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Jean-Luc Nancy

singulär plural sein

Aus dem Französischen von


Ulrich Müller-Schöll

diaphanes
Dieses Buch erscheint mit Unterstützung
des Programms Kultur 2000 der Europäischen Union

Bildung und Kultur

Kultur 2000

Die Arbeit an der Übersetzung wurde mit dem


Johann-Joachim-Christoph-Bode-Stipendium des
Deutschen Übersetzerfonds e. V. ausgezeichnet.

Titel der französischen Originalausgabe:


Etre singulier pluriel
© Edtions Galilee, 1 996

1 . Auflage; ISBN 3-935300-22-0


© diaphanes, Berlin 2004
www.diaphanes . net
Alle Rechte vorbehalten

Satz und Layou t : 2ed it, Zürich


www.2edi t . ch
Druck: Stückle, Ettenheim
Inhalt

Vorbemerkung 13

1. Daß wir der Sinn sind 19

2. Die Leute sind sonderbar 25

3. Zum Ursprung gelangen 33

4. Die Schöpfung der Welt und die Neugier 39

5. Unter uns: Prima philosophia 47

6. Singulär plural sein 57

7. Ko-Existenz 73

8. Bedingungen einer Kritik 81

9. Miterscheinung 93

1 0. Spektakel der Gesellschaft 1 05

1 1 . Maß des »Mit« 1 17

1 2. Körper, Sprache 131

1 3 . Ko-existenziale Analytik 1 43

Anhang:
Das Mit-sein des Da-seins 151

Nachwort des Übersetzers 1 73


»Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück - ja,
zurück zu Leib und Leben: daß sie der Erde ihren Sinn gebe, einen
Menschen-Sinn! [. . . ] Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn
der Erde, meine Brüder [. .. ] Unerschöpft und unentdeckt ist im­
mer noch Mensch und Menschen-Erde [. . . ]«

Friedrich Nietzsche,
Also sprach Zarathustra, Erster Teil,
»Von der schenkenden Tugend« , 2
Dieses Motto ist ganz bewußt gewählt. Ich gehe das Risiko ein, daß
in ihm scheinbar der christlich-idealistisch-humanistische A kzent
anklingt, an dem man m ühelos die Konformisten zu erkennen
glaubt, deren Tugenden und Werte, blind und verschworen zu­
gleich, all das entfesselten, was die Menschheit unseres Jahrhun­
derts später zur Verzweiflung an sich selbst gebracht hat. Und si­
cher hat auch Nietzsche auf seine A rt teil an dieser zweifelhaft
moralisierenden Frömmelei. Allerdings ist das Wort »Sinn« bei
ihm recht selten, und noch seltener dessen positiver Gebrauch:
Man wird also gut daran tun, die Interpretation hier nicht zu
überstürzen. Dieser Text beruft sich auf »einen Sinn des Men­
schen« , wobei er jedoch unterstreicht, daß der Mensch noch zu
entdecken bleibt. Damit der Mensch entdeckt wird und »mensch­
licher Sinn« einen Sinn erhält, m uß zunächst das, was in bezug
auf die Natur, das Wesen oder die Bestim mung »des Menschen«
Anspruch auf Wahrheit erhob, zerlegt werden. A nders gesagt, es
darf nichts mehr übrig bleiben von dem, was unter dem Titel des
Sinns Erde und Mensch in einen benennbaren Horizont gerückt
hat. Inzwischen sind wir - auch dies hat Nietzsche gesagt -
»im Horizont des Unendlichen«, sprich dort, wo es »kein > Land<
mehr« gibt - und es gibt »nichts Furchtbareres... als Unendlich­
keit« .1
Werden wir diese Lehre endlich befolgen, sollten wir endlich die
Fähigkeit erlangt haben , zuzuhören - oder können wir gar inzwi­
schen nichts anderes mehr hören als dies? Und können wir eine
Erde und einen Menschen denken, die sind, was sie sind, sprich
nichts als Erde und Mensch, und dann auch kein unter diesen Na­
men versteckter Horizont, keine der » Perspektiven« oder »Sicht­
weisen« , durch die wir die Menschen verzweifeln ließen und ver­
unstaltet haben? » Horizont des Unendlichen« heißt: überhaupt
kein Horizont mehr, sondern das »All« (alles, was ist) , das über­
all aus dem Selbst hinaus- als auch in es hineingetragen, -gesto­
ßen wurde. Keine Linie mehr, die gezogen wurde, noch eine, die

1. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, III, 124.

9
sich ziehen ließe, um daran die Marschroute auszurichten oder ei­
nen Hinweis für den Kurs zu erhalten. Wir haben es mit einer Bre­
sche oder einer Öffnung [ecartement] im Horizont selbst zu tun,
und in der Bresche wir. Wir als die Bresche selbst, der unwäg­
-

bare Umriß eines Bruchs.

Ich möchte den Zeitpunkt nennen, an dem ich dies schreibe: In


diesem Sommer 1995 drängt sich, um die Erde und die Menschen
zu bezeichnen, nichts so sehr auf (ehrlich gesagt: könnte man
es verhindern?) wie eine A ufzählung von Eigennamen ohne
Ordnung: Bosnien -Herzegowina, Herzeg-Bosna, Tschetschenien,
Ruanda, bosnische Serben, Tutsis, Hutus, die Befreiungstiger der
tamilischen Eelam, die Serben der Krajina, Casamance, Chiapas,
islamischer Jihad, Bangladesch, die Geheimarmee für die Befrei­
ung Armeniens, Hamas, Kasachstan, rote Khmer, der militärische
Flügel der ETA, Kurden (PUK/DPK) , Montataire und die Bewe­
gung für Selbstbestimmung, Somalia, Chicanos, Schiiten, FNLC­
Canal historique, Liberia, Givat Hadagan, Nigeria, Lega Nord,
Afghanistan, Indonesien, Sikhs, Haiti, die Roma der Slowakei,
Taiwan, Burma, OLP, Irak, Islamische Heilsfront, Sendero Lumi­
noso, Vaulx-en-Velins, Neuhof. .. Man würde bekanntlich mit der
A ufzählung kaum zum Ende kommen, wenn man all die Orte,
Gruppen und Momente erfassen wollte, die Schauplatz oder A n­
laß für blutige Konflikte zwischen Identitäten sind und von denen
man nicht mehr auf Anhieb und mit Sicherheit sagen könnte, ob
sie »kulturell«, » religiös«, »ethnisch« oder »historisch« sind; ob sie
legal sind oder nicht, und nach welchem Recht; ob sie wirklich,
mythisch oder der Phantasie entsprungen sind, ob sie eigenstän­
dig oder »instrumentalisiert« sind durch ganz andere Gruppen
mit politischer, ökonomischer oder ideologischer Macht.
So ist heute die »Erde«, die wir » bewohnen« sollen und für die der
Name Sarajevo der Martyriums-Name, das heißt der Zeugnis­
Name sein wird. So sind wir, die wir wir sagen, als wüßten wir,
was wir da sagen und von wem wir sprechen. Vieles ist die Erde,
nur kein Hort der Menschlichkeit. Sie ist Welt, die nicht von Welt

10
ist, eine Welt, die an der Welt und am Sinn der Welt krankt. Sie
ist Aufzählung- und tatsächlich dringt an die Oberfläche nur die
Zahl, das Wuchern dieser Pole der A nziehung und Abstoßung. Sie
ist eine endlose Liste - und alles spielt sich ab, als würde man
zu einer Buchhaltung verdammt, die keinerlei Bilanzen kennt;
eine Litanei - also ein Gebet, aber des bloßen Schmerzes und der
bloßen Verwirrung - ist diese tägliche Klage aus dem Mund
von Millionen Flüchtlingen, Deportierten, Belagerten, Versehrten,
Hungernden, Vergewaltigten, Verschanzten, A usgeschlossenen,
Exilierten und A usgewiesenen.
Ich spreche von Mitleid: aber es geht dabei nicht um ein Mitgefühl,
das über sich selbst in Rührung gerät und sich daraus speist. Mit­
Leid: das heißt Ansteckung, Berührung des Mit-ein-ander-seins in
diesem Getümmel. Weder Altruismus noch Identifikation, son­
dern Erschütterung durch brutale Kontiguität.
Was will dieses Wuchern von uns, das keinen anderen sichtbaren
Sinn hat als eine unbestimmte Vervielfachung zentrifugaler Sin­
ne, die dann keinen Sinn mehr haben oder jedenfalls auf nichts
anderes mehr verweisen als auf ihre eigene Schließung am Hori­
zont ihrer Aneignung, und die außerhalb nichts mehr vertreten
als Destruktion, Haß und Negation der Existenz?
Und wenn diese autistische, zerreißende und zerrissene Vielheit
uns ankündigen wollte, daß wir noch nicht zu entdecken begon­
nen haben, was es mit dem Zu-mehreren-sein auf sich hat, wo
doch die »terre des hommes« nichts anderes ist als dies? Wenn sie
uns also ankündigen wollte, daß sie selbst das erste Mal entblößt
dasteht als Welt, die nichts als Welt ist, absolut und ohne Rück­
halt, ohne jeden Sinn außerhalb dieses Selbstseins: auf einzig­
artige Weise vielfach und auf vielfache Weise einzigartig, singulär
plural und plural singulär?

11
Die vorliegende Übersetzung erscheint mehrere Jahre nach dem
Original - der Bedarf an einer »pluralen Ontologie« ist deshalb
nur offensichtlicher und dringlicher geworden. Wir befinden uns
in einer Welt, die scheinbar n ur von individuellen Atomen und
großen ökonomischen und geopolitischen Einheiten geteilt zu wer­
den vermag. Oder von Multituden, durch die sich Brownsche Be­
wegungen und dickflüssige Strömungen hindurchziehen, die die­
se Multituden a ussaugen und gerinnen lassen. Der Raum, der
fehlt, ist just der des singulär P luralen. Also auch der des Seins -
und damit dessen, was entschieden nicht das Substrat des Seien­
den in toto ist, sondern vielmehr die Existierenden gemeinsam auf
den Weg bringt, mit zu sein mit allen (den Menschen, Tieren,
Pflanzen, Lebenden und Toten, Elektronen, Galaxien ... ). Das
Mit, seine irreduziblen Struktur der Nähe und des Abstands, seine
irreduzible Spannung, die es zwischen dem Einen und dem Ande­
ren erzeugt, steht uns erneut bevor und muß gedacht werden:
Denn nur mit ergibt Sinn.
Vorbemerkung

Dieser Essay ist nicht in strenger Folge, sondern eher diskonti­


nuierlich aufgebaut und nimmt einige Themen immer wieder
auf. In gewisser Hinsicht kann man seine Abschnitte ohne Ord­
nung lesen. Manchmal wird man auf Wiederholu ngen stoßen.
Diese Disposition ist der Effekt einer grundsätzlichen Schwierig­
keit. Der Text verschweigt den Anspruch nicht, die gesamte
»prima philosophia« neu aufrollen zu wollen, indem er ihr das
»singulär Plurale« des Seins als Grundlegung gibt. Dies ist nicht
der Anspruch des Autors, dies entspricht vielmehr der Notwen­
digkeit der Sache selbst wie auch der Notwendigkeit unserer Ge­
schichte . Ich h o ffe, daß dafür wenigstens ein Gefühl aufkommt.
Aber zugleich ist - abgesehen davon , daß mir für die Durchfüh­
rung eines Traktats über »das singulär plurale Wesen des Seins«
die Kraft fehlen würde - die Form des o ntologischen Traktats
nicht mehr die angemessene, wo doch das Singuläre des Seins
selbst, u nd folglich das seiner Wissensch aft, fraglich geworden
ist . Das ist an sich nicht neu. Zumindest seit Nietzsche und aus
den verschiedensten anderen Gründen, welche zu denen , die ich
anspreche, noch dazukommen, ist die Philosophie mit ihrer
»Form«, d.h. mit ihrem »Stil« , das heißt l etztlich mit der Art, wie
sie anredet [son adresse], im Unreinen. Wie redet das Denken­
das Denken an (was auch heißt : es redet alle an, ohne daß es da­
bei um »Verständnis«, um den »Verstand« ginge , den man als »ge­
mein« bezeichnet) ? Wie steht das D enken zur Anrede? (Das phi­
losophische Traktat und mit ihm die »Philosophie« als s olche
käme einer Neutralisierung der Anrede gleich, einem subj ekt­
losen Diskurs des Subj ekt-seins selbst) . Anders gesagt, was ist
das »Gespräch der Seele mit sich selbst«, von dem Platon spricht
- wodurch deutlich wird, daß eine solche Frage oder Beunruhi­
gung seit jeher in unserer Geschichte enthalten ist. Wenn das
Denken angeredet wird , dann deshalb , weil der Sinn in der An­
rede liegt, nicht im Diskurs (aber er liegt i n der Anrede des Dis­
kurses) . Dies liegt an der vorrangigen ontologischen Bedingung

13
des Mit-seins oder des Zusammen-seins, von dem ich hier spre­
chen möchte . Der Diskurs einer Abhandlung genügt also nicht .
Es genügt auch nicht, den Diskurs durch eine bestimmte Form
der Anrede zu v erkleiden (als würde ich Dich die ganze Zeit du­
zen) . Anrede soll zugleich heißen, daß das Denken selbst »mich«,
»uns« anspricht , ausgehend von der Welt, der Geschichte, den
Menschen, den Dingen, ausgehend von »uns« . Daher rührt ein
anderer Ehrgeiz, oder besser eine andere, verdichtetere Erwar­
tung : daß die Anrede wahrnehmbar wird von einem Denken, das
uns von überall her erreicht, simultan, vielfach, wiederholt, insi­
stierend und variabel, und dabei niemand anderem ein Zeichen
gibt als »uns« und unserem neugierigen »Mit-ein-ander-sein«,
die-einen -die-anderen -anredend .
(Nebenbei sei erwähnt : D i e Logik d e s »mit« zwingt oft z u einer
ziemlich schwerfälligen Syntax, um das »Mit-ein-ander-sein«
[»etre-les-uns-avec-les-autres«} auszudrücken . Man könnte bei
der Lektüre dieser Seiten darunter leiden . Vielleicht ist es aber
kein Zufall, daß die Sprache sich schlecht dazu eignet, ein »Mit«
als solches auszustellen. Denn die Anrede ist das Mit selbst, und
nicht das , was angesprochen werden soll) .

Hier lauert natürlich und wieder einmal die Illusion, »Form«


und »Inhalt« glei chsetzen zu wollen, die Wahrheit selbst in Prä­
senz, so als könnte ich als Seismograph unseres Bebens, unserer
Erregungen, unserer Sorgen und unserer Anreden ohne Adressat
an alle Adressaten schreiben. Mit Nietzsche antworte ich ledig­
lich : Nein , kein Wille, nie habe ich gewußt , was wollen ist . Oder
auch: der Wille (oder das Verlangen) ist kein Denken , er ist eine
Erschütterung , ein wid erhallender Schock.

14
Vom singulärpluralenSein
»Gut ist es, an andern sich zu halten,
denn keiner trägt das Leben allei n . «

Friedrich Hölderlin

»Indem das menschliche Wesen das wahre Gemeinwesen der


Menschen, so schaffen, produzieren die Menschen durch Betäti­
gung ihres Wesens das menschliche Gemeinwesen, das gesell­
schaftliche Wesen, welches keine abstrakt-allgemeine Macht ge­
genüber dem ein zelnen Individuum ist, sondern das Wesen eines
jeden Individuums, sein eigne Tätigkeit, sein eignes Leben, sein
eigner Geist, sein eigner Reichtum ist. [...] Es ist daher ein identi­
scher Satz, daß der Mensch sich selbst entfremdet, und daß die
Gesellschaft dieses entfremdeten Menschen die Karikatur seines
wirklichen Gemeinwesens, seines wahren Gattungslebens ist. «

Karl Marx,
A us den Exzerptheften ,
MEGA I , 5 36
1. Daß wir der Sinn sind

Man wiederholt heute oft, daß wir unter Sinnverlust leiden, daß
wir Mangel, folglich Bedarf an Sinn haben , und folglich auf Sinn
warten. Das »Man«, das so spricht, vernachlässigt nur, daß die
Äußerung eines solchen Diskurses Sinn macht. Bedauern über
einen abwesenden Sinn macht i mmer noch Sinn. Aber es macht
Sinn nicht nur im Modus des N egativen, wo es die Präsenz des
Sinns verneint und folglich bejaht, daß man weiß, was Sinn
wäre, wenn er da wäre, und in diesem Mo dus die Herrschaft und
Wahrheit des Sinns bewahrt (das ist der Anspruch der humanis­
tischen Diskurse, die fordern oder vorschlagen, den Sinn »wie­
derzufinden«) . Der gegenwärtige Diskurs über den Sinn tut
mehr. Ob er es weiß oder nicht, er tut viel mehr und er tut etwas
ganz anderes : Er macht klar, daß »der Sinn«, derart absolut ge­
braucht , der entblößte Name unseres Mit-ein-ander-seins ist . Wir
»haben« keinen Sinn mehr, weil wir selbst der Sinn sind, ganz
und gar, ohne Rückhalt, unendlich, ohne einen anderen Sinn als
»UDS«.
Das heißt nicht, daß wir der Inhalt des Sinns wären, seine Fül­
lung oder seine Erfüllung, so wie man sagt, daß der Mensch der
Sinn (der Zweck, die Substanz oder der Wert) des Seins , der Na­
tur oder der Geschichte sei . Der Sinn in diesem S inne, sprich: die
Bedeutung, die ein faktischer Zustand annähme und nach der er
zu bemessen wäre, ist genau das, von dem wir sagen, daß wir es
verloren haben . Aber der Sinn als Element, in dem Bedeutungen
hervorgebracht werden und zirkulieren können, das genau sind
wir. Die geringste Bedeutung ebenso wie die höchste (der Sinn
des »Nagels« wie der Sinn »Gottes«) hat nur dann einen Sinn und
ist also das, was sie ist, oder macht, was sie macht, wenn und in­
sofern sie kommuniziert wird - und sei es nur von »mir« zu »mir
selbst« . Der Sinn ist seine eigene Kommunikation, oder seine ei­
gene Zirkulation. Der »Sinn des Seins« ist nicht irgendeine Eigen­
schaft, welche das bloße Gegebene des reinen und einfachen

19
»Seins« qualifiziert, füllt oder nach einem Zweck hin ausrichtet. 2
Viel eher ist der Fall , daß es kein »bloßes Gegebenes« des Seins
gibt, daß es das so rettungslos arme Es gibt, das man repräsen­
tiert, wenn man sagt , daß dort ein Nagel herumliegt, nicht gibt . ..
Doch das Gegebene des Seins , das Gegeb ene, das schon mit dem
Faktum, daß wir etwas begreifen , gegeben ist - was dies auch sei
und so konfus es sein mag - dieses Gegebene ist folgendes: Das
Sein selbst ist uns gegeben als der Sinn. Das Sein hat keinen Sinn,
aber das Sein selbst, das Phänomen des Seins , ist der Sinn , der
seinerseits seine eigene Zirkulation ist - und wir sind diese Zir­
kulation.
Es gibt keinen Sinn, wenn der Sinn nicht geteilt wird, nicht,
weil es eine - letzte oder erste - Bedeutung gäbe, die allen ge­
mein wäre , s ondern weil der Sinn selbst als Teilen [partage]
des Seins ist. Der S inn beginnt dort, wo die Präsenz nicht reine
Präs enz ist, sondern sich verzweigt und als solche sie selbst ist .
Dieses »als« unterstellt Abstand [ecartement], Verräumlichung
[espacement] und Teilung [partition] der Präs enz . Allein schon
der Begriff der »Präsenz« enthält die Notwendigkeit dieser Auf­
teilung. Die reine ungeteilte Präsenz , Präsenz zu nichts, von
nichts , für nichts, ist weder an- noch abwesend: bloße Implosion
ohne Spuren eines Seins, das somit nie gewesen ist.
D eshalb ist, was man die »Schöpfung der Welt« nennt , nicht die
Produktion eines reinen Etwas ausgehend von nichts, das folg­
lich nur implodieren würde im Nichts , aus dem es nie hervor­
getreten wäre, sondern es ist die Explosion der Präsenz in der

2. Man erkennt leicht, was hier dem §32 aus Sein und Zeit entstamm t . Es
kommt mir jedoch im allgemeinen - und wenn, dann nur im Notfall - weniger
darauf an zu entwickeln, was ein Kommentar Heideggers ergäbe, als weiter­
zugehen ausgehend von ihm und einigen anderen - was letztlich heißt: ausge­
hend von uns. In diesem uns, und in dieser Beziehung zu Heidegger muß
erinnert werden an den enormen Anteil, den Hannah Arendt und ihr Denken
der »menschlichen Pluralität« daran hat, das jetzt auf französisch zugänglich ist
(Qu'est-ce que la politique?, übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Syl­
vie Courtine-Denamy, Paris 1995 [dt . : Was ist Politik? Fragmente aus dem Nach­
laß, hrsg . Von Ursula Ludz, München 1 9 93]) .

20
ursprünglichen Vielheit ihrer Aufteilung. Explosion des Nichts, in
der Tat : Verräumlichung des Sinns, Verräumlichung als Sinn,
und Zirkulation. Das nihil der Schöpfung ist die Wahrheit des
Sinns , aber der Sinn ist das ursprüngliche Teilen dieser Wahr­
heit . Was sich auch auf diese Weise ausdrücken läßt: Das Sein
kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als
das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert .
Es gibt keinen anderen Sinn als - wenn es denn erlaubt ist, dies
so auszudrücken - den Sinn der Zirkulation 3 - und diese dringt
gleichzeitig in alle Richtungen, durch die Präsenz in die Präsenz,
in alle Richtungen aller offenen Raum-Zeiten . Alle Dinge, alles
Seiende, alles Existierende, die Vergangenheiten und die Zu­
künfte4 , die Lebenden und die Toten, die Unbeseelten, die Steine,
die Pflanzen, die Nägel , die Götter - und »die Menschen«, sprich,
diej enigen, die Teilen und Zirkulation als solche exponieren, in­
dem sie »wir« sagen, indem sie zu sich wir sagen in j edem mög­
lichen S inn dieses Ausdrucks, und indem sie zu sich wir für die
Totalität des Seienden sagen.

(Wir zu sagen für alles Seiende, das heißt für jeden Seienden, für
je alle Seienden einzeln, jedes Mal im Singular ihres wesensmäßi­
gen Plurals. Für alle, an ihrem Platz, in ihrem Namen - darunter
diejenigen, die vielleicht keinen Namen haben -, die Sprache
spricht für alle und von allen, sie sagt das, was es mit der Welt,
der Natur, der Geschichte und dem Menschen auf sich hat, und sie
spricht auch für sie und im H inblick auf sie, um den zu leiten, der
spricht, denjenigen, durch den die Sprache ankommt und durch­
dringt (»der Mensch«) in Richtung auf jenes Ganze des Seienden,

3. Sens: Sinn, Richtung. Nancy spielt darauf an, daß der Ausdruck »sens de la
circulation«, S inn der Zirkulation, in der Umgangssprache als »Richtung des
Straßenverkehrs« geläufig ist, wo der Satz dann folgendermaßen verstanden
würde: Es gibt keine andere Richtung . . . als die Richtung des Straßenverkehrs -
und der geht in alle Richtungen (A . d . Ü . ) .
4. A-venir, wiedergegeben mit Zu-kunft, ein Begriff Derridas, der sowohl Zu­
kunft im Sinn von »was kommt« als auch im Sinn von »was zu kommen hat«
bedeutet (A . d.Ü . ) .

21
das nicht spricht, aber das deshalb nicht weniger ist - Stein,
Fisch, Faser, Teig und Riß, Block und H auch . Der Sprechende
spricht für die Welt, was heißen so ll: zu ihr hin, in i hre Richtung,
zu ihren Gunsten, a lso um aus ihr eine » Welt« zu machen, und
insofern »an i hrer Stelle«, und »nach ihrem Maß« , als ihr Reprä­
sentant, aber zugleich auch (alle Wertigkeiten des lateinischen
>pro<) ihr entgegen , vor i hr, ihr ausgesetzt, als zu ihrer eigensten
und intimsten Betrachtung. Die Sprache sagt die Welt, das heißt
sie verliert sich in i hr, und führt aus, wie es »in ihr« darum geht,
sich zu verlieren, um eine von ihr, mit ihr zu sein, um von ihrem
Sinn zu sein, der aller Sinn ist) .

Die Zirkulation dringt in alle Sinne: Das ist das Nietzschesche


Denken der »ewigen Wiederkehr«, die Affirmation des Sinns als
die Wiederholung des Augenblicks, nichts als diese Wiederho­
lung, und folglich nichts (da es sich um die Wiederholung dessen
handelt, was wesentlich nicht wiederkommt) , aber diese Wieder­
holung als schon inbegriffen in der Affirmation des Augenblicks,
in dieser Affirmations-Frage (re-petitio) , die gefaßt wird im Ent­
gleiten des Augenblicks, wobei sie das Übergehende der Präsenz
bestätigt und s elbst mit dieser vorübergeht, eine in ihrer Bewe­
gung sogleich verlassene Affirmation - ein unmögliches Denken,
ein Denken, das sich in der Zirkulation, die es denkt, nicht zu­
rückhält, ein D enken des Sinns, das selbst der Sinn ist, der Sinn
seiner Ewigkeit als die Wahrheit seines Übergangs . (Wie im Au­
genblick, in dem ich dies schreibe, eine rotbraun-weiß getigerte
Katze durch den Garten streift und mit einem Anflug leisen
Spotts mein Denken mit dem ihren entführt . )
Auf solche Weise i s t d a s Denken der ewigen Wiederkunft das­
jenige Denken, das unsere zeitgenössische Geschichte eröffnet
und das wir wiederum selbst wiederholen müssen (bereit, es
wenn nötig anders zu benennen) : Wir müssen uns das, was uns
schon zu »uns« gemacht hat - heute, j etzt, hier - erneut aneig­
nen, das Wir einer Welt, die ahnt, daß sie keinen Sinn mehr hat
und j ust dieser Sinn aber ist. Wir als Anfang und Ende der Welt

22
überall, unerschöpflich in der U mschreibung, die nichts um­
schreibt, die »das« Nichts umschreibt. Wir machen Sinn: nicht,
indem wir über Preise oder Werte debattieren, sondern indem
wir den absoluten Wert ausstellen, der die Welt aus sich selbst
heraus ist. »Welt« will nichts anderes besagen, nichts als dieses
»Nichts« , das nichts »besagen wollen« kann, das aber alles Sagen
sagt: das Sein selbst als absolutes Werten an sich all dessen, was
ist; aber dieses absolute Werten als Mit-sein von allem was ist,
ist selbst nackt und nicht wertbar. Weder Besagen-wollen, noch
wertendes Sagen [ ni vouloir-dire, ni dire-valoir], sondern der
Wert als solcher, das heißt »der Sinn«, der nur deshalb derj enige
des Seins ist, weil er das Sein selbst ist: seine Existenz, seine
Wahrheit. Die Existenz j edoch ist mit: o der es existiert nicht s .
D i e Zirkulation - oder d i e Ewigkeit - reicht in alle Sinn-Richtun­
gen, aber sie reicht dorthin nur, insofern sie von einem Punkt zu
einem anderen verläuft: Verräumlichung ist ihre absolute Bedin­
gung. Von Ort zu O rt und von Augenblick zu Augenblick, ohne
Progression, ohne lineare Bahn, i m einzelnen Fall und von Fall
zu Fall, zufällig ihrem Wesen nach, ist sie singulär und p lural
schon ihrem Prinzip nach . So wenig wie eine letztliehe Erfüllung
gibt es für sie einen Ausgangspunkt . Sie ist die ursprüngliche Plu­
ralität der Ursprünge und die Schöpfung der Welt in j eder Singu­
larität : kontinuierte Schöpfung in der Diskontinuität ihrer diskre­
ten Vorkommniss e . Wir- genau wir5- sind nunmehr befaßt mit
dieser Wahrheit, die mehr denn je die unsere ist, j ener Wahrheit
der paradoxen »ersten Person Plural«, die den Sinn der Welt aus­
macht als die Verräumlichung und Verflechtung ebenso vieler
Welten - Erden, Himmel, Geschichten - wie es Statt-finden des

5. »Zwischen dem >wir alle< des abstrakten Universalismus und dem >Ich, ich<
[moi, je} des elenden Individualismus gibt es das >genau wir< [nous autres]
Nietzsches, ein Denken des singulären Falls, der den Gegensatz von Partikula­
rem und Universellem ausspielt«. Fran<;ois Warin, Nietzsche et Bataille. La para­
die a l'infini, Paris, 1994, S. 256; (Das emphatische Wir des »nous autres«, das
wir mit »genau wir« wiedergeben, erweckt im Französischen zugleich die Asso­
ziation des »Anderen« [autre} (A.d.Ü.)].

23
Sinns gibt, oder Übergänge der Präsenz. »Wir« besagt (und »wir
sprechen aus«) - das einzige Ereignis , dessen Einzigartigkeit und
Einheit in der Vielheit besteht .
2. Die Leute sind sonderbar

Alles spielt sich also unter bzw. zwischen uns [entre nous} ab :
dieses »Zwischen« hat, wie sein Name es andeutet, weder eine ei­
gene Konsistenz, noch Kontinuität . Es führt nicht von einem zum
anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement , keine Brücke .
Vielleicht ist es nicht einmal richtig, von ihm als von einem
»Band« zu sprechen: Es ist weder gebunden noch ungebunden,
es ist diesseits von beidem, o der aber es ist das , was i m Zentrum
eines Bandes ist, die Kreuzung der Quentchen, deren Extremitä­
ten bis in ihre Verknotung hinein getrennt bleiben. Das »Zwi­
schen« ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären
als solchem eröffnet wird , und eine Art Verräumlichung seines
Sinns . Was nicht die Distanz des »Zwischen« hält, ist nichts als
in sich verschmolzene I mmanenz und sinnentleert .
Von einem Singulären zum anderen b esteht Kontiguität , aber
ohne Kontinuität . Es gibt Nähe, j edoch insofern, als noch das ex­
trem Nahe den Abstand beklagt, der sich vor ihm auftut . Alles
Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist
Trennung, und mehr noch, es ist Heterogenität der Oberflächen,
die sich berühren. Der Kontakt ist j enseits von voll und leer,
von gebunden und ungebunden . Ist »in Kontakt treten« der Be­
ginn, für ein-ander Sinn zu machen, so dringt dieser »Anfang« in
nichts , in keinerlei dazwischenliegendes vermittelndes Milieu.
Der Sinn ist nicht ein Milieu , in das wir eingetaucht sind: Es gibt
keinen »Halb-Ort« [mi-lieu} , es ist das eine oder das andere , das
eine und das andere, das eine mit dem anderen, aber nichts, das
zwischen dem einen und dem anderen, oder noch etwas anderes
wäre als das eine oder das andere (etwa ein anderes Wesen, eine
andere Natur, eine diffuse oder unbegründete Allgemeinheit) .
Zwischen dem einen und dem anderen wiederholen sich in Syn­
kopen die Ursprünge-der-Welt , die j edes Mal das eine o der das
andere sind .
.�Ursprung ist Affirmation; Wiederholung ist Bedingung der Af­
firmation. Sage ich »Dies ist, damit dies s ei«, so ist das kein »Fak-

25
turn«, und es hat nichts zu tun mit irgendeiner Art von Bewer­
tung [ eualuation], es ist die Beschneidung einer Singularität in
ihrer Affirmation des Seins: eine Berührung von Sinn . Was kein
anderes Sein ist, s o ndern das .Singuläre des Seins, durch welches
das Sein ist, oder das Sein, welches das Seiende ist in einem tran­
sitiven Sinn des Verbs (unerhörter Sinn, unhörbar - der Sinn des
Seins selbst) . Die B erührung des Sinns bringt eine eigene Singu­
larität ins Spiel, ihre Unterscheidung - und die Pluralität des »j e­
des Mal« aller Berührungen des Sinns , die »meinigen« wie alle
anderen, von denen j ede, wenn sie an der Reihe ist und auf ihrer
Bahn [a son tour], »meine« ist, entsprechend der singulären Bahn
ihrer Affirmation .
E s gibt also sogleich eine Wiederholung der Berührungen des
Sinns, die der Sinn erfordert. Eine solche absolut heterogene, in­
kommensurable Wiederholung löst untereinander eine irreduzi­
ble Fremdheit aus . Der andere Ursprung ist unvergleichbar, nicht
weil er schlicht der »andere« wäre, sondern weil er Ursprung
und Berührung des Sinns ist . Oder vielmehr: Die Alterität des
Anderen ist s eine Kontiguität des Ursprungs mit dem Ursprung
»selbst« . Du b ist absolut fre�m d, denn die Welt beginnt ihrerseits
(und mit ihrer Bahn) oei dir.
6
Wir sagen: »Die Leute sind sonderbar « . Dieser Satz ist eine un­
serer konstantesten rudimentären ontologischen Bezeugungen.
Und tatsächlich besagt er viel. »Die Leute« sind alle anderen, un­
unterschieden, bezeichnet als Ensembles von Bevölkerungen ,
Ahnenreihen oder Rassen (gentes) , von denen derj enige , der
spricht, sich folglich ausnimmt. (Er nimmt sich freilich auf sehr
besondere Weise aus, denn die Bezeichnung ist so allgemein - in
diesem Fall muß man es so ausdrücken . . . - , daß sie unvermeid­
lich auf den S precher zurückfällt. Wenn ich s age, daß »die Leute

6. Die französische Wendung »!es gens sont bizarre« ist ein verbreiteter ge­
wöhnlicher Ausdruck, dem umgangssprachlich: »die Leute sind komisch«, ent­
spricht; wir benötigen »komisch« für comique und übersetzen hochsprachlicher
mit »sonderbar«. (A. d.Ü.)

26
sonderbar« sind, schließe ich mich in gewisser Wei se in diese
Sonderbarkeit mit ein) .
Der Ausdruck » les gens« deckt das Heideggersche »Man« nicht
genau ab 7 , auch wenn er teilweise dessen Modalisierung ist. Im
»Man« - so wie man es sagt - ist nicht immer entschieden, ob
derjenige, der spricht, sich selbst in die Anonymität des »man«
einschließt oder nicht . Zum Beispiel kann ich s agen: »Man h at
mir gesagt«, oder »Man sagt, d aß«, oder: D as macht man so«,
oder »Man wird geboren, man stirbt« : Das »man« ist hier nicht
gleich verwendet, und vor allem ist es nicht sicher, daß hier
immer das »Man« von sich selbst (ausgehend von sich selbst)
spricht. Heidegger seinerseits betrachtet nur das »Man«, das als
Antwort auf die Frage »Wer?«, bezogen auf das Dasein * , aus­
gesprochen wird , aber er stellt nicht die andere Frage, die j edoch
unvermeidlich ist, nämlich wer diese Antwort gibt und wer,
wenn er so antwortet, sich s elb st ausnimmt oder jedenfalls dazu
neigt . Dadurch läuft er Gefahr zu übersehen, daß es ein »Man«,
in dem das Existierende als »eigentlich Existierendes« vor allem
anderen eingetaucht wäre, schlicht und einfach nicht gibt. »Les
gens« bezeichnet klar die Modalisierung des »Man« , durch wel­
ches »ich« mich davon ausnehme - und in diesem Fall so, daß es
scheint, als hätte ich vergessen oder vernachlässigt , selbst ein
Teil der »gens«, der Leute, zu sein. Dennoch kommt dieses Bei­
seiteschieben nicht ohne Anerkennung der Identität aus : »Les
gens« drückt ebenso klar aus , daß wir alle genau »gens« sind, das
heißt in ununterschiedener Weise Personen, Menschen, ein gan­
zes gemeinsames genre, j edoch ein Genre, das nur zahlreich exi­
stiert , zerstreut, ununterschieden in seiner Allgemeinheit und
faßbar nur in der paradoxen Simultaneität der (anonymen , ver-

7. Ich halte mich hier weder bei einer möglicherweise i nstruktiven Untersu­
chung der Bezeichnungen »Leute« [gens] und »Man« [an} i n unterschiedlichen
Sprachen auf, noch bei der Geschichte des Wortes »Leute [les gents}« (gentes,
»Gentils« [Adlige], Nationen, usw. ) .
Deutsche Begriffe i m Original werden mit einem nachgestellten Asteriskus*
gekennzeichnet (A. d . Ü . ) .

27
worrenen, j a massiven) Menge und der verstreuten Singularität
(der Leute: j edes Mal diese oder j ene »gen (s) «, Leute, oder wie
wir sagen »ein Typ«, »ein Mädchen«, »ein Kind«) .
»Die Leute« ist nicht das anonyme Gerede der »Öffentlichkeit« ,
sondern die zugleich ungenauen und vereinzelten Umrisse, die
Andeutungen von Stimmen, der Verhaltensmuster, der Affekt­
regungen . Aber was ist ein Affekt , wenn nicht j edes Mal eine Re­
gung? Eine Stimme, wenn nicht j edes Mal eine Andeutung? Was
ist eine Singularität , wenn nicht j edes Mal ihr »eigenes« Bahnen ,
ihr eigenes Bevorstehen, das Bevorstehen eines »Eigenen« oder
das Eigene selbst als Bevorstehen, immer berührt, immer ge­
streift : Es zeigt sich neben-an [a c6te] , i mmer nebenan. (Wie der
Argot-Ausdruck sagt: »a c6te de ses pompes« 8 - und das Komi­
sche des Ausdrucks ist kein Zufall , ob er eine Besorgnis über­
deckt oder dem Lachen eines Nicht- Wissens freien Lauf gibt:
immer handelt es sich um ein Zurückweichen vor dem Aller­
nächstliegenden, seine Vermeidung und Entleerung, eine im
voraus geahnte Sonderbarkeit, die doch gerade die Regel ist . )
D i e Ausnahme oder Unterscheidung , durch die »ich« mich ab­
setze , wenn ich »die Leute« sage, weise ich irgendwie auch j e­
dem (j eder) der Leute zu . Vermutlich deshalb ziehen die Leute s o
oft d a s Urteil a u f sich : »Die Leute sind sonderbar« , oder »Die Leu­
te sind unmöglich«. Es geht nicht nur und in erster Linie darum
(was auf lange Sicht evident ist) , unseren eigenen Habitus zur
Norm zu erheben. Man muß eine einfachere Ordnung dieses Ur­
teils herausfiltern, wo das , was es aufgreift, nichts anderes ist als
Singularität als solche. Vom Gesicht zur Stimme, zu den Gesten,
den Haltungen, dem Gebaren und Benehmen - und was auch im­
mer die »typischen« Züge sind, die so großzügig verteilt werden :
Es gibt niemanden , der sich nicht bemerkbar macht durch eine
Art augenblickliche Überstürztheit, in der sich die Fremdheit
einer Singularität ausdrückt . Ohne solche Überstürztheit gäbe es
schlicht keinen »j emand« . Und es gäbe auch nicht Interesse oder

8. Wörtlich : neben seinen Schuhen stehen , etwa: neben der Kapp' (A . d . ü .) .

28
Feindschaft, Verlangen oder Abscheu , auf wen es sich auch im­
mer beziehen würde.
Jemand , sie oder er - so wie man bei einem Photo sagt: »Das ist
ganz er« und damit meint, daß durch dieses »ganz« eine Abwei­
chung, eine Angleichung des Ungleichen verdeckt wird, die auf
nichts anderes bezogen werden kann als auf ein »augenblickli­
ches« Erfassen des Augenblicks , der eben nichts anderes i st als
seine eigene Abweichung. Das Photo - ich spreche vom alltägli­
chen, banalen Photo - macht gleichzeitig Singularität und Bana­
lität deutlich, und unsere Neugierde , die zwischen beidem hin­
und herpendelt
Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit erreicht hier seine ent­
scheidende Zuspitzung. Die Leute sind nicht nur unterschiedlich,
sondern sie unterscheiden sich alle - wenn von sonst nichts,
dann voneinander. Sie unterscheiden sich nicht von einem Ar­
chetyp oder einer Allgemeinheit. Die typischen Züge (ob sie nun
ethnisch, kulturel l , sozial oder generationsbedingt usw. s eien) , ·

deren eigene Schemata ihrerseits eine andere Ordnung der Sin­


gularitäteil konstituiert, schaffen singuläre Differenzen nicht nur
nicht ab , sondern lassen sie vielmehr zutage treten. Dabei sind
die singulären Differenzen nicht nur »individuell«, sondern infra­
individuell: Mir begegnen nie Pierre oder Marie, sondern der eine
oder die andere in gewisser »Form« , einem »Zustand« oder einer
»Stimmung«, usw .
Diese sehr bescheidene Schicht unserer alltäglichen Erfahrung
enthält eine bruchstückhafte ontologische B ezeugung: Was wir
in der Tat (eher als daß wir es wahrnehmen) mit den Singulari­
täten entgegennehmen , ist ein diskreter Übergang zu anderen Ur­
sprüngen der Welt. Was sich hier setzt, biegt, sich neigt, sich ver­
windet , sich ausrichtet, sich verweigert - vom Neugeborenen bis
zum Leichnam - ist nicht in erster Linie ein »Nächster«, noch ein
»Anderer« oder ein »Fremder« oder »Ähnlicher« , sondern ein Ur­
sprung, eine Affirmation der Welt - und wir wissen, daß die Welt
keinen anderen Ursprung hat als diese singuläre Vielheit von
Ursprüngen. Die Welt entspringt immer und j edes Mal in einer

29
exklusiven lokal-augenblicklichen Wendung. Ihre Einheit, Ein­
zigkeit und Totalität besteht in der Kombinatorik dieser vernetz­
ten Vielheit ohne Resultante.
Ohne diese Bezeugung gäbe es keinerlei erstliehe Bezeugung
der Existenz als solcher, das heißt j enes Nicht-Wesens und j ener
Nicht-durch-sich-Substanz, die den Grund des Selbst-seins aus­
macht . Deshalb ist das Heideggersche Man als erste Annäherung
an die existentielle »Alltäglichkeit« nicht hinreichend. Es be­
wirkt, daß das Alltägliche m it dem Indifferenten, Anonymen und
Statistik verwechselt wird . Was nicht weniger wichtig ist - sie
können sich aber nur in einer Beziehung mit der differenzierten
Singularität konstituieren, die das Alltägliche schon von selbst
ist: j eder Tag, j edes Mal, von Tag zu Tag.
Man kann nicht behaupten, der Sinn des Seins müsse sich aus­
gehend von der Alltäglichkeit zeigen, und dann damit beginnen,
das allgemein Differentielle des Alltäglichen, seine ständig erneu­
erte Bruchhaftigkeit, seine intime Dis kordanz, seine Polymorphie
und Polyphonie, das Modellierte und Schillernde an ihm zu ver­
nachlässigen . Ein »Tag« ist nicht bloß eine Recheneinheit Er ist
der immer wieder singuläre Lauf der Welt, und die Tage , sprich
alle Tage , könnten »einander« nicht »gleichen«, wie man sagt ,
wenn sie nicht zunächst unterschiedlich, der Unterschied s elbst
wären . Dasselbe gilt für die »Leute«, oder vielmehr »die Leute«
sind mit der irreduziblen Sonderbarkeit, die sie als solche konsti­
tuiert, selbst in erster Linie die Exposition der Singularität , der­
nach die Existenz auf irreduzible Weise und erstlieh existiert -
und in einer Singularität, von der die Erfahrung auch bezeugt,
daß sie mit der Totalität des Seienden kommuniziert oder sich ihr
mitteilt: Auch die »Natur« ist »sonderbar« , und wir existieren
darin, wir existieren an ihr im Modus einer immer wieder erneu­
erten Singularität, sei es der Diversität, der Disparität unserer
Sinne, der verstörenden Üb erfülle ihrer Arten o der ihrer Meta­
morphosen in der »Technik« . Auch hier sprechen wir uns für das
Seiende aus , wenn vom Sonderbaren, Befremdlichen, Seltsamen ,
Verstörenden die Rede ist.

