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Das Symbol, der Mythos und der irrationalistische

Irrweg
(Antaios 1960)

Ein wahres Verständnis des Wesens der Symbole und Mythen als grundlegender Organe traditionsgebundenen
Denkens ist kaum möglich, ohne eine Klärung der Beziehung, die zwischen dem Rationalen und dem
Irrationalen besteht, das heißt, ohne eine genaue Stellungnahme gegenüber einer Richtung, die sich zwar bereits
in der Romantik im letzten Jahrhundert angemeldet hatte, die aber erst in der Gegenwart eindeutige und
aggressive Züge angenommen hat.
Diese Richtung ist durch eine Reaktion gegen den Kultus des abstrakten Denkens gekennzeichnet, wie er dem
letzten Jahrhundert eigen war, und verbindet sich mit der Bejahung und Verherrlichung all dessen, was Leben
und Erleben, Werden, Trieb, bloße Existenz bedeutet. Man hat versucht, eine neue Immanenzlehre aufzustellen,
und man ist dazu Übergegangen, entscheidenden Wert all dem zuzuschreiben, was man insofern für ursprünglich
hält, als es aus den dunklen Bereichen des Unbewußten und des Unterbewußten entspringt. Gegen den
Souveränitäts- und Ausschließlichkeitsanspruch des Ichs und des «Geistes» wurde das Recht der «Seele» als
einer darauf unzurückführbaren Wirklichkeit behauptet. Gerade in diesem Zusammenhang ist in vielen Kreisen
ein neues Interesse für die Welt der Symbole und der Mythen erwacht, da in ihnen Ausdrücke jenes psychisch-
vitalen Urgrundes erblickt werden. In demselben Rahmen hat man auch eine Lehre der «Archetypen» formuliert,
die im Wesen nicht so sehr als Weg zu einer höheren Erkenntnis, als vielmehr als Grundlage zur Beseitigung der
Neurosen und der Spaltungen benutzt wird, die im modernen abendländischen Menschen die Folgen seiner
Entfremdung vom Boden des Unbewußt-Vitalen und der dem klaren Wachbewußtsein in einer mechanisierten
und entseelten Welt zugebilligten Herrschaft sein sollen.
Dieser Richtung gegenüber sollte nun prinzipiell das Mißtrauen genährt werden, das jede Einstellung bloß
polemischer Art verdient. Die «Reaktionen» führen nie zu etwas Wesentlichem und Entscheidendem - und dies
gilt auch für den modernen Irrationalismus. Diese Richtung hat jedenfalls als Ausgangspunkt einen Gegensatz,
der sich bei eingehender Betrachtung als haltlos und lähmend zeigt.
Der moderne Irrationalismus teilt tatsächlich den Irrtum des Rationalismus, weil er im Grunde annimmt, daß
die Sphäre des abstrakten Denkens und der Rationalität eine eigene Wirklichkeit besitzt. Daher wird dem
Rationalen das Irrationale, dem Verstand das Leben, das Gefühl oder die bloße Existenz entgegengestellt, und es
scheint, daß man nichts anderes über diese beschränkende Antithese hinaus als wirklich zu denken vermag.
So bewegt man sich in einem geschlossenen Kreis. Sowohl der Verstand mit den verschiedenen Formen des
modernen intellektualisierenden Bewußtseins wie auch dessen irrationaler Widerpart stellen keine
ursprünglichen Prinzipien dar; sie sind die Produkte eines Spaltungsprozesses, welche zusammenhängen und
daher jedes eigenen Selbstseins entbehren. Ihr Gegensatz ist kein ursprünglicher; er tritt nur in Zusammenhang
mit einem gewissen Gesichtspunkt auf und eigentlich nur bei der Voraussetzung der erwähnten Spaltung einer
höheren, über die beiden Termini hinausgreifenden Einheit. Diese Einheit ist der wahre Mittelpunkt des Seins in
seinem normalen Zustand. Sie fällt auch nicht in eine dämmernde zweideutige Zone, die gleichsam durch eine
mathematische Annäherung an den Null-Punkt des Bewußtseins und des persönlichen Selbstseins erreicht
werden kann. Auf sie ist vielmehr das Geistige im eigentlichen, rechtmäßigen Sinne zu beziehen.
