 83.
44
Im Folgenden richte ich mich nach der Freundesvereinsausgabe (Werke 16 und
17), in welcher der Teil über außerchristliche Religionen in zwei Abschnitte geglie-
dert ist. In seinen vier Kollegien hat Hegel selbst mal eine dichotomische (1824), mal
eine trichotomische Einteilung (1821, 1827 und 1831) vorgezogen. Auch die Reihen-
folge, in der die außerchristlichen Religionen behandelt werden, ändert sich, was
insbesondere im Falle der jüdischen Religion auffallend ist, vgl. dazu G. W. F. Hegel,
Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2 : Die bestimmte Religion, neu
hrsg. von W. Jaeschke, Hamburg 1994.
45
So zu Recht H. J. Schoeps, »Die außerchristlichen Religionen bei Hegel«, Zeit
schrift für Religions- und Geistesgeschichte 7 (1955), 1–34, hier: 31.
§ 30 Hegels kritischer Inklusivismus 211
stehen, weil es in seinen Göttern vollkommen bei sich ist, aber keiner
dieser Götter kann der Grund aller Dinge sein, der im Judentum als
Herr verehrt wird.
Diese Einseitigkeiten sind nach Hegel in der christlichen Religion
überwunden. Die Vorstellung von einem menschlichen, aber beschränk
ten Gott in der griechischen Religion und von einem erhabenen, aber
vom Menschen getrennten Schöpfer und Herrn in der jüdischen werden
im Gedanken des dreieinigen Gottes aufgehoben, der alles geschaffen
hat, der Mensch wurde und starb und der in seiner Gemeinde gegen
wärtig ist. Das, was alle Religionen an sich sind, nämlich Gestalten des
absoluten Geistes, der sich als endlichen Geist setzt und durch den end-
lichen Geist von sich weiß, wird in der christlichen Trinitätslehre zum
Inhalt der religiösen Vorstellung. Zwar liegt dieser Begriff der Religion
allen Religionen zugrunde, doch in den außerchristlichen Religionen
kommt er noch nicht in der Totalität seiner drei Momente zum Bewusst-
sein. Erst in der christlichen Religion ist der »Begriff der Religion [. . .]
sich selbst gegenständlich geworden«.46 Aus diesem Grund kennzeichnet
Hegel das Christentum als die »absolute« oder »vollendete« Religion.47
Gemessen an der üblichen Einteilung religionstheologischer Modelle
in exklusivistische, inklusivistische und pluralistische, vertritt Hegel
zweifellos einen christlichen Inklusivismus; denn die außerchristlichen
Religionen sind
»als wesentliche, wenn auch als untergeordnete Momente, die der absoluten
Wahrheit nicht fehlen dürfen, [. . .] in der unsrigen [christlichen, F. H.] enthalten.
Wir haben es also in ihnen nicht mit einem Fremden, sondern mit dem Unsrigen
zu tun, und die Erkenntnis, daß es so sei, ist die Versöhnung der wahrhaften
Religion mit der falschen.«48
46
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 87; vgl. ders.,
Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Werke 17, 187.
47
Ebd., 185 und 187.
48
Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, 81.
212 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
danach bewertet, in welchem Maße sie dem Begriff der Religion gerecht
werden, der ihnen zugrunde liegt.49
Die umfassende philosophische Deutung der Religionen, auf die He-
gel seinen Inklusivismus stützt, verdient Bewunderung, zumal die da-
mals verfügbaren Quellen in der Regel hinreichend berücksichtigt wur-
den.50 Hegel vorzuwerfen, er zwänge die Vielheit der Religionen in die
spanischen Stiefel seiner Systematik, ist deshalb abwegig. Gleichwohl
wären bei einer Aktualisierung der hegelschen Konzeption einige Re
visionen erforderlich. Sie beträfen erstens das Bild der einzelnen Reli
gionen, namentlich der orientalischen, das sich durch die religionsge-
schichtliche und religionswissenschaftliche Forschung inzwischen ver-
ändert hat. Dabei wäre auch die innere Entwicklung der Religionen, der
Hegel wegen der mangelnden Erkenntnisse zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts wenig Beachtung schenkte,51 gebührend zu berücksichtigen. Zwei
tens müssten die von Hegel nicht behandelten Religionen einbezogen
werden, zumindest solche, die in ihrer Bedeutung den behandelten nicht
nachstehen, etwa die babylonisch-assyrische Religion, der japanische
Schintoismus und vor allem der Islam, auf den Hegel leider nur beiläufig
eingegangen ist.52 Drittens schließlich wäre Hegels Annahme aufzuge-
ben, dass die hierarchische Ordnung, in der die Religionen stehen, wenn
man sie am Kriterium ihrer Angemessenheit zum Begriff der Religion
misst, den Etappen einer universalen, kontinuierlich zu Höherem fort-
schreitenden Religionsgeschichte entspricht. Denn zum einen sind Reli-
gionen nur in wenigen Fällen historisch auseinander hervorgegangen;
zum anderen könnte eine historisch frühere Religion durchaus einer
sachlich späteren Stufe angehören.53 Selbstverständlich kommt eine
Neuauflage des hegelschen Programms nicht ohne den Gedanken aus,
49
Für den Bezug der hegelschen Religionsphilosophie zur aktuellen religions
theologischen Debatte vgl. auch R. Leuze, »Viele Religionen – eine Wahrheit?«, in:
Ch. Danz/F. Hermanni (Hgg.), Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen
gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 29–40; H. Nagl-Doce-
kal/W. Kaltenbacher/L. Nagl (Hgg.), Viele Religionen – eine Vernunft? Ein Disput
zu Hegel, Wien/Berlin 2008.
