Sie sind auf Seite 1von 160

HANS THIRRING

ANTI-NIETZSCHE
ANTI-SPENGLER

1
2
HANS THIRRING

Gesammelte Aufsätze und Reden


zur demokratischen
Erziehung

1947

Verlag d e r R i n g b u c h h a n d l u n g A. S exl - Wien

3
Copyright 1947 by Verlag A. Sexl, Wien
Astoria-Drnck, Wien III.

4
Die Fertigstellung des Manuskripts meines Buches „Homo
Sapiens", das sich mit den Grundlagen einer Psychologie der
kulturellen Entartungserscheinungen beschäftigt, verzögert sich
infolge starker beruflicher Inanspruchnahme immer weiter. Des-
wegen sehe ich mich veranlaßt, abermals einzelne Bruchstücke
daraus getrennt zu veröffentlichen. Die ursprünglich als Vorrede
des „Homo Sapiens" gedachte Zusammenfassung der Grundgedan-
ken des ganzen Werkes ist voriges Jahr als Broschüre unter dem
Titel „Der Weltfriede als psychologisches Problem" im Verlag
F. Deuticke, Wien, erschienen, und hier folgen nun einzelne
Kapitel des Buches, von denen die meisten schon als Zeitschriften-
Artikel gedruckt worden sind. Alle diese Aufsätze ließen sich
durch Hinzufügen zweier unveröffentlichter Kapitel zu einem ab-
gerundeten und in sich geschlossenen Ganzen zusammenfügen,
das konsequent und eindeutig den Geist eines Nietzsche und
Spengler bekämpft. Eine solche Auseinandersetzung ist notwendig
geworden, weil dieser Geist auch nach der äußerlichen Niederlage
des Faschismus in vielen Leuten lebendig geblieben ist, die sich
selber keineswegs mehr als Nazi betrachten würden.
Es ist damit zu rechnen, daß der Inhalt der Kapitel 3 bis 6 in
vielen Leuten inneren Widerspruch erregen wird, die sich vom
Gedankengut des Faschismus noch nicht freimachen konnten,
während umgekehrt die beiden ersten Kapitel mich bei manchen
Antifaschisten verdächtig machen werden. Aber es wird sicher
auch Leute geben, denen ich aus der Seele spreche. Alles in allem
dienen die Auseinandersetzungen dieser Schrift in erster Linie
dazu, mit dem Schutt alter Anschauungen aufzuräumen, während
im „Homo Sapiens" der Versuch eines Wiederaufbaues und neuer
Zielsetzung gemacht wird.
Kitzbühel, Ostern 1947
H. T h i r r i n g

5
6
' I N H A L T

Kapitel 1:
Mensch und Institution.................................................................., 9
Kapitel 2:
Die Fehlgruppierung......................................................................., 15
Kapitel 3:
Anklage gegen den Krieg...................................................................19
Kapitel 4:
Anklage gegen den Nationalsozialismus............................................28
Kapitel 5:
Die Stellung der Menschheit im Weltall.........................................54
Kapitel 6:
Die Leistungen der großen Männer...................................................71
Kapitel 7:
Reform des Geschichtsunterrichtes....................................................87
Kapitel 8:
Nietzsche und der Wille zur Macht..............................., . . . 102
Kapitel 9:
Abrechnung mit Oswald Spengler......................................................112
Kapitel 10:
Ein konkreter Vorschlag zur geistigen Abrüstung............................131
Kapitel 11:
Materialismus und Idealismus............................................................142
Kapitel 12:
Die ökonomischen Ursachen der Kriege............................................ 150

7
8
Kapitel 1
Mensch und Institution
Sobald gewisse Erkenntnisse einmal klar genug formuliert sind,
scheinen sie so naheliegend zu sein, daß sie wie Binsenwahrheiten
klingen. Und doch kommt es häufig vor, daß sie unbeachtet
bleiben und daß aus ihrer Ignorierung schwere Mißverständnisse,
politische Fehldiagnosen und überflüssige Reibungen zwischen den
Menschen entstehen.
Eine solche viel zu wenig beachtete Erkenntnis ist die, daß man
die Eigenschaften der Einzelpersonen einerseits und die Eigen-
schaften der gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder
religiösen Institutionen anderseits, deren aktive Mitglieder die
betreffenden Menschen sind, nicht durcheinanderbringen darf,
daß man aus einer hervorstechenden Eigenschaft einer Institution
nicht blind und mechanisch auf die des Menschen schließen darf,
der in ihr tätig ist — und daß man ebensowenig umgekehrt aus
der Eigenschaft eines Menschen auf die seiner Institution
schließen darf.
Wir verwerfen heute die Inquisition, die insgesamt mehr als
30.000 Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen ließ, als eine
der übelsten mittelalterlichen Einrichtungen. Aber Bernard Shaw
hat gar nicht so unrecht, wenn er in seiner „Heiligen Johanna"
den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon und den Inquisitor Jean
Lemaitre, auf Grund deren Urteil die Jungfrau von Orleans am
30. Mai 1431 in Rouen verbrannt wurde, als gewissenhafte und
nach Objektivität strebende Richter zeichnet, deren Charakter
so untadelig war, wie der irgend eines der besten, heute amtie-
renden Richter. Es ist nicht die Schlechtigkeit der ausführenden

9
Menschen, die für Millionen das irdische Dasein zur Hölle macht,
sondern die Unvollkommenheit und Deplaciertheit unserer ver-
alteten Institutionen. Wir bilden uns viel darauf ein, daß die In-
quisition mit ihrer fürchterlichen Marterstrafe abgeschafft ist.
Aber in den zwei Stunden zwischen acht Uhr und zehn Uhr Orts-
zeit sind am 6. August 1945 in dem von der ersten Atombombe
in Brand gesetzten Stadtviertel von Hiroshima rund 60.000 Men-
schen, die sich aus dem brennenden Labyrinth nicht mehr retten
konnten, unter den gleichen unsäglichen Qualen lebendig zu Tode
geröstet worden — ihre Zahl war gerade doppelt so groß wie die
der Opfer von zwei Jahrhunderten der Inquisitionszeit. Und
weder dem Piloten noch dem Bombenschützen des Flugzeuges
Enola Gay kann man den geringsten moralischen Vorwurf machen
und ebensowenig irgend einem der Forscher, die an der Entwick-
lung der Atombombe tätig waren. Die wahre Schuld verteilt sich
auf jene Vielen, die es verabsäumt hatten, die aus einer primi-
tiven Vergangenheit der Menschen stammende Einrichtung des
Kriegführens abzuschaffen.
Man hat in Nürnberg gegen den Großen Generalstab Deutsch-
lands die Anklage erhoben, daß er eine verbrecherische Institution
gewesen sei. Bravo! Aber es ist nicht nur ungerecht, sondern
schlechterdings falsch, den nackten Tatsachen widersprechend,
wenn man so tut, als wäre jeder einzelne Offizier, der diesem
Generalstab angehörte, ein Verbrecher gewesen. Viele von diesen
Leuten waren absolut einwandfreie Charaktere, Muster an Ge-
wissenhaftigkeit, Pflichttreue und Opferbereitschaft, untadelige
Familienväter, und manche von ihnen vielleicht auch im Verkehr
von Mensch zu Mensch gütige, einsichtsvolle Männer. Diese Tat-
sache macht die Einrichtung des Großen Generalstabs um kein
Haar besser — es besteht kein Zweifel daran, daß sie zu einem
die Sicherheit der Welt gefährdenden Instrument geworden war.
Aber eine Welt, die es verabsäumt hat, ihre Kinder zum kri-
tischen Nachdenken anzuhalten, die ihnen eine Kritik an staat-
lichen Einrichtungen womöglich gar nicht erlaubt, diese Welt darf
keine Steine auf Einzelpersonen werfen, die auf Grund der ihnen

10
gebotenen Erziehung nie in der Lage waren, die Fehler der Ein-
richtungen, deren Diener sie sind, zu erkennen und zu durch-
schauen.
Im Sowjetstaat von heute wird mehr als hundert Millionen
Menschen die Erkenntnis gepredigt, daß der Monopolkapitalismus
so sehr der Krebsschaden der Menschheit sei, daß er sich eben-
falls zu einer (direkt gemeingefährlichen Einrichtung entwickelt
habe — eine Überzeugung, die auch von Millionen Marxisten in
anderen Ländern geteilt wird. Es ist hier nicht der Platz, dar-
über zu diskutieren, ob diese Erkenntnis zu Recht besteht oder
nicht. Aber ganz falsch und verwerflich ist es, wenn man aus
einer solchen Behauptung weiter folgern will, daß auch jeder ein-
zelne Kapitalist ein Verbrecher sei, wenn man also jene üble,
unter anderem auch der Goebbels-Propaganda zugrunde liegende
Methode anwendet, die jeden einzelnen Gegner des eigenen
Systems als moralisch oder geistig minderwertig hinstellt. Es
besteht kein Zweifel darüber, daß sich unter den Kapitalisten
selbst viele Menschen finden, die verbrecherisch skrupellos sind.
Die fast sagenhafte Figur des Kanonenkönigs Sir Basil Zaharoff
ist nur ein Beispiel unter vielen. Aber anderseits ist es eine Tat-
sache, für die Millionen von lebenden Zeugen aus allen Bevölke-
rungsschichten einstehen können, daß es innerhalb der Kapita-
listenklasse Menschen mit geradezu vorbildlichen Eigenschaften
des Charakters und des Geistes gibt. Es sei hier nur an gewisse
ethisch und geistig hochstehende Typen aus den Hanseatischen
Patrizierfamilien erinnert oder an die großen Pioniere der deut-
schen Industrie, wie Werner Siemens in der Mitte des vorigen
und Robert und Carl Bosch zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Man hört nun immer wieder den Einwand, daß es die Pflicht
gerade der geistig hochstehenden Menschen gewesen wäre, die
Gefährlichkeit der Einrichtungen, denen sie dienen, zu durch-
schauen, um so mehr, als sie auf diese Gefährlichkeit von Seiten
der Linksparteien oft genug nachdrücklich aufmerksam gemacht
worden seien. Dieser Vorwurf mag in so krassen Fällen berechtigt
sein wie bei den Medizinern, die an den Grausamkeiten der SS-

11
Lager Anteil hatten. Es ist aber ganz ungerecht, ihn summarisch
auf alle führenden Männer der Industrie eines Landes anwenden
zu wollen. Denn erstens ist es eine allgemeine Erfahrungstatsache,
die für die Angehörigen aller Nationen gilt, daß einer auf einem
bestimmten Gebiet ein ausgezeichneter Spezialist sein mag und daß
ihm gleichzeitig völlig die Fähigkeit mangeln kann, auf anderen
Gebieten selbständig und kritisch zu urteilen oder gar die Thesen,
die ihm von seiner Umgebung als richtig hingestellt werden, zu
widerlegen. Und zweitens wird der oben erwähnte nachdrückliche
Hinweis auf die Fehler des Kapitalismus eben gerade durch die
hier getadelte Propagandamethode unwirksam gemacht, die
zwischen Mensch und Institution keinen Unterschied kennt. Der
Industrielle, der subjektiv vom guten Willen und von der An-
ständigkeit seiner Freunde und seiner selbst überzeugt ist, er-
kennt die Kritik, die ihn als moralisch minderwertig hinstellt, als
falsch und, da sie nun einmal fehlerhaft ist, verwirft er sie über-
haupt ganz wie eine Rechnung, die durch einen Rechenfehler
wertlos geworden ist. Mit andern Worten: Die geistige Waffe,
die zur Kritik unserer Gesellschaftsordnung angewendet werden
könnte, wird dadurch stumpf, daß man sie an der falschen Stelle
ansetzt.
Daraus erklärt sich auch die bekannte Erscheinung, daß der
Marxismus und insbesondere der Kommunismus an den Hoch-
schulen so wenig Anklang findet. Vom rein materialistischen
Standpunkt aus wäre es ja eher zu erwarten gewesen, daß
namentlich die Hochschullehrer ein kommunistisches System
begrüßen würden, weil die Stellung der Wissenschaft sowohl
in bezug auf die Forschungsstätten wie in bezug auf die persön-
liche Position der Gelehrten und Forscher selbst in einem kom-
munistischen Staat relativ viel besser ist als in den kapitalisti-
schen Ländern. Daß trotz dieser allgemein bekannten Tatsache
keine großen Sympathien vorhanden sind, hängt bei einem Teil
der Akademiker mit religiösen Bedenken zusammen. Eine viel
wichtigere Rolle spielt aber die Abneigung gegen eine Politik des
Hasses und der Gehässigkeit, gegen eine Politik, die nicht nur

12
das bestehende Gesellschaftsystem total verwirft, sondern
gleichzeitig auch jedes Einzelindividuum dieser Gesellschaft zu
ächten bestrebt ist und damit solchen Menschen Unrecht tut, die
in bestem Glauben und mit völlig reinem Gewissen den Weg zu
gehen meinen, den ihnen ihre Jugenderziehung vorgeschrieben
hatte.
Der Schluß von den Mängeln der Institution auf die der In-
stitution dienenden Menschen rächt sich also. Und in ähnlicher
Weise wirkt auch der in umgekehrter Richtung begangene Fehler
des Schlusses vom Einzelindividuum auf die Institution. Genau
so wie ein schlechtes System gute Anhänger haben kann, so kann
auch ein gutes System schlechte Anhänger haben. Und nun ist es
meistens so, daß die Beurteilung irgend einer geistigen oder poli-
tischen Richtung durch die große Allgemeinheit gar nicht auf
Grund einer gewissenhaften Analyse ihrer abstrakten Ideen er-
folgt, sondern nach dem gefühlsmäßigen Eindruck, den man von
den Anhängern dieser Richtung gewinnt. Bedenkt man nun
weiter, daß die am stärksten aktivistischen Elemente der radi-
kalen politischen Parteien im allgemeinen keine sehr liebens-
würdigen und vertrauenerweckenden Personen sind, dann darf
man sich über den Ausgang mancher Wahlen gar nicht wundern.
Die Ideen des dialektischen Materialismus sind für das Ver-
ständnis der Allgemeinheit reichlich abstrakt und deswegen
schwer faßlich. Die persönliche Unbill aber, die ungezählte
Europäer in den letzten Jahren erlitten haben, wirkt dagegen
unmittelbar und nachhaltig.
Es wird einen Teil der Erziehung zur Demokratie bilden
müssen, die Menschen dazu anzuhalten, sich ein Bild vom Wert
oder Unwert politischer Richtungen und Parteien durch direktes
Studium der authentischen programmatischen Schriften zu
machen, statt sich irgend einer Richtung anzuschließen, weil
der A oder der B, den man kennt und schätzt, auch dabei ist.
Freilich kann so ein Studium auch insofern zu einem negativen
Erfolg führen, als man beschließt, parteilos zu bleiben. Ich muß
zum Beispiel offen gestehen, daß mich weder die marxistischen

13
Schriften zu einem Anhänger, noch die antimarxistischen zu einem
Gegner des Kommunismus machen konnten, weil der ganze
Fragenkomplex zu verwickelt ist, um von jemandem entschieden
zu werden, dessen Interessen und Fähigkeiten auf anderen Ge-
bieten liegen. Wohl aber war ich schon vor fast zwei Jahrzehnten
durch gewissenhaftes Studium von Hitlers „Mein Kampf" zu
einem endgültig verdammenden Urteil über den Nationalsozia-
lismus gekommen, und dieser Umstand hat mich davor bewahrt,
jemals an die Nazipartei auch nur „anzustreifen", wie das un-
zählige Menschen taten, die es heute bitter bereuen. Und unter
diesen Unzähligen hatten sich viele befunden, die von den Ideen
des Hitlertums keine Ahnung hatten, sondern nur im Vertrauen
zu ihren in dieser Richtung vorangegangenen Freunden und Be-
kannten zu Parteigenossen wurden. Alle diese Leute hätten sich
manches Leid erspart, wenn sie nicht den Schluß von der Person
auf die Institution gezogen hätten, vor dem hier gewarnt wird.

14
Kapitel 2
Die Fe h l gruppierung
Ich will hier einen Begriff einführen, der sich zur Diagnose
der Entartungserscheinungem unserer Kultur als nützlich erweist.
Bevor ich erläutere, was unter „Fehlgruppierung" verstanden
sein soll, sei die Notwendigkeit der Einführung solcher Begriffe
kurz begründet.
Über das Bestehen schwerer Mängel und Krankheiten unserer
Zivilisation kann wohl kein Zweifel herrschen. Millionen von
Menschen lebefi auf Grund ganz überflüssiger Konflikte, nur auf
Grund gegenseitigen Mißverstehens und Mißtrauens in Not und
Verzweiflung. Ein großer Teil des Elends der Welt ist gar nicht
durch eine „eherne Naturnotwendigkeit" bedingt, sondern durch
mangelhafte Organisation unserer Gesellschaft und durch die
rückständige Primitivität der Politik. Es ist deswegen schon
ziemlich allgemein anerkannt, daß irgend etwas in unserer Zivili-
sation nicht in Ordnung ist. Über den Sitz der Fehler bestehen
aber große Meinungsverschiedenheiten, die zum Teil aus der Ver-
schiedenheit der politischen und weltanschaulichen Einstellung
der einzelnen Menschen zu erklären sind.
An der Unsicherheit in der Diagnose unserer Kulturkrank-
heiten ist aber zum Teil auch der Umstand schuld, daß den
Menschen vielfach die Sprache und die Begriffe fehlen, um die
einzelnen wunden Punkte unseres politischen Lebens und
unserer Gesellschaftsordnung richtig zu kennzeichnen. Deswegen
gehört es zu den dringendsten Kulturaufgaben, diese Fehler ein-
mal richtig zu analysieren und die Begriffe und Worte zu prägen,
mit denen sie beschrieben und mitgeteilt werden können. Mit

15
einer solchen Begriffsbildung bin ich seit einiger Zeit beschäftigt,
und ein Teil dieser Gedanken ist auch schon anderswo veröffent-
licht worden. Hier sei als Beispiel einer dieser Begriffe be-
sprochen.
Einer der verhängnisvollsten Fehler der Nazi bestand in dem
summarischen Verfahren gegenüber anscheinend zusammen-
gehörigen Gruppen von Gegnern. Man hat einfach alle Juden
zu Schuldigen an der angeblichen Not des deutschen Volkes ge-
stempelt und hat sie so gut wie unterschiedslos verfolgt und aus-
zurotten versucht. Daß ein Vorgehen dieser Art absolut verwerflich
und verbrecherisch ist, muß ein- für allemal festgehalten werden
— um so mehr, als gerade in der letzten Zeit der Antisemitismus
durch die nationalistischen Bestrebungen der Polen und Araber
wieder neu an Boden gewinnt. Wir dürfen aber nicht vergessen,
daß es sich hier keineswegs um eine isolierte Erscheinung oder
um eine bestimmte Art von Verbrechen handelt, für das gerade
das deutsche Volk besonders disponiert ist. Summarische Ver-
folgungen von Menschengruppen, in die auf Grund eines gemein-
samen, gar nicht wesentlichen Merkmales Schuldige und Un-
schuldige unterschiedslos zusammengefaßt werden, hat es seit
Beginn der Geschichte gegeben, und leider kommen solche Fehler
auch heute immer wieder vor. Das Kennzeichen dieser Fehler
ist folgendes: Eine Anzahl von Menschen begeht irgendwelche
Handlungen, durch die sie sich — ob mit Recht oder Unrecht,
sei dahingestellt — bei ihren Mitmenschen unbeliebt, ja sogar
verhaßt macht. Auf Grund dieses Umstandes geht nun die liebe
Umwelt her und faßt alle diejenigen, die mit den Schuldigen
dieser Handlungen irgendein äußerliches Merkmal, wie Rasse,
Nationalität, Religion, politische Parteirichtung usw., gemeinsam
haben, zu einer Gruppe zusammen, fällt über diese Gruppe
summarische Urteile und trifft gegen sie summarische Maß-
nahmen. Auf diese Weise kommt es zu den in der Geschichte
leider nur zu oft beobachteten Verfolgungen, unter denen eine
überwiegende Mehrheit von gänzlich Unschuldigen zu leiden hat.
Dieses Zusammenfassen ganz verschiedenartiger, verschieden

16
schuldiger Individuen auf Grund äußerlicher Merkmale zu einem
als Einheit betrachteten Kollektiv wollen wir als F e h I g r u p-
p i e r u n g bezeichnen und wollen nachdrücklich darauf hin-
weisen, daß solche Fehlgruppierungen zu den am häufigsten
begangenen und folgenschwersten Fehlern der Menschheits-
geschichte gehören. Der Rassenantisemitismus ist jene Art der
Fehlgruppierung, die dem nationalen Götzenkult unseres Jahr-
hunderts entspricht; in früheren Zeiten hatte der Glaubensfana-
tismus zu Fehlgruppierungen nach dem Gesichtspunkt des reli-
giösen Bekenntnisses geführt und hat auf seine Art zu ähnlich
schlimmen Exzessen Anlaß gegeben.
Wie vergänglich und nur rein zeitgebunden die äußerlichen
Merkmale sind, nach denen eine solche Fehlgruppierung vor-
genommen wird, erkennt man an der relativ geringen Rolle, die
das Gruppenmerkmal des religiösen Bekenntnisses in der Gegen-
wart spielt. Der einst so tödliche Haß zwischen Katholiken und
Protestanten hat sich soweit gelegt, daß nur mehr verhältnis-
mäßig harmlose Rivalitäten übereifriger Anhänger beider Be-
kenntnisse übriggeblieben sind. Der in der nationalistischen
Ideologie des 19. und 20. Jahrhunderts großgezogene und zur
Siedehitze gesteigerte Haß vieler unserer Zeitgenosssen richtet
sich gegen das Nachbarvolk oder auch gegen den politischen
Gegner. Wie beliebt war es, alle politisch linksgerichteten Per-
sonen unter die Gruppe der „Roten" oder der Kommunisten zu-
sammenzufassen und samt und sonders zu verdammen. Häufig
kommt es auch heute vor, daß Schandtaten der Soldateska (die
leider in allen Armeen vorkommen) kritiklos dem ganzen Volk
zur Last gelegt werden und zur kollektiven Verurteilung dieses
ganzen Volkes führen.
Sehr zum Schaden unserer Kultur haben eben viele unserer
Zeitgenossen an dem abschreckenden Beispiel der Judenverfolgung
nicht genug gelernt, um nicht wieder neue Fehlgruppierungen zu
verschulden. Während man den* deutschen Nationalismus nieder-
hält, ist an vielen anderen Stellen der Welt das Aufflackern einer
nationalistischen Welle zu beobachten, die bedrohliche Formen

2 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler 17

17
annimmt und den Weltfrieden gefährdet. Der verwerfliche Grund-
satz des nationalen sacro egoismo führt zur Unterdrückung, Ent-
rechtung und summarischen Ausweisung einer Minoritätengruppe
anderssprachiger Menschen, verursacht dadurch unsagbares Lei-
den von Millionen unglücklicher Opfer und ruft — was das
schlimmste ist — neuerlich nationale Ressentimentgefühle wach,
gibt dem nationalen Hader, dem kollektiven Haß der Unterdrück-
ten gegen das Unterdrückervolk neue Nahrung.
Die Geleise unseres Geistes und unseres Denkens sind die Be-
griffe, mit denen wir operieren. Der hier erläuterte Begriff der
Fehlgruppierung soll dazu verhelfen, einen jahrhundertealten
Fehler zu vermeiden, der ungezählte Millionen von Menschen ins
Unglück gestürzt hat und neues Unglück über unsere Welt zu
bringen droht. Hören wir als aufgeklärte Menschen des zwanzig-
sten Jahrhunderts endlich einmal auf, unseren Kampf gegen die
Juden, gegen Deutsche, Russen oder Engländer, gegen Katholiken,
Kommunisten oder gegen alle jene zu führen, die durch ein billiges
Schlagwort in einen Topf geworfen werden können. Was zu be-
kämpfen ist, das ist die sture Engstirnigkeit der Fanatiker, Kra-
keeler und Chauvinisten aller Völker, aller Konfessionen und
aller politischen Richtungen. Das allein könnte die Gewähr gegen
das Wiederaufleben eines Faschismus in neuer Form geben.

18
Kapitel 3
Anklage gegen den Krieg
Warum soll sich der schaffende und von seinem Beruf ganz
erfüllte Mensch mit den Problemen von Krieg und Frieden be-
schäftigen?
Ich habe für das Gefühl der Geringschätzung, das viele pro-
duktiv schaffende Menschen gegen jede Art von Politik empfinden,
volles Verständnis, und ich erinnere mich mit Vergnügen, einmal
folgende Anekdote gehört zu haben: Kurz vor der Präsidenten-
wahl in den USA. kommt ein Politiker in eine amerikanische
Sternwarte und wird eingeladen, durch eines der großen Teleskope
einen Spiralnebel zu betrachten. Dieser Anblick und die Er-
läuterungen des begleitenden Astronomen geben ihm einen Be-
griff von den Dimensionen einer solchen fernen Welt, die aus
einigen tausend Millionen Fixsternen besteht, von denen die
meisten größer sind als die Sonne und millionenmal größer als
die Erde. Es überschleicht ihn eine leise Ahnung von der lächer-
lichen Rolle des winzigen Staubkörnchens Erde im Weltall, und
als er sich mit Dank empfiehlt, murmelt er schließlich kopf-
schüttelnd: „Vielleicht ist es after all doch nicht weltbewegend,
ob Mr. X oder Mr. Y übermorgen zum Präsidenten der USA. ge-
wählt wird."
Der Mann, der angesichts der Erhabenheit des Sternenhimmels
so sprach, hatte durchaus recht, und ich habe volle Sympathie für
alle Leute, die im Drange ihres Schaffens oder in einem sonstigen
Zustand, in dem die Seele von irgend etwas ganz erfüllt ist, der
Politik im allgemeinen gleichgültig gegenüberstehen. Und tatsäch-
lich ist es auch in den meisten Fällen gar nicht weltbewegend,

2*

19
ob Herr X oder Herr Y gewählt wird oder ob in einer Demo-
kratie die oder jene politische Partei ans Ruder kommt.
Aber ganz anders ist es mit der Frage des Weltfriedens. Denn
auch dir, mein astronomischer Kollege, der du, in Welten denkend
und in Lichtjahren messend, für das irdische Gezanke mit Recht
nur Verachtung hegst, auch dir kann es nicht gleichgültig sein,
ob morgen wieder ein Krieg ausbricht. Denn dann kann es dir
passieren, daß du, statt am Spektographen zu sitzen, auf einmal
ein MG bedienen mußt und daß dir die feindlichen Flieger dein
schönstes Spiegelteleskop in Stücke schlagen! In einem totalitären
•Staat kann man sich nicht den Luxus leisten, unpolitisch zu
bleiben, und in einer von Diktatoren bedrohten Welt hilft es
nichts, wenn man den Kopf wie der Vogel Strauß in den Sand
steckt: Die Politik und ihre Folgen wirken sich im Kriege überall
aus und lassen natürlich auch den nicht ungeschoren, der da
glaubt, daß er sich um diese Dinge gar nicht zu kümmern braucht.
Die Menschen, die all diesen Fragen in großem Bogen aus dem
Wege gehen und schlicht und einfach ihrem Tagwerk nachgehen,
möchte ich durch folgendes Gleichnis charakterisieren:
Da ist irgendwo eine wunderbar fruchtbare Landschaft, sagen
wir am Indus; zweihunderttausend Hände von Bauern und Gärt-
nern regen sich; jeder von den Kleinbauern bepflanzt sorgsam
sein kleines Grundstück und freut isich über den Ertrag. — Aber
so alle paar Jahrzehnte einmal kommt eine riesige Hochwasser-
katastrophe, die all die schönen Gärten und Äcker total verwüstet
und mit Schlamm und Geröll meterhoch verschüttet. Jahrelang
braucht jeder einzelne Bauer, bis er sein Grundstück wieder halb-
wegs hergerichtet hat. Und bis es dann wirklich wieder in Ordnung
ist und reiche Ernten trägt, tritt dieser Teufel von Indus wieder aus
seinem Ufer, und das Elend fängt von neuem an. Würden die
hunderttausend Bauern und Gärtner nicht klüger handeln, wenn
ßie zuerst einmal mit vereinten Kräften den Oberlauf des Indus
regulierten und durch entsprechenden Schutz ein- für allemal da-
für sorgten, daß solche Katastrophen sich nicht mehr wieder-
holen?

20
Genau dasselbe können wir auch von den friedlich schaffen-
den Menschen sagen, die scheinbar mit gutem Recht auf dem
Standpunkt stehen, daß sie etwas Gescheiteres zu tun haben, als
sich um Politik zu kümmern. Eine solche politische Abstinenz
werden sie .sich erst dann leisten können, wenn einmal der Welt-
friede eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Vorher aber muß
dafür gesorgt werden, daß in unserer aus den Fugen gegangenen
Kultur wieder die Besinnung und Vernunft die Oberhand ge-
winnt. Ist euch denn nie die Tatsache aufgefallen, meine un-
politischen Freunde, daß höchstens einige tausend Leute in Europa
wirklich ein persönliches Interesse daran hatten, daß Krieg ge-
führt wird, während unzählige Millionen daran zugrunde gingen
oder .schwer darunter leiden mußten? Wie kommt es denn, daß
eine Handvoll Abenteurer mit ein paar lumpigen zehntausend
unbedingten und fanatisierten Anhängern hinter .sich die Macht er-
langen, um die Millionen in einen Krieg zu ziehen, der von keinem
dieser Millionen je gewollt worden ist? Das kam nur daher, daß
diese zehntausend Schreier politisch hochaktiv und hochvirulent
waren, während die Millionen entweder in ihre Arbeit oder in
ihr Vergnügen vertieft waren und deswegen die Zügel der Politik
am Boden schleifen ließen, ohne sich um den Gang der Ereignisse
zu kümmern. Wenn ihr wollt, daß die nächste Generation eurer
Kinder nicht wieder dem Moloch eines Weltkrieges in den Rachen
geworfen wird, dann müßt ihr eines machen: ihr müßt euch dar-
über klar werden, durch welchen verhängnisvollen seelischen
Mechanismus der Unfug des Krieges zustande kommt, und sobald
ihr darüber im klaren seid, müßt ihr auch eure Mitmenschen dar-
über aufklären!
Sind aber die Kriege wirklich ein Unfug, eine Entartungs-
erscheinung unserer Kultur? Oder sind sie die lebensnot-
wendigen Kraftäußerungen gesunder Nationen, die sich in
unerbittlichem Kampf ums Dasein ihren Lebensraum er-
kämpfen müssen?
Man kann die Menschen hinsichtlich ihrer Stellung zum Kriegs-
problem in drei Gruppen einteilen. Die Pazifisten vertreten den

21
Standpunkt, der in den Kriegen einen verbrecherischen Irrsinn
erblickt, der durch entsprechende Aufklärung vermieden werden
kann und vermieden werden muß. Die zweite Gruppe ist die viel-
leicht zahlreichste, die im Krieg ein leider unvermeidliches Übel
sieht, und die dritte Gruppe ist schließlich jene der führenden
Männer der Achsenmächte gewesen, die den Krieg überhaupt
nicht für ein Übel halten, sondern in ihm den natürlichen Aus-
fluß der heroischen Kampfinstinkte des Mannes erblicken. Hören
wir, was diese Leute darüber sagen:
Moltke: Der ewige Friede ist ein Traum — und nicht einmal ein schöner.
Hitler: Im ewigen Kampf ist die Menschheit groß geworden — im ewigen
Frieden geht sie zugrunde.
Alfred Rosenberg: Wir bekennen den alten Satz, daß der Krieg der Vater
aller Dinge ist, nicht nur als Phrase, sondern als unseren Lebensinhalt.
Mussolini: Der Faschismus lehnt den Pazifismus ab, der einen Verzicht auf
den Kampf und eine Feigheit gegenüber dem Opfer in sich birgt. Der Krieg
allein bringt alle menschlichen Energien zur höchsten Anspannung und verleiht
den Völkern die Würde des Adels, die den Mut und die virtu haben, dem
Kampf die Stirne zu bieten.
Nochmals Mussolini: Ich wünschte, die italienischen Museen enthielten
weniger Gemälde und mehr erbeutete Feindfahnen.
Die Auffassung dieser dritten Gruppe, von der wir nur einige
prominente Vertreter zitiert haben, wurde in Deutschland, Italien
und Japan die offizielle Lehre, die den Kindern von Jugend auf
beigebracht wurde. Ein durch diese Schule gegangener Mensch
mußte ungefähr die folgende Vorstellung vom ,,Stahlbad der
Völker" bekommen:
„Selbst wenn die Anlässe der Kriege manchmal geringfügig sein
mögen, so hatten dennoch alle diese Kämpfe einen guten Sinn.
Denn ohne Kampf und Krieg erschlafft die Nation, wird träge,
gibt sich einem üppigen und ausschweifenden Lebenswandel hin,
wohingegen die im Krieg gestählte Jugend ihre Kraft bewahrt
und ein starkes und wetterfestes Geschlecht bleibt."
Unser Standpunkt ist dem völlig entgegengesetzt und lautet so:
Diese immer wieder in Rede und Schrift vertretene Auffassung
stammt aus einer um rund zwei Jahrtausende zurückliegenden
Geschichtsepoche, in der sie ihre Berechtigung gehabt haben mag.

22
Kulturvölker, die von barbarischen und räuberischen Nachbarn
umgeben waren, hatten tatsächlich Grund, auf die Erhaltung ihrer
Wehrhaftigkeit Bedacht zu nehmen. Aber heute, im Zeitalter der
modernen Technik, da die Kriege nicht mehr Schutz gegen primi-
tive Barbarenvölker darstellen, sondern gerade von den höchst-
entwickelten Kulturvölkern untereinander ausgetragen werden,
ist diese Auffassung völlig deplaciert und anachronistisch. Der
Mensch paßt sich doch auch als Einzelperson der allmählichen
Entwicklung der Zivilisation an. Wir leben ja heute nicht mehr in
einer Zeit, da ein Edelmann vor dem Spaziergang seinen Degen
umschnallte, um auf der Straße allfälligen Gegnern wehrhaft
gegenübertreten zu können, und wir leben auch nicht in der Zeit
des Wild-West, als man die Revolver in den Gürtel steckte, ehe
man sich aufs Pferd schwang. Natürlich muß man trachten, das
Aufkommen jener Entartungserscheinungen zu verhüten, die sich
aus ungestörtem Wohlleben ergeben können. Aber darum, weil
zum Beispiel die mit der Natur und mit der Wucht der Elemente
dauernd ringenden Menschen der Gefahr solcher Entartungen
weniger ausgesetzt sind, führt man doch um Gottes willen keine
Elementarkatastrophen absichtlich herbei! Was würde man sagen,
wenn jemand, der es könnte, auf einmal anfinge, Vulkanausbrüche,
Erdbeben und Überschwemmungen künstlich herbeizuführen, um
die Menschen zum gesteigerten Krafteinsatz und zur Ertüchtigung
zu erziehen? Würde man so einen nicht als potenzierten Saboteur,
als Staatsfeind Nr. 1 betrachten und entsprechend behandeln?
Und da sollte man auf der andern Seite ohne gewissenhafte Prü-
fung der unbedingten Notwendigkeit zulassen, daß die Hölle eines
Weltkrieges über die Menschheit losgelassen wird, eines Krieges,
dessen Folgen nach Umfang und Dauer viel fürchterlicher sind
als jene von schweren Naturereignissen.
Leider hat es ja während des ganzen ersten Weltkrieges und
auch bis tief in den zweiten hinein unzählige Leute gegeben, denen
es nie deutlich genug zum Bewußtsein gekommen ist, was für eine
gigantische Menschheitskatastrophe so ein totaler Krieg eigent-
lich ist. Von den Leuten, die das Glück hatten, am eigenen Leib

23
und im Kreise ihrer nächststehenden Menschen keine oder nur
geringe Schäden oder Verluste erlitten zu haben, besaßen die
meisten weder genug Phantasie noch genug allgemein mensch-
liches Mitgefühl, um zu ermessen, wieviel an fürchterlichen
Leiden mit den großen Kriegen über die Menschheit gebracht
worden ist — noch dazu ganz überflüssigerweise, wie an anderer
Stelle noch bewiesen werden soll. Denkt doch, ihr Verfechter des
Militarismus, an die Millionen Toten und lebenslänglich Verstüm-
melten an der Front, denkt an die weiteren Millionen, die durch
die Luftangriffe um Leben, Gesundheit oder Habe gebracht wor-
den sind, denkt an die Arbeitssklaverei im Dienste der Rüstung,
in die Bewohner ganzer Kontinente eingespannt worden sind,
denkt an die katastrophale Erniedrigung des Lebensstandards,
die schon durch die Kriegsvorbereitungen allein und dann enst
recht durch den Krieg selbst verursacht wird, — und denkt nicht
zuletzt an die scheußlichste Begleiterscheinung des Krieges: an die
Haßideologie und an die Völkerverhetzung, die als Propaganda-
mittel von Amts wegen in die Seele der Menschen eingeprägt
werden sollte und die natürlich als weitere Saat für immer neue
Kriege dienen kann. Nirgends in Gottes Natur, auch nicht bei den
Raubtieren, gibt es eine Parallele zu dem Ausmaß von satani-
schem und derart umfassendem Vernichtungswillen, wie er sich
in der Kriegspropaganda jener Menschen des zwanzigsten Jahr-
hunderts offenbarte, die nach ihrer Einbildung die Krone der
Schöpfung und die Verkünder des neuen Menschen sein sollten!
Unzähligen ist es während des ganzen Krieges kaum je so recht
zum Bewußtsein gekommen, daß so viel von den größeren und
kleineren Übeln, unter denen fast die ganze zivilisierte Mensch-
heit zu leiden hat: die Armut und der Hunger, die geistige Zwangs-
jacke und das Gift der Haßideologie, daß all dies und noch vieles
andere dazu doch letzten Endes durch den Krieg und durch seine
geistige und materielle Vorbereitung verursacht worden ist.
Wir dürfen doch nicht vergessen, daß man durch rationelle
Ausnützung der Hilfsmittel der modernen Wissenschaft und Tech-
nik schon heute in der Lage gewesen.wäre, allen Kulturmenschen

24
ein durchaus erträgliches Dasein mit ausreichender Ernährung,
anständiger Behausung und Bekleidung und mit reichlicher Frei-
zeit und langen Ferien zu schaffen, wenn nicht gerade in die
letzte Epoche des technischen Fortschritts der erste Weltkrieg
mit seinen auch die Zwanzigerjahre noch überschattenden Folgen
hineingeplatzt wäre, während die Dreißiger Jahre schon im
Zeichen der kommenden Auseinandersetzung und der damit ver-
bundenen Rekordaufrüstung gestanden sind. Auf welcher Stufe
des Wohlstandes könnte die Menschheit bei einigem guten Willen
zu sozialer Gerechtigkeit heute schon stehen, wenn nicht die Welt-
kriege mit allem Drum und Dran dazwischengetreten wären!
Wer deswegen genug Einsicht hat, um alle Übel und alle Folge-
erscheinungen eines totalen Krieges zu übersehen, dem muß es
klar sein, daß der Krieg als Mittel zur Beseitigung allfälliger im
Frieden auftretender Entartungserscheinungen ungefähr so am
Platze ist wie eine Beinamputation zur Beseitigung eines Hühner-
auges! Gegen die von den Verfechtern des Soldatentums befürch-
tete Entartung durch den ewigen Frieden wird man sich also durch
Mittel zu schützen wissen, die dem Geist einer wahren Kultur-
nation entsprechen: Durch einen vernünftigen Sportbetrieb (der
breite Volksmassen erfassen muß, nicht aber in der Züchtung
eines Starwesens gipfeln soll), durch entsprechende Erziehung
und Aufklärung. Wer mein Buch aufmerksam liest, wird leicht
sehen, daß die Befolgung der darin niedergelegten Grundsätze nicht
nur dazu hilft, die Entartungserscheinungen des Krieges zu be-
seitigen, sondern ebenso auch alle anderen Entartungserscheinun-
gen, die sich etwa aus einer zu geringen Beanspruchung der geisti-
gen und körperlichen Kräfte eines Volkes ergeben könnten! Im
übrigen ist es mehr als zweifelhaft, ob der maschinell geführte
moderne Krieg einschließlich seiner Begleiterscheinungen in Form
von Entbehrungen, Hunger, Wohnungsnot usw. tatsächlich per
saldo eine körperliche Ertüchtigung des Volkes schafft. Gesunde
und sportlich veranlagte Völker haben gar keinen Krieg nötig,
um physisch und geistig auf der Höhe zu bleiben.
Jene leicht preußisch gefärbte humanistische Bildung, mit der

25
die Intelligenzschicht des deutschen Volkes in den Gymnasien
und den Obenschulen aufgezogen wurde, hat der Jugend die Be-
geisterung für das antike Ideal des Spartanertums und für den
Heldenkampf der Griechen wachgerufen und hat damit ihren
Beitrag für die seelische und geistige Fundierung des Militaris-
mus geleistet. Sie hat aber versäumt, der Jugend gleichzeitig die
eine ganz entscheidende Tatsache einzuprägen, daß jede Ideologie,
soweit sie irdische Angelegenheiten zum Gegenstand hat, an eine
bestimmte Umwelt gebunden ist. Das bedeutet folgendes: In den
gegen das Barbarentum im Kampf stehenden Stadtrepubliken
und Zwergkönigreichen Griechenlands hatten sich gewisse An-
schauungen von der Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit, von Sol-
datentum und Heldengeist entwickelt, die später in den Worten
eines lateinischen Dichters ihren Ausdruck fanden: „dulce et
decorum est pro patria mori." Diese Ideologie mag dort am
Platze gewesen sein, ist aber zweieinhalb Jahrtausende später im
Zeitalter der Flugzeuge und der Atomwaffen obsolet und de-
placiert:
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage,
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Mit dem starren Festhalten an dem Aberglauben von der Not-
wendigkeit der Kriege in einer Zeit völlg geänderter äußerer
Lebensbedingungen hat sich letzten Endes unsere bürgerliche Ge-
sellschaft ihr Grab selbst geschaufelt. Mit den alten Spartaner-
idealen der nationalen Ehre und der Königstreue im Kopfe ist sie
wie mit Scheuklappen behaftet an den sozialen Mißständen und
Ungerechtigkeiten vorübergegangen und hat von der Kraft und
von dem Recht eines erwachenden internationalen Proletariats
keine Kenntnis genommen. Statt mit der gemäßigten. Richtung
der Arbeiterklasse einen vernünftigen und gerechten Vergleich an-
zustreben, hatte sie nur Haß und Hochmut gegenüber dem inter-
nationalen Sozialismus; statt eine zwischenstaatliche Interessen-
regelung nach den Grundsätzen des privaten Rechtsverkehrs zu
schaffen, taumelte sie weiter in Kriege und verschärfte durch die
riesigen unproduktiven Rüstungsausgaben die soziale Not noch

26
weiter. Diejenigen, die sich über das dauernde Vordringen des
Marxismus beschweren, sollten sich darüber klar sein, daß die
großen sozialen Revolutionen der Gegenwart immer erst durch die
mutwillig vom Zaun gebrochenen Kriege angefacht worden sind.
Der Deutsch-Französische Krieg mit dem nachfolgenden Pari-
ser Kommuneaufstand von 1871 war das erste blutige Zeichen
einer neuen, von unten kommenden Revolution, ein Zeichen,
das aber vollständig ignoriert wurde. Der russisch-japanische
Krieg lieferte ein zweites drohendes Signal in Gestalt der Revolte
von 1904, die eine Art Generalprobe zur großen russischen Re-
volution bildete. Auch dieses deutliche Warnungssignal wurde
mißachtet, ja gerade die russischen Großfürsten und Generäle
gehörten zehn Jahre später samt den deutschen und österreichi-
schen Militaristen zu den ärgsten Hetzern, die den Brand schür-
ten, bis der erste Weltkrieg ausbrach, der in Rußland nach dem
Zwischenspiel der Menschewikiherrschaft sehr bald den radikal-
sten Flügel des Marxismus ans Ruder brachte. Was in Mittel-
europa nachher noch an Bürgertum übrigblieb, verschrieb sich im
Laufe der nächsten beiden Jahrzehnte größtenteils dem kriege-
rischen Faschismus und taumelte mit ihm in diesen zweiten, viel
fürchterlicheren Weltkrieg, dessen Folgen, wie man eben sieht,
die bürgerliche Klasse Deutschlands aus ihrem früheren Zustand
eines behaglichen bescheidenen Wohlstandes heraus ins Elend
gestürzt hat. Das Schicksal, das diese Klasse erlitten hat, ist hart
und grausam, aber leider nicht ganz unverdient.