Es gibt eine gewisse Kulturphilosophie, die meint, in der Urzeit sei an der Stelle des bewußten Denkens die
Einbildungskraft tätig gewesen als Schöpferin von Bildern und Mythen, denen in verschiedenem Grade eine
besondere emotive Ladung verhaftet war. Erst in einer darauffolgenden Epoche (darauffolgend im
geschichtlichen Sinne nach den einen, im «ideellen» Sinne nach den anderen) habe sich das intellektuelle
Bewußtsein ausgesondert, das aus der Nebelhaftigkeit des mythischen Erlebens die klaren, nackten Formen der
Begriffe, wie sie vornehmlich die Logik und die Philosophie kennt, gezogen habe. So habe am Anfang eine
Einheit, genauer gesagt ein Durcheinander auch von dem gewaltet, was später sich in der Unmittelbarkeit des
künstlerischen Schadens einerseits, in der Mittelbarkeit des reflektierenden, vernunftmäßigen Denkens
andererseits abgesondert habe. Nach der Meinung anderer war das Ursprüngliche das reine Erleben im Zeichen
der Zeit, der darauffolgende Zustand war die durch die Kategorien des Wachseins hervorgerufene Welt des
Raumes und der Natur. Auch diesen Theorien liegt eine Verkennung des wirklichen Tatbestandes zugrunde. Sie
sind die Abschweifungen einer willkürlichen Spekulation, der die zentrale Erlebnisrichtung des
traditionsgebundenen Menschen unbekannt ist.
In den Ursprüngen im allgemeinen und insbesondere im Zyklus aller indoeuropäischen Hochkulturen gab es -
und es spielte eine bestimmende Rolle - ein wesentlich geistiges und überrationales Ideal der Erkenntnis, das
man als Ideal der intelligiblen Klarheit bezeichnen darf. Es drückte sich also in all dem aus, was die alte Welt in
der Symbolik des Lichtes, der uranischen Klarheit, den Bereichen und Wesenheiten der Überwelt kannte. All
dies hatte mit «Vernunft» und «Verstand» nichts zu tun, ebensowenig aber mit dem Irrationalen, der bloßen
Einbildungskraft oder den Projektionen eines Kollektiv-Unbewußten. Man könnte dabei von einem olympischen
Wesenskern sprechen, der dem wirklich primären Element fast aller alten Hochkulturen und ihrer Mythologien
entsprach. Bezieht man sich auch auf die griechische Kultur der geschichtlichen Zeit, so lassen sich Ausdrücke
wie beispielsweise λόγος und νοΰς nur sehr unzureichend mit «Vernunft» oder «Intellekt» im modernen Sinne
übersetzen. Sie weisen hauptsächlich auf die metaphysische Ebene zurück, während ihre verstandesmäßige
Bedeutung einer späteren Periode zugehört und auf etwas wie eine Widerspiegelung oder Verlegung des
ursprünglichen Gehaltes zurückzuführen ist. Dies ist beim Begriff des κόσμσς νσητός besonders deutlich, wo das
intelligible Moment mit dem existentiellen und metaphysischen Moment im grundlegenden Erlebnis des Seins
zur Einheit verschmilzt.
Nun hat schon immer Einstimmigkeit geherrscht in der Anerkennung eines intelligiblen Sinngehaltes auch der
Symbole und der Mythen, und zwar ganz anders als im Rahmen einer nachträglichen philosophischen
Spekulation und der verstandesmäßigen gelehrten Aufklärung des Irrationalen und des in der Phantasie
Vorhandenen. Es kam vielmehr dabei eine höhere objektive Ordnung in Betracht, d.h. die Gliederungen eines
tatsächlichen Überbewußtseins, das sich zu einem geschichtslosen Raum, zur Welt der Ursprünge und der
Prinzipien, άρχαι, emporhob. Auf dieser Ebene war aus Wesensverwandtschaft der Akt des Intellekts eins mit
dem Akt des Seins, und zwar im realen, nicht bloß erkenntnistheoretischen Sinne.
