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diaphanes
Dieses Buch erscheint mit Unterstützung
des Programms Kultur 2000 der Europäischen Union
Kultur 2000
Vorbemerkung 13
7. Ko-Existenz 73
9. Miterscheinung 93
1 3 . Ko-existenziale Analytik 1 43
Anhang:
Das Mit-sein des Da-seins 151
Friedrich Nietzsche,
Also sprach Zarathustra, Erster Teil,
»Von der schenkenden Tugend« , 2
Dieses Motto ist ganz bewußt gewählt. Ich gehe das Risiko ein, daß
in ihm scheinbar der christlich-idealistisch-humanistische A kzent
anklingt, an dem man m ühelos die Konformisten zu erkennen
glaubt, deren Tugenden und Werte, blind und verschworen zu
gleich, all das entfesselten, was die Menschheit unseres Jahrhun
derts später zur Verzweiflung an sich selbst gebracht hat. Und si
cher hat auch Nietzsche auf seine A rt teil an dieser zweifelhaft
moralisierenden Frömmelei. Allerdings ist das Wort »Sinn« bei
ihm recht selten, und noch seltener dessen positiver Gebrauch:
Man wird also gut daran tun, die Interpretation hier nicht zu
überstürzen. Dieser Text beruft sich auf »einen Sinn des Men
schen« , wobei er jedoch unterstreicht, daß der Mensch noch zu
entdecken bleibt. Damit der Mensch entdeckt wird und »mensch
licher Sinn« einen Sinn erhält, m uß zunächst das, was in bezug
auf die Natur, das Wesen oder die Bestim mung »des Menschen«
Anspruch auf Wahrheit erhob, zerlegt werden. A nders gesagt, es
darf nichts mehr übrig bleiben von dem, was unter dem Titel des
Sinns Erde und Mensch in einen benennbaren Horizont gerückt
hat. Inzwischen sind wir - auch dies hat Nietzsche gesagt -
»im Horizont des Unendlichen«, sprich dort, wo es »kein > Land<
mehr« gibt - und es gibt »nichts Furchtbareres... als Unendlich
keit« .1
Werden wir diese Lehre endlich befolgen, sollten wir endlich die
Fähigkeit erlangt haben , zuzuhören - oder können wir gar inzwi
schen nichts anderes mehr hören als dies? Und können wir eine
Erde und einen Menschen denken, die sind, was sie sind, sprich
nichts als Erde und Mensch, und dann auch kein unter diesen Na
men versteckter Horizont, keine der » Perspektiven« oder »Sicht
weisen« , durch die wir die Menschen verzweifeln ließen und ver
unstaltet haben? » Horizont des Unendlichen« heißt: überhaupt
kein Horizont mehr, sondern das »All« (alles, was ist) , das über
all aus dem Selbst hinaus- als auch in es hineingetragen, -gesto
ßen wurde. Keine Linie mehr, die gezogen wurde, noch eine, die
9
sich ziehen ließe, um daran die Marschroute auszurichten oder ei
nen Hinweis für den Kurs zu erhalten. Wir haben es mit einer Bre
sche oder einer Öffnung [ecartement] im Horizont selbst zu tun,
und in der Bresche wir. Wir als die Bresche selbst, der unwäg
-
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ist, eine Welt, die an der Welt und am Sinn der Welt krankt. Sie
ist Aufzählung- und tatsächlich dringt an die Oberfläche nur die
Zahl, das Wuchern dieser Pole der A nziehung und Abstoßung. Sie
ist eine endlose Liste - und alles spielt sich ab, als würde man
zu einer Buchhaltung verdammt, die keinerlei Bilanzen kennt;
eine Litanei - also ein Gebet, aber des bloßen Schmerzes und der
bloßen Verwirrung - ist diese tägliche Klage aus dem Mund
von Millionen Flüchtlingen, Deportierten, Belagerten, Versehrten,
Hungernden, Vergewaltigten, Verschanzten, A usgeschlossenen,
Exilierten und A usgewiesenen.
Ich spreche von Mitleid: aber es geht dabei nicht um ein Mitgefühl,
das über sich selbst in Rührung gerät und sich daraus speist. Mit
Leid: das heißt Ansteckung, Berührung des Mit-ein-ander-seins in
diesem Getümmel. Weder Altruismus noch Identifikation, son
dern Erschütterung durch brutale Kontiguität.
Was will dieses Wuchern von uns, das keinen anderen sichtbaren
Sinn hat als eine unbestimmte Vervielfachung zentrifugaler Sin
ne, die dann keinen Sinn mehr haben oder jedenfalls auf nichts
anderes mehr verweisen als auf ihre eigene Schließung am Hori
zont ihrer Aneignung, und die außerhalb nichts mehr vertreten
als Destruktion, Haß und Negation der Existenz?
Und wenn diese autistische, zerreißende und zerrissene Vielheit
uns ankündigen wollte, daß wir noch nicht zu entdecken begon
nen haben, was es mit dem Zu-mehreren-sein auf sich hat, wo
doch die »terre des hommes« nichts anderes ist als dies? Wenn sie
uns also ankündigen wollte, daß sie selbst das erste Mal entblößt
dasteht als Welt, die nichts als Welt ist, absolut und ohne Rück
halt, ohne jeden Sinn außerhalb dieses Selbstseins: auf einzig
artige Weise vielfach und auf vielfache Weise einzigartig, singulär
plural und plural singulär?
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Die vorliegende Übersetzung erscheint mehrere Jahre nach dem
Original - der Bedarf an einer »pluralen Ontologie« ist deshalb
nur offensichtlicher und dringlicher geworden. Wir befinden uns
in einer Welt, die scheinbar n ur von individuellen Atomen und
großen ökonomischen und geopolitischen Einheiten geteilt zu wer
den vermag. Oder von Multituden, durch die sich Brownsche Be
wegungen und dickflüssige Strömungen hindurchziehen, die die
se Multituden a ussaugen und gerinnen lassen. Der Raum, der
fehlt, ist just der des singulär P luralen. Also auch der des Seins -
und damit dessen, was entschieden nicht das Substrat des Seien
den in toto ist, sondern vielmehr die Existierenden gemeinsam auf
den Weg bringt, mit zu sein mit allen (den Menschen, Tieren,
Pflanzen, Lebenden und Toten, Elektronen, Galaxien ... ). Das
Mit, seine irreduziblen Struktur der Nähe und des Abstands, seine
irreduzible Spannung, die es zwischen dem Einen und dem Ande
ren erzeugt, steht uns erneut bevor und muß gedacht werden:
Denn nur mit ergibt Sinn.
Vorbemerkung
13
des Mit-seins oder des Zusammen-seins, von dem ich hier spre
chen möchte . Der Diskurs einer Abhandlung genügt also nicht .
Es genügt auch nicht, den Diskurs durch eine bestimmte Form
der Anrede zu v erkleiden (als würde ich Dich die ganze Zeit du
zen) . Anrede soll zugleich heißen, daß das Denken selbst »mich«,
»uns« anspricht , ausgehend von der Welt, der Geschichte, den
Menschen, den Dingen, ausgehend von »uns« . Daher rührt ein
anderer Ehrgeiz, oder besser eine andere, verdichtetere Erwar
tung : daß die Anrede wahrnehmbar wird von einem Denken, das
uns von überall her erreicht, simultan, vielfach, wiederholt, insi
stierend und variabel, und dabei niemand anderem ein Zeichen
gibt als »uns« und unserem neugierigen »Mit-ein-ander-sein«,
die-einen -die-anderen -anredend .
