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Zeit

Besitzt in der heutigen Zeit die Vorstellung eines materiellen Vorhandenseins der Zeit
geradezu zwanghafte Verbreitung, so war die Behauptung einer für sich selbst existierenden
Zeit die erste Lüge des gesellschaftlichen Lebens. Wie die Natur hat die Zeit nicht existiert,
bevor das Individuum sich als von ihr getrennt erlebte. Diese einschneidende Verdinglichung
– der Anfang der Zeit – begründet den Sturz: den Beginn von Entfremdung, von Geschichte.
Spengler beobachtete, dass eine Kultur sich von einer anderen durch die intuitiven
Bedeutungen, die der Zeit zugeschrieben werden, unterscheidet1; Canetti, dass die
Regulierung der Zeit das Hauptmerkmal jeglicher Herrschaft ist2. Aber es ist genau der
Übergang von ursprünglicher Gemeinschaft zu Zivilisation, welcher an dieser Stelle bereits
angelegt ist, denn was sich hier äußert, ist nichts anderes als die fundamentale Sprache von
Technologie und der Geist von Herrschaft.
Durch die heutige fieberhafte Beschleunigung der Zeit und das Scheitern der vermeintlichen
„Lösung“ ihrer Verräumlichung wird ihr wahrer Charakter als künstliche und tyrannische
Macht offenbar, zusammen mit ihren Begleiterscheinungen, Fortschritt und Werden. Oder
auch konkreter: Mit der offenkundigen Knechtschaft der Zeit kommen Technologie und
Arbeit zum Vorschein. Die Tendenzen zur Aufhebung von Geschichte und der Herrschaft der
Zeit sind jedenfalls heute so präsent wie zuletzt während des Mittelalters und davor zu Zeiten
der neolithischen Revolution, während der sich der Ackerbau durchsetzte.
Ist bereits die Humanisierung von Technologie und Arbeit eine zweifelhafte Perspektive ist,
so muss die Humanisierung der Zeit umso aussichtsloser erscheinen. Die zwangsläufigen
Fragestellungen sind also: Ist es überhaupt möglich, grundlegende Unterdrückungsformen zu
kontrollieren oder wesentlich zu reformieren? Sollten sie nicht vielmehr vollständig
abgeschafft werden?
Hegel affirmativ zitierend schrieb Debord: „Der Mensch, ‚das negative Wesen, welches nur
ist, insofern es Sein aufhebt‘, ist mit der Zeit identisch.“3 Diese Gleichsetzung muss
zurückgewiesen werden, was vielleicht am besten verständlich wird, wenn Ursprünge,
Entwicklung und gegenwärtiger Status der Zeit analysiert werden.
Falls, um mit Horkheimer und Adornos prägnantem Diktum zu sprechen, „alle
Verdinglichung ... ein Vergessen [ist]“4, dann scheint ebenso zuzutreffen, dass alles
„Vergessen“ – im Sinne eines Kontaktverlusts mit unseren zeit-losen Anfängen, eines
beständigen „Abstürzens in die Zeit“ – eine Verdinglichung darstellt. Und tatsächlich ist es
diese, welcher sämtliche weiteren Verdinglichungen folgen.5

1 Vgl.Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit, München
1923, S. 169.

2 Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 457.

3 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 111 (These 125).

4Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Adorno,
Theodor W.: Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt a.M. 1997, S. 263.

5Negativ bestätigt dies Charles Newman: „Es gibt kein Zurück zu einem vorsprachlichen Paradies oder zu einer
auf ursprüngliche Dummheit gestützten Macht über die Zeit,“ im Vorwort zur englischen Ausgabe von E.M.
Ciorans Der Absturz in die Zeit: Cioran, E.M.: The Fall into Time, Chicago 1970, S. 29.

Die Implikationen dieser Gedanken sind gewaltig – was möglicherweise erklärt, warum noch
niemand die Verdinglichung namens Zeit und deren Verlauf in zufriedenstellender Weise zu
beschreiben vermochte. Der Siegeszug der Zeit führt zur Geschichte, von dort aus über den
Fortschritt schließlich zur verhängnisvollen Fetischisierung der Zukunft, welche heutzutage
die Verantwortung trägt für die Ausrottung von Spezies, Sprachen, Kulturen – in letzter
Konsequenz möglicherweise der gesamten natürlichen Welt. Dieser Essay sollte nicht
fortfahren, ohne eine Intention und Strategie erklärt zu haben: Die technologische
Gesellschaft kann nur überwunden (und an ihrer eigenen Wiederverwertung gehindert)
werden, wenn Zeit und Geschichte abgeschafft werden.
„Die Geschichte ist ewiges Werden, ewige Zukunft also; die Natur ist geworden, also ewige
Vergangenheit“6, wie Spengler schrieb. Ebenso treffend vermittelt Marcuses Diktum
„Geschichte ist die Negation von Natur“7 diese Bewegung, die mit ihrer stets wachsenden
Geschwindigkeit den Menschen aus seiner einstigen Welt katapultiert hat. Im Herzen dieses
Prozesses liegt die herrschende Vorstellung von der Zeitlichkeit selbst, welche früheren
Menschen unbekannt war.
Lévy-Bruhl liefert eine Einführung: „Die Vorstellung, die wir von der Zeit haben, scheint uns
von Natur dem menschlichen Geiste anzugehören. Aber das ist eine Einbildung. Diese Idee
existiert nicht für die primitive Geistesart ...“8 Die Frankforts folgerten, dass urzeitliches
Denken „keine Zeit als einheitliche Fortdauer oder als Folge qualitativ unterschiedsloser
Augenblicke“9 kennt. Vielmehr lebten frühe Individuen „in einem Strom von inneren und
äußeren Erfahrungen, der zu jedem Zeitpunkt ein unterschiedliches Bündel von
nebeneinander bestehenden Ereignissen mit sich trug, der sich somit stetig veränderte,
quantitativ wie qualitativ.“10
Angesichts des Totenschädels einer Jäger/Sammler-Frau der Steppe gelangte Jacquetta Hawks
zu der Vorstellung einer „ewigen Gegenwart, in der alle Tage, alle Jahreszeiten der Steppe in
einer andauernden Einheit stehen.“11 Tatsächlich wurde das Leben als eine stetige Gegenwart
erlebt,12 was erneut unterstreicht, dass die historische Zeit nicht der Wirklichkeit inhärent,
sondern ein ihr auferlegtes Artefakt ist. Die im Alltagsbewusstsein fest verankerte
Konstruktion der Zeit als abstrakter und stetiger „Faden“, der sich in einem endlosen
Fortschreiten abwickelt, welches sämtliche Ereignisse verbindet, dabei jedoch von ihnen
unabhängig bleibt, war vollständig unbekannt.

6 Spengler: ebd., S. 498.

7 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin 1967, s. 247.

8 Lévy-Bruhl, Lucien: Die geistige Welt der Primitiven, München 1927, S. 75. Paul Radins Primitive Man as
Philosopher (New York 1927) ist ein notwendiges Korrektiv für Lévy-Bruhls Auffassungen vom frühen Denken
als nicht-individuiert und beherrscht von „mystischen“ und „okkulten“ Mustern. Radin erbringt den Nachweis,
dass die frühe Menschheit von Individualität, Selbstdarstellung und Toleranz geprägt war.

9Frankfort, Henri und H.A. / Wilson, John A. / Jacobsen, Thorkild: Frühlicht des Geistes. Wandlungen des
Weltbildes im alten Orient, Stuttgart 1954, S. 31.

10 Von Franz, Marie-Louise: Time. Rhythm and Repose, London 1978, S. 5.

11 Hawkes, Jacquetta: Man on Earth, London 1954, S. 13.

12 Vgl.
Gunnell, John: Political Philosophy and Time, Middletown 1968, S. 13; sowie Eliade, Mircea: Der
Mythos der ewigen Wiederkehr, Stuttgart 1953, S. 126f.

Henri-Charles Pueschs Begriff „artikulierte Atemporalität“ erscheint in diesem


Zusammenhang nützlich, reflektiert er doch die Tatsache, dass beispielsweise ein Bewusstsein
für Intervalle auch unter Abwesenheit eines expliziten Zeitsinns existiert hat. Auch das
Verhältnis von Subjekt und Objekt war radikal verschieden, bevor die zeitliche Distanz in die
Psyche eingedrungen war. Wahrnehmung war nicht der unbeteiligte Akt, als den wir sie heute
gewohnt sind, mit der dabei stets bewahrten Distanz, die eine Externalisierung und
Beherrschung der Natur erst möglich macht.
Heutzutage können wir Residuen dieses ursprünglichen Zustandes höchstens noch bei
überlebenden Stammesgesellschaften beobachten. Wax berichtete über Pawneeindianer des
neunzehnten Jahrhunderts: „Das Leben hatte einen Rhythmus, aber keinen Fortschritt."13 Die
Sprache der Hopi kennt keinen Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Bei den
Tiv finden wir die Zeit explizit im Denken und der Sprache, nicht aber als eigene Kategorie,
genau wie eine andere afrikanische Gruppe, die Nuer, von der Zeit als eigenständiges Konzept
keine Vorstellung besitzt. Der Sturz in die Zeit ist ein gradueller; so wie die frühen Ägypter
gleichzeitig zwei Uhren in Gebrauch hatten – für die alltäglichen Zyklen auf der einen und die
einheitliche „objektive“ Zeit auf der anderen Seite -, so zeigte der balinesische Kalender nicht
an, „welche Zeit, sondern vielmehr, welche Zeit gerade war.“14
Was die ursprüngliche Jäger/Sammler-Menschheit15 betrifft, welche bereits eingangs
Erwähnung gefunden hat, scheinen einige Anmerkungen vonnöten, zumal da seit Ende der
sechziger Jahre diesbezüglich eine „nahezu vollständige Umkehrung der anthropologischen
Orthodoxie“16 eingetreten ist. Das Leben vor den ersten Agrargesellschaften vor ca. 10.000
Jahren war allgemein als „kümmerlich, roh und kurz“ beschrieben worden, aber die
Forschung von Marshall Sahlins, Richard Lee und anderen hat diese Ansicht dramatisch
revidiert. Die Sammler-Lebensweise stellt heute insoweit das Bild der ursprünglichen
Wohlstandsgesellschaft dar, als sie Überleben und Vergnügen durch ein Kleinstmaß an
Anstrengung gewährleisten konnte; Arbeit wurde als gesellschaftlicher Kostenfaktor gesehen
und ein Klima des Gebens und Schenkens war vorherrschend.17
Dies also war die Grundlage der Nicht-Zeit, gemäß Meerloos Bemerkung, dass „primitive
Menschen im Jetzt leben, so wie wir alle, wenn wir Spaß haben“18 – oder auch, mit Nietzsche
gesprochen: „Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit.“19
Die Vorstellung eines ursprünglichen Zustands von Vergnügen und Vollkommenheit ist sehr
alt und praktisch universell20. Die Erinnerung an ein „verlorenes Paradies“ – und oft eine

13 Zitiert nach Cottle, Thomas J. / Klineberg, Stephen L.: The Present of Things Future, New York 1974, S. 166.

14 Ebd., s. 168.

15Die Lebensweise als Jäger und Sammler war während mehr als 99 Prozent der Menschheitsgeschichte
vorherrschend.

16 Smith, Eric A. / Winterhalder, Bruce: Hunter-Gatherer Foraging Strategies, Chicago 1981, S. 4.

17 Vgl. beispielsweise Sahlins, Marshall: Stone Age Economics, Chicago 1972.

18 Meerloo, Joost A.M.: Along the Fourth Dimension, London 1972, S. 119.

19 Nietzsche, Friedrich: Das trunkne Lied, in: Also sprach Zarathustra, in: Werke 1, München 1981, S. 776.

20 Vgl Eliade, Mircea: Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1988, S. 56; Dodds, Eric R.: Der
Fortschrittsgedanke in der Antike, München 1977, S. 9; Guthrie, William K. C.: In the Beginning, Ithaca 1957,
S. 69.

damit verbundene Eschatologie, die die Zerstörung aller späteren Existenz verlangt – finden
wir in der taoistischen Vorstellung eines goldenen Zeitalters, den römischen Saturnalien, dem
Elysium der Griechen und der christlichen Legende vom Garten Eden und dem Sündenfall
(welcher wahrscheinlich auf sumerische Klagen von verlorenem Glück in der herrscherlosen
Gesellschaft zurückzuführen ist), um nur einige wenige zu nennen. Der Verlust eines
paradiesischen Zustands durch den Anbruch der Zeit entlarvt die Zeit als den eigentlichen
Fluch des Sündenfalls, zusammen mit der Geschichte als Resultat der ursprünglichen Sünde.
„Getrenntheit ist also der Sündenfall – der Fall in die Teilung, die Ur-Lüge,“21 war Norman O.
Browns Interpretation, nahezu identisch mit Walter Benjamins Auffassung, dass „der
Ursprung der Abstraktion ... im Sündenfall zu suchen sei.“22 Umgekehrt erkannte Eliade in
der schamanischen Erfahrung eine „Sehnsucht nach dem Paradies“, die sich in dem Glauben
äußerte, dass, „was heutzutage die Schamanen in Ekstase vollbringen“ vor der Hegemonie der
Zeit „allen Menschen möglich“23 war. Und so nimmt es kaum wunder, dass Loren Eiseley bei
Aboriginals „erstaunlich erfolgreiche Bemühungen“ feststellte, „all jenes, was nicht mit der
transzendenten Suche nach der Zeitlosigkeit, dem glücklichen Land ohne Veränderung zu tun
hat, zu vernachlässigen oder auszulöschen,“24 oder dass Lévi-Strauss in primitiven
Gesellschaften die Entschlossenheit konstatierte, „sich jeder Veränderung in ihrer Struktur zu
widersetzen, die es der Geschichte ermöglichen könnte, in ihre Mitte hineinzustürzen.“25
Falls dies alles ein wenig zu exzentrisch für ein solch nüchternes Thema wie die Zeit
erscheint, so mögen einige gegenwärtig populäre Klischees illustrieren, dass mangelnde
Weisheit eher an ganz anderer Stelle anzutreffen ist. John Gunnel verrät uns, die Zeit sei „eine
Weise, die Erfahrung zu ordnen,“26 eine exakte Parallele zu der gleichermaßen fehlerhaften
Annahme über die Neutralität der Technologie. Eine noch extremere Lehnstreue gegenüber
der Zeit beweist Clark und Piggots bizarre Behauptung, dass sich „menschliche
Gesellschaften von den tierischen in letzer Instanz durch ihr Geschichtsbewusstsein
unterscheiden“.27 Erich Kahler glaubt, „weil primitive Völker kaum ein Gefühl der
Individualität kennen, besitzen sie kein individuelles Eigentum,“28 eine ähnlich falsche
Vorstellung wie Leslie Pauls „durch Heraustreten aus der Natur befreit sich der Mensch von
der Dimension der Zeit.“29 Kahler, so könnte noch hinzugefügt werden, bewegt sich auf
weitaus gesicherterem Grund, wenn er bemerkt, dass die „primitive Teilhabe des frühen
Individuums an seinem Universum und seiner Gemeinschaft sich mit dem Erwerb der Zeit

21 Brown, Norman O.: Love’s Body, München 1977, S. 134.

22Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Metaphysisch-
geschichtsphilosophische Studien, in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Erster Teil, Frankfurt 1977, S. 154.

23 Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich 1956, S. 449.

24 Eiseley, Loren: The Invisible Pyramid, New York 1976, S. 28.

25 Lévi-Strauss, Claude: The Scope of Anthropology, New York 1976, S. 28.

26 Gunnell, John: a.a.O., S. 17.

27 Clark, Grahame / Piggott Stuart: Prehistoric Societies, New York 1965, S. 43.

28 Kahler, Erich: Man the Measure, New York 1943, S. 39.

29 Paul, Leslie: Nature into History, London 1957, S. 179.


aufzulösen beginnt.“30 Auch Seidenberg erkannte diesen Verlust, durch den unsere Vorfahren
„sich immer weiter von ihrer instinktiven Harmonie fortbewegen sahen, entlang dem prekären
Pfad einer instabilen Synthesis. Und dieser Pfad ist die Geschichte.“31
Kommen wir noch einmal auf die mythische Dimension zu sprechen, welche wir
beispielsweise in der weitverbreiteten altertümlichen Erinnerung an ein ursprüngliches Eden
erkennen – dessen reale Vorlage die gelebte Wirklichkeit des Jäger/Sammler-Lebens war –, so
sehen wir uns einer magischen Praxis gegenüber, die wir bei allen Ethnien und frühen
Gesellschaften wiederfinden. Im Gegensatz zu dem zeitgebundenen Charakter von
Technologie erkennen wir darin einen atemporalen Eingriff, der auf die „Wiederherstellung
der gewohnten Naturgleichförmigkeit“32 abzielt. Dieses grundlegende menschliche Interesse
an der Regelmäßigkeit, nicht jedoch der Ersetzung von Naturprozessen verdient,
hervorgehoben zu werden. Verwandt mit der Magie ist der Totemismus, bei dem die
Verbundenheit aller lebenden Kreaturen im Vordergrund steht; jeglicher Magie und ihrem
totemischen Kontext liegt stets die Teilhabe an der Natur zugrunde.
„Bei dem reinen Totemismus,“ so Frazer, „...ist der Totem (Vorfahr, Patron) niemals ein Gott,
und er wird niemals angebetet.“33 Der Schritt von der aktiven Beteiligung zur Religion, von
der Gemeinschaft mit der Welt hin zur Verehrung externalisierter Gottheiten, ist Teil des von
dem Auftauchen der Zeit in Gang gesetzten Entfremdungsprozesses. Ratschow machte das
Erwachen des historischen Bewusstseins verantwortlich für den Zusammenbruch der Magie
und ihre Ersetzung durch die Religion34 - jedenfalls besteht ein wesentlicher Zusammenhang.
Durkheim schließlich hält, in sehr verwandtem Sinn, die Zeit für ein „Produkt des religiösen
Gedankens.“35 Auch Eliade entdeckte diese zunehmende Trennung und brachte sie in
Verbindung mit dem gesellschaftlichen Leben: „Die reichsten und dramatischsten Mythen, die
extravagantesten Rituale, die Götter und Göttinnen aller Art, die Vorfahren, die Masken und
die Geheimgesellschaften, die Tempel, die Heiligtümer usw. – das alles findet man in den
Kulturen, die das Stadium des Sammelns und der Jagd überwunden haben...“36
Elman Service fand die Bandengesellschaften des Jäger/Sammler Stadiums „überraschend“
egalitär, was sich durch die Abwesenheit nicht nur von Autoritäten wie Häuptlingen, sondern
auch von Spezialisten, Vermittlern jeglicher Art, Arbeitsteilung und Klassen ausdrückte.37

30 Kahler, Erich: a.a.O., S. 40.

31 Seidenberg, Roderick: Posthistoric Man, Chapel Hill 1950, S. 21.

32Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen
Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 15.

33 Zitiert nach Kahler, Erich: a.a.O., S. 44.

34Zitiert nach Jensen, Adolf E.: Mythos und Kult bei den Naturvölkern. Religionswissenschaftliche
Betrachtungen, Wiesbaden 1951, S. 42.

35 Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 28.

36 Eliade, Mircea: Mythos und Wirklichkeit, S. 97.

37 Vgl. Service, Elman: The Hunters, Englewood Cliffs 1966, S. 81-90. Neuere Arbeiten scheinen dieses Bild zu
bestätigen, so zum Beispiel Nance, John: Tasaday. Steinzeitmenschen im philippinischen Regenwald, München
1977.

Nach Freud musste die Kultur, in ihrem Kern auf Entfremdung basiert, die frühe Macht von
zeitloser und nichtproduktiver Befriedigung brechen.38
In dieser langen, ursprünglichen Epoche zeigte sich die Entfremdung zuallererst in der Gestalt
der Zeit, obwohl mehrere tausend Jahre Widerstand ihren endgültigen Sieg, ihre Verwandlung
in Geschichte aufgehalten haben. Verräumlichung, der Motor von Technologie, kann bis zu
den ersten traurigen Erfahrungen von Entbehrungen durch Zeit zurückverfolgt werden, bis zu
den dort entstehenden Bemühungen, den Durchmarsch zur Zeit durch eine Ausdehnung im
Raum zu kompensieren. Die Aufforderung „Seid fruchtbar und mehret Euch“ in der Genesis
hielt Cioran für „kriminell“.39 Möglicherweise erkannte er darin die erste Verräumlichung –
die der Menschen selbst –, denn der Ursprung von Arbeitsteilung und all den nachfolgenden
Spaltungen kann auf das große zahlenmäßige Wachstum der menschlichen Gesellschaften und
den damit verbundenen fortschreitenden Zusammenbruch des Jäger/Sammler-Lebens
zurückgeführt werden. In der bürgerlichen Wissenschaft wird dies in das Klischee gefasst,
dass Herrschaft (verkörpert durch Anführer, Städte, den Staat, usw.) das natürliche Ergebnis
des „Bevölkerungsdrucks“ war.
Bei dem Übergang vom Jäger/Sammler zum Nomaden erkennen wir die Verräumlichung,
ungefähr um 1200 v. Chr., unter anderem in Gestalt des Streitwagens (und der Figur des
Zentauren). Es ist offensichtlich, dass hier bereits der Rausch von Raum und Geschwindigkeit
auf den Plan getreten ist, gleichermaßen als Kompensation für die Beherrschung der Zeit.
Dies stellt eine Art Sublimation dar; ganz banal gesagt lenkt sich die ehrgeizige Energie des
Zeitsinns um in eine räumliche Beherrschung.
Mit dem Ende des Nomadentums ist die gesellschaftliche Ordnung auf der Basis festen
Eigentums hergestellt40 - eine weitere Verräumlichung. Hier kommt Euklid ins Spiel, dessen
Geometrie eine Antwort auf die Bedürfnisse der frühen landwirtschaftlichen Systeme war,
und die schließlich durch den Primat des Räumlichen den Wissenschaften eine fatale
Richtung gegeben hat.
In seinem Versuch einer Typenlehre der egalitären Gesellschaft erklärte Morton Fried, diese
besitze keine reguläre Arbeitsteilung (und damit keine daraus abgeleitete politischen
Machtstrukturen) und konstatierte schließlich: „Fast alle dieser Gesellschaften sind auf der
Basis von Jagen und Sammeln gegründet und entbehren signifikante Ernteperioden, um
größere Nahrungsreserven anzulegen.“41 Mit dem Beginn der landwirtschaftlichen
Zivilisation und ihrem System der Produktion auf Basis von Überschuss und Spezialisierung
änderte sich all dies. Da ihr Unterhalt durch den gesellschaftlichen Überschuss gesichert war,
konnten sich die Priester der Zeitmessung, der Beobachtung von Himmelsbewegungen sowie
der Vorhersage zukünftiger Ereignisse widmen. Die Zeit stand fortan unter der Herrschaft
einer mächtigen Elite und konnte von dieser eingesetzt werden, um direkt das Leben einer
großen Anzahl von Menschen zu kontrollieren.42 Nach Lawrence Wright wurden die Herren

38 Besonders vielleicht in Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930.

39 Cioran, E.M.: Die verfehlte Schöpfung, Frankfurt am Main 1979, S. 14.

40 Vgl. Horkheimer/Adorno 1997, S. 20.

41Fried, Morton: Evolution of Social Stratification, in: Diamond, Stanley (Hrsg.): Culture in History, New York
1960, S. 715.

42 Vgl. Christianson, Gale E.: This Wild Abyss, New York 1978, S. 20.

der frühen Kalender zusammen mit ihren Dienern zu einer „separaten Priesterkaste.“43 Ein
hervorragendes Beispiel dafür waren die sehr zeitbesessenen Maya; von G.J. Whitrow
erfahren wir, dass „von allen Völkern des Altertums die Priester der Maya den am meisten
ausgeklügelten und genauesten Kalender entwickelt haben, was ihnen eine enorme Macht
über die Massen verlieh.“44
Im Großen und Ganzen ist Harry Elmer Barnes zuzustimmen, wenn er berichtet, dass formale
Zeitkonzepte mit der Entwicklung des Ackerbaus aufkamen.45 Unweigerlich werden wir hier
an den berühmten alttestamentarischen Fluch des Ackerbaus erinnert (1. Mose 3.17-18),
welcher bei der Vertreibung aus dem Paradies Arbeit und Herrschaft ankündigte. Mit dem
Vorrücken der Landwirtschaft bekam der Begriff der Zeit eine schärfer konturierte
Bedeutung; Unterschiede in der Interpretation der Zeit konstituierten eine Trennlinie zwischen
einem Naturzustand und der Herrschaft der Kultur, zwischen den gebildeten Klassen und den
Massen.46 Dies ist die maßgebliche Erscheinungsform des neolithischen Phänomens, was sich
sowohl in Nilssons Bemerkung, dass „altertümliche zivilisierte Völker in der Geschichte mit
einem vollentwickelten System der Zeitberechnung auftauchen,“47 als auch in Thompsons
Beobachtung, dass „die Form des Kalenders grundlegend für die Lebensweise einer Kultur“48
ist, widerspiegelt.
Die Babylonier gaben dem Tag 12 Stunden, die Hebräer der Woche 7 Tage, und allmählich
musste die frühe Vorstellung einer zyklischen Zeit, mit ihrem wenn auch eingeschränkten
Beharren auf einer Rückkehr zu den Anfängen, dem Konzept der Zeit als einem linearen
Fortschreiten weichen. Zusammen mit der Zeit schritt auch die Domestikation der Natur
voran – mit verheerenden Folgen. So behauptet Eliade, dass „die Entdeckung des Ackerbaus
Umwälzungen und geistige Umstellungen zur Folge hatte, deren Gewicht wir uns schwer
vorstellen können.“49 Eine ganze Welt wurde von dieser virulenten Partnerschaft in die Knie
gezwungen, was jedoch nicht ohne gewaltigen Widerstand vor sich ging. Und so müssen wir
uns nach Jacob Burckhardt der Geschichte „als Pathologe“ nähern; nach Hölderlin streben wir
immer noch danach zu wissen „Wie hub es an? Wer brachte den Fluch?“50
Setzen wir unsere Schilderung fort, so treffen wir sogar bis in die griechische Zivilisation
hinein lebendigen Widerstand an. Tatsächlich geriet sogar zu Sokrates‘ und Platons Zeiten,
während der Vorherrschaft der systematischen Philosophie, die Zeit in Bedrängnis – wurde
doch das „Vergessen“ der zeitlosen Anfänge nach wie vor als hauptsächliches Hindernis auf

43 Wright, Lawrence: Clockwork Man, New York 1968, S. 12.

44 Whitrow, G.J.: The Natural Philosophy of Time, Oxford 1980, S. 56.

45 Vgl. Barnes, Harry E.: The History of Western Civilization, New York 1935, S. 25.

46 Vgl. Glasser, Richard: Studien zur Geschichte des französischen Zeitbegriffs, München 1936, S. 6.

47 Nilsson, Martin P.: Primitive Time-Reckoning, London 1920, S. 1.

48 Thompson, William I.: The Time Falling Bodies Take to Light. Mythology, Sexuality and the Origins of
Culture, New York 1981, S. 211. Walter Benjamins bekanntes Diktum „Es ist niemals ein Dokument der Kultur,
ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ lässt sich in ausgezeichneter Weise auf den Kalender beziehen.

49 Eliade, Mircea: Schmiede und Alchemisten, Stuttgart 1956, S. 215.

50 Hölderlin, Friedrich: Der Frieden, in: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Band 2, Stuttgart 1985, S.
6.

dem Weg zu Weisheit und Erlösung betrachtet.51 J.B. Burys klassisches Werk Die Vorstellung
vom Fortschritt verwies auf den in Griechenland „weitverbreiteten Glauben“, dass die
Menschheit von einem „goldenen Zeitalter der Einfachheit“52 degeneriert ist, das für lange
Zeit jenen in Die Vorstellung vom Fortschritt beschriebenen Fortschritt hatte verhindern
können. Christianson fand noch spätere Belege dieser gegen den Fortschritt gerichteten
Haltung: „Die Römer hingen ebenso, nicht anders als die Griechen und Babylonier,
zahlreichen Vorstellungen einer zyklischen Wiederholung in der Zeit an...“53
Mit dem Aufstieg des Judaismus und des Christentums jedoch schärfte sich die Zeit in sehr
eindeutiger Weise zu einem linearen Fortschreiten. Hier gab es eine radikale Kehre, als die
Dringlichkeit der Zeit von der Menschheit Besitz ergriff. Ihre maßgeblichen Charakteristika
wurden von Augustinus notiert, nicht zufällig an einem der katastrophalsten Momente der
Weltgeschichte – dem Untergang der antiken Welt und dem Sturz Roms.54 Augustinus richtet
sich mit seiner Darstellung einer einheitlichen Menschheit, die unumkehrbar durch die Zeit
voranschreitet, klar gegen die zyklische Zeit; mit ihrem Erscheinen um ca. 400 nach Christi
stellt sie die erste bedeutende Theorie der Geschichte dar.
Und als sollte das Siegel, das das Christentum der siegreichen linearen Zeit aufgedrückt hatte,
noch tiefer geprägt werden, so finden wir bald darauf im feudalen Europa die ersten
Anzeichen eines durch strikten Stundenplan geregelten Alltagslebens: das Kloster.55 Geführt
und organisiert wie ein Uhrwerk, schloss das Kloster seine Insassen sowohl zeitlich wie auch
räumlich ein. Die Kirche war die erste Macht, die eine Messung der Zeit mit einer zeitlichen
Ordnung des Lebens verband; ein Projekt, das sie mit Nachdruck verfolgte.56 Die Erfindung
der Schlag- und Räderuhr durch Papst Sylvester II im Jahr 1000 erscheint daher ziemlich
passend. Besonders der Benediktinerorden wurde von Coulton, Sombart, Mumford und
anderen als einer der Hauptverantwortlichen für die Gründung des modernen Kapitalismus
betrachtet. Die Benediktiner, die auf ihrem Höhepunkt über 40.000 Klöster herrschten, haben
maßgeblich dazu beigetragen, sämtliche menschliche Tätigkeit dem geregelten, kollektiven
Takt und Rhythmus der Maschine zu unterwerfen, was uns nochmals daran erinnert, dass die
Uhr nicht nur dazu dient, den Lauf der Stunden zu verfolgen, sondern vielmehr dazu,
menschliches Handeln zu synchronisieren.57
Während des Mittelalters, besonders im 14. Jahrhundert, traf der Vormarsch der Zeit auf
Widerstand von einer seit der neolithischen Revolution des Ackerbaus ungesehenen
Dimension. Der Gehalt dieser Behauptung kann durch eine Gegenüberstellung der
grundlegenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Zeit und der sie begleitenden sozialen

51In diesem Zusammenhang auffällig ist Marcuses Wertschätzung von Erinnerung – sogar einschließlich einer
Apologie des zyklischen Zeitverständnisses. Vgl. Jay, Martin: Anamnesic Totalization. Reflections on Marcuse’s
Theory of Remembrance, in: Theory and Society Vol. 11 (1982).

52 Bury, John B.: The Idea of Progress, New York 1932, S. 8f.

53 Christianson, Gale E.: a.a.O., S. 86.

54 Vgl.
Berdjajew, Nicolai: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschickes,
Tübingen 1927, S. 1.

55 Vgl. Wright, Lawrence: a.a.O., S. 39.

56 Glasser, Richard: a.a.O., S. 50.

57 Vgl. Mumford, Lewis: Interpretations and Forecasts 1922-1972, New York 1972, S. 271.

Revolten beurteilt werden, welche einen scheinbar definitiven und tiefgreifenden


Zusammenprall zum Vorschein bringt.
Nach erfolgreicher Quantifizierung des 14. Jahrhunderts war die offizielle Zeit in der Lage,
ihren Anspruch auf Kolonisierung des modernen Lebens anzumelden; in einer vollständigen
Abstraktion wurde die Zeit nun zu einer gleichmäßigen Folge von Zeiteinheiten, -punkten und
-abschnitten. Die Technologie der Spindelhemmung zu Beginn des Jahrhunderts brachte die
erste moderne mechanische Uhr hervor, Symbol für ein qualitativ neues Zeitalter der
Einschränkung, welches jetzt, mit der vollständigen Trennung zeitlicher Assoziationen von
der Natur, im Anbrechen begriffen war. Öffentliche Uhren begannen aufzutauchen, und um
1345 wurde die Unterteilung der Stunden in sechzig Minuten üblich,58 zusammen mit anderen
neuen Konventionen und Gebräuchen überall in Europa. Die neue Exaktkeit trieb eine noch
straffere Synchronisierung voran – wesentliche Voraussetzung für eine neue Qualität von
Domestikation. Glasser beobachtete einen von der neuen Macht der Zeit hervorgerufenen
„Verlust an Poesie und Unmittelbarkeit im Bereich der persönlichen Erfahrung“ und
bemerkte, dass diese neue Manifestation der Zeit die Bewegung und das Licht des Tages als
allgemein verwendete Zeiteinheit ablöste.59 Tage, Stunden und Minuten wurden austauschbar,
ganz wie die standardisierten Bauteile und Arbeitsprozesse, deren baldiges Auftauchen sich
hier bereits ankündigte.
Diese entscheidenden und repressiven Veränderungen müssen im Fokus der großen sie
begleitenden Sozialrevolten gestanden haben. TextilarbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen
sowie die Armen der Städte erschütterten die Normen und Schranken der Gesellschaft
praktisch bis zu deren Auflösung, in Erhebungen wie der im flandrischen Seeland 1323 bis
1328, der Jacquerie in Frankreich von 1358 und dem englischen Aufstand von 1381, um nur
die drei bekanntesten zu nennen. Der millenarische Charakter der damaligen revolutionären
Unruhe, welche in Böhmen und in Teilen Deutschlands sogar noch bis ins frühe 16.
Jahrhundert anhielt, unterstreicht das darin unverkennbar enthaltene zeitliche Element und
erinnert an frühere Beispiele der Sehnsucht nach einem ursprünglichen, unvermittelten
Zustand. Das Streben nach dem Naturzustand ist zum Beispiel in dem mystischen
Anarchismus des Freien Geistes in England ebenso erkennbar wie auch in dem berühmt
gewordenen Ausspruch des Rebellen John Ball: „Als Adam grub und Eva spann, wer war da
ein Edelmann?“60 Sehr aufschlussreich ist der Bericht über eine Meditation des radikalen
Mystikers Seuse aus Köln, um ca. 1330, in der eine körperlose Erscheinung vor seinen Geist
trat, und er sie fragte:
„Wannen bist du? – [die Erscheinung antwortet Seuse:] Ich kam nie dannen. – Sag
an, was bist du? – Ich bin nicht. – Was willst du? – Ich will nicht. – Dies ist ein
Wunder. Sag mir, wie heißest du? – Ich heiße das namenlose Wilde. – Wo landet
deine Einsicht? – In lediger Freiheit. – Sage mir, was heißest du ledige Freiheit? –
Da der Mensch nach seinem Mutwillen lebt, sonder Anderheit [ohne Unterschied
zwischen Gott und Mensch], ohne allen Anblick in vor und nach.“61

58 Vgl. Mumford, Lewis: Technics and Civilization, New York 1934, S. 16.

59 Glasser, Richard: ebd., S. 52f.

60Cohn, Norman: Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Milleniarismus und mystischer Anarchismus im
mittelalterlichen Europa, Hamburg 1988, S. 220.
61 Ebd., s. 196.

