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Von den beiden Naturen

(Europäische Revue, 1935)

Um den traditionellen Geist und seine Verneinung, die moderne Welt, zu verstehen, muß man von einem
grundsätzlichen Punkte ausgehen: von der Lehre über die beiden Naturen.
Es gibt eine physische Ordnung und eine metaphysische Ordnung. Es gibt eine sterbliche Natur und eine Natur
der Unsterblichen. Es gibt das höhere Bereich des «Seins» und das niedrige des «Werdens». Allgemeiner: es gibt
ein Sichtbares und Berührbares, und, vor und jenseits von ihm, ein Unsichtbares und Unberührbares als
Überwelt, Prinzip und wahres Leben.
Wo immer es eine tatsächliche Tradition gegeben hat, sei es im Orient oder im Okzident, in der einen oder der
anderen Form, ist diese Erkenntnis stets gegenwärtig gewesen als unerschütterliche Achse, um die alles übrige
hierarchisch angeordnet war.
Wir sprechen von einer Erkenntnis, nicht von einer «Theorie». Wie schwer es für den modernen Menschen
vielleicht auch zu verstehen sein mag, man muß von dem Gedanken ausgehen, daß sich die Wirklichkeit für den
traditionsverbundenen Menschen auf einen weit größeren Umkreis von Dingen erstreckte, als es der ist, auf den
sie sich im allgemeinen heute erstreckt. Heute anerkennt man im Grunde als Wirklichkeit nur, was über die
Körperwelt in Raum und Zeit nicht hinausgeht. Gewiß läßt mancher auch noch jenseits des sinnlich
Wahrnehmbaren etwas zu: aber insofern dieses Etwas immer nur unter dem Gesichtswinkel einer Hypothese
oder eines wissenschaftlichen Gesetzes, eines spekulativen Gedankens oder eines religiösen Dogmas oder eines
Moralprinzips zugelassen wird, verläßt man in Wirklichkeit nicht die genannte Grenze: praktisch, d.h. im
Hinblick auf unmittelbare Erfahrung, bezieht der moderne Normalmensch, welches die Spielart seines
«materialistischen» oder «spiritualistischen» Glaubens auch sei, seine Anschauung von der Wirklichkeit
lediglich von der Körperwelt her.1 Die Erfahrung des Menschen der Tradition, wie auch in verschiedenen Fällen
noch heute die der sogenannten «Primitiven», ging weit über eine solche Grenze hinaus. Das «Unsichtbare»
bildet darin einen ebenso wirklichen und sogar noch wirklicheren Bestandteil als das von den Sinnen Gegebene.
Und jeder Lebensmodus, der des einzelnen wie der der Gesamtheit, richtete sich streng danach.
War infolgedessen das heute «Wirklichkeit» Genannte traditionsgemäß nur eine Spezies einer viel
umfangreicheren Gattung, so fiel dennoch das Unsichtbare mit dem «Übernatürlichen» nicht ohne weiteres
zusammen.
Dem «Natur»-Begriff entsprach traditionell nicht lediglich die Welt der Körper und sichtbaren Formen, worauf
sich die säkularisierte Wissenschaft der Modernen verlegte, sondern ebenso und wesentlich ein Teil der
unsichtbaren Wirklichkeit selbst. Es war das Empfinden für eine von dunklen und zweideutigen Kräften aller Art
bevölkerte «Unter»-Welt - die dämonische Seele der Natur, Nährboden aller Formen und Kräfte der letzteren -
lebendig, und demgegenüber stand die überrationale und «Solare» Klarheit eines höheren Bereichs. 2 Aber
darüber hinaus gehörte traditionell auch alles Menschliche zur «Natur»: denn es entging das Menschliche nicht
dem Schicksal von Geburt und Tod, von Veränderung und Abhängigkeit von tellurischen Mächten, die dem
unteren Bereich zugehören. Letztens konnte das «Seiende» nichts mit menschlichen oder zeitgebundenen
Zuständen oder Bedingungen zu tun haben: έν άνρώπων, έν εών γένος - «Eines ist das Geschlecht der
Menschen, ein anderes das der Götter» -, wiewohl man der Auffassung war, daß der Bezug auf das höhere,
überweltliche Bereich jene Verwandlung oder Reinigung des Menschlichen im Außermenschlichen anbahnen
konnte, das allein, wie wir sehen werden, Anfang und Ende jeder wahrhaft «traditionellen» Kultur war.
