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Schneiders Hoffnung auf Vernunft

Werner Schneiders

Hoffnung auf Vernunft


Aufklärungsphilosophie in Deutschland

Felix Meiner Verlag · Harnburg


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lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für un-
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Vorwort

Gesucht wird die deutsche Aufklärungsphilosophie. Die vorliegenden


Studien sollen aber auch dazu beitragen, die zwischen der gegenwärtigen
Aufklärungsdiskussion und der neueren Aufklärungsforschung klaffende
Kommunikationslücke auszufüllen - soweit dies durch Verminderung
historischer Unkenntnis, insbesondere im Hinblick auf die geistige Ent-
wicklung Deutschlands, überhaupt möglich ist. Aus diesem Ziel erklärt
sich auch der gemischte Stil der einzelnen Erörterungen: als Bemühen um
die schwere Kunst, allgemeinverständlich zu sein, ohne den Spezialisten
zu enttäuschen. Doctus sine pompa!
Ausgangspunkt der Ausarbeitung dieser Abhandlung war ein öffentli-
cher Vortrag mit dem Titel "Aufklärungsphilosophien", den ich am
19.11.1987 auf der XII. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erfor-
schung des 18. Jahrhunderts mit dem Generalthema "Europäische Auf-
klärung(en)- Einheit und nationale Vielfalt" halten durfte. Den Veran-
staltern Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach, die mich eingeladen
haben, sowie Rainer Gruenter und Sabine Solf, die mich zu der Ausarbei-
tung ermutigt haben, sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Großen
Dank schulde ich auch meinen Mitarbeitern Christoph Bruckmann,
Frank Grunert und Veronika Raida, die mir bei der Herstellung des Tex-
tes mit Rat und Tat geholfen haben.

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Inhalt

I. Das Land der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

a) Aufklärungen über Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10


b) Hoffnung auf Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
c) Wille zur Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
d) Aufklärungsphilosophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

II. Das Bild der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

a) Wege zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52


b) Gegenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
c) Im Sonnenlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
d) Zweifelhafte Siege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

III. Der Begriff der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

a) Lebendige Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112


b) Endgültiges Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
c) Eklektik und Popularphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
d) Selbstverständigung und Verselbständigung . . . . . . . . . . . . . . . . 146

IV. Die wahre und die höhere Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

a) Historisierung und Enthistorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158


b) Selbstdefinition und Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
c) Die Armseligkeit der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
d) Aufklärung als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

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I. Das Land der Aufklärung

Aufklärung ist immer noch ein Schlagwort, an dem sich die Geister schei-
den. Nachdem die damit gemeinte Sache und die danach benannte Epo-
che in Deutschland lange Zeit verfemt waren, kam es nach dem Zweiten
Weltkrieg, aus der Perspektive einer allgemeinen Hoffnung auf ein neues
Zeitalter der Vernunft, zu einer Rückbesinnung auf die verschüttete Tra-
dition der Aufklärung: teils im Rahmen neuer oder neu entdeckter politi-
scher und philosophischer Fragestellungen, teils im Rahmen der histori-
schen Forschung. Inzwischen hat diese Aufklärungsbegeisterung, z. T.
durch exaltierte Erwartungen und aktionistischen Pseudorationalismus
diskreditiert, im Gegenwind einer neuen geistigen und politischen
'Wende' beträchtlich an Schwung verloren; neben die schon bekannten
Plädoyers für Aufklärung sind wieder die auch nicht ganz neuen Klagen
über das Elend der Aufklärung getreten. Der gemeinsame formale Nen-
ner dieser Aufklärungsdiskussion ist bestenfalls ein "Ja-aber": Aufklä-
rung ja, aber nicht so halbherzig wie bisher; Aufklärung ja, aber nicht so
maßlos wie bisher. Ein Streit über Möglichkeiten und Grenzen der Auf-
klärung, der im Grunde ein Streit über das Wesen der Aufklärung ist und
der selber bis in die Aufklärung zurückreicht!
Was ist Aufklärung, was war die Aufklärung, was kann oder soll Auf-
klärung sein? Aufklärung als Aktion oder Aktionsprogramm und Auf-
klärung als geschichtliche Erscheinung oder Epoche scheinen nahezu
unvermeidlich immer in einem Atemzug genannt werden zu müssen,
deskriptiv-historische und philosophisch-systematische bzw. normativ-
programmatische Fragen scheinen sich unvermeidlich zu verknüpfen
und zu vermischen. Die historische Frage, was Aufklärung zu ihrer Zeit
war bzw. bis heute ist, präformiert die programmatische Frage, was Auf-
klärung auch heute und in Zukunft noch sein könnte oder sein sollte.
Und umgekehrt, das Interesse an irgendeiner Art von Aufklärung, vor
allem der Wille, daß solche Aufklärung sei, bestimmt auch selektiv und

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normativ als leitendes Interesse die historische Frage nach der so benann-
ten Zeitepoche. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn die Frage nach dem
historischen Phänomen Aufklärung als eine Art Wesensfrage gestellt
wird, nämlich als Frage, was die Aufklärung eigentlich oder im Grunde
war. Was war die Aufklärung wirklich oder in Wahrheit, was war die
wirkliche oder wahre Aufklärung?

a) Aufklärungen über Aufklärung

Heute dürften es (sieht man von mancherlei mehr oder weniger geistrei-
chen Aufklärungsdefinitionen ab) vor allem drei Deutungstendenzen
sein, die teils als Rechtfertigungs- teils als Kritiktendenzen das weite Feld
der Aufklärungsdiskussion beherrschen. Es sind, grob gesprochen, die
religiöse oder religionsgeschichtliche, die politische oder gesellschaftsge-
schichtliche und die metaphysische oder geistesgeschichtliche Interpreta-
tion. Waren die Aufklärer vor allem Feinde der (christlichen) Religion?
Waren sie vor allem Feinde der (feudalen) Gesellschaftsordnung? Oder
waren sie gar Feinde jeder (objektiven) Vernunftordnung überhaupt?
War die Aufklärung also ein Abfall von Gott? War sie ein Aufstand des
Bürgertums gegen den Adel? Oder war sie gar die geistige Freisetzung des
Individuums aus allen Bindungen überhaupt? Jeder der drei Deutungsan-
sätze hält die Aufklärung für einen eminent wichtigen Abschnitt der
Geschichte, und alle drei haben gute Gründe für sich. Alle drei Interpre-
tationen gründen aber auch in der Aufklärung selber, und wohl nicht
zufällig verstehen sie Aufklärung - anscheinend unwillkürlich - als
Negation.
Die älteste Deutung der Aufklärung, die diese von Anfang an begleitet
hat, dürfte die religiöse bzw. theologische, später dann auch religionsge-
schichtliche sein. Demnach ist Aufklärung im Grunde antichristlich, ja
atheistisch. Sie ist ihrem Wesen nach eine (illegitime) Rebellion einer sich
selbst überschätzenden Vernunft gegen die Religion, vor allem die Offen-
barungsreligion, in der sich Gott den Menschen schenkt. Sie ist also eine
hochmütige Selbstbehauptung des menschlichen Wissens gegenüber dem
demütigen Glauben und gründet als Selbstverherrlichung der menschli-
chen Vernunft in einer Selbstverabsolutierung des Menschen gegenüber
Gott. Letztlich betreibt sie die Abschaffung aller Religion und die Aus-
breitung des Atheismus. Bei einer solchen Interpretation wird natürlich
die Religion bzw. das Christentum axiomatisch vorausgesetzt und in der
einen oder anderen Form als Norm absolut gesetzt, Atheismus oder auch

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nur Ablehnung des Christentums folglich mehr oder weniger als Abfall
des Menschen von seinem eigenen Wesen kritisiert. - Dazu wäre natür-
lich vieles zu sagen. Vor allem aber ist - gleichgültig, ob und wie man
Religionskritik bewerten will - zunächst einmal historisch festzustellen,
daß nur eine ganz geringe Zahl derer, die heute Aufklärer genannt wer-
den oder die sich selber so genannt haben, sich auch als Atheisten verstan-
den bzw. zu erkennen gegeben hat. Viele waren Deisten, die meisten hiel-
ten sich allem Anschein nach in der einen oder anderen Form für Chri-
sten (ganz abgesehen davon, daß auch die Inhalte vieler aufklärerischer
Programme, selbst wenn sich deren Autoren nicht als Christen verstan-
den, faktisch weitgehend christlichen Ursprungs waren). Natürlich kann
man die Bekenntnisse der Aufklärer zur Religion als Taktik oder allge-
meine Heuchelei interpretieren; oder man kann meinen, daß die Aufklä-
rer sich über sich selber nicht im klaren waren und sich vielleicht sogar
ihre letztendliche Religionsfeindlichkeit verhehlten. Vielleicht waren die
Aufklärer sogar subjektiv religiös und dennoch objektiv antireligiös.
Aber abgesehen davon, daß sich niemand ganz im klaren über sich ist
und daß jeder Kompromisse mit sich und der Welt schließt, scheint es
doch nicht nur methodisch bedenklich, sondern auch wider alle Wahr-
scheinlichkeit, daß gerade die Aufklärer reihenweise positiv über die
Religion geschrieben hätten, nur um ihre wahre Meinung zu verbergen,
anstatt zu diesem Thema einfach zu schweigen, wenn sie schon nicht ihre
wahren Gedanken veröffentlichen konnten. Und wenn man der Aufklä-
rung schon unausgesprochene oder unbewußte Motive unterstellen will
bzw. muß, dann war die Aufklärung vielleicht nicht nur Religionskritik,
sondern auch einer der ersten Versuche, das Christentum, das sich durch
seine Verweltlichung und Politisierung sowie seine internen Zwiste
selbst desavouiert hatte, durch Ausrichtung auf eine Vernunftreligion zu
retten. Aber es ist natürlich richtig, daß die Aufklärung des 18. Jahrhun-
derts einerseits die alte Unterscheidung von natürlicher Vernunft und
übernatürlichem Glauben forciert hat und daß sie andererseits die Macht-
ansprüche der Kirchen, bestimmte Formen des Glaubens und z. T. sogar
die Religion als solche heftig kritisiert hat. Allerdings kann man auch aus
religiösen Gründen gegen bestimmte Formen der Religion, der Theolo-
gie und der Kirche kämpfen, und man kann auch aus religiösen Gründen
für eine scharfe Unterscheidung von Wissen und Glauben eintreten. Die
Unterscheidung von Wissen und Glauben kann einer Selbstbescheidung
der Vernunft entspringen oder eine Beschränkung der Kompetenz der
Theologie zum Ziele haben, ja sogar beides zugleich beinhalten; und die
Kritik bestimmter Aspekte der Religion kann auf die Religion im ganzen

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zielen oder im Dienst einer erstrebten wahren Religion stehen. Faktisch
gibt es zwar in der Aufklärung eine unverkennbare Verlagerung des
Interesses von der Offenbarungstheologie zur natürlichen Theologie und
von der Theologie überhaupt zur Anthropologie, also vom erahntenJen-
seits zum erkennbaren Diesseits. Doch dürften die Alternativen Glaube
oder Vernunft, Theologie oder Anthropologie und Theonomie oder Autono-
mie (obwohl vielleicht unverzichtbare begriffliche Hilfsmittel) in dieser
Form schlechte Abstraktionen darstellen, wenn damit die ohnehin
schiefe Frage Glauben an Gott oder Berufung auf die Vernunft alternativ
diskutiert werden soll. Sie können nur allzuleicht der Selbstbehauptung
sich selber kaschierender Positionen dienen; die Berufung auf Gott kann
z. B. ebenso eine Selbstverabsolutierung sein wie der Rückzug auf eine
ihrer selbst gewisse eigene Vernunft. Für eine Wesensbestimmung der
Aufklärung genügen solche Begriffe jedenfalls nicht. Aufklärung, so
scheint es, ist, wenn man sie nicht von vornherein religiös inhaltlich fest-
legen will, von sich aus weder theistisch noch atheistisch, sondern
zunächst nur eine engagierte Bemühung um Vernunft, also auch in der
Frage nach Gott ein Prozeß der Vernunft mit ungewissem Ausgang.
Spätestens seit der Spätaufklärung, auch schon vor der Französischen
Revolution, gibt es die Deutung der Aufklärung als ein primär politisches
Phänomen. Nach dieser gesellschafts-, später sogar geschichtsphilosophi-
schen Deutung der Aufklärung ist sie im Grunde eine soziale Bewegung,
getragen von einem aufsteigenden Bürgertum, dem es letztlich nur um
die Abschaffung des wirtschaftlich und politisch überholten Feudalismus
geht. Genauer gesagt, die Aufklärung ist die letzte Epoche in einem lan-
gen Kampf des Bürgertums, der schon im Spätmittelalter begonnen hat
und sich im Namen allgemeiner Prinzipien, mit mehr oder weniger
demokratischen Zielen, gegen vorhandene Privilegien richtete und daher
auch gegen die Verbrämung dieser Privilegien in der herrschenden Welt-
anschauung. Eigentlich ist die Aufklärung also nur ein Epiphänomen,
nämlich selber eine Ideologie, die der Herrschaftsvorbereitung einer
neuen gesellschaftlichen Gruppe dient; sie ist nach marxistischer Erwar-
tung sogar der Anfang des letzten Abschnitts in dieser Ideologiege-
schichte, vor dem Beginn einer klassenlosen Gesellschaft mit einer neuen
'wahren' Ideologie. Bei einer solchen, tendenziell geschichtsmetaphysi-
schen Interpretation wird allerdings axiomatisch vorausgesetzt, daß es
eine Art universalen Geschichtsprozeß gibt, einen mehr oder weniger
zielgerichteten gesamtgesellschaftlichen Prozeß, der vor allem durch öko-
nomische Faktoren (Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse)
bestimmt ist; und es wird ferner vorausgesetzt, daß dieser Prozeß und

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seine Faktoren sozusagen die Grundwirklichkeit, die letzte und wahre
Wirklichkeit darstellen, auf die alle Phänomene zurückbezogen und aus
dem alles andere erklärt werden kann. - Hier wäre natürlich zunächst
wieder historisch daran zu erinnern, daß auch im 18. Jahrhundert der
Adel sowie das Bürgertum durchaus differenzierte Gruppen mit sich
überschneidenden Interessen bildeten, daß also Adel und Bürgertum
keine monolithischen Gruppen waren und daß sie also wahrscheinlich
auch keine Prinzipien oder Entitäten darstellen, die dialektisch gegenein-
ander agieren. Fest steht auch, daß die Aufklärung z. T. sogar vom Adel
ausging, von diesem gefördert und mitgetragen wurde, so wie umgekehrt
bürgerliche Aufklärer mit adeligen kooperierten und sich sogar gerne in
den Adelsstand erheben ließen und erst in der Spätaufklärung (zum Teil)
nachdrücklich gegen den Adel opponierten. Wenn also der Kampfzweier
Großgruppen (Klassen) das letzte Kriterium der Einschätzung abgeben
soll, dann wußten die weitaus meisten Aufklärer, ob bürgerlich oder ade-
lig, im Grunde nicht, was sie taten; anstatt sich gegenseitig ihrem inneren
Gesetz gemäß zu bekämpfen, widersprachen sie sich jeweils selber, sie
waren also objektiv sogar Verräter an ihrer jeweiligen Sache. Dann aber
scheint Aufklärung eine von der gesellschaftlichen Stellung bzw. der
sogenannten ökonomischen Basis relativ unabhängige Geisteshaltung zu
sein. Als historisches Phänomen betrachtet war sie jedenfalls keineswegs
durch und durch politisch. Sie zielte zwar auch auf eine Reform der
Gesellschaft, aber nicht unbedingt oder nur z. T. und erst spät auch auf
die Abschaffung des Adels, obwohl sie im Ausgang von einer allgemeinen
Menschenvernunft natürlich tendenziell alle geschichtlich gewordenen
Unterschiede unter Legitimationszwang stellte und insofern auch eine
Tendenz zur Egalisierung implizierte. Auch in Frankreich politisierte sie
sich eigentlich erst nach der Jahrhundertmitte, und auch hier war sie nur
sporadisch politisch radikal, demokratisch oder revolutionär. Aber es ist
natürlich richtig, daß es in jeder Gesellschaft einerseits aufsteigende,
meist irgendwie produktive, andererseits etablierte, dabei nicht selten
unproduktive Gruppen gibt, daß es also (außer dem anscheinend unauf-
hebbaren Druck von oben) immer Druck von unten auf die jeweils Herr-
schenden und ihre Hierarchien gibt, daß sich dann diese Opposition auch
in einer Tendenz zu bestimmten Geisteshaltungen äußert und daß es
gerade im 18. Jahrhundert eine rasante gesellschaftliche Entwicklung
gegeben hat, den sogenannten Aufstieg des Bürgertums. Insofern kann
man sagen, daß die Aufklärung wesentlich von Bürgern getragen wurde
bzw. die 'Ideologie' dieser Bürger war. Die Frage ist nur, ob man alle
Inhalte dieser 'Ideologie' als bloße Aufsteigerideologie charakterisieren

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kann, d. h. ob man die Aufklärung in geschichtsphilosophischer Betrach-
tung total politisch funktionalisieren oder instrumentalisieren darf, ob
man das materielle Interesse der Menschen, ihre wirtschaftlichen und
daher auch politischen Ambitionen als ihr letztes, alles letztlich erklären-
des Motiv ansehen muß (von der Selbstrelativierung dieser Betrachtungs-
weise, die sich konsequenterweise selbst als bedingt verstehen müßte, ein-
mal ganz abgesehen). Daß die Berufung auf eine allgemeine Menschenver-
nunft einen auch politisch egalitären (demokratischen) Effekt hat und
daß dieser auch gewollt werden kann, dürfte unstrittig sein. Die Frage ist
nur, ob die Aufklärung als historisches Phänomen (nicht eine substitu-
ierte, gleichsam unterirdische Aufklärung an sich) den politischen
Umsturz der Gesellschaft erkennbar gewollt hat und ob dies ihr eigentli-
ches Motiv oder Ziel gewesen ist. Es ist also zu fragen, ob die politische
Deutung nicht - ähnlich wie die religiöse und die metaphysische - eines
der 'Ergebnisse' der Aufklärung als deren einziges Ziel und alles andere
als Mittel deutet und so Ursache bzw. Absicht und Wirkung verwechselt
wird; ob also nicht auf diese Weise ausgerechnet die so sehr reflektierten
Aufklärer zu unbewußten Agenten einer hintergründigen Emanzipa-
tionsgeschichte und damit zu Marionetten eines (sozioökonomischen)
mechanismus metaphysicus gemacht werden, der zwar nicht mehr theo-
logisch, aber immer noch teleologisch verstanden wird, und insofern
doch im Sinne einer politischen Theologie oder einer ihr selbst unbewuß-
ten schlechten Metaphysik.
Die wohl jüngste und radikalste Tendenz der Aufklärungsdeutung
beruht auf einer Art metaphysischen Betrachtungsweise der Aufklärung,
die bis auf Hegel zurückgeht. Sie ist geistesgeschichtlich - weniger im
Sinne einer bloßen Ideengeschichte, als vielmehr im Sinn einer gattungs-
geschichtlichen Geistes-, wenn nicht sogar Seinsgeschichte. Für sie ist die
Aufklärung der definitive Beginn der Moderne, insbesondere des neuzeit-
lichen Rationalismus, wie er in Wissenschaft und Technik zum Ausdruck
kommt und heute seine destruktiven, möglicherweise menschheitsver-
nichtenden Konsequenzen offenbart. In der Aufklärung hat sich das Den-
ken nicht nur von Gott und aller überlieferten Gesellschaftsordnung,
sondern von Natur und Geschichte gleichermaßen, im Grunde von aller
Anerkennung verbindlicher Ordnung überhaupt gelöst und ist zur leeren
Vernunft oder zum bloßen Verstand geworden. Die Selbstbefreiung des
Ich, die auf Emanzipation von aller Abhängigkeit überhaupt zielt, führt
zu einer Selbstverabsolutierung der individuellen oder subjektiven Ver-
nunft und damit geradewegs in die bodenlose Raserei eines losgelassenen
Denkens, welches am Ende das losgelassene Subjekt dieses Denkens und

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damit sich selbst zerstört. -Die Problematik, deren Ursprung hier der
Aufklärung zugeschrieben wird, ist in der Tat höchst aktuell. In welchem
Verhältnis steht die individuelle oder subjektive menschliche Vernunft
zu einer möglicherweise übergreifenden und sie selbst bestimmenden
objektiven Ordnung (Vernunftordnung), sei es die der Tradition, sei es
die der Natur, sei es Gott selber. Wie verhält sich Selbstbestimmung zu
Anerkennung? Dennoch muß auch hier zunächst rein historisch festge-
halten werden, daß, falls es überhaupt einen solchen universalen Emanzi-
pationsprozeß der Vernunft als gesamtgeschichtlichen Prozeß gibt, dieser
dann nicht mit der Aufklärung begonnen hat, sondern Qe nachdem, wel-
che Akzente man setzen will) schon mit der modernen Bewußtseinsphi-
losophie, also mit der Selbstbehauptung des Cogito, oder mit der moder-
nen Wissenschaft bzw. Technik, aber vielleicht auch schon mit Sokrates
und der Sophistik, ja wenn man so will, sogar mit dem Beginn der Philo-
sophie als Vernunftverselbständigung überhaupt. Betrachtet man jedoch
die Aufklärung im engeren Sinn, so wird man einerseits sagen müssen,
daß im 18. Jahrhundert durch die Verselbständigung der Vernunft deren
Verhältnis zur Wirklichkeit im ganzen in einer neuartigen Weise proble-
matisch geworden ist. Die kritische Vernunft stellt die überkommene
Ordnung bzw. die überkommenen Auffassungen von Ordnung und
damit mehr und mehr die ganze Welt in Frage und folglich unter Legiti-
mationszwang; sie wird in einem weltverändernden Maßstab weltkritisch
und zugleich Ausgangspunkt für die Entstehung einer neuen Welt. Ande-
rerseits wird man jedoch auch sagen müssen, daß gerade die Aufklärung,
wenn auch vielleicht nur in der Form eines säkularisierten Christentums,
nach Ordnung gesucht hat, allerdings nach einer neuen, nämlich in
ihrem Sinne vernünftigen Ordnung. So ist Aufklärung zwar nicht gegen
Tradition schlechthin gerichtet, aber da sie eine wahre Ordnung aus 'rei-
ner' Vernunft sucht, ist sie nicht mehr traditionsorientiert, sondern
zukunftsorientiert; sie will eine neue vernünftige Welt im Sinne ihrer
eigenen Vernunft (in der natürlich auch die Tradition ihren unaufhebba-
ren Ort haben kann). Dabei beruft sie sich zwar auch auf die modernen
Wissenschaften, die längst alle Ordnungen in Frage zu stellen begonnen
hatten, aber sie selber versteht sich im allgemeinen nicht als Wissenschaft
im modernen Sinn (Naturwissenschaft), und sie ist es auch nicht. Die
Aufklärer betonen zwar den Nutzen und die Notwendigkeit der Wissen-
schaften und nennen auch die Philosophie im allgemeinen eine 'Wissen-
schaft', nämlich im weiten und alten Sinn des Wortes; aber sie selber sind
nur selten auch Wissenschaftler in irgendeinem engeren Sinne, eher
schon deren 'Ideologen', Herolde oder Vermittler. Aufklärung ist also

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keine Wissenschaft, die sich und ihren ursprünglichen Vernunftanspruch
verraten hätte; sie ist vielmehr bereits eine Antwort auf die moderne Wis-
senschaft und deren Rationalitätsstandard - teils Ideologie der Wissen-
schaft, teils auch schon deren Kritik. Sie ist nicht identisch mit Wissen-
schaft und Technik, nicht einmal deren Prototyp; sie ist auch nicht der
Inbegriff des neuzeitlichen Rationalismus, wenn dieser im Sinne einer
positivistischen, bloß instrumentellen Vernunft verstanden wird. Aufklä-
rung ist selber schon ein Versuch der Vernunft, auf dem Boden der wis-
senschaftlichen Vernunft mit den bedrohlichen Konsequenzen der
modernen Vernunft fertig zu werden. Sie ist wie alle Philosophie immer
auch Kampf gegen das drohende Chaos, das doch nicht zuletzt durch sie
selber ermöglicht worden ist, also Suche nach einer vernünftigen oder
der wahren Ordnung der Dinge.
Aufklärungen über Aufklärung oder Gespenstergeschichten- pseudo-
philosophisches Schattenboxen, Schemen gegen Schemen? Schon die
bloße Skizzierung der religiösen, politischen und metaphysischen Deu-
tungsmuster zeigt, daß sie zwar wichtige Aspekte der Aufklärung sicht-
bar machen können, aber daß sie sich auch allzu grober Raster, pauscha-
ler Aufklärungsbegriffe und globaler Argumentationen bedienen. Sie
müssen daher mehr Probleme aufwerfen, als sie zu lösen vorgeben.
Offensichtlich arbeiten alle drei Aufklärungsdeutungen mit einem über-
strapazierten Aufklärungsbegriff, der, anstatt die Aufklärung als
geschichtliche Erscheinung zu erklären, dahin tendiert, sich zu verselb-
ständigen und von einer Aufklärung an sich zu reden. Will man z. B. die
religiöse Interpretation der Aufklärung als atheistisch oder die politische
Interpretation der Aufklärung als demokratisch-revolutionär gelten las-
sen, dann muß man gut neunzig Prozent aller Aufklärer als uneigentliche
oder inkonsequente, als halbherzige oder kompromißlerische Aufklärer
bezeichnen. Alle diese Interpretationen fragen, was Aufklärung eigent-
lich sei, eigentlich wolle oder was ihre letzte Ursache sei- und sie tendie-
ren so zu metaempirischen Aufklärungskriterien und damit zu einem (im
schlechten Sinne) metaphysischen Aufklärungsbegriff, wobei sie Aufklä-
rung wesentlich als Negation einer Norm verstehen, die geschichtlich
gültig war oder sogar immer noch gelten sollte. Im Grunde handelt es
sich um Varianten des bekannten Versuchs, für die wirklichen oder
angeblichen Errungenschaften oder auch Miseren der Moderne einen
Helden oder einen Sündenbock zu finden. Die Aufklärung gilt mit gutem
Grund als der vorläufige Höhepunkt einer schon lange schwelenden und
noch längst nicht ausgetragenen Krise. Aber schon indem die genannten
Interpretationen die Aufklärung in geschichtliche Langzeitprozesse ein-

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ordnen, die sie nach dem Modell der Aufklärung des 18. Jahrhunderts als
Aufklärung im weiteren Sinn verstehen, kommt es zu einer Auflösung
und Ausweitung des Aufklärungsbegriffs und dadurch zu einer Entfer-
nung von dem historischen Phänomen Aufklärung. Zugleich kommt es
aber auch zu einer Entfernung von den historischen Phänomenen über-
haupt, indem immer schon und also voreilig nach dem 'Wesen' oder den
'eigentlichen' Zielen bzw. Motiven der Aufklärung gefragt wird, wobei
nicht selten Tatsachen, die u.a. auch durch die Aufklärung verursacht
worden sind, als deren Ziel unterstellt werden. Dies führt dann nur allzu
leicht zu einer gefährlichen, weil unkontrollierten Verdoppelung der
Geschichte; die Hypothesen gewinnen ein Eigenleben im Untergrund,
entwickeln sich zu einer Art schlechter metaphysischer Realität, und die
'wirkliche' Geschichte ist nicht die 'wahre' Geschichte.
Dabei sind die historischen Phänomene sogar bis zu einem gewissen
Grade unstrittig. Es handelt sich in der Aufklärungsdiskussion weitge-
hend nur darum, welche Phänomene man als prototypisch ansehen und
folglich zu Bewertungsmaßstäben machen darf, also um die Rangord-
nung der Phänomene, d. h. darum, welches die grundlegenden und wel-
ches die abhängigen Phänomene sind bzw. auf welche Ursachen man sie
zurückführen darf oder muß. Insofern ist die Frage der Charakterisie-
rung und Interpretation der Aufklärung in gewisser Weise zunächst ein
methodisches Problem. Selbstverständlich kann man den Begriff Aufklä·
rung (ähnlich wie die Begriffe Barock und Romantik) sehr weit und sogar
nahezu unhistarisch fassen; aber je mehr dann darunter begriffen werden
kann, desto weniger greift der Begriff von den Ausgangsphänomenen.
Und selbstverständlich kann man den Begriff auch so eng fassen, daß er
nur noch auf ganz wenige Phänomene bzw. Personen zutrifft, auf die er
bewußt oder unbewußt zugeschnitten ist. Und man kann dann sogar mit
beiden Begriffen gleichzeitig jonglieren, z. B. mit einem weiten für Eng-
land und Frankreich und einem engen für Deutschland. Ein griffiger und
wirklich greifender Aufklärungsbegriff sollte jedoch von den Phänome-
nen ausgehen, die man landläufig als die Aufklärung des 18. Jahrhunderts
versteht, und nicht ohne Not davon abgehen. Und diese Phänomene soll-
ten zunächst (soweit wie möglich) aus sich verstanden werden, d. h. die
Fakten sollten nicht von vornherein im Sinne einer vorausgesetzten Deu-
tungsnorm total funktionalisiert und instrumentalisiert werden. Im fol-
genden soll jedenfalls die Frage nach dem Wesen der Aufklärung (was die
Aufklärung in Wahrheit und folglich die wahre Aufklärung war) solange
wie eben möglich zurückgestellt werden und daher auch die Frage nach
der causa prima der Aufklärung zugunsten der Erörterung einiger causae

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secundae auf sich beruhen bleiben. Aber natürlich kann der Versuch, das
historische Phänomen Aufklärung vor seinen Deutungen zu retten,
immer nur in Grenzen gelingen, weil er ebenfalls unvermeidlich mit
(wenn auch möglichst methodischen, möglichst nicht metaphysischen)
Hypothesen arbeiten muß.
Zum Ausgang von den Phänomenen gehört der Ausgang vom Selbst-
verständnis der Aufklärer, das nicht als quantite negligeable behandelt
werden darf. Mit anderen Worten, man muß zunächst einmal von den
Personen ausgehen, die sich mehr oder weniger deutlich selbst als Aufklä-
rer verstanden haben, d. h. man muß überhaupt erst einmal dieses Selbst-
verständnis und die damit unmittelbar verknüpften Phänomene mög-
lichst unverkürzt zur Kenntnis nehmen. Natürlich können sich
geschichtliche Wirklichkeit und geschichtliches Selbstbewußtsein nie-
mals decken, also muß man auch die Aufklärer besser zu verstehen
suchen, als sie sich selbst verstanden haben. Aber die unvermeidliche Dif-
ferenz von Wissen und Wirklichkeit ist kein zureichender Grund, den
Aufklärern von vornherein ein totales Selbstmißverständnis oder eine all-
gemeine Heuchelei zu unterstellen, also z. B. alle Aufklärer als ver-
kappte, bestenfalls unbewußt halbherzige Atheisten und Revolutionäre
zu sehen. Unter solchen Voraussetzungen, die auf ein unbelehrbares Bes-
serwissen gegen allen Anschein, also auf eine leichtfertige Selbstverabso-
lutierung des eigenen Standpunktes, hinauslaufen, wäre allen beliebigen
Interpretationen Tür und Tor geöffnet. Daher kann es im folgenden
zunächst nur darum gehen (im historischen Interesse, aber nicht nur aus
historischem Interesse), einen an den bekannten und relativ unstrittigen
historischen Phänomenen orientierten Aufklärungsbegriff zu skizzieren
- einen sozusagen mittelfesten, d. h. provisorischen und revidierbaren,
flexiblen und zugleich praktikablen Aufklärungsbegriff. Dabei wird vor-
ausgesetzt, daß es überhaupt einen guten Sinn hat, von einer Epoche als
dem geistigen Gepräge einer Zeit zu sprechen - ohne das Mißliche von
Epochenbegriffen und ihre begrenzte Leistungsfähigkeit leugnen zu wol-
len, aber auch ohne nun das Epochenproblem als geschichts- und
erkenntnistheoretisches Problem diskutieren zu können. Ein solcher
konkreter und, wenn man so will, noch oberflächlicher Aufklärungsbe-
griff kann sich auf einige zentrale Phänomene oder vielmehr Tendenzen
der Aufklärung beschränken, die ihrerseits natürlich wieder auf motivie-
rende Bedürfnisse verweisen. Dabei ist klar, daß das 18. Jahrhundert
nicht nur das Jahrhundert der Aufklärung, sondern z. B. auch das Jahr-
hundert des Pietismus und des Absolutismus, der Empfindsamkeit und
des Geniekults, der Höfe und der Musik usw. war; aber der Wille zur

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Aufklärung war doch so dominant, daß er diesem Jahrhundert mit Recht
seinen Namen gegeben hat. Und dabei ist auch klar, daß die Aufklärung
nur ein kleiner Abschnitt im Prozeß der abendländischen Zivilisation
war, der wie jede Epoche selbst wieder viele Wurzeln und Wirkungen
hat; sie aktualisiert Prozesse, die bis in die Antike zurück und in die
Gegenwart hinein reichen und hier oftmals sogar zu kulminieren schei-
nen. Aber obwohl die Aufklärung nicht zuletzt deshalb so interessant ist,
weil sie einerseits in so vielen Dingen noch so traditionell ist, nämlich
Ausklang einer über zweitausendjährigen alteuropäischen Geschichte,
andererseits in vielen Dingen so radikal neu und damit unmittelbare Vor-
geschichte der Gegenwart oder Beginn der Moderne ist, muß man der
Versuchung, sie durch Einordnung in Langzeitprozesse zu bestimmen, so
lange wie möglich widerstehen und sie erst einmal so weit wie möglich
aus sich heraus verstehen. Vielleicht läßt sich so auch das gegenwärtige
Auseinanderklaffen von Aufklärungsforschung und Aufklärungsdiskus-
sion ein wenig reduzieren.

b) Hoffnung auf Vernunft

Was war die Aufklärung, was heißt Aufklärung in historischer Hinsicht?


Da die Aufklärung sich ihren Namen selbst gegeben hat, d. h. sich selbst
als Aufklärung verstanden und gewollt hat, darf man mit einigem Recht
von dieser Selbstdefinition ausgehen (auch wenn sie wie alle solche
Bezeichnungen zweifellos unzureichend ist und obwohl jedes Selbstver-
ständnis zweifellos auch ein Selbstmißverständnis ist). Die Aufklärung
beginnt zwar nicht mit dem metaphorischen Gebrauch des Wortes Auf
klärung, aber es begleitet sie doch von Anfang an und setzt sich auf ihrem
Höhepunkt gegen andere Begriffe wie Erhellung, Erleuchtung usw. durch.
Aufklärung zielt auf Helligkeit, 'Lichtung' oder Durchleuchtung, und
dazu bedarf es des Lichtes. Aber es geht nicht nur um Helligkeit, um
irgendetwas sehen (aufdecken, entdecken) zu können, was bisher im
Dunkeln (Verborgenen) lag, sondern darüberhinaus um den Versuch,
dem bisher nur verschwommen Sichtbaren klare Kontur zu geben; es
geht um Klärung als Entwirrung des Verworrenen. Alles soll möglichst
klar und deutlich werden, d. h. als solches aufgezeigt, in sich geordnet
und von allem anderen unterschieden werden. Sachklärung soll alles in
sich und von anderem unterscheiden, Klarsicht oder den richtigen
Durchblick vermitteln. Aufklärung zielt auf Wahrheit durch Klar-
heit.

19
Dazu aber bedarf es vor allem der Klarheit der Begriffe. Begriffsklärung
ist die Hauptbedingung aller Sachklärung, wenn nicht sogar schon
wesentlich diese selbst. Genauer gesagt geht es also in der Aufklärung
(nach ihrem eigenen Selbstverständnis, also auch gemäß ihrer Selbstbe-
stimmung) primär um die Aufklärung des Verstandes oder die Entwick-
lung der richtigen Vernunft. Der Verstand oder die Vernunft - was hier
vorerst ununterschieden bleiben darf - soll zur höchstmöglichen Voll-
kommenheit gebracht werden oder vielmehr zunächst einmal zu sich
selbst kommen, und zwar durch sich selbst. Aufklärung ist clarificatio
(Reinigung, Läuterung) des Verstandes oder der Vernunft durch sich
selbst. Die als Licht gedeutete Vernunft (Iumen naturale, Iumen rationis)
soll Licht in die Dunkelheit der Unkenntnis und vor allem Klarheit in
die Verworrenheit der bisherigen Pseudoerkenntnisse bringen. Dazu
bedarf es jedoch zuvor der emendatio intellectus, der Ausbesserung des
Verstandes oder der Beseitigung seiner Mängel. Aufklärung ist wesentlich
rectificatio, nämlich "Berichtigung der Begriffe". Klarer Verstand und
richtige Vernunft sollen alles nach Möglichkeit in ein richtiges Licht set-
zen. Klarer Verstand ist die Hauptbedingung der richtigen Vernunft, und
die richtige Vernunft ist das Licht des Verstandes. Obwohl in erkennt-
nistheoretischer Hinsicht weitgehend empiristisch und in anthropologi-
scher und theologischer Hinsicht zu einem guten Teil voluntaristisch
und insofern auch erkenntniskritisch ausgerichtet, bleibt die Aufklärung
als Aufklärung des Verstandes betontermaßen an einer normativen Idee
von Vernunft ausgerichtet - eine Vernunft, die sie, wie seit altersher
üblich, richtige oder gesunde Vernunft nennt und die sie durch Verstan-
desklarheit vervollkommnen will. Die eine und insofern allgemeine Ver-
nunft gilt ihr als "Stein der Weisen" oder doch als oberster "Probierstein
der Wahrheit". Vernunft nimmt mehr denn je sich selbst zur Norm.
Aufklärung ist ein Begriff, der eine Bewegung oder vielmehr Tätigkeit
bezeichnet, und zwar eine programmatische Aktion und damit auch ein
Aktionsprogramm - ein Programm, das auf eine größere Klarheit der
Erkenntnis gerichtet ist und das dem Willen der Vernunft zu sich selbst
entspringt. Aufklärung ist durch Hoffnung auf Vernunft bestimmt. Die
Vernunft ist sozusagen Ziel und Mittel gleichzeitig; sie ist immer noch
werdende Vernunft, also auch immer noch im Zustande der Unvernunft
und daher als Vernunft in Aktion vor allem im Kampf gegen Unver-
nunft. Die Vernunft richtet sich gegen alles, was ihr jeweils als U nver-
nunft erscheint: die Vorurteile, der Aberglaube, aber auch die Affekte.
Sie ist kämpferische, ja angriffslustige Vernunft. Insofern ist Aufklärung
auf weite Strecken ein militanter und offensiver, polemischer und agita-

20
torischer Rationalismus, der auf die Beseitigung der Irrtümer durch
Berichtigung der Begriffe zielt. Aufklärung ist primär "ein negativer
Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens" (Kant), also kri-
tisch, ja sogar destruktiv. Aber diese Kritik bleibt am Ideal einer vernünf-
tigen, d. h. gründlichen und unparteiischen Prüfung orientiert, und sie
hofft auf gültige Ergebnisse dieser Kritik, also auf Klarheit, die sich errei-
chen und konstruktiv entwickeln läßt.
Obwohl Aufklärung im Ansatz kritische Aktivität ist, will sie doch
keineswegs bloße Opposition sein. An sich ist jede Erkenntnis qua 'Lich-
tung' auf ein bestehendes Dunkel bezogen und insofern negativ gegen
Unkenntnis bzw. Pseudowissen gerichtet, und die Aufklärung hat durch
ihre Selbstbezeichnung diesen Aspekt der Erkenntnis, den Kampf gegen
Unwissenheit und Pseudoerkenntnis (Vorurteile, Aberglaube), nur
betont. Aber natürlich geht es ihr letztlich, als Aufhebung des Dunkels
der Unwissenheit und Beseitigung der Pseudoerkenntnis, um die wirkli-
che Erkenntnis von Sachverhalten oder die Enthüllung der Wahrheit.
Zwar ist, was am Anfang und Ende der Epoche besonders deutlich wird,
Aufklärung eine Kampfparole. Dennoch will Aufklärung nicht nur Auf-
hebung und Entwirrung von Mißverständnissen sein (und natürlich erst
recht nicht Kritik als totale Destruktion, die dann das Wahre von irgend-
woher erhofft), sondern sie will auch zur Sache selbst kommen. Sie ist
Kritik als Korrektur, aber als Bereinigung oder Berichtigung der Begriffe
(um nur diese Standardformel zu zitieren) lebt sie doch von der Hoff-
nung auf richtige (berichtigte, richtig gestellte) Begriffe. Sie versteht sich
daher auch nicht als endlose Interpretation im Sinne moderner Herme-
neutiken. Die emendatio intellectus, die Ausbesserung der Mängel des
Verstandes, lebt von der Hoffnung auf Wahrheit - und nicht selten
haben die Aufklärer geglaubt, nach der 'negativen' Aufklärung des Ver-
standes nun auch die rein 'positive' Erklärung der Begriffe (explicatio,
expositio) leisten zu können.
Das neuartige Selbstbewußtsein der Vernunft hat zweifellos eine seiner
wichtigsten Wurzeln in der modernen Wissenschaft und in der diese
begleitenden neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts. In dem relativ
theologiefernen Raum der Naturerkenntnis hatte die Vernunft bereits
eine gewisse Autonomie gewonnen, die zu einer Emanzipation der Philo-
sophie von der Theologie und der sie sichernden Metaphysik sowie zu
einer Emanzipation der Wissenschaft von der Philosophie tendierte.
Diese gewissermaßen noch interne, auf das theoretische Wissen
begrenzte Autonomie beginnt sich jedoch - durch die geschichtlichen
Verhältnisse provoziert - schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu

21
einer praktischen Autonomie weiterzuentwickeln. Die Vernunft tritt
sozusagen aus sich heraus und versucht sich mehr als zuvor gegen die bis-
herigen Formen des Glaubens und der Gesellschaft zur Geltung zu brin-
gen. Sie wird in einem bisher ungeahnten Maße 'praktisch'. Die Idee
einer nicht nur technisch oder medizinisch effektiven Wissenschaft, son-
dern einer umfassenden und wohl begründeten, insbesondere 'morali-
schen' Rationalität beginnt erste Konturen zu gewinnen, und damit auch
die Idee einer (rein) rational geordneten Gesellschaft und eines (bloß) ver-
nünftigen Glaubens. Im Unterschied zu der vorrangig an exakter Wissen-
schaft und technischer Praxis interessierten Philosophie der frühen Neu-
zeit (Bacon, Descartes, Leibniz) überwiegt nun fast überall das moralische
Engagement, und es kommt sogar vereinzelt schon zu ersten Ansätzen
einer Wissenschafts- und T echnikkritik, auch wenn die grundsätzliche
Orientierung an der 'Wissenschaft' davon unberührt bleibt. Die Aufklä-
rung setzt die moderne Wissenschaft als Faktum voraus, und sie engagiert
sich für Wissenschaft als unverzichtbaren Erkenntnisgewinn - sie orien-
tiert sich an ihr als vorbildliches rationales Verfahren. Aber sie selber ist
weder Wissensansammlung, noch methodische Forschung, noch über-
haupt wertfreie oder rein theoretische Erkenntnis, im allgemeinen also
nicht einmal Wissenschaft im weitesten Sinn des Wortes, sondern eher
dessen philosophische Klärung und praktische Anwendung zum Zwecke
eines wahrhaften und sich selber klaren Lebens. Aufklärung ist keine
Wissenschaft, sondern allgemeine Selbstorientierung durch Vernunft
(und dabei natürlich u.a. auch Aufklärung über Wissenschaft).
Neben der Wissenschaft ist vor allem die nun mehr und mehr als Dis-
krepanz empfundene Differenz von Vernunft und Glauben eine weitere
wichtige Wurzel der Aufklärung. Die Vernunft beginnt wieder einmal in
Opposition zum Glauben zu treten, die alte Entzweiung zwischen
Glaube und Vernunft bekommt schärfere Konturen und zwar durch ein
neues Selbstbewußtsein der Vernunft. Durch diese neuartige Akzentuie-
rung der Vernunft bleibt das Zeitalter der Vernunft von dem vorherge-
henden Zeitalter des Glaubens oder der Glaubenskämpfe deutlich unter-
schieden. An die Stelle der Glaubenskriege soll eine vernünftige Toleranz
treten, der Glaube selber soll vernünftig werden. Ohne das sogenannte
Überrationale grundsätzlich und von Anfang an zu leugnen, beginnt die
Aufklärung es mehr und mehr auszuklammern. Die Selbstbehauptung
der Vernunft führt zu einer stärkeren Verselbständigung des Ich und
damit zu einer Enttheologisierung des Denkens, nämlich zu einer Infra-
gestellung der selbstverständlichen christlichen Sehweise; das bedeutet
zunächst eine gewisse Ignorierung der Offenbarungstheologie und später

22
auch eine gewisse Reduzierung der natürlichen Theologie. Die Aufklä-
rung ist von Anfang an Kritik an bestimmten Formen der Religion, die
sie als Aberglauben, Enthusiasmus, Fanatismus usw. bezeichnet, später
dann auch gelegentlich Kritik an aller Religion überhaupt. Aufklärung ist
also auch Demystifikation und Desakralisation, nämlich Entheiligung
des Scheinheiligen um des wahren Heiligenwillen (was immer das jeweils
sei). Kurz, Aufklärung ist immer auch Ernüchterung und Respektlosig-
keit. Aber sie ist nicht von vornherein religionsfeindlich oder atheistisch;
sie ist auch nicht nur religionskritisch, obwohl dies wohlverstanden viel-
leicht ihr wichtigster Ausgangspunkt war, sondern im allgmeinen auch
auf ihre Weise ('vernünftig') religiös, ja sogar 'vernünftig' christlich.
Und selbstverständlich ist auch die betont kritische religiöse Aufklärung
oder Aufklärung über Religion noch von der Religion bestimmt, von der
sie ausgeht, um sie zu kritisieren.
Die Kehrseite der Abwendung von den endlosen Disputen über das
Jenseitige und Übernatürliche ist die Hinwendung zum Natürlichen und
Diesseitigen - eine Selbstbesinnung des Menschen auf sich und seine irdi-
sche Situation. Insofern ist die Enttheologisierung des Denkens der
Ursprung der modernen Welt- und Menschenkenntnis, insbesondere der
modernen Anthropologie oder vielmehr des ihr tendenziell zugrundelie-
genden Anthropologismus oder Anthropozentrismus. Der Mensch wird
zum eigentlichen Studienobjekt des Menschen (Pope), die Frage nach
dem Wesen des Menschen zur zentralen Frage der Philosophie (Kant).
Indem der Mensch die Erkenntnis Gottes mehr und mehr dahingestellt
sein läßt, versucht er zunächst einmal sich selbst zu erkennen, und ver-
steht nun Religion im Ausgang von sich selber als anthropologische
Funktion. Die aufklärerische Vernunft ist daher, obwohl sie sich noch
wie selbstverständlich an dem Ideal einer göttlichen Vernunft orientiert,
betont menschliche Vernunft. Die bewußte Selbstbehauptung der
menschlichen Vernunft, die sich von den ihrerseits schon durch Men-
schen vermittelten Ansprüchen der göttlichen Offenbarung durch Kom-
petenzdifferenzierung unabhängig zu machen versucht, bedeutet in der
Tat, auch wenn ihre Protagonisten das vielleicht nicht so gesehen haben,
nicht nur eine Selbstbefreiung der Vernunft aus ihrer Erniedrigung bzw.
Selbsterniedrigung, sondern als Selbstbehauptung gegen alles, was sich als
Gottes Wort gibt oder ausgegeben wird, auch eine gewisse Verselbständi-
gung durch Selbstermächtigung der Vernunft.
Aber die Verselbständigung der Vernunft, ihre Emanzipation aus ihrer
Bindung an Offenbarungstheologie und ihre Selbstbehauptung als
menschliche Vernunft, ist zugleich die Befreiung der individuellen Ver-

23
nunft zu sich selbst. Die Verselbständigung des Menschen hat seine Ver-
einzelung zur unmittelbaren Folge. Die Vernunft erweist sich daher in
praxi sofort als subjektive Vernunft - auch wenn sie sich nach wie vor
noch wie selbstverständlich an dem Ideal einer allgemeinen, objektiven
oder sogar absoluten Vernunft orientiert und ihren Anspruch auf Allge-
meinheit und Objektivität vorerst noch nicht aufgibt, ja diesen gegen die
zerstrittenen Glaubensrichtungen erst einmal mit Nachdruck geltend
macht. Die sogenannte Freisetzung des Individuums geschieht unter der
Bedingung der Bindung an die Vernunft; Autonomie ist auch Gehorsam
gegenüber der allgemeinen Vernunft in mir. Hier liegt aber zugleich (wie
natürlich auch in den Erkenntnisansprüchen der modernen Wissen-
schaft) eine Wurzel der Selbstanfechtung und Selbstproblematisierung
der Vernunft, nämlich der Frage nach den Möglichkeiten, den Grenzen
und der Reichweite der Erkenntnis. Was ist überhaupt Vernunft, und
was kann sie überhaupt leisten: sei es als Erkenntnisinstrument (theoreti-
sche Vernunft), sei es als Erkenntnisinstanz (praktische Vernunft)?
Wirkliche Vernunft im Sinne der Aufklärung ist nicht nur richtige,
sondern auch lebendige Vernunft, lebendige Erkenntnis nach Analogie
des lebendigen Glaubens. Deshalb ist sie auch nicht auf rein theoretische
Erkenntnisse ausgerichtet. Sie soll authentische Vernunft sein, d. h.
ursprüngliches und wirklich vollzogenes Denken (Selbstdenken); vor
allem aber soll sie effektive, d. h. auf Handlungen ausgerichtete
moralisch-praktische Vernunft sein. Diese praktische Vernunft wird im
Willen handlungswirksam, nämlich im guten oder richtigen Willen, der
selbst noch erzeugt oder geweckt werden muß. Aufklärung meint zwar
primär die Ausbesserung des Verstandes, darüber hinaus zielt sie jedoch
auf eine Ausbesserung des Willens; die emendatio intellectus soll der
emendatio voluntatis dienen, die Reinigung des Verstandes der Läuterung
des Willens. Letztlich geht es um die Entwicklung des ganzen Menschen
durch Entwicklung seiner Vernunft. So wie der Verstand soll auch das
Herz erleuchtet werden, der Mensch soll durch die Wahrheit gut und
glücklich werden. Das 18. Jahrhundert ist daher auch ein Jahrhundert der
praktischen Philosophie. An die Stelle der religiösen Erbauung tritt die
philosophische Bildung als praktische Unterweisung. Verstand und
Tugend, Tugend und Glück werden nun zu evokativen Parolen, weil es
um Erkenntnis als praktisch relevante Erkenntnis geht. Aufklärung ist
auf weite Strecken ein betont praktischer Rationalismus mit z. T. aus-
drücklich antispekulativen (antimetaphysischen, weil antitheologischen)
Tendenzen. Was keinen klar erkennbaren Bezug zu den neuen Glücks-
hoffnungen hat, fällt leicht als bloß nutzlose scholastische Subtilität der

24
Verachtung anheim. Allerdings geht es nicht nur um den eigenen Nut-
zen, sondern aus moralischen Motiven um die W obifahrt des ganzen
menschlichen Geschlechts. Die als Aktionsprogramm auf das Leben
angewandte Vernunft fordert allgemeines Glück durch allgemeine
Tugend (was schnell zu einem penetranten Utilitarismus und Moralismus
führt), und der Veränderungs- und Verbesserungswille sucht sich ein Feld
erst in der Pädagogik und dann in der Politik. Die Menschen müssen bes-
ser erzogen ("unterwiesen", "gebildet"), und die Gesellschaft muß refor-
miert werden. Die Aufklärung wollte nicht nur Wissenschaftsfortschritt
sondern auch moralischen Fortschritt, nicht nur individuellen sondern
auch gesellschaftlichen Fortschritt. Zur Hoffnung auf Vernunft gehört
auch das Engagement für Vernunft.
Die starken pädagogischen, später auch stark politischen Tendenzen
bekunden, daß sich die Aufklärung von Anfang an nicht nur als Selbst-
aufklärung, sondern vor allem als Aufklärung der anderen (Fremdaufklä-
rung) verstand; es ging ihr um das Wohl der gesamten Menschheit, die
utilitas generis humani. Da sich die Aufklärung auf die allgemeine Men-
schenvernunft bezog, mußte sie tendenziell universelle Aufklärung wol-
len, d. h. Aufklärung von allen über alles. Der Aufklärer denkt als einzel-
ner für alle und an alle. Zwar taucht derangesichtsder bestehenden Ver-
hältnisse schon in praktischer Hinsicht völlig utopische Gedanke einer
allgemeinen Aufklärung zuerst nur sporadisch auf- der sogenannte "ge-
meine Mann" bleibt noch weitgehend außerhalb der Betrachtung. Aber
mit der allmählichen Entwicklung des Bürgertums im 18. Jahrhundert
wird aus der Idee einer Bekämpfung der errores populares mehr und
mehr die Idee einer Volksaufklärung, und diese damit zugleich zum Pro-
blem. Nicht wenige Aufklärer standen der Erwartung einer allgemeinen
Tugend durch völlige Aufklärung skeptisch gegenüber; sie sahen die
Unmöglichkeit, jedem jederzeit alles zu erklären, und sie glaubten auch
nicht an die Verwirklichung eines Tugendparadieses. Daher plädierten
sie, unter Berufung auf die pädagogische Verantwortung des Besserwis-
senden, im allgemeinen für eine gemäßigte oder vielmehr maßvolle Auf-
klärung, eine Aufklärung mit Augenmaß für das Mögliche, d. h. für die
durch die jeweilige Person und Sache gesetzten Grenzen. Hinzu kam,
daß die Idee einer Volksaufklärung unvermeidlich auch politische Impli-
kationen hatte. Die Idee eines aufgeklärten Volkes vertrug sich letztlich
nicht mit der Idee eines aufgeklärten Absolutismus, den man ursprüng-
lich im Gegenzug zur Kirche idealisiert, nämlich als Reformabsolutismus
intendiert hatte. Der Versuch, Klarheit in die Köpfe zu bringen, mußte
letztlich darauf hinauslaufen, die Welt auf den Kopf zu stellen.