Dementsprechend mußte man annehmen, daß den Symbolen und Mythen auch eine besondere Eigenkraft
innewohnte, die das Selbst mitriß (man denke an den Begriff und die Phänomenologie des platonischen μανία,
des heiligen, luziden, aktiven Rausches) und eine Integration aller Fähigkeiten des menschlichen Wesens
bewirkte. Dies ergibt sich sogar aus der Etymologie des Wortes «Symbol». In der griechischen Sprache hat das
Wort Sinnbild, σύμ-βολον, dieselbe Struktur wie συμ-βολή, das die Handlung des Zusammenstellens, des
Zusammentuns, des Vereinigens bedeutet. Beide Worte bestehen aus zwei Elementen: das erste ist das Präfix
σύν, das die Vereinigung ausdrückt, während das zweite auf die Art dieser Vereinigung hindeutet: βολή und
βόλος drücken die Idee des Schleuderns, des Hinwerfens aus; es sind Worte, die sich mit dem Zeitwort βάλλω
verbinden, das gerade schleudern, schlagen, werfen bedeutet. Es besteht daher eine Entsprechung zwischen dem
Zeitwort συμ-βάλλω (ich vereinige, bringe zusammen) und σύμ-βολονd.h. Sinnbild, mit Bezug auf einen Akt
der Vereinigung, im Gegensatz zur Analyse, zur Zergliederung. Dies ist der Hinweis auf ein Erkennen, das sich
in einer βολή d.h. in einer Strahlung, einer Projizierung, einem Aufblitzen (fulguratio) verwirklicht, wobei
verschiedene Sinn- und Teilgehalte in einer einfachen verklärenden Einheit, im reinen intellektuellen Licht
erfaßt werden. Auf diesem Wege vollzieht sich auch der Übergang vom Sinnhaften zum Intelligiblen, vom
Sichtbaren zum Unsichtbaren: ein Prozeß, der nicht äußerlich ist, der das Selbstsein durch den Akt des
Erkennens verwandelt. Dieses Erleben ist kein «mystisches» im Negativ-Konfusen, es hat den Charakter einer
Handlung im höheren Sinne, wie auch der Zerstörung und Verbrennung all dessen, was unbewußt ist. Die
Gestalt, das sinnhafte Element im Sinnbild und Mythos bilden nur den Ausgangspunkt. Ihre Polivalenz und
Unbestimmtheit, die der abstrakten Bestimmtheit und Eindeutigkeit der logischen Begriffe entgegensteht, hat auf
den mannigfaltigen, durch reale Analogiebeziehungen bestimmten Stoff Bezug, der im Akt des Intellekts -
intuitio intellectualis - vereinigt wird. Es ist außerdem eine Zweideutigkeit, die eine Aufgabe stellt und das
durchaus Aktive und Freie des schöpferischen Erkennens verbürgt.
Es ist daher wichtig, das dynamische Moment der Symbole und Mythen der Traditionswelt nicht mit einem
irrationalen Gehalt zu verwechseln. In ihnen ist der emotive und numinose Aspekt sowie auch ihr Aspekt als
Bild und Form als der Phantasie untergeordnet zu betrachten. Ihr Wesenskern liegt auf einer anderen, tieferen
Ebene, die durchtränkt ist vom Licht des Ursprünglich-Metaphysischen.
