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HUGO ERBE

Wie kommen wir zu einem erneuerten


Naturverständnis?

Wir müssen die Naturphänomene in unserer Seele sich aussprechen


lassen

Die aphoristische Beantwortung dieser Frage wird in hohem Maße davon abhängen, inwiefern es
gelingt, zu einem erneuerten Menschenverständnis zu kommen, zu einem solchen
Menschenverständnis, durch welches die Stellung, die Lage, die Sinnhaftigkeit des Menschseins
einerseits zur Natur und andererseits zum Kosmos eine sinngemäße Erklärung finden kann.

Dabei wird manches zu klären sein, so auch die Auffassung über den „Begriff" Natur, als ob er
eine Einheit darstelle. Das ist aber in Wirklichkeit eine Illusion, denn die „Natur“ besteht eben aus
drei gewaltigen, völlig voneinander verschiedenen „Reichen", dem Mineralreich, dem Pflanzenreich
und dem Tierreich,(hier fehlen leider 3 oder vier Worte in der Kopie) Mannigfaltigkeit, Schönheit und
Weisheit eigen, die nur Staunen und Ehrfurcht in dem menschlichen Betrachter hervorrufen
können. Und dem Staunen und der Ehrfurcht vor der aus diesen Reichen strahlenden Genialität
wird sich die Dankbarkeit hinzugesellen können aus der klaren Erkenntnis heraus, daß dieses
irdische Menschsein sich erst ermöglicht, hat, nachdem die Reiche der Natur sich so gebildet und
geformt haben, wie sie heute vor uns ausgebreitet liegen und der Erforschung durch den
Menschengeist Rätsel über Rätsel vorlegen. Wer würde in diesem Augenblick nicht gedenken der
weisheitsvollen Worte Goethes, die er seinem Freunde Eckermann gegenüber aussprach, jener
Worte, die jene innere Gesinnung zum Ausdruck bringen, welche einzig und allem einer wahren
Würde des Menschseins zugrunde liegen können, der Worte:

„Ehrfurcht vor dem, was unter mir ist (womit Goethe die Reiche der Natur meinte),

Ehrfurcht vor dem, das mir gleich ist (also dem ganzen Menschsein gegen-über), und

Ehrfurcht vor dem, was über mir ist" (wo-mit Goethe in einfacher und wunderbarer Weise zum
Ausdruck brachte, wie er ein Wirken und Walten eines Geistig-Göttlichen fühlte und anerkannte).

In dieser inneren Haltung Goethes ist eigentlich nun schon klar eine Antwort zum Ausdruck
gebracht auf die eingangs gestellte Frage, wie heute ein klares und umfassendes Verständnis des
Menschseins in seinem Verhältnis zu den Naturreichen und dem Kosmisch-Göttlichen möglich sein
kann.


Aus einer uralten Volksweisheit heraus stammen ja die Worte: ..Die Natur ist das Lesebuch
Gottes." Solche alte Weisheitsschätze, verbunden mit der Ehrfurchtsgesinnung eines Goethe,
können in jeder Menschenseele ungeheuer fruchtbar werden, wenn eine Seele sie ernst nimmt
und sich aufgefordert fühlt, das wahre Lesen dieses „Lesebuchs Gottes" lernen zu wollen!
Dies erfordert allerdings von der Menschenseele zunächst ein gewisses Sichloslösen von dem
Hasten und Treiben der äußeren Welt zu kurzen Zeiten einer inneren Ruhe, einer vertieften
Besinnlichkeit und - einer beharrlichen Geduld.