27
Kapitel 4
Anklage gegen den Nationalsozialismus

Wir kommen damit auf die allgemeinere Frage der Schuld des
Nationalsozialismus an den Geschehnissen des letzten Jahrzehntes
zu sprechen. Es ist notwendig, daß eine durchaus sachliche und
objektive Behandlung dieser Frage auch einmal von einem Ver-
fasser geschrieben wird, der selber einer deutschnationalen Stu-
dentenvereinigung angehört hatte und dem von damals her die
Mentalität der deutschen Intelligenzschicht wohlbekannt ist. Das
deutsche Volk und vor allem seine Jugend ist seit 1933 nur völlig
einseitig informiert worden und hat das Weltgeschehen nur durch
die Brille des Nationalsozialismus kennengelernt. Eine der letzten
Folgen dieser Tatsache ist es, daß beim Zusammenbruch vom
Mai 1945 Millionen von Deutschen fassungslos der Katastrophe
gegenüberstanden, daß unzählige von ihnen mit der Empörung
gekränkter Unschuld dieses Ereignis als einen unverdienten
Schicksalsschlag hinnahmen, weil es ihnen selber nie klar ge-
worden war, daß die deutsche Nation sich in eine tragische und
ungeheure Schuld verstrickt hatte. Denn alle diese Leute waren
ja dahin belehrt worden, daß die diesbezüglichen Anschuldigungen
der Feindseite nur böswillige Verleumdungen waren. Hier spricht
nun ein Zeuge aus dem eigenen Lager.
Der springende Punkt an der Schuld des Nationalsozialismus
ist der extreme Macchiavellismus seiner Politiker und der dem
Volk eingeimpfte Geist von Köpenik. Jene jüngeren Leute unter
den Lesern, die in der Schule des Dritten Reiches aufgewachsen
sind, haben vielleicht die wunderschöne und dabei durchaus wahre
Geschichte des Hauptmanns von Köpenik niemals zu hören be-

28
kommen, deswegen will ich sie hier erzählen, soweit ich sie in
Erinnerung habe. Sie hat sich in den wesentlichen Zügen sicher
so abgespielt, wie hier geschildert, und die ganze Welt hat damals
darüber gelacht — nur einige wenige erkannten in kluger Voraus-
sicht dessen, was der Welt bevorsteht, daß die Sache eigentlich
eher zum Weinen sei.
Zeit der Handlung: 16. Oktober 1906.
Ort: Die Stadt Köpenik im Südosten von Berlin.
Einige Soldaten des kaiserlichen deutschen Heeres befinden
sich unter der Führung eines Unteroffiziers eben auf dem Wege
von der Schwimmschule zum Militärschießplatz. Da kommt ein
Hauptmann in Gardeuniform daher, heißt sie stramm stehen
und teilt ihnen seinen Befehl mit, daß sie ihn zu einer Sonder-
mission zu begleiten hätten. Er marschiert mit seiner Truppe
schnurstracks zum Rathaus von Köpenik, erklärt dort, daß er
eine Revision der Geldgebarung des Bürgermeisteramtes vorzu-
nehmen habe, revidiert, läßt den Bürgermeister verhaften und
von seinen Soldaten abführen, beschlagnahmt die Amtskasse, und
erst nachdem er mit dem Papiergeld verschwunden ist, löst sich
der Zauber, und den verdutzten Köpenikern dämmert es allmählich
auf, daß sie einem Schwindler aufgesessen sind. Der vermeint-
liche Hauptmann war ein schlichter Schuhmachergeselle namens
Voigt, der durch fleißige Beobachtungen auf Exerzierplätzen und
Kasernhöfen das genügende Vertrauen in den Zauber der Montur
und in den Kadavergehorsam des deutschen Soldaten ge-
wonnen hatte.
Von der Komödie des Hauptmanns von Köpenik bis zur Tra-
gödie der beiden Weltkriege führt nur ein Schritt, und ein sehr
wesentlicher Punkt ist beiden Ereignissen gemeinsam: Der blinde
Kadavergehorsam und das völlige Fehlen selbst des Versuches
einer Kritik. Aber ungeheuer ist der Unterschied in der Trag-
weite beider Geschehnisse. Der biedere Schuster Voigt begnügte
sich mit dem Raub von einigen tausend Reichsmark und hat dabei
niemandem ein Haar gekrümmt, während Hitler einen Kontinent
geplündert hat und, abgesehen von den Millionenopfern des

29
Krieges selbst, noch weitere Millionen unschuldiger und am Krieg
ganz unbeteiligter Zivilisten abschlachten ließ. Daß er diese
Schandtaten nicht zur eigenen Bereicherung verübte, sondern —
selbst ein verblendeter und durch falsche Erziehung Irregeleiteter
— im Wahn handelte, seiner Nation damit zu helfen, belastet
die Zuschauer des Dramas noch stärker. Die Köpeniker Beamten
und Soldaten waren nur die düpierten Dummköpfe, die Millionen
Deutschen aber, die Augen und Ohren schlossen, um nichts von
den Monsterverbrechen der SS- und Parteihäuptlinge zu hören,
litten an einer Verblendung, durch die sie sich zu Mitschuldigen
machten. Denn bei ihrem Glauben an die gottgewollte Herrscher-
stellung des deutschen Volkes waren sie nicht bloß Zuseher, son-
dern auch Teilhaber und künftige Nutznießer an dem gigantischen
Raubzug. Die meisten von ihnen hatten sich nur hinsichtlich des
Ausmaßes der Verbrechen täuschen lassen; an der Tatsache der
Gewaltakte an sich konnte kein Denkender vorübergehen und nur
ganz wenige unter den Millionen besaßen Rechtsgefühl genug,
um die Frage nach Recht oder Unrecht überhaupt aufzuwerfen.
Und in dieser selbstverständlichen Hinnahme des Rechtsbruches
im Interesse von angeblich höheren Belangen liegt eben das
Wesen des Macchiavellismus. Zur Erläuterung dieses grundlegend
wichtigen Punktes müssen wir weiter ausholen.
Durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch können wir
zweierlei grundsätzlich voneinander verschiedene Weltanschauun-
gen verfolgen, die wir in Anlehnung an einen Aufsatz Schillers
mit den Namen der griechischen Gesetzgeber L y k u r g und
S o 1 o n verknüpfen können. Die wesentlichen Kennzeichen der
Weltanschauung der Lykurgischen Gruppe sind: Der Wille zur
Macht, der Primat der Politik über die anderen Lebensinteressen,
der Primat von Staat und Volk über das Individuum, die These,
daß der Mensch von Natur aus ein Raubtier sei und deshalb mit
Gewalt gebändigt werden müsse, daher die These von der Natur-
notwendigkeit der Kriege, der Respekt vor Gewalt, Kraft und
Autorität, die Abneigung gegen Menschlichkeit und Mitleidsge-
fühl und last not least die Nichtanerkennung von Recht und

30
Moral als Regler der zwischenstaatlichen Beziehungen. Typische
Vertreter dieser Richtung sind: Lykurg, dann die großen Er-
oberer Alexander, Cäsar, Dschingis Khan und Napoleon, Staats-
männer wie Bismarck, ihre Apostel Macchiavelli und Nietzsche,
Historiker vom Schlage eines Treitschke und Spengler und schließ-
lich die modernen Diktatoren Mussolini und Hitler.
Ganz anders die Weltanschauung der Männer der Solonischen
Gruppe: Recht statt Gewalt, Einsicht und Verständnis anstelle
von Leidenschaft, Vernunft anstelle angeblicher Instinkte, Rück-
sichtnahme auf das Einzelindividuum gegenüber dem Kollektiv,
Menschenliebe anstelle von Machtgier. Hiezu kommt noch der
Umstand, daß die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten
Jahrhunderte vielen Menschen die Perspektive des Blickes wesent-
lich geweitet haben und dadurch den Wertmaßstab geändert
haben, den wir an die Bedeutung der menschlichen Belange an-
legen (über diesen letzteren Punkt sprechen wir in den beiden
nächsten Kapiteln ausführlicher). Als Vertreter dieser solonischen
Weltanschauung wären unter anderen zu nennen: Confuzius,
Solon, Buddha, Perikles, Sokrates, Christus, Rousseau, Schiller,
Thomas Jefferson, Gladistone, Woodrow Wilson, H. G. Wells.
Jener Zug der lykurgischen Weltanschauung, der menschliche
Rücksichtnahme und Gefühl für Recht und Anständigkeit im
Verkehr der Herrscher und der Staaten untereinander ausschaltet,
ist in dem Anfang des 16. Jahrhunderts erschienenen Buche „II
principe" von Nicolo Macchiavelli, Staatssekretär der florentini-
schen Republik, ausführlich niedergelegt worden und hat nach
ihm den Namen Macchiavellismus erhalten. Zu den Grundthesen
des Macchiavellismus gehören die folgenden Sätze *):
1. Jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen Staat)
errichtet und demselben Gesetze gibt, muß voraussetzen, daß alle

*) Zitiert nach der Schrift „Macchiavellis Politik" von J. G. Fichte,


Reklams Universalbibliothek Nr. 5928. — Im übrigen ist Macchiavelli selbst
nicht etwa der Urheber dieser Ideen, er hat vielmehr nur dasjenige eindeutig
und ausführlich formuliert, was seit jeher einen integrierenden Bestandteil der
lykurgischen Ideologie gebildet hatte.

31
Menschen bösartig sind, und daß ohne alle Ausnahme sie alsbald
ihre innere Bösartigkeit auslassen werden, sobald sie dazu eine
sichere Gelegenheit finden. (1. c. S. 37.)
2. Der Nachbar, es sei denn, daß er dich als seinen natürlichen
Alliierten gegen eine andere euch beiden gefährliche Macht be-
trachten müsse, ist stets bereit, bei der ersten Gelegenheit, da er
es mit Sicherheit können wird, sich auf deine Kosten zu ver-
größern. Er muß es tun, wenn er klug ist, und kann es nicht
lassen, und wenn er dein Bruder wäre. (1. c. S. 41.)
3. An die allgemeinen Gesetze der Moral ist der Fürst in
seinem Privatleben gebunden; in seinem Verhältnis aber zu
andern Staaten gibt es weder Gesetz noch Recht, außer dem
Rechte des Stärkeren, und dieses Verhältnis legt die göttlichen
Majestätsrechte des Schicksals und der Weltregierung auf die
Verantwortung des Fürsten nieder in seine Hände und erhebt
ihn über die Gebote der individuellen Moral in eine höhere sitt-
liche Ordnung, deren materieller Inhalt enthalten ist in den
Worten: Salus et decus populi suprema lex esto. (1. c. S. 47.)
Jene Leute, die aus einer nationalistischen Erziehung hervor-
gegangen sind, werden wohl geneigt sein, diese Maximen als
etwas Selbstverständliches hinzunehmen, weil sie ihnen ja von
Jugend auf so eingeprägt worden sind. Und es ist ihnen wohl
niemals zum Bewußtsein gekommen, daß diese Auffassung von
den Völkerbeziehungen gar nicht die einzig mögliche ist, daß es
andere gibt, die nicht nur anständiger, sondern auch zweck-
mäßiger sind, daß das Gedankengut des Macchiavellismus ein
schleichendes Gift ist, das eines schönen Tages durch das Zu-
sammentreffen besonderer Umstände zur vollen und verheeren-
den Wirkung gelangen mußte. Diese besonderen Umstände
waren im letzten Weltkrieg: Die Usurpierung der Macht durch
einen dämonischen Psychopathen, die Möglichkeit einer umfas-
senden Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die
modernen Mittel der Propaganda und des Nachrichtenwesens
und schließlich die Indienststellung aller technischen Hilfsmittel
in den Krieg. Das Überhandnehmen des Macchiavellismus in der

32
faschistischen Politik war das Produkt einer historischen Ent-
wicklung, die wir hier in großen Zügen verfolgen wollen.
Zwischen der lykurgischen und der solonischen Weltanschauung
war durch all die Jahrhunderte hindurch ein stummes Ringen im
Gange gewesen, aber man kann nicht gerade sagen, daß der oder
jener ideologische Krieg der Vergangenheit ein klarer Kampf
zwischen diesen beiden Richtungen war. Denn die Lykurgianer
spielten in den Kriegen fast immer auf beiden Seiten der Kampf-
parteien eine tonangebende Rolle, während die Soloniker in der
Hitze der Kriegspolitik eben gerade auf Grund ihrer Welt-
anschauung im Hintergrund bleiben mußten. Und immer hat es
natürlich Vertreter beider Weltanschauungen auf beiden Seiten
eines Streites und mehr oder minder bei allen Völkern gegeben.
Ein gewisses Erstarken und Aufblühen der solonischen Ideologie
macht sich im Aufklärungszeitalter des 18. Jahrhunderts, in der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in den
Anfängen der französischen Revolution bemerkbar; ja selbst
Friedrich der Große war in seinem jugendlichen Idealismus gar
nicht militaristisch veranlagt und schrieb als Kronprinz in seinem
„Antimacchiavell" den folgenden Satz: ,,Ich habe allezeit Macchia-
vellis Buch von der Regierungskunst eines Fürsten als eines der
allergefährlichsten Bücher angesehen, die jemals in der Welt ver-
breitet wurden." Aber in den Stürmen der Jakobinerzeit der fran-
zösischen Revolution und im Kriegslärm der napoleonischen Herr-
schaft gewann die lykurgische Ideologie wieder die Oberhand,
und zwar auf beiden Seiten der Streitparteien. Denn auch ein
deutscher Professor wie Fichte, der nach seiner eigenen Ein-
bildung ein Philosoph war, bekannte sich damals eindeutig zur
Macchiavellistischen Lehre. *)
Im weiteren Verlaufe des 19. Jahrhunderts machte sich dann
ein abermaliges Erstarken solonischer Weisheit bemerkbar —
am meisten vielleicht in England, wo sie unter Staatsmännern
wie Gladstone zur Blüte des „Victorian Age" geführt hat. Auch

*) Fichte, 1. c. S. 36.

3 Thirring, Anti-Nietzsche u Anti-Spengler

33
am Kontinent nimmt wohl die Zahl der Soloniker zu, aber — in
Deutschland zumindest — bleibt die Tradition nicht nur des
Hofes und des Offizierskorps, sondern auch der politischen
Mehrheitsparteien und namentlich der Lehrerschaft und der
Mehrheit der Volksbildner noch durchaus lykurgisch-macchiavel-
listisch. Im ersten Weltkrieg überwiegen wohl die Anhänger der
lykurgischen Auffassung an den maßgebenden Stellen der Mittel-
mächte; als aber die Gegenpartei siegte, war das noch keines-
wegs ein Triumph der durch Woodrow Wilson verkörperten solo-
nischen Ideologie, denn der Kampf zwischen den beiden Welt-
anschauungen ging am grünen Tisch der Pariser Friedens-
konferenz im ersten Halbjahr 1919 noch weiter und endete mit
der Niederlage Wilsons, der zwar nicht gerade knock out ge-
schlagen wurde, aber klar nach Punkten erlag. In jenem verhäng-
nisvollen Frühjahr 1919, da Georges Clemenceau — einst 1895,
als Verteidiger Emile Zolas in der Dreyfuß-Affäre ein Kämpfer
für Freiheit, Recht und Menschlichkeit — nunmehr als achtzig-
jähriger Arteriosklerotiker zum fanatischen Nationalisten ge-
worden, im Verein mit Orlando und Sonnino den körperlich an-
gekränkelten Wilson zermürbte, in dieser unseligen Schlacht von
Paris ist die Saat zum zweiten Weltkrieg gelegt worden.
In den beiden darauffolgenden Jahrzehnten hat sich in zwei
europäischen Ländern ein politischer Wandel vollzogen, der da-
durch gekennzeichnet ist, daß die lykurgisch-macchiavellistische
Weltanschauung zu einer Art Staatsreligion wurde. Vorher hatte
es überall Lykurgianer und Soloniker gegeben, aber im faschisti-
schen Staat geschah es auf einmal, daß die Soloniker überhaupt
in Acht und Bann getan wurden; die Nation sollte offiziell und
hundertprozentig im lykurgischen Sinne erzogen werden. Und in
Deutschland genügte nicht einmal das hundertprozentige, denn
der Veranlagung des Führers entsprechend sollte man mit hyste-
rischer Leidenschaft Nationalsozialist sein. Das Bekenntnis Hitlers
zum Fanatismus ist auf S. 475 seines Buches „Mein Kampf"
enthalten; diese durch Sperrdruck ausdrücklich hervorgehobene
Stelle seines Buches hätte jeder Deutsche kennen müssen, der

34
sich dem Nationalsozialismus verschrieb, denn in ihr ist der
innerste Kern der Nazireligion enthalten; sie lautet so:
''Die Angstunserer ZeitvorChauvinismus
i s t d a s Z e i c h e n i h r e r I m p o t e n z . Da i h r j e d e
ü b e r s c h ä u m e n d e K r a f t n i c h t nur f e h l t , son-
dern sogar unangenehm erscheint, ist sie
auch f ü r eine große T a t v o m Schicksal n i ch t
mehr a u s e r s e h e n . Denn d i e g r ö ß t e n Umwäl-
zu ng en a u f dieser Erde wä ren nicht denkb ar
g e w e s e n , w e n n i h r e T r i e b k r a f t s t a t t fana-
t i s c h e r , ja h y s t e r i s c h e r L e i d e n s c h a f t e n
nur d i e b ü r g e r l i c h e n T u g e n d e n d e r Ruhe
und Ordnung g e w e s e n wären."
Dieser Schrei nach ''fanatischer, ja hysterischer Leidenschaft"
ist nicht aus einer vorübergehenden Laune des Autors von ''Mein
Kampf" geboren, sondern entsprach dem ureigensten Wesen
Hitlers. Das Furioso seines Temperamentes sprach doch Satz für
Satz aus dem Ton seiner Stimme, die bei jeder nach 1933 gehal-
tenen Rede durch den Rundfunk dem ganzen deutschen Volk zu
Gehör gebracht wurde. Jedem einigermaßen erfahrenen Menschen-
kenner hätte es nach kurzem Anhören des Hitlerschen Pathos
klar werden müssen, mit wem er es da zu tun hat. Denn fast
jeder Erwachsene hatte doch ein oder das andere Mal in seinem
Privatleben Gelegenheit gehabt, mit Manikern zu sprechen, die
immer nur selber reden, den Partner nicht zu Wort kommen
lassen, auf seine Gegenrede nicht hören, immer nur selbst Recht
behalten und allen Vernunftgründen gegenüber taub sind. Manche
von solchen Menschen können unter Umständen dank ihrer Vita-
lität und Virulenz auf gewissen Gebieten überdurchschnittliche
Leistungen vollbringen — als Staatsmänner können sie nur
Fürchterliches anrichten. Es kann ja auch ein Halb wahnsinniger
unter Umständen als ausübender Musiker stark wirken und sein
Publikum hinreißen, aber man dürfte ihm als Lokomotivführer
um Gotteswillen nie einen Expreßzug anvertrauen. Auf Grund

35
dieser einfachen Erkenntnis mußte es wohl jedem, der ein bißchen
Witterung für die Eigenheiten der menschlichen Seele besitzt, ganz
klar gewesen sein, daß ein Mann, der so aussah und so sprach
wie Hitler, das deutsche Volk rettungslos in den Abgrund führen
wird, wenn man ihm das Staatsruder lang genug in der Hand
läßt.
Aber die wenigen unter den Angehörigen der deutschen In-
telligenzschicht, die soviel Menschenkenntnis besaßen, wurden
mundtot gemacht und die meisten anderen besaßen nicht nur
dieses Ausmaß von psychologischem Spürsinn nicht, sondern
waren auch viel gröberen und deutlicheren Anzeichen gegenüber
völlig blind und taub — ja ganz ähnlich stumpfsinnig wie jene
Männer von Köpenik, die sich von einem uniformierten Schwind-
ler ihren Bürgermeister samt der Gemeindekasse wegführen
ließen.
Du, deutscher Intellektueller, Lehrer deines Volkes, Lenker
eines Wirtschaftsunternehmens oder Beamter deines Staates,
sitzt jetzt nach der Katastrophe auf der Anklagebank und die
Welt, über die du — gar nicht so sehr aus böser Absicht als
vielmehr aus sträflicher Fahrlässigkeit und Gedankenlosigkeit —
ein Meer von Unglück und Grauen gebracht hast, steht vor dir
mit vorwurfsvollen Fragen. Es ist wichtig, daß du über den Sinn
der Fragen nachdenkst, ehe du sie im Geiste oder laut beant-
wortest. Denn nur aus diesem Nachdenken wird die Möglichkeit
der Wiedergeburt eines neuen Deutschland entstehen. Zu den
Fragen und Anklagen, die die Welt an dich richten wird, gehören
wohl die folgenden, die jeder kritisch Denkende auch ohne An-
hörung des ausländischen Rundfunks allein auf Grund des Stu-
diums von ''Mein Kampf" und der deutschen Presse hätte beant-
worten können:
1. Ist es euch in den bewegten Märztagen von 1933 nie durch
den Kopf gegangen, daß niemand anderer als die Nationalsozia-
listen selbst ein Interesse an dem Reichstagsbrand haben
konnten? Lag es nicht durchaus in der Linie der macchiavelli-
stischen Politik eurer Führer, daß im Interesse eines extremen

36
Nationalismus ein „Fanal" entbrenne, das kurz vor der entschei-
denden Reichstagswahl einen tiefen Eindruck auf die Wähler-
schaft machen mußte und das Stimmenverhältnis mit einem
Ruck zu Ungunsten der Linksparteien verschob?
2) Hat euch die Reidistagsrede des Führers vom 13. Juli 1934
mit seiner donnernden Anklage gegen Ernst R ö h m nicht zum
Nachdenken veranlaßt? Dieser Mann war von Hitlers Gnaden
oberster Stabschef der SA gewesen, einer, der praktisch die Macht
über Leben und Tod von Hunderttausenden in Händen hatte und
sie auch skrupellos ausübte. Hitler bezeichnete in seiner Rede
Röhm ganz unzweideutig als ein perverses Subjekt, der eine Ver-
brechernatur durch und durch gewesen sei. Mit den bei den üb-
lichen Übertreibungen Hitlers nötigen Abstrichen können wir an-
nehmen, daß diese Anklage nicht ganz aus der Luft gegriffen
war. Aber es ist ganz ausgeschlossen, daß der Führer und Reichs-
kanzler mit all seinen Möglichkeiten einer Bespitzelung von
diesen hervorstechenden Eigenschaften eines seiner engsten Mit-
arbeiter gar keine Ahnung gehabt haben sollte. Vielmehr war es
offenbar so, daß ihm der „perverse Verbrecher" Röhm als
Häuptling der SA, als Herr über jene Horden, die die wider-
spenstige Zivilbevölkerung im Schach hielten, ganz gut genug
war und daß er «sich seiner noch viele weitere Jahre als Werkzeug
bedient hätte, wenn Röhm sich nicht von selber auf einmal gegen
seinen eigenen Herrn aufgebäumt hätte. All dies mußte jedem
Unbefangenen sofort klar gewesen sein; ihr Verblendeten wart
aber bereit, ehrfürchtig vor Herrn Röhm habtacht zu stehen und
zwei Wochen später seinem Henker zu applaudieren!
3) In der Zeit vom 30. Jänner 1933 bis zum 8. Mai 1945
sind in den der SS unterstellten Konzentrationslagern in Deutsch-
land und Polen mehrere Millionen völlig unschuldiger Zivilisten
nur wegen ihrer politischen Gesinnung oder wegen ihrer Rasse
nicht nur abgeschlachtet worden, sondern in vielen Fällen durch
Hunger und Zwangsarbeit langsam zu Tode gefoltert worden.
Ein Verbrechen dieser Art steht in der sogenannten Neuzeit der
Geschichte ganz einzigartig da und man muß weit ins Mittel-

37
alter oder ins Altertum zurückgehen, um ähnliche Monsterver-
brechen zu finden. Ja, bezüglich der Anzahl der Opfer innerhalb
von knapp mehr als einem Jahrzehnt wird diese finstere Tragödie
überhaupt den Weltrekord darstellen. Es sei zugegeben, daß
bezüglich des Ausmaßes des Verbrechens nur die wenigsten
Leute hierzulande überhaupt eine Ahnung haben konnten. Aber
jedes Kind in Deutschland wußte, daß es die Institution der
Konzentrationslager gab, und der Name D a c h a u war ein
allgemein geläufiger Begriff geworden. Sehen wir also von den
Massenabschlachtungen und von den begleitenden Orgien des
Sadismus ab, die nur den Eingeweihten bekannt waren, so
müssen wir doch anklagend fragen: Du, deutscher Mann, der
du dich als Edelmensch betrachtet hast, und der du dich selbst
viel zu anständig dünktest, um es zuzulassen, daß sich ein Laden-
verkäufer um zehn Pfennige zu deinen Gunsten irrt — wie
konntest du es mit deinem Gewissen und deinem Rechtsbewußt-
sein vereinen, vorbehaltlos für ein Regierungssystem einzutreten,
von dem du wußtest, daß es gegen alles Gefühl von Recht und
Gerechtigkeit Hunderttausende von Menschen jahrelang in qual-
voller Haft schmachten läßt, ohne Gerichtsverfahren, ohne
Rechtsbeistand, ohne Richter und Verurteilung, nur auf Grund
der geheimen Untersuchung durch ein modernes Femegericht!
Warum hast du es unterlassen, in so wichtigen Dingen, die früher
oder später einmal ein Weltgericht über Deutschland herauf-
beschwören mußten, eine Viertelstunde deines Lebens zum Nach-
denken zu verwenden und dein Gewissen und das deiner Volks-
genossen zu befragen, ob hier recht oder unrecht gehandelt wird?
Deine einzige Entschuldigung ist der Wahn, daß alles im Inter-
esse der Nation geschehen sei. Aber diese Entschuldigung wird
verworfen, denn wir Menschen des 20. Jahrhunderts würden
auch nicht mehr die Ausrede „omnia ad majorem dei gloriam"
anerkennen, mit der die Henker der Inquisition ihre grausamen
Morde zu rechtfertigen suchten. Es ist schön und gut, ein Ideal
zu haben. Wer aber diesem Ideal zuliebe das Recht bricht, der
erniedrigt es selber zu einem Götzen, zu einem Fetisch von jener

38
Art, dem in einer primitiven Vergangenheit oder bei primitiven
Völkern blutige Menschenopfer dargebracht worden sind!
4. Viele von euch haben doch während der Naziherrschaft von
der Verhaftung von Leuten erfahren, die ihr selber als anständige
und aufrechte Menschen gekannt habt, und ihr konntet auf der
anderen Seite das Emporkommen von Leuten nach Art eines
Röhm oder Heines beobachten. Ist es euch gar nicht zum Bewußt-
sein gekommen, daß der Nationalsozialismus, der sich selbst als
die Verkörperung nordischen Heldentums fühlte, mit diesem
Begriff nicht nur Mißbrauch getrieben hat, sondern vielmehr
seine Idee selber letzten Endes geschändet und entehrt hat. Denn
es ist doch sicher, daß rohe Kraft, gepaart mit Sturheit und
Stumpfheit, gegenüber eigenem und fremdem Leiden noch kein
wahres Heldentum bedeutet. Niemandem wird es einfallen, ein
wild gewordenes Nashorn, das im Gefühl seiner physischen Kraft
den Kampf mit jedem Gegner aufnimmt, als etwas typisch
Heroisches anzusehen. Zum Heldentum gehört außer Kraft und
Trotz noch ein gewisser geistiger und ethischer Inhalt. An erster
Stelle dieses sittlichen Gehaltes muß nun Ritterlichkeit und
Gerechtigkeit stehen und Ritterlichkeit wird immer auch Sinn für
Heldentum auf der Gegenseite haben. Dieser Sinn aber, diese
Ritterlichkeit ist vom Nationalsozalismus nicht erst in der End-
phase seines Verzweiflungskampfes, sondern von jeher grund-
sätzlich verneint und unterdrückt worden. Ein absolut unritter-
licher Geist, ein Mangel an Respekt vor dem Heldentum Anders-
denkender durchweht die Standardwerke des Nationalsozialismus
und ganz besonders Hitlers „Mein Kampf" von A bis Z. Dieser
Geist der Unritterlichkeit hat sich dann auch überall geltend
gemacht, wo der Nationalsozialismus zur Macht gelangt war: in
Deutschland, in Österreich und in allen übrigen vergewaltigten
Ländern. Überall hat man nationalbewußte Männer des unter-
drückten Volkes, ebenso wie überzeugte Katholiken oder über-
zeugte Sozialdemokraten, Kommunisten oder Juden, die ihrer
Gesinnung treu blieben, ohne sich dem Terror zu beugen, nicht
nur verfolgt, sondern auch als moralisch Minderwertige ver-

39
leumdet, hat dagegen jene Leute belohnt und geehrt, die ein
Doppelspiel getrieben hatten, indem sie vor der Machtergreifung
der Nazis nach außenhin loyale Diener des früheren Regimes
waren, heimlich aber schon der Nazipartei angehörten. Auf diese
Weise sind bei der Machtergreifung Tausende von aufrechten und
absolut anständigen Menschen ins Konzentrationslager ge-
wandert, während Tausende von verlogenen Kreaturen und Kon-
junkturrittern zu einträglichen Stellen kamen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier nochmals die
Tatsache betont, die wir schon im ersten Kapitel angedeutet
hatten: Daß es nämlich unter den überzeugten Nazis ebenfalls
grundanständige und in bestem Glauben handelnde Leute gegeben
hat, denen man keineswegs Mangel an Charakter, sondern nur
mangelnde Einsicht und mangelnde Kenntnis der Tatsachen vor-
zuwerfen hatte. Und bei diesen kleinen Leuten unter den Nazis,
die selbst anständig waren, fand man auch objektiven Geist und
Achtung und Verständnis für die Charaktereigenschaften Anders-
denkender.
Aber die Führung selbst besaß in Wahrheit keinen Funken
dieses Geistes von Ritterlichkeit, obwohl man sich aus Propa-
gandagründen gerne den Anschein einer gewissen Großzügigkeit
gab. Der Geist der Naziführer entsprach in dieser Hinsicht jenem
der schäbigsten Winkeladvokaten, die ohne moralische Hem-
mungen alle Argumente und alle Subjekte begierig aufgreifen,
die ihnen nützen und alle entgegengesetzten bedenkenlos ver-
werfen. Der Fall Röhm war nur ein einziges Beispiel unter
tausenden.
5. In seiner Rede am Nürnberger Parteitag im September 1938
hat Hitler mit erhobener Stimme die Forderung nach Eingliede-
rung des Sudetenlandes in das Großdeutsche Reich als seine
''letzte territoriale Forderung in Europa" bezeichnet. Diese vor
dem ganzen deutschen Volk und der Welt feierlich abgegebene
Versicherung ist schon ein halbes Jahr später gebrochen worden,
als Hitler die Abgesandten des tschechischen Volkes unter An-
drohung eines Bombenangriffes auf Prag dazu brachte, den Rest

40
der Tschechoslowakei ''unter den Schutz des deutschen Volkes"
zu stellen. Ist es niemandem von euch, die ihr doch sonst in
Ehrenangelegenheiten so empfindlich seid, zum Bewußtsein ge-
kommen, daß hier ein eklatanter Wortbruch vorlag? Ein Wort-
bruch, begangen von einem Mann an erster Stelle des Deutschen
Reiches und begangen in einer Angelegenheit, die über das Schick-
sal eines ganzen Volkes entschied!
6. Ist es euch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß mit dem
Schlagwort das ''uns aufgezwungenen Krieges" die Schuld an
einem Monsterverbrechen in feiger Weise auf einen anderen ab-
gewälzt werden sollte? Die Reden und die Taten der beteiligten
Staatsmänner haben eindeutig genug gezeigt, daß der zweite Welt-
krieg e i n K a m p f d e r d e n K r i e g g r u n d s ä t z l i c h
bejahenden Mächte gegen die den Krieg grund-
s ä t z l i c h v e r n e i n e n d e n M ä c h t e war. Einige charak-
teristische Aussprüche führender Männer der Achsenmächte haben
wir schon im Kapitel 1 zitiert. Wer Hitlers Buch aufmerksam
gelesen hat, mußte klar erkennen, daß solche Aussprüche nicht
bloß vorübergehende Aufwallungen des Temperamentes waren,
sondern eben gerade dem eigentlichen Wesen dieser Leute ent-
sprachen. Hitler war schon als „junger Wildfang", wie er sich
selbst nannte, über nichts mehr betrübt, als in einer Zeit des
friedlichen Wettbewerbes der Völker leben zu müssen („Mein
Kampf", S. 172), und er fragt vorwurfsvoll, warum er nicht
hundert Jahre früher, zur Zeit der Befreiungskriege, geboren .sein
konnte. Bei der Nachricht vom Thronfolgermord am 29. Juni
1914 hat er nur die Befürchtung, daß Österreich am Ende einem
bewaffneten Konflikt ausweichen könnte (S. 178), und über seine
Empfindungen beim Kriegsausbruch sagt er (S. 177): „Ich schäme
mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von
stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem
Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück
geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen." Als dann anderer-
seits im Herbst 1918 der Massenmord ein Ende nimmt, tobt er
vor Empörung und nennt die Leute, die zum Waffenstillstand

41
rieten, ''elende und verkommene Verbrecher" (S. 224). Und
Hermann Göring erklärte am Schluß seiner Kadettenlaufbahn:
''Wenn ich Offizier werde — und das werde ich bestimmt —
muß es auch gleich Krieg geben. Ich will mich auszeichnen und
will noch mehr Orden kriegen als der Papa."*)
Über die entsprechenden Aussprüche von Mussolini vergleiche
Kapitel 3.
Sind das nun unüberlegte Worte dummer Jungen geblieben,
oder haben die Männer auch danach gehandelt? Wer war in all
den Kriegen seit 1930 der Angreifer? Sind die Chinesen in
Japan eingefallen oder die Japaner in China? Sind nicht die Ja-
paner schon 1932 in die Mandschurei und 1937 in das chinesische
Hoheitsgebiet eingedrungen? Haben die Abessynier Italien über-
fallen oder die Italiener Abessynien? Hat nicht Japan, Italien
und seit 1935 auch Deutschland in ungeheurem Maße aufgerüstet,
während alle anderen Länder mit ihrem Rüstungsstand weit zu-
rückgeblieben sind? Kein einziger Nachbarstaat hatte irgend einen
Anspruch auf deutsches Gebiet erhoben, aber Hitler ist der Reihe
nach in Österreich, Tschechoslowakei, Polen, Belgien, Holland,
Dänemark, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland und Rußland
eingefallen. Italien hatte schon vorher von Albanien Besitz er-
griffen und die Japaner haben heimtückischerweise einige Stunden
vor dem Abbruch der diplomatischen Verhandlungen ihren Groß-
angriff auf Pearl Harbour ausgeführt. Die Führer selbst haben
also in Wort und Tat niemals den geringsten Zweifel darüber
gelassen, daß sie das Kriegführen zu den wesentlichen Willens-
und Lebensäußerungen der Nationen rechnen, während die demo-
kratischen Länder durch den Kellog-Pakt den Krieg ausdrücklich
geächtet haben. Nur um einen Krieg zu vermeiden, sind sie vor
den ungestümen Gewaltakten Hitlers im März und September
1938 und im März 1939 immer wieder nachgiebig zurückgewichen
und haben erst dann zu den Waffen gegriffen, als alle Versuche
*) Zitiert nach „Hermann Göring, Werk und Mensch" von Erich Gritzbach.
Zentralverlag der NSDAP, Franz Ehers Nachfolger, München, 43. Aufl. 1943,
S. 232.

42
zu einer friedlichen Beilegung des Polenkonfliktes an der Hals-
starrigkeit Hitlers gescheitert waren.*)
Angesichts dieser Tatsachen, die nicht erst durch Geheim-
dokumente enthüllt werden mußten, sondern offen vor aller
Welt geschahen und ,sogar dem sonst ängstlich von den welt-
politischen Nachrichten abgesperrten deutschen Volk zugänglich
waren, mußte doch jeder rechtlich denkende Mensch die Phrase
von dem ''uns aufgezwungenen Kriege" als eine faustdicke und
unverschämte Lüge empfinden — ihr aber, ihr deutschen Intellek-
tuellen, habt sie gläubig und unkritisch hingenommen und habt
euch damit in fahrlässiger Weise zu Mitschuldigen an dem
großen Verbrechen gemacht!
7. Ist es euch nie aufgefallen, daß Hitler bei der Vorbereitung
einer geplanten ''Machtübernahme" immer ganz stereotyp nach
dem gleichen Rezept vorgegangen ist? Man errege in jenem Ge-
biet, das man zu erobern gedenkt, oder innerhalb jener politischen
Gruppen, die man bekämpft, dauernd Unruhe und Unsicherheit,
man erhebe ferner mit dem ganzen Propagandaapparat ein hyste-
risches Geschrei über die entsetzlichen Zustände und über die
Deutschenverfolgungen in dem betreffenden Gebiet, bis die
inneren Spannungen unerträglich werden und zum bewaffneten
Eingreifen zwingen. Nach erfolgter Besetzung des betreffenden
Gebietes werden sofort alle, die unter dieser Maßnahme zu
leiden hatten, mundtot gemacht, während jene, die durch den
Umsturz profitierten, der Welt laut erzählen dürfen, daß nunmehr
paradiesische Zustände eingetreten seien. Nach diesem Rezept
wurde in kleinerem Maßstabe schon vor der Machtergreifung
innerhalb Deutschlands gearbeitet, nach 1933 dagegen ganz ziel-
*) Auch ohne Kenntnis des sehr aufschlußreichen Tagebuches Hendersons
über die Vorgänge im Sommer 1939 konnte ein Unbefangener aus den offiziel-
len Dokumenten des deutschen auswärtigen Amtes, die Ende 1939 in Form
eines Weißbuches erschienen sind, allein schon deutlich genug erkennen, wie
sehr die britischen und französischen Diplomaten Hitler wie einem Kranken zu-
redeten, zur Besinnung zu kommen. Alle diese Bemühungen waren an dem
Größenwahn Hitlers und an dem Umstand gescheitert, daß der Überfall auf
Polen schon im Frühsommer 1939 eine fest beschlossene Tatsache war.