Das Verlangen danach, „alle Dinge gemeinschaftlich zu besitzen,“ Rang und Hierarchie
abzuschaffen, sowie, noch ausgeprägter, Seuses Äußerungen mit ihrem expliziten anti-
zeitlichen Charakter – all dies offenbart die dringlichsten Bedürfnisse der Sozialrevolten des
14. Jahrhunderts und belegt ihre Momente von Zeitverweigerung.62
Diese Wasserscheide in der spätmittelalterlichen Periode kann auch über die Kunst begriffen
werden. Entscheidende Neuerung war hier der von der Perspektive vermessene Raum – eine
paradigmatische und unmittelbare Konsequenz der von Uhren gemessenen Zeit. Vor dem 14.
Jahrhundert gab es keinen Versuch zur perspektivischen Darstellung, denn der Maler
versuchte, die Dinge so aufzuzeichnen, wie sie sind, und nicht so, wie sie aussehen. Nach dem
14. Jahrhundert ist die Kunst von einem scharfen Zeitsinn geprägt; „nicht so sehr eine
Örtlichkeit, sondern vielmehr ein Augenblick ist für uns festgehalten, und ein flüchtiger
Augenblick: eine Stellungnahme in der Zeit eher als im Raum,“63 wie Bronowski es
beschrieb. Ebenso wies Yi-Fu Tuan darauf hin, dass das erst im 15. Jahrhundert auftauchende
Landschaftsgemälde durch seine Perspektive eine grundlegende Neuordnung der Zeit sowie
des Raums darstellte und widerspiegelte.64
Durch eine Transformation der Perspektive von der Raumähnlichkeit hin zu einem Geschehen
in der Zeit wird die Bewegung betont, was, um zum Thema der Verräumlichung
zurückzukehren, nochmals zeigt, dass ein „Quantensprung“ in der Zeit geschehen war. Nach
der Niederschlagung des Widerstandes gegen die Zeit um 1400 wurde Bewegung erneut zu
einer positiv aufgeladenen Kategorie; dies bedeutete eine neue Dimension von
Verräumlichung, was am deutlichsten an dem Auftauchen der modernen Karte im 15.
Jahrhundert und dem darauffolgenden Zeitalter der großen Seereisen gesehen werden kann.
Braudels Redewendung der „Eroberung leerer Räume“65 durch die moderne Zivilisation, lässt
sich am besten in dieser Hinsicht verstehen.
„Die Neubewertung der Zeit, die hier zum Durchbruch kam, trug wesentlich zu der
Transformation und Dynamisierung des abendländischen Denkens am Ausgang des
Mittlealters bei,“66 wie Kantorowicz die neue und wiedererstarkte Hegemonie der Zeit
beschrieb. Falls in dieser objektiven temporalen Ordnung der offiziellen, gesetzmäßigen,
sachlichen Zeit nur das Räumliche die Möglichkeit zur realen Äußerung fand, so wäre auch
notwendigerweise jegliches Denken davon betroffen und somit unter Kontrolle gebracht
gewesen. Ein beträchtlicher Teil dieser Neuorientierung findet sich reflektiert in Le Goffs

62 Das so genannte Narrenfest, dessen Popularität in Europa zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichte, war
hauptsächlich eine Verhöhnung religiöser Autoritäten. Dazu gehörte meistens eine auf groteske Art kostümierte
Figur, die als Darstellung des höheren Klerus auf einem Esel in die Kirche geführt wurde, wo dann getanzt oder
die Liturgie parodiert wurde. Des weiteren ist es nicht undenkbar, dass die schwarze Pest, die die Bevölkerung
Europas von 1348 bis 1350 dezimierte, in gewissem Sinn eine massive, viszerale Reaktion auf die Rebellion
gegen die moderne Zeit war.

63
Bronowski, Jacob: Der Aufstieg des Menschen. Stationen unserer Entwicklungsgeschichte, Frankfurt am
Main 1976, S. 181.

64 Tuan, Yi-Fu: Space and Place, Minneapolis 1977, S. 123.

65 Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Band 1. Der Alltag, München 1985, S. 97.

66Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters,
München 1990, S. 280. Auch Gustav Bilfinger erkannte – bereits in den 1890ern – den Übergang vom
mittelalterlichen zum modernen Zeitalter als eine Veränderung im Wesen der Zeit.

schlichter Beobachtung, das 15. Jahrhundert betreffend, dass „dem Humanisten das
Zeitgefühl ... als erste Tugend“67 gilt.
Wie sonst sollte die Moderne erreicht werden denn durch die von Zeit und Technologie in
ihrer markanten und vollendeten Verbindung gemeinsam eroberten Dimensionen? Lilley
bemerkte, dass die „kompliziertesten Maschinen, die das Mittelalter hervorbrachte, ...
mechanische Uhren“68 waren, und auch Mumford begriff, dass „die Uhr, nicht die
Dampfmaschine, die Schlüsseltechnologie des modernen industriellen Zeitalters“69 bildete.
Auch Marx sah darin die wichtigste Grundlage der maschinellen Industrie: „Die Uhr ist der
erste zu praktischen Zwecken angewandte Automat; die ganze Theorie über Produktion
gleichmäßiger Bewegung [wurde] an ihr entwickelt.“70 Eine weitere aufschlussreiche
Koinzidenz ist die Tatsache, dass, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, das erste auf Gutenbergs
Presse gedruckte Dokument ein Kalender (und nicht etwa eine Bibel) war. Und es ist
bemerkenswert, dass das Ende der millenaristischen Revolten, wie beispielweise jene der
Taboriten im Böhmen des 15. Jahrhunderts oder der Anababtisten aus Münster im frühen 16.
Jahrhundert, mit der Vollendung und Verbreitung der mechanischen Uhr zusammenfiel. In
Pieter Brueghels Triumph der Zeit (1574) werden die zahlreichen Gegenstände und Details
des Gemäldes von der Darstellung einer modernen Uhr dominiert.
Dieser Triumph erweckte, wie bereits erwähnt, in einer Art Kompensation einen gewaltigen
räumlichen Drang zum Leben, zum Beispiel in Form von Weltumsegelungen und der
plötzlichen Entdeckung riesiger neuer Länder. Genauso zwingend jedoch ist dessen
Zusammenhang zu der – in den Worten Charles Newmans – „fortschreitenden Verkenntnis
der Welt,“71 die zu dieser Zeit begann. Expansion, in Form von Herrschaft, akzentuierte
offensichtlich die Entfremdung von der Welt; eine sehr passende Begleitmusik zum Anbruch
der modernen Geschichte.
Die offizielle Zeit war zu einer sowohl offenkundigen wie auch alles beherrschenden
Schranke geworden und wirkte filternd und verzerrend auf jegliche Kommunikation. Seit
dieser Zeit hat sie menschlichen Beziehungen unverkennbar eine neue Distanz und
emotionalen Äußerungen eine neue Beschränkung auferlegt. Ein Kennzeichen der
Rennaissance, die Suche nach seltenen Manuskripten und klassischen Altertümern, ist ein
Ausdruck der Sehnsucht, dieser machtvollen Zeit standzuhalten. Aber der Ausgang der
Schlacht stand bereits fest, und die abstrakte Zeit war zu dem Milieu, dem neuen Rahmen von
Existenz geworden. Als Ellul bemerkte, dass die ganze Struktur des Seins nun von
mechanischer Abstraktion und Rigidität durchdrungen war, bezog er sich in zentraler Weise
auf die zeitliche Dimension.
All dies gelangte im 17. Jahrhundert zu voller Blüte, maßgeblich beeinflusst durch Bacon, der
als erster die Herrschaft der Moderne über die Natur verkündete, sowie durch Descartes, der
mit seiner berühmten Formulierung Maîtres et Possesseurs de la Nature den „in der

67
Le Goff, Jacques: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5. – 15. Jahrhunderts,
Weingarten 1987, S. 38.

68 Lilley, Samuel: Menschen und Maschinen, Wien 1952, S. 65.

69 Mumford, Lewis: a.a.O., S. 14.

70Brief von Marx an Engels vom 28. Januar 1863, in: Marx, Karl: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels
und Karl Marx 1844 bis 1883. Dritter Band, Stuttgart 1921, S. 113f.

71 Newman, Charles: a.a.O., S. 10.


neuzeitlichen Naturwissenschaft enthaltenen Imperialismus der Naturbeherrschung


vorentworfen“72 hat; primär ist in diesem Zuammenhang Galileo zu erwähnen, mitsamt der
großen wissenschaftlichen Revolution jenes Jahrhunderts. Leben und Natur wurden zu bloßen
Quantitäten, das Einzigartige verlor seine Kraft, und bald setzte sich die Newtonsche
Vorstellung der Welt als uhrwerkartiger Mechanismus durch. Die Äquivalenz – mit der
vereinheitlichten Zeit als ihrem wahrem Modell – gelangte zur Herrschaft, in einer
Entwicklung, welche „Ungleichnamiges komparabel [machte], indem sie es auf abstrakte
Größen [reduzierte].“73
Der Dichter Ciro di Pers verstand, dass die Uhr die Zeit knapp und das Leben kurz werden
ließ:
„Sie beschleunigt den Lauf des fliehenden Jahrhunderts,
und, um es zu öffnen,
klopft sie stündlich ans Grab.“74
Später im 17. Jahrhundert schlug sich Miltons Das verlorene Paradies auf die Seite der
siegreichen Zeit und verabschiedete sich mit einer despektierlichen Geste von dem zeitlosen,
paradiesischen Zustand:
„Schwer und mühevoll
soll ich mein Brot verdienen; was gebricht’s?
Weit schlimmer wäre Müßiggang gewesen,
wo nun die Arbeit mich erhalten wird.“75
Lange vor den Anfängen des industriellen Kapitalismus hatte die Zeit nun das Leben im
wesentlichen unterworfen und synchronisiert; der Fortschritt der Technologie kann auf die
früheren Durchbrüche auf dem Gebiet der Zeit zurückgeführt werden. „Es war der Beginn der
modernen Zeit, welcher die Geschwindigkeit der Technologie ermöglichte,“76 urteilte Octavio
Paz. E.P. Thompson beschrieb in seinem berühmten Aufsatz „Zeit, Arbeitsdisziplin und
Industriekapitalismus“77 die Industrialisierung der Zeit, aber es war vielmehr die Zeit selbst,
die die Industrialisierung vorantrieb, all den gegen die Einführung des Fabriksystems
gerichteten Alltagskämpfen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zum Trotz.78
Was das moderne Zeitalter betrifft, so können wir erneut, wenn auch bisweilen in
unausgereifter Form, im Hintergrund von sozialen Revolten den Aspekt der Zeitablehnung
erkennen. Im späten 18. Jahrhundert beispielsweise führte, wie jedenfalls mit einigem Recht
vermutet werden kann, die Erfahrung zweier Revolutionen Kant zu der Folgerung, dass Raum
und Zeit nicht Teil der empirischen Welt, sondern transzendentale Anschauungsformen sind.
Dagegen stellte es eine eher nichtrevolutionäre Wendung dar, dass ein neuer, kurzlebiger
Kalender von der französischen Revolution eingeführt wurde – kein Widerstand also gegen

72 Gehlen, Arnold: a.a.O., S. 70.

73 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: ebd., S. 13.

74 Zitiert in De Grazia, Sebastian: Of Time, Work and Leisure, New York 1962, S. 310f.

75 Milton, John: Das verlorene Paradies, Stuttgart 1968, S. 331.

76 Paz, Octavio: Alternating Currents, New York 1973, S. 146.

77 Vgl. Thompson, E.P.: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Braun, Rudolf et al. (Hrsg.):
Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 81-112.

78 Vgl. beispielsweise Zerzan, John: Industrialism and Domestication, in: Fifth Estate, April 1976.

die Zeit, sondern vielmehr deren Wiederbelebung unter neuem Management!79 Walter
Benjamin berichtete von der wahren Zeitablehnung bei der Julirevolution von 1830 und wies
auf die Tatsache hin, dass während der ersten Kämpfe „an mehreren Stellen von Paris
unabhängig voneinander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.“ Er zitierte
einen Augenzeugen mit folgenden Versen:
„Wer hätte das gedacht? Man sagt, dass, als ob ungehalten über die Zeit,
neue Joschuas am Fuße jedes Turmes
aufs Zifferblatt schossen, um anzuhalten den Tag.“80
Nicht, dass Momente des Aufstands die einzigen Anlässe einer Sensitivität für die Tyrannei
der Zeit gewesen wären. Laut Poulet gab es niemanden, der die Metamorphose der Zeit zu
einem infernalischem Etwas bitterer gefühlt hat als Baudelaire, der von den Unzufriedenen
berichtete, die „sich der Erlösung durch Arbeit verweigert haben“, die „sofort, auf dieser
Erde, ein Paradies erlangen“ wollten; diese nannte er „von der Zeit gemarterte Sklaven,“81
eine Vorstellung, die ihr Echo findet in Rimbauds Denunziation des Skandals einer Existenz
in der Zeit. Diese zwei Dichter durchlitten die lange und dunkle Nacht während der Neige des
19. Jahrhunderts, die durch den Aufstieg des Kapitals eingeläutet wurde; wobei jedoch
argumentiert werden könnte, dass ihr Bewusstsein für die Zeit vor allem durch ihre aktive
Beteiligung an der Revolution von 1848 beziehungsweise der Pariser Kommune von 1871
geschärft wurde.
Samuel Butlers Utopie Ergindwon beschreibt Arbeiter, die ihre Maschinen zerstörten, damit
nicht ihre Maschinen sie zerstören. Eine Uhr spielt dabei eine tragende (und fatale) Rolle für
den Erzähler, und im späteren Verlauf wird diese Uhr auf recht gewaltsame Weise ihrer letzten
Ruhestätte in einem Museum für Übel der Vergangenheit zugeführt. Von sehr ähnlichem Geist
erfüllt, und aus der gleichen Zeit stammend, sind folgende Zeilen von Robert Louis
Stevenson:
„Sie können soviel Zeit, wie Sie wollen, am Straßenrand vertrödeln. Es ist fast, als
ob das tausendjährige Reich gekommen wäre, wenn wir unsere Uhren über die
Hausdächer werfen und uns der Zeit und der Jahreszeiten nicht mehr erinnern
werden. Seine Stunden ein Leben lang nicht zu zählen, wollte ich sagen, heißt,
ewig zu leben. Wenn Sie es nicht probiert haben, haben Sie keine Vorstellung
davon, wie unendlich lang ein Sommertag ist, den man nur mit dem Hunger mißt
und den man erst zu Ende bringt, wenn man schläfrig ist.“82
Unter Bezugnahme auf solche Phänomene wie politische Massenkundgebungen postulierte
Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: „Der
massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen.“83

79 Für die neue Republik fing die Zeit am 22. September 1792 an. Jahr eins des neuen Kalenders enthüllte, dass
die Zahl der arbeitsfreien Feiertage halbiert worden war; eine reichlich unpopuläre Idee!

80Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt am Main 1955, S.
277.

81 Poulet, Georges: Etudes sur le Temps Humain/1, Paris 1952, s. 377.

82 Stevenson, Robert Louis: Virginibus Puerisque und andere Schriften, Bremen und Hamburg 1995, S. 240f.

83Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main
1966, S. 42.

Aber wir könnten noch viel weiter gehen und einfach sagen: Massenreproduktion ist die
Reproduktion der Massen, oder des Massenmenschen. Die Massenproduktion selbst, mit
ihren standardisierten, austauschbaren Bauteilen und dazu passenden Arbeitseinheiten
konstituiert einen Faschismus im alltäglichen Leben, der den faschistischen
Massenkundgebungen, die Benjamin vor Augen hatte, noch vorausging. Und, wie oben
ausgeführt, war es die Zeit, hunderte von Jahren vorher, welche das kategoriale Paradigma für
die Massenproduktion geliefert hatte, in Form von gleichmäßigen aber diskreten, das Leben
ordnenden Quanten.
Stuart Ewen meinte, dass während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts „die industrielle
Definition von gesellschaftlicher Zeit im Mittelpunkt der sozialen Unruhen“84 stand; dies ist
sicherlich korrekt, allerdings erfordert die Entfaltung dieses Themas – die Natur von Zeit und
Raum – eine sehr tiefgehende historische Perspektive, um ein Verständnis der Genese des
modernen Massenzeitalters zu ermöglichen.
Dass die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erfüllt waren von einem anschwellenden
Klima radikaler Verweigerung, die das fürchterliche Blutbad des Krieges nötig werden ließ,
um sie umzuleiten und niederzuschlagen, ist eine These, die ich an anderer Stelle ausgeführt
habe.85 Die Tiefe dieser Herausforderung kann am besten mit dem Begriff der Zeitablehnung
ergründet werden. Der modernen, zeitgenössischen Spannung zwischen den Bereichen des
Seins und der Zeit wurde in dieser Periode vor Ausbruch des Krieges erstmalig ein konkreter
Ausdruck verliehen, und zwar von Henri Bergson in seinem Protest gegen den
fragmentarischen und repressiven Charakter der mechanistischen Zeit.86 Mit seinem
Misstrauen der Wissenschaft gegenüber argumentierte Bergson, ein qualitativer Sinn für Zeit,
für gelebte Erfahrung oder durée, erfordere einen Widerstand gegen die formalisierte,
verräumlichte Zeit. Wenn auch in eingeschränkter Weise, so kündete seine Einstellung
dennoch von der Erneuerung einer sich entwickelnden Opposition gegen eine Herrschaft, die
nahezu totale Unterwerfung forderte.
Der größte Teil des anti-zeitlichen Impulses dieses Jahrhunderts kulminierte in der rasant an
Bedeutung gewinnenden Bewegung kurz vor Beginn des Krieges. Dazu gehörte natürlich die
eindringliche Neuinterpretation der Erscheinungswelt im Kubismus; durch Zerschlagen der
optischen Perspektive, die seit der frühen Renaissance vorherrschte, suchten die KubistInnen
die Realität zu erfassen wie sie ist, nicht wie sie in einem bestimmten Zeitmoment aussieht.
John Berger urteilte darüber folgerndermaßen: „Die kubistische Formel hatte, zum ersten Mal
in der Geschichte, ... eine der Natur nichtentfremdete Menschheit zur Voraussetzung.“87 Auf
anderem Gebiet waren es Einstein und Minkowski, die durch ihre wohlbekannte Entsorgung
des auf absolutem Raum und absoluter Zeit basierenden Newtonschen Universums ebenso
von der Revolte gegen die Zeit zeugten. In der Musik befreite Arnold Schönberg die
Dissonanz von den bestehenden Beschränkungen einer falschen Positivität, und Strawinski
griff zeitliche Beschränkungen explizit und auf vielfältige Art und Weise an, so wie Proust,

84Ewen, Stuart: Captains of Consciousness. Advertising and the Roots of the Consumer Culture, New York
1976, S. 198.

85Zerzan, John: Origins and Meaning of World War I, in: Telos 49, 1981, S. 97-116, nachgedruckt
beispielsweise in: ders.: Elements of Refusal. Second edition, Columbia 1999, S. 145-164.

86Klibansky, Raymond: The Philosophic Character of History, in Klibansky, Raymond / Paton, H.J. (Hrsg.):
Philosophy and History. The Ernst Cassirer Festschrift, New York 1963, S. 330.
87 xxx

Joyce88 und andere dies in der Literatur taten. Nach Donald Lowes Meinung lehnten in jener
entscheidenden Periode von 1905 bis 1915 sämtliche Ausdrucksformen „die lineare
Perspektive von Visualität und archimedischer Vernunft“89 ab.
In den 20er Jahren betonte Heidegger die Zeit als zentralen Begriff zeitgenössischer
Metaphysik und unterstrich ihre Bedeutung für die Bildung der grundlegenden Struktur der
Subjektivität. Aber der verheerende Einfluss des Krieges hatte den Sinn für Möglichkeiten
innerhalb der gesellschaftlichen Realität tiefgreifend verändert. Sein und Zeit (1927), weit
davon entfernt, die Zeit in Frage zu stellen, lieferte sich ihr stattdessen vollständig aus, als
dem einzigen Aussichtspunkt, der ein Verständnis des Seins ermöglicht. Dies entsprach, nach
Adornos Analogie, dem „militärische[n] Kommandotrick, einen Imperativ in einen
Aussagesatz zu kleiden...so knallt auch Heidegger mit der Peitsche, wenn er in dem Satz ‚der
Tod ist‘ das Verbum sperren lässt.“90
In der Tat wurde nach dem Ersten Weltkrieg die anti-zeitliche Stimmung fast vierzig Jahre
lang komplett unterdrückt. Bis in die 30er Jahre waren noch Spuren davon in der
surrealistischen Bewegung oder auch in den Romanen Aldous Huxleys91 zu finden, aber im
Vordergrund stand bereits die erneuerte Hast von Technologie und Herrschaft, zu sehen
beispielsweise in Katajews den Fünfjahresplan verherrlichenden Roman Zeit voraus! oder in
der bestialischen Entstellung, die sich in jenem buchstäblich milleniaristischen Symbol, dem
Tausendjährigen Reich, ausdrückte.
Nähern wir uns der heutigen Situation, so finden wir das erneute Erscheinen eines von
Unruhe geplagten Zeitbewusstseins im Gefolge der Umwälzungen der Nachkriegszeit. Mitte
der 50er Jahre unterbrach der Wissenschaftler N.J. Berrill ein ziemlich leidenschaftsloses
Buch, um das in der Gesellschaft vorherrschende Verlangen, „von nirgends nach nirgendwo in
keiner Zeit zu gelangen,“ zu kommentieren: „Und immer noch kann eine Minute die
Ewigkeit umfassen, und ein Monat kann bedeutungsleer sein.“ Verblüffenderweise landete er
schließlich bei dem emphatischen Bekenntnis: „Eine lange Zeit habe ich mich gefangen in der
Zeit gefühlt, wie ein Eingekerkerter, der nach einer Ausbruchsmöglichkeit sucht.“92 Vielleicht
ein etwas ungewöhnlicher Ort für eine derartige Äußerung, jedoch traf ein weiterer Mann der
Wissenschaften eine ähnliche Aussage, und zwar vierzig Jahre früher, gerade als der Erste
Weltkrieg im Begriff war, jeglichen Aufstand für Jahrzehnte zu unterdrücken; es war Ludwig
Wittgenstein, welcher bemerkte: „Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist
glücklich.“93
Vielleicht hatte Wittgenstein bei diesem Ausspruch Kinder vor Augen, denn diese leben und
wollen ihre Befriedigung im Jetzt. Entfremdung von der Zeit, der Beginn der Zeit als ein
fremdes „Ding“, beginnt in der frühesten Kindheit, praktisch bereits auf der
Entbindungsstation, obwohl natürlich Joost Meerloo damit Recht hat, dass „das

88 „Geschichte ist ein Alp, aus dem ich erwachen will,“ Joyce, James: Ulysses, Zürich 1956, S. 42.
89 Lowe, Donald M.: History of Bourgeois Perception, Chicago 1982, S. 117.

90 Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt am Main 1964, S. 74.

91Zum Beispiel Huxleys Nach vielen Sommern, München 1954, oder Zeit muss enden, Zürich 1950
[Originalausgaben jeweils 1939 bzw 1944, Anm. d. Übers.].

92 Berrill, Norman J.: Man’s Emerging Mind, New York 1955, S. 163f.

93 Wittgenstein, Ludwig: Notebooks 1914-1916. Second edition, Oxford 1979, S. 74.

Zeitbewusstsein mit jedem Trauma des Lebens, jeder neuen Spaltung wächst.“94 Was die
bewusste und manipulative Komponente darin angeht, so hat sie Raoul Vaneigem mit seiner
Skizze der Funktion von Erziehung treffend beschrieben: „Die Tage des Kindes entziehen sich
der Zeitrechnung der Erwachsenen, sie sind Zeit, die die Subjektivität, die Leidenschaft und
der von Wirklichem erfüllte Traum ausgedehnt haben. Draußen warten die Erzieher mit der
Stoppuhr darauf, dass das Kind dem Uhrzeigersinn zu folgen beginnt.“95 Im Kern jedoch
bestehen die Konditionierungen aus nichts anderem als der widergespiegelten Leere und
Entfremdung der Welt: Die Zeit hat uns vollständig der Gegenwart beraubt. „Jede Sekunde
führt mich von neuem von dem verflossenen zu dem künftigen Augenblick. Jede Sekunde
zieht mich von mir fort, nie gibt es ein Jetzt.“96
Die repetitive und routinehafte Natur des industriellen Lebens ist offensichtlich Produkt von
Zeit und Technologie.97 Ein wichtiger Aspekt des zeitlosen Jäger/Sammler-Lebens war die
einzigartige, sporadische Qualität seiner Aktivitäten, nicht etwa das Wiederholte, Repetitive;98
Zahlen und die Zeit verweisen auf das Quantitative, nicht das Qualitative. In dieser Hinsicht
urteilte Richard Schlegel, dass, falls Ereignisse stets neu wären, nicht nur Ordnung und
Routine unmöglich würden, sondern auch die Vorstellung der Zeit selbst.99
In Becketts Theaterstück Warten auf Godot seufzt einer der beiden Hauptcharaktere nach
einem Gespräch: „So ist die Zeit vergangen.“ Der andere erwidert: „Sie wäre sowieso
vergangen.“100 In diesem nüchternen Austausch ist der grundlegende Horror des modernen
Lebens verkörpert. Die Meta-Gegenwart der Zeit wird mittlerweile als eine erdrückend
repressive Macht wahrgenommen, die relativ autonom von ihren Subjekten existiert. Sehr
treffend wird dies von George Morgan zusammengefasst: „Eine angespannte Geschäftigkeit,
die ‚Zeit totzuschlagen‘ und eine ruhelose Bewegung von Neuheit zu Neuheit verdecken das
stets präsente Gefühl von Vergeblichkeit und Leere. Inmitten seiner endlosen
Errungenschaften geht dem modernen Menschen die Substanz des menschlichen Lebens
verloren.“101
Loren Eiseley beschrieb einst „ein Gefühl unerklärlichen Schreckens,“ als ob er und sein
Begleiter, die einen Schädel untersuchten, im Lauf eines Stroms ständen, „der sich in seiner
reißerischen Zerstörungswut SÄMTLICHES einverleibt.“ Sein Freund, der Eiseleys
Empfindung völlig verstehen konnte, paraphrasierte ihn mit den Worten „die Zeit zu kennen

94 Meerloo, Joost A.M.: The Two Faces of Man, New York 1954, S. 23.

95 Vaneigem, Raoul: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, 3. Auflage, Hamburg 1980, S.
221.

96 Ebd., S. 228.

97Bezüglich der Frage der zeitlichen Vorrangigkeit von Technik oder Sprache vgl. Ellul, Jacques: The
Technological System, New York 1980. Alle grundlegenden gesellschaftsprägenden Eigenschaften, die er der
Technologie zuschreibt, sind in einem wesentlicheren Sinne Eigenschaften der Zeit. Seine unvollständige
Durchdringung dieser Frage verrät sich in der verräumlichten Zusammenfassung: „Technologie ist der einzige
Ort, an dem Form und Sein identisch sind,“ S. 231.

98 Vgl. Service, Elman: a.a.O., S. 67.

99 Vgl. Schlegel, Richard: Time and the Physical World, E. Lansing 1961, S. 16.

100 Beckett, Samuel: Warten auf Godot, Berlin 1953, S. 53.

101 Morgan, George W.: The Human Predicament. Dissolution and Wholeness, Providence 1968, S. 41.

heißt, sie zu fürchten, und die zivilisierte Zeit zu kennen heißt, zu Tode entsetzt zu sein.“102
Angesichts der Geschichte der Zeit und unserer gegenwärtigen Not in ihr ist schwerlich ein
prophetischeres Stück Kommunikation vorstellbar.
In den 60er Jahren verlieh Robert Lowell kurz und bündig dem extremen Maß an
Entfremdung der Zeit Ausdruck:
„Ich lerne, in der Geschichte zu leben.
Was ist die Geschichte? Was man nicht berühren kann.“103
Glücklicherweise geschah es ebenso in den 60ern, dass viele andere zu verlernen begannen, in
der Geschichte zu leben, wovon das Ablegen von Armbanduhren, der Gebrauch
psychedelischer Drogen, und, paradoxerweise vielleicht, der populäre Slogan der
französischen Aufständischen des Mai 1968 – Vite! (Schnell!) – zeugten. Das Moment von
Zeitablehnung in der Revolte der Sechziger war kraftvoll, und es gibt Anzeichen – wie
beispielsweise der Aufstand gegen die Arbeit – dass es sich weiterhin vertieft, all den neuen
und noch extremeren Verräumlichungen der Zeit zum Trotz.
Seit Marcuse von dem „Bündnis zwischen der Zeit und der Ordnung der Unterdrückung“104
geschrieben hat und Norman O. Brown das Zeit- oder Geschichtsgefühl eindrucksvoll als
Funktion von Verdrängung analysiert hat,105 ist die Evidenz dieser Verbindung mehr und mehr
hervorgetreten.
Christopher Lasch bemerkte in den späten 70ern, dass „ein tiefgreifender Wandel unseres
Zeitgefühls ... unsere Arbeitsgewohnheiten, unser Wertsystem und unsere
Erfolgsvorstellungen verändert [hat].“106 Und wenn sogar die Arbeit als Schlüsselkomponente
der Zeit verweigert wird, tritt ebenso zu Tage, wie der Konsum wahrhaft Zeit bei lebendigem
Leibe verschlingt. Heutzutage ist das perfekte räumliche Symbol dieser Tendenz der Pac-Man
aus dem Videospiel, welcher buchstäblich Raum frisst, um Zeit totzuschlagen.107
So wie Aldous Huxleys Mr. Propter sind mittlerweile Millionen zu der Überzeugung gelangt,
„die Zeit selbst [sei] schon ein Alpdruck.“108 Die Fixierung auf das Alter ist ein Anzeichen für
die Macht dieses reißenden Stroms. Adorno hat einmal gesagt: „Je weniger die Subjekte mehr
leben, desto jäher, schreckhafter der Tod.“109 Mittlerweile scheint es praktisch alle drei oder
vier Jahre eine neue Jugendgeneration zu geben, während sich die Zeit seit den 60ern mehr
und mehr beschleunigt hat. Im Bereich der Wissenschaften spiegelt sich in mindestens zwei
Phänomenen der Widerstand gegen die Zeit; zum einen die weitverbreitete Popularität mehr
oder weniger direkt aus der physikalischen Theorie abgeleiteter anti-zeitlicher Konzepte, wie
zum Beispiel schwarzer Löcher, Zeitverschiebungen, Raum-Zeit-Singularitäten und

102 Eiseley, Loren: a.a.O., S. 102.

103 Lowell, Robert: Notebook 1967-1968, New York 1969, S. 60.

104 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1965, S. 230.

105 Vgl. Brown, Norman O.: Zukunft im Zeichen des Eros, Pfullingen 1962, S. 120-123.

106 Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzissmus, München 1980, S. 77.

107 Vgl. Alpert, Burt: Getting Godel’s Goat. A Stoned Jogging Journal Through Hofstadter, San Francisco 1982,
S. 1.

108 Huxley, Aldous: Nach vielen Sommern, München 1954, S. 102.

109 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 361.

ähnlichem, zum anderen die tröstliche Anziehungskraft der „Tiefenzeit“ in den so genannten
geologischen Abenteuerromanen, wie beispielsweise John McPhees Basin and Range von
1981.
Als Benjamin behauptete, „die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der
Geschichte“ sei „von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden
Fortgangs nicht abzulösen,“110 forderte er damit zu einer Kritik beider auf, unwissend,
welchen Widerhall dieser Aufruf vielleicht eines Tages finden sollte. Noch weniger konnte
natürlich vorhergesehen werden, dass Goethes Diktum „Über Geschichte kann niemand
urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat“111 eine so umfassende Gültigkeit
erlangen würde, wie dies heute durch die höchst reale und erdrückende Ausdehnung der Zeit
der Fall ist. Die einzige Hoffnung für die Befreiung der Menschheit besteht darin, das Projekt
der Abschaffung von Zeit und Geschichte zu verwirklichen.
Natürlich gibt es keinen Mangel an Weisen, die nach wie vor behaupten, Bewusstsein an sich
sei unmöglich ohne Zeit und deren Verräumlichung,112 wobei es ihnen erstaunlicherweise
gelingt, eine überwältigend lange Periode menschlicher Existenz einfach zu übersehen. Die
hoffnungsvollen Schlussworte aus William Morris´ Kunde von Nirgendwo geben eine
passende Antwort auf solche Herrschaftsphilosophen: „Trotz aller unfehlbaren Lehrsätze
deiner Tage [ist] doch noch eine Zeit der Ruhe für die Welt in Aussicht – eine Zeit, die
kommen wird, wenn es nur noch Genossen und keine Herren und Knechte mehr gibt.“113

Sprache

Neuere Erkenntnisse auf dem Gebiet der Anthropologie (z.b. Sahlins, R.B. Lee) haben ein
vernichtendes Urteil über die lang vorherrschende Theorie gefällt, welche das Leben der
prähistorischen Menschheit als geprägt von Mangel und Brutalität beschrieben hat. Und es ist,
als fänden die Implikationen dieser Wende bereits weithin Gehör – scheint sich doch mehr
und mehr die Auffassung durchzusetzen, die gewaltige frühgeschichtliche Epoche sei
vielmehr eine der Ganzheit und der Fülle gewesen. Unsere Zeit, die durch das exakte
Gegenteil dieser Qualitäten charakterisiert wird, hat eine Umkehrung jener Dialektik, die
unserem Leben als Spezies die Ganzheit geraubt hat, bitter nötig.
Die lebendige Existenz inmitten der Natur, vor unserer Abstraktion von ihr, muss eine Form
von Wahrnehmung und Kontakt ermöglicht haben, die wir von unserem schmerzerfüllten und
entfremdeten Standpunkt aus kaum begreifen können. Die Kommunikation mit der ganzen
Existenz muss ein exquisites Spiel aller Sinne gewesen sein, das die zahllose, namenlose
Vielfalt an Vergnügen und Emotion reflektierte, die uns einst zugänglich war.
Für Lévy-Bruhl, Durkheim und andere besteht der hauptsächliche und qualitative Unterschied
zwischen dem „primitiven Geist“ und unserem in dem bei Primitiven herrschenden Mangel an

110Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt am Main 1955, S.
276.

111 Spengler, Oswald: a.a.O.., S. 138.

112 Vgl.
Jaynes, Julian: Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche,
Reinbek bei Hamburg 1988, S. 305ff.

113 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, Köln 1974, S. 225f.