Die Natur ist das Lesebuch Gottes

Aber eine solche erste, bewußt durchgeführte „Erziehung und Erkraftung" der Menschenseele von
normalerweise sonst latent bleibenden Kräften kann ungeahnte innere Bereicherung entfalten;
denn es wird sich dann immer mehr und mehr enthüllen können die vorher kaum zu erfassende
Weisheit, daß der Mensch in seiner ganzen Struktur nach einem einzigartigen Urbilde, nach dem
„Bilde Gottes" geschaffen wurde! Es wird sich, wenn eine Seele sich in dem geschilderten Sinne
müht, die Vorstellung bilden können, daß das, was in den drei Naturreichen vorliegt, sozusagen
von der Menschwerdung ausgeschieden werden mußte; denn stellen wir uns vor, daß die Fülle der
mineralischen Welt innerhalb der menschlichen Skelettbildung verblieben wäre, daß die mächtigen
Wachstums- und Wucherprozesse der pflanzlichen Welt in unserem Menschsein wirkte und daß
das gesamte Trieb- und Begierdenleben der Tierwelt ebenfalls in den seelischen Regionen wütete
und wogte (es ist ja wahrlich noch genug davon vorhanden), das dem Ebenbilde Gottes
entsprechende Maß hätte sich nicht formen lassen! Durch eine solche Betrachtung kann man nicht
nur wieder uralt-heiligen Weisheiten nahekommen, nämlich daß die Naturreiche zurückgebliebene
„Brüder" zu den Stufen des Menschseins darstellen, also Wesen und Substanzen, die einstens auch
durchaus veranlagt waren, die Menschenstufe zu erreichen, sondern es kann sich immer mehr
erhellen, mit welcher zunächst unfaßbaren Weisheit das künstlerische Schaffen „Gottes“ vor sich
ging! So kann in dem vorzeitigen Ausscheiden der mineralischen, der pflanzlichen und der
tierischen Welt auch erblickt werden eine hohe Stufe einer wahren Liebe: Es opfern sich Wesen
hin, um anderen dadurch zu einer höheren Stufe zu verhelfen! Das ist ja auch der Sinn der Worte
eines Goethe, als er zum Beispiel die ungeheure Fülle der Samenbildung der Pflanzen betrachtete,
von denen nur ein Bruchteil ihr Ziel einer neuen Pflanzenbildung erreichen kann, der Worte: „Die
Natur hat den Tod erfunden, um viel Leben zu haben!“ Alles Sein in diesem Sinne beruht auf dem
Opfer von geistigen Wesen!
Hiermit dürfte klar und deutlich zum Ausdruck gebracht sein, daß am Anfange der
Menschheitsentwicklung immer die „Idee Mensch" stand, die ihrerseits wieder in dem Wesen der
göttlichen Trinität begründet erscheint, auch wenn diese zunächst unserer heutigen Erkenntnis
ferne liegt. Als Bewußtseinsstufen hat diese „Idee Mensch" sicherlich eine mineralische. eine
pflanzliche und eine tierische durchzumachen gehabt, ohne jedoch je Mineral, Pflanze oder Tier
im heutigen Sinne gewesen zu sein. Wäre dieser Fall eingetreten, so hätte die Stufe „Mensch“ nicht
entwickelt oder erreicht werden können, sondern höchstens „Mineralmensch, Pflanzenmensch
oder Tiermensch"! Wie unmöglich, kümmerlich und armselig nehmen sich neben einer solchen
Menschheitswerdung die Anschauungen eines Kant-La-Placeschen Urnebels, einer Protoplasma-
Theorie oder gar einer so geistlosen und unwürdigen Affen-Abstammungslehre aus!
Man muß sich fragen: Kann es denn einem heutigen menschlichen Betrachter der drei Naturreiche
in ihrer Schönheit, Mannigfaltigkeit und sichtbarlich wirkenden Weisheit gar so schwerfallen, in
allen Naturerscheinungen und Naturwesen im Irdischen in Erscheinung tretende Ideen oder
Gedanken hoch und höchst entwickelter, unsichtbar bleibender Intelligenzen zu sehen?

Denn es wäre ja eine Überheblichkeit sondergleichen, anzunehmen, die menschliche Intelligenz sei
die höchst entwickelte in unserem ganzen kosmischen System!