Auf dem Gebiet der Kulturgeschichte ist folglich irreführend die Theorie einer irrationalistisch aufgefaßten
«mythischen Zeit». Was in dieser Hinsicht zugegeben werden soll, ist nur, daß sich zwar Fälle ergeben können,
bei denen in gewissen Schichten oder Perioden einer alten Kultur das, was ideell sekundär ist, praktisch in den
Vordergrund trat, womit hauptsächlich nur der phantastisch-emotive und unterrationale Aspekt des Mythos
überlebte und erlebt wurde. All dies hat aber mit der Entartung und Rückbildung des ursprünglichen tragenden
Erlebnistypus zu tun, welcher dann nur noch in geschlossenen Eliten seine unverfälschten und normalen Züge
bewahrt. Dasselbe gilt auch für die Welt der primitiven Stämme, die grundsätzlich die degenerierten Überreste
uralter verschollener Kulturzyklen darstellen. Wie bei ihnen an die Stelle des Eingeweihten und des Weisen der
Zauberer und der Medizinmann tritt, so zeigt sich auch eine Art Dämonisierung von Mythos und Symbol in
einem dämmernden Bewußtsein. Es leben dabei sozusagen nur die psychischen und magischen Leichname der
Symbole und Mythen fort, in der Form dynamischer, ihres noetisch-geistigen Kernes beraubter Komplexe. Was
im Unterbewußten des zivilisierten Menschentypus beschlossen liegt und im Falle von Krisen und neurotischen
Zusammenbrüchen durchbricht, hat aber ebenfalls den Charakter solcher Überreste; daher die Möglichkeit,
Parallelen zwischen der Welt der primitiven Völker und jener der Psychopathologie aufzustellen. Es sind
Entsprechungen, die nur in diesem Rahmen gelten und daher durchaus aus dem Gebiet der Symbole und
Mythen, wie sie der Welt der Tradition und aller metaphysisch bestimmten Hochkulturen eigen sind,
herausfallen.
Zur näheren Orientierung ist es angebracht, in seinen Hauptphasen den Rückbildungsprozeß zu verfolgen, der
sich im Laufe der historischen Zeit gezeigt hat. Am Anfang steht also das «olympische» Ideal des
übernatürlichen Lichtes. Die vergleichende Sprachwissenschaft findet es bekanntlich schon in den Worten
wieder, mit denen verschiedene Hochkulturen indoeuropäischen Ursprungs die Gottheit bezeichneten: Dyaus,
Deus, Zeus, Thiuz usw. stammen aus einer einzigen Wurzel, gebunden an die Idee des Lichten. Es fehlt aber
nicht an Parallelen auch in anderen Kulturkreisen - es sei z. B. der T’hien und der Große Lichte Yang der
fernöstlichen Tradition erwähnt. Auf dieser Stufe ist der wesentliche letzte Gegenstand des Erlebens und des
Erkennens der metaphysische Gehalt von Mythos und Symbol. Die darauffolgende Stufe ist dadurch
gekennzeichnet, daß das Gewand der Mythen und Symbole, d.h. ihr Aspekt als Form und Gestalt, sich verdichtet
und teilweise verselbständigt. Dies ist die Periode der verschiedenen mythischen Personifikationen, deren
innerer bzw. intelligibler Bedeutungsgehalt sich zum Gegenstand einer bloß religiösen, mythologisierenden und
schließlich ästhetisierenden Erfahrung verdunkelt, wie es bei dem Niedergang von Hellas und auch von Rom
sichtbar wird. Als Folge einer ersten Spaltung kann man dabei die Tätigkeit einer Einbildungskraft feststellen,
die sozusagen nunmehr ins Leere wirkt, da sie jedes objektiven (übersinnlichen) Gehaltes entbehrt und sich in
der subjektiven Richtung der bloßen Kunst und Gestaltung entfaltet. Nebenbei bemerkt, es sind diese
Nebenprodukte, auf die sich die bis gestern ausschlaggebende Auffassung von Mythos und Symbol als irrealen,
willkürlichen Phantasiegebilden bezog.