Distanz im Augenblick der Erfahrung; „das wilde Denken ist totalisierend“114, wie Lévi-
Strauss es ausdrückte. Natürlich werden wir seit langem darüber belehrt, dass diese
ursprüngliche Einheit dazu verurteilt war zu zerbrechen, dass Entfremdung das Menschsein
ausmacht: Schließlich hängt das Bewusstsein davon ab.
Genau wie die verdinglichte Zeit – in Hegels Worten die „notwendige Entfremdung“ – wurde
auch die Sprache als zentrale Voraussetzung des Bewusstseins betrachtet; allerdings ist dieses
so falsch wie jenes. Sprache könnte streng genommen als die grundlegende Ideologie
bezeichnet werden; sie stellt wahrscheinlich eine ebenso tiefgreifende Trennung von der
natürlichen Welt dar wie die autonom existierende Zeit. Und falls Zeitlosigkeit den Bruch
zwischen Spontaneität und Bewusstsein überwinden kann, so ist vielleicht Sprachlosigkeit
ebenso notwendig.
Adorno schrieb in den Minima Moralia: „Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der
Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin.“115 Das kann auch als eine ausgezeichnete
Beschreibung der Menschheit vor dem Auftauchen von Zeit und Sprache gelten, vor der
Spaltung und Entfremdung, welche die Authentizität trockenlegten.
Die Sprache wird das Thema der folgenden Untersuchung sein, verstanden in ihrer virulenten
Bedeutung, die durch ein Fragment von Nietzsche treffend eingefangen wird: „Das Wort
verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht: Das Wort macht das Ungemeine
gemein.“116
Obwohl nach wie vor Gelehrte die Sprache mit Ausdrücken wie „das bedeutsamste und
gewaltigste Werk, das der menschliche Geist hervorgebracht hat“117 belegen, steht eine solche
Beschreibung heutzutage in einem Kontext, der uns zwingt, das Gesamtwerk des
„menschlichen Geistes“ in Frage zu stellen. Und wenn – nach dem Urteil von Coward und
Ellis – „das prägendste Merkmal der intellektuellen Entwicklung des 20. Jahrhunderts die
Erkenntnisse der Linguistik über die gesellschaftliche Wirklichkeit“118 gewesen sind, so gibt
das einen Hinweis darauf, wie grundlegend unsere Untersuchung sich wird gestalten müssen,
um das beschädigte moderne Leben verstehen zu können. Es mag positivistisch klingen zu
fordern, die Sprache müsse sämtlichen gesellschaftlichen „Fortschritt“ ausdrücken, aber in der
Zivilisation scheint sämtliche Bedeutung letztlich sprachlicher Natur zu sein; die Frage nach
der Bedeutung des Sprache, in ihrer Totalität betrachtet, ist unausweichlich der nächste
Schritt.
Frühere Autoren konnten Bewusstsein leichterdings definieren als das, was in Worte gefasst
werden kann, oder gar behaupten, wortloses Denken sei unmöglich (allen Gegenbeispielen
wie Musikkomposition, Schachspiel oder dem Gebrauch von Werkzeugen zum Trotz). In
unserer gegenwärtigen Situation müssen wir jedoch erneut der Frage nachgehen, welche
Bedeutung der Entstehung und der Natur der Sprache zukommt, anstelle ihre Präsenz als

114 Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 282.

115 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951,
S. 143.

116Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, 13. Auflage, Stuttgart
1996, S. 545.

117 Gaeng, Paul A.: Introduction to the Principles of Language, New York 1971, S. 1.

118 Coward, Rosalind / Ellis, John: Language and Materialism. Developments in Semiology and the Theory of
the Subject, London 1977, S. 1.

unvermeidlich und neutral, wenn nicht gar harmlos, hinzunehmen. Die Philosophen sind
mittlerweile gezwungen, sich dieser Fragestellung mit gesteigertem Interesse anzunehmen; so
etwa Gadamer: „Freilich, was Sprache ist, gehört zum Allerdunkelsten, was es für das
menschliche Nachdenken gibt.“119
Weil Sprache die Symbolisierung des Denkens ist, und weil Symbole die Grundeinheiten von
Kultur sind, ist die Sprache ein kulturelles Phänomen von grundlegender Bedeutung für die
Zivilisation. Und weil es auf der Ebene von Symbolen und Struktur keine wesentliche
Unterscheidung von primitiven und entwickelten Sprachen gibt, scheint es gerechtfertigt, zu
Beginn nach den Grundeigenschaften von Sprache zu fragen, beziehungsweise – in einem
etwas spezifischeren Sinne – der grundlegenden Kongruenz von Sprache und Ideologie
nachzugehen.
Ideologie (die gepanzerte Sichtweise der Entfremdung, um mit Fredy Perlmans Worten zu
sprechen) ist eine Herrschaftsform, die auf einem systematisch falschen Bewusstsein basiert.
Unter diesem Gesichtspunkt wird es nun noch einfacher, die Sprache zu verorten, wenn wir
eine weitere Definition zu Hilfe nehmen, welche sowohl der Sprache als auch der Ideologie
gemeinsam ist: dass nämlich beide ein auf Symbolisierung gegründetets System verzerrter
Kommunikation zwischen zwei Polen darstellen.
Wie die Ideologie errichtet die Sprache mit Hilfe ihrer symbolisierenden Macht falsche
Trennungen und Objektivierungen. Eine systematische Verfälschung wird dadurch
ermöglicht, dass die Partizipation des Subjekts an der der physischen Welt verborgen, letztlich
gar unmöglich gemacht wird. Beispielsweise verwenden moderne Sprachen das Wort „Geist“,
um ein Ding zu beschreiben, welches unabhängig in unserem Körper wohnt, im Gegensatz zu
dem Sanskritbegriff, der „innerhalb arbeitend“ bedeutet – ein aktives Bekenntnis zu Gefühl,
Wahrnehmung und Erkenntnis. Die ideologische Tendenz vom Aktiven zum Passiven, von
Einheit zu Trennung, spiegelt sich in ähnlicher Weise im allgemeinen Verfall der Verbform. Es
ist bezeichnend, dass sich zur gleichen Zeit, als die viel freieren und sinnlicheren Jäger/
Sammler-Kulturen sich der neolithischen Kolonisierung durch Zivilisation, Arbeit und
Eigentum beugen mussten, die Anzahl der Verben sich auf ungefähr die Hälfte aller Worte
einer Sprache reduzierte; in modernem Englisch beläuft sich ihr Anteil gar auf weniger als
zehn Prozent.120
Obwohl es scheint, als sei die Sprache in ihren zentralen Merkmalen bereits von Anbeginn
vollständig gewesen, ist ihr Fortschritt von einem stetigen Verarmungsprozess gezeichnet.
Die Zurichtung der Natur, ihre Reduktion auf Begriffe und Äquivalenzen, geschieht in
Prozessen, die von den Mustern der Sprache vorgegeben sind.121 Und je mehr die
Sprachmaschinerie die Existenz unter ihre Herrschaft zwingt, desto blinder wird sie

119 Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.:
Gesammelte Werke, Band 1. 5., erweiterte Auflage, Tübingen 1986, S. 383. In ähnlicher Weise Langer, Susanne
K.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Berlin 1965, S. 109: „Die
Sprache ist ohne Zweifel die bedeutendste und zugleich geheimnisvollste Hervorbringung des menschlichen
Geistes.“

120 Vgl. Diamond, Arthur S.: The History and Origin of Language, New York 1959, S. 6. Der Physiker und
Philosoph David Bohm hat ein neues Sprachmodell, den sogenannten „Rheomode“, entworfen, um diese
Entwicklung umzukehren und den Primat des Verbs wiederherzustellen. Letztlich besteht seine Absicht in der
Überwindung der im Westen seit Descartes vorherrschenden Spaltung von Subjekt und Objekt, die mittlerweile
allerdings auch von anderen „holistischen“ Wissenschaftlern wie Fritjof Capra oder David Dossey zunehmend in
Frage gestellt wird.

121 Vgl. Whorf,Benjamin Lee: Sprache-Denken-Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und


Sprachphilosophie, Hamburg 1984, S. 12.

gegenüber ihrer eigenen Beteiligung an der Reproduktion einer von Zwang und Herrschaft
geprägten Gesellschaft – eine weitere Parallele zur Ideologie.
Die Sprache der Navajo ist als „übermäßig wörtlich“ bezeichnet worden – aus der Perspektive
der für uns charakteristischen Voreingenommenheit für das Allgemeine und Abstrakte. In
einer weit zurückliegenden Zeit dominierte das Direkte und Konkrete; es existierte „eine Fülle
von Begriffen für das Berührte und Gesehene.“122 Toynbee bemerkte den „erstaunlichen
Reichtum an Flexionsendungen“ in frühen Sprachen und die spätere Tendenz zur
Simplifizierung der Sprache durch Vernachlässigung oder völlige Abstoßung von
Flexionsformen.123 Cassirer fand „eine verblüffende Vielfalt von Ausdrücken für eine
bestimmte Handlung“ bei nordamerikanischen Indianerstämmen und erkannte, dass deren
Beziehung untereinander nicht die einer hierarchischen Ordnung, sondern einer
gleichwertigen Nebeneinanderstellung ist.124 Allerdings muss nochmals wiederholt werden:
Obwohl in der Frühphase der menschlichen Sprachentwicklung eine geradezu
verschwenderische Fülle an Symbolen vorherrschte, war Sprache sogar in jenem Stadium
bereits ein abgeschlossenes System von Symbolen und abstrakten Konventionen – was
gleichermaßen als adoleszente Ideologie betrachtet werden könnte.
Als paradigmatische Form von Ideologie ist die Sprache ebenso ein bestimmendes Moment
der Wahrnehmung. Wie der Pionier der Sprachtheorie, Edward Sapir, bemerkte, sind die
Menschen bei der Frage, was die „gesellschaftliche Realität“ ausmacht, in sehr starkem Maße
der Sprache ausgeliefert. Ein weiterer bedeutender anthropologischer Linguist, Benjamin
Whorf, hat diesen Gedanken noch einen Schritt weiter geführt und festgestellt, dass die
Sprache unsere gesamte Lebensweise bestimmt, einschließlich unseres Denkens und aller
anderen Formen geistiger Betätigung. Sprache zu gebrauchen heißt, sich auf die
Wahrnehmungsformen zu beschränken, die dieser Sprache bereits inhärent sind. Die Tatsache,
dass Sprache nur Form ist und dennoch alles formt, trifft den Kern dessen, was Ideologie
ausmacht.125
Der Blick auf die Wirklichkeit ist stets ideologisch getrübt und sieht diese als eine von uns
getrennte Sphäre. In dieser Hinsicht erschafft und entwürdigt Sprache die Welt. „Menschliche
Rede verschweigt mehr, als sie gesteht, verwischt mehr, als sie definiert, distanziert mehr, als
sie verbindet,“126 war George Steiners Folgerung.
Konkreter noch bedeutet eine Sprache zu lernen im Kern, ein System zu lernen, ein Modell,
das das Sprechen prägt und beherrscht. Der ideologische Charakter ist hier noch einfacher zu
erkennen: Muss doch aufgrund der absoluten Beliebigkeit der jeweiligen phonologischen,

122 Mellersh, Harold E.L.: The Story of Early Man, New York 1960, S. 106f.

123 Toynbee, Arnold: Der Gang der Weltgeschichte. Aufstieg und Verfall der Kulturen. Zweite erweiterte
Auflage, Stuttgart 1949, S. 197.

124Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt am Main
1990, S. 209.

125 An dieser Stelle sei auch verwiesen auf das hermeneutische Motto „Der Mensch ist Sprache,“ welches die
Tendenz zu einer „linguistischen“ Phänomenologie mit Heidegger und Ricoeur ausdrückt. Vor allem in Sein und
Zeit behauptete Heidegger, dass die Wahrnehmung nur durch den fundamentalen Kontext der Sprache zu dem
wird, was sie ist, und Ricoeur meinte, dass jegliche Erfahrung bereits durch eine Welt von Symbolen vermittelt
ist. Vgl. dazu auch Ihde, Don: Existential Technics, Albany 1983, S. 145.

126Steiner, George: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens. Erweiterte Neuauflage, Frankfurt
am Main 1994, S. 238.

syntaktischen und sematischen Regeln jede menschliche Sprache erst erlernt werden. Das
Unnatürliche wird auferlegt als notwendiges Moment zur Reproduktion einer unnatürlichen
Welt.
Sogar in den primitivsten Sprachen weisen die Worte selten eine erkennbare Verwandtschaft
zu dem auf, was sie bezeichnen; sie beruhen auf reiner Konvention.127 Diese Tendenz, die
Welt symbolisch wahrzunehmen – das „tückische symbolisch Netz“ der Sprache – wird zu
einer unendlichen Regression, die uns von der Welt abschneidet.128 Der willkürliche,
selbstgenügsame Charakter der symbolischen Organisation von Sprache schafft falsche
Gewissheit, wo Neugier, Vielfalt und Nichtäquivalenz herrschen sollten. Barthes’ Sicht der
Sprache als „absolut terroristisch“ trifft diesen Aspekt hervorragend; er erkannte, dass die
Sprachsystematik, „um Vollständigkeit zu besitzen, nur gültig und nicht wahr sein muss.“129
Sprache bewirkt die ursprüngliche Trennung von Wissen und Methode.
In dieser, also struktureller Hinsicht ist es offenkundig, dass „Redefreiheit“ nicht existieren
kann; die Grammatik ist die unsichtbare „Gedankenkontrolle“ unseres unsichtbaren
Gefängnisses. Mit der Sprache haben wir uns bereits an eine Welt der Unfreiheit angepasst.
Verdinglichung, die Tendenz, das Begriffliche für das Wahrgenommene und Begriffe für real
zu halten, ist für Sprache so grundlegend wie für Ideologie. Sprache ist die Verdinglichung
der Wahrnehmung durch den Verstand, ihre Zerlegung und Zurichtung in Einzelteile, die in
Form von Begriffen behandelt werden können, als seien sie Objekte. Horkheimer wies darauf
hin, dass Ideologie eher darin besteht, wie Menschen sind – ihre geistigen Beschränkungen,
ihre vollständige Abhängigkeit von vorgegebenen Assoziationen -, als darin, woran sie
glauben. In einer Aussage, die sich gleichermaßen auf Sprache und Ideologie beziehen lässt,
fügte er hinzu, dass Wahrnehmung überhaupt stets nur innerhalb des konventionellen
Begriffssystems der Gesellschaft stattfinden kann.130
Oftmals wurde behauptet, dass Verdinglichung für die Funktion des Geistes notwendig ist,
dass die Bildung von Begriffen, die selbst wieder für lebendige Eigenschaften und
Beziehungen missverstanden werden können, von der nahezu unerträglichen Last entbindet,
Erfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen.
Cassirer sagte über diese Entfremdung von der Erfahrung: „Die physische Realität scheint in
dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt.“131
Repräsentation und Einheitlichkeit beginnen mit der Sprache, was uns Heideggers
nachdrückliche Auffassung in Erinnerung ruft, dass etwas außergewöhnlich Wichtiges von der
Zivilisation vergessen worden ist.
Zivilisation wird jedoch zumeist weniger als Vergessen denn als Erinnerung betrachtet, wobei
der Sprache die Funktion zukommt, akkumuliertes Wissen zu übermitteln und uns so zu
ermöglichen, auch aus fremden Erfahrungen Nutzen zu ziehen. Möglicherweise ist das, was
vergessen worden ist, einfach die Tatsache, dass fremde Erfahrungen nicht unsere eigenen

127„...Worte, symbolisch und gänzlich unähnlich ihrer Gegenstände.“ Santayana, George: Dominations and
Powers. Reflections on Liberty, Society and Government, New York 1951, S. 143.

128 Newman, Charles: a.a.O., S. 12.

129 xxx

130 Vgl. Horkheimer, Max: Vernunft und Selbsterhaltung, in: Gesammelte Schriften. Band 5, Frankfurt 1987, S.
349.

131 Cassirer, Ernst: a.a.O., S. 50.

sind, dass der zivilisierende Prozess also ein nachempfundener und inauthentischer ist. Wenn
also – aus gutem Grund – der Sprache eine unmittelbare Beziehung zum Leben unterstellt
wird, so heißt das nichts anderes, als dass sich das Leben in fortschreitendem Maße von
unserer direkt gelebten Erfahrung entfernt hat.
Die Sprache vermittelt, wie auch die Ideologie, das Hier und Jetzt; sie lässt keine direkten und
spontanen Verbindungen gelten. Ein anschauliches Beispiel sind die Einwände einer Mutter
gegen den Zwang zu lesen und zu schreiben: „Sobald ein Kind lesen und schreiben kann, gibt
es kein Zurück. Gehen wir nur einmal in ein Museum und betrachten all die Erwachsenen,
wie sie die Titel und Beschreibungen lesen, bevor sie sich die Gemälde anschauen; nur um
ganz sicher zu gehen, dass sie auch wissen, was sie sehen sollen. Oder wie sie nur die
Beschreibungen lesen und die Gemälde vollkommen ignorieren ... wie man überall zu hören
bekommt, öffnet das Lesen Türen. Aber sobald diese Türen einmal offen sind, ist es sehr
schwierig, die Welt zu sehen, ohne durch sie hindurchzuschauen.“132
Die Übertragung jeglicher direkter Erfahrung in die höchste Form symbolischen Ausdrucks,
die Sprache, monopolisiert das Leben. Wie die Ideologie impliziert auch die Sprache eine
Verschleierung und Rechtfertigung, die uns nötigt, unsere Zweifel an ihrem
Wahrheitsanspruch aufzugeben. Sie ist der Kern der Zivilisation, der dynamische Code ihres
entfremdeten Charakters. Als paradigmatische Gestalt von Ideologie steht die Sprache hinter
den gewaltigen legitimierenden Anstrengungen, die für die Aufrechterhaltung der Zivilisation
notwendig sind. Es bliebe für uns zu klären, welcher Art die aufkommenden Formen von
Herrschaft waren, die diese Rechtfertigung hervorgerufen haben und dabei auf Sprache als
Unterdrückungsinstrument angewiesen waren.
Zunächst sollte klar sein, dass die willkürliche Assoziation eines bestimmten Lauts mit einem
bestimmten Ding keineswegs unvermeidlich oder zufällig ist. Sprache ist eine Erfindung,
denn kognitive Prozesse müssen ihrem sprachlichen Ausdruck vorausgehen. Die Behauptung,
die Menschheit sei nur aufgrund der Sprache menschlich, verfehlt die Tatsache, dass
menschlich zu sein erst die Voraussetzung zur Erfindung der Sprache bildet.133
Die Fragestellung lautet also: Wie konnten Worte überhaupt als Zeichen Akzeptanz finden?
Wie entstanden die ersten Symbole? Gegenwärtige Linguisten halten das anscheinend für „ein
so gravierendes Problem, dass man daran verzweifeln könnte, darauf eine Antwort zu
finden.“134 Von den unzähligen Werken über die Entstehung der Sprache gestehen sogar die
aktuellsten ein, dass die theoretischen Unstimmigkeiten erstaunlich sind. Auch die Frage nach
dem Zeitpunkt der Entstehung hat extrem unterschiedliche Meinungen gezeitigt.135 Es gibt
kein kulturelles Phänomen, das ähnlich bedeutsam wäre, aber keine andere Entwicklung
liefert uns so wenige gesicherte Tatsachen über ihre Anfänge. Und so ist es nicht erstaunlich,

132 Bloom, Mayra: Don’t Teach Your Baby to Read (Leserbrief), Co-Evolution Quarterly, Winter 1981, S. 102.

133 Die umfangreiche Literatur zum Thema der vermeintlichen Fähigkeit von Tieren, Sprache zu erlernen, ist
hier nicht von Relevanz; die Ergebnisse im Primatenbereich zeigen lediglich, dass es möglich ist, sie zu
domestizieren. Die Natur und der Ursprung von Sprache als Domestikation werden damit nicht thematisiert.

134 Ziv, Noam / Hattiangad, Jagdish N.: Essence vs. Evolution in Language, in: Word. Journal of the
International Linguistics Association, August 1982, S. 86.

135 „Der Anfang von symbolischer Kommunikation der Menschen durch Gebrauch von Sprache kann nicht
datiert werden, nicht einmal annäherungsweise.“ Goodall, Vanne: The Quest for Man, New York 1975, S. 203.

dass sich viele Wissenschaftler Bernard Campbells Urteil anschliessen würden, dass „wir
einfach nicht wissen, und es nie werden, wie oder wann die Sprache begann.“136
Viele der Theorien, die die Ursprünge der Sprache behandeln, sind höchst trivial; sie liefern
keine Erklärung für die qualitativen, vorsätzlichen Veränderungen, die mit Einführung der
Sprache stattfanden. Die „Dingdong-Theorie“ behauptet einen onomatopoetischen
Zusammenhang von Klang und Bedeutung, die „Aua-Theorie“ führt Sprache auf
gefühlsbetonte Ausrufe zurück, die „Hauruck-Theorie“ auf Ausrufe bei gemeinsamer Arbeit –
die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Andererseits kann auch die Hypothese, dass die
Erfordernisse des Jagens die Sprache zur Notwendigkeit haben werden lassen, leicht
widerlegt werden; Tiere jedenfalls jagen gemeinsam und ohne Sprache, und im allgemeinen
ist es auch für Menschen während der Jagd sinnvoller, sich still zu verhalten.
Der Ansatz des modernen Sprachtheoretikers E.H. Sturtevant scheint der wahren Ursache
näher zu kommen: Da alle Intentionen und Gefühle bereits unwillkürlich durch Gestik,
Aussehen oder Laute ausgedrückt werden, muss eine gezielte Kommunikation wie die
Sprache zum Zweck von Lüge und Täuschung erfunden worden sein.137 Der Philosoph Caws
formulierte dies ein wenig euphemistischer: „Wahrheit ... ist vergleichsweise ein Nachzügler
auf linguistischem Gebiet, und es ist sicherlich ein Fehler anzunehmen, dass die Sprache
erfunden wurde, um die Wahrheit zu sagen.“138
Jedoch geht es unserer Untersuchung vor allem um den spezifisch gesellschaftlichen Kontext,
die Vorstellungen und Möglichkeiten, die mit bestimmten Handlungen und Beziehungen
verbunden sind: Auf diesem Gebiet muss ein Verständnis der Genese von Sprache gesucht
werden. Olivia Vlahos schätzte, dass die „Macht der Worte“ sehr früh in Erscheinung getreten
sein muss; „sicher ... nicht wesentlich später als zu dem Zeitpunkt, als der Mensch begonnen
hatte, nach einem speziellen Muster Werkzeuge zu fertigen.“139 Für das Ausschlagen oder
Aussplittern von Steinwerkzeugen während des Paläolithikums scheint jedoch das direkte,
persönliche Vorführen wesentlich geeigneter gewesen zu sein als gesprochene Anweisungen.
Dennoch trifft die Behauptung, dass Sprache mit den Anfängen von Technologie entstand –
das heißt, Technologie im Sinne von Arbeitsteilung und ihren Begleiterscheinungen, als eine
Standardisierung von Dingen und Ereignissen und der faktischen Macht von Spezialisten über
andere – meiner Meinung nach den Kern der Sache. Es wäre ein schwieriges Unterfangen, die
Arbeitsteilung – nach Durkheim „die Quelle der Zivilisation“140 – in irgendeinem Stadium
von der Sprache zu lösen, gänzlich unmöglich ist dies wohl zu Beginn ihrer Entstehung.
Arbeitsteilung erfordert eine relativ komplexe Kontrolle von Gruppenhandlungen; praktisch
verlangt sie, dass die ganze Gemeinschaft organisiert und gelenkt wird. Dies geschieht durch
die Aufspaltung von Funktionen, die vormals von allen übernommen worden waren, in eine
fortschreitend größere Differenzierung von Aufgaben, und somit von Rollen und
gesellschaftlichen Rängen.

136 Campbell, Bernard: Mankind Emerging, Boston 1976, S. 193.

137 „Dem Menschen ist die Sprache gegeben, um seine Gedanken zu verheimlichen.“ Passenderweise wird
dieses Zitat dem Diplomaten und Staatsmann Talleyrand (1754-1838) zugeschrieben.

138 Caws, Peter: The Structure of Discovery, in: Science No. 166 (1969), S. 1380.

139 Vlahos, Olivia: Human Beginnings, New York 1966, S. 140.

140Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation höherer Gesellschaft, Frankfurt
am Main 1992, S. 96.

Während Vlahos meinte, dass die Sprache relativ früh entstanden sei, in Verbindung mit
einfachen Steinwerkzeugen und ihrer Herstellung, hat Julian Jaynes eine interessantere Frage
gestellt, die sich aus seiner gegenteiligen Auffassung ergibt, dass die Sprache erst viel später
auftauchte. Er fragte, wie es sein könne, falls die Menschheit seit mehreren Millionen Jahren
über eine Sprache verfügte, dass es währenddessen praktisch keine Weiterentwicklung der
Technologie gegeben hat?141 Jaynes’ Frage setzt einen der Sprache inhärenten utilitaristischen
Wert voraus, eine angebliche Freisetzung latenter positiver Potenziale.142 Aber angesichts der
– oben bereits erwähnten – zerstörerischen Dynamik von Arbeitsteilung scheint es eher, dass,
obwohl Sprache und Technologie tatsächlich eng zusammenhängen, vielmehr beiden
zusammen tausende von Generationen lang erfolgreich widerstanden wurde.
An ihrem Ursprung musste die Sprache also zunächst ein externes Problem aus der Welt
schaffen. In Anbetracht der Kongruenz von Sprache und Ideologie ist es allerdings
offensichtlich, dass der Mensch gespalten war, sobald er zu sprechen begann. Dieser Bruch
stellt den Zeitpunkt dar, an dem die ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur aufgelöst
wurde; er fällt zusammen mit der Einführung von Arbeitsteilung. Marx erkannte, dass Eintritt
und Aufstieg von ideologischem Bewusstsein durch die Arbeitsteilung veranlasst wurde;
Sprache war für ihn das grundlegende Paradigma von „produktiver Arbeit“. Allerdings
bedeutet jeder Schritt beim Aufstieg der Zivilisation auch ein Mehr an Arbeit, und die
vollständig fremde Realität von produktiver Arbeit wird durch die Sprache verwirklicht und
vorangetrieben. Ideologie erhält ihre Substanz von der Arbeitsteilung und, untrennbar davon,
ihre Form von der Sprache.
Engels, der die Arbeit noch ausdrücklicher schätzte als Marx, erklärte den Ursprung der
Sprache aus und mit der Arbeit, der „Herrschaft über die Natur“ und fasste diese
entscheidende Verbindung in den Satz „Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache.“143
Um es ein wenig kritischer auszudrücken: Die künstliche Kommunikationsform, welche die
Sprache darstellt, war und ist Ausdruck der künstlichen Spaltung, welche die Arbeit(steilung)
ausmacht.144 (Im üblichen Sprachgebrauch wird dies natürlich positiv umschrieben, etwa als
unschätzbarer Wert der Sprache für die Organisierung „individueller Verantwortlichkeit.“)
Sprache wurde zum Zweck der Gefühlsunterdrückung ausgearbeitet; als Code der Zivilisation
repräsentiert sie die Sublimation des Eros, die Unterdrückung des Instinkts, was den Kern von
Zivilisation ausmacht. In dem einen Absatz, den er der Entstehung von Sprache widmete,

141 Vgl. Jaynes, Julian: a.a.O., S. 163.

142 Jaynes datiert die Entstehung von Sprache nicht früher als während des Jungpaläolithikums (ca. 40.000 v.
Chr.), als die Fertigung von Steinwerkzeugen eine beschleunigte Entwicklung nahm. Aber auch bei denjenigen
Forschern, deren Sprachtheorien deren Entstehung in weit frühere Epochen verlegen, nimmt der Ausgang der
Steinzeit eine Schlüsselposition ein: „Auf was für einem Stand die Sprache auch vor dem Jungpaläolithikum
gewesen sein mag, sie muss jedenfalls im Anschluss daran gewaltige Veränderungen durchgemacht haben.“
Pfeiffer, John E.: The Creative Explosion, New York 1982, S. 71.

143 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, Berlin 1951,
S. 182f.

144 Damit soll nicht die Existenz eines gewissen Maßes an Teilung aufgrund von Geschlechterdifferenzen in
Abrede gestellt werden. Ebenso verfehlt ist jedoch das routinemäßige Verfahren, der geschlechtlichen
Arbeitsteilung eine allzu bedeutende Rolle zuzuschreiben. Vgl. die scheinbar widersprüchlichen Bemerkungen
eines führenden Anthropologen zu diesem Thema: „Die Arbeitsteilung nach Geschlecht ist praktisch universal.
Männer jagen und sammeln, Frauen sammeln vorwiegend und jagen kleinere Tiere; beide Geschlechter fischen
und jagen bzw. sammeln Schalentiere.“ Lee, Richard B.: Is there a Foraging Mode of Production, in: California
Journal of Anthropology, Spring 1981, S. 15.

führte Freud die ursprüngliche Sprache auf sexuelle Tätigkeit zurück, und zwar als das Mittel,
durch welches Arbeit als „Äquivalent und Ersatz der Geschlechtstätigkeit“145 annehmbar
gemacht wurde. Dieser Übergang von einer freien Sexualität zur Arbeit ist die ursprüngliche
Sublimation, und Freud sah die Sprache in der Verbindung zwischen Balzlauten (um den
Partner oder die Partnerin herbeizurufen) und Arbeitsprozessen gegründet.
Der Neo-Freudianer Lacan führt diese Analyse noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet,
das Unbewusste werde durch die Primärunterdrückung, die der Spracherwerb darstellt,
geschaffen. Für Lacan ist das Unbewusste daher „wie eine Sprache strukturiert“ und
funktioniert linguistisch, nicht instinktiv oder symbolisch im traditionellen Freudschen
Sinne.146
Um das Problem des Ursprungs einmal auf metaphorischer Ebene zu erforschen, ist es
interessant, den Mythos des Turms von Babel zu betrachten. Die Erzählung von der großen
Sprachverwirrung ist, genau wie eine andere große Erzählung im Buch Genesis, die vom
Sündenfall, ein Versuch, den Ursprung des Bösen verständlich zu machen. Die Aufsplitterung
einer „ursprünglichen Sprache“ in wechselseitig unverständliche Sprachen kann am besten als
Auftauchen der symbolischen Sprache begriffen werden, als Niedergang des früheren
Zustandes einer vollständigeren und authentischeren Kommunikation. So können
beispielsweise in zahlreichen Überlieferungen vom Paradies Tiere sprechen und Menschen sie
verstehen.147
Im ersten Essay habe ich dargelegt, dass der Sündenfall als Fall, als Sturz in die Zeit
interpretiert werden kann. In ähnlicher Weise repräsentiert der Turm von Babel, wie Russell
Fraser es ausdrückte, „die Einsamkeit des Menschen in der historischen Zeit.“148 Aber auch
der Sündenfall besitzt eine Bedeutung, die mit der Entstehung der Sprache in Verbindung
steht. Für Benjamin ist er die Vermittlung, welche sich in der Sprache ausdrückt, und „auch
der Ursprung der Abstraktion als eines Vermögens des Sprachgeistes.“149 „Der Sündenfall ist
ein Fall in die Sprache,“ wie Norman O. Brown meinte.150
In einem weiteren Teil der Schöpfungsgeschichte liefert die Bibel einen Kommentar zu einem
Grundelement von Sprache, den Namen,151 und zu der Vorstellung, dass die Namensgebung
ein Akt von Herrschaft ist: „Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es
heißen.“(1 Moses 2,19) Dies verweist direkt auf die notwendige linguistische Implikation der
Naturbeherrschung: Nach Dufrenne wird der Mensch nur daher zum Herrscher über Sachen,

145Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in Gesammelte Werke (chronologisch
geordnet). Elfter Band, Frankfurt am Main 1944, S. 170.

146Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften 1,
Weinheim 1986, S. 109.

147 Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich 1956, S. 103ff.

148 Fraser, Russell: The Language of Adam, New York 1977, S. 1.

149Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Metaphysisch-
geschichtsphilosophische Studien, in: Gesammelte Schriften. Zweiter Band. Erster Teil, Frankfurt 1977, S. 154.

150 Brown, Norman O.: Love’s Body, München 1977, S. 223.

151„Denn die Idee, etwas mit einem Namen zu belegen, ist der fruchtbarste Gedanke aller Zeiten.“ Langer,
Susanne K.: a.a.O., S. 144.

weil er ihnen vorher einen Namen gegeben hat.152 Oder, wie Spengler schrieb: „Etwas beim
Namen nennen heißt Macht darüber gewinnen.“153
Die Trennung der Menschheit von der Welt sowie deren anschliessende Eroberung nahmen
ihren Anfang in der Benennung der Welt. Der logos selbst ist als Gott an der ersten
Benennung beteiligt, die die Herrschaft Gottes ausdrücken soll. Die bekannte Stelle findet
sich im Johannesevangelium: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das
Wort war Gott.“(Johannes 1,1)
Wir können also festhalten, um wieder zur materiellen Ebene zurückzukehren, dass das
Problem der Sprache unmittelbar mit dem Problem der Zivilisation verbunden ist. Nach
Beobachtung des Anthropologen Lizot wies die Jäger/Sammler-Lebensweise jenen Mangel an
Technologie und Arbeitsteilung auf, in dem Jaynes ein klares Indiz für die Abwesenheit von
Sprache sah: „Die Verachtung [der primitiven Gesellschaften] für die Arbeit und ihr
Desinteresse an einem autonomen technischen Fortschritt steht außer Zweifel.“154 Des
weiteren zeigt, in Lees Worten von 1981, „der Großteil der aktuellen Studien, dass die Jäger/
Sammler gut ernährt waren und reichlich freie Zeit besaßen.“155
Es trifft also keineswegs zu, dass die stetige Sorge um Selbsterhaltung die frühe Menscheit
von der Sprache abgehalten hätte; die Zeit für Reflexion und Sprachentwicklung war
vorhanden, aber dieser Weg wurde scheinbar für tausende von Jahren gescheut. Ebenso wenig
spielten Nahrungsknappheit oder Bevölkerungsdruck eine Rolle für den Siegeszug des
Ackerbaus (ein Grundpfeiler der Zivilisation) in der neolithischen Revolution. Tatsächlich
müsste, wie Lewis Binford bemerkte, die Frage nicht lauten, „warum Ackerbau und
Lagerungsmethoden für Nahrung nicht überall entwickelt wurden, sondern warum sie
überhaupt entwickelt wurden.“156
Die Dominanz des Ackerbaus, einschließlich Privateigentum, Recht und Gesetz, Städten,
Mathematik, Überschuss, Hierarchie und Spezialisierung sowie Schrift, um nur einige seiner
Bestandteile zu nennen, war kein unumgänglicher Schritt für den menschlichen „Fortschritt“;
ebensowenig war dies die Sprache. Der Vergleich mit dem prä-neolithischen Leben zeigt,
dass, was im allgemeinen als ein enormer Schritt vorwärts, eine bewundernswerte
Transzendierung der Natur etc. betrachtet wird, sich eher als Verschlechterung der
Lebensqualität darstellte. In dieser Hinsicht werden viele der Einsichten Horkheimers und
Adornos in der Dialektik der Aufklärung (wie das Zusammenspiel des Fortschritts an
instrumenteller Beherrschung mit einer Regression an affektiver Erfahrung) fragwürdig
angesichts ihrer falschen Folgerung „Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer
Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst.“157

152 Vgl. Dufrenne, Mikel: Language and Philosophy, Bloomington 1963, S. 101.

153Spengler, Oswald: a.a.O., S. 160. „Die Tiere ahnen es nicht, daß wir sie benennen. Oder sie ahnen es doch,
und dann ist es darum, daß sie uns fürchten.“ Canetti, Elias: Aufzeichnungen 1942-1972, Frankfurt 1978, S. 18.