43
bewußt und in größtem Maßstabe in Österreich. Es begann mit
der wirtschaftlichen Abdrosselung Österreichs, Sperre der Holz-
importe aus den österreichischen Alpenländern, dann kam die
totale Hemmung des Reiseverkehrs durch die Tausendmarksperre,
die Förderung der politischen Verhetzung und aller unruhe-
stiftenden Elemente in Österreich, Ermunterung zu Sabotage-
und Terrorakten, wie Bombenattentate, Sprengung elektrischer
Überlandleitungen, Zerstörung von Wasserkraftanlagen usw. Und
wenn die Polizei eingriff, so schrien die Naziblätter im Reich
über die unerhörten Verfolgungen, denen die „nationalbewußten
Deutschen" in dem von „Schwarzen, Roten und Juden beherrsch-
ten Schuschnigg-Staat" ausgeliefert seien! Auf diese Weise ist
Österreich mürbe und sturmreif gemacht worden und, als nach
dem März 1938 der Würgegriff gelockert wurde und äußerlich
wieder Ruhe und Ordnung eintrat, konnten die naiveren unter
den Österreichern sich in der Illusion wiegen, sie seien erlöst und
befreit worden.
Nachdem diese Methode sich in Österreich so bewährt hatte,
daß sie zum vollständigen Sieg des Hitlertums führte, fand sie
ein halbes Jahr später im Sudentenland, ein Jahr später in
Böhmen und anderthalb Jahre später in Polen Anwendung, bis
schließlich der Krieg ausbrach. Jene Leute, die diese Methode
schon einmal zu beobachten Gelegenheit hatten, wie zum Bei-
spiel die Österreicher, hätten eigentlich schon beim zweiten und
dritten Mal das Spiel durchschauen müssen. Aber die Mehrzahl
war so verblendet, daß sie selbst nach der x-ten Wiederholung
allen Ernstes noch glaubten, man müsse den bedauernswerten
Auslandsdeutschen zu Hilfe kommen, um sie vor der Vernichtung
zu schützen. Dabei gab es während der ganzen Zeit nach 1918
überhaupt nur eine Gruppe von Auslandsdeutschen, die wirklich
grausam vergewaltigt und geknebelt wurden, und das waren die
unglücklichen Bewohner von Südtirol, wo unter der Tyrannei des
italienischen Faschismus tatsächlich alles deutschsprachige Öster-
reichertum ausgerottet werden sollte!
Die Zahl der anklagenden Fragen ließe sich noch weiter ver-

44
mehren; wir wollen uns aber damit nicht aufhalten, sondern
neben der moralischen Seite der Frage noch die realpolitische
streifen. Man findet unter den Nationalsozialisten oft Leute,
die Vernunftgründen durchaus zugänglich sind und die jetzt, da
sie einen gewissen Einblick hinter die Kulissen des Dritten
Reiches gewonnen haben, auch selber über manche der Schand-
taten der Nazis empört sind. Dennoch glauben sie, die Person
Hitlers verteidigen zu müssen, und zwar ungefähr mit der fol-
genden Begründung:
''Was immer man über die moralischen Defekte des Hitler-
Regimes sagen mag — über allem bleibt die Tatsache bestehen,
daß der Führer in den Jahren nach der Machtergreifung das
deutsche Volk aus dem Elend der Nachkriegsjahre herausgeführt
hat und daß er die Ehre, die Wehrfreiheit und das Selbstbewußt-
sein der deutschen Nation wieder hergestellt hat. Die der Schule
oder der Hochschule entwachsenen jungen Männer Deutschlands
befanden sich vor 1933 ohne Aussicht auf Arbeit und Anstellung
in einer völlig hoffnungslosen Lage, während nach 1933 die
Arbeitslosigkeit in kürzester Zeit behoben war und eine unge-
ahnte Prosperität auf allen Gebieten einsetzte. Wer dieses
''deutsche Wunder" miterlebt hat, wer nach Jahren der Stagna-
tion und der Hoffnungslosigkeit wieder alle Schornsteine rauchen
und alle Werkstätten in Betrieb sah, in dem mußte ein Gefühl
des Glaubens und der Dankbarkeit gegenüber jenem Mann auf-
kommen, der wie durch einen Zauber all dies in kürzester Zeit
zustande gebracht hat."
Zu diesem Plaidoyer zugunsten Hitlers ist zunächst zu be-
merken, daß die sogenannte ''Ehre und Wehrfreiheit" der Nation
zu den eingebildeten Werten gehören, mit denen wir uns an einer
anderen Stelle noch ausführlich und kritisch auseinandersetzen
werden. Gerade der von manchen Seiten im Inland als so ehren-
voll empfundene Triumph der Waffengewalt ist vom Ausland her
ganz entgegengesetzt beurteilt worden und kaum je vorher in der
Geschichte hat die Ehre und das Ansehen Deutschlands in der
ganzen Welt mehr Schaden gelitten als unter Hitler.

45
Nicht so ohneweiters aber ist das Argument der Prosperität
abzutun. Wenn man vom lykurgisch-macchiavellistischen Stand-
punkt ausgeht: Salus et decus populi suprema lex esto (Das Heil
und die Ehre der Nation soll das oberste Gesetz sein), dann ist
natürlich die Beseitigung des Gespenstes der Arbeitslosigkeit
und die Tatsache, daß ungezählte Millionen von Volksgenossen
aus einem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit in materiell ge-
sicherte Stellungen emporgehoben wurden, ein Faktum, an dem
man nicht blind vorübergehen darf. Und ich selbst, der Verfasser
dieses Buches, muß offen sagen, daß ich trotz (oder vielmehr
gerade wegen) meiner im Jahre 1938 erfolgten Vertreibung von
der Wiener Universität dank der industriellen Hochkonjunktur
— und zum Teil auch dank dem einsichtsvollen Verständnis
meiner neuen Arbeitgeber — ein Leben führte, das hinsichtlich
Schaffensmöglichkeit, Bewegungsfreiheit und Einkommen eher
schöner war als die ohnedies gar nicht so üble langjährige Lauf-
bahn als Vorstand eines Wiener Universitätsinstitutes.
Man kann auch tatsächlich nicht mit einem einzigen schlag-
kräftigen Argument die Behauptung vom ''großen Verdienst"
Hitlers um das wirtschaftliche Aufblühen Deutschlands wider-
legen. Aber es gibt eine Reihe von Einzelfaktoren, die man un-
bedingt mit in Betracht ziehen muß und die in ihrer Gesamtheit
zu einer wesentlichen Verschlechterung unseres Urteils auch hin-
sichtlich der positiven Leistungen dieses Mannes führen müssen.
Es handelt sich hier um folgende Tatsachen:
1. Der augenfällige Wandel, der sich im deutschen Wirtschafts-
leben mit der Machtergreifung Hitlers 1933 und in den darauf-
folgenden Jahren vollzog, war nicht etwa der Übergang in einen
besonders gesegneten Zustand, sondern vielmehr der Übergang
aus einem besonders üblen in einen mittelmäßigen Zustand. Die
Prosperität im Dritten Reich war keineswegs besser als jene, die
nach Überwindung der Weltwirtschaftskrise ungefähr um die
gleiche Zeit auch in anderen Ländern Europas, namentlich im
Westen und Norden des Kontinents und in England einsetzte.
Und der vorangegangene, besonders schlechte Zustand war außer

46
auf die Nachwirkung des Krieges, auf die schweren Mängel des
Versailler Vertrages und die damit im Zusammenhang stehende
Weltwirtschaftskrise, nicht zuletzt doch auf die Umtriebe der
Nazis selber zurückzuführen. Denn die von Hitler ausdrücklich
gewollte „fanatische, ja hysterische Leidenschaft" seiner Politik
hatte seit dem Ende der Zwanziger Jahre in Deutschland eine Art
chronischen Fieberzustand geschaffen. Regierungskrisen, Reichs-
präsidentenwahl, mehrere aufeinanderfolgende Reichstagswahlen
samt den dazugehörigen Propagandafeldzügen und dazwischen
immer die das Volk aufpeitschenden Reden Hitlers, die Reichs-
parteitage, ständige Drohungen mit Gewalt und Diktatur, Akte
der Brachialgewalt der SA, im Hintergrund das Gespenst des
Bolschewismus, ins Fratzenhafte entstellt im Spiegel der Hitler-
Propaganda — all dies inmitten einer ohnedies schon genügend
schlimmen Weltwirtschaftskrise schuf einen Zustand, in dem
alle private Wirtschaftsinitiative aus Mangel an Vertrauen auf
stabile Weiterentwicklung erlahmen mußte.
Mit der Machtergreifung Hitlers ist im Jahre 1933 ein zwar
nicht allen Bevölkerungsteilen willkommener, aber aller Voraus-
sicht nach doch dauerhafterer und stabilerer Zustand eingetreten
als der frühere, in dem die Regierungen Brüning, Papen und
Schleicher einander in rascher Folge ablösten und in dem fort-
während die Gefahr des Zusammenbruches der staatlichen Ord-
nung unter den Drohungen der Nazis und Kommunisten
bestand. Wenn in einer Menschengruppe der wildeste Krakeeler
zum Anführer gemacht wird, dann wird jedenfalls innerhalb der
Gruppe mehr Ruhe herrschen als vorher, solange dieser Kra-
keeler mit dem jeweiligen Anführer im Streite lag — während
die kriegerischen Verwicklungen mit den außerhalb der Gruppe
Stehenden erst später zutage treten. Der zweite Unruheherd
in Deutschland, die kommunistische Partei, wurde mit Hilfe
des geschickten Tricks des Reichstagsbrandes wenige Wochen nach
der Machtergreifung durch Auflösung mittels Notverordnung un-
schädlich gemacht, so daß nach Wegfallen der beiden ernstlichen
Störungsquellen im Reich auf einmal Ruhe herrschte. Diese Ruhe

47
und die darauf gegründete Aussicht auf Stabilität und Kontinui-
tät der deutschen Innen- und Außenpolitik und hiezu noch eine
frisch-fröhliche Finanzpolitik des Reiches, die weder mit Fragen
der Abzahlung älterer Schulden noch mit dem Problem der
Währungsdeckung ihr Gewissen belastet fühlte — diese Faktoren
trugen viel dazu bei, daß der seit der Weltwirtschaftskrise er-
lahmte Unternehmungsgeist der deutschen Industrie wieder er-
wachte. Dazu kam dann noch die Nachhilfe durch staatliche Len-
kung der Wirtschaft, wobei ja die Regierung Hitler ihre Ellbogen-
freiheit voll ausnützen konnte, weil sie nach der Zuerkennung
voller diktatorischer Gewalt durch den sich selbst entthronenden
Reichstag niemandem mehr verantwortlich war.
2. Es ist mehr aLs zweifelhaft, ob das Dritte Reich in ökono-
mischer Hinsicht ein reelles und solides Unternehmen war, das
ohne Krieg und ohne Vergewaltigung seiner Nachbarn in gleicher
Weise beliebig lang hätte weiter wirtschaften können. Wahr-
scheinlich ist vielmehr, daß bald nach 1933 eine Wirtschafts-
politik betrieben wurde, bei der bereits der Ertrag späterer Er-
oberungen im voraus eskomptiert wurde. In den Jahren 1933 bis
1938 hatte sich zwar die gewaltsame Aneignung fremden Eigen-
tums durch den deutschen Staat im wesentlichen noch auf die
Vermögen von Juden und von einzelnen politischen Gegnern
beschränkt. Aber seit dem Einmarsch in Österreich sind einige
ausgiebige Beutezüge gelungen, die wertvolle Schätze aus den
Nachbarländern in das Reich einbrachten. Während des ganzen
Krieges hat dann das deutsche Volk die Rolle einer großen
Räuberfamilie gespielt, die selbstverständlich in ganz guten Ver-
hältnissen lebte. Und nun, da ihr das Handwerk gelegt wurde,
tritt natürlich bittere Not ein; aber es wäre verblendete Naivität,
die Schuld an dieser Notlage den bösen Feinden in die Schuhe zu
schieben und Adolf Hitler zu preisen, unter dessen Herrschaft
man ein relativ paradiesisches Dasein geführt hatte. Denn ein
Zustand, in dem ein ganzes Volk einen erheblichen Teil seines
Lebensbedarfes aus Raubzügen und Eroberungen deckt, war in
früheren Jahrhunderten, etwa zur Zeit Attilas oder Dschingis

48
Khans noch möglich, kommt aber heute nicht mehr in Frage.
Jener nicht geringe Anteil an der industriellen Hochkonjunktur
des Dritten Reiches, der auf das Konto der Aufrüstung kam,
darf deswegen Hitler nicht als Verdienst angerechnet werden.
Denn dieser Anteil trug zwar für den Augenblick und dem An-
scheine nach zum Wohlstand des deutschen Volkes bei, konnte
aber auf die Dauer nicht nützlich und reell zugleich sein. Denn
entweder es gab keinen Krieg, dann waren die ungeheuren Aus-
gaben (90 Milliarden Reichsmark nach Hitlers eigener Aussage
in der Reichstagsrede vom 1. 9. 1939) unproduktiv hinausge-
worfenes Geld, oder es gab Krieg und es trat eine Rentabilität
ein — dann aber nur infolge eines gigantischen Raubzuges, wie
es ja in der ersten Phase dieses Krieges auch tatsächlich der
Fall war.
3. Auch abgesehen von den rein militärischen Vorbereitungen
war die wirtschaftliche Gebarung des Dritten Reiches nicht auf
dauerhaftes und friedliches Zusammenarbeiten innerhalb der irdi-
schen Völkerfamilie abgestellt. Die Gewaltpolitik gegenüber
Juden und politischen Gegnern in Deutschland verursachte im
Ausland, namentlich in Amerika, eine Boykottbewegung gegen
deutsche Waren und als Antwort auf diesen Boykott wurde in
Deutschland wiederum der Versuch eines durch Ausfuhrprämien
forcierten Exportes gemacht, mit andern Worten: Die deutschen
Waren sollten sich im Ausland trotz der politischen Schwierig-
keiten durch ihren billigen Preis durchsetzen. Durch diese Dum-
pingpolitik hat sich einerseits die deutsche Industrie ähnlich wie
die japanische als ein mit unfairen Mitteln arbeitender Konkurrent
in d er W e lt miß li e b ig g e ma c h t u n d a u ß e r d e m z ä hl te z u
den Leidtragenden dieser Politik ein nicht unerheblicher Teil des
deutschen Proletariates. Denn auf Grund der Einführung des so-
genannten Zusatz-Ausfuhrverfahrens (Z. A. V.) wurden mit der
Zeit Ausfuhrprämien bis zu 80% der Handelswerte der Ware
bewilligt. Wenn also z. B. vor Einführung dieser Maßnahme für
eine bestimmte Ware Devisen eingingen, für die man zehn Sack
kanadischen Weizen einkaufen konnte, so sanken nachher die

4 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler

49
Deviseneingänge für die gleiche Ware bis auf zwei Sack Weizen.
Das bedeutete sinkenden Wert der deutschen Arbeitskraft auf
dem Weltmarkt und diese Tatsache mußte weiter zu einer Sen-
kung der Kaufkraft im Inland führen. Mit anderen Worten, der
Realwert der Löhne und der Gehälter sank, und diese Senkung
mußte sich natürlich bei den ärmsten Teilen der Bevölkerung,
deren Einkommen ohnedies schon nahe dem Existenzminimum
lag, am stärksten bemerkbar machen.
4. Die zuletzt genannte Gruppe von Leidtragenden der national-
sozialistischen Wirtschaftspolitik war nicht die einzige, die die
Schattenseiten des Systems zu verspüren bekam. Denn ein Teil des
''deutschen Wunders" bestand ja nur in einer Art Suggestiv-
therapie, indem die Nazipropaganda dem deutschen Volke so
lange einredete, daß es ihm besser ginge, bis es wirklich geglaubt
wurde. In Wirklichkeit war es natürlich ganz unmöglich gewesen,
die Schäden des verlorenen Krieges und der Wirtschaftskrise in
so kurzer Zeit wieder gut zu machen, und deswegen mußte eine
Hebung der Lebensverhältnisse irgend einer Gruppe von Leuten
mit entsprechenden Senkungen auf der anderen Seite erkauft
werden. Wer aber über das Monopol der Beeinflussung der
öffentlichen Meinung durch Presse, Rundfunk und Film verfügt,
kann leicht Wundertaten vollführen, denn er braucht ja immer
nur jene zu Wort kommen lassen, denen es besser geht, und jene
mundtot machen, denen etwas oder alles weggenommen wurde.
Zum Wunder der Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Deutsch-
land trug ja auch der Umstand bei, daß Hunderttausende von
Juden und politischen Gegnern postenlos wurden, umkamen oder
in Konzentrationslagern schmachteten, ohne daß ihre Klagen je
die Öffentlichkeit erreichen konnten. Man nehme einem Teil der
Bevölkerung, der rechtzeitig stumm gemacht wurde, alles weg und
versorge mit den erbeuteten Posten und Vermögenswerten jenen
anderen Teil, der allgemein den Mund aufmachen darf, dann kann
man leicht den Anschein erwecken, Retter der Nation zu sein!
All diese Umstände, die das Verdienst Hitlers um das
''deutsche Wunder" wesentlich schmälern, hätten von jedem

50
kritisch Denkenden ohne sonderliche Schwierigkeiten erkannt
werden müssen, und in einem demokratischen Staat wie England
hätten sie auch sicher den Gegenstand lebhafter öffentlicher
Debatten gebildet. Aber in Deut schland hatte der Geist von
Köpenik die Mehrheit des Volkes verblendet und der sehend ge-
bliebene Rest war unter Androhung furchtbarer Strafen zum
Schweigen verurteilt worden. So kam es, daß die ganze Schwere
der Verbrechen Hitlers einem großen Teil des deutschen Volkes
selbst niemals je so richtig zum Bewußtsein gekommen ist und
daß viele Leute bis zum heutigen Tage der Meinung geblieben
sind, der Haß der Feinde Deutschlands sei in erster Linie eine
Folge des Konkurrenzneides; die „Tüchtigkeit" des deutschen
Volkes habe letzten Endes England dazu gebracht, an Deutsch-
land den Krieg zu erklären. Diese weitverbreitete Meinung ist
absolut irrig, denn jeder Sehende muß sich doch sagen, daß die
Amerikaner gewiß auch nicht untüchtig sind und daß sie eine viel
ernstere Konkurrenz Englands auf politischem und wirtschaft-
lichem Gebiet bedeuten als Deutschland. Und dennoch ist zwischen
England und den USA, seitdem diese ihre Unabhängigkeit er-
rungen hatten, kein Krieg ausgebrochen und es wird auch keinen
Krieg mehr zwischen diesen beiden Nationen geben! Der Grund
zur Kriegserklärung Englands am 3. September 1939 lag in dem
ungezügelten Macchiavellismus Hitlers, von dem wir vorhin
einige Beispiele angeführt hatten. Schließlich waren die Engländer
ja nicht blind und taub und es konnte ihnen auf die Dauer nicht
unbekannt geblieben sein, daß in den öffentlichen Schulen
Deutschlands in den Jahren 1938 und 1939 von Geschichtslehrern
den Kindern die Mission Deutschlands als Herrschernation ver-
kündet wurde und daß man die Jugend inbesondere dahin be-
lehrte, Deutschland müsse in den nächsten Generationen zu
einem Zweihundertmillionenvolk anwachsen, dessen Ostgrenze am
Ural liegen werde. Diese Ankündigung zusammen mit ähnlich
lautenden programmatischen Thesen aus Hitlers Buch und zu-
sammen mit der gigantischen Aufrüstung und mit den in die Tat
umgesetzten Vorstößen im März 1938, im September 1938 und

51
im März 1939 ließen keinen Zweifel mehr übrig, daß die Politik
des Dritten Reiches hemmungslos und unersättlich war und daß
nach dem völligen Fehlschlagen der durch das Münchener Ab-
kommen gekrönten Politik des Nachgebens nur ein bewaffneter
Widerstand Europa vor der Versklavung retten konnte.
Aber ein durch den Geist von Köpenik verblendetes und zudem
von der Goebbels-Propaganda narkotisiertes Volk konnte das
nicht verstehen und viele Leute wurden im Dritten Reich nicht
nur blind gegenüber dem Unrecht, sondern auch blind gegenüber
den Tatsachen: Sie hatten bis zum Schluß völlig irrige Vorstel-
lungen von der Kriegslage, gaben sich illusorischen Siegeshoff-
nungen hin und im Vertrauen auf den Führer, „der es schon
machen wird", glaubten sie an alle Märchen von den Wunder-
waffen und vom bevorstehenden Zerwürfnis der Alliierten, bis
schließlich mit dem Zusammenbruch im Mai 1945 ein jähes Er-
wachen aus all diesen Illusionen und Wunschträumen einge-
treten ist.
Jene vielen, die heute nur das harte Los vor Augen haben, das
so gut wie alle Deutschen durch das Nachkriegselend und die
Reparationsverpflichtungen treffen wird, müssen sich darüber klar
sein, daß eine große Zahl ihrer Landsleute durch die Gewissen-
losigkeit ihres Macchiavellismus und durch ihre fahrlässige
Kritiklosigkeit eine furchtbare Schuld auf sich geladen haben. Sie
dürfen nicht übersehen, daß infolge der vom deutschen Volk ge-
duldeten und von den Sprechern des Volkes gutgeheißenen
Freveltaten ihrer Führer unzählige Menschen umgekommen sind
und daß darüber hinaus noch viel mehr Millionen Lebender in
Elend und Unglück gestürzt worden sind. Wer das nicht einsieht,
wer sich nicht in die Lage der Sieger hineindenken kann, denen
der Krieg wirklich aufgezwungen worden war, dem wird das Ver-
halten der ehemaligen Feindmächte in den kommenden Jahren
ständig ein Rätsel bleiben, er wird nach Art eines Psychopathen
hilflos und verständnislos seiner Umwelt gegenüber stehen.
Und eines dürft ihr nicht übersehen, ihr eingefleischten
Macchiavellisten: Heute, da der Faschismus nicht nur moralisch,

52
sondern auch materiell Schiffbruch gelitten hat und militärisch
knock out geschlagen wurde, ist es kein sonderliches Verdienst
mehr, über Hitler den Stab zu brechen und das Frevlerische
seines Tuns einzusehen. Wer von euch hätte aber den Mut und die
Kraft gehabt, einem siegreichen Hitler gegenüber die von ihm
mit Füßen getretenen Menschenrechte zu verteidigen? Natürlich
konnte zur Zeit der Gestapoherrschaft niemand in Deutschland
daran denken, einen offenen Aufstand anzuzetteln. Aber die
meisten von euch waren entweder zu feig oder zu gedankenlos
oder zu sehr vom macchiavellistischen Geist durchdrungen, um
sich auch nur innerlich gegen die Rechtsbrüche und Wortbrüche
Hitlers aufzubäumen. Hätte er gesiegt, so hättet ihr bei seinem
Einzug durch das Brandenburger Tor jubelnd Spalier gestanden
und hättet euch den Teufel darum geschert, daß die Welt der
Tyrannis eines Psychopathen und seiner verbrecherischen
Helfershelfer ausgeliefert gewesen wäre!
Das deutsche Volk hat zweifellos eine Periode hinter sich, in
der sein durch Generationen gezüchteter Militarismus durch den
Geist eines Hitler auf die Spitze getrieben worden war. Damit
die vielen guten Eigenschaften, die zweifellos in ihm stecken,
wieder zum Vorschein kommen und ihm dazu verhelfen, den ihm
gebührenden Platz unter den zivilisierten Nationen einzunehmen,
muß das Volk der Dichter und Denker erst wieder einmal
denken lernen.
Ein Teil von den Erkenntnissen, die zum Nachdenken anregen
können, ist in den nächsten Kapiteln enthalten.

53
Kapitel 5
D i e S t e l l u n g d e r M e n s c h h e i t im W e l t a l l

Das allmähliche Erwachen unserer Erkenntnisse über die


Stellung der Menschheit zum Weltall und zu seinem Schöpfer
vollzieht sich — wenn auch in viel langsamerem Tempo — ähn-
lich wie die Entwicklung der Vorstellungen des Einzelmenschen
von seiner Umwelt. Erinnern wir uns daran, wie klein und eng
dem eben erwachenden Kinderverstand die Welt ist; sie reicht
kaum über das unmittelbare Blickfeld des Kindes hinaus, ihre
Einwohnerschaft besteht aus der Familie und den nächsten Be-
kannten. Und die Sorge des lieben Gottes, mit dem man auf du
und du steht und der eine Art höherer Großpapa darstellt, ist
vorwiegend auf das Wohlergehen jener Nächsten gerichtet; das
Christkind hat einen ganzen Nachmittag nur allein mit der Be-
scherung unserer eigenen Familie zu tun. Erst allmählich weitet
sich das Blickfeld und je größer das Kind wird, desto mehr
schrumpft seine eigene Rolle im Vergleich zur Umwelt zusammen.
Die ontologische Entwicklung unseres Geistes führt also zu einer
fortwährenden Verkleinerung der Rolle, die das eigene Ich im
Weltgeschehen spielt.
Betrachten wir nun die zugehörige Parallelerscheinung in der
Entwicklung der Menschheit. Im Mittelpunkt der Welt des Alter-
tums stand die als Scheibe vorgestellte Erdoberfläche, die un-
geheuer groß und mächtig erschien, während Sonne, Mond und
Sterne im wesentlichen nur die Rolle der zugehörigen Beleuch-
tungskörper spielten. Und der Mensch war selbstverständlich die
Krone der Schöpfung und wurde als Ebenbild Gottes geschaffen
— was darauf hinauslief, daß die Phantasie des Menschen sich

54
Gott nach seinem Ebenbild schuf. Der Ursprung aller großen
Religionen der Erde stammt nun aus der Epoche dieses durch
und durch anthropozentrischen Weltbildes, an dem die über-
wiegende Mehrheit aller Menschen noch durch mehr als ein Jahr-
tausend festgehalten hat. Wenn wir von einigen Vorläufern aus
der Blütezeit das Hellenentums absehen, ist erst in der Neuzeit
jene Weitung des Blickfeldes eingetreten, die die Erde zu dem
Staubkorn im Weltall zusammenschrumpfen ließ, als das wir sie
heute klar erkannt haben. Der erste Schritt wurde um die Wende
des 15. Jahrhunderts getan, als Kopernikus die schon von ein-
zelnen Griechen vorausgeahnte Erkenntnis gewann, daß die Erde
als ein den übrigen Planeten gleichgeordneter Trabant die
Sonne umkreist. Man hat damals auch schon bald erkannt, daß
die Dimensionen aller Planeten einschließlich der Erde sehr klein
sind gegenüber jenen der Sonne, und hat auch hin und wieder
ausgesprochen, daß diese selbst ein Objekt ist, das den Fixsternen
gleichgeordnet ist.
Zweiter Schritt: Mit der Entwicklung der Technik der Fern-
rohre drang der menschliche Blick immer tiefer in die Weiten
des Weltraums ein und entdeckte dabei immer neue Wunder. Was
man mit freiem Auge nur als einen undeutlich verschwommenen
kleinen Fleck sieht, wie z. B. den Andromedanebel, entpuppt sich
im Fernrohr, besonders aber auf Himmelsphotographien als ein
vielgegliedertes Etwas, das so ähnlich wie ein Brei, den man gerade
umrührt, eine wirbelartige, spiralige Struktur aufweist und dabei
tausenderlei feine Details in Form heller und dunklerer Flecken
enthält. Man hat diese Gebilde nach ihrer Form als S p i r a l -
n e b e l bezeichnet. Im 18. Jahrhundert dämmert wohl in meh-
reren Köpfen zugleich, unter anderem vor allem im Geiste des
Astronomen William H e r s c h e l und des Philosophen Immanuel
Kant, die neue wichtige Erkenntnis auf: Alle Fixsterne, die wir
mit freiem Auge sehen können und noch viele andere dazu, bilden
in ihrer Gesamtheit unser Milchstraßensystem, eine Art Sternen-
wolke von mehreren Milliarden Einzelsternen, eine Welteninsel,
außerhalb derer sich ein weithin fast sternenleerer Raum er-

55
streckt. Aber in unermeßlicher Ferne, außerhalb unserer eigenen
Sternenwolke, des Milchstraßensystems, gibt es noch andere der-
artige Sternwolken, nämlich die eben erwähnten Spiralnebel, von
denen der nächste eben noch mit freiem Auge als verwaschener
Nebelfleck wahrgenommen werden kann, während die modernen
Spiegelteleskope die Existenz von ein bis zwei Millionen weiterer
solcher Objekte im Sichtbereich aufdeckten. Man könnte unser
Sonnensystem, bestehend aus einem Zentralkörper und den um
ihn kreisenden Planeten und deren Trabanten, den Monden, als
eine Sternfamilie bezeichnen, dann wäre das Milchstraßen-
system mit einem Staat zu vergleichen. Während aber die Zahl
der menschlichen Staaten auf der Erde etwa von der Größen-
ordnung hundert ist, geht die Zahl der Sternstaaten, nämlich der
Spiralnebel, in die Millionen.
Dritter Schritt: Während im 18. Jahrhundert die Schätzungen
über die Entfernungen im Weltall und über die Größenverhält-
nisse der Fixsterne und der Spiralnebel noch sehr roh waren, hat
die astrophysikalische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts
die Methoden zu einer genaueren und ziemlich verläßlichen
Messung der Entfernungen und der Durchmesser der Fixsterne
geliefert, mit dem Ergebnis, daß wir uns jetzt über die Rolle, die
die Erde im Weltall spielt, völlig im klaren sind, Der Schauplatz
der menschlichen Tätigkeit, die Erdoberfläche mit rund 500 Mil-
lionen Quadratkilometern, mag uns Menschen im Vergleich zur
Perspektive des Alltagslebens gigantisch erscheinen, er ist aber
verschwindend klein im Vergleich zum Ausmaß der übrigen Dinge,
die wir im Weltall beobachten. Schon unser nächster Fixstern,
die Sonne, ist ein Körper, dessen Oberfläche rund zwölftausend-
mal größer ist als jene der Erde. Sein Rauminhalt ist mehr als
eine Million mal so groß wie das Erdvolumen. Die Energie, die
von der Sonne in Form von Strahlung in den Weltraum aus-
gesendet wird, ist so groß, daß man ungefähr jeden fünften Tag
eine Anthrazitkugel von der Größe der ganzen Erde verheizen
müßte, um diese Energiemenge durch Verbrennungswärme zu
decken. Dabei wissen wir heute schon, daß die Sonne zu den so-

56
genannten Zwergen unter den Sternen zählt; es gibt Riesen-
sterne, deren Strahlung mehrere hunderttausendmal stärker ist
als jene der Sonne und deren Volumen mehrere millionenmal
größer ist als das Sonnenvolumen. Stellen wir uns die Oberfläche
der Erde so verkleinert vor, daß sie die Größe eines Pfennig-
istückes erreicht, dann wäre im selben Maßstab die Sonnenober-
fläche gleich jener eines größeren Eßtisches, dagegen die Ober-
fläche eines der Riesensterne so groß wie der Flächeninhalt
einer Kleinstadt. Denken wir uns z. B. die Beteigeuze (das ist
jener rötliche, helle Stern links oben im Sternbild des Orion) an
Stelle der Sonne in den Mittelpunkt unseres Planetensystems ge-
stellt, dann würde die ganze Erdbahn noch völlig im Inneren
dieses Riesensternes laufen.
Alle diese ungeheuren Objekte sind aber selbst wieder nur
winzige Pünktchen innerhalb der unvergleichlich größeren Ge-
bilde der Spiralnebel oder Milchstraßensysteme. Unser vorhin
gebrauchter Vergleich mit Familie und Staat stimmt insofern
nicht, als die Zahl der Einzelindividuen bei den Himmelsobjekten
viel größer ist. Irdische Großstaaten enthalten rund hundert
Millionen Einwohner, aber die Zahl der Einzelsterne in unserem
Milchstraßensystem (das von weit außen her als ein Spiralnebel
erscheint) beträgt mehrere Milliarden und die Anzahl solcher
Sterninseln im Weltall, die unsere größten Fernrohre gegenwärtig
gerade noch erfassen, erreicht bereits mehrere Millionen.
Im übrigen war man von Anbeginn des menschlichen Denkens
bis zum Ende des ersten Weltkrieges davon überzeugt, daß sich
unser Weltraum nach allen Seiten in die Unendlichkeit erstreckt,
und dieser unendliche Weltraum müßte, wenn er überall durch-
schnittlich gleich dicht mit Sternen, bezw. Spiralnebeln besetzt
wäre, natürlich auch eine unendliche Anzahl solcher Objekte ent-
halten. Nun hat aber im Jahre 1918 der große Physiker Albert
E i n s t e i n in Verallgemeinerung seiner Relativitätstheorie eine
neue, sehr geniale Theorie der Gravitation aufgestellt, durch die
eine Auffassung über den Weltraum in den Bereich der Möglich-

57
keit rückte, an die vorher kaum die kühnsten unter den Mathe-
matikern zu denken wagten: daß nämlich der dreidimensionale
Raum der Welt nicht so etwas ist wie im Zweidimensionalen
eine Ebene, sondern so etwas wie eine Kugelfläche. Das würde
bedeuten, daß der Weltraum zwar selbstverständlich unbe-
grenzt, aber nicht unendlich ist. Was das heißt, können wir uns
am Beispiel unserer Erdoberfläche vorstellen: Wir können auf der
Erde unbegrenzt bis in alle Ewigkeit weiter wandern, ohne an
einen Rand der Erdscheibe zu stoßen, über der wir nicht hinaus
könnten. Die Kugelfläche ist also zum Unterschied von einer
ebenen Kreisfläche u n b e g r e n z t , aber dennoch ist sie nicht
unendlich; wir können zwar in alle Ewigkeit auf ihr weiter wan-
dern, gelangen aber nicht in unendliche Ferne, sondern werden,
wenn wir nur geradeaus weiter gehen, schließlich wieder an den
Ausgangspunkt zurückkehren. Man nennt eine solche Fläche wie
die Kugeloberfläche eine „in sich geschlossene Fläche".
Die gleiche Möglichkeit ergibt sich nun wegen der Krümmung
des Raumes, die gemäß der Einsteinschen Theorie durch die
Schwerkraft erzeugt wird, auch für den Weltraum als Ganzes:
Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit — aber nicht etwa eine
sichere Gewähr dafür! — daß der Weltraum so etwas ist wie
die Oberfläche einer vierdimensionalen Kugel, deren Eigenschaften
man auf mathematischem Wege in allen Einzelheiten berechnen
kann. Er wäre also ein in sich geschlossener Raum, der zwar
unbegrenzt, aber nicht unendlich ist, was nach dem eben Gesagten
bedeutet, daß man bei geradlinigem Weiterwandern in infinitum
schließlich von der anderen Seite her wieder zum Ausgangspunkt
zurückkäme. Weil ein solcher „sphärischer Raum" nicht unend-
lich groß ist, enthält er auch eine endliche Anzahl von Sternen
und dementsprechend auch nur eine endliche Anzahl von Spiral-
nebeln. Aber selbst diese endliche Zahl ist noch immer ungeheuer
groß. Denn die Zahl der heute für uns sichtbaren Spiralnebel
beträgt allein schon mehrere Millionen; die Gesamtzahl aller
innerhalb der Einsteinschen endlichen Welt wird auf mindestens
1010, das ist 10 Milliarden geschätzt. In stark abgerundeten

58
Zahlen sind die rohen Näherungswerte für die Anzahlen und
Massen der Weltkörper etwa folgende:
Auf ganze Zehner-
potenzen abgerundete
Näherungswerte
Masse der Erde............................................ 1027 g
Masse der Sonne = Durchschnittsmasse
der Fixsterne............................................ 1033 g
Zahl der Fixsterne in einem Spiralnebel 109
Masse eines Spiralnebels............................. 109.1033 = 1042 g
Anzahl der Spiralnebel vielleicht . . . 1O10
Gesamtmasse aller Weltkörper vielleicht 1010.1042 = 1052 g
Dem aufmerksamen Leser wird es vielleicht auffallen, daß wir
die durchschnittliche Masse der Fixsterne gleich der Sonnenmasse
gesetzt hatten, obwohl gemäß unserer früheren Feststellung die
Sonne zu den Zwergen unter den Fixsternen gehört. Dieser
scheinbare Widerspruch klärt sich dahin auf, daß zwar die Raum-
inhalte und ebenso auch die Leuchtkräfte der verschiedenen Fix-
sterne sehr weit voneinander abweichen, also ein über mehrere
Zehnerpotenzen reichendes Größenspektrum umfassen, daß aber
die Massen aller Sterne gar nicht so stark untereinander ab-
weichen und durchwegs etwa in der Größenordnung von rund 10 33
bis 1034 g liegen. Dementsprechend haben dann Riesensterne, wie
z. B. die früher genannte Beteigeuze, sehr geringe Dichten (so
gering wie jene der Gasreste in einer Hochvakuumröhre), während
die Dichte der Sonne ungefähr 1 beträgt, also jener des Wassers
entspricht. Andererseits gibt es auch sehr kl eine Fixsterne, die
sogenannten „weißen Zwerge", deren bekanntestes Beispiel der
Begleiter des Sirius mit einer Dichte von rund 60.000 ist. Ein
Liter dieser Sternmaterie wiegt also 60 Tonnen! Dies nur neben-
her zur Erläuterung unserer Tabelle. Die für das folgende ins
Gewicht fallende Tatsache ist vor allem die große Anzahl der
Fixsterne auf der Welt, die nach den Angaben der Tabelle min-
destens etwa 10 9 . 10 10 = 10 19 beträgt.
Um dem Leser einen Begriff von der Größe und der Ent-

59
fernung der Spiralnebel zu geben, wollen wir die Zeiten angeben,
die ein Lichtstrahl zum Durchlaufen kosmischer Strecken braucht.
Die Lichtgeschwindigkeit beträgt 300.000 km pro Sekunde, sie
ist rund zwei Millionen mal größer als die unserer schnellsten
Flugzeuge; ein Lichtstrahl würde nur 1/25 sec. brauchen, um eine
Distanz von der Länge der Erdachse von Pol zu Pol zurückzu-
legen. Die nachstehende Tabelle gibt einige Anhaltspunkte über
kosmische Dimensionen.