In diesem Erdendasein sind wir gewiß dem Gesetz der sogenannten Schwerkraft unterworfen,
allein es existiert doch neben dem Gesetz der Schwerkraft auch das in allen irdischen
Erscheinungsformen wirkende Gesetz der Dualität, der Polarität, wie es z. B. zum Ausdruck kommt
in den Gegensätzen von Tag und Nacht, Mann und Frau. Liebe und Haß usw., usw. Sollte daher
dem rein materiellen Gesetz der Schwere, also der Dichte der irdischen Materie, nicht ein Gesetz
der „Leichtkraft", des Immateriellen, des die Ideen tragenden göttlichen Denkens, daß Stoffe,
Materien, Formen, Farben, Wesen aus dem „Unsichtbaren" in die sichtbare, irdische Erscheinung
geschaffen werden können, gegenüberstehen? Sind denn die menschlichen Gedanken oder Ideen
nicht auch völlig immateriell, ehe sie in Wort und Tat in Erscheinung treten? Es kann daher gar
keinem Zweifel unterliegen, daß ein solches „Gesetz der Leichte" genau dieselbe, wenn nicht gar
höhere Realität hat als das bloß irdische Gesetz der Schwere. Und wenn wir den Mut haben,
innerhalb dieses „Gesetzes der Leichte“ das Wirken und Schaffen hochentwickelter Intelligenzen
oder geistig-göttlicher Wesenheiten zu erblicken, dann kann die Situation unseres heutigen
Menschseins als eine Art gewaltiges, dramatisches Gemälde angesehen werden.
Auf der einen Seite gründet sich dieses Menschsein auf den Opfertaten und Weisheiten der drei
Naturreiche, dem mineralischen, dem pflanzlichen und tierischen Reiche, auf der anderen Seite
aber türmen sich die drei immateriellen, die geistigen Reiche, die man bezeichnen kann als ein
erhabenes Reich eines nur geistigen Feldes, als ein gewaltiges Reich des Seelischen, als ein Reich
des Lebens, mit einer Überfülle von Kräften, bewohnt von göttlich-geistigen Intelligenzen auf, als
deren Wirken wir die irdische Erscheinungswelt haben. Und dazwischen leidet, ringt, kämpft und
freut sich dieses so kompliziert gewordene Menschsein, von seiner eigentlichen Zugehörigkeit zu
den göttlich-geistigen Wesenheiten nichts mehr wissend, im Unterbewußtsein ein geistiges,
irdisches, dem Leben zugehöriges Licht tragend, das in dem Gesetz der Schwere, der Finsternis zu
versinken droht! Und doch leuchten, schaffen und wirken in diesem Menschsein noch diese drei
göttlichen Intelligenzreiche, indem sie diesem Menschsein drei Geschenke oder Gaben mit auf den
irdischen Weg gaben, auf deren harmonischem Zusammenwirken dieses Menschsein genauso
beruht wie auf dem Ineinanderwirken der drei Naturreiche, nämlich die Gabe des Denkens, durch
welche der Mensch, sich selbst erkennend, als Krone der „Schöpfung“ angesehen werden kann, die
unendlich bereichernden Gaben des Fühlens und die gerade in dieser Zeit zur Entfaltung
drängenden Sphären des Willens. Somit ist auch der Mensch, so wenig wie die „Natur" ein
Einheitliches, sondern ein Dreifältiges, eine Trinität des Göttlichen in sich tragend, die sich durch
das „Ich“ offenbart. Und in diesem Sinne kann das Menschsein angesehen werden als ein
Bewußtseinsträgertum von Geist, Seele und Leben. Drei weisheitsdurchflutete Naturreiche unter
ihm und drei gewaltige, erhabene Reiche des Geistes über ihm.

Erweiterung unserer Erkenntnis ist notwendig

Leider aber muß man sagen, daß es mit diesem „Bewußtseinsträgertum" des Menschen hinsichtlich
des geistrealen Erfassens und Erforschens dieser sechs bzw. sieben Reiche, wenn man das
Menschenreich einbezieht, recht kärglich bestellt ist; denn im Grunde genommen kann das
Bewußtsein des heutigen Menschen nur das Tote, das Anorganische, das Mineralische erfassen.
Der Bewußtseinszustand des heutigen Mensch­ seins hat vorerst nur eine Erkenntnisart
auszubilden vermocht und lebt und strebt in der völlig irrigen Überzeugung, daß er mit dieser