154 Zitiert nach Clastres, Pierre: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt 1976, S. 186.

155 Lee, Richard B.: a.a.O., S. 14.

156 Zitiert nach Harris, David R.: Alternative Pathways Toward Agriculture, in: Reed, Charles A. (Hrsg): Origins
of Agriculture, The Hague 1977, S. 180f.

157 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: a.a.O., S. 38.


„Nirgends wird die Kultur so perfekt widergespiegelt wie in der Sprache,“158 stellte Pei fest,
und in vielerlei Hinsicht hat die Sprache entscheidende Veränderungen des menschlichen
Lebens nicht nur reflektiert, sondern bedingt. Der tiefgehende mit der Geburt der Sprache
vollzogene Bruch prophezeite und überschattete, vor nur 10.000 Jahren, die Ankunft von
Zivilisation und Geschichte. Unter der Herrschaft der Sprache erscheint die gesamte
Geschichte einheitlich und vollständig, gleichsam als natürliche Ordnung.
Mythologie, die, wie Cassirer bemerkte, „von Anfang an ... potentielle Religion“159 ist, kann
als Funktion in Abhängigkeit von Sprache verstanden werden, deren Erfordernissen
unterworfen wie jedes ideologische Produkt. In ähnlicher Weise beschrieb der Linguist Müller
bereits im 19. Jahrhundert Mythologie als „Sprachkrankheit“; Sprache verstümmelt den
Gedanken durch ihre Unfähigkeit, Dinge direkt zu beschreiben. „Die Mythologie ist
unvermeidlich; sie ist eine inherente Notwendigkeit der Sprache, ... der dunkle Schatten,
welchen die Sprache auf den Gedanken wirft, und der nie verschwinden wird, so lange sich
Sprache und Gedanke nicht vollständig decken, was nie der Fall sein kann.“160
Es nimmt daher kaum Wunder, dass der alte Traum einer lingua adamica, einer „wahren“
Sprache, die nicht aus konventionellen Zeichen besteht, sondern die direkte, unvermittelte
Bedeutung der Dinge ausdrückt, integraler Bestandteil der menschlichen Sehnsucht nach
einem verlorenen Urzustand ist. Wie bereits oben erwähnt, gibt der Turm von Babel diesem
Verlangen nach authentischer Kommunikation miteinander und mit der Natur Ausdruck.
Während dieses früheren (allerdings lange waltenden) Stadiums bildeten Natur und
Gesellschaft einen aufs Engste verbundenen Gesamtzusammenhang. Der Schritt von der
inneren Partizipation an der Totalität der Natur zur Religion bedeutete eine Transformation
von Kräften und Lebewesen in äußerliche, invertierte Existenzen. Diese Spaltung verkörperte
sich in Form von Gottheiten, und der religiöse Zeremonienmeister, der Schamane, war der
erste Spezialist.
Die Vermittlungen durch Mythologie und Religion sind jedoch nicht die einzigen
tiefgreifenden kulturellen Entwicklungen, die unserer modernen Entfremdung
zugrundeliegen. Auch die Kunst wurde zur Zeit des Jungpaläolithikums, als der Neanderthaler
den Platz für den Cro-Magnon-Menschen räumte (welcher gängigen Vorurteilen zum Trotz
ein kleineres Hirn besaß), ins Leben gerufen. In den berühmten Höhlenzeichnungen von ca.
30.000 v. Chr. ist eine reichhaltige Auswahl abstrakter Zeichen zu erkennen; der Symbolismus
der jungpaläolithischen Kunst gerinnt langsam zu den wesentlich stilisierteren
Ausdrucksformen der neolithischen Ackerbauern. Während dieser Periode, die wahrscheinlich
mit den Anfängen der Sprache zusammenfällt beziehungsweise deren erstmalige wirkliche
Überlegenheit markiert, verschaffte sich eine über längere Zeit gewachsene Unruhe Ausdruck.
John Pfeiffer verdeutlichte dies anhand der Erosion der egalitären Jäger/Sammler-Traditionen,
als der Cro-Magnon-Mensch seine Hegemonie durchsetzte.161 Während bis zum
Jungpaläolithikum „keine Spur von [gesellschaftlichen] Rängen“ zu finden war, erforderten
die entstehende Arbeitsteilung und ihre unmittelbaren gesellschaftlichen Konsequenzen eine
Disziplinierung jener, die sich dem allmählichen Vorstoß der Zivilisation widersetzten. Als

158 Pei, Mario: The Story of Language, Philadelphia 1965, S. 199.

159 Cassirer, Ernst: a.a.O., S. 139.

160Müller, Max: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Zweite unveränderte Auflage, Straßburg
1876, S. 316.

161 Vgl. Pfeiffer, John E.: a.a.O., Kapitel 8 und 9.


ordnendes und indoktrinierendes Prinzip konnte die dramatische Macht der Kunst diesen
Bedarf an kultureller Kohärenz und stabiler Herrschaft befriedigen. Sprache, Mythos,
Religion und Kunst rückten also als wesentlich „politische“ Bedingungen gesellschaftlichen
Lebens vor, deren künstliche Medien symbolischer Formen die direkt erfahrene Qualität des
Lebens vor der Arbeitsteilung ersetzten. Seit diesem Zeitpunkt konnte die Menschheit die
Wirklichkeit nicht mehr in direkter Weise wahrnehmen; die Logik der Herrschaft warf einen
Schleier über Spiel, Freiheit und Überfluss.
Gegen Ende des Paläolithikums, als ein verminderter Anteil an Verben in der Sprache den
durch Arbeitsteilung resultierenden Rückgang von besonderen und frei gewählten
Handlungen widerspiegelte, besaß die Sprache immer noch keine Zeitformen.162 Obwohl die
Konstruktion einer symbolischen Welt die Bedingung für die Existenz der Zeit darstellte,
hatten sich noch keine festen Differenzierungen entwickelt, solange nicht die Jäger/Sammler-
Lebensweise von der neolithischen Landwirtschaft ersetzt worden war. Aber wenn jede
Verbform ein Tempus aufweist, verlangt die Sprache „selbst dann noch Lippenbekenntnisse
zu der Zeit ..., wenn wir gar nicht an sie denken.“163 Unter diesem Gesichtspunkt könnten wir
die Frage stellen, ob die Zeit überhaupt getrennt von der Grammatik existiert. Sobald die
Sprachstruktur die Zeit inkorporiert und somit bei jedem Ausdruck von ihr mit Leben erfüllt
wird, hat die Arbeitsteilung endgültig eine frühere Realität zerstört. Mit Derrida können wir
sehr treffend auf „die Sprache als den Ursprung der Geschichte“164 verweisen. Sprache ist
selbst eine Form von Unterdrückung, und entlang ihrem Fortschreiten akkumuliert sich
Unterdrückung – in Form von Ideologie, in Form von Arbeit -, um die geschichtliche Zeit
entstehen zu lassen. Ohne Sprache würde die Geschichte in ihrer Gesamtheit verschwinden.
Vor-Geschichte bedeutet vor der Schrift; die Schrift in irgendeiner Form ist das eindeutige
Signal für die Ankunft der Kultur. „So bekommt man den Eindruck,“ schrieb Freud in Die
Zukunft einer Illusion, „dass die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von
einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und
Zwangsmitteln zu setzen.“165 Können Zeit und Sprache bereits als problematisch betrachtet
werden, so tritt die Schrift in relativ unverhüllter Weise als Beitrag zur Unterwerfung des
Menschen in Erscheinung. Freud hätte berechtigterweise auf die geschriebene Sprache als den
Hebel, mit dessen Hilfe die Kultur errichtet und konsolidiert wurde, verweisen können.
Um ca. 10.000 v. Chr. hatte die umfassende Arbeitsteilung ein System sozialer Kontrolle und
Herrschaft produziert, welches sich in Städten und Tempeln widerspiegelte. Die frühesten
Schriftstücke sind Aufzeichnungen von Steuern, Gesetzen und Arbeitsbedingungen. Diese
objektivierte Herrschaft hatte also ihren Ursprung in den praktischen Notwendigkeiten der
politischen Ökonomie. Der zunehmende Gebrauch von Schriftstücken und Tafeln ermöglichte
es den jeweiligen Herrschern rasch, neue Gipfel an Macht und Eroberung zu erklimmen; ein
Beispiel dafür war die neue Regierungsform in Babylon unter der Herrschaft König
Hammurabis. Wie Lévi-Strauss meinte, schien die Einführung der Schrift eher der

162 Diamond, Arthur S.: a.a.O., S. 267.

163 Quine, Willard van Orman: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980, S. 296.

164 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 10.

165 Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, in Gesammelte Werke. Vierzehnter Band, London 1955, S. 327.

Ausbeutung als der Aufklärung des Menschen dienlich zu sein. Statt Medium der Wahrheit zu
sein, war es vielmehr so, „dass Schrift und Betrug vereint eindrangen“.166
An diesem Punkt wird Sprache zur Repräsentation von Repräsentation, zunächst in
Hieroglyphen und Ideogrammen, dann in der phonetischen alphabetischen Schrift. Der
Fortschritt an Symbolisierung, von Worten zu Silben, und schließlich zu Buchstaben eines
Alphabets, erzwang ein zunehmend unwiderstehliches Bewusstsein von Ordnung und
Herrschaft. Und in der Verdinglichung, die das Schreiben darstellt, ist die Sprache nicht
länger an ein sprechendes Subjekt oder eine Diskursgemeinschaft gebunden, sondern schafft
einen autonomen Bereich, von dem jegliches Subjekt abwesend sein kann.167
In der gegenwärtigen Welt inszeniert die Avantgarde der Kunst zumindest die Geste eines
Widerstands gegen das Gefängnis der Sprache. Seit Mallarmé richtet sich ein bedeutender Teil
der modernen Lyrik und Prosa gegen die Selbstverständlichkeit der normalen Sprache. Auf
die Frage „Wer spricht?“ antwortete Mallarmé „Die Sprache spricht.“168 Seit dieser Antwort,
und in speziellem Maße seit der brisanten Zeit um den Ersten Weltkrieg, als Joyce, Gertrude
Stein und andere den Versuch einer neuen Syntax und eines neuen Vokabulars wagten, waren
die Einschränkungen und Verzerrungen der Sprache in der Literatur einem geradezu
massenhaften Angriff ausgesetzt. Die russischen Futuristen, Dada (beispielsweise Hugo Balls
Bemühung während der 20er Jahre, eine „Lyrik ohne Worte“ zu schaffen), Artaud, die
Surrealisten und Lettristen waren die exotischeren Protagonisten eines allgemeinen
Widerstands gegen die Sprache.169
Die Symbolisten und viele ihrer Nachfolger waren der Auffassung, die Ablehnung der
Gesellschaft müsse ebenso die Ablehnung ihrer Sprache beinhalten. Allerdings verhinderte
die Unzulänglichkeit auf diesem Gebiet einen Erfolg auf jenem, was die Frage aufwirft, ob
Avantgardebewegungen überhaupt etwas anderes sein können denn abstrakte, hermetische
Gesten. Der Sprache, die zu jedem Zeitpunkt die Ideologie einer bestimmten Kultur zum
Ausdruck bringt, muss Einhalt geboten werden, um beide Kategorien von Entfremdung
abzuschaffen; zugegebenermaßen ein Projekt von beachtlichem gesellschaftlichen Ausmaß.
Die Tatsache, dass literarische Texte (wie zum Beispiel Finnegans Wake oder die Lyrik von
E.E. Cummings) die Regeln der Sprache brechen, scheint hauptsächlich den paradoxen Effekt
zu zeitigen, die Regeln selbst zu vergegenwärtigen. Indem sie das freie Spiel von Sprachideen
gestattet, degradiert die Gesellschaft diese Ideen zu bloßem Spiel.
Vielleicht ist bereits die schiere Menge an Lügen – auf amtlichem, geschäftlichem oder
anderem Gebiet - Erklärung genug für den stetig wachsenden Analphabetismus in den
Metropolen. Jedenfalls ist nicht nur mittlerweile „der Druck auf die Sprache sehr groß,“170
wie Canetti meinte, sondern nach Robert Harbisons Urteil ist das „Verlernen“ eine „Macht auf
jedem Gebiet des Denkens.“171

166 Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen. Köln und Berlin 1970, S. 263f.

167 Vgl. Derrida, Jacques: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987, S. 89.

168 Zitiert nach Trias, Eugenio: Philosophy and its Shadow, New York 1983, S. 74.

169Es ist bemerkenswert, dass diese literarische Revolte gegen die Sprache ebenso von einem signifikanten
Widerstand gegen die Zeit begleitet war. Proust, Joyce, Dos Passos, Faulkner, Gide, Virginia Woolf, Borges und
andere leisteten in ihren Werken allesamt den Versuch einer Herausforderung der zeitlichen Dimension.

170 Canetti, Elias: Das Gewissen der Worte, München 1975, S. 160.

171 Harbison, Robert: Deliberate Regression, New York 1980, S. XVI.


Die trivialsten und banalsten Dinge werden heutzutage mit Attributen wie „unglaublich“ oder
„überwältigend“ belegt, und es ist kein Zufall, dass es kaum noch kraftvolle oder
schockierende Worte gibt. Der Niedergang der Sprache spiegelt eine allgemeinere
Entfremdung; sie ist uns völlig äußerlich geworden. Das Schweigen ist – von Kafka bis zu
Pinter – die Stimme unserer Zeit. „Wenige Bücher heute sind entschuldbar. Schwärze auf der
Leinwand, Stille auf dem Bildschirm, ein leeres Blatt Papier sind vielleicht noch möglich,“172
wie es R.D. Laing so treffend ausdrückte. Währenddessen beschränkt sich das Wirken der
Strukturalisten und Poststrukturalisten – Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Lacan, Derrida –
nahezu vollständig darauf, die Sprache mit ihren endlosen Exegesen zu verdoppeln. Davon,
der Sprache eine Bedeutung zu entlocken, haben sie sich praktisch verabschiedet.
Ich schreibe (selbstverständlich) eingeschlossen in Sprache, wissend, dass die Sprache selbst
den Widerstand gegen Verdinglichung verdinglicht. Wie T.S. Eliots Sweeney erklärt: „Ich
muss Worte benutzen, wenn ich mit dir rede.“ Es ist immerhin vorstellbar, das Gefängnis der
Zeit durch eine strahlende Gegenwart zu ersetzen – allerdings nur innerhalb einer Welt ohne
Arbeitsteilung, ohne die Scheidung von der Natur, von der sämtliche Ideologie und Herrschaft
rührt. In dieser unserer Welt können wir nicht ohne die Sprache leben, was verdeutlicht, wie
tiefgreifend wir diese Welt verändern müssen. Worte zeugen von einer Traurigkeit; sie dienen
dazu, die Leere der ungezügelten Zeit aufzusaugen. Wir alle kennen das Verlangen, weiter zu
gehen, tiefer, als Worte uns tragen könnten; das Gefühl, mit all dem Gerede Schluss zu
machen, ahnend, dass die Möglichkeit eines zusammenhängenden Lebens die Notwendigkeit
aufheben würde, den Zusammenhang zu formulieren.
Es liegt eine tiefe Wahrheit in der Vorstellung, dass „Liebende keine Worte brauchen.“ Wir
brauchen eine Welt von Liebenden, eine persönliche Welt, in der sogar Namen vergessen
werden können, eine Welt, die weiß, dass Verzauberung das Gegenteil von Unwissen ist. Die
einzige Politik, die noch eine Bedeutung hätte, wäre die, die Sprache und Zeit ungeschehen
machte.

Zahl

Die schmerzliche und entmutigende Natur der gegenwärtigen Krise, allen voran die
allgegenwärtige Leere des Geistes und Künstlichkeit der Materie, nötigen uns in
zunehmendem Maße, auch die selbstverständlichsten „Gegebenheiten“ in Frage zu stellen.
Zeit und Sprache machten sich bereits verdächtig; auch die Zahl erscheint nicht länger als
„neutral“. Das Licht der Entfremdung in der technologischen Zivilisation strahlt heutzutage
allzu schmerzhaft grell, als dass sein Wesen noch verborgen bleiben könnte, und die
Mathematik ist das Denkschema der Technologie.
Sie ist ebenso die Sprache der Wissenschaft – wie tief, wie weit zurück also müssen wir
gehen, um den „Grund“ des beschädigten Lebens freizulegen? Der verwickelte Strang
unnötigen Leidens, die Fasern der Herrschaft werden zwangsläufig entwirrt – durch den
Druck einer unerbittlichen Gegenwart.
Wenn wir darüber nachdenken, auf was für Arten von Fragen wir eine Zahl als Antwort
bekommen; wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Sinn oder die Gründe des Entstehens
des Quantitativen richten, so gelangen wir abermals zu einem entscheidenden Moment
unserer Entfremdung von unserem natürlichen Dasein.

172 Laing, Ronald D.: Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt 1969, S. 9.

Die Zahl, wie auch die Sprache, sagt stets, was sie nicht sagen kann. Als Kern einer
bestimmten Art Logik oder Methode ist die Mathematik nicht lediglich Werkzeug, sondern
Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis: vollkommene Exaktheit, vollkommene Autarkie und
vollkommene Allgemeinheit. Vollkommen egal, dass die Welt inexakt, von
Wechselbeziehungen durchdrungen und besonders ist, dass niemand jemals zwei identische
Blätter, Bäume, Wolken oder Tiere gesehen hat, wie auch keine zwei Momente identisch
sind.173 „Alles, was die endgültige wissenschaftliche Analyse der materiellen Welt
hervorbringen kann, ist eine Menge von Zahlen,“174 wie Dingle bezogen auf den Primat des
Identitätsbegriffs in der Mathematik und ihrem Abkömmling, der Wissenschaft, bemerkte.
Im weiteren Verlauf möchte ich den Versuch einer „Anthropologie“ der Zahl wagen und deren
gesellschaftliche Bedingtheit erforschen. Horkheimer und Adorno verweisen auf die
Grundlage der Krankheit: „Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie
und Zwang...die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und
Zusammenschluss der Begriffe [gründet] in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen
Wirklichkeit, der Arbeitsteilung.“175
Wenn die mathematische Realität die rein formale Struktur eines normativen oder
standardisierenden Maßes (und später dann der Wissenschaft) ist,176 so war das erste
gemessene Ding die Zeit.177 Die ursprüngliche Verbindung zwischen Zeit und Zahl ist
unmittelbar einsichtig. Autorität, zuerst als Zeit verdinglicht, verhärtet sich durch das
allmählich mathematisierte Zeitbewusstsein. Anders ausgedrückt: Die Zeit ist ein Maß und
existiert als Verdinglichung oder in materieller Form aufgrund der Einführung des Maßes.
Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Symbolischen zu erkennen, denn
während die grundlegende Eigenschaft jeglicher Messung die symbolische Repräsentation
ist,178 ist gleichzeitig die Schaffung einer symbolischen Welt die Bedingung für die Existenz
der Zeit.
Zu erkennen, dass Repräsentation ihren Anfang mit der Sprache nimmt, verwirklicht in der
Gründung einer reproduzierbaren formalen Struktur, heißt bereits, den fundamentalen
Zusammenhang zwischen Sprache und Zahl zu verstehen.179 Die verarmte Gegenwart mit
ihrer mehr und mehr verarmenden Sprache ist ein deutliches Indiz dafür, dass die Mathematik
lediglich die am meisten reduzierte und vertrocknete aller Sprachen ist. Der endgültige Schritt
bei der Formalisierung einer Sprache besteht in ihrer Verwandlung in Mathematik; je näher

173„Wir werden also sagen, daß die Vorstellung der Zahl die einfache Intuition einer Mannigfaltigkeit von Teilen
oder Einheiten enthält, die untereinander vollständig gleich sind.“ Bergson, Henri: Zeit und Freiheit,
Meisenheim am Glan 1949, S. 67.

174 Dingle, Herbert: „Physics and God“, in: Hibbert Journal, Vol. XXVI, No. 1 (1928), S. 44.

175 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: a.a.O., S. 27f.

176 Vgl. Neville, Robert C.: The Cosmology of Freedom, New Haven 1974, S. 83.

177 Vgl. Bernal, John D.: The Extension of Man, London 1972, S. 27.

178 Vgl. Weyl, Hermann: Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, 7. Auflage, München 2000, S.
183f.

179 „Die Zeichensprache einer Mathematik und die Grammatik einer Wortsprache sind letzten Endes von
gleichem Bau.“, Spengler, Oswald: a.a.O.., S. 76.

umgekehrt die Sprache den dichten Konkretionen der Wirklichkeit kommt, desto weniger
abstrakt und exakt kann sie sein.
Die Symbolisierung von Leben und Bedeutung ist am vielseitigsten in der Sprache möglich,
die nach Ansicht des späten Wittgenstein praktisch die Welt konstituiert. Die Sprache
wiederum, gegründet auf einem symbolischen Vermögen für konventionelle und arbiträre
Äquivalenzen, erfährt in dem Symbolismus der Mathematik ihre größtmögliche Veredelung.
Mathematik ist, in den Worten von Max Black, „die Grammatik aller symbolischen
Systeme.“180
Der Zweck des mathematischen Aspekts von Sprache und Begriff besteht in der möglichst
vollständigen Isolierung des Begriffs von den Sinnen. Die Mathematik könnte daher als
Paradigma des abstrakten Denkens bezeichnet werden, wie auch bereits Levy die reine
Mathematik „die zu einer wahren Kunst erhobene Methode der Isolierung“181 nannte. In
engem Zusammenhang dazu stehen ihre „gewaltige Allgemeingültigkeit,“182 wie Parsons
bemerkte, sowie ihre Weigerung, etwaige Grenzen besagter Allgemeingültigkeit
anzuerkennen, wie es Whitehead formulierte.183
Dieser abstrahierende Prozess und seine formalen, allgemeinen Resultate liefern einen Gehalt,
der vollständig von dem denkenden Individuum abgelöst zu sein scheint; der Benutzer oder
die Benutzerin eines mathematischen Systems und seine oder ihre Werte finden sich in dem
System nicht wieder. Die Hegelsche Vorstellung einer Autonomie der entfremdeten Tätigkeit
findet in der Mathematik eine perfekte Anwendung; sie hat ihre eigenen Wachstumsgesetze,
ihre eigene Dialektik,184 und sie schwebt als eigenständige Macht über dem Individuum. Es
sollte hinzugefügt werden, dass auch die Zeit, verstanden als für sich selbst existierende
Materialität, sowie die erste Entfremdung der Menschheit von der Natur ihren Anfang
nahmen, als die Menschen zu zählen begannen. Beherrschung der Natur, und später der
Menschen, wird damit möglich.
In der Abstraktion liegt die Wahrheit von Heytings Urteil „Man kann es heute fast für eine
allgemeine Ansicht der Mathematiker ansehen, dass die Sätze der reinen Mathematik nichts
über die Wirklichkeit aussagen.“185 Ihre wesentliche Haltung gegenüber der farbenfrohen
Bewegung des Lebens lässt sich zusammenfassen als „Setze dieses und jenes gleich jenem
und diesem.“186 Abstraktion und Äquivalenz oder Identität sind untrennbar; die
Unterdrückung des Reichtums der Welt, die bei der Identität an erster Stelle steht, veranlasste

180 Black, Max: The Nature of Mathematics, London 1933, S. 4.

181 Levy, Hyman: The Universe of Science, New York 1933, S. 82.

182 Parsons, Charles: Mathematics in Philosophy, Ithaca 1980, S. 176.

183 Vgl. Whitehead, Alfred N.: Einführung in die Mathematik, Bern 1948, S. 70.

184
„Alle menschliche Erkenntnis ist entweder Erfahrung oder Mathematik.“ Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur
Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Leipzig 1930, #530, S. 364.

185 Zitiert nach Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt 1968, S. 285.

186 Vossler, Karl: Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925, S. 235.

Adorno, sie „die Urform von Ideologie“187 zu nennen. Die Unwahrheit der Identität besteht
bereits darin, dass der Gegenstand in seinem Begriff nicht aufgeht.188
Mathematik ist verdinglichtes, ritualisiertes Denken, praktisch die Abdankung des Denkens.
Foucault fand, „dass man in der ersten Geste des ersten Mathematikers die Konstitution einer
Idealität gesehen hat, die sich während der ganzen Geschichte entfaltete und nur in Frage
gestellt wurde, um wiederholt und gereinigt zu werden.“189
Die Zahl ist die folgenschwerste Erfindung in der Geschichte des menschlichen Denkens.
Durch Numerieren oder Zählen (und Messen, verstanden als Zuordnen von Zahlen, die
Eigenschaften darstellen sollen) verdichtete sich allmählich Pluralität zu Quantifizierung,
entstand der homogene und abstrakte Charakter der Zahl, wodurch die Mathematik erst
möglich wurde. Mit ihrer Entwicklung von rudimentären Arten des Zählens (angefangen bei
dem Dualsystem, schließlich mit der Verwendung von Fingern und Zehen als Basis) bis zu
der griechischen Idealisierung der Zahl formierte sich – parallel zum Reifen des Zeitbegriffs –
auch eine zunehmend abstrakte Weise zu denken. Wie William James bemerkte: „Das
intellektuelle Leben des Menschen besteht fast vollständig aus der Substitution der
wahrnehmenden Ordnung, in der sich ihm die Erfahrung ursprünglich präsentiert, durch eine
begriffliche Ordnung.“190
Boas war der Ansicht, „daß Zählen erst notwendig wird, wenn die Objekte in einer so
allgemeinen Form betrachtet werden, daß ihre Individualität übersehen werden kann.“191 In
der Entwicklung der Zivilisation haben wir gelernt, immer abstraktere Zeichen zu verwenden,
um immer abstraktere Referenten zu bezeichnen. Prähistorische Sprachen hingegen hatten
eine Myriade von Begriffen für das Berührte und Gefühlte, jedoch in vielen Fällen keine
Zahlwörter außer eins, zwei und viele.192 Als Jäger/Sammler hatten die Menschen so gut wie
keinen Bedarf für Zahlen, weshalb Hallpike erklärte, wir dürften nicht erwarten, dass „ein
operatives Verständnis der Quantifizierung und der Zahl bei vielen primitiven Gesellschaften
die kulturelle Norm sei.“193 Wesentlich früher und unverblümter verwies bereits Allier auf den
„von unzivilisierten Menschen gefühlten Abscheu gegenüber jedweder rein intellektuellen
Anstrengung, vor allem gegenüber der Arithmetik.“194
Tatsächlich gab es auf dem langen Weg zur Abstraktion, ausgehend von einem intuitiven
Mengensinn bis zur Verwendung unterschiedlicher Mengen von Zahlwörtern, um
unterschiedliche Dinge zu zählen, erstaunlichen Widerstand – als sei das Wesen der dazu
notwendigen Objektivierung wirklich erkannt worden. Als Indiz dafür mag die
bemerkenswerte, einheitliche Schönheit der Werkzeuge unserer Vorfahren vor einer halben
Million Jahren dienen, in denen sich kreative und (in Ermangelung eines geeigneteren

187 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S. 149.

188 Vgl. ebd., S. 15.

189 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1981, S. 268.

190 Zitiert nach Kline, Morris: Mathematics. The Loss of Certainty, New York 1972, S. 188f.

191 Boas, Franz: Das Geschöpf des sechsten Tages, Berlin 1955, S. 195.

192 Vgl. Dantzig, Tobias: Number. The Language of Science, New York 1959, S. 5.

193 Hallpike, Christopher R.: Die Grundlagen primitiven Denkens, Stuttgart 1984, S. 315.

194 Allier, Raoul: The Mind of the Savage, New York 1929, S. 239.

Wortes) technische Fertigkeit in so unmittelbarer Weise zeigen; ähnlich zu interpretieren sind


„neuere Studien, die gezeigt haben, dass die geistigen Fähigkeiten der frühen Menschen vor
mehr als 300.000 Jahren bereits denen der modernen Menscheit glichen,“195 so der britische
Archäologe Clive Gamble.
Gestützt auf Beobachtungen überlebender Stammesgesellschaften, lässt sich ferner
extrapolieren, dass Jäger/Sammler ein so genaues und umfassendes Verständnis der Natur und
ihrer lokalen Umwelt besaßen, dass sie bereits hunderttausende von Jahren vor der
neolithischen Revolution in der Lage gewesen wären, Ackerbau zu betreiben.196 Jedoch wäre
damit ein neuartiges Verhältnis zur Natur verbunden gewesen; und genau das wurde
offensichtlich über viele Generationen abgelehnt.
Heute erscheint es uns als großer Vorteil, von dem natürlichen Verhältnis der Dinge
abstrahieren zu können, in der Steinzeit jedoch wurde das Sein als Ganzes verstanden und
geschätzt, nicht in Form von zerlegten Attributen.197 Letzte Residuen davon haben sich bis in
unsere Zeit erhalten: Wenn eine große Familie zum Essen Platz nimmt und bemerkt wird, dass
jemand fehlt, so geschieht dies nicht durch Abzählen. Wenn in prähistorischen Zeiten eine
Hütte errichtet wurde, so wurde die Zahl der benötigten Pfosten nicht extra festgelegt oder
gezählt, vielmehr waren diese der Idee der Hütte inhärent, wesentlich darin enthalten.198
(Sogar noch zu Beginn von Ackerbau und Viehzucht konnte der Verlust eines Herdentieres
nicht durch Abzählen entdeckt werden, sondern durch das Fehlen eines bestimmten Gesichts
oder einer charakteristischen Eigenschaft; jedoch ist wohl offensichtlich, wie Bryan Morgan
bemerkte, dass die Kontrolle von Herden für die Menschen die „erste Anwendung eines
Zahlensystems“ darstellte, nachdem Wildtiere sich nun zu ertragreichen Produkten gewandelt
hatten.199) Trennung und Entfremdung machen das Wesen von Mathematik aus: eine
diskursive Reduktion auf Muster, Zustände und Verhältnisse, die wir ursprünglich als
Ganzheiten wahrnehmen konnten.200
In der Geburt von Kategorien (wie beispielsweise dem frühen Zählen), die nach der Kontrolle
alles Freien und Ungeordneten streben, erkennen wir eine neue Einstellung zur Welt. Wenn
Namensgebung Entfremdung und Herrschaft ist, so ist es auch das Zählen; denn die Zahl ist
nur eine auf ihr Wesen reduzierte Namensgebung. Obwohl das Zählen ein Folgeprodukt der
Sprache ist, markiert es einen kritischen Quantensprung an Entfremdung.
Für hunderttausende von Jahren besaßen Jäger/Sammler freien und ungehinderten Zugang zu
ihren lebensnotwendigen Ressourcen. Weder war die Arbeit geteilt noch existierte
Privateigentum. Dorothy Lees Observation eines überlebenden Stammes aus Ozeanien, den
Trobriander, ergab, dass sich keine ihrer Aktivitäten mit dem Bild einer linearen, teilbaren
Strecke beschreiben ließ. „Es gibt keine Aufgabe, keine Mühe, keine Anstrengung, deren

195Zitiert nach Campbell, Jeremy: Grammatical Man. Information, Entropy, Language and Life, New York
1982, S. 153.

196 Vgl. White,


Leslie A.: The Agricultural Revolution, in: Brady, Ivan A. / Isaac, Barry L. (Hrsg.): A Reader in
Cultural Change Vol. 1, Cambridge 1975, S. 101f.

197 Vgl.Lee, Dorothy: Being and Value in a Primitive Culture, in: The Journal of Philosophy, Vol. XLVI, No. 13
(1949), S. 403.

198 Vgl. Wertheimer, Max: Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Neuherausgabe, Erlangen 1925, S. 109.

199 Morgan, Bryan: Men and Discoveries in Mathematics, London 1972, S. 12.

200 Vgl. Comfort, Alex: I and That, New York 1979, S. 66.

Zweck ausserhalb der Tat selbst liegt.“201 Ebenso charakteristisch ist nach Sahlins die
„Verschwendungssucht“ der Jäger, „die großzügigen Bräuche, für die sie wahrhaft berühmt
sind,“ „ihr Bestreben, aus allem und jedem ein Fest zu machen.“202
Gemeinschaftliches Teilen und Zählen beziehungsweise Tauschen sind selbstverständlich
relative Gegensätze. Wo für den eigenen Gebrauch und nicht für den Tausch Dinge
hergestellt, Tiere getötet oder Pflanzen gesammelt werden, gibt es keinen Bedarf für
standardisierte Zahlen oder Maße. Das Abmessen und Abwiegen von Besitztümern entwickelt
sich erst später, parallel zur Messung und Festlegung von Eigentumsrechten und Pflichten
gegenüber Autoritäten. Isaac verortet den entscheidenden Schritt zur Standardisierung von
Werkzeugen und Sprache im Jungpaläolithikum, dem letzten Stadium der Jäger/Sammler-
Menschheit.203 Zahlen und Maßeinheiten auf geringem Abstraktionsniveau entstehen, wie
bereits erwähnt, durch Gleichsetzung von Verschiedenem. Frühe Formen des Tauschs,
zeitgleich entstanden mit frühen Formen von Arbeitsteilung und untrennbar von diesen, waren
noch unbestimmt und widersetzten sich der Systematisierung, wie etwa mittels
Äquivalenzentabellen.204 Der stetige Fortschritt von Tausch und Arbeitsteilung brach jedoch
die Vorherrschaft des Geschenks, wodurch die universelle Austauschbarkeit der Mathematik
zu ihrem konkreten Ausdruck finden konnte. Die Ideologie des gleichen Tausches – ein
vermeintlich ehernes Rechtsprinzip – ist lediglich die Praxis der Herrschaft von
Arbeitsteilung. Der Mangel an direkt gelebter Erfahrung und der Verlust an Autonomie, die
mit der Trennung von der Natur einhergehen, sind Begleiterscheinungen der
Machtübertragung an Spezialisten.
Mauss bemerkte, dass jedweder Tauschakt nur auf Grundlage sämtlicher gesellschaftlicher
Institutionen stattfinden kann.205 Jahrzehnte später verstand Belshaw Arbeitsteilung nicht
lediglich als Bestandteil, sondern als Ganzes der Gesellschaft.206 Gleichermaßen drastisch,
deswegen aber nicht minder realistisch ist die Folgerung, dass eine Welt ohne Tausch oder
geteilte Aktivität eine Welt ohne Zahl wäre.
Clastres, Childe und etliche andere weit vor ihnen begriffen, dass die Möglichkeit der
Menschen, einen Überschuss – die Basis für Tausch – zu erwirtschaften, nicht
notwendigerweise bedeutet, dass sie dies auch tatsächlich tun. Nicht gerade viel Sympathie
hegte er für die geläufige Ansicht, geistige oder kulturelle Defizite seien der Grund für die
Abwesenheit eines Überschusses: „Nichts ist langlebiger als diese Anschauung ..., und nichts
ist falscher.“207 Für Sahlins war „die Wirtschaft der Steinzeit ein System, das wesentlich

201Lee, Dorothy: Lineal and Nonlineal Codifications of Reality, in: Psychosomatic Medicine, Vol. 12, No. 2
(1950), S. 96.

202 Lee, Richard B. / DeVore, Irven (Hrsg.): Man the Hunter, Chicago 1968, S. 89; vgl. auch Sahlins, Marshall:
a.a.O., S. 10.