25
Die Allianz von Aufklärung und Absolutismus begann zu zerbrechen,
als das gemeinsame Ideal eines objektiven, d. h. objektiv erkennbaren
und erreichbaren Glücks verloren ging, als das Glück zur bloß subjekti-
ven Erfahrung wurde und dann vor allem in der Freiheit gesucht wurde.
Spätestens in der politischen Eskalation der Aufklärung am Ende des 18.
Jahrhunderts zeigt sich, daß der Gedanke der Freiheit in der Aufklärung
immer schon angelegt war. Aufklärung ist immer auch Befreiung, wenn
auch anfangs nur Selbstbefreiung, und zwar zunächst nur geistige Selbst-
befreiung: Denken, das sich zu seiner eigenen Freiheit befreit. Es geht
also nicht nur um Wahrheit durch Klarheit, sondern auch um Emanzipa-
tion durch Authentizität. Oder umgekehrt: So wie es keine Klarheit
ohne Wahrheit gibt, so gibt es kein Selbstdenken ohne Selbstbefreiung.
Der Kampf der Vernunft um ihre Selbständigkeit impliziert ein Freiheits-
bewußtsein und einen Freiheitswillen - Selbstbewußtsein ist eo ipso
Freiheitsbewußtsein. Der Kampf der Aufklärung um die Restitution der
(selbständigen, autonomen) Vernunft war ein Kampf der Vernunft für
ihre eigene Freiheit und daher für die Möglichkeit der Realisierung dieser
Freiheit - es ging immer auch um die Bedingungen einer vernünftigen
Freiheit. Auch die Unterscheidung von Recht und Moral, die im 18. Jahr-
hundert durchgeführt wurde, war ein Ausdruck dieses neuen subjektiven
Freiheitsbedürfnisses; der Staat begann sich (zumindest in der Idee) auf
die Grenzen eines liberalen Rechtsstaates zu reduzieren. Das freigewor-
dene Individuum aber entwickelte unvermeidlich neue Gemeinschaftsbe-
dürfnisse und auf dieser Basis neue Gemeinschaftsformen und Gesell-
schaftsideale. Die innere Aushöhlung der Gemeinde vor Gott, die ihre
Gemeinschaft oder Einheit im Gebet fand, löste durch die Verselbständi-
gung und Vereinzelung der Vernunft neue Kommunikationsbedürfnisse
aus und erneuerte wieder einmal das alte Ideal der Gemeinschaft der
Freien und Gleichen, nun aber als Reich der Vernunft. Neben die Hoff-
nung auf die civitas Dei oder auch an deren Stelle trat daher die Utopie
eines wahren Staates als Ziel einer wahren Politik aufgrund allgemeiner
W ahrheitserkenntnis, an die Stelle des Ideals des Philosophenkönigs trat
tendenziell das Ideal des philosophischen Volks.
Warum aber haben fast alle diese Bewegungen im Namen der Philoso-
phie stattgefunden? Warum konnte die Philosophie wie nie zuvor und
nie mehr danach zur führenden Macht eines Zeitalters werden, so daß
dieses sich selbst das philosophische Zeitalter nennen konnte? Offen-
sichtlich konnte die Philosophie die Theologie als 'Leitwissenschaft' nur
deshalb ablösen, weil diese in ihren vorhandenen Formen nicht mehr all-
gemein zustimmungsfähig war. Aber die Philosophie konnte auch nur

26
deshalb einspringen, weil sie von sich aus Hilfe versprechen konnte, d. h.
weil sie selbst noch als konsensstiftendes oder allgemeingültiges Wissen
verstanden wurde, und zwar sowohl im alten weiten als auch im engen
modernen Sinn von Wissenschaft. Einerseits wurde Philosophie noch als
Inbegriff alles menschlichen Wissens aufgefaßt, nämlich als eine lehrbare
und lernbare, sich auf etwas verstehende Sachkunde (episteme bzw. doc-
trina). Andererseits profitierte die Philosophie auch vom Aufkommen
der exakten Wissenschaften (Naturwissenschaften), mit denen sie zwar
schon in Konkurrenz stand, die sie aber noch zu beherrschen und zu
inkorporieren versuchte. Philosophie war schon auf strenges wissen-
schaftliches Wissen aus, aber sie war auch noch der mögliche Hort der
allgemeinen Vernunft, von der man Lebenshilfe erwarten konnte, näm-
lich richtige Theorie für richtige Praxis. Philosophie versprach, univer-
sale Gelehrtheit und allgemeingültige Wissenschaft, metaphysische Weis-
heit und praktische Lebensklugheit in einem zu sein. Vor allem aber war
sie weltbezogenes Wissen, "Weltweisheit", d. h. profanes, prinzipielles
und zugleich praktisches Wissen über die Welt für Leute von Welt.
Zugleich entwickelte sich durch eben diese Beanspruchung der Philoso-
phie für das Leben (mit mehr oder weniger Distanz von der sogenannten
"Schule") ein neuer 'lebensphilosophischer' Philosophiebegriff, der es
im Endeffekt jedem Literaten und Weltverbesserer möglich machte, sich
als Philosophen zu verstehen. Am Ende konnte Philosophie zu einem
pädagogischen Journalismus degenerieren.
Selbstverständlich haben alle diese hier nur skizzierten Tendenzen ihre
Vorgeschichte, die z. T. bis in die frühe Neuzeit, das Mittelalter oder
sogar bis in die Antike zurückverfolgt werden kann; und vor allem haben
sie ihre unmittelbare Vorgeschichte im 17. Jahrhundert, in dem die Ver-
nunft ihre moderne Autonomie gewinnt. Dennoch läßt sich die Aufklä-
rung als historische Epoche hinreichend deutlich von der Neuzeit im all-
gemeinen unterscheiden, da sie, selbst wenn man sie als bloße BündeJung
alter Motive betrachtet, offensichtlich doch eine neue Kulmination oder
vielmehr brisante Mischung bereits vorhandener Ideen darstellt. Auch
das neue Denken der Aufklärung beginnt nicht aus dem Nichts, sondern
durch quantitative und qualitative U makzentuierungen (Hervorhebun-
gen und W eglassungen) bis zum Umschlag in eine neue Konzentration
oder Kristallisation von Ideen, Tendenzen und Motiven mit einem neuen
Schwerpunkt. Irgendwann führt der Stau unbefriedigter Bedürfnisse zum
Bruch mit dem vorhandenen Angebot von Antworten, Verheißungen
und Vertröstungen - und so wächst allem Anschein nach auch in
Europagegen Ende des 17. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einer geisti-

27
gen Erneuerung, die dann im jeweiligen Rahmen der geschichtlichen
Möglichkeiten zu einem bewußten und gewollten geistigen Aufbruch
oder Umbruch führen konnte. Das neue Licht der Wissenschaften
erweckt weitergehende Erwartungen, es entsteht eine neue und allge-
meine Hoffnung auf Vernunft. Insofern ist die Aufklärung Ausdruck
einer neuen Besinnung des menschlichen Geistes auf sich selber - einer
Selbstbesinnung der Vernunft, die auf eine allgemeine Lebensreform
zielt. Zumindest in ihren Anfängen ist die Aufklärung daher Aufbruch
in eine neue Zukunft oder Befreiung von überlebten Strukturen und
überholten Denkzwängen.
Politische Ereignisse wie die Aufhebung des Edikts von Nantes in
Frankreich {1685) oder die Glorious Revolution in England {1688) haben
dabei einen gewissen Symbolwert, ja sogar den Charakter von Initialzün-
dungen gehabt. Sie bezeichnen eine Epochenschwelle, wenn auch in sehr
verschiedener Weise. Die englische Aufklärung begann mit einem Sieg:
mit der Niederlage des Absolutismus und der Etablierung neuer religiö-
ser und politischer Freiheiten; die französische begann mit einer Kata-
strophe: mit der Liquidierung des Protestantismus und der Etablierung
der absolutistischen Einheit von Staat und Kirche. Und diese verschiede-
nen Ausgangspunkte blieben für die gesamte englische und französische
Aufklärung bestimmend. Die englische geht aus einem liberalen Prote-
stantismus hervor, die französische muß gegen einen intoleranten Katho-
lizismus kämpfen. Und wieder anders stellt sich die Frage nach Art und
Anfang der Aufklärung in Deutschland. Gibt es also einen deutschen
Sonderweg in der Aufklärung? Oder gibt es vielmehr, je nach Stand-
punkt, drei und mehr 'Sonderwege'?

c) Wille zur Vernunft

Die Hoffnung auf Vernunft, die die Aufklärung bestimmt, bliebe, wenn
sie nicht praktisch würde, eine leere Sehnsucht - als engagierte Hoff-
nung ist sie daher Wille zur Vernunft. Vernunft aber, die sich als prakti-
sche Vernunft verwirklichen will, kann dies nicht ohne Außenbezug,
also nicht ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wirklichkeit, und diese
war in England, Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich. In
England, wo einerseits das neue Denken mit einer neuen Politik harmo-
nieren kann und wo andererseits Tradition bis heute ein großes Gut ist,
können die Aufklärer politisch pragmatisch denken und handeln; und sie
können sich zugleich auf religiösem Gebiet, nicht ohne Kämpfe, dem

28
Christentum entfremden (bis hin zur religiösen Indifferenz), so daß die
Aufklärung dann beinahe bruchlos in den Positivismus des 19. Jahrhun-
derts übergeht. In Frankreich, wo Kirche und Staat einen einheitlichen
und nahezu unangreifbaren, konservativen Machtblock bilden, müssen
die Aufklärungsideen, weil ohne Anknüpfungspunkt in der gesellschaftli-
chen Wirklichkeit, abstrakt bleiben und folglich radikal werden; in con-
creto waren die französischen Aufklärer vielfach auf Taktik, Anonymität
oder Agitation vom Ausland her angewiesen, und die Aufklärung mün-
dete nolens volens in eine Revolution. In Deutschland hingegen, wo es
wegen der politischen und religiösen Zerrissenheit des Landes ohnehin
keine großen Änderungschancen gab, mußte sich die Aufklärung, wenn
sie überhaupt etwas verändern wollte, einerseits ganz auf das Erreichbare
als das praktisch Vernünftige beschränken, andererseits konnte sie, da sie
ohnehin wesentlich aus 'Lehrern' bestand, ihre Ideen auch rein theore-
tisch, bis hin zur Lehrbarkeit, durchdenken und fortentwickeln und sich
so systematisch selbst begründen. Dadurch changiert die deutsche Auf-
klärung, negativ gesprochen, als eine 'akademische' Aufklärung zwi-
schen Weltferne und Anpassung; positiv gesprochen, steuert sie jedoch
einen im Endeffekt erfolgreichen Mittelweg der ebenso prinzipiell orien-
tierten wie praktisch umsichtigen Reform. Man philosophiert "gründ-
lich"- und auch deshalb "vorsichtig", "behutsam" oder "bescheiden".
Insofern offenbart sich im 'Reformismus' der deutschen Aufklärung der
konkrete Wille zur Vernunft geradezu prototypisch.
Wenn jedoch heute von Aufklärung gesprochen wird, denkt man
anscheinend immer noch vor allem an England und Frankreich und erst
dann eventuell auch an Deutschland. Die Aufklärung scheint für manche
geradezu eine englisch-französische Bewegung gewesen zu sein, die erst
später auch nach Deutschland übergriff und dort, wie Freunde und
Feinde der Aufklärung gelegentlich unisono suggeriert haben, aus irgend-
welchen Gründen mehr schlecht als recht nachgeahmt wurde. Sie war ein
später Import in ein unterentwickeltes Land, wobei sie, wie nicht wenige
meinen, zu einer sogenannten gemäßigten Aufklärung depotenziert und
vor allem in politischer Hinsicht (angeblich mangels Mannesmut vor
Fürstenthronen) verwässert wurde. England und Frankreich glänzen
über das 18. Jahrhundert hinaus durch große Namen. Deutschland hinge-
gen scheint keine eigenständige Aufklärung zu besitzen.
Allerdings hat eine solche Betrachtungsweise ihre eigenen Vorausset-
zungen und Bewertungsmaßstäbe, insofern sie nämlich unter Ignorie-
rung anderer Phänomene gewisse englische und französische Entwick-
lungen (Deismus, Absolutismuskritik) idealisiert und zur Norm erhebt,

29
um dann im Vergleich damit in Deutschland nur Rückständigkeiten und
Sonderentwicklungen festzustellen. In der Tat gehört es zur Vorge-
schichte der Aufklärung, daß England und Frankreich sich seit dem Mit-
telalter relativ unabhängig vom Heiligen Römischen Reich Deutscher
Nation entwickeln und durch politische Konsolidierung und zentrale
Machtansammlung die Voraussetzungen für eine Kulturdominanz schon
lange vor der Aufklärung schaffen konnten; dadurch wurden auch wich-
tige geistige Grundlagen der Aufklärung außerhalb des Deutschen Rei-
ches bzw. Deutschlands gelegt. Vor allem aber führte die Reformation
der Religion diese Länder nicht in ein unüberwindbares politisches
Chaos. Zwar gehörten auch in England und Frankreich große konfessio-
nelle Auseinandersetzungen zur unmittelbaren Vorgeschichte der Auf-
klärung, aber sie verwüsteten nicht das Land wie der Dreißigjährige
Krieg, und sie wurden zu einer Lösung gebracht, die die nationale Identi-
tät so oder so, politisch wie religiös, erhielt und bestärkte. So ist es kein
Wunder, daß das von permanenten Identitätskrisen geschüttelte Deutsch-
land als 'verspätete Nation' für alles Ausländische (bis heute) mehr aufge-
schlossen gewesen ist als etwa England und Frankreich füreinander oder
gar für Deutschland. Mangelnde nationale Identität und folglich man-
gelndes nationales Selbstbewußtsein machen für wirkliche oder vermutli-
che Errungenschaften anderer Nationen offen und führen in Anfällen
von Selbsthaß immer wieder zu Phasen eines gewissen Nationalmasochis-
mus meist frankophiler oder anglophiler Spielart (Gallomanie, Angloma-
nie)- und werden dann nicht selten durch Anfälle nationaler Selbstüber-
schätzung durch einen Nationalismus aus Ressentiment konterkariert
und kompensiert.
Nun liegen, trotzaller unterschiedlichen Entwicklungen, die Anfänge
der Aufklärung in England, Frankreich und Deutschland zeitlich so nahe
nebeneinander, daß von einer deutschen Aufklärung als Folge westlicher
Aufklärung in irgendeinem konkreten Sinn nicht die Rede sein kann.
Geht man, wie wohl berechtigt, von Christian Thomasius' sogenannter
ersten deutschen Vorlesung (Discours von der Nachahmung der Franzosen
1687) als Anfang der deutschen Aufklärung aus, so läßt sich leicht zeigen,
daß dessen Grundgedanken schon aus chronologischen Gründen weder
aus der englischen noch der französischen Frühaufklärung stammen kön-
nen. Falls man also nicht mit einem doppelten Aufklärungsbegriff arbei-
ten will, nämlich mit einem weiten für England bzw. Frankreich (Auf-
klärung seit Bacon oder Descartes) und einem engen für Deutschland
(Aufklärung seit Wolff oder Lessing), läßt sich die deutsche Aufklärung
in ihrer Eigenart und Eigenständigkeit weitgehend aus sich selbst verste-

30
hen - zwar auch (in ihren Anfängen) als ein kulturpatriotischer Auf-
bruch, vor allem aber als ein geistiger (nicht-geistlicher) Reformversuch.
Der absolut konstitutive historische Einschnitt, das sozusagen normative
Datum für die Frühaufklärung, liegt in Deutschland (d. h. was man
anachronistischerweise so nennen darf) sogar schon früher als die Aufhe-
bung des Edikts von Nantes oder die Glorious Revolution - es ist der
Westfälische Frieden als Resultat des Dreißigjährigen Krieges. Hinter-
grund der deutschen Aufklärung ist die Tatsache der konfessionellen und
territorialen Zersplitterung als Ergebnis des Scheiteros aller durchgreifen-
den religiösen und politischen Reformversuche und damit die U nmög-
lichkeit, dieses Problem so oder so mit Gewalt zu beseitigen. Rebus sie
stantibus war es weder durch die Kirchen noch durch die Fürsten oder
den Kaiser noch durch das Volk selber, d. h. die Bürger, zu lösen. Der
Westfälische Frieden, ein erster Sieg der Laienvernunft, hatte durch 'Ver-
zicht' auf politische und religiöse Einheit eine gewisse Glaubensfreiheit
etabliert, im übrigen aber nur die vorhandenen Verhältnisse oder viel-
mehr Probleme (unter Reduktion der Gewalt) festgeschrieben. Deutsch-
land war und blieb (bis heute) ein politisches und weltanschauliches Kri-
sengebiet, und der Anstoß zur Aufklärung war kein neues politisches
oder religiöses, sondern ein provinzielles akademisches Ereignis, nämlich
Thomasius' programmatischer Übergang zur deutschen Sprache. Unter
den Bedingungen des Restreiches konnte die Aufklärung im Lande der
Universitäten fast nur von einem Hochschullehrer ausgehen, ja fast nur
als Hochschulreform beginnen.
Unter den gegebenen Umständen war eine grundsätzliche Erneuerung
oder wenigstens eine allmähliche Besserung nur durch eine gewisse Ent-
theologisierung, Entkonfessionalisierung und Entklerikalisierung mög-
lich. Insofern bedurfte es in der Tat einer gewissen geistigen Umkehr:
entweder eines weiteren Versuchs der Wiederherstellung des reinen Chri-
stentums oder des neuen Versuchs einer Wiederherstellung der Vernunft.
Faktisch geschah beides zugleich: durch Rückzug der Religion in die
Innerlichkeit und durch Abkehr des Denkens von den Fragen der Offen-
barungsreligion. Während der Pietismus auf die Verhärtung der Religion
zur Orthodoxie mit Subjektivierung reagierte, setzte die Aufklärung
unter der Voraussetzung des Einklangs von Glauben und Vernunft auf
die Objektivität und Eigenmacht der Vernunft. Vernunft aber konnte
nur dann zu einem Hoffnungsträger avancieren, wenn sie sich mit aller
Vorsicht von der Bindung an die Theologie löste. Sie mußte sich erst ein-
mal wieder verselbständigen und in ein freieres Verhältnis zum institutio-
nalisierten und politisierten Glauben treten. Faktisch nahm diese Selbst-

31
befreiung des Denkens ihren Ausgang vom Protestantismus, weil sie in
dieser Form zunächst nur dort möglich war, und zwar von einer ver-
nunftoffenen Selbstinterpretation des Luthertums - wobei das Motiv
einer Fortführung der steckengebliebenen Reformation (auf neuer
Ebene) eine nicht geringe Rolle gespielt haben dürfte. Zwar entfernte sich
die Aufklärung von Anfang an vom ursprünglichen Luthertum und
nahm letztlich sogar entgegengesetzte Positionen ein, doch wurde der
Protestantismus durch die Aufklärung in verweltlichter Form zur geistig
führenden Macht in Deutschland.
Natürlich spielten die Fragen der Religiontrotz der neuen Diesseitig-
keit auch im 18. Jahrhundert noch eine entscheidende Rolle. Deutsch-
land blieb in allen Gesellschaftsschichten ein durch und durch religiöses
Land und daher auch immer noch ein Land der Religionsstreitereien.
Religion bleibt nicht nur in der Form der Orthodoxie und des Pietismus
präsent, sie bestimmt auch das Denken der Aufklärung mit, insofern
diese fragt, wie eine vernünftige Religion möglich sei. Zwar halten die
Aufklärer sich in religiösen Fragen zunächst erkennbar zurück (vor allem
Christian Thomasius), aber schon in der zweiten Generation kommt es
(bei Christian W olff) zum ersten großen Versuch einer umfassenden phi-
losophischen Theologie. Außerdem bleibt die religiöse Frage bezeichnen-
derweise noch in zwei weiteren Formen präsent, nämlich als Theodizee-
problem und inmitten der Anthropologie als Frage nach der Bestimmung
des Menschen - vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil einerseits Gott
mehr denn je zu einem rationalen Prinzip, andererseits der Sinn der Welt
im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen fraglicher
geworden war. Bis zur Mitte des Jahrhunderts ist das Christentum noch
selbstverständliche Ausgangsbasis des Denkens. Erst in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts wird dann die Offenbarungsreligion allge-
meiner zu einem Problem, und es kommt zu einer freieren Religionsdis-
kussion.
Aufs Ganze gesehen wird man sagen können, daß die Religion sich in
der Aufklärung verändert und nicht mehr die führende geistige Macht ist.
An ihre Stelle tritt die Moral als motivierende Kraft oder, wenn man so
will, als Ersatzreligion, und zwar eine zunächst noch religiös begründete,
zuletzt aber eine die Religion selbst begründende Moral aus bloßer Ver-
nunft. Sie ist noch keine Privatmoral, sondern eine Moral, die darauf aus
ist, aus evidenten Prinzipien das Recht und damit letztlich auch den Staat
zu rechtfertigen oder auch seine Erscheinungsformen in Frage zu stellen.
Der Impetus, praktische Vernunft systematisch zu entfalten, führt so zu
einem ungeahnten Aufschwung des Naturrechts. Deutschland wird von

32
Pufendorf und Thomasius über Wolff bis Kant und Hegel das Land der
Naturrechtslehre. Aus dem zunächst wenig beachteten neuen Völker-
recht (Grotius), das wesentlich ein Recht des Krieges und des Friedens
war, und aus dem zunächst ebenso ignorierten absoluten Staatsrecht
(Hobbes) wird eine universale moralische Pflichtenlehre, die den Staat
gegen die Kirche unterstützt - um dann die Rechte des Individuums
beim Staat einzuklagen. Aus der Moral als Religion wird ein Kritikpoten-
tial gegenüber der Politik. Erst nach der Mitte des Jahrhunderts wird
dann auch die Kunst allmählich zu einer Art Ersatzreligion - bis hin
zum Deutschen Idealismus, der dann auf weite Strecken eine neue und
freiere philosophische Theologie ist.
Die moderne Wissenschaft scheint in diesem Prozeß zunächst eine rela-
tiv geringe Rolle zu spielen, sie scheint nicht zu den hauseigenen Auslö-
sungsfaktoren der Aufklärung in Deutschland zu gehören. Zwar hatte es
auf dem Boden des zugrundegehenden Reiches die vielleicht wichtigsten
Anstöße zur Auflösung des mittelalterlichen und zur Formierung des
neuzeitlichen Weltbildes gegeben, nämlich die astronomischen Ent-
deckungen von Kopernikus und Kepler; und auch die Erfindung des Pul-
vers und des Buchdrucks waren von hier als technische Neuerungen mit
weitreichenden Folgen ausgegangen. Aber weder gab es im Deutschen
Reich Männer wie Bacon oder Descartes, die der aufkommenden Wissen-
schaft durch Propaganda, Methodenlehre oder Systematisierung ein allge-
meineres Interesse gesichert hätten, noch war die wissenschaftspolitische
Landschaft der modernen Wissenschaft günstig, da sie der zerrissenen
politischen und religiösen Landschaft entsprach. Große nationale Akade-
mien waren politisch und religiös nicht möglich, und die Universitäten
waren allzusehr durch die Interessen der Landesfürsten und Landeskir-
chen bestimmt. Auch Leibniz, der auf den verschiedensten Ebenen gegen
diese Verhältnisse gekämpft hat, konnte an dieser Situation im Prinzip
nichts ändern. So kommt es, nachdem sich die Aufklärung mit Christian
Thomasius vor allem in der Form des Naturrechts eine Bahn gebrochen
hat, erst mit Christian W olff zu einem allgemeineren Interesse auch für
die moderne mathematische Naturwissenschaft, allerdings noch aus
metaphysischer Perspektive, nämlich aus der Perspektive eines alten und
weiten Wissenschaftsbegriffs und zugleich aus der modernen Perspektive
eines ersten umfassenden Systementwurfs. Doch hat sich diese universali-
stische und fundamentalistische Tendenz, die die alte eklektische Rich-
tung ablöste, in der deutschen Aufklärung letztlich nicht durchsetzen
können; sie wurde ihrerseits durch eine neue pragmatisch-eklektische
abgelöst. Der kritische und zugleich reformatorische Impetus blieb auch

33
gegen die totale Verwissenschaftlichung der Aufklärung skeptisch. Auf-
klärung und Wissenschaft sind daher auch in Deutschland im 18. Jahr-
hundert verschiedene 'Projekte', d. h. sie sind auch als Erkenntnis-
programme verschieden motiviert und formiert; sie treten sogar mit der
beginnenden Verengung und Präzisierung des Wissenschaftsbegriffs
mehr denn je auseinander.
So entwickelt sich in Deutschland ein Typus von Aufklärung, der sich
selbst mit gutem Grund als Aufklärung bezeichnen konnte, eine geistige
Reformbewegung von komplexer, im Grunde aber auch sehr einheitli-
cher Struktur, die vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
und darüber hinaus reichte. Diese Aufklärung versucht, die vorhandenen
Institutionen, insbesondere Kirche und Staat, vorsichtig und allmählich
von innen heraus zu reformieren, und zwar im Glauben an deren Refor-
mierbarkeit. Sie erstrebt Weltverbesserung durch Erkenntnisverbesse-
rt\ng, indem sie immer wieder auf die praktische Umsetzung von Wissen,
vor allem auf Tugend durch Verstand, hofft. Wie immer ging es auch in
der Aufklärung um das Heil oder Glück (Glückseligkeit) des Menschen,
aber mehr als zuvor um das Glück auf Erden. Darin lag eine gewisse
Abwendung von der Theologie und eine gewisse Hinwendung zur Poli-
tik - die neue Reformation setzt, wenigstens zunächst, auf einen
Reformabsolutismus, den sie zumindest in nuce voraussetzen zu können
glaubt und dessen Theorie sich allmählich zu einer des Reformliberalis-
mus entwickelt. Die deutschen Aufklärer sind, obwohl ihre Distanz zu
Staat und Kirche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunimmt,
im großen und ganzen staats- und kirchentreu, und ihre Vertreter sind
weitgehend Staats- und Kirchendiener.
Die Ausgangssituation der deutschen Aufklärung, über die diese sich zu
erheben versuchte, ist in ihrem Grundtatbestand während des 18. Jahr-
hunderts unverändert geblieben und hat deren Struktur bis zur Französi-
schen Revolution bestimmt. Deutschland bleibt, um es zu wiederholen,
ein politisch und religiös zerstückeltes Land mit enormen weltanschauli-
chen Problemen - im Grunde bis heute ein Krisengebiet ohne nationale
Identität. Obwohl die konfessionelle Spaltung, insbesondere die Diffe-
renz zwischen den beiden protestantischen Konfessionen an Schärfe ver-
liert und der Protestantismus zur führenden Kulturmacht wird, und
obwohl mit Preußen eine neue Territorialmacht mit großer, auch geisti-
ger Sogwirkung aufsteigt, bleiben die festgeschriebenen politischen und
religiösen Grenzen als maßgebend erhalten. Deutschland gewinnt keine
religiöse und politische Identität, es hat keine Hauptstadt und kein
geschlossenes Bürgertum, d. h. es hat kein Zentrum und keine staats-

34
tragende neue Gesellschaftsschicht. Folglich gibt es auch zunächst keine
große nationale Kultur, kein Nationaltheater und keine nationale Akade-
mie. Überall und auf allen Gebieten leiden die kreativen Kräfte an den
kleinkarierten Verhältnissen.
Immerhin stehen diesen bekannten Nachteilen auch einige, allerdings
weniger beachtete große Vorteile gegenüber. Die territoriale Zerrissen-
heit gab den deutschen Intellektuellen auch eine gewisse Freiheit, da sie
notfalls schnell die Herrschaft wechseln konnten. Deutschland hatte
zwar keine Hauptstadt, die als nationales Kulturzentrum die geistigen
Kräfte hätte anlocken und ernähren können, dafür aber doch viele kleine
Zentren, die für eine gewisse Streuung und Breite der Kultur auch in der
Provinz sorgten und das Stadt-Land-Gefälle bzw. das Gefälle zwischen
Hauptstadt und öder Provinz nicht so stark erscheinen ließen. Selbst die
Differenz zwischen Hof und Volk war nicht so abgrundtief wie etwa in
Frankreich- teils weil viele Höfe selber ziemlich arm waren, teils weil
die räumliche Enge nicht selten eine gewisse Nähe und Intimität
erzwang; die absolute Herrschaft behielt Züge eines familiären Despotis-
mus. Die Unterschiede zwischen Paris und der Provinz, dem Prunk von
Versailles und dem Elend auf dem Lande, sind in Deutschland trotz aller
Kopien von Versailles ohne GegenbeispieL Vor allem aber bleibt
Deutschland durch die territoriale Konkurrenz, und oftmals sogar durch
die religiöse Konkurrenz innerhalb eines Herrschaftsgebietes, ein Land
der Universitäten und der politischen und religiösen Beamten. So kann
die Aufklärung aufgrund des wachsenden Kommunikationszusammen-
hanges der Universitäten und der in ihr erzeugten aufgeklärten Bürokra-
tie ziemlich schnell eine erstaunliche Ausdehnung gewinnen. Vielleicht
gab es in Deutschland weniger große Aufklärer als andernorts, aber zwei-
fellos viele kleine - bis hinunter zu den Landpfarrern und Dorfschulmei-
stern, zu den Apothekern, Ärzten und Juristen. Als Kommunikations-
netz oder Kommunikationsprozeß dieser Personen, über viele Länder-
grenzen und z. T. auch über Konfessionen und Religionsschranken hin-
weg, ist die deutsche Aufklärung eine sozusagen politisch und konfessio-
nell mehr oder weniger freischwebende Kultur, sie ermöglicht neben
dem Ausweichen in die Innerlichkeit, wie es vor allem der Pietismus
anbot, eine räsonnierende Öffentlichkeit, indem sie zunächst einmal ein
gebildetes Lesepublikum schafft.
Die deutsche Aufklärung hat, was vielleicht auch eine Temperaments-
frage war und ist, immer sehr vorsichtig agiert; sie macht daher einen ver-
gleichsweise biederen oder bedächtigen Eindruck. Sie hat Konflikte nach
Möglichkeit (bis an den Rand der Selbstverleugnung) vermieden, d. h. sie

35
hat, wo keine Möglichkeit zur Änderung gegeben war, im allgemeinen
auch nicht gegen Wände zu laufen versucht. Dem Engagement für Ver-
nunft aus Hoffnung auf Vernunft entsprang ein Wille zu Reformen, der
einen vernünftigen Mittelweg zwischen Innovationen und Traditionen
suchte. So wie die deutsche Aufklärungsphilosophie einen Mittelweg
zwischen Rationalismus und Empirismus (z. B. zwischen Aristoteles und
Descartes) suchte und so wie die Theologie den wahren Glauben als
Mitte zwischen Atheismus und Aberglauben definierte, so bemühte sich
die deutsche Aufklärung auch allgemein (z. T. in bewußter Eklektik,
d. h. unter Bezug auf das Bibelwort "Prüfet alles, und das Gute behal-
tet!") um allmähliche Verbesserungen, also um Fortschritte auf der Basis
des geschichtlich Gegebenen: um die Ausbesserung (Verbesserung, Ver-
vollkommnung) des Verstandes und des Willens, um die Verfeinerung
der Sitten und des Geschmacks, also um Behebung und Beseitigung der
Mängel, um Kultur durch Korrektur. Aufklärung in Deutschland war im
allgemeinen maßvolle Aufklärung (zumindest aus heutiger Perspektive),
nicht eine gemäßigte Aufklärung im Sinne einer Rückzugsposition, son-
dern eine im Ansatz auf Personen und Sachen relative Aufklärung, d. h.
eine Aufklärung, die sich der Grenzen der eigenen und fremden Erkennt-
nisfähigkeit und vor allem der Gefahren einer sogenannten "blenden-
den" Aufklärung bewußt war (und diese natürlich auch im Lichte der
jeweils eigenen Interessen sah). Sie setzte im allgemeinen, auch wenn sie
in der Sache radikale Änderungen forderte, nicht auf eine einmalige
Revolution, sondern auf eine allmähliche Reform und bemühte sich
daher im Bewußtsein pädagogischer und politischer Verantwortung um
das Vernünftigwerden und Vernünftigmachen der Menschen. Ihr Licht
sollte leuchten, aber nicht verbrennen.
Die deutsche Aufklärung setzte auf das judicium maturum bzw. "Rei-
fen der Urteilskraft", wie auch Kant das später noch formuliert, und sie
war damit nicht ganz erfolglos - falls man nämlich nicht nur Atheismus
und Revolutionsbereitschaft, sondern auch andere Einstellungen als Zei-
chen von Aufgeklärtheit gelten läßt. Nimmt man z. B. die Abschaffung
der Folter oder der Hexenverbrennungen zum Kriterium, dann dürfte
das absolutistisch regierte Preußen als eines der aufgeklärtesten Länder
dastehen. 1728 enden die Hexenverbrennungen in Preußen, während die
republikanische Schweiz 1782 das Schlußlicht bildet; in Preußen wird die
Folter 1740 abgeschafft, in der liberalen Schweiz erst 1802, im englischen
Hannover sogar erst 1822. Auch wenn man die staatliche Toleranz gegen-
über der konfessionellen Minderheit betrachtet, war die Lage in Deutsch-
land vergleichsweise günstig, während, wenn man z. B. die nationalstaat-

36
liehe zentrale Organisation oder die Fortschritte in der Industrialisie-
rung, im Handel usw. zum Kriterium nimmt, Deutschland natürlich
wegen mangelnder nationaler Einheit deutlich nachhinkt. Im übrigen
wird man sich hüten müssen, moderne Maßstäbe wie das wesentlich erst
durch die Aufklärung erzeugte Freiheitsbedürfnis unmittelbar auf diese
selbst zu übertragen. Es gab keine allgemeine Auswanderung aus dem
absolutistischen Preußen ins 'republikanische' Hamburg, vielmehr war
das straff regierte und aufblühende Preußen offensichtlich sogar für die
Franzosen attraktiv, und dies nicht nur für die Hugenotten zu Beginn der
Aufklärung. Obwohl Berlin bzw. Potsdam in keiner Weise mit Paris
konkurrieren konnte, galt das Preußen Friedrichs II. bei den französi-
schen Aufklärern zeitweise sogar als vorbildlich. Aber auch Schweizer
wie Johann Georg Sulzerund Albrecht von Haller und sogar der katholi-
sche Johann Heinrich Lambert kamen nach Deutschland und speziell
nach Berlin - anscheinend konnte zumindest eine bestimmte Art von
Aufklärung, wie schon von Lessing und Kant festgestellt, im Inneren der
"Militärmaschine" wachsen. Die allgemeine Preußenkritik setzt erst
nach dem Tode Friedrichs II. ein, als die politische Unfreiheit nicht mehr
durch geistige Entwicklungen kompensiert wurde. Die deutsche Misere
scheint nicht allen so trostlos vorgekommen zu sein wie ihren späteren
Kritikern.
Wie dem auch sei, Deutschland ist ein Land der Aufklärung, in gewis-
ser Weise sogar das Land der Aufklärung - wenn man nämlich das Wort
Aufklärung wörtlich nimmt. Aufklärung ist eine typisch deutsche Wort-
prägung, der England und Frankreich wohl nicht zufällig nichts an die
Seite zu setzen haben. Ähnlich wie illuminismo, illustracion und andere
Begriffe ist das englische enlightenment, eine Übersetzung von illuminatio
(Erleuchtung), als Epochentitel eine spätere Begriffsbildung der Geistes-
wissenschaften. Obwohl das Verb enlighten mit dem dazugehörigen Par-
tizip enlightened seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine gewisse
Rolle spielt, ist es kein Terminus, in dem sich das Selbstverständnis der
Zeit kristallisiert hätte, und es gibt demgemäß auch keine programmati-
sche Aktion, die sich Aufklärung bzw. 'Erleuchtung" nennen würden,
und also auch keine Akteure, die sich Aufklärer bzw. 'Erleuchter" nennen
könnten. In Frankreich hingegen spielt zwar das Verb eclairer mitsamt
dem dazugehörigen Partizip eclaire schon früh eine wichtige Rolle, aber
bekanntlich gibt es von diesem Wort weder ein Verbalsubstantiv zur
Bezeichnung dieser Aktion oder dieses Programms noch ein Substantiv,
das die Akteure der Aufklärung bezeichnen würde. Die Begriffe eclairer
und eclairewerden (wohl nicht zufällig) nicht konstitutiv für das, was

37
man aus deutscher Perspektive die französische Aufklärung nennen
kann. Die sogenannte französische Aufklärung heißt bekanntlich Lu-
mieres, und die Aufklärung als Epoche heißt Sieeie des Lumieres - ohne
daß sich eine wOrtverbindung ZU eelairer herstellen würde. Die französi-
schen Aufklärer aber heißen unbestimmt beaux esprits oder philosophes,
und dieser Begriff bezeichnet, obwohl man ihn dann auf die Vorläufer
um 1700 und die Nachfolger um 1800 ausdehnen kann, eigentlich nur
eine relativ kleine Schriftstellergruppe um die Mitte des 18. Jahrhunderts,
die im übrigen (wie schon die französischen Frühaufklärer protestanti-
scher Provenienz) z. T. im Ausland gelebt haben, weil ihre Art von Auf-
klärung im eigenen Lande nicht erlaubt, d. h. nicht existenzfähig war.
Das Sieeie des Lumieres meint nicht dieselbe Art von Epoche wie die Auf
klärungoder das Zeitalter der Aufklärung. In England hingegen kann man
auch heute noch nur in einer gewissen Anpassung an die ursprünglich
deutsche Begriffsbildung von einem Zeitalter der Aufklärung (enlighten-
ment) sprechen; das frühe 18. Jahrhundert ist eigentlich das Augusteische
Zeitalter, ein Höhepunkt der englischen Literatur und Philosophie- mit
eher verschwimmenden Grenzen zum 17. und 19. Jahrhundert, jedenfalls
nicht durch solche Traditionsbrüche wie in Frankreich und vor allem in
Deutschland gekennzeichnet.
Aufklärung im engeren Sinn ist also zunächst einmal nur ein auf
Deutschland zu beziehender Aktions- oder Programm- bzw. Epochenbe-
griff. Insofern ist die deutsche Aufklärung für das Verständnis von Auf-
klärung namengebend oder federführend, und man kann sich fragen, mit
welchem Recht dieser Begriff auf England und Frankreich ausgedehnt
wird. Aufklärung- das ist in Deutschland über vier Generationen hin-
weg ein relativ einheitliches Gebilde. Die relative Konstanz der politi-
schen und religiösen Bedingungen provoziert bis in die Zeit der Französi-
schen Revolution das Programm einer allmählichen Reform durch Auf-
klärung, und der Mangel allgemeiner Anknüpfungspunkte in der Gesell-
schaft verweist das Individuum immer wieder auf sich selbst und seine
Selbstemendation. Daher gibt es auch von Thomasius bis Kant eine im
Prinzip einheitliche Metaphorik der Aufklärung. Vor allem aber gibt es
anscheinend nur hier seit dem 18. Jahrhundert das Wort Aufklärung als
Bezeichnung für eine programmatische Aktion und das sie bestimmende
Aktionsprogramm sowie für die dadurch bestimmte Epoche, und auch
nur hier den durch das Wort Aufklärung als Aktions-, Programm- und
Epochenbegriff bezeichneten Zusammenhang von programmatischem
und historischem Selbstverständnis. Man könnte daher zugespitzt sagen,
Deutschland sei das Land der Aufklärung, weil diese nur hier oder doch

38
hier wie nirgendwo so sehr ihrer selbst bewußt war. Ja, Deutschland sei
sogar bis heute das Land der Aufklärung, weil vielleicht bis heute nir-
gendwo so viel über Aufklärung diskutiert wird wie in Deutschland
(wahrscheinlich auch, weil sie hier nie ganz selbstverständlich war). In
jedem Fall aber ist Deutschland das Land der Aufklärung par excellence,
wenn man das deutsche Wort Aufklärung präzise nimmt, nämlich als
Bezeichnung für den Typus von Aufklärung, der vor allem in Deutsch-
land zuhause war und der Aufklärung im engeren Sinn heißen darf, nicht
zuletzt, weil er sich selbst so definiert hat. In diesem Sinne haben die mei-
sten deutschen Aufklärer noch am Ende des Jahrhunderts ihre Art von
reformatorischer Volksaufklärung, ebenso selbstbewußt wie nach innen
und außen defensiv (gegenüber den deutschen Fürsten wie den französi-
schen Revolutionären), als die "wahre" Aufklärung bezeichnet, nämlich
als die einzige Aufklärung, die diesen Namen verdient. Die deutsche Auf-
klärung nennt sich emphatisch, ebenso pleonastisch wie normativ, die
"wahre" Aufklärung.

d) Aufklärungsphilosophien

Wenn nun aber Deutschland wirklich das Land der Aufklärung war,
war es dann auch - in der Aufklärung - ein Land der Philosophie? Die
Affinität von Aufklärung und Philosophie ist bekannt. Die Philosophie
war die Leitwissenschaft der Zeit, auch wenn sie sich selber noch nicht als
Aufklärung definierte. Die französischen Aufklärer hießen schon zu ihrer
Zeit philosophes, und sie waren zweifellos Philosophen im Sinne einer kriti-
schen Intelligenz, die sich weltläufig mit den verschiedensten, prinzipiellen
wie aktuellen Problemen beschäftigte. Außerdem gab es in England, mehr
noch als in Frankreich, zumindest in der ersten Hälfte der Aufklärung,
eine Reihe von bedeutenden, auch heute noch bekannten Philosophen, die
man rückblickend als Aufklärer bezeichnen könnte. Was aber läßt sich
über die deutsche Aufklärungsphilosophie sagen, wenn man Leibniz und
Kant ausklammert, weil es fraglich ist, inwieweit diese schon oder noch
zur Aufklärung im engeren Sinn des Wortes zu rechnen sind? Hat es über-
haupt eine nennenswerte deutsche Aufklärungsphilosophie gegeben? Wer
waren überhaupt die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts?
In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie' schreibt
Hegel: "Hume und Rousseau sind die beiden Ausgangspunkte der deut-

G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. XX, 1971.

39
sehen Philosophie" (311, vgl. 275, 280, 308, 365, 430); bei den Deutschen
finden wir im 18. Jahrhundert nur "Quäkelei" (292). "Die Deutschen
trieben sich zu dieser Zeit in ihrer Leibnizisch-Wolffschen Philosophie
ruhig herum, . . . als sie nach und nach, vom Geist des Auslands ange-
weht, in alle Erscheinungen eingingen, die dort erzeugt worden waren
... " (302). Diese Einschätzung der Bedeutung von Hume und Rousseau
für die deutsche Philosophie entspricht der bekannten Selbststilisierung
Kants: Hume habe ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt,
Rousseau habe ihn zurechtgerückt. Allerdings betrachtet Hegel nicht nur
die deutschen Aufklärungsphilosophen, sondern auch Hume und Rous-
seau als Beispiele für das "Verkommen des Denkens" in der Aufklärung,
vor allem Hume: "tiefer kann man im Denken nicht herunterkommen"
(vgl. 267, 279). Aber die Deutschen sind eben "ehrliche Trödler, denen
alles gut genug ist und die mit allem Schacher treiben" (308 f). Immerhin
bemüht sich Hegel trotzaller Verachtung der Aufklärung als bloße Ver-
standesphilosophie um historische Gerechtigkeit und schreibt z. B. auch,
Thomasius und Wolff hätten das "unsterbliche Verdienst, das Philoso-
phieren in Deutschland einheimisch gemacht" zu haben, nämlich durch
ihr Denken in deutscher Sprache (258). Damit wird schon im Deutschen
Idealismus eine Einschätzung der deutschen Aufklärung formuliert, die
mit unterschiedlichen Akzenten bis in die heutige Aufklärungsforschung
hinein wirksam geblieben ist. Und unbestreitbar hat sie auch ein funda-
menturn in re. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß die deutsche Auf-
klärungsphilosophie durch Kant und Hegel, Klassik und Romantik so
verschüttet worden ist, daß heute viele Fehlurteile auf schlichter Igno-
ranz beruhen, die erst einmal behoben werden muß.
Die Philosophie der deutschen Aufklärung nannte sich Weltweisheit,
nur in Deutschland wurde das paulinische Schimpfwort für die Philoso-
phie zum Ehrennamen erhoben. Philosophie als Weltweisheit war eine
Philosophie, die nicht nur mit Vorrang die Welt zum Thema hatte, son-
dern auch die Welt als ihren Adressaten meinte. Und vor allem war sie
eine Philosophie, die sich betont als rein weltliches (profanes, natürli-
ches) Denken verstand, die sich also gegen die Vermischung von Philoso-
phie und Religion richtete. Aber die Philosophie der Welt oder die Philo-
sophie für die Welt war in Deutschland zugleich eine Schulphilosophie,
d. h. im Unterschied zur der bekannten englischen und französischen
Philosophie der Zeit zumindest ursprünglich und bis auf wenige Ausnah-
men eine von Universitätsprofessoren betriebene und propagierte Philo-
sophie. Sie war also eine akademische Weltweisheit in dem doppelten
Sinn, daß sie eine an den Universitäten gelehrte Fachphilosophie und daß

40
sie eine von Professoren für die Welt bestimmte Philosophie war - aber
wohl auch in dem Sinne, daß sie eine etwas weltfremde Philosophie
blieb. Die deutsche Aufklärungsphilosophie war und blieb in ihrem
Ursprung Schulphilosophie, auch wenn sie eine Philosophie für die Welt
sein wollte. Sie umfaßte die weite Spanne von einer schulmäßig, d. h.
systematisch und methodisch gelehrten Philosophie bis zu einer allge-
mein verständlichen philosophischen Plauderei, und nicht selten, aber
meist ohne Glück, versuchte sie sogar, beides zugleich zu sein, und war
dann weder gründlich noch elegant, sondern eben nur popularisierte
Lehrbuchphilosophie.
Aus der Sicht der Philosophie läßt sich die deutsche Aufklärung, die
sich über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren erstreckt, sche-
matisch in vier Generationen oder Phasen einteilen: die Frühaufklärung,
die vor 1690 beginnt und bis etwa 1720 reicht; die Spätaufklärung, die,
durch Kant deklassiert, etwa 1780 beginnt und bis nach 1800 reicht; und
dazwischen die Hochaufklärung, die sich in eine erste, mehr schulphilo-
sophische Phase der Durchsetzung der Aufklärung (1720-1750) und eine
zweite, mehr popularphilosophische Phase der Ausbreitung der Aufklä-
rung (1750-1780) gliedern läßt. Zumindest die beiden ersten Phasen lassen
sich auch nach Leitfiguren benennen, nämlich als die Generation des
Christian Thomasius und die Generation des Christian W olff. Die nach-
folgende Generation der aufblühenden Popularphilosophie ist heute
noch durch Namen wie Samuel Reimarus oder Moses Mendelssohn
bekannt, während die letzte Generation, die der Popularphilosophie im
engeren und schon pejorativen Sinn, zwar einerseits ein neues Selbst- und
Freiheitsbewußtsein entwickelt, andererseits jedoch in den Schatten
Kants und der Französischen Revolution gerät und das eher unrühmliche
Ende der Aufklärung darstellt. Auch ohne auf Einzelheiten einzugehen,
kann man diese vier Phasen der deutschen Aufklärungsphilosophie auf-
grund signifikanter geistiger Schübe deutlich voneinander unterscheiden.
Die überragende Gestalt der ersten Phase der deutschen Aufklärung
und damit deren Initiator überhaupt ist Christian Thomasius. In einem
Akt geistiger Selbstbefreiung bricht er mit der orthodoxen Vorstellungs-
welt, in der er aufgewachsen ist, und fordert eine neue, freie und weltzu-
gewandte Denkweise. In einem ungestümen Aufbruch in eine neue gei-
stige Zukunft verneint er die bisherige Metaphysik als bloßen Spekula-
tionskram, als unnötige und schädliche Subtilität, kämpft gegen gelehrte
Pedanterie und verlangt statt dessen eine lebendige Erkenntnis der weni-
gen existentiell relevanten Wahrheiten. Diese Philosophie für jedermann
soll praktikabel sein und jedem zeigen, wie er ehrbar und vergnüglich

41
leben kann. Das methodische Mittel dieser Befreiung ist die "Eklektik"
- keine Methode der Methodenlosigkeit im Sinne von W ahllosigkeit,
sondern vernünftige Auswahl aus den vielen vorhandenen Meinungen,
die dann durch Selbstdenken in Übereinstimmung miteinander und vor
allem auch mit der Erfahrung gebracht werden sollen. Das Recht auf
Auswahl ermöglicht es, ohne doch ganz und gar mit allen Traditionen
zu brechen und bei einem vorgeblichen Nullpunkt zu beginnen, sich von
dem Druck der alten Autoritäten zu befreien, insbesondere der alten des
Aristoteles, ohne der neuen des Descartes zu verfallen. Insofern geht es,
modern gesprochen, von vornherein um das Recht auf Kritik und Denk-
freiheit überhaupt. Indem der Eklektiker sich 'systemkritisch', d. h. miß-
trauisch gegen alle autoritativen "Lehrgebäude", selektiv vermittelnd
mit einer relativen, nämlich nicht letztbegründeten Stimmigkeit zwi-
schen den von anderen übernommenen und den von ihm selbst (auf-
grund eigener Erfahrung und eigenen Denkens) gefundenen Wahrheiten
begnügt, ist er sich zugleich der Begrenztheit der menschlichen Erkennt-
nis bewußt. Diese Haltung entspricht dann zugleich dem Empirismus,
den Thomasius aus der Schulphilosophie übernimmt. Fast alle Erkennt-
nis beruht auf Erfahrung oder sogar auf bloßen Berichten von Erfahrung,
daher ist sie im Grunde kaum mehr als eine fides rationalisoder ein "phi-
losophischer Glaube". Aber dieser Glaube ist auch eine Leistung der Ver-
nunft, und die Vernunft muß sich theoretisch wie praktisch gegen die
schlechten affektiven Neigungen des Willens durchsetzen, die das Den-
ken schon bei dem Versuch, das Wahre vom Falschen und vor allem das
Gute vom Bösen zu unterscheiden, behindern. Damit stellt sich natürlich
das Problem, woher diese Einsicht in die Macht der erkenntnisverhin-
dernden Interessen trotzdem kommen kann und wie sie ohne zirkelhafte
Selbstaufhebung bzw. Selbstbehauptung möglich ist. Thomasius' Volun-
tarismus, der sich als eine im Prinzip schon psychoanalytische Theorie
der "unvernünftigen Liebe" präsentiert, unterminiert nahezu jede Hoff-
nung auf Selbstreinigung, d. h. auf intellektuelle Aufklärung und morali-
sche Besserung. Dennoch kämpft Thomasius als Philosoph und Jurist
weiter gegen das, was er für Unvernunft erkennt, und hält an der Mög-
lichkeit einer mehr oder weniger richtigen Vernunft (dem "Fünklein ver-
nünftiger Liebe" in jedem Menschen) fest, nämlich an der Möglichkeit
des Vernünftigwerdens durch eine Selbstläuterung der durch Vorurteile
und Aberglauben verdorbenen Vernunft.
Während noch zu Thomasius' Lebzeiten der mit der Aufklärung
zunächst eng verbundene, dann mehr und mehr damit zerstrittene
Pietismus zu einer großen geistigen Macht wird, kommt zugleich mit

42
Christian W olff und seinen Schülern ein neuer wissenschaftlicher Geist
zum Zuge, der sich deutlich von Thomasius' nur bedingt wissenschafts-
orientierter Aufklärung unterscheidet. Christian W olff, von Hause aus
Mathematiker, aber mit ausgeprägten theologischen und metaphysischen
Interessen, schließt sich wie schon Leibniz an die moderne, mathemati-
sche und mechanistische Wissenschaft an - im Unterschied zu Thoma-
sius und seinen Schülern, die die moderne Physik noch als oberflächlich
und gefährlich betrachteten. Allerdings versteht W olff Wissenschaft
nicht als hypothesenrelatives empirisches Wissen, sondern wie schon
Descartes und seine Nachfolger als systematische Universal- und Funda-
mentalwissenschaft. Die Philosophie ist die exakte Basiswissenschaft, die
letztbegründete und letztbegründende Wissenschaft aller Wissenschaften
oder die Wissenschaft schlechthin. Fachphilosophisch wesentlich bedeu-
tender als Thomasius, theoretisch interessierter und fundierter, erstrebt
W olff aufgrund eines modernen und in Deutschland erstmaligen System-
willens die endgültige Grundlegung einer wissenschaftlichen Philosophie
und eine daraus resultierende konsequente und umfassende Anwendung
der Vernunft in allen Denk- und Lebensbereichen. Aufklärung wird auf
diese Weise zur 'Wissenschaft', deren wichtigstes Mittel die Begriffsklä-
rung ist; sie zielt jetzt auf eine durchgreifende 'Verwissenschaftlichung'
der Lebenswelt. Zugleich aber entspricht Wolffs Philosophie auch einem
durch die Frühaufklärung zurückgedrängten Metaphysikbedürfnis, letzt-
lich einem durch die Betonung der Moral im Thomasianismus nur unzu-
reichend gestilltem religiösem Bedürfnis. Als wissenschaftlicher Meta-
physiker erstrebt Wolff die Erkenntnis der letzten Prinzipien, ein wahres
Wissen als Voraussetzung richtiger Praxis und findet damit Anschluß an
die von der Frühaufklärung verachtete philosophische Tradition, die er
in moderner Form, sozusagen als Scholastik more geometrico, noch ein-
mal erneuern kann. Auch diese Intention (wie sein nicht nur wissen-
schaftlicher Ehrgeiz, praeceptor humani generis zu werden) lassen ihn
zum klassischen Lehrbuchphilosophen werden, der - in deutlicher
Distanzierung von der Philosophie für jedermann - wieder zur lateini-
schen Sprache zurückkehrt. Gleichzeitig aber wird er, trotz aller seiner
konservativen Züge, wegen seiner Auseinandersetzungen mit den Pieti-
sten, die ihn zur Flucht aus Halle nach Marburg zwingen, zur Symbol-
figur der neuen kämpferischen Aufklärung. Er gibt der Vernunft ein
neues Selbstbewußtsein, indem er ihre noch neue Autonomie theoretisch
und praktisch verteidigt. Die Hoffnung auf Vernunft konnte sich für
lange Zeit an Wolffs Namen und damit an den Namen eines Philosophen
knüpfen.

43
Wolffs Systemphilosophie beeindruckte die Zeitgenossen durch ihren
Inhalt und ihre Form, durch ihre Methodik und ihre Univer.salität. Sie
war klar und gründlich. Aber natürlich konnte sie ihr Versprechen, aus
zweifelsfreien Prinzipien zu zweifelsfreien Resultaten zu kommen, nicht
einlösen. So entstanden ihm schon zu seinen Lebzeiten, aus Über:druß an
seiner umständlichen und weitschweifigen, aber immer weniger innovati-
ven Schulbuchphilosophie, nicht nur Gegner, die aus dem Pietismus und
Thomasianismus kamen. Die Kritik der neuen Generation richtete sich
jetzt gegen die Pedanterie der Methode und die "Beweissucht" der neuen
Schulphilosophie, und sie ergänzte dieses systematische Denken, da sie es
zunächst weder 'überwinden' konnte noch wollte, durch eine faßlichere
"Popularphilosophie", die dann die wissenschaftliche Philosophie mehr
und mehr verdrängte (und bald ihrerseits als seicht verschrien wurde).
Diese Kritik an W olffs Methode beruhte letztlich auf grundsätzlichen
Zweifeln an der Endgültigkeit seiner Lösungen, ja an der Möglichkeit sol-
cher Philosophie überhaupt; ein neuer Realismus oder Pragmatismus
machte sich breit, mit deutlich skeptischen oder resignativen Zügen. Er
entsprach zumindest z. T. den Veränderungen der gesamtgesellschaftli-
chen Situation infolge des Siebenjährigen Krieges und des Aufstiegs Preu-
ßens. Schon vor der Jahrhundertmitte kam es so zu einem geistigen Kli-
mawechsel in Deutschland, der nicht nur den Denkhabitus der Philoso-
phen veränderte, sondern auch die Aufklärung im allgemeinen betraf.
Einerseits führte der Verlust der Fundamentalphilosophie an Glaubwür-
digkeit zu gewissen Rückgriffen auf die Frühaufklärung und dann zu
einer Art neuer Eklektik, die nun nicht mehr zwischen Aristoteles und
Descartes, sondern Thomasius und W olff zu vermitteln suchte. Anderer-
seits öffneten sich die Geister nun verstärkt für Einflüsse des Auslandes,
insbesondere für die der Wolffschen entgegenwirkende empiristische
Philosophie Englands, wobei auch die Entdeckung neuer Themenberei-
che wie die Entdeckung der Ästhetik eine wichtige Rolle spielte. Nach
der Selbstbehauptung und Selbstsicherung der Vernunft gegenüber der
Offenbarungsreligion und ihrer Theologie kann nun die mit der "Na-
tur" bereits implizit rehabilitierte Sinnlichkeit unvoreingenommener als
zuvor betrachtet werden, und auch das Gefühl ("Herz"), in Thomasius'
Lob der "Weichherzigkeit" (tendresse) schon als Sensibilität lange vor
aller modischen Empfindsamkeit rehabilitiert, bekommt jetzt einen
höheren Stellenwert in der Aufklärungsphilosophie.
Insgesamt richtete sich das Interesse nun aber vor allem auf eine Philo-
sophie der gesunden Vernunft oder des sogenannten gesunden Menschen-
verstandes - nicht im Sinne einer recta ratio als Prinzipienvermögen,

44
sondern im Sinne von bon sens und common sense. So kam es - schon
unter W olffs Anhängern - zu einer Erneuerung der an sich alten Idee
einer Philosophie für die Welt bzw. der 'Popularphilosophie', die dann
fast zwei Generationen vorherrschte und daher vielfach für die gesamte
Aufklärung gehalten wird. Die neue Eklektik nach der Jahrhundertmitte
geht auf Distanz zu einer wissenschaftlich-elitären Philosophie und damit
auch auf Distanz zu einer ausführlichen Systemphilosophie. An die Stelle
der dickleibigen und vielbändigen Schulbuchphilosophie treten nun
kurze, leichtfaßliche Überblicke sowie ungebundenere, d. h. von der
Aufgabe der ständigen Verortung im System befreite, kleinere Abhand-
lungen und Untersuchungen. Popularität zielt auch auf Modernität oder
Aktualität, der Essay bietet die Chance zu bescheidenen, diskontinuierli-
chen, aber sukzessiven Innovationen. Doch war die Popularphilosophie
schon zu ihrer Hochblüte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kei-
neswegs unangefochten. Neben ihr gab es wie eh und je die Bemühungen
um eine wissenschaftliche Philosophie, also auch die Fortbildung der
Fachphilosophie, deren Musterbild Wolff noch keineswegs vergessen
war. Als Beispiele solchen Suchens nach neuen tragfähigen Ansätzen
systematischen Denkens können Gottfried Ploucquet und Johann Hein-
rich Lambert genannt werden, und dann natürlich Kant. Insbesondere
durch Kant und dann durch die Französische Revolution geriet die Philo-
sophie der Spätaufklärung jedoch mehr und mehr in die Defensive,
obwohl sie wenigstens z. T. diese Innovationen noch zu verarbeiten
suchte. Die Aufklärungsphilosophie beginnt sich immer mehr zu wieder-
holen und in der Anwendung ihrer alten Grundsätze auf neue Gegeben-
heiten zu erstarren. Der Kreis ihrer Prinzipien ist geschlossen und ohne
Zerstörung nicht mehr zu erweitern.
Ist also das Land der Aufklärung auch ein Land der Philosophie, d. h.
ist das Zeitalter der Aufklärung in Deutschland auch ein Zeitalter der
Philosophie? Ist Deutschland auch im Zeitalter der Aufklärung schon das
Land der Philosophie? Die Antwort hängt natürlich vom Aufklärungs-
und vom Philosophiebegriff ab. Wenn man Aufklärung als Bemühen um
Fortschritte durch Entwicklung von Verstand und Vernunft versteht
und wenn man Philosophie ebenfalls als einen solchen Selbstklärungspro-
zeß des Geistes begreift, dann ergibt sich wie schon für die Zeitgenossen
ein unmittelbarer Zusammenhang von Aufklärung und Philosophie.
Insofern ist auch in Deutschland das Zeitalter der Aufklärung ein philo-
sophisches Zeitalter. Eine ganz andere Frage ist hingegen, ob die Philoso-
phie im engeren Sinne in Deutschland während des 18. Jahrhunderts eine
wirklich führende Rolle gespielt hat; und es sind wiederum zwei ganz

45
andere Fragen, ob die deutschen Philosophen der Aufklärung zu ihrer
Zeit neben den Philosophen anderer Länder bestehen konnten bzw. ob
sie im Rückblick neben den großen Philosophen anderer Zeiten und
Länder bestehen können. Die erste Frage läßt sich relativ leicht be-
antworten. Die Philosophie ist nicht erst in der Person von Kant oder
Hege! eine geistig führende Macht in Deutschland gewesen, sondern auch
schon in der Person von Thomasius und W olff, die das Denken ihrer Zeit
ganz unverkennbar geprägt haben. Vielleicht war das Interesse für
Philosophie in Deutschland sogar nie so groß wie im Zeitalter der
Aufklärung. Und auch die letzte Frage ist ebenfalls leicht zu beantworten
- zumindest wenn man Leibniz und Kant nicht zur Aufklärung im
engeren Sinne zählt. Denn es ist offenkundig, daß die deutschen Auf-
klärungsphilosophen, wie wohl auch die übrigen, nicht zu den ganz gro-
ßen schöpferischen Philosophen gehört haben. Die große Zeit der deut-
schen Philosophie beginnt (von Leibniz wiederum abgesehen) erst mit
Kant - aber natürlich ist die nachaufklärerische Philosophie ebenso wie
die nachaufklärerische Dichtung erst durch die Aufklärung möglich
geworden. Bleibt also die Frage, ob die deutsche Aufklärungsphilosophie
auch ohne Leibniz und Kant neben den Philosophien des 18. Jahrhun-
derts in England und Frankreich bestehen kann. Diese Frage dürfte nicht
so leicht zu beantworten sein, weil die Antwort weitgehend davon
abhängt, wie man die englischen und die französischen Aufklärungsphi-
losophen einschätzt, und vor allem davon, wie man die verschiedenen
Typen von Philosophie, nicht nur die Aufklärungsphilosophien, bewer-
tet. Sicher wird man wirkliche philosophische Innovationen, vor allem
auf dem Gebiet der Erkenntnislehre, am ehesten in der englischen Früh-
aufklärung (Locke, Berkeley, Hume) finden, so wie man bei den Franzo-
sen (falls man Montesquieu und Rousseau zu den Lumieres rechnet) um
die Mitte des Jahrhunderts vor allem bedeutende politiktheoretische
Überlegungen finden kann. Systematische Philosophien oder eine umfas-
sende Fachphilosophie von Rang wird man hingegen hier wie dort kaum
finden. Die deutsche Aufklärungsphilosophie war jedenfalls, zumindest
in den beiden ersten Dritteln des 18. Jahrhunderts, von ihrer Über-
legenheit über die englische und französische Philosophie ihrer Zeit
überzeugt; die englische galt ihr als seicht, die französische als bloße
Belletristik. Aber um zu klären, wieweit dieses Selbstbewußtsein der
deutschen Aufklärungsphilosophie berechtigt ist, müßte man sie erst ein-
mal zur Kenntnis nehmen, denn bisher ist sie mehr als die englische und
die französische durch den nachfolgenden Deutschen Idealismus ver-
schüttet.