30
Die Themen »Staunen« und »Wunder des Seins« sind verdäch­
tig, sofern sie auf eine ekstatische Mystik verweisen, welche
aus der Welt zu flüchten vorgibt. Das Thema »wissenschaftliche
Neugier« ist es nicht weniger, wenn es sich auf das Sammler­
geschäft von Raritäten bezieht . In beiden Fällen unterstellt der
Wunsch nach Ausnahme die Geringschätzung des Gewöhnli­
chen. Hegel war wohl der erste, der das der Moderne eignende
Bewußtsein des gewaltsam paradoxen D enkens hatte, dessen ei­
gentliches Gut das Unerhörte und dessen Bereich das Grau in
Grau der Welt ist. Das gewöhnliche Grau, die Bedeutungslosig­
keit des Alltäglichen - dessen Akzentuierung im Heideggerschen
»Man« aufbewahrt ist - unterstellt eine abwesende »Größe«, die
sich verloren und entfernt hat . Die Wahrheit kann j edoch nichts
anderes sein als die Wahrheit des Seienden als Totalität, das
heißt in der Totalität ihres »Gewöhnlichen«, ebenso wie der Sinn
nirgends sonst sein kann als in der Existenz selbst, und nicht an­
derswo. Die moderne Welt verlangt, daß diese Wahrheit gedacht
wird: daß der Sinn hier selbst ist . Er ist in der unbestimmten
Pluralität der Ursprünge und in ihrer Ko-Existenz . Das »Gewöhn­
liche« ist hier immer außergewöhnlich, sofern man seinem ur­
sprünglichen Charakter zum Recht verhilft. Was wir ganz all­
gemein als »Sonderbarkeit« entgegennehmen, ist genau dieser
Charakter. In der bloßen Existenz und nach dem Sinn der Welt
ist die Ausnahme die Regel . (Und geben Kunst und Literatur
nicht genau davon ein Zeugnis ? Liegt nicht der vorrangige und
vielleicht einzige Dienst ihrer gleichfalls sonderbaren, bizarren
Existenz darin, diese S onderbarkeit, diese Bizarrerie auszustel­
len? Auch in der Etymologie des W orts »bizarr«, sei es im Baski­
schen oder Arabischen, findet man übrigens: Tap ferkeit, sicheres
Auftreten und Eleganz . )

31
3. Zum Ursprung gelangen

Zugang zum Ursprung zu erhalten heißt in den Sinn eintreten,


heißt nun also, sich dieser Wahrheit auszusetzen.
Das bedeutet sogleich, daß wir nicht hingelangen : Der Zugang
ist verwehrt, weil der Ursprung sich in seiner Vielheit verbirgt .
Wir haben keinen Zugang heißt, daß wir zum Ursprung nicht
durchdringen, wir identifizieren uns nicht mit ihm. Oder ge­
nauer, wir identifizieren uns nicht in ihm, noch auf seine Art,
sondern mit ihm, in einem Sinn, den es hier zu erhellen gilt - und
der kein anderer ist als der Sinn der ursprünglichen Ko-Existenz .
Was die Alterität des Anderen ausmacht, ist sein Ursprungsein.
Umgekehrt ist, was die Ursprünglichkeit des Ursprungs aus­
macht, sein Anders-sein - aber ein Anders-sein als alles Seiende
für alles Seiende und durch alles S eiende. Also ist die Ursprüng­
lichkeit des Ursprungs , die ein Seiendes von allen anderen unter­
scheidet, keine Eigenschaft: Denn ein solches Seiendes müßte
dann noch einmal anders als es selbst sein, um seinerseits seines
Ursprungs habhaft zu werden. Das ist die allerklassischste apo­
retische Ressource Gottes und der Beweis seiner Nichtexistenz .
Tatsächlich läuft die kantische D estruktio n des o ntologischen Ar­
guments von Anfang an auf das hinau s , was man dort fast wört­
lich entziffern kann : Die Notwendigkeit der Existenz ist gegeben
als das Selbst-existieren-können von allem Existierenden in sei­
ner Diversität und Kontingenz, die selbst kein zusätzliches Sein
konstituieren kann. Die Welt hat keinen Zusatz : Ihr ist sie selbst
als solche hinzugesetzt, grenzenlo s und unbestimmt hinzuge­
setzt vom Ursprung an.
Das aber zieht eine wesentliche Konsequenz nach sich: Das An­
ders-sein des Ursprungs ist nicht die Alterität eines »Anders-als­
die-Welt« . Es geht nicht um ein ANDERES (unvermeidlich »großes
ANDERES«) als die Welt, es geht um Alterität - oder Alteration -
der Welt. Man könnte es folgendermaßen ausdrücken: Es geht
nicht um ein aliud oder einen alius, noch um einen alienus, ein
Anderes im allgemeinen als wesensmäßiges Fremdes, das dem

33
Eigentlichen gegenübersteht, sondern um einen alter, das heißt
um »einen von beiden« : Dieses »Andere«, dieses »kleine Andere«
ist »eines« von mehreren, sofern es mehrere sind, ist jeder andere
und ist jedes Mal einer, einer unter ihnen , einer unter allen und
einer unter uns allen . Zugleich und umgekehrt ist »wir« zwangs­
läufig immer »wir alle«, von denen nicht einer »alles« ist und von
denen j eder auf seiner B ahn- von allen simultanen wie sukzes­
siven Bahnen, von den Bahnen in allen Richtungen 9 - der andere
Ursprung derselben Welt ist.
Das »Außen« des Ursprungs ist »innen« - in einem inneren In­
nen als das innere Extrem , das heißt mehr innen als die Intimität
der Welt und j edes »Ich« . Wenn Intimität b estimmt wird als die
Extremität der Koinzidenz mit sich, dann ist das, was die Intimi­
tät an Interiorität üb erschreitet, die Verborgenheit der Ko-Inzi­
denz selbst , als eine Ko-Existenz der Ursprünge - und es ist kein
Zufall, daß man das Wort »Intimität« öfter als Bezeichnung für
eine Beziehung zwischen mehreren als für eine Beziehung zu
sich selbst benutzt . Unser Mit-sein, als Zu-mehreren-sein, ist kei­
neswegs zufällig, es ist keineswegs die sekundäre und aleatori­
sche Zerstreuung eines primären Wesens : Es bildet vielmehr den
Status und die Konsistenz der ursprünglichen Alterität als sol­
cher, die dieser eigentümlich ist und notwendig zuko mmt. Die
Pluralität des Seienden steht am Grund des Seins.
Ein einziges Seiendes ist den Begriffen nach ein Widerspruch.
Tatsächlich bliebe ein solches Seiendes , das an sich selbst sein
Fundament , seinen Ursprung und s eine Intimität hätte, unfähig
zu sein, in j edem Sinn, den dieser Ausdruck hier annehmen
kann . »Sein« ist kein Zustand, auch keine Eigenschaft, sondern
j ene Aktion/Passion, derzufolge das geschieht (»ist«) , was K ant
»bloß die Position eines Dinges« nennt. 10 Das »bloß« bei dieser
»Position« meint nicht mehr - aber auch nicht weniger - als seine

9 . Vgl. Anmerkung 3 (A . d . Ü . ) .
1 0. Kritik der reinen Vernunft, Das Ideal der rei nen Vernunft, Vierter Abschnitt,
B 626; wir setzen hier auch Kants These über das Sein von Heidegger (in: Weg­
marken, GA 9) voraus .

34
Diskretion im mathematischen Sinn oder seine Unterschieden­
heit von anderen (zumindest möglichen) Positionen. Man könnte
sagen : Keine Position, die nicht Dis-Position wäre , und in Korre­
lation dazu, wenn man das Aufscheinen b etrachtet, das mit die­
ser Position und in ihr passiert, kein Erscheinen� das nicht zu­
gleich Mit-Erscheinen [com-parution] wäre . Deshalb gibt sich der
Sinn des Seins als Existenz aus , das Bei-sich-außer-sich-sein
[l'etre-a-soi-hors-de-soi] , das wir d arlegen, wir, »die Menschen« ,
das wir so aber, wie gesagt, für die Totalität des Seienden darle­
gen .
Wenn der Ursprung in irreduzibler Weise plural ist, wenn er die
unbegrenzt entfaltete und vervielfachte Intimität der Welt ist,
dann gewinnt der Nicht-Zugang einen anderen Sinn . Seine N ega­
tivität ist nicht die eines Abgrunds , noch die eines Verbots, noch
die eines Schleiers oder von etwas Verheimlichtem, noch die ei­
nes Geheimnisses, noch eines Unpräsentierbaren. Sie muß also
auch nicht im dialektischen Modus operieren, in dem das Subj ekt
in sich seine eigene Negation aufbewahren müßte (da es die des
Ursprungs ist) , noch im mystischen Modus (insgesamt die Kehr­
seite) , wo das Subj ekt sich an seiner Negation erfreuen müßte.
In der einen wie in der anderen Figur ist die Negativität als
das aliud gegeben, und Entfremdung ist der Prozeß , der sich als
Wiederaneignung umkehren muß . Alle Formen des »großen
ANDEREN« legen diese Entfremdung des Eigenen zugrunde: die
»Majuskulierung« des »ANDEREN«, die schwindelerregende Ein­
zigartigkeit und Schneise seiner Transzendenz. Aber damit re­
präsentieren sie genau den herausragenden und überragenden
Modus der Eigenschaft des Eigenen, das fortbesteht und besteht
im »Irgendwo« eines »Nirgendwo« und im »Irgendwann« eines
»zu keiner Zeit«, das heißt im punctum aetemum des Außerhalbs
der Welt.
Aber das Außerhalb ist innen, ist die Verräumlichung der Dis­
Position der Welt , ist unsere Disposition und unsere Miterschei­
nung. Ihre »Negativität« ändert ihren Sinn . Sie schlägt nicht um
in Positivität, sondern sie entspricht dem S einsmodus der Dispo-

35
sition-Miterscheinung, der gerraugenommen weder negativ noch
positiv ist, s ondern einer des Zusammen-seins oder des Mit­
seins . Der Ursprung ist, zusammen mit anderen Ursprüngen, ge­
teilter Ursprung. I n der Wahrheit treten wir also zu ihm hinzu .
Wir treten hinzu im gerrauen Modus des Zutritts: Wir kommen
an, wir sind am Rand, so nah es geht, auf der Schwelle, wir rüh­
ren an den Ursprung. »Zur Wahrheit treten wir hinzu . . . «, lautet
ein Satz von Bataille1 1 , dessen Zweideutigkeit ich wiederhole, in­
dem ich u mkehre, worauf er hinausläuft , denn bei Bataille folgt
daraus die B ehauptung eines unmittelbaren Verlusts des Zutritts .
Vielleicht spielt sich alles gerrau zwischen Verlust und Aneig­
nung ab : weder das eine noch das andere, auch nicht das eine
und das andere, noch das eine im anderen, sondern viel sonder­
b arer, viel einfacher als das .
»Das Ziel erreichen« heißt auch, es womöglich zu verfehlen.
Aber der Ursprung ist kein Ziel. Ende wie Prinzip sind eine Form
des Anderen . Den Ursprung erreichen heißt nicht, ihn zu verfeh­
len; es heißt, ihm eigenst ausgesetzt zu sein. D er Ursprung, der
nicht etwas anderes (ein aliud) ist, ist weder »verfehlbar« noch
an eigenbar (zu durchdringen, absorbierbar) . Er gehorcht dieser
Logik nicht. Er ist die plurale Singularität des Seins des Seienden.
Wir erreichen ihn, insofern wir uns erreichen, und dort, wo wir
den Rest des Seienden erreichen. Wir erreichen uns, insofern wir
existieren . Uns zu erreichen ist das, was uns »uns« sein läßt, und

1 1 . Histoire des rats, CEuvres completes, III, Paris 1 9 7 1 , S. 1 1 4 (in Wahrheit


täuscht sich mein Gedächtnis, und Bataille schreibt: »wir langen an«; anlangen
[atteindre} , hinzutreten: als würde das Ungefähr des Erreichens des Ursprungs
verdoppelt. Aber man muß den ganzen Absatz von Bataille zitieren: »Wir ver­
fügen nicht über die Mittel, anzulangen: bei der Wahrheit langen wir an; wir
langen plötzlich bei dem Punkt an, wo wir hinwollten; und den Rest unserer
Tage verbringen wir damit, einen verlorengegangenen Moment zu suchen.
Aber wie viele Male verfehlen wir ihn, und zwar genau aus dem Grund, daß ihn
zu suchen uns von ihm abbringt, uns zu vereinigen; dies ist sicherlich ein Mit­
tel . . . ewig den Moment der Wiederkehr zu verfehlen. Plötzlich weicht nachts
in meiner Einsamkeit die Angst der Überzeugung: Das ist heimtückisch, das
reißt nicht einmal mehr heraus (wegen dem vielen Herausreißen reißt es nicht
mehr heraus) , plötzlich ist B's Herz in meinem Herzen. «

36
es gibt kein anderes Geheimnis zu entdecken oder auszugraben
hinter diesem Sich-selbst-erreichen, hinter dem »Mit« der Ko-Exi­
stenz .
Zur Wahrheit des Ursprungs haben wir ebenso oft Zugang, wie
wir einander und dem Rest des S eienden präsent sind. Der Zu­
gang ist dieses »zur Präsenz kommen«, aber die Präsenz selbst
ist Dis-Position, Verräumlichung der Singularitäten. Präsenz ist
nicht irgendwo anders als im »zur Präsenz kommen« . Wir treten
nicht zu einer Sache oder zu einem Zustand hinzu , sondern zu
einem Kommen. Wir treten hinzu - zu einem Zugang .
Die »Sonderbarkeit« besteht darin: Jede Singularität ist ein an­
derer Zugang zur Welt. D ort, wo wir »etwas« erwarten - eine
Substanz oder eine Instanz, ein Prinzip oder einen Zweck , eine
Bedeutung - dort gibt es nur die Art, den Gang des anderen Zu­
gangs, der sich in derselben Geste entzieht, in der er sich uns dar­
bietet - und dessen Entzug selbst die Wendung ist. Derart hat j e­
des Kind , das geboren wird , in der Singularität, die es p lötzlich
exponiert, den Zugang schon entzogen , der es »für es selbst« ist
und in dem es sich »abseits von sich« entzieht , - ganz so, wie es
sich eines Tages auf seinem letzten Gang im toten Gesicht entzie­
hen wird. Deshalb studieren wir auch diese Gesichter mit so viel
Neugier und suchen etwas herauszufinden - wem das Kind ähn­
lich sieht , und ob der Tod sich selbst ähnlich sieht. Was wir hier
wie auf den Photographien erspähen wollen, ist nicht ein Bild,
sondern ein Zugang .
Was intere ssiert uns denn s onst in der »Literatur« und in der
»Kunst«? Und was in der . Trennung der Künste untereinander,
wodurch sie als Künste sind, was sie sind: plurale Singularitäten?
Was anders als die Exposition eines entzogenen Zugangs in sei­
ner eigenen Eröffnung, und deshalb selbst »unnachahmbar« ,
nicht transportierbar, unübersetzbar, weil j edes Mal einen abso­
luten Punkt der Übersetzung, der Übertragung oder des Über­
gangs des Ursprungs am Ursprung bildend? Was in der Kunst
zählt und was die Kunst zur Kunst macht (und was aus dem
Menschen den Künstler der Welt macht, sprich der die Welt für

37
die Welt exponiert) , ist nicht das »Schöne« noch das »Erhabene«,
nicht die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« noch das »Geschmacks­
urteil« , es ist nicht die »sinnliche Darstellung« noch das »Ins­
Werk-setzen der Wahrheit«, es ist all das , sicher, aber anders : Es
geht hier um den Zugang zum abseitigen Ursprung, in seinem
Abseits selbst, um das p lurale Erreichen des singulären Ur­
sprungs. Es ist das, was »Nachahmung der Natur« immer schon
meinte. Die Kunst ist immer schon kosmogonisch, aber sie stellt
die Kosmogonie als das aus, was sie ist: notwendigerweise plu­
ral, zerbrechlich, diskret, Farbtup fer oder Klangfarbe, Satz oder
gefaltete Masse, Leuchten, Duft, Gesang oder innehaltender
Schritt, denn sie ist die Geburt einer Welt (und nicht die Kon­
struktion eines Systems) . Eine Welt ist immer so viele Welten
wie nötig , um eine Welt zu bilden.
Wir haben nur zu uns Zugang - und zur Welt. Aber es handelt
sich um nichts anderes: Jeder Zugang ist da, ganz am Ursprung.
Im Heideggerschen Sprachgebrauch wird dies »Endlichkeit« ge­
nannt. Aber von da an ist klar, daß »Endlichkeit« bedeutet : un­
endliche Singularität des Sinns , des Zugangs zur Wahrheit. Die
Endlichkeit ist der Ursprung, das heißt sie ist eine Unendlichkeit
der Ursprünge. »Ursprung« bedeutet nicht das, wo die Welt her­
kommt, sondern die immer wieder eine Ankunft [venue] j eder
Präsenz der Welt.

38
4. Die Schöpfung der Welt und die Neugier

Der Begriff der »Schöpfung der Welt« repräsentiert diesen Sta­


tus des Ursprungs, und zwar umso besser, j e mehr er dazu bei­
trägt, den Begriff eines »Urhebers« der Welt unhaltbar werden zu
lassen. In der Tat könnte man zeigen, inwiefern das Motiv der
Schöpfung zu denen gehört, die unweigerlich zum Tod des Urhe­
ber-Gottes, des Gottes der ersten Ursache, des höchsten Gottes
geführt haben. Im übrigen gibt es, wenn man genau hinsieht ,
überhaupt keinen Gott der Metaphysik, der sich einfach mit die­
sem Status des Produzenten zufriedengegeben hätte. Überall,
ob es sich um Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes, Male­
branche, Spinoza oder Leibniz handelt - wird man finden, daß
die Problematik der Schöpfung eine Problematik der Produktion
behindert und deformiert, bis zu dem hier noch entscheidenden
Moment, in dem das ontologische Argument ruiniert ist (dessen
Hegeische Restauration dagegen nichts anderes als eine Ausar­
beitung des Begriffs der Schöpfung ist, auf den, wie man weiß,
in derselben Zeit SeheHing großen Wert legt) .
Der unterscheidende Zug an diesem Begriff ist nicht , daß er ei­
nen Schöpfer setzt, sondern vielmehr umgekehrt, daß dieser zum
einheitlichen »Schöpfer« seiner »Schöpfu ng« gemacht wird. (Hier
muß man ganz allgemein sagen : Der unterscheidende Zug am
westlichen Monotheismus ist nich t , daß er einen einzigen Gott
setzt, sondern, daß er im Gegenteil das Göttliche als solches aus
der Transzendenz der Welt streicht - und vermutlich genau hier
ist die Verbindung angeknüpft worden, die uns der H erkunft
nach für immer und in j eder Hinsicht zu Semiten-Griechen
macht , ganz wie uns dies der Bestimmung nach in den »weltli­
chen« Raum als solchen verweist) . 1 2 In einer mythologischen
Kosmogonie schafft ein Gott oder ein Demiurg eine Welt ausge-

1 2 . Vgl . J . -L. Nancy, »La cteconstruction du christianisme«, in: Les Etudes philo­
sophiques, 1 998-4, S. 503-5 1 9 .

39
hend von einer wie auch immer schon gegebenen Situation. 1 3 In
einer Schöpfung geht es um ein Schon-da-sein eines Schon-da.
Wenn eine S chöpfung ex nihilo ist, heißt dies in der Tat nicht,
daß ein Schöpfer »von nichts aus« operiert . Viel eher heißt dies,
wie es eine reiche und komplexe Tradition ausgeführt hat, daß
einerseits der »Schöpfer« das nihil ist und andererseits dieses ni­
hil logischerweie nicht etwas ist, »woraus« das Geschaffene her­
vorgehen könnte, sondern die Herkunft selbst und die Bestim­
mung von etwas im allgemeinen und von allem. Und das nihil
ist nicht nur nichts Vorlaufendes, sondern es gibt auch kein
»Nichts«, das vor der Schöpfung existiert h ätte : Diese ist der Akt
des Hervorgehens , der Ursprung selbst, insofern er nichts ande­
res ist oder nichts anderes tut als das, was das Verb »urspringen«
bezeichnen würde . Wenn das Nichts nichts Vorlaufendes ist,
dann bleibt sozusagen nur das ex, um den Akt-der-Schöpfung zu
bestimmen . Das heißt, das Auftauchen o der die Ankunft [venue}
1
in nichts (wie man sagen würde »in Person/in niemandem« 4 ) .
Das Nichts ist also nichts als die Dis-Po sition des Auftauchens.
Der Ursprung ist ein Abstand . Er ist ein Abstand, der sogleich das
gesamte Ausmaß der ganzen Raum-Zeit hat und der ebenfalls
sogleich nichts anderes ist als der Zwischenraum der Intimität
der Welt: das Zwischen-Seiende [entre-etant] aller Seienden, das
selbst nichts Seiendes ist, und das selbst keine andere K onsi­
stenz , keine andere Bewegung oder keine andere Konfiguration
hat als die des Sein-Seienden aller Seienden . Das Sein oder Zwi­
schen teilt die Singularitäten ab von allem, was auftaucht. Schöp­
fung gibt es überall und immer - aber sie ist j enes Ereigni s o der
jene Heraufkunft [avenement] nur unter der Bedingung, j edes
Mal das zu sein, was sie ist, bzw . das, was sie ist, nur »bei j edem
Mal« zu sein, wobei sie j edes Mal singulär auftaucht .

1 3 . Jedenfalls erneuert das Buch von Serge Marcel Le tombeau du dieu artisan
in überraschender Weise die Auslegung des Timaios und nähert den platoni­
schen Demiurgen der »Schöpfung«, von der ich zu sprechen versuche, vielleicht
an.
14. Personne: frz. sowohl >Person< als auch >niemand< (A. d . Ü . ) .

40
Insofern wird b egreifbar, warum die Schöpfung in ihrer j üdisch­
christlich-islamischen theologisch-mystischen Gestalt w eniger
(und j edenfalls niemals ausschließlich) von einem produ ktiven
Vermögen Gottes zeugte, als von seiner Güte und seinem Ruhm:
Gemessen an seinem Vermögen sind die Kreaturen in der Tat
nichts als Wirkungen, während Liebe und Ruhm sogar i m Ge­
schaffenen abgelegt sind, sie sind der G lanz seiner Ankunft in
der Präsenz selbst. Derart müßte man das Thema des »Bildes
(und/oder der »Spur [vestige]) Gottes« verstehen: nicht gemäß
der Logik einer sekundären Imitation, sondern gemäß j ener an­
deren Logik, der zufolge »Gott« selbst die singuläre Erscheinung
des Bildes oder der Spur ist, oder die Disposition seiner Exposi­
tion: der Ort als der göttliche Ort, das nur lokale Göttliche - folg­
lich nicht mehr das »Göttliche«, sondern die Dis-Lokation und die
Dis-Position der Welt (die göttliche Ausdehnung, sagt Spinoza)
als die Eröffnung und Ressource, die von weiter entfernt her­
kommt und weiter reicht, und zwar unendlich viel weiter als alle
Götter.
Wenn die »Schöpfung« eben diese s inguläre Ex-Position des Sei­
enden ist, dann ist ihr wahrhafter N ame Existenz. Die Existenz
ist die Schöpfung - unsere Schöpfu ng -, der Ursprung und der
Zweck, die wir sind. Dieses Denken ist das Denken, welches für
uns am notwendigsten ist: Wenn es uns nicht gelingt, es zu den­
ken , finden wir keinen Zugang zu dem, was wir inzwischen sind,
wir, die wir nichts anderes mehr sind als »wir« in einer Welt, die
nichts mehr ist als Welt - die wir aber dahin gekom men sind,
eben weil wir den logos (die Selbst-Präsentation der Präsenz) als
Schöpfung (als singuläre Ankunft) gedacht haben . D ieses Den­
ken hat nichts Anthropozentrisches an sich: Es stellt nicht den
Menschen ins Zentrum »der Schöpfung«, es durchquert den Men­
schen im Gegenteil vom Exzeß des Auftauchens aus, das ent­
sprechend der Totalität des Seienden auftaucht , aber als seine
unmögliche zu totalisierende Maßlosigkeit : seine unendliche ur­
sprüngliche Singularität. Im Menschen ist die Existenz, oder viel­
mehr genau der Mensch ist die Existenz als exponiert und ex-

41
panierend : Um es einfach in der Ordnung der Sprache zu for-mu­
lieren , könnte man sagen, daß der Mensch die Existenz spricht,
daß aber das, was er in seinen Worten sagt, das All des Seienden
ist. Was Heidegger »den ontisch-ontologischen Vorrang des Da­
seins *« nennt, ist weder Vorrecht noch Privileg: es setzt das Sein
ein, und das S ein des Daseins * ist kein anderes als das Sein des
Seienden.
Wenn somit die Existenz als solche durch die Menschen expo­
niert ist, so gilt das, was hier exponiert ist, doch nicht weniger für
den ganzen Rest des Seienden. Es gibt nicht auf der einen Seite
die ursprüngliche Singularität und auf der anderen ein bloßes
Da-sein der Dinge, die mehr oder weniger unserem Gebrauch
ausgeliefert wären. Im G egenteil : Indem sich die Existenz als Sin­
gularität exponiert, exponiert sie die Singularität des Seins als
solche, in allem Seienden. Der Unterschied zwischen dem Men­
schen und dem Rest des Seienden (das es nicht zu negieren gilt,
dessen Natur aber auch nicht gegeben ist) , der selbst nicht zu
trennen ist von den anderen Unterschieden im Seienden (da
der Mensch »auch« Tier, »auch« lebendig, »auch« physikalisch­
chemisch ist, usw. ) , unterscheidet die wahrhafte Existenz von
einer Art Unter-Existenz nicht. Wir wären keine »Menschen« ,
wenn es nicht »Hunde« und »Steine« gäbe. Der Stein ist Exterio­
rität der Singularität in dem, was man seine mineralische oder
mechanische Wörtlichkeit/Steinhaftigkeie 5 nennen müßte . Aber
ich wäre auch nicht »Mensch«, wenn ich nicht diese Exteriorität
als die Quasi-Mineralität des Knochen »in mir« hätte - das heißt,
wenn ich nicht ein »Körper« , eine Verräumlichung aller anderen
Körper und von »mir« in »mir« wäre. Eine Singularität ist immer
ein Körper - und alle Körper sind Singularitäten (die Körper, und
ihre Zustände, Bewegungen, Veränderungen) .
Derart ist die Existenz nicht eine Eigenschaft des Daseins * : Sie
ist die ursprüngliche Singularität des Seins , welches das Dasein *

1 5 . Nancy spielt mit der Doppeldeutigkeit von litteralite, deutsch >Wörtlichkeit<


und >Steinhaftigkeit< (A.d.Ü. ) .

42
für alles Seiende exponiert . Deshalb ist der Mensch nicht »auf der
Welt« als in einem Milieu (warum bräuchte man ein Milieu?) : Er
ist auf der Welt, insofern die Welt seine eigene Exteriorität, der
ihm eigene Raum seines Draußen-in-der-Welt-seins ist . Aber
man muß noch weiter gehen, bei Strafe des Eindrucks , daß die
Welt trotz allem wesentlich »die Welt des Menschen« bleibt: Sie
ist eine solche, sie ist die Welt der Menschen tatsächlich nur, so­
fern sie das Nicht-Menschliche ist, dem gegenüber das Mensch­
liche exponiert ist und das das Menschliche seinerseits exponiert .
Man könnte es auch noch mit einer Formel wie dieser zu s agen
versuchen : Der Mensch ist der Exponierende [l'exposant] der
Welt, er ist weder deren Zweck, noch deren Grund - die Welt ist
dem Menschen gegenüber exponiert, er ist weder ihre Umgebung
noch ihre Repräsentation.
Wir sind also weit davon entfernt , daß der Mensch der Zweck
der Natur wäre, oder die Natur der Zweck des Menschen (wir ha­
ben es schon in allen Varianten versucht) ; der unendliche Zweck
ist vielmehr das Auf-der-Welt-sein und das Welt-sein alles Seien­
den.
Gesetzt übrigens , man wollte noch einmal die Welt als Reprä­
sentation des Menschen nehmen, würde daraus strenggenom­
men keinerlei Solipsismus des Menschen folgen: denn dann sagt
mir wiederum meine Repräsentation selbst, daß sie mir not­
wendig eine unhintergehbare Exteriorität als meine Exteriorität
repräsentiert . Die Repräs entation einer Verräumlichung ist selbst
eine Verräumlichung. Ein intuitus originarius, der nicht Reprä­
sentation, sondern Eintauchen in die Sache selbst wäre , würde
allein existieren und wäre für sich allein Ursprung und Ding: was
weiter oben als widersprüchlich aufgezeigt wurde . Descartes
selbst ist Zeuge der äußeren Welt ebenso wie seines eigenen Kör­
pers : Denn er zweifelt keineswegs, er tut so, als ob er zweifelte,
und die Finte als solche erweist sich als die Wahrheit der res ex­
tensa. Es ist auch nicht überraschend, daß die Wirklichkeit der
Welt, über die Gott mich nicht täuschen kann, gerade durch eine
fortgesetzte Schöpfung eben dieses Gottes im Sein gehalten wird.

43
Die Wirklichkeit ist die eines j eden Augenblicks, von Stelle zu
Stelle, j edes Mal, wenn es an ihm ist, ganz wie sich die Wirklich­
keit der res cogitans in j edem »ego sum« jedes Mal bei j edem
dort, wo es an ihm ist, erweist.
Insofern - und noch einmal - gibt es kein ANDERES . »Schöp­
fung« bedeutet genau, daß es kein ANDERES gibt und »es gibt« ist
nicht ein A NDERES . Das Sein ist nicht das ANDERE, sondern der Ur­
sprung ist punktuelle und diskrete Verräumlichung unter [entre]
uns, ebenso wie zwischen [entre] uns und dem Rest der Welt und
unter allen Seienden. 1 6
Vor allem und im wesentlichen rüttelt uns diese Alterität auf.
Sie rüttelt uns auf, weil sie den Ursprung als das immer Andere,
immer Unaneigenbare, das immer da ist, als das immer Gegen­
wärtige in seiner je unnachahmlichen Weise exponiert . Vor al­
lem und im wesentlichen deshalb sind wir neugierig auf die
Welt und auf uns selbst (oder »die Welt« ist der Gattungsbegriff
des Gegenstands dieser ontologischen Neugier) . Das Korrelat der
Schöpfung, verstanden als die Existenz selbst, ist eine Neugier,
die man in einem ganz anderen Sinne als dem begreifen muß,
den ihm Heidegger gegeben hat. Für ihn ist Neugier die aufge­
regte Geschäftigkeit, die von einem Seienden zum anderen über­
geht, auf unersättliche Weise und ohne sich bei der Meditation
aufhalten zu können . Sicher zeugt sie vom Mit-ein-ander-sein
[l 'etre-les-uns-avec-les-autres], aber sie zeugt davon in der Un­
fähigkeit, zur existierenden Eröffnung des Daseins im »Augen­
blick« 1 7 Zugang zu finden. Dagegen ist es notwendig, diesseits

1 6 . Benoit Goetz entfaltet ein solches Motiv der Verräumlichung als verallge­
meinerter und »existential« werdender »Architektur« in seiner Abschlußarbeit
La dislocation-Architecture et experience, Straßburg 1 996.
1 7 . Vgl . Sein und Zeit, § § 36, 3 7 und 68c. Weil Heidegger die Neugierde im Ver­
gleich zur Kontemplation herabsetzt - in einer sehr traditionellen Geste üb­
rigens -, setzt er sogleich ein ganzes Stück der modernen Welt herab und
verkennt sie: Wissenschaft und Technik, und lehnt somit ab, was er anderer­
seits vom »Geschick« des Seins anzunehmen behauptet. Zur Rolle der Neugier
in der Moderne vgl . das große klassische Buch von Hans Blumenberg, Der Pro­
zeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/ Main 1 966.

44
dieser inkonsistenten Neugier, aber auch der Aufmerksamkeit,
welche die Fürsorge * der anderen erfordert, die primitivere
Schicht einer Neugier offenzulegen, die uns in erster Linie i nter­
essiert macht an dem, was faktisch das I nteressante p ar ex­
cellence ist: der Ursprung - aber interessiert im Modus des Auf­
gerütteltseins durch die immer wieder erneuerte Alterität des
Ursprungs, und wenn man so sagen will, im Modus des Eintre­
tens in eine Verwicklung mit ihm (die sexuelle Neugier ist nicht
von ungefähr eine exemplarische Form der Neugier - und in
Wirklichkeit mehr als eine Form) .
Wie es sich im Französischen ausdrücken läßt, sind die anderen
Seienden für mich curieux (»seltsam«) 1 8 , weil sie mir Zugang zum
Ursprung verschaffen: Sie bringen mich mit ihm in Kontakt, und
sie machen, daß, wenn ich vor ihm stehe und die Reihe an ihm
ist, ich ihm jedes Mal entzogen bin. Ein anderer - und das kann
hier ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze oder ein Stern sein - ist
zunächst die flammende Präsenz eines Punkts o der Augenblicks
des absoluten Ursprungs - unanfechtbar, als solche angeboten
und als solche verschwindend in ihrem Übergang . Noch einmal :
das Gesicht des Neugeborenen, j enes andere Gesicht per Zufall
auf einem Gehweg, ein Insekt, eine Giftschl ange, ein Stein . . . -
wohlgemerkt, es handelt sich nicht darum , diese kuriosen Frä­
senzen einander gleichzusetzen .
Soweit wir zum Anderen keinen Zugang im Modus d e s Zugangs
fanden, wie er hier beschrieben wurde, sondern die Aneignung
des Ursprungs suchten- und wir suchen ihn noch immer - , geht
dieselbe Neugier in Aneignungs- oder Destruktionswut über. Wir
suchen im Anderen nicht mehr eine Singularität des Ursprungs ,
sondern den einzigen, ausschließlichen Ursprung, sei es, um ihn
anzunehmen oder ihn zurückzuweisen. Das Andere wird zum
ANDEREN im Modus der Lust oder des H as ses . Die Vergötterung
des Anderen (verbunden mit freiwilliger Dienstb arkeit) oder
seine Verteufelung (verbunden mit s einem Ausschluß und seiner

1 8 . Das französische curieux bedeutet >neugierig< und >seltsam< (A . d . Ü ) .

45
Vernichtung) sind das Los der Neugier, die nicht mehr interes­
siert ist an Dis-Position und Miterscheinung, sondern zur Lust
auf die Position selbst geworden ist: fixieren, sich den Ursprung
ein für alle Mal und an einem Ort für immer, also immer außer­
halb der Welt, verschaffen . Deshalb ist diese Lust Mordlust, und
nicht nur Lust auf Mord, sondern auf j ene Steigerung der Grau­
samkeit und des H orrors , die tendenziell die Intensivierung des
Mords ist: Versehrung, Zerfleischen, Verbissenheit, akribisches
Exekutieren, Freude am Todeskampf, oder auf anderer Ebene:
Massaker, Massengrab, technische Massenexekution, Lageröko­
nomie. D abei handelt es sich immer darum, das Andere zum AN­
DEREN hochzustilisieren, oder das ANDERE anstelle des Anderen
auftauchen zu lassen und so die Identität des Anderen und den
Ursprung in ihm festzuhalten.
Das ANDERE ist nichts weiter als das Korrelat dieser verrückten
Lust, während die Anderen in Wahrheit unsere ursprünglichen
Interessen sind. Allerdings ist die Möglichkeit der verrückten
Lust in der Disposition der ursprünglichen Interessen selbst ent­
halten : Die Streuung [dissemination] des Ursprungs macht den
Urprung in »mir« verrückt in genau dem Maß, wie dieser mich
auf ihn neugierig macht, das heißt aus »mir« ein »Ich« (oder ein
»Subj ekt« , irgendj emanden j edenfalls) . (Es folgt daraus, daß es
keine Ethik gibt , die von der Ontologie unabhängig ist, und daß
in Wahrheit nur die Ontologie ethisch sein kann in einem Sinn,
der nicht inkonsistent sein darf. Aber darauf müssen wir andern­
orts zurückkommen. )

46
5. Unter uns: Prima philosophia

Indem man oft und auf vielerlei Weise wiederholt, Philosophie


geb e es seit der griechischen Polis , verliert man - wie könnte es
anders sein - aus den Augen, worum es geht . Aber die aus den
Augen verlorene Angelegenheit kehrt - was auch nicht erstaun­
lich ist - wieder, 28 Jahrhunderte später und mit der ganzen
Schärfe des Problems .
Und zwar als Frage nach dem U rsprung unserer Geschichte.
Dies hat nichts mit teleologischer Rekonstitution zu tun, noch
mit einem auf einen Endzweck hin gerichteten Prozeß. Ganz im
Gegenteil, die Geschichte erscheint deutlich als eine von einem
singulären Umstand ausgelöste Bewegung, die diese Singularität
nicht wieder in eine Universalität zurücknimmt (keine »Univer­
salgeschichte«, Marx und Nietzsche hatten es begriffen) , sondern
die den Anstoß weitergibt an erneuerte singuläre Ereignisse . Da­
her haben wir »eine Zukunft« und »zu kommen«: und zwar ent­
sprechend einer »Vergangenheit« , die nicht vergangen ist wie der
Anfangspunkt in einem gerichteten Prozeß, sondern vergangen
im Modus einer »Sonderbarkeit« (lange wurde sie »griechisches
Wunder« genannt . . . ) , die sich selbst aufrüttelt und daher eine
bleibt, die noch »zu kommen« hat . Diese Dis-Position der Ge­
schichte führt dazu , daß es sehr wohl eine Geschichte gibt, und
dennoch keinen Prozeß (hier wie anderswo zeigt sich am Hegei­
schen Modell, daß es j ust in seiner U mkehrung die Wahrheit lie­
fert) . In dieser Hinsicht kann man die »Geschichte des Seins« von
Heidegger verstehen - und inwiefern unser Verhältnis dazu not­
wendig die Geschichte ihrer Destruktion oder ihrer Dekanstrak­
tion ist: das heißt des Herausstellens ihrer Singularität als das
ihre Einheit entfügende Gesetz, und dieses Gesetz selbst als Ge­
setz des Sinns .
Das setzt selbstredend die ebenso unabweisbar dringliche wie
unmöglich einzuschätzende Aufgabe voraus zu verstehen, wie
die Geschichte als singuläre okzidentale Akzidenz das »gewor­
den« ist, was man »global« oder »planetar« nennt, ohne sich als

47
das hervorzubringen, was »universal« genannt wurde; verstehen
also, wie der Okzident verschwindet , j edoch nicht, wie man
schlafwandlerisch wiederholt, in seiner uniformierten Verallge­
meinerung, sondern in und durch j ene »Uniformität« als Aus­
dehnung einer singulären Pluralität, die das »Eigentliche« jenes
»0/ Akzidents« zugleich ist und nicht ist. Dann versteht man:
Diese furchteinflößende Frage ist nichts anderes als die des
»Kapitals« (oder des Kapitalismus) . Um das Kapital voll einschät­
zen zu können - einschließlich der Prämissen, wonach die Ge­
schichte in den Handelsstädten b egonnen hat -, muß man es we­
sentlich radikaler als für Marx möglich von seiner eigenen
linearen und kumulativen Geschichtsvorstellung ebenso wie von
der symmetris chen D arstellung einer teleologischen Geschichte
seiner Aufhebung oder deren Bes chwörung lösen . So lautet wohl
die - problematische - Lehre der Geschichte. Aber wir können
daraus vermutlich nur Lehren ziehen, wenn wir zuvor den Auf­
takt unserer Geschichte, das heißt der Philosophie, ganz anders
vernehmen .
Die Tradition hat sich in verschiedenen Versionen, j edoch vor­
herrschend so dargestellt, daß Philosophie und Polis zueinander
in einem gegens eitigen Subj ektverhältnis stehen (gestanden hät­
ten, stehen sollten) .
Die Philosophie als Artikulation des logos ist danach das Sub­
j ekt der Polis als Raum dieser Artikulation, während Polis als
Versammlung der logikoi als das Subjekt der Philos ophie gilt, als
Produktion ihres gemeinsamen logos. Der logos selbst bezieht
sein Wesen oder seinen Sinn aus dieser Gegenseitigkeit : Er ist die
gemeinsame Grundlage der Gemeinschaft , und zwar der G e­
meinschaft als Grundlage des Seins .
In diesem Horizont haben wir nicht aufgehört, auch hier in vor­
herrschender Form und in verschiedenen starken und schwa­
chen, glücklichen und unglücklichen Versionen, das »politische
Tier« von Aristoteles zu verstehen : wobei unterstellt war, daß
der logos B edingung der Gemeinschaft und diese wiederum Be­
dingung der Menschli chkeit sei , und/oder umgekehrt , w obei

48
jeder der drei Termini seine Einheit und Konsi stenz daraus be­
zieht, daß er dem Wesen nach mit den b eiden anderen kommu­
niziert (wobei die Welt als solche der ganzen Angelegenheit ver­
gleichsweise äußerlich bleibt und nun u nterstellt wird, daß die
N atur oder physis genau im Menschen als logos politikos zur Aus­
führung kommt, während sich die techne der einen wie dem
anderen unterordnet) .
Aber dieser Horizont - derjenige der politischen Philosophie im
vollsten Sinne (nicht »politische Philosophie«, s ondern Philoso­
phie als Politik) - könnte sehr wohl das sein, w as im selben Zug
die einzigartige Situation, in die sich unsere Geschichte begeben
hat, aufweist und den Zugang zu ihr verstellt . Oder vielmehr: Er
könnte sehr wohl das sein, was i m Lauf seiner Geschichte den
Hinweis zu seiner eigenen Dekonstruktion liefert und von neuem
und anders diese Situation exponiert . 1 9 »Philosophie und Politik«
sp richt diese Situation gut aus . Aber es handelt sich um eine dis­
junktive Aussage, eben weil die Situation selbst disj unktiv ist .
Polis ist nicht zuerst »Gemeinschaft«, ebensowenig wie sie zuerst
»öffentlicher Raum« ist: Sie ist mindestens ebenso sehr das An­
den-Tag-bringen des Gemeinsam-seins [l 'etre-en-commun«] als
Dis-Position (Dispersion und Disparität) der Gemeinschaft, die
als in Interiorität oder in Transzendenz b egründet repräsentiert
wird. Von da an ist, soweit Philosophie die Suche nach dem Ur­
sp rung ist, die Polis ihr Problem, weit davon entfernt, ihr Subj ekt
oder ihr Raum zu sein. Oder sie ist ihr Subj ekt o der ihr Raum im
Modus des Problems, gar der Aporie . Die Philo sophie ist j edoch
ihrerseits die Suche nach dem Ursprung nur unter der Bedingung
der Disposition des logos (das heißt des Ursprungs als gegebener
und durchlaufener Vernunft) : Logos ist Verräumlichung am Ort
des Ursprungs selbst. Von da an ist Philosophie das Problem der
Polis: Sie entzieht ihr das als »Gemeinschaft« erwartete Subj ekt.

1 I1
1 9 . Was hier folgt, will in gewisser Hinsich t den von Jacques Ranciere in sei­
nem Buch Das Unvemehmen. Philosophie und Politik, Frankfurt/ Main 2002 ,
vorgeschlagenen Dialog weiterführen.

49
Deshalb stoßen sich die philosophische Politik und die politi­
sche Philo sophie regelmäßig am Wesen der Gemeinschaft oder
an der G emeinschaft als Ursprung. Um uns hier nur auf die
exemplari schen Stolpersteine von Rousseau und Marx zu be­
schränken : D er erste wirft die Aporie einer Gemeinschaft auf, die
sich s elbst vorangehen müßte, um sich zu konstituieren. Der
»Vertrag« ist, s einem Begriff s elbst nach, die Negation oder Ver­
werfung der ursprünglichen Entbindung j ener Singularitäten, die
ihn »schließen« müßter1 . Was den zweiten angeht, den in dieser
Hinsicht gewiß radikalsten : Wo er die Auflösung des Politischen
in alle Sphären der Existenz fordert (was auch der »Verwirkli­
chung der Philosophie« entspricht) , verkennt er, daß die derart
aufgehobene Trennung in Wahrheit nicht die zufällige Trennung
der »politischen« Instanz, s ondern die konstitutive Trennung der
Dis-Position ist . Worin auch immer die Kraft seines Denkens in
bezug auf das »wirkliche Verhältnis« und das, was er »das In­
dividuum« nannte, lag - der »Kommunismus« vermochte das
Gemeinsam-sein noch nicht als unterschieden von der »Gemein­
schaft« zu denken .
In diesem Sinn schreitet die philosophische P olitik mit großer
Regelmäßigkeit zur heimlichen Erschleichung einer Metaphysik
des Einen Ursprungs [origine-une} , und zwar dort, wo sie doch
nolens volens zugleich die Situation einer Dis-Position der Ur­
sprünge exponiert . Das Resultat ist ebenfalls mit großer Regel­
mäßigkeit, daß die Dis-Position umschlägt in Ausgrenzung und
daß die gesamte philosophische Politik zu einer Politik der Aus­
schließlichkeit und der entsprechenden Ausschlüsse wird - Aus­
schluß einer Klasse, einer Ordnung, irgendeiner »Gemeinschaft«,
endend immer beim Ausschluß eines »Volks« im »niederen«
Sinne des Worts . Die Forderung nach Gleichheit ist dann die zu­
gleich notwendige, höchste und absolute Geste - und ist tatsäch­
lich nahe daran, die Dis-Position als solche freizulegen . Jeden­
falls soweit es sich um die »egalitäre Forderung, begründet in der
20
gattungsmäßigen Identität« handelt, verhilft die Gleichheit der
Singularität noch nicht zum Recht oder stößt auf b eträchtliche

50
Schwierigkeiten, wenn sie es tun will . Hier gewinnt die Kritik an
der Abstraktheit der Rechte ihr ganzes Profil: Aber das »Kon­
krete«, das ihr entgegenzusetzen ist, sind nicht die empirischen
Bestimmungen, die unter kapitalistischer Herrschaftsform auch
den besten Gleichheitswillen zum Erliegen bringen . Das Konkrete
bedeutet zuerst das wirkliche Obj e kt eines Denkens des Gemein­
sam-seins, und dieses wirkliche Obj ekt ist in letzter Instanz das
singulär Plurale des Ursprungs, folglich ebenso der Ursprung der
»Gemeinschaft« selbst (wenn man diese B ezeichnung beibehal­
ten will) . Das ist wohl der Hinweis, der durch das Wort, das auf
Gleichheit in der republikanischen Devise folgt , gegeben wird :
»Brüderlichkeit« will die Lösung für die Gleichheit (oder die
»Gleichfreiheit« 2 1 ) sein, und zwar indem sie eine »gattungs­
mäßige Identität« wachruft und bes chwört . Nun mangelt es aber
genau an jenem gemeinsamen Ursprung des Gemeinsamen. 22
Oder zumindest »ermangelt« es seiner, sofern m an ihn im Hori­
zont der philosophischen Politik b ewertet . Ist diese erst dekon­
struiert - was derzeit im Gang ist -, kommt die Notwendigkeit
des singulär pluralen Ursprungs zum Vorschein . Ich habe nicht
die Absicht, in dieser Hinsicht eine »andere Politik« vorzuschla­
gen. Tatsächlich bin ich nicht mehr sicher, ob dieser Begriff (oder
der der »politischen Philosophie«) j enseits der Lücke im Hori­
zont, die am Ende der langen Geschichte unserer okzidentalen
Situation und als erneute Eröffnung derselben auf uns wartet,
noch konsistent sein könnte . Ich will nur zu der Feststellung bei­
tragen, daß das Paar Philosophie-Politik mit der ganzen Kraft sei-

20. Andre Tose!, Democratie et liberalisme, Paris 1 99 5 , S. 203 . Vgl. das gesamte
Kapitel »L'egalite, difficile et necessaire«.
2 1 . Etienne Balibar, »La proposition de l' egaliberte«, in: Les conferences du
Perroquet, Nr. 22, Pari s , November 1 98 9 .
2 2 . I c h gebe also Jacques Derrida in seiner Kritik an der Brüderlichkeit ( i n
Politik der Freundschaft, Frankfurt/ M a i n 2002) recht . Wobei ich freilich z u
bedenken gebe, d a ß auch ich an entsprechender Stelle d i e christliche Brüder­
lichkeit in Frage gestellt habe. I m übrigen habe ich rriir vorbehalten und behalte
mir trotz allem die Möglichkeit vor, zu untersuchen, ob Brüderlichkeit notwen­
digerweise gattungsmäßig und angeboren ist. . .

51
ner Verbindung die Dis-Position des Ursprungs und ihr Korrelat,
das Miterscheinen, zugleich herausstellt und entzieht.
Der philo sophisch-politische Horizont ist das, was die Dis-Posi­
tion zu einer K ontinuität und Wesensgemeinschaft ins Verhältnis
setzt . Ein s olches Verhältnis verlangt, um wirksam zu sein, ein
wesentliches Vorgehen : das des Opferns. Bei genauerer Betrach­
tung wird man den Anteil des Opferns in j eder politischen Philo­
sophie finden (oder man findet dessen abstrakte Ablehnung, was
darauf hinausläuft, die konkrete Singularität zu opfern) . Aber als
singulärer Ursprung ist die Existenz nicht opferbar. 2 3
Dringend geboten ist hier also nicht eine andere politische Ab­
straktion, s ondern vielmehr, den Sinn von »Politik« selbst - und,
folglich, auch von Philosophie - unter der Bedingung der ur­
sprünglichen Situation: der nackten Exposition der singulären
Ursprünge, neu zu betrachten . Notwendig ist also eine »prima
philosophia« im kanonischen Sinne des Wortes, das heißt eine
On-tologie . Die Philosophie muß neu-beginnen, mit sich neu-be­
ginnen ausgehend von ihr selbst gegen sie selbst, das heißt gegen
die politische Philosophie und die philosophische Politik. Dafür
muß sie zuallererst denken, wie wir unter uns »wir« sind : Inwie­
fern die Konsistenz unseres Seins im Gemein-sam-sein [etre-en­
commun] liegt , aber wie letzteres j ust im »sam« [en]« oder im
»unter« [entre] seiner Verräumlichung besteht .
Die letzte »prima philosophia« ist uns , wenn man so will, mit
der Fundamentalontologie Heideggers vorgelegt worden. Sie hat
uns, mit-ein-ander, ob wir es wissen oder nicht, auf den Weg ge­
führt, auf dem wir hier sind. Deshalb konnte auch ihr Autor, in
einer Art Wende der Destruktion selbst, sich so unentschuldbar
in der verbrecherisch gewordenen politischen Philosophie kom­
promittieren . Und von wo aus wir neu beginnen müssen, wird
uns wiederum genau dadurch angezeigt : Wir müssen die Funda­
mentalontologie (und mit dem, was damit einhergeht, die exi­
stenziale Analytik ebenso wie die Geschichte des Seins und das

2 3 . Vgl . »L'insacrifiable«, in: J . - L . Nancy, Une pensee finie, Paris 1 99 0 .