Erkenntnis an, die gerade ausreicht, das mineralische Reich zu erforschen, auch das Lebensreich
der Pflanzen, das Lebens- und Seelenreich der Tiere erforschen zu können; dazu wird man aber
niemals in der Lage sein. Das ist eigentlich so klar wie dies, daß die Bewegungsart des Gehens, des
Laufens, Springens usw. auf der festen Erde vollkommen berechtigt ist, diese aber ihre
Berechtigung sofort verliert, wenn wir in das Element des Wässerigen übergehen. Da muß eben
die Bewegungsart des Gehens in diejenige des Schwimmens verwandelt werden, und wer das
nicht kann oder will, der muß eben die naturgemäßen Konsequenzen tragen! Und genau so
verhält es sich mit der heute entwickelten Erkenntnisart, die, wenn sie in die Erforschung der
Reiche des Lebens konkret und irrtumsfrei eindringen will, zuvor eine solche Umwandlung
durchmachen muß, die dem Wesenhaften des Lebendig-Ätherischen entspricht. Rudolf Steiner
nennt diesen Umwandlungsprozeß, den jede menschliche Individualität in sich selber unter
energischen Bemühungen vornehmen muß, das Imaginative. das Bildhaft-Lebensvolle. Und eine
weitere Erkenntnisart kann sich der Mensch erarbeiten, die ihn befähigen kann, in die weltweiten
Bezirke des Seelischen einzudringen, und noch eine weitere, die ihn hineinführen kann in die
zunächst höchsten Reiche des rein Geistigen! Erst dann, wenn der Mensch diese drei höheren Er­
kenntnisarten, die in jeder menschlichen Seele latent vorhanden sind, ausgebildet hat, wird auch
eine wirklichkeitsgemäße Erforschung des Pflanzen-, des Tierreichs und - des Rätsels Mensch
erfolgen können. Goethe war auch in dieser Hinsicht ein leuchtendes Vorbild seiner Zeit; denn als
ihn sein schon erwähnter Freund Eckermann fragte, wie er zu seinen damals und auch heute noch
epochalen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gekommen sei, antwortete er: In langen Jahren,
lieber Eckermann, habe ich versucht, meine Einbildungs- oder Vorstellungskraft zu verstärken, und
heute habe ich die Gabe, wenn ich ein Samenkorn in die Hand nehme und die Augen schließe,
das Samenkorn zerfließen zu sehen, wie es sich dann umbildet in den Wurzelkeimling, in den
Sproß nach oben, und wie es mit ungeheurer Kraft die Erde durchstößt und in Licht und Luft
Stengel, Blätter und Blüten bildet. Ja, ich rieche den Duft der jeweils vorgestellten Pflanze!

Wenn heute von jemandem der Einwand gemacht wird, dies sei eine bloße Illusion, dann wird nur
bezeugt, daß der Betreffende aus Bequemlichkeit oder Angst diesen Versuch, der niemals aus
einer klaren Bewußtseinskontrolle heraus- fallen kann, nicht gemacht hat. Von Goethe selber
wurde diese Gabe als „Anschauende Urteilskraft“ bezeichnet, und unsererseits muß darauf
hingewiesen werden, daß die Entwicklung derselben eine gesunde und sichere Vorstufe darstellt.
bevor die höheren Erkenntnisarten im Sinne Rudolf Steiners in Angriff genommen werden.

Wandlung der Gesinnung

Wer nun die vorstehenden Ausführungen, die freilich viele Lücken aufweisen. innerlich wirklich
ernst nehmen kann und will, der wird sich der „Natur" wahrhaftig in einer völlig anderen Art
gegen­ überstellen können, als dies zuvor der Fall war. Es wird vor allem die Gesinnung wach
werden können, die in dem Gedicht „Fußwaschung" von Christian Morgenstern so vollendet zum
Ausdruck gebracht wurde und die nur so beschrieben werden kann, daß im Grunde genommen
jeder menschliche Bewußtseinsträger erkennen und erahnen kann, daß er persönlich die
moralische Verantwortung trägt für die jeweils sinngemäße Weiterentwicklung der
„zurückgebliebenen Brüder“ in den Naturreichen und daß nur ein völlig unwürdiges, geistlos


gewordenes, egoistisches Menschsein ein bloßes, rohes Utilitätsprinzip in bezug auf die
Verwendung bzw. die Art der Verwendung der Naturprodukte anwenden konnte, damit
unübersehbare Schäden anrichtend, die sich ja recht augenscheinlich in unserer heutigen Zeit
auszuwirken beginnen. Eine rein im Materiellen, also nach der Abstraktion hin entwickelte
Intelligenz. wie sie heute ausschließlich vorhanden ist, der jede moralische Verpflichtung den aus
dem Göttlichen stammen­ den Naturreichen gegenüber fehlt, kann eben nur zu zerstörenden
Tendenzen kommen, wie sie in der Atomistik in Erscheinung treten. Der Mensch ist aus dem
Genialisch-Göttlich-Guten in das Unter- menschlich- Dämonale-Böse abgestiegen und kommt
damit zur Entfesselung von ihm gar nicht erkennbaren satanischen Gewalten, deren
Zerstörungskraft die ge­ samte Erd- und Menschheitsentwicklung in Frage stellen kann!