Vierter Schritt: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich
das Interesse der Astronomen vorwiegend auf die leuchtenden
Himmelskörper gerichtet; seit Beginn dieses Jahrhunderts hat
aber das zunehmende Auflösungvermögen der gToßen Spiegel-
teleskope einerseits und die Technik der HimmelsphotogTaphie
andererseits die Existenz gigantischer dunkler Massen im Weltall
enthüllt, deren Rauminhalt das Volumen der Riesensterne
trillionenfach übertrifft. Man findet solche dunkle Wolken sowohl
in unserem Milchstraßensystem wie auch in den Spiralnebeln;
ihre Durchmesser sind oft von der Größenordnung einiger tausend
Lichtjahre. Wie man heute weiß, hat man es da bestimmt nicht
mit kompakten Massen zu tun, sondern mit Staubwolken, deren
Einzelteilchen eine Größe haben dürften, die zwischen jener eines
Sandkornes und eines Sonnenstäubchens liegen mag. Unsere
Kenntnis der Teilchengröße basiert auf Messungen über die Ab-

60
sorption und Beugung, die das Licht von Sternen erfährt, die
hinter diesen Dunkelwolken liegen. Denn aus der Art und Weise,
wie das durch die Dunkelwolken bis zu uns dringende Licht ge-
schwächt und in der Farbe verändert wird, lassen sich nach den
bekannten physikalischen Gesetzen Rückschlüsse über die Be-
schaffenheit der Staubteilchen ziehen, aus denen die Wolke be-
steht. Was neben diesen ungeheuren Staubwolken weiter noch an
dunklen, also erkalteten Himmelskörpern im Weltall vorhanden
ist, können wir kaum ahnen, denn wir sind in der Beurteilung
des materiellen Inhaltes des Weltalls ungefähr in der Lage eines
Nachtfliegers, der im Fluge über einer Stadt gerade nur einige
Lichtpünktchen sieht und gar nicht erkennen kann, wieviel un-
erleuchtete Häuser neben den erleuchteten noch vorhanden sind.
Aus all dem ergibt sich, daß unser Sonnensystem sich zum
Gesamtinhalt des Univensums etwa so verhält wie ein einzelnes
Sandkorn zum gesamten Sandmeer der Wüste Sahara oder wie
ein einzelner Wassertropfen im Weltmeer — und unsere Erde
selbst ist wiederum nur ein winziger Trabant der millionmal
größeren Sonne.
Auf diese Feststellung hätte man im Mittelalter gewiß erwidert,
daß es ja auf die Größenverhältnisse der toten Materie gar nicht
ankomme, daß vielmehr dieses einzelne Sandkörnchen Erde vor
allen anderen Weltkörpern dadurch ausgezeichnet sei, daß es der
Träger und Sitz des Menschengeschlechtes ist, das Gott nach
seinem Ebenbild erschaffen hat.
Beanspruchen wir nun diese Vorzugsstellung mit gutem Recht
oder unterliegen wir da vielleicht einem eitlen und anmaßenden
Selbstbetrug? Eine Frage, die immer wieder die Denkenden be-
schäftigt, ist die folgende: Stehen die Menschen als die mit In-
tellekt und Seele begabten organischen Lebewesen inmitten das
weiten Universums als vereinzelte, einzigartige Erscheinungen
allein da — oder ist die Menschheit nur eine Rasse unter un-
zählig vielen anderen, ebenfalls mit diesen Eigenschaften be-
gabten, vielleicht noch höher stehenden Geschöpfen Gottes? Eine
einigermaßen sichere Teilantwort auf diese Frage läßt sich heute

61
schon hinsichtlich unseres Planetensystems geben: Es ist sicher,
daß auf dem Erdmond keine organischen Lebewesen existieren
können, und es ist so gut wie sicher, daß auch die übrigen Pla-
neten unseres Sonnensystems unbewohnt sind. Der Grund dazu
liegt darin, daß nach unseren heutigen Erkenntnissen die Vor-
bedingungen für die Existenz organischen Lebens nach irdischem
Muster, nämlich eine etwa zwischen 0° C und 50° C liegende
mittlere Oberflächentemperatur und das Vorhandensein einer
Sauerstoff- und wasserdampfhältigen Atmosphäre, für die übrigen
Planeten nicht zutreffen. Damit werden alle Hypothesen vom
Mondmenschen und Marsmenschen hinfällig und die Voreiligkeit
solcher von manchen Schriftstellern weit ausgesponnenen Speku-
lationen über fremde Planetenbewohner scheint in vielen Leuten
die Überzeugung gestärkt zu haben, daß der Mensch sich doch
mit stolzem Recht als das einzige mit Seele begabte Geschöpf
Gottes betrachten kann.
Dieser Schluß ist nun wiederum ebenso voreilig, wie wenn man
aus der Entdeckung der Tatsache, daß man der alleinige Bewoh-
ner eines Hauses ist, schließen wollte, man sei überhaupt allein
im ganzen Lande. Wir werden ja allerdings die Existenz von
Lebewesen auf Trabanten anderer Fixsterne kaum jemals direkt
nachweisen können, weil die Entfernungen zu groß sind. Denn
bei einer Fahrtgeschwindigkeit, die gleich ist der höchsten bisher
erreichten Geschoßgaschwindigkeit würde die Reisedauer bis zum
nächsten Fixstern rund eine Million Jahre und bis zum nächsten
Spiralnebel rund eine Billion Jahre betragen. Außerdem ist mit
den heutigen Mitteln der Technik noch gar nicht daran zu denken,
daß wir uns überhaupt aus dem Anziehungsbereich der Erd-
schwere entfernen können. An interplanetare oder gar interstellare
Forschungsreisen ist also nicht zu denken. Wohl aber können wir
auf indirektem Wege gewisse Wahrscheinlichkeitsschlüsse ziehen,
und zu diesen verhilft uns der folgende fünfte Schritt unserer
kosmologischen Erkenntnisse:
Die von Kirchhoff und Bunsen um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts entdeckte Spektralanalyse einerseits und die auf theore-

62
tischen Erkenntnissen von Max Planck und Niels Bohr beruhende
Theorie der Spektren andererseits lehrt uns, aus den Stern-
spektren sichere Schlüsse auf die dort vorkommenden Elemente
und auch auf gewisse mit diesen Elementen vor sich gehende phy-
sikalische Prozesse zu ziehen. Aus allen Beobachtungen und
theoretischen Erwägungen ergeben sich nun mit einer fast an Ge-
wißheit grenzenden Sicherheit die folgenden Schlüsse:
1) Die grundlegenden physikalischen Gesetze der Mechanik,
Elektrodynamik und der Quantentheorie gelten im ganzen Weltall
unabhängig vom Ort in gleicher Weise wie auf der Erde.
2) Alle chemischen Elemente, die überhaupt auf der Welt
existieren, kommen auch auf der Erde vor und umgekehrt sind
alle irdischen Elemente auch sonstwo im Weltall vorhanden.
3) Der Vorgang der Bildung von Trabanten, die um Fixsterne
umlaufen, ist kein außergewöhnlicher. Denn wir können an einem
großen Bruchteil der uns nächstgelegenen Fixsterne leuchtende
Begleiter beobachten und weiter können wir aus Sternver-
finsterungen (aus dem Phänomen der sogenannten „Bedeckungs-
veränderlichen") auch auf dunkle Körper schließen, die eine ge-
regelte Umlaufsbewegung um ferne Sonnen vollziehen.
Überall also im Weltall sind die Naturgesetze die gleichen,
überall dieselben Grundstoffe, dieselben Bausteine der Materie
vorhanden, und an unzählig vielen Punkten dürften ähnliche
Temperaturverhältnisse herrschen wie auf der Erdoberfläche. Was
können wir daraus schließen? Denken Sie sich, meine Leser, Sie
würden einige Tonnen Käse in viele Millionen Stückchen zerteilen
und diese Stückchen über die ganze Landfläche unserer Erde un-
gefähr gleichmäßig verstreuen. Hierauf warten wir ein paar Tage
und bemerken dann, daß jenes eine Stückchen, das wir bei uns
zu Hause aufgehoben haben, zu schimmeln beginnt, also eine
Kolonie von Lebewesen an seiner Oberfläche angesiedelt hat.
Werden Sie sich einbilden, daß dieses Stückchen das einzige ist,
das schimmelt, oder werden Sie es nicht für wahrscheinlich halten,
daß viele, ja vielleicht die meisten anderen auch schimmelig
werden? Natürlich mag es einzelne von diesen Käsebrocken geben,

63
bei denen keine Schimmelbildung auftreten wird, z. B. in der
glühend trockenen Hitze einer tropischen Wüste oder in extrem
kalten Gegenden. Aber bei gleichmäßiger Verteilung über die
Erdoberfläche wird es beistimmt eine Menge Käsestückchen geben,
die unter annähernd gleichen Bedingungen wie jenes eine daheim
aufbewahrt sind und deswegen genau so wie dieses eine Schimmel-
kolonie ansetzen werden.
So ähnlich dürfte es sich nun auch hinsichtlich der Besiedlung
der Weltkörper verhalten. Nehmen wir selbst an, das Zusammen-
treffen der zur Bildung organischer Lebewesen erforderlichen
Bedingungen (Sauerstoffatmosphäre, Wassergehalt, richtige Tem-
peratur) sei tatsächlich ein seltener Glücksfall, der nur bei einem
einzigen unter einer ganzen Million von Planetensystemen vor-
kommt. Selbst in diesem Fall müßten wir bei der ungeheuren Zahl
von Fixsternen (mindestens 1019) noch immer damit rechnen, daß
1019 : 106 = 10 13, das sind 10 Billionen oder, was dasselbe ist,
10.000 Milliarden Weltkörper existieren, auf denen sich im Laufe
der Jahrmilliarden allmählich eine Pflanzendecke und eine Tier-
welt entwickeln kann.
Schön, könnte nun der Skeptiker sagen, ist aber damit zu
rechnen, daß sich in einer anderen Welt auch so hochstehende
Lebewesen wie die Menschen entwickeln können? Darauf möchte
ich erwidern: Klingt nicht auch aus dieser Frage die Anmaßung
des homo sapiens durch, der sich als Herr der Welt fühlt, weil
er die übrige Fauna unseres Planeten so weit überflügelt hat?
Bei der Behandlung dieses Problems müssen wir uns vor Augen
halten, daß die Höhe der Entwicklungsstufe irgend welcher Lebe-
wesen doch im hohen Maße eine Frage der Zeit ist, die zu ihrer
Entwicklung zur Verfügung steht. Wie alt ist nun die Menschheit,
wie alt ist unsere Kultur und welche Zeit steht uns noch zur
Weiterentwicklung zur Verfügung? Der Gesichtskreis der histo-
rischen und der kulturhistorischen Betrachtungen der Menschheit
erstreckt sich im allgemeinen auf jene Zeitperioden, für die uns
irgendwelche schriftliche Überlieferungen oder steinerne Denk-
mäler erhalten sind. Das sind im großen und ganzen die letzten

64
drei bis vier Jahrtausende unserer Geschichte. Wenn wir aber die
Menschheitsgeschichte mit ganz weitem Blick, sub specie aeterni-
tatis, betrachten wollen, dann müssen wir uns folgendes immer
deutlich vor Augen halten: Primitive Kulturen, die sich in
vorgeschichtlichen Felszeichnungen kundtun, hat es schon vor
schätzungsweise fünfzig- oder sechzigtausend Jahren gegeben,
und das Alter der Menschheit selbst, also die Zeit, seitdem die
dem Körperbau des Menschen entsprechenden Lebewesen die Erde
bevölkern, dürfte rund eine halbe Million Jahre betragen. So
ungeheuer groß diese Zeiten im Vergleich zum Intervall des
Lebens eines einzelnen und auch im Vergleich zu den historischen
Epochen sein mögen, so sind sie doch andererseits winzig im
Vergleich zu jener Zeit, die der Menschheit für ihre zukünftige
Entwicklung zur Verfügung steht. Denn soviel lehren uns die Er-
gebnisse der Astrophysik heute schon ganz deutlich, daß die
Sonne sich mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit
viele Millionen, ja sogar Milliarden Jahre lang noch in einem
Zustand befinden wird, der eine Fortdauer organischen Lebens
auf der Erde ermöglicht. Mit anderen Worten: Die Zukunft der
Menschheit wird voraussichtlich mehrere tausendmal länger
dauern als ihre bisherige rund fünfhunderttausendjährige Ver-
gangenheit.
Es sei nebenbei erwähnt, daß diese Ansicht nicht von allen
Forschern geteilt wird. Man findet auch die Meinung vertreten,
daß die durch die Zivilisation bewirkte Domestikation der
Menschen allmählich zu einem Verfall der Rasse führen könnte,
so daß die Menschheit als Ganzes gegenwärtig vielleicht schon
im Zenith ihres Lebens stünde und nur mehr ebenso viel hundert-
tausend Jahre vor sich habe wie hinter sich. Ich teile diese Ansicht
nicht. Denn einereits sehen wir schon an unseren Haustieren,
daß Domestikation durchaus nicht den Rassenverfall beschleu-
nigen muß: Das Hausrind gedeiht ganz prächtig weiter, während
seine wilden Seitenverwandten, wie Wisent und Bison, unrett-
bar dem Verfall geweiht wären, hätte nicht der Mensch durch
künstliche Aufzüchtung eingegriffen. Und wenn nicht wiederum

5 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler

65
der Mensth besondere Maßnahmen gegen die Ausrottung der
Raubtiere ergreift, wird es vielleicht passieren, daß die kühnsten
und wildesten unter ihnen, wie Löwen und Tiger, längst schon
von der Erdoberfläche verschwunden sind, während unsere zahmen
Kaninchen und Haushühner noch lustig weiterleben. Die Gefahr
einer zum Aussterben führenden Entartung durch Domestikatiort
bzw. Zivilisation ist also sehr gering. Dazu kommt weiter, daß
die gegenwärtig erst knapp einige Jahrhunderte alte medizinische
und biologische Wissenschaft in immer höherem Maße in der
Lage sein wird, die durch Kultur und Zivilisation verursachten
Schäden an der Gesundheit der Rasse wirksam zu bekämpfen.
Man kann deswegen mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen,
daß ein Aussterben des Menschengeschlechtes erst zu jenem Zeit-
punkt eintreten wird, da wegen des Erkaltens der Sonne alles
organische Leben auf unserem Planeten überhaupt unrettbar er-
löschen muß, was erst in rund tausend Millionen Jahren der Fall
Sein wird. Daraus ergibt sich, daß die Menschheit heute erst am
allerersten Anfang ihrer Entwicklung steht. Bei der Beurteilung
der relativen Reife unserer Kultur müssen wir weiter noch be-
rücksichtigen, daß in all den vielen Jahrtausenden der prähisto-
rischen Epoche der kulturelle Fortschritt nur im Schneckentempo
vor sich gehen konnte, weil mangels Schrift, Buchdruckerkunst
und anderer Verständigungsmittel eine gegenseitige geistige Be-
fruchtung über geographische Entfernungen oder über historische
Zeiten hinweg noch gar nicht möglich war. Das Lernen aus den
Erfahrungen der Vergangenheit und aus den Erfahrungen anderer
Leute beschränkte sich deswegen in der prähistorischen Zeit auf
die gewohnheitsmäßige Überlieferung innerhalb der Familie oder
innerhalb des Stammes, so daß also die Quellen jeden Fort-
schrittes damals noch sehr langsam tröpfelten. Erst seit wenigen
Jahrtausenden ist ein Austausch von Gedanken und Erfahrungen
auf dem Wege einer schriftlichen Dokumentation möglich und erst
ganz neuerdings in unserer eigenen Generation ist dieser Ge-
dankenaustausch mit den Mitteln der modernen Nachrichtentechnik
so richtig voll in Fluß gekommen und wird nun Toraussichtlich

66
durch all die vielen Jahrmillionen hindurch andauern, die noch
vor uns liegen. Wenn wir also das Werden, Sein und Vergehen
der menschlichen Kultur mit dem Leben eines Einzelindividuums
vergleichen, so würde der heutige Stand unserer Kultur ungefähr
dem Zustand eines Säuglings entsprechen, der zum erstenmal die
Augen aufschlägt und erstaunt in die Welt guckt.
Dieser Gedanke ist einerseits1 sehr trostreich, weil er lehrt, daß
jenes Barbarentum in der Politik, das das Leben von Millionen
unserer Mitmenschen zu einem Jammerdasein gemacht hat, nur
eine Kinderkrankheit, eine Folge des infantilen, durchaus un-
reifen Entwicklungszustandes der Menschheit ist. Und anderer-
seits muß er uns zu größerer Bescheidenheit hinsichtlich unserer
Stellung im Universum führen. Wir müssen, um das folgende zu
verstehen, beachten, daß die moderne astrophysikalische Forschung
uns gelehrt hat, daß im Weltall Sterne aller möglichen Entwick-
lungsstadien gleichzeitig vorhanden sind. Es ist also keineswegs
so, daß alles, was wir im Kosmos um uns sehen, auf gleicher
Stufe der Entwicklung steht, vielmehr können wir Sterne ganz
verschiedenen Alters beobachten, genau so wie wir in irgend
einem größeren menschlichen Gemeinwesen, z. B. in einer Stadt,
Menschen aller möglichen Altersstufen gleichzeitig antreffen
weiden. In unserem Sonnensystem hat nun das auf einem seiner
Planeten entstandene Menschengeschlecht eben erst die Entwick-
lung isteiner Kultur begonnen, und zwar gerade erst seit einem
Zeitintervall, das verschwindend klein ist im Vergleich zu den
Jahrmilliarden, während welcher ein Stern sein Strahlungsver-
mögen erschöpft.
Wir können nun über die Wege, die die organische Natur auf
anderen Weltkörpern geht, gar nichts sagen und es ist ganz un-
gewiß, ja unwahrscheinlich, daß anderswo die geistig höchst-
stehenden Geschöpfe sich gerade auch aus den Säugern entwickeln.
Es könnten dort ganz andere, von uns gar nicht vorauszuahnende
Lebensformen auftreten — vielleicht auf der Grundlage ganz
anderer organischer Verbindungen und in ganz anderen Tem-
peraturintervallen — und es wäre recht müßig, darüber zu speku-

5*
67
lieren, wie sie aussehen. Aber jedenfalls müssen wir damit rechnen,
daß unzählig viele dieser anderen Welten jenes allererste Ent-
wicklungsstadium, in dem wir uns befinden, schon längst über-
schritten haben und deswegen unvergleichlich reifer sind als wir.
Das Ergebnis unserer Betrachtungen führt also dahin: Im Gegen-
satz zu unserer Einbildung von der Monopolstellung der irdischen
Menschheit im Reiche Gottes sind wir höchstwahrscheinlich nur
eine einzige unter Milliarden anderer Siedlungen von geistig hoch-
stehenden Lebewesen, und obendrein sind wir unter diesen
Milliarden wahrscheinlich eines, das sich noch ganz und gar im
primitivsten Anfangszustand seiner Entwicklung befindet.
Unter allen Geschöpfen Gottes im Universum nimmt also die
irdische Menschheit eine ähnliche Stellung ein und hat ebensoviel
Bedeutung für das Ganze, wie eine auf der Spitze eines Mücken-
schnabels angesiedelte Bazillenkolonie unter allen Lebewesen auf
der Erde. Ein Unterschied liegt dabei darin, daß jene Mücke im
nächsten Moment von einem Vogel geschnappt werden kann und
so das Walten höherer Mächte zu spüren bekommt, während im
Weltall die Weisheit des Schöpfers dafür gesorgt hat, daß durch
die unüberbrückbaren äonenweiten Entfernungen der Fixsterne
keine Konflikte zwischen rivalisierenden Welten auftreten — und
leider auch keine Kommunikationsmöglichkeiten vorhanden sind.
Wenn ein auswärtiges höheres Wesen einen Einblick in das
irdische Getriebe hätte, würde es über die menschliche Anmaßung
ähnlich lächeln, wie wir über die Bazillenkolonie lächeln würden,
wenn wir erführen, daß diese sich in ihrer Einbildung selbst zum
Ebenbild Gottes ernannt hätte, oder wenn eine der Bazillenrassen
im Kampfe mit den anderen sich selbst als die Herrenrasse und
die Krone der Schöpfung betrachtete.
Die Kirche des Mittelalters, die damals noch sehr dogmatisch
eingestellt war, hatte Gedankengänge solcher Art als ketzerisch
und gottlos verworfen, weil sie im Widerspruch mit dem Alten
Testamente stehen. Heute ist auch bei vielen frommen Christen
die Auffassung eine andere geworden. Man beginnt zu begreifen,
daß unsere Erkenntnisse von der überwältigenden Größe des Uni-

68
versums nicht Gott, sondern den Menschen erniedrigen und daß
sie im Sinne einer neutestamentarischen Demut und Bescheiden-
heit wirken. Die Beschäftigung mit der Wunderwelt des Univer-
isums muß gar nicht zur Leugnung eines göttlichen Wesens
führen, wohl aber zu Zweifeln an dem allzu menschlichen Bild
der Gottheit, das aus einer Zeit unzureichender Naturerkenntnis
stammt. Für jenen, der genug Imaginationskraft hat, um sich über
die Enge des irdischen Gesichtskreises hinaus eine Vorstellung
vom Kosmos zu machen, für den muß Gott etwas Überdimen-
sionales werden, zu dessen Begreifen unser Wissen und die Be-
griffswelt unseres Verstandeis heute noch längst nicht ausreicht.
Also nicht weniger Ehrfurcht, sondern unvergleichlich mehr Ehr-
furcht, mehr Distanz und mehr Demut vor dem Allmächtigen ver-
mag die Beschäftigung mit der Natur dem wahrhaft Denkenden
einzuflößen! Und die Kirche beginnt bereits, auf dem Wege von
der wörtlichen zur [Symbolischen Auslegung der Bibel, den sie
mit der Anerkennung der Kopernikanischen Lehre — zuerst wohl
etwas zögernd — betreten hat, noch weiter zu gehen, um mit
dem unaufhaltsamen Fortschritt unserer Naturerkenntnis Schritt
halten zu können *).
Das Bild von der Bazillenkolonie auf dem Mückenschnabel mag
weiter auch lehrreich sein für jene Philosophen aus der Schule
des Kantischen Idealismus, die in der Auslegung platonischer
Ideen über das Ziel geschossen sind. Von Platon angefangen über
Descartes, Berkeley bis Kant machte sich in der Erkenntniskritik
immer stärker das Bestreben geltend, unser Bewußtsein, die
menschlichen Vorstellungen und Ideen, als das eigentlich wirklich
Existierende zu betrachten, und demgegenüber die reale Außen-
welt als etwas Zweitrangiges, Untergeordnetes anzusehen, ein Be-

*) Das Seelsorgeamt der Erzdiözese Wien sagt z. B. in der Besprechung


eines von einem übereifrigen Theologen älterer Schule herausgegebenen Buches,
das die Kopernikanische Lehre neuerlich bekämpfen will, folgendes: „Ganz ab-
gesehen davon, daß das Neupertsche System wissenschaftlich völlig indiskutabel
ist, ist es auch untragbar und unserer Zeit keineswegs entsprechend, daß man
die heilige Schrift als Norm für naturwissenschaftliche Erkenntnisse anruft."

69
streben, das in seinen letzten Konsequenzen bis zur Leugnung
der Existenz einer realen Außenwelt überhaupt führen würde.
Auch diese, in den Augen mancher Geisteswissenschaftler des
19. Jahrhunderts den Gipfelpunkt philosophischer Weisheit bil-
dende Denkweise ist ähnlich infantil und anthropozentrisch wie
die naive Auffassung der Antike über die den Mittelpunkt der
Welt bildende Erdscheibe. Selbst ein Hegel oder Fichte würde
doch mitleidig lächeln, wenn es den Bazillen auf dem Mücken-
schnabel einfiele, seine eigene (Fichte) Existenz anzuzweifeln,
weil der Begriff Mensch im Vorstellungsinhalt und der Begriffs-
welt das Bazillus keinen Platz gefunden hat!
Unsere Ahnungen von der Größe und dem Inhaltsreichtum des
Universums sind, wie diese Beispiele lehren, geeignet, unsere
Standfestigkeit gegenüber den Totalitätsansprüchen älterer kirch-
licher und philosophischer Strömungen zu stärken. Dem Kampf
gegen die Totalitätsansprüche der Politik ist das nächste Kapitel
gewidmet.

70
Kapitel 6
Die Leistungen der großen Männer

Sobald man sich einmal über den riesigen Spielraum von rund
einer Milliarde Jahren im klaren ist, der uns zu einer weiteren
Entwicklung der Kultur noch zur Verfügung steht, ist man wohl
versucht, zu fragen, wie denn die Menschen und namentlich die
Historiker unter ihnen in hunderttausend Jahren oder in einer
oder zehn Millionen Jahren über uns urteilen werden und welche
Leistungen aus dieser primitiven urzeitlichen Epoche ihnen be-
merkenswert erscheinen werden. Betrachten wir einmal die Ent-
wicklung der menschlichen Kultur, soweit sie uns historisch be-
kannt ist, aus einer zeitlich größeren Perspektive. Wir sind so
sehr gewohnt, von einem stetigen Fortschreiten von Kultur und
Zivilisation zu reden, daß das Wort vom ''menschlichen Fort-
schritt" schon zu einem Gemeinplatz geworden ist. Wenn wir aber
von dem unbestreitbar geradlinigen Fortschreiten auf gewissen
Gebieten absehen, über die noch gesprochen werden soll, so
müssen wir uns bei vorsichtiger Betrachtung erst fragen, ob wir
uns nicht doch letzten Endes in manchen Beziehungen bei unserer
Wanderung langsam im Kreise bewegen, statt auf der Leiter
des vermeintlichen Fortschrittes geradeaus emporzusteigen. Waren
die Blütezeiten der ägyptischen und hellenischen Kultur nicht
vielleicht Höhepunkte in ihrer Art, die auch von späteren Höhe-
punkten kaum wesentlich übertroffen worden sind? Und war nicht
vielleicht der Geist der spätgriechischen Kultur zu Zeiten eines
Euklid oder Archimedes im dritten vorchristlichen Jahrhundert
ein weitblickenderer, stand er nicht mit offeneren, klareren Augen
der Natur und dem Leben gegenüber als jener, der ein bis andert-
halb Jahrtausende später in Europa geherrscht hat?

71
Man könnte darauf einwenden, daß ein grundlegender Unter-
schied zumindest schon darin besteht, daß es sich damals um
heidnische, polytheistische und jetzt um christliche mono-
theistische Kulturen handelt, daß ferner die gewiß imposanten
Baudenkmäler der Ägypter von tyrannischen Pharaonen mittels
Zwangsarbeit von Sklaven errichtet worden sind, während wir
heute im Zeitalter sozialer Fürsorge leben u. dgl. Bei genauerem
Hinsehen zeigt sich aber, daß dieser Unterschied in der Praxis
gar nicht so groß ist, wie er in der Theorie aussieht. Wir dürfen
uns die Tatsache nicht verhehlen, daß für einen nicht unbedeuten-
den Teil unserer Zeitgenossen das Christentum lediglich das in
den Personaldokumenten amtlich vermerkte Glaubensbekenntnis
ist und daß weiter manche der mächtigen Männer, durch deren
Willen das Schicksal von Millionen gelenkt wurde, sich in ihren
Handlungen weit mehr von Nietzsches Lehre vom Übermenschen
als von der Ethik das Christentums leiten ließen. Und auch auf
die — übrigens erst knapp vor einem Jahrhundert erfolgte —
Überwindung des Sklaventums dürfen wir uns nicht allzu viel
einbilden, weil mit der zunehmenden Gewalt der Totalitätsidee
an einzelnen Stellen ein staatlich organisiertes Sklaventum im
Werden begriffen war. Die hunderttausend äthiopischen Sklaven,
die nach Herodots Angabe am Bau der Cheopspyramide gearbeitet
hatten, mögen vielleicht auch Chöre gesungen haben und auf ihre
Art ein doppo lavoro betrieben haben. Wenn Hitler, statt im
Jahre 1941 über Rußland herzufallen, imstande gewesen wäre,
die kommunistische Diktatur an die beiden faschistischen zu
fesseln und gemeinsam zu Dritt einen Sieg über die westlichen
Demokratien zu erringen (und dieser Sieg war nur an einem
Haar gehangen), dann hätte die politische Entwicklung mit dem
immer stärker werdenden Betonen des Kollektivismus und der
Staatstotalität vielleicht dahin geführt, daß drei oder vier große
Nationen je eine Art Ameisenstaat bilden, in dem das Einzel-
individuum überhaupt nur als Arbeiter oder Soldat des Staates
Daseinsberechtigung hat. — Das nur nebenbei.
Was wir mit diesen Betrachtungen zeigen wollten, ist folgendes:

72
Nicht in jeder Hinsicht vollzieht sich der sogenannte Fortschritt
in gerader Linie weiter, in vieler Beziehung bemerken wir ganz
deutlich eine hin- und hergehende Wellenbewegung. In Kunst,
Mode, Erziehungsfragen und Politik und in vielen sonstigen
Dingen des geistigen Lebens der Völker schwingt das Pendel ab-
wechselnd nach links und nach rechts; nach Epochen größerer
Freiheit des einzelnen können wieder Zeiten starker persönlicher
Beschränkung kommen; wirtschaftlicher Aufschwung und Nieder-
gang, Zeiten der Aufklärung und der Reaktion, Epochen der
Körperkultur und solche der Vernachlässigung des Leibes, Zeiten
weitabgewendeter und weltzugewendeter Geistesrichtung lösen
einander in bunter Reihenfolge ab. Das Rad der Geschichte hat
sich im Laufe der Jahrtausende schon ein paarmal im Kreise ge-
dreht, und wenn die Menschen glauben, einmal besonders weit
gekommen zu sein, sind sie vielleicht gerade an jenem Punkt, wo
ihre Urahnen ein bis zwei Jahrtausende vorher gehalten hatten.
Im Gegensatz dazu erleben wir aber einen wirklich gerad-
linigen Fortschritt im Hinblick auf die Fähigkeit des Menschen,
die Natur zu erkennen und zu beherrschen. Seit dem Zeitalter der
Renaissance, seit Lionardo da Vinci, Galilei, Kopernikus, Kepler,
Newton schreitet die Naturwissenschaft geradlinig und sicher auf
einer Bahn weiter, die einen eindeutigen Fortschritt darstellt. Wir
ahnen heute noch gar nicht, was die Menschen in hundert oder
gar tausend oder zehntausend Jahren hinsichtlich Kleidung, bil-
dender Kunst, Architektur und Musik als schön oder häßlich, was
sie im Leben und in der Politik für gut oder verwerflich halten
werden. Aber sicher wissen wir, daß die Menschen nie wieder
allgemein mit der Postkutsche über Land oder mit Galeeren über
das Meer reisen werden, daß nie wieder Kerze oder Öllampe die
Beleuchtungismittel der großen Masse sein werden. In Hinblick
auf die Dauerhaftigkeit der Wirkung ist also der naturwissen-
schaftlich-technische Fortschritt der Menschen den übrigen Er-
rungenschaften seines Geistes zweifellos voraus. Und der großen
zeitlichen Reichweite dieser Errungenschaften entspricht auch ihre
erdumspannende räumliche Reichweite. Der Kampf zwischen der

73
weißen und der gelben Rasse ist hinsichtlich territorialer Erwer-
bungen, hinsichtlich der rein geistigen Kultur, Religion und Kunst
noch durchaus unentschieden. Aber die naturwissenschaftlich-
technischen Leistungen das weißen Mannes: die Glühlampe und
das Radio, der Film, das Insulin und der Benzinmotor und nicht
zuletzt die mathematischen Zauberformeln, in denen die Gesetze
der Physik und der Elektrotechnik niedergelegt sind, all dies hat
den Osten und den Westen und die ganze Welt erobert. Erobert
in wortwörtlichem Sinne, denn der zivilisierte Mensch des 20. Jahr-
hunderts ist — ob es ihm nun gut anschlägt oder nicht — ein
Gefangener seiner eigenen technischen Errungenschaften gewor-
den, er nützt sie so gründlich aus, daß er schließlich von ihnen
beherrscht wird, daß ihm das Tempo des Lebens von der Technik
diktiert wird. Wenn wir den Werdegang der Menschheit aus der
Perspektive der Jahrtausende betrachten, werden wir unschwer
erkennen, daß die großen Veränderungen im Leben der Völker
gar nicht so sehr durch die Politik und durch das Hin- und Her-
schieben der Staatsgrenzen verursacht werden. Der durch Jahr-
tausende anhaltende Eingriff in die Kultur der Menschheit, also
Geschichte im großen, wird gar nicht von jenen Männern gemacht,
die glauben, es zu tun, sondern vielmehr von denen, die völlig
abgewendet vom politischen Treiben jene Kräfte betätigen, die
der Mensch bisher am erfolgreichsten zu nutzen vermochte: das
Erkennen der Naturkräfte, die Fähigkeit, ihren Mechanismus zu
durchschauen und sie in Form der Technik in den Dienst der
Menschheit zu zwingen.
Welchen Fortschritt in der Methode Wissenschaft zu betreiben
verdanken wir Galilei, Newton und ihren Nachfolgern? Es sind
im wesentlichen die folgenden Punkte: Die unvoreingenommene
Erforschung des Tatsächlichen ohne Rücksicht auf Überlieferung
und auf sophistische und scholastische Spitzfindigkeit, die direkte
Fragestellung an die Natur durch Ausführung geeigneter Experi-
mente und quantitativer Messungen und das Bestreben, die Zu-
sammenhänge zwischen den Vorgängen zu durchschauen. An Stelle
der primitiven Geisteseinstellung, die in den Naturkräften das

74
Walten von Dämonen sieht, die Blitz und Donner als die Zorn-
ausbrüche von Gottheiten deutet, tritt die nüchterne und dabei
gewissenhafte Analyse und der erfolgreich begonnene Versuch,
dem Mechanismus der Naturvorgänge auf den Grund zu gehen.
Wie Hand in Hand damit allmählich ein Verständnis für die
organische Natur, für die biologischen und physiologischen Vor-
gänge aufdämmerte und wie weiters die Naturwissenschaft in Ge-
stalt der Technik zu einer immer weiter gehenden Beherrschung
und Ausnützung der Naturkräfte führte und damit schon dem
äußeren Bild des Alltagslebens ein ganz neues Gepräge gegeben
hat, ist so evident, daß ich darauf gar nicht näher einzugehen
brauche. Was wir uns hier vor Augen halten sollen, ist nur dies
eine: Die Kulturen vergangener Epochen haben immer wieder
Aufstieg und Niedergang gezeigt, Religionen und Staatengebilde,
Künste und Fähigkeiten, die bei einzelnen Völkern hochentwickelt
waren, sind wieder verkümmert und in Vergessenheit geraten.
Dasjenige aber, was Galilei, Newton und die ganze Reihe anderer
großer Forscher nach ihnen geschaffen haben, ist so sehr Gemein-
gut der ganzen Menschheit geworden, daß es nie wieder in Ver-
gessenheit geraten kann: Die naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse werden von allen Kulturnationen als wirksamste Waffe
im Kampf ums Dasein wie ein kostbarer Schatz gehütet und
weiter gepflegt. An Stelle der wellenförmigen Entwicklung tritt
eben jetzt in den Jahrhunderten, die ein Dutzend Generationen
vor und nach uns erlebt, ein geradliniges Fortschreiten auf der
Bahn naturwissenschaftlichen Denkens, die durch eine unerhörte
Anspannung des Abstraktionsvermögens des menschlichen Geistes
gekennzeichnet ist.
Dies ist nun der Grund, warum gerade die zweite Hälfte des
zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung auch unserer Nach-
welt in größerem Maßstab Interesse bieten kann. Wenn die Histo-
riker des Jahres 100.000 n. Chr. eine kritische Untersuchung
darüber anstellen werden, welche geistigen Leistungen unserer
urzeitlichen Epoche die Kultur der Nachwelt maßgebend beein-
flußt haben, werden sie nicht die Feldherrn, Politiker und Staaten-

75
lenker unseres Jahrtausends erwähnenswert finden — vielleicht
auch nicht die Dichter und Philosophen — sondern vielmehr jene
Männer, die der Menschheit die Augen geöffnet haben, mit denen
sie einen Einblick in den Makrokosmos, den Mikrokosmos und
vielleicht auch in die Geheimnisse des organischen Lebens ge-
winnen konnten.
Bei unserer Überzeugung, daß die Leistungen unserer großen
Naturforscher hinsichtlich Tragweite und Dauerhaftigkeit ihrer
Wirkung allen anderen weltgeschichtlichen Taten der sogenannten
''großen Männer" weit überlegen sind, dürfen wir freilich nicht
übersehen,. daß der stürmische Siegeszug der Naturwissenschaft
nicht in allen Punkten einen Segen für unsere Kultur bedeutet
hat. Denn wir müssen uns über eines im klaren sein: Die Fort-
schritte der Technik haben auf der einen Seite zweifellos den
Durchschnitt der Menschheit reicher und scheinbar glücklicher ge-
macht, sie haben dem zivilisierten Menschen und namentlich dem
Großstädter einen gewissen Komfort des Lebens gewährt und
dazu vermitteln sie ihm geistige und künstlerische Genüsse, Unter-
haltung und Anregung in viel reicherem Ausmaße als das in
früheren Generationen der Fall war. Aber deswegen besteht auch
die Gefahr, daß ein Zuviel von äußeren Eindrücken, zuviel Ab-
lenkendes auf die Menschen einstürmt, so daß sie bei allem Ge-
winn auf der einen Seite Gefahr laufen, einiges von ihrem wert-
vollsten Schatz einzubüßen: die Verinnerlichung der Seele, die
ungestörte Hingabe an ihr Werk, die Konzentration der Gedan-
ken auf einen abstrakten Gegenstand, die es ermöglicht, schwierige
Probleme zu lösen. Jene Ruhe also und jene ländliche Stille, aus
der in früheren Generationen vielfach unsterbliche Werke und
ein innerlich glückliches Geschlecht mit natürlichem Sinn und
gesunden Nerven hervorgegangen war, diese Ruhe wird im moder-
nen Großstadtleben täglich unzählige Male gestört und in Bruch-
teile von Stunden zerstückelt, so daß oft weder richtige Arbeit
geleistet wird, noch wirkliche Entspannung der Seele eintreten
kann. Man denke nur, was für glückliche Schaffensbedingungen
für irgend einen Künstler, Dichter oder Denker in früheren Zeiten

76
beistanden, da er sich tagelang ungestört und unabgelenkt seinem
Werk hingeben konnte, ohne durch Telephon, Radio, Kinobesuch
oder gesellschaftliche Verpflichtungen immer wieder aus seinen
Gedankengängen, aus seiner inneren Andacht herausgerissen zu
werden. Mehr noch vielleicht als das Denken leidet nun das Ge-
fühl der Seele unter einem Zuviel an äußeren Eindrücken; der
Mensch, der nie die Ruhe zur Besinnlichkeit findet, wird allmäh-
lich innerlich ausgehöhlt und lebt mehr oder weniger nur als eine
Marionettenfigur weiter, die im Wechselspiel zwischen den eigenen
Trieben und den Verpflichtungen der Gesellschaft unstet hin- und
herzappelt.
Zu all dem kommt überdies noch der Mißbrauch unserer Tech-
nik durch den Krieg. Eine der schönsten und genialsten Erfindun-
gen der Menschheit, die Kunst des Fliegens, ist in den beiden
Weltkriegen so schmählich mißbraucht worden, daß der durch
Flugzeuge in allen Teilen der Welt angerichtete Schaden unver-
gleichlich größer ist, als aller Vorteil, den die Menschheit bisher
aus der Möglichkeit dieser neuen, viel rascheren Verkehrstechnik
ziehen konnte.
Wir müssen uns also durchaus darüber im klaren sein, daß
die großen Erkenntnisse und Entdeckungen der Naturwissenschaft
und die Errungenschaften der Technik im Frieden und namentlich
im Kriege vielfach zum Schaden des Menschen und seiner Seele
mißbraucht worden sind. Aber ebenso müssen wir uns auch dar-
über im klaren sein, daß es sich hier um eine vorübergehende
Erscheinung, um eine Kinderkrankheit unserer Kultur handelt,
die dadurch verursacht ist, daß die Menschheit hinsichtlich Er-
ziehung, Weltanschauung und Politik eben noch lange nicht das
Stadium der Reife erlangt hat, das sie auf dem Gebiete der
materiellen Kultur schon besitzt. Jene Leute, die den Naturfor-
schern und den rationalistischen Denkern vorwerfen, daß sie am
Verfall des inneren Seelenlebens schuld seien, kommen mir des-
wegen so vor, wie ein schlechter Skiläufer, der seinem weit besser
laufenden Kameraden vorwirft, daß er ihm dauernd davonfährt.
Die Erkenntnisse, die die großen Naturforscher für die Mensch-

77
heit gewonnen haben, sind ein- für allemal da, sie lassen sich nie
wieder unerkannt machen und es ist die Sache der für die anderen
menschlichen Belange verantwortlichen Leute, dafür Sorge zu
tragen, daß man die Rückständigkeit und Barbarei auf den ande-
ren Gebieten überwindet — geradeso wie man in unserem Bei-
spiel des Skikurses beachten soll, die schlechteren Läufer zu
besseren zu machen und nicht etwa das Tempo und den Stil der
besseren Läufer zu drücken. Die Naturforscher und Techniker
ar be iten eben auf ihre n Gebi eten schon mit je ner richt ige n
Methodi k, die zu großen Erfolgen führt. Ich bin ganz und gar
nicht der Ansicht, daß die bei der Erforschung der Natur so er-
folgreich betätigte Klugheit und Weisheit des menschlichen Den-
kens, etwa se ine Seel e verde rben müßte, soba ld man die se Art
das Denkens auch auf andere Gebiete und insbesondere auch auf
die Fragen des Seelenlebens selbst anwendet.
An d e r V e r f l a c h u n g u n s e r e r K u l t u r s i n d
n i c h t d i e D e n k e r s c h u l d , s o n d e r n d i e Ge-
dankenlosen u n d Oberflächlichen; nicht die
V e r n u n f t , s o n d e r n d i e U n v e r n u n f t i s t e s,
die alle bösen Leidenschaften der Mensch-
h e i t e n t f e s s e l t , um s i e z u m M a s s e n m o r d u n d
zum Kollektivverbrechen des Krieges aufzu-
peitschen!
Eis wäre deswegen gänzlich verfehlt, den Versuch zu machen,
die unaufhaltsam weiter rollende Entwicklung der Naturwissen-
schaft zum Stillstand zu bringen. Was wir tun können, um zu
verhindern, daß die Menschheit in der Anwendung der Früchte
dieser Wissenschaft auf falsche Bahnen gerät, ist das, was schon
früher angedeutet wurde: Es muß das geistige Niveau auf jenen
Gebieten gehoben werden, in denen die Menschheit noch rück-
ständig und barbarisch ist. Einen Beitrag in dieser Richtung stellt
eben die Lehre von den kulturellen Entartungserscheinungen dar.
Die auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik weniger
bewanderten Leser werden vielleicht den hier aufgestellten Be-
h a u pt u n g e n üb e r d ie g r o ße T r a g w e it e un d D a ue rh a ft i gk e i t d e r

78
naturwissenschaftlichen Errungenschaften nicht ohne weiteres
Glauben schenken wollen. Aus diesem Grunde wollen wir die all-
gemeinen Betrachtungen dieses Kapitels noch durch die Analyse
zweier spezieller Beispiele ergänzen.
Wir greifen das Beispiel eines Forschers aus der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts heraus: M i c h a e l F a r a d a y, ein
Mann, dessen Name Millionen von angeblich gebildeten Kultur-
menschen gänzlich unbekannt ist, ein schlichter Sohn des eng-
lischen Volkes, der seinen Lebenslauf als Buchbinderlehrling be-
gann und, von einem natürlichen Forscherdrang erfüllt, als Self-
mademan zur akademischen Laufbahn emporstieg, der es trotz
seiner umwälzenden Entdeckungen und Erfindungen nie zu Geld-
reichtum brachte, aber trotzdem ein innerlich unendlich reiches
und glückliches Leben führte. Sein Tagebuch, das einen der kost-
barsten Schätze menschlichen Geistes darstellt, enthält eine Reihe
der wichtigsten physikalischen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts
und auf einer einzigen davon beruht praktisch die gesamte Elek-
trotechnik der Gegenwart, Im Jahre 1832 bemerkte Faraday, daß
in einem ringförmig geschlossenen Leitungsdraht ein elektrischer
Strom fließt, während man diesen Draht einem Magneten nähert,
und daß ein entgegengesetzter Strom fließt, wenn man den
Magneten entfernt. Auf der Entdeckung dieser sogenannten
e l e k t r o m a g n e t i s c h e n I n d u k t i o n basiert die etwa
zwei Jahrzehnte später erfolgte Erfindung der Dynamomaschine
durch W e r n e r S i e m e n s und ebenso auch die Möglichkeit
des Baues von Transformatoren, so daß Faraday gerade jene
Maschinen zu verdanken sind, die zur Erzeugung elektrischer
Energie unentbehrlich sind. Welche Bedeutung schon heute, nur
rund ein Jahrhundert später, die Entdeckung Faradays für das
gesamte Leben der zivilisierten Menschheit gewonnen hat, können
wir am besten verstehen, wenn wir uns nur ausmalen, was ge-
schähe, wenn es dem Weltschöpfer in einer plötzlichen Laune
einfiele, das Faradaysche Induktionsgesetz einfach für ungültig
zu erklären. Dann würde mit einem Schlag alle elektrische Strom-
versorgung, mit Ausnahme der aus Batterien gespeisten Netze,