203 Vgl.Isaac, Glynn L.: Chronology and the Temple of Cultural Change During the Pleistocene, in: Bishop,
Walter W. / Miller, John A.: The Calibration of Hominoid Evolution, Edinburgh 1972, S. 381-430.

204 Vgl. Sahlins, Marshall: a.a.O., S. 278f.

205 Vgl. Cook, Albert S.: Myth and Language, Bloomington 1980, S. 9.

206 Vgl.Belshaw, C.S.: Theoretical Problems in Economic Anthropology, in: Freedman, Maurice (Hrsg.): Social
Organization, Chicago 1967, S. 35.

207 Clastres, Pierre: a.a.O., S. 14.


gegen Überschuss angelegt war,“208 wobei er den Begriff „System“ in relativ weiter
Bedeutung verwendete. Für lange Zeit hatten Menschen kein Verlangen nach den
zweifelhaften Entschädigungen, die sie bei Annahme eines geteilten Lebens erwarteten, wie
sie auch kein Verlangen nach Zahlen hatten. Einen Überschuss von irgendetwas zu horten war
scheinbar noch während der Neanderthalerzeit unbekannt; extensiver Handelskontakt war
nicht existent und wurde erst in der darauf folgenden Cro-Magnon-Zeit üblich.209
Überschuss wurde erst mit der Landwirtschaft auf weiter Basis produziert, und
bezeichnenderweise lag während des Neolithikums der Hauptfortschritt auf technischem
Gebiet in der Perfektionierung von Gefäßen wie Krügen, Töpfen, Lagerstätten und
ähnlichem.210 Diese Entwicklung ist auch ein Ausdruck für eine wachsende Tendenz zur
Verräumlichung, der Sublimation einer mehr und mehr autonomen zeitlichen Dimension in
räumliche Formen. Abstraktion, möglicherweise die erste Verräumlichung, war die erste
Entschädigung für die vom Zeitsinn verursachte Verarmung. Mit der Entwicklung von Zahlen
und Geometrie erfuhr die Verräumlichung eine weitere Verfeinerung. Wie Ricoeur bemerkte:
„Die Unendlichkeit wird entdeckt ... in Form der Idealisierung der Größen, der Maße, der
Zahlen, der Figuren.“211 Diese Suche nach der unbegrenzten Räumlichkeit ist untrennbar
verbunden mit dem abstrakten Vormarsch der Mathematik. Ebenso das Gefühl, von der Welt,
ihrer Endlichkeit befreit zu sein, das Hannah Arendt mit Bezug auf die Mathematik
beschrieb.212
Mathematische Prinzipien mit ihren Zahlen und Ziffern scheinen eine Zeitlosigkeit
auszudrücken, die möglicherweise deren bestimmendste Eigenschaft ist. Danach gefragt, den
„lebendigen Mittelpunkt der Mathematik“ anzugeben, nannte Hermann Weyl sie die
Wissenschaft vom Unendlichen.213 Wie ließe sich eine Flucht vor der verdinglichten Zeit
besser ausdrücken als durch ihre unbegrenzte Unterwerfung unter den Raum – in Form der
Mathematik.
Verräumlichung beruht – wie Mathematik – auf Trennung; ihr inhärent ist Teilung und die
Organisation dieser Teilung. Die Division der Zeit in einzelne Teile (scheinbar die frühesten
Formen des Zählens oder Messens) hat selbst räumlichen Charakter. Die Zeit ist seit jeher
anhand der Bewegung von Erde, Mond oder den Zeigern einer Uhr gemessen worden. Die
ersten Zeitanzeigen waren nicht numerischer, sondern konkreter Natur, wie auch jegliche
Anfänge des Zählens. Jedoch entwickelte sich schließlich, parallel zur Zeit, ein Zahlensystem
und wurde zu einem getrennten, unveränderlichen Prinzip. Nur die Trennungen im
gesellschaftlichen Leben – allen voran die Arbeitsteilung – können wohl als Erklärung für
eine derart gewaltige und entfremdende Konzeptualisierung dienen.
Tatsächlich können zwei entscheidende mathematische Erfindungen, die Zahl Null sowie das
Stellenwertsystem, als kulturelle Widerspiegelung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

208 Sahlins, Marshall: a.a.O., S. 82.

209 Vgl. Pfeiffer, John E.: a.a.O., S. 64.

210 Vgl. Mumford, Lewis: Der Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Wien 1974, S. 168f.

211 Zitiert nach Derrida, Jacques: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987,
S. 50.

212 Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa – oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 259.

213 Weyl, Hermann: a.a.O., S. 89.

interpretiert werden. Beide erschienen unabhängig voneinander, „gegen beachtlichen


psychologischen Widerstand,“214 in den Zivilisationen der Maja und Hindu. Bei den Maja ist
die Existenz von Arbeitsteilung und differenzierter gesellschaftlicher Schichtung (ganz zu
schweigen von ihrer geradezu obsessiven Beschäftigung mit der Zeit sowie den von einer
mächtigen Priesterklasse kontrollierten Menschenopfern) hinreichend dokumentiert. Im
Kastensystem der antiken indischen Gesellschaft finden wir eine Arbeitsteilung reflektiert,
„die als differenzierteste der Welt vor der industriellen Revolution bezeichnet werden darf.“215
Die Notwendigkeit von Arbeit (Marx) und die Notwendigkeit von Unterdrückung (Freud)
laufen auf dasselbe hinaus: Zivilisation. Diese falschen Gebote entfremdeten die Menschheit
von der Natur und machten Geschichte zu einer „stets wachsenden Chronik von
Massenneurose.“216 Freud hielt wissenschaftlich-mathematische Errungenschaften für die
Gipfel der Zivilisation, was angesichts deren symbolischen Charakters eine durchaus
treffende Einschätzung ist. „Auch der neurotische Prozess ist immer ein Vorgang der
Symbolbildung. Man darf ihn wohl mit einigem Recht den Preis nennen, den wir für unser
kostbarstes menschliches Erbe zahlen: für unsere Fähigkeit, Gedanken und Erfahrungen mit
Hilfe von Symbolen wiederzugeben.“217
Die Triade von Symbolisation, Arbeit und Unterdrückung findet ihren modus operandi in der
Arbeitsteilung. Daher nimmt es auch kaum Wunder, dass sich die Durchsetzung von
Zahlenwerten so mühsehlig gestaltete, bis schließlich während der neolithischen Revolution
ein qualitativer Sprung in der Arbeitsteilung passierte: von der Nahrungsmittelsuche und
-sammlung hin zu deren Produktion. Diese materielle Umstellung verlieh der Mathematik
erstmals eine Basis; sie war nun nicht mehr eine reine Instrumentalität, sondern eine
notwendige Kategorie von Existenz.
Um 500 v. Chr. führte der griechische ‚Vater der Geschichte‘ Herodot den Ursprung der
Mathematik auf den ägyptischen König Sesostris (1300 v. Chr.) zurück, der für
Besteuerungszwecke Land vermessen musste.218 Tatsächlich verdankt sich die Entstehung der
systematisierten Mathematik – in diesem Fall der Geometrie, im wahrsten Sinne des Wortes
„Landvermessung“ – den Bedürfnissen der politischen Ökonomie, dies allerdings bereits
2000 Jahre vor dem Ägypten des Sesostris. Der Nahrungsüberschuss der neolithischen
Zivilisation ermöglichte die Herausbildung spezialisierter Priester- und Verwalterklassen, die
bis ca. 3200 v. Chr. das Alphabet, Mathematik, Schrift und einen Kalender hervorgebracht
hatten.219 Bei den Sumerern tauchten zwischen 3500 und 3000 v. Chr. die ersten
Berechnungen auf, und zwar in Form von Lagerbeständen, Kaufvereinbarungen, Verträgen
sowie den damit verbundenen Angaben für Preise, verkaufte Einheiten, Zinszahlungen,
usw.220 „Die Mathematik, oder zumindest die Arithmetik, entwickelte sich noch vor der

214 Kroeber, Alfred L.: Anthropology, New York 1948, S. 471.

215 Coon, Carleton S.: Die Geschichte des Menschen, Köln 1970, S. 322.

216 Turner, Frederick: Beyond Geography. The Western Spirit Against the Wilderness, New York 1980, S. 66.

217 Kubie, Lawrence S.: Psychoanalyse ohne Geheimnis, Hamburg 1956, S. 23.

218 Vgl. Cohen, Morris R. / Drabkin, Israel E.: A Sourcebook in Greek Science, Cambridge 1966, S. 34.

219 Vgl. Campbell, Joseph: Die Masken Gottes. Band 2. Mythologie des Ostens, München 1996, S. 322.

220 Vgl. Olson, Richard: Science Deified and Science Defied, Berkeley 1982, S. 30.

Schrift,“221 wie Bernal betonte. Höchstwahrscheinlich sind die Zahlensymbole älter als
irgendwelche anderen Elemente der ältesten Schrift.222
Zu diesem Zeitpunkt waren es nun nicht nur Mathematik und Schrift, die die Beherrschung
von Natur und Mensch reflektierten, sondern ebenso die befestigte und mit Getreidevorräten
ausgerüstete Stadt sowie Krieg und Sklaverei. „Gesellschaftliche Arbeit“ (Arbeitsteilung), die
erzwungene Koordinierung mehrerer Arbeiten, wurde erschwert durch die alten, persönlichen
Maße; Längen, Gewichte und Volumen mussten standardisiert werden. Dabei gingen
mathematische Exaktheit und die Spezialisierung von Fähigkeiten Hand in Hand: Beide
waren aufeinander angewiesen, entwickelten sich parallel, und die Mathematik wurde
schließlich selbst zu einer Spezialdisziplin. Die großen Handelswege verkündeten den
Triumph der Arbeitsteilung, indem sie die neuen und verfeinerten Techniken für das Zählen,
Messen und Rechnen verbreiteten.
In Babylon tüftelten Händler-Mathematiker zwischen 3000 und 2500 v. Chr. ein umfassendes
arithmetisches System aus, das „bis ungefähr 2000 v. Chr. vollständig als abstrakte
Wissenschaft des Rechnens ausformuliert war.“223 In den darauf folgenden Jahrhunderten
erfanden die Babylonier sogar eine symbolische Algebra, obwohl die babylonisch-ägyptische
Mathematik im Vergleich zu der des wesentlich späteren Griechenlands allgemein als höchst
naiv und anschaulich betrachtet wird.
Für die Ägypter und Babylonier besaßen mathematische Ziffern noch konkrete
Entsprechungen: Die Algebra half bei geschäftlichen Transaktionen, ein Dreieck war
möglicherweise ein Stück Land in dieser speziellen Form. Die Griechen jedoch waren sich
ausdrücklich darüber im klaren, dass sich die Geometrie mit Abstraktionen beschäftigt – eine
Entwicklung, die einen grundlegenden Unterschied an Arbeitsteilung und gesellschaftlicher
Schichtung reflektiert. Anders als in der ägyptischen oder babylonischen Gesellschaft wurde
in Griechenland sämtliche produktive Arbeit, ob technischer oder ungelernter Natur, von einer
großen Sklavenklasse verrichtet, so dass die herrschende Klasse, zu der auch die
Mathematiker gehörten, praktische Tätigkeit und im speziellen praktische Anwendungen für
minderwertig hielten.
Pythagoras, dem im Großen und Ganzen die Rolle des Gründers der griechischen Mathematik
zukommt, hat daran keinen Zweifel gelassen. Für ihn waren Zahlen unveränderlich und ewig.
In direkter Antizipation des platonischen Idealismus erklärte er die Zahlen zum Schlüssel des
Universums. Im sprichwörtlichen „Alle Dinge sind Zahlen“ ist der Kern der pythagoräischen
Philosophie relativ treffend erfasst, drückte sie doch die Überzeugung aus, dass Zahlen in
einem wörtlichen Sinn existieren und sie wirklich alles sind, was existiert.224
Das extreme Ordnungs- und Harmoniestreben dieser Philosophie kann in seiner tiefgreifenden
Furcht vorUnsicherheit und Chaos als versteckter Hinweis auf die der griechischen
Gesellschaft zugrundeliegende massive und möglicherweise instabile Unterdrückung gelesen
werden. Das künstliche intellektuelle Leben, das so vollständig auf dem durch Sklaven
erwirtschafteten Überschuss beruhte, war um alle Umstände darum bemüht, die Sinne,
Emotionen und die reale Welt abzulehnen. Ein weiteres Beispiel ist die antike griechische

221 Bernal, John D.: Die Wissenschaft in der Geschichte, Berlin 1964, S. 94.

222 Vgl. Bodmer, Frederick: Die Sprachen der Welt. Geschichte – Grammatik – Wortschatz in vergleichender
Darstellung, 2. Auflage, Köln 1959, S. 45.

223 Brainerd, Charles: The Origins of the Number Concept, New York 1979, S. 6.

224 Vgl. ebd., S. 9.


Skulptur; mit ihren abstrakten, nahezu ideologischen Formgesetzen ist sie bar jeglichen
Gefühlsausdrucks.225 Ihre Gestaltungsformen sind standardisierte Idealisierungen; die
Parallele zu dem ausgeprägten Kult der Mathematik ist offensichtlich.
Platons Grundgedanke, die unabhängige Existenz von Ideen, ist direkt von Pythagoras
abgeleitet, wie auch sein gesamter Idealismus vom Geist der Mathematik erfüllt ist. Die
Geometrie beschrieb er als Tätigkeit körperlosen Intellekts; die Wirklichkeit war für ihn eine
Formwelt, aus der Materie in jeder wichtigen Hinsicht getilgt ist. Der philosophische
Idealismus hatte also seinen Ursprung in dieser weltabgewandten Verarmung, dem Primat des
quantitativen Denkens. Wie C.I. Lewis bemerkte, sind „seit Platons Zeiten bis zum heutigen
Tag alle bedeutenden Erkenntnistheorien von begleitenden Vorstellungen der Mathematik
beherrscht oder beeinflusst worden.“226
Es ist also kein Zufall, dass Platon als Motto über seine Akademie schrieb „Nur Kennern der
Geometrie ist der Eingang gewährt“; ebensowenig, dass er in seiner totalitären Vision Der
Staat betonte, es seien Jahre an mathematischer Ausbildung notwendig, bis die meisten
wichtigen politschen und ethischen Fragen angemessen beurteilt werden könnten.227
Dementsprechend bestritt er auch, dass eine regierungslose Gesellschaft jemals existiert habe,
und nannte eine derartige Vorstellung einen „Staat von Schweinen“228.
Mit ihrer Systematisierung durch Euklid im 3. Jhd. v. Chr., ungefähr ein Jahrhundert nach
Platon, hatte die Mathematik einen Zenit erreicht, den sie für nahezu zweitausend Jahre nicht
überschreiten sollte; der geistige Schutzpatron für die Sklaven- und Feudalgesellschaften der
folgenden Zeit war nicht Platon, sondern Aristoteles, der die pythagoräische Reduktion der
Wissenschaft auf Mathematik kritisierte.229
Die lang andauernde Nichtentwicklung auf dem Gebiet der Mathematik, die praktisch bis
Ende der Renaissance reichte, stellt für Historiker immer noch ein Rätsel dar. Am Ausgang
des zwölften Jahrhunderts kam es jedoch durch wachsende Handelsbeziehungen zu einer
Wiederbelebung der Kunst des Quantitativen.230 Die unpersönliche Ordnung des Kontors
verdeutlichte im aufstrebenden merkantilen Kapitalismus eine erneuerte Konzentration auf
Messung und Abstraktion. Mumford betonte die Bedeutung der mathematischen
Voraussetzungen für die spätere Mechanisierung und Standardisierung: „Hier begann das
Rechnen mit Zahlen, und am Ende zählten nur noch die Zahlen.“231

225 Vgl. Ivins, William M.: Art and Geometry, Cambridge 1946, S. 30.

226 Lewis, Clarence I.: Mind and World Order, New York 1956, S. VII.

227 Vgl. Olson, Richard: a.a.O., S. 112.

228 Platon: Politeia. Der Staat, Hamburg 1989, 372d. Platon erklärte die Anfänge des Staates mit der
„natürlichen“ Ungleichheit, die sich in der Arbeitsteilung widerspiegelt. Produktive Tätigkeit ist seit jeher durch
Spezialisierung und Arbeitsteilung organisiert, und der Staat ist davon nicht nur abgeleitet, sondern erlangt durch
diese Fragmentierung und Koordinierung erst seine Stabilität. Vgl. ebd., 369-370.

229Es kann mit einigem Recht behauptet werden, dass Platon und Aristoteles im Grunde die gleiche
reduktionistische Methode verwenden. Vgl. Alpert, Burt: Inversions, San Francisco 1973, Kapitel 5 und 6.

230 Vgl. Landes, David S.: Revolution in Time, Cambridge 1983, S. 78.

231 Mumford, Lewis: a.a.O., S. 316.


Arbeitsteilung ist das vertraute Pendant zum Handel. Wie Crombie bemerkte, gab es „seit
dem frühen zwölften Jahrhundert eine Tendenz zu wachsender Spezialisierung.“232 Die
Verbindung von Arbeitsteilung und Mathematik ist ebenso deutlich: „Die gesamte Geschichte
der europäischen Wissenschaften vom zwölften zum siebzehnten Jahrhundert kann als deren
stetige Durchdringung von Mathematik aufgefasst werden.“233
Die sich auf dem Gebiet der Zeit vollziehenden Veränderungen waren weitere Anzeichen für
eine Wiederherstellung des griechischen Primats der Mathematik. Im vierzehnten Jahrhundert
wurde durch den öffentlichen Gebrauch von mechanischen Uhren die Zeit als neues Medium
gesellschaftlichen Lebens eingeführt. Stadtuhren symbolisierten einen „methodischen
Verbrauch von Stunden“ passend zur „methodischen Buchhaltung von Geld,“234 und die Zeit
wurde zu einer Folge von wertvollen, mathematisch isolierten Momenten. An der sich stetig
verfeinernden Zeitmessung wie auch an der äußerst geometrischen gotischen Architektur ist
die wachsende Bedeutung von Quantifizierung zu erkennen.
Im späten fünfzehnten Jahrhundert breitete sich ein zunehmendes Interesse an den Ideen
Platons aus,235 und selbst Gott nahm in der Renaissance mathematische Eigenschaften an.
Wachsender maritimer Handel und Kolonisierung verlangten nach 1500 eine bislang
unerreichte Genauigkeit von Navigation und Artillerie. Sarton verglich die Siege der
spanischen Eroberer mit denen der Mathematiker, deren „Eroberungen geistiger Art waren,
Eroberungen der reinen Vernunft, deren Möglichkeiten unbegrenzt waren.“236
Aber die Renaissanceauffassung, dass die Mathematik auf alle Künste anwendbar sein sollte
(ganz zu schweigen von deren Vorläufern, wie im dreizehnten Jahrhundert Roger Bacons
Beitrag zu einer streng mathematischen Optik), war lediglich ein kleines Vorspiel zum
Triumph der Zahl im siebzehnten Jahrhundert.
Obwohl sie schon bald von anderen Entdeckungen des Jahrhunderts in den Hintergrund
gedrängt wurden, enthüllten Johannes Kepler und Francis Bacon dennoch ihre zwei
bedeutendsten und gleichzeitig aufs Engste verbundenen Aspekte. Kepler, der die
kopernikanische Wende zum heliozentrischen Modell vollendete, begriff die reale Welt als nur
aus quantitativen Unterschieden bestehend; ihre Unterschiede seien exakt die der Zahlen.237
Bacon beschrieb in Das neue Atlantis eine idealisierte Wissenschaftsgemeinschaft, deren
Hauptziel in der Herrschaft über die Natur bestand. Wie Jaspers es ausdrückte:
„Naturbeherrschung, ... ‚Wissen ist Macht‘, das gilt seit Bacon.“238
Das Jahrhundert von Galileo und Descartes – von wirklich herausragender Bedeutung für die
Vertiefung aller vorangegangenen Formen von quantitativer Entfremdung und somit für den
Entwurf einer technologischen Zukunft – begann mit einem qualitativen Sprung auf dem
Gebiet der Arbeitsteilung. Franz Borkenau lieferte einen wesentlichen Beitrag für das

232 Crombie, Alistair C.: Medieval and Early Modern Science. Vol. 1, Cambridge 1967, S. 178.

233 Ebd., S. 74f.

234 Mumford, Lewis: The Condition of Men, New York 1944, S. 176.

235 Vgl. Pacey, Arnold: The Maze of Ingenuity, Cambridge 1976, S. 96.

236 Sarton, George: Sarton on the History of Science, Cambridge 1962, S. 107.

237 Vgl. Burtt, Edwin A.: The Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, London 1925, S. 56.

238 Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1963, S. 119.

Verständnis dieses Prozesses, der im siebzehnten Jahrhundert für eine grundlegende


Veränderung der westlichen Weltauffassung verantwortlich zeichnete. Nach Borkenau führte
eine (ab ungefähr 1600 auftretende) große Ausdehnung der Arbeitsteilung den neuartigen
Begriff der abstrakten Arbeit ein.239 Diese Verdinglichung menschlicher Tätigkeit sollte sich
als schlüsselhaft erweisen.
Die Uhr ist, zusammen mit Erniedrigung durch Arbeit, die Grundlage modernen Lebens,
gleichermaßen „wissenschaftlich“ in ihrer Reduktion des Lebens auf messbare Einheiten,
objektiv und warenförmig. Die immer exaktere und allgegenwärtige Uhr machte im
siebzehnten Jahrhundert ihren Herrschaftsanspruch geltend, während sich parallel auch „die
Vorreiter der Wissenschaften ... mit den Problemen der Zeitmessung beschäftigten.“240
Es erscheint also durchaus passend, im Zusammenhang mit diesem Interesse an der
Zeitmessung Galileo einzuführen; seine Erfindung der ersten mechanischen, auf dem Prinzip
des Pendels basierenden Uhr war in ebenso passender Weise Durchbruch und Grundlage
seiner langen Karriere. So wie die mehr und mehr objektivierte oder verdinglichte Zeit eine
mehr und mehr entfremdete soziale Welt reflektierte, bestand auch Galileos Hauptziel in der
Reduktion der Welt auf einen Gegenstand mathematischer Analyse.
Wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und Auschwitz verortete Husserl die Wurzeln der
gegenwärtigen Krise in dieser objektivierenden Reduktion und identifizierte Galileo als ihren
hauptsächlichen Ahnherrn. Die Lebenswelt sei in exakt dem Maße durch die Wissenschaft
entwertet, wie die von Galileo initiierte „Mathematisierung der Natur“ fortgeschritten ist241 -
eine nicht gerade geringfügige Anklage.
Für Galileo wie für Kepler war die Mathematik die „Stammgrammatik des neuen
philosophischen Diskurses, der die moderne wissenschaftliche Methode begründete.“242 Er
formulierte das Prinzip „Alles messen, was messbar ist, und versuchen messbar zu machen,
was es noch nicht ist.“243 Er erweckte also die pythagoräisch-platonische Substitition der
realen Welt durch eine Welt von abstrakten mathematischen Relationen sowie ihre Methode
des absoluten Verzichts auf den Anspruch der Sinne, die Wirklichkeit zu erkennen, zu neuem
Leben. Angesichts dieser Abkehr von Qualität hin zu Quantität, dieses Sturzes in eine
Schattenwelt der Abstraktionen, gelangte Husserl zu der Einsicht, dass die moderne
mathematische Wissenschaft uns daran hindert, das Leben wie es ist zu erkennen.
Collingwood nannte Galileo den „wahren Vater der modernen Wissenschaft“ – wegen seines
Diktums „Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben“ und der Folgerung
„Mathematik ist die Sprache der Wissenschaft.“244 Aufgrund dieser Trennung von der Natur

239 Vgl.Borkenau, Franz: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1971. Die
Arbeitsteilungshypothese ist zentral für Borkenaus Versuch, die Ursprünge der während der Manufakturperiode
herrschenden Geisteshaltung zu erklären. Descartes’ Auffassung von Tieren als lediglich geschickt konstruierte
Maschinen beispielsweise ist ein Produkt der erhöhten Objektivierung, die mit dem Zuwachs von zerlegter
Arbeit verbunden war.

240 Cipolla, Carlo M.: Gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, Berlin 1997, S. 65-68.

241 Vgl.
Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie, 2. Auflage, Haag 1962, S. 20.

242 Galgan, Gerald J.: The Logic of Modernity, New York 1982, S. 31.

243 Zitiert nach Weyl, Hermann: a.a.O., S. 177.

244 Collingwood, Robin G.: An Essay on Metaphysics, London 1940, S. 256.


konnte, wie Gillispie herausstrich, „nach Galileo die Wissenschaft nicht länger human
sein.“245
Es erscheint sehr passend, dass der Mathematiker, der eine Synthese von Geometrie und
Algebra herstellte und sie in der analytischen Geometrie vereinte, und dem – zusammen mit
Pascal – die Erfindung der Infinitesimalrechnung zugeschrieben werden kann,246 den
galileischen Mathematizismus in ein neues System des Denkens überführt hat. Die zur totalen
und triumphalen Weltsicht erhobene These, dass die Organisation der Welt in einem
vollständigen Bruch zwischen Menschen und der natürlichen Welt besteht, ist die Basis für
Descartes’ Ruhm als Begründer der modernen Philosophie. Die Grundlage seines neuen
Systems, das berühmte cogito ergo sum, verleiht der Trennung zwischen Geist und dem Rest
der Wirklichkeit den Rang wissenschaftlicher Gewissheit.247
Dieser Dualismus lieferte ein entfremdetes Werkzeug zur Betrachtung einer vollständig
objektivierten Natur. In seinem Werk Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs
erklärte Descartes, das Ziel der Wissenschaft bestehe darin, uns „zu Herren und Eigentümern
der Natur [zu] machen“.248 Obwohl gläubiger Christ, bekräftigte Descartes die Entfremdung
vom Leben, die ein bereits im Verschwinden begriffener Gott nicht länger wirksam
legitimieren konnte. Während das Christentum geschwächt wurde, entstand eine neue
Ideologie, die nun Ordnung und Herrschaft mit mathematischer Präzision gewährleistete.
In Descartes’ Philosophie funktionierte das gesamte materielle Universum nach dem Bild
einer Maschine; so waren für ihn auch Tiere „in der Tat nichts weiter als Maschinen oder
Materie, in eine stetige und geordnete Bewegung versetzt.“249 Selbst den Kosmos beschrieb er
als riesiges Uhrwerk, gerade als sich gesellschaftlich die Illusion durchsetzte, dass die Zeit ein
getrennter, autonomer Prozess sei. Während die lebendige, belebte Natur starb, füllte sich das
tote, unbelebte Geld mit Leben, und auch Kapital und Markt wurden Attribute von
organischen Prozessen und Kreisläufen zugeschrieben.250 Zu guter Letzt eliminierte
Descartes’ mathematische Vision sämtliche unordentliche, chaotische oder lebende
Bestandteile und mündete in einer zugehörigen mechanistischen Weltsicht, die mit einer
Tendenz zu zentraler Regierungsmacht und Machtkonzentration in Form des modernen
Nationalstaats zusammenfiel. „Die Rationalisierung der Verwaltung kam gleichzeitig mit der
Rationalisierung der natürlichen Ordnung,“251 wie es Merchant ausdrückte. Die totale

245 Gillispie, Charles C.: The Edge of Objectivity, Princeton 1960, S. 81.

246 In dem verräumlichten Zeitalter des Handels und der Navigation ist es kein Zufall, dass diese Fortschritte in
der Mathematik Lösungen zu Problemen der Fortbewegung bereitstellten. Eng verwandt ist die Tatsache, dass zu
dieser Zeit auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Statistik entstanden, um bei der Versicherung von
Schiffen zu helfen.

247 Es ist nicht abwegig zu behaupten, die modernen Intellektuellen seien „hauptsächlich Plato und Descartes in
jenen wahnsinnigen Irrtum gefolgt, der besagt, das wahre Wesen des Menschen liege in entkörperlichter,
intellektueller Tätigkeit.“ Brown, Norman O.: Zukunft im Zeichen des Eros, Pfullingen 1962, S. 52.

248Descartes, René: Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
wissenschaftlichen Forschung, Hamburg 1960, S. 101.

249 Zitiert nach Pacey, Arnold: a.a.O., S. 134.

250 Vgl. Merchant, Carolyn: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München
1987, S. 277.

251 Ebd., S. 207f.

Herrschaft der Mathematik und ihrer mechanistischen Philosophie erwiesen sich als
unwiderstehlich; zur Zeit von Descartes’ Tod um 1650 war sie praktisch zu dem offiziellen
Denkrahmen in ganz Europa geworden.
Leibniz verfeinerte und erweiterte wenig später die Arbeit von Descartes; die „prästabilierte
Harmonie“, die er überall am Werk sah, ist gleichermaßen pythagoräischer Abstammung. Als
Veranschaulichung für diese mathematische Harmonie wählte er das Beispiel von zwei
unabhängigen Uhren, was an seinen Ausspruch erinnert, es gebe „nichts, was sich der Zahl
entzieht.“252 Auch das wesentlich bekanntere Sprichwort „Zeit ist Geld“ geht auf Leibniz
zurück,253 den, wie schon Galileo und Descartes, die Konstruktion von Uhren zutiefst
faszinierte.
In der von ihm entworfenen binären Arithmetik erkannte er ein Bild der Schöpfung; er
glaubte, dass die Einheit Gott und die Null das Nichts repräsentiert, dass die Einheit und die
Null alle Zahlen und sämtliche Schöpfung ausdrücken.254 Sein Ziel war die Mechanisierung
des Denkens durch einen formalen Algorithmus, ein Projekt, dessen Vervollständigung er
etwas zu kühn binnen fünf Jahren anvisierte. Dieses Unterfangen sollte Antworten auf alle
Fragen der Menschheit liefern, einschließlich solcher moralischer und metaphysischer Natur.
Trotz dieses fehlgeschlagenen Versuchs war Leibniz möglicherweise der erste, der eine
mathematische Theorie auf ihrer Eigenschaft als universale symbolische Sprache gründete; er
war mit Sicherheit der „erste moderne Denker, der den wahren Charakter der mathematischen
Symbolik erkannt“255 hatte.
Einen weiteren Beitrag zum quantitativen Modell der Realität lieferte der englische Royalist
Hobbes, der Seele, Willen, Gehirn und alles Verlangen der Menschen auf Materie in
mechanischer Bewegung reduzierte und damit ein direkter Vorläufer der heutigen Auffassung
vom Denkprozess des Gehirns als „Output“ eines Computers war.
Die vollständige Objektivierung der Zeit wurde schließlich von Isaac Newton geleistet, der
die Ergebnisse des galileisch-kartesianischen Uhrwerksuniversums kartographierte. Selber ein
Produkt der puritanisch-repressiven Weltanschauung, die danach strebte, sexuelle Energie in
stumpfsinnige Arbeit zu sublimieren, sprach Newton von der absoluten Zeit, die
„gleichförmig ohne Rücksicht auf äußere Einwirkungen fließt.“ Geboren 1642 im Todesjahr
Galileos, krönte Newton die wissenschaftliche Revolution des siebzehnten Jahrhunderts durch
die Entwicklung einer rein mathematischen Theorie der Natur als perfekte Maschine, als
perfektes Uhrwerk.
Whitehead bemerkte dazu: „Die Geschichte der Wissenschaft im siebzehnten Jahrhundert liest
sich, als wäre sie ein lebendiger Traum Platos oder des Pythagoras,“256 wobei er besonderes
Augenmerk auf die erstaunlich verfeinerte Methode ihres quantitativen Denkens legte. Erneut
erkennen wir einen parallel stattfindenden Sprung auf dem Gebiet der Arbeitsteilung; wie Hill

252Zitiert nach Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Sonderausgabe. Dritter Teil.
Phänomenologie der Erkenntnis, 10., unveränderte Auflage, Darmstadt 1994, S. 402.

253 Vgl. Baillie, Granville H.: Clocks and Watches. A Historical Bibliography, London 1951, S. 103.

254 Vgl. Courant, Richard und Robbins, Herbert: Was ist Mathematik?, Berlin 1962, S. 8.

255Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt 1990, S.
329.

Burtt, Edwin A.: a.a.O., S. 261.

256 Whitehead, Alfred N.: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt 1984, S. 46.

das England in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts beschrieb, „...begannen signifikante
Spezialisierungen sich bemerkbar zu machen. Die letzten Universalgelehrten
verschwanden...“257 Die Lieder und Tänze der Landbevölkerung starben langsam aus, und
durch einen buchstäblichen Mathematisierungsprozess wurden die Allmenden eingefriedet
und aufgeteilt.
Wissen von der Natur war bis zu dieser Zeit Teil der Philosophie; beide gingen getrennte
Wege, als die Vorstellung von der Naturbeherrschung ihre endgültige moderne Form
angenommen hatte. Am Ende war es die Aufgabe der Zahl, die aus einer Trennung von der
Natur hervorgegangen war, diese zu beschreiben und zu beherrschen.
Fontenelles Vorrede über den Nutzen der Mathematik und der Naturwissenschaften (1702)
begrüßte die zentrale Rolle der Quantifizierung für den ganzen Bereich menschlicher Gefühle
und half so, im achtzehnten Jahrhundert den Durchbruch des vorangegangenen Zeitalters zu
konsolidieren. Und während Descartes konstatiert hatte, Tiere könnten keinen Schmerz
empfinden, denn sie seien ohne Seele, und der Mensch sei keine Maschine im eigentlichen
Sinne, denn er habe eine Seele, führte La Mettrie den Gedanken zur letzten Konsequenz und
ließ 1747 in seinem Der Mensch eine Maschine den Menschen vollständig mechanisch
werden.
Bachs enorme Leistungen in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts werfen auch ein
Schlaglicht auf den mathematischen Geist, der hundert Jahre zuvor entfesselt worden war und
geholfen hatte, die Kultur in seinem Sinne zu formen. In Bezug auf die recht abstrakte Musik
Bachs wurde bemerkt, er spreche „durch die Mathematik zu Gott.“258 Zu diesem Zeitpunkt
hatte die individuelle Stimme ihre Unabhängigkeit verloren, und ihr Klang wurde nicht länger
als gesungener, sondern vielmehr als mechanischer Vorgang begriffen. Bach, der Musik als
eine Art Mathematik behandelte, brachte sie aus dem Stadium der Vokal-Polyphonie in das
der instrumentalen Harmonik: Grundlage war ein einzelner, autonomer (Akkord-)Ton, der
nicht mehr durch Einsatz menschlicher Stimmen variabel blieb, sondern nun von
Instrumenten fixiert wurde.259
Später in dem Jahrhundert erklärte Kant, dass es in jeder Theorie nur so viel wirkliche
Wissenschaft gebe, wie sie Mathematik enthalte und widmete einen Großteil seiner Kritik der
reinen Vernunft einer Analyse der letzten Prinzipien von Geometrie und Arithmetik.260
Descartes und Leibniz strebten danach, eine mathematisch-wissenschaftliche Methode als
paradigmatisches Wissensprinzip zu etablieren und träumten von der Möglichkeit einer
einzigen Universalsprache nach dem Modell von numerischen Zeichen, die die gesamte
Philosophie enthalten sollte. Tatsächlich arbeiteten die Aufklärer des achtzehnten
Jahrhunderts daran, dieses Projekt zu verwirklichen. Condillac, Rousseau und andere waren in
typischer Weise von der Suche nach Ursprüngen – wie beispielsweise dem Ursprung von
Sprache – besessen; in ihrer Illusion, einem Verständnis des Menschen durch die ultimative
Mathematisierung und Symbolisierung der Sprache näherzukommen, waren sie blind für die
Einsicht, dass der Ursprung aller Symbolisierung in Entfremdung liegt.