52
Denken des Ereignisses *) noch einmal aufnehmen - und dieses
Mal entschieden ausgehen vom singulär Pluralen der Ursprünge,
das heißt ausgehen vom Mit-sein .
Ich werde später auf dieses Programm zurückkommen, dessen
Ausführender sein zu wollen ich übrigens nicht die lachhafte
Vermessenheit besitze : Per definitionem und ihrem Wesen nach
muß diese »prima philosophia« »von allen geleistet werden, nicht
von einem«, wie die Dichtung von Maldoror. Im Moment will ich
nur auf das Prinzip seiner Notwendigkeit hinweisen.
Das Mit-sein (das Mitsein *, das Miteinandersein * und das Mit­
dasein *) wird von Heidegger explizit als wesentlich für die Kon­
stitution des Daseins * selbst bezeichnet . Auf dieser Basis müßte
es absolut klar sein, daß das Dasein * ebensowenig wie »der
Mensch« oder »das Subj ekt« »eines«, einzig und isoliert , ist, son­
dern immer nur das eine, jedes eine, ein Mit-ein-ander. Wenn
diese Bestimmung wesentlich ist, muß sie eine mit-ursprüngliche
Dimension aufnehmen und sie rückhaltlos exponieren: Nun hat
man aber schon oft bemerkt, daß diese Mit-Ursprünglichkeit ,
trotz der Betonung, die auf ihr liegt, der Betrachtung des Da­
seins * »an ihm selbst« den Vortritt läßt. Es scheint also geboten,
die Möglichkeit einer ausdrücklichen und kontinuierlichen Exp o­
sition der Mit-Ursprünglichkeit zu untersuchen und die Auswir­
kungen auf die Gesamtheit des ontologischen Unternehmens
(ebenso wie auf die politischen Konsequenzen) abzuschätzen . 24
Man muß nur sogleich hinzufügen, daß es für eine solche Un­
tersuchung einen viel tieferen Grund gibt als das, was zunächst
als die einfache Wiederherstellung des Gleichgewichts i m Hei­
deggerschen D iskurs erscheinen könnte, was aber o ffensichtlich
viel Bedeutenderes als dies in B ewegung bringt, denn letztlich
handelt es sich um nichts weniger als um die Möglichkeit, »vom
Dasein *« im allgemeinen, dem »Existierenden« und der »Exi-

24. Die - bemerkenswerte - Abschlußarbeit von Franc;:ois Raffoul, Heidegger et


le problerne de Ia subjectivite (EHESS 1 9 95) ist eine der allerersten Arbeiten, die
Versuche in Richtung einer Neueinschätzung des Mitseins mach t .

53
stenz« selbst zu sprechen. Was würde in der Philosophie passie­
ren, wenn man ausschließen würde, in ihr vom Sein anders zu
reden als p er »wir«, »ich« und »du«? Wo spricht das Sein, und wer
spricht das Sein?
Die angekündigte Vernunft steht und fällt mit dem Sprechen
(vom) Sein. Das Thema des Mit-s eins und der Mit-Ursprünglich­
keit muß erneut Thema werden und die existenziale Analytik
»reinitialisieren«, weil diese auf die Frage des Sinns des Seins
· oder des S eins als Sinn zu antworten trachtet . Wenn aber der
Sinn des S eins sich zuallererst dadurch zeigt, daß das Sein im
Dasein * als Dasein * ins Spiel gebracht wird, also genau als Sinn,
dann kann dieser Einsatz (dieses Um-das-Sein-gehen) sich von
vorn herein nur i m Modus des Mit-seins beweisen und exponie­
ren : D enn Sinn gibt es nie nur für einen, sondern immer von
einem zum anderen, immer zwischen dem einen und dem ande­
ren . Der Sinn des Seins liegt wohl nie in dem, was gesagt wird ­
in den Bedeutungen -, sondern mit Sicherheit darin, daß »es ge­
sagt wird«, im absoluten Sinn des Ausdrucks . »Man spricht« , »es
spricht« will sagen : »Das S ein wird gesprochen«, es ist Sinn (und
nicht: es macht Sinn) . Aber »man« und »es« ist nie etwas anderes
als wir.
Anders gesagt, indem sich das Dasein als Ins-Spiel-bringen des
Sinns des Seins erweist, hat es sich schon vor jeder weiteren Er­
klärung als Mitsein erwiesen. Der Sinn des Seins ist im Dasein
nicht im Spiel , um dann an andere »kommuniziert« zu werden:
Sein Ins-Spiel-gebracht-werden ist identisch mit Mitsein . Oder
auch: Das Sein wird ins Spiel gebracht als » mit« . Dies ist nun­
mehr die ontologische Minimalprämisse, die absolut unhinter­
gehbar ist. Das Sein ist unter uns ins Spiel gebracht, und es ver­
mag keinen anderen Sinn zu haben als die Dis-Position dieses
»unter« [entre].
Im übrigen schreibt Heidegger selbst: »Im Seinsverständnis des
Daseins liegt schon [ ] das Verständnis Anderer.i 5 Aber damit
. . .

25. Sein und Zeit, § 26, S . 1 2 3 .

54
ist sicher noch zu wenig gesagt : Das Seinsverständnis ist nichts
anderes als das der Anderen, was in j edem Sinne heißt : das der
Anderen durch »mich« und das von » mir« durch die Anderen , das
Verständnis untereinander. Man könnte schlicht sagen: Sein ist
Kommunikation. Bliebe noch zu wissen, was »Kommunikation«
ist.
Im Augenblick kommt es weniger darauf an, die Frage zu be­
antworten (wenn es eine Frage ist, und wenn wir im Grunde
nicht schon darauf geantwortet h ab e n , wenn wir nicht j eden Tag
und j edes Mal darauf antworten) , als sich beim Faktum ihrer
Zurschaustellung aufzuhalten. Wenn »die Kommunikation« für
uns heute eine derart geschäftige Angelegenheit ist - in j edem
Sinne des Worts . . . -, wenn die Theorien blühen, wenn die Tech­
niken sich vermehren, wenn die »Mediatisierung« der »Medien«
in einen auto-kommunikativen Taumel verfällt, wenn das Thema
von der Ununterschiedenheit von »Botschaft« und »Medium«
eine solche - entzauberte oder begeisterte - Faszination in Bewe­
gung setzt, dann, weil etwas bloßgelegt worden ist: das nackte
und in der Tat »inhaltslose« Gewebe der Kommunikation - man
könnte sagen: das nackte Gewebe des »Korn« (der Telekom, sei
in aller Unabhängigkeit gesagt) , das heißt unser Gewebe, oder
»wir« als Gewebe, Netz , als ein zurückgezogenes, ausgedehntes
Wir mit seiner Ausweitung als Wesen und seiner Verräumli­
chung als Struktur. »Wir selbst« sind nur zu leicht dazu geneigt ,
hier ein unerträgliches Schicksal der Moderne zu sehen. Es könn­
te entgegen dieser armseligen Einsicht sein, daß wir - wie auch
anders - noch nichts von der Situation verstanden haben und
daß wir vielmehr anfangen müßten, uns - unsere Existenz und
die der Welt, unser derart dispaniertes Sein - selbst zu verstehen .

55
6. Singulär plural sein

Etre singulier pluriel: diese drei hintereinandergereihten Worte


ohne bestimmte Syntax - »etre« ist Verb oder Hauptwort, »singu­
lier« und »pluriel« sind Hauptworte o der Adj ektive, alles läßt sich
[im Französischen] kombinieren - m arkieren zugleich eine ab so­
lute Äquivalenz und ihre offene Artikulation, die sich unmöglich
wieder zu einer Identität verschließen läßt. D as Sein ist Singular
und Plural (bzw . ist singulär und plural) zugleich, ununterschie­
dener- und unterschiedenermaßen. Es ist auf singuläre Weise
plural und auf plurale Weise singulär. 26 Diese selbst konstituiert
keine besondere Prädikation des Seins, als wäre es oder als habe
es eine bestimmte Zahl an Attributen, und darunter j enes dop­
pelte, kontradiktorische oder Chiasmatische Attribut eines sin­
gulär-pluralen Seins . Das plural Singuläre (oder: das s inguläre
Plurale) bildet vielmehr die Wesensverfaßtheit des Seins : eine
Verfaßtheit, die folglich j edes eine und substantielle Wesen des
Seins selbst auseinandernimmt oder zerfallen läßt. Das ist in die­
sem Fall jedoch nur eine Redensart, da es ja keinerlei vorgängige
Substanz gibt, die aufgelöst werden könnte. Das Sein existiert ab­
solut nicht vorher, nichts existiert vorher: es existiert nur, was
existiert. Wenn die Philosophie - seit Parmenides - in j edem
Sinne jene einzige Proposition entfaltet, die außer der P osition
und Disposition der Existenz nichts vorgibt , dann ist sie dadurch
nicht im mindesten Singularität . Es ist dies ihre plurale Singula­
rität, und sie hat nichts anderes zu tun als dies . 27

2 6 . Im Deutschen besteht die angesprochene Kombinationsmöglichkeit ver­


schoben und eingeschränkt: Diese Deutung entspricht der für den deutschen
Titel gewählte Übersetzung: »singulär plural sein«, dem i m Französischen ent­
spräche: etre singulü?rement pluriel (A . d . Ü .) .
2 7 . Zur Tradition des Denkens des Einen, eines Jeden und des Einzelnen, und
worin jeweils der Unterschied unserer Pers p ektiven liegt, vgl . die reichen Hin­
weise, die Jean-Franc;:ois Marquet i n Singularite et evenement, Grenoble 1 99 5 ,
gibt. Vor allem aber die Texte, über d i e u n s d i e Beschäftigung damit erreicht hat,
diejenigen von Deleuze mit denen von Derrida (und dieses mit wird eines Tages
kommentiert werden müssen) . Letztlich handelt es sich um dieselbe Schiffahrt ,

57
Was auch i mmer existiert: Weil es existiert, ko-existiert es. Ko­
I mplikation des Existierens ist Teilen einer Welt. Eine Welt ist
nichts der Existenz äußerliche s , keine äußerliche Hinzufügung
anderer Existenzen: Sie ist die Ko-Existenz, die sie zusammen
dis-poniert. Allerdings, so könnte man einwenden, muß ja not­
wendig irgendetwas existieren. Kant zeigte, daß durchaus etwas
existiert , da ich j a zumindest eine mögliche Existenz denke : Nun
folgt aber das Mögliche auf das Wirkliche, und es existiert also
2
schon etwas Wirkliches. 8
Man sollte hier anfügen, daß diese Inferenz in Wirklichkeit auf
einen Plural der Existenz schließen läßt : Es existiert etwas (zu­
mindest »ich«) und etwas anderes, zumindest das andere »ich«,
das sich ein M ögliches vorstellt, und auf das ich mich beziehe,
wenn ich mich frage , ob etwas von der Art dessen , was ich als
möglich denke, existiert. Es ko-existiert zumindest mehr als ein
»Ich«. Was hier noch so weiterzuführen ist: Es existieren auch
nicht nur Ichs, verstanden als Subj ekte-der-Repräsentation, denn
mit der wirklichen Differenz von zwei »Ichs« ist auch der Unter­
schied der Dinge im allgemeinen gegeben, zumindest mein Kör­
per, und folglich mehrere Körper. Diese Unterschiedlichkeit im
alten Stil dient nur dazu, dies zu zeigen : Einen philosophischen
Solipsismus hat es nie gegeben und wird es nie geben, und in
gewisser Weis e hat es eine Philosophie »des Subjekts« im Sinne
einer unendlichen Einschließung eines Für-sichs in sich selbst
nie gegeben und wird es auch nie geben .
Und doch gibt es durchaus, und zwar für die gesamte Philoso­
phie, auch dasjenige, wofür in exemplarischer Weise der S atz
von Hegel steht : »Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die

auf der auch einerseits Agamben, andererseits Badiou an Bord sind, auch wenn
letzterer ihr in der Form des Gegensatzes folgt und Vielheit gegen das Eine aus­
spielt. All dies beweist vor allem, wie richtig es ist, daß wir nur miteinander
denken (durch, gegen, trotz, nahe bei, fern von, sich berührend, sich meidend ,
einander neidend ) .
2 8 . Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes ( 1 763) , I, 3, § 4, in: Werke Bd. 2, Frankfurt; Main 1 960.

58
Gemeinschaftlichkeit ist auch eine , aber eine äußerliche Form
der Allgemeinheit. i9 Man weiß , daß die dialektische Logik den
Übergang von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit als dieser
selbst wesentlich erfordert: Dennoch muß dieser Logik nach
dann immer die »innere« Form und die Subj ektivität des »Ich« die
Wahrheit des Universellen und seiner Gemeinschaft wiederfin­
den und sich setzen, um zum Ziel zu gelangen. Uns fällt folglich
die Aufgabe zu, das Moment der »Äußerlichkeit« als in wesent­
licher Weise tatsächlich gültig festzuhalten, und zwar als so
wesentlich, daß es sich auf keinerlei »Ich«, weder auf ein indi­
viduelles noch auf ein kollektives, mehr bezieht, o hne dabei un­
mißverständlich die Ä ußerlichkeit selbst und als solche aufrecht­
zuerhalten.
Singulär plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist
nur, als Mit-Wesen [co-essence] . Aber ein Mit-Wesen oder Mit­
sein - das Sein-mit-mehreren - bezeichnet seinerseits das Wesen
des Mit-, oder auch, oder vielmehr, das Mit- (das cum) selbst in
der Position oder Art des Wesens . Eine Mit-Wesentlichkeit kann
in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten b este­
hen, in der das Wesen der Ansam!Illung noch zu b estimmen
bliebe: Auf sie bezogen würden die versammelten Wesenheiten
zu Akzidenzien. Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Tei­
lung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so
will. Dies könnte man auch auf diese Weise ausdrücken : Wenn
das Sein Mit-sein ist, dann ist im Mit-sein das »Mit« das, was das
Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt. Es handelt sich
hier um dasselbe wie bei kollegialer Macht : Die Macht ist den
Mitgliedern des Kollegs weder äußerlich noch j edem von ihnen
innerlich, sondern sie besteht in der Kollegialität als solcher.
Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird,
sondern das Mit im Zentrum des Seins. D afür ist es absolut not­
wendig, zumindest die Ordnung der philosophischen Darstellung

29. Hege!, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, § 20, Werkaus­


gabe Bd. 8 , Frankfurt I Main 1 9 70, S . 74 .

59
umzukehren, in der mit großer Regelmäßigkeit das »Mit« - und
der Andere , der damit einhergeht, wenn man so sagen kann -
immer an zweiter Stelle kommt, obgleich diese Folge durch die
tiefere Logik dessen, wovon die Rede ist, dementiert wird. Eine
solche Ordnung ist in sehr bemerkenswerter Weise selbst bei
Heidegger bewahrt , der die Mit-Ursprünglichkeit des Mit-seins *
erst einführt, nachdem er die Ursprünglichkeit des Daseins * eta­
bliert hat . Dasselbe kann man gegen die Husserlsche Konstitu­
tion des alter ego anführen, obgleich dieses auf seine Weise dem
Ego in der »einzigen . . . Allgemeinschaft« 3 0 ebenfalls gleichzeitig
(wieder das cum) ist .
Man kann auch a contrario zeigen , daß, wenn Hegel in der Phä­
nomenologie des Geistes mit der Gestalt der »sinnlichen Gewiß­
heit« beginnt, wo, wie es scheint, das Bewußtsein noch nicht in
die Beziehung zum anderen Bewußtsein eingetreten ist , diese
Gestalt dennoch durch die Sprache charakterisiert ist, durch die
das Bewußtsein sich die Wahrheit der s innlichen Unmittelb arkeit
aneignet (j enes berühmte »das Jetzt ist die Nacht«) , und dadurch
wurde die Beziehung zum anderen B ewußtsein erschlichen. Es
wäre leicht, ein Vielfaches solcher Einwände vorzubringen: Zum
Beispiel verweist die Evidenz des ego sum konstitutiv und mit­
ursprünglich auf ihre Möglichkeit in j edem der Leser von Descar­
tes , und genau dieser Möglichkeit in j edem von uns, das heißt
dieser Mit-Möglichkeit verdankt die Evidenz als Evidenz ihre
Üb erzeugungskraft und ihren Wahrheitsgehalt. 31 Ego sum ego =

cum.
S o könnte offenbar werden, daß - für die Philosophie insgesamt
- die notwendige Abfolge der Exposition nicht verhindert, daß

30. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Harnburg 1 9 7 7 , § 60, S . 1 43 .


3 1 . Descartes attestiert s ich selbst, daß Vorgehensweise und Diskurs des ego
sum nichts an deres sind als wie wir alle vorgehen, nämlich »durch jene Art der
inneren Erken ntnis , die dem Erworbenen i mmer vorhergeht, und die allen Men­
schen, was Denken und Existenz angeht, so natürlich zukommt [ . . . ] daß wir
,

zwar so tun können, es sei dem so nicht , es aber dennoch unmöglich ist, daß
dem nicht s o ist.« (Antworten auf die 6. Betrachtungen, 1 ) .

60
die Tiefenordnung der Gründe durch Mit-Ursprünglichkeit ge­
regelt ist . Wenn ich also vorschlage, die Ordnung der ontologi­
schen Exposition zu verkehren, s o s chlage ich nur vor, eine in
der gesamten Geschichte der Philosophie mehr oder w e niger
dunkel gegenwärtige Ressource ans Licht zu bringen - die umso
gegenwärtiger ist, als sie auf die weiter oben beschriebene S itua­
tion antwortet: Philosophie beginnt mit und in der »mitbürgerli­
chen« Ko-Existenz als solcher (und läßt s ogleich und im U nter­
schied zur »Reichsform« die Macht als Problem zum Vorschein
kommen) . Oder vielmehr: »Polis« ist nicht zuerst eine Form der
politischen Institution, sondern zuerst Mit -sein als solches . P hilo­
sophie ist insgesamt Denken des Mit-seins, und deshalb ist sie
auch Mit-Denken als solches .
Aber es versteht sich von selbst, daß es nicht nur darum geht,
eine noch fehlerhafte Exposition einfach zu korrigieren . . . Es geht
auch darum, den Wesensgründen gerecht zu werden, deretwe­
gen das Mit-sein die gesamte Philosophiegeschichte hindurch
dem Sein untergeordnet ist und gleichzeitig und i m Zug d ieser
Unterordnung selbst unablässig sein Problem als das Problem
des Seins selbst geltend macht : Insgesamt ist das Mit-sein das
eigentlichste Problem des Seins - und es ist nun herauszufinden,
warum und inwiefern dies so ist. 3 2
Nehmen wir also den Faden wieder auf: Nicht zuerst das Sein
des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-ein-ander, son­
dern das Seiende - und alles Seiende - in seinem Sein als Mit-ein­
ander seiend. Singulär p lural : derart, daß eines j eden Singularität
von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tat­
sächlich und im allgemeinen Singularität von Pluralität nicht zu
trennen ist. Auch hier handelt es sich nicht um eine zusätzliche
Eigenschaft. Der Begriff des Singulären impliziert seine Singula­
risierung und folglich seine Unterscheidung von anderen Singu-

32. In gewissem Sinne ist Levinas als Zeuge exemplarisch für diese Problema­
tik. Was er aber als »autrement qu'etre« (anders als Sein) versteht, muß ver­
standen werden als »das Eigentlichsie des Seins«, eben weil es viel mehr d arum
geht, das Mit-sein zu denken statt den Gegensatz des A nderen zum Sein.

61
laritäten (im Unterschied beispielsweise zu den Begriffen des
Individuums - denn das perfekte Individuum wäre eine imma­
nente Totalität ohne anderes, oder ohne Besonderes , da dieses
ein Ganzes u nterstellt, dessen Teil es ist und damit gegenüber an­
deren P artikularitäten keinerlei anderen Unterschied aufweisen
kann als einen num erischen) . Im übrigen sagt man singuli im
Lateinischen nur im P lural, weil es »eines« von mehreren »nach­
ein-ander« bezeichnet. Das Singuläre ist von vornherein jeder
Einzelne, folglich auch j eder mit und unter allen anderen. Das
Singuläre ist ein P lural . Sicher hat es auch die individuelle Eigen­
schaft der U nteilbarkeit zu bieten: aber es ist nicht unteilbar als
Substanz, sondern unteilbar in j edem einzelnen Fall, im Ereignis
seiner Singularisierung. Es ist unteilbar als Augenblick, das heißt
ebenso s ehr unendlich teilbar, oder punktuell unteilbar. Es ist
auch als ein B esonderes , aber u nter der Bedingung des pars pro
toto: Das Singuläre ist j edes Mal für das Ganze, auf seinem Platz
und in seinem Blick. (Wenn also der Mensch für das S eiende in
seiner Totalität steht, wie ich auszudrücken versucht habe, so ist
er folglich der Exponierende des Singulären als solches und im
allgemeinen.) Eine Singularität läßt sich nicht auf Grundlage des
Seins aufteilen, sondern sie ist - sofern sie ist - das Sein selbst
oder s ein Ursprung.
Einmal mehr sieht man mühelos, wo diese Merkmale auf das
cartesische ego sum Bezug nehmen . D as Singuläre ist ein ego, das
kein »Subj ekt« im Sinne einer B eziehung von sich zu sich ist .
Vielmehr ist es eine »Ipseität«, die keine Beziehung von einem
»Ich« zu einem »Selbst« ist. 3 3 Es ist weder »ich« noch »du«, son­
dern lediglich das Unterschiedene der Unterscheidung, das Dis­
krete der Diskretheit . Es ist das Als-abseitiger-Teil-sein [l 'etre-a­
part] des S eins selbst und im Sein selbst: das j eweilige Sein, das
bezeugt, daß das Sein nur als Einzelfall stattfindet.
Das Wesen des Seins ist der Fall . »Sein« ist immer, j edes Mal
ein Fall des Seins (Anklopfen , Anlangen, Schock, H erzschlag,

33. Heidegger, Beiträge, Frankfurt a. M., S . 3 1 9.

62
Berührtsein, Zusammentreffen, Zugang) . Und folglich immer
auch ein Fall des »Mit« : Singulare, die singulär zusammen sind ,
und deren Zusammen [ensemble] weder ein Summe, noch ein
Umfassendes, noch die »Gesellschaft«, noch die »Gemeinschaft«
ist (diese Worte sind nur Ausdrücke für das Problem) . Das Zu­
sammen der Singulare ist »selbst« die Singularität . Sie »versam­
melt« sie, indem sie sie verräumlicht, und sie sind »verbunden« ,
insofern sie nicht vereinigt sind .
Unter diesen Bedingungen darf man vom Sein als Mit-sein viel­
leicht nicht mehr in der dritten Person des »es ist« oder »es gibt«
sprechen . Es gibt womöglich keinen dem Zusammen-sein äußer­
lichen Standpunkt, von dem aus sich aussprechen ließe, daß es
Seiendes und ein Mit-sein der Seienden u ntereinander gibt. Kein
»es ist«, folglich auch kein der Aussage des »es ist« zugrunde­
liegendes »ich bin« . Man müßte vielmehr die dritte Person als die
in Wirklichkeit erste denken. Sie wird dann also die erste Person
Plural . Und das Sein läßt sich dann nur auf diese singuläre Weise
sagen: »Wir sind« . Die Wahrheit des ego sum ist ein nos sumus ­
und dieses »Wir« ist eine Aussage über den Menschen, die für
alle Seienden gilt, mit denen »wir« sind, für die gesamte Existenz
als Wesentlich-mit-sein, als Sein, dessen Wesen das Mit ist .
(»Man wird sprechen . . . «: wer, man? Wir werden sprechen -
wer ist dieses »Wir«? Wie kann ich »wir« sagen für euch , die ihr
mich lest, und für mich? Wie kann man uns gemeinsam denken
lassen, was doch das ist, was wir gerade machen, ob wir »einver­
standen« sind oder nicht? Wie sind wir der oder die eine, mit dem
oder der anderen? Was heißt : Wie steht es mit unserer Kommu­
nikation, mit diesem Buch, also mit diesen Sätzen und dem Gan­
zen der Situation, die ihnen mehr oder weniger Sinn verleihen?
Was eine Frage der Philosophie als »Literatur« ist, nämlich: Bis
wohin ist es möglich , den Diskurs in der dritten Person der Phi­
losophie zu halten, ab wo müßte die Ontologie - was? - werden?
Gespräch? Lyrik? . . . Strikte begriffliche Strenge des Mit-seins läßt
den Diskurs seines Begriffs verzweifeln . . . )

63
Was man »Gesellschaft« im weitesten und diffusesten Sinne des
Worts nennt, ist s omit die Chiffre einer Ontologie, die noch frei­
gelegt werden muß. Rous seau hat sie vorausgeahnt, als er für
den recht unglücklich so genannten »Vertrag« nicht eine Überein­
kunft zwischen Individuen, sondern eben j enes Ereignis ein­
setzte, das »aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Lebe­
wesen ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht
hat« . 3 4 (Nietzsche bestätigt diese Vorahnung auf paradoxe Weise ,
wenn Zarathustra ausruft, daß »die Menschen-Gesellschaft [ . . . ]
ein Versuch [ . . ] und kein >Vertrag<« 35 sei.) Marx faßt sie, indem
.

er den Menschen seiner Herkunft, Produktion und Bestimmung


nach als gesellschaftlich qualifiziert und tendenziell durch die
gesamte Bewegung und durch die Stellung seines Denkens die­
sem gesellschaftlichen Sein/Wesen [etre social] 3 6 das Sein selbst
zuschreibt. Heidegger hat sie bezeichnet, indem er das Mitsein
als konstitutiv für das Dasein setzte . Keiner hat j edoch das Mit
radikal als d en wesentlichen Zug des Seins und als dessen eige­
nes singulär plurales Wesen thematisiert . Doch haben sie uns -
zusammen und j eder einzeln - bis zu dem Punkt geführt , wo wir
das, wovon die gesamte gegenwärtige Erfahrung zeugt, nicht
mehr umgehen können : Jetzt geht es darum, nicht mehr
- ausgehend vom Einen oder vom Anderen
- noch von beiden zusammen begriffen, bald als das EINE, bald
als das A NDERE zu denken ,
sondern absolut und rückhaltslos ausgehend vom »Mit« als der
Wesenseigenschaft eines Seins, das nichts als Mit-ein-ander ist« .

3 4 . Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1 9 77, Erstes Buch , Kap . 8. S . 2 2 .


3 5 . Nietzsche, A lso sprach Zarathustra, Dritter Teil, V o n alten u n d neuen
Tafeln, 25, Werke II, München 1 9 69, S . 485 .
3 6 . Nancy übersetzt entsprechend den französischen Gepflogenheiten die
Marxschen Begriffe »Gattungswesen«, »menschliches Wesen«, »gesellschaft­
liches Wesen« mit »etre generique« , »etre humain« und »etre social«. D ad urch
entsteht zuweilen - wie im obigen Satz - eine irrel eitende Doppeldeutigkei t ; wir
schreiben - uns chön, aber klar - dort, wo bei Marx -»wesen«, z.B. »Gattungs­
wesen« stehen würde, »-wesenj-sei n«, also am Beispiel : »Gattungswesenjsein«
(A. d . Ü . ) .

64
Das Eine/das Andere: weder »durch« , noch »für«, noch »im«,
noch »trotz«, sondern »mit« . Weniger und mehr zugleich als die
»Beziehung« o der die »Verbindung«, vor allem wenn die B ezie­
hung oder die Verbindung j e die vorg�ngige Existenz der Ter­
mini, die sie verbinden, voraussetzen: D enn das »Mit« ist das
genau Gleichzeitige seiner Termini, es ist in der Tat ihre Gleich­
zeitigkeit. »Mit« ist geteilte Raum-Zeit, ist das Zur-selben-Zeit­
am-selben-Ort, das als solches von sich selbst, in sich selbst, ab­
gesondert ist. Es ist das Prinzip der Identität, das augenblic klich
vervielfacht ist: Das Sein untersteht gleichzeitig und am gleichen
Ort der Verräumlichung einer unbestimmten Pluralität von Sin­
gularitäten. Das Sein ist mit dem Sein, es deckt sich nicht mit sich
selbst, aber es ist bei sich, an seiner Seite, ganz bei sic h , auf
Tuchfühlung, in der paradoxen Nähe, worin sich Entfernung und
Fremdheit offenbaren. Wir: j edes Mal ein anderer, jedes Mal mit
anderen. Das »Mit« deutet in keinem höheren Maße darauf hin,
daß eine Situation gemeinsam geteilt wird, als wenn reine Exte­
rioritäten nebeneinander stehen (eine Bank mit einem B aum mit
einem Hund mit einem, der vorbeikommt) .
Die Frage des Seins und des Sinns des S eins ist zur Frage des
Mit-seins und des Zusammen-seins (des Sinns der Welt) gewor­
den . Dies ist es, was die moderne U nruhe ausmacht, die w eniger
eine »Krise des Sozialen« aufdeckt als eine Anweisung, die die
»Sozialität« oder die »Soziation« der Menschen an sich selbst
richtet, oder die sie von der Welt erhält : nicht anderes s ein zu
müssen als das, was sie ist, j edoch endlich selbst das Sein als sol­
ches sein zu sollen. Eine solche Formuli erung ist zunächst von
einer tautologischen Abstraktion, die verzweifeln läßt - und des­
halb sind wir alle beunruhigt -, aber unsere Aufgab e ist es, die
harte Schale dieser Tautologie zu knacken: Was ist das Mit-sein
des Seins?
In gewisser Hinsicht wiederholt sich immer wieder die anfäng­
liche okzidentale Situation, es geht immer noch um das Problem
der Polis , dessen Wiederholung unsere Geschichte im Besten wie
im Schlimmsten geprägt hat . Heute reproduziert sich diese Wie-

65
derho lung in einer Situation, wo die zwei wichtigsten Gegeben­
heiten eine Art Antinomie bilden: Einerseits breitet sich eine
Welt aus, andererseits stehen wir vor dem Ende der Repräsenta­
tionen der Welt. Das heißt nichts geringeres als eine Mutation im
Verhältnis von Politik und Philosophie. Einerseits kann es sich
nicht mehr um eine einzige Gemeinschaft, ihr Wesen, ihre Ge­
schlossenheit und S ouveränität handeln, andererseits kann es
nicht mehr darum gehen, die Gemeinschaft den Dekreten einer
S ouveränität des ANDEREN o der den Zwecken einer Geschichte
zu unterstellen. Aber es kann auch nicht darum gehen, Sozialität
als einen bedauerlichen und unvermeidlichen Unfall, als etwas
mehr schlecht als recht zu bewältigtendes Zwanghaftes zu be­
handeln. Gemeinschaft steht nackt da, aber sie drängt sich auf.
Einerseits ist also der Begriff der Gemeinschaft als solcher oder
der Polis in j edem Sinne gebrochen - dies ist es, was das vielfäl­
tige und chaotische Aufkommen des I nfranationalen, des Supra­
nationalen, des Paranationalen und der Dis-Lokation des »Natio­
nalen« im allgemeinen bedeutet - , andererseits scheint der
Begriff der Gemeinschaft [communaute] nichts anderes mehr
zum Inhalt zu haben als seine eigene Vorsilbe, das cum, das der
Substanz und der Verbindungen entledigte Mit, dessen Innerlich­
keit, Subj ektivität und Personalität abhanden gekommen ist. Auf
die eine wie auf die andere Art ist Souveränität nichts . 3 7 S ouve­
ränität ist nichts weiter als das cum, und als solche immer und
unendlich »zu kom-plettieren« .
Nicht ein Verschwinden der Souveränität, sondern diese Frage
muß gedacht werden: Wenn Souveränität der große politische
Terminus war, um die Gemeinschaft (ihren Kern o der ihr Wesen)
ohne ein Jenseits von ihr zu bestimmen, ohne ein anderes Fun­
dament o der einen anderen Zweck als sie selbst, wie steht es
dann damit , wenn diese Souveränität nichts anderes mehr erin­
nert als singulär plurale Verräumlichung? Wie läßt sich Souve-

37. Es ist bekannt, daß dies eine Formel ist, a n der Bataille viel liegt . Man
könnte sogar sagen, daß das seine Formel war, absolut.

66
ränität als das »Nichts« des entblößten »Mit« denken? Und wenn
gleichzeitig p olitische Souveränität immer die Zurückweisung
von Beherrschung (eines Staats durch einen anderen, durch die
Kirche, eines Volks durch etwas anderes als es selbst) bedeutet
hat, wie läßt sich dann die nackte S ouveränität des »Mit« im Ge­
gensatz zur Beherrschung des Zusam men-seins durch eine an­
dere Instanz, oder die des Zusammen durch es selbst ( durch
seine Regulierung und »automatische« Kontrolle) denken? Man
hat damit beginnen können, die derzeitige Transformation des
»politischen Raums« 3 8 als einen Übergang zum »Empire« zu be­
schreiben. Empire bedeutet genau die B eherrschung ohne Souve­
ränität (ohne Ausarbeitung eines solchen Begriffs) und zugleich
eine umgekehrte Verräumlichung und Pluralität der Konzentra­
tion im Inneren, die nach politischer Souveränität verlangt : Wie
läßt sich die Verräumlichung des Empire im Gegensatz zu seiner
Beherrschung denken?
Auf die eine oder andere Weise setzt die nackte Souveränität -
wenn ich die Souveränität Batailles einmal so übertrage - voraus,
daß sie zur Ordnung des Politisch-Philosophischen und der »po­
litischen Philosophie« auf Distanz geht: nicht zugunsten eines
entp olitisierten Denkens , sondern zugunsten eines Denkens , das
mit der Konstitution, Imagination und Bedeutung des Politischen
selbst wieder neu beginnt, das es in seinem Rückzug und aus­
gehend von diesem Rückzug neu zu umreißen erlaubt. Rückzug
des Politischen 3 9 bedeutet nicht dessen Verschwinden. Es b edeu­
tet, daß die philosophische Voraus setzung von allem Politisch­
Philosophischen verschwindet, die immer eine ontologische ist.
Sie hat unterschiedliche Formen : Sie kann darin bestehen, das
Sein als Gerneinschaft zu denken und die Gemeinschaft als
Schicksal, oder im Gegenteil darin, das Sein als früher und außer­
halb der Gesellschaftsordnung und diese als zufällige Äußerlich-

38. Vgl . Toni N egri , »La crise de l ' espace politique«, und die gesammte Num­
mer 2 7 »En attendant l ' empire« von Futur anterieur, Paris, Januar 1 99 5 .
39. Vgl. d i e kürzlich in Le retrait du politique u n d Rejouer l e politique zusam­
mengetragenen Arbeiten, Paris 1 98 1 und 1 983 .

67
keit des Kommerzes und der Macht. So aber ist Zusammen-sein
nie wirklich Thema und Problem der Ontologie. Der Rückzug des
Politischen ist die ontologische Entdeckung und Entblößung des
Mit-sein s .

Singulär-plural-sein : in einem Strich, ohne Interpunktion, ohne


Gleichheitszeichen, ohne Zeichen der I mplikation oder der Ab­
folge . Nur ein kontinuierlich-diskontinuierlich gezogener Strich,
der das Zusammen des ontologischen Bereichs, das als das »Mit«
des Seins, des Singul ären und des Pluralen bezeichnete Mit-sich­
selbst-sein [etre-avec-lui-meme] , skizziert und der Ontologie auf
einen Schlag nicht nur eine andere Bedeutung, sondern eine an­
dere Syntax auferlegt : Der »Sinn des Seins« nicht nur als »Sinn
des Mit«, sondern auch und vor allem als »Mit« des Sinns . Denn
keiner dieser drei Termini ist dem anderen vorgängig, noch be­
gründet er die anderen, und j eder bezeichnet das Mit-Wesen der
anderen . Das Mit-Wesen setzt das Wesen selbst in den Strich ­
»singulär plural sein« - in einem Bindestrich, der ebenso ein
Trennungsstrich ist, ein Strich der Verteilung, der sich also ver­
liert und j eden Terminus seiner I soliertheit und seinem Mit-den­
anderen-sein überläßt.
Die Einheit der Ontologie muß nunmehr in einer solchen Li­
nienziehung, einem solchen Abstand und einer solchen Ver­
räumlichung gesucht werden , die zugleich die des Seins, des
Singulären und des Pluralen, zugleich unterschieden und unun­
terschieden ist. In einer solchen Ontologie, die keine »Ontologie
der Gesellschaft« im Sinne einer »regionalen Ontologie« ist, son­
dern die Ontologie selbst als »Sozialität« oder »Soziation«, die ur­
sprünglicher ist als j ede »Gesells chaft« (»Sozietät«) , j ede »Indivi ­
dualität« und j edes »Wesen des Seins«, ist das Sein mit, ist es als
das Mit des Seins selbst (das Ka- sein des Seins) , s o daß das Sein
nicht als solches 40 kenntlich gemacht wird (als Sein des Seins),

40. Zur dekonstruierenden Lektüre des »als solches« des Seins i n der Funda­
mentalontol ogie vgl . die Arbeit von Yves Dupeux, Straßburg 1 994.

68
sondern sich setzt, sich hingibt oder ankommt, sich dis-poniert -
zum Ereignis wird, Geschichte macht, Welt wird - als sein eige­
nes singulär plurales Mit. Noch einmal anders : Das Sein ist nicht
ohne Sein - ein Satz , der so lange nicht mehr ist als eine erbärm­
liche Tautologie, wie man nicht begreift, d aß er im mit-ursprüng­
lichen Modus des Seins-mit-dem-Sein-selbst zu verstehen ist.
Diesem Modus gemäß ist das Sein simultan. Wie man, u m das
Sein auszusprechen, es wiederholen und »das Sein ist« sagen
muß , so ist das Sein nur als simultan mit sich selbst. Die Z eit des
Seins (die Zeit, die es ist) ist diese Simultaneität, diese Ko-Inzi­
denz , die eine Inzidenz im allgemeinen vorauss etzt: die Bewe­
gung, Fortbewegung oder Ausbreitung, die ursprünglich zeitli­
che Ableitung des Seins, seine Verräumlichung .
Pollak6s legomenon - das Sein äußert sich in vielfältiger Weise:
in gewisser Weise geht es durchaus darum, das aristotelische
Axiom zu wiederholen. Dem »mit« , dem »auch« und >>noch« einer
Geschichte entsprechend, die j ene Aushebung und Zugkraft des
Seins wiederholt, ist die Singularität des Seins sein Plural . Aber
dies wird nicht mehr in vielfältiger Weise gesagt, wenn man von
einem einzigen vermuteten Kern des Sinns ausgeht . Das Multiple
des Sagens - das heißt der Sagenden -, mit dem je singulären Sa­
gen, gehört zu ihm als seine Konstitution, und im Sagen, j e nseits
des Sagens , das Multiple des Seienden in Totalität .
So koinzidiert das Sein nicht mit sich selbst, ohne daß diese Ko­
Inzidenz sich sogleich und in wesentlicher Weise selbst b emerk­
bar macht entsprechend der Ko-Struktur seines Ereignisses (Inzi­
denz , Begegnung, Winkel der Deklination, Schock, nicht über­
einstimmende Übereinstimmung) . Das Sein ko-inzidiert mit dem
Sein: das heißt, es ist Verräumlichung, und das Aufkommen [la
suruenue] - die aufkommende Verräumlichung - des Ko-, des
singulär Pluralen. Man könnte fragen, warum man dies immer
noch »Sein« nennen muß, wo doch sein Wesen sich auf eine Vor­
silbe des Seins reduziert, auf ein Ko-, außerhalb dessen es nichts
gibt, nichts außer den Seienden oder Existierenden, aber keiner­
lei eigene Substanz oder Konsistenz des »Seins« als solchem.

69
Und genau darum geht es in der Tat. Das Sein besteht in nichts
anderem als der Existenz von allem Existierenden. Dennoch ver­
schwindet diese Konsistenz selbst nicht in einem Staub von ne­
beneinander stehenden Seienden. Worauf ich hinzuweisen ver­
suche, wenn ich von »Dis-Position« spreche, ist weder einfache
Position noch ein Nebeneinander. Das Ko- bestimmt durchaus
die Einheit und Einzigartigkeit dessen, was im allgemeinen ist .
Zu begreifen ist von dieser einzigartigen Einheit genau deren
Konstitution als »Ko-« : das singulär Plurale.
(Im übrigen ließe sich mühelo s zeigen, daß dies eine Frage ist,
die entsprechend einer langen Tradition schon oft gestellt wor­
den ist, sowohl von der Monadologie von Leibniz wie von all den
Formen einer »ursprünglichen Teilung«, und noch weitergehend
von allen Formen des Unterschieds zwischen dem Einen an sich
und dem Einen für sich. Wichtig ist genau diese Wiederholung:
die Konzentration und das Aufwerfen der Frage - was weder not­
wendigerweise einen Fortschritt darstellt, noch sein Gegenteil :
Verarmung, s ondern wohl eher eine Verschiebung, einen Um­
weg, einen Ausbruch hin zu etwas anderem, hin zu einer ande­
ren philosophischen Haltung . )
Zumindest u n d vorsorglich wird m a n versuchen folgendes z u
sagen: Ebensowenig w i e um ursprüngliche Einheit u n d deren
Teilen handelt es sich um ursprüngliche Multiplizität und ihre
Korrelation (weder das Eine , das sich s elbst erzdialektisch teilt ,
noch Atome und Klinamen) . Im einen wie im anderen Fall muß
der Ursprung in bezug auf irgendein Ereigni s , das ihn ereilt, als
vorgängig gedacht werden (auch wenn es aus ihm hervorgeht) .
Man muß also die Einheit ursprünglich p lural denken : Das heißt
genau , das Plurale als solches zu denken.
Plus ist im Lateinischen der Komparativ von multus nicht
-

»zahlreich«, sondern »mehr«, eine Steigerung oder ein Exze ß von


Ursprung im Ursprung. Um es in bezug auf die soeben angeführ­
ten Modelle zu sagen: Das Eine ist mehr als das Eine, es teilt sich
nicht , sondern eines mehr als eines, denn man kan n nicht
=

»eines« zählen, ohne mehr als eines zu zählen. O der i m Atom -

70

..
modell: Es gibt die Atome plus Klinamen. Aber das Klinamen ist
nichts anderes, kein anderes Element außerhalb der Atome, es
existiert nicht zusätzlich, es ist das »Mehr« ihrer Exposition : Als
Mehrere können sie nur einander zuneigen oder voneinander ab­
weichen. Ihre Unbeweglichkeit oder ein paralleler Fall würde
eine Darstellung unterbinden, käme der reinen Position gleich
und unterschiede sich nicht vom rein-einen-Einen (oder anders
gesagt : dem Anderen) . Das reine Eine ist weniger als das Eine: es
kann weder gesetzt noch gezählt werden . Das eigentlich Eine ist
immer mehr als eines. Es ist, als Einheitsexzeß, das Eine-mit­
dem-Einen: sein ko-präsentes Ansichsein.
Das Ko-selbst (und die Ko-Präsenz des S eins als solches) ist als
das Sein, das es »ist«, nicht präsentierbar, da es dieses nur ist,
indem es dieses absondert . Es ist unpräs entierbar nicht, weil es
die am meisten zurückgezogene und geheimnisvolle Seinsregion
besetzt, oder gar die des Nichts , sondern weil es schlicht und ein­
fach keiner Logik der Präsentation unterworfen ist. Weder prä­
sent, noch zu präsentieren (noch folglich im strikten Sinne »un­
präsentierbar«) , ist das Mit die - singulär plurale - Bedingung der
Präsenz im allgemeinen als Ko-Präsenz. Die Ko-Präsenz ist keine
in die Abwesenheit zurückgezogene Präsenz , sie ist auch keine
Präsenz an sich, sondern eine Präsenz für [pour} sich.
Sie ist auch keine reine Präsenz des für [ii} , weder für sich , noch
für anderes, noch auf der Welt. Tatsächlich können diese Arten
der Präsenz - sofern sie stattfinden - nur stattfinden, wenn vor
allem Ko-Präsenz stattfindet . Ein einzelnes Subj ekt könnte sich
nicht einmal bezeichnen und sich auf sich als Subj ekt beziehen .
Ein Subj ekt im klassischen Sinne des Begriffs unterstellt nicht
nur seine eigene Unterschiedenheit vom Obj ekt seiner Repräsen­
tation o der Beherrschung: es unterstellt zumindest ebenso sehr
seine eigene Unterschiedenheit von anderen Subj ekten, deren
Selbstheit (j a , wenn man so will, deren Fürheit) sich von s einem
eigenen Umkreis der Repräsentation oder Beherrschung unter­
scheiden läßt. D as Mit ist also die Unterstellung des »sich« im all­
gemeinen. Aber es ist eben gerade nicht mehr eine zugrundelie-

71
gende Unterstellung oder Supposition im Modus der infiniten
Auto-Präsuppo sition der subj ektiven Substanz. Wie es die syn­
taktische Funktion des »mit« anzeigt, ist es die Prä-Position der
Position i m allgemeinen , und das macht derart seine Dis-Position
aus.
Das »Sich«, »sich« im allgemeinen, findet mit statt, bevor es für
sich-selbst und/oder für den Anderen stattfindet. Diese »Fürheit«
des Selbst ist dem Selbst und dem Anderen vorgängig, vorgängig
folglich auch der Unterscheidung eines Bewußtseins und seiner
Welt. Vor der phänomenologischen Intentionalität und vor der
egologischen Konstitution, aber sehr wohl auch vor der dingli­
chen Konsistenz als solcher gibt es Mitursprünglichkeit entspre­
chend dem Mit. Es gibt genaugenommen also keine Vorgängig­
keit: Mitursprünglichkeit ist die allgemeinste Struktur aller Kon­
sistenz, aller Kon- stitution und allen Bewußtseins [con-science] .
Präsenz-mit: mit als ausschließlicher Modus des Präsentseins,
ebenso wie das Präsentsein, und das Präsente des Seins, koinzi­
diert nicht an sich - das heißt mit sich - es sei denn, es ko-inzi­
diert , es »fällt mit« der anderen Präsenz »zusammen«, die ihrer­
seits demselben Gesetz gehorcht . Das Zu-Mehreren-zusammen­
sein ist die ursprüngliche Situation: Sie bestimmt sogar unsere
»Situation« im allgemeinen . Derart verlangt inzwischen ein ur­
sprüngliches oder transzendentales »Mit« besonders dringend
danach , für es selbst freigelegt und artikuliert zu werden. Aber
was an seinen Begriff nicht die geringste Schwierigkeit stellt: Auf
dieses »Ursprüngliche« oder auf dieses »Transzendentale« »geht«
man nicht »zurück«, es ist zu j eder Existenz und j edem Denken
strikt gleichzeitig.