Aus diesen Ausführungen dürfte einwandfrei hervorgehen, daß eine rein aus dem Materialismus
heraus entwickelte menschliche Intelligenz, praktisch gesprochen, eine Naturwissenschaft ohne
religiöse, moralische Impulse, nur Zerstörendes, Krankmachendes, Unsoziales zeugen kann,
genauso wie ein bloßer religiöser Impuls ohne durchgöttlichte Wissenschaft nur in Illusionen führt
und nicht in der Lage sein kann, in das praktische Leben einzugreifen und es im wahren
christlichen Sinne umzuwandeln!

Die Situation unseres heutigen Menschseins kann nach diesen Ausführungen kristallklar vor jedem
menschlichen Urteilsvermögen stehen, nämlich die völlig freie, persönliche Entscheidung zu
treffen, mit seinem Menschsein entweder zu dienen dem Geistig-Göttlich-Schöpferisch-
Lebendigen, oder zu bleiben, wie man ist, in alten, längst unwirksam gewordenen Anschauungen,
damit aber um so sicherer den dämonisch-zerstörenden, ganz gewiß antichristlichen Mächten zu
verfallen. Es liegt ja der tiefste Sinn des Menschseins gerade darin, sich seiner „Gotteskindschaft“,
wie man sagen kann, nicht nur bewußt zu werden, sondern sich ihrer immer mehr und mehr durch
innerste, seelisch-persönliche Anstrengungen wert zu machen Um dieses frei und ganz individuell
entscheiden zu können, sind wir aus der geistig-göttlichen Heimat ausgeschieden, haben den
Trunk des „Vergessens“ getrunken, sind dem Tode überliefert worden und in dieser Zeit ausgesetzt
dem Bösen, dem Antigöttlichen! Ernst sollte genommen wer­ den die uralte Aufforderung an den
Menschen, die über jedem Tore der alten griechischen Tempel stand: O Mensch, erkenne dich
selbst! Und hinzugefügt darf werden: О Mensch, erkenne, womit du erkennst!

Die mineralische Welt

Gehen wir nun mit einer durch diese Ausführungen aufgeschlossenen Erkenntnis hinein in die
Betrachtung einer weisheitsdurchströmten Natur, treten wir zuerst ein in die unterirdischen
Grotten, Höhlen, Erzbergwerke und Hallen der mineralischen Welt, dorthin, wo in so
geheimnisvoller Art sozusagen die „Herzen“ der amorphen Gesteinsmassen wachsen, in die Gänge
und Stollen jener Bergwerke, aus deren Inneren die verschiedensten Erze und Metalle geholt
werden, da kann uns wahrhaftig eine Ahnung und Erinnerung auftauchen an lerne Urzeiten, als
alle diese Formen, Farben und Kräfte noch nicht erstarrt waren, sondern als lebendig wogende
Substanzen sich hingaben, um die Formungen und Prägungen hoher und höchster Intelligenzen
zu empfangen als erste Schöpfungstat, auf welcher viel später sich das göttliche Abbild des
Menschseins erheben konnte!


Und so staunen wir hinein in die kalkigen, tonigen und kieseligen Gesteinsmassen dieser Erde,
lassen in uns die Ahnung wirken und fester und fester werden, daß erhabene göttliche Weisheiten
den Überschuß von werdenden Kräften, die Maß, Zahl und Gewicht des zu erreichenden
Menschenbildes vorerst unmöglich gemacht hätten, so lenkten, daß sie als erste ihre irdische
Verdichtung finden mußten, um, bildlich gesprochen, das Skelett des Erdenplaneten zu bilden.