Die zweite Richtung der Rückbildung ist jene, die wir bereits angedeutet haben, als wir von den Primitiven
Kulturen sprachen: wir begegnen Mythen und Symbolen, bei denen nur die Psychische Ladung und die dunkle
numinose Kraft weiterbesteht. Für das Abendland ist dagegen der Wendepunkt in die weder irrational noch
ästhetisch, sondern intellektuell bestimmte Richtung durch jene Aspekte des griechischen Denkens gegeben, in
denen einige traditionsgebundene Gehalte - beginnend mit der Idee der «intelligiblen Welt» und der άρχαί - ihre
Bedeutung als metaphysische, dem Gebiet der sakralen Erkenntnis zugehörige Sinnbilder verloren und sich zu
spekulativen, begrifflichen Konstruktionen gewandelt haben: eine Zweideutigkeit, die leicht bei Plato zu
erkennen ist und die durch die Neuplatoniker nur zum Teil aufgehoben wurde. Dasselbe wiederholte sich in der
mittelalterlichen Scholastik, deren Rationalismus die Inhalte des überrationalen Erlebens, wie sie hinter den
verschiedenen Figurationen und den Hypostasen der Theologie verborgen waren, als eine Mechanik entseelter
Begriffe wiedergab.
Auf diesem Wege nähert man sich bereits dem Rationalismus im eigentlichen Sinne. Das traditionelle Ideal der
übersinnlichen Klarheit verfällt in das Ideal des «natürlichen Lichtes» und der verstandesmäßigen Evidenz
(Descartes). Immer mehr wird man dahin geführt, den Verstand als ein selbstherrliches Vermögen des Menschen
aufzufassen, das fähig ist, aus sich heraus, ohne Bezug auf eine höhere Ordnung, die Prinzipien für die
Gewißheit auf dem Gebiet des Erkennens, für das Handeln auf praktischem Gebiet, für die Ordnung auf
politischem Gebiet zu schöpfen.
In der Entwicklung in diesem Sinne sind drei Hauptrichtungen zu unterscheiden. Die erste ist die Richtung der
spekulativen und dialektischen Abstraktionen, die sich immer mehr sowohl vom Geistigen wie auch von der
konkreten Wirklichkeit entfernen und im Ganzen dem Gebiet der modernen Philosophie entsprechen. Die zweite
Richtung ist durch die Herabsetzung des Intellekts zu einem immer mehr materiellen und pragmatischen
Gebrauch gekennzeichnet, durch seine Schrumpfung auf das Instrument der Naturwissenschaft und ihrer
Anwendungen (Mathematisierung und Koordinierung des Stoffes der sinnbedingten Erfahrung, Aufbau der
Technik). Schließlich ist als dritte die Richtung der Aufklärung und ihrer Nebenprodukte zu nennen. Es ist dies
die aggressive Richtung, in der das intellektualistische Denken sich in den Dienst des Individualismus und der
verschiedenen revolutionären und traditionsfeindlichen Bewegungen stellt, sich manchmal auch mit der
Wissenschaft verbündet und zum Organ einer Zerstörung und Entweihung wird, welche als Befreiung des
Menschen und des menschlichen Geistes dargeboten werden.