(Nebenbei sei erwähnt : D i e Logik d e s »mit« zwingt oft z u einer
ziemlich schwerfälligen Syntax, um das »Mit-ein-ander-sein«
[»etre-les-uns-avec-les-autres«} auszudrücken . Man könnte bei
der Lektüre dieser Seiten darunter leiden . Vielleicht ist es aber
kein Zufall, daß die Sprache sich schlecht dazu eignet, ein »Mit«
als solches auszustellen. Denn die Anrede ist das Mit selbst, und
nicht das , was angesprochen werden soll) .
14
Vom singulärpluralenSein
»Gut ist es, an andern sich zu halten,
denn keiner trägt das Leben allei n . «
Friedrich Hölderlin
Karl Marx,
A us den Exzerptheften ,
MEGA I , 5 36
1. Daß wir der Sinn sind
Man wiederholt heute oft, daß wir unter Sinnverlust leiden, daß
wir Mangel, folglich Bedarf an Sinn haben , und folglich auf Sinn
warten. Das »Man«, das so spricht, vernachlässigt nur, daß die
Äußerung eines solchen Diskurses Sinn macht. Bedauern über
einen abwesenden Sinn macht i mmer noch Sinn. Aber es macht
Sinn nicht nur im Modus des N egativen, wo es die Präsenz des
Sinns verneint und folglich bejaht, daß man weiß, was Sinn
wäre, wenn er da wäre, und in diesem Mo dus die Herrschaft und
Wahrheit des Sinns bewahrt (das ist der Anspruch der humanis
tischen Diskurse, die fordern oder vorschlagen, den Sinn »wie
derzufinden«) . Der gegenwärtige Diskurs über den Sinn tut
mehr. Ob er es weiß oder nicht, er tut viel mehr und er tut etwas
ganz anderes : Er macht klar, daß »der Sinn«, derart absolut ge
braucht , der entblößte Name unseres Mit-ein-ander-seins ist . Wir
»haben« keinen Sinn mehr, weil wir selbst der Sinn sind, ganz
und gar, ohne Rückhalt, unendlich, ohne einen anderen Sinn als
»UDS«.
Das heißt nicht, daß wir der Inhalt des Sinns wären, seine Fül
lung oder seine Erfüllung, so wie man sagt, daß der Mensch der
Sinn (der Zweck, die Substanz oder der Wert) des Seins , der Na
tur oder der Geschichte sei . Der Sinn in diesem S inne, sprich: die
Bedeutung, die ein faktischer Zustand annähme und nach der er
zu bemessen wäre, ist genau das, von dem wir sagen, daß wir es
verloren haben . Aber der Sinn als Element, in dem Bedeutungen
hervorgebracht werden und zirkulieren können, das genau sind
wir. Die geringste Bedeutung ebenso wie die höchste (der Sinn
des »Nagels« wie der Sinn »Gottes«) hat nur dann einen Sinn und
ist also das, was sie ist, oder macht, was sie macht, wenn und in
sofern sie kommuniziert wird - und sei es nur von »mir« zu »mir
selbst« . Der Sinn ist seine eigene Kommunikation, oder seine ei
gene Zirkulation. Der »Sinn des Seins« ist nicht irgendeine Eigen
schaft, welche das bloße Gegebene des reinen und einfachen
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»Seins« qualifiziert, füllt oder nach einem Zweck hin ausrichtet. 2
Viel eher ist der Fall , daß es kein »bloßes Gegebenes« des Seins
gibt, daß es das so rettungslos arme Es gibt, das man repräsen
tiert, wenn man sagt , daß dort ein Nagel herumliegt, nicht gibt . ..
Doch das Gegebene des Seins , das Gegeb ene, das schon mit dem
Faktum, daß wir etwas begreifen , gegeben ist - was dies auch sei
und so konfus es sein mag - dieses Gegebene ist folgendes: Das
Sein selbst ist uns gegeben als der Sinn. Das Sein hat keinen Sinn,
aber das Sein selbst, das Phänomen des Seins , ist der Sinn , der
seinerseits seine eigene Zirkulation ist - und wir sind diese Zir
kulation.
Es gibt keinen Sinn, wenn der Sinn nicht geteilt wird, nicht,
weil es eine - letzte oder erste - Bedeutung gäbe, die allen ge
mein wäre , s ondern weil der Sinn selbst als Teilen [partage]
des Seins ist. Der S inn beginnt dort, wo die Präsenz nicht reine
Präs enz ist, sondern sich verzweigt und als solche sie selbst ist .
Dieses »als« unterstellt Abstand [ecartement], Verräumlichung
[espacement] und Teilung [partition] der Präs enz . Allein schon
der Begriff der »Präsenz« enthält die Notwendigkeit dieser Auf
teilung. Die reine ungeteilte Präsenz , Präsenz zu nichts, von
nichts , für nichts, ist weder an- noch abwesend: bloße Implosion
ohne Spuren eines Seins, das somit nie gewesen ist.
D eshalb ist, was man die »Schöpfung der Welt« nennt , nicht die
Produktion eines reinen Etwas ausgehend von nichts, das folg
lich nur implodieren würde im Nichts , aus dem es nie hervor
getreten wäre, sondern es ist die Explosion der Präsenz in der
2. Man erkennt leicht, was hier dem §32 aus Sein und Zeit entstamm t . Es
kommt mir jedoch im allgemeinen - und wenn, dann nur im Notfall - weniger
darauf an zu entwickeln, was ein Kommentar Heideggers ergäbe, als weiter
zugehen ausgehend von ihm und einigen anderen - was letztlich heißt: ausge
hend von uns. In diesem uns, und in dieser Beziehung zu Heidegger muß
erinnert werden an den enormen Anteil, den Hannah Arendt und ihr Denken
der »menschlichen Pluralität« daran hat, das jetzt auf französisch zugänglich ist
(Qu'est-ce que la politique?, übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Syl
vie Courtine-Denamy, Paris 1995 [dt . : Was ist Politik? Fragmente aus dem Nach
laß, hrsg . Von Ursula Ludz, München 1 9 93]) .
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ursprünglichen Vielheit ihrer Aufteilung. Explosion des Nichts, in
der Tat : Verräumlichung des Sinns, Verräumlichung als Sinn,
und Zirkulation. Das nihil der Schöpfung ist die Wahrheit des
Sinns , aber der Sinn ist das ursprüngliche Teilen dieser Wahr
heit . Was sich auch auf diese Weise ausdrücken läßt: Das Sein
kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als
das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert .
Es gibt keinen anderen Sinn als - wenn es denn erlaubt ist, dies
so auszudrücken - den Sinn der Zirkulation 3 - und diese dringt
gleichzeitig in alle Richtungen, durch die Präsenz in die Präsenz,
in alle Richtungen aller offenen Raum-Zeiten . Alle Dinge, alles
Seiende, alles Existierende, die Vergangenheiten und die Zu
künfte4 , die Lebenden und die Toten, die Unbeseelten, die Steine,
die Pflanzen, die Nägel , die Götter - und »die Menschen«, sprich,
diej enigen, die Teilen und Zirkulation als solche exponieren, in
dem sie »wir« sagen, indem sie zu sich wir sagen in j edem mög
lichen S inn dieses Ausdrucks, und indem sie zu sich wir für die
Totalität des Seienden sagen.