46
Im folgenden kann es nun nicht darum gehen, eine detaillierte oder flä-
chendeckende Geschichte der Aufklärungsphilosophie in Deutschland zu
schreiben, vielmehr muß es auch hier bei dem Versuch bleiben, einige
wenige Wege in einem noch kaum erschlossenen Gelände zu bahnen und
dabei einige Schneisen in das Dickicht der Schulphilosophie zu schlagen,
um so besonders die Anfänge der Aufklärung in Deutschland zu erschlie-
ßen.2 Dieses Gebiet ist einerseits besonders schwer zugänglich {teils
wegen seiner spröden Darstellungsform, teils wegen des immer noch gän-
gigen Lateins), andererseits aber besonders wichtig, weil sich hier die
Innovationen noch am ehesten durch Gründlichkeit rechtfertigen müs-
sen. Außerdem läßt die Philosophie der deutschen Frühaufklärung und
der ersten Phase der Hochaufklärung {Thomasianismus und Wolffianis-
mus) die Eigenständigkeit und Eigenart der deutschen Aufklärungsphilo-
sophie besonders prägnant erkennen, da hier die Einflüsse der englischen
und französischen Aufklärung noch wenig wirksam sind. Hier werden
die Grundlagen für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung und
ihrer Philosophie gelegt - bis hin zu Kant und sogar über Kant hinaus.
Da das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung hier nicht als bloße
Bagatelle und Spielmaterial für eigene Spekulationen betrachtet wird,
darf die Selbstdarstellung und Selbstreflexion der deutschen Aufklärung
im folgenden ausdrücklich zum Ausgangspunkt der weiteren Untersu-
chung gemacht werden. Aus dieser Perspektive sollen vor allem zwei
noch wenig beachtete Formen der Selbstartikulation der Philosophie der
Aufklärung nachgezeichnet werden, die bildliehe Selbstdarstellung und

2 Einen allgemeinen Überblick über die deutsche Aufklärung gibt H. Möller,


Vernunft und Kritik, Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert 1986; für
die Erforschung der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist immer noch unent-
behrlich M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung
1945, Repr. 1964.
Die vorliegenden Ausführungen basieren z. T. auf folgenden Arbeiten des
Verfassers: Die wahre Aufklärung, Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklä-
rung 1974; Aufklärung und Vorurteilskritik, Studien zur Geschichte der Vorur-
teilstheorie 1983; Akademische Weltweisheit, Die deutsche Philosophie im Zeit-
alter der Aufklärung, in: G. Sauder u. J. Schlobach (Hrsg.), Aufklärungen,
Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert 1986. Zu Thomasius vgl. auch
W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, Zur Geschichte der praktischen Phi-
losophie im Hinblick auf 1homasius 1971; Vernunft und Freiheit, Christian 1ho-
masius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana XI/1, 1979; sowie W. Schneiders
(Hrsg.), Christian 1homasius 1989. Zu Wolff vgl. auch W. Schneiders (Hrsg.),
Christian Woljf 1983, 2. Auf!. 1986.

47
die begriffliche Selbstbestimmung der Philosophie. Damit könnten zwei
einander korrespondierende Einstiege gewonnen werden, ein anschau-
licher (sozusagen von außen, von der Peripherie her) und ein definitori-
scher (sozusagen von innen, vom Zentrum aus).

48
Il. Das Bild der Philosophie

Philosophie ist nach einer bekannten Formulierung Hegels Anstrengung


des Begriffs: Denken als Bemühung, eine Sache auf den Begriff zu brin-
gen. Kant und andere sprachen sogar von einer Erkenntnis aus Begriffen.
Aber das Denken in Begriffen muß sich auf Anschauung stützen können,
auch wenn diese noch so vergeistigt ist. Es bedient sich unvermeidlich
gewisser Bilder oder Metaphern, wofür der Begriff des Begriffes oder viel-
mehr das Bild des Begriffes selbst das bekannteste und naheliegendste Bei-
spiel ist. Dabei kann die Sprache der Philosophie mehr oder weniger bil-
derreich sein. Ja, das Denken kann sogar bewußt oder unbewußt zum
Erzählen von Mythen werden, und irgendwo ist seine Mitteilung immer
auch das Erzählen einer Geschichte in Bildern.
Allerdings sind solche Metaphern immer noch sprachliche oder literari-
sche Metaphern, d. h. durch Sprache suggestiv veranschaulichte Bilder;
sie bewegen sich also in demselben Medium, in dem die Philosophie sich
bewegt, weil diese als Denken und Mitteilung von Denken an Sprache
gebunden ist. Ganz anders steht es hingegen mit der optischen Metapher,
dem sichtbaren Sinnbild. Das gemalte oder gezeichnete Bild spielt so gut
wie gar keine Rolle als Ausdruck von Philosophie. Zwar gibt es auch so
etwas wie grüblerische oder 'metaphysische' Maler, die sozusagen in Bil-
dern philosophieren; aber das ist ein anderer Fall, der sozusagen auf das
andere Ufer gehört bzw. von ihm herkommt. Zeichnungen (als Versinn-
bildlichungen von Gedanken) spielen in der Philosophie höchstens als
anschauliche Ordnungsschemata eine gewisse Rolle, vor allem in der
Darstellung von Philosophie, also als didaktische Hilfsmittel. Im allge-
meinen beschränken sie sich auf einige wenige Striche oder Pfeile, um
Relationen, oder auf Kreise und Kästchen, um Begriffsumfänge oder
Begriffsörter anzudeuten.
In der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts hingegen lagen die
Dinge noch ganz anders. Damals konnte der Philosoph sein Buch noch

49
wie selbstverständlich mit einem von ihm selbst erdachten oder entwor-
fenen Bild schmücken, ohne sich dadurch lächerlich zu machen; d. h. er
konnte, wie jeder andere Autor auch, seinem Buch einen Kupferstich
voranstellen, um seine philosophische Aussage symbolisch, didaktisch,
werbewirksam und wohl auch spielerisch verständlich zu machen. Dies
hängt natürlich von dem jeweiligen Buchinhalt ab - nicht jede philoso-
phische These läßt sich gleichermaßen in ein Bild umwandeln. Aber diese
Tendenz zum Bild hängt sicherlich auch mit den Anfängen des Buch-
drucks und darüber hinaus mit den Anfängen der Buchherstellung und
der damit verknüpften Buchmalerei zusammen. Das Buch, vor allem die
Bibel als das Buch der Bücher, war etwas Kostbares, eigentlich ein Kunst-
werk, zu dem der Bilderschmuck wie selbstverständlich gehörte; die Bil-
derbibel war notfalls sogar für Analphabeten lesbar. Solches Anschau-
ungsbedürfniswurde dann im 17. Jahrhundert noch durch die Konjunk-
tur eines sehr sinnenbewußten und zugleich sehr sinnbedürftigen,
'barocken' Denkens verstärkt, das weitgehend ein analogisches und folg-
lich besonders metaphernfreudiges Denken war. Insbesondere in der
Gestalt der Pansophie, die den Zusammenhang von allem mit allem der-
art betont, daß alles auf alles verweist und folglich alles auch alles bedeu-
ten kann, reicht diese Rekonstruktion der Wirklichkeit als universaler
Verweisungszusammenhang bis in die Philosophie hinein. Insofern ent-
spricht die damalige Neigung der Philosophie zur Veranschaulichung
ihres Gehalts einer allgemeinen Vorliebe dieser Zeit für alles Symboli-
sche. Diese Tendenz zur symbolischen Veranschaulichung von Philoso-
phie reicht sogar noch weit ins 18. Jahrhundert hinein, obwohl gerade
die Aufklärung das analogische Denken und damit auch die traditionelle
Symbolik (Metaphorik, Emblematik usw.) in Frage stellt.
Nun hält sich die Bebilderung philosophischer Werke, auch wenn
deren Autoren 'ästhetisch' interessiert sind, allerdings in einem sehr
engen Rahmen. Zunächst einmal handelt es sich fast nirgendwo um eine
fortlaufende Illustration, sondern nur um ein einziges Frontispiz, das
jedoch selbst aus mehreren Bildern oder einer Bilderfolge bestehen und
insofern so etwas wie eine kleine philosophische Geschichte erzählen
kann. Darüber hinaus handelt es sich im allgemeinen nur um Bilder, die
man sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre
Form als äußerst schlicht bezeichnen muß. Alte einfache Symbole wie
Bäume und Häuser, Wege und Schiffe, und natürlich Sonne, Mond und
Sterne dienen ebenso wie alte und neue Personifikationen der Veran-
schaulichung bestimmter philosophischer Grundgedanken, insbesondere
der Darstellung von Beziehungen und Bewegungen. Doch lassen gerade

50
diese sehr alten Bildgehalte nicht selten den Wandel der Symbolik, ja die
gezielte U mfunktionierung der Bildvorstellungen sichtbar werden. Die
Motive als solche sind nämlich meist sehr alt und konnten in allerlei
Handbüchern zur Emblematik usw. nachgeschlagen werden. Dabei hält
sich die Darstellungsweise durchaus im Rahmen der jeweiligen Zeitstile
und ihrer Wandlungen. Die Darstellung kann barock oder rokokohaft,
realistisch oder klassizistisch sein. Das künstlerische Format allerdings ist
fast immer bescheiden. Es handelt sich nicht um große Kunst, sondern
um eher niedliche oder putzige, oft geradezu herzige oder rührende Bild-
ehen mit meist sehr puppenhaften Staffagen. Viele von ihnen sind wahre
Schmunzelbildchen.
Schon dadurch entsteht die Gefahr einer Fehlinterpretation, nämlich
die Versuchung, solche Bilder allzu ironisch oder gar nur ironisch zu
betrachten. Diese philosophische Kleinkunst auf Bestellung dürfte jedoch
nahezu ausnahmslos ernst gemeint sein, da ihr geistiger Entwurf in aller
Regel auf den Autor selbst zurückgeht (auch wenn dieser seinerseits
einem Wunsch des Verlegers folgt). Das darf nicht nur deshalb mit gutem
Grund angenommen werden, weil die z. T. sehr detaillierte sinnbildliche
Darstellung in vielen Fällen eine sehr genaue Kenntnis des jeweiligen phi-
losophischen Werkes voraussetzt; in einigen Fällen ist es auch offenkun-
dig, weil der philosophische Autor sich selbst als Erfinder des Titelbildes
zu erkennen gibt und dieses gelegentlich auch noch selber kommentiert.
Es handelt sich also um Selbstbildnisse der Philosophie, und von Selbst-
ironie ist dabei keine Spur anzutreffen. Obwohl diese symbolischen
Selbstdarstellungen heute wie mehr oder weniger geistreiche Spielereien
wirken und obwohl sie zweifellos auf einem hohen Reflexionsniveau ent-
standen sind, bleiben sie doch auch in gewisser Weise naiv, nicht nur in
ihrer Ausdrucksweise, sondern auch in der sie tragenden Grundhaltung.
Bleibt man sich aber der historischen Distanz zu der Denkweise dieser
philosophischen Bilderkunst bewußt, dann kann man auch die beiden
anderen Gefahren einer möglichen Fehlinterpretation deutlich im Auge
behalten. Zum einen besteht nämlich die Möglichkeit der Überinterpre-
tation; man ist immer wieder versucht, moderne (nachaufklärerische)
Gedanken in solche alten Bilder hineinzudeuten. Weit größer ist jedoch
die Gefahr, gar nicht mehr zu sehen, was mit solchen Sinnbildern alles
gesagt werden soll (ganz abgesehen davon, daß manche dieser Bildehen
ein wahres Augenpulver sind). Es handelt sich nämlich bei diesen Veran-
schaulichungen von relativ abstrakten Prinzipien um eine auslaufende
Bildertradition; sie sind nur noch Reste einer alten und inzwischen abge-
rissenen ikonologischen Überlieferung, die nicht zuletzt durch die Auf-

51
klärung selber zerstört worden ist. Daher kommt es in diesem Zusam-
menhang vor allem darauf an, die symbolischen Darstellungen von philo-
sophischen Aussagen erst einmal wieder zu entziffern, sie wieder zur
Sprache zu bringen und für sich selber sprechen zu lassen. Und natürlich
müssen sie erst einmal im Zusammenhang vorgeführt werden, denn bis
auf einige besonders eindrucksvolle Frontispizien- wie die von Athana-
sius Kircher, Thomas Hobbes oder Giambattista Vico, die nicht zur Auf-
klärung im engeren Sinne gehören, sowie einige von Christian W olff -
sind diese graphischen Inszenierungen der Philosophie heute so gut wie
vergessen.
Im folgenden kann nur eine kleine Auswahl dieser philosophischen
Titelkupfer vorgestellt werden. Sie beschränkt sich auf Darstellungen, die
eine allgemeine oder grundsätzliche Aussage über die Philosophie oder
den jeweiligen Philosophen implizieren. Es sind Aufklärungsallegorien
oder, wenn man so will, "Embleme der Vernunft", und sie wollen selber
als solche, d. h. durch Bilder, aufklären. Es wird also von vornherein auf
solche Bilder, die nur irgendeinen Inhalt, wie z. B. in naturphilosophi-
schen Schriften, illustrieren wollen, verzichtet. Außerdem konzentriert
sich die Auswahl unvermeidlich auf die Schriften der Frühaufklärung,
weil diese noch besonders bilderfreudig ist. Denn seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts reduziert sich der Bilderschmuck der philosophischen
Bücher zunehmend und verschwindet gegen Ende des Jahrhunderts fast
völlig. Vermutlich nicht nur eine Folge der neuen massenhaften Buch-
produktion, sondern auch des Wandels der philosophischen Denkungs-
art.

a) Wege zur Wahrheit

Am Anfang dieser zugleich philosophischen und philomusischen Bildbe-


trachtungen darf das sozusagen erste Werk der deutschen Aufklärungs-
philosophie stehen, Christian Thomasius' Philosophia aulica, sein erstes
philosophisches Werk, das 1688 im Selbstverlag, "apud autorem",
erschien (Abb. 1). Das Buch suchttrotzaller Polemik gegen Aristoteles
wie dieser das Gute in der Mitte. Der Mittelweg, die via media, ist der
Königsweg, die via aurea zwischen zwei Abwegen, in diesem Fall zwi-
schen den Vorurteilen der Cartesianer und den Ungereimtheiten der Ari-
stoteliker. Es geht also nicht um die einfache Wahl zwischen einem guten
und einem schlechten Weg (wie sie in religiösen Mythen und moralisie-
renden Dichtungen immer wieder geschildert worden ist), sondern (wie

52
Abb. 1. Christian Thomasius, Introductio ad philosophiam aulicam (1688),
2. Aufl. 1702

53
Abb. 2. Samuel Grosser, Pharus intellectus sive logica electiva, 1697

54
so häufig in der Philosophie und Politik) um einen dritten Weg ange-
sichts einer falschen Alternative. Also nicht Herades in bivio, sondern
Thomasius in trivio. Dieser steht, wie das Frontispiz beinahe überdeut-
lich demonstriert, selbst als Wahrheitssucher im Vordergrund (mit dem
berüchtigten Kavaliersdegen unterm Rock), daneben zwei falsche Ratge-
ber, die in divergierende Richtungen deuten. In der Mitte der Weg des
Selbstdenkens, der direkt zur Wahrheit führt. Diese thront hoch und
fern im Hintergrund, das Szepter als Zeichen ihrer königlichen Macht in
der Hand und umgeben von einem modern und elegant gekleideten Hof-
staat. Links im Spiegelbild dieselbe Dame als Scheinwahrheit der Carte-
sianer, rechts die schon etwas altersschwache Philosophia aristotelica,
gestützt von einigen wenigen Professoren in ihren altertümlichen T ala-
ren. Die Botschaft des Bildes lautet offensichtlich: Aufklärung ist freie
Wahl des vernünftigen Weges zur Wahrheit, und zwar durch kritische
Distanzierung von falschen Alternativen - der Mittelweg ist auch in der
Philosophie der beste.
Der Vergleich des Lebens und dann des Denkens mit einem Weg und
des Menschen mit einem Wanderer (homo viator) ist uralt. Die Wahl des
richtigen Weges aber ist eine immer neue Aufgabe; sie kann lebensent-
scheidend sein, auch wenn es sich nicht um den sogenannten Lebensweg
handelt. Verständlich also, daß sich Religion und Kunst schon früh dieser
Metaphorik bedient und ihre Anweisungen als Wegweisungen formuliert
haben. Wobei übrigens im allgemeinen vorausgesetzt wird, daß es schon
einen Weg gibt und dieser nicht erst durch sogenanntes unwegsames
Gelände gebahnt werden muß. Wegwahl kann aber nicht nur die Wahl
des richtigen Weges zu einem vorgegebenen richtigen Ziel sein, sie kann
auch implizit eine Zielwahl bedeuten, wobei sogar unklar sein kann, wel-
cher Weg zu welchem Ziel führt. Die einfachste Form einer solchen Ent-
scheidungssituation ist die Weggabelung oder Zweiteilung des Weges
(bivium), im übertragenen Sinne also das Dilemma oder die Alternative,
die, wenn ihre beiden Aspekte nicht ausnahmsweise als gleichwertig
(neutral) gedacht werden, immer eine gute und eine schlechte bzw. eine
bessere und eine schlechtere Möglichkeit enthält. Und hier bieten sich
dann die bekannten Metaphern, wie die vom rechten und vom linken
Weg, vom breiten und vom schmalen Weg usw. an. Es geht also bei die-
ser Denkfigur - vorausgesetzt, daß die Alternative klar ist - um ein
schlichtes Entweder-Oder. Insofern ist die Wahl von der Sachlage her ein-
fach, auch wenn sie der Person möglicherweise eine große Entschei-
dungskraft abverlangt. Komplizierter hingegen und folglich schwieriger
zu durchschauen ist die Situation der Dreiteilung des Weges, des Drei-

55
wegs (trivium), also das Trilemma oder die Aufgabe, zwischen drei Mög-
lichkeiten zu entscheiden. Wobei es sich, wie die gebräuchliche Metapho-
rik zeigt, in den wenigsten Fällen um ein neutrales Trilemma oder um
drei gleichwertige Möglichkeiten handelt; vielmehr geht es bei der Suche
nach dem sogenannten dritten Weg meistens darum, unter Vermeidung
zweier verkehrter Entscheidungen die einzig richtige zu treffen. Unter
der Voraussetzung einer triadischen oder trichotomischen Denkfigur
(anstelle einer schlichten dyadischen oder dichotomischen) geht es
darum, unter Abwehr einer falschen Alternative (ne-utrum), zwischen
zwei gegebenen falschen Wegen (Extremen, Gefahren etc.) den einzig
richtigen, meist normativ richtigen Weg zu finden - und dies ist dann
in aller Regel der mittlere Weg. Anscheinend hat diese Denkfigur in
Kunst und Religion eine nicht so wichtige Rolle gespielt wie die des einfa-
chen Scheideweges- sei es weil sie einerseits komplizierter, andererseits
weniger dramatisch ist als das klare Entweder-Oder, sei es weil sie in
Konkurrenz zu der Vorstellung der Drei als heiliger Zahl steht. Immer-
hin gibt es im griechischen Mythos schon das Urteil des Paris als die
Wahl zwischen drei Göttinnen, also zwischen drei verschiedenen Gütern
oder (noch ohne Bezug auf die Wegmetapher) zwischen drei Lebenszie-
len. Außerdem gibt es bei Homer auch schon die ebenfalls an der Drei-
zahl orientierte Vorstellung des richtigen oder sogar einzig möglichen
Weges, der zwischen zwei tödlichen Gefahren (Scylla und Charybdis)
hindurchführt. Ähnlich liegt die biblische Mahnung, den richtigen Weg
einzuhalten, nämlich weder zur Rechten noch zur Linken auf Abwege
zu geraten. Jedenfalls ist die Rede von der richtigen oder goldenen Mitte
populär und geradezu sprichwörtlich geworden. Die Wahrheit liegt in
der Mitte, der Mittelweg ist der beste und meist auch der kürzeste. Im
Römischen Recht galt z. B. der pragmatische Grundsatz, zwischen zwei
entgegengesetzten und extremen Meinungen die mittlere für die plausi-
belste zu halten. Aber auch in der Philosophie hat die Auffassung von
der Wahrheit der Mitte schon früh ihren Ausdruck gefunden, und zwar
wie bekannt in der aristotelischen Ethik. Die Tugend ist die richtige
Mitte zwischen zwei falschen Extremen, die als Verfehlungen oder Laster
gelten müssen, wobei die eine Fehlform als excessus, die andere als defec-
tus der eigentlich geforderten Haltung gilt. Die Tapferkeit ist die richtige
Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, aber sie liegt nicht auf der
gleichen Ebene wie die beiden Laster (als deren bloße Neutralisierung),
sondern zugleich auf einer höheren Ebene. Die Tugend bildet gleichsam
die obere Spitze eines Dreieck~, deren untere Ebene in entgegengesetzten
Lastern endet, die eine falsche Alternative bilden. Insofern ist die Theorie

56
der "mesotes" an sich keine Theorie des Mittelmaßes und keine Auffor-
derung zur "mediocritas" im schlechten Sinne des Wortes; die Mitte als
Maß verlangt kein Mittelmaß, keine Mittelmäßigkeit, sondern ein Über-
maß an Kraft, um die richtige Mitte zu halten. Allgemein gesprochen, an
die Stelle eines als falsch erkannten Dilemmas tritt durch Transzendenz
eine Dreiheit von Möglichkeiten, deren dritte als Norm oder Neuheit die
vorherige Alternative als falsche Alternative depotenziert und über-
windet.
Thomasius' Drei-Wege-Bild dürfte nicht zuletzt unter dem Einfluß des
Aristotelismus stehen, obwohl er diesen, gerade auch in seinem Fronti-
spiz bekämpft. Doch ist der dargestellte Mittelweg nicht der Weg der
Tugend als Mitte zwischen Exzeß und Defekt. Vielmehr ist er einerseits
der richtige Weg zwischen zwei Abwegen, die in die Irre führen, oder der
einzige Weg zwischen Scylla und Charybdis; andererseits erstrebt Tho-
masius aber auch die kritische Auswahl (Eklektik) zwischen dem Guten
auf beiden Seiten bzw. deren konstruktive Synthese. In dieser und ähnli-
cher Form wurde seit dem Beginn der Neuzeit und vor allem in der Phi-
losophie der deutschen Aufklärung immer wieder nach einem dritten
Weg gesucht. Mit Hilfe dieser Denkfigur kann aber auch Kant noch den
Kritizismus als den "wahren Mittelweg" zwischen Dogmatismus und
Skeptizismus bestimmen; und selbst in Hegels Dialektik, die betonter-
maßen die Sackgassen des abstrakten Verstandesdenkens vermeiden will,
sucht das Denken noch einen dritten Weg, den Weg der Vernunft. Philo-
sophie ist offensichtlich immer wieder, wenn nicht überhaupt, Philoso-
phie des dritten Weges.
Wer den richtigen Weg sucht, ist für Wegweiser dankbar. Er hält nach
Menschen Ausschau, die ihm den Weg zeigen könnten; notfalls sucht er
- da die Landschaft nicht immer voller Schilder war, die das Problem
der Orientierung durch eine Vororientierung vermittels künstlicher Zei-
chen lösen - auch schlichte Wegmarken wie Bäume oder Steinhaufen.
Nun gibt es aber seit eh und je auch natürliche Weg- oder Richtungswei-
ser, genauer gesagt, natürliche Bezugs- oder Richtpunkte, die als Orientie-
rungspunkte zur Auffindung und Beibehaltung des Weges oder der Rich-
tung dienen können. Dazu gehören die Sonne und ihr jeweiliger Stand
sowie nachts außer dem Mond der Polarstern oder Nordstern bzw. der
Große Wagen oder der Große Bär. Vor allem die Schiffahrt, die sich
nicht wie eine Landreise an den natürlichen Gegebenheiten des Geländes
orientieren kann, war auf eine solche Orientierung an Leitsternen ange-
wiesen, jedenfalls soweit ihr keine künstlichen Orientierungspunkte,
etwa von Menschen errichtete Leuchttürme, Anhalt geben konnten.

57
Angesichts dieser elementaren Situation aller alten 'Reisen' hat die Über-
tragung des Orientierungsproblems auf das Leben und damit auf die
Orientierung im Denken immer schon nahegelegen. Auch wer im Den-
ken oder durch Denken seinen richtigen Weg sucht, bedarf der Orientie-
rungshilfen, nämlich geistiger Wegweiser oder Wegzeichen. Und wenn
man den Geist, wie seit altersher üblich, mit einem Schiff vergleicht, also
das Leben mit einer Fahrt, dann muß man sich auch nach einem Fix-
punkt am Himmel oder einem Leuchtturm auf der Erde umsehen. Die
Philosophie der Aufklärung war sich dieser Denksituation noch sehr
anschaulich bewußt, und Kant war nicht der letzte, der für seine "Orien-
tierung im Denken" nach einem "Leitstern", "Leitfaden", "Kompaß"
oder einem sonstigen "Leitmittel" suchte.
1697 veröffentlichte Samuel Grosser eine Logik mit dem Titel Pharus
intellectus sive logica electiva (Abb. 2). Grosser, der von ChristianWeise
und Thomasius beeinflußt ist, repräsentiert eine Strömung der Frühauf-
klärung, die einerseits "nov-antik" auf Vermittlung und andererseits
"politisch" auf Wirkung bei Hofe ausgerichtet war. Sein Titelbild, das
die Logik als Leuchtturm des Verstandes anpreist, mahnt jedoch, den
richtigen Weg zwischen Scylla und Charybdis zu suchen. Das Schiff der
Vernunft, die Noonautica, fährt zwischen den Klippen der Irrtümer (sco-
puli errorum) und den Klippen der Unwissenheit (scopuli ignorantiae)
über die Flut der Vorurteile (fluctus praejudiciorum) in den Hafen der
Stadt der Wahrheit (Alethopolis) ein, und zwar vom künstlichen Licht
des Leuchtturms des Verstandes, der logica artificialis, eingewiesen. Aber
der moderne Hermeneutiker sieht natürlich sofort, daß die Wogen der
Vorurteile, über die das Schiff der Vernunft so stolz hinweggleitet, dieses
Schiff auch tragen. Offensichtlich ein Eigentor der frühen Aufklärung!
Wenn das Schiff der Vernunft in den Hafen der Wahrheit einfährt,
richtet sich der Verstand nicht mehr auf Sonne, Mond und Sterne, er gibt
sich selber seine Orientierung, und zwar durch das Orientierungsmittel
der Logik. Zwar ist das Licht des Leuchtturms keine Lichtquelle, die den
Weg erleuchtet, sondern nur ein Lichtpunkt, der als Orientierungspunkt
dient. Aber es gibt auch noch andere quasi-technische Orientierungsmit-
tel, die dem Menschen, der sich orientieren will oder muß, dabei behilf-
lich sein können, z. B. der Kompaß, der sich am Nordpol ausrichtet und
insofern eine Richtungsangabe liefert, oder der Leitfaden (Ariadnefaden,
filum labyrinthi), der, am Ausgang des Labyrinths befestigt, bei genügen-
der Länge einen sicheren Weg (Rückweg) aus dem unübersichtlichen
Gewirr der Wege weist. Daher ist es auch nicht erstaunlich, daß die Phi-
losophen immer wieder zwecks besserer Orientierung im Denken nicht

58
nur einen festen Bezugspunkt, z. B. ein Prinzip, sondern auch nach
einem geistigen Kompaß oder einem geistigen Leitfaden gesucht haben 1•
Und wenn sie sich bewußt waren, selbst erst noch geistige Ordnung
schaffen zu müssen, suchten sie (vor allem als Methodiker) auch nach
einer Richtschnur oder einem Maßstab, einem Probierstein (kriterion)
oder einem Schlüssel (clavis), oder wie die Metaphern, nicht zuletzt noch
bei Kant, alle heißen mögen. Und vielleicht sucht so mancher Philosoph
auch heute noch, ohne es selber zu wissen, nach dem Stein der Weisen
oder glaubt, z. B. als Logiker, im Besitze einer Art Wünschelrute zu sein.
Kein Wunder also, daß die Metapher der Wünschelrute zu Beginn der
Aufklärung durchaus noch gebräuchlich war, obwohl die Wünschelrute
schon damals im Rufe stand, ein eher magisches als technisches Orientie-
rungsmittel zu sein, und daher heftig darüber diskutiert wurde, ob der
Glaube an ihre Wirkung ein Aberglaube sei.
Wünschelruten sind Wegweiser in die Erde. Eine Wünschelrute
braucht der Wahrheitssucher, wenn er sich als Schatzsucher versteht. In
diesem Sinne hatte schon Christian Weise seiner Doctrina Logica ein
Frontispiz mit einem Wünschelrutengänger beigegeben; allerdings nicht
der ersten Ausgabe von 1680, sondern erst der dritten von 1690- mögli-
cherweise als Anspielung darauf, daß bei der Wahl des richtigen Weges,
wie sie Thomasius dargestellt hatte, ein Orientierungsmittel nötig sei
(Abb. 3). Bei Weise wandelt groß im Vordergrund auf verschlungenen,
geradezu labyrinthischen Wegen ein Wünschelrutengänger - ein bärti-
ger Philosoph, allerdings nicht im Professorentalar, sondern in einfacher
Handwerkskleidung. Die Augen in die Ferne oder zum Himmel gerich-
tet, hofft er, hier und jetzt den richtigen Weg auf der Erde oder vielmehr
in die Erde zu finden: er ist auf Schatzsuche. Erste Erfolge sind auch
schon erreicht, und zwar mit Hilfe 'philosophischer' Hilfsarbeiter. Eine
Seilwinde führt bereits in die Tiefe, eine weitere Grube soll ausgehoben
werden, und im mächtig qualmenden Schmelzofen im Hintergrund wird
bereits reines Metall hergestellt. Offensichtlich geht es bei dieser Metall-
gewinnung, wie ein Engelchen per Spruchband vom Himmel herab ver-
kündet, um die Wahrheit: von der veritas quaesita (mit Hilfe einer

Schon 1663 hatte Johann Bayer seine Logik als Orientierungshilfe angeprie-
sen, und zwar, wie der barocke Titel zeigt, sogleich in dreifacher Hinsicht,
nämlich als Fixpunkt, als Leitfaden und als Lichtspender: Filum labyrinthi, vel
cynosura seu Iux mentium universalis. Das Titelkupfer zeigt jedoch hauptsäch-
lich das Sternenbild des Großen Hundes (Cynosura), d. h. des Großen
Wagens, und damit den Polarstern als Orientierungspunkt.

59
Abb. 3. Christian Weise, Doctrina Logica (1680, 3. Aufl. 1690), 1731

60
Abb. 4. Johann Jakob Syrbius, Institutiones philosophiae pnmae novae et
eclecticae (1720), 2. Aufl. 1726

61
Wünschelrute) zur veritas inventa (mit Hilfe eines Aufzuges) und dann
zur veritas probata (mit Hilfe eines Schmelzofens). Die Logik soll es mög-
lich machen.
Aus ähnlicher Perspektive hat auch Johann Jakob Syrbius seine Institu·
tiones philosophiae primae (1720, 2. Aufl. 1726) mit der Darstellung eines
Wünschelrutengängers versehen (Abb. 4) und dabei die Philosophie ins-
gesamt als Bergbauunternehmen charakterisiert. Das Bild baut sich aus
mehreren Ebenen auf, von denen die mittlere, die wichtigste, einen Wün-
schelrutengänger bei seiner Tätigkeit zeigt. Ein Mann in schlichter Klei-
dung schaut gebannt auf seine Wünschelrute, die ihm den Weg zu den
in der Erde verborgenen Schätzen weisen soll. Ebenso konzentriert wie
offen für das, was da kommen mag, versucht er sich zum reinen Seismo-
graphen der verborgenen Wirklichkeit zu machen: "Nec adfectu nec
neglectu." Handwerkszeug für das Ausgraben des gesuchten Schatzes
liegt schon in einer Ecke bereit, und offensichtlich sind auch bereits
einige Körbe kostbaren Metalls geborgen ("entborgen') worden. Vor
allem aber führt im Vordergrund, vom Wünschelrutengänger gleichsam
angepeilt, eine Seilwinde in einen (wohl nur für den Betrachter) geöffne-
ten Untergrund: eine Erzgrube, in der, ganz klein, ein zweiter Mann mit
beiden Händen arbeitet, daß die Funken fliegen. Der kleine Mann macht
sozusagen die Drecksarbeit. Einen Haufen Erz hat er bereits abgebaut,
und wahrscheinlich hat er auch die ganze Grube ausheben müssen, wäh-
rend der andere auf weitere Erleuchtungen wartete. Der eine ist im Dun-
keln, der andere ist im Licht. Die Frage ist, in welcher Beziehung die bei-
den Personen zueinander stehen. Ist der zweite Mann nur eine philoso-
phische Hilfskraft, eine Art Hilfsdenker, oder ist er vielleicht auch ein
Philosoph, wenn auch eher ein Maulwurf als ein Wünschelrutengänger?
Läßt der Wünschelrutengänger-Philosoph einen anderen Philosophen als
Grubenarbeiter für sich arbeiten, läßt er sozusagen denken, nämlich 'grü-
beln' oder 'gründeln'? Vielleicht gibt es zwei Arten von Philosophien
oder vielmehr zwei Arten des Philosophierens, Ahnen und Arbeiten.
Aber möglich wäre auch, daß der Mann in der finsteren Grube, der
'Grübler', und der Wünschelrutengänger im Hellen und Freien, der 'Se-
her', sogar ein und derselbe Philosoph in zwei Personen ist.
Ein Wünschelrutengänger sucht verborgene W asserquellen, vor allem
aber Erzvorkommen und insbesondere das in der Erde verborgene Edel-
metall (Silber). Insofern steht das Bild des Philosophen als Wünschelru-
tengänger im Rahmen der Bergbaumetaphorik, die ihrerseits ein Gegen-
stück zur älteren Ackerbaumetaphorik darstellt. Aufklärung ist zwar cul-
tura animi, doch scheint sich die Philosophie mit der bloßen Feldbestel-

62
lung, dem Säen und Wachsenlassen, nicht begnügen zu wollen; sie
scheint eher einem Bergwerk oder Grubenunternehmen zu gleichen, das
sich auf die Schätze in der Tiefe richtet. Die Produkte der Philosophie
werden nicht im Tagebau gewonnen, Philosophie ist immer auch ein
wenig Schatzsuche. Allerdings ist das, was sie durch Glück oder mit
Anstrengung ans Licht bringt, in dieser Form meist noch unbrauchbar.
Es muß gereinigt und bearbeitet werden, um seinen möglichen Glanz zu
erreichen. Aufklärung ist Läuterung (clarificatio). Außerdem ist Aufklä-
rung nicht nur Wahrheitssuche oder Selbstaufklärung, sondern auch
Wahrheitsvermittlung oder Aufklärung der anderen, sei es als Informa-
tion oder als Emanzipation, daher auch immer mehr oder weniger päd-
agogisch und politisch ausgerichtet, historisch gesehen zunächst mehr
pädagogisch, dann mehr politisch. Dieser pädagogische Charakter der
Frühaufklärung kann zwar wie seit altersher in der Ackerbau-, aber auch
in der Bergbaumetaphorik zum Ausdruck kommen. Dann steht das
gesuchte, gefundene und geläuterte Edelmetall nicht mehr für die Wahr-
heit, sondern für die menschliche Seele selber, die der Kultur, d. h. pfleg-
licher Bearbeitung, also der Erziehung oder Bildung, bedarf. Das Ziel
dieses Prozesses hieß in der Frühaufklärung noch (mit Betonung des Wis-
sens, das den Menschen kundig macht) Gelehrtheit oder Gelehrsamkeit
- ein deutsches Ersatzwort für eruditio, das Bildung als Prozeß und
Resultat bezeichnen konnte. Eigentlich bedeutet e-ruditio, wie es noch
bei Kant im Kontext seiner Aufklärungsdiskussion anklingt, den Aus-
gang oder das Hinausführen aus der Rohigkeit: Ent-rohung. Aufklärung
ist auch Erziehung, Bildung oder Kultur im ursprünglichen Sinn des
Wortes. Zwar ist Aufklärung im engeren Sinne als Verbesserung des Ver-
standes nur ein Moment der Erudition; die Logik ist sogar nur ein Teil
der allgemeinen Gelehrsamkeit, wenn auch das sogenannte universale
Instrument. Aber der Aufklärungsbegriff tendiert dazu, andere Begriffs-
inhalte an sich zu ziehen und in sich aufzusaugen. Aufklärung beginnt
sich dabei nicht selten mit der Kultur überhaupt zu identifizieren, sich
zumindest (wie etwa bei Mendelssohn) als die eine Hälfte der Bildung, als
das theoretische Komplement der Kultur zu verstehen.
Die Anfänge dieses pädagogischen Selbstverständnisses der Aufklärung
(die Deutung der Erziehung als Entrohung, der Bildung als Bearbeitung,
der Erziehung als Aufzucht) werden besonders anschaulich sichtbar in
dem Kupferstich, der die Protheoria eruditionis von Johann Christian
Lange ziert (Abb. 5) und der vom Verfasser selber in einem holprigen
Gedicht erläutert wird:

63
Abb. 5. Johann Christian Lange, Protheoria eruditionis, 1706

64
Erklärung des auf Begehren des Verlegers vorgesetzten
Kupffer-Bildes.
Was Erudition bey denen Menschen sey?
Das zeiget dieses Blatt durchs Vorbild der Metallen:
Und leget ihnen hier ein dreyfach Muster bey,
Wie selbe nach und nach in beß 'rer Art gefallen.
Es wird ein edles Erz zuerst aus finst 'rer Grufft
Mit nicht geringer Müh ans Tages-Licht geführet:
Doch muß es Rude seyn, und liegt in freyer Lufft;
So lange man an ihm sein gutes nicht verspüret.
Dann fühlet es zuvor des Feuers starcke Glut,
Durch welche sich von ihm die grobe Schlacken scheiden:
Und was des Künstlers Hand mit ihm noch ferner thut,
Diß alles muß es auch zur Erudirung leiden.
Allein, wenn solcher Stand wohl überstanden ist:
So findet sich allhier manch köstliches Geräthe,
Das mancher Fürsten-Mund mit seinen Lippen küsst;
Und körnt als Erudirt doch endlich nicht zu späte.
Fragt man, wie dieses Bild sich auf die Menschen schickt:
So mag sich die Gebuhrt dem ersten Fache gleichen;
Dem zweyten gleicht die Zucht; was Hoffnung hier erblickt,
Das kan im dritten Fach die Tugend erst erreichen.
Wohl dem, der dieses merckt; dem trifft es herrlich ein:
Wer steigen will, der muß der Staffeln sich befleissen.
Soll Rudis mit der Zeit ein Eruditus seyn:
muß Rudis erst vorher Erudiendus heissen.

Aufklärung ist Arbeit, Erziehungsarbeit, besonders als Aufklärung


oder Erziehung der anderen. Daß solche Aufklärung oder Erziehung für
den Aufzuklärenden oder Zögling (sei es ein anderer, sei es ich selber)
auch ein schmerzhafter Prozeß ist, gehört zu den verlorengegangenen
Wahrheiten der deutschen Aufklärung von Thomasius bis Kant, die,
anders als z. B. politische Eiferer, nicht im Obskuranten, sondern im Ich
selber das größte Hindernis der Aufklärung sahen. Die Beseitigung der
äußeren Hindernisse der Aufklärung, obwohl jederzeit nötig, garantiert
noch nicht den Erfolg der Aufklärung, da die Menschen nur sehr bedingt
aufklärungsfähig oder gar aufklärungswillig sind.

b) Gegenbilder

Aufklärungsphilosophie präsentiert sich als Wegwahl, Seefahrt und Berg-


bau (mit nachfolgender Metallverarbeitung) - nur in die Luft scheint sie
nicht gehen zu wollen, obwohl ihre Gegner ihr genau das, nämlich

65
Abb. 6. Andreas Rüdiger, Philosophia synthetica, 1711

66
unerlaubten Höhenflug, ständig unterstellen. Die Aufklärer selbst ver-
standen sich nicht als Luftwandler und beabsichtigten auch keinen neuen
Ikarusflug, sie wollten nur die Erde richtig bzw. besser einrichten. Flie-
gen ist daher keine Aufklärungsmetapher. Wohl aber gibt es noch ein
anderes Gegenstück zum philosophischen Untertagebau, dem Wühlen
im Dunkeln und der danach folgenden Bearbeitung, den Schmelz- und
Schmiedeprozessen: die Philosophie als freie Konstruktion, die Errich-
tung eines geistigen Gebäudes gemäß der Architektonik der Vernunft
oder nach eigenen individuellen Vorstellungen. Philosophie ist philoso-
phia architectonica und daher erst einmal Fundamentalphilosophie.
Doch so verbreitet die Vorstellung von einem Gebäude oder dem
Gebäude der Philosophie heute sein mag, ihre eigentliche Konjunktur
begann erst in der Neuzeit, nämlich mit der Entwicklung des modernen
Systemgedankens und der darin implizierten Deutung der Philosophie
als einer Errichtung von Systemen, und dieser Gedanke setzte sich erst
allmählich, z. T. gegen deutliche Widerstände, durch. Daher fallen die
Rückgriffe auf die Gebäudemetapher in der frühen Aufklärung noch rela-
tiv traditionell aus. Sie sind im allgemeinen durch andere Gesichtspunkte
bestimmt. Die Philosophie kann dabei als Tempel der Wahrheit bzw.
Weisheit oder als Babylonischer Turm, ja sogar als ein Ladengeschäft
erscheinen.
Der Vergleich der Philosophie mit einem Geschäft oder einer "Hand-
lung", wie man im 18. Jahrhundert noch sagte, ist alt. Schon Sokrates
fragte sich: Was ist dein Geschäft (pragma)? Auch Kant und Hegel spre-
chen noch ungeniert vom "Geschäft der Philosophie". Sehr viel poin-
tierter hingegen stellt sich Andreas Rüdiger am Anfang des 18. Jahrhun-
derts in der Handels- und Messestadt Leipzig die Philosophie als ein rich-
tiges Verkaufsgeschäft vor. Die Philosophie, die sich mitteilen will, ist
wie ein Laden, in dem etwas verkauft wird und in dem man etwas kaufen
kann - und dies durchaus nicht in dem abschätzigen Sinn, in dem Vol-
taire später die Kirche eine boutique nannte. Das Frontispiz der Rüdiger-
schen Philosophia synthetica von 1711 stellt ganz auf den Gegensatz von
alt und neu ab (Abb. 6). Es ist also nicht mehr der kritisch, eklektisch
oder synthetisch, zu überwindende Gegensatz zwischen Aristotelikern
und Cartesianern, sondern bereits der ausschließende Unterschied zwi-
schen der neuesten Philosophie und aller bisherigen Philosophie über-
haupt. Rechts im Schatten eines schönen neuen Gebäudes der dunkle und
unordentliche Trödelladen eines obskuren Altwarenhändlers (Vetera-
rius) mit seinem alten Kram, den traditionellen Theorien - eine Art phi-
losophischer second-hand-shop, in den niemand mehr kommt. Links das

67
Abb. 7. Dieterich Hermann Kemmerich, Neueröffnete Akademie der Wissen-
schaften Bd. I, 1711

68
helle und wohlaufgeräumte Magazin des Neuerers (Novator), der nur das
Neueste und Schönste zu bieten hat - ein selbstbewußter und freund-
licher Mann, bei dem, wie man an den adretten Herren sieht, nur anstän-
dige Kundschaft einkauft. Die neuen Stoffe gefallen der Sache wie dem
Aussehen nach ("Re specieque placent"), den alten Lumpen hingegen
mangelt es an Qualität wie an Gefälligkeit ("Re specieque carent"). Die
frühe Aufklärung scheint sich ihres Sieges schon sehr sicher zu sein. Mit
ihr ist die neue Zeit 2 •
Rüdigers Kupfertitel ist betont antithetisch aufgebaut, nicht nur for-
mal, sondern auch inhaltlich. Zwar sind fast alle Bilder irgendwie durch
Gegensätze strukturiert, insofern ihre ästhetische Komposition auf
Unterscheidungen wie hell und dunkel, Vordergrund und Hintergrund
usw. beruht. Aber Rüdigers Bild der alten und der neuen Philosopie stellt
darüber hinaus oder vielmehr im vorhinein auch eine inhaltliche Alterna-
tive auf - um dem Betrachter die sachlich notwendige Entscheidung für
die neue Philosophie dann auch ästhetisch zu demonstrieren. Eine solche
materiale Alternative muß jedoch nicht unbedingt in jedem Bild sichtbar
gegenwärtig sein, sie kann auch sozusagen unsichtbar vorhanden sein.
Ein Bild kann ein Gegenstück zu einem anderen unsichtbaren Bild sein,
dessen Bekanntheit beim Betrachter mehr oder weniger vorausgesetzt
wird; in diesem Fall ist es eo ipso ein Gegenbild.
So läßt zum Beispiel Dieterich Hermann Kemmerich, Anhänger von
Thomasius und Direktor einer Ritterakademie, auf dem Frontispiz seiner
Neueröffneten Akademie der Wissenschaften I (1711), die sich vornehmlich
an den Adel wendet, nur noch den Tempel der modernen, lebensprakti-
schen Wissenschaft darstellen (Abb. 7). An die Stelle des bekannten, hier
nicht mehr reproduzierten mittelalterlichen Turmes der Wissenschaften
ist ein großer klassizistischer Kuppelbau getreten, ein höfisches Pantheon
oder eine Art profane Peterskirche der Weltweisheit. In den Nischen des
Gebäudes stehen die Personifikationen der für vornehme Leute relevan-
ten Wissenschaften: im Erdgeschoß die Basiswissenschaften: rechts (von
innen nach außen) die Historia und die Eloquentia, links (von innen nach
außen) die Philosophie und als Symbolfigur einer neuen Kunst die

2 Rüdigers Selbstbewußtsein kommt auch auf dem Titelkupfer seiner Schrift De


sensu veri et falsi (1709, 2. Aufl. 1722) zum Ausdruck. Philosophie wird hier,
unter Anspielung auf die alttestamentlichen Vergleiche Gottes mit einem
Töpfer, als eine Art Töpferkunst verstanden. In einem Haufen verrückt
gewordener Töpfer, die ihre eigenen Produkte zerschmettern, gibt es offen-
kundig nur einen vernünftigen Mann, nämlich Rüdiger, der sich über diesen
Wahnsinn entsetzt. "Frustra crepitante furore quo ruitis figuli!"

69
Abb. 8. Gottfried Polycarp Müller, Philosophia facultatibus superioribus
accomodata, 1718

70
Sprachmeisterin, Linguarum Magistra; im oberen Stockwerk, der stan-
desgemäßen Bel-etage, die Personifikationen der oberen Fakultäten:
rechts die Medizin, links dieJurisprudenzund in der Mitte, leicht erhöht,
die Theologie. Die Bedeutung dieser Wissenschaften für einen gebildeten
Adel symbolisieren die frei auf dem Dachgeländer stehenden Figuren:
links die kriegerische Göttin Pallas Athene, rechts Hermes, der Gott des
Handels, auf der Spitze der Kuppel als Lichtfigur Apollo, der Gott der
Musen. Der ehemals kriegerische Adel muß anscheinend lernen, auch
ökonomisch zu denken - aber der moderne Weisheitstempel möchte
auch noch ein Musentempel sein. In der Eingangshalle mit der Aufschrift
"Templum Sapientiae" ist ein Altar aufgestellt, auf dem jetzt anschei-
nend die Weisheit in persona angebetet wird: als hüllenlose Wahrheit,
mit dem Spiegel der Selbsterkenntnis in der erhobenen Hand, nun aber
zwischen zwei Kerzen, eine Art Meßbuch zu ihren Füßen - anscheinend
eine frühe Vorform des späteren Kults der Vernunft.
Im Vergleich mit diesem modernen und stolzen Tempelbau muß das
Titelkupfer der Philosophia facultatibus superioribus accomodata (1718)
von Gottfried Polycarp Müller, der ebenfalls von Thomasius beeinflußt
ist, zunächst verblüffen: ausgerechnet der Babylonische Turm, das alte
Symbol für die Eitelkeit menschlichen Bauens, das allzu hoch hinaus
will, dient hier als Eingangsbild eines philosophischen Lehrbuchs
(Abb. 8). Soll also die Philosophie als eine überhebliche Konstruktion
denunziert werden? Hinzu kommt noch, daß das Spruchband, das vom
Himmel zur Erde hinabläuft, nachdrücklich die Eigenmächtigkeit und
Selbstherrlichkeit der menschlichen Vernunft anprangert. "Haec est
magna Babel, quam ratio aedificavit in domum regni sui, et in gloriam
decoris sui." Das klingt nach altchristlicher Vernunftkritik und nach
moderner Aufklärungskritik zugleich. Aber wozu schreibt Müller dann
eine Philosophie und preist sie allen Fakultäten an, wenn er sie schon
vorab denunziert oder renunziert? Ein Titelkupfer als retractatio oder
reprobatio? Offensichtlich soll der Babylonische Turm gerade das Gegen-
bild der von Müller intendierten wahren (neuen) Weltweisheit darstellen,
nämlich das Gebäude der falschen (alten) Weltweisheit- möglicherweise
sogar mit einer Spitze gegen Kemmerich. Die winzigen Hinweisschilder
an den verschiedenen Stockwerken des Gebäudes machen deutlich, was
hier kritisiert wird. Das alles tragende Untergeschoß ist das Gemäuer der
antiken Philosophie, der Sectae Graecae, auf dem die in sich zerstrittene
philosophia scholastica (Schol. et Neoschol.) errichtet wurde. Ihr folgen
die Etage der alchemistischenund mystischen Philosophie (Chym. et Spi-
rit.) sowie die Etage der modernen mathematischen Philosophie (Math.

71
et Cartes.). Das letzte fertige Geschoß, das schon in einen dunklen Him-
mel ragt, scheint unbeschriftet zu sein. Hat die neueste Torheit noch
keinen Namen?
Pie "Praefatio" der Philosophia facultatibus superioribus accomodata
bestätigt diese Interpretation bis zu einem gewissen Grade. Die Philoso-
phie, so führt Müller aus, ist die T achter der Vernunft und hat daher
auch an deren Verderbnissen teil. Ohne Tugend und Frömmigkeit, d. h.
ohne Demut, gibt es nämlich keine richtige Vernunft. Es ist allereitelster
Ehrgeiz, daß ein jeder sich für den Weisesten hält und alle Andersdenken-
den bekämpfen zu müssen glaubt. "Hinc omnes sectae philosophicae, et
sectarum contentiones! ita ut tanta confusio sententiarum, quanta lingua-
rum, babylonica fere prodierit" (§ 1). Die philosophischen Sekten, die
aus bloßem Hochmut und aus streitsüchtiger Vernunft entstanden sind,
türmen sich, eine Sekte auf der anderen, zum Himmel. Zwei sind es vor
allem, die sich bemühen, ihre Herrschaft den demütigen und integren
Geistern aufzudrücken, nämlich die Dogmatiker und die Skeptiker, die
sich seit jeher bekämpfen und sich gegenseitig für verrückt erklären. Zwi-
schen ihnen führt kein sicherer Weg hindurch, "nisi mediocritate mode-
sta". Damit wechselt Müller unversehens die Metapher und verlangt
nun, wie später noch Kant, für die Philosophie eine "via media" zwi-
schen Skeptizismus und Dogmatismus, wobei er natürlich glaubt, selber
frei zu sein vom "sectarius genius dogmatico-scepticus". Der wahre Mit-
telweg ist der Weg der Weisheit, die sich am Leben selber orientiert und
die den auf die verschiedenen vitae genera bezogenen Fakultäten dient.
"Sapientia distinguit necessaria ac utilia vitae a nimiis contemplationibus
. . . Ratio autem suapte natura superba est ... " (§ 3, vgl. § 2). Aus die-
ser religiösen Kritik heraus erklärt Müller nun auch den Titel und das
Frontispiz seines Buches als Kritik am Sektengeist und als Aufruf zur
Bescheidenheit. "Unde mihi titulus, et pictura titulo praemissa enata est,
qua nemini insultare, verum sectariae rationis genium ostendere, et Ieeto-
rern philosophum modestiae in sentiendo et judicando admonere volui"
(§ 4).
Fast noch traditioneller als die Darstellung der Wissenschaft in Form
eines Gebäudes ist ihre Veranschaulichung durch Figuren, die frei als Per-
sonifikationen der Wissenschaften auftreten. Solche Figuren können,
wenn man sie zu Figurengruppen kombiniert, Beziehungen und nicht
zuletzt auch Gegensätze (z. B. Tugenden und Laster) symbolisieren oder
allegorisch repräsentieren. Seit dem Mittelalter ist daher mit Hilfe solcher
meist hierarchisch geordneter Personengruppen die Rolle der Philoso-
phie wie auch ihrer Teile im Verhältnis zu anderen Wissenschaften und

72
zu den artes liberales dargestellt worden. Dieses Motiv liegt auch noch
dem Frontispiz zugrunde, das die 1734 erschienene Vernunftlehre von
Adolph Friedrich Hoffmann schmückt (Abb. 9), und auch hier sind die
Akzente bzw. Akzentverschiebungen das eigentlich lnteressante3 • Der
Auftritt der Wissenschaften erfolgt nämlich auf einer Art Bühne, vor
einer exotisch anmutenden Landschaft: d. h. vor der Wirklichkeit, in der
nicht nur theoretisch diskutiert, sondern wirklich um Leben und Tod
gekämpft wird, und wo es, wie eine kleine zum Himmel flehende Gestalt
anzudeuten scheint, auch keine Gnade gibt. Die Bäume, Bauten und
Zelte einerseits sowie die Darstellung der Personen andererseits lassen
vermuten, daß sich die kriegerischen Szenen in einem fernen Land
abspielen, aber wahrscheinlich nicht im Rahmen eines hier kritisierten
Kolonialkrieges, sondern als Kampf zwischen Barbaren - im Unter-
schied zu der Kultur der friedlichen Konkurrenz der Wissenschaften auf
der akademischen Bühne der Weltweisheit. Die Kultur (und nicht nur die
cultura animi) scheint Fortschritte zu machen. Auf der Plattform der
Wissenschaften erscheint jedenfalls eine friedliche, in verschiedenen Rei-
hen aufgebaute und aufeinander bezogene Personengruppe von insge-
samt sechs weiblichen Figuren. Die hinteren vier repräsentieren die vier
Fakultäten, die mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander ste-
hen. Rechts die Philosophie, wie im Anschluß an Boethius üblich, mit
Büchern und Szepter; ihr zu Füßen stehen jetzt, wohl als Zeichen ihrer
neuen naturwissenschaftlichen Ausrichtung, ein Erd- und ein Himmels-
globus. Daneben die Medizin mit ihren Attributen, Äskulapstab und
Kolbenglas. Etwas zurückgesetzt, merkwürdig klein und puppenhaft,
mit Flügelehen fast wie ein Amor, schwebt die Justitia mit Schwert und
Waage, die Augen verbunden- möglicherweise eine Kritik am Überge-
wicht der Jurisprudenz im Thomasianismus. Als vierte Figur, erstaunli-
cherweise von allen am meisten in den Vordergrund gerückt, die Theolo-
gie, martialisch bewehrt mit einem Stab in der rechten und einem Ruten-
bündel in der linken Hand, Zeichen ihrer Herrschaft oder Verkündi-
gungsmacht sowie ihrer Strafgewalt. Neben ihr auf dem Tisch, wie abge-
legt, eine Bischofsmütze und eine Krone, wohl Zeichen ihrer kirchlichen
und weltlichen Macht. Am äußersten linken Rand dann, fast ganz im

3 Allerdings bedient sich Hoffmann im Text einer ganz anderen Bildersprache,


um das Verhältnis der Philosophie zu den anderen Wissenschaften, insbeson-
dere zu den sogenannten höheren Fakultäten zu beschreiben. Er vergleicht
das System der Wissenschaften mit einem Baum, dessen Stamm die Philoso-
phie bildet, und mit einem Körper, in dem die Philosophie als Herz für den
Blutkreislauf sorgt.