Es ist vielleicht angebracht, kurz diese dritte Wendung zu betrachten und die Verkehrung zu zeigen, die dem
geläufig gewordenen Sinn des Wortes «Aufklärung» zugrunde liegt, wofür auf die im 18. Jahrhundert von der
Sekte der «Illuminaten» in Bayern und anderen verwandten Geheimbünden entwickelte Tätigkeit
zurückzugreifen ist. Seinem Sinne nach weist tatsächlich das Wort «Aufklärung» auf die eben besprochene
Gedankenwelt zurück. Es handelte sich dabei weder um Philosophie noch um eine soziale Ideologie. Die
«Illuminaten» waren zuerst diejenigen, die die geistige Erleuchtung erhalten hatten und die dadurch der
überrationalen, die gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten transzendierenden Erkenntnis teilhaftig waren. Was
dabei entscheidend war, bezog sich grundsätzlich darauf, was die Scholastik intuitio intellectualis nannte und
was im Morgenland als bodhi bzw. brajñâ (Buddhismus), vidyâ (Hinduismus) oder satori (japanischer Zen)
bezeichnet wurde: es sind dies alles Ausdrücke, welche auf die Erleuchtung, das innere Erwachen, die erhellende
übernatürliche Erkenntnis verweisen. Wenn Paracelsus und andere um ihn von der lux naturae sprachen, ist an
eine ganz ähnliche Richtung zu denken; obgleich die Bezeichnung nicht einwandfrei, ja zweideutig war, war
dabei von der «natürlichen Evidenz» im Sinne Descartes’ und des Rationalismus noch keine Rede. Wegen der
existentiellen Lage des Menschen der hier in Betracht kommenden Zeit konnten diese Erfahrungen nur das
Vorrecht von wenigen sein, und die Lehre der Erleuchtung und der Illuminaten hatte nur innerhalb der
hierarchischen und aristokratischen Auffassung, wie sie der Traditionswelt immer eigen war, ihren nötigen Ort.
Um die darauffolgende Veränderung zu verstehen, soll auf die zwischen Erleuchtung und Dogma bestehende
Beziehung hingewiesen werden. Das Dogma der positiven Religionen hat Züge, die denen des Mythos eng
verwandt sind. In ihm wird der intelligible Gehalt nicht direkt gegeben; er stellt sich als Gegenstand nicht des
Erkennens, sondern des Glaubens dar. Der Grund, warum im nach-antiken Abendland übersinnlichen Gehalten
die spezifische dogmatische Form gegeben wurde, ist im Individualismus und in der intellektuellen Anarchie zu
suchen. Um bestimmte Kenntnisse übersinnlicher Ordnung, die seit einer gewissen Zeit die Grenzen des
gewöhnlichen verstandesmäßigen Vermögens transzendierten, vor jedem profanen Angriff zu bewahren, gab es
kein anderes Mittel, als sie in der Form von Glaubenssätzen darzustellen. Die Erleuchtung kann aber als die
positive Überwindung des Dogmas, daher auch des Glaubens, aufgefaßt werden, da sie den metaphysischen
Gehalt des Dogmas enthüllt und entmythologisiert. Wer aus direkter Einsicht etwas kennt, braucht nicht zu
«glauben», gerade weil er «weiß». Er wird dann jenseits des Dogmas, durchaus nicht gegen das Dogma sein. Er
wird auf anderem Wege dieselben Dinge anerkennen. Seine «Rechtgläubigkeit» wird sogar strenger sein als die
jedes anderen, weil sie innere Wurzeln hat, weil ihm die Schwankungen des Glaubens unbekannt sind und ihm
auch bei bestem Willen das «Abschweifen» unmöglich wäre. Damit ist auch der Übergang vom Exoterismus
zum Esoterismus vollzogen.
Dies sind die wirklichen, auf normale Weise zwischen Erleuchtung und Dogma bestehenden Beziehungen. Man
darf sagen: die Erleuchtung rechtfertigt das Dogma (wir meinen immer jene Art von Dogmen, die tatsächlich
Bezug auf das Übernatürliche haben), daher auch alles, was eine positive Tradition in Hinblick auf die Mehrheit,
auf das Volk, autoritativ jeder Diskussion entziehen und mit der Form der Verbindlichkeit versehen mußte. Es
tritt statt dessen eine verhängnisvolle Umkehrung ein, wenn die Forderung, sich über das Dogma zu erheben, auf
der Ebene des Verstandes - d.h. eines bloß menschlichen Vermögens, dem als solchem die Transzendenz
verschlossen ist - zur Geltung kommt und von jedem beliebigen Einzelnen in Anspruch genommen wird.