(Wir zu sagen für alles Seiende, das heißt für jeden Seienden, für
je alle Seienden einzeln, jedes Mal im Singular ihres wesensmäßi
gen Plurals. Für alle, an ihrem Platz, in ihrem Namen - darunter
diejenigen, die vielleicht keinen Namen haben -, die Sprache
spricht für alle und von allen, sie sagt das, was es mit der Welt,
der Natur, der Geschichte und dem Menschen auf sich hat, und sie
spricht auch für sie und im H inblick auf sie, um den zu leiten, der
spricht, denjenigen, durch den die Sprache ankommt und durch
dringt (»der Mensch«) in Richtung auf jenes Ganze des Seienden,
3. Sens: Sinn, Richtung. Nancy spielt darauf an, daß der Ausdruck »sens de la
circulation«, S inn der Zirkulation, in der Umgangssprache als »Richtung des
Straßenverkehrs« geläufig ist, wo der Satz dann folgendermaßen verstanden
würde: Es gibt keine andere Richtung . . . als die Richtung des Straßenverkehrs -
und der geht in alle Richtungen (A . d . Ü . ) .
4. A-venir, wiedergegeben mit Zu-kunft, ein Begriff Derridas, der sowohl Zu
kunft im Sinn von »was kommt« als auch im Sinn von »was zu kommen hat«
bedeutet (A . d.Ü . ) .
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das nicht spricht, aber das deshalb nicht weniger ist - Stein,
Fisch, Faser, Teig und Riß, Block und H auch . Der Sprechende
spricht für die Welt, was heißen so ll: zu ihr hin, in i hre Richtung,
zu ihren Gunsten, a lso um aus ihr eine » Welt« zu machen, und
insofern »an i hrer Stelle«, und »nach ihrem Maß« , als ihr Reprä
sentant, aber zugleich auch (alle Wertigkeiten des lateinischen
>pro<) ihr entgegen , vor i hr, ihr ausgesetzt, als zu ihrer eigensten
und intimsten Betrachtung. Die Sprache sagt die Welt, das heißt
sie verliert sich in i hr, und führt aus, wie es »in ihr« darum geht,
sich zu verlieren, um eine von ihr, mit ihr zu sein, um von ihrem
Sinn zu sein, der aller Sinn ist) .
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überall, unerschöpflich in der U mschreibung, die nichts um
schreibt, die »das« Nichts umschreibt. Wir machen Sinn: nicht,
indem wir über Preise oder Werte debattieren, sondern indem
wir den absoluten Wert ausstellen, der die Welt aus sich selbst
heraus ist. »Welt« will nichts anderes besagen, nichts als dieses
»Nichts« , das nichts »besagen wollen« kann, das aber alles Sagen
sagt: das Sein selbst als absolutes Werten an sich all dessen, was
ist; aber dieses absolute Werten als Mit-sein von allem was ist,
ist selbst nackt und nicht wertbar. Weder Besagen-wollen, noch
wertendes Sagen [ ni vouloir-dire, ni dire-valoir], sondern der
Wert als solcher, das heißt »der Sinn«, der nur deshalb derj enige
des Seins ist, weil er das Sein selbst ist: seine Existenz, seine
Wahrheit. Die Existenz j edoch ist mit: o der es existiert nicht s .
D i e Zirkulation - oder d i e Ewigkeit - reicht in alle Sinn-Richtun
gen, aber sie reicht dorthin nur, insofern sie von einem Punkt zu
einem anderen verläuft: Verräumlichung ist ihre absolute Bedin
gung. Von Ort zu O rt und von Augenblick zu Augenblick, ohne
Progression, ohne lineare Bahn, i m einzelnen Fall und von Fall
zu Fall, zufällig ihrem Wesen nach, ist sie singulär und p lural
schon ihrem Prinzip nach . So wenig wie eine letztliehe Erfüllung
gibt es für sie einen Ausgangspunkt . Sie ist die ursprüngliche Plu
ralität der Ursprünge und die Schöpfung der Welt in j eder Singu
larität : kontinuierte Schöpfung in der Diskontinuität ihrer diskre
ten Vorkommniss e . Wir- genau wir5- sind nunmehr befaßt mit
dieser Wahrheit, die mehr denn je die unsere ist, j ener Wahrheit
der paradoxen »ersten Person Plural«, die den Sinn der Welt aus
macht als die Verräumlichung und Verflechtung ebenso vieler
Welten - Erden, Himmel, Geschichten - wie es Statt-finden des
5. »Zwischen dem >wir alle< des abstrakten Universalismus und dem >Ich, ich<
[moi, je} des elenden Individualismus gibt es das >genau wir< [nous autres]
Nietzsches, ein Denken des singulären Falls, der den Gegensatz von Partikula
rem und Universellem ausspielt«. Fran<;ois Warin, Nietzsche et Bataille. La para
die a l'infini, Paris, 1994, S. 256; (Das emphatische Wir des »nous autres«, das
wir mit »genau wir« wiedergeben, erweckt im Französischen zugleich die Asso
ziation des »Anderen« [autre} (A.d.Ü.)].
23
Sinns gibt, oder Übergänge der Präsenz. »Wir« besagt (und »wir
sprechen aus«) - das einzige Ereignis , dessen Einzigartigkeit und
Einheit in der Vielheit besteht .
2. Die Leute sind sonderbar
Alles spielt sich also unter bzw. zwischen uns [entre nous} ab :
dieses »Zwischen« hat, wie sein Name es andeutet, weder eine ei
gene Konsistenz, noch Kontinuität . Es führt nicht von einem zum
anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement , keine Brücke .
Vielleicht ist es nicht einmal richtig, von ihm als von einem
»Band« zu sprechen: Es ist weder gebunden noch ungebunden,
es ist diesseits von beidem, o der aber es ist das , was i m Zentrum
eines Bandes ist, die Kreuzung der Quentchen, deren Extremitä
ten bis in ihre Verknotung hinein getrennt bleiben. Das »Zwi
schen« ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären
als solchem eröffnet wird , und eine Art Verräumlichung seines
Sinns . Was nicht die Distanz des »Zwischen« hält, ist nichts als
in sich verschmolzene I mmanenz und sinnentleert .
Von einem Singulären zum anderen b esteht Kontiguität , aber
ohne Kontinuität . Es gibt Nähe, j edoch insofern, als noch das ex
trem Nahe den Abstand beklagt, der sich vor ihm auftut . Alles
Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist
Trennung, und mehr noch, es ist Heterogenität der Oberflächen,
die sich berühren. Der Kontakt ist j enseits von voll und leer,
von gebunden und ungebunden . Ist »in Kontakt treten« der Be
ginn, für ein-ander Sinn zu machen, so dringt dieser »Anfang« in
nichts , in keinerlei dazwischenliegendes vermittelndes Milieu.
Der Sinn ist nicht ein Milieu , in das wir eingetaucht sind: Es gibt
keinen »Halb-Ort« [mi-lieu} , es ist das eine oder das andere , das
eine und das andere, das eine mit dem anderen, aber nichts, das
zwischen dem einen und dem anderen, oder noch etwas anderes
wäre als das eine oder das andere (etwa ein anderes Wesen, eine
andere Natur, eine diffuse oder unbegründete Allgemeinheit) .
Zwischen dem einen und dem anderen wiederholen sich in Syn
kopen die Ursprünge-der-Welt , die j edes Mal das eine o der das
andere sind .