72
7. Ko-Existenz

Kommunismen und Sozialismen aller Art haben nicht von un­


gefähr einen wesentlichen Teil der Erwartungen der modernen
Welt auf sich gezogen: die Hoffnung auf einen Bruch und eine
Innovation ohne Umkehr, eine wahrhafte Hoffnung auf Revolu­
tion, das heißt auf die Neuschöpfung der Welt. Es genügt nicht,
das wird uns jeden Tag klarer, die Irrungen, Lügen und Verbre­
chen der »Realsozialismen« als »National-Sozialismen« zu stig­
matisieren. Durch moralische und p olitische Verurteilung - ver­
körpert vor allem durch ein entschiedenes und forderndes
Bewußtsein der »Menschenrechte« - dro ht stets die Gefahr, daß
hinter der unbestreitbaren Legitimität der letzteren j ene andere
Legitimität schwindet, die als Forderung unreduzierbar war und
bleibt: daß wir »wir« s agen können, daß wir uns wir nennen kön­
nen (es von uns s agen können und daß es die einen zu den an­
deren sagen können) , von dem Augenblick an, wo weder ein
Chef noch ein Gott es für uns sagt . Diese Forderung h at nichts
Zweitrangiges, und es ist das, was ihr die schreckliche Kraft der
Entfesselung, der Subversion, des Widerstands und der Empö­
rung verleiht. Denn nicht »wir« sagen zu können, ist, was jedes
- individuelle und kollektive - »Ich« in den Wahnsinn treibt, wo
es ebenfalls nicht mehr »ich« sagen kann . »Wir« sagen zu wollen
hat nichts Sentimentales , nichts Familiäres und auch nichts
»Kommunitaristisches« an sich. Hier fordert die Existenz, was ihr
zukommt, oder ihre Bedingung : die Ko-Existenz .
Wenn die »sozialistische« Hoffnung als solche sich als Illusion
oder Köder begreifen mußte , so ist der Sinn, durch den sie getra­
gen wurde - der S inn, der von ihr ein heftiges Zeichen gab - nur
umso deutlicher s ichtbar geworden. Es geht nicht darum , die
Herrschaft der einen durch die Herrschaft der anderen, die Be­
herrschung der »Massen« durch die ihrer Herren zu ersetzen. Es
geht darum, Herrschaft im allgemeinen durch eine geteilte Sou­
veränität zu ersetzen, die eine von allen und dabei zugleich die
eines j eden ist - aber als begriffene Souveränität, eben nicht als

73
Ausübung von Macht und Herrschaft, sondern als eine Praxis des
Sinns. S eit die traditionellen Souveränitäten (politisch-theologi­
scher Ordnung) zwar nicht die Macht (die sich nur verschob) ,
aber die Möglichkeit des Sinnstiftens verloren haben, forderte
der Sinn selbst (also »wir«) das , was ihm sozusagen geschuldet
ist. Was Marx als Entfremdung begriffen hat und wobei man
nicht vergessen darf, daß diese für ihn untrennbar die Entfrem­
dung des Proletariats und die der Bourgeoisie war (letztlich eine ,
wenn auch asymmetrische, ungleiche Entfremdung des »wir«) ,
war letztlich die Entfremdung des Sinns . Aber Marx ließ die
Frage der Aneignung oder der Wiederaneignung des Sinns noch
in der Schwebe - zum Beispiel, weil er die Frage dessen, was un­
ter »freier Arbeit« zu verstehen wäre, noch offen ließ. Diese
Schwebe war, fristgerecht, die Ö ffnung hin zu einer anderen On­
tologie des »Gattungswesensjseins« des Menschen als »gesell­
schaftliches Wesen/Sein«: zu einer Ko-Ontologie .
So gesehen bleiben Entzauberung und Bedrängnis unseres Fin
de siecle nicht dabei stehen, den sozialistischen Visionen nach­
zutrauern , ebensowenig wie sie sich damit begnügen können,
sie durch ein naives Sich-Stürzen in neue »kommunitaristische«
Themen ersetzen zu wollen. Sie tun anderes und viel mehr: Sie
machen unsere Hauptsorge kenntlich, die »uns« heute zu dem
macht , was »wir« sind, als die Sorge um das »gesellschaftliche
Sein« [etre social] als solches : das heißt insofern, als »Gesell­
schaftlich keit« und »Gesellschaft« o ffensichtlicherweise nicht die
angemessenen Begriffe für unser Wesen sind . Deshalb wird d a s
»gesellschaftliche Wesen/Sein« - in zunächst unendlich arme r
und problematischer Weise - z u m »Zusammen-sein« , »Zu-m e h ­
reren-sein«, zum »Mit-ein-ander-sein« . D a s »Mit« wird bloßge­
stellt als Kategorie, die noch keinen Status und Gebrauch hat, a u s
der aber letztlich alles resultiert , was uns z u denken gibt - u n d
alles, was »Uns« denken läßt.
Genau in dem Moment, wo es keine »sozialistische Vision«
mehr vorzustellen und vorzu schlagen gibt für die »Komman d o ­
stelle« eines Subj ekts der Geschichte und d e r P olitik, in d e m

74
Moment wo es, noch weiter gefaßt, sozusagen keine »Polis« und
nicht einmal mehr eine »Gesellschaft« gibt, aus der sich eine
regulative Figur formen ließe, da b i etet sich in der ganzen Zu­
gespitztheit seiner Frage und Souveränität seiner Forderung das
jeder Intuition, j eder Repräsentation oder Imagination entzogene
»Zu-mehreren-sein« an.
Frage und Forderung hängen an der Konstitution des Zu-meh­
reren-seins als solchem, also an der Konstitution der Pluralität im
Sein. Die »Ko-Existenz« sieht darin auf außergewöhnliche Weise
ihren zugespitzten und komplizierten B egriff. Es ist in der Tat
bemerkenswert, daß dieser Terminus immer dazu dient , auf ein
Regime oder einen Status hinzuweisen, der mehr oder weniger
von äußeren Umständen aufgezwungen ist. Es ist ein Begriff,
dessen Tonfall zwischen Indifferenz und Resignation oder auch
zwischen Kohabitation und Kontamination oszilliert . I mmer ist
die Ko-Existenz schwachen oder unerfreulichen Konnotationen
ausges etzt , und darin zeigt sich ein Zwang, oder bestenfalls eine
akzeptable Konkomitanz, aber kein Anstoß des Seins oder des
Wesens, allenfalls in der Form einer unüberwindlichen Aporie ,
mit der man höchstens in Verhandlung treten kann: j ene »un­
gesellige Geselligkeit«4 1 , mit der Kant selbst sich heute vielleicht
nicht mehr zufrie dengeben würde und deren Paradoxon nicht
mehr als ein umsichtiges Denken der Perfektionierbarkeit der
Völker erscheint , sondern eher als Pudendum für den »Lib eralis­
mus« genannten Zynismus dient . Aber letzterer weist alle Zei­
chen der Erschöpfung auf - zumindest der Erschöpfung, was den
Sinn angeht - wenn er auf den Zusammenbruch des »Sozialis­
mus« keine andere Antwort weiß, als daß es sich beim »Sozialen«
und dem »Soziologischen« um relativ autonome Sphären der
Handlung und des Wis sens handelt . Brüche zu repari eren oder
Strukturen zu bes chreiben wird nie ein Denken des Seins erset­
zen kö nnen, auch nicht, wenn es das eines Zusammen-seins ist.

4 1 . Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltb ürgerlicher


A bsicht, Vierter Satz, in: Werke Bd. 9, a . a . O . , A 392 .

75
Auf den Zusammenbruch des Kommunismus antwortet man der­
art nur mit einer überstürzten Verdrängung der Frage des Ge­
mein-sam-seins selbst (das der »real« genannte Kommunismus
seinerseits hinter einem gemeinsamen Sein verdrängt hatte) .
Nun ist aber genau diese Frage hier ans Licht gekommen, diese
und nichts anderes ; und sie wird uns nicht mehr loslassen, sie
wird nicht mehr aufhören wiederzukehren, denn in ihr stehen
wir in Frage .
Was derart ans Licht kommt, ist keine »soziale« oder »kommu­
nitäre Dimension«, die sich dem einfach Gegebenen hinzugesellt
- auch keine wesentliche oder bestimmende Zugabe (man
könnte an die vielen Schemata und Umstände gewöhnlicher Dis­
kurse denken , in denen uns diese Ordnung aufgezwungen wird:
erst das Individuum, dann die Gruppe, erst der eine, dann die an­
deren , erst das Rechtssubj ekt , dann die wirklichen Beziehungen,
erst eine »individuelle Psychologie«, dann eine »kollektive Psy­
cho logie«, und vor allem - wie man erstaunlicherweise immer
noch sagt, erst das »Subj ekt« , dann die »Intersubj ektivität« . . . ) . Es
handelt sich auch nicht um eine Sozialität oder Alterität, die sich
anschickt, die Instanz des Subjekts, begriffen als solus ipse, prin­
zipiell zu durchkreuzen , zu verkomplizieren, ins Spiel zu brin­
gen - zu alterieren. Es geht um mehr und noch um etwas ande­
res . Es geht um das, was das wie auch immer beschaffene ipse
(das »individuelle« oder »kollektive« , sofern diese Termini einen
präzisen Sinn haben) im Prinzip nur dadurch bestimmt, daß es
dieses mit-bestimmt mit der Pluralität des ipse, für das j eder in
der Welt mit-ursprünglich und mit-wesentlich ist, in einer Welt ,
die nunmehr eine Ko-Existenz bestimmt, die in einem noch un­
erhörten Sinne zu verstehen ist, weil sie sich nicht »in« der Welt
befi ndet, sondern das Wesen und die Struktur der Welt bildet.
Keine Nachbarschaft, noch eine Gemeinschaft der ipse, sondern
eine Ko-Ipseität : Das ist es, was ans Licht kommt , j edoch als ein
Rätsel , an dem sich unser Denken stößt.
In der Philosophie des 20. Jahrhunderts bleibt die H eidegger­
sche Ontologie des Mitseins eine bloße Skizze (ich werde darauf

76
zurückkommen) . Die Busserlsehe Ko-Existenz oder Gemein­
schaft verbleibt i m Status einer Korrelation von verschiedenen
Ego, und die »solipsistisch« genannte Egologie b leibt prima phi­
losophia. Außerhalb der Philosophie ist es bemerkenswert, daß
nicht die politische und Gesellschaft stheorie dem Rätsel der Ko­
Ipseität (und folglich der Hetero-Ipseität) am nächsten kam,
sondern einerseits eine immer mehr mit den Phänomenen der
Mit-Zugehörigkeit (co-appartenance) konfrontierte Ethnologie4 2 ,
andererseits der Freud der zweiten Topik, dessen dreifache Be­
stimmung insgesamt konstituiert ist entsprechend einer Ko-Exi­
stenz des Prinzips (Was sind »Es« und »Über-Ich«, wenn nicht
Mit-sein, Ko-Konstitution des »Ich« ? ) . Man könnte dasselbe von
der Lacan 'schen Theorie des »Signifikanten« sagen , insofern als
durch diesen eben nicht auf Bedeutung verwiesen wird , sondern
auf die instituierende gegenseitige Korrelation der »Subj ekte«
(insofern, als der Lacan 'sche »ANDERE« i mmer alles ist, nur kein
»Anderer«: seine B enennung ist ein theologisierender Rückstand ,
der »Soziation« bezeichnen soll) .
Ebenso bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß die Psycho­
analyse immer noch die individuellste Praxis ist, die es gibt, und
mehr noch: eine Art paradoxer Beraubung dessen repräsentiert,
was seiner Eigengesetzlichkeit nach » rapport« in j eder Hinsicht ,
das heißt Beziehung und Bericht ist . Kurioserweise gilt hier viel­
leicht dasselbe wie in der Ökonomie: Die »Subj ekte« des Aus­
tauschs sind dort die im striktesten Sinne mit-ursprünglichen ,
und als Ko-Existenz im starken Sinne verschwindet diese ge­
genseitige Ursprünglichkeit in der ungleichen Aneignung des
Tauschs . Nicht von ungefähr verkörpern Marx und Freud in ei­
ner Art Symmetrie zwei jeweils unauflösbar theoretisch-prakti­
sche Versuche, mit dem »Gemeinsam-sein« als dem kritischen
Punkt (der Unordnung, der Krankheit) der Geschichte oder der
Zivilisation in Berührung zu kommen. Sofern es erlaubt ist, sum­
marisch zu schematisieren , könnte man sagen: Zwischen Ökono-

42 . Vgl. Mare Auge, Le sens des autres, Paris 1 994.

77
mie und Psychoanalyse erstreckt sich - da es eine »sozialistische
Ökonomie« ebenso wenig gegeben hat (statt dessen gab es einen
Staatskapitalismus) wie eine »kollektive Psychoanalyse« (es gab
lediglich die Proj ektion eines individuellen Modells) - der nackte
Raum eines »Zusammen-seins«, dessen Aneignung sich poli­
tisch-theologisch erschöpft hat und der nur noch als reaktiver
Schock wiederkehrt. Und dieser Raum ist mondial geworden ,
was nicht einfach bedeutet, daß e r sich auf der Oberfläche des
Planeten - und darüber hinaus - ausgebreitet hat, sondern ins­
gesamt das An-die-Oberfläche-kommen von dem bedeutet, was
sich i m Grunde abspielt: des Wesens des Mit-seins .
Daraus folgt zugleich eine Verschweißung, eine Konzentratio n ,
deren L o s Uniformismus und Anonymität zu sein scheint, und
andererseits eine Atomisierung, eine Ko-Dispersion, deren Los
Idiotie scheint, sowohl im griechischen Sinne des Privateigen ­
tums als a u c h in ihrem mo dernen Sinn von verschlossener
Dummheit (das »Privateigentum« als des-Sinns-beraubt) . Derart
erscheint die Dialektik endgültig blockiert, die Marx wahrzuneh ­
m e n glaubte in einer »individuellen« Aneignung, die in sich d i e
Momente d e s Privateigentums und d e s Gemeineigentums ver­
mittelt. Und so scheint gleichzeitig der Freu dsche Kontrast zwi­
schen der möglichen Heilung einer individuellen Neurose und
dem Unheilbaren des Unbehagens in der Kultur endgültig bestä­
tigt . Aber derart haben auch j ene Dialektik und dieser Kontrast -
ebenso wie ihr gelähmtes Gegenüber ohne Kommunikation -
dann auf ihre Weise und verworren den Knoten der Fragen, Er­
wartungen und Zweifel einer Epoche angezeigt : Wie kann das
Zusammen-sein als solches sich aneignen , solange es als das ,
was es ist, sich selbst ausgeliefert ist in seiner nackten Forme l
und ohne substantiell angenommen z u werden , oder mit eine r
anderen Lexik : ohne symbolische Auszeichnung? W a s wird aus
dem Mit-sein, wenn das Mit sich selbst nicht mehr als Kom ­
Positi on, sondern als Dis-Position erscheint?
Was ist das Ko- als Dis- : Was ist dieses »als s olches« des Seins ,
das es als seine eigene Teilung exponiert und ankündigt , daß e s

78
sich - wie Sein [comme] -zwischen dem Sein und dem Sein
selbst befindet? Und mehr noch: Was verbindet im Sein das
»wie« [comme] = »als« mit dem »wie« »gleich«? Das Sein als
=

solches ist j edes Mal das Sein als Sein eines Seienden, und es ist
dies j edes Mal in gleicher Weise. Was b ewirkt, daß das Sein als
solches ein Gleich-sein ist, das von Seiendem zu Seiendem zirku­
liert und also die Disparität, die Diskontinuität und die Simulta­
neität impliziert, die nötig ist, um eine »Ähnlichkeit« ausmachen
zu können? Was ist diese Kom-plikation - Ko-Implikatio n und
Komplexität -, durch die der Mensch im Thema des »Ähnlichen«
(und folglich Unähnlichen) , in diesem so schwierigen Thema,
das die »Menschheit« als solche ins Spiel bringt, eine (Ver) Stel­
lung [(dis)similitude] des Seins durch alles Seiende hindurch ex­
poniert? Wie kann das Sein als solches nichts anderes sein als die
(Un-) Ähnlichkeit des Seienden in seiner Simultaneität?
Wenn man sagt , daß diese Frage eine ontologische Frage ist -
und daß sie sogar absolut die ontologische Frage wird - heißt
dies also nicht, daß man die Gebiete der Ökonomie oder der
Krankheit im Stich läßt, ebenso wenig wie die Ordnung der Pra­
Im Gegenteil ist, wie ich schon gesagt habe, diese Frage keine
xis .
andere als die Frage nach dem, was man »das Kapital« nennt,
und ebenso ist sie keine andere Frage als die nach »der Ge­
schichte« und der »Politik« . »Ontologie« gehört nicht zu einer
prinzipiellen, zurückgezogenen, spekulativen und, womit alles
gesagt wäre, abstrakten Ordnung . Ihr Name will besagen: Den­
ken der Existenz , und ihre Situation heute bedeutet: Denken der
Existenz auf der Höhe der Herausforderung des Denkens , das
die Globalisierung als solche stellt (ob man sie als »Kapital«,
» (Ent-) Okzidentalisierung, »Technik« oder »Bruch mit der Ge­
schichte« usw. bezeichnet) .

79
8. Bedingungen einer Kritik

Der Rückzug des Politischen und des Religiösen - oder des


Theologisch-Politischen - bedeutet nichts geringeres als den
Rückzug einer Gestalt der Gemeinschaft aus j edem Raum, j eder
Instanz und j eder Proj ektionsfläche. Hier stellt sich nun die
Frage, ob das Zusammen-sein ohne Gestalt auskommt, und folg­
lich ohne Identifikation, und dies , wo doch all seine »Substanz«
in nichts anderem besteht als in seiner Verräumlichung. Aber die
Frage kann nicht vollständig und angemessen artikuliert werden,
solange man diesen Rückzug aus Gestalt und I dentität noch nicht
voll ermessen hat . Das überstürzte, furchtsame Denken der Re­
aktion besteht heute darin, die allergewöhnlichsten Formen der
Identifikation, die man findet, und deren Bestimmung ver­
braucht oder pervertiert sind, für unabdingbar zu erklären :
»Volk«, »Nation«, »Kirche«, »Kultur« , um von der konfusen »Eth­
nie« und den verschlungenen »Wurzeln« erst gar nicht anzufan­
gen. Es gibt da ein ganzes Panorama der Zugehörigkeit und
Eigenschaft, deren politisch-philosophische Geschichte noch ge­
schrieben werden muß : 43 die Geschichte der Selbstrepräsentation
als bestimmendes Element eines originären Begriffs der Gesell­
schaft .
Der Rückzug stellt sich in zwei simultanen Weisen dar: Einer­
seits zieht sich das Theologisch-Politische ins Element des Rechts
zurück, andererseits in eine schwindelerregende Selbst-Reprä­
sentation, die nicht mehr auf einen Ursprung verweist, sondern
auf die Leere ihrer Spiegelung. Der Übergang im Element des
Rechts teilt in der Tat das »Politische« in zwei Teile: Einerseits
gibt es die formale Abstraktion des Rechts , die sicherlich j e im
einzelnen und in j eder Beziehung »Recht setzt«, wie man sagt ,
aber ohne diesem Recht einen anderen Sinn zu verleihen als

43. Die Abschlußarbeit von Mare Crepon, Le problerne de la diversite humaine.


Enquete sur la caracterisation des peuples et la constitution des geographies de
l 'esprit de Leibn iz a Hegel, ist in diesem Bereich die erste Arbeit von Bedeutung
(Universität Paris X , Nanterre, 1 9 95 ) .

81
dieses selbst. Auf der anderen Seite nimmt daher die Wirklichkeit
der ökonomischen, technischen und leidenschaftlichen Kräfte­
verhältnisse deutlich verselbständigte Umrisse an, sofern nicht
das Recht selbst es unternimmt , sich in der Art eines absoluten
Gesetzes zum Ursprung oder zum Grund zu machen. (Hier beob­
achtet man zuweilen, wie die Psychoanalyse bemerkenswerter­
weise den Versuch unternimmt, eine substantiell- autoritäre Vi­
sion der Gesellschaft stark zu machen) . Das Gesetz als solches
ist notwendig das Gesetz eines ANDEREN, oder das Gesetz als
ANDERES . Der ANDERE impliziert seine Nicht-Repräsentierbarkeit.
Sie kann in einer theologischen Ordnung die Grundlage für
ein »Verbot der Repräsentation« sein, das eine heilige Natur des
ANDEREN unterstellt, zu der eine ganze Ökonomie des Heiligen
und des Opfers gehört , die hierarchisch und letztlich doch
hierophan ist - auch wenn die Theophanie und mit ihr die Theo­
logie negativ bleibt : Ein Zugang zur Präsenz und sogar zu einer
»Überpräsenz« ist immer gesichert . In einer atheologischen Ord­
nung wird aus dem Verbot j edoch eine Leugnung der Repräsen­
tation: Die Alterität des Gesetzes bedeckt, verdrängt oder leugnet
seinen Ursprung und s einen Zweck in der singulären Präsenz
j edes einzelnen Anderen. In diesem Sinne droht die Instanz ei­
nes »Undarstellbaren« o der »Ungestaltb aren« sich als gänzl i c h
repressiv z u erweisen, u n d wenn nicht als terroristisch , so d o c h
zumindest a l s terrorisierend u n d offen für die Angst v o r einem
ursprünglichen Mangel . Dagegen kann sich dann die »Gestalt«
als das bewahrheiten, was in der Lage ist, zum »Mit« als z u m
Rand selbst und zur Grenze seiner Umrisse h i n zu eröffnen .
(Wohlgemerkt , die beiden »Ordnungen« sind nicht d arauf b e­
schränkt , in der Geschichte aufeinander zu folgen. Die einen w i e
d i e anderen , und d i e einen i n d e n anderen, s i n d i m Verbot u n d /
oder i n der Beunruhigung der Repräsentation impliziert : d a s
heißt i n d e r Frage d e s Zugangs z u m Ursprung/ zu d e n Ursprün ­
gen, ihrer Möglichkeit/Unmöglichkeit) .
Es geht deswegen j etzt nicht darum, umgekehrt das R e c h t
selbst z u leugnen : Vielmehr s o l l dem plural singulären Ur-

82
sprungs »zu seinem Recht verholfen« w erden, was heißt , inso­
fern es sich dabei um Recht handelt: dem, was man seine »ur­
sprüngliche Anarchie« nennen könnte, oder den Ursprung des
Rechts in dem, was »ohne Recht rechtens« ist - seine als solche
nicht zu rechtfertigende Existenz . Sicherlich ist die Herleitung
oder Deduktion des Rechts aus diesem nicht zu Rechtfertigenden
nichts, was unmittelb ar oder von selbst vonstatten ginge. Viel­
leicht ist es sogar dessen Wesen, daß es sich einem Verfahren der
»Deduktion« entzieht. Aber eben dies muß durchdacht werden,
denn wo solches fehlt, wird das Sein und sein Sinn durch onto­
logieloses Recht in der leeren Wahrheit des Gesetzes resorbiert .
Wenn die Politik »die Menschenrechte« zu ihrer S ache macht,
dann bedeutet dies auch eine Vereinnahmung des »Menschen«
im ANDEREN . D arin liegt , was den Ruf nach einer »Ethik« so oft
verdeckt: eine transzendentale Nichtpräsentierbarkeit der Prä­
senz konkretester Art.
Am anderen Pol des Rückzugs ist es umgekehrt die Repräsenta­
tion, die triumphiert und die zugleich alles Transzendentale und
alles Konkrete absorbiert. Was unter dem armseligen Wort der
»Gesellschaft« noch gefaßt wird, unter diesem Wort, das arm
geworden, das von allem Geselligen, ja von aller »Assoziation«
entleert ist, ganz zu schweigen von den »Gemeinschaften« und
den »Brüderlichkeiten« , aus denen man die primitiven Szenarien
schmiedete (die primitive Bühne im allgemeinen hatte sich als
die Bühne der P hantasmen herausgestellt) - was unter diesem
Wort noch gefaßt wird, scheint nichts mehr weiter zu sein als die
besagte »Gesellschaft« sich selbst gegenüber, das Sozial-sein
selbst, bestimmt durch j enes Spiel der Spiegel, das sich verliert in
den schillernden Reflexen seiner Spiegelungen . Weder der AN­
DERE noch die Anderen, sondern ein p lural Singuläres , dessen
Übernahme erfolgt durch seine eigene Neugier auf sich selbst,
und zwar in einer verallgemeinerten Äquivalenz aller Selbst­
repräsentationen, die es sich zur Konsumption überläßt .
Man hat dies »Spiegelgesellschaft der Ware« und »Gesellschaft
des Spektakels« genannt. Dies entsprach der post- oder meta-

83
marxistischen Intuition des Situationismus, der meinte, daß der
»Warenfetischismus«, das heißt die Herrschaft des Kapitals, in ei­
nem allgemeinen Zur-Ware-werden von Fetischen zur Erfüllung
gekommen war, d . h . in einer Produktion und Konsumption von
materiellen und symbolischen »Gütern« (wozu in erster Linie ge­
rade die demokratische Rechtsordnung gehört) , die sämtlich die
Natur von Bildern, Ködern oder ähnlichem haben. Das »Gut« ,
des s en allgemeiner Köder das »Spektakel« ist, ist nichts anderes
als die reale Aneignung des gesellschaftlichen Seins [etre social]
durch sich selbst. Einer Ordnung, die durch eine sichtbare Tei­
lung der Gesellschaft strukturiert ist und ihre Rechtfertigung nur
in einem unsichtbaren Jenseits dieser Teilung findet (Religi o n ,
Ideal) folgt eine immanente Ordnung, die überall - als die Sicht­
barkeit selbst - ihre Selbstaneignung mimt . Die Gesellschaft des
Spektakels ist die Gesellschaft , die die Entfremdung durch eine
imaginäre Entfremdung der realen Entfremdung vollendet . Das
Geheimnis des Köders besteht darin, daß die reale Aneignung in
nichts anderem bestehen darf als in einer freien schöpferischen
Selbstimaginierung, die unauflöslich individuell wie kollektiv i s t :
Die spektakuläre Ware besteht in allen ihren Formen selbst w e ­
sentlich aus Imaginärem, d a s s i e anstelle dieser authentis c h e n
Imagination verkauft . Woraus universeller Kommerz gernacht
wird , ist die Repräsentation der Existenz als Erfindung und a l s
sich selbst aneignendes Ereignis. Ein Subjekt der Repräsentatio n
- das heißt ein Subj ekt, das auf die Summe oder den Fluß der R e ­
präsentationen, die es kauft, reduzi ert ist - nimmt den Platz u n d
die Rolle eines Subj ekts d e s S eins und der Geschichte ein . ( D e s ­
halb wird d i e Entgegnung z u m Spektakel formuliert a l s d i e fre i e
Schöpfung einer »Situation«: a l s aneignendes Ereignis , d a s i m
Augenblick der Logik des Spektakels entzogen [derobe] ist. D e s ­
halb auch verwies der Situationismus, der aus Künstlerbeweg u n ­
gen hervorgegangen ist, a u f ein Paradigma d e r künstleri s c h e n
Schöpfung, auch ohne und sogar gegen Ästhetizismus . )
Auf diese Weise begriff der Situationismus (den ich hier nicht
untersuchen will und den ich vielmehr als ein Sympto m b e -

84
trachte44) - und mit ihm einige seiner Nachfolger in verschiede­
nen Analysetypen der Auto-Simulation und der Selbstkontrolle
in unserer Gesellschaft -, daß der Marxismus das Moment der
symbolischen Aneignung verfehlt hatte , weil er es mit dem Mo­
ment der produktiven Aneignung verwechselt oder weil er ge­
dacht hatte, dieses müsse sich selbst-reproduzieren und sich der­
art zu einer symbolischen Aneignung hin überschreiten: Die
Selbst-Aufhebung des Kapitals als umfassende Wiederaneignung
des Seins als gemeinsamer Existenz . G enauer begriff er, daß sich
eine solche Überschreitung sehr wohl abspielte. Allerdings spielt
sie sich nicht ab als Erzeugung einer Aneignung des Gemeinsam­
seins als symbolischem Sein (mit Symbol im starken Sinn, das
heißt als Verbindung der Anerkennung, o ntologische Instanz des
Gemein-samen [en-commun] - wie wohl für Marx die Verbin­
dung der »freien Arbeit«, wo j eder sich als Subj ekt mit den ande­
ren und als Subj ekt des Mit-ein-ander-seins schaffte) : Es spielt
sich ab als die Symbolisierung der Produktion selbst, welche eine
Ko-Existenz nur in den Spielarten der technischen und ökonomi­
schen Ko-Ordination der Warennetze s chafft.
Der Situationismus begriff derart, daß die »Humanwissenschaf­
ten« dort angelangt sind, wo sie diese Selbst-Symbolisierung der
Gesellschaft konstituieren, die in Wirkli chkeit keine Symbolisie­
rung isf, sondern nur eine Repräsentation, und genauer die Re­
präsentation eines Subj ekts, das keine andere Subj ektivität hat
als diese Repräsentation ihrer selbst. Die »Humanwissenschaf­
ten« fungieren in der Tat immer offensichtlicher (und was auch
immer die Funktionen kritischer Analyse sein mögen , die sie
auch ausfüllen können, soweit diese Funktionen selbst sich nicht

44. Als Symptom als solches, und ein umso bemerkenswerteres durch die un­
erwartete Gunst, die ihm beim Tod von Guy Debord im Jahr 1 995 erneut zuteil
wurde. Man müßte aus den Artikeln zitieren, die zu diesem Anlaß erschienen
sind, und zeigen, wie sehr die Bezugnahme auf Debord vielen als notwendig
und wichtig, als der letzte kritische Rückhalt in einer Welt ohne Kritik erschei­
nen konnte. Zur Frage von Fetischismus und Kritik vgl. Jacques Derrida, Marx '
Gespenster, Frankfurt/ Main 1 99 5 .

85
fälschlicherweise in eine Art Über-Repräsentation verkehren . . . )
als die wirklichen Träger dessen, was man das generalisierte
»Spektakel« genannt hat. Die sogenannte Frage der »Medien« h at
in Wirklichkeit hier ihren Gravitationspunkt Die »Mediatisie­
rung« hängt ganz und gar nicht an dem ostentativen Wirbel, der
gemacht wird und an dem nichts neues ist, und auch nicht an
den technischen und ökonomischen Kräften als solchen . Sie
hängt in erster Linie daran, daß eine Gesellschaft sich ihre Reprä­
sentation in der Form des Symbolhaften gibt. Deshalb auch h at
sie ein solches Absorptionsvermögen gegenüber der Kritik an ihr
und deren Inszenierung in provokanter, ironischer oder distan­
zierter Weise. Eine Art der allgemeinen Psychosoziologie wird
zum Ort der Übernahme einer Gestalt oder Identität des Gesell­
schaftlich-seins.
Darin hatte der Situationismus nicht unrecht, daß er ein Elend
ausmachte , das sich mitten im Überfluß eingenistet hat , ein sym­
bolisches Elend, das i m übrigen in keiner Weise materielle s
Elend ausschließt, das sich hält und bei Bedarf für manche
schlimmer wird, insbesondere für ganze Subkontinente , überall
auf der Welt . . . D as Elend des »Sp ektakels« nennt die Ko-Existenz
beim Namen, deren Ko- auf nichts verweist, wodurch das »Zu­
sammen mit« der Existenz etwas symbolisieren könnte ; w a s
darauf hinausläuft: nichts , wodurch die Existenz sich als solche
ausdrücken könnte, nichts, wodurch sie dem Sein Sinn geb e n
könnte, und dies genau in dem Augenblick, wo sie sich als d i e
gesamte Eigenschaft des Seins erweist und exponiert . Nichts ,
was Sinn machen könnte, weder gemeinschaftlichen noch indi­
viduellen, dies im Moment, wo mit der Existenz nichts andere s
gegeben ist als die Existenz-mit als Raum der Entfaltung u n d
Aneignung. Zusammen-sein ist bestimmt durch d a s Zusammen­
sein-im-Sp ektakel , und dieses Zusammen-sein begreift s i c h
selbst als eine Umkehrung j ener Selbstrepräsentation, d i e es s i c h
a l s ursprünglich (und verloren) geben zu könn en glaubt : d i e
griechische Polis , versammelt a l s Gemeinschaft im Theater ihrer
eigenen Mythen . Worauf zum Beispiel heute die Werbung rea-

86
giert, die selbst - unter anderem - eine schwindelerregende spek­
takuläre Wiederinbesitznahme der Situationistischen Kritik ver­
körpert: »Der Fußball macht jede andere Form der Kunst un­
bedeutend«. 4 5
Genau diese unbestimmte Fähigkeit, die Situationistische Kritik
zu vereinnahmen, muß jedenfalls auch aufmerken lassen. Die
Kritik des Scheinbaren gleitet mühelos selbst ins Scheinbare
über, weil sie das Eigentliche - das Nicht-Scheinbare - nicht an­
ders ausweisen muß als durch die obskure Kehrseite des Spekta­
kels. Da letzteres den ganzen Raum besetzt , kann seine Kehrseite
sich nicht anders bemerkbar machen als durch das insgeheim
Unaneigenbare einer ursprünglichen Eigenschaft, die sich unter
dem Offensichtlichen versteckt h ält. Deshalb ist die Rückseite
des trügerischen »Imaginären« eine schöpferische »Imagination« ,
deren Urform alles in allem ziemlich deutlich dem romantischen
Genie verhaftet bleibt. Der Künstler hat das produzierende Sub­
jekt abgelöst, dies aber weiterhin entsprechend derselben Struk­
tur ontologischer Prä-Supposition, in der keinerlei spezifische
Befragungen zum »Gemeinen« oder »Gemein-samen« des Seins
und des Sinns des Seins, um das es geht, enthalten sind.
Man muß folglich auch begreifen, wie diese Version der marxis­
tischen Kritik, und mit ihr vermutlich alle Versionen des kriti­
schen Denkens im dem Sinne, wie es von Marx eingeleitet wurde
(ob es sich um die eher »linksradikalen« oder die eher »soziolo­
gischen« Versionen, die von Bataille oder diej enigen der Frank­
furter Schule usw. handelt) , in gewisser Hinsicht in statu nas­
cendi die Richtigkeit der eigenen Intuition verdunkelte . Es war
die Intuition der sich selbst exponierten Gesellschaft, die sich ihr
Gesellschaftlich-sein selbst, ohne einen anderen Horizont als die­
ses, bestätigte - sprich ohne Horizont des Sinns, auf den sich das
Zusammen-sein [etre-ensemble] als solches beziehen ließe, ohne

4 5 . Werbung für die Marke »Nike«, in der Pariser Metro im August 1995.
[ Nancy merkt außerdem an, daß, ob intendiert oder nicht, in diesem Satz »Le
football rend insignifiante toute autre forme d'art« das Wort »insignifiant« in der
Werbung im Maskulinum stand. (A.d.Ü.) ]

87
I nstanz der Kom-Position für seine lebendig und nackt ausgebrei­
tete Dis-Position. Aber eben diese Intuition wurde nur als Reich
der Erscheinung interpretiert, als ersatzweises Spektakel für
echte Präsenz - wobei die Erscheinung auf klassischste Weise
begriffen wurde, das heißt nur als »einfache Erscheinung« (Ober­
fläche , sekundäre Äußerlichkeit, unwesentliches Schillern) , und
höchstens als »falscher Schein« (Anschein, falscher Schmuck) .
Die Kritik gehorchte in dieser Hinsicht weiter der philosophi­
schen Tradition in ihrer konstantesten - und im Sinn von Nietz­
sche »metaphysischsten« - Weise: Herabsetzung der Ordnung
der »Erscheinungen« zugunsten einer eigentlichen Wirklichkeit
(die tief, lebendig, ursprünglich ist - und immer der Ordnung
eines ANDEREN angehört) .
Es ist bekannt , daß man in dieser Traditionslinie die sinnliche
Erscheinung im selben Zug durch die Anforderung der intelligi­
blen Wirklichkeit konstituierte und herabsetzte , ebenso wie Plu­
ralität durch das Erfordernis der Einheit konstituiert und herab­
gesetzt wurde. Entsprechend wurde die öffentliche Erscheinung
zugunsten einer inneren und theoretischen Wirklichkeit konsti­
tuiert und herabgesetzt (man denke an den Thales von Platon,
der für die Angelegenheit der Polis unfähig war) - und wo au­
thentische Wirklichkeit in der politischen oder gemeinschaftli­
chen Ordnung gefordert wird, geschieht dies durch eine Über­
nahme des Politischen oder Gemeinschaftlichen als Innerlichkeit
und durch die Herabsetzung der schlicht »gesellschaftlichen«
Äußerlichkeit (die Sphäre der Äußerlichkeit der Bedürfnisse und
des Tauschs, die Sphäre der weltlichen Erscheinungen usw .) . Die
Situationistische Kritik, die darin bezeichnend ist für einen mehr
oder weniger konstanten Zug in der gesamten modernen Kritik
der Äußerlichkeit , der Erscheinung und der gesellschaftlichen
Entfremdung zumindest seit Rousseau, hat darin den Verweis
auf etwas fortgeführt, das wesentlich zur Ordnung einer inneren
Wahrheit gehört und das beispielsweise durch »Wunsch« u n d
»Imagination« bezeichnet wird , wofür der gefüllte Begriff die
subj ektive Aneignung eines »wahren Lebens« ist, das s elbst als

88
genuiner Ursprung, als Selbstentfaltung und Selbstbefriedigung
gedacht wird.
Damit will ich sicherlich nicht insinuieren, daß es unter dem,
was als Entfremdung, Illusion und I deologie kritisiert wird,
nichts Wirkliches gibt. Es ist j edoch notwendig, daß man sich
fragt, bis zu welchem Punkt die Kritik der Entfremdung Gefahr
läuft, selbst einer anderen, symmetrischen Entfremdung unter­
worfen zu bleiben: nämlich der, die ich mit Bezug auf j ede Art
eines ANDEREN zu bezeichnen versuche - was immer heißt, auf
den Seiben oder auf das SICH-SELBST einer einzigen, ausschließli­
chen, egohaften Aneignung, wobei u nerheblich ist, um welches
(generische, gemeinschaftliche oder individuelle) Ego es dabei
geht . Auf anderer Ebene könnte man auch sagen, daß dieser
Bezug stets mehr oder weniger ausdrücklich auf eine »Natur«
verweist: auf die universelle Natur, die menschliche Natur, das
Naturell j edes einzelnen oder das Naturell eines Volks . D urch die
Vorstellung von »Natur« hält sich so das dominante Thema der
Selbstgenügsamkeit, der Selbstorganisation und der eines Pro­
zesses, der auf eine Endstufe hin ausgerichtet ist. Solche Natur
bleibt der Äußerlichkeit und der Kontingenz entzogen, die frei­
lich ansonsten die Kennzeichen der »Natur« als j enes »Außen«
sind, dem wir exponiert sind und ohne das unsere Exposition
nicht stattfände. Und ebenso ist das Ego zuallererst der Äußer­
lichkeit und der Kontingenz entzogen, ohne die es als Ego nicht
einmal exponierbar wäre .
Die Kritik - nicht nur ihre Theorie, sondern auch ihre Praxis -
zeigt somit, daß sie absolut das Bedürfnis hat, sich auf ein ande­
res Prinzip als auf das einer Ontologie des ANDEREN und des GLEI­
CHEN zu stützen : Sie braucht eine Ontologie des Mit-ein-ander­
seins , und diese Ontologie muß die Sphären der »Natur« und
der »Geschichte« , des »Menschlichen« und des »Nicht-Menschli­
chen« zusammen tragen, sie muß eine Ontologie für die Welt
sein, für alle, wenn ich so sagen darf, für einen j eden und die
Welt »als Totalität« , und nichts als für die ganze Welt, wo dies
doch alles ist, was es gibt (aber so gibt es alles) .

89
Dem Situationismus, der letzten großen Form der radikalen Kri­
tik, war diese Notwendigkeit nicht fremd. Denn wo er Kritik
übte, brachte diese immerhin die Problematik des Rückverweises
der G esellschaft auf irgendein Modell ins Spiel (darin brach der
Situationismus mit den verschiedenen Marxismen wohl am ent­
schiedensten, aber in dieser Hinsicht war er - zusammen mit
einigen anderen und teils im Namen von Marx - auch einer der
ersten und heftigsten Kritiker des bis vor kurzem »real« genann­
ten S ozialismus wie auch der Sozialdemokratien) : Seine Kritik
hat vielmehr, ohne sich über ihre Tragweite ganz im klaren zu
sein, eine Problematik der Rückverwiesenheit der Gesellschaft
auf sich selbst an den Tag gebracht. Die »Gesellschaft des Spek­
takels« ist zugleich Anklage (des generalisierten Waren-Spekta­
kels) und Affirmation: der Gesellschaft sich selbst gegenüber,
und mehr noch vielleicht der Gesellschaft , insofern sie sich selbst
gegenüber und nur sich gegenüber exponiert ist.
Die folgenden zwei großen Fragen sind daher gleichzeitig zu
stellen:
1) die Frage, wie und bis wohin die Kritik - sprechen wir es
j etzt aus, die revolutionäre Kritik bis in ihre letzten Formen hin­
ein, aber dies gilt für die »reformistisch« genannten Kritiken
a fortiori - paradoxerweise und unbewußt einem klassischen
Modell einer der Erscheinung gegenübergestellten Wirklichkeit
und einer der Pluralität gegenübergestellten Einheit unterworfen
geblieben ist (was auch unterstellt, daß eine gewisse nietzsche­
anische Lehre in der kritischen Tradition offenbar immer wieder
mißverstanden und fehlgeleitet wurde, und daß gleichzeitig die
Frage dessen, was man vom Standpunkt der Gesellschaftskritik
aus »Kunst« nennt, so ziemlich insgesamt offenbleibt) - j a , bis zu
welchem Punkt im »kritischen« Denken und in der »kritischen«
Haltung als solcher diese Unterwerfung impliziert sein könnte
(sofern »Kritik« weiterhin die Möglichkeit unterstellt, die Intelli­
gibilität einer Wirklichkeit zu enthüllen) , und daraus folgend,
welche andere Haltung sich aufdrängt , die aber ebenfalls nicht
die der Resignation ist;

90
2) die Frage, ob das »Spektakel« nicht in der einen oder anderen
Weise eine konstitutive Dimension der Gesellschaft ist: ob das ,
was man »soziale Bindung« nennt, anders gedacht werden kann
als in der Form der symbolischen Ordnung, und diese wiederum
anders als in der Form der Ordnung einer »Imagination« oder
einer »Gestaltung«, wobei alles auf die Notwendigkeit verweist,
dies ganz neu zu überdenken . Einmal mehr käme dann die
»Kunst« ins Spiel: aber in einem völlig anderen Denken der trivial
»Kunst und Gesellschaft« genannten Frage, und zugleich ein völ­
lig anderes Denken der »Kunst« selbst und dem, was unter »kri­
tischer Kunst« vorgestellt werden kann .

Diese Fragen verstehen sich hier als programmatisch. Ich wer­


de sie nicht angehen, sie sind zu massiv . I ch werde lediglich ver­
suchen, einige P fade zu ihnen freizulegen.
Im Augenblick nur dies : Die letzte Lehre , die uns die Kritik - die
gesellschaftliche, politische, ökonomische Kritik und die Kritik
der Gesellschaft, der Politik und der Ökonomie - vermittelt,
scheint folgende zu sein:

Im Zentrum der Tradition selbst muß sowohl festgehalten wer­


den, daß die »intelligible Wirklichkeit« nichts anderes sein darf
als die Wirklichkeit des Sinnlichen selbst - wie auch festgehalten
werden muß , daß auf entsprechende Weise die »intelligible
Wirklichkeit« der Gemeinschaft nichts anderes sein darf als die
Wirklichkeit des Gemeinsam-seins als solchem. Deshalb gerät die
Reduktion auf oder die Übernahme durch Intelligibilität (Idee,
Begriff, Subjekt) regelmäßig in ein Spannungsverhältnis - bis hin
zum Bruch - mit dem Erfordernis, das dazugehört, die Intelligi­
bilität des Sinnlichen nicht außerhalb desselben zu vermitteln,
sondern durch und für das Sinnliche , und insgesamt in einer
sinnlichen Intelligibilität, in der sich dieses bedeutende Gegen­
satzpaar an sich selbst bricht oder sich vermischt .
Was uns heute ereilt, ist die Forderung , den Sinn des Gemein­
sam-seins so auszugeben , wie er ist, das heißt als gemein-sam

91
oder als Mit, und nicht einem Sein oder einem Wesen des Gemei­
nen entsprechend: also den Sinn des Mit-seins dem Mit selbst zu
geben, und dies insgesamt in einem »Mit-Sinn-machen« (in einer
Praxis des Mit-Sinns) , in dem sich der Gegensatz eines Sinns
( Horizont, Geschichte, Gemeinschaft) und eines einfachen »Mit«
(Verräumlichung, Äußerlichkeit, Dis-Paratheit) vermischen und
brechen würd e . Letzlieh müssen wir dringend wissen, ob die Kri­
tik der G esellschaft hinsichtlich einer Voraussetzung gemacht ist,
die nichts »Gesellschaftliches« an sich hat (entsprechend einer
Ontologie des Seins-ohne-Zusatz, wenn man so will) , oder ent­
sprechend einer Ontologie des G emeinsam-seins, das heißt des
singulär pluralen Wesens des Seins. Deshalb bedeutet das Unter­
nehmen einer »Ontologie« vor allem (und zumindest) , die Bedin­
gungen einer Kritik im allgemeinen kritisch zu untersuchen .