Gerade dies war die Umstellung, auf Grund derer die Aufklärung den geläufigen Sinn übernahm, indem sie
zum Synonym von Freidenkertum wurde, d.h. des intellektualistischen Denkens, das sich von jeder Bindung
loslöste und seine Selbstherrlichkeit auf einem Gebiet feierte, wo zwangsläufig gerade jener Individualismus und
jene geistige Anarchie durchbrachen, zu deren Eindämmung die Tradition im Abendland die dogmatische Form
hatte wählen müssen.
In diesem Zusammenhang wird verständlich, daß die Illuminaten, diejenigen, die dem «dogmatischen
Obskurantismus» das «natürliche Licht» des menschlichen Verstandes entgegenstellten, eine einzige Front mit
dem revolutionären Liberalismus, mit dem Deismus, den atheistischen Gegnern des Katholizismus und den
anderen traditionsfeindlichen Kräften bildeten. Dieser sonderbare Zusammenschluß zeichnete sich deutlich am
Vorabend der Französischen Revolution ab, einer Zeit, wo im Zeichen der Aufklärung eine Gruppe angeblicher
Initiatoren und Apostel des Übernatürlichen an die Seite von Ungläubigen und Skeptikern von der Art Voltaires,
Diderots, d’Alemberts und der andern Enzyklopädisten trat. Eine Veränderung, die bei einigen Geheimbünden
und namentlich bei den schon erwähnten Illuminaten von Bayern als eine Folge des Einsickerns dunkler Kräfte
eintrat, hat wahrscheinlich bei all dem eine entscheidende Rolle gespielt.
Nach dieser Klarstellung der Aufklärungsfrage greifen wir auf die vorhergehenden Betrachtungen zurück. Die
Verschärfung und Alleinherrschaft des säkularisierten Intellekts, des Rationalismus und der anderen, bereits
angedeuteten abstrakten und praktisch-technischen Richtungen des neueren abendländischen Denkens hat
schließlich die Erhebung aller jener Kräfte einer nunmehr jedes höheren Bezugspunktes baren Existenz
ausgelöst, die der Verstand in sich nicht fassen kann und die vernachlässigt, verdrängt oder verkannt wurden.
Daraus ist das Mißverständnis entstanden. Da der Sinn dessen, wovon das Rationale nur einen irrealen Abglanz
und einen Ersatz bedeutet, verlorengegangen war, hat man nicht im Überrationalen, sondern im Unterrationalen
das gesucht, was der zum Synonym von Verstand gewordene Intellekt nicht geben konnte. Die Ablösung eines
Irrtums durch einen anderen war also das einzige Ergebnis. An die Stelle der vorhergegangenen Verherrlichung
der ratio ist jene des Lebens, des Werdens, des Unbewußten getreten und - was noch schlimmer ist - man hat auf
dieser Grundlage das Geistige mit all dem gleichgesetzt, was nur auf die naturverhafteten, im Grunde
vorpersönlichen Schichten des menschlichen Wesens Bezug hat. Es ist ganz richtig, was in diesem
Zusammenhang René Guénon hervorgehoben hat: nachdem der Rationalismus, der Materialismus und der
Positivismus des vorhergegangenen Jahrhunderts dafür gesorgt haben, dem Einzelnen das zu verschließen, was
über dem Menschen liegt, sind diese neuen Richtungen im Begriffe, ihn dem aufzuschließen, was unter ihm
liegt. Namentlich ist das Unbewußte wie ein Sack geworden, in den allerlei Dinge gesteckt werden; eine so
grundlegende methodische Unterscheidung wie jene zwischen Unterbewußten und Überbewußten wird
vollkommen übersehen. Daher auch die verkehrte Deutung der Urzeit und die allgemeine Verwirrung
hinsichtlich der verschiedenen Aspekte und Dimensionen, die nach traditionsgebundener Auffassung dem
Mythos und dem Symbol eigen sind.