79
ausbleiben. Was also allein in Funktion bliebe, das wären nur
die Taschenlampen und manche elektrischen Klingeln in unseren
Wohnungen; alles andere würde seinen Dienst versagen. Welche
Folgen ein solches vollständiges Ausfallen der Stromversorgung
mit sich bringt, wissen jene unglücklichen Bewohner von Städten,
deren Elektrizitätswerke durch Bombenangriff zerstört wurden:
kein Licht, keine elektrischen Bahnen, Stillstand aller in-
dustriellen Betriebe wegen Versagens der Elektromotoren. Aber
darüber hinaus würde sich die Ungültigmachung des Faraday-
schen Induktionsgesetzes noch weiter auswirken, indem auch alle
Telegraphen- und Fernsprechanlagen zum Schweigen gebracht
würden und ferner auch alle Benzinmotoren stillstünden. Denn
zur Erzeugung der Hochspannung für den Funken, der das Benzin-
gemisch der Motoren entzündet, wird sowohl bei der sogenannten
Magnetzündung wie auch bei der Batteriezündung ein Gerät ver-
wendet, das auf dem Induktionsgesetz beruht. Dasselbe gilt auch
für die Anlagen des Block- und Signaldienstes der Eisenbahnen,
so daß so gut wie aller Überlandverkehr auf einmal zum Still-
stand gebracht würde. Jene Art von Verkehrslähmung also, die
durch ganz schwere Bombenangriffe jeweils immer nur ein ver-
hältnismäßig kleines Gebiet betraf, würde durch das Versagen
des Faradayschen Induktionsgesetzes schlagartig die ganze Welt
umfassen und würde damit zu einem vollständigen Zusammen-
bruch das gesamten Wirtschaftssystems der weißen Menschen
führen.
Faradays Entdeckung hat also binnen einem Jahrhundert so
einschneidende Veränderungen im Wirtschaftsaufbau und in den
Lebensgewohnheiten der Menschen hervorgerufen, daß eine Rück-
gängigmachung der Folgen seiner Entdeckung ohne katastrophale
Lähmung des gesamten Wirtschaftsapparates aller zivilisierten
Völker gar nicht mehr möglich wäre. Kann man Ähnliches von den
Taten und Leistungen irgend eines der sogenannten großen
Männer der Geschichte, von irgend einem der Kriegshelden oder
Staatsmänner behaupten? Was würde sich am Bild unseres All-
tagslebens oder in unserem Wirtschaftssystem oder in unserer

80
Geisteskultur ändern, wenn der liebe Gott nachträglich dik-
tierte, daß Napoleons Schlachten alle ungeschlagen blieben? Was
wird man überhaupt in einer etwas reiferen Menschheitsepoche
noch von Napoleon Rühmendes zu erzählen wissen? Der Abschnitt
über ihn wird in einem Geschichtsbuch des Jahres 3000 wahr-
scheinlich kurz und nicht sehr schmeichelhaft sein; er wird etwa
lauten:
„Als Offizier des revolutionären Frankreich hatte der junge
Napoleon Bonaparte sich zuerst 1795 bei der Bekämpfung von
Aufständischen seine Sporen verdient und in den beiden folgen-
den Jahren errang er glänzende militärische Erfolge in Italien.
Seine Eroberungen waren ursprünglich Dienst an der Sache der
Revolution; sobald er aber einmal bei der Tätigkeit des Eroberns
warm genug geworden ist, verblaßt in ihm die Leidenschaft für
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Vielleicht bildet er sich
noch ein, für die gloire de la nation zu kämpfen; in Wirklichkeit
treibt ihn aber der gemeine Machthunger und er wird zum Sklaven
jener Handlungen, mit denen er Erfolg auf Erfolg erringt. Und so
setzt er sich selber die Kaiserkrone und seinen Brüdern geraubte
Königskronen auf, fährt fort, Kriege zu führen und Völker zu
unterwerfen, bis sich Europa gegen ihn erhebt und das ausge-
blutete Frankreich genug von ihm hat. Der Schluß der Tragödie
ist die Wiedereinsetzung der Bourbonen, Rückfall in eine immer
stärker reaktionär werdende Staatsform und Aufhebung der
wichtigsten Errungenschaften der Revolution. Das Fazit seines
Lebens: Mord an zehn Millionen Europäern und Vernichtung
jenes Werkes, in dessen Dienst er seine Karriere begonnen hatte."
So weit der Historiker des Jahres 3000 n. Chr. — Und in den
Geschichtsbüchern des Jahres 30.000 wird der Name Napoleon
wegen allgemeiner Bedeutungslosigkeit bereits überhaupt ver-
schwunden sein, während die wirklich großen Sterne, wie Galilei
und Newton, noch in weite Ferne leuchten werden, denn s i e
waren es, die Licht in das menschliche Denken gebracht hatten.
Was hier über Napoleon und seine Leistungen gesagt wurde,
gilt in ähnlicher Weise für alle großen Eroberer und alle Cäsaren-

6 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler

81
naturen: Denkt man sich ihre Leistungen aus der Menschheits-
geschichte gestrichen, so würde der gesamte Kulturzustand keine
merkliche Einbuße erleiden — der einzige Unterschied wäre nur,
daß den Zeitgenossen dieser Männer manche Qual erspart ge-
blieben wäre.
Es ist notwendig, dies einmal mit aller Entschiedenheit und
Ausführlichkeit zu sagen, um die großen Kriegshelden ein für
allemal ihres historischen Nimbus zu entkleiden, um jenen Mythos
eines falsch angebrachten Heldentums zu zerstören, das seinerseits
selbst wieder weltzerstörend wirken kann. Denn dies ist eine der
notwendigen Maßnahmen zum Schutze der menschlichen Gesell-
schaft gegen die Totalitätsansprüche einer kriegerisch militaristi-
schen Politik. Ein gar nicht unerheblicher Teil einer ganzen Men-
schengeneration wird zur Schlachtbank geführt, kommt dort um
oder wird zum Krüppel geschossen, dem übrigbleibenden Teil wird
durch das allgemeine Elend des Krieges der Lebensstandard auf
ein unwürdig tiefes Niveau gesenkt — aber die Herolde des
Führers und die berufsmäßigen Einpeitscher der allgemeinen
Volkesstimme wußten all das immer wieder mit der Größe der
Aufgabe und mit der historischen Mission des betreffenden
Kriegshelden zu motivieren. Und vor dieser angemaßten histo-
rischen Größe sind dann auch die kleinen Staatsbürger tatsächlich
ganz klein und nachgiebig geworden und fanden sich bereit, das
Glück ihrer Generation in der Einbildung zu opfern, die Grund-
lage für das Glück kommender Geschlechter zu schaffen.
Gegenüber diesem immer wieder benützten Mittel der Ein-
schüchterung des Durchschnittsbürgers durch Hinweis auf über-
persönliche höhere Belange sollen nun die Überlegungen der
letzten beiden Kapitel als Gegenmittel dienen. Unsere Betrach-
tungen über die Zwergenrolle der Menschheit im Universum und
der geschichtlichen Zeitspanne in den Äonen der vor uns liegenden
Zeiten sind keineswegs dazu bestimmt, den einfachen Mann aus
dem Volke kleiner oder verzagter zu machen — nein, im Gegen-
teil, sie können ihm als Stütze für sein persönliches Recht auf
Glück und Wohlergehen dienen, weil sie die angebliche Größe

82
jener höheren Belange, die einst als ''Staatsräson" zu einem Tabu
wurden, auf das richtige Maß reduzieren.
Wir wollen mit diesen Betrachtungen nicht nur eine erziehe-
rische Wirkung auf den Durchschnittsbürger ausüben, sondern
vor allem auch auf die selteneren Einzeltypen, die die Ver-
anlagung und die Lust zum Cäsaren in sich spüren. Man hat
gegen die Bestrebungen nach Herstellung eines dauernden Welt-
friedens immer wieder eingewendet, daß man es ja doch nicht ver-
hindern könne, daß da oder dort wieder einmal eine größenwahn-
sinnige Cäsarennatur auftauche und eine Nation mit solcher
Wucht mit sich reiße, daß alle Rechtsgrundsätze und Vertrags-
gebäude wie Kartenhäuser zusammenstürzen. Dieser Einwand
gegen die Möglichkeit eines Weltfriedens, der mit dem immer
wiederkehrenden Auftauchen eines machtgierigen Friedensstörerß
rechnet, übersieht die Tatsache, daß eine solche Erscheinung sich
gar nicht mit zwingender Notwendigkeit aus den Gesetzen der
menschlichen Natur ergibt, daß es vielmehr ein Phänomen ist, das
eine verblendete und von ihren Historikern schlecht beratene
Kulturwelt aus eigener Schuld verursacht hat. Daß Streben nach
weltweiter politischer Macht gehört nämlich keineswegs zu den
natürlichen Elementartrieben des Menschen, sondern ist lediglich
das Produkt einer verfehlten Erziehung und einer durchaus
falschen Bewertung der einzelnen menschlichen Interessen. Denn
die natürlichen Triebe des Menschen sind jene, die nach der
Stillung seiner wirklichen vitalen Bedürfnisse gehen, angefangen
von Hunger und Liebe bis zum Hang nach Wohlergehen an Kör-
per und Geist und bis zur Neugier und Wißbegier. Es gibt ferner
auch Leute, die von Natur aus tyrannisch veranlagt sind und die
dieser Veranlagung eatsprechend stets Herrschergelüste über ihre
Umgebung ausüben wollen. Es kann kaum damit gerechnet werden,
daß man diese Triebe beim normalen Menschen ganz unterdrücken
kann, wohl aber werden sie durch Kultur und Erziehung bei den
meisten Menschen so weit im Zaum gehalten, wie es zur Einord-
nung in das menschliche Gesellschaftsleben erforderlich ist.
Etwas ganz anderes sind aber die Cäsaren-Aspirationen nach

83
Macht im großen; sie sind keineswegs etwas so unmittelbar Natür-
liches wie etwa der Drang nach dem Besitz einer geliebten Frau,
und tatsächlich schafft ja auch die Stillung politischer Herrscher-
lust gar kein direktes, unmittelbares Glücksgefühl wie etwa das
einer erwiderten großen liebe. Die großen Herren der Erde waren
deswegen im allgemeinen auch niemals wirklich glückliche und ge-
sunde Menschen, sondern letzten Endes armselige Kreaturen, krank
an Körper und Nerven, Leute, die nicht mehr Herren ihrer eigenen
Zeit und ihrer Handlungen sind, die vielmehr wie ein gehetztes
Wild, teils von ihren eigenen Leidenschaften, teils von ihren Fein-
den gejagt werden, die sie sich selbst aufgehalst haben. Unzäh-
lige von ihnen mögen am Totenbett oder früher schon mit Neid
auf die einfachsten ihrer Untertanen geblickt haben, die ein freies,
sorglos glückliches Leben führen konnten. — Was nun diese
Cäsarentypen trotz aller schweren Nachteile ihres Berufes zur
Erringung und Mehrung ihrer Macht treibt, ist zweierlei: der
Geltungsdrang und die Vorstellung, einer ''höheren Mission" zu
dienen. Das Lockmittel, das die Cäsaren und Napoleons verführt,
so ein Hundeleben voll Plage, Kampf und Widerwärtigkeiten auf
sich zu nehmen, ist die Einbildung, in den Geschichtsbüchern mit
Fettbuchstaben als der große Mann seines Zeitalters verewigt zu
werden.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß dieses Lockmittel
zur Heranzüchtung von großen Menschenschlächtern von den
eigenen Vätern der Opfer des Cäsarenwahnsinns dargereicht
worden ist. Die bürgerliche, sogenannte gebildete Klasse der
meisten zivilisierten Nationen und namentlich jene Deutschlands
ist durch die in jahrhundertealter Tradition erstarrte humani-
stische Bildung im Glauben an Ideale erzogen worden, die gänz-
lich veraltet und deplaciert sind und in unser Zeitalter gar nicht
mehr hineinpassen. Dem Beispiel der Antike folgend, glorifizierte
man noch immer die Kriegshelden und Machtpolitiker und
schaffte auf diese Weise erst den Anreiz zum Streben nach Macht
und Gewalt. Dem tatenlustigen Jüngling im Pubertätsalter, der
den Drang zur Unsterblichkeit in sich spürt, bot ein aus gänzlich

84
falscher Perspektive gezeichneter Geschichtsunterricht immer nur
das Vorbild der isogenannten großen Männer der Geschichte dar,
die in Wirklichkeit und auf lange Sicht betrachtet für die Mensch-
heit überhaupt nichts geleistet haben, während ihm jene Männer,
die tatsächlich der Menschheit den Stempel ihres Geistes aufge-
drückt haben, kaum dem Namen nach bekannt wurden. Man
braucht nur die ersten Kapitel von Hitlers ''Mein Kampf" zu
leisen, um zu sehen, daß der Anstifter des letzten großen Brandes
der Weltgeschichte selber zu den völlig einseitig in dieser Rich-
tung erzogenen Leuten gehört hat und aus dieser Erziehung die
entscheidenden und richtunggebenden Impulse für sein späteres
Tun empfangen hat. — Eine solche Fehlerziehung kann nun
durch Berücksichtigung der hier dargelegten Erkenntnisse ver-
mieden werden. Der ganze zweite Weltkrieg wäre der Menschheit
erspart geblieben, wenn es zu Anfang dieses Jahrhunderts in den
österreichischen Mittelschulen einen Geschichtsunterricht gegeben
hätte, in dem die Leistungen der großen Männer nach den Ge-
sichtspunkten dieses Kapitels gewertet worden wären.
Fassen wir zusammen: Es ist unrichtig, die angebliche Unver-
meidbarkeit der Kriege aus den dem Menschen angeborenen
Kampftrieben begründen zu wollen, weil der natürliche, ange-
borene Kampftrieb sich immer nur gegen ein Individuum oder
gegen ein Kollektiv persönlicher Gegner richtet, während der
Wille zum Kollektivkampf im großen ein Produkt unserer Er-
ziehung und eine Folge gegenseitiger Aufstachelung der Men-
schen ist.
Ebenso zielt auch das manchen Menschen angeborene Macht-
streben von vornherein nur nach Beherrschung der unmittelbaren
persönlichen Umgebung ab; das Machtstreben im großen ist da-
gegen etwas ganz anderes, es hat mit den natürlichen animali-
schen Trieben nichts zu tun, sondern ist ebenfalls eine Folge-
erscheinung unserer Erziehung und unserer Kultur.
Gewiß wird in der Hitze der Schlacht der einfache Soldat
manchmal zur wilden Bestie; das hat aber gar nichts zu tun mit
jenem seelischen Mechanismus, der einen Krieg erzeugt: mit dem

85
politischen, religiösen oder nationalen Fanatismus, mit der
Herrschsucht ehrgeiziger, ränkesüchtiger Cäsarennaturen und
Despoten. All dies ist nichts unwiderruflich in der animalischen
Natur des Menschen Steckendes, sondern eine Entartungserschei-
nung unserer Kultur.
Um zu erkennen, was wirklich animalische Urtriebe sind,
brauchen wir uns ja nur im Tierreich umzusehen: Der König der
Tiere, der Löwe, ist gewiß kein feiges Geschöpf und er scheut
den persönlichen Kampf nicht. Aber für das, "was die Könige der
Vergangenheit und die Diktatoren der Gegenwart reizte, für
Macht weit außerhalb der persönlichen Umgebung, hätte ein Löwe
nicht das geringste Verständnis. Und das Begeisterungsgebrüll
einer zehntausendköpfigen Menge, das ein Hitler oder Mussolini
wohlgefällig über sich ergehen ließ, würde einen wirklichen Löwen
nur nervös und unbehaglich machen — denn all das ist eben
nicht Stillung eines animalischen Triebes, sondern einer Strebung,
die im Laufe einer jahrtausendealten Entwicklung künstlich im
Menschen erzeugt worden ist und die bei einer anderen Erziehung
genau so gut auch nicht erzeugt zu werden brauchte.

86
86
Kapitel 7
Reform des Geschichtsunterrichtes

Aus den im vorigen Kapitel gebrachten Überlegungen ergibt


sich, daß der Wille zum Kriegführen und der Wille zur Macht im
großen nichts Natürliches, Angeborenes ist, sondern etwas künst-
lich Anerzogenes, das Produkt einer verfehlten Erziehung. Woraus
sich weiter ergibt, daß der Hebel zu einer Friedenserziehung der
Menschen in erster Linie an jener Stelle des Schulunterrichtes an-
zusetzen hat, der wir eben die Überbewertung von Kriegshelden
und Kriegsereignissen verdanken: beim Geschichtsunterricht. Wir
präzisieren im folgenden zuerst noch einmal unseren Standpunkt
und stellen ihm sodann die übliche Auffassung der meisten Histo-
riker gegenüber.
Unser Standpunkt:
Ein schwerer Mangel des in der Schule betriebenen Geschichts-
unterrichtes liegt in der verfehlten Auswahl des Stoffes, indem
jene Geschehnisse und Persönlichkeiten in den Vordergrund der
Betrachtungen gestellt werden, die einer größeren Beachtung gar
nicht wert sind, während andererseits diejenigen, die von einem
höheren Standpunkt aus wirklich das Attribut der Unsterblich-
keit verdienen, meist gar nicht genannt werden. Die in der her-
kömmlichen Bezeichnungsweise als die „großen Männer der Ge-
schichte" geführten Personen sind vielfach nur groß gewesen hin-
sichtlich ihrer Despotie und hinsichtlich der Größe der von ihnen
angerichteten Schäden, Zerstörungen und Massenmorde. Der Ge-
schichtsunterricht und auch die Geschichtswissenschaft beschäf-
tigen sich zu wenig mit den als Denkern und oft auch als Charak-
teren wahrhaft großen Männern, die für die Menschheit Bleiben-

87
des geschaffen haben. Der durch Jahrtausende anhaltende Eingriff
in die Kultur der Menschheit, also Geschichte im großen, wird
nicht von den Leuten gemacht, die sich einbilden, es zu tun, son-
dern vielmehr von jenen, die völlig abgewendet von politischem
und kriegerischem Geschehen, die Kraft ihres schöpferischen
Geistes betätigen. In 100.000 Jahren wird nach den Feldherren
und nach den großen Machthabern unserer urzeitlichen Epoche
kein Hahn mehr krähen, wohl aber wird man in Ehrfurcht unter
anderem vor allem jener Männer gedenken, die der Menschheit
die Augen geöffnet haben, mit denen sie einen Einblick in den
Mikrokosmos und den Makrokosmos gewinnen konnten.
Und die falsche Betonung liegt nicht nur in den von der Ge-
schichte hervorgehobenen Personen, sondern auch in der Auswahl
der den Lehrstoff bildenden Ereignisse. Der herkömmliche Ge-
schichtsunterricht erweckt die Illusion, als ob die Völkerschick-
sale in enster Linie vom Ausgang der Kriege und Schlachten und
den Bedingungen der Friedensschlüsse abhingen und als ob ihre
Geschichte innig mit denen der regierenden Dynastien verknüpft
wären. Deswegen entartet unser Geschichtsunterricht unter der
Leitung kurzsichtiger Lehrer so leicht in eine Sammlung der
Jahreszahlen von Schlachten, Friedensschlüssen und der Regie-
rungsdaten von Herrschern.
An Stelle dieses veralteten Geschichtsunterrichtes müßte einer
treten, der andere Personen, andere Ereignisse in den Vorder-
grund stellt, der jene Männer hervorhebt, die dauerhafte Spuren
ihrer Tätigkeit hinterlassen haben, indem sie der menschlichen
Kultur den Stempel ihres Geistes aufprägten. Ein Geschichts-
unterricht, der an Stelle der vom höheren Standpunkt aus. be-
langlosen Intrigen der Politik und Diplomatie und der nur vom
psychiatrischen Standpunkt interessanten Verirrungen der Kriegs-
politik die Schüler über die großen Evolutionen und Revolutionen
unserer Kultur belehrt, wie z. B. über die Veränderungen der
sozialen Struktur unserer Geisellschaft, die Entwicklung der gei-
stigen Strömungen, der Wissenschaft, der Technik und der Tech-
nologie und der weiter zeigt, wie sich alle diese Veränderungen

88
auf das Alltagsleben und auf das Wesen der Menschen aus-
wirkten.
Demgegenüber nehmen viele Geisteswissenschaftler und Histo-
riker den folgenden Standpunkt ein:
Die Auswahl der Persönlichkeiten, von denen die Geschichte
in erster Linie berichtet, erfolgt nicht nach Maßgabe des Wertes
ihrer Leistungen auf lange Sicht, sondern nach Maßgabe ihrer
Bedeutung unter den Zeitgenossen. Etwas Ähnliches gilt auch für
die Auswahl der Ereignisse, mit denen sich die Geschichte be-
schäftigt. Gegenstand der Geschichte soll nicht so sehr die Er-
forschung der verborgenen Kräfte sein, die an der Modelung der
Menschheit arbeiten, sondern, vielmehr das im hellen Lichte der
allgemeinen Aufmerksamkeit sich vollziehende große Geschehen.
D i e G e s c h i c h t e l e h r t , w a s g e s c h i e h t , darum be-
richtet sie von jenen Taten und Ereignissen, die die Menschen
bewegten und aufrührten, die ihr Interesse in Anspruch nahmen,
in ihrem Gedächtnis lebendig blieben und dadurch ihre Einbil-
dungskraft und Phantasie anregten, was unter anderem dadurch
zum Ausdruck kommt, daß sie Gegenstand der epischen und
dramatischen Dichtung wurden.
Nach der hier zitierten Auffassung einer bestimmten Geistes-
richtung von Historikern hätte also die Geschichte, kurz gesagt,
das „lebendige Geschehen" in den Vordergrund zu stellen und
nicht etwa das auf lange Sicht wohl wirksamere, aber weit hinter
den Kulissen der großen Weltbühne vor sich gehende Spiel der
geistigen Kräfte.
Soweit die Darlegung der beiden Standpunkte. Und hier unsere
Kritik:
Sicher ist, daß kein von einer höheren, außerirdischen Instanz
gegebener Auftrag uns vorschreibt, was eigentlich Gegenstand
der Geschichte sein soll. Vielmehr liegt es im Ermessen der Men-
schen selber, zu bestimmen, welche Ereignisse und welche Persön-
lichkeiten als wert befunden werden, der Nachwelt überliefert zu
werden. Eine solche Auswahl wird nun von einer Geschichtsfor-
schung, die sich als Teil einer neuzeitlichen souveränen Wissen-

89
schaft fühlt, anders getroffen werden als von älteren und ältesten
Geschichtsschreibern und Chronisten, deren Stoffwahl oft durch
unsachliche und unwissenschaftliche Gesichtspunkte beeinflußt
worden war.
Über den Standpunkt der Wissenschaft zu dieser Frage hat vor
mehr als eineinhalb Jahrhunderten ein junger Mann gesprochen,
der als der typische Vertreter des deutschen Idealismus sicher
nicht dem Verdacht ausgesetzt ist, von materialistischen Gesichts-
punkten geleitet zu sein: Friedrich v. S c h i l l e r . Als Dreißig-
jähriger hielt er an der Universität Jena seine Antrittsrede über
das Thema: ''Was heißt und zu welchem Ende studiert man Uni-
versalgeschichte?" Er bringt darin eine Gegenüberstellung
zwischen der Primitivität des urzeitlichen Menschen und der
wilden Völkerstämme*) der Gegenlwart einerseits und dem hohen
Kulturstand der zivilisierten Völker andererseits. Er sagt dann:
''Welche entgegengesetzten Gemälde! Wer sollte in dem
verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhunderts nur
einen fortgeschrittenen Bruder des neueren Canadiers, des
alten Kelten vermuten? Alle diese Fertigkeiten, Kunsttriebe,
Erfahrungen, alle diese Schöpfungen der Vernunft sind im
Räume von wenigen Jahrtausenden in den Menschen an-
gepflanzt und entwickelt worden; alle diese Wunder der
Kunst, diese Riesenwerke des Fleißes sind aus ihr hervor-
gerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte
diese heraus? Welche Zustände durchwanderte der Mensch,
bis er von jenem Äußersten zu -diesem Äußersten, vom
ungeselligen Höhlenbewohner — zum geistreichen Denker,
zum gebildeten Weltmann hinaufstieg? — Die allgemeine
Weltgeschichte gibt Antwort auf diese Frage."
Und an einer späteren Stelle sagt Schiller weiter:
„Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der
Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die h e u-
*) zu denen zu Schillers Zeiten auch noch die kanadischen Indianer-
stämme zu rechnen waren — daher die Bezugnahme auf die Kanadier im fol-
genden Zitat

90
t i g e Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden
Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und
leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis
eines historischen Datums zu der h e u t i g e n Weltver-
fassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Mate-
rialien für die Weltgeschichte zu sammeln."
Dieser Standpunkt deckt sich einigermaßen mit jenem, den
wir als unseren eigenen bezeichnet hatten. A b e r : Wie Schiller
an einer anderen Stelle seiner Rede hervorhebt, besteht für die
Stoffwahl des rückschauenden Historikers die eine wesentliche
Einschränkung, daß er auf seine Quellen angewiesen ist. Forscher
auf anderen Gebieten: die Mathematiker, Logiker, Erkenntnis-
theoretiker sind in ihrer Wissenschaft in viel höherem Maße
souverän, weil sie hinsichtlich der Auswahl der von ihnen be-
handelten Probleme nur ihrem Forschergewissen verantwortlich
sind. Dem Historiker sind dagegen die Grenzen seiner Stoffwahl
schon durch seine Vorgänger ein- für allemal vorgegeben, weil
alle Ereignisse und Persönlichkeiten, über die keine Nachrichten
mehr erhalten sind, gar nicht in das Gebiet seiner Wissenschaft
mehr gehören. Das ist einer der Hauptgründe, warum sich irgend
welche Voreingenommenheiten und Vorurteile hinsichtlich der
Auswahl der behandelten Gegenstände gerade in der Geschichte
immer weiter vererben müssen.
Gehen wir nun auf die Quellen der Geschichtsforschung zu-
rück, auf die alten Chronisten, auf die Inschriften von Gräbern,
Denkmälern, Tempeln u. dgl. Was dort verewigt wurde, ist kaum
je nach dem Gesichtspunkt seiner Einwirkung auf die Kultur-
entwicklung oder nach seinem Nutzen für die Menschheit aus-
gewählt worden. Viele von den älteren Chronisten standen in
einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis von ihrem Herrscher,
waren mehr oder weniger auf sein Wohlwollen und seine Gnade
angewiesen und hatten deswegen alle Ursache, seine Taten und
die seiner durchlauchtigsten Vorfahren nach Möglichkeit heraus-
zustreichen.
Auf diese Weise ist die Betonung dessen, was als historisches

91
Geschehen zu betrachten sei, immer schon einseitig auf Ereig-
nissen gelegen, die irgendwie mit den Taten und mit dem Schick-
sal der Mächtigen dieser Welt zusammenhängen. Und wegen der
eben erwähnten Abhängigkeit des Historikers von seinen Quellen
mußte sich diese Bevorzugung eines bestimmten Stoffgebietes
immer weiter vererben. Wenn man diese Tatsache berücksichtigt,
dann wird man eher verstehen, daß die sogenannten großen
Männer und großen Ereignisse der Geschichte nicht darum über-
liefert und scheinbar bis auf weiteres „verewigt" worden sind,
weil sie erwiesenermaßen groß und bedeutsam für das Schicksal
der Menschen waren, sondern daß der ursächliche Zusammenhang
gerade umgekehrt ist: Weil sie uns überliefert wurden und weil
immer von ihnen die Rede war, haben sie ein- für allemal den
Stempel „groß" erhalten, so daß ihr Name schon vom Geschichts-
unterricht her ein Begriff für die gebildete Schicht geworden ist.
In ähnlicher Weise wie die Tagespresse nicht nur einfach regi-
striert, was geschieht und was die Menschen bewegt, sondern
umgekehrt auch die öffentliche Meinung beeinflußt und durch das
Anfachen und Steuern irgend welcher Bewegungen sogar aktiv in
die Politik eingreifen kann, so spielt auch die Geschichte und ihr
Unterricht nicht nur die passive Rolle als Beobachter und Über-
lieferer der Ereignisse, sondern auch die aktive als Lenker der
Aufmerksamkeit und als »scheinbar maßgebende Instanz zur Be-
urteilung vom Wert oder Unwert der Geschehnisse und ihrer
Figuren. Aus diesem Grunde muß die oben als Standpunkt man-
cher Historiker bezeichnete Vorschrift, die Geschichte möge über
das berichten, „was die Menschen bewegt und ihr Interesse in
Anspruch nimmt", auf einen fatalen Zirkel führen. Denn abge-
sehen von den lokalen Ereignissen, die das Einzelindividuum un-
mittelbar betreffen, ist das, was die Menschen bewegt und sie
interessiert, selbst wieder nur ein Produkt aus der Beeinflussung
durch Presse und Rundfunk einerseits und aus einer Erziehung
andererseits, in der unsere Art, Geschichte zu betreiben, eine
große Rolle spielt. Der in den meisten Ländern übliche Geschichts-
unterricht, der von einer, dem jeweiligen Herrscher oder auch dem

92
Staat oder der Nation nur zu sehr ergebenen Lehrerschaft be-
trieben wurde, ist gerne vaterländisch, patriotisch oder national
gefärbt, und er pflanzt sehr frühzeitig und manchmal unauslöschlich
der Jugend ein, was sie bewegen und interessieren soll. Gerade
in jene Intelligenzschicht, aus der sich später einmal ein großer
Teil der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lenker der
Nation rekrutiert, gerade in diese Schicht werden zur Zeit ihrer
höchsten iseelischen Empfänglichkeit durch den Geschichtsunter-
richt der Mittelschule gewisse Begriffe, wie Soldatentum, Sieger-
ehre, Weltgeltung u. dgl., als die hohen Ideale ihrer Jugend ein-
geimpft. Und Begriffe dieser Art werden allmählich zu den Ge-
leiten des Gehirns, in denen das Denken dieser Leute zeitlebens
zu laufen bestimmt ist.
Welche Rolle die Jugendlektüre und der Geschichtsunterricht
spielen, können wir folgenden Zitaten aus Hitlers ''Mein Kampf"
entnehmen:
Seite 4: ''Beim Durchstöbern der väterlichen Bibliothek
war ich über verschiedene Bücher militärischen Inhaltes ge-
kommen, darunter eine Volksausgabe des Deutsch-Französi-
schen Krieges 1870—71. Es waren zwei Bände einer illu-
strierten Zeitschrift aus diesen Jahren, die nun meine Lieb-
lingslektüre wurde. Nicht lange dauerte es, und der große
Heldenkampf war mir zum größten inneren Erlebnis ge-
worden. Von nun an schwärmte ich mehr und mehr für
alles, was irgendwie mit Krieg oder mit Soldatentum zu-
sammenhing."
''Aber auch in anderer Hinsicht sollte dies von Bedeutung
für mich werden. Zum ersten Male wurde mir, wenn auch in
noch so unklarer Vorstellung, die Frage aufgedrängt, ob und
welch ein Unterschied denn zwischen den diese Schlachten
schlagenden Deutschen und den anderen sei? Warum hatte
nicht auch Österreich mitgekämpft in diesem Kriege, warum
nicht der Vater und nicht die anderen auch?"
„Sind wir denn nicht auch dasselbe wie eben alle anderen
Deutschen?"

93
''Gehören wir denn nicht alle zusammen? Dieses Problem
begann zum ersten Male in meinem kleinen Gehirn zu wüh-
len. Mit innerem Neide mußte ich auf vorsichtige Fragen die
Antwort vernehmen, daß nicht jeder Deutsche das Glück
besitze, dem Reich Bismarcks anzugehören."
Seite 12—13:
„Es wurde vielleicht bestimmend für mein ganzes späteres
Leben, daß mir das Glück einst gerade für Geschichte einen
Lehrer gab, der es als einer der ganz wenigen verstand, für
Unterricht und Prüfung diesen Gesichtspunkt zum beherr-
schenden zu machen. In meinem damaligen Professor Doktor
Leopold Pötsch, an der Realschule zu Linz, war diese For-
derung in wahrhaft idealer Weise verkörpert. Ein alter Herr,
von ebenso gütigem als aber auch bestimmtem Aufreten,
vermochte er besonders durch eine blendende Beredsamkeit
uns nicht nur zu fesseln, sondern wahrhaft mitzureißen.
Noch heute erinnere ich mich mit leiser Rührung an den
grauen Mann, der uns im Feuer seiner Darstellung manch-
mal die Gegenwart vergessen ließ, uns zurückzauberte in
vergangene Zeiten und uns aus dem Nebelschleier der Jahr-
tausende die trockene geschichtliche Erinnerung zur leben-
digen Wirklichkeit formte. Wir saßen dann da, oft zu heller
Glut begeistert, mitunter sogar zu Tränen gerührt."
„Das Glück ward um so größer, als dieser Lehrer es ver-
stand, aus Gegenwart Vergangenes zu erleuchten, aus Ver-
gangenheit aber die Konsequenzen für die Gegenwart zu
ziehen. So brachte er denn auch, mehr als sonst einer, Ver-
ständnis auf für all die Tagesprobleme, die uns damals in
Atem hielten. Unser kleiner nationaler Fanatismus ward
ihm ein Mittel zu unserer Erziehung, indem er, öfter als
einmal an das nationale Ehrgefühl appellierend, dadurch
allein uns Rangen schneller in Ordnung brachte, als dies
durch andere Mittel möglich gewesen wäre."
„Mir hat dieser Lehrer Geschichte zum Lieblingsfach
gemacht."

94
''Freilich wurde ich, wohl ungewollt von ihm, auch damals
schon zum jungen Revolutionär."
''Wer konnte auch unter einem solchen Lehrer deutsche
Geschichte studieren, ohne zum Feinde des Staates zu wer-
den, der durch sein Herrscherhaus in so unheilvoller Weise
die Schicksale der Nation beeinflußte?"
''Wer endlich konnte noch Kaisertreue bewahren einer
Dynastie gegenüber, die in Vergangenheit und Gegenwart
die Belange des deutschen Volkes immer und immer wieder
um schmählicher eigener Vorteile wegen verriet?"
''Wußten wir nicht als Jungen schon, daß dieser öster-
reichische Staat keine Liebe zu uns Deutschen besaß, ja
überhaupt gar nicht besitzen konnte?"
Angesichts der wichtigen und verhängnisvollen Rolle, die
Hitler gespielt hat, lohnt es sich wohl zu untersuchen, was an
seinem Wesen angeboren war und was ihm erst durch seine Er-
ziehung eingeimpft wurde. Angeborene Eigenschaften sind zwei-
fellos «eine Neigung zu Temperamentsausbrüchen, seine Ver-
anlagung zmm Despoten und Fanatiker, seine Manie, immer nur
selbst zu reden und den Gesprächspartner nicht zum Worte
kommen zu lassen, seine Unfähigkeit, sich in die Situation anders-
gearteter Menschen hineinzudenken. Aber nicht angeboren, son-
dern anerzogen ist dasjenige, was nachher Objekt seines Fana-
tismus wurde: Sein Nationalismus und seine Schwärmerei für
alles, ''was mit Krieg und Soldatentuni zusammenhängt". Wäre
Hitler anders erzogen worden, so wäre er natürlich genau so ein
unverträglicher und seine Umwelt ständig quälender Mensch ge-
worden, aber seine Leidenschaft hätte sich in viel harmloserer
Weise austoben können. Er wäre vielleicht zum übereifrigen Vor-
kämpfer für irgend eine Kunstrichtung, für eine Antialkohol-
bewegung oder für einen Tierschutzverein geworden.
Und daß er nun mit seiner nationalen Leidenschaft so viel An-
klang beim Kleinbürgertum und auch bei einem Teil der Studen-
tenschaft gefunden hatte, liegt eben an der Resonanz der gleich-
gestimmten Seelen. Man kann rechnen, daß vielleicht jeder zweite

95
oder dritte von den jungen Leuten, die dem Führer sein ''Sieg
Heil" nachbrüllten, ebenfalls ihren Leopold Pötsch als Geschichts-
lehrer hatten und sich ebenfalls im Schulalter an Kriegsgeschich-
ten begeistert hatten. Das Geheimnis von Hitlers Erfolg lag in dem
Umstand, daß hier ein Maniker — der an sich schon vermöge
seiner Leidenschaft starke Wirkungen ausüben kann — ein
breites Publikum gefunden hat, das durch seine Erziehung von
vornherein gerade für den Appell an den nationalen Stolz und
an die Waffengewalt aufnahmsbereit gemacht worden war, der
Hitlers Steckenpferd und zugleich seine Stärke bildete.
Der Geschichtsunterricht in der Schule und der indirekte Ge-
schichtsunterricht durch die Jugendlektüre hat also nicht nur
Hitler selbst zu dem chauvinistischen Nationalisten gemacht, der
zu einer Weltbedrohung wurde,, vielmehr hat dieser Unterricht
gleichzeitig auch den Nährboden gedüngt, auf dem die Saat von
Hitlers Ideen aufgehen konnte.*)
Eine der Hauptaufgaben aller Friedensbestrebungen muß des-
wegen die Bekämpfung der Auswüchse des Nationalismus sein.
Es ist sicher, daß die nationalen Leidenschaften keineswegs etwa
wie die Mutterliebe einem natürlichen und angeborenen Instinkt
entspringen, sondern in den Menschen künstlich gezüchtet worden
sind. Die Schürung und Wachhaltung dieser Leidenschaft erfolgt
auf Betreiben der Exponenten des nationalen Chauvinismus durch
alle politischen Propagandamittel, wie öffentliche Reden, Presse-
artikel und dergleichen. Aber der G r u n d s t o c k zum Natio-
nalismus wird in den meisten jungen Leuten so wie im Falle
Hitler durch die Jugendlektüre und den Geschichtsunterricht
gelegt.

*) Zur grundsätzlichen Frage des Anteils der psychologischen und der


materiellen Faktoren an der Kriegsschuld sei hier folgendes eingefügt: Natür-
lich sind so wie alle anderen Geschehnisse auch die Kriege im allgemeinen das
Produkt des Zusammenwirkens mehrerer Faktoren und es kann nicht geleugnet
werden, daß rein wirtschaftliche Momente und manche Sünden der kapitalisti-
schen Weltordnung beim Ausbruch der letzten beiden Weltkriege ebenfalls mit-
gespielt haben. Über diesen Punkt werden wir in Kap. 12 ausführlicher sprechen.