92
9. Miterscheinung [Comparution]

Es wäre also möglich, daß die aktuelle Situation des »gesell­


schaftlichen S eins« ganz anders zu fassen ist als ausgehend v o m
Schema einer immensen spektakulären Selbst-Konsumption, i n
der sich die Wahrheit der Gemeinschaft - der Gemeinschaft als
Subjekt und der Gemeinschaft der Subj ekte unter sich - angeb ­
lich auflöst und verbraucht . Es wäre möglich, daß das Phänomen
des generalisierten »Spektakels« mit der - sagen wir - »tele-mon­
dialen« Dimension , die nicht nur mit ihm einhergeht, so ndern die
konsub stantiell zu ihm ist , etwas ganz anderes aufdeckt , sofern
man die Anstrengung unternimmt, es auf andere Weise zu ent­
ziffern; womit vor allem gemeint ist: daß man für das Subj ekt des
»gesellschaftlichen Seins« nichts Angestammtes voraussetzt,
noch folglich für das Subj ekt des Seins überhaupt.
Es geht j edoch nicht nur u m die klassische Geste, die darin
besteht, ohne Voraussetzungen zu b eginnen (vorauszusetzen,
daß dieser Vorsatz nicht schon selbst die ganze Voraussetzung
ist) . Es geht darum, in aller Strenge zu durchdenken, was das
»Sich-selbst-gegenüber-voraussetzunglos-zu-sein« besagen will ­
sprich noch einmal : die »Schöpfung der Welt« . Allgemein und
wenn man so sagen kann, absolut allgemein muß jetzt vordring­
liches Erfordernis der Ontologie oder der prima philosophia sein,
daß das Sein in keiner Weise und in keinerlei Hinsicht voraus­
gesetzt wird, genauer: daß die gesamte Voraussetzung des Seins
in seiner Nicht- Voraussetzung bestehen muß.
Das Sein kann nicht vorausgesetzt oder im voraus unterstellt
[pre-sup-pose] werden, wenn es nichts anderes als das Sein des­
sen ist, was existiert, und selbst für die Existenz keinerlei andere
vorgängige o der der Existenz zugrunde-liegende Existenz so, wie
sie existiert, ist. Nun existiert die Existenz aber im Plural , singu­
lär plural . Deshalb ist das formal fundamentale Erfordernis zu­
mindest dieses : daß das »Sein« nicht einmal voraussetzbar ist als
das einfache Singuläre , auf das dieses Substantiv hinzudeuten
scheint. Sein Singuläres ist plural in seinem Sein selbst. Daraus

93
folgt also weiterhin, daß nicht nur das Mit-ein-ander-sein nicht
ausgehend von einer Voraussetzung zum Eins-sein begriffen wer­
den darf, sondern es ist im Gegenteil das Eins-sein (das Sein als
solches , das absolute Sein, oder das ens realissimum) , das nicht
anders als ausgehend vom Mit-ein-ander-sein begriffen werden
kann . Die Frage, die wir noch als »Frage nach dem gesellschaft­
lichen S ein« stellen , muß in Wirklichkeit die ontologische Frage
konstituieren .
Wenn man die Notwendigkeit dieser Voraussetzung ohne
Grund richtig versteht , wird man versucht sein zu s agen : Wenn
die Situation des Gesellschaftlich- seins nicht die einer spektaku­
lären Selbst-Entfremdung ist, mit ihrer Voraussetzung einer
»wirklichen Präsenz«, die verloren gegangen oder verstellt ist,
dann ist sie wohl auch nicht die eines allgemeinen kommunika­
tiven Handelns, das ein »rationales Subj ekt« der Kommunikation
voraussetzt . Das bedeutet freilich nicht, daß es nicht einerseits
Lockmittel, andererseits Rationalität gäbe. Aber es bedeutet , daß
»wirkliche Präsenz« und »Rationalität« nur von etwas anderem
aus gedacht und bewertet werden können und daß sie nicht aus
sich selbst heraus die Voraussetzung konstituieren können . Der
doppelte Konstrast des »Spektakels« und der »Kommunikation«,
der sich selbst überlassen bleibt als eine Art große hermeneu ­
tische Antinomie der modernen Welt (wie m a n s i e in der Tat
überall am Werk sehen kann) , könnte sogar sehr s chnell seine
Prädikate kreuzen : wobei sich das »Spektakel« als bloße »Kom­
munikation« herausstellt, und umgekehrt . Übrigens ist es genau
dieser Chiasmus oder Zirkel , der uns in einem verwirrten und
ängstlichen Bewußtsein beunruhigt, das die »Gesellschaft« sich
noch sub stanz- , grund- und ziellos »im Kreis drehen« sieht .
Vielleicht ist tatsächlich das , was uns ereilt, nichts anderes als
eine and ere Art »kopernikanischer Wende« : weder die des kos­
mologischen Systems, noch die der Beziehung zwischen Obj ekt
und Subjekt, sondern die des »gesellschaftlichen S eins« , das sich
inzwischen sich selbst zuwendet oder um sich selbst dreht , und
nicht mehr um etwas anderes (Subj ekt, Anderer, Selb st) .

94
Was uns derart ereilen würde und wovon das »Spektakel« und
die »Kommunikation«, die »Ware« und die »Technik« lediglich
Gestalten wären, perverse vielleicht, j edenfalls aber noch nicht
durchdachte, wäre die Entblößung der gesells chaftlichen Wirk­
lichkeit - des Wirklichen des Gesellschaftlich-seins selbst - in der
Symbolik, durch sie und als die Symb olhaftigkeit , die es konsti­
tuiert .
Wir müssen uns noch darüber verständigen, was »symbolis ch«
heißen soll . Der eigentümliche Vorzug des Symbolischen ist es,
Symbol zu stiften, das heißt Band, Aneinanderfügung46 , und die­
ser Verbindung eine Gestalt zu geb en, oder in diesem Sinne ein
Bild hervorzubringen. Das Symbolische ist das Wirkliche der Be­
ziehung, insofern sie sich darstellt, und weil die Beziehung als
solche in der Tat nichts anderes ist als ihre Repräsentation. Eine
Beziehung ist keineswegs die Repräsentation von etwas Wirk­
lichem (im zweiten, mimetischen Sinn der Repräsentation) , s on­
dern sie ist sehr wohl und nichts anderes als das Reale einer
Repräs entation, ihre Tatsächlichkeit und Wirksamkeit. (Paradig­
matisch dafür ist »ich liebe dich« , origineller aber vielleicht noch
»ich richte mich an dich« .)
Hier muß jetzt unterstrichen werden, daß in dieser Hinsicht das
Symb olische und das Imaginäre keineswegs Gegensätze sind,
entgegen der verbreiteten Meinung, die das Bild - als D arstellung
mit Wiedererkennungswert - und das Simulakrum - als verein­
nahmend-mystifizierende Hypostase - verwechselt. Die etwas
einfache, ja simplifizierende Kritik am »Bild« (und an der »Bilder­
kultur«) , die zu einer Art ideologischem Tick in den Theorien des
»Sp ektakels« wie in denen der »Kommunikation« geworden ist,
ist ja gerade nur der mythische und mystifizierende Effekt des
heftigen Wunsches nach »reiner« Symb oli sierung (und sympto­
matisch für die Schwäche der »Kritik« im allgemeinen) . Krite-

46. Wie man weiß, war das griechische symbolon das Stück eines Gefäßes aus
Ton, das in zwei Stücke zerbrochen wurde, wenn Freunde oder Gast und Gast­
geber auseinandergingen; deren Aneinan derfügung sollte später das Zeichen
des Wiedererkennens sein.

95
rium für Symbolisierung ist nicht, daß sie das Bild ausschließt
oder herabsetzt, sondern daß es ihr gelingt, im Bild-Symbol und
durch es und gleichzeitig mit der Aneinanderfügung den Ab­
stand, den o ffenen Zwischenraum spielen zu lassen, den das
Sym-bol als s olches zum Ausdruck bringt: Das Wort will nichts
anderes sagen als »mit-gesetzt« [mis-avec] (griechisch syn =
lateinisch cum) , und hier sind genau die Dimension, der Raum
und die N atur des »Mit« i m Spiel . D as »Symbolische« ist also kein
Aspekt des Gesellschaftlich-seins : Auf der einen Seite ist es die­
ses Sein s elbst, auf der anderen gibt es dieses Symbolische nicht
ohne (Re-) Präsentation. Es ist die (Re-) Präsentation der einen
gegenüber den anderen, derzufolge sie mit-ein-ander sind.
Wenn ich also von der auf ihre Symbolik reduzierten »gesell­
schaftlichen« Wirklichkeit spreche, spreche ich von der »Gesell­
schaft«, die sich als etwas erweist, das gerade von nichts ande­
rem mehr die Erscheinung ist als von sich selbst, die auf keinerlei
Rückhalt verweist, die (im üblichen Sinn) nichts »symbolisiert«
(keine Gemeinschaft, keinen mystischen Körper) , sondern mit
sich selbst ein Symbol bildet, sich selbst gegenüber erscheint, u m
so dann a l l das , was s i e ist und zu sein hat, z u sein. Das gesell­
schaftliche Sein verweist j etzt auf keinerlei innere oder höhere
Einheit mehr, die sich seiner annimmt. S eine Einheit ist schiere
Symbolik: Sie ist gänzlich Mit. Das gesellschaftliche Sein ist das
Sein, das ist, indem es sich selbst gegenüber, mit sich selbst
erscheint: Es ist Mit-Erscheinung [com-parution] .
Miterscheinung [comparution} bedeutet nicht nur, daß Subj ekte
gemeinsam erscheinen . D enn in diesem Fall (exemplarisch ist
der des »Gesellschaftsvertrags«) muß man sich noch fragen, von
woher sie »erscheinen« , aus welcher zurückgezogenen Tiefe des
Gesellschaftlich-seins als solchem, aus welchem Ursprung, u n d
m a n m u ß sich auch fragen , warum· s i e »zusammen« erscheinen
und für welche andere Tiefe sie »alle zusammen« o der sogar
»über das Zusammen hinaus« bestimmt sind . Entweder ist das
·Prädikat »zusammen« tatsächlich nichts anderes als eine den
Subj ekten äußerlich bleibende Qualifizierung, es gehört nicht zu

96


jedem Erscheinen als solchem, und es b ezeichnet eine rein indif­
ferente Entgegen-Setzung, oder es fügt ganz im Gegenteil eine
besondere Qualität hinzu, die über einen besonderen Sinn ver­
fügt und sich auf alle Subj ekte »zusammen« und als »Zu sammen«
auswirken muß . Diese beiden Fragen führen geradewegs in die
Sackgassen einer Metaphysik - und ihrer P olitik -, die gesell­
schaftliche Mit-Erscheinung nie anders denkt denn als Epiphäno­
men des Übergangs , und die Gesellschaft selbst als eine Etappe
in einem Prozeß, der stets dazu führt, daß mal das Zusammen
[ensemble] oder das Gemeinschaftliche (Gemeinschaft, Verbin­
dung [communion}) , mal das Individuum hypostasiert wird.
Im einen wie im anderen Fall findet man sich in einer Sackgasse
wieder, denn das gesellschaftliche Sein als solches - oder auch
das, was man die Vergesellschaftung des Seins nennen könnte -
wird instrumentalisiert und auf etwas zurückgeführt, das es
nicht ist. In dieser Rechnung ist das Wesen des »Gesellschaft­
lichen« nicht selbst »gesellschaftlich« . Folglich ist es niemals als
eine der Arten des »Gesellschaftlichen« darstellbar, sondern nur
in den Arten sei es einer einfachen, äußerlichen und vorüber­
gehenden »Assoziation«, sei es einer transsozialen Übernahme ,
einer einheitlichen Entelechie des gemeinsamen Seins [etre com­
mun] : zwei Weisen, das Problem der »Soziation« zu verdrängen
und auszuschließen.
Der eigentliche Sinn des Worts »zusammen« ebenso wie der­
j enige des Worts »mit« scheint unendlich und ohne Ruhepunkt
zwischen zwei Bedeutungen hin- und herzuschwanken: entwe­
der das »Zusammen« des Nebeneinanders von partes extra par­
tes, von isolierten Teilen ohne Beziehungen, oder das »Zusam­
men« der Versammlung totum intra totum, als Alleinheit, wo die
B eziehung sich im reinen Sein aufhebt. Hier sieht man aber gut,
daß das, woraus der Terminus sich speist, genau im Ruhepunkt
zwischen den b eiden Bedeutungen liegt . »Zusammen« ist weder
extra noch intra . Tatsächlich würde sowohl reines Außen wie
reines Innen jede Art des Zusammen unmöglich machen : Das
eine wie das andere unterstellt eine reine einzige isolierte Sub-

97
stanz derart, daß man sie nicht einmal »isoliert« nennen könnte,
da man dann j a bar j eder Beziehung zu ihr wäre. Ebenso ist Gott
mit nichts und niemandem zusammen, umgekehrt ist er aber -
zumindest auf unterschiedliche, j edoch exemplarische Weise bei
Spinoza und Leibniz - das Zusammen oder das Zusammen-sein
von allem, was ist : Genau auf diese Weise ist er nicht »Gott«. 4 7
Aber Zusammen [ensemble] und Zusammen-sein sind nicht
gleichwertig (vielmehr macht das Zweideutige zwischen den bei­
den den Status von j enen Göttern der Onto-Theologie, Pantheis­
mus, Panentheismus, Polytheismus, Monotheimus, Atheismus ,
Deismus, usw . ungewiß: repräsentabel oder nicht repräsentab el,
die Repräsentation begründend oder entziehend, oder auch die
Repräsentation selbst darstellend) . Das Zusammen im substanti­
vischen Sinn ist eine Sammlung (so etwa in der Mengenlehre) .
Die Sammlung unterstellt eine äußerliche oder indifferente Zu­
sammenstellung zu einem Zusammen- (»Gemeinsam«) -sein der
Obj ekte der Sammlung. In dieser Tonlage bewegen sich im allge­
meinen durchaus die Thematiken und Praktiken des »Kollektivs«
oder des »Kollektivismus«. Das heißt also, daß das ontologische
»Zus ammen«, das wir zu denken haben, nie Substantiv ist, son­
dern immer das Adverb eines Zusammen-seins. Aber dieses Ad­
verb ist kein Prädikat des »Seins«: Es beschafft ihm keine beson­
dere und zusätzliche Qualifikation. Wie alle Adverbien modi­
fiziert oder modalisiert es das Verb : Aber die Modalisierung ist
hier wesenhaft oder ursprünglich. Das Sein ist zusammen , und
es ist nicht ein Zusammen .
»Zusammen« bedeutet Simultaneität (in, simul) : das »zur sel­
ben Zeit« . Zusammen sein ist gleichzeitig sein (und a m selben

4 7 . Ein trinitarischer G o t t verkörpert dagegen e i n Zusammen-sein a l s seine


G öttlichkeit selbst: und derart ist er wohl auch nicht »Gott«, sondern das Mit­
sein auf onto-theologische Weise. Hier stößt man auf ein weiteres Motiv für die
»Dekonstruktion des Christentums«, die i ch i n bezug auf die Schöpfung ange­
regt habe. Man errät hier auch die i ntime Verbindung zwischen allen großen
Motiven der christlichen Dogmatik, von denen die Dekonstruktion keines wird
intakt lassen können .

98
Ort, der selbst die Bestimmung der »Zeit« als »gleiche Zeit« ist) .
Das »gleiche Zeit/gleicher Ort« s etzt voraus, daß die »Subj ekte«,
um sie so zu nennen, diese Raum-Zeit teilen - aber nicht i m äu­
ßerlichen Sinn des »Teilens«: Sie müssen sie sich teilen, sie müs­
sen sie als die »selbe Raum-Zeit« »symbolisieren«, ohne dies gäbe
es weder Zeit noch Raum . Die Raum-Zeit selbst ist vor allem die
Möglichkeit des »Mit« . Sehr u mfangreiche Analysen wären hier
nötig. Abkürzenderweise will ich mich auf das Folgende be­
schränken: Zeit kann ·weder reiner Augenblick noch die reine
Sukzession sein, ohne zugleich S imultaneität zu sein. Zeit impli­
ziert sich selbst als »gleichzeitig«. Die Simultaneität eröffnet un­
mittelbar den Raum als Verräumlichung der Zeit selb st. Zeit ist
möglich, aber vor allem ist sie notwendig ausgehend von der Si­
multaneität der »Subj ekte«: denn um zusammen zu sein und zu
kommunizieren bedarf es einer Korrelation der Orte und einer
Transition der Übergänge . Teilung und Übergang bedürfen ein­
ander wechselseitig . Husserl schreibt: »Das Zusammensein von
Monaden, ihr bloßes Zugleichsein bedeutet wesensnotwendig
Zeitlich-Zugleich-Sein. «4 8 In der Tat ist das Simultane nicht Un-

48. Husserl, Cartesianische Meditationen, a.a. O . , § 60, S. 1 48 . Hier vermutlich


mehr als anderswo zeigt Husserl, wie die Phänomenologie von selbst an ihre
Grenze stößt und sie überschreitet: Als konstitutiv erweist sich nicht mehr ein
ichhafter Kern, sondern »die Welt als konstituierter Sinn« (a.a.O . , § 59, S . 1 4 1 ) .
Die Konstitution ist selbst konstituiert: was - ausgedrückt i n diesen Termini -
zweifellos die letztgültige Struktur der »Sprache« und des »Mit« der Sprache als
»Mit« ist . Der gesamte unmittelbare Kontext dieser Stelle zeigt, inwiefern Hus­
serl hier genauestens auf Heidegger und ein in der » Wesensnotwendigkeit« der
»gegebenen objektiven Welt« und ihrer »Sozialität verschiedener Stufen« noch
unzureichend fundiertes Denken des Mitseins* zu antworten weiß (S. 1 40) . Es
wird hier ein höchst beachtlicher Chiasmus zwischen zwei Denkweisen deut­
lich, die sich gegenseitig herausfordern und in die Quere kommen, in einer Art,
die man zwei Stile der Wesentlichkeit des Mit nennen müßte. Man könnte grob
vom Stil der Mitzugehörigkeit [coappartenance] (im Sein als Wahrheit, Heideg­
ger) und dem Stil der Korrelation (im Ego als Sinn, Husserl) sprechen. Aber man
könnte solch schematische Charakteristiken auch ohne weiteres umdrehen.
Das ist nicht von Belang - wichtig ist vielmehr ein gemeinsames Zeugnis der
Epoche (mit Freud, mit Bataille, mit . . . ), daß Ontologie von nun an »mit« sein
muß - oder gar nichts ist.

99
unterschiedenheit : Vielmehr ist es Unterscheidung der zusam­
men genommenen Orte . Von einem Ort zum anderen , dafür
b raucht es Zeit. Und auch ein Ort als solcher braucht Zeit: die Zeit
für den Ort, um sich als Ort zu öffnen , die Zeit, sich zu verräum­
lichen. Umgekehrt braucht die »ursprüngliche« Zeit - das Auftau­
chen als s olches - den Raum für ihre eigene Dis-tension, den
Raum des Übergangs , der also Teilung schafft . Nichts und nie­
mand kann geboren werden ohne zu j emandem hin und mit an­
deren geboren zu werden, die ihrerseits geboren werden und
sich begegnen. »Zusammen« ist also eine absolut ursprüngliche
Struktur. Was nicht zusammen ist, befindet sich in der Ort- und
Zeitl o sigkeit des Nicht-seins.
Miters cheinung muß also heißen - darum geht es von jetzt an
-, daß das »Erscheinen«, das heißt das Auf-die-Welt-kommen
und Auf-der-Welt-sein , die Existenz als solche, strikt untrennbar
und ununterscheidbar vom cum, vom mit ist, in dem es nicht nur
seine Stätte und sein Stattfinden hat , sondern auch - und dies ist
dasselbe - seine ontologische Grundstruktur.
Daß das Sein absolut Mit-sein ist, ist das, was wir denken müs­
sen. 49 Mit ist der erste Zug [trait] des Seins, der Zug der singu­
lären Pluralität des Ursprungs oder der Ursprünge in ihm.
Das Mit als solches ist wohl nicht darstellbar. Ich habe es schon
gesagt , aber ich muß noch einmal darauf insistieren . Aber das
Mit ist nicht »undarstellbar« wie eine entzogene Präsenz, noch
wie ein ANDERES . Wenn es Subj ekte nur mit anderen Subjekten
gibt, ist das »Mit« selbst kein Subjekt. Es ist oder bildet den
Binde- bzw. Trennungs strich, der s elbst weder Bindung noch
Trennung als durch den Strich [trait] gesetzte Substanzen sich
aneignet : Der Strich ist nicht das Zeichen für eine Realität und
nicht einmal für eine »intersubj ektive Dimension« .

49. Wie Francis Fischer, seit langem ein Weggefährte in der Anerkennung die­
ser Forderung, es ausdrückt, ist »das >Mit< eine strenge Bestimmung des Un­
wesens des Existierens. Das An-sein ist unmittelbar >Mit<, weil das Dasein kein
Wesen hat . « (Heidegger et la question de l 'homme, Diss . , S traßburg, Universite
des sciences humaines, 1 995) .

1 00
Es handelt sich wahrhaft - »in Wahrheit« - um einen auf dem
Leeren gezogenen Strich, der diese Leere zugleich überwindet
und unterstreicht, der die Spannung und den Antrieb , S pannung
und Antrieb - Anziehung/ Abstoßung - des »Zwischen« bzw.
»Unter«-uns ausmacht . Das »Mit« bleibt zwischen uns , und wir
bleiben unter uns: nichts als wir, aber nichts als Abstand zwi­
schen uns .
Ebenso wenig darf man »das Mit« sagen, sondern man sollte
einfach »mit« sagen , die Präsposition j eder Position, die selbst
ohne Position ist. Wenn aber die Unpräsentierbarkeit von »mit«
nicht diejenige einer verborgenen Präsenz ist, dann deshalb , weil
sie die von j ener Prä-Position ist , oder anders gesagt , die der Prä­
sentation selbst. »Mit« läßt sich nicht dem Sein hinzufügen, son­
dern bildet die innere , immanente Bedingung der Präsentation
im allgemeinen.
Präsenz ist unmöglich, es sei denn als Ko-Präsenz . Wenn ich
sage, daß das Einzige präsent ist, so habe ich ihm bereits einen
Kompagnon der Präsenz gegeben (und wäre es nur sie selbst, die
ich zweigeteilt h abe) . Das Ko- der Ko-Präsenz ist das Unpräsen­
tierbare par excellence : doch es ist nichts anderes als - und es
ist nicht das ANDERE der - Präsentation, die Existenz, die mit­
erscheint .
Es ist durchaus wahrscheinlich , daß es erstlieh nichts anderes
zu vermitteln gibt, wie man sagt , das heißt nichts zu deuteln und
zu bewegen zwischen uns , wenn wir j etzt vom gesellschaftlichen
Sein etwas anderes denken sollen als dessen spektakuläre S elbst­
entwertung als Ware oder seine kommunikative Selbst-Affirma­
tion, beides auf dem Grund unwahrscheinlicher und nostal­
gischer Authentizität. Das Eigentümliche der Gemeinschaft ist
weder - als grundlegende innere Ressource angelegte - Kreativi­
tät, noch Rationalität , die verfügbar wäre, wenn sie durch Kritik
offengelegt wird. Was dies angeht, befinden wir uns ganz ent­
schieden nicht mehr in der Epoche der Aufklärung, und auch
nicht in der der Romantik. Wir sind anderswo, was nicht heißen
soll, daß wir auf der entgegengesetzten Seite sind , noch daß wir

1 01
uns j enseits im Stadium dialektischer Aufhebung befinden. Wir
sind mitten in einer Art simultanen Spannung jener beiden Epo­
chen , sind gleichzeitig mit der einen wie der anderen, aber auch
gleichzeitig mit deren Verbrauchtheit, bis zur extremsten Platt­
heit, was die eine, und bis hin zur Nacht der Auslöschung, was
die a ndere angeht. Also in einem Innehalten der Geschichte,
worin sich von neuem ein Rätsel versammelt, das mit uns gleich­
zeitig ist, das Rätsel der Bloßlegung des Gemeinsam-seins .
Das Eigentümliche der Gemeinschaft ist uns also derart ange­
zeigt : Sie muß sich keine andere Ressource aneignen als das
bloße »Mit«, das sie konstituiert, das cum der »Gemeinschaft« ,
ihre Innerlichkeit ohne Inneres, und doch ist vielleicht auch sie
auf ihre Weise interior intimo suo. Folglich das cum einer Miter­
scheinung, worin wir in der Tat l e diglich gemeinsam mit-ein­
ander, die einen mit den anderen , und vor keiner anderen In­
stanz als vor diesem »Mit« selbst erscheinen, dessen Sinn sich
uns augenblicklich in der B edeutungslosigkeit, Äußerlichkeit ,
unorganischen, empirischen und aleatorischen Inkonsistenz des
reinen, schlichten »Mit« aufzulösen scheint.
Wie es uns scheint, ist also das Eigentümliche der Gemeinschaft
nichts anderes mehr als die verallgemeinerte Unsauberkeit der
Banalität, der Anonymität, der einsamen Masse und der Verlo­
renheit der Herde. Dabei scheinen die einfachsten Bekundungen
der Solidarität , die elementarste Nähe ortlos zu werden. »Kom­
munikation« ist nichts als geschäftiger H andel mit dem vernünf­
tigen, interesselosen Bild einer Gemeinschaft , die ihrem eigenen
Unterhalt dient , der sich erneut lediglich als der Unterhalt der
spektakulären Warenmaschine erweist.
Man muß es zugeben : Miterscheinung könnte nichts anderes
sein als ein Name für das Kapital . Und gleichzeitig ein Name, der
einmal mehr das zuzudecken droht, worum es geht, weil er ein­
mal mehr ein tröstendes , insgeheim resigniertes D enken stiftet .
Doch diese Gefahr ist kein hinreichender Grund, sich mit einer
Kritik des Kapitals zu begnügen, die befangen bleibt in der Vor­
aussetzung eines »anderen Subjekts« der Geschichte , der Ökono-

1 02
mie und der Aneignung des Eigenen im allgemeinen . Als Marx
auf das »Kapital« hinwies, hat er auf eine allgemeine Enteignung
hingewiesen, die ein anderes oder das ANDERE als Subj ekt einer
allgemeinen Wiederaneignung nicht gestattet.
Oder genauer, die Vorauss etzung darf nicht die Form eines
»Subjekts«, sondern muß die eines Mit-ein-ander-seins haben,
und dies in viel problematischerer, aber auch - wenn es gestattet
ist, dies so auszudrücken - radikalerer Weise als Marx es h atte
ahnen können. Man muß also durchaus sagen, daß die klassi­
sche Kritik des Kapitals bis hinein in i hre letzten post-marxisti­
schen Formen nicht genügen kann, um das, was das Kapital > dar­
stellt«, faßbar zu machen . Zumindest diese Beunruhigung muß
das Denken der Miterscheinung wachrufen .
Sicher ist auch die tiefe Intuiti o n von Marx selbst durch diese
Ambivalenz charakterisiert: Das Kapital drückt gleichzeitig die
allgemeine Entfremdung des Eigenen aus - die verallgemeinerte
Ent-Aneignung [desappropriation] oder Aneignung des Elends in
j edem Sinn des Ausdrucks - , und die Freilegung des Mit als Zug
[trait] des Seins oder Zug des Sinns . Unser D enken ist noch nicht
auf der Höhe dieser Ambivalenz . Insbesondere deshalb stößt e s ,
u n d dies seit Marx und vermittelt durch Heidegger, b e i m Thema
»Technik« ständig auf große unbestimmte Vorbehalte, als dem
Grenz-Obj ekt - und vielleicht Bildschirm-Obj ekt - eines D en­
kens , das in der Technik manchmal das Versprechen der Selbst­
überwindung des Kapitals sieht, dann wieder den Beweis des
unerbittlichen Charakters seiner unkontrolliert entfesselten Ma­
schinerie, die ob dieser Nichtkontrolliertheit alles kontrolliert .
Daran liegt es im übrigen auch, daß sich die Wahrheit unserer
Zeit nur in marxistischen oder post-marxistischen Termini zum
Ausdruck bringen läßt, ob es sich nun um den Markt, das Elend,
die sozialdemokratische Ideologie o der um substantielle Wiede­
raneignungen handelt, die auf sie die Antwort sind (Nationa­
lismen, Fundamentalismen , Faschismen) . Aber diese Wahrheit
selbst macht erforderlich, daß sie ausgehend vom Mit der Mit­
erscheinung gedacht wird , denn daß sie mit Leben erfüllt und

1 03
freigelegt wurde, bedeutet zumindest dies - um es auf eine For­
mel zu bringen : Worum es geht, ist nicht eine Wiederaneignung
des Mit (des Wesens eines gemeinsamen Seins) , sondern ein Mit
der Wiederaneignung (wobei das Eigene nicht wiederkehrt oder
nur mit kommt) .
(Deshalb sparen wir die Ontologie nicht aus , aber deshalb muß
diese Ontologie zugleich auch Ethos und Praxis sein . Das wird
später entwickelt werden. 50 Halten wir hier nur dies fest: Eine
Ontologie des Mit-seins kann sich nur im Diess eits der Unter­
scheidung der folgenden Termini situieren: Sein , Handeln, Ereig­
nis, Sinn, Zweck, Haltung, ebenso wie - und weil - diesseits der
Unterscheidung des »Singulären« und des »Pluralen« , des »bei
sich« [a soi] und des »zu mehreren« .)

5 0 . Vgl . L '»ethique originaire« de Heidegger, in: Jean-Luc Nancy: La pensee


derobee, Paris, 2 00 1 , S. 85 - 1 1 3 .

1 04
10. Spektakel der Gesellschaft

Wenn das Mit-sein das Sich-Teilen einer simultanen Raum-Zeit


ist , impliziert es eine Präsentation dieser Raum-Zeit als solcher.
Um »wir« zu sagen, muß man das »hier und j etzt« dieses »wir«
präsentieren. Oder vielmehr, »wir« zu s agen übt unabhängig von
seinen Bestimmungen die Präsentatio n eines »hier und j etzt« aus :
ein Zimmer, eine Region, eine Grupp e von Freunden, ein Verein,
ein »Volk« . Wir kann in der Tat nie lediglich »das Wir« als ein ein­
ziges Subj ekt, noch ein ununterschiedenes »Wir« als diffuse All­
gemeinheit sein. »Wir« drückt immer eine Pluralität aus , eine
Teilung [partition] und ein Wirrwarr von »wir« : »Man« ist nicht
»mit« im allgemeinen, sondern dies immer, j edes Mal , entpre­
chend bestimmter Umstände , die ihrerseits vielfältig und simul­
tan sind (Volk, Kultur, Sprache , H erkunft , Netz, Gruppe, Paar,
Bande, usw . ) . Jedes Mal wird so eine Bühne präsentiert , auf der
mehrere »ich« sagen können , j eder für sich und j eder, wenn er an
der Reihe ist. »Wir« ist j edoch weder Addition noch Nebeneinan­
der dieser »ich« . Und »wir« ist, selbst unausgesprochen, die Be­
dingung der Möglichkeit jedes »ich« . Keiner kann sich bezeich­
nen, wenn er nicht eine Raum-Zeit der »Selbstreferentialität« im
allgemeinen hat. Diese »Allgemeinheit« hat keine allgemeine
Konsistenz : Sie hat nur die Konsistenz des einzelnen »J edes Mal«
von jedem »Ich«. Das »Jedes Mal« impliziert genau gleichzeitig
die Diskretion des »jeder einzeln« und die Simultaneität »j edes
einzelnen«. Denn »j eder« , der sich nicht in irgendeiner Simulta­
neität befindet, der nicht zugleich-und-bei anderen »j eden« wäre,
befände sich in einer Isolierung, die nicht einmal mehr I solierung
wäre , sondern die reine und schlichte Unmöglichkeit , sich zu be­
zeichnen, also »selb st« zu sein. Seine reine Verteiltheit verwan­
delte sich unmittelbar in absoluten Autismus. (Aber eine wie
auch immer geartete »Grupp e« ist auch keine Identität höherer
Ordnung: sie ist eine Bühne , ein Ort der Identifikation. Allgemein
genommen kann die Frage des »Mit« w ohl auch in folgenden Ter-

1 05
mini ausgedrückt w erden : niemals Identität, immer Identifizie­
rungen.)
Insofern kann , w o rauf ich schon hinzuweisen hatte, Descartes
nur deshalb so tun, als ob er allein und ohne irgend jemand an­
ders auf der Welt wäre, weil er weder allein noch ohne andere
ist. Durch seine Verstellung macht er vielmehr deutlich, daß
wer immer auch Einsamkeit vortäuscht, gerade dadurch seine
»Selbst-Referentialität« als irgend jemand beweist. Und daß der
Charakter einer Evidenz dieser ersten Wahrheit aufrechtzuerhal­
ten ist, liegt in der Tat gerade in der Anerkennung der Gewißheit
des ego sum durch irgend jemanden. Vollständig muß der Satz
deshalb heißen: Ich sage, daß wir alle und jeder »ich bin«, »ego
existo« sagen. Man darf Descartes also nicht lesen, wie Heidegger
es tut, der nicht bis zu dieser absolut ersten Bedingung zurück­
geht, sondern b ei der Position der Substanz res cogitans - ste­
-

henbleibt. Man muß Descartes wörtlich lesen, so wie er dazu


selbst einlädt und indem man mit ihm und wie er die Erfahrung
der Verstellung macht. Nur dieses D enken mit dringt vor zur Evi­
denz, die kein B eweis ist. Die methodische Verstellung hat in ih­
rem allerersten Moment nichts Substantialistisches noch Solipsi­
stisches : Sie entdeckt die Bühne des »j edes Mal« als unsere
Bühne, als die Bühne des »Uns«.
Diese Bühne - dieses »Theater der Welt«, wie Descartes auch zu
sagen beliebte und damit einem sich durchhaltenden Motiv sei­
ner Epoche treu b lieb - ist nicht bühnenhaft im Sinne eines
künstlichen Raums der mimetischen Repräsentation. Sie ist büh­
nenhaft im Sinne des Ausschnitts und der Eröffnung einer Raum­
Zeit der Verteilung von Singularitäten, deren j ede singulär die
einmalige und plurale Rolle des »Selbst« oder des »Selbst-seins«
spielt. Und »selbst« will zuallererst weder »zu sich«, noch »durch
sich« noch »für sich selbst« heißen, sondern »einer unter uns« :
ein j edes Mal von der Immanenz oder dem Kollektiv Zurück­
gezogener, folglich aber j edes Mal einer, der zu j edem einen, »j e­
dem einzelnen Einen« [taut un chacun] in Ko-Existenz ko-essen­
tiell ist. Die Bühne ist der Raum der Mit-Erscheinung, ohne die

1 06
es ein reines und schlichtes Sein, das heißt alles und nichts, alles
wie nichts nicht gäbe.
Das Sein gibt sich singulär plural, und verpflichtet sich so selbst
als zu seiner eigenen Bühne . Wir präsentieren uns ein-ander als
»ich«, ebenso wie »ich« sich uns j edes Mal ein-ander als »uns«
präsentiert. In diesem Sinn gibt es keine Gesellschaft ohne Spek­
takel, 5 1 oder genauer: Es gibt keine Gesellschaft ohne Spektakel
der Gesellschaft . Diese aus der Ethnologie oder insbesondere in
der westlichen Tradition als Position zum Theater wohlbekannte
These muß in ihrer ontologischen Radikalität begriffen werden.
Es gibt keine Gesellschaft ohne Spektakel, weil die Gesellschaft
aus sich selbst heraus Spektakel ist.
Aber dies darf selbst nicht verstanden werden im Sinne eines
Spiegelspiels (solange jedenfalls, wie »Spiel« und »Spiegel« ein­
fach Künstlichkeit und Irrealität b edeuten) . Mit-Erscheinung, als
Begriff des Zus ammen- seins , besteht darin, sich zu erscheinen :
das heißt genau gleichzeitig sich und ein-ander zu erscheinen.
Man erscheint sich nur, indem man ein-ander erscheint. Will
man dies auf klassische Weise ausdrücken und mit der unter­
stellten Sphäre einer eigenen isolierten Individualität beginnen,
müßte man sagen, daß man sich erscheint, während man schon
für sich selbst ein anderer ist . 52 Aber sofort wird sichtbar [mani­
feste] , daß man für sich selbst ein anderer zu sein nicht einmal
beginnen könnte, wenn man nicht schon in der Alterität mit -
oder von - anderen im allgemeinen begonnen hätte . Die anderen
»im allgemeinen« sind weder die anderen »Ich« [moi] , (da es
»Ich« und »Du« nur ausgehend von Alterität im allgemeinen
gibt) , noch das Nicht-Ich (aus demselben Grund) . Die anderen

5 1 . Guy Debords »La societe de spectacle« wurde - sicher zurecht - mit »Die
G esellschaft des Spektakels« übersetzt. Das vielschichtige Wort »spectacle«, das
im Französischen Oberbegriff für Schauspiel, Theaterstück und Film und auch
»Spektakel« im üblichen deutschen Sinn bedeutet, verschiebt sich in diesem
Kontext in Richtung der ersteren Bedeutung; wir bleiben um der kategorialen
Eindeut igkeit willen bei »Spektakel« (A. d.Ü. ) .
5 2 . Vgl. den Titel d e s Buchs v o n Paul Ricceur, Das Selbst als ein A nderer, Mün­
chen 1 9 96.

1 07
»im allgemeinen« sind weder die SELBEN , noch der ANDERE. Sie
sind Die-einen-wie-die-anderen , oder Die-einen-der-anderen, ei­
ne erstliehe Pluralität , die mit-erscheint. »Sich erscheinen« - und
sich ganz genauso wie ein-ander - gehört also nicht zur Ordnung
der Erscheinung, des Hervortretens, des Phänomens , der Enthül­
lung oder irgend eines anderen Begriffs des Sichtbar-werdens mit
all dem, was es unvermeidlicherweise an Ursprung im Unsicht­
baren und der Beziehung zu diesem Ursprung als Ausdruck oder
als Illusion, als Ähnlichkeit oder als Scheinen nach sich zieht. 53
Kurz : Mit-erscheinen ist nicht »sich erscheinen« : ist nicht heraus­
treten aus einem An-sich-sein, um sich den anderen zu nähern,
noch um auf die Welt zu kommen . Es ist Sein in der Simultanei­
tät des Mit-seins , worin es kein »an sich« gibt, das nicht unmit­
telbar »mit« wäre .
Aber »unmittelbar mit« verweist nicht auf eine Unmittelbarkeit
im Sinne einer Abwesenheit der Äußerlichkeit. I m Gegenteil , dies
ist die augenblickliche Äußerlichkeit der Raum-Zeit (der Augen­
blick selbst als Äußerlichkeit: das Simultane) . So bildet die Mit­
Erscheinung eine Bühne, die nicht ein Spiegelspiel ist - oder viel­
mehr, die Wahrheit des Spiegelspiels muß als die Wahrheit des
»mit« b egriffen werden . In diesem Sinne ist die »Gesellschaft«
»spektakulär« .

B ei näherem Hinsehen stößt man darauf, daß die Kritiken der


»spektakulären« Entfremdung letztlich - ob sie es wollen oder
nicht - in der Unterscheidung des guten oder schlechten Spekta­
kels gründen. Im guten Spektakel vergegenwärtigt sich das ge­
sellschaftliche oder kommunitäre Sein seine eigene Innerlichkeit ,
seinen (an sich unsichtbaren) Ursprung, die Grundlegung seines
Rechts, das Leben seines Körpers und den Glanz seines Aufblü­
hens. (Auf diese Weise hat eine gewisse Vorstellung der »Kunst«
gleichsam unsichtbar für die Situationisten die Rolle des guten

53. Ein Großteil der Arbeit von Philippe Lacoue-Labarthe ist der dekonstruie­
ren den Analyse dieser ursprüngli chen mimesis gewidmet .

1 08
Spektakels gespielt , und es ist kein Zufall, wenn das »Spektakel«
für sie in erster Linie Verfälschung der Kunst war. ) Im schlechten
Spektakel vergegenwärtigt sich das soziale Sein die Äußerlichkeit
der Interessen und Begehrlichkeiten , die egoistischen Leiden­
schaften und den falschen Ruhm des O stentativen. Letztlich un­
terstellt diese manichäische Teilung nicht nur eine Unterschei­
dung der repräsentierten Obj ekte , sondern einen Gegensatz im
Status der Repräsentation: Es ist sie selbst, mal als Innerlichkeit
(Hervortreten, Ausdruck des Eigentlichen) , mal als Äußerlichkeit
(Bild, Reproduktion) . Man übersieht so ihre gegenseitige Ver­
strickung: Kein »Ausdruck«, der sich nicht als »Bild« gibt, keine
»Präsentation« , die nicht schon in der »Repräs entation« ist, das
heißt keine »Präsenz«, die nicht Präsenz der einen den anderen
gegenüber ist.
Wie man weiß, findet man eine H erabsetzung des Spektakels
sehr explizit bei Rousseau , der ausdrücklich betont , daß das be­
ste Spektakel und das einzig notwendige das des Volks selbst sei ,
das versammelt ist und um den Baum herum tanzt, den es als
sein eigenes Symbol gepflanzt hat . Was Rousseau unwillkürlich
damit sinnlich greifbar macht , 54 ist ja gerade nichts anderes als
die Notwendigkeit des Spektakels . Mit der Modernität weiß sich
die Gesellschaft als das , was sich in der ihr immanenten Nicht­
Präsenz abspielt, das heißt als ein Subjekt, das weniger das »Sub­
jekt der Repräsentation« ist als die Repräsentation als Subjekt:

54. Nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn Rousseau hat die Notwendigkeit
des Spektakels, das er verurteilte, sehr gut erfaßt, und was er denken wollte,
war eine Art Selbstüberwindung der spektakulär-repräsentativen Äußerlichkeit ,
von der Seite der »bürgerlichen Religion« her wie von der Literatur aus . Von
daher gesehen sind Literatur (mit der »Musik« oder »Kunst« im allgemeinen) ei­
nerseits und »bürgerliche Religion« andererseits (das heißt die darstellbare
Gestalt einer laizistischen Gemeinschaftlichkeit) die Vorläufer unseres Pro­
blems als Problem des Mit-Si nns. Einerseits »einen Menschen seinesgleichen zu
zeigen . . . «, andererseits - weil man das Ereignis nicht leben kann - den institu­
ti onalisierenden Pakt der Menschheit selbst zu feiern. Das Modell gibt es überall
und nirgend s , es ist singulär p lural. Deshalb muß das Problem entsprechend ei­
nes Zusammenschlusses und einer Spaltung zwischen »Kunst« und »bürger­
licher Religion« konstruiert werden . . .

1 09
eine Präsentation-auf-etwas-hin [presentation-0.}, die man auch
Apräsentation nennen könnte, die Ordnung eines Kommens
zur Präsenz als zusammengefügtes, ko-inzidentes und kon-kur­
rierendes , simultanes und gegenseitiges Kommen. Eine solche
Apräsentation ist die eines »Wir« , das weder die Natur eines ge­
meinsamen »Ichs« besitzt, noch die eines geometrischen Orts
oder eines Zusammen aller voneinander gleichentfernten »Ich« ,
sondern sie eröffnet - diesseits von j edem Ich-Subj ekt - die Ver­
räumlichung der Mit-Erscheinung. »Soziation« erweist sich nicht
als Sein, s ondern als Akt, und definitionsgemäß exponiert sich
dieser Akt : Indem er sich exponiert, ist er das , was er ist, oder
macht, was er macht. D as G esellschaftlich-sein muß vor sich
selbst den Akt der Soziation bezeugen, j enen Akt, der es zu dem
macht, was es ist - nicht in dem Sinne, daß er es hervorbrächte
(wie ein Resultat) , sondern eher in dem Sinn, daß sich das »Sein«
- hier - gänzlich im Akt und in der Exposition des Aktes hält. I n
diesem Sinne könnte m a n sagen , d a ß das Wesen des Rousseau­
schen »Vertrags« nicht der Abschluß einer Konvention ist, son­
dern die Bühne, das Theater der Konvention .

S ollte es auch in keinem der B e deutungen des Wortes unmittel­


bar »spektakulär« sein, s o ist das Gesel lschaftlich-sein doch auf
j eden Fall wesentlich ein Exponiert-sein. Es ist als Exponiert­
sein , das heißt es ist n icht entsprechend der immanenten Konsi­
stenz eines Selbstseins [etre-a-soi]. Das Selbstsein der »Gesell­
schaft« ist das Netz und das gegenseitige aufeinander Verwiesen­
sein der Ko-Existenz, das heißt der Ko-Existenzen. Deshalb gibt
sich j ede Gesellschaft ihr Spektakel und gibt sich als Spektake l ,
in welchen Formen dies auch immer sein mag. 55

5 5 . Das bedeutet nicht, daß jedes Spektakel unterschiedslos »gut aufzuneh­


men« wäre. Im Gegenteil, eine Gesellschaft, deren spektakuläre Form nicht
mehr kodifiziert ist, wirft, was das Spektakel angeht, die schwierigsten Pro­
bleme auf und muß sich ihnen stellen: Sie muß in bezug auf sich nicht nur eine
Vielzahl von ethischen, praktischen, ökonomischen, ästhetischen und politi­
schen Entscheidungen angehen, sondern sie muß zuvor das Denken des »Spek-

1 10
In dieser Hinsicht weiß sich j ede Gesellschaft konstituiert in der
Nicht-Immanenz der Miterscheinung. Sie weiß dadurch - nicht
als ein »Wissen«, sondern exponiert als und durch ihre eigene
Bühne, als ihre szenographische Praxis -, daß es ein Sein hinter
dem Zusammen-sein, das nicht mehr oder noch nicht Zusam­
men-sein ist, das aber das Zusammen selbst wäre, als Präsenz ,
als Person, als Körper oder als Wesen, nicht gibt. Sie weiß als o ,
daß das »Zusammen« kein Prädikat des Seins i s t u n d d a ß »zu­
sammen« vielmehr ein Zug des Seins selbst ist. Oder auch: das
Zusammen des Seins ist kein Sein, es teilt das Sein.
Insofern ist das spontane Wissen der Gesellschaft - ihr »präon­
tologisches Verständnis« von sich selbst - ein Wissen vom Sein
selbst, absolut, und nicht über eine b esondere untergeordnete
Region des Seienden, das seine »gesellschaftliche« Regio n ist
Das Mit-sein ist für das Sein konstitutiv , und es ist (darauf werde
ich später noch zurückkommen) für die Totalität des Seienden:
Die »gesellschaftliche« Miterscheinung ist selbst das Exponie­
rende der allgemeinen Miterscheinung der Seienden. Das ist das
Wissen, das von Rousseau zu B ataille oder von Marx zu Heideg­
ger führt und das nach einer Sprache verlangt, die die unsere ist.
Wahrscheinlich stammeln wir j etzt wieder: Die Philosophie
kommt immer zu spät, und folglich auch zu früh . Aber das Stam­
meln selbst gibt die Form des Problems vor: Wir, »Wir« , wie s ol­
len wir zu uns wir sagen? O der was spricht zu »uns«, und was

takels« als solches wiederaufnehmen und es auf neue Rechnung begründen.


Die allgemeine Kritk des »Spektakulären« - der Mediatisierung, des Fernsehens
usw. - dient meistens als Alibi und als Bildschirm für eine sehr ärmliche Ideo­
logie. Weinerlich, übelgelaunt und hochnäsig ist sie daran interessiert hervor­
zukehren, daß sie für das, was Illusion ist und was nicht, den Schlüssel in der
Hand hält. Sie gibt vor, daß sie etwa weiß, daß die Menschen durch das Fern­
sehen, ja durch die »Telekratie«, »Stumpfsinnig« werden, während sie letztlich
nichts weiß, weder über den wirklichen Gebrauch, den »die Leute« von der
Glotze machen - ein Gebrauch, der vielleicht viel distanzierter ist als sie wahr­
h aben will -, noch über den wirklichen, manchmal sehr »stumpfsinnigen« Zu­
stand der Populärkulturen von früher. Die Kritik des Spektakulären macht seit
einiger Zeit Furore - aber sie beginnt zu veralten.

