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104. KAPITEL.

Von der zweifachen Möglichkeit und von der ihr entsprechenden zweifachen
Erkenntnisweise, sowie vom Ziel der vernünftigen Kreatur.
Es kann sich nun ein Ding auf zweifache Weise im Zustand der Möglichkeit befinden. Einmal
auf natürliche Weise rücksichtlich dessen, was durch eine natürliche wirkende Ursache an ihm
verwirklicht werden kann. Sodann auf ändert; Weise, rücksichtlich dessen, was nicht durch eine
natürliche Wirkursache zur Wirklichkeit gebracht werden kann, sondern durch eine andere (über
seine Natur hinausgehende) wirkende Ursache. Ein Beispiel hiefür bietet uns das körperliche
Gebiet. Dass nämlich aus dem Knaben ein Mann wird, oder aus dem Samen ein 'Lebewesen, liegt
in der natürlichen Möglichkeit (in dem natürlichen Vermögen des betreffenden Wesens). Dass
aber aus dem Holze eine Bank werde, oder aus einem (vollständig) Blinden ein Sehender, liegt
nicht in der natürlichen Möglichkeit.
Dasselbe ist der Fall auf dem Gebiete unseres Denkvermögens. Unser Verstand besitzt das
natürliche Vermögen für ein bestimmtes Gebiet von Erkenntnisgegenständen, nämlich für alle
jene, welche zur Denkwirklichkeit erhoben werden können durch den tätigen Verstand, der die
uns angeborene Kraft ist, durch welche wir zur Wirklichkeit des Denkens kommen. Nun ist es
aber unmöglich, dass wir das letzte Endziel dadurch erreichen, dass unser Verstand auf die
genannte Weise zur Denkwirklichkeit kommt; denn die Wirksamkeit des tätigen Verstandes
besteht eben darin, dass er die Phantasiebilder, welche dem Vermögen nach denkbar sind, der
Wirklichkeit nach denkbar macht, wie aus dem oben (c. 83) Gesagten hervorgeht; die
Phantasiebilder aber werden hergenommen aus der Sinneswahrnehmung. Durch den tätigen
Verstand kommt also unser Denkvermögen zur Denkwirklichkeit nur rücksichtlich jener
Erkenntnisgegenstände, zu deren Kenntnis wir auf Grund der Sinnenwelt gelangen können. Nun
aber kann unmöglich in einer solchen Erkenntnis das letzte Endziel des Menschen bestehen;
denn wenn das letzte Endziel erreicht ist, kommt das natürliche Verlangen zur Ruhe.
Es mag nun Jemand im Erkennen auf diesem Gebiet, auf dem wir unser Wissen aus der
Sinneswahrnehmung schöpfen, noch so weit vorankommen, - immer verbleibt noch in ihm das
natürliche Verlangen, noch Anderes zu erkennen. Denn es gibt viele Dinge, zu welchen die
Sinneswahrnehmung nicht vordringen kann, und von denen wir auf Grund der Sinnenwelt nur
eine dürftige Kenntnis erlangen können, indem wir etwa von ihnen wissen können, dass sie sind,
nicht aber, was sie sind; eben weil die Wesenheit der geistigen (stofflosen) Substanzen einem ganz
andern Gebiet angehört als jene der sinnfälligen Dinge, und weil sie dieselben in einer Weise
überragen, die keinen Vergleich zulässt. Aber auch unter den sinnfälligen Dingen gibt es viele,
deren innerstes Wesen wir nicht mit voller Gewissheit erkennen können; bei manchen können
wir dies gar nicht, bei anderen nur dürftig. Es bleibt uns also immer das natürliche Verlangen
nach einer vollkommeneren Erkenntnis. Nun kann aber ein in der Natur begründetes Verlangen
unmöglich resultatlos bleiben. Wir erlangen also unser letztes Endziel dadurch, dass unser
Verstand zur Denkwirklichkeit durch eine höhere Wirkursache als die uns natürliche (d. i. der
tätige Verstand) gebracht wird, und die dann den uns von Natur aus eigenen Wissenstrieb völlig
befriedigt. Dieser Wissenstrieb besteht aber eben darin, dass, sobald uns eine Wirkung vor Augen
tritt, wir auch deren Ursache zu ergründen suchen; und mögen wir bei einem Ding auch alle
möglichen Umstände erkannt haben — unser Verlangen kommt solange nicht zur Ruhe, als es
nicht das innerste Wesen desselben erkannt hat. Es kann also der natürliche Wissenstrieb in uns
erst dann zur Ruhe kommen (befriedigt werden), wenn wir die erste Ursache und zwar nicht
irgendwie, sondern ihrem innersten Wesen nach erkannt haben. Die erste Ursache von Allem
aber ist Gott, wie aus dem Obigen (c. 68) hervorgeht. Es besteht also der letzte Endzweck der
vernünftigen Kreatur darin. Gott seinem Wesen nach zu schauen. Cg. III, 50. 1 q 12 a 1; 1. 2. q
8 a 8.

