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Kultur der Zeit und Kultur des Raumes

(Europäische Revue 1936)

Den überlieferten, sich oft nur mehr im Stein bewahrenden Spuren großer vergangener Kulturen wohnt ein
Sinngehalt inne, der von den meisten nicht mehr empfunden wird. Das uns vom Zyklus der altrömischen und
klassischen Kultur im allgemeinen Gebliebene; die Reste noch älterer Kulturen, wie der ägyptischen oder der
persischen; die geheimnisvollen stummen Idole und die in Wüsten, Ebenen und Wäldern zerstreuten
megalithischen Denkmale und ähnliche letzte hervorragende Fragmente versunkener, mit fortgerissener Welten
und Kulturen, von denen uns nicht einmal der Name geblieben ist: das alles stellt uns manchmal vor die Frage,
ob der wundervolle Widerstand, den solche Zeugnisse gegen die Jahrtausende zu leisten vermochten, nur
äußerlichen, zufälligen Umständen zu verdanken ist oder ob er auch die tiefere Bedeutung eines Symbols in sieh
birgt.
Ein solcher Gedanke gewinnt Kraft, wenn wir uns die allgemeine Lebensstimmung jener Kulturen, denen
solche Spuren angehören, vergegenwärtigen, nämlich die allgemeine Stimmung des «traditionsverwurzelten»
Lebens. Es ist das ein Leben, das sich durch die Jahrtausende und die Geschlechter hindurch stets gleichbleibend
bewahrte und seinen Sitten, seinen Einrichtungen, seinen Prinzipien unwandelbar treu blieb. War dieses
traditionsgebundene Leben bei verhängnisvollen Ereignissen auch manchmal äußerer Wandlungen und
Anpassungen fähig, so war es doch in seinem heiligen Kern und seinem beseelenden Wesen nicht zu erschüttern.
Eine solche Welt führt uns scheinbar ins Morgenland: man denke nur an Indien und China, so wie sie bis
gestern waren. Aber je weiter man durch die Zeiten zurückgeht, desto lebendiger, mächtiger und einiger kann
man diesen Kulturtyp fühlen; so daß das Morgenland nur als der Weltteil zu betrachten ist, in dem sich dieser
Kulturtyp am längsten und allgemeinsten bis in verhältnismäßig späte Perioden hinein zu bewahren vermochte.
Bei diesem Kulturtyp scheint das Gesetz der Zeit kaum mehr Geltung zu haben. Mehr als in der Zeit scheinen
diese Kulturen im Raume zu leben. Auch wo ihnen keine besondere Langlebigkeit zukommt, auch wo es sich um
mehr oder weniger vorübergehende Erscheinungen handelt, wie etwa bei den wandernden monolithischen
Einheiten (so wie es vorwiegend bei den Beispielen der Antike der Fall ist) - der Typus bleibt trotzdem bestehen:
im Sinne einer «Qualität», einer Seinsart, einer substantiellen, dem erfahrenen Auge wohlerkennbaren Prägung.
Einem Schlagwort nach wären dies die «statischen», die bewegungslosen Kulturen. Tatsächlich sind es die
Kulturen, von denen sich sogar die materiellen Merkmale als dauerhafter und langlebiger erweisen als irgendein
Gebäude oder Gedanke der Neuwelt, wobei das Wort «Fortschritt» nur Unterordnung unter das Gesetz der Zeit
bedeutet, unter ein Gesetz ständiger Änderung, schnellen Aufstiegs und ebenso schnellen, rapiden Untergangs.
Als Grundvoraussetzung ist hier festzustellen, daß es sich bei den alten Kulturen nicht um Unbeweglichkeit,
sondern um Unveränderlichkeit handelt. Solche Kulturen waren Kulturen des «Seins». Ihre Kraft offenbarte sich
in ihrer Identität, ihrem Sieg über die Änderung, das Werden, das formlose Fließen. Es sind die Kulturen, die den
festen Grund jenseits der haltlosen unsicheren Wasser erreichten und auf diesem Grund ihre Wurzeln zu
schlagen
vermochten, die sie unerschütterlich machten.
Der Gegensatz zwischen modernen und traditionsverbundenen Kulturen läßt sich folgendermaßen bestimmen:
die modernen Kulturen sind Verschlingerinnen des Raumes, die traditionsverbundenen Kulturen sind
Verschlingerinnen der Zeit.
Das Schwindelerregende der ersteren - der modernen - Kulturen liegt in ihrem Fieber der Bewegung und der
räumlichen Eroberung beschlossen. Dieses Fieber erzeugt alle Mittel zur Aufhebung jeder Distanz, zur