73
Abb. 9. Adolph Friedrich Hoffmann, Vernunftlehre, 1734

74
Abb. 10. Christian August Crusius, Entwurf der notwendigen Vernunftwahr-
heiten, 1745 (Repr. 1963)

75
Vordergrund, die Logik selber, w1e üblich mit Blumenszepter und
Schlange als Zeichen ihrer Milde und Klugheit; um ihren rechten Arm
windet sich eine Schärpe mit der traditionellen Aufschrift "Verum et Fal-
sum". Sie ist der eigentliche Mittelpunkt der Szene. Während sie den
Blick zum Himmel der ewigen Wahrheiten richtet, schauen alle anderen
Personen mehr oder weniger auf sie hin. Vor allem aber blickt eine merk-
würdige, im Vordergrund sitzende Figur zu ihr auf: eine Art geflügelter
T odesengel, mit Sense und Sanduhr ausstaffiert, vermutlich die Zeit oder
die Vergänglichkeit. Sie versucht die von der Logik verkündeten ewigen
Wahrheiten aufzuschreiben, scheint also das Zeitlose ins Vergängliche
transponieren zu wollen. Oder wird die Vergänglichkeit, die ihre Attri-
bute anscheinend weggelegt hat, um schreiben zu können, durch die
Wahrheiten der Logik aufgehoben? Leider kann man nicht lesen, was sie
aufgeschrieben hat.
Hoffmanns bedeutender Schüler Christian August Crusius hat das
Motiv des Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit noch einmal, etwas verein-
facht, aufgenommen, seine Darstellung (Abb. 10) allerdings, mit deutlich
religiöser Wendung, nicht der Logik, sondern seiner Metaphysik voran-
gestellt (Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den
zufälligen entgegengesetzet werden 1745, Repr. 1963). Unter einer strahlen-
den Sonne mit eingeschriebenem Tetragramm, die Gott repräsentiert,
steht auf einem kleinen gemauerten Podest ein großer geflügelter Chro-
nos mit Sense und Stundenglas, der wie fragend auf ein entrolltes Perga-
ment zeigt, das die andere Figur des Bildes in den Händen hält. Diese
Frau, zu deren Füßen mathematische und naturwissenschaftliche Instru-
mente liegen und über deren Kopf eine Art Heiligenschein schwebt, ist,
nach ihren Attributen (Spiegel und Schlange) zu urteilen, die Klugheit
oder die Logik. Aber das Blatt, das sie entfaltet, zeigt eine Abbildung des
Sonnensystems, d. h. es verweist auf den Kosmos als Sinnbild der Seins-
ordnung. Die Schlußfolgerung aus der abgebildeten Weltordnung steht
gleich dabei: "Ex his creatorem." Gott soll aus seinen Werken erkannt
werden. Zugleich verkündet der Spruch auf dem Gemäuer die Herrschaft
der ewigen Wahrheiten der Logik bzw. der Metaphysik über die Verän-
derungen im Vergänglichen. "Constantibus regitur vicissitudo." Die
Antithese (hier von Wechsel und Beständigkeit) wird also wie meist
zugunsten einer Seite aufgelöst.
Der schlichte Aufbau von Crusius' Titelkupfer kann sich nicht mit den
beiden antithetischen Doppelbildern messen, die, eine Generation zuvor,
Thomasius sich ausgedacht hatte. Sie sind Gegenbilder auch in dem Sinn,
daß sie aus jeweils zwei, inhaltlich einander entgegengesetzten Bildern

76
bestehen, die wie mittelalterliche Tugend- und Lasterdarstellungen einan-
der gegenüber oder wie hier übereinander gestellt werden, wobei jedes
Bild in sich jeweils eine bestimmte Kombination von Tugenden bzw.
Lastern darstellt. Diese Bilder sind so sehr im Geiste von Thomasius' Phi-
losophie ausgetüftelt, daß ihre Konzeption eigentlich nur vom Autor sel-
ber stammen kann. Das eine hat die Frömmigkeit, das andere die Gerech-
tigkeit zum Thema.
Das 'religionsphilosophische' Doppelbild schmückt den ersten Band
von Thomasius' vermischten Gedanken und Erinnerungen, die er Ver·
nünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Thomasische Gedanken und
Erinnerungen über allerhand gemischte philosophische und juristische Hän·
del (Erster Teil 1723) nennt. Damit setzt er, indem er sich betont gegen
die falsche Religiösität wehrt, einen neuen Akzent in seinem Kampf für
Aufklärung, und sein Frontispiz illustriert genau diesen Kampf für einen
wahren ("philosophischen") Glauben gegen Orthodoxie und Pietismus.
Das Titelkupfer (Abb. 11) besteht nämlich aus zwei komplementären Bil-
dern, die den Gegensatz zwischen der Pietas vera et rationalis und der
Pietas stulta et irrationalis mit den beiden möglichen Ausgängen des
Kampfes zeigen. Die Begriffe rationalis bzw. irrationalis werden dabei als
Wert- oder Normbegriffe gebraucht, ebenso wie der Begriff wahr (verus)
und der Begriff töricht (stultus), der hier als Gegenbegriff zu wahr benutzt
wird. Hintergund dieser Verwendung des Terminus Torheit (Narrheit) ist,
wie schon bei der Entgegensetzung der Weisen (sapientes) und der Nar-
ren (stulti) in Thomasius' Fundamenta juris naturae et gentium, die christ-
liche Auffassung der stultitia als Sünde, wie sie sich aus dem biblischen
Gleichnis von den törichten Jungfrauen, aber auch aus der aristotelischen
Definition der Klugheit als Tugend entwickelt hat. Auf dem Boden dieser
christlichen Tradition entfaltet Thomasius' Doppelbild nun die moderne
("rationalistische') Idee einer vernünftigen Frömmigkeit im Sinne eines
vernünftigen Christentums: eine Art philosophische Moritat in zwei Bil-
dern. Das obere Bild zeigt den erhofften Sieg der Pietas vera et rationalis.
Die Frömmigkeit thront in der Mitte, eine Art Christus triumphans in
Frauengestalt, in der rechten Hand das Kreuz, in der linken Hand ein
aufgeschlagenes Buch, die Bibel. Sie fordert mit einem biblischen Spruch
zur Freiheit bzw. Selbstbefreiung, also, modern gesprochen, zur Mündig-
keit oder Selbstemanzipation auf. "Seyd nicht wie Roß und Mäuler", die
ohne Verstand sind, wie es im Alten Testament (Psalm 32,9) weiter heißt,
d. h. laßt euch nicht, von wem auch immer, wie die Pferde und Maulesel
am Zügel führen. Der Wille zur geistigen Selbständigkeit motiviert sich
hier noch religiös als Freiheit eines Christenmenschen. Unter dieser auf-

77
Abb. 11. Christian Thomasius, Gemischte philosophische und juristische Händel
Bd. I, 1723

78
klärerischen Pietas windet sich die gestürzte Scheinheiligkeit, die fromme
Heuchelei (Hypocrisis). Zur Rechten und zur Linken der Pietas, sozusa-
gen als ihre Adjutantinnen, sitzen Vernunft und Klugheit. Die Ratio, die
ihren Fuß auf die besiegte Unvernunft (Irrationalitas) gesetzt hat, legt-
wohl zum Zeichen des Selbstdenkens - den Zeigefinger der linken Hand
an die Stirn, während ihre rechte Hand auf ihre Stützen, die Bücher der
Logik, der Sittenlehre und des Naturrechts, weist. Die Klugheit (Pruden-
tia) hingegen, die ihren Fuß auf die besiegte Einfältigkeit (Simplicitas im
negativen Sinn) gesetzt hat, hält in ihrer Rechten ihre traditionellen
Attribute, Spiegel (Reflexion) und Schlange (Schlauheit), während sie mit
der Linken auf die Bücher zeigt, die die Historia ecclesiastica et civilis
und die errores patrum enthalten, d. h. sie verweist auf die Geschichte
und die aus den Irrtümern der Geschichte gewonnene Erfahrung, deren
sie sich bedient.
Das untere Bild zeigt die entgegengesetzte Situation, den (vorläufigen)
Sieg der Pietas stulta et irrationalis - allerdings mit einer wichtigen
Abweichung. In der Mitte sitzt nun die triumphierende Scheinheiligkeit
und ringt heuchlerisch die Hände. Ihre Maxime, die ebenfalls aus der
Bibel stammt, lautet: "Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere
Leute." Rechts von ihr sitzt eine etwas cholerisch anmutende Irrationali-
tas, welche worthörig und lautstark "clara verba" fordert bzw. von sich
zu geben behauptet. Zu ihren Füßen liegen ihre Hauptstützen, die
Bücher der Kirchenväter, die Konzilsbeschlüsse und die formulae fidei.
Links von der Hypocrisis döst die Einfältigkeit vor sich hin; ihre Bücher
sind das Leben der Heiligen Theresa, die Theologia mystica und irgend-
welche (wahrscheinlich jesuitische oder pietistische) Regulae vitae, also
die Anleitungen zu einer versponnenen oder bloß äußerlichen Frömmig-
keit. Vernunft und Klugheit liegen nun gestürzt am Boden. Aber nicht
die lrrationalitas setzt ihren Fuß auf die darniederliegende Ratio, wie es
die Logik der Umkehrung des oberen Bildes erfordern würde, sondern
die Scheinheiligkeit selber, die ihren Fuß eigentlich auf die Frömmigkeit
setzen müßte. Doch liegt die arme gestürzte Vernunft so unglücklich
zwischen Unvernunft und Scheinheiligkeit, daß sie von beiden getreten
werden kann, und die Unvernunft scheint gerade zu einem Fußtritt aus-
zuholen. Die Frömmigkeit hingegen, die wahre, christliche und vernünf-
tige Frömmigkeit, ist verschwunden. Da sie nicht wirklich besiegt wer-
den kann, muß sie wohl außerhalb des Bildes auf bessere Zeiten warten.
Oder sie war, wenn man erst das untere und dann das obere Bild liest,
bisher noch nicht da und triumphiert nun endlich - im Zeichen der
beginnenden Aufklärung.

79
Abb. 12. Christian Thomasius, Auserlesene juristische Händel Bd. I (1720),
2. Aufl. 1723

80
Thomasius' gegenbildliehe Darstellung der vernünftigen und der
unvernünftigen Frömmigkeit ist ein gestrafftes Gegenstück zu einem
anderen ("rechtsphilosophischen') Doppelbild, auf dem er den Unter-
schied zwischen wahrer Gerechtigkeit und bloßer Verleumdung darge-
stellt hat (Abb. 12). Es ist dem ersten Teil seiner juristischen Erinnerun-
gen vorangestellt (Ernsthafte, aber doch muntere und vernünftige Gedan-
ken und Erinnerungen über allerhand auserlesene juristische Händel, Erster
Teil 1720, 2. Aufl. 1723). Auf dem oberen Bild thront die Justitia mit
ihren bis heute bekannten Symbolen, umgeben von vier Tugenden: zu
ihrer Rechten Wachsamkeit (Vigilantia) und Enthaltsamkeit (Abstinen-
tia), zu ihrer Linken Klugheit (Prudentia) und Mäßigung (Moderatio).
Ihren rechten Fuß hat sie auf ein Buch gesetzt, das die überwundene Ars
rabulistica, die Kunst der Rechthaberei, enthält. Die Prudentia hält mit
ihrer rechten Hand den Spiegel der Selbstbesinnung hoch, wä):lrend sie
mit der anderen Hand, als Mahnung zur Vorsicht, einen Finger auf das
Schwert der Justitia legt; ihren Fuß hat sie auf einen Eselskopf, die
besiegte Dummheit, gesetzt. Entsprechend hält auf der anderen Seite die
Vigilantia einen Finger an die Waage der Justitia, während sie in der rech-
ten Hand als Zeichen ihrer Belesenheit ein Buch hält; zu ihren Füßen lie-
gen u. a. Würfel und Spielkarten, die sie, wie man sieht, nicht abzulenken
vermögen. Die Moderatio hält in der einen Hand ein Herz, in der ande-
ren eine Rute, die wohl als Zeichen für lebendige Beherztheit einerseits
und Zucht und Ordnung andererseits stehen; unter ihren Füßen ist noch
der Kopf eines löwenähnlichen Untiers, der besiegten Begierde, sichtbar.
Die Abstinentia hingegen, auf deren Schoß ein friedliches Lamm, ver-
mutlich die Unschuld darstellend, zu schlafen scheint, kann ihren Fuß
mit Ruhe auf ein weiches Kissen setzen und doch zugleich einen fetten
Mann (möglicherweise einen lüsternen Mönch) abweisen, der ihr einen
Pokal und auf einem Tablett ein kaninchenartiges Tier anbietet, womit
er sie wohl nicht nur zur Schlemmerei sondern auch (symbol~siert durch
das Kaninchen) zu sexuellen Ausschweifungen verführen möchte. Das
fröhliche Fazit des züchtigen Bildes lautet: "Hinc illa gaudia!"
Das untere Bild stellt demgegenüber mit Hilfe von bösen und barbusi-
gen Frauen die traurige Gegenszene dar. In der Mitte thront nun statt der
Gerechtigkeit die Rechtsverdrehung (Calumnia), mit den Attributen der
Macht (Schwert) und Falschheit (Schlange) ausgestattet und von vier
Lastern umgeben. Sie tritt das göttliche und menschliche Recht mit
Füßen. Zu ihrer Rechten befinden sich die Nachlässigkeit (Negligentia)
und die Begehrlichkeit (Aviditas), zu ihrer Linken die Stumpfsinnigkeit
(Stupiditas) und als Gegenstück zur Moderatio eine Gestalt, die unter der

81
Überschrift "Summum Jus" die maßlosen Rechts- und Machtansprüche
des absoluten Staates zu vertreten scheint; sie hält in jeder Hand ein
Schwert - anscheinend eine Kritik am Übermaß der absolutistischen
Staatsmacht. Ihr rechter Fuß tritt auf ein Herz - ein Zeichen ihrer
Unempfindlichkeit. Die Stupiditas neben ihr hält hingegen in beiden
Händen ein Blatt Papier, auf dem jedesmallediglich "Ja Ja" steht; wäh-
rend sie auf die Calumnia starrt, zertritt ihr linker Fuß einen Spiegel, das
Zeichen der Klugheit und Selbstreflexion. Die Negligentia, die auf der
anderen Seite nackt auf einem Bett entschlummert, scheint mit der einen
Hand ihre Augen zu bedecken, während sie in der anderen Hand einen
Käscher oder Kerzenlöscher hält, mit dem sie wohl ihr eigenes Geistes-
licht ausgelöscht hat. Zu ihren Füßen liegt ein Spruchband, auf dem sich
die juristischen Fristen summieren: das Ende (Terminus), die Zehntages-
frist (Decendium) und die sogenannten Notfristen (Fatalia); offensicht-
lich ist ihr durch Unachtsamkeit oder Faulheit selbstverschuldetes Ende
nahe. Die Aviditas neben ihr hält jetzt in der linken Hand den Pokal, den
die Abstinentia abgewiesen hatte, und in der rechten Hand anscheinend
einen Geldbeutel. Auf ihrem Schoß hockt das Kaninchen, als Zeichen für
ungezügelte Vermehrungslust, während ihr Fuß auf das unschuldige
Lamm tritt. Die traurige Bilanz des Bildes lautet: "Hinc illae lacrymae!"
Dieser von T erenz übernommene Spruch will nicht nur eine Beschrei-
bung, sondern auch eine Erklärung geben: Hier liegt die Wurzel des
Übels, nämlich (nach Thomasius) in der Verleumdung oder Rechtsver-
drehung, also in der absichtlichen Ungerechtigkeit. Entsprechend enthält
der Gegenspruch "Hinc illa gaudia", der wohl auf Thomasius selber
zurückgeht, sozusagen seine eigene Botschaft: Nur die Gerechtigkeit
führt zum Glück.
Die Aufklärung kennt ihre Gegner - ihre Gegenbilder sind letztlich,
direkt oder indirekt, Bilder von Gegnern. Die gegenbildliehen Frontispi-
zien dieser philosophia militans sind daher nicht nur wie eh und je anti-
thetisch aufgebaut, um allgemein die Unterschiede zwischen gut und
böse, ewig und vergänglich, Kultur und Barbarei usw. zu verdeutlichen;
sie dienen auch dazu, einen bestimmten, identifizierten Gegner zu
bekämpfen: die alte Philosophie der Schule oder die neue Scheinheilig-
keit des Pietismus, den Hochmut des Geistes oder die Unmoral der
Macht bzw. die Macht der Unmoral. Zugleich proklamieren diese Auf-
klärungsallegorien, als Aufklärung durch Anschauung, die Ideale der
neuen Zeit: eine moderne, weltoffene, aber auch fromme Philosophie,
eine vernünftige Frömmigkeit und eine selbstkritische Justiz und damit
letztlich auch eine Selbstbescheidung des Staates.

82
c) Im Sonnenlicht

Das bekannteste Symbol der Aufklärung ist die Sonne. Als Quelle allen
Lichts und Lebens ist sie, nachdem sie ursprünglich selber als Gottheit ver-
ehrt worden war, ein uraltes Symbol Gottes. Entsprechend alt ist auch die
Lichtmetaphorik der Philosophie, die wesentlich auf dem Vergleich des
Erkennens mit dem Hellwerden bzw. Hellmachen beruht; seit Platon
symbolisiert die Sonne das höchste Prinzip allen Seins und Erkennens,
während die Vernunft später als lumen naturale zum Gegenstück des
Lichts der Offenbarung wird. So gibt es denn auch schon vor der Aufklä-
rung eine äußerst variantenreiche Lichtmetaphorik, im 17. Jahrhundert
vor allem bei den vielen Anhängern der Mystik, Theosophie und Kabbala,
so daß die Aufklärungsmetaphorik geradezu als eine Transformation
('Säkularisierung') solcher 'christlichen' bzw. 'jüdischen' Traditionen
erscheinen kann. Aber Aufklärung ist keine übernatürliche Erleuchtung,
auch keine naturalisierte übernatürliche Erleuchtung, sondern Erkenntnis
und Erkenntnismitteilung unter bewußter Beschränkung auf das natürli-
che Licht des Verstandes; sie beruht auf einer Wiederverselbständigung der
sich selbst als Erkenntnisquelle verstehenden Vernunft. Daher ist es in die-
sem Zusammenhang nicht uninteressant, daß neben der Sonne immer wie-
der auch künstliche, vom Menschen verfertigte Lichtquellen als Meta-
phern der Aufklärung herangezogen werden, z. B. außer dem bereits
erwähnten Leuchtturm auch die Kerze und dann vor allem die Fackel, die
zwar die Nacht erhellen, aber auch die Welt in Brand stecken kann.
Zunächst und zumeist ist es jedoch die Sonne, die als Licht die Nacht oder
die Wolken ablöst - sei es im Sinne eines Nacheinander (Post nubila
Phoebus), sei es im Sinne eines Auseinander (Ex tenebris clarior).
Im Rahmen der Frühaufklärung scheint der Thomasius-Schüler Niko-
laus Hieronymus Gundling der erste gewesen zu sein, der sich die ele-
mentare Sonnenmetaphorik für den neuen Geist der Philosophie nutzbar
gemacht hat. Bei ihm bekommt die Sonne, deren etwas schmuckloses
Bildehen die Gundlingiana seit 1715 ziert, eine neue dynamische Funk-
tion (Abb. 13). Während sie in alten Emblemata-Sammlungen, die mögli-
cherweise als Vorlage gedient haben, vor allem die alte Weisheit illu-
striert, daß es nach dem Regen besonders schön ist, vertreibt sie bei
Gundling die Wolken (nämlich die Irrtümer und Vorurteile), und zwar
programmatisch zukunftsgerichtet: "Dispellam". Aufklärung als philo-
sophia militans!
Gundlings Verwendung der Sonne als Symbol einer neuen Zeit, als
Metapher für den geistigen Fortschritt der beginnenden Aufklärung,

83
~arinneu aUe~anb
..s~
~uri. fprubenß, M6Uofov6ie, .
· .J)iflorie; ~rttic/ltfteratur/

.
Unbitbt·ig~n

~tltOrfamrttt
se't>6rigc .es~d?en ~b.se~n~dt =cr~e ...

~in unb awanQigfie6 6t6d.


itn ·~gbtbmgifd)m! AO.I7I8t
~l(e I
au~n~en, in ~e . . -. ~~·mf!nR)qc:bi\Qrz;~~~· ~
Abb. 13. Nikolaus Hieronymus Gundling, Gundlingiana Bd. I, 1715 u. ö.

84
Abb. 14. Christian Thomasius, Vorrede zu Francis Hutchinson, Historischer
Versuch von der Hexerei, 1726

85
scheint bei seinen Zeitgenossen, nicht zuletzt bei W olff und seiner
Schule, Eindruck gemacht zu haben; auch seine mit der Sonne ver-
knüpfte Parole "Dispellam" hat Nachfolge gefunden. Thomasius selber
hat das Motiv der energisch das Dunkel vertreibenden Sonne von seinem
Schüler übernommen, zwar nicht für ein eigenes Werk, wohl aber für
die von ihm eingeleitete Übersetzung von Francis Hutchinsons An
Historical Essay concerning Witchcraft, die 1726 unter dem Titel Histo·
rischer Versuch von der Hexerei erschien (Abb. 14t Das Frontispiz zeigt
im Mittelpunkt eine noch jugendliche weibliche Figur, eine Art Frie-
densengel mit Palmenzweig, ganz von einem Strahlenkranz wie von
einem überdimensionalen Heiligenschein umgeben, offensichtlich eine
Personifikation der Wissenschaft oder der Vernunft bzw. des Fort-
schrittes durch Verstand, also der Aufklärung. Diese ebenso huldvolle
wie gebieterische Aufklärung spricht - wie bei Gundling die Sonne -
ein machtvolles "Dispellam" und zertritt dabei mit ihren Füßen zwei
komisch hilflose Schreckgespenster, die mit schwach erhobenen Händen
noch um Gnade zu flehen scheinen, den Teufel mit seinen Masken (bzw.
den Aberglauben mit seinen T eufelsmasken) und die gestürzte falsche
Justitia. Es ist eine parteiische Justitia ohne die Binde, die ihr helfen soll,
ohne Ansehen der Person zu richten; ihr Kleid ist blutbefleckt von den
vielen Justizmorden, die sie verschuldet hat. In der rechten Hand hält sie
noch das Schwert, in der linken aber eine Geldbörse, mit der sie sich bei
den Hexenprozessen bereichert hat. Die Waage der Gerechtigkeit ist ihr
dabei aus den Händen gefallen und liegt nun am Boden. Der Spuk, mit
dem die Aufklärung zu kämpfen hat, ist an den dunklen Bildrändern, die
noch nicht von den Strahlen der Aufklärung erhellt sind, zu sehen: links
die Fabeleien der Antike, rechts die neueren Zaubergeschichten. Links
unten ein bocksbeiniger Teufel mit einer Fledermaus und zwei Eulen,
den Hexenvögeln (Stryx). Darüber zwei Zaubereien: Daphne, die auf der
Flucht vor Apollo gerade in einen Lorbeerbaum verwandelt wird, und
Circe mit einem Zaubertrank in der Hand und einem Schwein, also
einem von Odysseus' armen Gefährten. Ganz oben eine stürzende
geflügelte Gestalt, vermutlich nicht Luzifer sondern Ikarus. Am rechten
unteren Rand folgt eine weibliche Gestalt einem bocksbeinigen Teufel,
während über ihr Dr. Faustus aus dem Bild flüchtet. Die beiden
Gestalten darüber, zu deren Häuptern nochmals Eulen und ein Drache
fliegen sowie Hexen auf einer Mistgabel und einem Ziegenbock reiten,

4 Für den Hinweis auf Abb. 14 und Abb. 12 danke ich Herrn Martin Pott, der
demnächst eine Dissertation über Aufklärung und Aberglaube vorlegen wird.

86
Abb. 15. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der
Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), 1720

87
Abb. 16. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und
Lassen (Deutsche Ethik), 1720

88
sind als Sylvester II. und als Luxemburg gekennzeichnet; gemeint sind
der Papst Sylvester Il. und Frans;ois Henri Montmorency, der fran-
zösische Marschall von Luxemburg, die beide als Zauberer galten. Über
allem erhebt sich die Sonne mit dem eingeschriebenen Dreieck und dem
Auge als Symbol Gottes, und zwar so, daß ihr Strahlenglanz am unteren
Rand mit dem oberen Rand des. Strahlenglanzes der menschlichen
Vernunft verschmilzt, die menschliche Vernunft also als Ausfluß der
göttlichen erscheint. Der Spruch unter dem Bild erklärt das Ganze als die
Disproportion oder vielmehr Diskrepanz von Aufklärung und Aber-
glauben. "Je höher der Verstand in Wissenschafften steiget, Je tieffer sich
zum Fall der Aberglaube neiget." Vielleicht ein Vers von Thomasius
selber.
Mehr noch als Thomasius und seine Anhänger hat sich Christian
W olff des Bildes als Ausdruck seiner philosophischen Einstellung
bedient. Seine frühen deutschen Werke sind durchgehend mit einem Bild
ausgestattet, und die Sonne ist anscheinend sein Lieblingsmotiv. So
wird die Sonne als Symbol der Aufklärung- nach Gundling- vor allem
durch W olff bekannt. Dabei ist allerdings anscheinend bis heute un-
beachtet geblieben, daß Wolff und seine Frontispizien auch eine sehr
interessante Entwicklung durchgemacht haben. 1720 erschien die Deut·
sehe Metaphysik mit einer strahlenden Sonne über einer gefälligen Land-
schaft: "Lucem post nubila reddit" (Abb. 15). Die Wolken haben sich
verzogen, das Licht ist wieder da - durch Wolff (versteht sich) ist es
wieder in die Welt gekommen und scheint nun über einer ordentlich
aufgeräumten Kulturlandschaft. W olff selber bemerkt dazu in der Aus·
führliehen Nachricht von seinen eigenen Schriften (1726, 2. Aufl. 1733,
Repr. 1973), daß er aufgrundseiner Methodisierung der Metaphysik mit
Recht behaupten dürfe, "ich hätte in dieser Disciplin angefangen es lichte
zu machen"; und er fährt fort: "so wird sich niemand verständiges
darüber ärgern können, daß ich vor mein Buch die Sonne stechen lassen,
wie sie aus denen sich brechenden W olcken hervor kommet und Hoff-
nung macht, es werde das Gewölcke nach und nach ganz vertrieben
werden" (312).
Auf dem Titelbild der Deutschen Ethik aus dem gleichen Jahr (Abb. 16)
scheint die Sonne allerdings nur über den Wolken und über der durch
die Gewitterwolken verdunkelten Erde. Natur und Menschenwelt ver-
bleiben in wüster Finsternis, und nur ein einsamer Berg, vermutlich die
Wolffsche Philosophie, ragt unbeirrt mit seiner Spitze ins Licht. "Non
perturbatur in alto." Die Wahrheit bleibt durch das Treiben der dunklen
und niederen Mächte unberührt, aber das Licht scheint die Dunkelheit

89
Abb. 17. Christian Wolff, Anmerkungen über die vernünftigen Gedanken von
Gott, der W e!t und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt
(Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), 1724

90
Abb. 18. Christian Wolff, Kleine philosophische Schriften Bd. IV, 1739
(Repr. 1981)

91
auch ganz sich selbst überlassen zu wollen 5 • Doch 1724 in den Anmer-
kungen zur Deutschen Metaphysik (Abb. 17) zeigt sich die Sonne bereits
wieder für alle, nämlich ohne alle Wolken als fruchtspendende Gebiete-
rinder gesamten Welt. "Foecundo lumine fulget." Wolff weiß sichtrotz
seiner Vertreibung nach Marburg als Sieger. Entsprechend kommentiert
das Frontispiz des vierten Bandes der Kleinen philosophischen Schriften
von 1739 (Repr. 1981) die mögliche Verdunkelung des Lichts noch ein-
mal, und zwar als ein bloß epiphemeres Problem (Abb. 18). Wolken sind
vergänglich, die Sonne aber bleibt bzw. kommt wieder. "Das Licht
nimmt selbst nicht ab, ein dunekler Cörper machts, daß ein und anderer
den vollen Schein nicht siehet, doch nur auf kurtze Zeit." Der Obsku-
rantismus der Wolff-Gegner kann also nur eine kurze Trübung
bewirken6 •
Die W olffianer hatten dem Selbstbewußtsein ihres Meisters kaum noch
etwas hinzuzufügen. Sie konnten eigentlich nur die Sonne weiter strah-
len lassen und den Triumph der Wolffschen Philosophie feiern oder die
Ewig-Gestrigen brandmarken. So variiert das Titelblatt der Philosophia
rationalis des Wolffianers Conrad Theophil Marquardt von 1733 noch
einmal das Sonnenmotiv, allerdings im Anschluß an den Thomasianer

Die moralische Anwendung der Metapher der siegenden Sonne zeigt ein Bild,
das dem fünften Band der Kleinen philosophischen Schriften (1740, Repr. 1981)
vorangestellt ist. Es zeigt eine Justitia im Gewittersturm, über dem aber
bereits wieder die Sonne scheint. Die Bildunterschrift erklärt die Moral des
Bildes. "Wer stets vergnügt will seyn, darf nur die Tugend üben. Es bleiben
W olcken, Blitz und Sturm von ihm entfernt."
W olffs philosophisches Selbstbewußtsein kommt auch noch in verschiedenen
anderen Emblemen zum Ausdruck. So zeigt z. B. das Frontispiz der Deutschen
Logik (1712) wie auch das der lateinischen Übersetzung (De viribus intellectus
humani, 1730,3. Auf!. 1740, Repr. 1981) das alte Emblem der mit einer Waage
aus den Wolken hervorragenden Hand Gottes, der das Gewicht der Dinge zu
unterscheiden weiß. "Discernit pondera rerum." Aber während es hier noch
Gott selber ist, der einer so als Unterscheidungskunst ('Kritik') gedeutete
Logik zum Vorbild dient, ist es auf dem Titelkupfer des zweiten Bandes der
Kleinen philosophischen Schriften (1737, Repr. 1981) anscheinend Wolff selber,
der, gemäß seiner Auffassung der Philosophie als potentiell absolutes Wissen,
wie Gott und durch Gottes Erleuchtung alles richtig abzuschätzen weiß.
Durch die geöffnete Decke eines dunklen (abgedunkelten!) Raumes fällt Licht
in eine Laterna magica, und dieses Licht, d. h. die Wolffsche Philosophie, pro-
jiziert auf die gegenüberliegende Wand wieder das Bild mit der Hand Gottes
und dem zugehörigen Spruch. Wolff vermittelt also Gottes Weisheit und ver-
deutlicht sie zugleich, wie die Bildunterschrift nahelegt, im Sinne der Aufklä-
rung. "Das kleine wird hier gros, das dunekle hell gemacht, doch unverändert
Bild und Farbe beybehalten."

92
Gundling. Auf dem kleinen Titelblatt erstrahlt die aufgehende Sonne
über einer fast schon idyllischen Landschaft, und das Spruchband über
der hübsch gerahmten Szene verkündet, daß die Sonne die Finsternis ver-
treibt. "Tenebras dispellit." Insofern ist der Aspekt der Auseinanderset-
zung des Lichts mit der Dunkelheit zwar noch erhalten, aber die Erhel-
lung des Dunkels ist keine programmatische Zukunftsaussage mehr, son-
dern bereits ein gegenwärtiges Faktum. Möglicherweise ist auch deshalb
die Sonne oftmals nicht das Thema des Bildes, sondern nur noch ein
wichtiges Requisit.
Auch außerhalb des Wolffianismus, gerade auch bei den Wolff-
Gegnern spielt die Sonne eine wichtige, obwohl meist eher traditionelle
Rolle, nämlich nicht als Symbol geistigen Fortschritts, sondern als Sym-
bol der Fruchtbarkeit und vor allem als Symbol Gottes. Selbst die Ver-
lage (Druckereien) bedienen sich ihrer gern als Markenzeichen. So
benutzte das Hallesche Waisenhaus, die Zentraldruckerei des Pietismus,
über viele Jahre in verschiedenen Varianten ein kleines Bildchen, das
einen Sämann unter strahlender Sonne zeigt. Dazu verkündet ein Spruch-
band: "Illo splendente levabor". Zwar bleibt unklar, ob sich der Bauer,
wenn die Sonne aufgeht, zur Arbeit erhebt oder ob, was wahrscheinli-
cher ist, die Saat unter den fruchtbringenden Strahlen der Sonne erwa-
chen wird. Dann bliebe zumindest die Ausrichtung der Aussage auf die
Zukunft erhalten, obwohl das militante "Dispellam" Gundlings hier
einem eher milden Glanz gewichen ist. Auf anderen Titelblättern wie der
Einleitung in die Religionsstreitigkeiten außerhalb der evangelisch-
lutherischen Kirche I {1724, 3. Aufl. 1733, Repr. 1972) von Johann Georg
W alch scheint die Sonne nicht mehr über einem Feld, sondern über einer
Kirche, die von zwei Figuren flankiert wird: die eine neben einem Rauch-
altar, die andere mit Kelch und Kreuz, also wohl das Alte und das Neue
Testament darstellend. Oder sie erhellt wie auf dem Titelbild von
Crusius' Vernunftlehre (Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der
menschlichen Erkenntnis, 1747) die Welt und macht so alles klar und deut-
lich. "Sua cernitur luce."

d) Zweifelhafte Siege

1723 wurde Wolff aus Halle vertrieben, der Sieg des Pietismus schien
gesichert. Aber W olff fühlte sich seinen Gegnern mit gutem Grund über-
legen. Im folgenden Jahr erschien seine Deutsche Teleologie (Von den
Absichten der natürlichen Dinge, 1724, 2. Aufl. 1726, Repr. 1980) mit dem

93
Bild eines Löwen- Wolff selber, der das feige philosophische Kleinvieh
verachtet. "Fortibus obsistit tantum." Und die Ausführliche Nachricht
von seinen eigenen Schriften, die er dann schon in Marburg schrieb, zeigt
eine Pyramide, der die sie umzuckenden Blitze nichts anhaben können.
"Inconcussa perennat."
Schon Wolffs erster Schüler Ludwig Philipp Thümmig hatte den Tri-
umph der W olffschen Philosophie als ein Faktum verkündigt, und zwar
auf dem Frontispiz des ersten Bandes seiner Institutiones philosophiae
Wo/ffianae von 1725 (Repr. 1982). Der Kupferstich (Abb. 19) zeigt eine
Wasserlandschaft unter allmählich aufklarendem Himmel: im Vorder-
grund ein badender Schwan, im Hintergrund zwei weitere Wasservögel,
anscheinend Gänse, die ebenfalls das Wasser aufrühren. Auf einem
Spruchband heißt es: "Suis se abluit undis." Wie aber ist das zu verste-
hen? Ist es die Erde, die sich nach der Sintflut von ihren abfließenden
Wassern befreit und dabei allmählich hell und sauber wird? Ist also die
Flut der Ignoranz vorbei, kündigt die Aufklärung ihren Sieg an? Oder
meint das Spruchband nur den Schwan, der sich selbst durch die Weilen,
die er erzeugt, reinigt? Wer aber ist dann der Schwan, der hier die Szene
beherrscht, d. h. wen soll er symbolisieren? An sich gilt der Schwan seit
alten Zeiten wegen seines angeblichen Todesgesangs als ein prophetisches
Tier; aber, wegen seiner majestätischen Schönheit schon früh bewundert,
steht er auch für das Licht, ja gelegentlich sogar für Christus selber. Hier
kann er jedoch eigentlich nur W olff meinen. Der Schwan, das ist der
majestätische Philosoph, der aus den Fluten der Diskussionen, die er
erzeugt hat, umso reiner emporsteigt. So oder so scheint Thümmigs
Frontispiz den bevorstehenden Sieg der Aufklärung durch die neue Phi-
losophie darzustellen. Und dafür könnte auch das kleine Bild auf dem
Titelblatt sprechen, wo die Sonne als Dei Gratia die Wolken durchbricht
und über einer etwas wüsten Landschaft zu scheinen beginnt.
Allerdings gibt es immer noch einige unverbesserliche Obskuranten.
Darauf verweist das Titelkupfer der Anleitung zur Historie der
Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie des W olffianers Georg Volkmar
Hartmann von 1737 (Abb. 20). Aus der Tür ihres Tempels, auf dessen
Stufen mathematische und naturwissenschaftliche Hilfsmittel liegen, tritt
die Wahrheit, d. h. die Wolffsche Philosophie, und schleudert ihre Blitze
gegen die Chiliasten und diejenigen, die immer noch das Iumen internum
und die illuminatio immediata hochhalten. Sie bleiben draußen vor der
Tür. Nur den Freunden Wolffs und der Wahrheit ist deren Tempel
zugänglich: "Amicis adire licet". Im Hintergrund tanzen bereits einige
fröhliche Putten und schauen mit einem Fernrohr in die Sonne, was zwar

94
Abb. 19. Ludwig Philipp Thümmig, Institutiones philosophiae wolfianae Bd. I
(1725), 2. Auf!. 1729

95
Abb. 20. Georg Volkmar Hartmann, Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-
Wolffischen Philosophie, 1737

96
schon bei Platon vom wahren Philosophen erwartet wird, dennoch
bekanntlich nicht ungefährlich ist.
Die Pietisten sahen dies alles natürlich ganz anders. Joachim Lange for-
derte eine Philosophie, die sich nicht wie die Aufklärung auf die ratio
sana beruft, sondern eine ratio sanata anstrebt bzw. durch Gottes Gnade
erhofft. Auf dem Titelkupfer seiner Medicina mentis (1708) entwirft
Lange, Verbi Divini Minister, daher das pietistische Gegenbild zu den
aufklärerischen Emblemata mit ihrer Hoffnung auf Vernunft (Abb. 21).
Trotz vieler Berührungspunkte mit der frühen Aufklärung, z. B. in der
Bekämpfung der Vorurteile, liegt der Akzent seiner Ausführungen ganz
und gar auf der Verderbtheit der menschlichen Vernunft. Es geht nicht
um die Verbesserung (emendatio) der an sich richtigen Vernunft, son-
dern, wie schon der Untertitel seines Werkes sagt, erst einmal um die
Heilung der kranken Vernunft (aegrae mentis sanatio), die durch solide
(christliche) Erudition zur wahren Weisheit geführt werden muß. Dies
aber kann nur aufgrund einer richtigen Diagnose der kranken Vernunft
geschehen, also durch Aufweis und Zurückweisung der falschen Weis-
heit, der Pseudophilosophie, die eigentlich eine Liebe zur Torheit und,
weil Torheit eine Sünde ist, gleichzeitig ein Hang zur Sünde ist. Das Bild
zu diesem Programm bedient sich des altbekannten Motivs des Baumes,
der in der Philosophie vor allem den genetischen Zusammenhang der
logischen Grundbegriffe (Arbor Porphyrii) oder (wie bei Descartes) den
der philosophischen Disziplinen versinnbildlicht, aber natürlich auch die
Genealogie der verschiedenen Philosophien von den Anfängen bis zur
jeweiligen Gegenwart darstellen kann. Bei Lange ist der Baum der Philo-
sophie allerdings kein Baum der Liebe zur Weisheit (arbor philosophiae),
sondern ein Baum der Liebe zur Torheit (arbor philomoriae) - und
damit möglicherweise zugleich jener Ölbaum (moria), der als heiliger
Baum der Athene die Akropolis schmückte und sozusagen ein heidni-
sches Gegenstück zum Lebensbaum des christlichen Kreuzes ist. Dieser
Arbor Philomoriae wächst nach Langes Darstellung auf dem Boden der
Natur, auf einer Insel zwischen dem Fluß der Überlieferung und dem
Fluß der Offenbarung; und er wächst unter der allerdings halb verdeck-
ten Sonne, die hier jedoch nicht für die Aufklärung, sondern für Gott sel-
ber steht, der die Welt erleuchten soll (lucescat). Der mächtige Stamm der
Philomoria ist die Moria Japhetica. Diese Haupttorheit leitet ihren
Namen offensichtlich von Japhet ab, dem dritten Sohn Noahs, der, so
wie seine Brüder Harn und Sem als Stammväter der Hamiten und Semi-
ten, als Stammvater der kleinasiatischen Völker gilt. So kann Lange -
unter Bezug auf den Ursprung der Philosophie in den kleinasiatischen

97
Abb. 21. Joachim Lange, Medicina mentis, 1708

98
Abb. 22. Joachim Lange, Causa Dei et religionis naturalis (1723), 2. Aufl. 1727
(Repr. 1984)

99
Kolonien Griechenlands und ähnlich, aber mit negativem Akzent, wie
schon die alten Legenden über Platons Ägyptenreisen und Moseskennt-
nisse - eine Genealogie der Philosophie konstruieren, wonach diese ein
illegitimer Abkömmling alttestamentlicher Weisheitslehren ist. Die
Krone der Philosophie wächst auf einem ursprünglich biblischen Stamm,
dessen erste Äste die Moria Chamitica und die Moria Semitica darstellen.
Kurz unterhalb der Krone, die aus den Hauptzweigen der griechischen
Pseudophilosophie besteht, kommen bereits die ersten kleinen Äste, die
Vorsokratiker Xenophanes und Thales, zum Vorschein, während der
nun griechisch gewordene Stamm der Philomoria sich über Homer und
Pythagoras zu Sokrates weiterentwickelt. Von diesem aus verzweigt sich
dann die Krone nach ihren vier Hauptästen Zeno und Platon, Epikur
und Aristoteles. Die eigentliche Pointe liegt jedoch in der Spitze des Bau-
mes. Die oberen Äste mit den letzten schlechten Früchten stellen die
Torheit der Scholastiker (Moria Scholastica) dar, während die allerober-
sten dünnen Zweige mit ihren schwachen Blüten die gegenwärtige Philo-
sophie bedeuten. Diese aber ist keine Aufklärung, unter der Sonne der
Vernunft erwachsen, sondern eine Tochter der Nacht, eine Filia Noctis
- wahrscheinlich sogar im doppelten Sinn des Wortes. Die Aufklärung
ist ein 'Nachtschattengewächs', die neue Weltweisheit ist nur wieder die
alte Torheit der Welt.
Langes Aufklärungskritik, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur auf
seinen ehemaligen Gönner Thomasius zielen konnte und von diesem spä-
ter auch mit seinem bereits erwähnten religionskritischen Bild, sozusagen
in einem emblematischen Untergrundkrieg, beantwortet wurde, richtete
sich nach dem Auftreten W olffs als Philosoph vor allem gegen diesen. Im
Vorwort der zweiten Auflage seiner Causa Dei et religionis naturalis
(1723, 2. Aufl. 1727, Repr. 1984), die gegen den angeblichen Wolffschen
Atheismus gerichtet ist, bezeichnet Lange diese neueste Weltweisheit
nicht nur als Pseudophilosophie, sondern auch - wohl nicht ohne
Anspielung auf jene sapientia saecularis, die eine stultitia mundi ist - als
törichte Weisheit (morosophia) und auch ausdrücklich als Liebe zur Tor-
heit (philomoria). Das Titelkupfer dieser Schrift (Abb. 22) zeigt jedoch
nicht mehr das Negativ, den Baum der Liebe zur Torheit, sondern das
Positiv, den Felsen der ewigen Wahrheit oder die Sache Gottes. Von
einer Gott symbolisierenden Sonne, die mit ihren Strahlen ein finsteres
Gewölk durchbricht, geht ein "Fiat" aus, das zu einer durch das Wort
gewordenen Welt, einem "Dictum Factum" in der Form einer Erdkugel,
führt. Darunter befindet sich ein Felsen, vermutlich die von Lange vertei-
digte Sache Gottes, von der es, ähnlich wie später bei Wolff von seiner

100
eigenen Philosophie, heißt: "Inconcussa triumphat". Vergeblich bemü-
hen sich einige dunkle Gestalten, Gegner Gottes und der wahren Reli-
gion, am Fuße des Felsens, diesen mit ihren Hacken zu zerstören. Es sind
die modernen Aufklärer,die in Wirklichkeit Obskuranten sind. Solchen
Narren dient nur ihr eigener Wahnsinn als Waffe. "Stolidis furor arma
ministrat." Unverkennbar haben Pietismus und Aufklärung auch einen
ikonologischen (ideo-logischen) Untergrundkrieg geführt.
Autoren neigen naturgemäß dazu, den Sieg ihrer Sache zu feiern, ihrer
Sache und damit sich selber nach Möglichkeit sogar ein Denkmal zu set-
zen. Standbilder aller Art, Stelen und Obelisken, Sockel und Altäre fun-
gieren daher auch im 18. Jahrhundert als beliebtes Motiv in allen bilden-
den Künsten; auf dem Boden des neuen Klassizismus erfreuen sie sich
sogar einer wachsenden Beliebtheit. In der Buchkunst wird das Siegesmal
allerdings mehr und mehr zu einem bloßen Schmuckmotiv mit geringer
Aussagekraft. Der Philosoph Joachim Georg Darjes war einer der letz-
ten, der auf diese Weise die von der Frühaufklärung als regina tenebra-
rum geschmähte Metaphysik anschaulich als mater scientiarum feiern
wollte. Das Frontispiz seiner Eiementa metaphysices (1750, 2. Aufl. 1753)
wird jedoch besser verständlich, wenn man vorher das nicht ganz unbe-
kannte Frontispiz von Nieuwentyt betrachtet.
Das Buch des Mediziners Bernard Nieuwentyt (Regt gebruik van de
wereld beschouwingen 1727) ist eine Art Physikotheologie, ein im großen
und ganzen naturwissenschaftliches Werk, aber mit dem erklärten Ziel,
aus der Ordnung der Natur einen weisen Schöpfergott zu beweisen.
Es richtet sich gegen die Atheisten und die sogenannten esprits forts, und
es beruft sich mit einer deutlichen Wendung gegen die Metaphysik auf
die Erfahrung. Der vorangestellte Kupferstich (Abb. 23), der diese
Grundeinstellung zum Ausdruck bringen soll, ist ein wahres 'Lichtbild'.
Von oben strahlt Gott in Form einer Sonne auf die Hauptfigur, während
eine weibliche Nebenfigur rechts im Hintergrund eine zweite Sonnen-
scheibe emporhält. Außerdem erscheinen auf der linken Seite zwischen
den Wolken die wirkliche Sonne, der Mond, allerlei Blitze, ein Regen-
bogen und ein feuerspeiender Vulkan. Diese an Sodom und Gomorrha
gemahnende linke Bildhälfte, zu der noch eine erloschene Lampe und ein
zerberstender Globus gehören, steht offenbar für die alte Zeit der Fin-
sternis, während die rechte mit ihrer Lichtfigur und ihren mathemati-
schen und naturwissenschaftlichen Instrumenten die schöne neue Welt
anzeigt. Dennoch ist das Bild, wenn man dem zur Erklärung beigegebe-
nen Begleitgedicht glauben darf, gerade kein Hymnus auf das Licht
der Vernunft, sondern eher ein als Kritik an der schwachen Vernunft

101
Abb. 23. Bernard Nieuwentyt, Regt gebruik van de wereld beschouwingen, 1727

102
gemeinter Lobgesang auf die Erfahrung bzw. die Erfahrungswissen-
schaft.
Explication de la Planche du Titre.
Sur un solide Autel brille l'Experience,
Qui seule doit fixer l'humaine Connoissance.
Sa main d'un Philosophe arrache le bandeau;
a
L'Erreur fuit; ses yeux s'offre un Monde nouveau.
De tous ces Instruments la savante structure
Avec plus de succes devoile la Nature,
Que la sombre Raison, dont le louche regard
Forge une conjecture et l'adopte au hazard.
Le Nuage s'entrouvre, et le Vrai se presente:
Voyez et respectez sa lumiere eclatante.
Mais l'Espritfort, plonge dans une affreuse nuit,
S'irrite et la prefere au jour qui l'eblouit,
Emane de Dieu meme un Rayon salutaire
Est al'Experience un guide qui l'eclaire,
Et qui santifiant les progres qu'elle fait,
a
Donne tous ses travaux un plus utile Objet.
L'Impie arrange en vain un Systeme frivole;
Tout preeche; tout instruit; la Divine Parole
Fait sentir quelle voix daigna la publier;
Et partout son Ouvrage annonce l'Ouvrier.

Das mit B.L.M. (möglicherweise: Bernard le Medecin) gezeichnete


Gedicht geht offenkundig teils über das Dargestellte hinaus, teils läßt es
dieses unerklärt. Natürlich hätte es zu weit geführt, die einzelnen Instru-
mente oder auch die toten Tiere in der rechten Ecke zu erläutern. Außer-
dem konnte der Verfasser wahrscheinlich voraussetzen, daß der Betrach-
ter die erloschene Lampe und die berstende Erdkugel, aus der ein Maul-
wurf kriecht, selber richtig als Zeichen einer untergehenden Welt deuten
würde. Doch wäre es, zumindest für den modernen Betrachter, zweifel-
los nützlich gewesen, wenn er die Figuren noch ein wenig erläutert hätte.
Im Prinzip ist - die Authentizität der Interpretation immer vorausge-
setzt- die Bedeutung der Nebenfiguren allerdings klar: links unten die
alte Philosophie, die, nachdem ihr die Binde abgenommen worden ist,
vom Licht der neuen Wahrheit geblendet ist, und, wie aus derselben
Wurzel kommend, wohl nicht der Irrtum, sondern die neue Philosophie,
die auf die Wahrheit rechts oben schaut, die, mit Buch und Friedens-
palme ausgestattet, als friedliche und wissenschaftliche Wahrheit den
rechten Fuß siegreich auf die Erdkugel setzt. Dazwischen steht vermit-
telnd die Hauptfigur, die auf dem Rocksaum als "rerum magistra", also
als Lehrmeisterin der Welt, bezeichnet ist und die Erfahrung darstellen

103
Abb. 24. Joachim Georg Darjes, Elementa metaphysices Bd. I (1750}, 2. Aufl. 1753

104
soll. Sie nimmt zwar, anscheinend aus eigener Kraft, mit der rechten
Hand der Philosophie die Binde ab und verweist mit der linken auf die
Wahrheit, aber sie selber scheint unmittelbar durch Gott erleuchtet (auf-
geklärt) zu werden, während die als "sombre raison" diffamierte Ver-
nunft genauso wenig vorkommt wie der irrende Freigeist. Im Ergebnis
entsteht der Eindruck, als ob hier der Sieg einer zugleich empiristischen
und fideistischen (also 'anti-rationalistischen') Aufklärung gefeiert wer-
den soll.
Möglicherweise wollte Darjes genau diese Aussage durch das Frontispiz
seiner Metaphysik (Elementa metaphysices I, 1750, 2. Aufl. 1753) richtig-
stellen. Jedenfalls enthält sein Bild (Abb. 24) einige Elemente, die auch im
Kupfertitel von Nieuwentyt vorkommen. Links unten wieder die Sym-
bole der vergangenen Welt, die zerbrechende Erdkugel und die erlo-
schene Lampe, außerdem jetzt eine abgelegte Maske, wohl als Zeichen
des überwundenen Aberglaubens bzw. des Scheins überhaupt; rechts,
nun ganz in den Vordergrund gerückt, mit Sonnenscheibe, Buch und
Friedenspalme, den rechten Fuß wieder auf die Erdkugel gesetzt, die
Wahrheit als Frieden und Gelehrsamkeit bringende Lichtgestalt. Auf
dem Podest in der Mitte steht jetzt aber, wie als Anwort auf Nieuwentyts
Metaphysikverachtung, die Metaphysik selber, und zwar als Magna
Mater. Sie ist nach dem Vorbild der alten Muttergottheit Diana von
Ephesus als Frau mit vielen Brüsten dargestellt, d. h. als überaus frucht-
bare Weisheit. Ihre Linke zeigt auf die Wahrheit, ihre Rechte hält ein
Füllhorn, auf dem ein neugeborenes Kind schläft - offensichtlich die
jüngste Frucht der Metaphysik, nämlich die Metaphysik des Autors sel-
ber. Das Füllhorn selbst ist vor allem mit Tierköpfen geschmückt: am
oberen Rand mit einem Triciput, dessen drei Köpfe (Wolf, Löwe und
Hund) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen und so die
Überzeitlichkeit der Metaphysik symbolisieren. Auf ihrem Haupte trägt
sie, wie vom Heiligen Geist begnadet, eine Flammenkrone, die bis in die
Wolken, also bis in den Himmel, reicht, wo Gott als Dreieinigkeit in
einer Wolke schwebt. Auf der Erde wird ihr der Philosoph, dem gerade
die Augen aufgetan werden, von Athene selber zugeführt. Die zwei Put-
ten im Vordergrund, die dem Betrachter zugewandt sind, erläutern durch
eine vorgezeigte Tafel, wie mächtig die Metaphysik ist (Reichsapfel) und
daß sie Ewigkeit und Zeit miteinander verknüpfen kann (Quadrat als
Einheit von zwei Dreiecken). Eine der Putten hebt beschwörend die
Hand, die andere mahnt zum Selbstdenken. Auch dies also ein Bild des
Triumphes! Aber wahrscheinlich ist auch dieser Sieg zu früh gefeiert
worden.

105
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J 7 6 s.
Abb. 25. Georg Friedrich Meier, Metaphysik Bd. I {1755), 2. Auf!. 1765

106
Siege überall! Lange siegt über W olff, aber W olff siegt über die Pieti-
sten; Nieuwentyt siegt über die spekulative Philosophie, aber die Meta-
physik siegt über alle und alles. Zweifellos zweifelhafte Siege- aber um
die Mitte des Jahrhunderts scheint die Aufklärung für einen Moment
ihres Erfolges sicher zu sein und Lust zu haben, ihren Triumph zu feiern.
Der Popularphilosoph Georg Friedrich Meier scheint schon ganz vom
fröhlichen Geist einer geradezu anakreontischen Aufklärung erfüllt zu
sein, obwohl gerade er die Grenzen der Aufklärung zu entdecken
beginnt. Jedenfalls ist das Titelblatt seiner Metaphysik (Bd. I, 1755, 2. Aufl.
1765) mit einem heiteren Bildehen verziert, das nichts mehr von dem
ursprünglichen Kampfesgeist der Aufklärung ahnen läßt (Abb. 25). Meier
hat das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. "Miscuit utile dulci."
Und nun sprudelt in einer idyllischen Landschaft eine Rocaille-Quelle,
während der Philosoph Iinksaußen friedlich die Flöte bläst. Hoffentlich
nur das Signet eines philosophisch unbedarften Verlegers!
Man hat gelegentlich gesagt, die Philosophie lasse sich auf ein halbes
Dutzend Metaphern reduzieren. Wie dem auch sei, die Tendenz der Phi-
losophie ist es jedenfalls, das Bild durch den Begriff zu ersetzen, auch
wenn der Begriff seinerseits nur wieder eine 'Metapher' ist. Diese Nei-
gung zum Begriff ohne Bild, zum Verzicht auf sinnliche Veranschauli-
chung von Sinn, muß sich in der Aufklärung, die bekanntlich primär
eine Papierkultur war, besonders bemerkbar machen. Ihre ursprüngliche
Bilderfreudigkeit nimmt mit wachsender Entfernung vom Barock ab.
W olff, der mehr als alle anderen Philosophen seine deutschen Werke mit
Titelbildern kommentiert hatte, läßt bereits die lateinische Reihe seiner
Werke ohne Frontispizien erscheinen. Kant ist dann nur ein Beispiel
dafür, wie sehr am Ende der Aufklärung die Vergeistigung über die Ver-
sinnlichung, die Intellektualisierung über die Augenlust gesiegt hat. Die
Kritik der reinen Vernunft verzichtet auf allen sinnlichen Bilderschmuck
(wenn man von den drei etwas unpassenden Blümchen des Verlegers auf
dem Titelblatt einmal absehen darf). Die Selbstaufklärung der reinen Ver-
nunft soll ein Akt reiner Vernunft bleiben, sie scheint wie der Populari-
sierung so auch der Verbildlichung unfähig zu sein. Oder hätte die Veran-
schaulichung der Selbstkritik der Vernunft als Autovivisektion des Den-
kens zu allzu sado-masochistischen Horrorbildern geführt?
Heute wäre vielleicht der nächtliche Stafettenlauf mit Fackeln, auf den
sich allerdings schon Platon (Politeia 328 a) bezieht, kein schlechtes Bild
für Aufklärung7 • Aber von solchen philosophischen Sinnbildern kann
im Ernst keine Rede mehr sein. Wahrscheinlich ist das Verkümmern der
Neigung zu einem gewissen philosophischen Symbolismus am Ende der

107
Aufklärung nicht zufällig. Der Imaginationsverlust dürfte nicht nur eine
Folge wachsender objektiver Unmöglichkeit von Anschauung sein, son-
dern auch eine Folge des Absterbens einer Fähigkeit zu bzw. eines
Bedürfnisses nach symbolischer, imaginativer und figurativer Anschau-
lichkeit (bis hin zu der heute kaum noch verständlichen Vorliebe für Per-
sonifikationen abstrakter Begriffe). Es ist der durch die moderne Wissen-
schaft und durch die darauf basierende Aufklärung produzierte Sinnver-
lust, der die alten Sinnbilder der Wirklichkeit zu albernen Spielereien
degradiert - heute sind sie nur noch niedlich, Objekt der Ironie oder
Nostalgie. Sinnbilder setzen Sinn voraus. Die alte Wesensmetaphysik, die
im Grunde noch auf natürlicher Anschauung beruhte, wird durch die
moderne mechanistische, in mathematischen Funktionen oder Gesetzen
der Materie denkende Wissenschaft unterminiert. Die Welt verliert so
ihre allgemeinverständliche Sinnstruktur, ihre visualisierbare Bedeutung.
Sie wird zur möglicherweise funktional zweckhaften, im übrigen aber
sinnlosen Maschine; sie verweist zwar noch auf Gott, aber nur noch wie
das Produkt auf den Produzenten bzw. die Wirkung auf die Ursache. Die
Physikotheologie ist einer der letzten, schon komisch hilflosen Versuche,
Gott oder vielmehr nur noch seine rationalen Absichten in der Welt wie-
derzufinden. Die 'entzauberte' Welt wird daher, trotzaller romantischen
Gegenbewegungen, mehr und mehr zu einer Welt ohne Tiefenstruktur,
d. h. ohne Bedeutungshaftigkeit - sie verliert ihren magischen Aspekt.
Anscheinend hat sich die Philosophie wieder einmal einer überholten

Als eine solche moderne Lichtallegorie, die auch inhaltlich ein Kontrastpro-
gramm zu den Aufklärungsallegorien des 18. Jahrhunderts darstellt, kann man
ein Gemälde von Rene Magritte betrachten, das dieser unter dem Titel Le
triomphe des Lumieres in mehreren Varianten ausgeführt hat. Eine Villa in
einem dunklen Park mit See wird spärlich von innen und von einer davorste-
henden Laterne erhellt - eine winzige 'Lichtung' in der allgemeinen Finster-
nis. Aber wie auch sonst bei Magritte ist auch in diesem Bild der dargestellte
Sachverhalt in sich unstimmig. Offensichtlich wird nämlich das nur gering
erhellte Dunkel des menschlichen Anwesens von einem hellen und heiteren,
geradezu sonnigen Tageshimmel überwölbt. Magritte, der von sich gesagt hat,
daß er das Dunkel nicht weniger als das Licht liebte, wollte nach eigenem
Bekunden die "Poesie" des Aufeinandertreffens von Licht und Dunkel
malen; und da es ihm nicht gelang, eine sonnige Landschaft unter einem
nächtlichen Himmel zu malen, blieb es bei einer nächtlichen Landschaft unter
einem sonnigen Himmel. So suggeriert das Bild (nolens volens?) die Idee, daß
eigentlich alles klar am Tage liegt und nur wir selbst, in einem möglicherweise
sogar von uns selbst erzeugten Dunkel, mühsam unser eigenes Licht leuchten
lassen müssen.

108
Naivität beraubt, die Aufklärung realisiert eine neue Ernüchterung der
Vernunft. Nur bei Kindern, Verliebten und Künstlern finden sich nun
noch Reste einer ursprünglichen Metaphysik, nämlich des Glaubens an
einen symbolischen Sinn von allem - und natürlich im magischen Bezie-
hungswahn des Aberglaubens, der immer noch, wie es nun heißt, in einer
"verzauberten Welt" (Balthasar Bekker) lebt. Sinnbilder aber werden
nun mehr denn je zu einer Sache der bloß subjektiven Kunstschöpfung.

109
111. Der Begriff der Philosophie

Der Philosophiebegriff der deutschen Aufklärung kann letztlich nur


auf dem Hintergrund der Diskussionen um die Philosophie im 17. Jahr-
hundert verstanden werden, in denen es wieder einmal um die Rolle der
Philosophie im Verhältnis zur Religion ging. Weiche Art und welchen
Grad von Selbständigkeit konnte oder sollte das Denken gegenüber dem
Glauben beanspruchen? Die alles beherrschenden Glaubenskämpfe lie-
ßen offensichtlich zunächst kaum Spielraum für Philosophie als freies
Denken, nur vorsichtig meldete sich hier und da der unaufhebbare Selbst-
behauptungswille der Philosophie. Insofern gab es allerdings auch vor der
Aufklärung schon gewisse Tendenzen zu einer Emanzipation oder viel-
mehr Restitution der Philosophie, z. B. im Bemühen um konfessionelle
Neutralität. Leibniz ist dann unabhängig genug, gerade im Hinblick auf
die Harmonie von Glauben und Wissen, die für ihn noch im Zentrum
seines Denkens steht, die relative Autonomie des Denkens herauszustel-
len. Aber der große, wenn auch längst noch nicht konsequente Schritt
zur Verselbständigung der Philosophie geschah erst mit der Aufklärung,
also durch Christian Thomasius, Christian Wolffund ihre vielen Nach-
folger. Gerade die letzteren, die philosophi minores, sind für die Frage
nach dem Philosophieverständnis einer Epoche von besonderem Inter-
esse, weil sie den Zeitgeist sozusagen unselbständiger reflektieren. Des-
halb sollen sie, zumal sie (anders als die Gründerväter der Aufklärung)
noch weitgehend unerforscht sind, hier etwas ausführlicher zu Wort
kommen, während die Auffassungen von Thomasius, Wolffund anderen
hier nur zu resümieren sind. Allerdings läßt sich der Philosophiebegriff
der Thomasianer und W olffianer sowie der nachfolgenden Eklektiker
und Popularphilosophen nicht ohne eine gewisse begriffliche bzw.
begriffsgeschichtliche Anstrengung herausarbeiten, da sich die vielen
Varianten ihrer Überlegungen zum Wesen der Philosophie aus heutiger
Sicht unter dem grauen Mantel einer trockenen Schulphilosophie verber-

111
gen, d. h. unter einer Masse äußerst knapper und einförmiger Begriffs-
bestimmungen 1•
In diesen nur scheinbar monotonen Varianten über ein einziges Thema
("Was ist eigentlich dein Geschäft, Sokrates?") mischen sich natürlich
alte und neue Elemente. Allerdings, die Zahl der Töne scheint begrenzt
zu sein, und der einigende Bezug zum Thema muß schließlich auch
gewahrt bleiben. So sehr die Philosophen sich zu widersprechen schei-
nen, irgendwie scheinen sie auch alle dasselbe zu sagen oder doch zu mei-
nen. Die Frage ist daher, ob sich in diesem Wirrwarr bzw. dieser Mono-
tonie nicht doch eine Grundmelodie der Philosophie des 18. Jahrhun-
derts erkennen läßt, ob sich das Verständnis von Philosophie in der Auf-
klärung - auch wenn diese die Philosophie nicht geradezu als Aufklä-
rung definiert - nicht doch zeittypisch, etwa im Sinne eines praktischen
Rationalismus, artikuliert. Gibt es eine gewisse Konstanz der Annähe-
rungsversuche bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Phi-
losophie? Gibt es einen Kreis von Problemen, die sich der Aufklärungs-
philosophie, wenn sie sich selbst bestimmen will, als erste stellen? Ist es
vielleicht sogar die Möglichkeit der Selbstbesinnung, als im Hinblick auf
Religion und Wissenschaft freies Denken, um die es in der Selbstbestim-
mung der Philosophie der Aufklärung geht?

a) Lebendige Erkenntnis

Thomasius' Philosophiebegriff entwickelt sich, grob gesprochen, in drei


Etappen. Am Anfang (Philosophia aulica 1688, 2. Aufl. 1702) steht sein
Versuch, die Philosophie- unter Bewahrung ihrer Funktion als Vorbe-
reitungswissenschaft im Universitätsbetrieb - gesellschaftsfähig, also
hoffähig, und damit für das 'politische' Leben brauchbar zu machen. Aus
dieser Perspektive definiert er die Philosophie, im Ausgang vom Philoso-
phierenden und im Hinblick auf die sogenannten höheren Fakultäten, als
eine zweckbezogene oder dienende geistige Fertigkeit. Sie ist ein "habitus

Zu den folgenden Ausführungen vgl. außer der bereits genannten Literatur


W. Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit, Zur Verweltlichung der Philosophie
in der frühen Moderne, Studia Leibnitiana XV I 1 1983; Deus est philosophus abso-
lute summus, Über Christian Woljfs Philosophie und Philosophiebegriff; in: W.
Schneiders (Hrsg.), Christian Woljf1983, 2. Auf!. 1986; Der Philosophiebegriff
des philosophischen Zeitalters, Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie
von Leibniz bis Kant; in: R. Vierhaus (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der
Aufklärung 1985.