.�Ursprung ist Affirmation; Wiederholung ist Bedingung der Af
firmation. Sage ich »Dies ist, damit dies s ei«, so ist das kein »Fak-
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turn«, und es hat nichts zu tun mit irgendeiner Art von Bewer
tung [ eualuation], es ist die Beschneidung einer Singularität in
ihrer Affirmation des Seins: eine Berührung von Sinn . Was kein
anderes Sein ist, s o ndern das .Singuläre des Seins, durch welches
das Sein ist, oder das Sein, welches das Seiende ist in einem tran
sitiven Sinn des Verbs (unerhörter Sinn, unhörbar - der Sinn des
Seins selbst) . Die B erührung des Sinns bringt eine eigene Singu
larität ins Spiel, ihre Unterscheidung - und die Pluralität des »j e
des Mal« aller Berührungen des Sinns , die »meinigen« wie alle
anderen, von denen j ede, wenn sie an der Reihe ist und auf ihrer
Bahn [a son tour], »meine« ist, entsprechend der singulären Bahn
ihrer Affirmation .
E s gibt also sogleich eine Wiederholung der Berührungen des
Sinns, die der Sinn erfordert. Eine solche absolut heterogene, in
kommensurable Wiederholung löst untereinander eine irreduzi
ble Fremdheit aus . Der andere Ursprung ist unvergleichbar, nicht
weil er schlicht der »andere« wäre, sondern weil er Ursprung
und Berührung des Sinns ist . Oder vielmehr: Die Alterität des
Anderen ist s eine Kontiguität des Ursprungs mit dem Ursprung
»selbst« . Du b ist absolut fre�m d, denn die Welt beginnt ihrerseits
(und mit ihrer Bahn) oei dir.
6
Wir sagen: »Die Leute sind sonderbar « . Dieser Satz ist eine un
serer konstantesten rudimentären ontologischen Bezeugungen.
Und tatsächlich besagt er viel. »Die Leute« sind alle anderen, un
unterschieden, bezeichnet als Ensembles von Bevölkerungen ,
Ahnenreihen oder Rassen (gentes) , von denen derj enige , der
spricht, sich folglich ausnimmt. (Er nimmt sich freilich auf sehr
besondere Weise aus, denn die Bezeichnung ist so allgemein - in
diesem Fall muß man es so ausdrücken . . . - , daß sie unvermeid
lich auf den S precher zurückfällt. Wenn ich s age, daß »die Leute
6. Die französische Wendung »!es gens sont bizarre« ist ein verbreiteter ge
wöhnlicher Ausdruck, dem umgangssprachlich: »die Leute sind komisch«, ent
spricht; wir benötigen »komisch« für comique und übersetzen hochsprachlicher
mit »sonderbar«. (A. d.Ü.)
26
sonderbar« sind, schließe ich mich in gewisser Wei se in diese
Sonderbarkeit mit ein) .
Der Ausdruck » les gens« deckt das Heideggersche »Man« nicht
genau ab 7 , auch wenn er teilweise dessen Modalisierung ist. Im
»Man« - so wie man es sagt - ist nicht immer entschieden, ob
derjenige, der spricht, sich selbst in die Anonymität des »man«
einschließt oder nicht . Zum Beispiel kann ich s agen: »Man h at
mir gesagt«, oder »Man sagt, d aß«, oder: D as macht man so«,
oder »Man wird geboren, man stirbt« : Das »man« ist hier nicht
gleich verwendet, und vor allem ist es nicht sicher, daß hier
immer das »Man« von sich selbst (ausgehend von sich selbst)
spricht. Heidegger seinerseits betrachtet nur das »Man«, das als
Antwort auf die Frage »Wer?«, bezogen auf das Dasein * , aus
gesprochen wird , aber er stellt nicht die andere Frage, die j edoch
unvermeidlich ist, nämlich wer diese Antwort gibt und wer,
wenn er so antwortet, sich s elb st ausnimmt oder jedenfalls dazu
neigt . Dadurch läuft er Gefahr zu übersehen, daß es ein »Man«,
in dem das Existierende als »eigentlich Existierendes« vor allem
anderen eingetaucht wäre, schlicht und einfach nicht gibt. »Les
gens« bezeichnet klar die Modalisierung des »Man« , durch wel
ches »ich« mich davon ausnehme - und in diesem Fall so, daß es
scheint, als hätte ich vergessen oder vernachlässigt , selbst ein
Teil der »gens«, der Leute, zu sein. Dennoch kommt dieses Bei
seiteschieben nicht ohne Anerkennung der Identität aus : »Les
gens« drückt ebenso klar aus , daß wir alle genau »gens« sind, das
heißt in ununterschiedener Weise Personen, Menschen, ein gan
zes gemeinsames genre, j edoch ein Genre, das nur zahlreich exi
stiert , zerstreut, ununterschieden in seiner Allgemeinheit und
faßbar nur in der paradoxen Simultaneität der (anonymen , ver-
7. Ich halte mich hier weder bei einer möglicherweise i nstruktiven Untersu
chung der Bezeichnungen »Leute« [gens] und »Man« [an} i n unterschiedlichen
Sprachen auf, noch bei der Geschichte des Wortes »Leute [les gents}« (gentes,
»Gentils« [Adlige], Nationen, usw. ) .
Deutsche Begriffe i m Original werden mit einem nachgestellten Asteriskus*
gekennzeichnet (A. d . Ü . ) .
27
worrenen, j a massiven) Menge und der verstreuten Singularität
(der Leute: j edes Mal diese oder j ene »gen (s) «, Leute, oder wie
wir sagen »ein Typ«, »ein Mädchen«, »ein Kind«) .
»Die Leute« ist nicht das anonyme Gerede der »Öffentlichkeit« ,
sondern die zugleich ungenauen und vereinzelten Umrisse, die
Andeutungen von Stimmen, der Verhaltensmuster, der Affekt
regungen . Aber was ist ein Affekt , wenn nicht j edes Mal eine Re
gung? Eine Stimme, wenn nicht j edes Mal eine Andeutung? Was
ist eine Singularität , wenn nicht j edes Mal ihr »eigenes« Bahnen ,
ihr eigenes Bevorstehen, das Bevorstehen eines »Eigenen« oder
das Eigene selbst als Bevorstehen, immer berührt, immer ge
streift : Es zeigt sich neben-an [a c6te] , i mmer nebenan. (Wie der
Argot-Ausdruck sagt: »a c6te de ses pompes« 8 - und das Komi
sche des Ausdrucks ist kein Zufall , ob er eine Besorgnis über
deckt oder dem Lachen eines Nicht- Wissens freien Lauf gibt:
immer handelt es sich um ein Zurückweichen vor dem Aller
nächstliegenden, seine Vermeidung und Entleerung, eine im
voraus geahnte Sonderbarkeit, die doch gerade die Regel ist . )
D i e Ausnahme oder Unterscheidung , durch die »ich« mich ab
setze , wenn ich »die Leute« sage, weise ich irgendwie auch j e
dem (j eder) der Leute zu . Vermutlich deshalb ziehen die Leute s o
oft d a s Urteil a u f sich : »Die Leute sind sonderbar« , oder »Die Leu
te sind unmöglich«. Es geht nicht nur und in erster Linie darum
(was auf lange Sicht evident ist) , unseren eigenen Habitus zur
Norm zu erheben. Man muß eine einfachere Ordnung dieses Ur
teils herausfiltern, wo das , was es aufgreift, nichts anderes ist als
Singularität als solche. Vom Gesicht zur Stimme, zu den Gesten,
den Haltungen, dem Gebaren und Benehmen - und was auch im
mer die »typischen« Züge sind, die so großzügig verteilt werden :
Es gibt niemanden , der sich nicht bemerkbar macht durch eine
Art augenblickliche Überstürztheit, in der sich die Fremdheit
einer Singularität ausdrückt . Ohne solche Überstürztheit gäbe es
schlicht keinen »j emand« . Und es gäbe auch nicht Interesse oder
28
Feindschaft, Verlangen oder Abscheu , auf wen es sich auch im
mer beziehen würde.