96
Um deswegen das Übel an der Wurzel zu packen, wird die
am Eingang dieses Kapitels aufgestellte Forderung nach einer
Reform des Geschichtsunterrichtes erhoben, und wir dürfen uns
von diesen Reformplänen auch nicht durch die oben angeführten
Gegenargumente abschrecken lassen. Für die Geschichts f o r-
s c h u n g ist es eine selbstverständliche Aufgabe — die im
übrigen auch Schillers Programm entspricht —, die hinter all
dem Äußerlichen liegenden Kräfte aufzuspüren, von denen das
Schicksal der Menschheit und ihre Kultur wirklich stark und
dauerhaft beeinflußt worden ist. Aber auch der U n t e r r i c h t
in der Geschichte und namentlich der Elementarunterricht muß
geändert werden, und zwar in der Weise, daß er das Interesse
der Menschen in vernünftigere Bahnen lenkt, statt einem aus
alter Tradition entstandenen Interesse nachzulaufen. Wo kämen
wir hin, wenn wir im Schulunterricht etwa nur das brächten, was
die Schüler von vornherein interessiert! Da könnten wir über-
haupt gleich den ganzen Unterricht aus der Geschichte und den
klassischen Sprachen streichen und die Lektüre auf Indianer-
geschichten und Detektivromane beschränken.
Und nicht nur die Jugend, sondern auch die große Masse des
Volkes ist in der Auswahl ihres Interesses recht kindlich und
andererseits auch bis zu einem gewissen Grade lenksam. Die
Menge der Durchschnittsbürger ist genau so oder noch eher ge-
neigt, sich für einen Boxchampion oder für irgend einen Sport-
oder Filmstar zu begeistern wie für einen Staatsmann oder Feld-
herrn. Populär wird jener Mensch, von dem oft genug in unserem
Nachrichtenwesen, in Presse, Rundfunk oder Film die Rede ist,
und die Gemüter können sich über beliebige Tagesfragen erhitzen,
die das Wohl des einzelnen zu treffen scheinen und die dement-
sprechend laut in der Öffentlichkeit erörtert werden.
Wie schon früher erwähnt, ist deswegen die Vorschrift, nach
der die Geschichte das zu lehren hätte, was die Menschen bewegt,
gar nicht eindeutig, sondern führt auf eine Zirkeldefinition. Die
bisherigen Methoden der Geschichtsschreibung und des Geschichts-
unterrichtes sind trotz Schiller und H. G. Wells mit wenigen Aus-

7 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler

97
nahmen noch in jenen Geleisen stecken geblieben, die von den
alten Chronisten zu einer Zeit gelegt wurden, als es noch keine
souveräne Wissenschaft gab. Durch diese Art Geschichte zu be-
treiben hat man ganz zu Unrecht gewisse Kategorien von Men-
schen von vornherein zu großen Männern, gewisse Kategorien von
Ereignissen von vornherein zu geschichtlichen Taten gestempelt.
Wohin diese Methode geführt hat, sehen wir an dem Schicksal
unserer Generation.
Wir müssen deswegen von der eben erwähnten Lenkbarkeit des
Interesses der Massen in entsprechender Weise Gebrauch machen,
um es von den bisher immer wieder verherrlichten nationalen und
kriegerischen Idealen abzuziehen und statt dessen auf würdigere
Ziele zu lenken. Man hat Zweifel gehegt, ob das möglich ist und
ob man durch so einen Versuch nicht etwa der Natur der jungen
Menschen Gewalt antut. Nun ist selbstverständlich mit der Tat-
sache zu rechnen, daß gerade der männlichen Jugend eine gewisse
Kampflust angeboren ist, aber dieser natürliche Kampftrieb findet
in Balgereien mit den Schulkameraden und später dann nötigen-
falls in den Kampfsporten wie Fußball, Hockey usw. iseine volle
Befriedigung. Die Überleitung dieser Kampftriebe auf das Krie-
gerische und auf den Kollektivkampf der Nationen ist weder
notwendig noch natürlich.
Aufgabe der Jugenderziehung wird es sein, die Kampflust des
einzelnen auf den Sport einerseits und auf den Lebenskampf
des Menschen mit der Natur andererseits zu lenken und gleich-
zeitig das in den jungen Leuten schlummernde Interesse für
Gegenstände wachzurufen, die kulturell und zivilisatorisch
fruchtbar sind. Eine Reform des Geschichtsunterrichtes soll nicht
etwa so aufgefaßt werden, daß von den Kriegen überhaupt ge-
schwiegen wird und daß etwa philosophische Betrachtungen über
die Ideen von Confuzius, Piaton, Galilei und Newton den breite-
sten Raum einnehmen. Zweifellos muß die Wahl des Stoffes und
die Art seiner Begründung dem jeweiligen Reifezustand des be-
treffenden Schulalters angepaßt sein und keinesfalls sollen die
Ansprüche an die Auffassungsgabe des Schülers übertriebeni hoch

98
gezogen sein. D e n n L a n g w e i l i g k e i t u n d U n v e r-
s t ä n d l i c h k e i t s i n d d i e b e i d e n T o d s ü n d e n je-
d e s U n t e r r i c h t e s ! Man wird deswegen den natürlichen
Hang der Schüler zum Abenteuerlichen einerseits und zum Ge-
heimnisvollen andererseits klug ausnützen, um sie z. B. mit der
Geschichte der geographischen und naturwissenschaftlichen Ent-
deckungen vertraut zu machen. Das Interesse an technischen und
naturwissenschaftlichen Problemen ist bei jungen Menschen außer-
ordentlich weit verbreitet, und wenn man ihm durch entsprechende
Lektüre und durch einen entsprechenden Unterricht die richtige
Nahrung gibt, dann kann es leicht so zum Wachsen gebracht
werden, daß es viele andere Neigungen verdrängt und vor allem
einen engstirnigen und kriegerischen Nationalismus gar nicht auf-
kommen läßt. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts und auch in
diesem Jahrhundert bis etwa in die Zeit des ersten Weltkrieges
hinein, hatten die phantasievollen Romane von Jules Verne eine
ungeheure Verbreitung gefunden, wobei zu bemerken ist, daß der
Verfasser zwar einerseits mit visionärem Blick die U-Boot-Tech-
nik vorausgesehen hat, andererseits aber doch in technischen und
vor allem in physikalischen Fragen ein blutiger Dilettant war
und deswegen auch manchen blühenden Unsinn geschrieben hat.
Er sei hier nur erwähnt, weil die Auflagenziffer seiner Werke
und die Spannung, mit der seine Romane von der heranwachsen-
den Jugend verschlungen wurden, deutlich zeigen, daß auch ein
von dem Kriegerischen völlig verschiedener Typus von Geschichten
junge Menschen gefangennehmen kann.
Es soll damit natürlich nicht zugunsten einer einseitig natur-
wissenschaftlichen oder technischen Orientierung der Menschen
geredet werden; diese Richtung soll nur als Beispiel für eine
wirkliche Ablenkung von jener kriegerischen und nationalistischen
Lektüre angeführt werden, die auf Hitlers Werdegang einen ent-
scheidenden Einfluß genommen hatte. Viele Zweige des kulturel-
len Fortschrittes lassen sich durch geeignete Art der Darstellung
so mundgerecht machen, daß sie das Interesse weiter Kreise auf
sich ziehen. Selbst ein so spröder und abstrakter Stoff wie die

7*

99
Mathematik hat in den bekannten Büchern von Egmont Colerus
eine derart packende Darstellung gefunden, daß zehntausende
junger Leute durch diese Werke von einem Wissenszweig gefesselt
wurden, der ihnen sonst lebenslänglich ein Buch mit sieben Sie-
geln geblieben wäre. Etwas ähnliches gilt ferner für die Popula-
risierung der Geistestaten des medizinischen Fortschrittes durch
die Bücher von De Gruif.
Wie schon erwähnt, soll der Geschichtsunterricht natürlich
nicht die Kriege überhaupt mit Stillschweigen übergehen. Denn
abgesehen davon, daß eine objektiv gehaltene Weltgeschichte ein-
schneidende Ereignisse auch dann nicht übergehen darf, wenn ihre
Wirkung rein negativ war, wäre es pädagogisch gänzlich ver-
kehrt, über solche Ereignisse den Schleier des Vergessens breiten
zu wollen, der die Neugierde und Wißbegierde der jungen Men-
schen erst recht anregen könnte. Man würde damit nur erreichen,
daß die Schüler dann erst recht die Lektüre von Kriegsberichten
der Kulturgeschichte vorzögen, so wie bisher viele von ihnen Karl
May und Conan Doyle lieber lesen, als Cäsar und Livius, oder
wie sie sich gegenseitig Schriften zur sexuellen Aufklärung zu-
stecken. Es ist also keine Frage, daß in der allgemeinen Ge-
schichte die Kriege auch behandelt werden sollen, aber es darf
ihnen nicht wie bisher der erste Platz eingeräumt werden, außer-
dem müssen sie genügend deutlich als das gebrandmarkt werden,
was sie sind: als verderbliche Kinderkrankheiten unserer Kultur
und als Ereignisse, die bis in die heutige Generation hinein
ein wirkliches Aufblühen des Menschengeschlechtes verhindert
haben. An Stelle der angeblichen Romantik des Soldatenlebens
muß die geistige Öde des Soldatendaseins deutlich beschrieben
werden und die beengende Unfreiheit, die der Militarismus schon
im Frieden und viel ärger noch im Kriege über die Menschheit
bringt. Man braucht dazu weder zu übertreiben, noch irgendwie
tendenziös zu färben; eine absolut realistische Schilderung dessen,
was so ein Krieg in Wahrheit für die Beteiligten bedeutet, muß
abschreckend genug wirken — daher auch die wütenden Angriffe
der bis in die Knochen militaristischen SA Hitlers auf Remarques

100
Buch „Im Westen nichts Neues" und auf den aus diesem Buch
entstandenen Film.
Die neue Geschichte soll also jene großen Katastrophen,
wie den Dreißigjährigen und den Siebenjährigen Krieg, die
napoleonischen Kriege und die beiden Weltkriege, gebührend be-
handeln, soll aber an Hand von Zahlenangaben klar genug unter-
streichen, wie diese Katastrophen den größten Teil dessen ver-
nichtet haben, was Fleiß und Begabung eines großen Kulturvolkes
in vielen Generationen mühsam aufgebaut haben, und soll vor
allem auf das Maß von Sklaverei hinweisen, das sich die Mensch-
heit durch das Beibehalten des veralteten Barbarentums der
Kriege selber aufgehalst hat. Eine derart präparierte Jugend
würde keinen Nährboden für Kampfparolen eines neuen Hitler
mehr bilden.

101
Kapitel 8
N i e t z s c h e u n d d e r W i l l e z u r Macht

Wir haben im vorigen Kapitel auf die verhängnisvolle und ent-


scheidende Rolle hingewiesen, die die Jugendlektüre und der Ge-
schichtsunterricht im Entwicklungsgang des jugendlichen Hitler
gespielt hatte. Die Quellen, aus denen die Ideenwelt der Führer
und Verführer unseres Volkes gespeist wurde, sind sehr alt;
sie gehen, wie wir wissen, letzten Endes auf die lykurgische Welt-
anschauung zurück, die sich trotz der umwälzenden Änderungen
unserer materiellen Kultur in ihren Grundzügen ungeändert bis
in eine Zeitepoche erhalten hat, in die sie gar nicht mehr paßt.
Jedem aufmerksamen Leser von Hitlers „Mein Kampf" mußte
doch der unreife Schuljungengeist auffallen, der Hitlers roman-
tischen Nationalismus kennzeichnete. Genau dieselbe knaben-
hafte Romantik findet man bei den meisten jener vielgelesenen
Autoren, die die Geisteshaltung des intellektuellen Durchschnitts
in Deutschland geformt hatten.
Um dem Leser ein deutliches Bild von der Einstellung dieser
Leute zu geben, greifen wir zwei von ihnen heraus: Friedrich
Nietzsche und Oswald Spengler, die gerade besonders typische
Beispiele sind. Viele andere haben teils als Vorläufer, teils als
spätere Nachbeter genau in das gleiche Horn geblasen.
Das Wesentliche von Nietzsches äußerem Lebenslauf ist bald
erzählt: 1844 als Sohn eines evangelischen Pastors im kleinen
Dorfe Röcken in der Gegend von Naumburg an der Saale ge-
boren, wohin seine Eltern bald später übersiedelten; Gymnasial-
bildung am berühmten humanistischen Gymnasium Schulpforta;
1864—67 als Philologiestudent in Bonn und Leipzig; 1869 als

102
Professor der klassischen Philologie nach Basel berufen; 1870/71
als freiwilliger Krankenpfleger im Deutsch-Französischen Krieg;
ab 1879 wegen eines schweren Kopfleidens pensioniert, ab 1889
als unheilbar Geisteskranker in häuslicher Pflege; am 25. August
1900 in Weimar gestorben.
Während seine Philosophie in jungen Jahren vom Pessimismus
Schopenhauers beeinflußt ist und sein musikalischer Enthusias-
mus für Richard Wagner erglüht, dessen persönliche Freundschaft
er sucht, führt er gegen Ende der Siebzigerjahre eine Wendung um
180° aus. Er wird zum Vorkämpfer einer betont diesseits gerich-
teten und lebensbejahenden Philosophie, wird dadurch zum Feind
des Christentums und zum fanatischen Gegner des Mitleidsge-
fühles, dadurch konsequent auch zum Feind Wagners, dem er
seinen „Parsifal" nicht verzeihen kann, wird Verkünder einer ari-
stokratischen Lebensauffassung, die den Sozialismus leidenschaft-
lich bekämpft, er prägt die Schlagworte des W i l l e n s z u r
M a c h t und des Ü b e r m e n s c h e n , die später von den An-
hängern des militaristischen Nationalismus und des Faschismus
aufgegriffen und in den Schulen des Dritten Reiches mißbraucht
werden. Hunderttausende von jungen Leuten sind durch diese
Schlagworte zu einer geistigen Einstellung verführt worden, deren
Folgen sie heute bitter büßen müssen. Ein Vierteljahrhundert nach
seinem Tode ist Nietzsche zum Hausphilosophen der Faschisten-
führer geworden; wie hoch er da im Ansehen stand, geht daraus
hervor, daß Hitlers Geschenk an Mussolini zu dessen sechzig-
stem Geburtstag eine eigens für diesen Anlaß gedruckte Sonder-
ausgabe von Nietzsches Werken war.
Ist nun Nietzsche selbst ein Übermensch, eine den bekannten
Renaissancetypen ähnliche Kraftnatur, ein Held an Körper oder
Geist gewesen? Nein, er war natürlich das genaue Gegenteil da-
von; sein überbetonter Lebenshunger und Kraftwille entspringt
seiner eigenen Krankheit und Schwäche. Seine Schwester, Elisa-
beth Förster-Nietzsche, die ihren Bruder abgöttisch verehrte und
ihn als eifriger Apostel seiner Lehre durch dick und dünn zu
verteidigen sucht, ist gewiß eine Zeugin, der man keine böswillige

103
Entstellung zutrauen mag. Man lese nun in der von ihr verfaß-
ten Nietzsche-Biographie, wie die Idee des „Willens zur Macht"
in ihrem Bruder entstanden war. Wir zitieren im folgenden wört-
lich aus ihrem Buch ''Das Leben Friedrich Nietzsches", Verlag
C. G. Naumann, Leipzig 1904, 2. Band, 2. Abteilung, Seite
681 ff.:
''Hier ist wohl die Stelle, wo wir fragen dürfen, wann
wohl dem Philosophen z u e r s t der Gedanke des Willens
zur Macht als verkörperter Lebenswille erschienen sein mag?
Solche Fragen sind wohl außerordentlich schwer zu beant-
worten; da wir bei meinem Bruder den Keim zu seinen
Hauptgedanken immer in sehr entfernter Zeit zu suchen
haben. Wie bei einem gesunden kraftvollen Baum dauert es
viele Jahre, ehe seine Gedanken ihre endgültige Gestalt ge-
winnen und hervortreten, mit Ausnahme eines einzigen: der
ewigen Wiederkunft, der ihm im Sommer 1881 zuerst auf-
tauchte und kaum ein Jahr später zur Darstellung kam. Viel-
leicht ist es mir gestattet, hier eine Erinnerung zu bringen,
die einen Fingerzeig zur ersten Entstehung des Gedankens
vom Willen zur Macht geben könnte. Ich habe schon früher
von jenen wehmütigen und doch so wundervollen Spazier-
gängen in der Umgebung Naumburgs im Herbst 1885 ge-
sprochen. So gingen mein Bruder und ich auch einmal über
die Höhen hinauf zu den ehemaligen Schießständen der Jäger;
der Weg dahin bietet herrlich weite Aussichten, und gerade
an diesem Tag — es ging schon gegen Abend — war es be-
sonders schön: der Himmel hatte eine gelblich rötliche Fär-
bung mit tiefschwarzen Wolken, was eine merkwürdige
Farbenstimmung in der Natur hervorrief. Mein Bruder be-
merkte plötzlich, wie sehr ihn diese Wolkenbildung an einen
Abend jener Zeit (1870) erinnerte, da er als Krankenpfleger
auf dem Kriegsschauplatz gewesen war (die neutrale
Schweiz gestattete es ihrem Universitätsprofessor nicht, als
Soldat mitzuziehen).
Nach seiner Ausbildung als Pfleger in Erlangen wurde er

104
von dem dortigen Komitee als Vertrauensperson und Führer
einer Sanitätskolonne nach dem Kriegsschauplatz geschickt.
Es wurden ihm größere Summen anvertraut und eine Fülle
persönlicher Aufträge mitgegeben, so daß er von Abschnitt
zu Abschnitt, von Ambulanz zu Ambulanz über Schlacht-
felder hinweg seinen Weg suchen mußte, sich nur unter-
brechend, um Verwundeten und Sterbenden Hilfe zu leisten
und ihre letzten Grüße in Empfang zu nehmen. Was das mit-
fühlende Herz meines Bruders in jener Zeit gelitten hat, ist
nicht zu beschreiben; noch monatelang hörte er das Stöhnen
und den klagenden Jammerschrei der Verwundeten. Es war
ihm in den ersten Jahren fast unmöglich, darüber zu sprechen,
und als sich Rohde einmal in meiner Gegenwart darüber be-
klagte, daß er wenig von des Freundes Erlebnissen als
Krankenpfleger gehört habe, brach mein Bruder mit dem
schmerzlichsten Ausdruck in die Worte aus: ,Davon kann
man nicht sprechen, das ist unmöglich, man muß diese Er-
innerung zu verbannen versuchen!' Auch an jenem Herbst-
abend, von welchem ich soeben sprach, erzählte er nur, wie
er einmal abends nach solchen entsetzlichen Wanderungen,
,das Herz von Mitleid gebrochen', in eine kleine Stadt ge-
kommen sei, durch welche die Heerstraße führte. Als er um
eine Steinmauer biegt und einige Schritte vorwärts geht,
hört er plötzlich ein Brausen und Donnern, und ein wunder-
volles Reiterregiment, prachtvoll als Ausdruck des Mutes
und Übermutes eines Volkes, flog wie eine leuchtende
Wetterwolke an ihm vorbei. Der Lärm und Donner wird
stärker, und es folgt seine geliebte Feldartillerie in schnell-
stem Tempo — ach, wie es ihn schmerzt, sich nicht auf ein
Pferd werfen zu können, sondern tatenlos an dieser Mauer
stehen bleiben zu müssen! Zuletzt kam das Fußvolk im Lauf-
schritt; die Augen blitzten, der gleichmäßige Tritt klang wie
wuchtige Hammerschläge auf den harten Boden. Und als der
ganze Zug an ihm vorbeistürmte, der Schlacht, vielleicht dem
Tod entgegen, so würdevoll in seiner Lebenskraft, in seinem

105
Kampfmut, so vollständig der Ausdruck einer Rasse, die
siegen, herrschen oder untergehen will — ,da fühlte ich
wohl meine Schwester', fügte mein Bruder hinzu, ,daß der
stärkste und höchste Wille zum Leben nicht in einem elenden
Ringen ums Dasein zum Ausdruck kommt, sondern als Wille
zum Kampf, als Wille zur Macht und Übermacht!' ,Aber
fuhr er nach einer Weile fort, während er in den glühenden
Abendhimmel hinausschaute, ,ich fühle es auch, wie gut es
ist, daß Wotan den Feldherren ein hartes Herz in den Busen
legt, wie könnten wir sonst die ungeheure Verantwortung
tragen, Tausende in den Tod zu schicken, um ihr Volk und
damit sich selbst zur Herrschaft zu bringen.' — Viele, un-
endlich viele haben damals ähnliches erlebt, aber die Augen
des Philosophen sehen anders als andere Leute und finden
neue Erkenntnisse in Erlebnissen, die andere zu entgegen-
gesetzten Resultaten führen. Wenn mein Bruder später an
diesen Vorgang zurückdachte, wie anders und vielgestaltig
mag ihm da das von Schopenhauer so gepriesene Gefühl des
Mitleids erschienen sein, im Vergleich mit jenem wunder-
vollen Anblick des Lebens-, Kampfes- und Machtwillens.
Hier sah er einen Zustand, bei welchem der Mensch seine
stärksten Triebe und seine Ideale als identisch fühlt, und
er sah diesen Zustand nicht bloß in den Ausführenden dieses
Machtwillens, sondern vor allem auch in dem Zustand des
Feldherrn selbst. Damals mag ihm das Problem zuerst auf-
gestiegen sein, daß der große Mensch das Recht hat,
Menschen zu opfern, wie es dem Feldherrn zugestanden wird
und wie es den größten, geistigen Führern der Menschheit
zugestanden werden sollte, um ihre höchsten Ziele zu er-
reichen."
Soweit die Ausführungen der Biographin Nietzsches.
Nietzsches Wille zur Macht entspringt also der gleichen Wurzel
wie die Kriegsbegeisterung eines unreifen Schuljungen, den
Trommelwirbel und Marschmusik dazu treiben, mit den Soldaten
mitzumarschieren. Und so ein grüner Junge vermag andere grüne

106
Jungen anzustecken, bis schließlich ein Weltbrand ausbricht! Es
ist ein Unfug, jemanden als Philosophen zu bezeichnen, dessen
Einstellung zur Welt, zur Politik, zu seinen Freunden immer nur
durch das Gemüt und nie durch den Verstand bestimmt wird. Für
diese direkt weibliche Seite von Nietzsches Wesen ist sein Ver-
hältnis zu Richard Wagner charakterstisch, das von glühender
Freundschaft auf erbitterte Feindschaft umspringt. Der in der ein-
schlägigen Literatur viel diskutierte Fall Wagner-Nietzsche ist so
typisch, daß wir ihn hier noch vom Standpunkt unserer Erkennt-
nisse über die seelischen Kräfte aus besprechen wollen.
Die großen Musiker gehören zu den begnadeten Menschen,
denen es gelingt, ihre eigene Verklärung auf dem Wege ihrer
Kunst auf solche Mitmenschen zu übertragen, die für diese Kunst-
gattung empfänglich sind. Der revolutionäre Musiker Wagner,
der ja ein ,,Neutöner" im wahrsten Sinne des Wortes gewesen ist,
hat nun gerade jene Klänge gefunden, die in einer sehr großen
Zahl der verklärungsfähigen, musikalischen Menschen Resonanz
finden. Er ist darum unter den Musikern nicht nur der Verklärte,
sondern vor allem auch der „Verklärer" par excellence. Der
magische Zauber seiner Musik und insbesondere seines „Tristan"
hatte unter anderem deswegen auch den jungen Friedrich Nietzsche
ergriffen, der seinerseits wieder in hohem Maße verklärungsfähig
war und der selbst auch einen großen Teil der eigenen Werke im
Zustand der Verklärung geschrieben haben dürfte. Das geht nicht
nur aus dem dionysisch-dithyrambischen Stil seiner Schriften
hervor, sondern auch aus den ekstatischen Briefen, die er an
seine Schwester und an Freunde in den Perioden seines Schaffens,
z. B. aus Sils Maria geschrieben hat. Dieser Verklärung ver-
dankt Nietzsche nun auch die Beredtsamkeit seines Stils und die
revolutionäre Kraft, die ihm den Mut gab, mit manchen als Tabu
betrachteten Überlieferungen zu brechen. Ohne das Feuer der
Verklärung, das aus seinen Schriften leuchtet, ohne die aus diesem
Feuer entsprungene Kraft hätte er nie die Beachtung gefunden, die
ihm zuteil wurde und die er letzten Endes gar nicht verdient,
weil er kein wirkliches Genie war, sondern ein recht mittelmäßiger

107
Geist, ein nicht unbegabter Dichter, aber gar kein Denker, ein
schizoider Psychopath, der neben manchen in blendendem Stil
geschriebenen Wahrheiten auch sehr viel grotesken Unsinn ver-
breitet hat und dadurch im ganzen sicher ungleich mehr Schaden
als Segen gestiftet hat.
Aus was für kindischen Anlässen sein „Wille zur Macht" ent-
sprang, hatten wir schon oben gesehen. Nicht minder kindisch ist
die große Idee, die ihn im Höhepunkt seines Schaffens in den
Achtziger Jahren überkommt: Die Idee der ewigen Wiederkehr,
nach der alles, was geschieht, sich unendlich oft in alle Ewigkeit
wiederholen soll. Auf diesen Gedanken, der ihm durch eine plötz-
liche Erleuchtung kam, bildete er sich ungeheuer viel ein, als wäre
es die große Erkenntnis seines Jahrhunderts und als wäre er das
Genie, dem die Welt diese Erkenntnis verdankt. Dabei ist das
ganze ein reines Phantasieprodukt, durch nichts gestützt, frei er-
funden und heute auch schon wieder praktisch der wohlverdienten
Vergessenheit anheimgefallen. Was von seiner Lehre übrig blieb,
ist der viel ältere, zuletzt noch einmal stärker in der Renaissance-
zeit emporgeloderte Gedanke der Lebensbejahung und der Be-
wunderung des starken Mannes, seines Ideals des ''Über-
menschen".
In Nietzsche haben wir ein geradezu klassisches Beispiel dafür,
daß schwärmerische Verklärung durchaus nicht unter allen Um-
ständen mit Religiosität, Frömmigkeit und mit der Verachtung der
allzu irdischen Dinge identifiziert werden darf. Durch Wagners
ganzes Schaffen zieht sich andererseits wie ein roter Faden der
''Erlösungsgedanke": die aus dem Überwiegen eines großen, die
Seele ganz erfüllenden Gefühles gewonnene Emanzipation von den
kleinlichen Leidenschaften und Trieben — am weitesten ausge-
sponnen im „Ring", als der Wettstreit zwischen Liebe und Macht-
gier. Erlösung bedeutet die Befreiung von irgendwelchen Fesseln;
bei Wagner und im ganzen Christentum handelt es sich um jene
Fesseln der eigenen Leidenschaften und Triebe, die den Menschen
manchmal zu versklaven drohen.
Auch Nietzsche beginnt nun in seiner Verklärung Fesseln zu

108
sprengen, aber entsprechend seiner Herkunft und seinem Vor-
leben sind das ganz andere Fesseln. Als Abkömmling einer
Pastorenfamilie, mit fünf Jahren Vaterwaise, besucht er als Gym-
nasiast eine Musterschule, studiert als Hochschüler klassische
Philologie und Theologie, wird mit 25 Jahren Universitätspro-
fessor, ist aber zehn Jahre später schon kranker Pensionist, ist
sozusagen ein Leben lang von Beruf aus Vorzugsschüler, wird von
seinem 25. Jahr an von einem schweren Kopfleiden geplagt, um
schließlich vom 45. Lebensjahr an in völlig geistige Umnachtung
zu versinken. Er hatte nie das Glück, eine liebende Frau, ja nicht
einmal eine richtige Geliebte zu besitzen, sondern bleibt lebens-
lang Junggeselle; bei all seiner Sehnsucht nach Kraft und Helden-
tum hat er weder beim Militär (wo er vom Pferd fällt und als
untauglich entlassen wird) noch im Sport je Gelegenheit, seine
physischen Kräfte austoben zu lassen oder heroische Leistungen
zu vollbringen. Während mehrjähriger Sommeraufenthalte im
Engadin schleicht er monatelang als Talschnecke auf Promenaden-
wegen herum, ohne überhaupt auf die Idee zu kommen, einen
Gipfel zu ersteigen oder den Kampf mit den Schneestürmen in
der Dreitausenderregion aufzunehmen*). Er verkörpert den Typus
des einseitig gebildeten Gelehrten, der als braver Klassenerster in
seinem Fach wohlbeschlagen ist, aber z. B. schon von den großen
Problemen der Naturwissenschaft keinen blassen Schimmer hat,
und bleibt so zeitlebens der deutsche Gymnasiast und bebrillte
Philologe mit dem Ideal der Spartaner bei den Thermopylen vor

*) Auf Grund reicher Erfahrungen mit Nörglern der Friedensidee sehe ich
voraus, daß man gegen meine Kritik Nietzsches einwenden wird, es sei doch
abwegig, von einem Philosophen verlangen zu wollen, daß er auch ein Sports-
mann sei. Meine Erwiderung darauf: Bei einem wirklichen Denker, dessen
Ideen weiterleben und der Welt ein neues Gepräge geben, bei einem Newton
oder Einstein, wird man selbstverständlich nicht nach seinen körperlichen
Leistungen fragen; wir beugen uns ehrfurchtsvoll vor ihrem schöpferischen
Genie. Wenn aber einer nichts weiter ist als ein Vorkämpfer für Kraft, Lebens-
bejahung und Heldentum, dann müßte er sich auch irgendwie durch persön-
lichen Wagemut und Tatendrang auszeichnen, um stilvoll zu bleiben. Andern-
falls wirkt der Kontrast zwischen dem Autor und seinem Ideal allzu lächerlich.

109
den Augen, ein halb dekadenter, der Sucht nach Narcoticis und
Schlafmitteln verfallener Intellektueller, mit der großen Sehnsucht
nach Kraft, Heldentum und Lebensglück. So einer, der selber nie
Gelegenheit hatte, sich aktiv als Mann zu bewähren, empfindet
dann eben nicht die eigenen großen Leidenschaften als die Fesseln
seines Lebens, sondern das Philistertum und die engherzige Moral
der bürgerlichen deutschen Spießerkaste, der er angehört. Sobald
er endlich genügend gereift ist und sobald ihm seine Verklärung
den Mut und die Kraft dazu verleiht, versucht er diese Fesseln
zu sprengen, schüttet aber das Kind mit dem Bade aus, indem er
mit dem ganzen Fanatismus der latent in ihm schlummernden
Geisteskrankheit gegen das Christentum, gegen alle Regungen
des Mitleids, gegen Sozialismus und Demokratie ins Feld zieht,
ohne das geringste Verständnis für die erhabene Größe der
christlichen Ethik zu haben, die in weit sublimerer Weise seelische
Fesseln der Menschheit gesprengt hat und erlösend zu wirken
vermag. So verfeindet er sich mit Wagner, dem er das erbärm-
liche Motiv unterstellt, er habe im „Parsifal" das Thema des christ-
lichen Mitleids aufgegriffen um, wie Nietzsche sich ausdrückt,
,,sich mit den herrschenden Mächten zu arrangieren". So wird er
zum einseitigen Eiferer und Geiferer, der zwar die Kraft auf-
bringt, seine Ideale mit Temperament zu verfechten, der aber viel
zu wenig Weitblick, Einsicht und Weisheit besitzt, um auch anders
geartete Ideale als solche zu erkennen und zu würdigen.
Nietzsches Verachtung der Wissenschaft und ihrer Vertreter,
seine abfälligen Bemerkungen gegen Sokrates, den er als „Hans-
wurst" bezeichnet, seine völlige Ignoranz auf naturwissenschaft-
lichem Gebiet, all das zeigt, wie beschränkt sein geistiger Horizont
gewesen ist. Aus dieser Beschränktheit, aus der einseitigen Be-
wertung brutaler Gewaltmenschen nach Art eines Cesare Borgia
erklären sich seine antisozialen Thesen, sein Eintreten für die
Sklaverei, die ihn bei den Faschisten so beliebt gemacht haben,
Thesen etwa der folgenden Art: „Das Elend der heute mühsam
lebenden Menschen muß noch gesteigert werden, um einer geringen
Zahl olympischer Menschen die Produktion ihrer Kunstwerke zu

110
ermöglichen." Aus dem weltfremden Gelehrten ist so der Apostel
einer gemeingefährlichen Lehre geworden.
Es ist vielleicht kein Zufall, daß Fichte und Nietzsche
(ebenso wie übrigens auch der Historiker Leopold von Ranke)
aus der gleichen berühmten humanistischen Bildungsanstalt, der
Fürstenschule in Schulpforta, hervorgegangen sind. Wir wollen gar
nicht in Zweifel ziehen, daß dieses altrenommierte Gymnasium
die Grundlagen zu ausgezeichnetem Fachwissen auf philologischem
oder historischem Gebiet vermittelt hat. Aber gleichzeitig scheint
gerade diese Schule auch der vollendetste Typus jener zahlreichen
deutschen Bildungsanstalten gewesen zu sein, die ihren Zöglingen
den Geist eines romantischen Idealismus und Nationalismus ein-
hauchten, der in den Intelligenzschichten des deutschen Bürgertums
wie eine latente Krankheit schlummerte, um dann im National-
sozialismus schließlich gefahrdrohend zum Ausbruch zu kommen.
Der in dem Geist von Potsdam und Köpenik verkörperte Kadaver-
gehorsam auf der einen Seite und der Geist von Schulpforta mit
seinem an sich nicht unedlen, aber durchaus verkehrt gelenkten
Idealismus auf der anderen Seite, hat die intellektuelle Zwischen-
schicht Deutschlands geformt und hat aus ihr das gemacht, was
in den Händen Hitlers zu einer Weltbedrohung wurde.
Ganz anders wirkt da der Geist der Public Schools von Eton
und Harrow mit ihrem regen Sportbetrieb, mit ihren Fußball- und
Hockey-Teams, der alle Kampftriebe in lebendiger, körperlicher
Bewegung austoben läßt, während das Bücherstudium in der ur-
sprünglich aus einer Klosterschule hervorgegangenen Fürsten-
schule, ohne den Blitzableiter des Sports, dem Kampftrieb keine
unmittelbare, körperliche Stillung gibt, sondern ihn auf das
romantische Kriegsideal hinlenkt. Mit dem Ergebnis, daß die pro-
minentesten Schüler selber nie im körperlichen Kampf mit
den Naturgewalten stehen und dazu auch gar nicht die Fähigkeit
erlangen, daß sie aber, weil das Kriegsideal ihnen immer leuch-
tend vorgezeichnet wurde, zu Militarismus und Chauvinismus
neigen und deswegen zu Vorkämpfern einer Ideenwelt werden,
für die schließlich Millionen anderer bluten müssen.

111
Kapitel 9
Abrechnung mit Oswald Spengler

Der Kulturphilosoph Oswald S p e n g l e r (1880—1939) ist


in mancher Hinsicht eine ähnliche Erscheinung wie Nietzsche:
leichtfertig in der Bildung von schlecht oder gar nicht fundierten
Hypothesen und naiv romantisch in seiner Kriegsbegeisterung.
Sein Hauptwerk, ''Der Untergang des Abendlandes", mit dem er
sich einen Namen gemacht hat, ist der Gegenstand eingehender
Kritik gewesen; wir wollen uns mit diesem Werk, dessen Dar-
stellung recht weitschweifig ist und vom hundertsten ins tau-
sendste kommt, nicht befassen, und deswegen muß ausdrücklich
hervorgehoben werden, d a ß d i e f o l g e n d e , s c h a r f e
Polemik sich nicht gegen die Ideen seines
H a u p t w e r k e s r i c h t e t , isondern gegen seinen durchaus
Nietzscheanischen Kult des Herrenmenschen, t der in dem 1931
geschriebenen und 1933 erschienenen Buche „Jahre der Entschei-
dung" zutage tritt.
Es ist so, als ob Spengler — vielleicht verführt durch den
ästhetischen Anblick, den so ein Mensch bietet — ganz faszi-
niert, wie geblendet, ja verblendet wäre vom Bild des Mannes
„von Rasse", des in Form und Gehaben adeligen Herrenmenschen,
des nordischen Menschen mit dem Willen zur Macht. Nun ist
durchaus zuzugeben, daß das Bild eines solchen Menschen rein
ästhetisch reizvoller und anregender sein kann als das eines tiefer
veranlagten Grüblers oder Skeptikers. Aber der rein ästhetische
Eindruck, die Prägnanz und Stärke des Charakters dürfen nicht
die letzten Endes maßgebenden Faktoren für die Bewertung eines
Menschen sein, und vor allem nicht für die Stellung, die wir ihm

112
als Vorbild und Führer eines Volkes oder gar der ganzen Mensch-
heit einräumen. Das gilt für Männer eben geradeso wie für die
Frauen. Niemandem würde es doch um Gotteswillen einfallen, die
Geschicke der Menschheit gerade in die Hände der schönsten
Frauen der Welt zu legen. Wir freuen uns ihres Anblicks, hüten
uns aber wohl, ihnen zu großen Einfluß zu gewähren. Etwas ähn-
liches müßte auch für das sogenannte stärkere Geschlecht gelten.
Überlassen wir den Typus der stolzen und edlen Männlichkeit,
des ''Mannes von Rasse", den Malern, Bildhauern, Dichtern und
Dramatikern. Aber als Lenker der Geschicke des Volkes wählen
wir lieber weise Männer, und zwar wirklich ''weise" in höherem
Sinne, also nicht Stubengelehrte, sondern Menschen mit Weit-
blick und einsichtsvollem Verständnis. Gerade dieser Forderung
aber widersetzt sich Spengler mit Leidenschaft. Man lese nur, wie
gleich im ersten Kapitel, das den Titel ''Der politische Horizont"
trägt, auf S. 10 ff., die Viktorianische Friedensepoche mit Hohn
und Verachtung behandelt wird und die kommende Periode kriege-
rischer Auseinandersetzungen mit einer geradezu sadistischen
Genugtuung begrüßt wird. Er schreibt:
''Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1865), dem
Deutsch-Französischen Krieg (1870) und der Viktorianischen
Zeit hat sich bis 1914 ein so unwahrscheinlicher Zustand von
Ruhe, Sicherheit, friedlichem und sorglos fortschreitendem
Dasein über die weißen Völker verbreitet, daß man in allen
Jahrhunderten vergebens nach etwas ähnlichem sucht. Wer
das erlebt hat oder von anderen davon hört, erliegt immer
wieder der Neigung, es für n o r m a l zu halten, die wüste
Gegenwart als Störung dieses natürlichen Zustandes auf-
zufassen und zu wünschen, daß es ''endlich wieder einmal
aufwärts" gehe. Nun, das wird nicht der Fall sein. Der-
gleichen wird nie wieder kommen . . . Einen langen Krieg
ertragen wenige, ohne seelisch zu verderben; einen langen
Frieden erträgt niemand. Diese Friedenszeit von 1870 bis
1914 und die Erinnerung an sie hat alle weißen Menschen
satt, begehrlich, urteilslos und unfähig gemacht, Unglück zu
8 Thirring, Anti-Nietzsoha u. Anti-Spengler

113
ertragen: Die Folge sehen wir in den utopischen Vorstel-
lungen und Forderungen, mit denen heute jeder Demagoge
auftritt, Forderungen an die Zeit, die Staaten, die Parteien,
vor allem ''die anderen", ohne an die Grenzen des Möglichen,
an Pflichten, Leistungen und Entsagung auch nur zu er-
innern. Dieser allzu lange Friede über dem vor wachsender
Erregung zitternden Boden ist eine furchtbare Erbschaft."
Die lange Friedenszeit betrachtete Spengler also als schwäch
lich und enervierend — ganz anders spricht er auf S. 11 von der
kriegerischen Gegenwart:
''Denn wir leben in einer gewaltigen Zeit. Es ist die größte,
welche die Kultur des Abendlandes je erlebt hat und erleben
wird, dieselbe, welche die Antike von Cannä bis Aktium
erlebt hat, dieselbe aus der die Namen Hannibal, Scipio,
Gracchus, Marius, Sulla, Cäsar herüberleuchten. Der Welt-
krieg war für uns nur der erste Blitz und Donner aus der
Gewitterwolke, die schicksalsschwer über dieses Jahrhundert
dahinzieht. Die F o r m d e r Welt wird heute aus dem
Grund umgeschaffen wie damals durch das beginnende Im-
perium Romanum, ohne daß das Wollen und Wünschen der
''meisten" beachtet und ohne daß die Opfer gezählt werden,
die j e d e solche Entscheidung fordert. Aber wer versteht
das? Wer erträgt das? Wer empfindet es als Glück, d a b e i
z u s e i n ? Die Zeit ist gewaltig, aber um so kleiner sind die
Menschen. Sie ertragen keine Tragödie mehr, weder auf der
Bühne noch in Wirklichkeit. Sie wollen das happy end
flacher Unterhaltungsromane, kümmerlich und müde, wie sie
sind. Aber das Schicksal, das sie in diese Jahrzehnte hinein-
geworfen hat, packt sie beim Kragen und tut mit ihnen,
was getan werden muß, ob sie nun wollen oder nicht. Die
feige Sicherheit vom Ausgang des vorigen Jahrhunderts
ist zu Ende. Das L e b e n in Gefahr, das eigentliche
Leben der Geschichte, tritt wieder in sein Recht. Alles ist
ins Gleiten gekommen. Jetzt zählt nur der Mensch, der etwas
wagt, der den Mut hat, die Dinge zu sehen und zu nehmen,

114
wie sie sind. Die Zeit kommt — nein, sie ist schon da! -
die keinen Raum mehr hat für zarte Seelen und schwächlich
Ideale. Das uralte Barbarentum, das jahrhundertelang unter
der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und ge-
fesselt war, wacht wieder auf, jetzt, wo die Kultur voll
endet ist und die Zivilisation begonnen hat, jene kriegerische
gesunde Freude an der eigenen Kraft, welche das mit Lite-
ratur gesättigte Zeitalter des rationalistischen Denkens ver-
achtet, jener ungebrochene Instinkt der Rasse, der anders
leben will als unter dem Druck der gelesenen Büchermassen
und Bücherideale . . . Es gibt ein nordisches Weltgefühl
— von England bis nach Japan hin — voll Freude gerade
an der Schwere des menschlichen Schicksals. Man fordert es
heraus, um es zu besiegen. Man geht stolz zugrunde, wem
es sich stärker erweist als der eigene Wille. So war die An-
schauung in den alten, echten Stücken des Mahabarata, die
vom Kampf zwischen den Kurus und Pandus berichten, bei
Homer, Pindar und Aischylos, in der germanischen Helden-
dichtung und bei Shakespeare, in manchen Liedern des
chinesischen Schuking und im Kreise der japanischen
Samurai. Es ist die tragische Auffassung des Lebens, die
heute nicht ausgestorben ist, die in Zukunft eine neue Blüte
erleben wird und sie im Weltkrieg schon erlebt hat. Des-
halb sind alle ganz großen Dichter aller nordischen Kulturen
Tragiker gewesen und die Tragödie über Ballade und Epos
hinaus die tiefste Form dieses t a p f e r e n Pessimismus.
Wer keine Tragödie erleben, keine e r t r a g e n kann, kann
auch keine Gestalt von Weltwirkung sein. Wer Geschichte
nicht erlebt, wie sie wirklich ist, nämlich tragisch, vom
Schicksal durchweht, vor dem Auge der Nützlichkeitsanbeter
also ohne Sinn, Ziel und Moral, der ist auch nicht imstande,
Geschichte zu machen."
„Sie schreien: Nie wieder Krieg! — Aber sie wollen den
K l a s s e n k a m p f . Sie sind entrüstet, wenn ein Lust-
mörder hingerichtet wird, aber sie genießen es heimlich,

115
wenn sie den Mord an einem politischen Gegner erfahren.
Was haben sie je gegen die Schlächtereien der Bolschewisten
einzuwenden gehabt? Nein, der Kampf ist die Urtatsache
des L e b e n s , ist d a s L e b e n s e l b s t , und es gelingt
auch dem jämmerlichsten Pazifisten nicht, die Lust daran in
seiner Seele ganz auszurotten. Zum mindesten theoretisch
möchte er alle Gegner des Pazifismus bekämpfen und ver-
nichten."
''Je tiefer wir in den Cäsarismus der faustischen Welt
hineinschreiten, desto klarer wird sich entscheiden, wer
ethisch zum Subjekt und wer zum Objekt des historischen
Geschehens bestimmt ist. Der triste Zug der Weltverbesserer,
der seit Rousseau durch diese Jahrhunderte trottete und als
einziges Denkmal seines Daseins Berge bedruckten Papiers
auf dem Wege zurückließ, ist zu Ende. Die Cäsaren werden
an ihre Stelle treten. Die große Politik als die K u n s t
d e s M ö g l i c h e n fern von allen Systemen und Theorien,
als die Meisterschaft, mit den Tatsachen als Kenner zu
schalten, die Welt wie ein guter Reiter durch den Schenkel-
druck zu regieren, tritt wieder in ihre ewigen Rechte."
Wir wollen nur feststellen, daß Herr Spengler, der die ''ge-
waltige Zeit", das ''Leben in Gefahr" und die ''kriegerische,
gesunde Freude an der eigenen Kraft" anpreist, sich, weder aus
eigenem Antrieb in Todesgefahren begeben hat, noch in dem von
ihm angepriesenen Krieg sich persönlich ausgezeichnet hat, son-
dern auch nur bedrucktes Papier als Spur seiner Tätigkeit hinter-
lassen hat. Seine Liebe zum Kampf bleibt also genau so platonisch
wie die Nietzsches. In der warmen Studierstube kann man leicht
für tapferen Pessimismus und tragische Lebensauffassung
schwärmen.
Das nächste Kapitel der ''Jahre der Entscheidung" enthält einen
durchaus charakteristischen Ausspruch über die französische
Revolution. Der Leser sei daran erinnert, daß Mirabeau der Ex-
ponent der gemäßigten und versöhnlichen Richtung innerhalb der
Revolutionäre war — hätte er gesiegt, dann wären der Welt mög-