Eine Woge von Ehrfurcht können wir empfinden beim Anblick eines solchen Werdeprozesses, und
wir können uns nun gerade dieser toten, mineralischen Welt in einer völlig gewandelten, inneren
Haltung gegenüberstellen, und dies in einem vertieften Maße, wenn wir uns in das Anschauen der
mannigfachen Kristallbildungen in seinen zahllosen Formen, Systemen und Farben vertiefen. Ist es
nicht einfach überwältigend, wenn wir hören, daß der gewöhnliche Kalkstein in etwa 800
verschiedenen Kristallkombinationen auftritt, die sich aus dem Rhomboeder und Skalenoeder
zusammensetzen? Und welch unerhörte Offenbarungen können uns zuteil werden, wenn wir
liebevoll versenken in die klare, durchsichtige, stets im Sechseck auftretende Säule des
Bergkristalls! Es ist, als ob nach einiger Zeit kontemplativer Betrachtung das eigene Wesen
durchlichteter und harmonischer würde, ja das kann als absolute Tatsache belegt werden durch
die medizinische Anwendung des kieseligen Quarzes. Und wie ganz anders empfindet man beim
Anblick eines edlen, violblauen Amethystes, dem nächsten Verwandten des Bergkristalls? Reinheit,
ja Frommheit und innere Ruhe strahlen aus seinem geheimnisvollen Violblau. Nicht von so
ungefähr ist dieser Stein im Ringe geistlicher Würdenträger, und schon seit uralten Zeiten wurde er
gerühmt als ein sicheres Gegenmittel gegen Trunksucht und Unkeuschheit. - Und welch eine
Wirkung kann erlebt werden, wenn jemand das Glück hat, einen durchsichtig-klaren Diamant-
Oktaeder in die Hand zu bekommen und daneben - ein Stück gewöhnlicher Steinkohle! Beide sind
ja dieselbe Grundsubstanz: Kohlenstoff! Aber was und welche Kräfte konnten die Trübnis und
Finsternis der gewöhnlichen Kohle so klären und hinüberführen in eine restlose Durchlichtung und
Durchfeuerung? „O Mensch“, so möchte man sagen, „erkenne dich als Kohlenstoffträger und
suche und lasse nicht ab, dich selber in die Kraft und das Licht des Diamantenen zu führen!“

Es würde jedoch weit über den Rahmen dieser Betrachtungen hinausführen, wollten wir uns in die
sinnige Anschauung der herrlichen Zirkone, der Topase, der Turmaline, der Smaragde, der Rubine,
Saphire usw., usw. vertiefen. Es sei jedem Leser überlassen, sich einen dieser edlen Steine in seine
Vorstellung hereinzunehmen und im ruhigen Anschauen mit demselben zu verbleiben - dann wer­
den sich schon Enthüllungen offenbaren, die durch das persönliche Erleben zeigen werden, in
welch intimes, geistreales Wechselwirken die Menschenseele mit dem Wunderreich des
Mineralischen kommen kann!

Die Weisheit der Pflanzenwelt

In einer nicht weniger bedeutungsvollen Art kann sich die Menschenseele mit der Schönheit und
Weisheit der Pflanzenwelt verbinden. Der beste Weg dazu ist und bleibt wiederum die stille,
ruhige, „anschauende Urteilskraft“, wie sie Goethe in vollendeter Art angewandt hat. Freilich sind
hierzu einige Voraussetzungen nötig; dazu gehört vor allem das „Interessiertsein“, das
“Liebhabenkönnen“ in ganz besonderem Maße, und dann jenes ruhige, lange „Festhaltenkönnen“,
ohne jede anderweitige Störung des Bildes der angeschauten Pflanze, das gar nicht so leicht ist

und einiger Übung bedarf. Ferner sollte sich hinzugesellen das „innere Schweigen" der Pflanze
gegenüber, also keine Gedanken zunächst entstehen lassen nach diesen oder jenen Definitionen
hin. Gelingt dieses stille, liebende Anschauen den Pflanzen gegenüber, so werden Wunder über
Wunder erlebt werden können. Die Pflanzen beginnen, wie man sagen kann, zu sprechen! Und die
„Rosenheit“ wird einem enthüllen können, weshalb sie von fast allen Menschen so geliebt und als
„Königin der Pflanzen“ geschätzt wird, und sie spricht eines Tages in einem Bilde zu uns, indem sie
unsere eigene, unbeschwerte Kindheitszeit vor uns hinsteIlt und damit zum Ausdruck bringt, daß
die innere Kraft der „Rosenheit“ es ist, welche uns den „verlorenen Geist der Kindheit“ bewahrt!
Aber sie erzählt noch mehr; sie erzählt von urfernen Vergangenheiten, da die Erde noch mit allen
Planeten, die heute fern im Weltenraum von außen wirken, vereinigt war, und enthüllt, daß sie ein
Geschöpf sei der hohen Intelligenzen, die in dem Planeten Venus tätig sind, und sie deutet an, daß
starke Heilkräfte ihr zu eigen seien, wenn sie der Mensch nur in der rechten Art aus ihr zubereiten
könne, und vieles andere mehr. Man kann ja daran denken, wie vitaminreich gerade die Früchte
der Heckenrose sind und wie der „Kernlestee“, aus deren Samen gewonnen, ein lange bekanntes
Heilmittel bei gewissen Nieren- und Blasenstörungen darstellt... Ein fast polares, aber dennoch
wunderbares Gegenbild der Rosen können die Disteln, besonders die Purpur- und Speerdisteln,
die eine so liebliche Verwandtschaft aufweisen zu der schönen Schmetterlingswelt, „bildlich“
erzählen.- Auch sie „zaubern“ vor unsere betrachtende Seele unsere Kindheitszeit und zeigen, daß
sie es sind, welche die kindlich unbewußt begangenen Grausamkeiten - wenn man so sagen darf -
ausgleichen. Und sie enthüllen sich als Kinder hoher Marsischer Intelligenzen mit vielen, heute
noch unbekannten Eigenschaften!