Jemand , sie oder er - so wie man bei einem Photo sagt: »Das ist
ganz er« und damit meint, daß durch dieses »ganz« eine Abwei
chung, eine Angleichung des Ungleichen verdeckt wird, die auf
nichts anderes bezogen werden kann als auf ein »augenblickli
ches« Erfassen des Augenblicks , der eben nichts anderes i st als
seine eigene Abweichung. Das Photo - ich spreche vom alltägli
chen, banalen Photo - macht gleichzeitig Singularität und Bana
lität deutlich, und unsere Neugierde , die zwischen beidem hin
und herpendelt
Das Prinzip der Ununterscheidbarkeit erreicht hier seine ent
scheidende Zuspitzung. Die Leute sind nicht nur unterschiedlich,
sondern sie unterscheiden sich alle - wenn von sonst nichts,
dann voneinander. Sie unterscheiden sich nicht von einem Ar
chetyp oder einer Allgemeinheit. Die typischen Züge (ob sie nun
ethnisch, kulturel l , sozial oder generationsbedingt usw. s eien) , ·
29
exklusiven lokal-augenblicklichen Wendung. Ihre Einheit, Ein
zigkeit und Totalität besteht in der Kombinatorik dieser vernetz
ten Vielheit ohne Resultante.
Ohne diese Bezeugung gäbe es keinerlei erstliehe Bezeugung
der Existenz als solcher, das heißt j enes Nicht-Wesens und j ener
Nicht-durch-sich-Substanz, die den Grund des Selbst-seins aus
macht . Deshalb ist das Heideggersche Man als erste Annäherung
an die existentielle »Alltäglichkeit« nicht hinreichend. Es be
wirkt, daß das Alltägliche m it dem Indifferenten, Anonymen und
Statistik verwechselt wird . Was nicht weniger wichtig ist - sie
können sich aber nur in einer Beziehung mit der differenzierten
Singularität konstituieren, die das Alltägliche schon von selbst
ist: j eder Tag, j edes Mal, von Tag zu Tag.
Man kann nicht behaupten, der Sinn des Seins müsse sich aus
gehend von der Alltäglichkeit zeigen, und dann damit beginnen,
das allgemein Differentielle des Alltäglichen, seine ständig erneu
erte Bruchhaftigkeit, seine intime Dis kordanz, seine Polymorphie
und Polyphonie, das Modellierte und Schillernde an ihm zu ver
nachlässigen . Ein »Tag« ist nicht bloß eine Recheneinheit Er ist
der immer wieder singuläre Lauf der Welt, und die Tage , sprich
alle Tage , könnten »einander« nicht »gleichen«, wie man sagt ,
wenn sie nicht zunächst unterschiedlich, der Unterschied s elbst
wären . Dasselbe gilt für die »Leute«, oder vielmehr »die Leute«
sind mit der irreduziblen Sonderbarkeit, die sie als solche konsti
tuiert, selbst in erster Linie die Exposition der Singularität , der
nach die Existenz auf irreduzible Weise und erstlieh existiert -
und in einer Singularität, von der die Erfahrung auch bezeugt,
daß sie mit der Totalität des Seienden kommuniziert oder sich ihr
mitteilt: Auch die »Natur« ist »sonderbar« , und wir existieren
darin, wir existieren an ihr im Modus einer immer wieder erneu
erten Singularität, sei es der Diversität, der Disparität unserer
Sinne, der verstörenden Üb erfülle ihrer Arten o der ihrer Meta
morphosen in der »Technik« . Auch hier sprechen wir uns für das
Seiende aus , wenn vom Sonderbaren, Befremdlichen, Seltsamen ,
Verstörenden die Rede ist.
30
Die Themen »Staunen« und »Wunder des Seins« sind verdäch
tig, sofern sie auf eine ekstatische Mystik verweisen, welche
aus der Welt zu flüchten vorgibt. Das Thema »wissenschaftliche
Neugier« ist es nicht weniger, wenn es sich auf das Sammler
geschäft von Raritäten bezieht . In beiden Fällen unterstellt der
Wunsch nach Ausnahme die Geringschätzung des Gewöhnli
chen. Hegel war wohl der erste, der das der Moderne eignende
Bewußtsein des gewaltsam paradoxen D enkens hatte, dessen ei
gentliches Gut das Unerhörte und dessen Bereich das Grau in
Grau der Welt ist. Das gewöhnliche Grau, die Bedeutungslosig
keit des Alltäglichen - dessen Akzentuierung im Heideggerschen
»Man« aufbewahrt ist - unterstellt eine abwesende »Größe«, die
sich verloren und entfernt hat . Die Wahrheit kann j edoch nichts
anderes sein als die Wahrheit des Seienden als Totalität, das
heißt in der Totalität ihres »Gewöhnlichen«, ebenso wie der Sinn
nirgends sonst sein kann als in der Existenz selbst, und nicht an
derswo. Die moderne Welt verlangt, daß diese Wahrheit gedacht
wird: daß der Sinn hier selbst ist . Er ist in der unbestimmten
Pluralität der Ursprünge und in ihrer Ko-Existenz . Das »Gewöhn
liche« ist hier immer außergewöhnlich, sofern man seinem ur
sprünglichen Charakter zum Recht verhilft. Was wir ganz all
gemein als »Sonderbarkeit« entgegennehmen, ist genau dieser
Charakter. In der bloßen Existenz und nach dem Sinn der Welt
ist die Ausnahme die Regel . (Und geben Kunst und Literatur
nicht genau davon ein Zeugnis ? Liegt nicht der vorrangige und
vielleicht einzige Dienst ihrer gleichfalls sonderbaren, bizarren
Existenz darin, diese S onderbarkeit, diese Bizarrerie auszustel
len? Auch in der Etymologie des W orts »bizarr«, sei es im Baski
schen oder Arabischen, findet man übrigens: Tap ferkeit, sicheres
Auftreten und Eleganz . )
31
3. Zum Ursprung gelangen
33
Eigentlichen gegenübersteht, sondern um einen alter, das heißt
um »einen von beiden« : Dieses »Andere«, dieses »kleine Andere«
ist »eines« von mehreren, sofern es mehrere sind, ist jeder andere
und ist jedes Mal einer, einer unter ihnen , einer unter allen und
einer unter uns allen . Zugleich und umgekehrt ist »wir« zwangs
läufig immer »wir alle«, von denen nicht einer »alles« ist und von
denen j eder auf seiner B ahn- von allen simultanen wie sukzes
siven Bahnen, von den Bahnen in allen Richtungen 9 - der andere
Ursprung derselben Welt ist.
Das »Außen« des Ursprungs ist »innen« - in einem inneren In
nen als das innere Extrem , das heißt mehr innen als die Intimität
der Welt und j edes »Ich« . Wenn Intimität b estimmt wird als die
Extremität der Koinzidenz mit sich, dann ist das, was die Intimi
tät an Interiorität üb erschreitet, die Verborgenheit der Ko-Inzi
denz selbst , als eine Ko-Existenz der Ursprünge - und es ist kein
Zufall, daß man das Wort »Intimität« öfter als Bezeichnung für
eine Beziehung zwischen mehreren als für eine Beziehung zu
sich selbst benutzt . Unser Mit-sein, als Zu-mehreren-sein, ist kei
neswegs zufällig, es ist keineswegs die sekundäre und aleatori
sche Zerstreuung eines primären Wesens : Es bildet vielmehr den
Status und die Konsistenz der ursprünglichen Alterität als sol
cher, die dieser eigentümlich ist und notwendig zuko mmt. Die
Pluralität des Seienden steht am Grund des Seins.