Verkürzung jedes Intervalls - es handelt sich um den Versuch, alles, was in der Vielheit der Orte zerstreut ist, in
einer Empfindung der Gleichzeitigkeit und des Überallseins zusammenzufassen. Spannung eines Besitztriebes,
dunkle Angst vor allem, was abgelegen, was isoliert, was fern ist: Drang, sich an jedes Ding und jeden Ort zu
verlieren, statt Halt und Wert in sich selber zu finden. Technik und Wissenschaft, von solchem Drang
aufgepeitscht, mehren und verstärken ihn noch: Verkehr, rasche Verbindungen, Radio, Standardisierung,
Großstadtgeist, Internationalismus, amerikanischer Geist, «moderner» Geist schlechthin. Das Netz wird immer
dichter, festigt sich, vervollkommnet sich technisch. Die Wege der Erde, des Wassers und der Luft sind
erschlossen. Der menschliche Blick taucht in die fernsten Himmel hinein. Blitzartig überträgt sich die Tat
überallhin. Ununterscheidbarer Trubel von tausenderlei Stimmen, die allmählich zu einem eintönigen,
einfarbigen Rhythmus verschmelzen. Dynamismus. Mythos der grenzenlosen Ausbreitung.
Das Schwindelerregende der traditionsverbundenen Kulturen dagegen lag in ihrer Beständigkeit, ihrer Identität,
ihrem unerschütterlichen und unveränderlichen Bestehen inmitten der Strömung der Zeit. Eben dadurch waren
sie fähig, sogar in ihren materiellen Formen die Empfindung des Ewigen auszulösen. Sie waren Inseln in der
Zeit, Wälle in der Zeit, Kräfte, die die «Geschichte» verzehren. Dieses ihres Charakters wegen kann man nur mit
Unrecht von ihnen sagen, daß sie «waren»: richtiger muß es heißen, daß sie sind. Scheinen sie sich auch
allmählich zu entfernen und fast zu entschwinden in der Ferne der «Vergangenheit», so ist dies doch nur ein
Trugbild, welches sich demjenigen notwendig aufdrängt, der mitgerissen wird von einem unwiderstehlichen,
immer weiter vom Ort der Beständigkeit wegtreibenden Strom.
Übrigens ist dies das Gleichnis der zweifachen Perspektive, das auch einer alten geistigen Lehre entspricht: die
«unbeweglichen» Länder enteilen für den, der mit den Gewässern geht - die Gewässer enteilen für den, der sich
in den «unbeweglichen Ländern» ansiedelt. Zum Gleichnis tritt hier eine innerliche Auslegung: das
entscheidende Erlebnis ist, die innere Beständigkeit zu erreichen und zu verwirklichen, so wie der, der unbewußt
von der Strömung getragen wird, plötzlich an einen Felsen stößt, ihn ergreift und in seinem Sichfesthalten zum
ersten Male erkennt, was stehen und was gehen bedeutet: er identifiziert sich nicht mehr mit dem Fließenden, er
identifiziert sich mit dem «Stehenden», dem Beständigen. Dann kehren sich die Perspektiven um, eine neue,
einfache Anschauung tritt ein, die Anschauung vom Sein aus, nicht mehr von der Bewegung her. Es ist das eine
innere Eroberung, eine innere Evidenz, der substantielle Übergang von einer Seinsart zu einer anderen Seinsart.
Dann ist die Verbindung wiederhergestellt. Was Vergangenheit schien, wird Gegenwart. Die ewigdauernden
Werte der traditionsverbundenen Welt werden verstanden. Was als «statisch» gekennzeichnet war, offenbart ein
schwindelerregendes Leben. Diejenigen, welcher dieser Erfahrung bar sind, sind die Gefallenen, die
Mittelpunktslosen. Religion des Werdens, Historizismus, Evolutionismus usw. stellen sich als der tödliche
Rausch des Schiffbrüchigen dar, als die Wahrheiten desjenigen, der entflieht, der keine innere Beständigkeit hat
und nicht weiß, was innere Beständigkeit bedeutet. Er weiß auch nicht, wo die Quelle jeder wahren Herrschaft,
jeder wahren Eroberung liegt: jener Eroberungen, die sich nicht darauf beschränkten, unsichtbare und
unantastbare geistige Aufgipfelungen zu sein, sondern sich auch in epischer Größe, in Kulturzyklen ausdrückten,
die sogar in ihren stummen, zerstreuten steinernen Überresten etwas Übergeschichtliches, Ewiges
widerzuspiegeln scheinen.