KOMMENTAR DES VERFASSERS


(Dieses „natürliche Verlangen" des Menschen nach der visio beatifica steht nicht im Widerspruch
mit der Tatsache, dass letztere etwas absolut Übernatürliches ist. 1 q 75 a 7 ad 1. Denn
desiderium naturale oder appetitus naturalis steht nach Thomas im Gegensatz zu appetitus
animalis und rationalis; so ist für den Stein die Schwerkraft, die ihn zum Mittelpunkt der Erde
zieht, ein desiderium naturale. De Verit. q 22 a 3 ad 3m; 1. 2. q 5 a 8 ad 3m; q 6 a 5 ad 2m. Dieses
natürliche Verlangen ist ohne alles Bewusstsein, ein unbewusster Naturdrang. 1. 2. q 6 a 4.
Die in diesem Kapitel ausgesprochene potentia obedientialis des Menschen für die Gottschauung
liegt nach Thomas in der intellektuellen Natur des Menschen, wodurch er für die Gottschauung
entfernt angelegt ist, während diese Anlage bei den vernunftlosen Wesen sich nicht findet; cf.
Augustin contra Julianum 1. 4 c. 3: neque enim gratia Dei (deren Vollendung eben die
Gottanschauung ist), lapidibus aut lignis pecoribusve praestatur; sed quia imago Dei est (durch
seine vernünftige Natur) meretur (homo) hanc gratiam. Damit aber diese entfernte Anlage
(potentia) Wirklichkeit (actus) werde, ist das Eingreifen des über aller Natur stehenden Urhebers
der Natur notwendig, der durch Eingiessung der Gnade und der drei göttlichen Tugenden
bewirkt, dass der unbewusste Naturdrang (desiderium naturale) zum bewussten, menschlichen
Verlangen werde. 1 2 q 62 a 3; cf. III. Sent. dist. 23 q 1 a 5.
Die Gnade ersetzt eben nicht die Natur, sondern setzt sie vielmehr voraus und zwar als
vernünftige. Die Gnade liegt allerdings nicht in dem Sinn keimartig in der Natur, als könnte sie
durch günstiges Einwirken geschöpflicher Kräfte zur Entfaltung und Blüte kommen: sie steht
aber auch nicht andrerseits unvermittelt neben der Natur als etwas ihr völlig Gleichgiltiges und
rein Äusserliches, noch weniger als etwas ihr Feindliches, sie etwa verkümmernd oder
beeinträchtigend — sondern sie bildet die vom Urheber der Natur unmittelbar bewirkte
übernatürliche Vollendung der vernünftigen Kreatur, die eben durch ihre Vernünftigkeit zur
Aufnahme eines derartigen göttlichen Wirkens in ihr entfernt veranlagt ist.)

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