50
Zu diesem Ergebnis kommt die sorgfältige Studie von Leuze, Die außerchrist
lichen Religionen bei Hegel, 237 f. Wenig überzeugend ist dagegen Leuzes Behaup-
tung (vgl. ebd., 244), Hegel habe seinen Begriff der Religion aus der christlichen
Gotteslehre abgeleitet. Träfe das zu, dann wäre die Deutung des Christentums als
der vollendeten Religion ein bloßer Zirkelschluss.
51
Vgl. die von Leuze, ebd., 240, angeführten Beispiele.
52
Vgl. nochmals Leuze, ebd., 240 f.
53
Selbst Hegel durchbricht die Entsprechung von historischer und sachlicher
§ 30 Hegels kritischer Inklusivismus 213
dass der Geist nur durch eine geschichtliche Entwicklung ein zuneh-
mendes Bewusstsein seiner selbst gewinnt. Aber diese Entwicklung
vollzieht sich offenbar nicht in einer vermeintlichen Universalgeschichte
der Religion, sondern in einer Vielzahl von Partialgeschichten.54
Eine Aktualisierung des hegelschen Inklusivismus würde, so scheint
mir, die religionstheologische Debatte der Gegenwart voranbringen.
Denn neben dem Vorteil, der im letzten Abschnitt genannt wurde, be-
sitzt er gegenüber der pluralistischen Religionstheologie noch mindes-
tens zwei weitere. Erstens ist Hegels Konzeption in der Lage, nicht nur
die Existenz der Religion, sondern auch die Vielheit der Religionen auf
die höhere, unendliche Wirklichkeit zurückzuführen, auf die sie sich be-
ziehen. Denn die unendliche Wirklichkeit ist, recht verstanden, der ab-
solute Geist. Nun gehört es aber wesentlich zum absoluten Geist, durch
das religiöse Bewusstsein des Menschen von sich zu wissen, und dieses
Wissen kann er nur durch eine geschichtliche Entwicklung erlangen.
Folglich muss es verschiedene Gestalten von Religion geben. Aus dem
Begriff der Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes ist also
verständlich, warum Religion nur in der Mehrzahl vorkommen kann.
Für die pluralistische Religionstheologie dagegen ist sowohl die Exis-
tenz der Religion als auch die Vielheit der Religionen eine Tatsache, die
der transzendenten Wirklichkeit an sich äußerlich bleibt. Denn da diese
Transzendenz alle menschlichen Begriffe übersteigt, kann man ihr keine
Qualitäten zuschreiben, die erklären würden, warum sie sich überhaupt
im menschlichen Bewusstsein manifestiert und warum in vielfacher Ge-
stalt. Statt auf die unendliche Wirklichkeit führt die pluralistische Reli-
gionstheologie die Vielheit der Religionen auf die Vielheit der Kulturen
zurück. Aber sind Kulturen wirklich solche zunächst religionsunabhän-
gigen Größen, die sie sein müssten, damit in ihrer Verschiedenheit die
Verschiedenheit der Religionen gründen könnte? Wird die Identität ei-
ner Kultur nicht vielmehr umgekehrt durch eine bestimmte Deutung des
Unendlichen konstituiert, die alle anderen Gestaltungen des mensch-
lichen Geistes beseelt?
Zweitens erlaubt die hegelsche Konzeption, die Vorstellungen der Re-
ligionen vom Unendlichen als zutreffende Beschreibungen gelten zu las-
sen. Zwar sind sie einseitige Bestimmungen des absoluten Geistes, der in
Ordnung, wenn er z. B. die ältere ägyptische Religion der jüngeren buddhistischen
sachlich überordnet.
54
Vgl. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar
2003, 464–467.
214 Vierter Teil: Die Wahrheit der Religionen
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