257 Hill, Christopher: Intellectual Origins of the English Revolution, Oxford 1965, S. 245.

258 LeShan, Lawrence / Morgenau, Henry: Einstein’s Space and Van Gogh’s Sky, New York 1982, S. 169.

259 Vgl. Bekker, Paul: Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen, Berlin 1926, S.
70-114.

260 Vgl. Katz, John: The Will to Civilization, New York 1957, S. 85.

Die Technik des Pflügens ist fast genauso alt wie die Landwirtschaft selbst, ein Mittel, der
ansonsten unregelmäßigen Welt Ordnung aufzuzwingen. Jedoch können wir in der Tendenz
der Kulturlandschaft, sich durch lineare Formen einer zunehmend mathematischen
Regelmäßigkeit und Komplexitität – letzteres veranschaulicht durch die Popularität
architektonischer Gärten – auszuzeichnen, ein weiteres Anzeichen für den Aufstieg der
Mathematik im achtzehnten Jahrhundert ausmachen.
Zu Anbruch des neunzehnten Jahrhunderts allerdings äußerten die romantischen Dichter und
Künstler ihren Protest gegen die neue Vision von der Natur als Maschine. Blake, Goethe und
John Constable beispielsweise klagten die Wissenschaft an, die Welt in die Form eines
Uhrwerks zwingen zu wollen, wobei sie in der industriellen Revolution ausreichend
Beweismaterial für die wissenschaftliche Zerstörungswut fanden.
Die physische und materielle Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bei den
TextilarbeiterInnen, die für die heftigen Aufstände der englischen Ludditen verantwortlich
war, hatte ihr Pendant in den automatisierten und verbilligten Erzeugnissen wie denen des
Jacquard-Webstuhls. Diese französische Erfindung repräsentierte nicht nur die
Mechanisierung von Leben und Arbeit, sondern inspirierte in direkter Weise die ersten
Versuche des modernen Computers. Die Entwürfe von Charles Babbage enthielten, anders als
die „logischen Maschinen“ von Leibniz oder Descartes, sowohl Speicher wie
Recheneinheiten, alles kontrolliert von Programmen, die auf der Basis von Lochkarten
funktionierten. Die Vorstellungen des Mathematikers Babbage und des Erfinders und
Industriellen J.M. Jacquard beruhen auf genau der rationalistischen Anpassung menschlicher
Tätigkeit an die Maschine, die damals während der einsetzenden Industrialisierung
Hochkonjunktur hatte. Wenig verwunderlich scheint also die Bedeutung, die Babbage in
seinen mathematischen Arbeiten einer verbesserten Notation zum Zweck immer weiterer
Symbolisierung beimaß. Sein On the Economy of Machinery and Manufactures wurde zu
einer wichtige Grundlage modernen Managements; zu Lebzeiten war Babbage vor allem
dafür berüchtigt, „heftige Feldzüge gegen die Belästigungen in Londons Straßen, besonders
durch Leierkästenmänner,“261 zu führen.
Der Siegeszug des industriellen Kapitalismus und die immens gestiegene Arbeitsteilung
zogen weitere Entwicklungen auf dem Gebiet der Mathematik nach sich. „Während des
neunzehnten Jahrhunderts allein machte die reine Mathematik nahezu ebenso große
Fortschritte wie während aller früheren Jahrhunderte seit Pythagoras,“262 wie Whitehead
feststellte.
In diesem Zusammenhang muss die nichteuklidische Geometrie von Bolyai, Lobatschewski,
Riemann und Klein erwähnt werden, ebenso wie die moderne Algebra von Boole, die
allgemein als Grundlage der symbolischen Logik betrachtet wird. Boolesche Algebra
ermöglichte eine neue Ebene theoretischen Denkens; ihr Erfinder räsonnierte über „den
menschlichen Verstand ... [als] ein Werkzeug für Eroberung und Beherrschung der
umgebenden Mächte der Natur“263 – eine unbewusste Widerspiegelung der Herrschaft, die der
mathematisierte Kapitalismus Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtete. (Obwohl der
Spezialist nur selten von der herrschenden Kultur widerlegt wird, wird dadurch nach Adornos

261Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. Ein endloses, geflochtenes Band, Stuttgart 1985, S. 27. Vgl.
auch Dubbey, John M.: The Mathematical Work of Charles Babbage, Cambridge 1978.

262 Whitehead, Alfred N.: a.a.O., S. 47.

263 Boole, George: Studies, London 1952, S. 187f.

scharfsinniger Beobachtung eher die verschleiernde Funktion seiner vermeintlich reinen


Kreativität bezeugt: „Seine entschlossene Unbewußtheit bezeugt den Zusammenhang von
Arbeitsteilung und analytischer ‚Reinheit‘.“264)
Wenn Mathematik verarmte Sprache ist, könnte sie ebensogut als ausgereifte Form des in der
formalen Logik verkörperten sterilen Zwangs gesehen werden. Bertrand Russell jedenfalls
entschied, Mathematik und Logik seien eins geworden.265 Russell, Frege und andere
verwarfen die Alltagssprache aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit; sie glaubten, nur in der
weiteren Reduktion der Sprache liege der wirkliche „Fortschritt der Philosophie.“266
Die Idee einer Logik auf mathematischer Grundlage besaß eine enge Verwandtschaft zu
einem noch ehrgeizigeren Projekt zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts; die Errichtung
sicherer Grundlagen der Mathematik selbst. Während der Kapitalismus allmählich die
Wirklichkeit nach seinem Bild neudefinierte und seine eigenen Grundlagen zu sichern
wünschte, verfolgte die „logische“ Periode der Mathematik zur Wende des zwangzigsten
Jahrhunderts das gleiche Ziel. David Hilberts Theorie des Formalismus, ein solcher Versuch,
Widerspruch und Irrtum auszutreiben, war explizit darauf ausgerichtet, „die Staatsmacht der
Mathematik vor allen ‚Putschversuchen‘ ... für alle Zeiten“267 zu schützen.
Diese schien jedoch solche philosophischen Untermauerungen gar nicht nötig zu haben. Aus
Lord Kelvins Erklärung, wir wüssten etwas nicht wirklich, bis wir es messen könnten,268
sprach ein ungemeines Vertrauen – nicht unbegründet, denn zur gleichen Zeit sollten die
wissenschaftlichen Managementmethoden eines Frederick Taylor die Unterjochung des
Individuums unter die leblosen newtonschen Kategorien von Zeit und Raum weiter
vorantreiben.
Was letztere betrifft, so meinte Capra, dass die zwichen 1905 und 1930 ausgearbeiteten
Theorien der Relativität und der Quantenmechanik „die Hauptaspekte der kartesianischen
Weltanschauung und der newtonschen Physik transzendiert“269 haben. Aber die
Relativitätstheorie ist sicherlich an mathematischem Formalismus schwer zu überbieten, und
Einstein war auf der Suche nach einer einheitlichen Feldtheorie, die er durch eine
Geometrisierung der Physik zu erreichen hoffte, so dass er bei Erfolg, wie Descartes, hätte
behaupten können, seine ganze Physik sei nichts anderes als Geometrie. Dass das Messen von
Zeit und Raum (oder „Raum-Zeit“) eine relative Angelegenheit ist, stellt die Berechtigung der
zugrundeliegenden Tatsache des Messens nicht in Abrede. Eine ähnlich ambivalente Rolle
spielt das im Zentrum der Quantentheorie stehende Heisenbergsche Unschärfeprinzip, das

264 Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Schriften. Band 5, Frankfurt
1997, S. 62.

265 Vgl. Russell, Bertrand: Einführung in die mathematische Philosophie, Darmstadt 1953, S. 212.

266 Schilpp, Paul (Hrsg.): The Philosophy of Bertrand Russell, New York 1951, S. 694.

267 Zitiert nach Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Sonderausgabe. Dritter Teil.
Phänomenologie der Erkenntnis, 10., unveränderte Auflage, Darmstadt 1994, S. 452. Die Hauptanstrengung in
dieser Richtung bestand in Russell und Whiteheads Principia Mathematica (London, 1910-1913). Einen
weiteren Versuch stellt Brouwers intuitionistische Methode dar, derzufolge numerisches Denken am Anfang
jeglichen Denkens steht: Als „eine vom menschlichen Geiste vollzogene sprachlose Konstruktion die sich in
restloser Exaktheit entwickelt aus der Ur-Intention der Zwei-Einigkeit.“ Luiken, E.J.: Brouwer: Intuitionismus.
Herausgegeben von Dirk van Dalen, Mannheim 1992, S. 21.

268 Vgl. Tuan, Yi-Fu: a.a.O., S. 200.

269 Capra, Fritjof: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Aktualisierte Ausgabe, München 1991, S. 96f.

nicht etwa die Quantifizierung gänzlich über den Haufen wirft, sondern vielmehr die Grenzen
der klassischen Physik auf anspruchsvolle mathematische Weise ausdrückt. Wie Gillispie
prägnant formulierte, war die kartesianisch-newtonsche physikalische Theorie „eine
Anwendung der euklidischen Geometrie auf den Raum, die allgemeine Relativitätstheorie
eine Verräumlichung Riemanns nichtlinearer Geometrie und die Quantenmechanik eine
Naturalisierung der statistischen Wahrscheinlichkeitstheorie.“270 Und noch prägnanter: „Natur
ist, vor und nach der Quantentheorie, das mathematisch zu erfassende.“271
Des weiteren wurden während der ersten drei Jahrzehnte des zwangzigsten Jahrhunderts die
durch Russell sowie Whitehead, Hilbert und anderen angestrengten großen Versuche einer
sicheren Grundlegung der Mathematik mit beträchtlichem Optimismus fortgesetzt. 1931
jedoch ließ Kurt Gödel diese Hoffnungen durch sein Unvollständigkeitstheorem zerplatzen,
welches zeigt, dass ein symbolisches System entweder vollständig oder widerspruchsfrei,
nicht jedoch beides sein kann. Gödels vernichtender mathematischer Beweis dieses Theorems
offenbart nicht nur die Grenzen axiomatischer Zahlensysteme, sondern verunmöglicht den
Einschluss der Natur durch jede Art widerspruchsfreier, abgeschlossener Sprache. Wenn es
Theoreme oder Behauptungen innerhalb eines Gedankensystems gibt, die intern weder
bewiesen noch widerlegt werden können, so ist es unmöglich, mit der verwendeten Sprache
einen Beweis für seine Widerspruchsfreiheit zu geben. Gödel und seine direkten Nachfolger
Tarski und Church legten dies überzeugend dar: „Jedes System von Wissen über die Welt ist
und bleibt prinzipiell unvollständig, auf ewig offen für Revisionen.“272
Morris Klines Mathematics: the Loss of Certainty gibt einen Bericht über den „Schaden,“
welcher der einst so unverwundbaren Mathematik durch Gödel zugefügt wurde.273 Die
Mathematik scheitert wie die Sprache mit ihrem Totalisierungsstreben auf die gleiche Weise,
wie auch der Kapitalismus sich selbst keine unerschütterlichen Fundamente verleihen kann.
Durch Gödels Theorem musste weiterhin nicht nur festgestellt werden, „dass die Mathematik
weit abstrakter und formaler ist, als traditionell angenommen war,“274 sondern es wurde auch
offensichtlich, dass „die Quellen des menschlichen Intellekts nicht vollständig formalisiert
wurden und daß dies auch in Zukunft nicht möglich ist.“275
Aber wer würde leugnen, dass uns in der Praxis die Quantität beherrscht, ob mit oder ohne
endgültig aufgebesserte theoretische Grundlagen? Es hat den Anschein, dass die menschliche
Hilflosigkeit in direkt proportionalem Verhältnis zu der mathematisch-technologischen
Naturbeherrschung steht, oder, wie Habermas Adorno paraphrasiert, „die Unterjochung der
äußeren Natur nur in dem Maße der Unterdrückung der eigenen gelingt.“276 Und mit
Sicherheit wird unser Verhältnis zur Welt durch die mit der Zahl untrennbar verbundene
Arbeitsteilung beeinträchtigt. Eher ungewollt verdeutlichte Raymond Firth in einer

270 Gillispie, Charles C.: a.a.O., s. 87.

271 Horkheimer Max / Adorno, Theodor W.: a.a.O., S. 31.

272 Rucker, Rudy: Infinity and the Mind, Boston 1982, S. 161.

273 Kline, Morris: a.a.O., S. 3.

274 Nagel, Ernest und Newman, James R.: Der Gödelsche Beweis, München 1971, S. 17.

275 Ebd., S. 99.

276 Habermas, Jürgen: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt 1971, S. 186.


beiläufigen Bemerkung die Beschränktheit der fortgeschrittenen Spezialisierung: „Die


Behauptung, dass Symbole Werkzeuge des Wissens sind, wirft erkenntnistheoretische
Probleme auf, deren Behandlung die Fachkenntnisse von Anthropologen weit überfordert.“277
Auf einen anderen Zusammenhang verweist Singh, der angesichts einer immer
differenzierteren Arbeitsteilung und eines mehr und mehr technisierten sozialen Lebens
bemerkte, dass „die Automatisierung von Rechenprozessen unmittelbar den Weg für die
Automatisierung industrieller Operationen bereitet hat.“278
Heute manifestiert sich die mathematisierte, mechanische Arbeit neotayloristisch quantifiziert
in Form von sinnentleerter computerisierter Büroarbeit vor elektronischen Displays – Zeichen
der anbrechenden „Informationsgesellschaft.“ Arbeit mit Informationen ist nun die
bedeutendste wirtschaftliche Aktivität und Information die Ware der Zukunft,279 womit sich in
wesentlichen Zügen die Prophezeiungen aus Shannons Informationstheorie der späten
vierziger Jahre erfüllen, in der „die Produktion und Übermittlung von Information quantitativ
definiert werden konnten.“280
Auf seinem Weg von Wissen zu Information zu Daten führte der mathematisierende Impetus
immer weiter fort von Sinn und Bedeutung, eine Tendenz, die ein direktes Pendant im Bereich
der „Ideen“ (wohlgemerkt derjenigen ohne Ziele oder Inhalte) besitzt: das Aufkommen von
Strukturalismus und Poststrukturalismus. Die „globale Kommunikationsrevolution“ stellt ein
weiteres aufschlussreiches Phänomen dar, wie ein bedeutungsloser „Input“ unmittelbar
verbreitet werden kann; sofort und überall verfügbar für Menschen, die wie nie zu vor in
Isolation leben.281
In dieses geistige Vakuum tritt ohne falsche Bescheidenheit der Computer. 1950 antwortete
Turing auf die Frage „Können Maschinen denken?“: „Ich glaube, dass sich bis zum Ende des
Jahrhunderts der Gebrauch von Worten und die Allgemeinbildung so sehr verändert haben
werden, dass wir dann unwidersprochen von denkenden Maschinen reden können.“282
Bemerkenswerterweise sagt diese Antwort überhaupt nichts über den Zustand von Maschinen,
eine ganze Menge jedoch über den der Menschen. Während der Druck auf das Leben
zunimmt, immer quantifizierter und maschinenähnlicher zu werden, entsteht gleichzeitig der
Drang, Maschinen lebensähnlicher zu gestalten.
Mitte der sechziger Jahre hatten tatsächlich bereits einige prominente Stimmen angekündigt,
dass die Unterscheidung von Mensch und Maschine im Begriff sei zu verschwinden – für sie
eine positive Entwicklung. Mazlish kommentierte dies auf unmissverständliche Weise: „Der
Mensch ist dabei, die Schwelle der Diskontinuität zwischen ihm und Maschinen zu
überschreiten ... wir können den Menschen nicht länger ohne die Maschine denken ... mehr

277 Firth, Raymond: Symbols. Public and Private, Ithaca 1973, S. 82.

278 Singh, Jagjit: Great Ideas in Information Theory and Cybernetics, New York 1966, S. 7.

279Dies vor allem angesichts der permanenten Leier vom anbrechenden „Informationszeitalter,“ mit der sich
zumeist die Anweisung verbindet, sich ins Unvermeidliche zu fügen und die neue Wirklichkeit anzuerkennen.

280 Feinstein, Amiel: Foundations of Information Theory, New York 1958, S. 1.

281Die Beispiele sind Legion: der rasche Anstieg an Single-Haushalten seit den 60er Jahren, die Tatsache
(1984), dass der durchschnittliche tägliche Fernsehkonsum in Amerika mehr als 7 Stunden beträgt, etc.

282 Turing, Alan: Computing Machines and Intelligence, in: Mind. Vol. LIX, No. 256 (1950).

noch, diese Veränderung ... ist essentiell für ein gesundes Verhältnis zu unserer industriellen
Welt.“283
In den späten achtziger Jahren hatte das Denken die Maschine so weit imitiert, dass KI-
Experten wie Minsky unverblümt vom Gehirn als einem „Computer aus Fleisch und Blut“284
sprechen konnten. In der kognitiven Psychologie hat sich, ganz im Sinne Hobbes’, in den
Jahren nach Turings Prognose das Computermodell des Denkens zur fast ausschließlichen
Grundlage entwickelt.285 In einem Zeitalter, in dem die Früchte der Wissenschaft zu einer
Bedrohung für alles menschliche Leben werden, in dem ein zusammenbrechender
Kapitalismus alles andere in den Untergang mitreißen könnte, finden wir uns jedoch
möglicherweise mehr denn je gewillt, die letzten Gründe dieses Alptraums zu enträtseln.
Wenn die Welt und ihr Denken (Lévi-Strauss und Chomsky wären in diesem Zusammenhang
zu nennen) einen Zustand erreichen, der in zunehmendem Maße mathematisiert und leer ist,
wo Computer als fühlend und sogar lebendig angepriesen werden,286 ist ein Verständnis der
Anfänge dieser trostlosen Reise – einschließlich der Ursprünge des Zahlenbegriffs –
unumgänglich. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass diese Untersuchung essentiell notwendig
ist, um uns selbst und unsere Menschlichkeit zu retten.

Kunst

Der Inhalt von Kunst ist stets „etwas Verborgenes“. Aber hilft sie uns dabei, eine Verbindung
zu diesem Verborgenen zu finden? Ich denke im Gegenteil, dass sie uns davon weiter entfernt.
Während ihrer ersten Million Jahre als reflektierende Wesen scheinen die Menschen keine
Kunst geschaffen zu haben. Wie Jameson es ausdrückte, hatte die Kunst keinen Platz in der
„unversündigten gesellschaftlichen Realität,“ denn es gab kein Bedürfnis nach ihr. Obwohl
Werkzeuge mit einer erstaunlichen handwerklichen Fertigkeit und Formvollendetheit
geschaffen wurden, muss das alte Klischee des ästhetischen Impulses als eines irreduziblen
Bestandteils menschlichen Geists zurückgewiesen werden.
Die ältesten noch existierenden Kunstwerke sind Abdrücke von Händen, geschaffen durch
Druck oder über den Umriss der Hand geblasene Pigmente – ein dramatisches Zeichen
direkten Eindrucks auf die Natur. Später im Jungpaläolithikum, vor etwa 30.000 Jahren,
erschien recht plötzlich die mit den namen Lascaux und Altamira verbunden Höhlenkunst.
Diese Abbildungen von Tieren besitzen eine oft atemberaubende Lebendigkeit sowie einen
vergleichsweise verblüffenden Naturalismus – zeitgenössische Skulptur, wie die
weitverbreiteten „Venus“-Frauenstatuen, war wesentlich stilisierter. Möglicherweise ist dies
ein Hinweis darauf, dass die Domestikation von Menschen der Domestikation der Natur

283 Mazlish, Bruce: The Fourth Discontinuity. The Co-Evolution of Humans and Machines, New Haven 1993, S.
6f.

284 Gardner, Martin: Logic Machines and Diagrams, Chicago 1982, S. 148.

285 Haugeland, John (Hrsg.): Mind Design. Philosophy, Psychology, Artificial Intelligence, Montgomery 1981,
S. 1.

286Zum Beispiel: Hofstadter, Douglas: a.a.O., S. 720-730; Aleksander, Igor / Burnett, Piers: Die Roboter
kommen. Wird der Mensch neu erfunden?, Basel 1984; McCorduck, Pamela: Denkmaschinen, Haar bei
München 1987; Simons, Geoff: Sind Computer lebendig?, München 1984 – das alles nur eine kleine Auswahl.
Ein populäreres Beispiel ist die Spezialausgabe „Affectionate Machines“ von Psychology Today, Dezember
1983.

vorausging. Jedenfalls stehen mittlerweile die gängigen Theorien der frühen Kunst, die ihr
Augenmerk auf die „sympathetische Magie“ oder die Jagd legen, auf wackligen Fundamenten
angesichts neuerer Erkenntnisse, dass die Natur eher gastlich denn bedrohlich war.
Die buchstäbliche Explosion der Kunst zu dieser Zeit zeugt von einer wie nie zuvor gefühlten
Besorgnis: in Worringers Worten „Schöpfung, um die Qual der Wahrnehmung zu bändigen.“
Genau hier, zu einem Zeitpunkt der Unzufriedenheit, tritt erstmalig das Symbolische in
Erscheinung. Es handelte sich um eine gesellschaftliche Besorgnis; die Menschen bemerkten,
dass ihnen etwas Kostbares schwand. Die rasche Entwicklung der frühesten Rituale und
Zeremonien begleitet die Geburt der Kunst, und wir erinnern uns der frühesten ritualischen
Vergegenwärtigungen des „Anfangs“, des ursprünglichen paradiesischen Zustands einer
zeitlosen Gegenwart. Bildhafte Darstellung erweckte den Glauben, Verlust beherrschen zu
können, den Glauben an Zwang.
Gleichzeitig sind die ersten Anzeichen einer symbolischen Spaltung, wie beispielsweise bei
den halb menschlichen, halb tierischen Steingesichtern von El Juyo, zu erkennen. Die Welt
wird in entgegengesetzte Mächte aufgeteilt, und durch dieses Prinzip der binären Teilung
entsteht der Gegensatz von Kultur und Natur, womit die weitere Entwicklung zu einer
produktionsorientierten, hierarchischen Gesellschaft möglicherweise bereits hier beschlossen
ist.
Die Einheit der Wahrnehmungsordnung bricht angesichts einer zunehmend komplexen
gesellschaftlichen Ordnung allmählich zusammen. Die Gleichzeitigkeit der sinnlichen
Wahrnehmung wird ersetzt durch eine Hierarchie der Sinne, in der das Visuelle sich stets
weiter von den anderen Sinnen absetzt und nach seiner Vervollständigung in artifiziellen
Bildern wie beispielsweise den Höhlenzeichnungen strebt. Lévi-Strauss entdeckte zu seiner
Verblüffung einen Stamm von Menschen, die die Fähigkeit besessen hatten, bei Tage die
Venus zu sehen – auch unsere Fähigkeiten müssen einst so ausgeprägt gewesen sein, noch
dazu nicht geordnet oder in ihre einzelnen Bestandteile aufgeteilt. Die Verfeinerung des
Sehvermögens, um kulturelle Gegenstände aufzunehmen, beinhaltete war gleichzeitig von
einer Unterdrückung von Unmittelbarkeit in einem intellektuellen Sinn begleitet: Die
Wirklichkeit wurde entfernt zugunsten einer nur ästhetischen Erfahrung. Kunst anästhesiert
die Sinnesorgane und entfernt die natürliche Welt aus deren Geltungsbereich. Dadurch
reproduziert sich die Kultur, die diese Einschränkung niemals kompensieren kann.
Und so nimmt es kaum Wunder, dass an dieser Stelle die ersten Anzeichen für eine Abkehr
von den egalitären Prinzipien auftauchen, die das Jäger/Sammler-Leben ausgemacht haben.
Der schamanistische Ursprung von visueller Kunst und Musik wurde oft betont, besonders
interessant in diesem Zusammenhang ist die Rolle des Schamanen als erster Spezialist. Es
scheint plausibel, dass die Vorstellungen von Überschuss und Ware zusammen mit dem
Schamanen auftauchten, dessen Aufgabe als Organisator von symbolischer Aktivität weitere
Entfremdung und soziale Schichtung ankündigte.
Kunst ist, wie auch Sprache, ein System symbolischen Austauschs, das den Tausch selbst
einführt. Ebenso ist sie notwendiges Mittel, um eine Gemeinschaft zusammenzuhalten, in der
sich die ersten Symptome von Ungleichheit zeigen. Tolstois Bemerkung, Kunst sei ein „Mittel
der Einigung der Menschen, das sie in ein und denselben Gefühlen vereinigt,“ stellt den
Beitrag der Kunst zum gesellschaftlichem Zusammenhalt beim Anbruch von Kultur heraus.
Die Vergesellschaftung des Rituals war auf die Kunst angewiesen; Kunstwerke entsprangen
dem Dienst am Ritual; die rituelle Produktion von Kunst und die künstlerische Produktion des
Rituals sind das gleiche. „Die Musik,“ schrieb Seu-Ma-Tsen, „ist das Einigende.“

Mit dem Bedürfnis nach Solidarität stieg auch das Bedürfnis nach Zeremonie; die Kunst war
auch in ihrer mnemonischen Funktion von Bedeutung. Kunst, und bald darauf auch der
Mythos, diente als Scheinbild realer Erinnerung. In den Winkeln der Höhlen entwickelten sich
die Frühformen der Indoktrination, die durch Bilder und andere Symbole Regeln in die
depersonalisierte kollektive Erinnerung einschreiben sollten. Nietzsche hielt die Ausbildung
von Erinnerung, und im speziellen die Erinnerung von Verpflichtungen, für den Beginn der
zivilisierten Moralität. Als sich der symbolische Prozess der Kunst gebildet hatte, dominierte
er fortan Erinnerung wie Wahrnehmung und prägte allen geistigen Funktionen seinen Stempel
auf. Kulturelle Erinnerung bedeutet, dass die Handlungen einer Person mit denen einer
anderen verglichen werden können sowie zukünftiges Verhalten erwartet und kontrolliert
werden kann. Erinnerungen wurden externalisiert, gleichsam zu einer Eigenschaft, jedoch
nicht einmal einer Eigenschaft im Besitz des Subjekts.
Kunst macht das Subjekt zum Objekt, zum Symbol. Die Rolle des Schamanen bestand darin,
die Wirklichkeit zu objektivieren; dies widerfuhr der äußeren Natur und der Subjektivität
gleichermaßen – das entfremdete Leben verlangte es. Die Kunst lieferte mit der ihr
innewohnenden Fähigkeit zur Symbolisierung und Steuerung menschlicher Emotionen das
Werkzeug zur begrifflichen Transformation, durch die das Individuum von der Natur getrennt
und gesellschaftlich beherrscht wurde. Was wir als Notwendigkeit zu akzeptieren gelernt
haben, um uns in Natur und Gesellschaft zu orientieren, war im Grunde die Erfindung der
symbolischen Welt, der Sündenfall des Menschen.
Aufgrund der Arbeitsteilung muss die Welt durch Kunst (und menschliche Kommunikation
durch Sprache, und Sein durch Zeit) vermittelt werden, wie wir es im Wesen des Rituals
erkennen. Der wirkliche Gegenstand, seine Partikularität, erscheint nicht im Ritual; es wird
ein Abstraktum verwendet, so dass die Begriffe des zeremoniellen Ausdrucks der
Austauschbarkeit offenstehen. Die für die Arbeitsteilung benötigten Konventionen sind mit
ihrer Standardisierung und dem Verlust des Besonderen die gleichen wie die des Rituals, oder
allgemein der Symbolisierung. Der Prozess ist im Grunde identisch, er basiert auf
Äquivalenz. Die Produktion von Gütern ist, als die Jäger/Sammler-Lebensweise allmählich
zugunsten von Landwirtschaft (historische Produktion) und Religion (volle symbolische
Produktion) aufgegeben wird, ebenso rituelle Produktion.
Der Handelnde ist wiederum der Schamane/Künstler, auf dem Weg zum Priestertum,
Führerfigur aufgrund seiner Beherrschung des eigenen unmittelbaren Begehrens durch das
Symbol. Alles Spontane, Organische und Instinktive muss durch Kunst und Mythos
neutralisiert werden.
Vor nicht allzu langer Zeit stellte der Maler Eric Fischl im Whitney Museum ein Werk aus,
das ein Paar beim Geschlechtsakt zeigte. Eine Videokamera nahm ihre Bewegungen auf und
projizierte sie auf einen Bildschirm vor den beiden. Die Augen des Mannes waren auf das
Videobild geheftet, das offensichtlich wesentlich aufregender war als der Akt selbst. Mit den
plastischen, durch das wechselhafte Licht geradezu dramatisch lebendigen Höhlenmalereien
begann der in Fischls Gemälde exemplifizierte Transfer, durch den sogar die grundlegendsten
Urhandlungen gegenüber ihrer Darstellung sekundär werden. Die konditionierte
Selbstdistanzierung von realer Existenz ist von Anbeginn ein Ziel der Kunst. Auch die
Kategorie des Publikums, des überwachten Konsums, ist kein Novum, denn die Kunst hat
sich schon immer bemüht, das Leben zu einem Gegenstand der Kontemplation zu machen.
Als das Paläolithikum von der neolithischen Instituierung von Landwirtschaft und Zivilisation
– Produktion, Privateigentum, Schriftsprache, Regierung und Religion – abgelöst wurde,
zeigte sich Kultur als geistiger Verfall qua Arbeitsteilung, obwohl sich noch bis zum späten

Eisenalter umfassende Spezialisierung und mechanistische Technologie nicht durchsetzen


konnten.
Die lebendige Darstellungsweise der späten Jäger/Sammler-Kunst wurde ersetzt durch einen
formalistischen und geometrischen Stil, der die Abbilder von Tieren und Menschen auf
symbolische Formen reduzierte. Diese strikte Stilisierung ist ein anschauliches Zeichen dafür,
dass der Künstler sich der Fülle der empirischen Realität verschließt und ein symbolisches
Universum schafft. Die Kargheit der linearen Präzision ist eines der Markenzeichen für diesen
Wendepunkt, ganz im Sinne der Yoruba, die Linie und Zivilisation gleichsetzen: „Dieses Land
ist zivilisiert geworden“ heißt in ihrer Sprache wörtlich „Diese Erde hat Linien auf ihrer
Oberfläche.“ Die starren Formen einer wahrhaft entfremdeten Gesellschaft sind überall
offensichtlich; Gordon Childe beispielsweise spielt auf diesen Aspekt an, wenn er bemerkt,
dass die Gefäße einer neolithischen Siedlung alle gleich aussehen. Auch der Krieg tritt nun, in
Form von dargestellten Kampfszenen, zum ersten Mal in der Kunst in Erscheinung.
Das Kunstwerk war zu dieser Zeit in keiner Weise autonom; es diente der Gesellschaft in
einem direkten Sinn, als Instrument für die Bedürfnisse der neuen Kollektivität. Während des
Paläolithikums hatte es keine Gottesverehrung, keine Kulte gegeben, aber nun herrschte die
Religion, und es sollte daran erinnert werden, dass fortan für tausende von Jahren die
Funktion der Kunst darin bestehen sollte, die Götter abzubilden. Inzwischen hatte sich in allen
Kulturen bewahrheitet, was Glück an der afrikanischen Stammesarchitekur herausstrich:
Heilige Gebäude wurden errichtet; als Modell fungierten die der säkularen Herrscher. Und
obwohl die ersten signierten Werke nicht vor der griechischen Spätanktike auftauchen,
erscheint es nicht unangemessen, bereits hier die Verwirklichung der Kunst anzusetzen und
uns der Beschreibung einiger ihrer allgemeinen Kennzeichen zuzuwenden.
Kunst produziert nicht nur die Symbole der Gesellschaft und für sie, sie ist ein
Grundbestandteil der symbolischen Matrix unseres entfremdeten sozialen Lebens. Oscar
Wilde bemerkte, dass „das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben;“
was bedeutet, dass das Leben der Symbolisierung folgt – wohlgemerkt eine Symbolisierung,
die vom (deformierten) Leben erst hervorgebracht wird. Nach T.S. Eliot ist jede Kunstform
„ein Angriff auf das Unausgesprochene.“ Besser gesagt: auf das Unsymbolisierte.
Maler und Dichter wollten beide schon immer die Stille hinter und inmitten der Kunst und der
Sprache erreichen, was die Frage aufwirft, ob nicht das Individuum, das sich dieser
Ausdrucksweisen bedient, sich mit viel zu wenig zufrieden gibt. Obwohl sich Bergson dem
Ziel eines Denkens ohne Sprache zu nähern versuchte, scheint ein solcher Durchbruch
unmöglich ohne und außerhalb einer aktiven Abschaffung sämtlicher Schichten von
Entfremdung. In den Extremsituationen revolutionärer Augenblicke hat unmittelbare
Kommunikation oft floriert, wenn auch – bis jetzt – nicht von Dauer.
Die primäre Funktion von Kunst ist die Vergegenständlichung von Emotionen, durch die
unsere eigenen Motivationen und Identitäten in Symbol und Metapher transformiert werden.
Jegliche Kunst wurzelt als Symbolisierung in der Produktion von Substituten, Surrogaten für
etwas anderes; ihrer wahren Natur nach ist sie also Fälschung. Unter dem Vorwand der
Bereicherung unserer Erfahrung akzeptieren wir stellvertretende, symbolische
Beschreibungen und Anweisungen, wie wir zu fühlen haben, ohnehin darauf gedrillt, solche
öffentlichen Gefühlsdarstellungen der rituellen Kunst für unsere psychische Sicherheit zu
benötigen.
Leben in der Zivilisation wird fast vollständig durch Symbole vermittelt gelebt. Nicht nur
wissenschaftliche oder technologische Tätigkeit, sondern auch ästhetische Form besteht aus
einem Kanon von Symbolen, der sich oftmals auf recht wenig geistige Weise ausdrückt. Zum

Beispiel wird allgemein beteuert, dass die Leistungen der Kunst auf einer begrenzten Zahl
mathematischer Formen beruhen. Darauf zielen auch Cézannes berühmte Forderung, „die
Natur gemäß Kugel, Kegel und Zylinder“ zu behandeln, sowie Kandinskys Bemerkung „Der
Aufprall des rechten Winkels auf ein Dreieck oder einen Kreis produziert eine ebenso
machtvolle Wirkung wie Michelangelos Finger Gottes, der den Finger Adams berührt.“ Wie
Charles Peirce feststellte, ist der Zweck des Symbols seine Übersetzung in ein weiteres
Symbol, also eine unendliche Reproduktion, mit einer immer weiteren Verdrängung des
Realen.
Obwohl sich Kunst nicht primär mit dem Schönen beschäftigt, hat ihre Unfähigkeit, der Natur
auf sinnlichem Gebiet gleichzukommen, viele Vergleiche zu ihrem Ungunsten
hervorgebracht. „Mondlicht ist Skulptur,“ schrieb Hawthorne; Shelley pries die „unbewusste
Kunst“ der Lerche; Verlaine erklärte das Meer für schöner als alle Kathedralen. Und so weiter,
mit Sonnenuntergängen, Schneeflocken, Blumen, etc., jenseits der symbolischen Produktion
von Kunst. Hans Arp jedenfalls meinte, das „vollkommenste Bild“ sei nichts weiter als „ein
warziges, filziges Ungefähr, ein getrockneter Brei.“
Warum also sollten wir positiv auf Kunst reagieren? Höchstens wegen ihrer Fähigkeit als
Kompensation und Schmerzmittel, weil unsere Beziehung zu Natur und Leben so defizient ist
und keine authentische zulässt. Wie es Montherlant ausdrückte, erfüllt der Künstler „seine
Kunst damit, womit er seine eigene Existenz nicht erfüllen konnte.“ Dies gilt für Künstler und
Publikum gleichermaßen; Kunst entspringt wie Religion dem unerfüllten Begehren.
Kunst sollte – im Sinne von Nietzsches Aphorismus „Wir haben die Kunst, um nicht an der
Wahrheit zugrunde zu gehen“ – als religiöse Tätigkeit und Kategorie bezeichnet werden. Ihre
Funktion als Trost erklärt die weitverbreitete Präferenz der Metapher gegenüber einer direkten
Beziehung zum realen Gegenstand. Wenn das Vergnügen irgendwie von all seinen
Restriktionen befreit werden könnte, wäre das Resultat die Antithese zur Kunst. Im
beschädigten Leben jedoch gibt es keine Freiheit außerhalb der Kunst, und daher wird selbst
ein kleiner, deformierter Teil der Fülle des Seins begrüßt. „Ich schaffe, um nicht weinen zu
müssen,“ gestand Klee.
Dieser abgetrennte Bereich künstlichen Lebens ist zugleich wichtig und dennoch Teil des real
existierenden Alptraums. In seiner institutionalisierten Trennung verhält er sich ähnlich wie
Religion und Ideologie allgemein, indem seine Elemente nicht wirklich werden und dies auch
nicht können; das Kunstwerk ist eine Ansammlung unverwirklichter – es sei denn auf
symbolische Weise – Möglichkeiten. Weil es seine Entstehung dem oben erwähnten
Verlustgefühl verdankt, entspricht es der Religion nicht nur aufgrund seiner Beschränkung auf
eine ideale Sphäre und seines Verzichts auf jeglichen material wirksamen Widerspruch,
sondern es kann deswegen auch niemals mehr denn gründlich entschärfte Kritik sein.
Obwohl oft mit Spiel verglichen, fungieren Kunst und Kultur – wie auch Religion – vielmehr
als Generatoren von Schuld und Unterdrückung. Vielleicht sollten die spielerische Funktion
von Kunst und ihr oft gehörter Anspruch auf Transzendenz einer Revision unterzogen werden,
ähnlich wie auch die Bedeutung von Versailles neu bewertet werden könnte, wenn wir uns das
Elend der Arbeiter vergegenwärtigen, die bei der Trockenlegung seiner Sümpfe ihr Leben
lassen mussten.
Clive Bell verwies auf die Intention der Kunst, uns von der Welt der täglichen Mühsal „hin zu
einer Welt der Ekstasen“ zu tragen und verglich sie in diesem Aspekt mit der Religion.
Malraux zollte der konservativen Institution Kunst seinen Tribut, als er schrieb, ohne
Kunstwerke würde die Zivilisation „binnen fünfzig Jahren“ zusammenbrechen und „Sklave
von Instinkten und elementaren Träumen“ werden.