Und wie kann unsere Seele bewegt werden beim Anblick wogender Getreidefelder! Welcher
Genius vermochte unter den rund 8000 bekannten Grasarten die wenigen herauszufinden, die
zum Träger der kostbarsten Nahrung des Menschen, des Brotes, werden konnten, und welche,
Maßnahmen traf er, um diese kostbare Ernährungskraft in den Getreidearten durch fast sieben
Jahrtausende hindurch zu erhalten? Unwillkürlich kann in unserer Seele das Bild des Abendmahles
auf­ steigen, da der Christus das Brot brach und sprach: „Nehmet und esset, dies ist mein Leib“,
und beim Wein: „Nehmet und trinket, dies ist mein Blut!" Welche Geheimnisse sind hier noch
verborgen! Und welche Gegensätze treten uns entgegen in den Gräsern und den
Rebengewächsen! Bei den Gräsern kann man den Eindruck haben, daß sie auf alten Prunk von
üppigem Wachstum, prunkvolle Blüten- und Duftbildung verzichten und da­ für die wunderbaren
Körner bilden, aus denen Mehl und Brot, einzigartig in seinem Aroma und Wert, gewonnen
werden kann.

Welch ein üppiges Wachstum dagegen tritt uns in den Rebengewächsen vor die Augen! Überließe
man sie diesem wuchernden Wachsen, sie würden 30, 40 Meter und darüber hochranken,
umgehen dabei allerdings einen geltungssüchtigen Blütenprozeß, treiben dafür aber alle Kraft in
die Übersüße und Überfülle ihrer Beeren hinein! Brot und Wein! Gräser und Rebengewächse!
Welche Gegensätze und - was werden sie uns noch alles enthüllen?

Leider können ja auch bei einer kontemplativen, anschauenden Betrachtung der Wunder unserer
Pflanzenwelt nur diese wenigen Beispiele angeführt werden, und so wollen wir denn uns versenken
in den Anblick einiger typischer Repräsentanten aus der Fülle des tierischen Reiches.


Das Reich der Tiere

Wer empfände nicht innigste Sehnsucht beim Anblick eines sich in ferne Höhen sich
emporschraubenden Adlers es ihm gleichzutun? Erdverwandt zu sein - und sich doch zu Zeiten
aller Erdenschwere entwinden zu können? Und aus einer solchen „Vogelschau“ herunter das
Hetzen, Jagen, Streiten usw. der Menschen betrachten zu können! Ist das Bild des Adlers nicht wie
eine Aufforderung an den Menschen, die eigene Gedankenwelt umzugestalten, um adlergleich,
sozusagen „leibbefreit“ im kosmischen Meere lichtumflossener Gedanken zu verteilen? Welch eine
Perspektive kann sich eröffnen im Hinblick auf den Schreiber des so bedeutsamen Johannes-
Evangeliums, dem das Symbol des Adlers beigegeben wurde!

Und wiederum mag uns das Gegenbild des Adlerhaften vor unser Seelenauge treten, das Bild des
Tieres, das so ganz der Erdenschwere verfallen ist, der Kuh. Welch eine Trauer und Melancholie
strömen uns aus den großen, schönen Augen einer Kuh entgegen! Und welches Wunder vermag
die Kuh aus ihrem Erdegefesseltsein zu gestalten in dem Wunder der Milchbildung! Aus dem roten
Blut die weiße Milch! Ferner das Wunder der Verdauung durch vier Mägen hindurch, eine
Tatsache, die uns Menschen noch bedeutsame Forschungsrätsel aufgibt, könnten sich doch hierbei
chemische Vorgänge zeigen, von deren Erkennen wir noch weit entfernt sind, welche aber eine
ungeahnte Vertiefung der organischen Chemie bedeuten könnten...