Ein einziges Seiendes ist den Begriffen nach ein Widerspruch.
Tatsächlich bliebe ein solches Seiendes , das an sich selbst sein
Fundament , seinen Ursprung und s eine Intimität hätte, unfähig
zu sein, in j edem Sinn, den dieser Ausdruck hier annehmen
kann . »Sein« ist kein Zustand, auch keine Eigenschaft, sondern
j ene Aktion/Passion, derzufolge das geschieht (»ist«) , was K ant
»bloß die Position eines Dinges« nennt. 10 Das »bloß« bei dieser
»Position« meint nicht mehr - aber auch nicht weniger - als seine
9 . Vgl. Anmerkung 3 (A . d . Ü . ) .
1 0. Kritik der reinen Vernunft, Das Ideal der rei nen Vernunft, Vierter Abschnitt,
B 626; wir setzen hier auch Kants These über das Sein von Heidegger (in: Weg
marken, GA 9) voraus .
34
Diskretion im mathematischen Sinn oder seine Unterschieden
heit von anderen (zumindest möglichen) Positionen. Man könnte
sagen : Keine Position, die nicht Dis-Position wäre , und in Korre
lation dazu, wenn man das Aufscheinen b etrachtet, das mit die
ser Position und in ihr passiert, kein Erscheinen� das nicht zu
gleich Mit-Erscheinen [com-parution] wäre . Deshalb gibt sich der
Sinn des Seins als Existenz aus , das Bei-sich-außer-sich-sein
[l'etre-a-soi-hors-de-soi] , das wir d arlegen, wir, »die Menschen« ,
das wir so aber, wie gesagt, für die Totalität des Seienden darle
gen .
Wenn der Ursprung in irreduzibler Weise plural ist, wenn er die
unbegrenzt entfaltete und vervielfachte Intimität der Welt ist,
dann gewinnt der Nicht-Zugang einen anderen Sinn . Seine N ega
tivität ist nicht die eines Abgrunds , noch die eines Verbots, noch
die eines Schleiers oder von etwas Verheimlichtem, noch die ei
nes Geheimnisses, noch eines Unpräsentierbaren. Sie muß also
auch nicht im dialektischen Modus operieren, in dem das Subj ekt
in sich seine eigene Negation aufbewahren müßte (da es die des
Ursprungs ist) , noch im mystischen Modus (insgesamt die Kehr
seite) , wo das Subj ekt sich an seiner Negation erfreuen müßte.
In der einen wie in der anderen Figur ist die Negativität als
das aliud gegeben, und Entfremdung ist der Prozeß , der sich als
Wiederaneignung umkehren muß . Alle Formen des »großen
ANDEREN« legen diese Entfremdung des Eigenen zugrunde: die
»Majuskulierung« des »ANDEREN«, die schwindelerregende Ein
zigartigkeit und Schneise seiner Transzendenz. Aber damit re
präsentieren sie genau den herausragenden und überragenden
Modus der Eigenschaft des Eigenen, das fortbesteht und besteht
im »Irgendwo« eines »Nirgendwo« und im »Irgendwann« eines
»zu keiner Zeit«, das heißt im punctum aetemum des Außerhalbs
der Welt.
Aber das Außerhalb ist innen, ist die Verräumlichung der Dis
Position der Welt , ist unsere Disposition und unsere Miterschei
nung. Ihre »Negativität« ändert ihren Sinn . Sie schlägt nicht um
in Positivität, sondern sie entspricht dem S einsmodus der Dispo-
35
sition-Miterscheinung, der gerraugenommen weder negativ noch
positiv ist, s ondern einer des Zusammen-seins oder des Mit
seins . Der Ursprung ist, zusammen mit anderen Ursprüngen, ge
teilter Ursprung. I n der Wahrheit treten wir also zu ihm hinzu .
Wir treten hinzu im gerrauen Modus des Zutritts: Wir kommen
an, wir sind am Rand, so nah es geht, auf der Schwelle, wir rüh
ren an den Ursprung. »Zur Wahrheit treten wir hinzu . . . «, lautet
ein Satz von Bataille1 1 , dessen Zweideutigkeit ich wiederhole, in
dem ich u mkehre, worauf er hinausläuft , denn bei Bataille folgt
daraus die B ehauptung eines unmittelbaren Verlusts des Zutritts .
Vielleicht spielt sich alles gerrau zwischen Verlust und Aneig
nung ab : weder das eine noch das andere, auch nicht das eine
und das andere, noch das eine im anderen, sondern viel sonder
b arer, viel einfacher als das .
»Das Ziel erreichen« heißt auch, es womöglich zu verfehlen.
Aber der Ursprung ist kein Ziel. Ende wie Prinzip sind eine Form
des Anderen . Den Ursprung erreichen heißt nicht, ihn zu verfeh
len; es heißt, ihm eigenst ausgesetzt zu sein. D er Ursprung, der
nicht etwas anderes (ein aliud) ist, ist weder »verfehlbar« noch
an eigenbar (zu durchdringen, absorbierbar) . Er gehorcht dieser
Logik nicht. Er ist die plurale Singularität des Seins des Seienden.
Wir erreichen ihn, insofern wir uns erreichen, und dort, wo wir
den Rest des Seienden erreichen. Wir erreichen uns, insofern wir
existieren . Uns zu erreichen ist das, was uns »uns« sein läßt, und
36
es gibt kein anderes Geheimnis zu entdecken oder auszugraben
hinter diesem Sich-selbst-erreichen, hinter dem »Mit« der Ko-Exi
stenz .
Zur Wahrheit des Ursprungs haben wir ebenso oft Zugang, wie
wir einander und dem Rest des S eienden präsent sind. Der Zu
gang ist dieses »zur Präsenz kommen«, aber die Präsenz selbst
ist Dis-Position, Verräumlichung der Singularitäten. Präsenz ist
nicht irgendwo anders als im »zur Präsenz kommen« . Wir treten
nicht zu einer Sache oder zu einem Zustand hinzu , sondern zu
einem Kommen. Wir treten hinzu - zu einem Zugang .
Die »Sonderbarkeit« besteht darin: Jede Singularität ist ein an
derer Zugang zur Welt. D ort, wo wir »etwas« erwarten - eine
Substanz oder eine Instanz, ein Prinzip oder einen Zweck , eine
Bedeutung - dort gibt es nur die Art, den Gang des anderen Zu
gangs, der sich in derselben Geste entzieht, in der er sich uns dar
bietet - und dessen Entzug selbst die Wendung ist. Derart hat j e
des Kind , das geboren wird , in der Singularität, die es p lötzlich
exponiert, den Zugang schon entzogen , der es »für es selbst« ist
und in dem es sich »abseits von sich« entzieht , - ganz so, wie es
sich eines Tages auf seinem letzten Gang im toten Gesicht entzie
hen wird. Deshalb studieren wir auch diese Gesichter mit so viel
Neugier und suchen etwas herauszufinden - wem das Kind ähn
lich sieht , und ob der Tod sich selbst ähnlich sieht. Was wir hier
wie auf den Photographien erspähen wollen, ist nicht ein Bild,
sondern ein Zugang .
Was intere ssiert uns denn s onst in der »Literatur« und in der
»Kunst«? Und was in der . Trennung der Künste untereinander,
wodurch sie als Künste sind, was sie sind: plurale Singularitäten?