Eine Welt des Seins und eine Welt des Werdens - von Dingen, Dämonen und Menschen. Jede gegenständliche -
astrale, mythologische, theologische oder religiöse - Vorstellung dieser beiden Bereiche führte den Menschen
der Tradition auf zwei Zustände zurück, deren Erfahrungen er sub specie interioritatis zu machen hatte. So bleibt
in der indoarischen Tradition, und dann noch mehr im Buddhismus, der Gedanke des samsâra - der «Strömung»,
die jede Form der niederen Welt beherrscht und mit fortträgt - eng an einen Lebenszustand als blinde Begierde,
irrationale Einswerdung gebunden. Ebenso personifizierte das Hellenentum in der «Natur» oft die ewige
«Bedürftigkeit» dessen, was sein Lebensgesetz von außen empfängt, was unablässig fließt und sich flieht άεί
ρέονταund eben in seinem «Werden» ein angeborenes und grundsätzliches Preisgegebensein, einen steten
Mangel an Begrenzung bekundet.3 «Materie» und Werden drücken in solchen Traditionen aus, was in einem
Wesen Chaos ist, dunkle «Notwendigkeit», Ohnmacht, sich in einer vollkommenen Form zu vollenden, sich in
einem Gesetz zu besitzen: άναγκαϊονund άπειρον sagten die Griechen, adharma die Orientalen. Und die
Scholastik hatte keine sehr verschiedene Vorstellungen davon, wenn sie die sündhafte Wurzel der unerlösten
Natur in der cupiditas und im appetitus innatus erkannte. In der einen oder der anderen Weise also fand der
Mensch der Tradition in der Erfahrung des Verlangens, der begierdehaften Einswerdung und der Leidenschaft
das Geheimnis jener Seinsart, deren unaufhörliches Werden und stete Unbeständigkeit und Unruhe bei Dingen
und Wesen des niederen Bereichs als eine gewaltige kosmisch-symbolische Verkörperung erschien.
Darin dagegen, daß man sich angehört und sich eine Form gibt, daß man das Gesetz eines Lebens in sich trägt,
welches sich nicht mehr vergeudet, sich nicht mehr auf der Suche nach anderem oder anderen zu seiner
Ergänzung und Rechtfertigung erniedrigt, sich nicht mehr im Mangel und im irrationalen Drang nach dem
Äußeren und Verschiedenen hin zersplittert - mit einem Wort: in der Erfahrung der Askese sah man den Weg
zum Verständnis des anderen Bereichs, der Welt des «Seins»-Zustandes, dessen, was nicht mehr physisch,
sondern metaphysisch ist - «schlaflose Geistesnatur» - und wofür Sonnensymbole, uranische Regionen,
Wesenheiten aus Feuer und Licht, Inseln und Bergeshöhen traditionsgemäß Verbildlichungen waren.
Dies die «beiden Naturen». Und man wußte um eine Geburt gemäß der einen und um eine Geburt gemäß der
anderen; und um einen Übergang von der einen zur anderen, denn es wurde gelehrt: «Ein Mensch ist ein
sterblicher Gott, und ein Gott ein unsterblicher Mensch.»4
Die Traditionswelt wußte um diese beiden großen Pole des Daseins und um die Wege, die vom einen zum
anderen führen. Außer der Welt, in der Gesamtheit ihrer sichtbaren wie unterirdischen, menschlichen wie
untermenschlichen und dämonischen Formen genommen, kannte sie also eine «Überwelt» - ύπερκοσμία-, die
erste als «Abfall» von der zweiten, und die zweite als «Befreiung» von der ersten. Sie kannte die Geistigkeit als
eine transzendente Wirklichkeit jenseits von Leben und Tod. Sie wußte, daß das äußere Dasein, das bloße
«Leben» nichts bedeutet, wenn es nicht völlig eine Annäherung an die Überwelt, an das «Mehr-als-Leben», ein
Titus für die Teilnahme daran und für eine Befreiung von der Fessel des Menschlichen ist. Sie wußte, alle Größe
ist trügerisch, alle Autorität falsch, jedes Gesetz ungerecht und gewalttätig, jede Einrichtung nichtig und
vergänglich, wenn es nicht auf das Übernatürliche gegründete Größe, Autorität, Gesetze und Einrichtungen sind.