112
intellectualis instrumentalis", Gott, die Geschöpfe und die menschlichen
Handlungen aus bloßer Vernunft zu bedenken und dabei nach den Ursa-
chen der Kreaturen und ihrer Handlungen zu fragen -?"in utilitatem
generis humani" (58). Die Elemente dieser Begriffsbestimmung sind zwar
nicht neu, sie stammen aus der christlichen, "aristotelisch" eingefärbten
Interpretation der 'stoischen' Philosophiedefinition Ciceros (notitia
rerum divinarum ac humanarum), die um die Perspektive des Schöpfers
und um die der Ursachenforschung erweitert wird; aber sie ermöglichen
es Thomasius, die Autonomie und die Relevanz der Philosophie zu beto-
nen. Zwar kann und darf die richtige Vernunft der wahren Religion
nicht widersprechen, doch braucht diese abstrakt postulierte Harmonie
die Selbständigkeit der Philosophie, so wie Thomasius sie versteht, nicht
zu gefährden, da diese sich auf durch sie selbst definierte 'theologische'
Fragen (nach Möglichkeit) nicht mehr einläßt- sie bezieht sich allein auf
die zeitliche Glückseligkeit, weil die ewige außerhalb der Kompetenz der
Vernunft liegt. Eine sogenannte philosophia christiana hingegen beruht
auf einer gefährlichen Vermengung zweier Erkenntnisprinzipien und
wird von Thomasius mit nachhaltigem Erfolg bekämpft. Vor allem aber
ist die Philosophie für die Gesellschaft wichtig; sie zeigt dem Menschen
und insbesondere den Staatenlenkern und Staatsdienern den Weg zum
Glück, nämlich durch Dienst am Mitmenschen, also zur allgemeinen
W obifahrt der Menschheit.
Diesen praktischen Nutzen der Philosophie betont Thomasius auch
bei seinem zweiten Anlauf zur Bestimmung ihres Wesens (Einleitung zur
Vernunftlehre 1691, Repr. 1968), wobei er sich nun bewußt an alle Men-
schen wendet und damit faktisch vor allem an die Bürger, die sich bilden
wollen und sollen. Philosophie ist Gelehrtheit. "Die Gelahrheit ist eine
Erkäntnüß, durch welche ein Mensch geschickt gemacht wird das wahre
von den falschen, das gute von dem bösen wohl zu unterscheiden, und
dessen gegründete wahre, oder nach Gelegenheit wahrscheinliche Ursa-
chen zu geben, umb dadurch sein eigenes als auch anderer Menschen in
gemeinen Leben und Wandel zeitliche und ewige W ohlfahrth zu beför-
dern" (75 f.). Es geht also um Bildung durch Wissen, um eine aufgrund
eigener Urteilsfähigkeit nach Ursachen fragende Erkenntnis des Wahren
und Guten. Philosophie ("Welt-Weißheit") ist nur ein Teil dieser
kritisch-praktischen Erkenntnis, nämlich diejenige Erkenntnis, die aus
dem natürlichen Licht des Verstandes "zu Nutzen dieses zeitlichen
Lebens" entsteht. Thomasius' finalistisch auf Glück bezogene Philoso-
phiedefinition nimmt also jetzt die Hauptbedingung des Glücks, die
Tugend, in den Philosophiebegriff hinein, genauer gesagt, nur die Bedin-

113
gung der Tugend, nämlich die Erkenntnis des Guten, und macht dabei
die Erkenntnis der Wahrheit selbst mehr oder weniger zum Mittel der
Moral. Philosophie ist insofern wesentlich ethische Philosophie für die
Welt; und diese Weltweisheit ist jedermanns Sache geworden, weil sie
"so leichte" ist, daß sie von allen begriffen werden kann (13). Oder
umgekehrt, weil Philosophie jeden angeht, muß sie auch in der einen
oder anderen Form jedermann (ausdrücklich auch jeder Frau) prinzipiell
zugänglich sein - obwohl Thomasius letztlich an der Unterscheidung
zwischen Laienphilosophen und Fachphilosophen festhalten muß (vgl.
76 ff.).
Die moralische Ausrichtung der Philosophie wird von Thomasius in
einem dritten Anlauf (Cautelen 1710, dt. 1713) noch einmal zugespitzt,
indem er nun die Weisheit, die jetzt als die wahre Gelehrtheit fungiert,
unter ausdrücklicher Ausklammerung der Wahrheitsfrage als lebendige
Erkenntnis des Guten definiert (1). Die Wahrheit ist damit in eine weite
Ferne gerückt, mehr noch als in den vorhergehenden Schriften, die schon
- statt des Wissenschaftscharakters der Philosophie - das Forschen und
Fragen einerseits und das eigenständige Urteilen andererseits betonten.
Zur Glückseligkeit genügt jetzt die Erkenntnis des Guten (des 'wahrhaft'
Guten, versteht sich, das anscheinend allein 'wahrhaft' erkannt werden
muß) - allerdings eine lebendige Erkenntnis, die hier in eine gewisse
Konkurrenz zum lebendigen Glauben tritt, also eine ursprüngliche und
wirklich vollzogene, daher auch wirksame oder handlungsbereite
Erkenntnis. Diese authentische und effektive Erkenntnis aus 'gesunder'
Vernunft ist im übrigen, aufgrund der Begrenztheit der menschlichen
Erkenntnis, selbst fast nur noch ein vernünftiger oder "philosophischer
Glaube". Die Philosophie ist also für Thomasius nicht eigentlich Wissen-
schaft, die sich durch objektive oder intersubjektiv gültige W ahrheitser-
kenntnis (z. B. Prinzipienwissenschaft) auszeichnet, sondern begründeter
Glaube oder Weisheit, die als lebendige Erkenntnis des Guten eigentlich
nur in der Realisierung durch den jeweiligen Menschen existiert. Oder,
in der Terminologie der Zeit ausgedrückt, Thomasius definiert die Philo-
sophie "subjective" (subjektivisch, d. h. im Hinblick auf ihr Subjekt),
nicht "objective" (objektivisch, d. h. im Hinblick auf ihr Objekt) und
daher auch nicht "systematice" (systemisch, d. h. als Disziplin).
Thomasius' Versuche, das Wesen der Philosophie neu zu bestimmen,
haben bei seinen Schülern und Anhängern ein vielfältiges Echo gefunden.
Die stärkere Trennung von Philosophie und Religion wurde, wenn auch
mit persönlichen Nuancen, weitgehend akzeptiert und dann sehr schnell
selbstverständlich. Die praktische Absicht des Denkens wurde fast über-

114
alldurch die Angabe des Zieles ("Glück") oder der subjektiven Vollzugs-
und Wirkungsweise der Philosophie ("lebendig") unterstrichen, gele-
gentlich auch durch Pointierungen des Gegenstandes in praktischer Hin-
sicht ("das Gute"). Zugleich aber rückt nun mehr und mehr der eigen-
tümliche Erkenntnischarakter der Philosophie in den Blick, indem näm-
lich nicht nur die Rolle der Erfahrung und der richtigen Vernunft, son-
dern auch die Notwendigkeit differenzierender Urteilskraft hervorgeho-
ben wird: Philosophie ist scharfsinnige oder 'judiziöse', also betont
analytische oder kritische Erkenntnis. Auch insofern wird Philosophie
primär subjective, als eine personale Geschicklichkeit oder Fertigkeit,
d. h. als Philosophieren, betrachtet, nicht so sehr vom Objekt oder vom
Ergebnis her, also nicht als wissenschaftliches System. Mit modernen
Worten, Philosophie wird mehr existentiell und weniger szientifisch
gesehen - auch wenn sich die Betonung der lebendigen Erkenntnis (im
Unterschied zur kritischen oder praktischen Erkenntnis) im Vergleich zu
Thomasius verliert. Allerdings zwingt die Auseinandersetzung mit Wolff
schon bald auch zu einer neuen Reflexion auf den Gegenstand der Philo-
sophie.
Die von Thomasius entwickelten Formulierungen, vor allem die bei-
den frühen, traditionelleren Formulierungen, werden von seinen Anhän-
gern zwar gelegentlich, wenigstens im Prinzip, übernommen, aber
zugleich durch z. T. minimale Veränderungen so akzentuiert, daß sie
zum Ansatzpunkt weitreichender neuer Perspektiven werden konnten.
Die wichtigsten Anstöße gingen dabei von dem Theologen Johann Franz
Budde und dem Arzt Andreas Rüdiger aus, die innerhalb des Thomasia-
nismus sozusagen zwei Flügel anführten und selbst wieder schulbildend
gewirkt haben. Während Budde vor allem durch seine knappen Lehrbü-
cher beeindruckte, zeigte sich Rüdiger als ein eigenständiger und kreati-
ver Denker.
Budde beginnt seine Logik (Elementa philosophiae instrumentalis 1703,
3. Aufl. 1709) ähnlich wie der frühe Thomasius mit der 'ciceroniani-
schen' Definition der Philosophie, wonach diese eine Erkenntnis göttli-
cher und menschlicher Dinge zum Zwecke der Glückseligkeit sei: "Phi-
losophia, si vocem spectes, est amor vel studium sapientiae, si rem ipsam,
est notitia rerum divinarum humanarumque, prout ductu rectae rationis
cognosci possunt, ad veram hominum felicitatem aut acquirendam, aut
conservandam comparata" (4). Ihren eigentlichen Sinn gewinnt diese
Definition erst durch die Erläuterung nach Art, Objekt, Mittel und
Zweck der Erkenntnis. Demnach ist Philosophie eine Kenntnis oder
Erkenntnis, die zwar zu einer gewissen Fertigkeit gediehen, aber meistens

115
nicht eigentlich wissenschaftlich gewiß, sondern nur wahrscheinlich ist.
"Est notitia, scilicet habitualis, et interdum scientifica ac certa, ple-
rumque verosimilis saltem ac probabilis" (4). Vor allem in der Erkennt-
nis der natürlichen Dinge bleibt vieles nur wahrscheinlich. Philosophie
ist eigentlich keine Wissenschaft - aber die Erkenntnisse der Natur-
wissenschaften sind auch nicht so gewiß, wie sie sich geben. Dem ent-
spricht eine Betonung der existentiellen Bedeutung oder praktischen
Zielsetzung der Philosophie schon durch die Bestimmung ihrer Erkennt-
nis als glückbringende Erkenntnis. Es geht nicht um theoretische
(müßige) Wahrheiten, um Befriedigung bloßer Neugierde. "Nec nudam
aut otiosam hic intelligimus notitiam, sed efficacem: qua animus hominis
ita dispositus est, ut felicitatis verae, quam philosophia intendit, revera
etiam sit particeps" (4). Wenn Budde dann betont, daß die Philosophie
keine bloße Wort- oder Begriffswissenschaft, sondern eine Sachwissen-
schaft sei, so ist dies gegen die traditionelle Verknüpfung der Philosophie
mit den artes liberales gerichtet, wobei die Sachen, die res divinae ac
humanae, wieder christlich uminterpretiert werden. Zu den göttlichen
Dingen gehören auch die göttlichen Handlungen und damit auch deren
Wirkungen, die von Gott geschaffenen Dinge; zu den menschlichen Din-
gen gehören primär die menschlichen Handlungen. Die Unterscheidung
zwischen Philosophie und Theologie erfolgt daher nicht über das
Objekt, sondern über das Mittel der Erkenntis, die recta ratio als "princi-
pium cognoscendi in philosophia" (5) -wobei natürlich offen bleiben
muß, worin die richtige Vernunft besteht. Demgegenüber wird der
Begriff des wahren Glücks, auf den Budde abschließend zurückkommt,
klar mit christlichen Inhalten aufgefüllt, indem nämlich wie üblicher-
weise zwischen ewiger und zeitlicher Glückseligkeit unterschieden wird
und diese dann als felicitas summa und felicitas subordinata charakteri-
siert werden. Der Theologe Budde eröffnet der Philosophie zunächst
sogar einen weiten Spielraum, indem er ausdrücklich feststellt, daß sie
beide Arten des Glücks "pro fine" habe (5). Er unterscheidet sich damit
deutlich von Thomasius, der die Philosophie von vornherein auf das dies-
seitige Leben und dessen Gelingen (Glück) begrenzt. Doch kann die Phi-
losophie nach Budde das Ziel der höchsten Glückseligkeit nicht ohne das
Licht der Offenbarung erreichen, d. h. sie scheitert de facto und wird
wieder bzw. bleibt offenbarungsabhängig. Hier bleibt der Aufklärungs-
philosoph protestantischer Theologe; statt die Philosophie von vornher-
ein auf Selbstbegrenzung zu verpflichten, läßt er sie im Ziel mit der
Theologie konvergieren, um sie dann scheitern zu lassen und unterord-
nen zu können.

116
Obwohl Budde von der Philosophie nur begrenzt sichere Ergebnisse
erwartet, betont er doch ihren möglichen wissenschaftlichen, also auch
akademischen Charakter. Nachdrücklicher als Thomasius unterscheidet
er daher, in seinem Diseurs von dem Unterschied der Welt· und Schulge·
lehrtheit (als Vorrede zu Martin Musig, Licht der Weisheit 1709), Kants
bekannte Unterscheidung vorbereitend, zwischen einer Philosophie der
Schule ("Schul-Gelahrtheit") und einer Philosophie der Welt ("Welt-
Gelahrtheit"). Letztere ist die sozusagen natürliche Philosophie, die
durch die Hilfsmittel der Schulen vervollkommnet werden soll, nicht sel-
ten aber durch diese nur verdorben wird (§ 2 ff.). Philosophie der Schule
und Philosophie der Welt bilden also an sich keinen Gegensatz; vielmehr
dient die Philosophie der Schule (wie später auch bei Kant) der ursprüng-
licheren Philosophie der Welt, die den wesentlichen Zwecken oder Inter-
essen (hier noch als zeitliche und ewige Glückseligkeit verstanden) ent-
spricht und die mit einer Philosophie für die Welt (Popularphilosophie
als popularisierte Philosophie) keineswegs identisch zu sein braucht.
Offensichtlich sieht Budde bereits die Gefahr einer Auflösung der Philo-
sophie in allgemeines Räsonnieren und wehrt sich gegen die Zumutung
einer unvermittelten Popularität der durch geistige Anstrengung und
Arbeit erworbenen Erkenntnis. Insofern verlangt auch er schon, wie
dann Rüdiger, vom Philosophen eine besondere Erkenntniskraft und
Erkenntnisleistung.
Im Unterschied zu Thomasius und Budde geht Rüdiger nicht vom sub-
jektiven Zweck der Philosophie, sondern von der Eigenart ihres
Erkenntnisgegenstandes aus, die dann allerdings auch unmittelbar auf
den Philosophen zurückverweist. Der Gegenstand der Philosophie ist
nämlich, wie Rüdiger immer wieder betont, einerseits schwer zu erfassen
und keineswegs jedermann zugänglich, andererseits aber ist seine
Erkenntnis höchst wichtig und für jedermann sehr nützlich. So heißt es
schon in der ersten Fassung von Rüdigers Hauptwerk (Philosophia synthe·
tica 1707): "Philosophia est cognitio veritatis ejus, quae non cuilibet sta-
tim manifesta, et omnibus tarnen perutilis est" (3). Es bedarf daher einer
eigentümlichen Anstrengung zur Entdeckung der verborgenen, aber
allerseits benötigten Wahrheit, also einer szientifischen Einstellung aus
existentieller Notwendigkeit. Philosophie hat eine kritische und eine
praktische Funktion, und die letzte kann sie ohne die erste nicht erfüllen;
zur Glückseligkeit bedarf es des Durchblicks und auch der Urteilskraft.
Man könnte auch sagen: Philosophie ist Aufklärung.
Diese Auffassung der Philosophie, die sich, wie schon die antike Philo-
sophie, sowohl ihres Abstandes von der Menge als auch ihrer Verantwor-

117
tung für die Menschheit bewußt ist, behält Rüdiger auch in der als
2. Auflage unter dem Titel Institutiones eruditionis seu philosophia synthe-
tica (1711) erschienenen Umarbeitung seines Werkes wörtlich bei, fügt
sie dann aber in der 3. Aufl. (1717) in eine allgemeine praktische Zweck-
setzung für jede Erkenntnis bzw. Erudition ein. Alle Gelehrsamkeit muß
auf ein Ziel ausgerichtet sein, damit sie nicht eitle Neugierde bleibt, "ne
vana sit curiositas" (3). Das höchste Ziel des Menschen ist nämlich die
Angleichung seines Willens an den göttlichen Willen, der seinerseits auf
Tugend und Glück des Menschen gerichtet ist. Aus dieser Perspektive
gesehen ist die Gelehrsamkeit oder die Philosophie, die mit der "eruditio
in genere" identisch ist, eine judiziöse Erkenntnis der verborgenen Wahr-
heiten, die dem Ziel der Angleichung unseres Willens an den göttlichen
Willen dient. "Philosophia ergo, sensu generalissimo accepta, quatenus
aequipollet eruditioni in genere, est judiciosa veritatis ejus cognitio, quae
non cuilibet statim manifesta est, et quomodocunque ad conformationem
voluntatis nostrae ad voluntatem Dei pertinet" (6). So umständlich diese
Definition auch klingen mag, so klar ist doch ihr Ziel. Philosophie soll
als "cognitio judiciosa" der Frömmigkeit und der Tugend dienen, und
zwar auf dem Boden der natürlichen Vernunft.
Diese zugleich religiös-moralische wie kritische Ausrichtung der Philo-
sophie bestimmt auch die letzte Umarbeitung oder Neufassung von
Rüdigers Werk, das nun Philosophia pragmatica heißt (1723, 2. Aufl.
1729), also schon dem Titel nach bewußt praktisch ausgerichtet ist. Die
Formulierung dieses Philosophieverständnisses ist nun allerdings noch
komplizierter geworden. Die Philosophie, so heißt es jetzt, ist eine
Erkenntnis, die auf Sinneswahrnehmung oder Erfahrung beruht und auf
dieser Basis die allgemeinen Mittel und Ziele sichtbar macht, die durch
Sinneswahrnehmung oder Erfahrung nicht unmittelbar erkannt werden
können - damit Gott richtiger verehrt und der Friede (die Ruhe bzw.
die Sicherheit) der Menschheit gefördert wird, soweit dies durch die
gewöhnliche Erkenntnis nicht möglich ist. "Philosophia est cognitio,
quae sensui, seu experientiae, insistendo, hinc eos generales fines, et ea
media generalia eruit, quae sensu et experientia, immediate cognosci
nequeunt: ut Deus tanto rectius colatur, et tranquillitas seu securitas,
humani generis, sicubi deficiunt media cognitionis vulgaris, mediis cogni-
tionis eruditae promoveatur" (1 ff.). Philosophie wird so, als durchdrin-
gende Erkenntnis oder Aufklärung durch Einsicht, zum Mittel in einem
erhofften Prozeß fortschreitender Frömmigkeit, Tugend und Zufrieden-
heit. Diese Zufriedenheit ist nicht mehr die noch bei Budde angestrebte
zeitliche und ewige Glückseligkeit, denn Glückseligkeit kann die Philo-

118
sophie nach Rüdiger nicht erwirken. Zufriedenheit aber, das mögliche
begrenzte Glück, ist nur durch ein auf Erfahrung gegründetes und
zugleich Erfahrung überschreitendes zielgerichtetes Erkennen erreich-
bar, und zwar im Gehorsam gegen Gott. Gleichzeitig bietet Rüdiger
jedoch (weil es nicht auf die Formulierung, sondern nur auf die Sache
selbst ankomme) noch eine weitere Bestimmung der Philosophie an, die
zwar seinen bisherigen Definitionen nicht widerspricht, aber durch ihre
genauere Herausarbeitung des Erkenntnisgegenstandes der Philosophie
- wohl schon im Gegenzug zu W olff- eine ganz neue und folgenreiche
Perspektive eröffnet. Demnach ist die Philosophie, wie es jetzt heißt, die
allgemeine Erkenntnis verborgener Größen und Eigenschaften, eine
"cognitio generalis earum qualitatum atque quantitatum, quae cognitio-
nem vulgarem fugiunt" (3). Diese an sich alte Unterscheidung zwischen
Größen und Eigenschaften bzw. deren Erkenntnis, die nun für die Selbst-
bestimmung der Philosophie bis hin zu Kant wichtig wird, enthält näm-
lich die Möglichkeit, die Mathematisierung der Philosophie abzuwehren.
Philosophie ist zwar auch noch Erkenntnis meßbarer Größen (quantita-
tes), aber sie ist auch, wenn nicht vor allem, später sogar ausschließlich,
Erkenntnis von Beschaffenheiteil (qualitates ).
Die ersten bedeutsamen Weiterbildungen des Thomasianismus durch
Rüdiger und Budde haben, wie gesagt, selber wieder Schule gemacht und
treten somit bald nach dem Beginn des 18. Jahrhunderts neben die wei-
terwirkenden direkten Einflüsse von Thomasius, mit denen sie sich viel-
fach (wie auch untereinander) kreuzen. So wie Thomasius Halle geprägt
hatte, so prägte nun Budde das geistige Klima von Jena und Rüdiger das
von Leipzig; ihr Einfluß reicht z. T. bis in die zweite und dritte Genera-
tion der dort lebenden oder von dort kommenden Philosophen. Aus dem
Leipziger Umkreis von Rüdiger sind zunächst Gottfried Polycarp Müller
und der bedeutendere August Friedrich Müller zu nennen, später kom-
men Adolph Friedrich Hoffmann und dessen Schüler Christian August
Crusius, der dann für Kant wichtig wurde, hinzu. Aus dem Jenaer Kreis
um Budde sind heute vergessene Systematiker wie Johann Jakob Syrbius
und Johann Jakob Lehmann, vor allem aber Historiker und Lexikogra-
phen wie Gottlieb Stolle, Johann Georg Walch und Jakob Brucker her-
vorgegangen, die ebenfalls bis in die Spätaufklärung gewirkt haben. An
dieser Stelle seien nur einige Beispiele für die weitere Entwicklung des
Thomasianismus hervorgehoben: J. G. Walch und A. F. Müller als Bei-
spiele für einen von Rüdiger inspirierten 'kritischen' Philosophiebegriff
sowie Martin Musig und Johann Jakob Lebmann als Beispiele für einen
im Umkreis von Budde entwickelten 'pragmatischen' Philosophie-

119
begriff. Abschließend sind dann kurz Hoffmann und Crusius als Bei-
spiele für das Ende dieser Phase vorzustellen 3 •

Auch die hier nicht näher erörterten Philosophen und Philosophiehistoriker


halten sich weitgehend in dem bereits skizzierten Rahmen. Gottfried Polycarp
Müller geht in seiner Philosophia facultatibus superioribus accommodata (1718)
von der Gelehrtheit aus, die er mit der theoretischen und praktischen Weisheit
"ex lumine naturae et gratiae" gleichsetzt, hält sich dann aber an die natürliche
Weisheit aus bloßer Vernunft. "Hinc orta est eruditio naturalis, quam et philo-
sophiam (die natürliche Weißheit) dicimus, hoc est, cognitio solida, clara et effi-
cax ex lumine naturae acquisita, rerum ad veram hominum internam, et exter-
nam felicitatem pertinentium" (4). Die von der bloßen Neugierde unterschie-
dene, lebendige und wirksame, d. h. den Verstand und Willen bewegende
Erkenntnis wird dann auf die (für die Glückseligkeit) wesentlichen Kenntnisse
eingeschränkt, die, wie es hier heißt, "nexu evidenti pro substratae materiae
capacitate" verknüpft sein sollen. - Für Johann Jakob Syrbius (Institutiones
philosophiae primae 1720, 2. Aufl. 1726) ist die Philosophie "studium veri et
boni" (100). - Gottlieb Stolle (Historie der Gelehrtheit li, 1718, 4. Aufl. 1736)
versteht die Philosophie als "eine vernünfftige Erkenntnis dessen, was zur
menschlichen und zwar zeitlichen Glückseeligkeit nöthig ist" (442). Auch
Jakob Brucker definiert in seinen Kurzen Fragen aus der philosophischen Historie
(1731) die Philosophie als "eine aus richtigen Grund-Sätzen und Principiis her-
geleitete Wissenschaft desjenigen, was wir aus Vernunfft von dem wahren und
gutenund der daraus fliessenden Glückseeligkeit gründlich erkennen können"
(8). An sich ist sie mit der Weisheit identisch, nur daß bei dieser die Ausübung
der Erkenntnis dazu gehört (vgl. 4 f.). In der Einleitung zum ersten Band seiner
ausführlichen Historia critica philosophiae (1742) nimmt Brucker dann wieder
die res divinae ac humanae in die "scientia veri atque boni" hinein (vgl. 8).
Die von Thomasius herkommenden Juristen oder Rechtsphilosophen, die hier
weitgehend außer Betracht bleiben dürfen, neigen verständlicherweise zu einem
praktisch ausgerichteten Philosophiebegriff. Dafür nur zwei Beispiele. Für Eph-
raim Gerhard (Delineatio philosophiae rationalis 1709, 2. Aufl. 1717) ist die Phi-
losophie als doctrina, nämlich "in abstracto, et non quatenus in mente concipi-
tur" (17), ein Teil der eruditio. Personal verstanden ist sie eine habituelle Kennt-
nis oder Erkenntnis (notitia), die sicher und apodiktisch, aber auch nur wahr-
scheinlich, die lebendig und effektiv, aber auch tot und bloß gedanklich sein
kann; und sie handelt von Sachen, nicht nur von Gedanken und Begriffen. Sie
wird durch natürliche Vernunft erworben und dient letztlich dem Glück des
Menschen - bei Gerhard allerdings nur dem zeitlichen Glück, denn von einem
ewigen Glück weiß die Vernunft als solche hier schon nichts mehr. "Uno
verbo: Philosophia est doctrina, tradens notitiam, amorem usumque rerum,
natura cognoscibilium, et ad humanam felicitatem pertinentium" (18, vgl.
15 ff.). Für Johann Gottlieb Heineccius (Elementa philosophiae rationalis et
moralis 1728, 9. Aufl. 1745) ist die Philosophie eine "cognitio veri et boni, ex
recta ratione derivata, et ad veram hominis felicitatem comparata" (1). Dabei
beschränkt sich die recta ratio auf die zeitliche Glückseligkeit; wer über die
ewige Glückseligkeit spekuliert, überschreitet die Grenzen der Philosophie (3).

120
Walch, der, bevor er zu Budde nach Jena ging, bei Rüdiger in Leipzig
studiert hatte, folgt Budde vor allem in der Bestimmung des Gegenstan-
des der Philosophie, hebt aber zugleich ähnlich wie Rüdiger durch seine
Zusätze den kritischen Charakter der Philosophie hervor. Am ausführ-
lichsten, oft in wortwörtlicher Übereinstimmung mit den Ausführungen
in seinem Philosophischen Lexikon (1726, 4. Aufl. 1775, Repr. 1968)
bestimmt er seinen Begriff von Philosophie in seiner Einleitung in die Phi·
losophie von 1727. Er definiert sie als "eine iudicieuse Erkänntnis allge-
meiner Wahrheiten von göttlichen und menschlichen Sachen aus der
Natur derselbigen vermittelst der gesunden Vernunfft, so daß wir
dadurch die Ehre Gottes und die menschliche W ohlfahrth befördern
können" (22). Indem er dann ähnlich wie Budde Art und Gegenstand,
Mittel und Zweck der Erkenntnis erläutert, erklärt er im Anschluß an
Rüdiger die judiziöse Erkenntnis dahingehend, "daß die Wahrheiten,
damit ein Philosophus umgehet, einem nicht so gleich in die Augen fal-
len" (23); sie müssen auf eine gründliche und zusammenhängende Weise
erkannt werden, und zwar aus ihrer Natur, d. h. ihrem Wesen, oder, wie
Kant später sagen wird, aus (ihren) Begriffen. Faktisch geht Walch jedoch
über Rüdiger hinaus, indem er die durchdringende Erkenntnis der Philo-
sophie nicht nur eine allgemeine Erkenntnis, sondern auf allgemeine
Wahrheiten ausgerichtet sein läßt. Im übrigen vergißt er nicht, im Sinne
von Thomasius hinzuzufügen, daß die Philosophie eine lebendige und
kräftige Erkenntnis sein müsse, weil der Mensch "zur Praxi erschaffen"
ist und beim Philosophen folglich Verstand und Tugend "auf das genaue-
ste vereiniget" sein müssen (24). Daneben aber hält Walch, der Theologe
ist, wie Rüdiger am religiösen Zweck der Philosophie fest. Gloria Dei et
utilitas generis humani bilden noch eine unverbrüchliche Einheit.
Von dieser religiösen Funktion der Philosophie ist bei A. F. Müller,
der Jurist war, keine Rede mehr. Müller (Einleitung in die philosophischen
Wissenschaften I, 1728, 2. Aufl. 1733) hat seine Auffassung der Philoso-
phie z. T. in öffentlicher Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Rüdiger
entwickelt. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch, der nur gewisse Teile
der Gelehrsamkeit Philosophie nenne, die wahre Gelehrsamkeit aber als
Teil der Weisheit verstehe, erörtert er zunächst die Weisheit und die
Gelehrsamkeit, um dann die Philosophie als Teil derselben zu entwickeln
oder vielmehr auszugrenzen. Die Weisheit ist sozusagen die allgemeinste,
nicht notwendigerweise aber eine "gelehrte" Geschicklichkeit, seine
Glückseligkeit und die anderer Menschen zu befördern; sie ist wesentlich
praktisch, "eine angewöhnte fertigkeit eines vernünftigen, tugendhaften,
und klugen lebens" (6). Die Gelehrsamkeit liefert dazu durch eigenes und

121
gründliches, "scharfsinniges" und "künstliches" Nachdenken das theo-
retische Fundament; sie ist "eine fertige geschickligkeit, diejenigen zum
nuzen des menschlichen lebens nöthigen wahrheiten, die nicht unmittel-
bar in die sinne fallen, sondern nur durch künstliches nachdencken sich
erforschen lassen, scharfsinnig und aus ihrem grunde zu erkennen, zu
beförderung wahrer weisheit unter den menschen, und folglich zu erlan-
gung wahrer glückseligkeit" (25, vgl. 6). Die Philosophie aber ist nur der
Teil der Gelehrsamkeit, der als "gelehrsamkeit überhaupt" nach Abzug
der Theologie, Jurisprudenz und Medizin übrig bleibt (7, vgl. 3 ff.).
Damit verzichtet Müller auf eine positive Definition der Philosophie und
paßt diese trotz seiner Kritik an der Fakultätenhierarchie der bestehen-
den Wissenschaftsorganisation an. Der Sache nach aber ist die Philoso-
phie für ihn ausgebildetes kritisches Nachdenken im Dienste der Praxis;
sie ist wie bei seinem Lehrer eruditio generalis: authentisches und szienti-
fisches (scharfsinniges und künstliches) Nachdenken zum Zwecke allge-
meiner Glückseligkeit. Diese aber besteht in der Erkenntnis, in der Ein-
richtung und im Genuß des Guten. Mit deutlicher Spitze gegen das "trau-
rige kopfhängen" der Pietisten besteht Müller auf dem Recht des Men-
schen, "das nun erlangte gute mit anmuth und lust empfinden und
geniessen" zu können; er fordert bereits einen guten Geschmack "im
moralischem verstande" auch in Ansehung der Sinne (17 ff., vgl. 13 ff.).
Während Müller und Walch im Anschluß an Rüdiger vor allem den
kritischen Charakter der Philosophie betonten, entwickelte sich im
Umkreis von Budde eine Tendenz, nicht nur den praktischen, sondern
darüber hinaus sogar den pragmatischen Charakter der Philosophie her-
auszustellen, und zwar schon vor dem Auftreten von Christian W olff,
der dann ihren wissenschaftlichen Charakter betonte. Diese Richtung
konnte an Buddes Betonung der moralisch praktischen Wirksamkeit
lebendiger Erkenntnis anschließen, konnte sich aber auch durch ihre
Beschränkung auf das praktisch Mögliche und Nötige von seinen
ursprünglichen religiösen Intentionen entfernen. So definiert z. B. Bud-
des Schüler Martin Musig (Licht der Weisheit 1709), obwohl er angeblich
nur die Grundsätzes seines Lehrers in deutscher Sprache verbreiten will,
die Philosophie ganz anders als dieser von ihrem erreichbaren Zweck her
(so wie er ihn sieht). Für Musig ist die Gelehrsamkeit eine "Erkänntniß
nützlicher und nöthiger Dinge, durch welche wir angewiesen werden,
wie wir durch Beobachtung göttlichen Willens so weit die Vernunfft sol-
chen ansagen kan, unsere Glückseeligkeit beobachten mögen" (7). Die
Hauptteile dieser Erudition sind die Theologie, die Medizin und die J uris-
prudenz; die Philosophie hingegen ist nur eine Instrumentalwissen-

122
schaft, "eine nöthige und nützliche Handleiterinn" (13). Ihr Endzweck
ist aber derselbe wie der der übrigen Erudition, nämlich "daß die Ehre
Gottes, und die Glückseeligkeit der Menschen dadurch befördert werde"
(37). Aus dieser Betonung der existentiellen Relevanz der Philosophie
und der Charakterisierung ihrer Gegenstände als nötig und nützlich
konnte sich dann sehr schnell (in Reaktion auf Wolffs Universalwissen-
schafts- und Allwissenheitsforderung) eine Beschränkung der Philoso-
phie auf sogenannte "Hauptwahrheiten" oder "wesentliche Bedürf-
nisse" entwickeln4 •
Auch Johann Jakob Lehmann, der sich ebenfalls betont an Budde
anschließt, geht in seiner Vernunftlehre (1723) von dem durch Gott
gesetzten Endzweck der Gelehrsamkeit aus; sie soll der Ehre Gottes und
dem Glück des Menschen dienen, und zwar seiner zeitlichen wie seiner
ewigen Wohlfahrt. Dann aber fügt Lehmann, damit einen anderen
Akzent setzend, hinzu, die Philosophie sei eine nötige und nützliche
Erkenntnis, die der Vervollkommnung der Seele, insbesondere zur
Verbesserung des Verstandes und des Willens diene. Folglich definiert er
die Philosophie umständlich als "eine Vollkommenheit der Seelen,
sonderlich des Verstandes, welche besteht in einer wahren, gründlichen
und lebendigen Erkäntniß derer Geschöpffe, und des Schöpffers, inglei-
chen derer daher fliessenden Verrichtungen, und vorhero zu setzen-
den Besserungen, wie auch derer hierzu dienlichen W erckzeuge und
Hülffs-Mittel, so weit dieses alles uns die wir nebst der ewigen haupt-
sächlich die zeitliche Glückseligkeit von Gott zu erhalten trachten, zu
wissen und zu thun nöthig und nützlich ist, und sonst aus Betrachtung

Schon vor Musig hatte Samuel Grosser (Gründliche Einleitung zur wahren
Erudition II, 1704) die Philosophie von ihrem Lebenszweck her definiert. Sie
ist "eine aus dem Licht der Natur herrührende Erkänntniß dessen, was man
zur Bedürffniß dieses Lebens, theils zu wissen, theils auch zu verfertigen, oder
aber Pflichtmäßig auszuüben hat" (2, vgl. 47). Ähnlich wollte auch Christoph
August Heumann (Von dem Wesen und dem Begriffder Philosophie, Acta philo·
sophorum I, 1715/16) die Philosophie auf den praktischen Nutzen ausrichten.
Philosophie ist für ihn "eine Untersuchung und Erforschung nützlicher
Wahrheiten aus festen Gründen und principiis" (95). Sie ist Weisheit, die zur
Tugend führt. Daraus ergibt sich, "daß die Philosophie ... durch und durch
scientia practica sey"; ein purus putus theoreticus oder einer, der "bloß zur
Curiosität" spekuliert, mag zwar ein gelehrter Mann sein, ein Philosoph ist
er jedoch nicht (vgl. 100 ff.). Philosophie ist moralisch praktische Weisheit,
und die zufällige Weisheit der Nichtphilosophen unterscheidet sich von der
gründlichen und gelehrten Philosophie nur der Form nach - Philosophie der
Schule und Philosophie der Welt scheinen also inhaltlich identisch zu sein.

123
der Sache selbst, ohne besondere Offenbahrung, hergeleitet wird, damit
wir dadurch einen Weg haben möchten, ein tugendhafftes Leben zu füh-
ren und gedachte Glückseligkeit von Gott zu erlangen und zu behalten,
auch nach Gelegenheit andern mit solcher Erkäntniß zu dienen, auf daß
auch hierdurch endlich die Ehre Gottes nachdrücklich befördert werde"
(27 f.).
Zum Abschluß dieser Skizze des Philosophieverständnisses im Thoma-
sianismus sei hier noch kurz auf Rüdigers Schüler Adolph Friedrich
Hoffmann und dessen Schüler Christian August Crusius hingewiesen.
Beide gehören schon einer neuen Generation an, die durch das Auftreten
Christian W olffs geprägt ist. Sie geraten nicht wie etwa Budde und Rüdi-
ger nachträglich in die Auseinandersetzung mit W olff hinein, sondern
wachsen darin auf. Diese Frontstellung zu Wolff bestimmt auch ihren
Philosophiebegriff, der einerseits noch von der Notwendigkeit subjekti-
ven Scharfsinns ausgeht, andererseits jedoch gegen W olffs Bestimmung
der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft die Wirklichkeit ihrer
Objekte hervorhebt. Das Glück verschwindet allerdings dabei aus der
Philosophiedefinition, d. h. Philosophie wird nicht mehr finalistisch defi-
niert und damit auch nicht mehr "subjective", sondern "objective".
Für Hoffmann (Vernunft/ehre 1737) ist die Philosophie das Zentrum
der sogenannten "judiciösen Wissenschaften", d. h. sie ist keine bloße
"Gedächtniswissenschaft" (vgl. 15 f., 20 f.). Die Philosophie ist auch
nicht jedermanns Sache; sie übersteigt den gemeinen Verstand und bedarf
des Scharfsinns. Sie ist kritischer und gründlicher Durchblick durch die
Meinungen der Menge, und wie schon bei Platon richtet sie sich auch
hier auf das wahrhaft Seiende. In Opposition zu W olff betont Hoffmann
nun, daß die Philosophie keine Möglichkeits- sondern Wirklichkeitswis-
senschaft sei. Für ihn ist sie "eine natürliche Erkändtniß verborgener
Wahrheiten, von der Natur und Existenz solcher Dinge, welche nicht in
der Willkühr der Menschen, sondern ausser derselben, dergestalt gegrün-
det sind, daß sie natürlicherweise niemahlsvöllig aufhören zu seyn" (13).
Die Gegenstände der Philosophie sind die Existenz und Essenz ewiger
bzw. vom Menschen unabhängiger Dinge und damit die sogenannten all-
gemeinen Naturen oder Beschaffenheiten. Indem Hoffmann so die Wirk-
lichkeit als Gegenstand der Philosophie herausstellt, setzt er sich deutlich
von W olffs Idee einer Wissenschaft aller möglichen Dinge ab; und indem
er diese Wirklichkeit als von Menschen unabhängig bezeichnet, gibt er
ihr sogar eine gewisse Ferne und Unverfügbarkeit (vergleichbar dem Kos-
mos oder der Physis der Antike). Wenn die Philosophie für ihn jedoch
auch (quasi mittelalterlich scholastisch) auf die sogenannten Naturen

124
bzw. allgemeinen Naturen gerichtet ist, so ist er den letzten Intentionen
der Wolffschen Möglichkeitswissenschaft, nämlich ihrer Abzielung auf
Wesensmöglichkeiten, schon wieder ganz nahe. Gleichzeitig aber nennt
Hoffmann als Gegenstand der Philosophie auch die Eigenschaften der
Dinge. Damit greift er offenbar Rüdigers Unterscheidung von cognitio
quantitatum und cognitio qualitatum auf. Aber während dieser die Grö-
ßenerkenntnis noch zur Philosophie im weiten Sinne rechnete, möchte
Hoffmann die Philosophie auf die Erkenntnis der Beschaffenheiten der
Dinge beschränken. Für ihn sind Philosophie und Mathematik von vorn-
herein methodisch verschieden. So wird auch in dieser Hinsicht der
Unterschied zu W olff wieder akzentuiert.
Crusius führt diesen Ansatz seines Lehrers konsequent fort (Weg zur
Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis 1747, Repr.
1965). Philosophie ist der "Inbegriff derjenigen Erkenntniß ... , welche
mit solchen Vernunftwahrheiten zu thun hat, deren Object beständig
fortdauret"(3). Vernunftwahrheiten sind hier Erkenntnisse aus bloßer
Vernunft, nicht nur verites de raison im Unterschied zu verites de fait.
Sie richten sich auch auf Tatsachen, allerdings auf ewige oder doch in die-
ser Welt nicht aufhebbare Tatsachen, wozu bei Crusius sowohl Wesen-
heiten wie Weltkörper gerechnet werden. Deren Erkenntnis soll selbst-
verständlich gründlich sein, aber das kann nicht bedeuten, daß Philoso-
phie immer nur nach dem Grund fragt; z. B. ist sie angesichts Gottes
bloße Existenzerkenntnis. Damit verliert der für W olffs Denken so kon-
stitutive Unterschied zwischen bloßer Tatsachenerkenntnis und philoso-
phischer Grunderkenntnis seine Bedeutung. An die Stelle der Demon-
stration tritt irgendwann die bloße Deskription; auch Philosophie muß
sich letztlich darauf beschränken, zu sagen, was ist.
Thomasius hatte die Philosophie betont finalistisch definiert, d. h. er
war vom Philosophieren als einer zielgerichteten menschlichen Tätigkeit
und damit vom philosophierenden Subjekt ausgegangen. Philosophieren
war für ihn, wie schon für Sokrates, Suchen nach der wahren Glückselig-
keit- nun allerdings, unter christlichen Voraussetzungen, aber in Abset-
zung von der Offenbarungstheologie, betontermaßen Streben nach irdi-
scher Glückseligkeit. Das vorrangige Ziel der Philosophie war daher die
Erkenntnis des (moralisch) Guten, und zwar eine lebendige, d. h. echte
und wirksame Erkenntnis. Thomasius' Schüler und Anhänger folgten
diesem Philosophieverständnis z. T. bis in die Formulierungen hinein: sei
es, daß sie seine erste oder seine zweite Definition (notitia rerum divina-
rum ac humanarum, Erkenntnis des Wahren und Guten) aufnahmen, sei
es, daß sie seine letzte Bestimmung (lebendige Erkenntnis des Guten) auf

125
Erkenntnis des Nötigen und Nützlichen hin zuspitzten. Und sie folgten
seinem Philosophieverständnis auch insofern, als sie seine subjekt- und
praxisbezogene Grundintention übernahmen, z. T. sogar teleologisch
untermauerten. Aber sie sahen sich doch auch zu einigen weitergehenden
Formulierungen veranlaßt: einerseits zur Rückkehr zu älteren Bestim-
mungen hinsichtlich des Zieles, andererseits zu neuen Bestimmungen
hinsichtlich des Objekts der Philosophie. So versuchten sie z. T., die von
Thomasius zunächst fast völlig ausgeklammerte Religion wieder in die
Philosophie hineinzunehmen, indem sie dieser wieder eine Ausrichtung
auf die ewige Glückseligkeit oder die Ehre Gottes gaben; z. T. versuchten
sie, das Objekt der Philosophie zu präzisieren: zunächst im Ausgang von
der als Scharfsinn oder Urteilskraft verstandenen philosophischen
Erkenntnisweise, dann im Gegenzug zu W olffs Auffassung der Philoso-
phie als mathematisch exakte Möglichkeitswissenschaft. Dies führte im
Ergebnis zu einer Aufhebung der ursprünglich subjekt- und praxisorien-
tierten Philosophiekonzeption zugunsten einer mehr objekt-und wissen-
schaftsorientierten Definition, die allerdings, ob sie nun von verborgenen
Qualitäten oder beständigen W esenheiten spricht, merkwürdig unscharf
und archaisch wirkt.

b) Endgültiges Wissen

Um 1720 begann Christian Wolff seinen Einfluß zu entfalten. Mit ihm


zog ein neuer mathematischer Geist in die Philosophie ein, der dem Tho-
masianismus fremd war; Philosophie wurde nun in Analogie zur Natur-
wissenschaft verstanden, also primär als scire per causas. Unter dem Ein-
druck der neuen Naturwissenschaft entwickelte sich so eine Tendenz zur
Methodisierung, ja Mathematisierung der Philosophie und damit auch
eine Tendenz, einen enger als bisher definierten Wissenschaftsbegriff auf
die als 'Wissenschaft' verstandene Philosophie anzuwenden. Allerdings
ging es W olff, wie schon den modernen Metaphysikern vor ihm, nicht
um bloß hypothetisches Wissen, sondern um letztbegründetes und
letztbegründendes Prinzipienwissen, um Philosophie als Gesamt- und
Grundwissenschaft und um Wissenschaft als System. Philosophie soll
zwingende theoretische Gewißheit geben und deshalb endlich Wissen-
schaft werden: objective als Inbegriff von erkannten Wahrheiten und
subjective als Fertigkeit, aus evidenten Prinzipien zu beweisen. Dieses
Philosophieverständnis wird von Wolff, vor allem im Discursus praelimi·
naris seiner lateinischen Logik (Philosophia rationalis sive logica 1728,

126
3. Aufl. 1740, Repr. 1983), in zweifacher Hinsicht abgesichert: erstens
durch eine Theorie der verschiedenen Erkenntnisweisen und zweitens
durch eine Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft.
Zunächst unterscheidet er drei Arten oder Stufen der Erkenntnis: die
cognitio historica als bloße Tatsachenerkenntnis, die cognitio mathema-
tica als Größenbestimmung und die cognitio philosophica als Grund-
oder Ursachenwissenschaft. Diese Unterscheidungen sind an sich alt, neu
ist nur ihre Systematisierung zu einer dreifachen oder dreistufigen
Erkenntnis. Die erste Art der Erkenntnis liefert die Basis aller Erkennt-
nis, die zweite soll deren Genauigkeit garantieren; die wahre und höchste
Erkenntnis ist jedoch die philosophische, die auf die causae oder rationes
der Dinge gerichtet ist. Sie ist nicht nur kritisch, "scharfsinnig" oder "ju-
diziös", sondern "gründlich" im präzisen Sinne des Wortes, d. h. sie
negiert nicht die gemeine Erkenntnis (als bloße Meinung zugunsten einer
höheren oder tieferen philosophischen Erkenntnis), sondern versteht sie
positiv als historische Erkenntnis (im Sinne von Erfahrung und Tatsa-
chenfeststellung), um die philosophische auf ihr aufzubauen. Diese an
sich ebenfalls alte (aristotelische) Bestimmung der Philosophie als
Ursachen- oder Prinzipienerkenntnis wird von Wolff dann dahingehend
präzisiert, daß die Philosophie die Erkenntnis alles Möglichen sei. Mit
dieser scheinbar nichtssagenden, weil anscheinend unbestimmten Bestim-
mung des Erkenntnisgegenstandes der Philosophie erhebt W olff einen
universalen Erkenntnisanspruch für die Philosophie und bestimmt deren
Objekt zugleich als das rational Erkennbare, weillogisch bzw. ontolo-
gisch Mögliche. Genauer gesagt geht es nämlich um die möglichen Dinge
als solche, d. h. insofern sie sein können oder insofern sie möglich sind.
"Philosophia est scientia possibilium quatenus esse possunt" (13). Die
Möglichkeit der möglichen Dinge wird dabei als Widerspruchsfreiheit,
also Denkbarkeit, aber auch als Ermöglichung im Sinne von Verursa-
chung erläutert; letztlich scheint es W olff jedoch um die W esensmöglich-
keit der Dinge, das ens qua possibile und das possibile qua tale, zu gehen.
Insofern reicht die Bandbreite der Bestimmung der Philosophie als Mög-
lichkeitswissenschaft (scientia possibilium) auf der Basis der logischen
Möglichkeitsfrage von der empirischen Ursachenwissenschaft bis zur
transzendentalen W esenswissenschaft. Letztlich geht es um die Bedingun-
gen der Möglichkeit von allem Seienden und Nichtseienden überhaupt
und damit im Grunde um Gott als "ratio possibilium". Philosophie als
Universalwissenschaft muß Fundamentalwissenschaft sein, letztlich will
sie absolutes Wissen. Wenn Philosophie aber exaktes und endgültiges
Wissen ist, dann gibt es eigentlich nur eine Philosophie, nämlich die eine

127
inhaltlich wahre Philosophie, und diese besitzt nur Gott selber. Entspre-
chend heißt es im ersten Teil der Theologia naturalis (1736, 2. Aufl. 1741,
Repr. 1981) "Deus est philosophus absolute summus" (§ 268). Für die
Menschen kommt es daher darauf an, soweit wie möglich an diesem gött-
lichen Wissen zu partizipieren: je mehr (prinzipielles) Wissen, desto
mehr Philosophie. Natürlich möchte auch Wolff durch dieses Wissen
zum Glück gelangen, und zwar durch sicheres und umfassendes Wissen,
und er hält dieses, wenn auch in Grenzen, für möglich. Aber seine Philo-
sophiereflexion macht einen nachdrücklichen, vermutlich gegen Thoma-
sius gerichteten Unterschied zwischen einer objektivischen und einer
Subjektivischen Philosophiedefinition, und W olff definiert die Philoso-
phie in erster Linie objective oder systematice, d. h. objektorientiert und
als eine wissenschaftliche Disziplin.
W olff hat bekanntlich zu seiner Zeit eine einzigartige Wirkung ausge-
übt. Er hat die Philosophie, und zwar primär seine eigene, in Deutsch-
land zu einer öffentlichen Macht erhoben und dadurch in alle Lebensbe-
reiche hinein gewirkt. Seine Schüler und Anhänger eroberten bis zur
Jahrhundertmitte eine Universität nach der anderen. Allerdings kann
man den Begriff Wolffianismus enger oder weiter fassen, d. h. man wird
deutlich zwischen Wolffianern strikter Observanz und freieren oder selb-
ständigeren W olffianern unterscheiden müssen. W olffianer in irgendei-
nem engeren Sinn wird man wohl nur solche Philosophen nennen kön-
nen, die nicht nur zentrale Lehrstücke von ihm übernahmen, sondern
auch seinen Anspruch auf eine 'mathematische', d. h. mathematisch
exakte und nach Art der Mathematik methodische Universal- und Fun-
damentalwissenschaft. Insofern ist der Philosophiebegriff der sogenann-
ten Wolffianer, in denen sich ihr jeweiliges Philosophieverständnis
reflektiert, ein nicht unwichtiges Kriterium für ihre jeweilige philosophi-
sche Grundorientierung; und daher ist hier nicht nur allgemein zu fra-
gen, welche Rolle W olffs Methodenprogramm bei seinen Anhängern
und Nachfolgern spielt, sondern auch insbesondere, wieweit seine Theo-
rie der Erkenntnisarten und seine Intention auf eine tendenziell absolute
Möglichkeitswissenschaft übernommen wird. Aus dieser Perspektive
wird sich dann zeigen, daß es unter den bedeutenderen Universitätsleh-
rern der Zeit gar nicht so viele strenge W olffianer gegeben hat, wie man
vielleicht auf den ersten Blick annehmen könnte, oder anders gesagt, daß
Wolff, obwohl er der Philosophie zweifellos zu einem neuen Selbstbe-
wußtsein verholfen hat, mit seinem Philosophiebegriff im engeren Sinn
keineswegs besonders erfolgreich gewesen ist. Läßt man seine frühesten
Schüler (Ludwig Philipp Thümmig und Georg Bernhard Bilfinger)

128
beiseite, weil ihre in diesem Zusammenhang wichtigen Schriften noch vor
der lateinischen Logik Wolffs erschienen sind\ so muß sich das Augen-
merk zunächst auf Johann Nicolaus Frobesius und Johann Peter Reusch,
insbesondere aber auf Friedrich ChristianBaumeister richten, deren Aus-
sagen zum Philosophiebegriff im wesentlichen aus den dreißiger Jahren
datieren. Sie alle haben schon Schwierigkeiten mit W olffs Definition der
Philosophie als Möglichkeitswissenschaft, während die Theorie der
Erkenntnisarten für sie noch relativ unproblematisch zu sein scheint.
Der Helmstedter Johann Nicolaus Frobesius möchte der Wolffschen
Philosophie durch deren tabellarische Darstellung dienen, und zwar aus
der eher traditionellen Perspektive einer Enzyklopädie oder Pansophie
(Systematis pansophici seu encyclopaediae delineatio 1734). Dabei geht er
von der eruditio sive sapientia aus und teilt diese in Historie, Philosophie
und Philologie. Nachdem er dann die "cognitio philosophica (scientia)"
als demonstrative Erkenntnis der Dinge und ihrer Gründe eingeführt
hat, bestimmt er die Philosophie mit W olff als Möglichkeitswissenschaft,
nämlich als Wissenschaft von allen möglichen Dingen, insofern und
warum sie möglich sind, "possibilium quatenus et cur ea possibilia sunt,
aut, si mavis, eorum, quae existunt vel existere possunt scientia" (14, vgl.
8). Ähnlich definiert er auch in seiner Übersicht über W olffs System
(Systematis philosophici Wolffiani delineatio 1734), indem er Wolffs ver-
schiedene Definitionen in drei verschiedenen Ansätzen zusammenfaßt,
die Philosophie als "possiblium, quatenus et cur ea possibilia sunt; aut
si mavis, eorum quae existunt, vel existere possunt; vel denique, eorum
quae vera sunt, quatenus et cur ea vera sunt, scientia" (5). Die letzte Stufe
der Definition weist allerdings wieder auf traditionelle Vorbilder, letzt-
lich auf Aristoteles, zurück. Philosophie ist Erkenntnis (Wissenschaft)
dessen, was wahrhaft ist, insofern es ist und warum es ist, also Ontologie
und Grund- oder Ursachenwissenschaft.

5 Während Ludwig Philipp Thümmig in seinen Institutiones philosophiae Wolf


fianae (1725/26, Repr. 1982) das Problem der Philosophiedefinition vernach-
lässigt, hat Georg Bernhard Bilfinger schon 1722 Wolffs erste Andeutungen
über die verschiedenen Arten oder Stufen der Erkenntnis in einer Dissertation
De triplici rerum cognitione (1722) aufgenommen und damit wohl auch auf
Wolff selbst zurückgewirkt. Die Philosophie untersucht "ex distinctis rerum
ideis" die Gründe (rationes) der Dinge (vgl. 4, 13). Die Definition der Philoso-
phie als Möglichkeitswissenschaft spielt bei beiden Wolff-Schülern keine
Rolle. - Zu den frühen Streitigkeiten um Wolffs Philosophiebegriff vgl.
Johann Friedeich Stiebritz, Erläuterung der vernünftigen Gedanken von den
Kräften des menschlichen Verstandes 1741, Repr. 1977 (46 ff.).