Hegel versicherte, Kunst und Religion hätten auch „dies gemeinsam, nämlich vollständig
allgemeine Dinge zum Inhalt zu besitzen.“ Dieses Merkmal der Allgemeinheit, der Bedeutung
ohne konkreten Bezug, zeichnet dafür verantwortlich, dass Ambiguität zu einem distinkten
Charakteristikum von Kunst wird.
Während dies zumeist positiv bewertet wird, als Offenbarung einer Wahrheit jenseits der
Kontingenzen von Raum und Zeit, verweist die Unmöglichkeit einer solchen Formulierung
jedoch auf ein weiteres Moment der Unwahrheit an der Kunst. Kierkegaard sah den
entscheidenden Zug der ästhetischen Haltung in ihrer bereitwilligen Akzeptanz sämtlicher
Standpunkte und der Vermeidung einer Wahl. Einen Beleg für diese These finden wir in dem
stetigen Kompromiss, durch den Kunst nur durch gleichzeitige Nichtanerkennung ihrer
Absichten und Inhalte Wertschätzung erfährt: Es sei ja nur Kunst.
Heute ist Kultur eine Ware und Kunst möglicherweise die ausgezeichnete Ware. Eine
Darstellung als Produkt einer zentralisierten Kulturindustrie, à la Horkheimer und Adorno,
trifft nicht das Wesen der Situation. Vielmehr erleben wir eine Massendiffusion von Kultur,
die ihre Stärke gerade aus ihrer Angewiesenheit auf Partizipation zieht, wobei wir nicht
vergessen sollten, dass die Kritik auf die Kultur selbst, und nicht auf ihre vermeintliche
Kontrolle zielen muss.
Das tagtägliche Leben ist durch und durch ästhetisiert, eine Sättigung durch Bilder und
Musik, deren Produktion hauptsächlich durch die elektronischen Medien geschieht, der
Repräsentation von Repräsentation. Bild und Ton werden in ihrer Omnipräsenz zum Zeichen
einer Leere, bar jeglicher Bedeutung für das Individuum. Inzwischen hat sich der Abstand
zwischen Künstler und Zuschauer verringert, eine Verengung, die allerdings nur die absolute
Distanz zwischen ästhetischer Erfahrung und dem offenbart, was wirklich ist. Damit entsteht
eine perfekte Doppelung des Spektakels: eine getrennte, manipulierende ästhetische
Erfahrung und die Demonstration politischer Macht.
Obwohl Avantgardebewegungen eine Reaktion auf die zunehmende Mechanisierung des
Lebens waren, konnten sie dem spektakulären Wesen der Kunst nicht mehr Widerstand
entgegensetzen als ihre orthodoxen Widerparts. Tatsächlich ließe sich behaupten, der
Ästhetizismus sei radikaler als die Bemühung, Entfremdung mit ihren eigenen Mitteln zu
überwinden. Die Bewegung l’art pour l’art des späten neunzehnten Jahrhunderts war eine
reflektierte Ablehnung der Welt, die Avantgardebestrebungen dagegen eher der Versuch, das
Leben um die Kunst zu organisieren. Ein berechtigtes Moment des Zweifels steht hinter dem
Ästhetizismus, die Einsicht, dass durch Arbeitsteilung die Erfahrung verarmt und Kunst zu
einer weiteren Spezialdisziplin geworden ist: Die Kunst legte ihre illusorischen Ambitionen
ab und wurde zu ihrem eigenen Inhalt.
Die Avantgarde setzte sich meistens weitreichendere Ziele; möglicherweise ein Versuch, jene
Führungsrolle geltend zu machen, die ihr vom modernen Kapitalismus versagt wurde. Sie
lässt sich nur als Institution der technologischen Gesellschaft und deren Fixiertheit auf das
Neuartige begreifen; im Hintergrund steht dabei die progressivistische Vorstellung, dass die
Wirklichkeit ständig aktualisiert werden muss.
Allerdings mutet die Avantgardekultur gegenüber der modernen Welt recht zahnlos an, wenn
es um das - nicht nur symbolische – Potenzial zum Schock und zum Tabubruch geht. Ihr
Untergang ist nur ein weiteres Indiz, dass der Mythos vom Fortschritt abgewirtschaftet hat.
Dada war eine der letzten beiden bedeutenden Avantgardebewegungen, die ihre Negativität
nicht zuletzt dem Gefühl eines allgemeinen historischen Zusammenbruchs im Umkreis des
Ersten Weltkriegs verdankte. Seine AnhängerInnen behaupteten beizeiten die Ablehnung aller
„Ismen“, einschließlich der Idee von Kunst überhaupt. Aber die Abschaffung von Malerei

oder Bildhauerei lässt sich nicht durch die Malerei oder Bildhauerei erreichen, denn alle
symbolische Kultur beruht auf der Kooptation von Wahrnehmung, Ausdruck und
Kommunikation. Vielmehr war Dada eine Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksweisen,
sein Angriff auf die Rigidität und Irrelevanz bürgerlicher Kunst ein Katalysator für den
Fortschritt der Kunst – Hans Richters Memoiren verweisen auf die „von Dada initiierte
Erneuerung der Bildkünste.“ Hätte der erste Weltkrieg die Kunst beinahe zerstört, so haben
sie die Dadaisten in radikaler Weise reformiert.
Im Surrealismus stand zum letzten Mal der politische Auftrag der Kunst im Vordergrund.
Bevor sie schließlich in Richtung Trotzkismus und/oder Ruhm in der Kunstszene
verschwanden, propagierten die Surrealisten den Zufall und das Primitive als Wege, um das
von der Gesellschaft im Unbewusstsein eingeschlossene „Wunderbare“ freizusetzen. Dieser
zum Scheitern verurteilte Versuch, die Kunst in das Alltagsleben zurückzuholen und es so zu
verwandeln, verkannte das Verhältnis von Kunst und repressiver Gesellschaft. Die wahre
Grenze verläuft nicht zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität – sie sind ein und
dasselbe – sondern zwischen dem Begehren und der existierenden Welt. Das surrealistische
Ziel eines neuen Symbolismus und einer neuen Mythologie baute auf diesen Kategorien auf
und misstraute unvermittelter Sinnlichkeit. So bemerkte Breton dazu: „Vergnügen ist eine
Wissenschaft; die Ausübung der Sinne verlangt eine persönliche Inititiation, und dafür
benötigen wir die Kunst.“
Die abstrakte Kunst nahm den vom Ästhetizismus begonnenen Trend wieder auf, indem sie
die Überzeugung vertrat, nur durch eine drastische Einschränkung des Visuellen könne die
Kunst überleben. Als sie Ausschmückung und Ornament auf das für eine formale Sprache
kleinstmögliche Maß reduzierte, wurde die Kunst mehr und mehr selbstbezogen in ihrer
Suche nach einer Reinheit, die dem Narrativen feindlich gegenüberstand. In ihrer
Verweigerung, etwas zu repräsentieren, ist moderne Kunst bewusst nichts weiter als eine
flache Oberfläche mit Farbe darauf.
Jedoch kam der Versuch, die Kunst von jeglichem symbolischen Wert zu befreien, das
Beharren auf dem Kunstwerk als eigenständigem Ding in einer Welt von Dingen, praktisch
eher einer Selbstzerstörung gleich. Die „radikale Physikalität“ stellte, wenn sie sich auch einer
Aversion gegen Autorität verdankte, in ihrer Dinghaftigkeit niemals etwas anderes dar als den
einfachen Warencharakter. Die sterilen Muster eines Mondrian und die wiederholten
schwarzen Quadrate eines Reinhardt reflektieren diese Affirmation ebenso wie die
fürchterliche Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts. Die modernistische
Selbstauslöschung wurde von Rauschenberg 1953 in seinem erased drawing parodiert, das
Produkt einer monatelangen Ausradierung eines Gemäldes von De Kooning. Der Kunstbegriff
wurde in den fünfziger Jahren, trotz Duchamps berühmter Präsentation eines Urinals in einer
Kunstausstellung von 1917, zu einer offenen Frage und ist seitdem stets undefinierbarer
geworden.
Die Pop Art bewies die Durchlässigkeit der Grenzen von Kunst und Massenkultur wie etwa
Werbung oder Comics. Ihr oberflächlicher und massenproduzierter Stil ist der der gesamten
Gesellschaft; und der distanzierte, ausdruckslose Charakter von Warhol und seinen Produkten
ist lediglich deren adäquate Zusammenfassung. Banale, moralisch leichtgewichtige,
entpersonalisierte Bilder, zynisch manipuliert und lanciert durch modebewusste
Marketingstrategien: Die Nichtigkeit der modernen Kunst und ihrer Welt liegt offenbar.
Die Verbreitung von Kunststilen in den sechziger Jahren – Konzeptkunst, Minimal Art,
Performancekunst, usw. – und die sich beschleunigende Obsoletheit der meisten Kunst rief
die „Postmoderne“ ins Leben: Der formale Purismus der modernistischen Periode wurde

durch einen eklektizistischen Mix vergangener Stile ersetzt. Im Grunde ist die Postmoderne
nur ein müdes und geistloses Recyclen verbrauchter Fragmente, mit der Ankündigung, die
Entwicklung der Kunst sei an ihr Ende gelangt. Zudem kann sie der globalen Entwertung des
Symbolischen kaum etwas entgegensetzen, sie ist unfähig, neue Symbole zu schaffen und
unternimmt auch keinen nennenswerten Versuch in dieser Richtung.
Bisweilen beklagen Kritiker wie Thomas Lawson das Unvermögen zeitgenössischer Kunst,
„als Stachel eines wirklichen Zweifels zu fungieren“, wobei ihnen entgeht, dass eine recht
beachtliche Bewegung von Zweiflern die Existenzberechtigung der Kunst überhaupt in Frage
stellt. Solche „Kritiker“ begreifen nicht, dass Kunst notwendig Entfremdung bleiben und als
solche aufgehoben werden muss, dass Kunst im Verschwinden begriffen ist, denn die
althergebrachte Trennung von Natur und Kunst ist ein Todesurteil für diese Welt, die es zu
verlassen gilt.
Die dekonstruktivistische Bewegung setzte sich ihrerseits zum Ziel, Literatur und im
umfassenden Sinn „Texte“, Systeme von Signifikationen sämtlicher Kulturen zu dekodieren.
Jedoch wird dieser Versuch, vermeintlich verborgene Ideologie zu enthüllen, bereits im Keim
erstickt durch die Weigerung, Ursprünge oder historische Kausalitäten anzuerkennen, eine
vom Strukturalismus/Poststrukturalismus übernommene Aversion. Derrida, der
Hauptprotagonist der Dekonstruktion, behandelt Sprache als Solipsismus, somit verwiesen
auf eine Selbstinterpretation, die weniger eine kritische Aktivität als vielmehr ein Schreiben
über das Schreiben darstellt. Keine Dekonstruktion einer betroffenen Wirklichkeit, sondern
lediglich eine akademische Selbstgenügsamkeit, bei der die Literatur, wie zuvor die moderne
Malerei, niemals über die Beschäftigung mit ihrer eigenen Oberfläche hinausgelangt.
Inzwischen finden wir, nicht zuletzt seit Piero Manzoni seine eigenen Fäkalien in Dosen
verpackt und in einer Galerie verkauft hat, und seit Chris Burden sich selbst in den Arm
geschossen und an einen VW hat nageln lassen, in der Kunst zunehmend Metaphern und
Verweise auf ihr eigenes Ende, wie zum Beispiel die Selbstportraits von Anastasi – mit
geschlossenen Augen. „Ernste“ Musik ist lange tot und Popmusik verarmt immer mehr; die
Dichtung nähert sich dem Kollaps und verschwindet aus dem Blickfeld; das Theater, nach der
Episode über das Absurde nun beim Stummen angelangt, liegt in den letzten Zügen; der
Roman schließlich wird von der Sachliteratur als der einzig adäquaten Weise ernsthaften
Schreibens in den Hintergrund gedrängt.
In einer erschöpften, entnervten Zeit, in der Sprechen bedeutet, weniger zu sagen, kann die
Kunst nicht viel sagen. Angesichts einer Gesellschaft, in der Würde keinen Platz mehr fand,
fühlte sich Baudelaire verpflichtet, auf der Würde des Dichters zu beharren. Wie unentrinnbar
ist die Wahrheit dieser Verhältnisse anderthalb Jahrhunderte später, und um wieviel
fadenscheiniger der Trost einer „zeitlosen“ Kunst!
Adorno begann sein Buch folgendermaßen: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts,
was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum
Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“ Aber letzten Endes affirmiert die Ästhetische Theorie
die Kunst, wie es auch Marcuses letztes Werk tat. Beide zeugen von Verzweiflung und der
unendlichen Schwierigkeit, die hermetische Ideologie der Kultur anzugreifen. Und obwohl
uns andere „Radikale“ wie beispielsweise Habermas weismachen wollen, dass das Verlangen,
symbolische Vermittlung abzuschaffen, irrational ist, offenbart das Vertrauen auf unsere
Herzen und Hände mehr und mehr die Armut der Kunst. Auf unserem Weg werden wir das
Symbolische und die Kunst zurücklassen müssen. Spiel, Kreativität, Expressivität und
wirkliche Erfahrung werden in diesem Moment von neuem beginnen.

Ackerbau

Landwirtschaft, die unverzichtbare Grundlage von Zivilisation, entstand ursprünglich, als sich
Zeit, Sprache, Zahl und Kunst durchgesetzt hatten. Als Materialisation von Entfremdung ist
Ackerbau der Triumph von Fremdheit und die definitive Grenze zwischen Kultur und Natur
und zwischen Menschen untereinander.
Landwirtschaft markiert die Geburtstunde von Produktion und dessen Begleiterscheinungen,
der Deformation von Leben und Bewusstsein. Das Land selbst wird zu einem
Produktionsmittel und die Tier- und Pflanzenarten des Planeten seine Objekte. Wilde oder
zahme Tiere, Unkraut oder Feldfrüchte bezeugen diese Dualität, die die Seele unseres Seins
verkümmern lässt, die lange Periode ehemaliger Einheit mit der Natur beendet und relativ
schnell in den Despotismus, Krieg und die Armut der Hochzivilisationen mündet. Der
erzwungene Vormarsch der Zivilisation, den Adorno in der „Vermutung einer irrationalen
Katastrophe in den Anfängen“ erkannte, von dem Freud meinte, er sei einer widerstrebenden
Mehrheit auferlegt worden, bei dem Stanley Diamond nur „Zwangsverpflichtete, keine
Freiwilligen“ entdecken konnte -, dieser Marsch wurde von der Landwirtschaft befohlen. Und
Eliade hatte vollkommen recht mit seiner Einschätzung, dass ihre Ankunft „Umwälzungen
und geistige Umstellungen zur Folge hatte, deren Gewicht wir uns schwer vorstellen können.“
„Die menschliche Landschaft zu nivellieren, zu uniformieren, ihre Unregelmäßigkeiten zu
glätten und jede Überraschung zu verhindern.“ – diese Worte von E.M. Cioran beschreiben in
treffender Weise die Logik des Ackerbaus, der als Verkörperung und Erzeuger getrennten
Lebens das Ende eines hauptsächlich durch sinnliche Aktivität gekennzeichneten Lebens
markierte. Künstlichkeit und Arbeit haben seitdem stets zugenommen und werden gemeinhin
in den Begriff der Kultur gefasst: Durch Domestikation von Tieren und Pflanzen
domestizierte der Mensch auch zwangsläufig sich selbst.
Geschichtliche Zeit wie auch Landwirtschaft sind der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht
inhärent, sondern dieser auferlegt worden. Die Dimension von Zeit oder Geschichte ist eine
Funktion von Unterdrückung, deren Grundlagen Produktion und Ackerbau sind. Das Leben in
Jäger/Sammler-Gesellschaften war anti-zeitlich in seiner simultanen und spontanen Offenheit;
landwirtschaftliches Leben hingegen erzeugt einen Sinn für Zeit durch die Enge seiner
Arbeitsabfolge, seiner geregelten Routine. Als die Unabgeschlossenheit und Vielfalt des
paläolithischen Lebens dem buchstäblichen Einschluss durch Ackerbau weichen musste,
wurde auch der Machtanspruch der Zeit – nun selbst als abgeschlossener Raum vorgestellt –
durchgesetzt. Formalisierte zeitliche Referenzpunkte – beispielsweise Zeremonien an festen
Daten, Tage mit bestimmten Namen, usw. – sind essentiell für die Organisation der
Produktionswelt, und als Zeitplan für Produktion ist der Kalender integraler Bestandteil der
Zivilisation. Umgekehrt wäre nicht nur die industrielle Gesellschaft unmöglich ohne
Zeitpläne – das Ende der Landwirtschaft, Grundlage jeglicher Produktion, wäre auch das
Ende der historischen Zeit.
Repräsentation beginnt mit der Sprache, ein Mittel, um das Begehren einzuschränken. Durch
Ersetzen von autonomen Bildern mit verbalen Symbolen wird das Leben verarmt und unter
strenge Herrschaft gebracht; jede direkte, unvermittelte Erfahrung wird unter diese höchste
Form symbolischen Ausdrucks subsumiert. Die Sprache zerschneidet und organisiert die
Wirklichkeit, wie Benjamin Whorf es formulierte, und diese Zerlegung von Natur, ein Aspekt
von Grammatik, bereitet den Boden für die Landwirtschaft. Tatsächlich meinte Julian Jaynes,
die neue linguistische Mentalität habe direkt zum Ackerbau geführt. Jedenfalls steht außer
Frage, dass die hauptsächlich durch das Bedürfnis nach Aufzeichnung landwirtschaftlicher

Transaktionen ins Leben gerufene Kristallisation von Sprache zur Schrift das endgültige
Signal für den Beginn der Zivilisation darstellte.
In dem nicht-warenförmigen und egalitären Jäger/Sammler-Ethos, dessen Grundlage im
Teilen bestand, war die Zahl nicht erwünscht. Es gab keinen Grund zu quantifizieren; zu
teilen, was ganz war. Diese kulturelle Vorstellung gelangte erst mit der Domestikation von
Tieren und Pflanzen zur vollen Entfaltung. Die zwei einflussreichsten Apologeten der Zahl
belegen eindeutig deren Affinität zu Isolation und Eigentum: Pythagoras, Gründer eines
höchst einflussreichen Kults der Zahl, sowie Euklid, Vater der Mathematik und
Naturwissenschaft, dessen Geometrie ursprünglich der Vermessung von Feldern zwecks
Regelung von Eigentum, Besteuerung und Sklavenarbeit diente. Eine der frühesten
Ausprägungen von Zivilisation, die Häuptlingsgesellschaft, ist nach einer linearen
Rangordnung organisiert, in der jedem Mitglied ein genauer numerischer Platz zugewiesen
ist. Der unnatürlichen Linearität der vom Pflug gezogenen Furchen folgte schon bald jenes
starre rechtwinklige Gitternetz, das bereits die ersten Städte prägte. Ihre beharrliche
Regelmäßigkeit konstituiert selbst eine repressive Ideologie. Nun mit einer mathematischen
Grundlage versehen, ziehen sich die Grenzen der Kultur immer enger.
Auch die Kunst verweist in ihrer Beziehung zur Landwirtschaft auf beide Institutionen. Ihre
ursprüngliche Funktion bestand darin, Wirklichkeit zu interpretieren und zu unterwerfen
sowie Natur zu rationalisieren, womit sie in den Grundzügen mit dem großen geschichtlichen
Wendepunkt, der Landwirtschaft, übereinstimmt. Die prä-neolithischen Höhlenmalereien
waren kühn und voller Leben, ein dynamischer Ausdruck der Begeisterung für animalische
Anmut und Freiheit. Die neolithische Kunst der Bauern und Hirten erstarrte zu stilisierten
Formen; Franz Borkenau nannte ihre Töpferei „eine enge, schüchterne, unbeholfene
Behandlung des Materials und der Form.“ Mit der Landwirtschaft verlor die Kunst ihre
Vielfalt und reduzierte sich auf standardisierte geometrische Formen, die wiederum einer
weiteren Verarmung in eintönige und wiederholte Muster verfielen, eine perfekte Spiegelung
des standardisierten, beschränkten und von Regeln durchzogenen Lebens. Und während es in
der paläolithischen Kunst keine Darstellung kämpfender und sich tötender Menschen gegeben
hatte, entstand während des neolithischen Zeitalters eine gesteigerte Obsession, Kampfszenen
und Zusammenstöße zwischen Menschen abzubilden.
Zeit, Sprache, Zahl, Kunst und all die anderen Kulturausprägungen, die der Landwirtschaft
zeitlich und kausal vorausgingen, beruhen auf Symbolisation. Autonomie existierte, bevor es
überhaupt zu Domestikation und Selbstdomestikation kam; ebenso gab es Rationalität und
Gesellschaftlichkeit vor dem Symbolischen.
Stets und voller Dankbarkeit wird behauptet, die Produktion von Nahrungsmitteln habe die
Entwicklung der kulturellen Fähigkeiten des Menschen ermöglicht. Aber was genau macht
diese Tendenz zum Symbolischen, zur Ausarbeitung und Einführung willkürlicher Formen
aus? Es ist eine wachsende Fähigkeit zur Objektivierung, durch die das Lebende verdinglicht
wird. Symbole sind mehr als die Grundeinheiten der Kultur: Sie schirmen uns ab, entfernen
und entfremden uns von unseren Erfahrungen. Sie klassifizieren und beschränken, um uns, in
Leakey und Lewin’s bemerkenswerten Worten, „die ansonsten nahezu untragbare Last,
Erfahrungen in Beziehung zu setzen, abzunehmen.“
Kultur ist von dem Imperativ der Naturbeherrschung geprägt. Die durch Landwirtschaft
geschaffene künstliche Umgebung leistete diese grundlegende Vermittlung; die Einrichtung
von Herrschaftsbeziehungen wurde unterstützt durch den Symbolismus von Gegenständen.
Denn es ist nicht nur die äußere Natur, welche unterworfen wird: Die direkte und unmittelbare

Qualität prä-agrikulturellen Lebens war selbst eine wirksame Barriere gegen Herrschaft,
während Kultur diese stets erweitert und legitimiert.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bereits während des Paläolithikums Gegenständen oder
Vorstellungen gewisse Formen oder Namen zugeteilt wurden, in einem symbolisierenden,
jedoch veränderlichen, unbeständigen, möglicherweise spielerischen Sinn. Der in der
Landwirtschaft anzutreffende Wille zu Gleichförmigkeit und Sicherheit impliziert, dass die
Symbole ebenso statisch und konstant geworden waren wie das landwirtschaftliche Leben.
Standardisierung, Regelgeleitetheit und technologische Differenzierung wirken unter dem
Banner der Arbeitsteilung zusammen, um Symbolisation zu gründen und voranzutreiben. Mit
Beginn der Landwirtschaft ist die symbolische Transformation vollständig und ehemals
authentisches, freies Leben nun von dem Virus der Entfremdung befallen. Es ist der Triumph
kultureller Herrschaft, wie auch der Anthropologe Marshall Sahlins bemerkte: „Die Menge an
Arbeit pro Kopf steigt mit der Evolution von Kultur an, während die Menge an Freizeit
sinkt.“
Heutzutage bewohnen die überlebenden Jäger/Sammler-Kulturen die am wenigsten
„ökonomisch attraktiven“ Landstriche der Welt, in die die Landwirtschaft noch nicht
eingedrungen ist, wie beispielsweise die Eisgebiete der Inuit oder die Wüste der australischen
Aboriginals. Und dennoch erscheint die Ablehnung der bäuerlichen Mühsahl sogar in derart
unwirtlichen Gegenden als lohnend. Die Hadza in Tansania, die philippinischen Tasaday, die !
Kung in Botswana oder auch die !Kung San der Kalahari Wüste – die nach Richard Lees
Berichten eine schwere, mehrjährige Dürreperiode mühelos überlebten, während benachbarte
landwirtschaftliche Kulturen verhungerten – bezeugen alle die Gültigkeit von Hole und
Flannerys These, dass „keine Gruppe auf der Welt mehr Freizeit besitzt als Jäger und
Sammler, die sie hauptsächlich für Spiele, Gespräche und Erholung nutzen.“ Service führte
diesen Zustand auf die „enorme Schlichtheit der Technologie und den Mangel an Herrschaft
über die Umwelt“ bei diesen Gruppen zurück. Und dennoch waren die einfachen
paläolithischen Methoden auf ihre Art und Weise „fortgeschritten.“ Betrachten wir nur eine
grundlegende Kochtechnik wie das Dünsten von Nahrungsmitteln mit Hilfe von heißen
Steinen in einer bedeckten Grube; dies wurde bereits weit vor der Verwendung irgendeiner
Art von Töpferwaren, Kesseln oder Körben praktiziert (somit auch resistent gegen
Überschuss und Austausch) und ist dennoch unter ernährungswissenschaftlichen
Gesichtspunkten die gesündeste Art zu kochen, wesentlich gesünder als beispielsweise das
Kochen in Wasser. Oder betrachten wir die Herstellung solcher Steinwerkzeuge wie jener
langen und außergewöhnlich dünnen „Lorbeerblatt“-Messer, die sogar mit modernen
industriellen Techniken nicht reproduziert werden können.
Die Lebensweise als Jäger und Sammler ist die erfolgreichste und dauerhafteste Anpassung,
die von der Menschheit jemals geleistet wurde. Gelegentlich auftretende prä-agrikulturelle
Phänomene wie die intensive Hortung von Nahrungsmitteln oder die systematische Bejagung
einer einzelnen Spezies können als Anzeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs einer
angenehmeren Lebensweise gewertet werden, die eben deshalb für so lange Zeit so
unverändert geblieben ist, weil sie angenehm war. Für Clark ist „die Armut und die den
ganzen Tag andauernde Plackerei“ der Landwirtschaft der Motor der Zivilisation, „rational“
nur in ihrem ständigen Ungleichgewicht und ihrem logischen Fortschreiten zu immer größerer
Zerstörung, wie noch näher auszuführen sein wird.
Obwohl der Begriff „Jäger/Sammler“ besser „Sammler/Jäger“ heißen sollte (und derart auch
von einer nicht geringen Zahl gegenwärtiger Anthropologen verwendet wird), denn so würde
anerkannt, dass das Sammeln den weitaus größeren Anteil zum Überleben beitrug, steht auch

das Jagen in einem bedeutenden Gegensatz zur Domestikation. Die Beziehung des Jägers zu
dem gejagten Tier, welches unabhängig, frei und sogar relativ gleichgestellt ist, drückt
offensichtlich eine qualitative Differenz zu der des Landwirts oder Hirten zu seinem
versklavten Eigentum aus, über das er als absoluter Herrscher gebietet.
Beweise für den Drang zur Einführung von Herrschaft und Unterdrückung finden sich in den
Zwangsriten und Unreinheitstabus der beginnenden Religion. Zumindest manche der
Grundlagen der letztendlichen Unterwerfung der Welt durch Landwirtschaft liegen dort, wo
mehrdeutiges Verhalten verboten, Reinheit und Entweihung definiert und deren Gültigkeit
durchgesetzt werden.
Lévi-Strauss beschrieb Religion als Anthropomorphismus von Natur; frühere Spiritualität
hatte an der Natur teil, belegte sie nicht mit kulturellen Werten oder Eigenschaften. Das
Heilige meint dasjenige, was getrennt ist; demgemäß gab es stets eine enge Verbindung von
Ritual und Formalisierung, die sich beide mehr und mehr von den Tätigkeiten des
Alltagslebens entfernten und unter die Herrschaft solcher Spezialisten wie Schamanen und
Priester gelangten, zu Hierarchie und institutionalisierter Macht. Religion entsteht, um Kultur
zu (be-)gründen, durch eine „höhere“ Ordnung der Wirklichkeit; in dieser Funktion des
ideologischen Zusammenhalts der Gesellschaft war sie besonders für die unnatürlichen
Erfordernisse der Landwirtschaft von überlebenswichtiger Bedeutung.
In der neolithischen Siedlung Çatal Hüyük in Anatolien war jeder dritte Raum für rituelle
Zwecke reserviert. Pflügen und Säen können Burkert zufolge als Verzichtsriten interpretiert
werden, ein Akt systematischer Unterdrückung in Opferform. Gerade das Opfer, also die
Tötung domestizierter Tiere (oder gar Menschen) für rituelle Zwecke, ist bezeichnenderweise
allgegenwärtig in agrikulturellen Gesellschaften – woanders taucht es nicht auf.
Einige der wichtigsten neolithischen Religionen strebten nach einer symbolischen Heilung
des landwirtschaftlichen Bruchs mit der Natur durch die Mythologie einer Erd-
beziehungsweise Muttergöttin – ein zum Scheitern verurteilter Versuch, die verlorene Einheit
wiederherzustellen. Von ebenso zentraler Bedeutung waren Fruchtbarkeitsmythen: die
ägyptische Osiris, die griechische Persephone, der Baal der Kanaaniter, der Jesus des neuen
Testaments; allesamt Götter, dessen Tod und Auferstehung die Beständigkeit des Bodens (und
nicht zuletzt der menschlichen Seele) bezeugen sollten. Die ersten Tempel reflektieren den
Aufstieg von Kosmologien, denen ein Modell des Universums als Pferch oder Hof
zugrundelag und welche dann umgekehrt die Unterdrückung menschlicher Autonomie
legitimierten. Während, in Redfields Worten, die vorzivilisatorische Gesellschaft „durch
weitgehend inoffizielle, aber kontinuierlich verwirklichte ethische Vorstellungen
zusammengehalten wurde,“ wurden von der Religion Bürger und Bürgerinnen geschaffen und
diesen die Herrschaft über die Alltagsmoral entzogen.
Domestikation bedeutete gleichzeitig die Einführung von Produktion, massiv ansteigender
Arbeitsteilung und sozialer Schichtung. Dies resultierte in einer epochalen Mutation der
menschlichen Existenz und ihrer zukünftigen Entwicklung, welche fortan von stets
wachsender Gewalt und Arbeit überschattet wurde. Entgegen dem Mythos der Jäger/Sammler
als gewalttätig und aggressiv zeigen neue Ergebnisse von Turnbull, dass gegenwärtige nicht-
landwirtschaftliche Kulturen wie die Mbuti („Pygmäen“) anscheinend einen Tötungsakt bei
der Jagd ohne Aggressivität, vielmehr mit Bedauern vornehmen. Demgegenüber existiert eine
enge Verbindung zwischen Kriegsführung und der Bildung von Zivilisationen oder Staaten.
Urmenschen haben nicht um die Gebiete gekämpft, wenn verschiedene Gruppen beim
Sammeln oder der Jagd zusammentrafen. Zumindest tauchen „territoriale“ Konflikte nicht in
der ethnographischen Literatur auf, und ihre Existenz ist umso unwahrscheinlicher in der