Die Traditionswelt kannte die königliche Göttlichkeit. Sie kannte den Akt des Übergangs: die Initiation - die
beiden großen Wege der Annäherung: heroische Aktion und Kontemplation - den Mittler: den Ritus - den
Grundpfeiler: das traditionelle Gesetz, die Kaste - das irdische Symbol: das Reich, das Imperium.
Dies sind die Grundlagen der traditionsgemäßen Rangordnung und Kultur, die der «Humanismus» der
Modernen in jeder Beziehung zerstört hat.
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1 Dies ist der wahre Materialismus, dessen man die Modernen anschuldigen sollte: daneben sind ihre anderen
Materialismen, im philosophischen und wissenschaftlichen Sinne, durchaus von untergeordneter Bedeutung. Bei diesem
ersteren Materialismus handelt es sich nicht um eine Frage von Meinungen oder «Theorien», sondern um einen
Tatbestand, welcher einer Menschenart zugehört, deren Erfahrung nur noch körperliche Dinge zu erfassen vermag.
Daraus wird ersichtlich, daß gewisse «kulturelle» Erhebungen von heute gegen die «materialistischen» Ansichten zu
den eitlen intellektualistischen Reaktionen gegen letzte und peripherische Wirkungen von weitläufigen und tieferen
Ursachen gehören, die sich ganz andernorts als in den «Theorien» herausgebildet haben.
2 Schon hier ist der Hinweis am Platz, daß traditionell, um das Unsichtbare im allgemeinen zu bezeichnen, oft die
Symbolik des Unterirdischen gebraucht worden ist: was unter der Erde ist, ist das Versteckte, das Innere, das was (den
gewöhnlichen Sinnen) verborgen ist. Damit gilt «unterirdisch» für das eine wie das andere der beiden obenerwähnten
entgegengesetzten Bereiche, die aber deshalb nicht miteinander zu verwechseln sind: für das dämonisch-tellurische wie
für das «himmlische», insofern das «Himmlische» gleichfalls als das Verborgene gilt (coelum wurde traditionell mit
celare verknüpft). Zum Gegensatz zwischen Übernatürlichen und Dämonisch-Natürlichem vgl. auch J. Evola, Maschera
e Volto dello Spiritualismo contemporaneo, Turin, 1932, passim; zur traditionellen Angleichung von «unterirdisch» und
«himmlisch» vgl. Guénon, Roi du Monde, Kap. VII.
3 Charakteristische Bezeichnungen bei Plotin, Enm., I. VIII, 4-7; II, XXI, 5-8; VI, VI, 18, 1; II, IX, 4. Vgl. Plutarch, De
Iside et Os., 56.
4 Vgl. Heraklit (Diels, Fr. 62):
άάνατοινητοίνητοίάάνατοιξώντεςτόνέκεκείνωνάνατοντόνδέέκείνωνβίοντενεώτες; Corpus
Hermeticum, XII, 1. In der indischen Tradition begegnen wir demselben Gedanken z.B. in der Form eines
Hinüberwechselns des Unsterblichkeitstrankes von den Asura zu den Deva (vgl. A. Weber, Indische Studien, Leipzig,
1868, Bd. III, S. 466); und viele andere Ausdrucksformen des gleichen Gedankens ließen sich unschwer auch anderswo
finden.

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