129
An dieser Auffassung der Philosophie als Erkenntnis der letzten
Gründe orientiert sich auch der Jenaer Johann Peter Reusch. In seinem
Systema logicum (1734, 2. Aufl. 1741), das noch im Stile der ortsüblichen,
durch Budde etablierten Eklektik die Regeln der Alten mit denen der
Neuen und beide mit eigenen verknüpfen will, definiert er die philoso-
phische Erkenntnis im Rahmen der Erörterung der "gradus cognitionis"
objective als eine durch Vernunftgründe oder Prinzipien "instruierte"
Erkenntnis der Ursachen dessen, was ist und geschieht (27). Subjective ist
Philosophie die Fertigkeit zu einer solchen Erkenntnis; der Philosoph
kann die Gründe erkennen, warum die Dinge sein können. Diese müssen
natürlich möglich sein, da die Objekte wahrer Erkenntnis widerspruchs-
frei denkbar sein müssen. Darauf laufe auch Wolffs Bestimmung der Phi-
losophie als "scientia possibilium, quatenus esse possunt" hinaus; denn
der Begriff der Wissenschaft schließe den des Beweisens ein, und Bewei-
sen bedeute, die unbezweifelbaren Gründe eines Dinges oder Geschehnis-
ses angeben zu können (30, vgl. 23 ff.). So wird die Möglichkeit teils als
Widerspruchsfreiheit oder Denkbarkeit, teils als zureichender Grund
oder Wirkmöglichkeit (Ermöglichung) interpretiert und damit W olffs
Philosophiedefinition defensiv gerettet, wenn auch schon mit deutlicher
Zurückhaltung.
Auch Friedrich Christian Baumeister, der wohl erfolgreichste Propaga-
tor der Wolffschen Philosophie, der in Jena und Wittenberg studiert
hatte und dann Rektor des Görlitzer Gymnasiums geworden war,
scheint Wolffs Philosophiebegriff nur mit Vorbehalt zu akzeptieren. Im
ersten Teil seiner Philosophia definitiva von 1735 (1775, Repr. 1978), in
der W olffs Definitionen meist wortwörtlich, aber schon ohne Rücksicht
auf die umständliche demonstrative Lehrart zusammengestellt werden,
wird die cognitio philosophica zunächst als "cognitio caussarum" sowie
"cognitio rationis eorum, quae sunt vel fiunt" eingeführt und die Philo-
sophie als "scientia possibilium quatenus esse possunt, siue, cur et quo-
modo sint possibilia" definiert (vgl. 1 f.) Dann aber wird in einer um Ver-
söhnung und Verteidigung bemühten Erläuterung dieser Bestimmung die
Möglichkeit de facto wieder durch die Kausalität ersetzt. Die Philoso-
phie, so Baumeister, erkennt den Grund, warum das, was existiert, so
und nicht anders existiert, d. h. wie es möglich war, daß es so geworden
ist. Daher kann die Philosophie auch als "scientia rerum rationis suffi-
cientis" und der Philosoph als derjenige, "qui rationem reddere potest
eorum, quae sunt vel esse possunt", definiert werden (3, vgl. 237 ff.). Wer
mit dieser Erklärung unzufrieden ist, wird an Ciceros Auffassung der
Philosophie als Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge

130
verwiesen, mit dessen Philosophiedefinition W olff bestens harmoniere,
denn die res divinae et humanae seien nichts anderes als res possibiles
- eindeutig eine um Harmonisierung bemühte Reminiszenz an die
im Jenaer Kreis um Budde verbreitete christlich-stoische Philosophie-
definition.
In seinen "methodo Wolfii" gleichzeitig geschriebenen Institutiones
philosophiae rationalis {1735, 5. Aufl. 1741) geht Baumeister wieder von
der Unterscheidung zwischen historischer, mathematischer und philoso-
phischer Erkenntnis aus und definiert die cognitio philosophica als cogni-
tio causarum sive rationum sowie genauer als cognitio rationis
sufficientis6 • Dann aber erweitert er diese Bestimmungen, ohne auf
W olffs These einer Möglichkeitswissenschaft einzugehen, indem er auf
die Unterscheidung zwischen Philosophie in subjektiver und objektiver
Bedeutung zurückgreift und sich dabei auf den Göttinger Eklektiker
Samuel Christian Hollmann beruft. Subjective oder als persönlicher
Habitus betrachtet ist Philosophie eine Fertigkeit, "rerum vel veritatum
rationes sufficientes et caussas investigandi et perspiciendi" {13); objective
oder systematice betrachtet ist sie eine Wissenschaft oder Lehre, aus blo-
ßer Vernunft sein Glück zu erkennen und zu realisieren. "Philosophiam,
objective et systematice consideratam, definimus cum Cel[eberrimo]
Hollmanno per doctrinam vel scientiam, ratione sola cognitam, qua id,
quod homini, in quocunque statu spectato, ad felicitatem suam promo-
vendam vel sciendum, vel agendum est, distincte traditur" (12, vgl. 2 ff.).
In dieser eudämonistisch-finalistischen Definition schlägt (ausgerechnet
bei Baumeister) deutlich die ältere Tradition durch, während Wolffs
Ansatz schon stillschweigend übergangen wird.
Das Unbehagen selbst treuer Wolffianer an Wolffs Philosophiedefini-
tion bzw. ihr Unverständnis für seine letzten Intentionen ist trotzaller
Rekapitulationen der von ihm geprägten Formulierungen offenkundig,
obwohl gerade die Wolffianer strikter Observanz keine irgendwie bedeu-

Ähnlich definiert Baumeister in seinen Eiementa philosophiae recentioris (1735,


2. Auf!. 1755) Philosophie nur als Erkenntnis der Ursachen oder zureichen-
den Gründe (vgl. 2, 5); auch könne man statt methodus mathematica genauso
gut methodus naturalis, systematica, philosophica usw. sagen (8). - Auch
Johann Andreas Fabricius, dessen Logik von 1733 noch "nach insgemein soge-
nannter Mathematischen lehrart" geschrieben ist, erwähnt die Möglichkeits-
wissenschaft überhaupt nicht. Die Weltweisheit ist für ihn "eine wissenschaft
der dinge nach ihren grundursachen überhaupt", eine Art "allgemeine gelehr-
samkeit", die sowohl von der geoffenbarten Erkenntnis als auch von der
gemeinen und der mathematischen Erkenntnis usw. unterschieden ist ( 6 f.).

131
tenden Philosophen waren. Es bewahrte sie letztlich vor unphilosophi-
schem Nachbeten. Interessanter sind jedoch diejenigen Philosophen, die
sich bei aller Prägung durch die Wolffsche Philosophie auch inhaltlich stär-
ker von ihr zu entfernen beginnen und selbständig neue Gedankenwege
suchen. Beispiele für einen solchen freieren Wolffianismus sind Martin
Knutzen, der Lehrer Kants, und Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen
Werke Kant noch seinen Vorlesungen zugrunde legte. Als sie ihre Werke
verfaßten, waren sowohl W olffs Bestimmung des Gegenstandes der Philo-
sophie als auch seine Ausrichtung der Philosophie nach dem Vorbild der
mathematischen Erkenntnis unter den Wolffianern schon sehr fraglich
geworden. Es wurde auch die Frage aufgeworfen, inwiefern die sogenannte
mathematische Erkenntnis überhaupt eine wissenschaftliche Erkenntnis
im engeren Sinne, d. h. eine Erkenntnis aus Ursachen sei, ja, ob sie über-
haupt eine eigenständige Erkenntnisart sei oder ob sie nicht eigentlich zur
historischen bzw. teils zur historischen und teils zur philosophischen
Erkenntnis gehöre. Dadurch reduziert sich jetzt Wolffs Dreiteilung der
"Grade" der Erkenntnis vielfach wieder auf die klassische Zweiteilung in
historische (gemeine) und philosophische (gelehrte) Erkenntnis7•
Von den Genannten steht Knutzen, obwohl bei ihm auch Einflüsse des
Thomasianismus erkennbar sind, W olff zweifellos am nächsten. Seine
lateinische Logik (Elementa philosophiae rationalis seu logicae 1747) ist
noch mathematica methodo bzw. more geometrico geschrieben, denn
Knutzen hält noch daran fest, daß die philosophische Methode mit der
mathematischen identisch sei, obwohl er - wie schon A. F. Hoffmann
- der Philosophie nun ganz un- bzw. antiwolffianisch nur die Quali-

7
Der Gießener Professor für Metaphysik und Mathematik Andreas Boehm
geht in seiner "ordine scientifica" geschriebenen Logica (1749) vom Begriff
des Grundes aus und unterscheidet die cognitio historica aut vulgaris, die den
Grund der Sache nicht erkennt, und die cognitio philosophica, die die Sache
und zugleich deren Grund erkennt; die cognitio mathematica bleibt in diesem
Zusammenhang unbeachtet. "Est igitur philosophia scientia rationis eorum,
quae sunt, vel fieri possunt" (3). Nur in diesem halben Nebensatz klingt noch
so etwas wie eine Ausdehnung der Philosophie auf alles Mögliche an, die aber
nicht thematisiert wird. Boehms Erläuterungen beziehen sich vielmehr dar-
auf, daß die Philosophie subjective oder objective definiert werden kann,
wobei scientia einmal als habitus demonstrandi, das andere Mal als systema
propositionum demonstratarum aufzufassen ist. Da Beweisen soviel bedeutet
wie "ex principiis per se evidentibus legitimo nexu aliquid deducere", ist nach
Boehm der Zusatz "ratione sola" überflüssig- der Rationalismus hat es nicht
mehr nötig, sich ausdrücklich von der Theologie abzusetzen. Philosophie ist
Wissen - wo kein Wissen ist, da ist auch keine Philosophie (vgl. 2 f.).

132
tätenerkenntnis im Unterschied zur Quantitätenerkenntnis der Mathe-
matik zuweist {vgl. 7, 22). Die Philosophie ist für ihn eine Wissenschaft,
die mit Hilfe der Vernunft den nexus rerum durchschaut und aus den
unbezweifelbaren Grundwahrheiten weitere Wahrheiten ableitet, deren
wir zu unserem Glück bedürfen. Objective betrachtet, als eine Disziplin
unter anderen, enthält die Philosophie die Fundamente aller anderen
Wissenschaften in sich und kann daher "per systema" oder "per comple-
xum scientiarum" definiert werden. Subjective, nämlich als "habitus co-
gnitionis" betrachtet, entspringt sie jener Erkenntnisart, die sich auf die
Ursachen bzw. Gründe der Dinge, letztlich auf den zureichenden Grund
alles Wirklichen und Möglichen richtet. Zu ihrem Materialobjekt gehö-
ren alle möglichen Gegenstände, aber ihr Formalobjekt sind nur die
Ursachen oder vielmehr die Gründe, warum und wie die Dinge gesche-
hen und sein können. Als eine solche Wissenschaft von dem, was sein
oder werden kann, bzw. von den Gründen dessen, was sein und werden
kann, ist sie dann auch eine Wissenschaft vom Möglichen. "Philosophia
est scientia, quae circa rerum causas, vel potius rationes versatur, sive est
scientia possibilium quorumcunque, qua talium, vel quatenus esse pos-
sunt" {4, vgl. 5 ff.). Damit schließt sich Knutzen verbal noch einmal aufs
engste an Wolff an. Philosophie ist als Grund- oder Ursachenwissen-
schaft "mathematische" Möglichkeitswissenschaft. Faktisch hält er sich
jedoch fast ausschließlich an die Definition der Philosophie als Grund-
oder Ursachenwisse.nschaft. Deren Endzweck, der allerdings in ihrer
Definition nicht genannt wird, ist auch für ihn noch Gottes Ehre und die
eigene und fremde Glückseligkeit (vgl.23 f.).
Anders als Knutzen weicht Alexander Gottlieb Baumgarten, der wohl
bekannteste und produktivste Wolffianer, gerade in seinem Philosophie-
begriff konsequent von Wolff ab. Obwohl er die Wissenschaft und damit
die Philosophie noch als exakte Deduktion versteht, möchte er doch die
Mathematisierung der Philosophie vermeiden. Deshalb schließt er sich in
seiner Acroasis logica, die auf Vorlesungen über Wolffs Logik zurückgeht,
aber erst 1761 {Repr. 1983) erschienen ist, mehr noch als Knutzen der
im Thomasianismus defensiv erneuerten Unterscheidung zwischen
Quantitäten- und Qualitätenerkenntnis an und definiert die Philosophie
als eine Erkenntnis der Beschaffenheiten der Dinge, und zwar wie hier
noch einmal betont wird, aus bloßer Vernunft. "Philosophia est scientia
qualitatum in rebus sine fide cognoscendarum" {1). Doch die bei Knut-
zen damit noch unklar verknüpfte Definition der Philosophie als Mög-
lichkeitswissenschaft wird schon stillschweigend fallen gelassen. In seiner
1770 postum erschienenen Philosophia generalis weist Baumgarten dann

133
W olffs Philosophiebegriff ausdrücklich als berüchtigtes Beispiel bloßer
Ignoranz und Neuerungssucht zurück. "Christiano Wolfio quum dicatur
scientia possibilium, qua sunt possibilia, dat exemplum sat celebre,
praeiudicium novitatis quid possit in ignorantibus historiam" (11).
Offensichtlich gibt es im W olffianismus zwei deutlich konvergie-
rende, vermutlich schon im Ursprung verbundene Tendenzen, den
Wolffschen Philosophiebegriff restriktiv zu behandeln. Die eine geht
vom Objekt, die andere von der Methode aus, und beide können sich
auf W olff berufen, erstens insofern dieser die Philosophie nicht nur
als Möglichkeitswissenschaft, sondern auch als Ursachen- und Prinzi-
pienwissenschaft verstanden hatte und zweitens insofern er die mathema-
tische Methode zuletzt mehr oder weniger mit der logischen Präzision
und Deduktion gleichgesetzt hatte. Offensichtlich läßt die Berufung auf
die Mathematik als Vorbild und die Möglichkeit als Gegenstand der
Philosophie nun mehr und mehr nach, bis am Ende W olffs Bestimmun-
gen des Objekts und der Methode der Philosophie nachdrücklich zu-
rückgewiesen werden. Die Auffassung der Philosophie als Erkenntnis
von Beschaffenheiten und die dazu gehörige Beschränkung der Mathema-
tik auf die Erkenntnis von Größen ist ein geradezu anti-wolffisches
Moment innerhalb des Wolffianismus. Diese Loslösung von Wolffs
Grundkonzeption wird sich bei den eklektischen Wolffianern noch fort-
setzen.

c) Eklektik und Popularphilosophie

Auf den ersten Blick scheint die Wolffsche Philosophie bis weit über die
Jahrhundertmitte hinaus die alles beherrschende geistige Macht in
Deutschland zu sein, bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch eine grö-
ßere geistige Vielfalt, als die unvermeidlichen Vereinfachungen der Philo-
sophiehistorie erwarten lassen. Nicht nur gibt es neben den Wolffianern
die aus dem Thomasianismus und Pietismus kommenden Wolff-Gegner,
auch die W olffianer selbst bilden alles andere als einen monolithischen
Block. Gerade in der Auffassung von der Philosophie entwickeln selbst
die treuesten W olffianer sehr bald ein anderes Selbstverständnis als Wolff
selber. Teils versuchen sie, wie schon angedeutet, dessen Idee einer Mög-
lichkeitswissenschaft auf die alte aristotelische Idee einer nicht-
mathematischen Grundwissenschaft (Ursachen- oder Prinzipienwissen-
schaft) zu reduzieren; teils versuchen sie, Wolffs Bestimmungen mit älte-
ren, etwa der stoisch-ciceronianischen Definition oder der besonders bei

134
den Thomasianern beliebten Funktionsdefinition durch den Zweck der
Glückseligkeit, zu verknüpfen bzw. durch diese zu ersetzen. Aufs Ganze
gesehen kann man daher in der Philosophie nach der Jahrhundertmitte,
aber vereinzelt auch schon in den dreißiger Jahren beginnend, eine starke
Tendenz zu einerneuen Eklektik feststellen. Jetzt geht es allerdings nicht
mehr um die Überwindung der Alternative Aristoteles - Descartes, son-
dern um die Vermittlung zwischen Thomasianismus und Wolffianismus,
wobei die Wolffsche Philosophie zweifellos die allgemeinere Ausgangsba-
sis war. Hinzu kommt nun der verstärkte Einfluß der ausländischen Phi-
losophie: der französischen, besonders über Berlin und die Preußische
Akademie, der englischen, besonders über Hamburg, Hannover und
Göttingen. Auch dies mußte zu einer neuen Amalgamierung mit neuen
Problemen führen.
Die Auflösung des Wolffianismus seit der Jahrhundertmitte hatte nicht
nur ihre inhaltlichen, sondern auch ihre formalen Aspekte, wobei die
angestrebte neue Form zweifellos auch Ausdruck eines inhaltlich neuen
Selbstverständnisses war. W olffs Anspruch auf Etablierung einer
Universal- und Fundamentalphilosophie hatte ihren Ausdruck nahezu
unvermeidlich in immer umfangreicheren systematischen Lehrbüchern
gefunden, die alle Gebiete des Denkensund Lebens in logischer Verknüp-
fung abzudecken versuchten. Diese umständliche und weitschweifige
Lehrbuchphilosophie mußte alsbald einen schnell wachsenden Überdruß
erzeugen, ja sich selber unglaubwürdig machen, weil sie sich grundsätz-
lich anmaßen mußte, alles besser zu wissen. So trat schon früh neben und
dann immer mehr an die Stelle dieser schwerfälligen, zudem wieder latei-
nisch gewordenen Schulbuchphilosophie eine auf andere Bedürfnisse
zugeschnittene und z. T. auch aus. anderen (antifundamentalistischen,
eher skeptischen) Überzeugungen entsprungene 'elegantere' Form des
Philosophierens, die sogenannte Popularphilosophie, die dann das gei-
stige Gepräge der Philosophie bis weit in die achtziger Jahre des Jahrhun-
derts bestimmte. Allerdings deckte der Terminus Popularphilosophie
schon damals eine ganze Reihe höchst unterschiedlicher Phänomene ab:
z. B. Thomasius' frühes Bemühen um eine Weltweisheit für jedermann,
das schon zu seiner Zeit auf gewisse Grenzen stieß; dann die verschiede-
nen Versuche, Wolffs Philosophie in allgemeinverständlichen Zusam-
menfassungen zu popularisieren, d. h. im Sinne W olffs, aber nicht nach
seiner "Lehrart" zu schreiben; und dann, meist auf der Basis einerneuen
Eklektik, die vielen späteren Versuche, Philosophie von vornherein
ebenso klar wie einfach, möglichst aber auch gefällig, darzustellen. Diese
in sich noch zu differenzierende Phase, die z. T. bis zum Ende des Jahr-

135
hunderts dauerte und gegen die sich dann Kant und viele andere wandten,
könnte man Popularphilosophie im engeren Sinn nennen.
Hier kann es allerdings nicht darum gehen, diese noch sehr wenig
erforschte postwolffianische oder präkantianische Phase der Philosophie
auch nur in ihren Grundzügen zu erhellen; es muß dabei bleiben, im
Hinblick auf den Philosophiebegriff in loser Folge und Gruppierung
einige wichtige Positionen zu skizzieren. Zu diesem Zweck sei zunächst
an zwei Philosophen erinnert, die mehr unter dem Einfluß des Thoma-
sianismus standen, Hollmann und Zimmermann, sowie an zwei Philoso-
phen, die mehr unter dem Einfluß von W olff standen, Gottsched und
Ahlwardt. Sie entwickelten zwar unterschiedliche Philosophien, in
ihrem Philosophieverständnis aber konvergierten sie in einem unerwar-
teten Ausmaß. Auch darin zeigt sich, daß die neue Eklektik schon zu
W olffs Blütezeit beginnt.
Samuel Christian Hollmann war zuerst Professor in Wittenberg und
wurde 1737 der erste Philosophieprofessor der neuen Universität Göttin-
gen, wo er bis 1784 lehrte. Ursprünglich einer eher traditionellen Meta-
physik zugetan, wandte er sich später den modernen Naturwissenschaf-
ten zu. Seine Institutiones philosophicae (1727) bekennen sich noch wie die
Frühaufklärung ausdrücklich zur Eklektik, und seine Philosophiedefini-
tion knüpft an Thomasius' Philosophia aulica und Buddes Eiementa an.
Auch nach seinem Verständnis ist die Philosophie eine Wissenschaft von
den göttlichen und menschlichen Dingen, unter Führung der richtigen
Vernunft entstanden, um den oberen Fakultäten bei der Erreichung und
Beförderung der menschlichen Glückseligkeit behilflich zu sein: "scientia
rerum divinarum humanarumque, ductu rectae rationis comparata, facul-
tates superiores in acquirenda, vel promovenda, vera hominis felicitate
plurimum iuvans" (7). Hollmann versteht also die Philosophie noch
betont als Hilfswissenschaft der ganz auf Praxis ausgerichteten Hauptwis-
senschaften. Das Selbstbewußtsein W olffs, für den die Philosophie die
einzig wahre Wissenschaft ist, scheint ihm noch völlig fremd zu sein.
Der Jenaer Johann Liborius Zimmermann (Natürliche Erkenntnis Got·
tes, der Welt und des Menschen 1730) bekämpft schon mit Nachdruck die
W olffsche Philosophie, z. B. durch seine Kritik an der Gleichsetzung von
synthetischer und mathematischer Methode (vgl. Vorrede, 31 u. ö.). Aus-
drücklich wendet er sich auch gegen Wolffs Philosophiebegriff. "Noch
weniger kan man sagen, daß in der Weltweisheit alles, was nur möglich,
erkannt werden solle: oder es würde Gott und ein Weltweiser, ia auch
Weltweisheit und Allwissenheit nur dem Nahmen nach unterschieden
seyn. Zudem ist alles mögliche zu wissen, dem Menschen unnöthig,

136
ia unmöglich; und es ist niemals dergleichen Weltweiser aufgestanden.
Man würde endlich auch alle übrige Gelehrsamkeit mit der Weltweisheit
vermischen, die ia nicht weniger von möglichen Dingen handelt"(6).
Zimmermann geht noch oder schon wieder von der religiös eudämonisti-
schen Zielsetzung der Philosophie aus und entwickelt die christlich-
stoische Philosophiedefinition dadurch weiter, daß er - ähnlich wie
schon Rüdiger auf die Zwecke des Menschen gesehen hatte- nun nach
der Bestimmung des Menschen und der dafür nötigen Erkenntnis fragt.
"Endzweck" des Menschen ist die eigene Glückseligkeit und die damit
verknüpfte Verherrlichung Gottes. "Diesem nach ist die Weltweisheit
eine Erkentniß nöthiger und nützlicher Dinge aus Betrachtung der
Sachen selbst zur Ehre Gottes und des Menschen Glückseligkeit" (7, vgl.
4 f.). Die eudämonistisch-finalistische Definition der Philosophie offen-
bart sich hier in aller Klarheit als eine teleologische. Allerdings erreicht
die Weltweisheit ihr durch Gott vorgegebenes Ziel nicht mehr, weil der
Mensch nicht mehr im Zustand der Vollkommenheit lebt. "So liegt auch
der Grund, warum man itzt durch die Weltweisheit nicht selig werden
kan, nicht in ihr selbst; sondern in des Menschen Verderben" (12 f.). Die
Vernunft ist so "verfinstert", daß auch die "Cultur des Verstandes"
durch eine "gesunde Philosophie" nicht mehr ausreicht, um die "Resti-
tution der Welt" allein ins Werk zu setzen (vgl. 14 ff.). Kurz, die Mensch-
heit bedarf des Bündnisses von Glaube und Aufklärung. Die Philosophie
hilft, die Bestimmung des Menschen, seinen vorgegebenen Endzweck, zu
realisieren. Auch hier gründet die Teleologie in der Theologie, und diese
muß jener notfalls zu Hilfe kommen.
Auch die 'Wolffianer' unter den Eklektikern orientieren sich statt am
Gegenstand der Philosophie wieder stärker an deren Ziel, an der Glück-
seligkeit des Philosophierenden. An den Anfang dieser neuen, von Wolff
beeinflußten Eklektik, die zur Popularität und daher auch wieder zur
deutschen Sprache tendiert, darf man wohl mit Recht Johann Christoph
Gottsched stellen. Gottsched schloß sich nach einigem Schwanken der
W olffschen Philosophie an, hatte aber noch oder schon wieder eine ganz
andere Auffassung von Philosophie. Seine deutschsprachige Einführung
in die Philosophie (Erste Gründe der gesamten Weltweisheit I, 1733,
7. Aufl. 1762, Repr. 1983) unterscheidet sich von Wolff nicht nur durch
die Absicht auf Popularität, sondern auch durch eine auf Leibniz zurück-
gehende, sich aber erstaunlicherweise sogar auf Augustin beziehende Phi-
losophiedefinition, während Thomasius nicht mehr genannt wird. "Die
Weltweisheit nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des
Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maaße unserer Unvollkommen-

137
heit in dieser Welt, erlangen und ausüben können" (101 f.). Die Beto-
nung der menschlichen Begrenztheit ist hier wohl schon gegen W olffs
Intention auf absolutes Wissen gerichtet. Vor allem aber ist Philosophie
für Gottsched ganz auf den praktischen Zweck der Erlangung der Glück-
seligkeit bezogen; das Glück wird geradezu zum Hauptgegenstand der
Philosophie. Diese ist daher auch eine "ganz geschäfftige und thätige
Wissenschaft" (102), die jedem jederzeit gerade auch im Alltag möglich
ist und die auf der "Aufklärung unsers Verstandes" beruht (vgl. 103,
106). Philosophie ist Weltweisheit, d. h. Philosophie in der Welt und für
die Welt.
Für Peter Ahlwardt, der in Greifswald lehrte und dessen Logik (Gedan·
ken von den Kräften des menschlichen Verstandes 1741) dem Titel nach
deutlich an Wolff anknüpft, ist die Philosophie allerdings auch noch reli-
giös definiert; ihr Ziel ist, wie es mit der klassischen Formel heißt, die
Ehre Gottes und das Glück der Menschen, wobei die Ehre Gottes der
letzte Endzweck des Menschen ist, aus dem das Glück resultiert. Sie ist
eine Gelehrsamkeit oder vielmehr die Gelehrsamkeit schlechthin. Ahl-
wardt unterscheidet auch nicht mehr wie W olff drei Arten oder Stufen
der Erkenntnis, sondern eher traditionell, wie es nun in der Folge wieder
üblich wird, eine historische oder gemeine Erkenntnis einerseits und eine
gelehrte oder philosophische Erkenntnis andererseits. Zu dieser gehört
auch die mathematische, insofern die Erkenntnis des wahren Grundes
auch eine Erkenntnis der Größe impliziert oder voraussetzt. Diese
gelehrte Erkenntnis, zu der es der Vernunft und der Urteilskraft bedarf,
ist gründlich, d. h. sie erkennt, wie es nun heißt, den Grund einer Sache
"aus vorhergegangenen Begriffen". "Die Gelehrsamkeit also oder Philo-
sophie ist demnach eine Erkenntniß der Dinge . . . so gründlich ist und
ein Nachdenken erfordert ... ; damit wir dadurch besser als durch die
gemeine Erkenntniß die Ehre Gottes und der Menschen Glückseeligkeit
befördern können" (14 f., vgl. 5 ff.). Die Philosophie macht den Men-
schen also fromm und gut, und zwar (wie bei Rüdiger) besser, als der All-
tagsverstand es kann. Ein Philosoph als solcher kann gar nicht sündigen;
er ist immer vergnügt und zufrieden - allerdings nur als Philosoph,
nicht insofern er auch ein ganz normaler Mensch ist. Faktisch können
nämlich nicht alle Menschen Philosophen, und die Philosophen nicht
nur Philosophen sein. Aber die unvermeidbare Arbeitsteilung sollte doch
so eingerichtet sein, "daß einieder die Grund-Wahrheiten und wichtig-
sten Dinge vor sich selbst gründlich erkennen möge" (12). Am besten
wäre es, wenn alle Menschen wenigstens ein wenig gelehrt, d. h. Philoso-
phen, wären. Ohne also die gesellschaftliche Arbeitsteilung als solche in

138
Frage zu stellen, fordert Ahlwardt wie schon Thomasius Aufklärung und
Selbstdenken für jedermann 8•
Die Übereinstimmungen zwischen Hallmann und Zimmermann einer-
seits und Gottsched und Ahlwardt andererseits sind trotz ihrer verschie-
denen Herkunft ganz unverkennbar. Ein mehr oder weniger religiös
gefärbter Eudämonismus, der aber auch ungeniert seine irdischen Absich-
ten erkennen läßt, schlägt bis in die Definition der Philosophie durch. Es
geht betontermaßen um das Glück des Menschen, z. T. aber auch noch
um die Ehre Gottes. Der Gegenstand der Philosophie jedoch wird wieder
unbestimmt mit "die Dinge" oder "die göttlichen und menschlichen
Dinge" umschrieben, vor allem aber als die Dinge, soweit wir sie erken-
nen können, die nötigen und nützlichen Dinge. Hier bahnt sich deutlich
ein neuer 'Pragmatismus' an. In ihm geht es wieder einmal um die Besin-
nung auf die menschlichen Zwecke und ein menschliches Maß und damit
um die Erkenntnis des Wesentlichen im Gegensatz zum bloßen Vielwis-
sen. Philosophie als Aufklärung wird, wie man das dann in der Spätauf-
klärung nannte, zur richtigen Erkenntnis der wesentlichen Bedürfnisse.
Aufs Ganze gesehen lassen die Formulierungen dieses Philosophiebe-
griffs allerdings mehr Reminiszenzen als Innovationen erkennen. Die
eigentliche inhaltliche Transformation der Philosophie und damit die
Konstitution eines neuen Typs von Philosophie aufgrund einer neuen
Eklektik erfolgte erst später, etwa seit den fünfziger Jahren des 18. Jahr-
hunderts. Hier haben- z. T. vor Reimarus und Mendelssohn- Darjes
und Eschenbach eine wichtige Rolle gespielt, und zwar im Rahmen der
wissenschaftlich gemeinten Philosophie, während andere wie Georg
Friedrich Meier eher an einerneuen Philosophie für die Welt interessiert
waren.
Joachim Georg Darjes, der in Jena begann und dann nach Frankfurt an
der Oder ging, hat unter dem Eindruck der Philosophie W olffs zu

In seiner Einleitung in die Philosophie (1752) unterscheidet Ahlwardt zunächst


zwischen gemeiner oder historischer Erkenntnis einerseits und gelehrter oder
philosophischer Erkenntnis andererseits und schließt dabei mit Nachdruck
die sogenannte mathematische Erkenntnis aus dieser Grundeinteilung aus.
"Die Gelehrsamkeit und Philosophie ist . . . eine Erkenntniß der Dinge ... ,
welche gründlich ist ... und also durch die Vernunft erlanget werden muß
... ; damit man um so viel besser seinen lezten Absichten ein Genüge leisten
möge" (3 f.). Diese letzten Absichten, also die Endzwecke des Menschen, sind
die Beförderung der Ehre Gottes und der damit verknüpften eigenen Glück-
seligkeit. "Niemand kann also weiter an den großen Nutzen der Philosophie
zweifeln; Es müssen auch alle Menschen ihre Verbindlichkeit, jedoch nach
ihren Umständen, zur Philosophie offenbar erkennen" (4).

139
philosophieren begonnen. Seine frühe Logik (Die lehrende Vernunftkunst
1737) will sich eng an Wolff anschließen und sich der vollkommenen
mathematischen Lehrart bedienen. Aber die Vorrede dieser schon betont
praktischen Logik ist ganz im Geist des Thomasianismus auf die Not-
wendigkeit des Selbstdenkens abgestellt, wobei die Logik als die Kunst
dieses Selbstdenkens verstanden wird. In diesem Sinn versucht Darjes,
der sich selbst stolz für einen solchen Selbstdenker hält, gleich zu Beginn
seiner Ausführungen bei der Erörterung des Philosophiebegriffs W olffs
Systematik noch zu überbieten. Er beginnt seine Abhandlung mit der
Definition des Möglichen als des Widerspruchsfreien. Wenn das Mögli-
che aber wirklich werden soll, so muß noch etwas hinzukommen, ein
Grund der Wirklichkeit, aus dem diese als solche begriffen werden kann
(vgl. § 1 ff.). Damit ist der Weg zur Definition der Philosophie als Ursa-
chenerkenntnis gebahnt, zumal Darjes hier noch wie W olff drei Arten
der Erkenntnis unterscheidet und die philosophische als Erkenntnis der
Gründe der Dinge erklärt. Die Gründe oder Ursachen der Dinge aber
sind, wie er hinzufügt, nur aus dem Zusammenhang der Dinge bzw. der
Wahrheiten zu erkennen (vgl. § 1 ff.). Auf dieser Basis erfolgt dann
unvermittelt die Definition der Philosophie als (partikular) gewisse Wis-
senschaft vom Möglichen oder den möglichen Dingen - ohne klare
Unterscheidung zwischen den Gründen der Wirklichkeit und den Grün-
den der als Denkbarkeit definierten Möglichkeit. "Die Wissenschaft von
den möglichen [Dingen] heisset die Philosophie; ... Folglich müssen in
der Philosophie die Gründe der Dinge demonstriret werden ... , und
ein Philosoph muß von den möglichen Dingen die Gründe zeigen"(§ 20).
Außerdem muß (ähnlich wie schon bei Wolff) die gesamte Einteilung der
Philosophie in Disziplinen aus den verschiedenen Arten der möglichen
Dinge hergeleitet werden, wobei sich zeigt, daß nur die Ontologie oder
Grundwissenschaft "von demjenigen, was durch die Dinge überhaupt
möglich ist, handelt" (§ 26).
Darjes' Verhältnis zu Wolff scheint sich ziemlich schnell gelockert zu
haben. Seine Neufassung der Logik (Via ad veritatem 1755) will auf die
mathematische Methode verzichten und sich trotz des Gebrauchs der
lateinischen Sprache einer angenehmen, didaktischen Lehrart bedienen.
Zwar hält er im Hinblick auf die Einteilung der Philosophie an der Idee
einer Einteilung der Arten des Möglichen fest. Aber die Philosophie ist
nun primär weder Möglichkeits- noch Ursachenwissenschaft, sondern
Begriffs- oder Wesenswissenschaft. Darjes geht jetzt wieder - wie die
Frühaufklärung- im "Prooemium" seiner Logik von der Gelehrtheit
aus, deren oberste Stufe die philosophische Gelehrtheit ist, auf der wir

140
den "nexus veritatum ... ex rerum notionibus" erkennen (§IV). Erst
durch eine zweite Bestimmung des Objekts der Philosophie, durch die
deren Einteilung in verschiedene Disziplinen begründet werden soll,
kommt auch das Mögliche wieder in den Blick, das als das Mögliche
schlechthin Gegenstand der ersten Philosophie ist: "obiectum illud aut
est possibile, qua tale, aut possibile magis determinatum. Illud dat philo-
sophiam primam, quae est scientia de iis, quae per notionem possibilis,
qua talis, possibilia sunt" (§ VI). Doch nimmt Darjes auf diese Bestim-
mung faktisch selber keine Rücksicht und bestimmt die Philosophie nun
geradezu scholastisch als Erkenntnis der Dinge aus ihrem Wesen ("natura
atque essentia") bzw. aus den dem Wesen entsprechenden "apriorischen"
Begriffen (vgl. 25 ff.). Ähnlich heißt es dann in der erweiterten deutschen
Fassung (Weg zur Wahrheit 1776), nur der gründliche Gelehrte besitze die
Fertigkeit, Wahrheiten in und aus ihrem Zusammenhang zu erkennen,
und diese Fertigkeit werde philosophisch genannt, "wenn sie sich in dem
Begriffe der Dinge gründet. Denn philosophiren bedeutet nichts anders,
als die Eigenschaften der Dinge aus ihren Begriffen erkennen" (4, vgl. 56).
Darjes scheint die Philosophie jetzt als eine auf Erfahrung beruhende
Wesenswissenschaft zu verstehen. Aber da das Wesen einer Sache deren
Eigenschaften bestimmt oder doch ermöglicht, kommt es auf diesem
Weg auch wieder zu einer Annäherung an die Philosophie als Möglich-
keitswissenschaft. Die Philosophie handelt nämlich als philosophia
prima über "das mögliche, in wie weit es möglich ist", ansonsten in ihren
übrigen Teilen aber über "das mögliche inwiefern es in einer genaueren
Bestimmung betrachtet wird" (6). Dennoch bleibt die neue Distanz zu
W olff deutlich. So tritt, wie schon bei anderen vor ihm, bei der Erörte-
rung des Erkenntnisbegriffs an die Stelle der W olffschen Dreiteilung in
historische, philosophische und mathematische Erkenntnis nun wieder
die alte Zweiteilung zwischen historischer und philosophischer Erkennt-
nis. Die sogenannte cognitio mathematica hingegen gehört bei Darjes,
wie schon in der Via ad veritatem, teils zur historischen teils zur philoso-
phischen Erkenntnis, die vermittels der Begriffe auf das Wesen der Dinge
geht (4). Daneben tritt als eine Art Mischform die cognitio historica phi-
losophica, die - als Ursachenerkenntnis der nichtphilosophischen Wis-
senschaften - der philosophischen analog ist.
Mit seiner Anwendung des Möglichkeitsprinzips auf die Einteilung der
Philosophie steht Darjes zu seiner Zeit schon so gut wie allein. Sein Schü-
ler Johann Christian Eschenbach (Logik oder Denkungswissenschaft 1756)
versteht die Philosophie schlicht als Wissenschaft von den Gründen, aber
auch den inneren Beschaffenheiten der "vornehmsten" Dinge. "Ein

141
Philosoph beschäftigt sich (wie der durchgängige Redegebrauch erweiset)
mit Betrachtung solcher Dinge, die die blasse sich selbst gelassene
menschliche Vernunft erkennt; er sucht die Gründe und Uhrsachen auf,
wie und warum ihnen dies, was er an ihnen wahrnimt, zukamt, und
beweiset das was er ihnen beilegt, aus Grundsätzen die die blasse gesunde
Vernunft begreift; er hat dabei die Absicht, seine Erkäntniß zu verbes-
sern und seine Glückseligkeit zu befördern; insoweit die blasse Vernunft
anlaß dazu gibt" (5, vgl. 16). Aus dieser Perspektive kritisiert er Wolffs
Definition, weil sie die Beschränkung auf die bloße, auf Erfahrung basie-
rende Vernunft unterschlagen habe. Außerdem sei sie nicht neu; denn
weil ens und possibile laut W olff einerlei seien, wofür die Deutsche Meta-
physik(§ 16) zitiert wird, laufe die Bestimmung "scientia possibilium qua-
tenus possibilia sunt" auf die alte Definition "cognitio entium quatenus
entia sunt" hinaus (vgl. 6 f.r. Eschenbach geht es allerdings, trotzseiner
Verteidigung der spekulativen Philosophie gegen vordergründige Vor-
würfe, weniger um letzte metaphysische Wahrheiten als vielmehr um
eine praktikable Lebensphilosophie. Der Philosoph strebt primär
danach, sich glücklich zu machen, wobei ihm seine Erkenntnisse alsbald
zeigen, daß er die Pflicht hat, "ein nützliches Mittglied der menschlichen
Gesellschaft" zu werden; die Erkenntnisse der Philosophie sind nämlich
von der Art, daß sie "verständige, arbeitsame, geruhige und reiche Mit-
glieder" der Gesellschaft bilden (vgl. 17 f.). Hier schlägt ein schon fast
naiver bürgerlicher Eudämonismus bis in die Selbstbestimmung der Phi-
losophie durch.
Um die Jahrhundertmitte nähert sich die akademische Philosophie der
Popularphilosophie (in dem zwar sachlich unbestimmten, historisch aber

Auch in der Frage der Methode geht Eschenbach betont auf Distanz zu Wolff.
Die Philosophie muß zwar demonstrativisch vorgetragen werden, nämlich in
dem Sinn, daß sie aus Grundsätzen hergeleitet werden muß, die aus bloßer
Vernunft begreiflich sind. Aber die demonstrativische Lehrart kann analy-
tisch oder synthetisch sein, wohin auch die sogenannte mathematische
Methode zu rechnen ist, die allerdings "eine recht elende Methode" ist, wenn
man sie auf andere Wissenschaften anwendet (13). Da analytische und synthe-
tische Lehrart letztlich doch einerlei sind, ist es im Grunde gleichgültig oder
willkürlich, ob man analytisch oder synthetisch vorgeht. "Indessen, weil es
heutigs tags so eingeführt ist, und nicht zu läugnen steht, daß die synthetische
im Vortrag einigen Vortheil habe (so wie die analytische in Entwickelung und
dem Entwurff der Gedancken), wie die Erfahrung lehrt; so ists besser, daß die
Philosophie in der synthetisch-demonstrativischen Lehrart vorgetragen
werde" (14, vgl. 11 ff.). Allerdings ist es "ein wenig zu groß gesprochen",
wenn man mit Wolff diese Lehrart die göttliche nennt (14, vgl. 11 ff.).

142
engen Sinn des Wortes). Es ist eine Philosophie, die teils die Schulphilo-
sophie, insbesondere die W olffsche, nachträglich zu popularisieren ver-
sucht, teils von vornherein (unter Vermeidung metaphysischer Prinzi-
pienfragen und methodischer Pedanterie) klar und einfach zu denken ver-
sucht. Obwohl noch stark unter dem Eindruck der W olffschen Philoso-
phie, versucht sie doch, diese unter Ignorierung ihres Absolutheitsan-
spruches zu vereinfachen und so die Wissenschaft dem alltäglichen Leben
anzunähern; sie ist wieder unmittelbarer praxisorientiert. Inhaltlich neigt
sie zu einer neuen Eklektik, formal zu einer gewissen modischen Gefäl-
ligkeit und vor allem zu einer biederen Allgemeinverständlichkeit. Dabei
gehen rein didaktische und neue philosophische Intentionen eine kaum
noch aufzulösende Verbindung ein. Die Popularphilosophie möchte eine
Philosophie der gesunden Vernunft sein, und dieser Begriff hat nun einen
deutlich antiakademischen und antiwolffschen Beiklang. Gesunde Ver-
nunft ist zwar immer auch richtige Vernunft, aber weniger recta ratio im
Sinne eines apriorischen Prinzipienvermögens als vielmehr bon sens im
Sinne von unverdorbener Urteilskraft, dann aber auch gemeiner Men-
schenverstand (common sense), ja sogar Alltagsvernunft. Die bekannte-
sten frühen Beispiele dieser in sich noch sehr differenzierten Richtung
dürften Meier, Reimarus und Mendelssohn sein, die sozusagen zur Grün-
dergeneration der Popularphilosophie gehören 10 • Bei allen dreien kom-
10 Der Göttinger Johann August Ernesti, der einer der Mitbegründer der Popu-
larphilosophie in Deutschland ist, unterscheidet in seinen Initia doctrinae soli-
dioris (1736, 4. Auf!. 1758} zunächst zwischen historischer Erkenntnis als
Tatsachen- und philosophischer Erkenntnis als Ursachenerkenntnis und defi-
niert die Philosophie entsprechend als "cognitio rerum, quae sunt, vel fiunt,
rationumque, cur sint, vel fiant, vel, cur esse, fierive possint" (3}. Dann aber
warnt er, offensichtlich gegen Wolff gerichtet, die Grenzen der Philosophie
nicht über deren dignitas und bisherigen usus hinaus zu erweitern, "quod
facere videntur ii, qui philosophiam omnium rerum possiblilium scientiam
interpretantur" (3}. Auch die Alten hätten, als sie die Philosophie eine Wis-
senschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen nannten, damit nicht
schlechterdings alles zum Gegenstand der Philosophie machen wollen, son-
dern nur das, was am meisten zum Glück des Menschen beitrage, bzw. das,
was wegen seiner Größe oder Dunkelheit der Erkenntnis eines freien Mannes,
"hominis liberalis", besonders würdig sei. So will auch Ernesti, unter Beru-
fung auf antike Kriterien, die Weisheit auf das wesentliche Wissen beschrän-
ken und alles, was "propter rerum ipsarum tenuitatem humilitatemve" nicht
wissenswert ist, aus der Philosophie ausschließen (vgl. 3}. Mit anderen Wor-
ten, auch er warnt vor bloßer Vielwisserei als schlechter Kopie der göttlichen
Allwissenheit, aber nicht, indem er von den existentiellen Bedürfnissen oder
wesentlichen Zwecken des denkenden Menschen her, sondern indem er vom
Wert des Erkenntnisgegenstandes her argumentiert.

143
men auch, durch die Absetzung von Wolff, wieder Momente der Früh-
aufklärung zum Durchbruch. Jedenfalls stehen sie mit ihrer Absicht auf
Popularphilosophie dem unvermeidlich elitären Anspruch der betont
wissenschaftlichen Philosophie W olffs schon sehr fern, auch wenn sie
Grundzüge und Inhalte seines Systems übernehmen.
Georg Friedrich Meier (Vernunft/ehre 1752, 2. Aufl. 1762) schließt sich
mit seiner Philosophiedefinition aufs engste an seinen Lehrer Baumgar-
ten an, der sich seinerseits schon an Rüdiger bzw. Hoffmann orientiert
hatte. Philosophie ist für Meier "eine Wissenschaft der allgemeinem
Beschaffenheiten der Dinge, in so ferne dieselben ohne Glauben können
erkant werden", oder, wie es in einer gewissen Anpassung an Wolff
heißt, eine Wissenschaft, die "nicht nur allgemeinere Beschaffenheiten
der möglichen Dinge abhandelt, sondern auch aus blassen Grundsätzen
der gesunden Vernunft" (vgl. 10 f.). Faktisch dient diese Definition, die
sich von der Baumgartens nur durch die Betonung der Allgemeinheit der
Gegenstände der Philosophie unterscheidet, dazu, die Philosophie für die
Welt zu öffnen und sie auch "Damen und Kavalieren" zugänglich zu
machen. Meier möchte auch in der Philosophie das Angenehme mit dem
Nützlichen verbunden sehen.
Samuel Reimarus (Vernunft/ehre 1756, Repr. 1979) übernimmt zwar
Wolffs Unterscheidung zwischen drei Arten der Erkenntnis, macht dar-
aus aber, durch Einfügung einer natürlichen Philosophie aus gesunder
Vernunft, an der er offensichtlich interessiert ist, vier "Hauptstufen" der
Erkenntnis: historische Erkenntnis, natürliche Weltweisheit (Philoso-
phie du bon sens), philosophische oder gelehrte Erkenntnis und mathe-
matische Erkenntnis. Faktisch beschränkt er sich auf eine verständlich
vermittelte Schulphilosophie. Vor allem aber läßt er die Absicht auf
Erkenntnis aller möglichen Dinge fallen. Die Philosophie geht nur auf
die (theoretischen und praktischen) "Hauptwahrheiten", nämlich auf
diejenigen Wahrheiten, die für die Glückseligkeit wichtig, d. h. existen-
tiell relevant sind. Philosophie ist also eine "Wissenschaft aller beträchtli-
chen und sittlichen Hauptwahrheiten, die in der Menschen Glückselig-
keit einschlagen" (13). Sie ist eine Erkenntnis des Wahren und Guten,
wie es schon bei Thomasius geheißen hatte, und zwar aus gesunder Ver-
nunft; denn sie soll, wie es nun im Anklang an die Common-sense-
Philosophie heißt, "aus der gesunden Vernunft deutlichen Grund und
zusammenhangenden Beweis von allen Sätzen geben" (14). Aus dieser
Perspektive läßt Reimarus nicht nur Ciceros Rede von der Philosophie
als Betrachtung der menschlichen und göttlichen Dinge, sondern auch
W olffs Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft gelten.

144
"Wenn in neuererZeitdie Weltweisheit als eine Wissenschaft des Mögli-
chen so ferne es möglich ist, angegeben worden: so ist wohl auf den allge-
meinen Grund alles Seyns und aller Erkenntnis gesehen, welcher freylich
alle göttlichen und menschlichen Dinge, oder alle beträchtliche und thä-
tige Wahrheiten, in sich fasset" (14). Reimarus' Ziel ist jedoch nicht abso-
lutes Wissen, sondern allein Erkenntnis der lebenswichtigen Hauptwahr-
heiten.
Während Reimarus als Professor am Akademischen Gymnasium in
Harnburg ein um Verständlichkeit bemühtes Lehrbuch schreibt, steht
Moses Mendelssohn als Autodidakt und freier Schriftsteller, der er als
Jude nolens volens sein mußte, nicht unter solchem Systemzwang. Das
bestimmt nicht nur die äußere Form seines Philosophierens. Obwohl
von Wolff beeinflußt, ist doch u. a. seine Auffassung von Philosophie
eine ganz andere. Zwar hält er zunächst an dem Wissenschaftscharakter
der Philosophie und an der Verknüpfung von Philosophie und Mathema-
tik fest Gedenfalls solange es noch keine philosophische ars characteristica
gibt). Aber, indem er die Philosophie, wie schon Rüdiger und andere,
betont auf die Erkenntnis von Beschaffenheiten ausrichtet, im Gegensatz
zu der Größen (Quantitäten) erkennenden Mathematik, lockert er auch
wieder den Anspruch der Philosophie auf eine Wissenschaftlichkeit nach
Art der Mathematik. Daraus ergibt sich in seiner Abhandlung über die
Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften von 1764 (Schriften II, 1931)
eine etwas gewundene Beschreibung der Philosophie. "Die Mathematik
ist eine Wissenschaft der Grössen (Quantitatum), und die Weltweisheit
überhaupt eine Wissenschaft der Beschaffenheiten (Qualitatum) der
Dinge. Will man nicht eingestehen, daß die Weltweisheit das leiste, was
von einer Wissenschaft gefordert wird; so setze man, die Weltweisheit ist
eine auf Vernunft gegründete Erkenntnis der Beschaffenheiten" (286).
Offensichtlich kennt Mendelssohn schon massive Zweifel am Wissen-
schaftscharakter der Philosophie und läßt diese als berechtigt zu, obwohl
er selbst, zumindest hier, anscheinend noch auf eine wissenschaftliche
Philosophie hofft. Darin zeigt sich die kritische Situation der Philoso-
phie, aus der heraus Kam seine Kritik der reinen Vernunft schreibt.
In den siebziger Jahren geht die Philosophie der deutschen Aufklärung
mehr und mehr in Popularphilosophie über (im guten, aber nun auch
mehr und mehr im schlechten Sinn des Wortes). Verständlichkeit
beginnt vor Gründlichkeit zu rangieren, die Philosophie wird, wie schon
die Zeitgenossen klagen, "seicht". Dem entspricht eine ganz neue U nsi-
cherheit, was eigentlich Philosophie sei. Indem die Philosophie, wie
schon bei Mendelssohn offenkundig, unter Verlust ihres eigenen Wissen-

145
schaftsanspruchs mit dem neuen Wissenschaftsanspruch der modernen
Wissenschaften konfrontiert wird, gerät ihr ohnehin instabiler geistiger
Führungsanspruch in Gefahr; moderne Wissenschaft und überlieferte
Religion versuchen, sich ihr Gebiet neu zu teilen. Die Popularphiloso-
phie aber wird zu bloßer Lebensweisheit oder "Lebensphilosophie", wie
man nun zu sagen beginnt. Der Philosophiebegriff verliert dabei mehr
und mehr an Bestimmtheit. Doch gab es natürlich immer auch gegenläu-
fige Tendenzen zu einer wissenschaftlichen Philosophie, und folglich
(wie bei Lambert und Ploucquet) Versuche, die Philosophie als Wissen-
schaft zu erneuern. Auch Kants Neuansatz ist aus diesem Kontext heraus
zu verstehen.

d) Selbstverständigung und V erselbständigung

Die Frage nach dem Selbstverständnis einer Philosophie kann zu Recht


bei dem durch diese Philosophie formulierten Philosophiebegriff anset-
zen, er ist immerhin der sozusagen offizielle Ausdruck des Versuchs der
Selbstverständigung bzw. der Selbstbestimmung (im Sinne von Autono-
mie und Autodetermination). Aber diese Selbstdefinition muß auch aus
vielen Gründen mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden, denn
man kann keineswegs davon ausgehen, daß die angebotene Formulierung
eines Philosophiebegriffs in jedem Falle der Philosophie, die hier die Phi-
losophie im allgemeinen und damit sich selbst im besonderen zu bestim-
men versucht, oder auch nur deren Selbstverständnis adäquat sei. Man
muß vielmehr erstens damit rechnen, daß auch die reflektierteste Philo-
sophie sich selber gar nicht zureichend verstehen kann, daß auch ihr
Selbstverständnis immer ein Moment von Selbstmißverständnis impli-
ziert. Und man muß zweitens damit rechnen, daß sich das Selbstverständ-
nis einer Philosophie, wie angemessen oder unangemessen es auch immer
sein mag, in einer bloßen Philosophiedefinition nur unzureichend, weil
nur sehr verkürzt und daher nur mißverständlich, ausdrücken kann.
Nicht nur weil jede Philosophiedefinition trotz aller Reflektiertheit
unvermeidlich noch unreflektierte oder ungenügend reflektierte
Momente enthält, die einer weiteren Reflexion bedürfen, sondern auch
weil jede Philosophiedefinition, wie alle anderen Definitionen, unver-
meidbar viele Momente enthält, die noch einer Erläuterung bedürfen, die
ihrerseits dann erläuterungsbedürftig ist usw. ad infinitum. Außerdem
verhält sich eine Philosophiedefinition zu der sich selbst so definierenden
Philosophie immer doppelt zwiespältig, sozusagen doppelt ungleich-

146
zeitig, denn sie ist als eine die philosophische Reflexion begleitende Meta-
reflexion nicht mit der Philosophie identisch, deren Darstellung sie sein
will. Einerseits hinkt sie ihr nach, da der Philosophiebegriff Ausdruck
einer Rückwendung der Philosophie auf sich selber ist, andererseits eilt
sie ihr voraus, da sie auch die Formulierung einer die vorhandene Wirk-
lichkeit übersteigenden Absicht ist. Mit anderen Worten, jeder Philoso-
phiebegriff hat eine reflexive und eine programmatische Funktion. Nicht
zuletzt deshalb enthält jede Philosophiedefinition auch ein Stück
Wunschdenken; der Philosoph definiert den Philosophen und damit sich
als das, was er gerne sein möchte. Dennoch, ja gerade wegen des U ngesag-
ten im Gesagten, sind Philosophiedefinitionen für das Verständnis einer
Philosophie außerordentlich aufschlußreich.
So wie jede Philosophie als universale reflektierte Rationalität notwen-
digerweise immer auch, mehr oder weniger, auf sich selbst reflektiert, so
hat auch die Aufklärungsphilosophie über sich selber nachgedacht. Zwar
gehört die Bestimmung dessen, was Philosophie sei, für sie noch zu den
praecognita der Philosophie und wird folglich meist entsprechend kurz
in den Einleitungen der Lehrbücher, besonders denen der Logik, abge-
handelt. Die moderne Problematisierung der Philosophie, ihre Selbstan-
fechtung bis hin zu dem Zweifel an ihrer eigenen Existenzberechtigung,
war der Aufklärung, die gerade erst die Philosophie als die 'wahre Wis-
senschaft' wiederentdeckte, noch ganz fremd; erst in der Spätaufklärung
finden sich deutlichere Spuren solcher SelbstzweifeL Dennoch spielt die
Diskussion über das Wesen der Philosophie in der Aufklärung eine
erkennbar wichtige Rolle, da sie zweifellos Ausdruck eines erneuerten
Selbstbehauptungswillens ist. Welcher Status, welche Funktion kommt
der Philosophie zu? Ist sie eine dienende oder eine herrschende Wissen-
schaft? Ist sie eine Wissenschaft unter anderen, oder ist sie gar die zentrale
Wissenschaft? In welchem Sinn ist sie überhaupt eine Wissenschaft, und
in welchem Verhältnis steht sie dann vor allem zur Theologie? In der Dis-
kussion dieser und ähnlicher Fragen wird die Selbstverständigung der
Philosophie zum Mittel und Ausdruck ihrer wachsenden Verselbständi-
gung. Dabei lassen sich, wie gezeigt, ganz unterschiedliche Phasen und
Tendenzen erkennen, und wie üblich stehen vor allem der Gegenstand
und die Art, aber auch das Ziel der philosophischen Erkenntnis zur Dis-
kussion.
Die Bestimmung des Gegenstandes der Philosophie stößt bekanntlich
auf Schwierigkeiten, da die Unbestimmtheit ihres Erkenntnisgegenstan-
des die notwendige Kehrseite des Universalitätsanspruches der Philoso-
phie ist. Am Anfang der Aufklärung stand die alte Formel, Gegenstand

147
der Philosophie seien die göttlichen und menschlichen Dinge und deren
Ursachen, wobei diese traditionelle, im Grunde kontemplative Perspek-
tive allerdings schon durch die Angabe des Zieles (Glück und Nutzen,
auch die Ehre Gottes) modifiziert wurde. Diese praktische Ausrichtung
der Philosophie, die allgemeine Zustimmung fand, wurde dann gelegent-
lich in der Leerformel, Gegenstand der Philosophie sei das Wahre und
das Gute, weiter akzentuiert, während sich Thomasius' später Versuch,
die Philosophie fast nur noch als Anleitung zum Handeln zu verstehen
und mehr oder weniger auf die Erkenntnis des Guten zu beschränken,
schon unter seinen Anhängern nicht durchsetzen konnte. Demgegenüber
kommt mit W olffs Bestimmung der Philosophie als Wissenschaft von
allen möglichen Dingen bzw. den Gründen aller Dinge wieder ein stärke-
res theoretisches Interesse zum Ausdruck, das, obwohl Wolff selbstver-
ständlich auch an den praktischen Zielen der Philosophie festhielt, auf
eine neuartige 'Wissenschaft' nach Analogie der Naturwissenschaft
gerichtet war. In Verbindung mit der Berufung auf das Vorbild der
Mathematik hätte dieses betont wissenschaftliche Interesse leicht zu einer
'Mathematisierung' oder doch 'Logifizierung' der Philosophie führen
können und mußte daher heftige Abwehrreaktionen hervorrufen. Zwar
beginnt die Absetzung der Philosophie von den modernen mathemati-
schen Naturwissenschaften im Grunde schon bei Wolff selber, aber die
nun notwendige Unterscheidung der Philosophie von der Mathematik
(nach Gegenstand und Methode) und damit auch von der mathemati-
schen Naturwissenschaft wurde doch vor allem von seinen Gegnern
betrieben. Der Versuch einer Festlegung der Philosophie auf Qualitäten-
erkenntnis im Unterschied zur mathematischen Quantitätenerkenntnis
ist eine deutliche, wenn auch etwas hilflose Antwort auf die Drohung
einer derartigen Verwissenschaftlichung der Philosophie. Zugleich sahen
W olffs Gegner aber auch die Gefahr eines Wirklichkeitsverlustes der Phi-
losophie, nämlich daß diese als Wissenschaft von allen möglichen Dingen
(ohne Rücksicht auf deren Wirklichkeit) zu einer absoluten Wissenschaft
bloß idealer Strukturen werden könnte. Sie reklamierten daher für die
Philosophie die Beschränkung auf die Wirklichkeit, und zwar (mit einem
gewissen Rückgriff auf ein antikes Ideal) auf die beständige Wirklichkeit
im Unterschied zu den wechselnden Erscheinungen, mit denen sich die
empirischen Wissenschaften beschäftigen. Auch die pragmatischen,
nahezu gleichzeitigen Versuche einer Beschränkung der Philosophie auf
das sogenannte Nötige und Nützliche oder die sogenannten Hauptwahr-
heiten, die für das Glück des Menschen von Bedeutung sind, entspringen,
in Fortführung von Thomasius' praktischen Intentionen, zumindest

148
z. T. der Reaktion aufWolffs Ideal einer weltüberschreitenden göttlichen
Allwissenheit. So kommt es schon vor der Jahrhundertmitte wieder zu
einer Betonung des existentiellen Charakters der Philosophie, der dann
vor allem in der Popularphilosophie bzw. der Philosophie für die Welt
wichtig wird. Doch entwickelt sich fast zur gleichen Zeit auch, aus dem
Wolffianismus, ein neues theoriebetontes Konzept von Philosophie, und
zwar durch eine Neubestimmung des Objekts der Philosophie, das die
Wolffsche Konzeption der (metaphysischen) Möglichkeitswissenschaft
mit der antiwolffschen Konzeption der Eigenschaftswissenschaft bis zu
einem gewissen Grade verbinden konnte. Philosophie ist Wesenswissen-
schaft im Sinne einer Erkenntnis der wesentlichen Beschaffenheiten der
Dinge aus ihren Begriffen. Kant hat dann beide Konzeptionen, die exi-
stentielle und die szientifische, aufgenommen und als Philosophie der
Welt und Philosophie der Schule wieder differenziert miteinander zu ver-
binden versucht.
Jede Diskussion über den Gegenstand der Philosophie impliziert
unvermeidlich gewisse, mehr oder weniger reflektierte Annahmen über
deren Erkenntnisweise. Am Anfang der Aufklärung wird Philosophie
noch wie schon zuvor üblich als Weisheit oder Gelehrtheit, aber auch als
Erkenntnis oder Wissen bzw. 'Wissenschaft' verstanden. Sie ist Welt-
weisheit qua Wissenschaft. Der Status der philosophischen Erkenntnis ist
dabei noch relativ unproblematisch, sie stellt noch keinen besonders frag-
lichen Erkenntnistypus dar. Philosophie ist im Prinzip Erkenntnis wie
jede andere Erkenntnis auch, nur (subjektiv) kritischer und (objektiv)
gründlicher, daher von dem Wissen der Menge oder dem Wissen der Wis-
senschaften doch qualitativ unterschieden. Und sie ist eine existentiell
besonders relevante Erkenntnis, die dem Menschen hilft, ein besserer
Mensch zu sein. Kurz, Weisheit ist eine allgemeine Erkenntnis oder Ein-
sicht, die den Philosophen tugendhaft und glücklich macht; Gelehrtheit
(eruditio) ist darüber hinaus das erworbene Wissen, das gelernte geistige
Können, das die nicht notwendigerweise gelehrte Weisheit stabilisiert
und als 'Entrohung' eine Veredlung des philosophierenden Menschen
bewirkt. Weisheit, Gelehrtheit und Wissen bilden hier noch eine tenden-
zielle Einheit, vorausgesetzt daß sie auf einem lebendigen, zugleich
scharfsinnigen und wirksamen Erkennen beruhen. Ob das Resultat dieser
Erkenntnis gewiß oder ungewiß ist, bleibt demgegenüber zunächst
sekundär; die philosophische Erkenntnis kann je nach Sachlage sicher
oder unsicher bzw. nur wahrscheinlich sein. Aber mit der wachsenden
Verunsicherung der Menschen durch Glaubensverlust wächst auch auf
dem Gebiet der Erkenntnis die Forderung nach mehr Sicherheit; damit