116
licherweise nicht nur die Pariser Schreckenstage der Neunziger-
jahre, die Jakobinerherrschaft und die Napoleonischen Kriege,
sondern auch die allgemeine Wehrpflicht, die Entstehung des
nationalen Chauvinismus in Frankreich und Deutschland im
19. Jahrhundert und damit die beiden Weltkriege des 20. Jahr-
hunderts, also geradezu ein Meer von Kummer und Elend erspart
geblieben. Was aber sagt Spengler dazu? Ich zitiere S. 18:
„Wären Mirabeaus Pläne 1789 gelungen, so wäre eine
leidlich beständige, konstitutionelle Monarchie entstanden,
die sich im wesentlichen mit der Aufgabe begnügt hätte, den
Rentnergeschmack der Bourgeoisie und der Bauern zu be-
friedigen. Unter dem Direktorium lag die Wahrscheinlichkeit
vor, daß das Land, resigniert und aller Ideale satt, sich mit
jeder Art von Regierung zufrieden gegeben hätte, welche
die Ruhe nach außen und innen gewährleistete. Da kam
Napoleon, ein Italiener, der Paris zur Basis seiner Machtziele
gewählt hatte, und schuf in seinem Herzen d e n Typus
d e s l e t z t e n F r a n z o s e n , der noch ein volles Jahr-
hundert lang Frankreich als Großmacht aufrechterhalten
hat: tapfer, e l e g a n t , prahlerisch, roh,
v o l l e r F r e u d e am T ö t e n , P l ü n d e r n , Zer-
s t ö r e n , mit dem Elan ohne Ziel, nur um seiner selbst
willen, so daß alle Siege trotz unerhörten Blutvergießens
Frankreich nicht den geringsten bleibenden Vorteil gebracht
haben. Nur der Ruhm gewann dabei, nicht einmal die Ehre.
Im Grunde war es ein Jakobinerideal, das gegenüber dem
girondistischen der kleinen Rentner und Spießbürger nie die
Mehrheit über sie hatte, aber stets die Macht."
Glaubst du vielleicht, lieber Leser, daß er Napoleon und die
kriegerischen Heißsporne deswegen verurteilt? Auf S. 32 drückt
er sich über den gleichen Sachverhalt noch viel deutlicher aus:
„Der folgenreichste Ausdruck der nationalen Revolution
seit 1789 sind die stehenden Heere des 19. Jahrhunderts
gewesen. Die Berufsheere der dynastischen Staaten wurden
durch M a s s e n h e e r e auf Grund der allgemeinen Wehr-

117
pflicht ersetzt. Es war im tiefsten Grunde ein Jakobiner-
ideal: Die Levee en masse von 1792 entsprach der N a t i o n
a l s M a s s e , die an Stelle der alten, gewachsenen, stän-
disch gegliederten Nation in vollkommener Gleichheit orga-
nisiert werden sollte. Daß dann in den Sturmangriffen
dieser uniformierten Massen etwas ganz anderes zum Vor-
schein kam, eine prachtvolle, barbarische, gänzlich untheo-
retische Freude an Gefahr, Herrschaft und Sieg, der Rest von
gesunder Rasse, das, was noch von nordischem Helden-
tum in diesen Völkern lebte, war eine Erfahrung, welche
die Schwärmer für „Menschenrechte" sehr bald machten.
Das Blut war wieder einmal stärker als der Geist."
Müßte einem Spengler nicht das Herz lachen, wenn er die
Gegenwart erlebt hätte und im maschinell geführten Krieg und
in den Vernichtungslagern der SS die von ihm gepriesene
„prachtvoll barbarische, gänzlich untheoretische Freude am
Töten und Zerstören" verwirklicht gesehen hätte?
Wir rinden bei Spengler auf Schritt und Tritt die Verherr-
lichung des Krieges und die Verächtlichmachung aller jener Leute,
die sich gegen den Wahnsinn des Krieges aufbäumen und den
ehrlichen Willen haben, die Welt zur Vernunft zu bringen. Ich
zitiere S. 24:
„Menschliche Geschichte im Zeitalter der hohen Kulturen
ist die Geschichte politischer Mächte. Die Form dieser Ge-
schichte ist der Krieg. Auch der Friede gehört dazu. Er
ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Der
Versuch des Besiegten, die Folgen des Krieges in der Form
von Verträgen abzuschütteln, der Versuch des Siegers, sie
festzuhalten. Ein Staat ist das ,In Form sein' einer durch
ihn gebildeten und dargestellten völkischen Einheit für wirk-
liche und mögliche Kriege."
S. 46: „In Japan regierte damals die alte, stolze, ehren-
hafte und tapfere Herrenschicht der Samurai, die mit zum
Besten gehört, was die ganze Welt an ,Rasse' besitzt."
S. 54: „Die französische Nation sondert sich immer deut-

118
licher in zwei seelisch grundverschiedene Bestandteile. Der
eine weitaus zahlreichere ist das ,girondistische' Element,
der Provinzfranzose, der Schwärmer für ein Rentnerideal,
der Bauer und Bourgeois. Sie wollen nichts als die Ruhe
eines in Schmutz, Geiz und Stumpfheit müde und unfrucht-
bar gewordenen Volkstums, ein wenig Geld, Wein und
,Amour', und wollen nichts mehr von großer Politik, von
wirtschaftlichem Ehrgeiz, von Kampf um bedeutende Lebens-
ziele hören. Darüber aber liegt die langsam kleiner wer-
dende jakobinische Schicht, die seit 1792 das Schicksal des
Landes bestimmt und den Nationalismus französischer Prä-
gung nach einer alten Lustspielfigur von 1831 Chauvin
getauft hat. Sie setzt sich zusammen aus Offizieren, Indu-
striellen, den höheren Beamten der von Napoleon streng zen-
tralisierten Verwaltung, den Journalisten der Pariser Presse,
den Abgeordneten ohne Unterschied der Parteien und ihrer
Programme und einigen mächtigen Organisationen wie der
Lose und dem Frontkämüferverbänden."
Für Spengler wie für die meisten Leute der lykurgischen Welt-
anschauung ist charakteristisch ihr Unverständnis, ja ihre Blind-
heit gegenüber allen Idealen, die nichts mit Kriegsruhm und
aationaler Ehre zu tun haben. Wie nennt er die Leute, die endlich
einmal Ruhe vor dem ewigen Kriegsgeschrei haben wollen? „Die
Schwärmer für ein Rentnerideal, die nichts haben wollen als die
Ruhe eines in Schmutz, Geiz und Stumpfheit müde und unfrucht-
bar gewordenen Volkstums." Daß in Perioden friedlicher Entwick-
lung tiefgreifende Erkenntnisse auf allen möglichen Gebieten <ler
Forschung gewonnen werden, daß großartige geistige Kultur-
güter geschaffen werden, daß das Leben der ärmsten Volks-
schichten allmählich erträglich zu werden beginnt, das sehen Leute
vom Typus eines Spengler überhaupt nicht; mit einer fried-
lichen Entwicklung werden im Geiste dieser Leute nur die Be-
griffe Schmutz, Geiz und Stumpfheit assoziiert, alle Friedens-
liebenden erscheinen ihm ,,müde und greisenhaft". Genau die
gleiche Auffassung wie bei Hitler, der als junger Mensch tief

119
traurig darüber war, in einer langweilig gewordenen Welt des
Friedens leben zu müssen. (''Mein Kampf", S. 172). Es ist Hitler
auch gelungen, seinen Wunsch nach Krieg ausgiebig zu stillen,
und die Anfangserfolge hat er in vollen Zügen genossen. Wenn
es schief geht, entzieht man sich der Verantwortung durch Selbst-
mord und läßt das Volk zurück, das durch Generationen hindurch
für .seine Schandtaten zu büßen haben wird.
Leute der solonischen Weltanschauung werden von Spengler
mit einer verächtlichen Handbewegung als ''Schwärmer und Welt-
verbesserer" abgetan. Man lese bitte auf S. 97:
''Die Blütezeit der weltverbessernden Theorien füllt das
erste aufsteigende Jahrhundert des Rationalismus aus, vom
Contrat social (1762) bis zum kommunistischen Manifest
(1848). Damals glaubte man wie Sokrates und die So-
phisten an die Allmacht des menschlichen Verstandes und
seine Fähigkeit, über Schicksal und Instinkte Gewalt zu
haben und das geschichtliche Leben ordnen und leiten zu
können. Sogar in das Linnesche System zog der Mensch
damals als 'homo sapiens' ein. Man vergaß die Bestie im
Menschen, die ihr Dasein 1792 wieder nachdrücklich in Er-
innerung brachte. Man war nie weiter entfernt von der
Skepsis des echten Kenners der Geschichte und der wirk-
lichen Weisen aller Zeiten, die wußten, daß ,der Mensch
böse ist von Jugend auf. Man hoffte, die Völker zum Zweck
ihrer endgültigen Seligkeit nach doktrinären Programmen
organisieren zu können. Die Leser wenigstens haben daran
geglaubt, inwieweit die Schreiber solcher materialistischer
Utopien, ist eine andere Frage."
''Aber seit 1848 ist das zu Ende. Das System von Marx
ist auch darum das wirksamste geworden, weil es das letzte
war. Wer heute politische oder wirtschaftliche Programme
zur Rettung der ,Menschheit' entwirft, ist altmodisch und
langweilig. Er beginnt lächerlich zu werden. Aber die agita-
torische Wirkung solcher Theorien auf Dummköpfe — die
Lenin auf 95 Prozent aller schätzte — ist immer noch stark

120
(sie nimmt in England und Amerika sogar zu), mit Aus-
nahme von Moskau, wo man nur zu politischen Zwecken
daran zu glauben vorgibt."
Wer den Radikalismus ablehnt und im politischen Denken
maßvoll statt radikal ist, wird von Spengler als feig bezeichnet.
Ich zitiere S. 131;
''Vergebens bemüht sich die Feigheit ganzer Schichten,
für eine versöhnliche Mitte' gegen ,rechts'- und .linfcs'-
radikale Tendenzen einzutreten. Die Zeit selbst ist radikal.
Sie duldet keine Kompromisse. Die T a t s a ch e der be-
stehenden Übermacht der Linken, der erwachende Wille zu
einer Rechtsbewegung, die einstweilen nur in engen Kreisen,
in einigen Heeren, unter anderm auch im englischen Ober-
haus einen Stützpunkt hat, lassen sich nicht aus der Welt
schaffen oder verleugnen. D e s h a l b ist die liberale
Partei Englands verschwunden, und wird ihre Erbin, die
Labour Party, in der heutigen Gestalt verschwinden. Deshalb
verschwanden die Mittelparteien Deutschlands ohne Wider-
stand. Der Wille zur Mitte ist der greisenhafte Wunsch nach
Ruhe um jeden Preis, nach V e r s c h w e i z e r u n g der
Nation, nach geschichtlicher Abdankung, mit der
man sich einbildet, den Schlägen der Geschichte entronnen
zu sein."
Wieder etwas sehr Charakteristisches der Weltanschauung
dieser Leute, das man genau so bei Hitler und namentlich auch
Goebbels wiederfindet: Abstrakte Größen werden in Personen
verwandelt, denen die Attribute wirklicher Menschen zuerkannt
werden. Die ''Zeit" ist radikal, die ''Geschichte" erteilt Schläge —
ganz so wie Goebbels immer vom ''Gebot der Geschichte" oder
vom ''Geist des Krieges" Spricht. Dazu kann man nur sagen:
Quatsch! Das, was h a n d e l t , d e n k t , i r r t o d e r l ü g t ,
i s t niemals d i e G e s c h i c h t e o d e r d i e Z e i t o d e r
d e r Krieg, s o n d e r n d i e M e n s c h e n , teils einzeln, teils
in Massen, meist geführt von einem Leithammel, und wir ent-

121
gehen den Schlägen der Geschichte, indem wir vernünftig und
anständig handeln, was leider bisher nicht der Fall war!
Ein beliebtes Schlagwort der Nationalisten ist der Kampf
gegen den. Materialismus. Aber die gleichen Leute, die mit
diesem Schlagwort auf ihre Anhängerschaft zu wirken suchen,
haben ja selber materialistische Ziele, denn Macht, Eigentum
und Besitz sind letzten Endes doch sehr irdische, „diesseitige"
materielle Güter, ganz und gar verschieden von den Idealen der
wirklich großen Religionsstifter wie Christus, Buddha oder
Confucius. Was für eine großartige Verachtung gegen alle
menschliche Eitelkeit, gegen das Allzuviel an irdischem Tand, mit
dem sich die Menschen selber belasten und um dessen Besitz
sie ihre Nächsten quälen, steckt in allen wirklich erhabenen Reli-
gionen der Menschheit! Aber Spengler predigt auf S. 138:
„Preußisch ist vor allem der unbedingte Vorrang der
Außenpolitik, der erfolgreichen Leitung des Staates in einer
Welt von Staaten, über die Politik im Innern, die lediglich
die Nation für diese Aufgabe in Form zu halten hat und zum
Unfug und Verbrechen wird, wenn sie unabhängig davon
eigene ideologische Zwecke verfolgt. Hierin liegt die
Schwäche der meisten Revolutionen, deren Führer durch
Demagogie emporgekommen sind, nichts anderes gelernt zu
haben und deshalb den Weg vom parteimäßigen zum staats-
männischen Denken nicht zu finden wissen, — wie Danton
und Robespierre. Mirabeau und Lenin starben zu früh,
Mussolini ist es geglückt. Aber die Zukunft gehört den
großen Tatsachenmenschen, nachdem seit Rousseau Welt-
verbesserer sich auf der Bühne der Weltgeschichte gespreizt
haben und ohne bleibende Spur verschwunden sind."
Und weiter auf S. 139: „Die preußische Idee richtet sich
gegen den Finanzliberalismus wie gegen den Arbeiter-
sozialismus. Jede Art von Masse und Mehrheit, alles, was
'links' ist, ist ihr verdächtig. Vor allem richtet sie sich gegen
die Schwächen des Staates und seinen herabwürdigenden
Mißbrauch für Wirtschaftsinteressen. Sie ist konservativ

122
und ,rechts' und wächst aus den Urmächten des Lebens her-
vor, soweit sie in nordischen Völkern noch vorhanden sind;
Dem Instinkt 'für Macht und Eigentum, für Eigentum als
Macht, für Erbe, Fruchtbarkeit und Familie — denn das
gehört zusammen — für Rangunterschied und gesellschaft-
liche Gliederung, deren Todfeind der Rationalismus von
1750 bis 1950 war oder ist."
Steckt hinter diesem preußischen Ideal nicht die durchaus
irdische Begierde nach Macht und Besitz? Gerade jener Instinkt,
dessen unlöslicher Gegensatz zur Liebe das Leitmotiv von Wag-
ners „Ring des Nibelungen" bildet! Der fromme Christ würde
diesen Instinkt vielleicht als „gottlos" bezeichnen, aber die
Nationalisten aller Völker haben ein Mittel, um ihn zu recht-
fertigen, ihn sogar mit einem gewissen Heiligenschein zu um-
geben: Alles Machtstreben nicht für das eigene Selbst, sondern
für die Nation — für die Nation, die im 19. Jahrhundert schon
zum Halbgott und im 20. zum Götzen und Fetisch der neuen
Zeit geworden ist! Die Nation muß groß und stark werden, wenn
auch jeder einzelne Bürger dieser Nation als Kuli oder Kriegs-
sklave auf dem Altar des Götzen geopfert wird. Lesen wir in
Spengler noch ein bißchen weiter:
S. 161: ''Ein starkes Geschlecht hat starke Eltern nötig.
Etwas vom Barbarentum der Urzeit muß noch im Blut liegen
unter der Formenstrenge alter Kultur, das in schweren
Zeiten hervorbricht, um zu retten und zu siegen. Dieses Bar-
barentum ist das, was ich starke Rasse nenne, das ewig
Kriegerische im Typus des Raubtieres Mensch. Es sicheint
oft nicht mehr da zu sein, aber es liegt sprungbereit in der
Seele. Eine starke Herausforderung, und es hat den Feind
hinter sich. Es ist nur dort erstorben, wo der Pazifismus
der späten Städte seinen Schlamm über die Generationen
wälzt, den müden Wunsch nach Ruhe um jeden Preis, aus-
genommen des eigenen Lebens. Das ist die seelische Selbst-
entwaffnung nach der leiblichen durch Unfruchtbarkeit."
S. 163: ''Die ,Rasse' im Volkstum schlief und wartete

123
auf den Weckruf einer großen Zeit. Hier liegt, trotz der
Verwüstungen der letzten Jahrzehnte, ein Schatz von tüch-
tigem Blut, wie ihn kein anderes Land besitzt. Er k a n n
geweckt und muß durchgeistigt werden, um für die gewal-
tigen Aufgaben der Zukunft bereit und wirksam zu sein.
Aber diese Aufgaben sind heute da. Der Kampf um den
Planeten hat begonnen. Der Pazifismus des liberalen Jahr-
hunderts muß überwunden werden, wenn wir weiter leben
wollen."
''Wie weit sind die weißen Völker schon in ihn hinein-
geschritten? Ist das Geschrei gegen den Krieg eine geistige
Geste oder die ernsthafte Abdankung vor der Geschichte
auf Kosten der Würde, der Ehre, der Freiheit? Aber das
Leben ist K r i e g . Kann man seinen Sinn verabschieden
und es doch behalten? Das Bedürfnis nach fellachenhafter
Ruhe, nach der Sicherung gegen alles, was den Trott der
Tage stört gegen das Schicksal in jeder Gewalt, scheint das
zu wollen: Eine Art Mimikri gegenüber der Weltgeschichte,
das Sichtotstellen menschlicher Insekten, angesichts der Ge-
fahr, das happy end eines inhaltsleeren Daseins, durch
dessen Langweile Jazzmusik und Niggertänze den Toten-
marsch einer eroßen Kultur zelebrieren."
Erkennt man die abgrundtiefe Kluft zwischen Spenglers und
unserer Weltanschauung? Er meint, der Pazifismus müsse über-
wunden werden, wenn wir weiter leben wollen, und wir sagen:
Der Irrsinn der Kriege muß überwunden werden, wenn wir weiter
leben wollen. Der geistige Horizont des preußischen Junkers
Spengler ist so beschränkt, daß er gerade so wie Hitler in einer
friedlichen Periode ohne Kriege nur den öden Trott des All-
tags, die Langweile eines ''inhaltsleeren Daseins" erblickt, wäh-
rend Männer anderen Schlages eine Fülle von Problemen natur-
wissenschaftlicher und religiöser Art, von Aufgaben kultureller,
soziologischer und ethischer Natur vor sich liegen sehen.
Spengler schließt sein Buch mit der erfreulichen Vision, daß sich
eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammenschließen,

124
um mit der weißen Welt ein Ende zu machen. Und er schließt mit
den Worten:
„Hier hebt die kommende Geschichte sich hoch über
Wirtschaftsnöte und innerpolitische Ideale. Hier treten die
elementaren Rechte des Lebens selbst in den Kampf, der
um alles oder nichts geht. Die Vorform des Cäsarismus wird
sehr bald bestimmter, bewußter, unverhüllter werden. Die
Masken aus dem Zeitalter parlamentarischer Zwischen-
zustände werden ganz fallen. Alle Versuche, den Gehalt der
Zukunft in Parteien aufzufangen, werden rasch vergessen
sein. Die faschistischen Gestaltungen dieser Jahrzehnte
werden in neue, nicht vorauszusehende Formen übergehen
und auch der Nationalismus heutiger Art wird verschwinden.
Es bleibt als formgebende Macht nur der kriegerische „preu-
ßische" Geist, überall, nicht nur in Deutschland. Das Schick-
sal, einst in bedeutungsschweren Formen und großen Tra-
ditionen zusammengeballt, wird in der Gestalt formloser
Einzelgewalten Geschichte machen. Die Legionen Cäsars
wachen wieder auf."
„Hier, vielleicht schon in diesem Jahrhundert, waTten
die letzten Entscheidungen auf ihren Mann. Vor ihnen sinken
die kleinen Ziele und Begriffe heutiger Politik ins Nichts
zusammen. Wessen Schwert hier den Sieg erficht, der wird
der Herr der Welt sein. Da liegen die Würfel des unge-
heuren Spiels. Wer w a g t e s , s i e zu w e r f e n?"
Ein Teil von Spenglers Prophezeiungen ist heute schon
schaurige Wirklichkeit geworden. Aber ist er darum als großer
Prophet oder Seher zu preisen? Sein scheinbares Verdienst wird
dadurch nichtig, daß er mit seiner großen Beredsamkeit mithalf,
jenen Geisteszustand zu schaffen, der zur Katastrophe führen
mußte. Ich habe das offiziell vorgeschriebene Geschichtsbuch für
die deutsche Jugend der 8. Klasse vor mir, das 1943 erschienen ist
und die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
behandelt. In diesem Buch ist vieles von Spenglers Gedanken
übernommen worden, ia fast wörtlich abgeschrieben. Eine Tugend,

125
der der Krieg so angepriesen wird und der alle Versuche einer
verständigen, vernunftmäßigen Regelung der Völkerbeziehungen
so verekelt werden, muß ja schließlich in eine kriegerische Aus-
einandersetzung hineintaumeln. Spenglers gelungene Prophezeiung
ist also von ähnlicher Sorte, wie die eines Mannes, der in einer
Stadt überall Minen gelegt hat, die Lunten anzündet und dann
herumläuft und schreit: „Es wird ein Unglück geschehen."
Der von Spengler prophezeite Cäsarismus ist 1933 ange-
brochen, aber schon ein Jahrzehnt später endgültig gescheitert.
Es war ihm eine große Chance gegeben, die wahrscheinlich
nie mehr in der Geschichte wiederkommen wird: Die Aufrichtung
einer diktatorischen Gewalt ohne Widerstand im Inneren, eine
jahrelange Aufrüstungsperiode ohne Dazwischentreten der auf
einen Krieg gar nicht vorbereiteten fremden Mächte, die totale
Erfassung der öffentlichen Meinung durch ein Propaganda-
monopol, das mit allen Mitteln moderner Technik arbeitete, die
völlige Knebelung und Mundtotmachung aller politischen Gegner.
Und dann in den ersten beiden Kriegsjahren eine Serie von
ungeheuerlich erscheinenden militärischen Erfolgen: Enorme
Landgewinne, die Eroberung des größten Teils aller Rohstoff-
vorkommen Europas, die größten Vernichtungsschlachten der
Weltgeschichte in Rußland, die schrankenlose Aufpeitschung
aller militaristischen und chauvinistischen Instinkte der Nation
im Siegestaumel über die einmaligen Erfolge der deutschen Wehr-
macht, die Bundesgenossenschaft der beiden anderen am stärksten
auf den Krieg gedrillten Nationen der Welt. — Millionen von
Menschen waren im September 1941, als Hitler auf dem Höhe-
punkt seiner Siege stand, felsenfest überzeugt, daß keine Macht
der Welt mehr den Ländern der Achse den Sieg entreißen könnte
und daß nunmehr das Zeitalter der Hegemonie Deutschlands
über die Welt anbrechen werde.
Wenn nun der Cäsarismus in diesen Jahren total zerbrochen
ist, wird man diesmal nicht sagen können, daß das Parlament und
die bösen Sozialdemokraten daran schuld gewesen seien, die zu
geringe Kredite für die Wehrmacht bewilligt hätten, —

126
90 Milliarden Reichsmark allein für die Vorbereitung eines Krie-
ges, der nachher praktisch das ganze Volksvermögen auffressen
wird, ist eine Summe, die man sich nicht bald wieder leisten kann.
Und auch auf das Judentum von Deutschland oder auf eine
oppositionelle Presse kann man sich diesmal nicht ausreden, denn
beides war schon rechtzeitig vor Kriegsbeginn unschädlich gemacht
worden! Nein, nicht das Fabelwesen von der bolschewistisch-
plutokratisch-jüdisch-klerikalen-jesuitisch-freimaurerischen 'Welt-
verschwörung' war an dem Untergang Hitlers und Mussolinis
schuld, sondern der cäsarische Größenwahn dieser Leute, die sich
anmaßten, eine ganze Welt von Feinden in die Schranken fordern
zu können, und vor allem der unmenschliche Despotismus Hitlers,
der mit der grausamen Verfolgung der Juden und aller politischen
Gegner innerhalb Deutschlands begann und mit der Abschlach-
tung, Verschleppung, Knechtung, Beraubung und Einkerkerung
von Millionen von Zivilisten in den besetzten Ländern seine
schaurige Climax erreichte. Hinter all diesen Untaten steckt die
Mentalität eines Fanatikers, der selber auf S. 475 von „Mein
Kampf" d i e f a n a t i s c h e , ja h y s t e r i s c h e L e i d e n -
s c h a f t " als d a s wirksame Mittel der Weltpolitik anpreist,
ein nationaler Fanatismus, dem kein Mittel zu verwerflich und
schlecht ist, um es nicht dem heiligen Zweck zuliebe, im Interesse
des modernen Götzen der eigenen Nation anzuwenden.
Daß sich gegen diese Mentalität die Mehrheit der zivilisierten
Völker dieser Erde zu einem Block von Feindmächten zusammen-
schloß, der allmählich stärker wurde als der Friedensstörer, ist
gar kein Wunder. Spenglers Preußentum mit dem Ideal des
„Mannes von Rasse" und mit der „prachtvoll barbarischen, gänz-
lich untheoretischen Freude am Töten und Zerstören" eines nor-
dischen Heldentums hat aus der ehemaligen Nation der Dichter
und Denker das bestgehaßte Volk der Erde gemacht, das ein
furchtbares Schicksal erleiden muß, wenn seine Gegner ihm an
Verwüstungen, Menschenausrottungen und Verschleppungen nur
ein Teil dessen heimzahlen, was Hitler während des Krieges im
Osten allein verbrochen hat.

127
Der Zusammenbruch des Cäsarismus erfolgte aber nicht allein
durch Einwirkung von außen her, sondern sogleich auch im
Inneren, sobald der Druck der Polizeigewalt gewichen war. Am
Tage nach Mussolinis Sturz im Juli 1943 flogen die Bilder des
Duce zu zehntausenden aus den Fenstern der italienischen Woh-
nungen und Ämter auf die Straße — das war seine größte und
endgültige Niederlage. D e r w e i ß e M e n s c h d e s 20. J a h r -
h u n d e r t s w i l l s i c h n i c h t z u m Samurai m a c h e n
l a s s e n und die Romantik von Krieg und nordischem Helden-
tum, die zur Zeit der Wikingerfahrten vielleicht noch am Platz
war, paßt nicht in das Jahrhundert der Luftfahrt. Das ist der zum
Verbrechen führende Kardinalfehler der Spenglerschen und über-
haupt der faschistischen Ideologie: Die Beibehaltung der lykur-
gischen Weltanschauung in einem Zeitalter, das in geistiger Hin-
sicht schon längst über diese Kinderkrankheiten der Menschheit
hinausgewachsen sein sollte, der bornierte, engstirnig gerichtete
Sinn für Krieg und nationale Ehre in einem Zeitalter, in dem
ganz andere, erhabenere Aufgaben und Probleme vor einer wirk-
lichen Kulturmenschheit stehen. Aus der totalen Verständnislosig-
keit für diese größeren Probleme ist es zu erklären, wenn Leute
wie Spengler oder das provinzlerische Proletarierkind Adolf
Hitler eine Zeit des1 Weltfriedens langweilig und trostlos finden,
wenn sie in allen Friedensbestrebungen nur ''das Rentnerideal mit
der Sehnsucht nach der fellachenhaften Ruhe eines in Schmutz,
Geiz und Stumpfheit müde und unfruchtbar gewordenen Volks-
tums" sehen.
Wie weit diese Samurai-Ideologie, die wir nun an Hand von
Spenglers Aussprüchen hinreichend beleuchtet haben, auch auf
die Kreise der politischen Linken in Deutschland übergegriffen
hatte, zeigt sehr deutlich der Fall des Soziologen und Wirtschafts-
lehrers Werner S o m b a r t, der im Jahre 1915, angesteckt durch
die Kriegspsychose, ein Buch unter dem Titel ''Händler und Hel-
den" geschrieben hat, das sich in seiner kriegerisch-heroischen
Tendenz nicht um ein Haar von der eben geschilderten Spenglers
unterscheidet. Diese Geisteshaltung Sombarts ist in dem Buche

128
„Der Weg zur Knechtschaft" von F. A. Hayek (Eugen Rentsch
Verlag, Zürich) treffend und prägnant in den im folgenden zitier-
ten Absätzen gekennzeichnet worden. Hayek sagt auf S. 213—214
seines Buches1:
„In seinem Kriegsbuch begrüßte dieser ehemalige Sozialist
den „Deutschen Krieg" als den unvermeidlichen Konflikt
zwischen der händlerischen Zivilisation Englands und der
heroischen Kultur Deutschlands. Seine Verachtung für
die „händlerischen" Anschauungen der Engländer, die jeg-
lichen Kriegsinstinkt verloren hätten, kennt keine Grenzen.
Nichts ist in seinen Augen so verächtlich wie das allgemeine
Streben nach dem Glück des einzelnen, und was er als den
Leitgedanken der englischen Ethik hinstellt, nämlich gerecht
zu sein, „auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf
Erden", betrachtet er als den „infamsten Spruch, den je eine
Händlerseele hat aussprechen können". Der „deutsche
Staatsgedanke", wie Fichte, Lassalle und Rodbertus ihn
formuliert haben, bestehe darin, daß der Staat weder von
den Individuen begründet noch gebildet worden ist, daß er
kein Aggregat von Individuen ist, noch daß er den Zweck
hat, irgend welche Interessen der Individuen zu fördern. Er
ist vielmehr eine Volksgemeinschaft, in der der einzelne
keine Rechte, sondern nur Pflichten hat. Ansprüche des In-
dividuums sind immer ein Ergebnis des händlerischen Gei-
stes. „Die Ideen von 1789" '— Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit — sind charakteristische Händlerideale, deren
einziger Zweck darin besteht, Einzelpersonen gewisse Vor-
teile zuzuschanzen.
„Nach Sombart waren vor 1914 alle die echten deutschen
Ideale einer heroischen Lebensauffassung durch das ständige
Vordringen englischer händlerischer Ideale, englischen Kom-
forts und englischen Sportes tödlich bedroht. Die Engländer
waren nicht nur selber durch und durch verdorben, da jeder
Gewerkvereinler im „Sumpfe des Komforts" stecke, sondern
sie hatten sogar angefangen, alle anderen Völker zu infizie-

129
ren. Nur dem Krieg verdankten es die Deutschen, wenn sie
sich wieder daran erinnerten, daß sie in Wahrheit ein Krie-
gervolk seien, ein Volk, bei dem alle Betätigungen, und be-
sonders die wirtschaftliche Art, militärischen Zielen unter-
geordnet wären. Sombart wußte, daß andere Völker es den
Deutschen verdachten, daß sie den Krieg für heilig halten —
aber er ist stolz darauf. In dem Krieg etwas Unmenschliches
und Sinnloses zu sehen, ist auf händlerische Anschauungen
zurückzuführen. Es gibt ein höheres Leben als das des In-
dividuums, nämlich das Leben des Volkes und das Leben
des Staates, und der Zweck des Einzelwesens besteht darin,
sich für jenes höhere Leben zu opfern. Im Krieg sieht Som-
bart die Vollendung der heldischen Weltanschauung, und dei
Krieg gegen England ist für ihn der Kampf gegen das ent-
gegengesetzte Ideal, das händlerische Ideal der persönlichen
Freiheit und des englischen Komforts, für den er kein ver-
ächtliches Beweisstück finden kann als — die Rasierappa-
rate, auf die man in den englischen Schützengräben stieß."
Von Fichte bis Sombart und Spengler, von 1808 bis 1933
immer das gleiche Lied — nein, das gleiche Gekläffe gegen die
germanische Schwesternation und die Verherrlichung des deut-
schen Menschen als Symbol des heroisch-kriegerischen. Der Boden
war reif für den Nationalsozialismus: und die intellektuelle
Schicht des deutschen Volkes hatte die richtige Schulung ge-
nossen, um einen Hitler als Herold seines nationalen Größen-
wahns zur Verfügung zu stehen. Und das ganze Volk, dem von
seinen Erziehern, Historikern und Kulturphilosophen immer
wieder das Ideal der Stärke, der Wehrhaftigkeit und des Kriege-
rischen angepriesen wurde, dem alle Tendenzen zur friedfertigen
Verständigung und zur Demokratie derart verekelt waren, war
richtig dazu präpariert, sich durch einen von der Großindustrie
finanzierten Psychopathen in die Hölle des totalen Krieges hetzen
zu lassen.

130
Kapitel 10
Ein konkreter Vorschlag zur geistigen
Abrüstung
„Wir stehen der höchst bedeutsamen Tatsache gegenüber,
daß wir, wenn die Kultur erhalten bleiben soll, die „Wissen-
schaft von den menschlichen Beziehungen" pflegen müssen,
das heißt, die Kunst, wie alle Völker und alle Geschlechter
in der gleichen Welt in Frieden miteinander leben und
arbeiten können" ... F. D. R o o s e v e 11.
Den Ausgangspunkt des hier gemachten Vorschlages bilden die
folgenden Erwägungen:
a) Die Verhandlungen des Weltßicherheitsrates und der Pariser
Friedenskonferenz zeigen sehr deutlich die Schwierigkeiten, mit
denen alle Friedensbestrebungen zu kämpfen haben, solange den
Völkern und ihren Staatsmännern der Geist einer wahren Demo-
kratie und die Idee der Notwendigkeit einer Weltgemeinschaft
noch nicht so richtig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die
Arbeit der UNO und ihrer Räte wird wesentlich erleichtert
werden, sobald einmal der Gedanke von der Möglichkeit und Not-
wendigkeit einer endgültigen Abschaffung der Kriege und der
damit zusammenhängenden Herabsetzung des militärischen Auf-
wandes sowie der Gedanke der Zurückdrängung eines engherzigen
Nationalismus zugunsten einer weltweiten wirtschaftlichen Zu-
sammenarbeit in möglichst vielen Staatsbürgern aller Kultur-
naftonen fasten Fuß gefaßt hat.
b) Der Weg zur Verbreitung solcher Gedanken führt über die
Erziehung der Jugend, also in erster Linie über den allgemeinen

131
Schulunterricht, bei dem vor allem eine grundlegende Reform des
Geschichtsunterrichtes notwendig ist. Der bisherige Unterricht in
diesem Fache, das seine Herkunft aus einer Geschichtsschreibung
der allerdurchlauchtigsten Herrscherhäuser nicht verleugnen
kann, besteht nach wie vor hauptsächlich aus einer Geschichte der
Kriege und der Dynastien, während die viel wichtigeren Fragen
der sozialen Struktur der menschlichen Gesellschaft, der kul-
turellen Entwicklung, der geistigen Strömungen und Bewegungen
ganz oberflächlich oder gar nicht behandelt werden. Die Heraus-
stellung der Kriegshelden als der großen Männer der Geschichte,
die kritiklose Hinnahme der Völkermassakers als geschichtliche
Notwendigkeiten statt ihrer Anprangerung als Wahnsinnstaten
von Despoten oder Halbnarren, der Mangel an Verständnis 1 für
die durch das Erwachen des naturwissenschaftlichen Geilstes voll-
zogene Revolutionierung unserer Zivilisation — das sind jene
schweren Mangel unseres Geschichtsunterrichtes, die den Boden
für die Saat der Kriegspropaganda aufnahmsfähig gemacht haben
und die an der paradoxen Tatsache schuld sind, daß Millionen von
Menschen sich von einer Handvoll fanatischer Psychopathen ohne
Widerspruch zur Schlachtbank führen ließen. Die „Outline of
History" von H, G. Wells kann als ein erster Versuch einer
solchen Reform angesehen werden und trotz der fast unvermeid-
lichen Mängel eines solchen Experimentes weist das Werk die
Richtung des Weges, auf dem weitergeschritten werden kann.
c) Eine solche neue Geschichtsauffassung, verbunden mit einer
auf psychologischen Erkenntnissen beruhenden Aufklärung über
die großen sozialen Probleme der menschlichen Gemeinschaft, läßt
sich nicht von heute auf morgen in den Schulunterricht einführen,
weil weder Lehrbücher noch auch Lehrer vorhanden sind, die
selbst schon in einem neuen Geiste herangezogen worden sind.
Der Weg wird deswegen über ein Übergangsstadium führen, das
durch eine Volksbildungs- und Aufklärungstätigkeit gekennzeich-
net ist, die von den demokratischen und pazifistischen Organisa-
tionen ausgeht und die zuerst unabhängig vom Schulunterricht,
später Hand in Hand mit ihm vor sich gehen soll.

132
133
nen. „Volksbildung" soll dabei in einem ganz allgemeinen Sinne
verstanden werden, indem sie vom Hilfsarbeiter bis zum Akade-
miker reichen soll.
Es ist vorauszusehen, daß gegen die Ausführbarkeit eines
solchen Planes mancherlei Bedenken auftauchen werden. Gerade
die Erziehung des Volkes und namentlich der Jugend ist ein be-
sonders heikler Punkt und jede politische Partei, die in welt-
anschaulicher Hinsicht auf eine bestimmte Richtung festgelegt ist,
wacht istreng darüber, daß ihr in der Jugenderziehung nicht etwa
von anderer Seite her entgegengearbeitet wird. Nun können wir
unszwar darauf berufen, daß es seit jeher schon bestimmte inter-
nationale Ausschüsse gibt, in denen Vertreter der meisten Natio-
nen und verschiedener politischer Richtungen in aller Stille wert-
volle gemeinnützige Arbeit leisten. Man denke nur an die inter-
nationalen Wellenlängenkonferenzen der Rundfunkgesellschaften,
an die internationalen Fahrplankonferenzen, an die Normenaus-
schüsse usw.
Dagegen wird man allerdings einwenden, daß solche unpoli-
tische Zusammenarbeit auf technischem Gebiet natürlich viel
leichter möglich sei, weil es sich hier um ein reales gemeinsames
Interesse handle, bei dem die Gefahr des Aufeinanderprallens
politischer oder weltanschaulicher Gegensätze nicht bestehe.
Der entscheidende Umstand, der trotz solcher Bedenken meinen
Vorschlag realisierbar macht, ist nun die Tatsache, daß auch auf
dem Gebiet der Volksbildung und Volkserziehung die Verbreitung
bestimmter leichtverständlicher und dabei wichtiger wissenschaft-
licher Erkenntnisse auf psychologischem Gebiet sowie die Fest-
setzung bestimmter ethischer Normen ein über alle politischen
und weltanschaulichen Gegensätze hinwegreichendes gemein-
sames Interesse darstellen. In i n t e r n a t i o n a l e n Ver-
e i n b a r u n g e n ü b e r e i n e s o l c h e Aufklärungs-
a r b e i t kann d i e Brücke gefunden werden, d i e
ü b e r alle d e rz ei t b e s t e h e n d e n Spannungen
h i n w e g d e n W e s t e n u n d d e n O s t e n zu ver-
b i n d e n v e r m a g u n d damit das g e g e n w ä r t i g

134
schwerste Hindernis gegen den Weltfrieden
a u s d e m Wege räumt.
Hier ein Entwurf allgemeiner Richtlinien, auf deren Grundlage
ein internationales und überparteiliches Erziehungswerk betrieben
werden kann:
1, Die beiden Weltkriege und der seither bestehende Unruhe-
zustand der Welt haben gezeigt, daß unsere Kultur krank und
entartet ist. Die Kulturhöhe der Menschheit des 20. Jahrhunderts
zeichnet sich durch eine auffallende Ungleichmäßigkeit aus. Da
steht auf der einen Seite der naturwissenschaftlich-techmsdie
Fortschritt mit der raffinierten Ausgeklügeltheit seines Gedanken-
gebäudes, der zu einer grandiosen Beherrschung der unbelebten
Natur geführt hat, daneben eine Kultur auf dem Gebiete der
Kunst und Musik, die ebenfalls eine sehr beachtliche Höhe er-
klommen hat — und auf der anderen Seite das in der Kriegs-
politik der vergangenen Jahrhunderte immer schon latent vor-
handene und im Faschismus am stärksten zum Ausdruck gelangte
urwäldlerische Barbarentum auf dem Gebiete der Politik und der
Völkererziehung, ein Barbarentum, das nicht nur durch seine
Grausamkeit und Unmenschlichkeit auffällt, sondern auch durch
die unglaubliche Primitivität und Naivität seiner Begriffe und
durch das ethisch und intellektuell tiefstehende Niveau seiner
ganzen Denkweise.
2. Diese schreiende Kontrasterscheinung innerhalb unserer
Kultur zieht schwerwiegende Folgen nach sich, indem sie die Übel,
unter denen die Menschheit zu leiden hat, weit über das durch die
Naturnotwendigkeiten gegebene Niveau hinaus vermehrt. Es gibt
eine Reihe von tatsächlich ganz unvermeidlichen Übeln, wie
Krankheiten, Not durch mangelnden Bodenertrag, Naturkatastro-
phen und dergleichen. "Viel schwerere und ausgedehntere Leiden
müssen die Menschen aber durch jene grundsätzlich vermeidharen
Übel erdulden, die sie sich selbst und einander gegenseitig nur
durch Unverständnis, mangelnde Einsicht und durch ein schlecht
gepflegtes Nervensvtem zufügen. Dies gilt sowohl für die seeli-

135
sehen Konflikte, die Einzelpersonen in ihrer engsten Umgebung
erleben, wie auch für die Konflikte der Welt im großen.
3. Die schlimmsten unter den vermeidbaren Übeln sind im
gegenwärtigen Zustand der Menschheit die Kriege. Es ist absolut
falsch, die Kriege als die unvermeidbaren Folgen eines biologisch
notwendigen Kampfes ums Dasein aufzufassen. Wenn man von
den Befreiungskriegen absieht, hat es sich vielmehr bei den großen
militärischen Auseinandersetzungen des Mittelalters und der
Neuzeit entweder um gewissenlose Verbrechen machthungriger
Despoten gehandelt oder um Streite um eingebildete Werte und
um Ideale, die späteren Generationen sehr bald vollkommen
gleichgültig und uninteressant erscheinen müssen. Das gilt für
die Religionskriege genau so wie für jene ideologischen Kriege,
die zu Ehren des Götzen unserer Zeit, der Nation, geführt wer-
den. Die faschistischen Diktatoren haben ihren Völkern, die sie in
den Weltkrieg hetzten, eingeredet, daß sie zur Verteidigung der
heiligen Belange der Nation und zur Erkämpfung ihres Lebens-
raumes zu den Waffen greifen müssen — in Wirklichkeit hat es
sich aber um eine überdimensionale und ins Verbrechen entartete
Donquixoterie romantisch veranlagter Psychopathen gehandelt.
4. Eine derartige Verführung, die gebildete Kulturvölker unter
der Vorspiegelung der Verteidigung hoher Ideale zu Verbrecher-
nationen machen kann und sie in den Abgrund des Verderbens
stürzt, diese Verführung war nur durch die Mitschuld einer
breiten intellektuellen Schicht möglich gewesen, die eine im
militaristischen Sinne gefärbte humanistische Bildung genoisssen
hat und gerade eben durch diese Bildung in ener durch und durch
veralteten und heute völlig deplacierten Ideologie aufgezogen
worden ist. Die uralte Tradition der lykurgischen Gesetze Spar-
tas, die Hingabe an das Vaterland und das Soldatentum haben
sich als die vornehmsten Objekte eines romantischen Nationalis-
mus in der Gedankenwelt dieser bürgerlichen Schicht durch drei
Jahrtausende hindurch praktisch ungeändert erhalten; die Er-
zieher des Volkes, viele Geisteswissenschaftler und namentlich
die meisten Historiker sind an den ungeheuren Umwälzungen,

136
136
137
138
138
139
140
140
141
141
Kapitel 11
M a t e r i a l i s m u s und I d e a l i s m u s

Das Wort Materialismus ist sehr vieldeutig, so daß hinter


diesem Ausdruck eine ganze Anzahl von untereinander zum Teil
verwandter, zum Teil auch ganz verschiedener Begriffe steckt. Da
gibt es einen philosophischen oder erkenntniskritischen Mate-
rialismus, einen physiologischen oder biologischen, einen ethischen
oder praktischen Materialismus, den dialektischen und den histo-
rischen Materialismus von Karl Marx — lauter Dinge, die von
einander ganz verschieden sind und zum Teil miteinander über-
haupt nichts zu tun haben. Und auf jedem einzelnen Gebiet, wie
z. B. in der Philosophie, hat der Materialismus eine Entwicklung
mitgemacht, die im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte ein-
schneidende Änderungen mit sich brachte.
Von diesem riesigen Problemkomplex, über den man tagelang
ununterbrochen reden könnte, läßt sich hier nur ein kleiner Teil
herausgreifen, und zwar wollen wir einige Erläuterungen über den
philosophischen und den praktischen Materialismus in Gegen-
überstellung zu seinem Widerpart, dem Idealismus bringen.
Der Gegensatz zwischen Materie und Seele, zwischen Stoff und
Idee, beschäftigte die Denker schon seit dem Altertum; er ist so
kraß, daß manche Leute an der Möglichkeit einer gegenseitigen
Beeinflussung, eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen zwei
so grundverschiedenen Dingen wie Leib und Seele zweifelten,
und daß andererseits manche extreme Richtungen in der Philo-
sophie die Existenz des einen oder des anderen, der Materie oder
der Seele, überhaupt leugnen wollten. In der Neuzeit war der
im Jahre 1684 geborene englische Philosoph Berkeley einer der

142
ersten Vertreter des philosophisdien Idealismus, der in seiner
striktesten Form nur unser Bewußtsein, nur unsere Vorstellungen
als das wirklich Existierende anerkennt und die Außenwelt nur
als Schein betrachtet. Dieser philosophische Idealismus ist im
18. und 19. Jahrhundert von den deutschen Philosophen Kant,
Hegel und Schopenhauer übernommen und nach verschiedenen
Richtungen hin weiter ausgesponnen worden.