111
sagt man uns über uns, in diesem technischen Wuchern des ge­
sellschaftlichen Spektakels, des spektakulären Gesellschaftli­
chen, der auto-mediatisierten Globalität und der globalisierten
Mediatisierung? Wir sind nicht in der Lage, uns dieses Wu­
chernde anzueignen , denn wir · vermögen es nicht zu denken,
weder die »spektakuläre« Natur (die wir bestenfalls auf die in­
konsistenten Insignien des »Bildschirms« oder der »Kultur« zu­
rückverweisen) noch die »technische« Natur (die wir als eine
autonome Instrumentierung betrachten, ohne uns zu fragen, ob
nicht vielmehr »unser« Verständnis von »uns-selbst« diese Tech­
niken findet und sich darin erfindet, und ob die Technik nicht
wesentlich verbunden mit dem »Mit« angefangen hat . . . ) . 5 6 Wir
sind nicht auf »unserer« Höhe: Wir wenden uns ständig an eine
»Soziologie« , die selbst nur die gelehrte Form des »Spektakulär­
Warenhaften« ist, aber »uns« als »uns«, als »Wir« zu denken
haben wir nicht einmal begonnen.
Das soll nicht heißen, daß uns dieses Denken morgen oder spä­
ter ereilen müßte wie durch die Wirkung eines Fortschritts oder
einer Eröffnung . Denn es handelt sich dabei vielleicht nicht um
ein neues Obj ekt des Denkens, das man als solches identifizieren ,
definieren und ausstellen könnte . Wir müssen uns nicht als uns ,
als ein »Wir« identifizieren . Vielmehr müssen wir uns als Uns
des-identifizieren von aller Art des »Wir«, das Gegenstand seiner
eigenen Repräsentation ist, und wir müssen dies tun, insofern
»wir« mit-ers cheinen : D as »Denken« von »uns«, das j edem Den­
ken vorausgeht - und in Wahrheit nichts anderes als seine Be­
dingung ist -, ist kein repräsentatives Denken (keine Idee, keine
Vorstellung, kein Begriff) , sondern Praxis und Ethos: die Insze­
nierung der Miterscheinung, j ene Inszenierung, die Miterschei-

56. Wenn physis das ist, was sich von selbst präsentiert und vollendet, dann ist
»mit« von einer anderen O rdnung. S o gesehen gibt es dann Wuchern und Zu­
sammenvorkommen selbst (und schon) »in der Natur« . Techne hätte dann zu
tun mit dem, was nicht von selbst geht, noch auf sich zuläuft - mit Disparathei t ,
Kontiguität, u n d insofern m i t einem unvollendeten u n d unvollen dbaren Wesen
des »Mit«.

1 12
nung ist . Wir sind schon dabei , schon immer, in j edem Augen­
blick. Das ist keine Neuigkeit - aber man muß, wir müssen sie
jedes Mal neu erfinden, j edes Mal von neuem auf die Bühne tre­
ten.

Ein besonders wichtiges Zeichen unserer Schwierigkeit in der


Beziehung zum Spektakel ist durch j enes Paradigma gegeben,
das für uns das Theater Athens ist. Es ist sicherlich kein Zufall ,
daß unsere moderne Begründungsweise der Tradition, die »okzi­
dental« genannt wird , sich dreifach bezieht: auf die Philosophie
als vom logos geteilten Dienst, auf die Politik als Beginn des
Staatsbürgerlichen, und auf das Theater als Ort der symbolisch­
imaginären Aneignung der kollektiven Existenz . Das Theater
Athens erscheint uns seiner Institution wie seinem Inhalt nach
als die politische (staatsbürgerliche) Präsentation des Philosophi­
schen (des Wissens, welches das sprachfähige Lebewesen von
sich selbst hat) , und umgekehrt als die philosophische Präsenta­
tion des Politischen . Das heißt, es erscheint uns als einheitliche
»Präsentation« des Zusammen-sein s , und doch auch als Präsen­
tation, deren Bedingung der Möglichkeit gerade der - irreduzible,
stiftende - Abstand der Repräsentaton ist: Dieser Abstand be­
stimmt ebenso das Theater, insofern es gleichzeitig und ebenso
ausdrücklich weder politisch noch philosophisch ist. Logos und
mimesis : Das athenische Theater erscheint uns als Vereinigung
von beidem, aber in dieser Sichtweise löschen wir systematisch
das Moment der mimesis zugunsten des Moments des logos aus.
Zumindest löschen wir es aus, indem wir uns vorstellen , daß es
eine »gute« mimesis (wie Platon sie wollte) und eine »schlechte«
(die der »Sophisten« , die der Prototyp des spektakulären Marktes
ist, wo die Sirnutakren des logos verkauft werden) gibt - und vor
allem einst gegeben hat. Aber wir folgen dieser Logik nicht bis
zum Ende : Dann müßte man anerkennen, daß die mimesis not­
wendig ist, weil sich der logos nicht von selbst präsentiert - und

113
sich vielleicht üb erhaupt nicht präsentiert, seine Logik keine der
Präsenz ist . 5 7
Dies anzuerkennen dürfte darauf hinauslaufen, anzuerkennen ,
daß der »gesellschaftliche logos«, die Logik der »Soziation« und
die »Soziation« selbst als logos mimesis erfordert. Gab es aber je
einen logos , der nicht »gesellschaftlich« war? Was immer logos
heißt - Wort oder Rechnung, manifeste Sammlung oder Entge­
gennahme des Seins, gegebene oder konstruierte Vernunft -, lo­
gos impliziert immer Teilung [partage] , und ist immer als Teilung
impliziert . Wenn wir das innere Moment oder die innere Dimen­
sion der mimesis auslöschen, löschen wir diese Teilung aus . Wir
geben uns die Repräsentation einer immanenten , geschlos senen,
selbst-konstituierten und selbstgenügsamen Präsenz, die Reprä­
sentation einer völlig selbstreferentiellen Ordnung dessen, was
wir i m allgemeinsten und summarischstell Sinne eine »Logik«
nennen. Das in diesem Sinne »Logische« repräsentiert die seiner
ontologischen Bedingung entzogene Selbstreferentialität, die die
ursprüngliche - und als solche existentielle � Pluralität oder Tei­
lung des logos selbst ist .
Stellen wir nun der guten Verbindung des Logischen und des
Mimetischen die schlechte gegenüber: In ihr zieht sich das Logi­
sche zurück in seine immanente, kalte und gesichtslose Ordnung
(heute ist das für uns die »Logik des Kapitals«) , und produziert
dabei äußerlich eine mimesis, die in ihrem verkehrten Simula­
krum, dem sich selbst konsumierenden Spektakel, ihre Verstel­
lung betreibt. Die Selbstreferentialität des »Bildes« errichtet sich
gegenüber der Selbstreferentialität des Prozesses o der der Macht
[force] als sein Produkt und seine Wahrheit . Unsere Tradition hat
so seit langem dem »griechischen Paradigma« gegenüber das »rö-

57. All dies setzt selbstredend voraus, daß man allgemein auf die Arbeiten zur
mimesis von Derrida und Lacoue-Labarthe ebenso wie auf die Arbeit von Bali­
bar in La philosophie de Marx ( Pari s , 1 99 3 ) bezugnimmt , die die Betonung auf
die innere Verbindung von »Notwendigkeit der Erscheinung« und »gesellschaft­
liches Verhältnis« legt , und daß - von diesen Bedingungen ausgehend - eine
»Ontologie des Verhältnisses« ausgearbeitet wird .

1 14
mische« Paradigma errichtet: die Spiele des Zirkus, das burleske
Theater oder das des Schreckens, ohne Rückhalt in der staatsbür­
gerlichen Gesellschaft, das Reich und die Reichsraison, das leere
Forum und seine Bedeutung . . 58 .

Aischylos und Nero . . . Unser B ezug zur griechischen Bühne, der


so heftig zum römischen Zirkus im Kontrast steht (ein Gegen­
satz, der auch - ein bemerkenswertes B eispiel - die christlichen
Traditionen des Protestantismus und des Katholizismus und
in mehrfacher Hinsicht die profanen Traditionen des Theaters
trennt) , verweist auf ein Bewußtsein, das in seinem Unglück
über das Spektakel ebenfalls gespalten ist : Die »gute« (Re-) Prä­
s entation wird als verloren, die »schlechte« als populär und ver­
allgemeinert repräsentiert. Aber in Wirklichkeit ist das eine wie
das andere unsere Repräsentation: Aus ihnen setzt sich das dop­
pelte Spektakel, das wir vor uns aufführen, zusammen: aus einer
doppelten Unpräsentierbarkeit des gesellschaftlichen Seins und
seiner Wahrheit. Es gibt eine Unpräsentierbarkeit durch Entzug
[retrait] und eine Unpräsentierbarkeit aus Vulgarität. Vielleicht
muß man damit beginnen, diesem doppelten Spektakel gegen­
über auf Distanz zu gehen, damit wir dem Wunsch, Griechen,
und der Furcht, Römer zu sein, entgehen, und damit wir uns
endlich als modern begreifen können, ganz schlicht in dem Sinn,
wo dieses Wort heißt: sich zu einer als solchen exp onierten »Un­
präsentierbarkeit« zu bekennen, die aber nichts anderes ist als
die Präsentation unserer Miterscheinung selb st, des/der mit­
erscheinenden »Wir«, dessenfderen »Geheimnis« sich exponiert
und das wir uns selbst exponieren, bevor wir auch nur begonnen
haben, es zu durchdringen - wenn es überhaupt darum geht, es
zu »durchdringen« .

5 8 . Außer man stellt sich, wie man es während der französischen Revolution
und bei den deutschen Romantikern tat, ein anderes Rom vor, das republikani­
sche, als ein unmittelbares politisches Theater, das nichts vorgaukelt: das der
Toga und des Senats.

1 15
11. Maß des »Mit«

Die bloße Exposition der Miterscheinung ist die Exposition des


Kapitals . 5 9 Letztere ist so etwas wie die Kehrseite und das Erhel­
lende der Ersteren. Die gewaltsame Unmenschlichkeit des Kapi­
tals breitet nichts anderes aus, als die Simultaneität des Singulä­
ren - gesetzt jedoch als die indifferente und austauschbare Par­
tikularität der Einheit der Produktion, und des Pluralen - gesetzt
jedoch als das Netz der Warenzirkulation. Die »Herauspressung
des Mehrwerts« unterstellt diese Gleichzeitigkeit [concomitance]
einer »Atomisierung« der auf ein »Produzent-s ein« reduzierten
Produzenten und einer »Vernetzung« des Profits (keine egalitäre
Redistribution, sondern eine selbst i mmer komplexere und ort­
losere Konzentration) .
Man könnte sagen: Das Kapital ist die Entfremdung des singulär
pluralen Seins als solchem. Das wäre richtig, wenn man damit
nicht meint , daß das »singulär plurale Sein« ein einfaches au­
thentisches Subj ekt ist, das vom Kapital als seinem Anderen und
als purer Zufall überrumpelt wurde . (Nichts ist im übrigen dem
Denken von Marx fremder als das) . Das Kapital ist die »Entfrem­
dung« des Seins als Gesellschaftlich-sein ins ofern, als es dieses
Sein als solches an den Tag bringt . Es ist nicht das dialektisch
Negative einer vorgängigen Gemeinschaft in einem kontinuier­
lichen historischen Prozeß, sondern es exponiert eine Singulär­
plurale Konstitution oder Konfiguration, die gerade weder die
»Gemeinschaft« noch das »Individuum« ist . Der unkalkulierbare
»Mehrwert«, der »Wert«, der unbestimmt , zirkulär und autote­
lisch anwächst, exponiert die Unzugänglichkeit eines vorgängi­
gen oder finalen »Werts«, und stellt insgesamt auf paradoxe und
brutale Weise direkt die Frage nach einem »Außer-Wert« [hors-

5 9 . Marx spricht im Methodenabschnitt des Vorworts zur »Kritik der politi­


schen Ökonomie« in den »Grundrissen« (im Unterschied zur Produktionswei se)
von der »Darstellungsweise« des Kapitals, die im Französischen mit »mode
d ' exposition« übersetzt wird. Um der kategorialen Einheitlichkeit willen bleiben
wir bei »Exposition« (A . d . Ü . ) .

1 17
valeur] oder »absoluten Wert« - also einem inkommensurablen
Wert ohne Preis (das , was Kant »Würde« nannte) . Auf diese Wei­
se kommt es zur Gleichzeitigkeit der Globalisierung des Marktes
und der »Menschenrechte«: Diese repräsentieren den angeblich
absoluten Wert, den das Kapital gegen . . . sich selbst einzutau­
schen vorgibt .
Doch d a s Gesellschaftlich-sein wird dadurch sowohl bloß­
gestellt als auch lebendig: Denn der »Mensch« der »Rechte« ist
aus sich selbst heraus nichts »wert« . Er ist nur die Idee des
»Werts an sich« oder der »Würde«. Wenn der »Mensch« etwas
wert sein soll, oder wenn das Sein im allgemeinen »etwas wert«
sein soll mit Berufung auf ehendieses Wort »Mensch«, dann geht
dies strenggenommen nur, wenn er singulär etwas wert ist , aber
zugleich und simultan auch durch und für und mit dem Pluralen,
das die Singularität ebenso impliziert wie der »Wert« selbst : In
der Tat, was könnte für sich allein, ab-seits von sich gelten? »Gel­
ten« kann nur in der Ordnung eines »Mit-seins« gelten, das heißt
in der Ordnung eines Kommerzes in j edem Sinn des Worts. 60 Ge­
rade aber die Teilung dieser Bedeutungen - Handel mit der W are
I Sich- Verhalten im Gesellschaftlich-sein - wird vom Kapital ex­
poniert : die Teilung des Sinns des A ustauschs, die Teilung der
Teilung selbst. Das Kapital exponiert sie wie eine Gewalt, worin
das Zusammen-sein zum Ware-sein und vermarktet wird . Das
Mit-sein wird hier zum Verschwinden gebracht, während es
gleichzeitig in seiner Blöße ausgestellt wird.
Wenn man sagt, daß diese Gewalt ein Absolutes der Exi stenz
als singulär plurales Sein bloßstellt , dann wird sie dadurch nicht
gerechtfertigt . Denn dem, was sie bloßstellt, tut sie Gewalt an .
Das heißt umgekehrt auch nicht, daß man das »Geheimnis« des
Kapitals und die Mittel, es in sein Gegenteil zu verkehren, ent­
deckt hat. Sondern die Gewalt des Kapitals gibt den Maßstab ab
für das , was exponiert wird , dem sich »wir« exponiert hat : D as

60. Commerce bedeutet im Französischen neben Kommerz im Sinne von »Han­


del« auch »Sich-Verhalten« gegenüber and eren (A . d . Ü . ) .

1 18
singulär plurale Mit-sein ist das einzige, absolute Maß des Seins
oder der Existenz. Inkommensurables Maß, wenn es dem »j edes
Mal« von j edem »Einzelnen« gleichzeitig mit der unbestimmten
Pluralität der Ko-Existenzen gleichzusetzen ist, mit denen jeder
Einzelne sich seinerseits mißt, und zwar entsprechend einer
unbestimmten Kommensuration der Ko-inzidenzen , des Kom­
merzes , des Kampfs, des Wettbewerb s , des Vergleichs, der Kom­
munikation, der Konkurrenz, der Wollust, des Mitleids, der Mit­
61
freude . . .
Es gibt ein gemeinsames Maß, das nicht ein einheitliches Richt­
maß angewandt auf alle und alles , sondern die Kommensurabili­
tät der inkommensurablen S ingularitäten ist: die Gleichheit aller
Ursprünge-der-Welt, die als die Ursprünge, die sie sind, j edes
Mal strikt unsubstantiell und in diesem Sinne schlechthin un­
gleich sind, die aber als solche nur insofern sind, als sie alle glei­
chermaßen mit-ein-ander sind. Ein s olches Maß ist es, das wir
j etzt nehmen müssen.

Als weder griechische noch römische - und auch nicht j üdisch­


christliche, wir kommen darauf zurück - weiß und sieht sich die
Gesellschaft entblößt und dieser gemeinsamen Maßlosigkeit ge­
genüber expo niert. Sie betrachtet sich gleichzeitg als Evidenz,
deren Notwendigkeit j ede Evidenz eines ego sum zum Ver­
schwinden bringt, und als etwas Opakes, das sich j eder subj ekti­
ven Aneignung verweigert . Wir können nicht wirklich »wir« sa­
gen, wenn wir deutlich vor uns stehen als der/die einzige (n)
Sender vor dem/den einzigen Empfänger (n) .
Darüber aber müssen wir von j etzt an Zugang finden zu einem
Wissen des »Wir« - zu einem Wissen und/ oder zu einer Praxis .
»Wir« ist kein Subj ekt - im Sinne einer Selbst-Identifizierung und
der ichhaften Selbst-Begründung (sofern diese j e außerhalb von

6 1 . Im Französischen handelt es sich hier um Worte mit einem aus »cum« ab­
geleiteten Präfix: combat, concours, comparaison, communication, concurrence,
concupiscence, usw . , A.d.Ü.

1 19
»uns« stattfindet) -, und »wir« ist auch nicht aus Subj ekten »zu­
sammengesetzt« (das Gesetz einer solchen Zusammensetzung ist
die Ap orie j eder »Intersubj ektivität«) . »Wir« ist j edoch nicht
nichts, es ist sogar j edes Mal »irgend eines« [quelque un}, ebenso
wie »jeder« »irgend eines« ist. Deshalb gibt es im übrigen kein
universelles »Wir« : Aber einerseits sagt man »wir« jedes Mal von
irgendeiner Konfiguration, einer Gruppe oder von einem Netz,
sei es groß oder klein, und andererseits sagen »wir« »wir« für alle,
das heißt in Wahrheit auch für die Ko-Existenz , die stumm und
ohne »Wir« des ganzen Universums ist, Dinge, Tiere und Leute .
»Wir« heißt weder das »Eine«, noch die Addition der »Einen« und
der »Anderen«, sondern »wir« heißt »eines« auf eine s ingulär plu­
rale Art, einer nach dem anderen und einer mit dem anderen.
Nichts von dieser Situation kann gedacht werden , wenn das
Eine im allgemeinen nicht zuerst entsprechend dem Mit-ein­
ander gedacht wird . Nun scheitert unsere Ontologie aber gerade
hier, seit wir »unter uns« sind und sich das Sein - wenn man so
will - genau darauf beläuft.
(Als hätte das Sein dieses »inter« , das sein wahrer Ort ist, zuge­
deckt, als handelte es sich also vielmehr um »Inter-Vergessen­
heit« denn um »Seins vergessenheit« - oder wohl vielmehr, als
wäre die Erfindung des Seins - also unsere gesamte Tradition -
nichts anderes gewesen als die Erfindung unserer Existenz als
solcher, das heißt zwar als Existenz , gewiß, aber als Existenz von
uns und als wir, wir auf der Welt , wir-alle: »wir« wäre somit das
absolut Vorgängige, das Zurückgezogenste aller Ontologie, und
»Wir« wären somit auch die späteste Wirkung, das Schwierigste ,
das am wenigsten Aneigenbare des ontologischen Anspruchs . )
Das Mit konstituiert eine Art permanenten Stein d e s Ansto ßes
der Tradition: eine mindere Kategorie, kaum eine K ategorie in
dem Maß, wie das »Sein« bis zu uns, bis zu Heidegger selbst in
gewi sser Hinsicht als allein , als abgeschieden und ohne j ede Ko­
Exist enz oder Ko-Inzidenz repräsenti ert wurde. Husserl mag also
zwar erklären : »Das an sich erste Sein, das j eder weltlichen Ob­
jektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale

1 20
Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemein­
schaftende All der Monaden« 62 - trotzdem konstituiert dieses
Sein für sich genommen einen von der Kontingenz der Ko-Exi­
stierenden und ihrer Äußerlichkeit i nsgesamt abgelösten letzten
Horizont, der mehr einer transzendentalen Solidarität als empi­
risch-transzendentaler Simultaneität gehorcht und somit wieder
zu einer Art Substrat wird, das seiner Ko-Konstitution nach eben
nicht offen, nicht dis-p oniert ist. Das Sein der philosophischen
Ontologie kann, allgemein ausgedrückt, kein Mit-Wesen [co­
essence] haben, es gibt nur das Korrelat des Nicht-seins . Was
aber, wenn das Mit-Wesen der Existenz selbst das Sein ist ?
Da das Gesellschaftlich-sein uns in symmetrischer Weise so­
wohl als Gemeinschaft (Übernahme der Subj ekt [funktion] , rei­
nes Sein ohne Bezüge) als auch als Assoziation (Anpassung von
Subj ekten, Beziehungen ohne Wesentlichkeit) außer Reichweite
zu sein scheint, wird das gegenwärtige Denken vom »ANDEREN«
durchquert. Man müßte zeigen , wie diese Kategorie und die
Heimsuchung, die sie inzwischen für weite Teile unseres Den­
kens darstellt, die Inkommensurabilität des Seins als Mit-ein-an­
der-sein repräsentiert und zugleich das Regime dieses Seins als
Regime des Mit, das heißt als der Maßstab für diese I nkommen­
surabilität, wieder zu entstellen oder zu verändern droht.
Der Andere kann eher als alter ego oder eher als das Andere des
ego dargestellt werden, eher als das Andere außer seiner selbst
oder eher als das Andere im Selb st , eher als »der Andere«
[»autrui«] oder eher als »der Andere« , alle diese Wege und alle
diese Aspekte, alle diese Fixpunkte und all dieses »Unfixierbare«
- deren Notwendigkeit in allen Fällen unbestreitbar ist - führen
immer wieder im Kern des Begriffs zu einer Alterität oder einer
Alteration, worin das »Sich« auf dem Spiel steht . Das Andere ist
nur denkbar und denknotwendig von dem Moment an, wo das
Sich (und sich) als »Selbst« erscheint.

62 . Hu sserl, Cartesianische Meditationen, a . a . O . , S. 1 60 .

121
Nun findet diese I dentifizierung des Sich als solches - seine
Subj ektivierung zugleich im reichsten und im ärmsten philoso­
phischen Sinne des Wortes, die mit Hegel ihr Extrem erreicht -
von dem Moment an statt , in dem das Subj ekt in der unendlichen
Unterstellung des Sich , das es konstituiert, und gemäß dem not­
wendigen Ges etz einer solchen Unterstellung sich als anders-als­
sich findet oder ursprünglich setzt : als Selbst, das älter und ur­
sprünglicher ist als es, als Selbst, das an sich anders ist als es für
sich selbst ist, müßte man sagen - und Hegel dabei kaum um­
schreiben.
S o weiß sich das Selbst als prinzipiell anders als es : Das ist die
Konstitution des »Selbstbewußtseins«, und die Logik dieser Kon­
stitution läuft simultan und paradoxerweise darauf hinaus, das
Selbst dem anderen zu öffnen und es ihm zu verschließen . Tat­
sächlich konstituiert die Alterität des Anderen genau dasj enige ,
dessen Anerkennung den Zugang gerade verbietet, oder dasj e­
nige , zu dem man Zugang nur unter der Bedingung einer radika­
len Veränderung oder genauer : einer Entfremdung haben kann.
Eine Dialektik des Seiben und des Anderen, des Seiben im Ande­
ren, des Seiben als Anderem löst die Aporie , aber um den Preis
- der der Preis der Dialektik im allgemeinen ist - offenzulegen,
daß die Kraft des Negativen, die das Sich im anderen bewahrt ,
die ent-entfremdende und wiederaneignende Kraft der Entfrem­
dung (des) selbst, sich immer wieder voraussetzt als die Kraft
des Selbst, oder als das Selbst als diese Kraft selbst. Das S elbst
bleibt mit sich allein genau in dem Moment, wo es aus sich her­
austritt . Eigentlich verfehlt oder übersprungen bei dieser fal­
schen Lösung wird das Moment des Mit.
Als dem Anderen gegenüber o ffen und als Anderes ist das Sich
ursprünglich im Verlust des Sich . Geburt und Tod werden zu den
Kennzeichen einer Herkunft und einer Bestimmung i m Anderen:
zu einer Herkunfts- Bestimmung als Verlust, als trauerndes An­
denken des Unvordenklichen, und zur Wiedererob erung, Wiede­
raneignung einer unaneigenbaren Selbstheit [aseite] i n ihrer irre­
duziblen Alterität . Dieses Andere ist nicht »mit« , es ist nicht mehr

1 22
oder noch nicht »mit«, es ist näher oder weiter weg als j edes Zu­
sammen-sein. Es begleitet nicht, es durchquert und überschreitet
die Identität, es übergeht sie. I n gewisser Weise begleitet eine
allgemeine Modalität des trans- (Transport, Transaktion, Trans­
parenz, Transsubstantialität, Transzendenz) im Namen der Alte­
rität ständig die Modalität des cum-, die sie j edoch weder über­
decken noch ersetzen kann.
An sich und von sich aufsteigend wird das S ubj ekt in seiner In­
timität (»interior intimo meo«) geboren, und seine Intimität ent­
fernt sich von ihm in statu nascendi (»inter feces et urinam nasci­
mur«) . »Existieren« wird zu: nicht mehr »sein« (an sich, in sich) ,
schon-nicht-mehr-sein und noch-nicht-sein, oder im-Mangel­
sein, ja in-der-Schuld-des-Seins-sein. Existieren wird zum Ins­
Exil-gehen. Daß das Intime, das absolut Eigene im absolut Ande­
ren besteht, darin alteriert der Ursprung in sich selbst, in einer
63
Selbstbeziehung »ursprünglicher Trauer« . Das Andere steht i n
einer ursprünglichen Beziehung z u m Tod, u n d in einer Bezie­
hung zum ursprünglichen Tod .
Somit erscheint d i e »Einsamkeit« - sie i s t d a s christliche Ereig­
nis, was nicht heißen soll, daß es sich nicht schon viel früher vor­
bereitet hätte, noch daß es nicht auf seine Art i n unserer gesam­
ten Tradition gegenwärtig wäre . Einsamkeit ist vorzugsweise
Einsamkeit des Selbst [soi] , insofern es sich in extremis und in
principiis außer sich und außer der Welt, als ek-sistierende Exi­
stenz auf sich bezieht. Das Selbstbewußtsein ist Einsamkeit . Das
Andere ist diese Einsamkeit selbst, exponiert als solche: als ein
unendlich an sich , zu sich, an sich als zu sich zurückgezogenes
Selbst-Bewußtsein.
Der Ko-Existierende - der andere Mensch, aber genauso auch
das andere Geschöpf im allgemeinen - erscheint also als der­
oder dasj enige , welches an sich unendlich zurückgezogen ist.
Unzugänglich für »mich« , insofern es zu »sich« im allgemeinen
zurückgezogen ist - und was es als Außer-sich-selbst [soi-hors-

63. Daniel Giovannangeli, La passion de l'origine, Paris, 1 995, S. 1 33 .

1 23
de-soi] ist , ist es das Andere im allgemeinen, das Andere, das im
göttlichen Anderen das Moment seiner Identität hat und das
ebenso sehr das Moment der Identität aller, des universellen
corpus mysticum ist. Das Andere ist der Ort der Gemeinschaft als
Vereinigung [communion} , das heißt eines Sich-selbst-sein-im­
anderen, das nicht mehr verändert ist, dessen Alteration Identi­
fikation ist. Das Mysterium der Kommunion kündigt sich - in
dieser Welt - in der Form des Nächsten an.
Der proximus ist das Korrelat des intimus: der, der »ganz in der
Nähe« , »am Nächsten« ist , das heißt auch mein »Am-meisten-bei­
naher« , mein »Unendlich-beinaher«, aber nicht ich, - nicht ich,
da an sich zurückgezogen ins Sich im allgemeinen. Die Nähe des
Nächsten ist die verschwindende, intime, aber insofern unendli­
che Distanz, deren Auflösung sich im ANDEREN findet . Der Näch­
ste ist der Entfernte par excellence - daher stellt sich die Bezie­
hung zu ihm dar 1) als Imperativ, 2) als Imperativ einer Liebe
und 3) als eine Lieb e, die »wie die Liebe zu mir selbst« 64 ist .
Selbstliebe ist hier nicht Egoismus in dem Sinn, daß einer sich
den Vorzug vor anderen gibt (was zum Gebot im Widerspruch
stünde) , wohl aber Egoismus im Sinn einer Privilegierung des
Sich-selbst, des eigenen- Selbst [soi-propre} als Modell, des sen
Nachah mung die Liebe den anderen gegenüber stiftet. Im Ande­
ren muß man das eigene-Selbst lieben, umgekehrt jedoch ist das
eigene-Selbst in mir das Andere als das Ego , dessen entzogene
Intimität.
Deshalb handelt es sich um »Lieb e« : Diese Liebe ist nicht der
mögliche Modus einer Beziehung, sie bezeichnet die Beziehung
5
selbst im Zentrum des Seins - ja, an Ort und Stelle des Seins 6 -
und zwar die Beziehung des Einen zum Anderen als unendliche
Beziehung des Selben zum Selben als dem ursprünglich Anderen

64. Drittes Buch Mose 1 9. 1 8, wiederaufgenommen in Matthäus 22. 3 9 , und in


der Offenbarung des Johannes : »dgapeseis ton plesion sau 6s seautov« , »diliges
proximum tuum sicut teipsum« : Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst«, ein königliches Gesetz, ein Gebot, das zusammen mit dem, Gott zu lie­
ben, »das ganze G esetz und die Propheten« zusammenfaßt.

1 24
als es selbst . Derart ist die »Liebe« der Abgrund des Sich für das
Sich , sie ist die »Hingabe« oder das »Sorge tragen« für das , was
im Ursprung sich entgleitet oder fehlt : Sie besteht im S orge-Tra­
gen für diesen Rückzug und in diesem Rückzug. Daher kommt
es, daß diese Liebe »Nächstenliebe« ist : Sie ist Gegenstand der ca­
ritas , des extremen, absoluten und folglich unschätzbaren Prei­
ses oder Werts des Andern als Anderem, das heißt als in-sich-zu­
rückgezogenem-Sich . Eine solche Lieb e nennt den unendlichen
Preis dessen, was unendlich zurückgezogen ist : die Inkommen­
surabilität des Anderen. Das Gebot dieser Liebe spricht sie folg­
lich aus als das, was sie ist : der Zugang zum Unzugänglichen.
Nun reicht es aber nicht aus , diese Liebe aus überzogenem I dea­
lismus oder religiöser Scheinheiligkeit herabzuwürdigen . Viel
eher muß die Christlichkeit und die Gefühlsbezogenheit eines
Imperativs dekonstruiert werden, der uns mit seinem offen ex­
zessiven, klar exorbitanten Charakter aufhorchen lassen müßte -
ich würde sogar sagen: dafür gemacht ist, uns aufhorchen zu las­
sen . Man muß sich fragen, worin der »Sinn« für ein oder der
»Wunsch« nach einem Denken oder einer Kultur besteht, die sich
eine Begründung geben, die, wenn sie geäußert wird , deren Un­
möglichkeit zum Aus druck bringt ; und man muß sich fragen, ob ,
bis zu welchem Grad und inwiefern, die »Verrü cktheit« dieser
Liebe das inkommensurable Maß der Konstitution des »Sich« und
des »Anderen«, des »Sich« im »Anderen« nicht selbst exponiert .
Man müßte also verstehen, wie in dieser Konstitution - und so
im Zentrum und auf der Rückseite des Jüdisch-Christlichen - die
Dimension des Mit gleichzeitig erscheint und verschwindet . Ei­
nerseits bezeichnet die Nähe des Nächsten das »bei« des »mit«

65 . Ich halte mich hier nicht mit der Verstrickung der Begriffe eros, agape, ca­
ritas auf, für die die »Liebe« der Knoten ist, noch bei der jüdisch-christlichen
Verstrickung von Liebe und Gesetz. Man weiß, was für ein riesiges Forschungs­
feld diese Konstellation darst ellt , die man nur so gerade eben begrifflich zu nen­
nen wagt und w orüber man wenig sagt , wenn man betont, daß unsere gesamte
Tradition - unser gesamtes Denken des »wir« - daraus geschöpft hat. Das Chris­
tentum - der Theologie und/oder des Herzens - vom »Liebet ein-ander« zu
dekonstruieren, das ist die Aufgabe.

125
(das apud hoc seiner Etymologie) . Man kann wohl sogar hinzu­
fügen , daß sie dieses »bei« für es s elbst einkreist und ablöst als
Kontiguität und Simultaneität des Nahe-bei-seins als solchem
und ohne weitere Bestimmung. Das heißt, daß der »Nächste«
nicht mehr der »Nahestehende« in der Familie oder der »Nach­
bar« im Stamm ist, worauf vielleicht die einstige Bedeutung der
biblischen Gebote verwiesen hat; er ist nicht der Nächste der
gens, der philia oder der Geschwister; unterworfen ist er viel­
mehr der Logik der Gruppe oder des Zusammen, der Logik der
Gemeinschaft von Natur aus, der Gemeinschaft des Bluts, der
Herkunft, des Prinzips und des Ursprungs . 66 Das Maß des »Näch­
sten« ist nicht mehr gegeb en, und das »bei«, das »ganz nah bei«
ist ausgestellt in seiner Blöße und ohne Maß : das Zusammenvor­
kommen, die Menge , die Masse werden möglich - bis hin zum
Gedränge des anonymen Massengrabs und zur Zerstreuung der
kollektiven Asche. Die Nähe des Nächsten als reine Dis-tanz,
reine Dis- Position kann diese Dis-Po sition aufs extremste zu­
gleich zusammenziehen und ausdehnen . Im universellen Mit­
ein-and er-sein wird das »-same« des Gemein-samen rein extensiv
und distributiv .
Deshalb exponiert sich - andererseits - das »bei« des Mit, die
Simultaneität des Abstands und des Kontakts, das heißt die ur­
eigenste Konstitution des cum als Unbestimmtheit und als Pro­
blem. Es gibt in dieser Logik kein eigenes Maß des Mit: Das
Andere entzieht es ihm, in der Alternative oder in der Dialektik
der gemeinsamen Inkommensurabilität und Intimität . In einem
extremen Paradoxon erweist sich das Andere als das A ndere des
Mit.

Man findet folglich ganz in der Tiefe unserer Tradition, über­


lagert , verflochten und kontrastierend, zwei Messungen des In­
kommensurablen: gemäß dem ANDEREN, und gemäß dem Mit.

66. Unterworfen folglich der Logik und der »Politik der Freundschaft«, wie
Derri da sie zu dekonstruieren vorschlägt.

126
Das Intime und das Nächste, das Selbst und das Andere bezeich­
nen in ihrer gegenseitigen Verweisung ein »nicht sein mit« und
insofern ein »nicht in Gesellschaft sein«, ein ANDERES des Gesell­
schaftlichen, wo das Gesellschaftliche - das Gerneinsame als
Sein oder als gerneinsames Subjekt - an und für sich sich s elbst
gehört: die Selbstheit [memete] selbst des Anderen als Anderem.
Das Mit-sein bezeichnet dagegen das Andere , das nie auf das
Selbst rückführbar ist, die Pluralität der Ursprünge. Das richtige
Maß des Mit, oder genauer, das Mit oder Mit-sein als richtiges
Maß, als Richtigkeit und als Gerechtigkeit ist also das Maß der
Dis-Position als solcher: das Maß des Abstands eines Ursprungs
zu einem anderen Ursprung .
In seiner Analytik des Mitseins * wird Heidegger diesem Maß
noch nicht gerecht . Zwischen der Indifferenz eines einfachen
»Zusarnrnenvorkornrnens« und einem authentischen »Verständ­
7
nis Anderer«6 , dessen Status so lange unbestimmt bleibt, wie es
sich weder um das negative Verständnis der Unaneigenbarkeit
des Tods anderer [autrui] noch u m die Mit-Bestimmung eines
Volks handelt, verweist das Thema der existentialen »Abstän­
digkeit«68 unmittelbar auf Wettbewerb und Herrschaft , u m mit
der ununters chiedenen Herrschaft des »Man« zu beginnen . Das
»Man« ist zu nichts anderem geschaffen als zu einer nivellieren­
den Verkehrung des allgerneinen Auf-Distanz-haltens aller ge­
genüber allen, das darauf hinausläuft , daß die Mittelmäßigkeit,
das gerneine Maß - gerneinsam im Sinn von gemein, durch­
schnittlich - dominiert , daß das »Gemein-Mittelmäßige« das we­
sentliche Gemeinsam-mit verdunkelt. So aber b leibt unerhellt,
wie eben gerade das Mit-sein wesentlich ist, wie es das Wesen
der Existenz mit-bestimmt.
Nun schreibt Heidegger selbst : »Als Mitsein >ist< daher das Da­
sein wesenhaft urnwillen Anderer. [ . . . ] Im Mitsein als dem exi­
stenzialen U rnwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon

6 7 . Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 26.


68. Vgl. ebd . , § 27.

1 27
erschlossen . « 69 Das Mit b ezeichnet also ein Sein-in-Hinsicht-auf­
ein-ander, so wie j eder Einzelne dort ist und dafür »offen«, das
heißt als Existierender konstituiert ist : als das Da, sprich als die
Öffnung des Seins, als ein »jedes Mal« dieser Öffnung, so daß es
keinerlei Öffnung gäbe (keinerlei S ein) , wenn das »Offene« sich
nicht gegenüber einem anderen »O ffenen« öffnen würde , wobei
die Öffnung selbst in nichts anderem besteht als in der Ko-Inzi­
denz der Öffnungen. D as-da-sein [etre-le-la] heißt nicht, einen
Ort dem Sein als ANDEREM zu öffnen, sondern es heißt öffnen/
offen sein für/durch die Pluralität der singulären Öffnungen.
»Mit« ist nicht »Liebe«, nicht einmal »Beziehung« im allgemei­
nen und auch nicht Gegenüberstellung von In-Differenzen, es ist
folglich die eigentliche Verfassung der Pluralität der Urspünge, in­
sofern sie ursprünglich sind, nicht die Einen der Anderen, nicht
die Einen für die Anderen, sondern die Einen im Hinblick auf die
Anderen oder mit Hinsicht auf die A nderen. Ein Ursprung ist
nicht Urs prung für sich, noch um sich in sich zurückzuhalten
(er würde nichts entspringen lassen) , noch um eine abgeleitete
Reihe zu überragen, worin ihr S ein vom Ursprung an sich ver­
löre : Ein Ursprung ist etwas anderes als ein Beginn , er ist zu­
gleich Prinzip und Entspringen [s urgissement], und darin wieder­
holt er sich als »fortgesetzte Schöpfung« in j edem Punkt , den er
urspringen läßt .
Wenn die Welt keinen Ursprung »außer sich« »hat«, wenn die
Welt ihr Ursprung oder der Ursprung selbst ist , dann ist der
Ursprung der Welt überall, in j edem Punkt der Welt . Er ist das
»j edes Mal« des Seins, und seine Verfaßtheit ist das Mit-sein von
j edem Mal mit allen Malen . Der Ursprung ist für und durch das
singulär Plurale aller möglichen Ursprünge . »Mit« ist das Maß ei­
nes Ursprungs-der-Welt als solchem , oder auch eines Ursprungs-

69. Ebd . , § 2 6 , S. 1 64 ( 1 2 3 ) . » Umwillen « * kann im Fra nzösischen übersetzt


werden mit »pour« , »en vue de« , en fonction de« , »en faveur d e«, »pour l ' amour
de« (um Got tes Willen ! * ) . [»Pour l ' amour de Dieu«, wörtl. »um der Liebe Gottes
Willen« , wird im Französischen wie der deutsche Ausdruck »um Got tes Wil len«
verwandt (A. d . Ü . ) ] .

1 28
des-Sinns als solchem . Mit-sein heißt gegenseitig Sinn hervor­
bringen, und nur so. Der Sinn ist das ganze Maß des inkommen­
surablen »Mit« . Das »Mit« ist das gesamte Maß des inkommensu­
rablen Sinns (des Seins) .

1 29
12. Körper, Sprache

Der Ursprung der Welt wird von der P luralität der Ursprünge
wesentlich zerstreut. Die Welt entspringt überall und in j edem
Augenblick - simultan. Derart entspringt sie aus nichts, und sie
»ist geschaffen«, wenn man es in dieser Sprache ausdrücken will
- aber man wird dies künftig so verstehen müssen: Sie ist nicht
das Resultat einer besonderen Produktionstätigkeit , s ondern sie
ist, insofern sie ist, als geschaffen, sprich: entsprungen, gekom­
men, gewachsen ([frz. cru:] cresco, creo) immer-schon von allen
Seiten [toutes parts] entsprungen, oder genauer : Sie ist selbst das
Entspringen des Eintretens des »immer-schon« und »aller S ei­
ten« . Jedes Seiende ist derart von (echtem) Ursprung an, j eder ist
ursprünglich (Entspringen des Entspringens selbst) und j eder ist
original (unvergleichbar, unableitbar) . Alle teilen sie j edoch die­
selbe Ursprünglichkeit und dieselbe Originalität: Diese Teilung
selbst ist der Ursprung.
Was er teilt, ist nichts von der Ordnung einer einzigen Sub­
stanz, an der j edes Seiende teilhat: Was geteilt wird, ist ebenso
sehr das , was teilt, was strukturell konstituiert ist durch die Tei­
lung und was wir »die Materie« nennen. Die Ontologie des Mit­
seins kann nur »materialistisch« sein, in dem Sinn, in dem
»Materie« nicht eine Substanz oder ein Subj ekt - auch nicht ein
Gegen-Subj ekt - b ezeichnet, sondern ureigentlich das, was von
sich aus geteilt ist, das, was nicht von sich unterschieden ist,
partes extra partes, ursprünglich undurchdringlich gegenüber j e­
ner vereinigenden und sublimierenden D urchdringung, die ein
»Geist«, ein Punkt ohne Dimension und ohne Teilung außerhalb
der Welt wäre . Die Ontologie des Mit-seins ist eine Ontologie des
Körpers , aller Körper - unbelebter, belebter, fühlender, spre­
chender, denkender, wiegender Körper. In der Tat , »Körper« be­
deutet vor allem: was außerhalb ist, als außerhalb , abseits, ge­
gen, bei, mit einem (anderen) Körper, mit dem Körper am
Körper, was zur Dis-Position steht. Nicht nur ein »Sich« gegen­
über einem »Anderen« , sondern zuerst als Sich, von sich zu sich:

131
aus Stein , aus H olz, aus Plastik oder aus Leder, ein Körper ist Tei­
lung und Aufbruch des Sich, zu sich, das Bei-sich , ohne welches
»sich« nicht einmal »ab-seits von sich« wäre. 70
Die Sprache ist (wie die Stoiker sagten) körperlos . Das Sagen ist
körperlich , als hörbare Stimme oder sichtbarer Strich , aber was
gesagt wird, ist körperlos, ist das ganze Unkörperliche der Welt .
Es ist nicht auf der Welt oder im Inneren der Welt als einem Kör­
per: In der Welt ist es das Außerhalb der Welt . Es ist das ganze
Außerhalb der Welt: nicht der Ausbruch eines ANDEREN , das die
Welt entführen oder erhöhen, sie zu etwas anderem ums chrei­
ben würde, sondern die Expo sition der Welt-der-Körper als sol­
che, das heißt als Singulär-plurale des Ursprungs. Das Körper­
lose exponiert die Körper gemäß ihres Mit-ein-ander-seins : nicht
isoliert, nicht vermischt [confondu], sondern unter sich als Ur­
sprünge . Die Beziehung der singulären Ursprünge untereinander
ist die B eziehung des Sinns . (Die Beziehung eines einzigen Ur­
sprungs zum Rest als entsprungen [origine] wäre eine Beziehung
des saturierten Sinns: keine Beziehung, sondern reine Konistenz,
und auch kein Sinn, sondern seine Wiederholung als Schleife,
die A nnullierung des Sinns, und das Ende des Ursprungs . )
D i e Sprache i s t d e r Exponent d e r pluralen Singularität . In i h r ist
das S eiende insgesamt als sein Sinn exponiert, das heißt als die
ursprüngliche Teilung, dernach Seiendes sich auf Seiendes be­
zieht, die Zirkulation eines Sinns der Welt, die weder Anfang
noch Ende hat, die der Sinn der Welt als Mit-sein ist, die Simul­
taneität aller Präsenzen , die alle die Einen in Hinsicht auf die An­
deren sind und von denen keine sich gehört [n 'est 0.. soi}, o hne
den Anderen zu gehören. Deshalb auch ist der Dialog oder we­
sentliche Polylog der Sprache identisch mit dem, wie wir mitein­
ander sprechen und mit dem, durch den ich zu »mir s elb st« spre­
che und dabei eine ganze »Gesellschaft« bin - eine Wahrh eit, in
der Sprache und als Sprache, stets simultan » wir« und »ich« , und
»ich« als »wir« ebenso wie »wir« als »ich« . Denn ich würde mir

7 0 . J . - L. Nancy, Corpus, Berlin , 2003 , S . 32 ff.

1 32
nichts sagen, wenn ich nicht mit mir wie mit zahlreichen Ande­
ren wäre , wenn dieses Mit nicht »in« mir wäre, i n mir selbst,
gleichzeitig wie »ich«, gerrauer als das Zur-gleichen-Zeit, dem ge­
mäß nur ich bin.
Gerrau an diesem Punkt läßt sich also bestens das Wesen der
Singularität wahrnehmen: Sie ist nicht die Individualität, sie ist
jedes Mal die Punktualität eines »Mit«, die einen gewissen Ur­
sprung des Sinns verknüpft und die ihn mit der U nendlichkeit
anderer möglicher Ursprünge verb indet. Sie ist also zugleich in­
fra- bzw. intra-individuell und trans-individuell, und immer b ei­
des zusammen. Das Individuum ist ein Knotenpunkt von Singu­
laritäten, die diskrete - diskontinuierliche und transitorische -
Exposition ihrer Simultaneität .
Deshalb gibt es nicht »die« Sprache, s ondern Sprachen, u nd
Rede (weisen) [paroles] , und Stimmen, eine singuläre ursprüng­
liche Teilung der Stimmen, ohne die es keinerlei Stimme gäbe . In
der unkörperlichen Exposition der Sprachen durchläuft das gan­
ze Seiende den Menschen . 7 1 Aber diese Exposition exponiert den
Menschen selbst außerhalb des Menschlichen, im Sinn der Welt,
im Sinn des Seins als Sinn-sein der Welt . Der »Mensch« ist - in
der Sprache - nicht das S ubj ekt der Welt, er repräsentiert es
nicht, er ist weder ihr Ursprung noch ihr Zweck. Er ist nicht ihr
Sinn, noch gibt er ihn ihr. Er ist der Exponierende, aber was er
derart exponiert, ist folglich nicht ihn selbst, den Menschen, son­
dern die Welt und sein eigenes S ei n-mit-allem-Seienden in der
Welt, als Welt. Deshalb ist er ebenso das Exponierte des Sinns :
als sprachbegabter ist der Mensch zuallererst wesentlich ex­
poniert in seinem Sein. Er ist dem unkörperlichen Außen und als
das unkörperliche Außen der Welt im Zentrum der Welt ex­
poniert, was dazu führt , daß die Welt in ihrer singulären Plurali­
tät »zusammenhält« oder »besteht«.