Wir wollen nur noch das Endprodukt der irrationalistischen Rückbildung erwähnen, d.h. den Mythos, insofern
er der sogenannten idée-force gleichgesetzt wird. Heute kann man einen Menschenschlag feststellen, für den die
Prinzipien leere, nichtssagende Abstraktionen geworden sind und der den Ideen nur insofern Wert beilegt, als sie
als Losungsworte fähig sind, Gemütszustände auszulösen. Dies ist gerade die Bedeutung, die Georges Sorel dem
Mythos beigelegt hat: der Mythos, aufgefaßt als ein Komplex, der sich rational nicht zergliedern läßt und nicht
auf Grund seines objektiven Wahrheitsgehaltes zu schätzen ist, der nur insofern Wert hat, als er als
Kristallisationszentrum irrationaler und emotiver Kräfte «wirkt»: eine Wirkung, bei der gerade jene Leichname
alter eigentlicher Mythen, von denen bereits die Rede war, oft eine unsichtbare und unheimliche Rolle spielen.
Auf dieser Ebene vermengen sich die Mythen mit den slogans, den Parolen der Politik, der Parteien und der
Demagogie; sie sind bloße Werkzeuge praktischen zynischen Treibens und entbehren jeglichen geistigen und
noetischen, geschweige denn metaphysischen Gehaltes. So ist eine sonderbare Umkehrung festzustellen: man hat
der alten Menschheit vorgeworfen, «mythisch» bestimmt gewesen zu sein, d.h. im Banne bloßer
Phantasiegebilde gelebt und gehandelt zu haben. Wahr ist vielmehr, daß wenn es Überhaupt eine «mythische»
Menschheit in jenem negativen Sinne gegeben hat, es bestimmt gerade die zeitgenössische Menschheit ist:
gerade alle die mit großen Anfangsbuchstaben geschriebenen Worte und Phrasen - angefangen mit «Fortschritt»,
«Menschheit», «Moral», «Freiheit», «Volksherrschaft» usw. bis zu denjenigen, die ungeheuere
Massenbewegungen ausgelöst und bei grundsätzlicher Lähmung jeder luziden Urteilskraft im Einzelnen die
verheerendsten Wirkungen gehabt haben - alle diese Worte weisen heute den Charakter von «Mythen» auf. Ja,
wir könnten sie sogar genauer als Fabeln bezeichnen, da «Fabel» etymologisch die Gegenstände des bloßen
Redens, d.h. leere Worte, bedeutet.
Fassen wir zusammen. Es zeigt sich, wie wichtig es heute wäre, den Sinn für die zentrale Richtung jenseits der
künstlich aufgestellten, durch einen Spaltungsprozeß bedingten Gegensätze wieder zu gewinnen. Man sollte
nämlich den Weg zu dem wiederfinden, was im menschlichen Wesen sowohl das «Leben» wie das
intellektualistische Denken überragt und beiden vorangeht, und das den Rang des reinen intellektuellen Aktes
hat. Nach traditioneller Sicht besitzt dieser Akt auch eine formende, befehlende Kraft, er vermag sämtliche
Energien des Daseins zu bestimmen und zu tragen. Daher fällt kulturmorphologisch die mythische Periode der
Hochkulturen auch mit deren «heroischer Zeit» (G. B. Vico) zusammen; in ihr läßt sich eine einzige gestaltende
Kraft auf dem Gebiet der Religion, der Ethik, des Rechts, der schöpferischen Phantasie usw. feststellen.
An eine durchgreifende Wendung in diesem Sinne ist selbstverständlich in der heutigen Welt kaum zu denken.
Es ist aber immer möglich, die hier angedeuteten Ideen als Grundlage zum Urteil und zur Wertung zu benutzen,
eine klare Einsicht zu gewinnen und erneuernden Einflüssen einen Raum zu sichern. Es kann sein, daß die in der
abendländischen Zivilisation erfolgten Zerstörungen nicht so weit gegangen sind, daß sie bei einigen die
Möglichkeit eines neuen Wachstums in jenem inneren Raum beeinträchtigt hätten, wo der Mensch den lichten
souveränen Mittelpunkt seines Selbstseins wiederfinden kann.

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