***

Solche Betrachtungen sind weit davon entfernt, in einen Kulturrelativismus zu münden. Die beiden
Perspektiven (des Werdens und des Seins) sind nicht gleichwertig. Der Relativismus kennzeichnet vielmehr nur
den «modernen» Kulturtyp, und zwar als denjenigen, der sich von einem grundsätzlichen Mangel an Prinzipien -
einem Mangel an von Zeit und «Geschichte» freien Gewißheiten und Wirklichkeiten - herschreibt.
Gewisse «Entdeckungen» - Ursprünge allgemeiner, epochemachender Auffassungen - verkörpern nicht selten
die Eigenschaft des Symptoms, auch wenn sie dem Gebiet der sogenannten wissenschaftlichen Objektivität
angehören. So ist es kein Zufall, daß solche Entdeckungen zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten. Was zum
Beispiel die Kosmologie, d.h. die Weltlehre, betrifft, so ist beiläufig allgemein bekannt, daß heute, nach der
Theorie der letzten Mode (Einstein), die Frage gleichgültig ist, ob die Erde oder ob die Sonne sich drehe: es
handelt sich bloß darum, eine größere oder kleinere Komplikation in die geophysischen und astronomischen
Berechnungen hineinzubringen. Nun, diese Konjunktur scheint uns höchst bedeutsam zu sein: durch die
«kopernikanische Entdeckung» wurde die Erde nicht mehr als der unbewegliche Mittelpunkt himmlischer
Wesen betrachtet, «wahr» wurde vielmehr, daß die Erde ihren Mittelpunkt außerhalb ihrer selbst hat und daß sie
dem Gesetz des Wanderns im Raume als Teil eines im Unendlichen zerstreuten Systems unterworfen ist. Diese
«Entdeckung» fällt aber ungefähr mit der Zeit der Renaissance, der Reformation, des Humanismus und des
Naturalismus zusammen, d.h. mit der Zeit der entscheidenden Wendungen für die Heraufkunft einer Kultur, in
der der Mensch allmählich jede Verbindung mit dem Seienden und jede geistige Zentralität verlieren sollte. Daß
man sich auf den Standpunkt des «Werdens» und der «Geschichte» stellte, daß man den Menschen als bloßes
Geschöpf des «Werdens» und der «Geschichte» pries, der Wandlung, des unbezwingbaren und
unvorhersehbaren «Lebens», das sind nur die letzten logischen Folgen dieser Richtung und Wendung.
Solche Betrachtungen sollten nicht als weltfremde Abstraktionen für die Strömungen gelten, welche heute,
indem sie das Ende einer Kultur - eben der «modernen» Kultur - vorausahnen, mit ihrem geistigen Aufstand die
Grundlage eines neuen Zeitalters zu setzen versuchen. Die Hauptaufgabe dieser Strömungen besteht eben darin,
eine schöpferische Synthese herzustellen zwischen erneuernder Kraft und traditionsverbundenem Geist: denn
allein dieser Geist, der das Überzeitliche spiegelt, kann wahre Ausrichtung und Unbedingtheit verleihen.
Auf dieser Grundlage ist im Hinblick auf jedes Interesse, jeden Stolz, jede Bestrebung, jeden Machtwillen, die
noch etwas vom Erbe der zu überwindenden Epoche bewahren, eine langsame, aber präzise Umkehrung zu
vollziehen: eine Umkehrung eben im Sinne einer neuen Kultur des Seins. Weniger uns in einen Wettkampf auf
derselben Ebene der Zielsetzungen und Verwirklichungen der modernen Werdens-Kultur einzulassen, sondern
vor allem, Werte von jener anderen Ebene her zu schaffen, soll unsere Aufgabe sein. Eine geeignete
Aufzüchtung wird allmählich zu der substantiellen, von uns angedeuteten Wandlung hinführen: zur Wandlung,
die zum Erlebnis und zum Besitz der Beständigkeit, der Seinsart, gelangen läßt. Diese Eroberung wird dann der
Ausgangspunkt sein zur Beseelung und Verklärung eines neuen Organismus und eines Reiches, das nur auf
diesem Wege etwas von der sieghaften Größe und dem olympischen Lichte unserer indogermanischen
Urkulturen zu neuem Dasein zu erwecken vermag.

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