Welch ein herrliches Bild von Harmonie zwischen innen und außen, von Mut und Kraft bietet der
Anblick eines Löwen. der ja nicht zu Unrecht als der König der Tiere bezeichnet wird. Er weist uns
auf Herzenskräfte hin in unserem Menschsein, deren Tätigkeit ganz besonders im Harmonisieren
zwischen oben und unten, zwischen außen und innen besteht. Und als Gegensatz möge der
aasfressende, feige, sich nur bei Nacht herumtreibende Schakal angesehen werden.

Wer ist nicht schon bis ins Tiefste berührt worden beim Schlagen und Schluchzen einer edlen
Nachtigall? Und wen hätte nicht schon das streitsüchtige Schilpen einer Sperlingsschar geärgert?
Wem ginge nicht das Herz auf beim Anblick eines edlen Pferdes? Wie verständlich mag es einem
erscheinen, daß in alten Zeiten der dichterisch veranlagte Mensch das geflügelte Roß, den
Pegasus, besteigen mußte, um aus geistig-seelischen Reichen die Ideen zu seinem Werke zu
holen! - Stellen wir daneben den genügsamen, gleichsam philosophisch alles erduldenden Esel!
Welche weltweiten Aspekte!

Noch einen Blick müssen wir werfen in die offenbare Weisheit eines Bienenvolkes. Es gibt wohl
kaum einen „Bienenvater", der sagen könnte, er hätte an den Bienen nichts mehr zu lernen! Und
welch eine Kostbarkeit stellt der Honig dar für die menschliche Ernährung! Ein Land, in dem „Milch
und Honig“ floß, war früher ein solches, in welchem das elementare Walten von Erd- und
Himmelskräften in vollster Harmonie war! - Gedenken wir noch des stillen, unterirdischen Schaffens
der Regenwürmer als Gegensatz zu den in Licht und Wärme schwirrenden Bienen, so mögen wir
erfühlen und nach und nach erkennen die Fülle von kosmischer Weisheit, wie sie in allen
Naturreichen sinnvoll strömt. „Den Kampf ums Dasein" sollten wir Menschen immer mehr
durchschauen lernen als „Opferdienste“ , die eine Gruppe von Wesen gerne auf sich nimmt, um


andere Gruppen höherer Art zu ermöglichen und zu erhalten, aber niemals sollte ein solcher
Begriff im Menschenreiche Geltung haben! Je mehr ein solches Prinzip sich im Menschenreich
auslebt, desto weniger ist die wahre Stufe des Menschseins erreicht!

Text übertragen von C.T. am 12.03.2022

Quelle:

Erbe, Hugo: Wie kommen wir zu einem erneuerten Naturverständnis?

In: Die Kommenden, 40.Jg., Nr. 4, 1986, 5.31-34.

,"Wir müssen die Naturphänomene in unserer Seele sich aussprechen lassen."

Zuerst erschienen in:

Erbe, Hugo: Wie kommen wir zu einem erneuerten Naturverständnis? Die Kommenden, 8.Jg.,
Nr.18, 1954, 5.10, Nr.19, 5.10.

„Die Beantwortung dieser Frage hängt ab von einem erneuerten Menschen-Verständnis. Durch
dieses kann die Sinnhaftigkeit des Menschseins einerseits zur Natur und anderseits zum Kosmos
eine Erklärung finden."

Einzige gedruckte Veröffentlichung von Hugo Erbe; "Die biologisch-dynamischen Präparate für
Landwirtschaft und Gartenbau von Hugo Erbe" wurden herausgegeben von Peter von Siemens
und durch Hellmut Finsterlin 1983 im Verlag Erde und Kosmos veröffentlicht. Die
Dokumentation wurde von Hugo Erbe [ 8. September 1895-13.Oktober 1965 ] zusammen mit
Ernst Hagemann am 24. Januar 1965 auf dem Thalhammer Hof (bei Freising) niedergelegt. "Die
Beschreibung eines jeden einzelnen Präparates wurde durch die Unterschriften der beiden
Dokumentalisten bezeugt und anerkannt." (Ernst Hagemann)

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