71. »Sprache, ob gesprochen oder geschwiegen, die erste und weiteste Vermen­
schung des Seienden. So scheint es. Aber sie gerade die ursprünglichste Ent­
menschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen und >Subjekt< und alles
Bisherigen.« Heidegger, Beiträge zur Philosophie, Frankfurt a. M., 1989, S . 5 10 .

1 33
Es ist nicht genug zu sagen, daß »die Rose ohne Grund wächst« .
Denn wenn die Rose allein wäre, schlösse ihr grundloses Wachs­
tum alle Gründe der Welt an sich, in sich ein . Aber die Rose
wächst grundlos, weil sie zusammen mit der Reseda, der Hek­
kenrose und der Distel - dem Kristall und dem Seepferdchen,
dem Menschen und seinen Erfindungen wächst . Und das Ganze
des Seienden, Natur und Geschichte, ergibt kein Zusammen, des­
sen Totalität ohne Grund oder nicht ohne Grund ist. Das Ganze
des S eienden ist sein eigener Grund, es gibt keinerlei andere, was
nicht heißt, das es für es-selbst Prinzip und Zweck ist, denn es
ist ja nicht es-selbst. Es ist seine eigene D is-Position als Pluralität
von Singularitäten. Dieses Sein ex-poniert sich also als das Zwi­
schen [entre} und als das Mit des Singulären. Sein, zwischen und
mit bedeutet dasselbe: es bedeutet genau das, was nicht gesagt
werden kann (und was man andernorts das »Unsagbare« nennen
würde) , das, was nicht präsentiert werden kann als ein Seiendes
unter [parmi] anderen , denn es ist das »unter« aller Seienden
(unter: drin , in der Mitte von, mit) , die alle und j edes Mal unter­
ein-ander sind. Sein besagt nichts anderes , und wenn folglich das
Sagen immer auf die eine oder andere Weise das Sein sagt, dann
wird umgekehrt das Sein nur im Unkörperlichen des Sagens ex­
poniert.
Was nicht bedeutet, daß das Sein »nichts als ein Wort« ist - son­
dern vielmehr, daß das Sein all das ist, was ein Wort [mot} ist
und macht, soll heißen : Mit-sein in j eder Hinsicht . Denn ein Wort
ist das , was es ist, nur im »Mit« der Worte [paroles} . Die Sprache
ist wesentlich im Mit . Jedes Wort ist Simultaneität von minde­
stens zwei Worten, dem gesagten und dem gehörten - und sei es
nur von mir selbst -, das heißt dem Erneutgesagten. Sobald ein
Wort gesagt wird , wird es erneut gesagt , und der Sinn besteht
nicht in der Übertragung eines Senders an einen Empfänger, s o n­
dern in der Simultaneität (zumindest) der beiden Ursprünge d e s
Sinns, d e s Sagens und d e s Wiedersagens.

1 34
Der Sinn ist, daß das , was ich sage , nicht bloß »gesagt« wird,
sondern um gesagt zu sein, in Wahrheit wiedergesagt zu mir zu­
rückkommt. Wenn es aber so zu mir zurückkommt - vorn Ande­
ren - ist dies auch ein anderer Ursprung des Sinns geworden . D er
Sinn ist der Übergang und die Teilung von Ursprung zu Ur­
sprung, singulär plural . Der Sinn ist die Ausstellung des Grunds
ohne Grund, der kein Abgrund ist, s ondern schlicht das Mit der
Dinge, die sind, insofern sie sind. Logos ist Dialog, aber der Dia­
log verfolgt nicht den Zweck, sich auf einen »Konsensus« hin zu
überschreiten, sein Grund ist, weiter zu spannen, nur das cum-,
das Mit des Sinns , die Pluralität seines Entspringens weiter aus­
zuspannen und ihm dabei Färbung und I ntensität zu geben. Es
genügt also nicht, dem Geschwätz die Authentizität eines Worts
voller Sinn entgegenzusetzen. Vielm ehr muß man im Geschwätz
den Unterhalt des Mit-seins als solchem ausmachen : I ndem man
sich - im Sinn der Diskussion - »unterhält« , »unterhält« man sich
- im Sinn des Fortbesteheus im Sein . Das Sprechen-mit exponiert
den conatus des Mit-seins , oder besser, es exponiert das Mit-sein
als conatus, als Anstrengung und Wunsch, sich als »Mit« aufrecht
zu erhalten, und folglich das , was von sich aus nicht stabile und
fortdauernde Substanz ist, sondern Teilung und Übergang. Und
in dieser Unterhaltung des Mit-seins muß man ausmachen, wie
die Sprache j edes Mal in j eder Bed eutung, den höchsten wie den
bescheidensten - und bis hi n zu den »phatischen« Bedeutungs­
losigkeiten (»Hallo«, »Tag« , »also . . . «) , die nur die Unterhaltung
selbst unterhalten - , das Mit exponiert und sich selbst als das Mit
exponiert , sich einschreibt und sich in ihm ausschreibt, bis zur
von Bedeutung entleerten Erschöp fung .
»Bedeutungsentleert« : das heißt , j ede Bedeutung an den Kreis­
lauf des Sinns zurückzugeben, an den Transport vorn Einen zum
Anderen , wobei es nicht um »Übersetzung« im Sinn des Erhalts
einer (auch veränderten) Bedeutung geht, sondern im Sinn einer
»Über-S etzung« , einer Verlängerung und Erweiterung von Sinn­
Ursprung zu Sinn-Ursprung. Deshalb geht diese immer in der Be­
deutung latente Erschöpfung - immer latent , und immer dem

1 35
Sinn selbst immanent : seine Wahrheit - in zwei entgegenge­
setzte Richtungen : in die des gemeinen Geschwätzes und in die
der absoluten poetischen Distinktion. Erschöpfung durch »phati­
sche« B edeutungslosigkeit und durch unaus schöpfbare Aus­
tauschbarkeit, oder Erschöpfung durch reine »apophatische »Be­
deutung, durch Erklärung oder Aufweisung (»Apophansis«) der
Sache selbst als eines unaustauschbaren, unveränderlichen Wor­
tes als die Sache selbst, aber als die Sache als solche. Vom Einen
zum Anderen ist es derselbe conatus: Das »Mit«, demzufolge wir
uns gegenseitig als »Eine« und als »Andere« exponieren, und da­
bei die Welt als Welt exponieren.
Die Sprache konstituiert und artikuliert sich aus »als«. Etwas zu
sagen, was auch immer es sei, heißt wovon auch immer das »als«
zu präsentieren . Unter dem Blickwinkel der Bedeutung heißt
dies, ein Ding als etwas anderes zu präsentieren (zum Beispiel
als sein Wesen , sein Prinzip, s einen Ursprung oder s einen
Zweck, seinen Wert, seine Bedeutung) - aber unter dem Blick­
winkel des Sinns und der Wahrheit heißt dies, das »als« als sol­
ches zu präsentieren, das heißt die Äußerlichkeit des Dings , s ein
Davor-sein, sein Sein-mit-allen-Dingen (und nicht sein Sein-in
oder sein Woanders-sein) .
Das »ich sage >eine Blume< . . . « von Mallarme besagt, daß dieses
Wort »die Blume« als »Blume« und als nichts anderes besagt, die
nur deshalb »in allen Sträußen abwesend« ist, weil ihr »als«
ebenso sehr die Präsenz j eder Blume in jedem Strauß als solche
präsentiert . Agamben schreibt: »Ein Denken, das das Sein als
Sein erfassen möchte, darf, wenn es auf das Seiende zurück­
kommt, diesem . . . [k] eine letzte Bestimmung geben, [ . . . sondern]
muß das Sein vermittels s eines als in einem So-Sein verstehen ,
um zur reinen Unverborgenheit, zur reinen Äußerlichkeit zu ge­
langen. Es sagt nicht mehr etwas als >etwas< , sondern bringt das
>als< selber zur Sprache .« 72 Jedes Wort führt dieses »als s elbst«
zum Wort , das heißt die gegenseitige Expo sition und Dispo sition

72 . Gi orgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2 003 , S . 93 .

1 36
der Singularitäten der Welt (eine Welt der Singularitäten, der ein­
zelnen Welten, der Welt-Singularitäten) . Die Sprache ist das Ele­
ment des Mit als solchem: Der Raum seiner Aussage - und diese
kommt, wiederum als solche, auf alle und auf niemanden zu­
rück, gelangt wieder auf die Welt und zu ihrer Ko-Existenz .
Wie La Bruyere sagte - und er war nicht der erste, der dies be­
merkt hat - ist »alles gesagt, und man kommt zu spät . . . « . Alles
ist gesagt, mit Sicherheit, denn alles ist immer schon gesagt wor­
den, aber alles muß gesagt werden, denn das Ganze als solches
muß immer wieder neu gesagt werden. Der Tod präsentiert die
Unterbrechung eines Sagens des Ganzen, und einer Totalität , die
besagt: Sie präsentiert, daß das Alles-sagen jedes Mal ein »alles
ist gesagt« ist, eine diskrete und transitorische Vollständigkeit .
Deshalb geschieht »für das Subj ekt« nicht der Tod - sondern nur
dessen Repräsentation. Deshalb aber wird »mein Tod« auch nicht
mit »mir« im schieren Verschwinden verschlungen. Sofern er,
wie Heidegger sagt, die »unüberholbare Möglichkeit des D a­
seins« ist, exponiert er die Existenz als solche. Derart geschieht
der Tod wesentlich als Sprache, und entsprechend äußert die
Sprache immer den Tod: sie äußert immer die Unterbrechung des
Sinns als ihre Wahrheit . Der Tod als solcher (und die Geburt als
solche) geschieht als Sprache: Er geschieht in und durch das Mit­
ein-ander-sein. Er ist die Signatur des »Mit« selbst: Der Tod ist
das , was nicht mehr »Mit« ist, und was gleichzeitig nach ge­
nauem Maß, nach rechtem Maß den Platz des inkommensura­
blen »Mit« einnimmt. Der Tod ist das »als« ohne Eigenschaft und
Zus atz : das Körp erlose als solches, und folglich die Ex-Position
des Körpers . Man wird geboren und man stirbt nicht als derj e­
nige oder diejenige , sondern als ein »als solcher«, ab solut , das
heißt als ein Sinn-Ursprung, losgelöst und absolut abgeschnitten,
wie es sich geziemt (unsterblich also) .
D araus folgt , daß man weder alleine ist, wenn man geboren
wird, noch, wenn man stirbt, oder vielmehr, daß die Einsamkeit
der Geburt/des Todes - j ene Einsamkeit, die nicht einmal mehr
eine ist - die genaue Kehrseite ihrer Teilung ist . Wenn es wahr

1 37
ist, wie noch einmal Heidegger sagt, daß ich nicht anstelle des
Anderen sterben kann, so ist es doch nicht weniger wahr und
von derselben Art Wahrheit, daß der Andere als mit mir Seiender
stirbt, und daß wir für einander geboren werden und sterben,
daß wir, ein-ander, uns dabei exponieren und j edes Mal nicht ex­
ponierbare Singularität des Ursprungs sind. Im Französischen
sagt man » mourir a« - an der Welt, am Leben [zugrunde gehen]
- ebenso wie >>naftre a« , [ erweckt werden zu] . 7 3 Der Tod gehört
zum Leben [la mort est a la viel - was etwas anderes ist als die
Negativität zu sein, die das Leben durchläuft, um aufzuerstehe n .
Um ganz genau z u sein: D e r T o d als fruchtbare Negativität i s t
derj enige eines einzigen S ubj ekts (als I ndividuum oder Art) . D e r
Tod , d e r z u m Leben gehört , d i e Ex-position als solche (das Ex- p o ­
nierte als Ex-poniertes w a s sich z u r Welt h i n dreht , was in d e r
=

Welt Kreise zieht, d a s nihil d e r »Schöpfung« selbst) kann n u r mit


sein, singulär plural .
In diesem Sinn ist die Sprache ureigentlich das, was Bataille
»die Praktik der Freude angesichts des Todes« nennt. Kein Ab­
wenden, keine Vereinbarung mit dem Unerträglichen des Tode s .
In diesem Sinn das Tragische selbst. Aber die Freude als die Ent­
blößung des Sinns , der den Ursprung entblößt: das singulär Plu­
rale als solches . Das Mit als solches, das heißt ebenso das So-sein
als solches : perfekt und einfach - unsterblich - sich selbst und
allen Anderen gleich, sich selbst gleich, weil und da es allen A n ­
deren gleich, wesentlich a l s o mit allem Anderen in dieser Gleich­
heit ist. »Gemeinsames Schicksal«, wie man sagt: Gemein haben
wir nur, daß wir es uns sagen (mit mir selbst gemein habe i c h
nur, d a ß i c h es m i r sage) , w i r tauschen a u s u n d tauschen nicht
aus , wir nicht-tauschen diese Extremität des Sagens i n allen Wor­
ten , wie das Wort selbst. Die Sprache exponiert den Tod: weder
negiert sie ihn noch bestätigt sie ihn, sie bringt ihn zur Sprach e ,

73 . Etwa: »mourir a u travail, a u monde«, an der Welt zugrunde gehen; »naftre


a la vie intellectuelle« zum intellektuellen Leben erweckt werden (A. d. ü .)
.

1 38
und er ist nichts anderes als dies , das, was seinem Wesen nach
zur Sprache gebracht wird - und was sich dort h ält.
»In mir spricht der Tod. Mein Wort ist die Ankündigung, daß
der Tod genau in diesem Moment i n die Welt entlassen worden
ist, daß er zwischen mir, der spricht und dem Sein, das ich an­
rufe, plötzlich aufgetaucht ist: Er ist unter uns als die D istanz, die
uns trennt, doch ist diese Distanz auch das, was verhindert , daß
wir getrennt werden, denn er ist die Bedingung j edes Einver­
ständnisses .«74 »Die Literatur« ist folglich die Sprache in der
Spannung von Geburt und Tod, weil und insofern sie in der
Spannung zwischen Ansprache, Einverständnis und der Unter­
haltung steht - und da sie es als Erzählung, als Diskurs und als
Gesang ist (welche ihrerseits die D is-Position der Sprache selbst
bilden: ihre Äußerlichkeit an/in sich, ihre Teilung nicht nur der
einzelnen Sprachen, sondern auch der Stimmen , der Arten oder
der Färbungen, vielfache Teilung, ohne die es kein »als« im
allgemeinen gäbe) . »Literatur« besagt: Gemeinsam-sein dessen,
was ohne gemeinsamen Ursprung ist, aber ursprünglich gemein­
sam oder mit .
Deshalb impliziert, wenn die eigene Beziehung zum Tod nach
Heidegger darin b esteht , »sein eigenstes Sein von ihm selbst her
aus ihm selbst zu übernehmen«/5 diese Übernahme entgegen der
Versicherung eben j enes Heidegger durchaus nicht, daß »j edes
Mitsein mit Anderen versagt« . 76 Wenn das Mit-sein dem Sein taut
court wirklich mit-wesentlich oder vielmehr im Sein selbst ist,
dann ist die eigenste Möglichkeit mit-wesentlich eine Möglich­
keit des Mit und als Mit. Mein Tod ist eine Mit-Möglichkeit, ist
die »eigenste« der eigenen Möglichkeit der anderen Existieren-

74. Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin, 1 9 82
( 1 949) . Aber dies durchzieht das gesamte Werk von Blanchot, der nicht auf­
hört , von diesem Wort des Todes zu sprechen, das heißt der »einzigen Geburt«
der Sprache des Werks, wo das Werk sich ent-werkt (»L' ceuvre de la communi­
cation«, in: L 'espace litteraire, Pari s , 1 9 5 5 , S . 277) .
7 5 . Sein und Zeit, § 5 3 , S. 263f.
76. Ebd . S . 263 .

1 39
den . Er ist, er »wird« mein Tod »sein« in ihrem Wort , das sagt : »Er
ist tot«: Insofern ist er, wird er nirgendwo anders sein. Er ist
»meine« Möglichkeit insofern als sich in ihm die Möglichkeit des
»Mein« entzieht : das heißt insofern als diese »Jemeinigkeit« darin
zurückgesetzt wird in das singulär Plurale der immer-anderen­
MeinheiL Im »er ist tot« ist wohl vom Sein - und als Mit-sein -
die Rede.
»Der Tod« ist also nicht die Negativität , und die Sprache kennt
nicht, noch praktiziert sie die Negativität (außer der logischen) .
Negativität ist die Operation, die die Setzung des Seins ent-setzen
will, um es zum Opfer, zum fehlenden Obj ekt des Verlangens ,
zur Eklipse des Bewußtseins oder zur Entfremdung werden zu
lassen - und folglich nie zum Tod ebensowenig wie zur Geburt,
sondern nur zur Übernahme einer unendlichen Unterstellung:
Das Sein ist unendlich sich selbst voraus-gesetzt , und sein Pro­
zeß ist die Wiederaneignung dieser Voraussetzung, die stets dies­
seits und stets j enseits ihrer selbst und deshalb tätige Negativität
ist . Doch verhält es sich ganz anders , wenn das Sein Dis-Posi­
tion, singuläre Pluralität ist. Der Abstand der Dis-Position ist
nichts : Dieses »Nichts« ist von nichts das Negative. Es ist das Un­
körperliche, wodurch bzw. demnach die Körper miteinander, die
Einen bei den Anderen sind , Seite an Seite, die einen im Kontakt
und (folglich) in Abstand zu den Anderen . Dieses Nichts ist res
ipsa, die Sache selbst: die Sache als das Sein-selbst, das heißt das
So-sein von allem Seienden , die gegenseitige Exposition der Sei­
enden, die nur von und in dieser Exposition existieren. So ist
ein Demonstrativpronomen : Das S o-sein ist das demonstrative
Wesen des Seins: das Seiende, das sich dem Seienden und im Mi­
lieu des Seienden zeigt .
Ob gewollt oder nicht , alles Denken der Negativität führt zum
selben Punkt (zumindest wird er gestreift , auch wenn solches
Denken es zuweilen ablehnt, sich dabei aufzuhalten) : an diesem
Punkt, wo das Negative selbst, um das Negative zu s ein (um ni­
hil negativum und nicht nur nihil privativum zu sein) , sich s einer
eigenen Operation unterziehen und für sich selbst b estätigt wer-

1 40
den muß, restlos - oder im Gegenteil bestätigt als der abs olute
Rest, den nichts eingliedert in eine Prozeß- oder Operationskette
(das ist der nichtoperative kritische Punkt, der im Zentrum der
Dialektik in der Schwebe bleibt) . Die Selbst-Präsupposition wird
unterbrochen, eine Synkope des Prozesses und seines Denkens
stellt sich ein: Synkope und plötzliche Verkehrung der Supposi­
tion in Dis-Position. Die Dis-Position ist dasselbe wie die Suppo­
sition: In gewissem Sinne ist sie das absolut Vorausgehende, und
das »Mit« ist immer schon gegeben . Aber sie ist nicht »darunter
gesetzt«, sie ist den Positionen nicht präexistent, sie ist ihre Si­
multaneität . Das Nicht-sein des Seins - sein Sinn - ist seine Dis­
Position. Das nihil negativum ist das quid positivum als singulär
Plurales: das heißt, insofern als keinerlei quid, keinerlei Seiendes
ohne mit gesetzt ist . Es ist ohne (im Abstand) in dem exakten
Maß, in dem es mit ist: gezeigt und aufgezeigt im Mit-sein, dem
Beweis der Existenz.
So ist auch das Böse nie in etwas anderem als in einer Opera­
tion, die das Mit ausfüllt . Man kann das Mit ausfüllen, indem
man es auffüllt oder indem man es entleert: Man kann es einem
Grund der Fülle und der Kontinuität oder aber einem Abgrund
der Intransivität zurechnen . I m ersten Fall wird das Singuläre ein
Partikulares in einer Totalität - und ist nicht mehr singulär noch
plural; im zweiten Fall existiert das Singuläre nur ab-seits von
sich, und folglich als Totalität - und es ist auch nicht singulär
oder plural . In beiden Fällen lauert am Horizont der Mord,
sprich: der Tod als operative Negativität des Einen, der Tod als
Werk des Einen-Ganzen oder des E inen-Ich. Eben deshalb ist der
Tod das Gegenteil des Mords : Er ist das inoperative, aber existie­
rende »Mit« (und der Mord verfehlt den Tod, unweigerlich) .
Das »Mit« ist weder Grund noch ohne-Grund . Es ist - nichts als
Mit-sein, das unkörperliche Mit des Körper-seins als solches. Be­
vor die Sprache Wort , Einzelsprache, Verbalität oder Bedeutung
wird, ist sie dies : die Erweiterung und die Simultaneität des
»Mit« , insofern die eigentlichste Kraft eines Körpers in dessen Ei­
genschaft besteht , einen anderen Körper zu berühren (oder sich

141
zu berühren) , was nichts anderes ist als seine De-Finition als
Körper. Er kommt zum Ende - hört auf und vollendet sich in ein
und derselben Geste - dort, wo er mit-ist.
»Sprechen mit« in diesem Sinne, eher als sprechen-zu oder zu­
sich- sprechen , eher als »sagen« (verkünden, benennen) und aus­
sprechen ( weitertragen, ans Tageslicht des Sinns bringen) , »spre­
chen mit« als die Unterhaltung und der conatus eines Exponiert­
seins, das kein Geheimnis exponiert, abgesehen von s einer Exp o ­
sition selbst. »Sprechen mit« , wie man sagt »schlafen mit« , »aus­
gehen mit« (co-ire) oder »leben mit« : ein (Eu-) Phemismus , u m
(nicht) nichts geringeres z u sagen als das , was das »Sagen­
Wollen« auf alle Arten sagen will, das heißt das Sein selbst als
Kommunikation, und das Denken, wie es genannt wird : co-agita­
tio des Seins . Die »Sprache« ist kein Instrument der Kommunika­
tion, und die Kommunikation ist kein Instrument für das Sein :
Die Kommunikation ist aber genau das Sein, und das Sein ist
folglich nur das Unkörperliche, worin die Körper ein-ander als
solche ankündigen .

1 42
13. Ko-existenziale Analytik

Die existenziale Analytik von Sein und Zeit ist das Unterneh­
men, in dessen Schuld das gesamte spätere Denken steht, ob es
sich um Heideggers Denken selbst o der unsere D enkansätze h an­
delt - welche auch immer, und in was für einem Verhältnis des
Konflikts oder der Überschreitung sie sich zu Heidegger selbst se­
hen mögen. Diese Behauptung77 ist keineswegs ein B ekenntnis
zum »Heideggerianismus«, gegen die armseligen Zurechnungen
zu Schulen ist sie völlig immun. Sie bedeutet auch nicht, daß
diese Analytik definitiv wäre, sondern daß sie, so wie sie ist, das
seismische Beben eines endgültigen Bruchs in der Konstitution
und Betrachtung des Sinns vernommen hat (vergleichbar zum
Beispiel mit dem des »cogito« oder der »Kritik«) . Gerade deshalb
übrigens ist sie nicht vollendet, sondern die von ihr ausgelöste
Erschütterung ist bis zu uns spürbar .
Nun bleibt die Analytik des Mitseins * dort nur skizziert und un­
tergeordnet, während der Zug des Mitseins * doch als dem Da­
sein * mit-wesentlich gegeben ist. In dieser Hinsicht birgt die
existenziale Analytik wohl das Prinzip einer Verschließung ge­
genüber seiner eigenen Eröffnung. Wiederzueröffnen und voran­
zutreiben ist daher ein Übergang, des sen Obstruktion ganz ohne
Zweifel die Füllung und Einfaltung des Mit-seins durch das
»Volk« und sein »Schicksal« bestimmt hat . Das soll nicht heißen,
daß es darum ginge , eine nur skizzierte Analyse zu »vollenden«
oder dem Mitsein * den ihm gebührenden »prinzipiellen« P latz zu
verschaffen. Das Mitsein entgeht der Vollendung und der prinzi­
piellen Position wohl »aus Prinzip« . Aber man muß an die Skizze
noch einmal herangehen und die Linien soweit nachziehen, bis
deutlich wird, daß die Mit-Wesentlichkeit des Mit-Seins nichts
Geringeres ins Spiel bringt als eine Mit-Ursprünglichkeit des
Sinns - und daß »der Sinn des Seins« nicht das wäre, was er ist,
das heißt nicht »Sinn« und vor allem nicht sein eigenes »Vor-Ver-

7 7 . Wofür in Fülle Beweise zu erbringen leicht, aber mühsam wäre.

143
ständnis« als Verfaßtheit der Existenz, wenn er nicht als Mit ge­
geben wäre. Auf gewisse Art gibt es nur »Sinn« aufgrund eines
»Selbst« (die subj ektive Formel der I dealität des Sinns: Es ge­
schieht für und durch ein »Selbst«) . Aber »Selbst« gibt es nur auf­
grund eines »Mit« , das es in Wahrheit strukturiert : Dies müßte
das Axiom einer nunmehr ko-existenzialen Analytik sein.
»Selbst« ist nicht die Beziehung eines »Ich« zu »sich-selbst«. 7 8
»Selbst« ist ursprünglicher als »ich« und »du«. Vor allem andern
ist »selbst« nichts anderes als das »als s olches« des S eins im all­
gemeinen. Das Sein ist nichts als sein eigenes »als Sein« . Das
»als« überkommt es nicht, es fügt sich ihm nicht hinzu und es
verdoppelt es auch nicht: Es ist es, in konstitutiver Weise. Das
Sein ist also sofort , unmittelbar, mit sich vermittelt, selbst Ver­
mittlung . Vermittlung ohne Instrument - und folglich nicht dia­
lektisch: dia-lektisch ohne Dialektik. Arbeitslose Negativität,
nichts vom Mit und nichts als Mit. Mit als Mit : nichts als Exposi­
tion des Als-solches-sein, j edes mal singulär Solches und folglich
immer plural Solche.
Dem »ich« und »du« vorgängig ist das »Selbst« als ein »uns«, das
weder kollektives Subj ekt noch »Intersubj ektivität« ist, sondern
die unmittelbare Vermittlung des Seins als »Selbst« [etre en
»soi«] , die plurale Faltung des Ursprungs. (Ist dann gar die Ver­
mittlung selbst das Mit? G ewiß, sie ist es. »Mit« ist die Permuta­
tion dessen, was auf seinem Platz bleibt, j eder/s Eine und j edes
Mal . »Mit« ist die Permutation ohne Anderes. Anders ist immer
der Vermittler: Sein Prototyp ist Christus . Hier geht es dagegen
um Vermittlung ohne Vermittler, das heißt ohne »Macht des Ne­
gativen«, und folglich ohne die beachtliche Kraft, seinen eigenen

78. Ich folge hier den Hinweisen der Beiträge, ebd. , S . 3 1 9ff, um dann im fol­
genden einen bekannten Verweisungszusammenhang aus Sein und Zeit auf­
zunehmen und dafür eine Neufassung vorzuschlagen, in der das Mitsein *

tatsächlich mit-wesentlich und ursprünglich wäre. Man muß Sein und Zeit neu­
schreiben: Das ist keine lächerliche Anmaßung, und es ist auch nicht »meine« ,
es ist dies die Notwendigkeit größerer Werke, insofern als sie die unseren sind.
Zu dieser Notwendigkeit gehört auch, man wird es mühelos erraten, die Auf­
gabe einer politischen Neufassung.

1 44
Widerspruch, der das Subj ekt bestimmt und verschließt, in sich
zu bewahren. Die Vermittlung ohne Vermittler vermittelt nichts :
sie ist mi-lieu /9 Ort [lieu] der Teilung und des Übergangs, das
heißt schlicht Ort, in absoluter Weise. Nicht Christus, sondern nur
ein solches Mi-lieu : und dieses wäre nicht mehr das Kreuz, son­
dern nur die Kreuzung, der Knotenpunkt und der Abstand, die
Bestirnung auf der Dimension der Erde selbst. Es wäre der Höhe­
punkt und der Abgrund einer Dekonstruktion des Christentums:
die Dis-Lozierung des Okzidents) .
»Selbst« bestimmt das Element, in dem »ich« und »du« und
»wir«, und »ihr« und »sie« sich b efinden können . »Selbst« be­
stimmt das »als« des Seins: Wenn es ist, so ist es, insofern als es
ist . Es ist »an sich« Selbst [»(I soi«], keinerlei »Ichheit« , keinerlei
präsentierbarer Eigenschaft ist vorgängig. Es ist das » (insofern)
als« von allem, was ist. Es ist keine präsentierbare Eigenschaft,
denn es ist die Präsentation selbst. Die Präsentation ist weder
eine Eigenschaft noch ein Zustand, sondern das Ereignis , die An­
kunft von etwas: von seiner Ankunft auf der Welt, aber die
»Welt« selbst ist das Geometrale oder das Exponierende aller An­
künfte.
In seiner Ankunft eignet sich das Existierende an: Es wird we­
der von einem, noch einem »Selbst« angeeignet (dieses Selbst
könnte sich nicht vorausgehen, ohne die Ankunft in sich zurück­
zunehmen und zu neutralisieren) . Was seinem »Selbst« vor sich
zuwächst: Es hat es da (das heißt »Dasein« * bei Heidegger) . Da,
das heißt da unten in raum-zeitlicher Distanz (der Körper, die
-

Welt der Körper, die Körper-Welt) . Seine Aneignung ist Trans­


port und Trans-Eignung in diesem Abstand des Da: Ein solches
ist das aneignende-Ereignis (»Ereignis« *) . Aber diese Bezeich­
nung bedeutet, nicht , daß es ein Ereignis gibt , woraus das »ei­
gen (tlich) e Selbst« hervorkäme wie ein Springteufel aus seiner
Schachtel , sondern daß die Ankunft in sich selbst und durch sich
selbst als solche aneignend ist . (Folglich die Eigenschaft, die sie

79. Wörtlich etwa: Orts-Mitte (A. d . Ü . ) .

1 45
in sich s elbst di fferierend [differant] eröffnet) . Deshalb prä-exi­
stiert das »Selbst« (sich) nicht. »Selbst« ek-sistierend als sol­
=

che s .
In d e m Maß, wie »Selbst« - die »Ip seität« - »zu sich« heißt, Be­
ziehung zu sich, Rückkehr in sich, Präsenz zu sich so wie dem
»Selben« gegenüber (der Selbstheit des »als solchen« gegenüber) ,
ko mmt die Ipseität an, das heißt kommt zu sich an, als Ankunft
[venue] , und die Ankunft ist Zuvor-kommenheit [pre-venance] ,
was weder Präexistenz noch Vorsehung ist, sondern im Gegen­
teil Über-kommenheit [s ur-venance], Überraschung und Zurück­
setzung zum »Kommen« als solchem, zur Zu-kunft. »Selbst« ist
weder vergangen gegeben noch zukünftig gegeben: es ist das
Präsente der Ankunft , das präsentierende Präsente, das Zu-s ein­
kommende und derart zum Sein kommende. Dort, wo es kommt,
ist dies also nicht »an sich« wie im Inneren eines disponierten Be­
reichs, s ondern es ist »bei-sich«. 80 Bei sich: im Abstand der Dis­
Position, im allgemeinen Element von Nähe und Sichentfernen,
die sich an nichts messen lassen, da nichts als Fixpunkt der
Ipseität gegeben ist (vorh er, nachher, außerhalb der Welt) , und
die sich folglich an der Dis-Po sition selbst messen lassen.
Auf Anhieb , auch wenn man sie in der Art eines einzigen und
solitären »Selbst« betrachtet, ist die Struktur des »Selbst« Struktur
des »Mit« . Der Solipsismus, wenn man diese Kategorie verwen­
den will, ist singulär plural . Jeder ist bei-sich insofern und weil
er bei-anderen ist. »Wir« sind also zuerst die Miteinander: weder
als versammelte Punkte noch als aufgeteiltes Zusammen, son­
dern als ein Mit-ein-ander-sein. Das Mit-sein ist genau dies e s :
d a ß d a s Sein, oder vielmehr, d a ß sein sich weder a l s gemei nsame
Resultante der Seienden versammelt noch sich als ihre gemein­
same Substanz aufteilt . Sein ist nichts Gemeinsames , so ndern

80. »Bei sich« * : Man müßte einmal zumindest ab Hege! das fo rtlaufende Zu­
sammenvorkommen, die gegenseitige Verstrickung und den Abstand in der
grundlegenden Struktur des »Selbst«, des »an sich«, des »bei sich« und des »an
sich selbst« aufnehmen. Das » Für sich«, wo es ankommt und wenn es an­
kommt, ist davon nur die Resultante.

1 46
nichts als der Abstand, wo sich das Gemein-same dis-poniert und
mißt, das heißt das Mit, das Bei-sich des Seins als solchem, das
von seiner eigenen Transitivität von Teil zu Teil überschrittene
Sein: Sein, welches alle Seiende ist, nicht als ihr individuelles
und/oder gemeinsames »Selbst«, sondern als die Nähe, die sie
auf Abstand hält.
Die Seienden berühren sich : sind in Kon-takt miteinander, dis­
ponieren und unterscheiden sich derart . Das Seiende, das man
sich nicht unterschieden vorstellen möchte, nicht-disponiert,
wäre tatsächlich ununterschieden, und indisponibel: eine abso­
lute Leere des Seins . Deshalb ist die ontologische Instanz oder
die ontologische Ordnung notwendig: »Sein« ist nicht das Sub­
stantiv des Bestehenden [consistance], es ist das Verb der Dispo­
sition. Nichts besteht , weder »Materie« noch »Subj ekt« . »Materie«
und »Subjekt« sind tatsächlich, man versteht es, nur die beiden
ein-ander korrelierenden Sub stantive, die im Modus des B este­
henden auf die ursprüngliche Verräumlichung der allgemeinen
ontologischen Dis-Position verweisen.
»Das-da-sein« (Dasein *) ist also Sein entsprechend dem transi­
tiv verbalen Wert der Dis-Position: Das-da-sein heißt das Sein
selbst dis-ponieren, als Abstand/Nähe , heißt die Ankunft von al­
lem mit allem als solchem s ein »lassen« oder »zulassen« . Dasein *
(der Mensch als Exponierender des Seins) exponiert derart das
Sein als Sein.
Es tritt j emand in ein Zimmer ein; bevor er das eventuelle Sub­
j ekt einer Repräsentation dieses Zimmers ist, disponiert er sich
selbst in ihm und zu ihm, und so, wie er es durchquert, bewohnt,
besucht, usw . , er exponiert davon die Disposition - die Korrela­
tion, die Kombination, den Kontakt , die Distanz, das Verhältnis
von all dem, was das bzw . was in dem Zimmer ist, also des Zim­
mers selbst. Er exponiert die Simultaneität, von der er im Augen­
blick selbst der nehmende Teil ist und worin er sich exponiert,
soweit er sich exponiert und soweit er dort exponiert ist. Er ex­
poniert sich: Auf diese Weise ist er »selbst« , das heißt , daß er es
ist - oder daß er es wird - , sooft und j edes Mal wenn er in die

1 47
Disposition eintritt . Dieses »jedes Mal« ist nicht die Erneuerung
der Erfahrungen oder der Umstände eines und dess elben Sub­
j ekts : Soweit »ich« »der Selbe« bin, bedarf es immer eines ande­
ren Mals, wo ich mich entsprechend j ener »Selb stheit« dispo­
niere. Was seinerseits impliziert, daß ein anderes Mal im
allgemeinen, das heißt, daß andere Male unbestimmt nicht nur
möglich, sondern wirklich sind: D as »j edes« des »j edes Mal« -
das Statt-finden des da und als da ist impliziert, nicht in erster
-

Linie als Folge des Identischen, sondern als Simultaneität des


Di fferenten [different] . Das Zimmer ist gleichzeitig das Zimmer,
in dem ich, auch wenn ich allein bin, bei - neben, entlang von -
all j enen anderen Dispositionen (Beschäftigungen, Übergängen)
bin . Man ist nicht in der Dispo sition , ohne mit der anderen-Dis­
po sition zu sein, die das Wesen der Dis-Position selbst ist. Die
»Male« sind dis-kontinuierlich, aber in dieser Diskontinuität sind
sie ihr Mit-ein-ander-sein. »Jedes Mal« ist die singulär-plurale
Struktur der Disposition. »Jedes Mal meines« bedeutet also zu­
erst »j edes Mal seines«, das heißt »j edes Mal mit« : Die »Meinig­
keit« ist selbst nur die beilä ufige [occurrente] Möglichkeit in der
mit-la ufenden [con-currente] Wirklichkeit des Jedes-mal-mit-sein.
Aber die Welt ist nicht ein Zimmer , in das man eintreten kann,
und man kann auch nicht mit der Fiktion eines Jemand b egin­
nen, der sich allein auf der Welt befindet : Im einen wie im ande­
ren Fall würde man den Begriff der Welt selbst zerstören . Dieser
Begriff ist derj enige des Mit-seins als ursprünglichem. Das heißt,
als Sinn, wenn der Sinn (des Seins) die Dis-Position als solche ist:
die Struktur des Mit, die diej enige des Da ist . Das Mit-sein läßt
sich nicht ans Da-sein anfügen : aber da sein ist mit sein, ist Sinn
erzeugen - weiter nichts , es gibt keine Subsummierung dieses
Sinns unter eine andere Wahrheit als die des Mit . Im Mit-sein
und als Mit-sein haben wir immer schon begonnen, den Sinn zu
verstehen, uns und die Welt als Sinn zu verstehen . Und dieses
Verständnis ist immer-schon voll endet , voll, ganz und unend­
lich . Wir verstehen uns unendlich, wir und die Welt, und nichts
anderes .

1 48
»Mit« ist weder unmittelbar, noch vermittelt. D er Sinn, den wir
verstehen, so wie wir ihn verstehen, ist nicht das Produkt einer
Negation des Seins , das dazu bestimmt ist, es uns als Sinn zu re­
präsentieren, und es ist auch nicht die reine und einfache eksta­
tische Bekräftigung seiner Präsen z . »Mit« verläuft nicht vom
Selbst zum Anderen, noch vom Selbst zum Selbst, noch vom An­
deren zum Anderen . In gewisser Weise »verläuft« »mit« nicht ,
setzt keinen Prozeß in Gang. Aber da ist das Zusammenvorkom­
men, die Berührung und das Sich-kreuzen, das In-etwa der ent­
fernten Nähe. Sobald wir versuchen, es zu bewerten, b ietet sich
uns ein verhuschtes, verstörtes Zusammenvorkommen (so, als
würden wir auf dem Markt, i n einem B ahnhof oder auf dem
Friedhof fragen, was von j enen hunderten Leuten, ihrem Han­
deln und ihrer Trägheit der Sinn und die Werte sind) . Aber der
Sinn des »Mit« - oder das »Mit« des Sinns - kann nur in und
durch das »Mit« selbst bewertet werden, in einer Erfahrung, die
nichts von sich selbst, von ihrer singulären Pluralität abziehen
kann. Wir verstehen , indem wir uns verstehen, daß es nichts zu
verstehen gibt - aber dies heißt präzise: daß es keine Aneignung
des Sinns gibt, weil der »Sinn« die Teilung des Seins ist. Es gibt
keine Aneignung, folglich gibt es keinen Sinn. Dies genau ist un­
ser Verständni s . Es handelt sich dabei nicht um eine dialektische
Operation (derzufolge »nichts zu verstehen« »alles zu verstehen«
hieße) , es handelt sich auch nicht um ein Sich-versetzen in den
Abgrund (das Nichts des Verstehens selbst zu verstehen) , noch
um eine Reflexivität (verstehen, um für alles Verständnis zu ha­
ben, damit wir uns verstehen) - sondern all dies zusammen auf
andere Weise neu aufgeführt: als Ethos und als Praxis .
Um es in Kantschen Worten zu sagen , wenn die reine Vernunft
aus sich heraus praktisch ist (und nicht in Bezug oder mit Rück­
sicht auf irgendeine transzendente Norm) , dann deshalb , weil sie
ihrem Wesen nach »gemein (sam) e Vernunft« ist; was heißt : das
»Mit« als Vernunft, als Grundlage . Es gibt keinen Unterschied
zwischen Ethik und Ontologie: die »Ethik« exponiert, was die
»Ontologie« disponiert.

1 49
Unser Verständnis (des Sinns des Sein) ist ein Verständnis, daß
und weil wir es - in einem Zug - uns teilen: mit allen, gleich­
zeitig, alle, Tote und Lebende und alle Seienden.

1 50
Anhang:

Das Mit- sein des Da-seins 1

Der Titel mag lächerlich klingen, aber das nehme ich in Kauf.
Ich will damit die Aufmerksamkeit auf das folgende Problern len­
ken: Dem Heideggerschen Dasein * , das man im Französischen
unter »l'Etre-la« sofort wiedererkennt, haftet per definitionern die
konstitutive oder ursprüngliche Eigentümlichkeit an, in identi­
scher Weise »Etre-avec« oder Mitsein * zu sein. Genau genom­
men führt Heidegger auch den Terminus Mitdasein * ein. Bei ei­
nem Leser, der sich nicht regelmäßig an die Lektüre von Sein und
Zeit macht, stößt letzterer sicherlich auf keinerlei Resonanz, und
die Resonanz auf den vorhergehenden dürfte ziemlich schwach
sein . Obwohl beide im Text dieses Werks durchaus angezeigt
und wiederholt werden, kommen sie in dem Bild, das von sei­
nem »System« oder seiner »Ökonomie« an die Oberfläche dringt,
gewöhnlich nicht vor (von D asein abgesehen, im Gegensatz zu
»Sorge«, »Angst«, »Welt« , »Sein-zum-Tode« , usw . ) . Dies ist kein
Zufall, sondern ein Umstand, der dem Text selbst geschuldet ist,
in dem für diese Termini, auch wenn sie vorhanden sind, bei
weitem nicht die Analysen aufgeboten werden, die nötig wären
und sich an Ausf:ührlichkeit und Akribie mit denen der H auptbe­
griffe messen könnten. Und doch sind Mitsein * und Mitdasein *
im Wesen des Daseins * als mitwesentlich gesetzt, d. h. in ihrer
Eigentümlichkeit des Existierens, wo das Sein nicht ontologische
Grundlage ist, sondern von seinem eigentlichen Seinssinn aus als
eigentlicher Sinn des Seins ins Spiel gebracht wird .
Das Mitsein und genauer: das Mitdasein bildet also eine We­
sensbedingung für dieses Wesen des D aseins . Wie? Eben dies ist
nicht gerade leicht freizulegen wegen der Grenzen der Analyse,
die der Text aufweist (und dem, wie hinzuzufügen ist, das spä-

1. Das französische Original »L' etre-avec de l' etre-la« ist erschienen in: lieu­
dit. Revue, Nr. 1 9 , Lyon , Oktober 2003.

151
tere Werk Heideggers praktisch keinerlei zusätzliches Element
hinzufügt, auch wenn er das fragliche Motiv nicht völlig aus­
läßt .) Warum stößt man hier auf Widerstand, und warum bleibt
dieser Punkt vergleichsweise dunkel? Warum bietet die Analytik
des Daseins den Zugang zu einer ihrer wesentlichen Dimensio­
nen nicht ausdrücklich und vertieft auf?

Meine Frage muß sicherlich selbst erst verfeinert und entfaltet


werden, denn sie wirft nichts geringeres in die Waagschale als
eine aufmerksame Relektüre des gesamten Werks, die durchaus
dazu führen könnte, daß das, was auf dem Spiel steht, also der
»Sinn des Seins«, völlig neu reformuliert werden muß . Im Augen­
blick will ich j edoch auf wenigen Seiten nur die Umrisse einer
künftigen Analyse vorstellen. Ich werde dies so kurz wie irgend
möglich tun, und ohne in die Details des Textes einzudringen : Es
erscheint mir erstrebenswert, daß zunächst das Prinzip eines
später folgenden Kommentars freigelegt wird .

1) Dasein *

Das Dasein * ist dadurch charakterisiert , daß sein eigen (tlich) es


Sein in seinem Sein selbst ins Spiel gebracht wird : Sein heißt für
es, daß es sein Sein ins Spiel bringt , daß es dieses als ein s olches
exponiert, das es das, was es ist, zu sein hat und nicht werden
muß, denn es »ist« sein »zu-sein« oder sein »Gewesensein«, s ein
Außersichsein. Es hat nicht zu werden, s ondern muß im Akt
selbst dahin gelangen , sich einer wesentlichen Unwesentlichkeit
anzunehmen , deren Sinn es ist, sich voraus oder exponiert , ins
Spiel gebracht worden zu sein.
Dieses, das Dasein * in seiner Eigentümlichkeit als Da-sein * , das
Da zu sein, ist (oder vielmehr hat es zu sein) das »Da« einer Er­
öffnung, d . h . einer eigenen Weise (»j edes mal die s eine«) , sich
sein zu lassen oder sich zu entschließen, derj enigen Ex-po sition
entsprechend zu sein, die zugleich auch sein In-der-Welt-sein

1 52
formt. (Lassen 1 entschließen: zwei Seiten, zwei Möglichkeiten
oder zwei Aspekte ein und derselben Exposition. Es h at das sin­
guläre »Da« einer eigenen Art zu sein, etwas in die Welt zu set­
zen, d.h. eine Totalität des Sinns herzustellen oder zu ihr hin zu
eröffnen. Insgesamt konstituiert das Da * des Seins * seine Expo­
sition. Man kann also sagen : Dasein * ist eine singuläre , einzig­
artige Möglichkeit, einen Eigensinn der Welt und/oder die Welt
eines Eigensinns sich eröffnen zu lassen (zu tun und zuzulas­
sen) . Die wesentliche Eigentümlichkeit dieses Sinns ist, daß sein
letzter Sinn die eigene Nichtung ist. Der Tod, die Beendigung die­
ses Da * , ist ebenso sehr dieses Da *, das zu nichts mehr eröffnet
außer zur eigenen Offenheit. Sich diesem Horizont, der gerade
kein Horizont ist , diesem endlichen horos eines unendlichen
apeiron a-qszusetzen, gerrau dies ist das Ansinnen des Ansin­
nens. Insgesamt heißt das, meines aus dem zu machen , was es
nicht sein kann, oder mich zur und von der Spitze der Jemeinig­
keit ent-aneignen [desapproprier] zu lassen (die verkehrte Ver­
sion des Hegeischen Tods) .