Eine dem entgegengesetzte Auffassung vertritt die Lehre des


philosophischen Materialismus, die davon ausgeht, daß die Ma-
terie das Primäre, ursprünglich gegebene sei, während das, was
wir als unsere Seelenregungen und als die Tätigkeit unseres
Geistes erkennen, also unsere Empfindungen, die Gefühle und das
Wollen, unsere Vorstellungen und das Denken letzten Endes auf
irgendwelche sehr verwickelte und noch nicht näher bekannte
physikalische und chemische Vorgänge in unserem Körper und
insbesondere in unserem Gehirn zurückzuführen sind. Diese
Lehre — deren erste Ansätze man schon bei manchen griechischen
Denkern, so z. ß. bei Heraklit um das Jahr 500 und bei dem
genialen Atomistiker Epikur um das Jahr 300 v. Chr. findet —
ist in der Neuzeit vielleicht am schärfsten und kompromiß-
losesten von dem französischen Arzt La Mettrie vertreten wor-
den. La Mettrie hat im Jahre 1748, also vor fast zweihundert
Jahren, sein berühmtes Buch „L'homme machine", zu deutsch „Der
Mensch, eine Maschine", veröffentlicht, mit dem er sich die Un-
gnade seiner Pariser Landsleute zuzog, worauf er dann eine
Berufung nach Berlin erhielt, wo er bis zu seinem Tode blieb.
Die Entwicklung der Naturwissenschaften während der letzten
anderthalb Jahrhunderte hat auf der einen Seite zwar gewisse
Schwächen des älteren Materialismus enthüllt, hat aber im großen
und ganzen doch zu einer Stärkung des philosophischen Materia-
lismus geführt, und auf dem Wege über Karl Marx und Friedrich
Engels ist der sogenannte dialektische Materialismus zu der
offiziell anerkannten Weltanschauung des Marxismus geworden
und bildet heute auch einen Unterrichtsgegenstand der höheren

143
Schulen des modernen Rußland. Josef Stalin hat in einer im
Jahre 1938 herausgegebenen Broschüre die wesentlichen Leit-
sätze des dialektischen und historischen Materialismus zu-
sammengefaßt, und ich gebe daraus einige der wichtigsten Zitate
wieder. Stalin zitiert unter anderem die folgenden Worte von
Friedrich Engels: „Die höchste Frage der gesamten Philosophie ist
die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes
zur Natur. Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde,
spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die
die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaup-
teten, bildeten das Lager des Idealismus. Die anderen, die die
Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschie-
denen Schulen des Materialismus. Nach dem Standpunkt des Ma-
terialismus ist die stoffliche, sinnlich wahrnehmbare Welt, zu
der wir selbst gehören, das einzig Wirkliche. Unser Bewußtsein
und Denken, so übersinnlich es scheint, ist das Erzeugnis eines
stofflichen, körperlichen Organs, des Gehirns. Die Materie ist
nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern der Geist ist selbst nur
das höchste Produkt der Materie."
Stalin zitiert dann den folgenden Satz von Marx: „Man kann
den Gedanken nicht von einer Materie trennen, die denkt, sie
ist das Subjekt aller Veränderungen" — und fügt schließlich
den folgenden Ausspruch von Lenin hinzu:
„Der Materialismus überhaupt erkennt das objektiv reale Sein
(die Materie) als unabhängig von dem Bewußtsein, der Empfin-
dung, der Erfahrung an. Das Bewußtsein ist nur das Abbild des
Seins, bestenfalls sein annähernd getreues Abbild. Materie ist
das, was durch seine Wirkung auf unsere Sinnesorgane die Emp-
findung erzeugt; die Materie ist die objektive, uns in der Empfin-
dung gegebene Realität. Materie, Natur, Sein, Physisches sind
das Primäre, während Geist, Bewußtsein, Empfindung, Psychisches
das Sekundäre sind."
Auf Grundlage dieses philosophischen Materialismus hat dann
Marx in Verfolgung bestimmter soziologischer und ökonomicher
Überlegungen, auf die wir hier nicht näher eingehen können, seinen

144
historischen Materialismus aufgebaut, der eine wichtige Rolle in
der zum Kommunismus führenden Entwicklung des wissenschaft-
lichen Sozialismus gespielt hat. Zur Kennzeichnung dieses histori-
schen Materialismus zitiere ich nur zwei Sätze aus Stalins Bro-
schüre:
„Wenn die Geschichtswissenschaft eine wirkliche Wissenschaft-
sein will, darf sie nicht mehr die Geschichte der gesellschaft-
lichen Entwicklung auf die Handlungen von Königen und Heer-
führern, auf die Handlungen von Eroberern und Staatenbezwin-
gern reduzieren, sondern muß sich vor allem mit der Geschichte
der Produzenten materieller Güter, mit der Geschichte der werk-
tätigen Massen, mit der Geschichte der Völker beschäftigen."
„Also darf man den Schlüssel zur Erforschung der Gesetze
der Geschichte der Gesellschaft nicht in den Köpfen der Menschen,
nicht in den Anschauungen und Ideen der Gesellschaft suchen,
sondern muß ihn in der Produktionsweise suchen, die die Gesell-
schaft in jeder gegebenen historischen Periode anwendet, in der
Ökonomie der Gesellschaft." Soweit Stalin.
Alle Arten des Materialismus sind seit den ältesten Zeiten, seit
mehr als zwei Jahrtausenden von den verschiedensten Seiten
heftig bekämpft worden. Die Priester fast aller Religionen sind
gegen den Materialismus aufgetreten, denn er führt entweder zum
Atheismus, zur Leugnung Gottes oder zu einer Art Pantheismus,
der den für viele Religionen so charakteristischen Begriff einer
göttlichen Person mit menschlichen Attributen aufgibt und ihn
durch eine viel abstraktere Vorstellung, nämlich den Inbegriff
aller Naturkräfte und ihrer Gesetzmäßigkeiten, ersetzt.
Aber nicht nur von kirchlicher Seite her ist der Materialismus
bekämpft worden, sondern auch von seiten mancher Leute, die sich
gar nicht von religiösen Bedenken beeinflussen lassen, sondern
in ihrem Urteil von ethischen Gesichtspunkten geleitet oder auch
verleitet werden. Es läßt sich nämlich nicht leugnen, daß das Wort
„Materialist" in der deutschen Sprache einen unangenehmen Bei-
geschmack hat. Man* denkt dabei unwillkürlich an einen eigen-
nützigen oder geldgierigen Menschen oder an ein nur seinen ani-

10 Thirring, Anti-Nietzsche u. Anti-Spengler

145
malischen Trieben fröhnendes Individuum, das bar ist jeden Ver-
ständnisses für die hohen Ideale eines geistig oder seelisch hoch-
stehenden Menschen. Und das Wort „Idealist" wird so oft für
einen idealen und lauteren Charakter gebraucht, daß es den
meisten Leuten schon mehr oder weniger in Fleisch und Blut
übergegangen ist, das Wort Idealist in ethisch anerkennendem
Sinne und das Wort Materialist in herabsetzendem Sinne zu
gebrauchen.
Von dieser Assoziation mit dem ethischen Begriff des Materia-
lismus können sich also im deutschen Sprachgebiet die wenig-
sten Leute frei machen, die humanistische Bildung genossen haben,
und dieser Umstand trägt nicht wenig zu der ablehnenden Hal-
tung bei, die sehr viele Menschen von vornherein dem Materialis-
mus gegenüber einzunehmen bereit sind. Wer immer sich nun
mit der Frage des Materialismus ernsthaft beschäftigt, sollte vor
allem darüber aufgeklärt werden, daß d^er Begriff des ethischen
Materialismus (den der Laie mit diesem Worte meistens ver-
knüpft) vom philosophischen Materialismus grundverschieden ist,
ebenso wie andererseits auch der ethische Idealismus etwas ganz
anderes ist als der philosophische Idealismus. Es sei hier nur als
Beispiel erwähnt, daß man gerade unter den sehr begüterten cal-
vinistischen Puritanern der Nordoststaaten der USA einen hohen
Prozentsatz von Leuten findet, die sich durch Geldgier, Reichtum
und Geiz auszeichnen, also typische Materialisten im praktischen
Sinne des Wortes sind, während sie gleichzeitig als bibelfromme
Christen den philosophischen Materialismus mit Abscheu ver-
werfen zu müssen glauben. Und umgekehrt hat es im zweiten
Weltkrieg unter den Verteidigern Moskaus, die sich mit einer um
den Leib geschnallten Ekrasitladung unter die deutschen Panzer
warfen, um mit ihrem Opfertod das Vaterland zu retten, Leute
gegeben, die man ethisch als typische Idealisten bezeichnen muß.
Und diese Leute haben mit dem durch ihren Tod besiegelten
Idealismus für einen Staat gekämpft, dessen Gründer sein Leben
lang einen erbitterten Kampf gegen den philosophischen Idealis-
mus geführt hat.

146
Fügen wir hier an dieser Stelle gleich ein, daß dieser zur
Tradition des Marxismus gehörende Kampf gegen den philosophi-
schen Idealismus dank der überall herrschenden Sprachverwirrung
auf der anderen Seite im russischen Sprachgebiet gerade das
entgegengesetzte Vorurteil erzeugen kann. Es ist nämlich durch-
aus damit zu rechnen, daß dort in der Gedankenwelt vieler Ge-
bildeten gerade das Wort Idealist einen unangenehmen Beige-
schmack, etwa im Sinne des Reaktionärs, hat, während 'der Ma-
terialist als der Fortschrittliche geachtet wird. Das kommt daher,
daß man da eben die philosophische und nicht die ethische Be-
deutung beider Worte im Auge hat.
Nach dieser Abschweifung, die der Begriffsentwirrung diente,
wollen wir noch einige abschließende Worte über die Frage phi-
losophischer Materialismus oder Idealismus machen. Daß jener
erkenntnistheoretische Idealismus eines Berkeley oder Hegel, der
nur das Bewußtsein als das allein in Wahrheit Existierende an-
erkennt und daneben die reale Außenwelt zu einem Scheinbild
degradiert, nicht ernsthaft haltbar ist, muß jedem ganz klar
werden, dem die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft
fest genug in Fleisch und Blut übergegangen sind. Halten wir
uns nur vor Augen, was für ein lächerlich kleines Staubkörnchen
unsere Erde unter den Trillionen von Gestirnen ist, deren Exi-
stenz heute schon durch unsere großen Fernrohre festgestellt
worden ist, halten wir uns weiter vor Augen, daß aller Wahr-
scheinlichkeit nach die organischen Lebewesen auf diesem Staub-
körnchen nur eine einzige winzige Kolonie unter ungezählten
Billionen anderer Kolonien von Lebewesen sind, von denen viele
Milliarden einen unvergleichlich höheren geistigen Entwicklungs-
zustand erreicht haben können als wir. Wer das alles so richtig
erfaßt hat, kann über die kindliche Naivität nur lächeln, mit der
der Mensch sich selbst, seinen Geist und sein Bewußtsein in den
Mittelpunkt der Welt zu stellen bestrebt ist und sich anmaßt, all
das unvergleichlich Größere, was außerhalb seines bescheidenen
geistigen Horizontes liegt, als eine Art Scheinwelt abzutun. Je
weiter also unsere naturwissenschaftlichen Erkenntnisse fort-

147
schreiten, desto mehr werden wir zu einem philosophischen Ma-
terialismus in dem früher gekennzeichneten Sinne geführt, ohne
deshalb Materialisten im praktischen Sinne des Wortes zu
werden — obwohl Versuche zu einer solchen Verknüpfung sowohl
von den Anhängern wie auch von Gegnern des Materialismus
schon öfters gemacht worden sind.
Aber der Materialismus der modernen Physik unterscheidet sich
weitgehend von dem plump mechanischen Materialismus früherer
Zeiten, der daran krankte, daß er vor allem einmal überhaupt
nicht wußte, was Materie ist. Die sogenannte tote Materie, ein
Stück Stein oder Metall, war nach dem Stande menschlichen
Wissens bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein
wirklich nur ein lebloser kompakter Klumpen. Erst nach unserem
heutigen Wissen hat sich der Begriff der Materie selbst in etwas
viel Sublimeres, man könnte fast sagen in etwas Durchgeistigtes
verwandelt. Ein Kieselstein enthält viele tausend Billionen von
Atomen in höchst kunstvoller, ja sinnvoll geometrischer Anord-
nung und zwischen diesen Atomen sind komplizierte Kräfte und
Wechselwirkungen im Spiele. Dabei ist weiter jedes einzelne
Atom selbst höchst kompliziert aus den Urbausteinen der Ma-
terie zusammengesetzt, die auch nicht tot und leblos aneinander
liegen, sondern surrend wie eine kunstvoll gebaute Spinnerei-
maschine in atemberaubendem Tempo durcheinanderschwirren. All
das lebt, atmet, pulsiert — und wo die Grenze zwischen diesem
anorganischen Leben und dem wirklichen organischen Leben liegt,
können wir heute noch gar nicht sagen, weil die Erforschung
der Eiweißkörper und die Virusforschung uns Zwischenstadien
der Materie gezeigt hat, bei denen man wirklich nicht sagen kann,
wo der Kristallzustand aufhört und der Zustand des atmenden
und sich fortpflanzenden Lebens beginnt. Deswegen können wir
heute über die Bedenken der älteren Philosophen nur lächeln,
die an der Möglichkeit einer Wechselwirkung zweier anscheinend
so ganz verschiedener Dinge wie Geist und Materie gezweifelt
hatten und die auf Grund dieser Zweifel auf so unsinnige Ge-
danken gekommen sind, wie der vom psycho-physischen" Pa-

148
rallelismus oder von der prästabilisierten Harmonie". Man
hatte damit gemeint, daß der Ablauf des geistigen und des
materiellen Geschehens von aller Ewigkeit her vom Schöpfer so
genau einreguliert sei, daß diese beiden Gruppen von Vorgängen
wie zwei gut gestellte Uhren dauernd miteinander im Takt blei-
bend stets zueinander passende Schritte ausführen, obwohl sie
sich wechselseitig gar nicht beeinflussen können. Obwohl solche
Gedanken unter anderem auch von wirklichen Genies wie z. B.
Leibniz ausgesponnen worden sind, kann man sie heute nur
mehr im Museum der Verirrungen des menschlichen Geistes auf-
bewahren, denn die Leute, die solche Gedanken ausheckten, mach-
ten allzu voreilig eine negative Aussage über zwei ihnen unbe-
kannte Größen. Denn obwohl wir heute schon sehr viel dazu
gelernt haben, wissen wir im Grunde genommen noch immer nicht
genügend genau, was eigentlich Materie ist, geschweige denn, was
Geist ist, — und jene älteren Herren des 19. Jahrhunderts
wußten noch viel weniger davon. Was wir heute wissen, ist unter
anderem die Existenz unbändiger Kräfte und ungeheurer Materie-
mengen im Kosmos, denen gegenüber unsere ganze Erde samt der
auf ihrer Oberfläche aufgeregt agierenden Menschheit nur die
Rolle eines winzigen Staubkörnchens spielt. Dieser gigantische
Kosmos ist ganz real vorhanden und existiert unabhängig vom
menschlichen Geist und von unserem Bewußtsein — in diesem
Punkte müssen wir Engels durchaus recht geben. Und allmählich
lernen wir die Struktur dieses Kosmos und die Gesetze des
physischen Geschehens immer besser kennen. Das Bild, das sich
der menschliche Geist von der Natur macht, wird allmählich voll-
ständiger und detailreicher. Ob die Bilder, die wir uns machen,
zutreffen oder nicht, läßt sich jeweils daran kontrollieren, ob
unsere Vorhersagen in Erfüllung gehen oder nicht. Einer der
letzten Triumphe des menschlichen Geistes war die vom Albert
Einstein im Jahre 1905 gemachte Vorhersage der Existenz und
der möglichen Nutzbarmachung ungeheurer Atomenergien, eine
Prognose, die 40 Jahre später drastisch genug in Erfüllung ge-
gangen ist.

149
Kapitel 12.
Die ö k o n o m i s c h e n U r s a c h e n d e r K r i e g e

Wir wollen in diesem Kapitel den Punkt 3 der Richtlinien


des zehnten Kapitels einer eingehenden Analyse unterziehen. Er
lautete:
Die schlimmsten unter den vermeidbaren Übeln sind im gegen-
wärtigen Zustand der Menschheit die Kriege. Es ist absolut falsch,
die Kriege als die unvermeidbaren Folgen eines biologisch not-
wendigen Kampfes ums Dasein aufzufassen. Wenn man von den
Befreiungskriegen absieht, hat es sich vielmehr bei den großen
militärischen Auseinandersetzungen des Mittelalters und der
Neuzeit entweder um gewissenlose Verbrechen machthungriger
Despoten gehandelt oder um Streite um eingebildete Werte und
um Ideale, die späteren Generationen sehr bald vollkommen
gleichgültig und uninteressant erscheinen müssen. Das gilt für
die Religionskriege genau so wie für jene ideologischen Kriege,
die zu Ehren des Götzen unserer Zeit, der Nation, geführt
werden. Die faschistischen Diktatoren haben ihren Völkern, die
sie in den Weltkrieg hetzten, eingeredet, daß sie zur Verteidigung
der heiligen Belange der Nation und zur Erkämpfung ihres Le-
bensraumes zu den Waffen greifen müssen — in Wirklichkeit
hat es sich aber um eine überdimensionale und ins Verbrechen
entartete Donquixoterie romantisch veranlagter Psychopathen
gehandelt.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Bedeutung der zum
Krieg führenden Anlässe in gar keinem Verhältnis zu ihren Fol-
gen steht. So war zum Beispiel die Ermordung des österreichi-
schen Thronfolgers am 29. Juni 1914 zwar ein für die Familie

150
des Betroffenen schmerzliches Ereignis, es verblaßt aber gänzlich
hinter den weittragenden Folgen, die der daraus entbrannte erste
Weltkrieg nach sich zog. Nun war die Tat gewiß das Ergebnis
der Aufstapelung nationalistischer Leidenschaften in dem jugend-
lichen Attentäter Gavrilo Principe und das, was sich in den ver-
hängnisvollen nächsten vier Wochen abspielte und zur Kata-
strophe führte, war die logische Folge des Vorhandenseins
großer zum Krieg bereitgestellter Streitkräfte und des Vor-
handenseins jenes Geistes, der unter anderem in Wilhelm II., in
Conrad von Hötzendorf, im österreichischen Außenminister Graf
Berchtold und in der den Zarenhof beherrschenden Generalsclique
lebendig war.
Die Frage ist nun die, ob nicht hinter all diesem Wahnsinn
ein System steckt. Die marxistische Lehre bejahlt diese Frage,
und es ist interessant, ihren Gedankengängen nachzugehen und
dazu Stellung zu nehmen. Vom Standpunkt des historischen Ma-
terialismus aus stellt sich der Fall so dar:
Der Haß des Serbenvolkes gegen die Österreicher bestand
nicht von jeher; einige Jahrzehnte früher herrschte noch gutes
Einvernehmen und noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts hätte
sich kaum irgend so ein junger Gavrilo dazu hergegeben, seinen
Kopf zu riskieren, um einen österreichischen Erzherzog umzu-
bringen. Die letzten Ursachen der Mißstimmung zwischen Ser-
bien und der Monarchie lagen in der schlechten wirtschaftlichen
Situation, in die die serbischen Bauern dadurch gebracht wurden,
daß über Betreiben Ungarns der Schweineimport in die Monarchie
gedrosselt wurde. Diese Absperrungsmaßnahme war ihrerseits
wiederum eine Folge des Umstandes, daß Ungarns Schweineexport
nach Deutschland auf Grund bestimmter deutscher Wirtschafts-
maßnahmen stark zurückgegangen war. Im Lichte dieser Auf-
fassung ist also schließlich das nationale Ressentiment, das im
Thronfolgermord drastisch und schicksalsschwer zur Explosion
gelangte, letzten Endes eine Folge bestimmter wirtschaftlicher
Maßnahmen, die mangels großzügiger Wirtschaftsplanung einsei-
tigen Interessen gedient hatten und weite Bevölkerungskreise in

151
Not gebracht hatten. Hinter dem scheinbar so unsinnigen natio-
nalen Chauvinismus stecken also nach dieser Auffassung sehr
reale und durchaus materielle Interessen gewisser großkapita-
listischer Machtgruppen, die in dem einseitigen Streben nach
Mehrung des eigenen Nutzens Maßnahmen durchzusetzen im
Stande sind, die dem Nutzen der Allgemeinheit schaden und die
Beziehungen der Völker untereinander vergiften.
Dabei ist der hier geschilderte Einfluß der österreichisch-un-
garischen Agrarpolitik auf die Stimmung des Serbenvolkes nur
ein einzelnes Symptom eines Vorganges gewesen, den man in der
gesamten kapitalistischen Wirtschaftspolitik verfolgen kann. Der
in vielen Industriezweigen entbrannte wirtschaftliche Kampf um
Rohstoffe und Absatzmärkte mußte in einer dauernd zum Krieg
gerüsteten Welt zum Versuch eines militärischen Kampfes um
Neuaufteilung des bereits verteilten Kolonien- und Landbesitzes
führen.
Auch beim Ausbruch des zweiten Weltkrieges ist das ins Auge
springende Symptom Hitlers nationaler Chauvinismus und seine
hysterische Leidenschaft, eben jene Faktoren, die er selber auf
Seite 475 von „Mein Kampf" als die Triebfedern der großen ge-
schichtlichen Umwälzungen bezeichnet hatte. Was dabei der
großen Öffentlichkeit verborgen blieb, ist die Rolle, die die wirt-
schaftliche Lage des deutschen Volkes und das deutsche Indu-
striekapital beim Großwerden der Nazibewegung gespielt hatte.
Das rapide Anwachsen der Anhängerschaft Hitlers fällt zu-
sammen mit dem Auftreten der in den Jahren 1929 bis etwa 1931
wie eine Epidemie um die ganze Erde laufenden Weltwirtschafts-
krise. Außerdem waren die führenden Männer des deutschen
Finanzkapitals — in deren Augen der erste Weltkrieg nur eine
„abgebrochene Runde des Kampfes" war und bei günstiger Ge-
legenheit fortgesetzt werden sollte — auf Hitler aufmerksam
geworden, weil sie in ihm den geschicktesten Massendemagogen
und Aufpeitscher der nationalistischen und kriegerischen Instinkte
des deutschen Volkes sahen. Deswegen bildete sich in den Zwan-
zigerjahren eine Gruppe von Industrie- und Finanzmagnaten, die

152
Hitler mit Millionenbeträgen unterstützten. Diese Hilfe hat es
ihm ermöglicht, zwei große Tagesblätter wie den „Völkischen
Beobachter" und den „Angriff" herauszubringen und so auf
einen nicht unerheblichen Teil des deutschen Volkes durch eine
starke Parteipresse einzuwirken. Außerdem setzte ihn die reich-
liche Geldhilfe in die Lage, in Gestalt der SA eine Art Privat-
armee von mehreren hunderttausend Mann bereitzustellen, deren
Druck an dem bis zur Machtübernahme führenden Erfolg der
Partei einen gehörigen Anteil hatte. Es ist sehr charakteristisch,
daß mit dem Abflauen der Wirtschaftskrise im Jahre 1932 gleich-
zeitig auch die Stimmenzahl der Anhänger Hitlers merklich zu-
rückging, so daß Mitte Dezember 1932, sechs Wochen vor der
Machtergreifung, die finanzielle Lage der NSDAP miserabel war,
weshalb auch die Erfolgsaussichten der Bewegung vorf ihren
Führern selbst ungünstig beurteilt wurden. Der tote Punkt konnte
nur durch eine neuerliche sehr ausgiebige Geldhilfe überwunden
werden, die Hitler von einer Kapitalistengruppe gewährt wurde,
nachdem Anfang Jänner 1933 jene bekannte, von Papen veran-
staltete Zusammenkunft im Hause des Bankiers Schroeder in
Köln stattgefunden hatte. Wenige Wochen später zog Hitler in
die Reichskanzlei ein.
Abgesehen von dieser direkten Beteiligung des deutschen
Finanzkapitals an der Hitlerbewegung hatten aber auch in anderer
Hinsicht ökonomische Ursachen an dem Verfall der Demokratie
in Deutschland und an dem imperialistischen Expansionsdrang
der deutschen Politik mitgewirkt. Aus einer mangelnden Welt-
wirtschaftsplanung war die schwere Krise von 1929 hervorgegan-
gen, die, wie schon erwähnt, große Massen ins Lager des National-
sozialismus getrieben hat, und später ist dann Deutschland teils
durch die Fehler seiner eigenen Politiker, teils durch den engher-
zigen Egoismus der großen kapitalistischen Staaten in eine immer
schwierigere Lage gekommen. Der Isolationismus in der amerika-
nischen und der Imperialismus in der britischen Politik, sowie
der nationale Chauvinismus und Kapitalismus in allen beteiligten
Ländern, all das hatte im Verein mit den entsprechenden Fehlern

153
in der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik Deutschlands da-
hin geführt, daß das Reich hinsichtlich Einfuhr und Ausfuhr vom
Weltmarkt abgeschnitten zu werden drohte. Der im tiefen Frie-
den natürliche Zustand, daß gegen Bezahlung mit Geld oder auf
dem Wege des Kompensationsverkehrs, des Güteraustausches, alles
bezogen werden kann, was die heimische Industrie und der hei-
mische Konsum brauchen, dieser Zustand war in der Zwischen-
kriegszeit durch das aus nationalistischen, imperialistischen, kapi-
talistischen Bestrebungen entstandene komplizierte System von
Zöllen, Meistbegünstigungsklauseln, Kontingenten, Exportkon-
trollen, Frachtzertifikaten, Devisengenehmigungen usw. usw.
praktisch so gut wie aufgehoben worden. Dadurch ist in den
letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg eine Situation entstan-
den, die in den ebenfalls einseitig auf nationale und kapitali-
stische Belange eingestellten deutschen Wirtschaftsführern und
Politikern den dringenden Wunsch nach Autarkie und nach sou-
veräner Beherrschung von Rohstoffquellen aufkommen ließ. Zur
Stillung dieses Wunsches wurde mit Hitlers Hilfe die Glut der
nationalen Leidenschaften der Massen so lange geschürt, bis im
Jahre 1939 der große Weltbrand ausbrach.
Die Lehre von Marx steht nun auf dem Standpunkt, daß Ent-
wicklungen dieser Art zwangsläufige Folgeerscheinungen des Ka-
pitalismus sind. Die Bildung der großen Industriekonzerne schafft
starke Machtgruppen innerhalb des Staates, die auf dem Wege
einer stets käuflichen Presse die öffentliche Meinung zu beein-
flussen vermögen und die auch Einfluß auf die Staatsführung ge-
winnen, Weil solche Konzerne auf dem Wirtschaftszweig, den sie
beherrschen, wie z. B. Erdöl, Kohle oder Eisen, praktisch ein
Monopol besitzen, spricht man von M o n o p o l k a p i t a l i s -
mus. Dieser Monopolkapitalismus hat eine ständige Tendenz
zu wachsen, daher ist er einerseits auf der Suche nach Märkten,
auf denen er seine Produkte absetzen "kann, andererseits benötigt
er Rohstoffquellen. Als im 19. Jahrhundert die durch den tech-
nischen Fortschritt ermöglichte weitgehende Industrialisierung
diese Entwicklung in Gang brachte, standen in den Übersee-

154
gebieten noch große aufnahmsfähige Märkte und Versorgungs-
quellen für die Rohstoffe zur Verfügung. Als aber in den außer-
europäischen Ländern selbst auch wieder Industrieunternehmun-
gen entstanden, die den eigenen Markt in immer wachsendem
Maße versorgen konnten und die selber auch Rohstoffe ver-
brauchten, wurde der Konkurrenzkampf der großen und kleinen
Unternehmungen immer stärker, bis schließlich auf dem Wege
über die erhitzten nationalen Leidenschaften jene Zustände ein-
traten, die zum ersten und zweiten Weltkrieg führten.
Nach der Lehre von Marx führt also die freie kapitalistische
Wirtschaft in bestimmten Zeitintervallen immer wieder zu Wirt-
schaftskrisen und zum Krieg.
Zu dieser hier dargelegten Auffassung des Marxismus haben
wir nun vom Standpunkt der psychologischen Betrachtungsweise
aus folgendes hinzuzufügen: Es soll keineswegs in Abrede gestellt
werden, daß sich der tatsächliche Verlauf der Ereignisse so ab-
gespielt hat, wie oben ausgeführt. Aber das muß keineswegs
grundsätzlich so sein. Vielmehr spielen noch gewisse Nebenum-
stände mit, ohne deren Vorhandensein auch unter Beibehaltung
einer freien kapitalistischen Wirtschaft die katastrophalen Folgen
nicht hätten eintreten müssen. Diese Nebenumstände sind: 1. eng-
herzige und kurzsichtige Politik der betreffenden Wirtschafts-
führer und 2. die Möglichkeit der Erzeugung blinder nationaler
Leidenschaften in den großen Massen.
Zu 1, Eine der stillschweigend gemachten Voraussetzungen der
ökonomischen Theorie von Marx ist die, daß die führenden Köpfe
irgend einer Kapitalistengruppe völlig einseitig egoistisch und
ohne Rücksichtnahme auf die Belange der Allgemeinheit handeln,
von deren Wohl ja ihr eigenes auch abhängig ist. Demgegenüber
muß betont werden, daß aus ökonomischen Erwägungen plus
Vernunft nie Kriege entstehen können, sondern nur aus einer
Summe von ökonomischen Interessen plus verbrecherischem Egois-
mus der führenden Persönlichkeiten plus Wahnsinn der aufge-
stachelten Volksmassen. Daß beim heutigen Zustand der Zivili-
sation, da jeder Krieg in einen totalen Weltkrieg ausarten kann,

155
die Methode der kriegerischen Austragung von Völkerkonflikten
für die Nation als Ganzes wirtschaftlich a b s o l u t unren-
t a b e l ist und daß daher alle rein ökonomischen Gesichtspunkte
eindeutig nur für Frieden und Abrüstung und gegen den Krieg
sprechen, ergibt sich aus einer sehr einfachen Überschlagsrech-
nung. Die Kriegskosten Deutschlands betrugen ohne Einrechnung
der durch die Luftangriffe erlittenen Verluste rund 300 Milliar-
den Reichsmark. Die Zahl der getöteten gegnerischen Soldaten
betrug der Größenordnung nach rund zehn Millionen, woraus her-
vorgeht, daß die Tötung eines einzelnen Gegners im Durchschnitt
rund 30.000 RM kostete. Hätte jemand dem deutschen Volk im
Jahre 1939 die Zumutung gestellt, in den darauffolgenden sechs
Jahren so intensiv und ausschließlich zu arbeiten, daß man jedem
einzelnen von zehn Millionen Ausländern ein prächtiges Ein-
familienhaus im Wert von 30.000 RM zum Geschenk machen
kann, so wäre er als ein Wahnsinniger *n ein Irrenhaus gesteckt
worden. Und dennoch wäre bei der Ausführung dieser verrückten
Idee das deutsche Volk noch unvergleichlich besser gefahren, als
durch den Krieg, der neben all diesem Arbeitsaufwand noch die
Blüte der männlichen Jugend dahingerafft hat, einen großen
Teil der deutschen Städte in Trümmer legte und der kommenden
Generation eine gigantische Last von Reparationsschulden auf-
erlegt hat!
Und auch für den Sieger wird die Bilanz keineswegs günstig.
Die englische Nation hat den größten Teil des ganzen Volks-
vermögens für den Krieg geopfert und, nachdem sie ihn gewonnen
hat, muß sie weitere ungezählte Millionen Pfund in die Be-
wachung des besiegten Staates investieren und muß die Lebens-
mittelrationen der eigenen Bevölkerung in manchen Artikeln noch
knapper halten als während des Krieges, um die Besiegten vor
dem Hungertod zu retten.
Und auch die Vereinigten Staaten, die man hier in Europa so
gerne als Kriegsgewinner ansieht, sind durch den großen Krieg
nicht reicher, sondern ärmer geworden. Die Staatsschuld ist ins
Gigantische gestiegen und jetzt, da man an die Abzahlung der

156
Schulden gehen muß, werden die Bürger der USA die ihnen auf-
erlegte finanzielle Last erst in ihrer vollen Schwere zu spüren be-
kommen.
Die Kosten des Krieges und die Kosten des Sieges werden
schließlich immer auf die Volksmassen überwälzt, die in Gestalt
von Inflation, Preissteigerung, Steuer- und Zollerhöhung, Lohn-
senkung und durch den Abbau sozialer Wohlfahrtseinrichtungen
durch viele Jahre hindurch eine furchtbare Erbschaft zu tragen
haben.
Wo immer also — wie bei allen wirtschaftlichen Erwägungen —
der Rechenstift und der nüchterne Verstand zu sprechen hat,
muß vom Standpunkt der ganzen Nation aus betrachtet das
Kriegführen als eine dilettantische Fehlspekulation verworfen
werden.
Zu 2. Um den Standpunkt, daß die Kriege ausschließlich aus
wirtschaftlichen Ursachen entstehen, gegenüber den obigen Argu-
menten zu vertreten, könnte man anführen, daß eben nicht das
Volk als Ganzes, sondern die Kapitalisten die eigentlichen Draht-
zieher und Anstifter der Kriege seien. Nehmen wir an, diese An-
sicht sei richtig, dann kommt man aber noch immer nicht um die
Tatsache der ausschlaggebenden Rolle psychologischer Faktoren
herum. Denn ein von Kapitalisten angestifteter Krieg wird ja
nicht von diesen Leuten allein, sondern vom ganzen Volk geführt.
Also muß irgend ein Mittel vorhanden sein, um das Volk und
dessen Lenker zum Eintritt in den Krieg zu bewegen. Selbst
wenn wir daher annehmen, daß die deutschen Industriekapitäne
darauf ausgegangen seien, einen Krieg anzuzetteln — was man
wohl nicht durchwegs für alle behaupten kann — dürfen wir
doch die Tatsachen nicht übersehen, daß diese Männer es allein
nie zustande gebracht hätten, das deutsche Volk in das Abenteuer
zweier Weltkriege zu stürzen, wenn nicht die psychologischen
und affektiven Momente mitgespielt litten, die jenseits von aller
Vernunft und allem rationalen Denken ihre Wirkung ausüben.
Da ist einerseits die Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften
bis zur Siedehitze des Fanatismus, die gerade auch die wertvoll-

157
sten und besonders opferbereiten jungen Menschen in den Dienst
der vermeintlich heiligen Belange der Nation zu ziehen weiß, und
da ist weiter jene Erscheinung, die ich als v e r s ä u m t e A d a p-
t a t i o n, die versäumte Anpassung, bezeichnet hatte, nämlich die
Beibehaltung altertümlicher Gewohnheiten des Denkens und Han-
delns, die Beibehaltung des gigantischen Mordinstruments einer
Wehrmacht, zu einer Zeit, da sie schon längst deplaciert und
durch die Entwicklung unserer Zivilisation überholt sind. Diese
geistigen und seelischen Momente spielten eine entscheidende
Rolle bei der Entstehung des Faschismus und des von ihm ent-
fachten Krieges.
Wenn man also darüber streitet, ob die Kriege aus wirtschaft-
lichen oder aus psychologischen Ursachen entstehen, so ist das
ungefähr so sinnvoll, wie wenn man darüber debattiert, ob das
Brennen der elektrischen Lichter in unseren Wohnungen durch das
Elektrizitätswerk oder durch das Leitungsnetz verursacht sei.
Beides ist natürlich beteiligt und die Lichter erlöschen sowohl,
wenn das E-Werk zu arbeiten aufhört, wie wenn die Leitungen
unterbrochen werden. Und die Kriege (die zum Unterschied von
dem nützlichen Brennen der elektrischen Lichter ein verheerender
Unfug sind) werden gleichfalls zum Erlöschen kommen, sobald
man einmal eine der notwendigen Bedingungen für ihr Entstehen
radikal beseitigt hat. Ebenso wie nun im Falle der elektrischen
Lichter das Trennen der Leitungen ein Vorgang ist, der sich eher
durchführen läßt als etwa die Zerstörung des E-Werkes, so ist
auch meiner Überzeugung nach die grundsätzliche Einstellung der
Menschen zum Problem Krieg und Frieden — jene Änderung, zu
der unter anderem die in Kapitel 7 geforderte Reform des Ge-
schichtsunterrichtes notwendig ist — leichter und unblutiger zu
bewerkstelligen als die gewaltsame Ausrottung des Kapitalismus.
Diese Feststellung möge nicht etwa als eine Verteidigung des
Kapitalismus ausgelegt werden, der bestimmt viele Sünden auf
sein Gewissen geladen hat und der auch in seiner ursprünglichen
liberalistischen Wirtschaftsform schon Schiffbruch erlitten zu
haben scheint. Es ist nicht daran zu zweifeln, .daß ein wirklich

158
sozialistischer und demokratischer Weltstaat a) erstrebenswert
ist und b) auch eine verläßliche Sicherung gegen jeden künftigen
Krieg wäre. Was aber abzulehnen ist, das ist die Bereitwilligkeit,
das Grauen eines dritten, seine Vorgänger an Schrecken weit über-
treffenden Weltkrieges auf sich zu nehmen, um den Sturz des
Kapitalismus herbeizuführen.
Wenn das kommunistische Wirtschaftssystem dem kapitalisti-
schen tatsächlich überlegen ist — was theoretisch wohl möglich
ist — dann wird die Sowjetunion eine unüberwindliche Waffe
gewinnen, die zwangsläufig zur Einführung dieses Wirtschafts-
systems in der übrigen Welt führen muß. Sie braucht nur das
soziale Niveau ihrer Arbeiterklasse so zu heben und ihre Gren-
zen dem Fremdenverkehrsstrom so weit zu öffnen, daß die
Arbeiter der westlichen Länder aus eigener Anschauung zur Über-
zeugung kommen können, daß es ihnen unter diesem System
besser gehen würde. Einer solchen natürlichen Entwicklung soll
man nicht durch übereilte Gewaltmaßnahmen vorgreifen.

159

Das könnte Ihnen auch gefallen