149
gewinnt das moderne Ideal der Erkenntnisgewißheit, nicht zuletzt unter
dem Konkurrenzdruck der modernen Naturwissenschaften, auch in der
Philosophie an Boden. Wolff verlangt nun von der Philosophie, daß sie
endlich Wissenschaft werde. Dabei versteht er Wissenschaft zwar einer-
seits in Analogie zur modernen mathematischen Naturwisenschaft, ande-
rerseits aber auch noch als metaphysische Prinzipienwissenschaft, also als
exakte und endgültige Wissenschaft zugleich. Philosophie als Wissen-
schaft ist absolutes Wissen vom Absoluten und daher in ihrer Reinform
nur Gott möglich. Auf diesem Wege mochten ihm allerdings auch unter
seinen eigenen Schülern die wenigsten folgen; der Anspruch mußte,
obwohl von Wolff nur äußerst vorsichtig formuliert, seinen Zeitgenos-
sen noch allzu unbescheiden erscheinen. Daher (aber auch wegen des
unvermeidlichen Mißlingens der Einlösung dieser Forderung) kam es
einerseits zu einem Zurückstecken des Anspruchs der Philosophie auf
endgültige Wissenschaft, andererseits zu verschiedenen Versuchen einer
genaueren Bestimmung der philosophischen Erkenntnis im Unterschied
zur naturwissenschaftlichen oder mathematischen Erkenntnis, z. B. als
Erkenntnis aus reinen Begriffen. Diese Erörterung über die Art und
Weise der philosophischen Erkenntnis, die mit dem Wie der philosophi-
schen Erkenntnis letztlich auch deren Was überhaupt problematisch
machen, führen dann am Ende der Aufklärung im Zusammenhang mit
der Empirismus-Rationalismus-Diskussion zu Kants Frage, wie syntheti-
sche Urteile a priori möglich seien.
Erkennen hat als solches nur ein unmittelbares Ziel: Wahrheit und
nichts als Wahrheit. Insofern ist Philosophie als Wahrheitssuche eo ipso
eine zielgerichtete Tätigkeit. Die Frage nach dem Ziel der Philosophie,
falls sie überhaupt gestellt wird, kann also nur wissen wollen, ob die Phi-
losophie noch mehr als Wahrheit anstrebt, ob sie noch einen darüber-
hinausgehenden Zweck verfolgt. Für die im Grunde zunächst noch 'ari-
stotelisch' (nämlich finalistisch bzw. teleologisch) denkende Philosophie
der Aufklärung war die Antwort auf eine solche Frage von vornherein
klar. Das Ziel des philosophischen Erkennens ist, wie das jeder Tätigkeit,
die Glückseligkeit. Dies gehörte zu den großen, praktisch unbefragten
Selbstverständlichkeiten der Aufklärung - gleichgültig ob nun die
Glückseligkeit als finis internus mit in die Definition der Philosophie
hineingenommen wurde oder ob sie als finis externus außen vor gelassen
wurde. Glückseligkeit aber ist, das bleibt unbestritten, an die Bedingung
der Tugend geknüpft, so daß die Tugend- bis zu Kant- immer wieder
auch als Mittel zum Zweck erscheinen konnte; der Mensch wird durch
Tugend glücklich und nicht nur glückswürdig, daher kann er auch das

150
Glück, wie die Tugend und durch die Tugend, direkt anstreben. Und die-
ses Glück, ob es nun mehr als Heil menschlicher Wesenserfüllung oder
mehr als materielle Wohlfahrt verstanden wurde, ist, wie dann später im
Deutschen Idealismus die Freiheit, nur als gemeinschaftliches Glück
möglich- sei es daß das Glück der anderen (wie am Anfang der Aufklä-
rung auch noch die Ehre Gottes) als bloße Hauptbedingung der eigenen
Glückseligkeit oder als ein eigener Zweck bzw. sogar als ein ichüber-
schreitender und damit als ein das Streben nach eigenem Glück relativie-
render Hauptzweck begriffen wurde. Erst am Ende der Aufklärung, als
die Philosophie, sozusagen wider Willen, immer mehr zur theoretischen
Wissenschaft wurde, verlor sich mit dem Willen zur Philosophie als
Weisheit auch die Hoffnung auf Glück und Tugend durch Philosophie.
Philosophie wird als absolutes Wissen zum Selbstzweck, auch wenn der
höchstens noch am Erkenntnisglück, dem "Genuß" der Wahrheit, inter-
essierte Philosoph dabei selber unglücklich bleibt.
Die Selbstaufklärung der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung
reicht, grob gesprochen, von der offensiven Selbstbehauptung gegenüber
der Theologie (Thomasius) bis zur defensiven Selbstreflexion im Hin-
blick auf die moderne Wissenschaft (Kant). Auch wenn es der Philoso-
phie, obgleich noch nicht in dem Maße wie heute, offensichtlich schwer
fällt, sich selbst und ihre Sonderstellung zu verstehen, so scheint doch das
Bewußtsein von dieser Eigenart, in der Absetzung von der Theologie wie
von der Naturwissenschaft, immer deutlicher zu werden. Philosophie ist
weder Hilfswissenschaft noch eine mathematisierbare Erscheinungswis-
senschaft. Philosophieren ist eine Tätigkeit, in der es in einer ganz beson-
deren Weise um den philosophierenden Menschen selber geht, und zwar
um seine sogenannte Glückseligkeit, von der richtigen Einstellung zu den
materiellen Gütern bis hin zum Heil seiner Seele. Daher bleibt bei aller
Bemühung um Objektivierung der philosophischen Erkenntnis die
Reflexion auf das philosophierende Subjekt immer erhalten. Sie scheint
sich sogar im Gegenzug zur neuzeitlichen Verwissenschaftlichung der
Philosophie zu verstärken und letztlich zu einer bewußten 'Subjektivie-
rung' der Philosophie zu führen. Seit dem Beginn der Aufklärung beto-
nen die Philosophen in einer bisher noch nie dagewesenen Weise ihre
Eigenständigkeit als Denker. Selbstdenken wird, wie Kant später formu-
lierte, zum "Wahlspruch" der Aufklärung. Natürlich ist der Ausdruck
Selbstdenken pleonastisch und daher nur als nachdrückliche Betonung
von Authentizität bzw. Originalität zu verstehen, und natürlich haben
alle Philosophen zu jeder Zeit in irgendeiner Weise auch außer Richtig-
denken Selbstdenken gefordert. Aber die Herausstellung des Selbst-

151
denkens- zunächst im Gegensatz zum bloßen Nachdenken bereits vor-
handener und als verbindlich erachteter Gedanken, später auch im
Unterschied zum Richtigdenken - ist in dieser Form neu und für die
Aufklärung bezeichnend. Philosophieren ist nicht nur vernünftiges, son-
dern auch freies Denken.
Diese Entwicklung konnte auch das Selbstverständnis der Philosophie
als Institution nicht unberührt lassen. Aus der mittelalterlichen Interes-
senlage, vor allem aus dem Vorrang der Theologie, war die bekannte Ein-
teilung der Universität in drei obere Fakultäten und eine untere Fakultät
erwachsen: Theologie, Jurisprudenz und Medizin einerseits sowie die
sogenannte Artistenfakultät andererseits, die neben den artes liberales
auch die Philosophie umfaßte. Die Philosophie gehörte insofern zu den
Voraussetzungen des Studiums der eigentlichen Wissenschaften. Sie war
eine Basiswissenschaft, die allerdings nicht im Sinne einer systematischen
Grundlegung aller anderen Wissenschaften, sondern nur als methodische
Hilfswissenschaft für die drei Hauptwissenschaften verstanden wurde -
was natürlich zu ständigen Friktionen mit ihrem Selbstverständnis und
ihrem Selbstbewußtsein führen mußte. Diese Spannungen mußten späte-
stens in dem Augenblick zum Ausbruch kommen, als die Herrschaft der
Theologie fraglich wurde. Die Theologie war nämlich vor allem an der
Unterordnung der Philosophie interessiert, weil die Philosophie durch
ihre Aussagen über das Absolute mit dem theologischen Anspruch auf
allerhöchste Erkenntnis und den theologischen Aussagen über Gott seit
altersher ebenso verdeckt wie verstockt konkurrierte. Für die Theologie
aber, obwohl de facto selbst philosophierend, war die Philosophie nur
eine Magd.
Dieser an sich alte Streit der Fakultäten, der heute im allgemeinen nur
noch durch Kant bekannt ist, durchzieht die Aufklärung von ihren frü-
hesten Anfängen an. Schon Thomasius kennt ihn und versucht ihn durch
eine systematische Begründung der für ihn schon historisch zufälligen
Fakultäteneinteilung zu schlichten. Da er ursprünglich ganz vom Uni-
versitätsbetrieb ausgeht und zudem als Jurist einer höheren Fakultät
angehört, begreift er die Philosophie zunächst als bloße Hilfswissen-
schaft. In den Institutiones jurisprudentiae divinae von 1688 (7. Aufl. 1720,
Repr. 1963), deren grundlegendes erstes Buch jedoch vermutlich schon
1687 erschienen ist, verteidigt er das zeitgenössische Universitätssystem
noch uneingeschränkt. Man müsse nämlich sehen, daß sich der heutige
Philosophiebegriff gegenüber dem der antiken Philosophie verengt habe.
Ursprünglich sei die Philosophie eine Erkenntnis der göttlichen und
menschlichen Dinge gewesen, habe also bei den Heiden auch die Medi-

152
zin, die Jurisprudenz und die Theologie umfaßt, und nur von daher sei
auch Platons Forderung nach einer Personalunion von Philosophen und
Königen zu verstehen. Heute hingegen könne die Philosophie sich nicht
mehr als eine Königin aufführen, sondern nur noch den Titel einer ehrli-
chen Dienstmagd beanspruchen. Daraus folgt dann auch die Einteilung
der Fakultäten. Von den drei Hauptfakultäten, die ihren Zweck in sich
selber haben, befaßt sich die Medizin mit der Gesundheit des Leibes, die
Rechtsgelehrtheit (hier noch nicht von der Moralphilosophie getrennt)
mit der zeitlichen Glückseligkeit und die Theologie mit der ewigen
Glückseligkeit. Die Philosophie hingegen, die nur eine Dienstleistungs-
disziplin ist, scheint kein eigenes Ziel zu haben (vgl. 28 f.) 11 • Später, u. a.
in den Cautelen (1710, dt. 1713) hat Thomasius vor allem die historischen
Bedingungen der Entstehung der Fakultätenordnung kritisch beleuchtet.
"Sie ist eine Erfindung der Päbstischen Clerisey, um dadurch die Herr-
schafft über die andere zu erlangen" (65). Aber da man auch die schäd-
lichsten Erfindungen zu einem guten Zweck gebrauchen kann, sieht er
keinen Grund, sie zu ändern 12 • Die Philosophie bleibt, auch wenn ihre
Bezeichnung als Magd getadelt und die Rechtsgelehrtheit gelegentlich als
wahre Philosophie bezeichnet wird, eine vorbereitende Wissenschaft und
eine umfassende Weisheit zugleich.
Thomasius' Problematisierung der überkommenen Universitäts- und
Wissenschaftshierarchie wurde von seinen Schülern fortgesetzt und
führte noch innerhalb des Thomasianismus faktisch zu einer Umkeh-

11 Ähnlich geht Thomasius in der nahezu gleichzeitigen Philosophia aulica (1688,


2. Aufl. 1702) vor, nennt nun allerdings als erstes Kriterium den Unterschied
zwischen Vernunft und Offenbarung, wodurch die Theologie stärker in eine
Sonderstellung gedrängt wird (vgl. 58). Am Ende des Buches verweist er dann
auf die angehängte Rede über den Pedantismus von Ulrich Huber, in der die
Verachtung der Philosophie durch die höheren Fakultäten, ebenso wie der
Anspruch der Philosophie auf eine allgemeine metaphysische Gesetzgebung
als zwei entgegengesetzte Laster hochmütiger Gelehrtheit beschrieben werden
(vgl. 235, 259 ff.).
12 Zur historischen Infragestellung der Fakultäteneinteilung vgl. auch Thoma-
sius' Entwurfder politischen Klugheit von 1707 (Repr. 1971) und seine Vorrede
zu der von ihm kommentierten Ausgabe von Samuel Pufendorfs Severinus de
Monzambano de statu imperii germanici (1696). Gelegentlich nähert Thoma-
sius sich sogar schon der Frage, die später noch in der Mittwochsgesellschaft
diskutiert wurde, wieweit Philosophie (im Sinne lebendiger Weisheit) über-
haupt institutionalisierbar sei.

153
rung der überlieferten W ertung 1\ auch wenn sich die Philosophie noch
lange nicht so weit befreien konnte, institutionelle Konsequenzen zu for-
dern. August Friedrich Müller (Einleitung in die philosophischen Wissen-
schaften I, 1718, 2. Aufl. 1733), der die Philosophie als allgemeine Gelehr-
samkeit und die Gelehrsamkeit als scharfsinnige Erkenntnis verstand,
proklamierte z. B. schon mit Nachdruck den Vorrang der Philosophie.
Die Einteilung der Gelehrsamkeit ist "nicht aus demgrundeder gelehr-
samkeit selbst", sondern aus historischen Bedingungen entstanden. Die
drei Hauptfakultäten verdanken ihre Stellung vor allem dem Broterwerb
und der Verfassung der modernen Staaten mit ihren öffentlichen
Ämtern; Halbbildung und Autoritätsinteressen haben dann das Ihre zur
Verachtung der Philosophie als Magd beigetragen. "Wer zu beförderung
seiner absichten nichts als leichtglaubigkeit und blinden gehorsam in dem
menschlichen geschlechte suchet, der kan solchen leuthen, die an ausar-
beitung der gesunden vernunft hand anlegen, nichts anders als spinne-
feind seyn" (47). Betrachtet man jedoch die sogenannten oberen Fakultä-
ten als wirklich "gelehrte wissenschaften", nicht als ungelehrte Gedächt-
niswissenschaften oder Handwerkswissenschaften, dann zeigt sich
schnell, daß sie alle in der Philosophie gründen, d. h. daß sie nicht "ohne
scharfsinnigen begriff, folglich ohne Philosophie" sein können; sie alle
setzen die Philosophie "als einen unentbehrlichen grund" voraus- und
das gilt auch für die Theologie, soweit sie eine wahre Wissenschaft zu sein
beansprucht (vgl. 48 ff.).
Für Wolff, der der philosophischen Fakultät angehörte, war der Vor-
rang der Philosophie vor allen anderen Wissenschaften aufgrund seines
Philosophiebegriffs von Anfang an klar. Da die Philosophie als scientia
possibilium sich auf alles Mögliche erstreckt und zugleich als Erkenntnis

13 Das bekannteste Beispiel dürfte Johann Georg Walch sein, der in seinem Phi·
losophischen Lexikon (1726, 4. Aufl. 1775, Repr. 1968) ähnlich wie Müller die
Philosophie als allgemeine Gelehrsamkeit von der Theologie, Jurisprudenz
und Medizin als besondere Teile der Gelehrtheit abtrennt (1207 ff.) und ihr
damit faktisch den Status einer Basiswissenschaft zuweist. - Walch selbst
dürfte außer Thomasius auch Gottlieb Stolle gekannt haben, der in seiner
Historie der Gelehrtheit li (1718, 4. Aufl. 1736) schon eine sehr dezidierte Posi-
tion bezieht. "Hüte dich demnach vor der Mystic, so heilig dir auch diese
Feindin vernünfftiger Weißheit vorkommt. Sie ist eine Stütze des Papst-
thums, so keine wahre Philosophie leiden kan. Laß es seyn, daß der Scholasti-
ker ihre eine Dienstmagd, ja ein Fußhader der Theologie sey. Die reine
Gottes-Gelahrheit umfasset die wahre Philosophie als ihre Schwester und küs-
set sie, ob ihr diese schon, wie billig, die rechte Hand läst und von Hertzen
gönnet." (442).

154
aller Gründe die höchste Erkenntnis ist, erkennt der Philosoph, wie es
schon in der Ratio praelectionum (1718, 2. Aufl. 1735, Repr. 1972) heißt,
das, was in den sogenannten höheren Fakultäten nur "vulgari modo"
behandelt wird, "excellentius" (108). Die Philosophie liefert den anderen
Wissenschaften, aber auch den Bauern und Handwerkern, klare Begriffe
und feste Regeln. Eigentlich ist die Philosophie daher die einzige wahre
Wissenschaft; sie unterscheidet sich von den anderen sogenannten Wis-
senschaften nicht aufgrund ihres Objekts, sondern aufgrund ihrer
Erkenntnisweise. Wolff erörtert daher in verschiedenen Traktaten den
Nutzen der Philosophie, insbesondere den der eigenen, und ihre Stellung,
z. B. in der Schrift De philosophia non ancillante (in: Horae subsecivae
1730, Repr. 1983), wo er die Philosophie als Domina bezeichnet. In sei-
ner Ausführlichen Nachricht (1726, 2. Aufl. 1733, Repr. 1973) verkehrt er
auch schon wie später Kant die Metapher von der Philosophie als Magd
in ihr Gegenteil. Sie bringt erst durch ihre Begriffe Licht in die übrigen
Wissenschaften. "Daher pflege ich im Schertze zu sagen: die Welt-
Weißheit sey in soweit die Magd der höheren Facultäten, in so weit die
Frau im finstern tappen müste und öffters fallen würde, wenn ihr die
Magd nicht leuchtete" (536, vgl. 526 ff.) 14 •
Auf dem Höhepunkt der Aufklärung macht die Philosophie einen
Kompetenzanspruch wie schon seit fast 2000 Jahren nicht mehr und wie
dann erst wieder im Deutschen Idealismus; sie hat sich in ihrem Selbstbe-
wußtsein von einer Hilfswissenschaft zur Universal- und Fundamental-
wissenschaft entwickelt. Aber auch da, wo dieser Anspruch nicht in die-
ser Form oder nicht so nachdrücklich erhoben wird, hat sie sich durch

14 Johann Christian Eschenbach (Logik oder Denkungswissenschaft 1756) hat die-


ses Bild noch ausgemalt. "Warum sie die Magd der höhern Wissenschaften
heisse, und ob sie vor oder hinter ihre Herschaft hergehen müsse, darüber sind
sich diejenigen, die der Philosophie diesen Titel geben, nicht recht einig.
Einige nennen sie die Magd, weil sie mit der Fackel voran gehen, und ihrer
Frau leuchten, und ihr den rechten Weg zeigen müsse. Ehre genug für die Phi-
losophie, daß die höhern Wissenschaften ohne ihr nicht den rechten Weg fin-
den können, sondern im finstern tappen! Andre sagen, sie müsse hinter her
gehen und der Frau nicht wiedersprechen. Homiletischer Witz! Die wahre
Philosophie streitet niemalen wieder andre Wissenschaften, vielweniger wie-
der die göttliche Offenbarung ... So wie gegentheils eine wahre Offenbarung
nie Sätze enthalten kann, die der gesunden Vernunft zuwieder lauffen, wie alle
Theologi, wenn sie von den Kenzeichen einer Offenbarung reden, die für
göttlich ausgegeben wird, ausdrücklich behaupten. Aus gleichem Grunde
könte also die Theologie eine Magd der Philosophie genannt werden; welches
aber ein lächerlicher Ausdruck wäre." (21)

155
wachsende Ignorierung der Offenbarung bzw. Offenbarungstheologie als
Erkenntnisinstanz wieder einmal von Fremdbestimmungen bzw. fremd
gewordenen Bestimmungen emanzipiert. Offensichtlich hat die Philoso-
phie im Verlaufe der Aufklärung ein Maß an innerer Freiheit gewonnen,
auf das sie am Anfang höchstens hoffen konnte. Die Philosophie hat sich
wieder einmal zu sich selbst als freies Denken befreit. Aber da sie immer
auch vernünftig und nicht nur frei sein will, erstrebt sie nicht nur eine
freie Vernunft, sondern auch eine vernünftige Freiheit. Vernünftige Frei-
heit, eine zentrale Maxime der deutschen Aufklärung, das ist nicht nur
eine innerlich durch Vernunft bestimmte Freiheit (im Unterschied zur
bloßen Willkür), sondern auch eine durch vernünftige Beachtung der
gegebenen Situation, z. B. der jeweils unüberwindbaren religiösen und
politischen Schranken, sich selbst auch äußerlich sichernde Freiheit. Ver-
nünftig philosophieren heißt daher in der deutschen Aufklärung auch:
vorsichtig philosophieren, bescheiden und behutsam, also, modern
gesprochen, etwa kritisch-bewahrend, philosophieren. Freiheit beruht
auf Vernunft, also auf der Anerkennung, daß sie nicht alles und nicht all-
mächtig ist.

156
IV. Die wahre und die höhere Aufklärung

Die Aufklärung war, trotz ihrer unbestreitbaren Bedeutung, nicht die


größte Epoche der deutschen Geistesgeschichte. Sie hat daher, nachdem sie
erst einmal 'überwunden' war, nie wieder so etwas wie eine breite Aner-
kennung gefunden und steht folglich nicht nur im Schatten der bekannten
englischen und französischen Namen der Zeit, sondern auch oder viel-
mehr vor allem im Schatten der großen deutschen Philosophie seit dem
Ausgang des 18. Jahrhunderts. Die deutsche Aufklärung mag noch soviel
bewirkt haben, noch soviele Wege frei gemacht haben, die Großen der
nachfolgenden Zeit sahen nicht ohne Grund auf sie herab (allerdings meist
auch auf die englische und die französische Aufklärung). Soweit dies nicht
nur eine Frage der Genialität bzw. des Selbstbewußtseins sondern auch
eine Frage inhaltlicher Distanzierung war, d. h. soweit Idealismus und
Romantik sowie deren Folgen bis heute im Gegensatz zur Aufklärung ste-
hen, hängt die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der Aufklä-
rung daher immer noch von verschiedenen grundsätzlichen Entscheidun-
gen ab: erstens von der systematischen Einschätzung typisch aufkläreri-
scher Postulate wie Verstand oder Vernunft, Freiheit, Toleranz usw., und
zweitens von der historischen Einschätzung der Realisierung dieser Ideen
im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung von 'Fakten' für uns hängt schließlich
nicht zuletzt auch von uns selbst ab. In Anbetracht der Unzahl divergie-
render Traditionen, die jedes Land hat, und des unvermeidlich selektiven
Interesses, mit dem wir unsere eigenen Traditionen rezipieren und akzep-
tieren, hat ein Land in gewisser Weise zunächst die Tradition, für die es
sich entschieden hat- und zugleich ist die Frage, welche Tradition letzt-
lich siegen wird, immer noch offen. Insofern kann man zugespitzt sagen:
Deutschland ist das Land der Aufklärung, wenn wir es wollen.
Konkreter gesagt, geht es bei der historischen Beurteilung der deut-
schen Aufklärung vor allem um zwei Fragen. Erstens: Wie ist die
deutsche Aufklärung im Verhältnis zur übrigen europäischen Aufklä-

157
rung, insbesondere im Verhältnis zur französischen Aufklärung und noch
spezieller im Verhältnis zur Französischen Revolution, zu beurteilen?
Zweitens: Wie ist das Verhältnis der nachaufklärerischen und nachrevolu-
tionären spekulativen Philosophien, aber auch der Kantischen Transzen-
dentalphilosophie, zur Aufklärung zu beurteilen? Mit anderen Worten:
War die französische 'Aufklärung' sozusagen 'aufklärerischer' als die deut-
sche, kann sie immer noch als Norm aller Aufklärung gelten? Oder han-
delt es sich um zwei geschichtliche Erscheinungen, die man nicht sinnvoll
zum Gegenstand eines Wertvergleichs machen kann? Und war die Franzö-
sische Revolution, soweit sie überhaupt eine Folge der französischen Auf-
klärung war, der Höhepunkt oder das Desaster dieser Aufklärung (wenn
nicht sogar für alle anderen)? Inwieweit war sie ein Durchbruch in eine
neue Zeit, inwieweit ein Rückfall sogar hinter die Aufklärung? Vor allem
aber fragt sich, in welchem Sinn die deutsche Aufklärung durch die Philo-
sophie seit Kant oder seit Fichte, SeheHing und Hegel überholt ist oder
überwunden worden ist. Wurde sie fortgeführt, vertieft und vollendet? Ist
sie gescheitert, aus inneren oder äußeren Gründen? Oder wurde sie sogar
durch einen neuen Obskurantismus und neue Irrlichter verdrängt? Kurz,
in welchem Sinne wurde sie 'aufgehoben'?
Offensichtlich hängt die historische Beurteilung der Aufklärung weit-
gehend von der Beurteilung der nachfolgenden Philosophie ab- und bei-
des wiederum von tiefgreifenden Entscheidungen insbesondere über die
Einschätzung des Verhältnisses von Vernunft und Wirklichkeit. Die
Unterschiede in der Beurteilung der Aufklärung gründen oft weniger in
dem unterschiedlichen Kenntnisstand hinsichtlich der Aufklärung des 18.
Jahrhunderts, speziell der deutschen Aufklärung, obwohl auch der Man-
gel an originärer Sachkenntnis zweifellos eine große Rolle spielt; sie grün-
den vielmehr vor allem in den vorausgesetzten 'weltanschaulichen' Prä-
missen, auf deren Basis solche Diskussionen geführt werden. Aber natür-
lich kommt erschwerend hinzu, daß Aufklärungsforschung und Aufklä-
rungskritik nach wie vor weit auseinanderklaffen.

a) Historisierung und Enthistorisierung

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die Aufklärung sich
selbst historisch zu werden, sie begann zurückzublicken, und zwar
zunächst voller Selbstbewußtsein. Kein Jahrhundert erschien ihr so auf-
geklärt, so vorurteilsfrei und so fortschrittlich wie "unser Jahrhundert";
wer nicht überzeugt war, "in einem aufgeklärten Zeitalter" zu leben, der

158
glaubte wenigstens, "in einem Zeitalter der Aufklärung" (Kant) zu leben
-auch wenn die Formel "in unseren erleuchteten Zeiten" gelegentlich
einen nicht zu überhörenden ironischen Klang hatte. Zwar gab es wie eh
und je die Klagen über die Schlechtigkeit der Zeiten - nicht nur bei den
alten und neuen Gegnern der Aufklärung, sondern auch immer wieder
unvermittelt bei den Aufklärern selber. Im allgemeinen aber überwog
der Stolz, in einer Zeit zu leben, die es (vor allem in der Philosophie und
den Wissenschaften) unvergleichlich weiter gebracht habe als alle vorher-
gehenden. Jedenfalls konnte man sich mit anderen Epochen vergleichen,
d. h. die Aufklärung begriff sich als historische Erscheinung.
Die Selbsthistorisierung der Aufklärung, ihr historisches Selbstbewußt-
sein (im doppelten Sinn von Reflexion und Stolz), wurde zum Anlaß, die
nun als geschichtliche Erscheinung verstandene Aufklärung als Epoche
in die Geschichte, d. h. in das bisherige Geschichtsbild, einzuordnen.
Wenn die eigene Zeit sich vor anderen Zeiten auszeichnete, mußte sie
sich nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich von anderen Zeiten unter-
scheiden lassen. Wann hatte das Zeitalter der Aufklärung eigentlich
begonnen, wann würde es möglicherweise enden? Hatte die Aufklärung
Vorläufer in einer früheren Aufklärung, würde ihr vielleicht ein weiteres
Zeitalter der Aufklärung folgen? Zwar wurden solche historischen Fra-
gen, verglichen mit anderen aktuellen Sachfragen, nur beiläufig gestellt,
aber die der Aufklärung wesentliche Reflexionsstruktur implizierte
unvermeidlich auch einen historischen Aspekt. Hinzu kam das nicht
zuletzt aus der Konfrontation mit der Tradition erwachsene Interesse der
Aufklärung an der Geschichte, ihr Bedürfnis nach Aufklärung über
Geschichte und nach Aufklärung durch Geschichte. So kam es unver-
meidlich auch zu einem Interesse an der Geschichte der Aufklärung: die
Aufklärung wurde sich ihrer selbst nicht nur als Geschichtsepoche son-
dern auch als Geschichtsprozeß bewußt, und zwar als eines nicht auf das
18. Jahrhundert beschränkten Geschichtsprozesses. Ja, die Auffassung
der Aufklärung als Geschichte konnte sogar in die Auffassung der
Geschichte als Aufklärung umschlagen. So wurde das Epochenbewußt-
sein der Aufklärung - ihre Überzeugung von ihrer Einzigartigkeit,
zusammen mit ihrem Willen zu weiteren Fortschritten - zugleich zu
einer wesentlichen Voraussetzung der nun beginnenden Geschichtsphilo-
sophie von Kant bis Hegel oder von Lessing bis Marx. Die Geschichte
konnte nun, in Analogie zur christlichen Heilsgeschichte, als ein einziger
weltgeschichtlicher Prozeß erscheinen: als ein Prozeß universaler Aufklä-
rung oder Bildung, als ein Prozeß der Zivilisation oder Kultur, kurz, als
Geschichte der "Erziehung des Menschengeschlechtes" (Lessing).

159
Der Versuch der Aufklärung, sich über ihre Anfänge Rechenschaft zu
geben, hat im 18. Jahrhundert vor allem zu zwei auch heute noch gängigen
Antworten geführt. Die allgemeine Grundüberzeugung war, daß nach den
finsteren Jahrhunderten einer mittleren Zeit, des Mittelalters, etwa mit
Luther und den Humanisten eine neue Zeit, die Neuzeit, begonnen habe.
Insofern folgte die Aufklärung, wie immer die Anfänge der Moderne
näher bestimmt werden mochten, im wesentlichen der durch die Humani-
sten etablierten und bis heute üblichen Geschichtsperiodisierung. Zugleich
aber hatten viele Aufklärer bereits ein mehr oder weniger deutliches
Bewußtsein davon, daß es innerhalb dieser neueren Zeit noch gravierende
Unterschiede gebe, daß die Aufklärung nicht mit der sogenannten Neuzeit
identisch sei. Insbesondere die deutsche Frühaufklärung (Christian Tho-
masius) war überzeugt, daß mit ihr selber wiederum eine neue Epoche in
der Geschichte bc:gonnen habe, und dem entsprach am Ende des 18. Jahr-
hunderts, durch die politischen Ereignisse und die bevorstehende Jahrhun-
dertwende provoziert, eine wachsende Tendenz, dieses Jahrhundert als
eine Epoche eigener Art, eben als das Jahrhundert der Aufklärung, zu
sehen. Die frühe Neuzeit wurde so zum bloßen Vorläufer der Aufklärung,
Bacon und Descartes z. B. wurden zu ersten Vorkämpfern im Kampf
gegen die Vorurteile und den Aberglauben. So oder so mußte sich (im
Rahmen der erst renaissance-, dann aber fortschrittstheoretischen Dreitei-
lung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit) der Blick über
das medium aevum hinaus auf die Antike richten, und die antike Philoso-
phie konnte nun als eine erste Epoche der Aufklärung des menschlichen
Geistes ersC'heinen. Sokrates galt ohnehin als Ideal eines W eltweisen, und
ähnlich wetden heute nicht selten Xenophanes oder die Sophistik als
"Sturmvogel der 'Aufklärung'" betrachtet. Von einer solchen Aus- und
Überdehnung des Aufklärungsbegriffs ist es dann nicht mehr weit bis zur
Deutung des Sü::1denfalls als Emanzipation (Selbstbefreiung) oder bis zu
heutigen Anschauungen von der Art, die Aufklärung habe im Prinzip
schon mit dem Heraustreten des Menschen aus der Natur, also schon mit
dem homo sapiens begonnen, die moderne Aufklärung sei eine zweite
oder dritte und eine dritte oder vierte stehe bevor.
Brisanter als die Frage nach den Anfängen oder Vorstufen der Aufklä-
rung mußte ihren Vertretern gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Frage
nach einem möglichen Ende oder überhaupt nach der Zukunft der Auf-
klärung erscheinen. Hinter einer solchen Fragestellung stand nicht nur
das Wissen vorn Wandel aller Zeiten, sondern auch die Erkenntnis, daß
die Fortschritte der Aufklärung nicht so groß waren, wie manche es sich
erhofft haben mochten, und daß es sogar Rückschläge gab, die viele nicht

160
mehr erwartet hatten; es gab neue äußere Restriktionen sowie Erfahrun-
gen, die die Aufklärung erst einmal mit sich selber machen mußte. Aber
selbstverständlich waren die Aufklärer von vornherein nicht so fort-
schrittsfröhlich und so realitätsblind gewesen, wie ihre Gegner es ihnen bis
heute unterstellen. Schon Thomasius hatte, wie dann später noch Kant,
große Zweifel hinsichtlich eines über die möglichen Fortschritte an Legali-
tät hinausgehenden Fortschritts an Moralität; dem bloß technischen Fort-
schritt stand er sogar sehr kritisch gegenüber. Friedrich TI. erkannte nicht
nur, daß der Aberglauben unausrottbar war, sondern auch, daß die Auf-
klärer in ihrer Berufung auf den Verstand oft nicht weniger fanatisch wa-
ren als ihre Gegner, die sich auf Gott oder den Glauben beriefen, daß die
Aufklärer als dogmatische also gerade nicht tolerant waren. Solche Erfah-
rungen führten dann, z. B. bei Moses Mendelssohn oder Johann Jakob
Engel, zu dem Versuch, das aus der antiken Geschichtsschreibung und
Politikphilosophie bekannte Dekadenzprinzip auch auf die Aufklärung
anzuwenden und bereits eine Art 'Dialektik der Aufklärung' zu konstatie-
ren. Auch Aufklärung ist ambivalent, sie kann oder muß, wenn schon
nicht an äußeren Widerständen, irgendwann durch Selbstverfehlung an
sich selbst scheitern, nämlich sich selber durch Mißbrauch oder Maßlosig-
keit oder Pseudorationalismus zerstören. So sahen manche Aufklärer am
Ende des Jahrhunderts die Gefahr eines Endes der Aufklärung, nämlich
den Umschlag in einen neuen Aberglauben durch Selbstzerstörung oder
das Aufkommen neuer Mächte der Finsternis, unmittelbar bevorstehen'.
Der durch Th. W. Adorno und M. Horkheimer (Dialektik der Aufklärung
1947) bekannt gewordene Ausdruck scheint aus der Romanistik zu stammen.
Vgl. F. Schalk, Formen und Disharmonien der französischen Aufklärung, in:
Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte XV,
1937 (254). Adorno und Horkheimer verstehen unter Dialektik der Aufklä-
rung vor allem den Umschlag der Aufklärung in "Mythologie", wobei sie den
Mythos selbst schon als Anfang der Aufklärung im Sinne rationaler Weltbe-
wältigung interpretieren. Die Begriffe Aufklärung und Mythos werden dabei so
weit gefaßt, daß beinahe alles in verschiedenen Hinsichten zugleich Aufklä-
rung und Mythos sein kann und insofern in verschiedenen Varianten ineinan-
der umschlagen kann, wobei das, was Aufklärung bzw. Mythos im engeren
Sinne bedeuteten, nahezu untergeht. Der Sache nach war die sogenannte Dia-
lektik der Aufklärung allerdings, zumindest in einigen Aspekten, schon den
frühen Aufklärungskritikern, aber auch den Aufklärern selber, bekannt. Vor-
urteilskritik kann zu einem neuen Vorurteil, zum praejudicium praejudicii,
Religionskritik selber zu einer neuen (Pseudo-)Religion werden; die Aufklä-
rung, als Kampf gegen den Aberglauben zum "Extrem der substanzlosen
Reflexion seiner selbst in sich selbst" (Hegel) pervertiert, kann selber wieder
in Aberglauben umschlagen: sei es, daß ein neuer Aberglaube folgt, sei es, daß
die Aufklärung sich selber als Aberglauben erweist. Nicht nur tritt an die

161
Sie begannen ihre Hoffnungen bereits wie Kant auf einen unzerstörbaren
"Keim" von Aufklärung zu setzen, der alle Stürme überstehen und
irgendwann zu neuem Leben erwachen werde.
Die Fragen nach dem Anfang und dem Ende der Aufklärung als Epo-
che und die daraus resultierenden Fragen nach einer Aufklärung vor der
Aufklärung und einer Aufklärung nach der Aufklärung führen unver-
meidbar zu einer unabsehbaren Erweiterung des Aufklärungsbegriffs.
Aufklärung wird zu einer bloßen Denkart, zu einer bloßen kritischen
Einstellung oder zu einem sogenannten rationalen DenkstiL Dadurch
schlägt der total generalisierte, der sozusagen totalisierte Aufklärungsbe-
griff am Ende wieder in einen unhistarischen Aufklärungsbegriff um.
Die Historisierung des ursprünglich programmatisch-systematischen
Aufklärungsbegriffs leitet über die Generalisierungen des späteren histo-
rischen Aufklärungsbegriffs zu einer Enthistorisierung dieses histori-
schen Begriffs hin und damit zu einem sozusagen universalhistorischen
Aufklärungsbegriff, der dem systematisch-programmatischen Aufklä-
rungsbegriff bis zu einem gewissen Grade - als dessen Erweiterung -
korrespondiert. Aufklärung in diesem weiten Sinn ist ein nahezu jeder-
zeit möglicher 'kritischer Rationalismus', der allerdings zu bestimmten
Zeiten geschichtlich stärker hervortritt. Aber natürlich ist auch der gene-
ralisierte Aufklärungsbegriff nicht wirklich überhistorisch, der neue Auf-
klärungsbegriff bleibt, wenn auch nur in Resten, dem 18. Jahrhundert als
seinem Vorbild verbunden. Es ist daher auch die Aufklärung als Zeiter-
scheinung, die wohl nicht zufällig immer noch als sachliches Problem zur
Diskussion steht.
Aufklärung ist seit der Aufklärung ein in vielfältigen Nuancen variie-
render Aktions- und Epochenbegriff zugleich. Man mag dieses Changie-
ren des Aufklärungsbegriffs zwischen einem systematischen oder pro-
grammatischen und einem historischen bzw. einem bis zur Universalität
enthistorisierten, 'geschichtsphilosophischen' Aufklärungsbegriff als
Mangel an begrifflicher Klarheit bedauern, es beweist aber auch die nach-
haltige Nachwirkung einer vergangeneu Epoche und den Zusammen-
hang eines Problemkomplexes. Wenn der Begriff Aufklärung nicht nur
zufällig überlebt haben sollte, beweist er die bleibende Aktualität der
damit gemeinten Sache. Der deutsche Begriff Aufklärung enthält die
Chance, den Zusammenhang zwischen der historischen und der sachli-
chen Aufklärungsproblematik festzuhalten.
Stelle des alten Aberglaubens immer wieder ein neuer, der dann meist nur der
alte im neuen Gewande ist; auch Aufklärung selber ist, soweit sie nicht selbst-
kritisch ist, unvernünftiger Aberglaube.

162
b) Selbstdefinition und Selbsttranszendenz

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kam es zu einer verstärkten


Selbstreflexion der deutschen Aufklärung. Sie drehte sich vor allem um
die Frage, was Aufklärung in Wahrheit, was also 'wahre' Aufklärung sei.
Es ging um die Bedingungen und Folgen der Aufklärung, vor allem um
ihre möglichen Grenzen. Angesichts der Fülle der faktisch vorhandenen
Ansprüche und Konzeptionen war eine solche Aufklärung über Aufklä-
rung von unbezweifelbarer Dringlichkeit, und sie wurde sowohl von den
Aufklärern wie von ihren Gegnern gefordert. Die Hauptimpulse kamen
dabei nicht aus der Problematik der Sache selbst, sondern aus dem Zwang
zur Selbstverteidigung. Die Aufklärung mußte sich gegen viele von
außen an sie herangetragene, aber auch gegen manche im eigenen Kreis
entwickelte Auffassungen der Aufklärung zur Wehr setzen und sich mit
einer Konzeption der 'wahren' Aufklärung von aller 'falsch' verstande-
nen Aufklärung absetzen: von falschen Bildern der Aufklärung bei deren
Gegnern, aber auch von falschen Aufklärern in den eigenen Reihen.
Erste Anstöße dazu kamen wahrscheinlich (außer aus der Theologie) aus
der neuen Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang, die
nun, in einer Art Jugendprotest, statt immer mehr Verstandeskultur,
plötzlich mehr Gefühl und Leben forderte. Aber auch bei den Aufklä-
rern selber wurde, obwohl sie die Wirkmöglichkeit der Aufklärung meist
noch überschätzten, das Vertrauen in Verstand und Vernunft und damit
die Möglichkeit von Aufklärung unterminiert - durch die Ausbreitung
eines skeptischen Empirismus und durch die Selbstkritik der Vernunft in
der Kantischen Philosophie. Die wichtigsten Zwänge zur Selbstaufklä-
rung kamen jedoch aus der Politik: zunächst die von Friedrich II. initi-
ierte Akademiefrage über die Berechtigung des Volksbetrugs, nur wenig
später die Wiedererstarkung der alten politischen und religiösen Kräfte
nach dem Thronwechsel in Preußen und dann vor allem die Französische
Revolution, die von den Gegnern der Aufklärung in diffamierender
Absicht als deren unmittelbare Konsequenz gedeutet wurde. So geriet die
Aufklärung in Deutschland in die Defensive und mußte sich aus dieser
Defensive heraus als "die wahre Aufklärung" definieren. Sich selbst defi-
nieren heißt aber auch, sich selbst transzendieren.
Die Selbstdefinition der deutschen Aufklärung ist, weil eine Definition
aus der Defensive, zu einem guten Teil taktisch bedingt. Sie muß versu-
chen, die Gegen- wie die Pseudoaufklärung zu unterlaufen und die
'wahre' Aufklärung möglichst unangreifbar (z. B. sehr formal) zu defi-
nieren - zumal sich auch Gegen- oder Pseudoaufklärung ihrerseits dieses

163
Begriffs (sei es aus redlichen Motiven, sei es aus taktischen Gründen)
bedienen können, wobei jeder sich als den wahren und den anderen
als den falschen Aufklärer oder gar als Aufklärungsgegner bezeich-
nen kann. Der Sache nach geht es jedoch vor allem um eine positive
Fortsetzung und Absicherung der von der Aufklärung in Deutsch-
land immer schon verfolgten Generallinie, nämlich um die Idee eines
aus Hoffnung auf Vernunft verfolgten Reformkurses. Da in Deutsch-
land eine Revolution nach französischem Muster mangels nationaler
und religiöser Einheit unmöglich, ja aus der Sicht der weitaus meisten
deutschen Aufklärer im Vergleich zu Frankreich auch unnötig war und
angesichts des bedrohlichen Fortgangs der Französischen Revolution
auch je länger desto weniger gewollt werden konnte, mußte eine Aufklä-
rung, die ihrer Natur gemäß auf Vernunft und nicht auf mörderische und
selbstmörderische Abenteuer setzte, rebus sie stantibus wieder einmal
versuchen, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen. Sie
mußte, um die durch sie selbst erwirkten Fortschritte nicht zu gefährden,
die vorhandenen positiven Ansätze durch Kompromisse absichern und
durch eine interpretatio in meliorem partem zur Norm hochloben -
ohne sich dabei der geistig und politisch erstarkten Restauration zu ver-
schreiben. Gleichzeitig konnte sie den moralischen Druck auf die Institu-
tionen, die der Aufklärung entgegenstanden, erhöhen und sogar mit der
Gefahr einer politischen Revolution bei weiterer Reformverzögerung
drohen. So konnte die Aufklärung, nachdem sie bereits so etwas wie eine
kulturelle Öffentlichkeit in Deutschland und damit so etwas wie eine
Kulturnation geschaffen hatte, am Ende sogar noch eine politische
Öffentlichkeit als Basis einer politischen Nation konstituieren. Aller-
dings hatte sie am Ende nicht mehr die Kraft, die Idee einer Reformauf-
klärung siegreich nach beiden Seiten zu verteidigen. Das 'Projekt' einer
Reform durch wahre Aufklärung wurde zwischen den Extremen von
Revolution und Reaktion zerrieben, die sich dann wie üblich gegenseitig
aufschaukelten. Mit dem Ende der 'Reformkontinuität' wurden so die
beiden Hälften der halbierten Aufklärung zu feindlichen und aufklä-
rungsfernen Polen.
Der Streit um die Aufklärung kann als rein verbaler Streit erscheinen.
Eine bestimmte Richtung soll emphatisch als die wahre Aufklärung oder
als die einzige Aufklärung, die diesen Titel verdient, bezeichnet werden.
Aber der Kampf um ein Wort zeigt an, daß dieses eine Idee repräsentiert,
die nicht mehr ohne weiteres aufgegeben werden kann - der Streit um
die richtige Parole (wie heute z. B. um das Wort Freiheit) kann nicht ganz
zufällig sein. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Versuchen, auch die

164
Umkehrung bisheriger Aufklärungsintentionen, also die sogenannte
Gegenaufklärung, als die wahre Aufklärung auszugeben. So wie die
neuen Revolutionäre, so konnten auch die neuen Gegenrevolutionäre
sich als die wahren Aufklärer bezeichnen und beide die bisherige Reform-
aufklärung nun von verschiedenen Seiten als falsche, nämlich als maßlose
oder als kraftlose Aufklärung kritisieren. Wenn aber der Begriff wahre
Aufklärung als Deckmantel verschiedener Intentionen (Reform, Revolu-
tion, Reaktion) dienen kann, so kann der Streit um diese Parole erst recht
müßig erscheinen. Allerdings setzt die Kritik am beliebigen Gebrauch des
Begriffes wahre Aufklärung, z. B. an seiner Verwendung für faktische
Gegenaufklärung oder Pseudoaufklärung, die de facto Verdummung sei,
unvermeidbar selbst schon wieder einen normativen Begriff von ('wah-
rer') Aufklärung voraus.
Während die Aufklärer noch über den Begriff der wahren Aufklärung
stritten (einschließlich Kant, der diesen Begriff vor allem im Hinblick auf
eine wahre moralische Religion gebrauchte) und, indem sie in einer Art
Krise der Selbsteinschätzung sich dadurch als Aufklärer definierten, die
Aufklärung in ihrer bisherigen Form transzendierten, begann gleich-
zeitig - nur noch in loser Verbindung mit dieser Art von Aufklärung
und Selbstbestimmung von Aufklärung - eine neue Generation nach
einer anderen, "höheren" Aufklärung zu suchen und auf diese Weise
über die bisherige Aufklärung hinauszudenken. Für sie waren die
Errungenschaften der inzwischen einhundertjährigen Aufklärung im
Grunde schon selbstverständlich und daher kein Thema mehr. Die letzte
Generation des 18. Jahrhunderts stand unter dem Eindruck der neuen
Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, der Kantischen Philosophie und
der Französischen Revolution. Die eingefahrenen Gedankengänge der
Aufklärung, ja das Wort Aufklärung selber, erregten fast nur noch Über-
druß; selbst Kant galt den jungen Philosophen am Ende des Jahrhunderts
- in Übereinstimmung mit seinem Selbstverständnis, aber mit entgegen-
gesetzter Wertung- nicht als Überwinder, sondern nur als (halbherzi-
ger) Vollender der Aufklärung. Dennoch verstehen auch die neuen Den-
ker sich (zumindest zunächst) nicht selten als Fortsetzer und Vollender
der Aufklärung. Schon Fichte, der als radikaler Aufklärer beginnt,
möchte die Aufklärung "höher bringen"; Jacobi und SeheHing gehen
von der Idee einer Weiterentwicklung der Aufklärung aus, und sogar
Hölderlin spricht ausdrücklich von einer "höheren Aufklärung". Selbst
Hegel, der zunächst in Auseinandersetzung mit der Weltweisheit der
Aufklärung nach einer "höheren Weisheit" suchte, verstand seine Philo-
sophie (auch) als Erfüllung einer immer noch "unbefriedigten" Aufklä-

165
runlf. Dennoch wächst bei der postkantianischen und postrevolutionä-
ren Generation - mit dem Wandel der ideellen und reellen, der geistigen
und gesellschaftlichen Voraussetzungen - die Distanz von der Aufklä-
rung des 18. Jahrhunderts bis hin zum Umschlag in die Romantik. Der
Deutsche Idealismus ist nicht nur Weiterentwicklung der Aufklärung,
sondern auch Ausdruck des Zusammenbruchs der Aufklärung und eines
neuen Aufbruchs, ja sogar eines roll back - aufs Ganze gesehen jedoch
wohl mehr eine Folge des Scheiterns der Französischen Revolution als
des Versagens der deutschen Aufklärung. Jedenfalls überwiegt, obwohl
vieles in den neuen Philosophien nur Umformulierung bereits vorhande-
ner Einsichten ist, der Eindruck der genialen Innovation, durch die sogar
die kantische und kantianische Philosophie ins Hintertreffen gerät. Aber
auch wenn die Diskontinuität größer sein sollte als die Kontinuität
{soweit so etwas überhaupt möglich ist), war die Kontinuität wahrschein-
lich größer, als den Neuen und ihren Nachfolgern bewußt war.
Die neue Mentalität zeigt sich auf vielen Gebieten, grundlegend aber
war die Neueinschätzung von Religion, Moral und Kunst und damit
auch das neue Selbstbewußtsein der Philosophie. Während die Frühauf-
klärung noch ganz durch die Gegnerschaft zur Orthodoxie, später auch
zum Pietismus, geprägt war und sich allererst den Spielraum für ein freies
Denken erkämpfen mußte, hat die letzte Generation des 18. Jahrhun-
derts bereits ein sehr viel freieres Verhältnis zur Religion. Die christliche
Religion in ihrer traditionellen (kirchlichen) Fassung gilt nun, infolge der
Zunahme der Religionskritik und Religionsgeschichtsschreibung, fast
nur noch als ein bloß historischer Glaube. Die Philosophen des Deut-
schen Idealismus rekrutieren sich weitgehend aus gescheiterten Theolo-
gen, die mit der kirchlichen Theologie gebrochen haben und nun als spe-
kulative Philosophen freie Theologen, "Priester der Wahrheit", sind. Im
Unterschied zu den moralischen Aufklärern sind sie wieder Gottsucher,

2 WährendJohannJakob Engel aus Furcht vor der Rückkehr des Aberglaubens


"das ewige Erhöhen der Aufklärung" als gefährlich betrachtet, fordert Carl
Leonhard Reinhold für den Gelehrten "höhere Aufklärung". Vgl. W. Schnei-
ders, Die wahre Aufklärung 1974 (178, 182). Etwa gleichzeitig forderte dann
Fichte, z. B. 1793 in der Vorrede der Zurückforderung der Denkfreiheit von den
Fürsten Europens, die Aufklärung "höher zu bringen", und zwar im Sinne
eines Fortschritts auf deren Linie. Zu Hölderlin vgl. G. Kurz, Höhere Aufklä·
rung, Aufklärung und Aufklärungskritik bei Hölderlin (in: Ch. Jamme u. G.
Kurz, Idealismus und Aufklärung, Kontinuität und Kritik der Aufklärung in
Philosophie und Poesie um 1800 (1988}; zu Hege! vgl. W. Schneiders, Vom Welt·
weisen zum Gottverdammten, Über Hege! und sein Philosophieverständnis
(ebd.).

166
daher auch Geschichtsphilosophen, die mit ihren Konzeptionen von
Heilsgeschichte die Offenbarungsreligion nicht mehr kritisch erörtern,
sondern sie bereits historisch zu verstehen und damit zu retten ver-
suchen. Philosophie ist jetzt freie und vernünftige Erhebung zum
Absoluten; sie ist selber Gottesdienst, sozusagen postchristliches Chri-
stentum in der Form der Philosophie - allerdings immer hart am Rande
des Pantheismus oder sogar des Atheismus. So beruht der Deutsche
Idealismus auf einem produktiven Bruch mit dem etablierten Christen-
tum, auf einer neuen Abwendung und Zuwendung zugleich. Dabei steht
die Moral nicht mehr im Vordergrund des Interesses - teils weil ihre
theoretische Ausformulierung mit Kant einen gewissen Höhepunkt
erreicht hatte, teils weil in der Praxis das Interesse an der Politik das
Interesse an der Moral zu verdrängen beginnt, aber sicher auch deshalb,
weil die Inhalte der aufklärerischen Moral inzwischen als Platitüden
empfunden wurden. Nur beim jungen Fichte hat die Moral noch einen
absoluten Stellenwert und bildet eine geradezu atheistische Ersatz-
religion. Nun tritt an die Stelle der 'Flucht' in die Moral die 'Flucht' in
die Kunst. Während in der ersten Hälfte der deutschen Aufklärung die
Kunst kaum als Problem interessiert (mangels einer großen nationalen
Kunst und weil das Absolute außer in der kirchlichen Religion zunächst
nur in der Form der Moral anerkannt wird, in der Kunst hingegen noch
als das Irrationale verdächtig ist), wird nun die Kunst, auf der Basis der
Rehabilitation der Sinnlichkeit in der Aufklärung, und insbesondere der
sinnlichen Wahrnehmung in der "Ästhetik" der Aufklärung, zu einem
ausgezeichneten Ort der Erscheinung des bisher auch hier wegerklärten
Absoluten. Die Ästhetik, die sich diesen Namen bekanntlich erst in
Deutschland gibt (Alexander Gottlieb Baumgarten), tritt hier nicht nur
oder sogar kaum als Regelwerk oder Geschmacksreflexion auf; sie konsti-
tutiert sich vielmehr jetzt als eine philosophische Disziplin mit anfangs
mehr erkenntnistheoretischen, dann aber zunehmend metaphysischen
Akzenten. Schon bei Kant sind es zwei Dinge, die das Gemüt mit Bewun-
derung erfüllen, das moralische Gesetz in mir und der gestirnte Himmel
über mir, d. h. das Erhabene tritt, wenn auch noch mehr in der Natur
als in der Kunst, als eine (noch moralische) ästhetische Erfahrung neben
die rein moralische Erfahrung des "Du sollst". Für andere Zeitgenossen
und Kants Nachfolger wird Kunst dann, wie für viele bis heute, schon
zur metaphysischen Erfahrung par excellence, zur Vorstufe oder Anti-
zipation, wenn nicht sogar zur Vollendung der Wahrheitserkenntnis,
die die Philosophie nun mit absolutem Anspruch zu verwalten behaup-
tet.

167
Die hier nur angedeutete Interessenverlagerung findet einen gleichzeiti-
gen Ausdruck in dem neuen Stellenwert der Begriffe Freiheit und Ver-
nunft, die die Vorherrschaft der Parolen Tugend und Verstand ablösen.
Offensichtlich waren die Worte Tugend und Verstand um 1800 ver-
braucht, weil überstrapaziert. Die Aufklärung hatte sich ursprünglich als
"Aufklärung des Verstandes" verstanden, weil sie den Verstand (intellec-
tus) wie seit altersher üblich in der Hierarchie der Geistesvermögen als
die höchste geistige Kraft, nämlich als ein Vermögen intellektueller
Anschauung verstanden hatte. Die Vernunft (ratio) hingegen, obwohl als
richtige oder gesunde Vernunft ein zumindest in praktischer Hinsicht
vorausgesetzter Maßstab, galt ursprünglich nur als diskursives Vermögen
(ratio qua ratiocinatio). Doch wandelte sich im Laufe des 18. Jahrhun-
derts aus einer Reihe von Gründen, die hier nicht diskutiert werden kön-
nen, beinahe untergründig die Einschätzung der Begriffe Verstand und
Vernunft und damit auch ihres Verhältnisses so sehr, daß die Rangord-
nung spätestens bei Kant offenkundig umschlug. Für den Deutschen
Idealismus, der sich der Kantischen Terminologie anschloß, war Verstand
daher keine evokative Parole mehr. Der Verstand galt nun als unterste
Stufe des Denkens, als eine mehr oder weniger mechanische Intelligenz,
als etwas Leeres und Totes. Vor allem aber hatte der Verstand der Aufklä-
rer offensichtlich kein Verständnis für die neuentdeckte 'Tiefe' der Wirk-
lichkeit, er war 'seicht' und 'platt' und konnte- was allerdings die deut-
sche Aufklärung zuletzt schon selber festgestellt hatte - zum "Fanatis-
mus des abstrakten Gedankens" (Hegel) führen. Spätestens hier begann
die allgemeine Suche nach einer höheren Vernunft, in der der Verstand,
wie auch immer, aufgehoben sein sollte. Es beginnt der Aufstieg der Ver-
nunft. Dabei garantiert der alte und enge Zusammenhang der Begriffe
Verstand und Vernunft zunächst noch das Festhalten am 'Rationalismus';
die Vernunft, die sich auf den Verstand stützt und ihn voraussetzt, baut
z. B. immer noch auf Wissenschaft bzw. orientiert sich an ihr als Vorbild.
Zugleich aber drängt nun auch alles, was sich, besonders in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter Parolen wie Gefühl und Leidenschaft,
am Rande oder außerhalb der Aufklärungsbewegung angesammelt hatte,
was im Pietismus, aber auch in der Musik gleichsam ein Exil gefunden
hatte, machtvoll nach vorn. Und zugleich tritt an die Stelle der Vernünf-
telei, nicht selten eine neue 'Empfindelei'. So beginnt (zunächst unter
dem Banner einer höheren Vernunft) der faktische Umschlag der allge-
meinen Mentalität in einen 'Irrationalismus'. Er wird begleitet von der
schon typisch deutschen Aufwertung des Begriffes Geist, bis dann der
"Geist als Widersacher der Seele" auch noch dem Verdikt der Plattheit

168
zum Opfer fällt. Am Ende steht die heute übliche Verteilung von Ratio-
nalismus und Irrationalismus nach unterschiedlichen Bereichen.
Dies alles hatte natürlich auch sein Pendant in der Praxis, Vorausset-
zungen in der Praxis und Folgen für das Verständnis von Praxis. Wie
gesagt war die Aufklärung von Anfang an mehr gewesen als Aufklärung
des Verstandes; sie hatte auf die "Verbesserung des Willens", also auf
Tugend, abgezielt. Aber mit der faktischen Degeneration der Tugend zur
bürgerlichen Sittsamkeit und der Entwicklung des modernen Staates zum
Rechtsstaat mit seinen Bürgern und Beamten treten nun, theoretisch seit
langem durch das Naturrecht propagiert, neue Begriffe in den Vorder-
grund, nämlich Recht und Pflicht - Recht vor allem durch die Französi-
sche Revolution, Pflicht vor allem durch die Kantische Philosophie.
Gleichzeitig aber wird, in der Philosophie wie in der Politik, Freiheit zur
beinahe alles beherrschenden Parole. Zwar war Freiheit immer schon
Ziel der Aufklärung; denn Aufklärung ist als solche Selbstbefreiung und
auch als rein geistige Emendation immer schon auf Freiheit gerichtet -
teils weil Wahrheit ohne Freiheit nicht zu finden ist, teils weil die Wahr-
heit frei macht. Dennoch hatte im Denken der Aufklärung (aufgrund
ihres Ausgangs von einer Reform der Religion und nicht von einer Revo-
lution der Politik) zumindest in praktischer Hinsicht nicht die Freiheit,
sondern die Tugend im Vordergrund gestanden. Erst allmählich tritt
neben dem intellektuellen und moralischen Aspekt der Aufklärung auch
deren emanzipatorischer Charakter in den Vordergrund (nicht nur, aber
auch in politischer Hinsicht). Schon die Frühaufklärung hattetrotz ihrer
moralisch-pädagogischen Absichten durch die systematische Unterschei-
dung von Recht und Moral das Ideal des (christlichen) Tugendstaates
durch das des (weltlichen) Rechtsstaates zurückgedrängt; in der zweiten
Hälfte der Aufklärung wird dann, in der Konsequenz der fortschreiten-
den Aufklärung und vor allem der Französischen Revolution, der
ursprünglich absolutistische Rechtsstaat mehr und mehr als ein Garant
individueller Freiheiten, als liberaler Rechtsstaat, verstanden. Darüber
hinaus aber erscheint nun deutlicher als bisher, vor allem aufgrund der
politischen Erfahrungen, Freiheit nur als gemeinschaftliche Freiheit
möglich. Zumindest der wahre Staat oder die ideale menschliche
Gemeinschaft wird nun als Reich der Freiheit gedacht, das dann zugleich
ein Reich der Vernunft ist und den sogenannten Not- und Verstandes-
staat der Aufklärung, den als bloßen Vertrag rekonstruierten Rechtsstaat
des sogenannten lndividualliberalismus, transzendieren soll.
Der angedeutete Wandel der Mentalität am Ausgang des 18. Jahrhun-
derts fällt in Deutschland nicht zuletzt deshalb so schroff aus, weil er hier

169
von einer einmaligen Anzahl großer, ja genialer Geister getragen wird -
anders als in England und Frankreich, die ihre geistigen Höhepunkte
schon in der ersten bzw. zweiten Hälfte der Aufklärung hatten. Eine
wahre Genieschwemme verstellt mehr als in anderen Ländern den Blick
auf die vorhergehende Aufklärung. Dabei setzen sich die Protagonisten
des neuen Geistes von ihren unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen
verständlicherweise besonders scharf ab - was ihnen auch aufgrund ihres
Selbstbewußtseins, das nun Philosophie wieder als Berufung versteht,
nicht schwer fällt. An die Stelle der Anmaßungen des Verstandes treten
nun die Anmaßungen der Visionäre. Die deutsche Aufklärung (ein-
schließlich Kant) wird so zur bloßen, verachteten Vergangenheit. Durch
diesen betonten Bruch wird die Aufklärung in Deutschland zu einer
besonders klar umrissenen Epoche, die es schwer hatte, überhaupt noch
anerkannt zu werden. Deutschland wird zum Land der verfemten, dann
sogar vergessenen Aufklärung.
Dennoch geht der Streit um die wahre und die höhere Aufklärung wei-
ter. Zwar spielen diese Begriffe im 19. und 20. Jahrhundert keine auffäl-
lige Rolle mehr, und manches, was sich als wahre Vernunft und höhere
Einsicht ausgibt, wäre dem kritischen Rationalisten des 18. Jahrhunderts
als "Träume eines Geistersehers" erschienen. Doch kann man nicht nur
der Sache nach Marx, Nietzsche, Freud oder andere in dieser oder jener
Hinsicht als Fortsetzer der Aufklärung ansehen, auch der Begriff Aufklä-
rung wird immer wieder in Anspruch genommen. Die Forderung nach
einer wahren oder echten Aufklärung taucht selbst da auf, wo man sie
vielleicht am wenigsten vermutet, z. B. bei Karl Jaspers und Martin Hei-
degger sowie bei den modernen Kritikern der Aufklärung3•

c) Die Armseligkeit der Aufklärung

Der Streit um die Aufklärung (Aufklärung als Aufgabe und Aufklärung


als Ereignis) ist noch längst nicht ausgestanden - er ist anscheinend
gerade erst wieder aufgeflammt. Für die einen ist Aufklärung immer
noch eine zugkräftige Parole, für die anderen eher ein Reizwort, für
beide aber anscheinend ein Schlüsselwort. Einerseits werden immer noch

3 M. Heidegger (Sein und Zeit 1927,9. Aufl. 1960) versteht die Phänomenologie
auch als Vorurteilskritik (vgl. S. 35 f.) und spricht sogar von einer "echten
Aufklärung" (178). K. Jaspers (Einführung in die Philosophie 1955, 1958) plä-
diert im Sinne seiner späteren Vernunftphilosophie und unter Bezug auf Les-
sing ausdrücklich für eine "wahre Aufklärung" (86 f.).