2) Mitsein * und das Problem

Übrigens ist das Dasein * wesentlich Mitdasein *. Vor allem an­


deren ist das Mitsein * ihm wesentlich : Ein Mit-sein, das nicht
eine Ansammlung von Dingen ist , sondern ein wesentliches Mit.
Wenn man nur ein wenig achtgibt, beginnt hier schon das, was
das Problem, dem wir uns annehmen wollen, ermöglicht. Ich
charakterisiere also sogleich dessen Entwurf. Heidegger tut alles,
um diese Wesentlichkeit des Mit zu bekräftigen, und sein Wille
drückt sich zuerst darin aus , daß er das einfache »Mit« als Äußer­
lichkeit versammelter Dinge , die nur nebeneinander liegen, zu­
rückweist. Sein letzter Zug wird, wie wir sehen werden, der sein,
die Kategorie des Volks einzuführen, worin sich für das Dasein *
die Möglichkeit kristalllisiert , Geschichte zu machen. Nun ging
aber bekanntlich später das Naziengagement mit diesem Motiv

1 53
des Volks einher. Und ebenfalls um es herum wurde über 1 93 3
hinaus eine Erklärung weiterverfolgt die mit dem Nazismus eng
zusammenhängt . Dem wurde zwar abgeschworen , doch die Er­
innerung an ihn hält sich im Zusammenhang mit einem höheren
Denken von Volk und Geschichte hartnäckig. Davon zeugen die
Texte der Beiträge und der Vorlesungen derselben Jahre.
Wo kommt es also zu dieser so gefährlich entscheidenden Wen­
de, und wie, und warum? Diese Frage, das will ich auch s o fort
zu verstehen geben, betrifft nicht nur Heidegger allein. Bei wei­
tem nicht. Sie betrifft das Ganze des okzidentalen D enkens und
das , was es im allgemeinen zu fassen oder nicht zu fassen in der
Lage ist, was gerade Heidegger als erster mit solcher Genauigkeit
freigelegt hat: den wesentlichen Charakter des existenzialen Mit
( d . h . das Mit als Bedingung der Möglichkeit der menschlichen
Existenz - wenn nicht gar der Existenz alles Seienden, womit ich
mich hier nicht beschäftigen kann) . Man könnte es s o sagen: S eit
Sein und Zeit ist sichtbar geworden, inwiefern die Ko-Existenz
ein experimentum crucis unseres Denkens bildet.

3) Vom Gemein(sam)en

Wenden wir uns wieder der Problematik des Mitdaseins * zu .


Zuvorderst ist es bemerkenswert, daß Heidegger eine Analyse
nicht unternimmt, von der man doch annehmen könnte, daß sie
sich aufdrängt, nämlich die Analyse der Art , wie mehrere Da­
sein * zusammen das Da sein können. Die Frage könnte auf ein­
fachste Weise auftauchen : Welche Da für mehrere? Ein gemein­
sames Da oder die von j edem einzelnen , dann aber wie vereint?
Wie ist Mitdasein * möglich, und vor allem, wie läßt es sich dar­
stellen? Als ein Mit-sein mehrerer, von denen j eder für sich sein
eigenes Da eröffnet? Oder als ein Mit-dem-Da-sein, oder viel­
leicht klarer als ein Da-sein-mit, das implizieren würd e , daß die
Eröffnungen sich auf gewisse Weise gegenseitig überschneiden,
kreuzen , vermischen oder sich ihre Eigenschaften überlagern, j e-

1 54
doch ohne daß diese in einem einzigen D asein durcheinander­
kämen, (wodurch das Mit verloren wäre) ? O der - dritte V ariante
- als einen gemeinsamen Bezug zu einem Da, das sich j enseits
des Singulären befindet (aber was wäre dann ein solches Jen­
seits-da?) ?
Wir haben s o gesehen letztlich drei mögliche Modi des »Ge­
meinsamen«: banales Zusammenvorkommen (gemeinsam im
Sinne von gemein, gewöhnlich) , das Gemeinsame als geteilte Ei­
genschaften (Beziehungen , sich Kreuzendes, Mischungen) , das
Gemeinsame als eigene Instanz, insofern verbindend oder kollek­
tiv.
Anders ausgedrückt haben wir an den beiden äußeren Enden
reine Äußerlichkeit und reine I nnerlichkeit, während man uns
zwischen den beiden eine andere Ordnung nahelegt , die schwer
zu benennen ist. Nun muß sogleich bemerkt werden, daß die bei­
den äußeren Ordnungen a priori zumindest potentiell gegen das
Prinzip der Wesentlichkeit des Mit verstoßen. Denn die erste
scheint in das einfache Nebeneinander der Dinge zurückzu­
fallen, während die letztere die Form einer Gemeinschaft als Da­
sein * j enseits der Einzelnen anzunehmen scheint. Was in Sein
und Zeit in Bewegung kommt, ist tatsächlich diese doppelte Po­
tentialität, und zwar genau in dem Maß, wie die dazwischen­
liegende Ordnung in diesem Werk darunter leidet, was auch in
der Folge des Werks so bleibt.
(Nebenbei in Klammern: Wenn ich hier das Wort »Ordnung«
[n?gime] benutze, dann beabsichtige ich durchau s , dabei auch
seine politische Bedeutung anklingen zu lassen. Die erste Ord­
nung entspricht der Demokratie oder zumindest der Vorstellung,
die der Autor von Sein und Zeit ebenso wie viele andere in seiner
Zeit davon haben, die letztere entspricht dem, dessen Erwartung
in derselben Zeit mehr oder weniger sichtbar zu der einen oder
anderen Form des »Totalitarismus« neigt . Dadurch will ich unter­
streichen, daß die Politik hier als Resultat, nicht als Grund, einer
fundamentalen Veranlagung des Denkens oder der Kultur im
Zeitalter des »Unbehagens« in ihr in Erscheinung tritt, und daß

1 55
man vor allem nicht vergessen sollte, wie sehr sie dieser Zeit
gemein ist und bis heute fortbesteht. )
Allerdings sind - um j etzt einen Blick a u f das weitere Werk v o n
Heidegger z u werfen - nach Sein und Zeit d i e meisten Motive der
»existenzialen Analytik« nicht mehr vorhanden, und Heidegger
wollte der grundlegenden Verfaßtheit seines Denkens eine »Keh­
re« geben (nicht mehr vom Menschen zum Sein, s ondern vom
Sein zum Menschen) . Da aber ist es umso frappierender, daß
sich in dieser Folge des Werks unschwer die zumindest latente
und manchmal ausdrückliche Präsenz des »Volks« aufweisen
läßt (zum Beispiel durch die »Begründungen«, die insbesondere
Der Ursprung des Kunstwerks nahelegt , oder durch H ölderlin und
die Motive der Poesie und der Sprache insgesamt genommen -
unterstützt durch die in den Beiträgen zum Ausdruck kommende
Idee, daß »das Volk eine Stimme« ist) . In symmetrischer Weis e
könnte m a n o h n e Mühe zeigen, d a ß d a s Thema d e s Gemein-Vul­
gären, ohne daß es neuerlich im Namen des »Man« thematisiert
würde, sich durch so einige Analysen der Technik hindurchzieht
und sie durchdringt (allerdings nicht alle, was auch wiederum
entwickelt zu werden verdient) .

4) Denkmangel

Daß nie spezifisch untersucht wurde, welche Konsequenzen


vor allem die Begriffe Mitdasein * und Miteinandersein * nach
sich ziehen, ist umso bemerkenswerter, als dieses Mit als wesent­
lich für das Wesen des Existierenden selbst erklärt wird (wobei
nichts im späteren Werk darauf hindeutet, daß diese Behauptung
vergessen oder abgeschwächt würde: Heidegger hat nie aufge­
hört, in kollektiven oder gemeinsamen Dimensionen zu denken,
und nichts rührt bei ihm an den Solipsismus .
Manche werden j etzt sagen: Da sieht man als o , wo der Schuh
drückt . Er ist immer ein kommunitärer oder gemeinschaftlicher
Denker gewesen , im hypernationalen und hyperheroischen Stil ,

1 56
den Lacoue-Labarthe als »Erzfaschismus« bewertet und in dem
das Individuum nichts zählt, außer daß es weitergereicht (da­
zu bestimmt? geopfert?) wird zur Geste und Legende einer ge­
meinsamen Grundlegung und Eröffnung, d . h . auf der Ebene des
Schicksals und der Kultur . Dies ist w ahr, es ist aber nicht weniger
wahr, daß kein anderes Denken zuvor mehr in das Rätsel des
Mit-seins eingedrungen ist, und daß es weder im U mkreis von
Heidegger noch in der heutigen Zeit einen Gegenstand des Den­
kens gibt, der mehr darunter leidet als dieses Rätsel (das genau
deshalb ein Rätsel ist, weil das D enken es seit ziemlich l anger
Zeit zu sich auf Distanz hält) . Heutzutage zeugen der Verfall der
Politik ebenso wie das Wiederauftauchen aller Arten von Kom­
munitarismen seit mindestens zwanzig Jahren von einem be­
trächtlichen Denkmangel in dieser H insicht . Und dieser M angel
sagt sicherlich viel aus über die grundlegende Verfaßtheit u nse­
rer gesamten Tradition: Zwischen zwei Subj ekten, wovon eines
»die Person« und das andere »die Gemeinschaft« ist, gibt es für
das »Mit« keinen Platz, noch in allgemeinerer Weise für das, was
kein »Subj ekt« (im Sinne einer Selbstkonstitution) ist, ohne des­
halb ein bloßes Ding zu sein (im Sinne von schlicht nebeneinan­
der gestellten Dingen, dem Sinn von Mit entsprechend, den Hei­
degger gerade vermeiden will) .
Deshalb will ich in schematischer Weise auf die Ökonomie von
Sein und Zeit zurückkommen und untersuchen, wie zwischen
Man und Volk das Mit sich entblößt , fehlgeleitet oder verdrängt
fühlen konnte.

5) Mitarbeit oder Mitaneignung

Nehmen wir die Untersuchung des Man wieder auf. Dieses ver­
körpert den uneigentlichen (»impropre« , im Französischen allzu
oft mit »inauthentique« übersetzten) Modus des Mit-seins: Die
gemein (sam) e Existenz im Sinne des »Banalen« . Da verhält man
sich wie jedermann, und Unterschiede des Werts (Adel, Größe

1 57
usw . ) werden verwischt oder nivelliert . Wir brauchen uns bei
dieser bekannten Beschreibung nicht aufzuhalten.
Dagegen muß folgendes unterstrichen werden :
Während die eigentlichen * Modalitäten des Daseins * im Werk
sehr rasch freigelegt werden, läßt der eigentliche Modus des Mit­
seins sehr viel länger auf sich warten (fünzig Paragraphen) und
wird dann als Historizität oder Geschichtlichkeit präsentiert . Das
Man ist nicht geschichtlic h , und daraus folgt, daß, weil es bloß
alltäglich ist, die Alltäglichkeit sich als eine solche entpuppt, die
einen Fehler der Geschichtlichkeit aufdeckt , der erst viel später
offenkundig gemacht wird . Dann aber muß die Geschichtlich­
keit , um sich durchzusetzen, mit der Alltäglichkeit brechen . Die
Schwierigkeit, die alltägliche Existenz auf sich zu nehmen - was
auch die Schwierigkeit ist zu akzeptieren, daß sich das Alltäg­
liche um das Je-meinige * des Daseins * kümmern könnte - bildet
einen prinzipiellen Widerstand, worin den roten Faden in der ge­
samten Tradition wiederzufinden nicht schwer ist .
Denn wie könnte sich das Gewöhnliche zum Sinn, zum Wert
oder zur Wahrheit erheben? Aber auch: Wie einen Sinn , einen
Wert oder eine Wahrheit annehmen, die sich des Gewöhnlichen
nicht annimmt ? Dieser double bind ist nirgends so greifbar ge­
worden wie bei Heidegger, auch wenn er ihn nicht als solches in
Angriff nimmt . Er erklärt j edoch mehrmals, daß das Eigentliche
nicht im Entfernen des Uneigentlichen liegt, sondern in einer mo­
difizierten Fassung der Welt des Uneigentlichen selbst . . .
Ein Hinweis in Richtung eigentliches Mit-sein ist uns dennoch
gegeben. Im § 26 wird die spezifische Art der Beziehung des
Mit analysiert : das »Besorgen, oder »sich sorgen um« , die »Für­
sorge * « . »Besorgen« unters cheidet sich von »benutzen« , das die
Art des Bezugs zu den seienden Nicht-Dasein bildet . (Nebenbei
bemerkt : Einerseits bleibt die Trennung zwischen menschlichem
Seienden und anderen Seienden ebenso deutlich und dicht wie in
jedem anderen klassischen Denken, und andererseits ergeht sich
die Beziehung zur »Natur« in Anspielungen und bleibt auswei­
chend. Diese doppelte Bemerkung macht zu gegebener Zeit ge-

1 58
wisse Folgerungen erforderlich, die auf unser derzeitiges Thema
verweisen: sprich auf das, was das Mit umstandslos mit einer
Trennung in Verbindung bringt, die ich mit Verlaub als ontolo­
gisch hochnäsig im Umgang mit der Welt des sogenannten einfa­
chen und platten Zusammenvorkommens der Dinge bezeichne .
Aber hier ist nicht der Ort, um diesen Aspekt zu entwickeln . )
Es gibt zwei positive Arten d e s »Besorgens« (die negativen Ar­
ten der Zurückweisung oder Verweigerung anderer bestätigen es
nur: Selbst im Modus des Negativen bleibt dem Mit der Status
des Wesentlichen. Einsamkeit und Rückzug seien auch Modi des
Mit, präzisiert Heidegger) . Die erste Art besteht darin , zu b esor­
gen oder an der Stelle des Anderen sich zu sorgen und ihm so die
Mühe der Sorge zu ersparen. Die Hilfe entlastet den anderen von
seiner eigenen Sorge : Sie ist enteignend. (Wie man oft hervorge­
hoben hat, steht hier unter anderem »Sozialhilfe« im H orizont
der Heideggerschen Entwertung, was schon einer gewissen poli­
tischen Tonlage entspricht) .
Die zweite Art besteht dagegen darin , den Anderen in seine ei­
gentliche Sorge oder i n die Eigentlichkeit seiner Sorge zurück­
zuversetzen: d . h . in die Logik seines Seins als existentielle Ent­
schlossenheit, eine Entschlossenheit also , die sich für einen
eigentlichen Einsatz des Sinns des Seins entschließt. (Man kann
hier auf eine zumindest erhellende Analogie zurückgreifen , die
im günstigsten Fall vielleicht sogar andere Entwicklungen nahe­
legt: Der Unterschied zwischen den beiden Arten der Fürsorge *
gleicht demj enigen, der trennen soll zwischen der psychologi­
schen Therapie und der psychoanalytischen Beziehung , wie sie
insbesondere ausgehend von Lacan begriffen wird .)
Wie kann man sich vor die Entschlossenheit und die Eröffnung
des anderen bringen, insgesamt genommen vor sein Da * um
-

sie diesem »zurückzugeben«? Dies ist nicht klar dargelegt . Eben­


sowenig ist folglich dargelegt, wie es möglich ist, daß das Eigent­
liche dem Eigentlichen ausgehend von Äußerlichem zurückgege­
ben wird . Es muß j edoch möglich sein , und in den so gesetzten
Begriffen muß daraus die Notwendigkeit einer Ordnung der

1 59
Nicht-Äußerlichkeit zwischen den Existierenden (und nicht zwi­
schen den bl oßen Seienden) folgen . Das der Existenzialität ge­
mäß begriffene Mit muß also als die Natur eines sehr besonderen
Raums ausgearbeitet werden - wobei das Wort »Raum« hier zu­
gleich im eigentlichen Sinne verstanden wird , denn die Existie­
renden sind auch Körper , ausgedehnte Seiende , und dies in ei­
nem übertragenen Sinne, der auf folgende Frage antwortet : »Was
geschieht zwischen uns ?« (Freilich, wie soll man hier eigentli­
chen und übertragenen S inn trennen? Das wäre eine weitere
Frage, bei der sich im übrigen die Problematik des Eigentlichen
verdoppeln würde. Auch sie lassen wir im Augenblick beiseite .)
Die Frage des »unter/zwischen uns«2 - die in der Tat die Frage
nach einem »Zwischen« ist, demzufolge es dann ein »Uns« geben
kann - stellt sich hinsichtlich zweier Möglichkeiten, die sich aus
dem Text von Heidegger ergeben: Auf der einen Seite findet man
gemeines Besorgen, das sich nach einer äußerlichen Aufgabe
richtet (wobei die eine durch die andere ersetzt werden kann) ,
auf der anderen muß sich ein » Sicheinsetzen für dieselbe Sache« *
zeigen , das von j edem Existierenden als eigentlichem ausgeht .
Einerseits bleibt das Mit in der Äußerlichkeit - die selbst gemein
in den beiden Bedeutungen des Wortes bleibt -, auf der anderen
Seite wird es in eine Gemeinschaft verwandelt , die im Bezug zu
einer einzigartigen Sache oder Anliegen steht . Einerseits einfache
Kooperation, andererseits Miteigentlichkeit [copropriation]. Ei­
nerseits alltägliches Besorgen , andererseits Fürsorge : was auch
darauf hinausläuft, daß wirklich besorgtes, fürsorgendes B esor­
gen sich nur auf der zweiten Seite der beiden Möglichkeiten fin­
det .

Aber wie kann Miteigentlichkeit vorkommen ? Das erfahren wir


nicht. Wir wissen nur, daß es eine ·gemeinsame Sache oder ein
gemeinsames Anliegen geben muß .

2. Entre - zwischen/unter: vgl . S. 25 (A. d . Ü . ) .

1 60
6) Vom Tod zum Geschick

Bevor wir viel später erfahren, daß diese Sache und dieses An­
liegen nichts anderes ist als das Volk als gemeinsames Geschick
oder Mit-Geschick, durchlaufen wir den zentralen und berühm­
testen Teil des Werks , den langen Weg der existenzialen Analytik
entlang der Sorge, der Angst, der Entschlossenheit und der Ex­
position seines Seins gegenüber seinem eigenen E insatz . Um es
kurz zu machen und wie man weiß , handelt es sich u m den Ein­
satz des eigenen Selbst in seiner l etzthinnigen Möglichkeit, die
sich als die Unmöglichkeit erweist, dieses Eigentliche zu setzen,
indem es aufhört, es auszulegen und es sich anzueignen. Der
Tod bringt die Verlassenheit von j eder Art des eigentlichen S inns
des Seins (man könnte sogar s agen, des Sinns i m allgemeinen)
und verkörpert die Befreiung vom uneigentlichen Willen zu ei­
nem solchen Sinn.
Ein solcher Tod unterscheidet sich vom A bleben: Dieses ist von
sich aus lediglich das gemeine Schicksal, daß das Leben endet .
Aber der Tod erschließt eine höhere Möglichkeit : die Expo sition
des Existierenden aufrecht zu erhalten bis in seine Auslöschung
hinein. Darin ist sie strikt eigentlich, und nichts kann an die
Stelle meines Todes treten. Das »Besorgen« kommt hier an seine
Grenze . Oder wir sehen vielmehr besser, wie das Höchste der
Sorge um den Anderen darin besteht, ihn auf seinen eigenen Tod
zurückzuverweisen. Auf eine Art, die ebensowenig ausgeführt
(genauer gesagt : nicht einmal gestreift) ist, handelt es sich da­
rum, am Anderen seine eigentlichste und am meisten unveräu­
ßerliche Eigenschaft des Sterbens auszuzeichnen.
Sich für die Freiheit zu entschließen oder eigentlich in die Frei­
heit des »Seins-zum-Tode« verwiesen zu sein, derart verstanden
als wesentliche Endlichkeit, das heißt als Unendlichkeit der Ex­
position, dies ist der Sinn des Einsatzes des Sinns des Seins, der
das Existierende ist, und dies j edes Mal eigentlich für es selbst
auf einzigartige und unteilbare Art . Mein Tod ist das, wofür kein
anderer meine S orge durch seine ersetzen kann . Der Andere

161
kann sich nur darum sorgen, mich auf meine Sorge zurückzuver­
weisen: Aber noch einmal , die Natur einer solchen Operation ist
nicht dargelegt. Wie dem auch sei , der Ausgang ist derselb e : d i e
absolute Einsamkeit im Tod . Auf dieser Ebene gibt es a l s o e i n e
wesentliche Beschränkung a u f das Prinzip d e r Wesentlichkeit
des Mit. Dies freilich ist in solchen Termini durch Heidegger nie
ausgeführt worden .

D och lehrt uns später der § 74, daß das Existierende entspre­
chend dieser strikten Isolierung seines Todes noch nicht auf der
Höhe des Geschicks ist, und es hat - parallel und ergänzend -
auch noch nichts getan, was einem eigentlichen »Mitdasein« ent­
spräche. Im G egenteil, die Freiheit zum Tode ereignet sich stän­
dig auf der Grundlage des stets uneigentlichen Mit-seins . Man
verscheidet gemeinsam, während ich alleine sterbe. Wenn vom
Tod nichts geteilt wird, bleibt alles um ihn in der Äußerlichkeit
(so wie der Leichnam zurückkehrt in das materielle Nebeneinan­
der der Dinge) .
Etwas anderes ist es j edoch, wenn man zur Höhe und Intensität
des Geschicks Zugang gewinnt (wenn man die Fähigkeit des Zu­
gangs erwirbt - aber über eine s olche Fähigkeit wird nichts ge­
sagt) . Geschick bedeutet geschickt werden zu, in Richtung von
gewissen Möglichkeiten, die nicht mehr vom Rang der höchsten
Möglichkeit des Existierenden allein sind, sondern durch die eine
Geschichte stattfindet (Geschick, Geschichte) . Geschichte heißt:
Nicht -Alltäglichkeit.

7) Kann »man« Übergehen zum Volk?

Wie gelangt man also zur Dimension des Geschicks? Durch


wesentliches Mit-sein . Das den Schicksalsschlägen allein ausge­
setzte Existierende (Schicksal , nicht Geschick) kann in der Ent­
schlossenheit der Existenz sich der Zufälle dieser Schläge mit Si­
cherheit annehmen. Es kann sich dabei »transparent« machen,

1 62
d.h. sein Entschlossen-sein sich vergegenwärtigen mittels dieser
Kontingenz. Es ist dann schicksalhaft * , für das S chicksal qualifi­
ziert. Ein Geschick erhält es dadurch noch nicht. Man könnte s a­
gen, daß es geschickträchtig ist, ohne bislang noch geschickt
oder geschickhaft zu sein.
Heidegger schreibt im § 74: »Wenn aber das schicksalhafte D a­
sein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen exi­
stiert, ist sein Geschehen * [Geschehen ist auch ein Wort für Er­
eignis] ein Mitgeschehen * und b estimmt als Geschick.« In dieser
Ordnung also, als Ordnung eines wesentlichen Mit, verwandelt
sich das Ereignis vom Schicksalsschlag zum geschickhaften Er­
eignis. Und was diese Transformation möglich macht, ja sie aus­
führt, ist genau die Dimension des wesentlichen Mit.
Heidegger fährt fort: Mit dem Wort Geschick »bezeichnen wir
das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes . Das Geschick setzt
sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das
Miteinander als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subj ekte
begriffen werden kann.« (Hier wird in einer Fußnote ein Bezug
zum § 26 hergestellt, in dem das Prinzip des wesentlichen Mit als
unterschieden vom Nebeneinander gesetzt wurde) . »Im Mitein­
andersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für be­
stimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon
geleitet . In der Mitteilung * und im Kampf* wird die Macht des
Geschickes erst frei . «
Es gibt also keinen Übergang v o m Man z u m Volk, während zu­
gleich das Man und das Volk sehr deutlich als die beiden Seiten
des Mit-seins erscheinen: die uneigentliche und die eigentliche.
Von der einen zur anderen gibt es folglich keinen Übergang, und
nichts erlaubt die Modalität eines »veränderten Aufgreifens« des
uneigentlichen Mit durch das eigentliche Mit zu umreißen.
Das Man bleibt uneigentlich, denn es steht in der reinen Äußer­
lichkeit und jeder bleibt dort seinem einzigartigen Schicksal ge­
genüber ausgeliefert oder offen, einzigartig als eigentlicher Tod
und b anal als das gemeine Aufhören des Lebens . Das Volk ist
eigentlich, denn in ihm oder als es läuft sich das Mit als das Ge-

1 63
rr

meinsame einer Gemeinschaft vorau s . Auf der einen wie auf d e r


anderen Seite gibt es eine transzendentale Vorgängigkeit d e s
Uneigentlichen oder d e s Eigentlichen. Konsequenterweise s etzt
die Gemeinschaft des Volkes a priori »bestimmte Möglichkeiten«
frei, die nicht die Möglichkeit des eigenen Todes als Unmöglich­
keit sind . Obwohl diese Möglichkeiten des Volkes - d . h . auch das
Volk als Möglichkeit - weder präzisiert noch dargestellt werd e n ,
sind s i e hinreichend b estimmt durch »die Mitteilung u n d d e n
Kampf« : es geht um e i n gemeinsames Anliegen, für d a s zu kämp ­
fen e s Anlaß gibt, was unterstellt, daß das Volk sich v o r allem i n
die Auseinandersetzung mit anderen Völkern begibt.

Auf im Kontext von Sein und Zeit überraschende , j edoch (etwa


im Sinne von Fichte und H egel) sehr klassische Weise wird in
Wahrheit das Schicksal eines j eden, o der genauer der Sinn dieses
Schicksals , allein durch das gemeinsame Geschick sanktioniert .
Das gemeine Schicksal des Todes verschwindet insgesamt zwei­
mal: zum einen als banales Ableben, das äußerlich bleibt, weil es
auf die höchste Möglichkeit des Existierens verzichtet , zum an­
deren dadurch , daß der individuelle Tod vom gemeinsamen Ge­
schick sublimiert wird .
Das Mit geht in beiden Fällen j eder Individualität vorau s . Doch
im einen Fall geht es ihr voraus und folgt auf sie als Anonymität
und gegenseitige Indifferenz aller nebeneinander stehenden Exi­
stierenden, im anderen geht es ihr voraus und folgt auf sie als
Gemeinschaft, die mit eigentlich geschickhaften P otentialitäten
versehen ist. Letztlich gibt es zwei Verfassungen des Mit-da­
seins: eine unmögliche in der Masse, in der sich die Wesentlich­
keit des Mit als solche auflöst, und eine übermögliche im Volk,
in dem sich die Wesentlichkeit des Mit bestimmen wird und sich
potentialisiert . Man sieht nicht, wie es vom einen zum anderen
einen Übergang geben soll (man sieht kaum etwas, und weder
ich noch wir finden uns dort wieder . . . ) .

1 64
8) Zwischen dem Eigentlichem und dem Uneigentlichem

Zwischen den beiden b efindet sich nichts geringeres als das


Mit-da-sein, das übergangen wurde. Tatsächlich müßte das Mit­
dasein * das Mit als Nähe (Angrenzung und Unterscheidung) von
vielfachen Da bestimmen, was ü brigens zu bedenken gibt, daß
Vielheit kein dem Dasein * äußerliches Attribut ist, denn der Be­
griff des Da impliziert j a gerade die Unmöglichkeit eines einzig­
artigen sowie ausschließenden Da. Ein Da kann nur dann aus­
schließend sein - denn dies ist e s ebenso zwingend , insofern es
»mein« Da ist - wenn es zugleich vielfältige anderer Da ein­
schließt. Das dazu analoge Modell müßte hier der Monadologie
von Leibniz entnommen werden, oder einem j ener topalogi­
schen Schemata, zu denen das M öb iusband die Geschichte eröff­
net hat; es ist dessen B egriff der »Nachbarschaft«, wie er in der
Topologie präsent ist, der eine metaphorische Nähe zwischen
Mathematik und Ontologie des Mit suggeriert . Die Verknüpfung
von Grenze und Kontinuität zwischen den Da soll die Nähe nicht
als bloßes Nebeneinander, s ondern als Komposition in einem
präzisen Sinne bestimmen, der j ust auf einer strengen Konstruk­
tion des Kam- beruht. Letztlich läuft dies auf nichts anderes hin­
aus als auf das, was durch H eideggers Insistieren auf einem nicht
auf Äußerlichkeit reduzierb aren Mit erforderlich geworden ist .
Für das Mitdasein muß es Kontakt geben, folglich auch Anstek­
kung, und Eingriff, und sei er minimal oder nur infinitesimaler
Abglanz der Berührung, die sich zwischen betroffenen Eröffnun­
gen ergibt . Es bedarf einer relativen Ununterscheidbarkeit der
Ränder der Eröffnungen, und eine zumindest tendenzielle Über­
schneidung ihrer Sichtweisen und Horizonte . Ich kann mich da
nur öffnen, wenn ich mich auch zu anderen Da hin öffne - s o ,
wie m a n sagt, daß eine T ü r z u m Garten hinaus geht . D a s Mit
muß die Naturen des »zum«, »gegen« und »trans« (wie in »trans­
sexuell«) zusammenbringen. (Was, nebenbei bemerkt , heißt,
daß das Mit selbst mit einer komplexen Natur ausgestattet , zu­
sammen-gesetzt und ver-knüpft ist) .

1 65
Wenn dem so ist, dann kann es weder das bloße Man noch das
bloße Volk sein , das dieser Bedingung entspricht . Nun ist sie
aber durchaus die existenziale Bedingung eines Mit-seins, das in
der Verfaßtheit des Existierens nicht bloß sekundär ist, sondern
wirklich und wesentlich mitursprünglich im Existierenden .
So sehr Heid egger, und zwar mit b esonderer Dringlichkeit , die
Ursprünglichkeit des Mit in seiner Notwendigkeit wahrgeno m­
men hat (er ist wohl der erste, der seit dem Verhältnis der be­
gründenden Bewußtseine im Hegeischen Subj ekt diesen Punkt
so klar gesehen hat) , so sehr hat er die Möglichkeit, die er er­
schlossen hat , selbst unterdrückt : das Mit genau seinem Hinweis
entsprechend zu denken , sprich weder äußerlich noch innerlich .
Weder Masse, noch Subj ekt. Weder anonym noch »j e-meinig« .
Weder uneigentlich noch eigentlich. Grenze, Sackgasse und Um­
leitung finden sich also genau am Ort eingeschrieben , und zu­
gunsten einer Öffnung des Textes von Sein und Zeit selbst .

9) . . . u nd der Tod als Teilung

Im gleichen Zug wird auch der Tod, dem Heidegger das Dasein
oder das Seiende zugeordnet hat, unterdrückt oder dialektisiert,
und zwar erschlichenermaßen. Sprich im Geschick wird wider
Willen die Unendlichkeit des Endes oder die absolute Endlich­
keit , die der »Tod« bedeutet (oder vielmehr nicht-bedeutet) in ge­
wisser Weise sublimiert , aufgewertet und heroisiert . Ganz uner­
wartet erweist sich das »Sein-zum-Tode« so als geschickt. Denn
gefaßt in seiner Eigentlichkeit der Gemeinschaft und nicht in sei­
ner Uneigentlichkeit des Man, ist es nun das wesentliche Mit, das
j edes Existierende bis zu einer möglichen Geschichtlichkeit hin
geleitet, mitnimmt und entführt und ihm eine Art Überexistenz
zusichert ; sie ist als solche im Text sicherlich versteckt , aber
zwingend deduzierbar aus dem Gegensatz von Geschichtlichkeit
der Gemeinschaft und uneigentlicher Ges chichte der Alltäglich­
keit .

1 66
Diese Überexistenz - ich nenne sie so in Analogie zu dem Über­
wesen, das dem Gott der negativen Theologie zugesprochen wird
- findet im § 75 ihre Bestätigung, wo Heidegger der Kontinuität
und Gliederung des Lebens in der Ordnung des Man die Augen­
blicksnatur einer »Lösung« gegenüberstellt, in der sich die wahr­
hafte »Treue [ . . . ] zum eigenen Selbst« [§ 75 , S. 39 1 ] ereignet.
Diese Treue zu sich selbst »stabilisiert« sich nicht in der Konti­
nuität eines Gelebten, s ondern gemäß der Augenblicklichkeit ei­
ner Lösung (im Unterschied zur I nstabilität des Man) und macht
sich derart »augenblicklich [ . . . ] für das Welt-Geschichtliche« [§
75 , S. 39 1 ] . Hier muß man dann begreifen, daß »die Entschlos­
senheit als Schicksal 3 [ . . . ] die Freiheit für das möglicherweise si­
tuationsmäßig geforderte A ufgeben eines bestimmten Entschlus­
ses« [ebd.] ist. Anders gesagt ist das Opfer des Aufgebens das
letzte Wort der Vereinigung i m Augenblick des einzelnen Seins­
zum-Tode und des Gemeinsam-seins-zum-Geschick. Entspre­
chend besteht das eigentliche Besorgtsein um den Anderen darin,
ihn zu exponieren oder ihn diesem Opfer auszusetzen. Ein sol­
ches Opfer, oder die Dialektik, können wir nach Bataille nur wie­
derholen . . .
Später, nach der Naziepisode, spricht Heidegger in seinem
Kommentar zum Hölderlinhymnus »Der Rhein« von der Gemein­
schaft der Soldaten an der Front, während er zugleich vom
Thema des Daseins * und mehr noch von dem des Mitdaseins *
weitgehend abgelassen hat . Tatsächlich kann man in den Beiträ­
gen sehen, daß er das erste Thema fortführt, ohne das zweite
wiederaufzunehmen , wobei sich gleichzeitig ein neuerliches
Festhalten am Volk zeigt , das bemüht ist, diesem eine Wendung
zu geben, die der des Nazismus entgegengesetzt ist (kurz gesagt ,
das Volk als »Stimme« und nicht als »Rasse) . Anders ausgedrückt
hat Heidegger - auch über j ene Periode des Krieges hinaus, wie

3 . Nancy übersetzt mit »destin«, denn seiner begrifflichen Ausdifferenzierung


nach müßte Heidegger hier von (wesentlichem) Geschick und nicht von (un­
wesentlichem) Schicksal (frz. sort) sprechen, vgl . 7. (A.d.Ü.) .

1 67
ich flüchtig angedeutet habe - am Bemühen festgehalten , ein Mit
zu denken , das auf der Höhe j ener Wesentlichkeit steht, mit der
er es versehen hatte.
Ich werde die Analyse, von der ich nur das Prinzip darlegen
wollte, hier nicht weitertreiben. Ich will im Augenblick nur auf
die andere Form der Analyse hinweisen, die sich von hier aus
aufdrängt . Diese andere Ordnung muß weit über Heidegger hin­
ausgehen , aber von ihm ausgehen, denn vor allem sollte man es
sich verbieten , etwas, das sowohl die - unverzichtbare - Wesent­
lichkeit des Mit als auch die - gefährliche - Geschickhaftigkeit
der Gemeinschaft eng verschlungen in sich enthält, gleich en
bloc zu verwerfen. Man muß sich also die folgende Frage stellen:
Warum dieser Sprung des Mit in ein so begriffenes Volk?

Zwei Arten der Antwort drängen sich zunächst auf:


1) Dieser Sprung hat nicht nur mit Heidegger selbst zu tun ,
sondern mit einer äußerst tiefen Bestimmung des okzidentalen,
wenn nicht sogar umfassenderen Denkens . Das individuelle
Schicksal reicht nie aus, damit es zum Geschick kommt - es sei
denn auf tragische Weise (oder auf absurde Weise - die moderne
Version des Tragischen) . Man kann sogar die Hypothese wagen,
daß die griechische Tragödie eine Antwort auf die Auslöschung
der Geschick-Gemeinschaft (Familie, Herkunft , Völker) war zu­
gunsten eines gemeinsamen Schicksals des Menschen, das bei
den vorhergehenden Kulturen unbekannt gewesen war. Entge­
gen anderem Anschein lastet die Verzweiflung am o kzidentalen
Bewußtsein auf dem Individuum (und es ist kein Zufal l , daß der
okzidentale Monotheismus sein Heil in einem Volk G ottes
sucht) .
Aber man muß wohl fragen, was Schickung [destination] selbst
bedeutet, denn auch das G eschick des Volkes oder das G eschick
als Volk führt bei Heidegger zu keiner finalen Schickung. Es wird
nichts gesagt über die Schickung des Geschicks, was aber dabei
auf dem Spiel steht, ist die Komposition der Geschichte insge­
samt. Das ist, wie man weiß, eine alte Geschichte, die beginnt

1 68
mit den Rationalismen des Fortschritts und die dann schlicht ver­
doppelt wurde durch die Katastrophenszenarien des Verfalls .
Wie man weiß, gibt es bei Heidegger eine Sicht der Ges chichte
(des Seins) , die zur Vollendung kommt und die sich in einer letz­
ten Schickung erschöpft , die dem endgültigen »Seinsvergessen«
gilt, also dem Sinn, o der dem Sinn seines Sinns. In gewisser
Weise geht es dabei im Positiven wie im Negativen immer um
einen Hegelianismus im überkommensten Sinne des B egriffs .
Aber das bedeutet, daß das Sich-voraus-sein des Ek-sistieren­
den anders denn als Geschick zu denken bleibt, d . h . sehr genau
als Aus-legung oder Ex-position, und diese Ex-position selbst als
Mit-Exposition, als Exposition des und hin zum wesentlichen Mit
seiner Ko-Konstitution. Dies bleibt in der Tat die Aufgabe, die
weder Opfer, noch Gemeinschaft, noch Tragödie, noch H eil lösen
können. Auf paradoxe Weise ist H eidegger selbst hinter seiner ei­
gentlichen Forderung zurückgeblieben. Aber dieses Paradoxon
ist der gesamten Philosophie auf b anale Weise gemein . . .

2) Wie beiläufig kommt also zum Vorschein, daß die Operation


im eigentlichsten Sinne zulasten des Mit geht. Über ein anderes
Paradoxon, das mehr im Verlauf von Sein und Zeit selbst enthal­
ten ist, wird die Affirmation der Wesentlichkeit des Mit auf tük­
kische Weise vernachlässigt zugunsten einer anderen Kategorie,
der Gemeinschaft, die sich das Mit für eine geschickhafte Einheit
aneignet, in der es keinen Platz gibt für das Nebeneinander der
Da, folglich auch keinen Platz, keine Logik, keine Ontologie und
keine Topologie für das Mit als solches. Dieses Defizit ist eben­
falls nicht Heidegger allein anzulasten, und eine ethisch-politi­
sche Verurteilung genügt bei weitem nicht, um hier die Dinge ins
Lot zu bringen. Tatsächlich geht es viel eher darum, sich zu fra­
gen, wie sich eine Ko-Exposition denken läßt, die letztlich nichts
anderem gegenüber exponiert ist als sich selbst, und sicher nicht
einer Überexistenz der Gemeinschaft ; wie sich eine Mitteilung *
denken läßt, die für die Gemeinschaft keine Botschaft darstellt;
wie sich ein Augenblick denken läßt, in dem die Exp osition zum

1 69
Tod hin nicht als Opfer gefaßt ist, sondern als Teilung zwischen
uns , unter uns, der Ewigkeit j eder Existenz.
Denn wenn sich Chance und Risiko des Existierens genau am
Ort des Mit zeigen, dann muß man auch, und zwar weiterhin im
Einklang mit dem Heideggerschen Paradoxon, daran festhalten,
daß dies der Ort des Todes ist. Zwis chen dem unüberwindlichen
Tod des allein Sterbens und dem Opfertod im Kampf für die Zu­
kunft des Volks - und im übrigen sogar ohne diese beiden äußer­
sten Möglichkeiten einfach auszuschließen -, wie läßt sich da ein
Tod denken, den wir uns teilen? Wie läßt sich der Tod unter uns,
j a der Tod als Mit-Eröffnung des Da selbst denken?
Um genau zu sein, hat Heidegger diese Frage fast gestreift , als
er im Zentrum der Analytik des Seins-zum-Tode den folgenden
Punkt betrachtet hat: Indem das Existierende seine eigentlichste
Möglichkeit ausgehend vom Tod als Ende aller Möglichkeiten be­
greift , »bannt das Dasein die Gefahr, [ . . . ] die es überholenden
Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen . « Derart »ver­
einzelt der Tod aber nur, um als unüberholb are [Möglichkeit]
das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das S einkönnen
der Anderen .« (§ 5 3 ) . Doch könnte dieses Verständnis der Mög­
lichkeiten von anderen - wenn es denn möglich ist, ausgehend
von dieser Passage, die isoliert bleibt, etwas dazu zu sagen -
ohne eine andere Form des Prozesses zum »situationsmäßig ge­
forderte [n] A ufgeben eines bestimmten Entschlusses« führen,
wie ich weiter oben zitiert habe? Vermutlich ist auf die »Selbst­
aufgabe« im Kontext, der dem § 5 3 unmittelbar vorausgeht, als
auf die »äu ßerste Möglichkeit« verwiesen worden, und der Über­
gang , der an die »Möglichkeiten anderer« gemahnt , leitet direkt
auf die des Aufgebens über.
Allerdings ist diese Verkettung nicht deutlich. Es gibt nichts,
was das Aufgeben als privilegierten Modus des »Verständnisses
der Möglichkeiten anderer« explizit macht . Und dies umso weni- ·

ger, als »die anderen«, die ebenfalls nicht genauer ausgeführt


sind, nicht als »Volk« identifiziert werden können . Der Übergang
- Sprung oder Wandel - vom Plural zum Singular ist nicht aus-

1 70
geführt - und wie wir wissen, auch später nicht . Wie kann man
das »Opfer« des Aufgebens begreifen, wenn es nicht an die In­
dienstnahme einer geschickhaften Sache gebunden ist, für die
hier die »Möglichkeiten der anderen« keinerlei H inweis geben?
Zwischen dem »Opfer« des Aufgebens und dem »Verständnis der
anderen«, ebenso wie zwischen dem »Volk« und »den anderen
entsprechend dem Mitsein« besteht ein Abstand , der weder an­
gezeigt, noch folglich analysiert, sondern vielmehr, mit Absicht
oder nicht, übergangen worden ist . Ein weiteres Mal leidet dar­
unter das Mit und das Teilen des Todes.

Koda

Oder müßte man dem gleichzeitg einen anderen Namen hinzu­


fügen, einen Namen, den Heidegger außerhalb des Textes aus­
sprach, außerhalb des Werks , aber nicht außerhalb des D enkens ,
und zwar genau zur Zeit von Sein und Zeit?
Im Briefwechsel mit Hannah Arendt aus den Jahren 1 925 bis
1 92 8 findet man die sehr genauen, wenig entwickelten, aber sehr
expliziten Elemente eines Denkens der Liebe, die sich genau zwi­
schen dem Uneigentlichen und dem Eigentlichen des Mit in Sein
und Zeit einfügen könnte. Die Liebe ist dort in der Tat als der
wahrhafte Ort eines »Uns« und einer »unseren« Welt b ezeichnet,
und gleichzeitig verkörpert sie das wahrhafte »Besorgen« um den
Anderen, denn die Formel für sie ist Augustinus entlehnt und
lautet : »Volo ut sis«, ich will , daß du seist, der du bist. So ist die
Liebe Mitglauben * , ein Glaub e , der in der Geschichte des An­
deren geteilt wird , und Mitergreifen *, das geteilte Ergreifen der
Möglichkeiten des Anderen, und dies so, daß die Liebe ein immer
singuläres Mit ist: »Deine Liebe - denn >die< Liebe, das gibt es
nicht .«
Man findet also in diesen Briefen eine bestimmte existenziale
Analytik einer Teilung, dernach die Liebe sich zwar nicht an die
Stelle des Todes setzt , j edoch mit ihm zusammentrifft . Ich will

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diese Briefe hier keiner Lektüre unterziehen, was andernorts ge­
schehen muß . Aber unerläßlich ist es, festzuhalten, daß die Auf­
rechterhaltung der Liebe außerhalb der allgemeinen Sphäre des
Mit, deren Wahrheit sie j edoch verwahrt - eine Aufrechterhal­
tung, an der Hannah Arendt selbst ihr ganzes Werk hindurch
festgehalten hat , wo der »amor mundi« die Leidenschafts-Liebe
zweier Existierender ausklammert und nur als Ausnahme behan­
delt - Heidegger nicht eigen ist und im Gegenteil ein Axio m des
gesamten Denkens des »Gemeinsamen« in der gesamten Tradi­
tion darstellt - in j ener Tradition übrigens, die in ihrer Struktur
dem christlichen Gebot der Liebe ständig gegen-exponiert ist . Un­
sere Betrachtungen zu diesem Paradoxon und seinem Geheim­
nis sind noch zu keinem Ende gekommen.

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Nachwort des Übersetzers

Das Projekt, das Nancy in seinem Grundlagenwerk »Singulär plural


sein« verfolgt, könnte man »Prolegomena für eine Neuausarbeitung von
Sein und Zeit« nennen. Nancy ist der Auffassung, daß Heideggers frühes
Hauptwerk einerseits das unhintergehbare Werk der neueren Epoche
der Philosophie ist, daß die Analytik des Daseins andererseits aber einen
grundlegenden Fehler aufweist: dem Mitsein nicht genügend Gewicht
beigemessen zu haben. Dieser bringt sie nicht nur um die entscheiden­
den Früchte ihres Vorhabens, sondern ist letztlich auch für die ebenso
unbestreitbare Tatsache verantwortlich, daß Heidegger ein Parteigänger
des Nationalsozialismus war und dadurch seine eigene Philosophie zu­
tiefst desavouiert hat.
Nancy begründet seine These zum Teil in politischen Essays, die im
französischen Original dem Grundlagentext folgen, die auf deutsch je­
doch gesondert erscheinen sollen, ergänzt um weitere politische Essays,
die nach 1 99 5 , also nach der Publikation des französischen O riginals,
entstanden sind.
Heidegger hat nach Nancy also dem »Mit« eine zu schwache, nur un­
tergeordnete und damit verfälschende Bedeutung zugemessen . Nancy
will die groben Umrisse einer korrigierten Daseinsanalytik, also einer
Existenzialanalytik des Mitdaseins geben. Dabei geht er von Heidegger­
schen Begriffen aus, die sich dann aber unter seiner Regie eigenständig
weiterentwickeln.
Dies ist der Grund, weshalb wir uns oftmals dazu entschieden haben,
die Nancy'schen Begriffe nicht in den Heideggerschen Sprachduktus
rückzuübersetzen. Nancy spricht, wenn er Heidegger zitiert oder im en­
geren Sinne auslegt, oft von »Mitsein« und benutzt den deutschen Be­
griff, entwickelt dagegen aber ausführlich ein Etre-avec, das er zuweilen
auch als Mit-sein tituliert und das sich im Lauf der Auslegung von
Heidegger wegbewegt Es wäre hier verfälschend gewesen, diesen - wie
auch andere Heideggersche Begriffe - wieder in dessen Korsett zurück­
zuzwingen. Dies betrifft insbesondere auch Nancys Begriff der Exposi­
tion, der zunächst eine Übersetzung von »Auslegung« ist, sich dann aber
entscheidend verselbständigt und sich in trankaphone Sprachspiele ver­
strickt - so daß ein Festhalten an Heideggerschen Sprachmustern für
deutsche Leser sogar irreführend gewesen wäre.
Insgesamt gilt, was Nancy für den französischen Text geltend macht,
auch für den deutschen: daß nämlich »die Logik des »mit« [. . .] oft zu ei­
ner ziemlich schwerfälligen Syntax zwingt« und »die Sprache sich
schlecht dazu eignet, ein »Mit« als solches auszustellen . « Oft haben wir

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uns um der Sache willen für einen enger am französischen Original ori­
entierten Stil entschieden, der womöglich zusätzlich zulasten einer
leichten Lesbarkeit geht.
F ü r Hilfen zum Verständnis des Textes, zu zitierten Texts tellen und zu
Varianten der Übersetzung danke ich Clemens Bellut, für tatkräftige Un­
terstützung Petra Thöring. Ein besonderer Dank geht an den »Deutschen
Übersetzerfonds e . V . « , der durch das Johann-Joachim-Christoph-Bode­
Stipendium wichtige Hintergrundrecherchen für die Arbeit an der Über­
setzung ermöglicht, und an Vincent v. Wroblewsky, der sie mit mir rea­
lisiert hat.

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