Vorgeschichte, als die Ressourcen noch zahlreicher und die Menschen noch nicht mit der
Zivilisation in Kontakt gekommen waren.
Tatsächlich besaßen diese Menschen keine Vorstellung von Privateigentum, insofern ist
Rousseaus bildlicher Einschätzung zuzustimmen, dass die gespaltene Gesellschaft in dem
Augenblick gegründet wurde, in dem ein Mensch zuerst ein Stück Land pflügte, damit
ausdrückte „Dieses Land gehört mir“ und andere ihm dies glaubten. „Mein und dein, die
Wurzeln allen Übels, gibt es bei ihnen nicht,“ stellte Pietro 1511 in seinem Bericht über die
auf Columbus’ zweiter Reise angetroffenen Eingeborenen fest. Jahrhunderte später fragten
überlebende amerikanische Ureinwohner: „Die Erde verkaufen? Warum dann nicht auch die
Luft verkaufen, die Wolken, den Ozean?“ Landwirtschaft schafft und überhöht Besitztümer;
die etymologische Verbindung von Habseligkeiten und Seligkeit ist in diesem Sinne kein
Zufall, wohl aber ein vergeblicher Wunsch.
Auch Arbeit existierte vor der Landwirtschaft nicht als eigenständige Kategorie des Lebens.
Als die Menschen ihr Schicksal mehr und mehr an Ernten und Herden ketteten, räumte die
Nahrungsmittelproduktion mit der allgemeinen Abwesenheit von Ritual und Hierarchie in der
Gesellschaft auf und führte zivilisierte Tätigkeiten wie die erzwungene Arbeit des Tempelbaus
ein. Genau hier liegt die wirkliche kartesianische Trennung von innerer und äußerer
Wirklichkeit begründet, durch die die Natur zu einer lediglich „zu bearbeitenden“ Substanz
herabgewürdigt werden sollte. Auf dieser Bereitschaft zu einer sesshaften und sklavischen
Existenz beruht der gesamte Überbau der Zivilisation mit seiner zunehmenden Last an
Repression.
Männliche Gewalt gegen Frauen entstand mit der Landwirtschaft, die jene in Lasttiere und
Gebärmaschinen verwandelte. Vor dem Ackerbau erstreckte sich der Egalitarismus des
Sammlerlebens nach Meinung von Eleanor Leacock ohne Unterschied auf Frauen wie auf
Männer, was für sie an der Autonomie der Tätigkeiten sowie der Tatsache lag, dass
Entscheidungen von jenen getroffen wurden, die sie auch ausführten. Mit der Abwesenheit
von Produktion und von niederer Arbeit wie Unkrautjäten, für die Kinder hätten eingesetzt
werden können, waren Frauen auch nicht zu lästiger Arbeit oder der steten Versorgung mit
Nachwuchs gezwungen.
Zusammen mit dem Fluch der ewigen Arbeit via Landwirtschaft verkündete Gott der Frau bei
der Vertreibung aus dem Paradies: „Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst.
Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über
dich herrschen.“(1 Moses 3,16) Entsprechend drohten die ersten kodifizierten Gesetze, die des
sumerischen Königs Urnammu, jeder Frau mit der Todesstrafe, die ihr Begehren außerhalb
der Ehe befriedigte. Whyte sprach von einer Machtverschiebung zu Lasten der Frauen, als die
Menschen die einfache Jäger/Sammler-Lebensweise aufgaben, und Simone de Beauvoir
erkannte in der kulturellen Gleichsetzung von Pflug und Phallus ein treffendes Symbol für die
Unterdrückung der Frau.
Während wilde Tiere in widerstandslose Fleischlieferanten verwandelt wurden, wurde den
Menschen die Vorstellung der „Kultiviertheit“ als Tugend aufgezwungen – was nichts weiter
bedeutete als die für Domestikation und Ausbeutung unablässige Ausmerzung der Freiheit aus
der eigenen Natur. Wie Rice herausstellt, gab es bereits bei den Sumerern in den frühesten
Städten Fabriken mit all den üblichen Charakteristika wie Arbeitsteilung und einem hohem
Organisationsgrad. Von diesem Punkt an erfordert Zivilisation menschliche Arbeit und die
Massenproduktion von Nahrung, Bauwerken, Krieg und Autorität.
Für die Griechen war Arbeit nichts weiter als ein Fluch. Ihr Begriff für Arbeit – ponos –
besitzt die gleiche Wurzel wie das lateinische poena, Pein. Der berühmte alttestamentarische

Fluch des Ackerbaus als Vertreibung aus dem Paradies vergegenwärtigt uns die Ursprünge
von Arbeit. „Konformismus, Wiederholung, Geduld waren,“ nach Lewis Mumfords Ansicht,
„die Schlüssel für diese [neolithische] Kultur ... das geduldige Vermögen zur Arbeit.“ In
dieser Monotonie und Passivität des Bestellens liegt für Paul Shepard die Quelle für die das
bäuerliche Leben prägende „tiefe, latente Verbitterung, rohe Mischung von Rechtschaffenheit
und Niedergeschlagenheit sowie Abwesenheit von Humor.“ Die Aufzählung ließe sich
erweitern um eine stoische Gefühlslosigkeit, Verdrießlichkeit, Misstrauen und den untrennbar
mit dem religiösen Glauben verbundenen Mangel an Phantasie.
Obwohl Nahrungsmittelproduktion per se eine latente Bereitschaft für politische Herrschaft
beinhaltet, und obwohl zivilisierende Kultur von Anbeginn ihre eigene Propagandamaschine
war, ging die endgültige Umstellung nicht ohne erbitterte Kämpfe von statten. Fredy
Perlmans Darstellung Against His-Story, Against Leviathan! holt diese auf unübertroffene
Weise aus der Verborgenheit und liefert so unzählige Belege für Toynbees Theorie des inneren
und äußeren Proletariats, dem Unbehagen innerhalb wie außerhalb der Kultur.
Nichtsdestotrotz war der Weg vom primitiven Grabstock über den Pflug hin zu
ausgeklügelten Bewässerungssystemen von einem nahezu totalen Genozid an Sammlern und
Jägern begleitet.
Die Bildung und Lagerung von Überschüssen ist Bestandteil des domestizierenden Willens,
zu herrschen und Konstanz herzustellen, ein Aspekt der Tendenz zur Symbolisation. Als
Damm gegen den Fluss der Natur fungieren Überschüsse in Form von Tierherden oder
Kornkammern. Gelagertes Getreide war das erste Äquivalent, die älteste Manifestation von
Kapital. Erst mit dem Auftauchen von Wohlstand in Form von Kornvorräten konnten sich die
Abstufungen von Arbeit und sozialen Klassen differenzieren. Während es natürlich bereits
vorher Wildgetreide gab (zum Beispiel wilden Weizen, der, dies sei angemerkt, 24 Prozent
Protein enthält gegenüber 14 Prozent bei domestiziertem Weizen), ist die kulturelle Neigung
der Unterschied ums Ganze. Zivilisation und deren Städte leben in gleichem Maße von
Getreide wie von Symbolisation.
Das Dunkel der Ursprünge von Landwirtschaft erscheint umso undurchdringlicher angesichts
der jüngst erfolgten vernichtenden Kritik der traditionellen Meinung, nach der die Vorzeit von
der Grausamkeit der Natur und einer Abwesenheit von Freizeit geprägt war. „Wir konnten
nicht länger davon ausgehen,“ schrieb Arme, „dass der frühe Mensch Pflanzen und Tiere
domestizierte, um Plackerei und Hunger zu entkommen. Wenn überhaupt, so trifft das
Gegenteil zu, und die Ankunft der Landwirtschaft bedeutete das Ende der Unschuld.“ Lange
Zeit lautete die Frage der Anthropologen: „Warum wurde die Landwirtschaft nicht viel früher
in der menschlichen Entwicklung angenommen?“ Seit kurzem wissen wir, dass Ackerbau
nicht einfacher als Jagen oder Sammeln ist und keine qualitativ höherwertige, schmackhaftere
oder sicherere Nahrungsgrundlage liefert. In überwältigender Einstimmigkeit wird nun die
Frage neu gestellt: „Warum wurde sie überhaupt angenommen?“
Viele Theorien wurden vorgeschlagen, keine vermag zu überzeugen. Childe und andere
argumentieren, dass menschliche Gesellschaften durch Bevölkerungswachstum in engeren
Kontakt zu anderen Spezies kamen; daraus seien Domestikation und die Notwendigkeit zu
produzieren entstanden, um die zusätzlichen Menschen zu ernähren. Jedoch kann mittlerweile
als gesicherte Tatsache gelten, dass Bevölkerungswachstum der Landwirtschaft nicht
vorausging, sondern umgekehrt von dieser verursacht wurde. „Ich sehe auf der ganzen Welt
keinen Beleg,“ bemerkte Flannery, „der darauf hinweist, dass Bevölkerungsdruck für die
Einführung von Landwirtschaft verantwortlich war.“ Eine weitere Theorie behauptet, dass
gegen Ende des Pleistozän vor ca. 11.000 Jahren große klimatische Veränderungen auftraten,

die die althergebrachte Lebenswelt der Jäger/Sammler durcheinanderbrachten und direkt zu


der Kultivierung bestimmter überlebender Pflanzen als Grundnahrungsmittel führten. Jüngste
Datierungsmethoden haben diesen Ansatz umfassend widerlegt; es gab keine solche
klimatische Veränderung, die die neue Lebensweise initiiert hätte. Abgesehen davon gibt es
zahlreiche Beispiele für die Übernahme – und ebenso auch für die Ablehnung – der
Landwirtschaft in jeder Art von Klima. Eine weitere einflussreiche Hypothese geht von der
Einführung der Landwirtschaft als zufällige Entdeckung oder Erfindung aus, gerade als ob der
Menschheit vor einem bestimmten Augenblick nicht aufgefallen wäre, dass essbare Pflanzen
aus keimenden Samen wachsen. Anscheinend besaßen die Menschen während des
Paläolithikums bereits etliche tausend Jahre vor der erstmaligen Kultivierung von Pflanzen
ein praktisch unerschöpfliches Wissen der Flora und Fauna, was dieser Theorie ein besonders
schlechtes Zeugnis ausstellt.
Carl Sauers Resümee, dass „die Landwirtschaft nicht aufgrund zunehmender oder chronischer
Nahrungsknappheit“ entstanden ist, reicht bereits aus, um praktisch sämtliche heute
vorliegenden Ursprungstheorien zu verwerfen. Eine noch verbleibende Idee geht auf Hahn,
Isaac und andere zurück, die glauben, dass Nahrungsproduktion im Kern als religiöse
Tätigkeit begann. Diese Hypothese kommt wahrscheinlich der Wahrheit am nächsten.
Es ist bekannt, dass Schafe und Ziegen – die ersten domestizierten Tiere – in großem Maße
bei religiösen Zeremonien als Opfer verwendet und zu diesem Zweck auf eingezäunten
Weiden aufgezogen wurden. Des weiteren besaßen Schafe vor ihrer Domestizierung keine für
Textilien geeignete Wolle. In den frühesten Zentren der Zivilisation, dem östlichen
Mittelmeerraum und Südostasien, diente das Huhn nach Darby „eher als Opfer oder zu
Zwecken der Weissagung denn als Nahrungsmittel.“ Die bekannten Charakteristika der
verschiedenen Geflügelarten als Eier- oder Fleischlieferant sind „relativ späte Konsequenzen
ihrer Domestikation,“ wie Sauer ergänzte. Wilde Rinder waren ungestüm und gefährlich;
weder die Sanftmut des Ochsen noch die durch seine Kastration ebenso veränderte
Fleischtextur hätten vorhergesehen werden können. Rinder sind auch in Gefangenschaft
zunächst etliche hundert Jahre nicht gemolken worden, und alte Darstellungen geben
Hinweise darauf, dass sie zum Ziehen von Wagen und Karren erstmals bei religiösen
Prozessionen eingesetzt wurden.
Die Domestizierung von Pflanzen geschah, soweit bekannt, vor einem ähnlichen Hintergrund.
Der Kürbis wurde beispielsweise in der Neuen Welt ursprünglich als zeremonielle Rassel
verwendet. Johannessen diskutierte die religiösen und mystischen Motive bei der
Domestizierung von Mais, Mexikos bedeutendster Feldfrucht und Mittelpunkt der
einheimischen neolithischen Religion. Anderson untersuchte, wie charakteristische Sorten
zahlreicher kultivierter Pflanzen aufgrund ihrer magischen Bedeutung selektiert und gezüchtet
wurden. Wie vielleicht hinzugefügt werden sollte, waren es die Schamanen, die aufgrund
ihrer gesellschaftlichen Machtposition die Landwirtschaft durch Verbindung von Ritual und
Religion mit Tätigkeiten wie dem Zähmen und dem Pflanzen einführen konnten.
Obwohl die religiöse Erklärung der Ursprünge von Landwirtschaft ein Schattendasein fristet,
führt sie uns meiner Meinung nach an die Schwelle zur wirklichen Ursache der Geburt von
Produktion: jener nichtrationalen, kulturellen Macht der Entfremdung, die sich in Form von
Zeit, Sprache, Zahl und Kunst ausbreitete, um materielles wie seelisches Leben durch
Landwirtschaft endgültig zu kolonisieren. „Religion“ ist ein zu eng definierter Begriff, um
diese Infektion und ihre Verbreitung einzufangen. Herrschaft ist zu gewichtig, zu
allumfassend, um allein von der religiösen Krankheit befördert worden zu sein.

Allerdings sind die von der Religion transportierten Werte von Herrschaft und Uniformität
sicherlich ebenso Teil der Landwirtschaft, und dies von Anbeginn. Anderson, der darauf
aufmerksam geworden war, wie leicht sich die verschiedenen Maissorten durch
Fremdbestäubung kreuzten und verbreiteten, untersuchte die primitiven Ackerbauern vom
Stamm der Naga in Assam und fand, dass ihr Mais von Pflanze zu Pflanze keinerlei
Unterschied aufwies. „Nur durch fanatisches Festhalten an einem Idealtypus“ konnten die
Naga, hochzivilisiert in dieser Hinsicht, ihre Sorten so rein halten. Dies verdeutlicht die
glückliche Ehe von Kultur und Produktion durch Domestizierung und deren unvermeidbare
Nachkommenschaft von Unterdrückung und Arbeit.
Die gewissenhafte Kultivation von Pflanzensorten findet eine Parallele in der Domestizierung
von Tieren, wodurch die natürliche Selektion außer Kraft gesetzt und eine beherrschbare
biologische Welt auf niedrigerer, künstlicher Ebene eingerichtet wird. Wie Pflanzen werden
auch Tiere zu bloßen manipulierbaren Objekten; eine Milchkuh beispielsweise wird als
Maschine zur Umwandlung von Gras in Milch betrachtet. Aus einem Zustand der Freiheit
gerissen und auf hilflose Parasiten reduziert, werden diese Tiere vollständig vom Menschen
abhängig. Bei domestizierten Säugetieren nimmt die Größe des Gehirns ab, denn die
Zuchtwahl führt bei ihnen dazu, dass mehr Energie für das Wachstum und weniger für andere
Tätigkeiten verwendet wird. Diese Tendenz zur Ruhigstellung und Infantilisierung wird
vielleicht am ausgeprägtesten durch das Schaf verkörpert, das domestizierteste aller
Herdentiere; die bemerkenswerte Intelligenz der wilden Schafe ist bei ihren zahmen
Verwandten komplett verlorengegangen. Soziale Beziehungen reduzieren sich bei
domestizierten Tieren auf das Allernötigste. Lebenszeit, die nicht der Reproduktion dient,
wird minimiert, die Balzzeit beschnitten und das Vermögen, die eigenen Artgenossen zu
erkennen, drastisch beeinträchtigt.
Mit dem Ackerbau war auch die Möglichkeit einer rapiden Umweltzerstörung gegeben, und
die Herrschaft über die Natur begann bald, die ehemals fruchtbaren und grünen Geburtsstätten
der Zivilisation in karge und leblose Gebiete zu verwandeln. „Seit den Anfängen des
Neolithikums haben gewaltige Regionen ihr Aussehen völlig verändert,“ und dies, wie Zeuner
bemerkt, „stets in Richtung eines trockeneren Zustandes.“ Heutztage sind die Gebiete, wo
einst die Hochzivilisationen blühten, von Wüsten bedeckt, und es gibt genügend
geschichtliche Belege, dass diese frühen Gebilde ihre Umgebung unweigerlich zerstört haben.
Im ganzen Mittelmeerraum und dem benachbarten Nahen Osten und Asien transformierte die
Landwirtschaft üppige und gastliche Landstriche in verbrauchtes, trockenes und steiniges
Terrain. Im Kritias bezeichnete Platon Attika nach der Abholzung der griechischen Wälder
und im Gegensatz zu seinem früheren Reichtum als die „Knochen eines erkrankten Körpers.“
Das Weiden von Ziegen und Schafen, den ersten domestizieren Wiederkäuern, war ein
wesentlicher Faktor bei der Verödung von Griechenland, dem Libanon und Nordafrika sowie
der Desertifikation des römischen und mesopotamischen Reichs.
Eine weitere, eher unmittelbare Auswirkung der Landwirtschaft, die seit kurzem mehr und
mehr zutage tritt, betrifft die physische Gesundheit der Bewohner. Lee und De Vores
Forschungen zeigen, dass „die Ernährung von Sammlern weitaus hochwertiger war als die
von Ackerbauern, dass Tod durch Verhungern nur selten vorkam, dass ihr gesundheitlicher
Zustand allgemein besser war und dass chronische Krankheiten weniger häufig auftraten.“
Umgekehrt fasste Farb zusammen: „Die Produktion liefert wegen der mangelnden
Abwechslung eine minderwertige Ernährung, ist wegen der Schädlinge und der Launen des
Wetters weniger verläßlich und kostet mehr Arbeitsaufwand.“

Die neue Forschungsrichtung der Paläopathologie gelangt zu noch drastischeren Schlüssen, so


betont zum Beispiel Angel „einen durch die Umstellung von Nahrungssammeln auf
Nahrungsproduktion bedingten scharfen Rückgang von Wachstum sowie eine
Verschlechterung der Ernährung.“ Frühere Schätzungen der Lebenserwartung mussten ebenso
revidiert werden. Obwohl spanischen Augenzeugenberichten des sechzehnten Jahrhunderts
zufolge Indianer in Florida mitunter ihre Nachkommen noch bis zur fünften Generation
erleben konnten, herrschte für lange Zeit die Auffassung, Urmenschen wären lediglich
dreißig, höchstens vierzig Jahre alt geworden. Robson, Boydon und andere haben mit der
Verwechslung von Langlebigkeit und Lebenserwartung aufgeräumt und entdeckt, dass
gegenwärtige Jäger/Sammler, ausgenommen bei Verletzungen oder schweren Krankheiten,
oftmals ihre zivilisierten Zeitgenossen überleben. Selbst im Industriezeitalter erhöhte sich erst
vor relativ kurzer Zeit die Lebenserwartung, und es ist mittlerweile weitgehend anerkannt,
dass Menschen zu Zeiten des Paläolithikums ein langes Leben beschieden war, sobald
gewisse Risiken überwunden waren. De Vries stellte korrekt fest, dass bei Kontakt mit der
Zivilisation die Lebensdauer drastisch gesunken ist.
„Tuberkulose, Lepra und Cholera mussten auf den Aufstieg der Landwirtschaft warten,
während Pocken, Beulenpest und Masern sogar erst mit dem Aufstieg der Städte in den
letzten paar tausend Jahren in Erscheinung traten,“ schrieb Jared Diamond. Malaria, der
wahrscheinlich größte Massenmörder in der Geschichte der Menschheit, und nahezu alle
anderen ansteckenden Krankheiten sind das Erbe der Landwirtschaft. Ernährungs- und
degenerative Krankheiten tauchen im Allgemeinen zusammen mit der Herrschaft von
Domestikation und Kultur auf. Krebs, Herzinfarkt, Blutarmut, Karies und Geistesstörungen
sind nur einige der Kennzeichen von Landwirtschaft; selbst die Geburt von Kindern gestaltete
sich für Frauen vorher ohne Schwierigkeiten und war von wenig oder keinem Schmerz
begleitet.
Menschen waren in einem umfassenden Sinn lebendiger. Wie R.H. Post berichtete, haben
manche !Kung San ein einmotoriges Flugzeug aus 70 Meilen Entfernung vernommen, und
viele von ihnen können mit bloßem Auge vier Monde des Jupiter erkennen. Harris und Ross
sind noch recht bescheiden mit ihrem Urteil über einen „Gesamtrückgang der Qualität – und
wahrscheinlich der Länge – menschlichen Lebens bei Ackerbauern, verglichen mit früheren
Jäger/Sammler-Gruppen.“
Eine der beständigsten und universellsten Vorstellungen ist die eines goldenen Zeitalters der
Unschuld vor Anbeginn der Geschichte, so etwa bei Hesiod: „Frucht bescherte die
nahrungsspendende Erde / Immer von selber, unendlich und vielfach.“ Der Garten Eden war
eindeutig die Heimat der Jäger/Sammler, und die in den historischen Bildern eines Paradieses
ausgedrückte Sehnsucht muss die von desillusionierten Ackersleuten nach einem verlorenen
Leben in Freiheit und relativer Bequemlichkeit gewesen sein.
Die Geschichte der Zivilisation belegt die zunehmende Ablösung der menschlichen Erfahrung
von der Natur, teilweise ausgedrückt durch eine Einschränkung der Nahrungsmöglichkeiten.
Nach Rooney ernährten sich prähistorische Menschen von über 1500 Arten wilder Pflanzen,
während Wenke daran erinnert, dass „alle Zivilisationen auf der Kultivierung einer oder
mehrerer von nur sechs Pflanzenarten basierten: Weizen, Gerste, Hirse, Reis, Mais und
Kartoffeln.“
Es ist eine überraschende Tatsache, dass über die Jahrhunderte „die Anzahl essbarer
Lebensmittel, die wirklich gegessen werden, stetig abgenommen hat.“ Heute hängt die
Ernährung der Weltbevölkerung größtenteils an nur ungefähr zwanzig Pflanzengattungen,

während deren natürliche Sorten zunehmend durch artifizielle Hybride ersetzt werden und der
Genpool dieser Pflanzen in seiner Vielfalt abnimmt.
Die Nahrungsdiversität verschwindet beziehungsweise verflacht in dem gleichem Maße, wie
der Anteil von Fertignahrung ansteigt. Lebensmittel zirkulieren heute als Waren weltweit, so
dass möglicherweise bald ein Inuit und eine Einwohnerin Afrikas Milchpulver aus Wisconsin
oder tiefgefrorene Fischstäbchen aus der selben schwedischen Fabrik essen. Einige wenige
multinationale Unternehmen wie beispielsweise Unilever, der weltgrößte Hersteller von
Nahrungsmitteln, herrschen über ein höchst vernetztes Servicesystem, dessen Ziel nicht in der
Versorgung mit Essen besteht, sondern darin, überall auf der Welt den Konsum industriell
verarbeiteter Produkte durchzusetzen.
Als Descartes das Prinzip verkündete, die vollständige Ausbeutung von Materie zu jedem
Gebrauch sei die ganze Pflicht des Menschen, war unsere Trennung von der Natur praktisch
besiegelt und der Weg für die industrielle Revolution bereitet. Dreihundertfünfzig Jahre später
lebt dieser Geist weiter fort in der Person von Jean Vorst, Kurator des französischen Museums
für Naturgeschichte, der erklärte, dass unsere Spezies „aufgrund unseres Intellekts“ nicht
mehr in der Lage ist, eine bestimmte Zivilisationsschwelle zu unterschreiten und erneut Teil
eines natürlichen Lebensraums zu werden. Seine weiteren Bemerkungen sind ein perfekter
Ausdruck des ursprünglichen und anhaltenden Imperialismus der Landwirtschaft: „Weil die
Erde in ihrem urzeitlichen Zustand nicht unserem Wachstum angepasst ist, muss der Mensch
sie fesseln, um seine Bestimmung zu erfüllen.“
Die frühen Fabriken imitierten buchstäblich das landwirtschaftliche Modell, ein erneuter
Hinweis, dass die Grundlage jeglicher Massenproduktion der Ackerbau ist. Die natürliche
Welt muss gebrochen und zur Arbeit gezwungen werden. Unweigerlich werden wir an die
mittelamerikanischen Prärien erinnert, wo Siedler sechs Ochsen vor den Pflug spannen
mussten, um erstmalig durch den Boden zu brechen. Oder eine Szene um 1870 aus dem
Roman Der Oktopus von Frank Norris, in der aneinandergekettete Pflüge, die 175 Furchen
gleichzeitig bearbeiten konnten, wie „eine große Kolonne der Feldartillerie“ über das Tal von
San Joaquin getrieben wurden.
Das, was von der Natur übrig geblieben ist, steht heute unter der voll mechanisierten Ägide
einiger petrochemischer Unternehmen. Ihre Kunstdünger, Pestizide, Herbizide und Quasi-
Monopole auf den Weltvorrat an Samen schaffen eine Umwelt, die die Nahrungsproduktion
von der Aussaat bis zur Konsumtion durchrationalisiert. Obwohl Lévi-Strauss zuzustimmen
ist, dass „Zivilisation Monokulturen wie Zuckerrüben herstellt,“ ist erst seit dem Zweiten
Weltkrieg eine vollständig synthetische Ausrichtung beherrschend geworden.
Landwirtschaft entimmt dem Boden mehr organisches Material, als sie ihm zuführt, und
Bodenerosion ist ein gewöhnliches Phänomen bei einjährigen Monokulturen. Was letztere
betrifft, so zeitigt deren Förderung teilweise verheerende Folgen für das Land; neben
Baumwolle und Soja ist hier speziell der Mais zu nennen, der in seinem derzeitigen
domestizierten Zustand nur durch Landwirtschaft überleben kann. J. Russell Smith taufte ihn
„den Mörder von Kontinenten ... und einen der ärgsten Feinde der menschlichen Zukunft.“
Die Erosionskosten von einem Scheffel Iowa-Mais betragen zwei Scheffel Mutterboden, was
die weitreichende industrielle Zerstörung von Ackerland verdeutlicht. Durch kontinuierliche
Bewirtschaftung von großen Monokulturen unter massivem Einsatz chemischer Mittel und
ohne Verwendung von Dung oder Humus erreichen die Verschlechterung und der Verlust von
Boden ungeahnte Dimensionen.
Die herrschende landwirtschaftliche Produktionsweise hat zur Folge, dass der Boden eine
massive Zufuhr von Chemikalien benötigt, überwacht von Technikern, deren Ziel in der

Ertragsmaximierung besteht. Chemische Dünger und alles andere, was zu dieser Einstellung
gehört, beseitigen die Notwendigkeit, auf das komplexe Leben des Bodens Rücksicht zu
nehmen und verwandeln ihn in ein bloßes Produktionsmittel. Das Versprechen der
Technologie heißt totale Herrschaft, eine vollständig konstruierte Umwelt, die das natürliche
Gleichgewicht der Biosphäre einfach aufhebt.
Allerdings muss immer mehr Energie aufgewendet werden, um die großen monokulturellen
Erträge zu erlangen, die ihrerseits abzunehmen beginnen, ganz abgesehen von der toxischen
Kontaminierung von Boden, Grundwasser und Nahrung. Das amerikanische
Landwirtschaftsministerium ließ verlauten, dass die Erosion von Nutzflächen in den U.S.A.
zwei Billionen Tonnen Boden pro Jahr beträgt. Die nationale Akademie der Wissenschaften
schätzt, dass mehr als ein Drittel des Mutterbodens bereits für immer verschwunden ist. Das
durch Monokulturen und synthetische Dünger verursachte ökologische Ungleichgewicht ist
für einen enormen Anstieg von Schädlings- und Krankheitsbefall verantwortlich; seit dem
Zweiten Weltkrieg haben sich Ernteeinbußen durch Insekten verdoppelt. Die technologische
Antwort besteht natürlich in immer intensiverer Anwendung von Pestiziden, und so dreht sich
die Gewaltspirale gegen die Natur in einem erschreckenden Ausmaß.
Ein weiteres Nachkriegsphänomen war die so genannte grüne Revolution, die vorgebliche
Rettung der verarmten so genannten Dritten Welt durch amerikanisches Kapital und
amerikanische Technologie. Aber anstelle die Hungernden zu ernähren, vertrieb die grüne
Revolution Millionen armer Menschen von ihrem Ackerland in Asien, Lateinamerika und
Afrika; als Opfer eines Programms, das große Landwirtschaftsbetriebe begünstigte.
Schließlich lief alles auf eine enorme technologische Kolonisierung hinaus, die eine
Abhängigkeit von kapitalintensiver Agrarindustrie schuf, ältere landwirtschaftliche
Gemeinschaften zerstörte, massiven Verbrauch fossiler Treibstoffe erforderte und die Natur in
bis dato ungeahnten Dimensionen unter Beschuss nahm.
Desertifikation oder Bodenverlust aufgrund von Landwirtschaft nehmen beständig zu. Jedes
Jahr wird weltweit eine Gesamtfläche von mehr als der zweifachen Größe Belgiens in Wüste
verwandelt. Das Schicksal der tropischen Regenwälder ist ein wichtiger Faktor bei dieser
Austrocknung: Die Hälfte wurde bereits während der letzten dreißig Jahre ausradiert. In
Botswana ist die letzte Wildnisregion Afrikas verschwunden, wie auch ein Großteil des
amazonischen Dschungels und fast die Hälfte der zentralamerikanischen Regenwälder,
vorwiegend für Rinderweiden der amerikanischen und europäischen Hamburgerproduktion.
Die wenigen vor der Abholzung geschützten Gebiete liegen dort, wo die Landwirtschaft keine
Interessen hat. Die Landzerstörung schreitet in den U.S.A. auf einem größeren Gebiet voran,
als es die ursprünglichen dreizehn Kolonien umfassten, ähnliche Entwicklungen, wie sie auch
den schweren afrikanischen Hungersnöten Mitte der achtziger Jahre zugrundelagen.
Richten wir unser Augenmerk erneut auf die Tiere und vergegenwärtigen wir uns die Worte
aus dem Buch Genesis, in dem Gott zu Noah sagt: „Furcht und Schrecken vor euch soll sich
auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde
regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben.“(1 Moses 9,2) Wann immer
neu entdecktes Gebiet zum ersten Mal von der Vorhut der Produktion besichtigt wurde,
zeigten die wilden Säugetiere und Vögel, wie die Literatur einstimmig schildert, keine Furcht
vor den Forschern. Die mit der Landwirtschaft verbundene Mentalität jedoch, wie sie so
treffend in dem Bibelabschnitt prophezeit wurde, ist die Projektion eines übertriebenen
Glaubens an die Feindlichkeit wilder Tiere, der sowohl der fortschreitenden Entfremdung und
dem Kontaktverlust zu der Tierwelt wie auch der Notwendigkeit, die Herrschaft über sie
aufrechtzuerhalten, folgte.

Das zukünftige Schicksal domestizierter Tiere zeichnet sich anhand der Tatsache ab, dass
Technologen der Agrarindustrie sich bei der Verfeinerung ihrer eigenen Produktionssysteme
stets nach dem Modell von Fabriken richten. Natur wird aus diesen Systemen verbannt, in
denen Tiere während ihres deformierten Lebens in Bewegungslosigkeit, hoher Dichte und
einer völlig künstlichen Umgebung gehalten werden. Milliarden von Hühnern, Schweinen
und Kälbern erblicken nicht einmal mehr das Tageslicht; gänzlich undenkbar, dass sie noch
auf Feldern umherstreifen, die immer stiller werden, denn mehr und mehr Weideland wird
umgepflügt, um Futter für diese grausam eingekerkerten Wesen anzubauen.
Die High-Tech-Hühner, denen die Schnäbel beschnitten werden, um die Todesrate aufgrund
von Stress verursachter Kämpfe zu senken, vegetieren oftmals auf der Fläche eines Din A4
Blattes und bekommen in periodischen Abständen Nahrung und Trinkwasser bis zu zehn Tage
entzogen, um ihre Legezyklen zu steuern. Schweine leben auf Betonböden ohne Streu;
faulende Pfoten, abgebissene Schwänze und Kannibalismus sind aufgrund der physischen
Bedingungen und des Stresses endemisch. Ferkel werden von ihrem Mutterschwein durch
Metallgitter hindurch gesäugt, dadurch ihres natürlichen Kontakts entzogen. Kälber wachsen
oftmals in Dunkelheit auf, in so engen Stallungen festgekettet, dass Umdrehen oder andere
natürliche Stellungsänderungen unmöglich sind. Diese Tiere bekommen aufgrund ihrer
Lebensbedingungen und der erhöhten Krankheitsanfälligkeit ständig Medikamente
verabreicht; automatisierte Tierproduktion basiert auf Hormonen und Antibiotika. Solch
systematische Grausamkeit, ganz zu schweigen von der daraus resultierenden Nahrung, ruft
die Tatsache ins Gedächtnis, dass für jegliche Art von Gefangenschaft und Versklavung die
Landwirtschaft Modell steht.
Die Nahrungsaufnahme war immer unser direktester Kontakt zur natürlichen Umwelt, aber
wir werden in zunehmendem Maße von einem technologischen Produktionssystem abhängig,
in dem letztlich sogar unsere Sinne überflüssig geworden sind; der Geschmacksinn war einst
lebensnotwendig, um den Gehalt oder die Sicherheit des Essens einzuschätzen – nun wird er
nicht mehr erfahren, sondern von einem Etikett zertifiziert. Insgesamt sinkt die Qualität
dessen, was wir konsumieren, und wo früher Nahrung angebaut wurde, wächst nun Kaffee,
Tabak, Getreide zur Alkoholproduktion, Marijuana und andere Drogen, wodurch die
Rahmenbedingungen für Hungersnöte geschaffen werden. Sogar nicht industriell verarbeitete
Nahrung wie Obst und Gemüse ist mittlerweile aufgrund der Anforderungen von
Verarbeitung, Transport und Lagerung einförmig und ohne Geschmack: Ernährung oder gar
Genuss sind nicht mehr die wichtigsten Gesichtspunkte.
Der Schrecken der chemischen Kriegsführung, die in Südostasien während des Vietnamkriegs
eingesetzt wurde, um Millionen Hektar Waldfläche zu entlauben, war der Landwirtschaft
entlehnt, doch die Ausbeutung der Biosphäre schreitet selbst in ihren alltäglichen Formen
noch tödlicher voran. Und die industrielle Produktion von Nahrungsmitteln scheitert sogar in
der augenfälligsten Hinsicht kläglich: Die Hälfte der Welt ist von Mangelernährung betroffen
oder gar vom Hungertod bedroht.
Unterdessen verweisen „Zivilisationskrankheiten“, wie sie von Eaton und Konner im New
England Journal of Medicine vom 31. Januar 1985 diskutiert und der gesunden prä-
agrikulturellen Lebensweise entgegengesetzt werden, auf die freudlose, kränkliche Welt
chronischer Verhaltensstörungen, in der wir als Beute der Hersteller von Medikamenten,
Kosmetika und verarbeiteter Nahrung leben. Mit der Produktion genetisch veränderter
Nahrungsmittel auf Grundlage speziell designter Tierarten, Mikroorganismen und Pflanzen
erreicht die Domestikation pathologische Zustände. Zwangsläufig wird auch die Menscheit

selbst in dieser Weise domestiziert werden, denn die Welt der Produktion bearbeitet uns
genauso, wie sie jedes andere natürliche System degradiert und deformiert.
Das Projekt der Naturbeherrschung, begonnen und ausgeführt von der Landwirtschaft, nimmt
gigantische Proportionen an. Der „Erfolg“ des zivilisatorischen Fortschritts, ein Erfolg, den
die frühere Menscheit nie gewollt hatte, ist von einem zunehmend schalen Beigeschmack
begleitet. James Serpell fasste dies folgendermaßen zusammen: „Anscheinend haben wir in
Kürze das Ende erreicht. Wir können nicht expandieren: Es scheint unmöglich, die Produktion
zu intensivieren, ohne noch größeren Schaden anzurichten, und der Planet verwandelt sich
rapide in eine Müllkippe.“
Für den Physiologen Jared Diamond ist die Einführung der Landwirtschaft eine Katastrophe,
von der wir uns seither nicht erholt haben. Die Landwirtschaft ist und bleibt auf allen Ebenen
eine Katastrophe, die der gesamten zerstörerischen, materiellen wie geistigen Kultur von
Entfremdung zugrundeliegt. Befreiung ist unmöglich ohne ihre Auflösung.

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