170
Vernunft und Freiheit als Kernforderungen der Aufklärung proklamiert,
andererseits werden sowohl die Mängel wie die Folgen der Aufklärung
beklagt. Die Kritik am "Elend" der Aufklärung steht unmittelbar neben
der Forderung nach mehr Aufklärung, die Feststellung der Mängel oder
des Versagens der bisherigen Aufklärung sowie des Endes aller Aufklä-
rung neben dem Postulat einer vernünftigen Freiheit und einer Freiheit
des Denkens für alle. Nachdem Aufklärung einige Zeit wieder ein Mode-
wort war, geht die neueste Tendenz offenbar wieder in die entgegenge-
setzte Richtung, bis hin zu Mystiquerien aller Art. Eine neue geistige
Immunschwäche scheint sich auszubreiten, die nun selbst wieder einer
neuen Aufklärungskampagne bedarf. Doch ist die Aufklärungsdebatte,
die die geschichtliche Aufklärung als Schlüsselereignis der Moderne ver-
steht, natürlich nur ein Aspekt der weitverbreiteten Modernismusde-
batte. Sie ist eine Debatte über die Zukunft von Vernunft und Freiheit
in Form einer Vergangenheitsbewältigung, und sie kann auch allgemei-
ner als Diskussion über das Wesen der Neuzeit, den Sinn von Wissen-
schaft und Technik, oder spezieller als Descartes- oder Kant-Debatte
geführt werden.
Die Aufklärungskritik ist, wie schon angedeutet, in sich divergent. Sie
kann der bisherigen Aufklärung zuviel oder zuwenig Radikalität vorwer-
fen, sie kann Mängel oder Einseitigkeiten monieren, und sie kann ihre
Ambivalenz, ihr Versagen oder ihre Selbstverfehlung feststellen. Titel
wie Die Dialektik der Aufklärung, Die verspielte Aufklärung, Die pala-
vernde Aufklärung oder Vom Elend der Aufklärung machen solche unter-
schiedlichen Perspektiven geltend. Formal haben sie allerdings alle eins
gemeinsam: sie reklamieren zumindest für sich selber, bewußt oder unbe-
wußt, eine wahre bzw. eine höhere Aufklärung. Denn natürlich ist auch
die systematische Aufklärung über die Mängel und Einseitigkeiten der
geschichtlichen Aufklärung immer noch Aufklärung. Auch Aufklärungs-
kritik ist Aufklärung. Nicht nur unterstellen auch moderne Aufklärungs-
kritiken immer wieder ein eigentliches Wesen der Aufklärung, also einen
Begriff von wahrer Aufklärung, an dem sie die des 18. Jahrhunderts mes-
sen; Feststellungen bzw. Behauptungen über Verkürzungen des Ver-
nunftbegriffs in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, über positivistische
Selbstverfälschung und Selbstzerstörung der bisherigen Aufklärung usw.
postulieren implizit eine wahre Aufklärung, von der die wirkliche abge-
fallen ist. Oft fordern sie sogar eine höhere Aufklärung, nach der die
wirkliche eigentlich hätte streben sollen; wahre Aufklärung sollte dem-
nach z. B. (über sich selbst) aufgeklärte Aufklärung sein oder sich eines
substantiellen Vernunftbegriffs bedienen. Aber auch wenn sie alle ratio-

171
nale Aufklärung völlig zu verwerfen scheinen, sind die modernen Auf-
klärungskritiken selbst auf dem Boden eben dieser Aufklärung erwach-
sen und möchten de facto eine 'Aufklärung' über Aufklärung bieten, die
sie implizit als eine höhere Einsicht oder Erleuchtung, als wahre oder
höhere 'Aufklärung' behaupten. An irgendeiner Art von Aufklärung
scheint also auch die Aufklärungskritik festhalten zu müssen - weniger
weil Aufklärung immer noch eine unüberholte Parole ist, sondern weil
der Wahrheitsanspruch aller Erkenntnis "in Wahrheit" nur (unter Bezug
auf Wahrheit als Norm) durch einen neuen Wahrheitsanspruch, also
durch einen Anspruch auf 'klarere' Erkenntnis, bestritten werden kann.
Allerdings kann der Hinweis auf die Selbstwiderlegung der Aufklä-
rungskritik in dieser Formalität nicht das letzte Wort sein, d. h. er darf
die inhaltliche Diskussion nicht abschneiden wollen. Der unvermeidliche
Zirkel aller argumentativen Erkenntniskritik ist kein Grund zur Selbst-
gerechtigkeit. Um eine Verständigung zu ermöglichen, ist daher allen
Aufklärungskritiken von vornherein die Armseligkeit der Aufklärung
zuzugeben. Es liegt schließlich auf der Hand, daß kein Mensch nur Auf-
klärung, also daß alle auch mehr und anderes als Aufklärung wollen. Auf-
klärung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung einer vor-
ausgesetzten Wahrheit, die selber wahrscheinlich nicht erreichbar ist.
Gegen Heils- und Wunderlehrer ist rein rationale Aufklärung nicht kon-
kurrenzfähig. Eine erkannte oder erstellte Ordnung mag noch so richtig
sein, das Bedürfnis nach Außerordentlichem wird sie niemals stillen kön-
nen, zumal sie es selber immer wieder erzeugt. Die Langeweile des alltäg-
lichen Daseins, selbst schon Ausdruck des Bedürfnisses nach Absolutem,
verlangt unmittelbar nach ganz anderen Befriedigungen als Klarheit oder
Aufklärung; auch das Hoffen auf Wunder ist nur die oftmals banale
Erscheinung dieses absoluten Bedürfnisses. Ihm kann die Aufklärung so
wenig wie irgendeine Philosophie genügen - schon deshalb nicht, weil
sie wesentlich 'negativ' ist. Als potentiell permanente Kritik ist Aufklä-
rung relativierende, also immer auch verendlichende, objektivierende,
also immer auch verdinglichende Erkenntnis. Aufklärung selbst ist keine
Erfüllung. Dazu müßte sie eo ipso Erkenntnis des Absoluten, Schau Got-
tes, sein. Sie müßte zumindest "Fenster ins Absolute" öffnen können,
anstatt immer nur Pseudoerleuchtungen kritisieren zu müssen. Aufklä-
rung ist keine Freudenfeier, sondern ein trostloses Geschäft.
1. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie endlos ist. Aufklärung
ist eine Sisyphusarbeit. Das Problem der Aufklärung beginnt immer wie-
der von neuem, nämlich mit jedem Menschen, der geboren wird und des-
sen natürliche Unwissenheit sich alsbald zum Pseudowissen verhärtet.

172
Es kann keine endgültig aufgeklärte Welt geben. Vor allem aber bleibt
die Aufklärung endlos, weil sie in der Sache so gut wie ergebnislos ist;
in anbetracht der endlosen Zahl der Probleme schrumpfen die erreichten
Lösungen fast auf Null zusammen. Es kann nicht einmal eine momentan
vollendete Aufklärung geben. Nur gelegentlich gelingt es der Aufklä-
rung, ein paar Lichter aufzusetzen.
2. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie langweilig ist. Indem
die Aufklärung die bunte Vielfalt unserer individuellen und kollektiven
Illusionen zerstört, macht sie gewissermaßen tabula rasa - so wie unsere
Industriekultur in ihrem Gefolge die letzten Reste der kulturellen
Lebensvielfalt einebnet. An die Stelle der Götterbilder sind weltweit
einige dürre Prinzipien getreten; die Wahrheit (d. h. das, was bisher noch
dafür gilt) ist monoton geworden - fast schon auf Computerniveau her-
untergekommen. Aufklärung scheint unvermeidlich immer inhaltsleerer
werden zu müssen. Was seit eh und je als wesentliche Wahrheit galt, ist
vielfach als bloßer Wahn aufgeklärt und damit weggeklärt - jetzt stehen
wir da: 'aufgeklärt' und was nun?
3. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie wesentlich negativ ist.
Aufklärung ist zwar auf die Aufdeckung der Wahrheit ausgerichtet, aber
als Kritik ist sie zunächst nur Aufhebung des falschen Scheins, also
Destruktion, nicht Affirmation. Als Negation aber ist Aufklärung relativ
auf das, was noch unaufgeklärt ist, d. h. sie lebt von der noch vorhande-
nen Dunkelheit, also genau von dem, was sie bekämpft. Aufklärung ist
eigentlich parasitär. Sie ist eine bloß sekundäre Reflexionskultur, die von
der Substanz lebt, die sie zerstört; als Epoche war sie eine ziemlich
unschöpferische Metakultur, "ein tintenklecksendes Saeculum". Besten-
falls lebt auch sie von dunklen Ahnungen. Aber natürlich lebt sie auch
von den Illusionen, die sie sich selber immer noch wider Willen macht
und die sie irgendwann auch angreifen und zerstören muß. Auch die Auf-
klärung schafft sich ihre Illusionen. Im historischen Abstand erkennen
wir, in welchem Maße das 18. Jahrhundert von falschen Hoffnungen
gelebt hat, vor allem von den verbliebenen Resten eines säkularisierten
Christentums, das die Aufklärung aus sich heraus eigentlich gar nicht
mehr rechtfertigen konnte. Obwohl wesentlich negativ, war und ist die
Aufklärung vermutlich immer noch zu positiv.
4. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie hoffnungslos macht.
Die Aufklärung war ausgezogen, um ein neues "Fürchtet euch nicht" zu
lehren. Aber das Licht hat nicht nur die bösen, sondern auch die guten
Geister verjagt- die "Gespensterkammer" war nur ganz oder gar nicht
auszuräumen. Mit anderen Worten, das, was uns unsere Furcht nehmen

173
sollte, hat uns auch einen guten Teil unserer Hoffnungen genommen,
jedenfalls nicht nur unsere unbegründeten Ängste, sondern auch unsere
falschen Hoffnungen. Und nicht selten sind sogar die Ängste geblieben
und nur die Hoffnungen geschwunden. Zumindest lassen sich die berech-
tigten Hoffnungen noch nicht klar ausmachen. Die neuen Wahrheiten,
die die Aufklärung bisher als Tröstungen anbieten konnte, waren jeden-
falls, wenn überhaupt, nicht viel besser als die alten, so daß die gesuchte
erlösende Wahrheit je länger je mehr im Unerreichbaren zu verschwin-
den droht.
Die Kritiker der Aufklärung wissen gar nicht, wie recht sie haben. Auf-
klärung lebt von der Hoffnung auf Wahrheit. Aber einerseits ist sie eine
langweilige destruktive Sisyphusarbeit. Sobald die Faszination der Nega-
tion verblaßt ist, zeigt sich, daß die Aufklärung als solche nichts zu sagen
hat; sie lebt vom Widerstand: vom Widerstand gegen den Schein und
vom Widerstand des Scheins selber. Sie kann, da sie nur Steine statt Brot
liefert, mit keiner, wie auch immer gearteten Heilslehre konkurrieren,
sie kann diese immer nur kritisieren. Andererseits scheint alle bisherige
Aufklärung immer noch zu positiv in ihren Voraussetzungen gewesen zu
sein. Sie hat auf das Wahre, Gute und Schöne gesetzt, aber das Gegenteil
von dem, was sie erhofft hat, erreicht; denn sie hat das wahrhaft Wahre,
Gute und Schöne nicht gefunden. Sie hat das Geltende in Frage gestellt,
ohne Endgültiges etablieren zu können. Sie hat sich gleichsam selbst im
Wege gestanden, weil ihr zuletzt mit dem falschen Glauben auch ihr eige-
ner Glaube an ihre eigene Mission verloren ging. Sie hat, indem sie den
Glauben an die Heilswahrheiten zerstört hat, die Weltzerstörung ermög-
licht. Anstatt allen einen Halt zu geben, hat sie allen vorhandenen Halt
weggenommen und damit die Menschheit ins Bodenlose gestürzt. Seit-
dem befinden wir uns im freien Fall.
Man mag diese und viele andere Vorwürfe gegen die Aufklärung für
übertrieben halten. Vielleicht war die bisherige Aufklärung auch noch
nicht die wahre Aufklärung. Richtig bleibt jedoch: Aufklärung ist kein
Freudenfest. Aufklärung ist zerstörerisch - zumindest solange sie die
Wahrheit noch nicht gefunden hat. Zwar ist sie kritisch um der Wahrheit
willen - in der Hoffnung auf eine bessere Wahrheit und unter der Vor-
aussetzung noch ungeprüfter Wahrheiten. Aber dieser Reflexionsprozeß
scheint, wenn man ihn nicht willkürlich oder unter Zwang abbricht, nir-
gendwo endgültig zur Ruhe kommen zu können. Der Aufklärer bzw.
der sich selbst Aufklärende kann immer weniger glauben, ohne dafür ein
endgültiges positives Wissen zu bekommen. Nicht zuletzt deshalb schei-
nen wir uns alle gegen die 'negative' Aufklärung zu sperren.

174
Wozu also immer mehr Aufklärung? Die Frage widerspricht sich
selbst, insofern sie selbst schon wieder Aufklärung fordert. Die Frage ist
daher: Was ist die Alternative zur Aufklärung? Da wir nun einmal aus
dem Paradies der kindlichen Unmündigkeit vertrieben sind, vermutlich
nicht ohne eigene Schuld, bleibt uns schon aus Selbsterhaltungsgründen
gar keine andere Wahl als die Flucht nach vorn. Zwar gibt es immer die
Versuchung der Flucht zurück, in eine neue Unmündigkeit durch ein
sacrificium intellectus; aber dies führt letztlich nur zu Neurosen. Denken
kann man nicht ohne einen Anspruch auf Denken in Frage stellen, also
immer nur bestimmtes Denken, nicht Denken als solches. Philosophie
kann man nur philosophisch bestreiten, also im Prinzip bejahen - es sei
denn, man schlüge die Philosophen einfach tot.
Daher machen, wie gesagt, auch die Kritiker der Aufklärung unwill-
kürlich Anspruch auf eine wahre oder höhere Aufklärung, nämlich
durch Behauptung irgendeiner wahren Einsicht oder irgendeines höhe-
ren Wissens. Die selbstaufklärerische Aufklärung darf sie also nicht als
Feinde, sondern muß sie als verirrte Brüder betrachten, die nicht wissen,
was sie tun; denn auch sie hoffen unvermeidlich auf mehr 'Vernunft'.
Kurz, Aufklärungskritik gehört selber zur Aufklärung, die immer auch
Aufklärung über Aufklärung sein muß, z. B. selbstkritische Reflexion auf
ihre eigenen Möglichkeiten. Aufklärungskritik hebt Aufklärung nicht
auf, sondern bestätigt sie. Aufklärung ist auch Streit über Aufklärung
und Kampf der Aufklärung mit ihrer eigenen U naufgeklärtheit.

d) Aufklärung als Aufgabe

Der Blick auf die Aufklärungsformation des 18. Jahrhunderts und auf die
Aufklärungsdiskussion der Gegenwart fordert fast unabweisbar zu
Gedanken über die Zukunft der Aufklärung heraus. Welche Zukunft
steht der Aufklärung noch bevor? Anders und direkter gefragt (um der
Versuchung zur Weissagung besser widerstehen zu können): Hat die Auf-
klärung aus heutiger Sicht noch eine Zukunft? Dies kann bedeuten:
Wozu überhaupt noch Aufklärung, da doch die bisherige Aufklärung
einerseits ihre Aufgabe erfüllt hat, andererseits sich als unzureichend
erwiesen hat? Es kann aber auch, wenn an der weiteren Notwendigkeit
von Aufklärung festzuhalten ist, bedeuten: Wie soll eine Aufklärung, die
heute kaum noch an sich selber glaubt, in Zukunft überhaupt möglich
sein?- Falls man sich vor solchen Fragen nicht drücken will (z. B. unter
Berufung auf die eigene Inkompetenz), dann muß man allerdings

175
zunächst sagen, was man unter Aufklärung versteht - nun nicht in histo-
rischer, sondern wieder in systematischer oder programmatischer Hin-
sicht. Vom Programmatisch-werden ist es allerdings nur noch ein kleiner
Schritt zum Pathetisch-werden: man riskiert, vom Erkennen zum Beken-
nen, vom Erkennen-wollen zum Bekennen-müssen zu changieren.
Will man das Wort Aufklärung überhaupt in irgendeinem emphati-
schen Sinn festhalten, so wird man zunächst davon ausgehen müssen, daß
es dabei primär in irgendeiner Form um Erkennen geht, und zwar weni-
ger um bestimmte Erkenntnisinhalte als um eine bestimmte Erkenntnis-
weise oder Erkenntnishaltung (auf der Basis eines engagierten Erkennt-
niswillens). Die Aufklärung sucht ihr Heil in der Wahrheit, und sie
erstrebt Wahrheit durch Klarheit. Daher ist für sie die Vernunft, um mit
Kant zu sprechen, der letzte "Probierstein" der Wahrheit. Sie fordert gei-
stige Offenheit, d. h. die Bereitschaft, subjektiv klar und objektiv richtig
zu denken. Aufklärung will Aufdeckung von verborgenen und Aufhel-
lung von dunklen Sachverhalten sein, insbesondere aber (als Aufklärung
im engeren Sinne) Entwirrung von verworrenen oder Klarstellung von
ungeklärten bzw. nur scheinbar klaren Sachverhalten und Begriffen, d. h.
eigenen und fremden Vorstellungen. Sie ist also nicht nur (als Informa-
tion) gegen Unwissenheit und Irrtum gerichtet, sondern vor allem (als
Kritik) gegen den falschen Schein der Scheinwahrheit bzw. der Halb-
wahrheit. Aufklärung im weitesten Sinn bedeutet also schon rein kogni-
tiv zumindest viererlei: etwas aus dem Dunkel der Unwissenheit oder
Verborgenheit hervorziehen (entdecken), etwas von den Trübungen oder
Verwirrungen der Pseudoerkenntnis befreien oder reinigen (klären),
etwas in seiner Eigenart oder Struktur sichtbar machen (analysieren oder
explizieren) und etwas deutlich von anderem abheben (unterscheiden).
Da die Aufklärung jedem Menschen zumutet, daß er die Wahrheit
wirklich wolle, fordert sie auch von allen Selbstdenken, d. h. sie richtet
sich mit Nachdruck gegen das bloße mechanische Nachdenken vorhan-
dener und womöglich autoritärer Denkschemata. Authentische Erkennt-
nis als freies Denken aber setzt in aller Regel zunächst einmal eine gei-
stige Selbstbefreiung (Selbstemanzipation) voraus. Vernunft ist ohne
Freiheit nicht möglich, und auch diese muß sich allererst selbst finden.
Aufklärung ist Befreiung des Denkens zu sich selbst, und zwar durch sich
selbst (durch Denken und Freiheit)- ein theoretischer Zirkel, der aber
praktisch jederzeit gelöst werden kann. Denken kann und muß, um als
Selbstdenken zu sich selbst zu kommen, sich die nötige und mögliche
Freiheit, deren es zu seiner jeweiligen nötigen und möglichen Erkenntnis
bedarf, selber nehmen; es muß sich von äußeren und inneren Hindernis-

176
sen befreien wollen, z. B. von auferlegten wie von selbsterzeugten Denk-
verboten, von illegitimen und irrationalen Zwängen. Spätestens hier, in
der Reklamation der notwendigen äußeren Bedingungen für eine innere
Freiheit ohne permanente Selbstverleugnung, zeigt sich, daß Aufklärung
auch einen praktischen Aspekt hat, daß sie sich als bloße geistige Selbst-
aufklärung nicht zureichend verwirklichen kann. Die Aufklärung sucht
ihr Heil in der Wahrheit, aber nicht nur als eine von aller Existenz in
der Welt abgeschottete Erkenntnis, sondern um ein wahrhaftes oder rich-
tiges Leben zu ermöglichen. Insofern zielt Aufklärung eo ipso auf Frei-
heit als Praxis. Die Welt soll dem Anspruch der Vernunft auf Freiheit
entsprechen - allerdings ohne daß der um Aufklärung Bemühte nun
gleich verlangen könnte, daß die ganze Welt sich ihm bequeme. Aufklä-
rung ist immer Aufklärung in einer unheilen Welt.
Aufklärung ist ihrem Wesen nach zunächst nur Selbstaufklärung,
Selbstwerden durch freies Denken, genauer gesagt, Selbstaufklärung
durch Sachaufklärung - was immer die Sache, um die es geht, sein
mag: Gegenstände oder Verhältnisse, das eigene oder das fremde Ich
bzw. die Gesellschaft. Ich bin sozusagen der erste Adressat meiner
Aufklärung, denn um andere aufklären zu können, muß ich selbst
schon aufgeklärt oder doch auf dem Wege der Aufklärung sein. Nun
kann und muß ich mich aber aus verschiedenen Gründen auch um die
Aufklärung bzw. Selbstaufklärung der anderen kümmern: z. B. aus
Gründen der Selbsterhaltung oder aus Verlangen nach einer besseren
Gemeinschaft - von pädagogischen oder philanthropischen Motiven
einmal ganz abgesehen. Selbstaufklärung wird so, unter Veränderung
ihrer inneren Struktur, zur Fremdaufklärung, zur Aufklärung im
gängigen, engeren Sinn des Wortes. Aufklärung ist Vordenken, sozu-
sagen "Vorleuchtung" (Kant). Ich will den anderen informieren, kritisch
machen oder emanzipieren, d. h. ihn selber aufklären oder ihn zur
Selbstaufklärung veranlassen. Da aber Vernunft und Freiheit nicht auf-
gedrungen werden können, wenn der andere sie nicht will, d. h. wenn
er nicht von sich aus vernunft- bzw. freiheitswillig ist, kann Aufklärung
des anderen eigentlich nur ein Appell zur Selbstaufklärung oder ein
Angebot zur Denk- und damit indirekt zur Lebenshilfe sein, eine mögli-
che 'Hilfe zur Selbsthilfe'. Nur äußerstenfalls kann sie (gleichsam unter
Absehung von sich selbst, um sich selbst zu ermöglichen) da, wo der
andere momentan noch unfähig ist, sich selbst zu helfen, begrenztes Den-
ken und Handeln für den anderen sein, nämlich (als Philosophie und
Politik) Wegräumen von geistigen und realen Hindernissen der Selbstauf-
klärung.

177
Damit ist sie allerdings auch, falls sie nicht immer auch die Vernunft
und Freiheit des anderen real respektiert, schon auf dem Weg zum Verrat
an sich selbst, nämlich auf dem Weg zu derselben Entmündigung, die sie
mit ihrer Forderung nach Selbstdenken bekämpft. Die Pflicht, für andere
mitvernünftig sein zu müssen, ist kein Vorrecht, für andere vernünftig
sein zu dürfen. Aufklärung ist keine Therapie, die den anderen als grund-
sätzlich krank und sich selbst als grundsätzlich gesund betrachten kann,
sonst wird sie zur "Zwangsaufklärung", zur dogmatischen Indoktrina-
tion oder gar zur Zwangstherapie einerseits und zum Krieg gegen alle
anderen, die sich dem widersetzen und dann als Antiaufklärer gelten,
andererseits. Aufklärung als Philosophie degeneriert so zur Aufklärung
als Politik im schlechten Sinne des Wortes, d. h. zu einer bloßen Taktik.
Zwar kann nicht jeder jederzeit alles leisten, aber ich kann auch nicht
alles für alle tun. Fremdaufklärung kann, von äußersten Ausnahmefällen
abgesehen (die nicht zu faktischen Normalfällen werden dürfen), nur
eine Einladung zum Mitdenken sein, also ein Angebot, die vermeintlich
gefundene Wahrheit zur Diskussion zu stellen. Nur dadurch verliert die
Fremdaufklärung ihre gefährliche Eindimensionalität, sie kann zur wech-
selseitigen Fremdaufklärung oder zur kollektiven Selbstaufklärung wer-
den: Kommunikation statt Mission.
Wie aber sollen sich, falls diese formelhafte Kurzcharakteristik brauch-
bar ist, aus so formalen Bestimmungen konkrete Aufgaben der Aufklä-
rung im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft ergeben? Andererseits,
was heißt schon Aufgaben der Aufklärung? Natürlich kann man der Auf-
klärung, die für die Autonomie des Denkens kämpft, im Grunde genom-
men genausowenig Aufgaben von außen stellen wie der Philosophie. Das
freie Denken findet seine Aufgaben, wenn man seine Intentionen über-
haupt so nennen will, selber. Aber es kann sich seine Aufgaben nur stel-
len, indem es sich der Wirklichkeit stellt, d. h. das Gegebene als Aufgege-
benes erfährt und begreift. Der Auftrag der Aufklärung erfolgt, obwohl
als freie Selbstverpflichtung, nur unter den Bedingungen der jeweiligen
geschichtlichen Situation; auch selbstbestimmtes Denken ist Denken
unter nicht von ihm selbst bestimmten Umständen, d. h. unter unabseh-
bar wechselnden Verhältnissen. Mit anderen Worten, die Aufgaben einer
wirklichkeitsbezogenen Aufklärung ändern sich mit den jeweiligen
geschichtlichen Vorgaben. Allerdings nicht so, daß die gegebenen Bedin-
gungen automatisch zu einem entsprechenden Denken führen würden.
Wozu die Aufklärung sich aufgerufen fühlt und sich selbst berufen wird,
läßt sich nicht voraussagen, da das freie Denken sich selbst bestimmt.
Insofern kann es eigentlich auch kein Aufklärungsprogramm geben,

178
jedenfalls kein langfristiges und zugleich konkretes Programm. Aufklä-
rung ist eigentlich kein "Projekt", d. h. sie ist nicht wirklich plan bar. Es
kann nicht einmal einen inhaltlich allgemeinen und endgültigen und
damit normativen Begriff von Aufklärung geben. Einerseits ist auch der
formalste Begriff von Aufklärung noch irgendwie inhaltlich und damit
normativ, andererseits besteht auch die 'wahre' Aufklärung als Erkennt-
nis in Aktion aus vielen und wechselnden, einzelnen situations- und
interessenabhängigen Aufklärungen, auch aus Aufklärung über Aufklä-
rung oder vielmehr Aufklärungen über Aufklärungen. Es gibt zwar eine
mehr oder weniger radikale, aber keine totale Aufklärung; es gibt keine
vollendete, also auch keine (über sich selbst) aufgeklärte Aufklärung. Alle
Aufklärung ist immer auch falsche Aufklärung, alle wahre Aufklärung ist
selber noch Suche nach der wahren Aufklärung. Daher steht im Streit der
Aufklärungsbemühungen immer auch Unwahrheit gegen Unwahrheit-
ein selber, in sich selber meist noch 'unwahrer' Streit, der durch Schuld-
zuweisungen im allgemeinen nicht wahrhaftiger wird.
Fragt man, dieser Cautelen eingedenk, trotzdem nach den 'Aufgaben'
der Aufklärung, so kann die Antwort zunächst nur lauten, daß es im
Prinzip immer dieselben und also immer noch die alten sind. Aufklärung
richtet sich als Selbstdenken gegen Autorität und Vorurteile, als Richtig-
denken gegen Irrtümer und Aberglauben. Die Welt ist nicht ein für alle-
mal in Ordnung zu bringen. Die bleibende Aktualität der Aufklärung
resultiert aus dem bleibenden Aufklärungsbedarf und dem bleibenden
Aufklärungsbedürfnis. Aufklärung ist ein immer erneuerter Aufbruch
zur Überwindung der stets neu wuchernden Pseudowahrheit. Da die
'Dummen' wie die 'Verdummer' immer wieder nachwachsen, da also mit
jedem neugeborenen Menschen Unwissenheit und Irrtümer, Täuschung
und Selbsttäuschung wieder von vorne beginnen, ist Aufklärung schon
deshalb ein immerwährender Kampf mit einer unbesiegbaren Hydra.
Unter den Bedingungen der Desillusionierung, die heute vorauszusetzen
ist, kann ihr Hauptsinn letztlich nur darin bestehen, dem Menschen zu
helfen, sich nicht als Vernunftwesen aufzugeben. Aufklärung ist wie Phi-
losophie und Politik Kampf gegen das überall und jederzeit androhende
Chaos: gegen die tagtäglich anwachsende Masse gesellschaftlich aner-
kannten Schwachsinns, dessen geballte Macht heute auf perfektionierten
Wegen bis in das Innerste des Individuums dringen kann; gegen die bös-
willige oder wohlmeinende Verdummung seitens derer, die daran interes-
siert sind, Vormund für andere zu sein, und deren Mittel heute subtiler
als je zuvor sein können; vor allem aber gegen die wie eh und je mögliche
Selbstverdummung und Selbstentmündigung, zu der heute allerdings eine

179
bisher unbekannte Vielfalt von Verführungen einlädt. Die Grundfrage ist
jedoch immer dieselbe: in welchem Maße der Mensch auf vernünftige
Weise Mensch sein will und kann.
Daher lassen sich die bleibenden Aufgaben der Aufklärung auch immer
noch in den Worten des 18. Jahrhunderts formulieren, obwohl zweifellos
eine direkte Anknüpfung an die Aufklärung vor Kant heute nicht mehr
möglich ist und die Entwicklung seit Kant ebenfalls neue Überlegungen
nötig macht. Aufklärung richtet sich nach wie vor - außer gegen Irrtü-
mer und Unwissenheit - gegen Vorurteile und Aberglauben, Schwärme-
rei und Fanatismus: gegen Vorurteile, also gegen affektive, nur emotional
statt rational begründete Urteile bzw. Einstellungen; gegen Aberglauben,
also gegen absurde, weil willkürliche oder irrationale Verendlichungen
des 'Absoluten'; gegen Schwärmerei, also gegen kritiklose und über-
schwängliche Verfallenheit an eigene Verabsolu~ierungen; gegen Fanatis-
mus, also gegen unbelehrbares und eiferndes Insistieren auf fixe Ideen.
Alle diese Alogismen haben neben ihren alten, meist religiösen, auch ihre
modernen, oftmals politischen Erscheinungsformen, z. B. im Extremis-
mus und seinen vielen obskuren und abstrusen Ideologien. Religiöse und
politische Wahnideen haben, nicht selten in kaum durchschaubarer Ver-
quickung, immer noch Konjunktur und können jederzeit wieder zu Mas-
senpsychosen eskalieren. Sie sind letztlich unausrottbar und wenn über-
haupt eher durch Verbreitung einer allgemeinen kritischen Mentalität in
ihrer Entstehung zu behindern als mit Erfolg zu bekämpfen, wenn sie
erst einmal da sind; denn sie sind nicht nur "Schwachheiten des Verstan-
des", sondern tiefverwurzelte affektive Geisteshaltungen. Vor allem aber
ist heute deutlicher zu sehen, daß Vorurteile und Aberglauben, Schwär-
merei und Fanatismus nicht nur letztlich unvermeidbar und unausrott-
bar sind, sondern an ihrer Basis auch positive Elemente enthalten und
daher trotz ihrer negativen Erscheinungsformen auch legitime und
anscheinend unersetzbare Funktionen haben.
Natürlich sind Vorurteile irrational und potentiell gefährlich. Aber
Vorurteile sind nicht nur als voreilige Pseudourteile erkenntnisverhin-
dernd, sondern auch als vorgreifendes Vorverständnis erkenntnisleitend
und erkenntnisermöglichend. Sie haben lebenswichtige Funktionen, da
wir als endliche Intelligenz schon aus ganz pragmatischen Gründen nur
selektiv ('eklektisch') erkennen können. Wir können gar nicht anders als
mit unzureichend begründeten Urteilen ('Vor-urteilen') leben. Wo also
ist die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Vorurteilen?
Natürlich ist Aberglaube irrational und potentiell gefährlich - nicht
nur in seinen alten, durch die Kirchen kanalisierten, sondern auch in

180
seinen modernen wilden wie banalen Formen bis hin zum politischen
Wunderglauben. Aber da es keinen unbezweifelbaren, 'absoluten' Stand-
punkt des richtigen Glaubens gibt, ist es kaum möglich, zu sagen, was
jeweils guter ('gesunder') Glaube oder bloßer ('kranker') Aberglaube ist.
De facto ist jeder Glaube auch Aberglaube, nämlich affektiver Irrglaube
als Verendlichung des Absoluten, also immer irgendwo auch intellektuell
und moralisch fragwürdig, aber trotz dieses unaufhebbaren Mangels
anscheinend unvermeidlich und als sinngebender Halt unersetzlich. Wo
also endet der vernünftige Glaube, wo endet die superstitio tolerabilis?
Natürlich ist Schwärmerei irrational und potentiell gefährlich. Als kri-
tikloser Glaube an eigene Erleuchtungen oder als leichtfertige Verherrli-
chung anderer Personen ist sie immer überschwängliche Entfernung von
der Wirklichkeit, auch wenn sie nicht zur bösartigen Besessenheit wird.
Aber irgendwie glaubt jeder an seine 'Einsichten' und 'Erfahrungen',
nichts Wichtiges geschieht ohne Gläubigkeit oder Begeisterung, ohne
Einbildung besonderer 'Erkenntnisse'. Wo also ist die Grenze zwischen
leidenschaftlicher Hingabe an eine als richtig erkannte Sache und bloßer
"Enthusiasterei"?
Natürlich ist Fanatismus irrational und potentiell gefährlich. Die emo-
tionalisierte Engstirnigkeit (vom Fußballfan bis zum religiös oder poli-
tisch radikalen Ketzerbekehrer) kann jederzeit in Raserei ausarten. Ande-
rerseits beruht jedes Handeln auf einem Be-schluß, d. h. auf einer
momentanen Abblendung von kritischer Offenheit oder auf einer Hori-
zontverengung durch Konzentration oder engagierte Vereinseitigung.
Wo also ist die Grenze zwischen unvermeidbarem praktischen Dogmatis-
mus und eifernder intellektueller Verbohrtheit bzw. emotionaler Ver-
krampfung?
Die Probleme der Aufklärung sind komplexer und dadurch schwieri-
ger geworden. Vor allem ist spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhun-
derts im Prinzip klar, daß durch die Aufklärung selber eine neue Situa-
tion entstanden ist, daß die Aufklärung nun auch mit sich selbst und mit
ihren eigenen Wirkungen, z. B. mit ihren unbeabsichtigten Nebenfolgen,
konfrontiert ist. Zahlreiche Gegenbewegungen gegen die Aufklärung
sind von diesen Folgen ausgegangen und haben die Aufklärung wegen der
von ihr angerichteten Schäden angeklagt und die Aufklärung selbst
(unter Strapazierung des Mythosbegriffs) als einen neuen Mythos kriti-
siert. Hält man jedoch im Prinzip an dem durch die Aufklärung einge-
schlagenen Weg der Verbreitung von Vernunft und Freiheit fest, so muß
sich die Aufklärung auch selbst den durch sie bewirkten oder veranlaßten
Situationen und Prozessen stellen und sich selbst nach ihrer möglichen

181
Verblendung, nicht zuletzt nach ihren Fehlformen bzw. ihrem falschen
Bild von sich selbst fragen. Sie muß, wie schon einmal in der Spätaufklä-
rung, Selbstaufklärung betreiben und eine Nutzen-Kosten-Rechnung für
sich selber aufmachen; sie muß sich wieder einmal nach ihren Möglich-
keiten und Grenzen fragen. Mit anderen Worten, die Aufklärung muß
sich ihres Zerstörungspotentials bewußter werden, insbesondere ihrer
Gefährlichkeit als 'falsche' Aufklärung, die sie immer auch ist- und dies
nicht nur im Hinblick auf die Zerstörung der bisherigen Welt, sondern
auch im Hinblick auf die Gefahr der drohenden Selbstzerstörung.
Aufklärung ist wesentlich destruktiv, nämlich um willender erstrebten
Wahrheit negativ gegen das vermeintlich Unwahre; insofern ist sie auch
wesentlich anti-konservativ, das Gegebene soll sich vor der Vernunft
rechtfertigen. Aber das Recht auf Kritik kann kein Freibrief sein, überall
erst einmal tabula rasa machen zu dürfen. Denn die Wahrheit, in deren
Namen die Aufklärung auftritt, ist selber nur vermutete Wahrheit, die
sich auch immer noch rechtfertigen muß; und eine Wahrheit, die sich
nicht ohne vorhergehende totale Vernichtung aller bisheriger W ahrhei-
ten zeigen oder verwirklichen kann, dürfte eine ziemlich leere und
unwahrscheinliche Wahrheit sein. Zunächst steht jedenfalls Wahrheit
gegen Wahrheit, das Recht oder Unrecht des Gegebenen gegen das Recht
oder Unrecht des Gedachten und Gewollten. In einer Welt rasant
beschleunigter Veränderungen und grassierender Zerstörungen wird man
sich also erst immer wieder fragen müssen: Welche Tradition opfern wir
welcher Zukunft, welche Wirklichkeit welcher Vernunft? In einer
asynchron zusammenwachsenden Welt, in der die archaischen Verhält-
nisse der einen zum Abenteuerspielplatz der anderen geworden sind,
könnte Bewahren als ein bisher verdeckter Aspekt der Aufklärung in den
Vordergrund aller zukünftigen Aufklärung treten und damit sogar der
alte Kampf der Aufklärung gegen das Vorurteil der Voreiligkeit einen
neuen praktischen Sinn bekommen: "Bewahren" als 'neue' Aufgabe der
Aufklärung, d. h. die Welt vor der eigenen Voreiligkeit bewahren. Das
später vergessene praejudicium praecipitantiae müßte also wieder die glei-
che Beachtung wie das praejudicium autoritatis finden. Kurz, in dubio
pro existentia, zerstören kann man immer noch.
Man kann das angedeutete Problem auch als ein Problem des Verhält-
nisses von Tradition und Fortschritt, Herkunft und Zukunft oder als
Problem des Verhältnisses von Wirklichkeit und Vernunft diskutieren,
obwohl diese Begriffe sehr vorbelastet und zweideutig sind. Zunächst
scheint es dann, als ob die Vernunft eine unbedingte Priorität vor der (als
unvernünftig verdächtigten) Wirklichkeit habe. Aber die bisher als

182
vernünftig anerkannte Wirklichkeit wäre nur dann grundsätzlich unver-
nünftig, wenn die Vernunft erst heute mit mir oder für mich vom Himmel
gefallen wäre -was eine höchst unvernünftige Annahme wäre. Die Wirk-
lichkeit ist (relativ) vernünftig, insofern sie bisher, d. h. nach Maßgabe der
bisher vorhandenen menschlichen Möglichkeiten, vernünftig gestaltet
worden ist bzw. als vernünftig gegolten hat. Sie steht also nicht ständig
und grundsätzlich unter Legitimationszwang; die Beweislast liegt vielmehr
bei dem, der sie verändern will. Tradition, d. h. echte Tradition (nicht Tra-
dition, die um der Traditionwillen gewollt oder gestiftet worden ist), gilt
bekanntlich, weil sie - unter den gegebenen Voraussetzungen und bei
freier Zustimmung - bisher im allgemeinen als gut galt. Damit ist eine
Vernünftigkeitsvermutung gegeben, die zwar die Abwehr bloßer Besser-
wisserei möglich macht, aber keine automatische Legitimation eines jeden
status quo zur Folge hat. Eindeutig unvernünftig wird die Wirklichkeit
erst, wenn sie ('vernünftig') in Frage gestellt, sich der Argumentation ver-
weigert; dann wird sie zur bloßen faulen Wirklichkeit. Umgekehrt ist Ver-
nunft keine wirklichkeitsenthobene reine Vernunft, die von einem fingier-
ten absoluten Standpunkt aus die Welt total in Frage stellen könnte. Wie
die Kritik relativ auf das Negierte bleibt, so ist auch die Vernunft als Ver-
nehmen auf ein Vernehmbares angewiesen, da sie die Wirklichkeit letzt-
lich nicht allein aus sich selbst herausspinnen kann. Autonomie der Ver-
nunft kann nicht heißen, daß diese, seins- oder situationsunabhängig, also
ungeschichtlich und letztlich menschenunabhängig, nur noch leer sich sel-
ber setzt. Vernünftigsein heißt auch: anerkennen und gelten lassen können
- nicht nur abstrakte Prinzipien, sondern auch 'zufällige' und dennoch
vernünftige Wirklichkeit. Es gibt ein Recht des Individuums auf seine
geschichtliche Begrenztheit trotz abstrakter U niversalitätspostulate. Ja,
Vernunft ist sogar selber geschichtlich, und jede vorgebliche Vernunft ist
folglich selber rechtfertigungsbedürftig. Eine von der Wirklichkeit abge-
schottete Vernunft fällt zwar nicht aus der Geschichte heraus, sondern
bleibt als faule Vernunft deren Anhängsel; aber sie kann, soweit sie nicht
'seicht' oder 'platt' wird, auch in einem abstrakten Fanatismus enden. Es
gibt auch eine falsche Klarheit, im Vergleich mit der ein noch unklares
oder dunkles Wissen der Wahrheit oder Wirklichkeit durchaus näher, also
vernünftiger (vernehmender), sein kann. Die Frage, wie vernünftig die
Wirklichkeit sei, ist daher durch die Frage, wie vernünftig die vorgebliche
Vernunft ist, zu ergänzen- und zwar durch die Aufklärung selber, falls
diese wahre Aufklärung bleiben will.
Aufklärung darf die Aufklärung über sich selber nicht vernachlässigen,
sonst degeneriert sie zur Pseudoaufklärung und zerstört sich selber.

183
Selbstzerstörung ist eine permanente Gefahr der Aufklärung, und die
Selbstverkennung von Vernunft und Freiheit führt zur Selbstverkennung
und Selbstzerstörung des Menschen. Das Problem der Selbstzerstörung
des Menschen aber ist noch dringlicher als das Problem der Weltzerstö-
rung, zumal die Selbstzerstörung des Menschen die zentrale Ursache der
Weltzerstörung sein dürfte. Aufklärung ist daher von Anfang an immer
auch Kampf um das wahre Menschsein. Dabei waren ihre Versuchungen,
sich selbst mißzuverstehen, von Anfang an nicht weniger gefährlich für
sie als die Mißdeutungen, denen sie seitens ihrer Gegner ausgesetzt war.
Wenn es um die Entwicklung von Vernunft und Freiheit geht, sind die
Gefahren groß, in Pseudorationalismus und Scheinfreiheit abzugleiten,
und dies sind weitgehend erst durch die Aufklärung selber ermöglichte
Gefahren. Rationalität wird zur bloßen Pseudorationalität, wenn Ver-
nunft zum Vernehmen der Wirklichkeit unfähig wird oder sich davon
unabhängig zu machen versucht, d. h. sich auf einem bestimmten Stand
von Erfahrung faktisch in sich selber verschließt und nun als immer lee-
rer werdender Verstand in sich kreisend die Wirklichkeit aus sich selbst
heraus zu produzieren versucht. Freiheit wird zur bloßen Scheinfreiheit,
wenn sie von ihrer grundsätzlichen Bedingtheit durch die widerständige
Wirklichkeit abzusehen und sich von ihrer Angewiesenheit auf Ver-
nunftbestimmtheit abzukapseln versucht. Daraus ergeben sich ganz neue
Gefahren: der durch den Rationalismus ermöglichte Pseudorationalismus
kann jederzeit in offenen Irrationalismus umschlagen, die durch die allge-
meine Emanzipation ermöglichte Scheinfreiheit kann jederzeit in terrori-
stische Unterdrückung der Freiheit umschlagen.
Hier zeigen sich, ganz abgesehen davon, daß auch 'Verdummung' im
Gewande der Aufklärung auftritt, zwei grundsätzliche Gefahren, die aus
dem Prozeß der Aufklärung selber resultieren: die Gefahr der Ermüdung
und die Gefahr des Umschlags. Die permanente Reflexion und Metarefle-
xion führt ineins mit dem reduktiven Charakter der Kritik zu einer
zunehmenden Minimalisierung der Wahrheit bei zunehmender Maxima-
lisierung der Denkprozesse. Die Atemluft der Aufklärung wird sozusa-
gen durch sie selber dünn, zumal die Iteration der Reflexion nicht selten
den Bezug zum ursprünglichen Ausgangspunkt in der Wirklichkeit ver-
liert. Daraus resultiert eine unvermeidliche Ermüdung und damit die
Gefahr des Absturzes oder des Umschlages des Rationalismus in Irratio-
nalismus, somit meist auch des Umschlages der Selbstüberschätzung in
Selbstverachtung, und nicht selten ineins damit des 'Liberalismus' in 'To-
talitarismus'. Die permanente Reflexion erzeugt ein fast unwiderstehli-
ches Bedürfnis, an erstbester Stelle auszusteigen, sich der Hoffnung auf

184
eine unmittelbare Offenbarung eines 'Absoluten' in die Arme zu werfen
oder doch irgendwo ins sogenannte einfache Leben zurückzuflüchten.
Aufklärung ist nicht nur wie alle Erkenntnis jederzeit vom Verfall
bedroht, sie steht immer in Gefahr, auch an sich selber zu scheitern -
letztlich durch Selbstverabsolutierung. Aber Aufklärung ist nicht im
Besitze der Wahrheit, sondern sucht nur den Weg zur Wahrheit in der
Klarheit. Aufklärung ist ein Zwischenstadium, also eigentlich eine Man-
gelerscheinung. Sie lebt von dem, was ist, und von dem, was noch nicht
ist, von der Zerstörung des falschen Scheins und von der Hoffnung auf
Wahrheit - aber ich muß auch erkennen, daß ich die Wahrheit niemals
besitzen werde. Aufklärung hat kein WahrheitsmonopoL Sie ist Kampf
gegen Unwissenheit und Irrtum - aber ich kann und muß also auch
nicht alles wissen und alles kritisieren. Aufklärung darf nicht zur Vielwis-
serei oder Besserwisserei entarten. Sie ist Kampf gegen Unfreiheit - aber
der Dünkel, nicht leben zu können, ohne die Welt nach seinem Kopf ein-
gerichtet zu haben, führt nur zur unkritischen Begeisterung für Kritik,
letztlich zur ständigen, infantilen und sterilen Empörung über alles und
jedes. Aufklärung ist keine Ersatzreligion. Wahre Aufklärung ist daher
immer auch der Versuch, sich über die Grenzen der Aufklärung klar zu
werden. Diese selbstbestimmte Selbstbescheidung ist keine äußerliche
Selbstbegrenzung. Die autonome Selbstrelativierung ist die wichtigste
Waffe der Aufklärung im Kampf gegen die Versuchung der Selbstdogma-
tisierung und Selbstverabsolutierung. Bedingung wahrer menschlicher
Autonomie ist die Anerkennung der unvermeidbaren Heteronomie.
Auch die Aufklärung bedarf, um es altmodisch zu sagen, der Tugend der
Gelassenheit - die mit Feigheit und Faulheit nichts zu tun hat.
Aufklärung ist anstrengend. Aber was ist die Alternative? Wie soll man
das Denken stillstellen? Jeder Versuch eines Rückrufes aus dem Weiter-
denken, eines Aufrufes zum Denkverzicht zugunsten des angeblich
unmittelbaren Lebens und Erlebens, hat sich bisher als Sackgasse erwie-
sen und nur zu verkrampften Ergebnissen geführt. Jeder Versuch zur
Gegenaufklärung ist, falls er sich überhaupt auf Selbstbegründung ein-
läßt, in sich widersprüchlich. Vernunft kann zwar die Begrenztheit und
Bedingtheit ihrer Intentionen erkennen, aber sie kann sich selbst ver-
nünftigerweise nicht negieren. Die Aussichten der Aufklärung sind nicht
gut - vielleicht sind sie durch sie selber noch schlechter geworden. Aber
Aufklärung tut immer noch not.
Allerdings muß man sich fragen, ob solche wiederholten Plädoyers für
Aufklärung nicht selber wieder naiv ('unaufgeklärt'), ja, ob sie nicht
sogar absolut sinnlos sind. Wer sie braucht, wird sie kaum zur Kenntnis

185
nehmen, und wer sie anhört, braucht sie wahrscheinlich nicht. Außer-
dem, wenn schon Aufklärung, dann doch wohl vor allem konkrete Auf-
klärung und nicht allgemeines Reden über Aufklärung. Wozu also solche
Aufrufe zur Aufklärung? Wozu immer wieder Aufklärung über Aufklä-
rung, sozusagen Metaaufklärung oder Aufklärungen für Aufklärer? Viel-
leicht liegt ihr einziger Sinn in der Tat darin, dem, der ohnehin Aufklä-
rung will, zur weiteren Aufklärung über sich selbst zu verhelfen. Viel-
leicht können sie aber auch, sozusagen als Appell an den Aufklärer in
uns, Denken wecken helfen und dem Philosophen, der wir alle irgendwie
sind, zu Selbstbewußtsein verhelfen. Auch Aufklärung über Aufklärung
kann ein konkreter und zugleich prinzipieller Beitrag zur Aufklärung
sem.
Im übrigen kommt es natürlich auf das Wort Aufklärung genausowenig
an wie z. B. auf das Wort Philosophie, obwohl diese geschichtsgesättigten
Wörter, die selber schon ihre Tradition haben, nicht leichtfertig aufgege-
ben werden sollten. Worauf es in der Sache ankommt, ist, daß es auch
in Zukunft immer soviel Vernunft und Freiheit geben wird, daß die Welt
weder in Chaos versinkt noch in versteinerten Ordnungen erstarrt. Kon-
kret gesprochen bleibt also die Frage, ob es immer genügend Menschen
geben wird, die ausreichend wahrheitswillig, und daher vernunft- und
freiheitsfähig sind.

186
Personenregister
Adorno, Theodor W. 161 Friedrich Il., König von Preußen
Ahlwardt, Peter 136, 138 f. 37, 161, 163
Apollo 71, 86 Frobesius, Johann Nicolaus 129
Aristoteles 4, 36, 42, 52, 56, 100,
127, 129, 134 f., 150 Gerhard, Ephraim 120
Athene (Pallas Athene) 71, 97, 105 Gottsched, Johann Christoph 136 f.,
Augustin 137 139
Grosser, Samuel 54, 58, 123
Bacon, Francis 22, 30, 33, 160 Grotius, Hugo 33
Baumeister, Friedrich Christian Gundling, Nikolaus Hieronymus
129 ff. 83 f., 86, 89, 93
Baumgarten, Alexander Gottlieb
132 f., 144, 167 Hölderlin, Friedrich 165 f.
Bayer, Johann 59 Haller, Albrecht von 37
Bekker, Balthasar 109 Harn 97
Berkeley, Georg 46 Hartmann, Georg Volkmar 94, 96
Bilfinger, Georg Bernhard 128 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14,
Boethius 73 33, 39 f., 46, 49, 57, 67, 158 f.,
Boehm, Andreas 132 161, 165 f., 168
Brucker, Jakob 119 f. Heidegger, Martin 170
Budde, Johann Franz 115- 119, Heineccius, Johann Gottlieb 120
121 f., 124, 130 f., 136 Hermes 71
Heumann, Christoph August 123
Christus 77, 94 Hobbes, Thomas 33, 52
Chronos 76 Hoffmann, Adolph Friedrich 73 f.,
Cicero 113, 115, 130, 144 76, 119 f., 124 f., 132, 144
Circe 86 Hollmann, Samuel Christian 131,
Crusius, Christian August 75 f., 93, 136, 139
119 f., 124 f. Homer 56, 100
Horkheimer, Max 161
Daphne 86 Huber, Ulrich 153
Darjes, Joachim Georg 101, 104 f., Hume, David 39 f., 46
139 ff. Hutchinson, Francis 85 f.
Descartes, Rene 22, 30, 33, 36, 42,
44, 97, 135, 160, 171 Ikarus 86
Diana von Ephesus 105
Jacobi, Friedrich Heinrich 165
Engel, Johann Jakob 161, 166 Jamme, Christoph 166
Epikur 100 Japhet 97
Ernesti, Johann August 143 Jaspers, Karl 170
Eschenbach, Johann Christian 139,
141 f., 155 Kant, lmmanuel 23, 33, 36 ff., 40 f.,
45 ff., 49, 57 ff., 65, 67, 72, 107,
Fabricius, Johann Andreas 131 112, 117, 119, 121, 132, 136,
Faustus, Johann 86 145 f., 149- 152, 155, 158 f.,
Fichte, Johann Gottlieb 158, 165 ff. 161 ff., 165, 167 f., 170 f., 177,
Freud, Sigmund 170 180

189
Kemmerich, Dietrich Hermann Reimarus, Samuel 41, 139, 143 ff.
68 f., 71 Reinhold, Carl Leonhard 166
Kepler, Johannes 33 Reusch, Johann Peter 129 f.
Kircher, Athanasius 52 Rousseau, Jean-Jacques 39 f., 46
Knutzen, Martin 132 f. Rüdiger, Andreas 66 f., 69, 115,
Kopernikus, Nikolaus 33 117 ff., 121 f., 124, 138, 144 f.
Kurz, Gerhard 166
Sauder, Gerhard 47
Lambert, Johann Heinrich 37, 45, 146 Schalk, Fritz 161
Lange, Joachim 97- 100 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
Lange, Johann Christian 63 f. 158
Lehmann, Johann Jakob 119, 123 Schlobach, Jochen 47
Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 33, Schneiders, Werner 47, 112, 166
40, 43, 46, 112, 137 Sem 97
Lessing, Gotthold Ephraim 30, 37, 159 Sisyphus 172
Locke, J ohn 46 Sokrates 15, 67, 100, 112, 125, 160
Luther, Martin 160 Stiebritz, Johann Friedrich 129
Stolle, Gottlieb 119 f., 154
Sulzer, Johann Georg 37
Möller, Horst 47 Sylvester II., Papst 89
Magritte, Rene 108 Syrbius, Johann Jakob 61 f., 119 f.
Marquardt, Conrad Theophil 92
Marx, Karl 159, 170 Thales 100
Meier, Georg Friedrich 106 f., 139, Thomasius, Christian 30 - 33, 38,
143 f. 40 - 44, 46 f., 52 f., 55, 57 f., 65,
Mendelssohn, Moses 41, 63, 139, 69, 71, 76 ff., 80- 83, 85 f., 89,
143, 145, 161 100, 111 - 115, 117, 119, 121,
Montesquieu, Charles de Secondat 46 125 f., 135 ff., 139, 144, 148,
Montmorency, Fran~ois Henri 89 151- 154, 160 f.
Musig, Martin 117, 119, 122f. Thümmig, Ludwig Philipp 94 f., 128 f.
Müller, August Friedrich 72, 119,
121 f., 154 Vico, Giambattista 52
Müller, Gottfried Polycarp 70 f., Vierhaus, Rudolf 112
119 f.
Walch, Johann Georg 93, 119,
Nietzsche, Friedrich 170 121 f., 154
Nieuwentyt, Bernard 101 f., 105, 107 Weise, Christi an 58 ff.
Noah 97
W olff, Christian 30, 32 f., 40 f.,
43 - 47, 52, 86- 94, 100, 107, 111 f.,
Odysseus 86
115, 119, 122- 145, 148 ff., 154 f.
Wundt, Max 47
Platon 83, 100, 107, 124, 153
Ploucquet, Gottfried 45, 146 Xenophanes 100, 160
Pope, Alexander 23
Pott, Martin 86 Zeno 100
Pufendorf, Samuel 33, 153 Zimmermann, Johann Liborius 136,
Pythagoras 100 139

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