Was anders als die Exposition eines entzogenen Zugangs in sei
ner eigenen Eröffnung, und deshalb selbst »unnachahmbar« ,
nicht transportierbar, unübersetzbar, weil j edes Mal einen abso
luten Punkt der Übersetzung, der Übertragung oder des Über
gangs des Ursprungs am Ursprung bildend? Was in der Kunst
zählt und was die Kunst zur Kunst macht (und was aus dem
Menschen den Künstler der Welt macht, sprich der die Welt für
37
die Welt exponiert) , ist nicht das »Schöne« noch das »Erhabene«,
nicht die »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« noch das »Geschmacks
urteil« , es ist nicht die »sinnliche Darstellung« noch das »Ins
Werk-setzen der Wahrheit«, es ist all das , sicher, aber anders : Es
geht hier um den Zugang zum abseitigen Ursprung, in seinem
Abseits selbst, um das p lurale Erreichen des singulären Ur
sprungs. Es ist das, was »Nachahmung der Natur« immer schon
meinte. Die Kunst ist immer schon kosmogonisch, aber sie stellt
die Kosmogonie als das aus, was sie ist: notwendigerweise plu
ral, zerbrechlich, diskret, Farbtup fer oder Klangfarbe, Satz oder
gefaltete Masse, Leuchten, Duft, Gesang oder innehaltender
Schritt, denn sie ist die Geburt einer Welt (und nicht die Kon
struktion eines Systems) . Eine Welt ist immer so viele Welten
wie nötig , um eine Welt zu bilden.
Wir haben nur zu uns Zugang - und zur Welt. Aber es handelt
sich um nichts anderes: Jeder Zugang ist da, ganz am Ursprung.
Im Heideggerschen Sprachgebrauch wird dies »Endlichkeit« ge
nannt. Aber von da an ist klar, daß »Endlichkeit« bedeutet : un
endliche Singularität des Sinns , des Zugangs zur Wahrheit. Die
Endlichkeit ist der Ursprung, das heißt sie ist eine Unendlichkeit
der Ursprünge. »Ursprung« bedeutet nicht das, wo die Welt her
kommt, sondern die immer wieder eine Ankunft [venue] j eder
Präsenz der Welt.
38
4. Die Schöpfung der Welt und die Neugier
1 2 . Vgl . J . -L. Nancy, »La cteconstruction du christianisme«, in: Les Etudes philo
sophiques, 1 998-4, S. 503-5 1 9 .
39
hend von einer wie auch immer schon gegebenen Situation. 1 3 In
einer Schöpfung geht es um ein Schon-da-sein eines Schon-da.
Wenn eine S chöpfung ex nihilo ist, heißt dies in der Tat nicht,
daß ein Schöpfer »von nichts aus« operiert . Viel eher heißt dies,
wie es eine reiche und komplexe Tradition ausgeführt hat, daß
einerseits der »Schöpfer« das nihil ist und andererseits dieses ni
hil logischerweie nicht etwas ist, »woraus« das Geschaffene her
vorgehen könnte, sondern die Herkunft selbst und die Bestim
mung von etwas im allgemeinen und von allem. Und das nihil
ist nicht nur nichts Vorlaufendes, sondern es gibt auch kein
»Nichts«, das vor der Schöpfung existiert h ätte : Diese ist der Akt
des Hervorgehens , der Ursprung selbst, insofern er nichts ande
res ist oder nichts anderes tut als das, was das Verb »urspringen«
bezeichnen würde . Wenn das Nichts nichts Vorlaufendes ist,
dann bleibt sozusagen nur das ex, um den Akt-der-Schöpfung zu
bestimmen . Das heißt, das Auftauchen o der die Ankunft [venue}
1
in nichts (wie man sagen würde »in Person/in niemandem« 4 ) .
Das Nichts ist also nichts als die Dis-Po sition des Auftauchens.
Der Ursprung ist ein Abstand . Er ist ein Abstand, der sogleich das
gesamte Ausmaß der ganzen Raum-Zeit hat und der ebenfalls
sogleich nichts anderes ist als der Zwischenraum der Intimität
der Welt: das Zwischen-Seiende [entre-etant] aller Seienden, das
selbst nichts Seiendes ist, und das selbst keine andere K onsi
stenz , keine andere Bewegung oder keine andere Konfiguration
hat als die des Sein-Seienden aller Seienden . Das Sein oder Zwi
schen teilt die Singularitäten ab von allem, was auftaucht. Schöp
fung gibt es überall und immer - aber sie ist j enes Ereigni s o der
jene Heraufkunft [avenement] nur unter der Bedingung, j edes
Mal das zu sein, was sie ist, bzw . das, was sie ist, nur »bei j edem
Mal« zu sein, wobei sie j edes Mal singulär auftaucht .
1 3 . Jedenfalls erneuert das Buch von Serge Marcel Le tombeau du dieu artisan
in überraschender Weise die Auslegung des Timaios und nähert den platoni
schen Demiurgen der »Schöpfung«, von der ich zu sprechen versuche, vielleicht
an.
14. Personne: frz. sowohl >Person< als auch >niemand< (A. d . Ü . ) .
40
Insofern wird b egreifbar, warum die Schöpfung in ihrer j üdisch
christlich-islamischen theologisch-mystischen Gestalt w eniger
(und j edenfalls niemals ausschließlich) von einem produ ktiven
Vermögen Gottes zeugte, als von seiner Güte und seinem Ruhm:
Gemessen an seinem Vermögen sind die Kreaturen in der Tat
nichts als Wirkungen, während Liebe und Ruhm sogar i m Ge
schaffenen abgelegt sind, sie sind der G lanz seiner Ankunft in
der Präsenz selbst. Derart müßte man das Thema des »Bildes
(und/oder der »Spur [vestige]) Gottes« verstehen: nicht gemäß
der Logik einer sekundären Imitation, sondern gemäß j ener an
deren Logik, der zufolge »Gott« selbst die singuläre Erscheinung
des Bildes oder der Spur ist, oder die Disposition seiner Exposi
tion: der Ort als der göttliche Ort, das nur lokale Göttliche - folg
lich nicht mehr das »Göttliche«, sondern die Dis-Lokation und die
Dis-Position der Welt (die göttliche Ausdehnung, sagt Spinoza)
als die Eröffnung und Ressource, die von weiter entfernt her
kommt und weiter reicht, und zwar unendlich viel weiter als alle
Götter.
Wenn die »Schöpfung« eben diese s inguläre Ex-Position des Sei
enden ist, dann ist ihr wahrhafter N ame Existenz. Die Existenz
ist die Schöpfung - unsere Schöpfu ng -, der Ursprung und der
Zweck, die wir sind. Dieses Denken ist das Denken, welches für
uns am notwendigsten ist: Wenn es uns nicht gelingt, es zu den
ken , finden wir keinen Zugang zu dem, was wir inzwischen sind,
wir, die wir nichts anderes mehr sind als »wir« in einer Welt, die
nichts mehr ist als Welt - die wir aber dahin gekom men sind,
eben weil wir den logos (die Selbst-Präsentation der Präsenz) als
Schöpfung (als singuläre Ankunft) gedacht haben . D ieses Den
ken hat nichts Anthropozentrisches an sich: Es stellt nicht den
Menschen ins Zentrum »der Schöpfung«, es durchquert den Men
schen im Gegenteil vom Exzeß des Auftauchens aus, das ent
sprechend der Totalität des Seienden auftaucht , aber als seine
unmögliche zu totalisierende Maßlosigkeit : seine unendliche ur
sprüngliche Singularität. Im Menschen ist die Existenz, oder viel
mehr genau der Mensch ist die Existenz als exponiert und ex-
41
panierend : Um es einfach in der Ordnung der Sprache zu for-mu
lieren , könnte man sagen, daß der Mensch die Existenz spricht,
daß aber das, was er in seinen Worten sagt, das All des Seienden
ist. Was Heidegger »den ontisch-ontologischen Vorrang des Da
seins *« nennt, ist weder Vorrecht noch Privileg: es setzt das Sein
ein, und das S ein des Daseins * ist kein anderes als das Sein des
Seienden.
Wenn somit die Existenz als solche durch die Menschen expo
niert ist, so gilt das, was hier exponiert ist, doch nicht weniger für
den ganzen Rest des Seienden. Es gibt nicht auf der einen Seite
die ursprüngliche Singularität und auf der anderen ein bloßes
Da-sein der Dinge, die mehr oder weniger unserem Gebrauch
ausgeliefert wären. Im G egenteil : Indem sich die Existenz als Sin
gularität exponiert, exponiert sie die Singularität des Seins als
solche, in allem Seienden. Der Unterschied zwischen dem Men
schen und dem Rest des Seienden (das es nicht zu negieren gilt,
dessen Natur aber auch nicht gegeben ist) , der selbst nicht zu
trennen ist von den anderen Unterschieden im Seienden (da
der Mensch »auch« Tier, »auch« lebendig, »auch« physikalisch
chemisch ist, usw. ) , unterscheidet die wahrhafte Existenz von
einer Art Unter-Existenz nicht. Wir wären keine »Menschen« ,
wenn es nicht »Hunde« und »Steine« gäbe. Der Stein ist Exterio
rität der Singularität in dem, was man seine mineralische oder
mechanische Wörtlichkeit/Steinhaftigkeie 5 nennen müßte . Aber
ich wäre auch nicht »Mensch«, wenn ich nicht diese Exteriorität
als die Quasi-Mineralität des Knochen »in mir« hätte - das heißt,
wenn ich nicht ein »Körper« , eine Verräumlichung aller anderen
Körper und von »mir« in »mir« wäre. Eine Singularität ist immer
ein Körper - und alle Körper sind Singularitäten (die Körper, und
ihre Zustände, Bewegungen, Veränderungen) .
Derart ist die Existenz nicht eine Eigenschaft des Daseins * : Sie
ist die ursprüngliche Singularität des Seins , welches das Dasein *
42
für alles Seiende exponiert . Deshalb ist der Mensch nicht »auf der
Welt« als in einem Milieu (warum bräuchte man ein Milieu?) : Er
ist auf der Welt, insofern die Welt seine eigene Exteriorität, der
ihm eigene Raum seines Draußen-in-der-Welt-seins ist . Aber
man muß noch weiter gehen, bei Strafe des Eindrucks , daß die
Welt trotz allem wesentlich »die Welt des Menschen« bleibt: Sie
ist eine solche, sie ist die Welt der Menschen tatsächlich nur, so
fern sie das Nicht-Menschliche ist, dem gegenüber das Mensch
liche exponiert ist und das das Menschliche seinerseits exponiert .
Man könnte es auch noch mit einer Formel wie dieser zu s agen
versuchen : Der Mensch ist der Exponierende [l'exposant] der
Welt, er ist weder deren Zweck, noch deren Grund - die Welt ist
dem Menschen gegenüber exponiert, er ist weder ihre Umgebung
noch ihre Repräsentation.
Wir sind also weit davon entfernt , daß der Mensch der Zweck
der Natur wäre, oder die Natur der Zweck des Menschen (wir ha
ben es schon in allen Varianten versucht) ; der unendliche Zweck
ist vielmehr das Auf-der-Welt-sein und das Welt-sein alles Seien
den.
Gesetzt übrigens , man wollte noch einmal die Welt als Reprä
sentation des Menschen nehmen, würde daraus strenggenom
men keinerlei Solipsismus des Menschen folgen: denn dann sagt
mir wiederum meine Repräsentation selbst, daß sie mir not
wendig eine unhintergehbare Exteriorität als meine Exteriorität
repräsentiert . Die Repräs entation einer Verräumlichung ist selbst
eine Verräumlichung. Ein intuitus originarius, der nicht Reprä
sentation, sondern Eintauchen in die Sache selbst wäre , würde
allein existieren und wäre für sich allein Ursprung und Ding: was
weiter oben als widersprüchlich aufgezeigt wurde . Descartes
selbst ist Zeuge der äußeren Welt ebenso wie seines eigenen Kör
pers : Denn er zweifelt keineswegs, er tut so, als ob er zweifelte,
und die Finte als solche erweist sich als die Wahrheit der res ex
tensa. Es ist auch nicht überraschend, daß die Wirklichkeit der
Welt, über die Gott mich nicht täuschen kann, gerade durch eine
fortgesetzte Schöpfung eben dieses Gottes im Sein gehalten wird.
43
Die Wirklichkeit ist die eines j eden Augenblicks, von Stelle zu
Stelle, j edes Mal, wenn es an ihm ist, ganz wie sich die Wirklich
keit der res cogitans in j edem »ego sum« jedes Mal bei j edem
dort, wo es an ihm ist, erweist.
Insofern - und noch einmal - gibt es kein ANDERES . »Schöp
fung« bedeutet genau, daß es kein ANDERES gibt und »es gibt« ist
nicht ein A NDERES . Das Sein ist nicht das ANDERE, sondern der Ur
sprung ist punktuelle und diskrete Verräumlichung unter [entre]
uns, ebenso wie zwischen [entre] uns und dem Rest der Welt und
unter allen Seienden. 1 6
Vor allem und im wesentlichen rüttelt uns diese Alterität auf.
Sie rüttelt uns auf, weil sie den Ursprung als das immer Andere,
immer Unaneigenbare, das immer da ist, als das immer Gegen
wärtige in seiner je unnachahmlichen Weise exponiert . Vor al
lem und im wesentlichen deshalb sind wir neugierig auf die
Welt und auf uns selbst (oder »die Welt« ist der Gattungsbegriff
des Gegenstands dieser ontologischen Neugier) . Das Korrelat der
Schöpfung, verstanden als die Existenz selbst, ist eine Neugier,
die man in einem ganz anderen Sinne als dem begreifen muß,
den ihm Heidegger gegeben hat. Für ihn ist Neugier die aufge
regte Geschäftigkeit, die von einem Seienden zum anderen über
geht, auf unersättliche Weise und ohne sich bei der Meditation
aufhalten zu können . Sicher zeugt sie vom Mit-ein-ander-sein
[l 'etre-les-uns-avec-les-autres], aber sie zeugt davon in der Un
fähigkeit, zur existierenden Eröffnung des Daseins im »Augen
blick« 1 7 Zugang zu finden. Dagegen ist es notwendig, diesseits
1 6 . Benoit Goetz entfaltet ein solches Motiv der Verräumlichung als verallge
meinerter und »existential« werdender »Architektur« in seiner Abschlußarbeit
La dislocation-Architecture et experience, Straßburg 1 996.
1 7 . Vgl . Sein und Zeit, § § 36, 3 7 und 68c. Weil Heidegger die Neugierde im Ver
gleich zur Kontemplation herabsetzt - in einer sehr traditionellen Geste üb
rigens -, setzt er sogleich ein ganzes Stück der modernen Welt herab und
verkennt sie: Wissenschaft und Technik, und lehnt somit ab, was er anderer
seits vom »Geschick« des Seins anzunehmen behauptet. Zur Rolle der Neugier
in der Moderne vgl . das große klassische Buch von Hans Blumenberg, Der Pro
zeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/ Main 1 966.
44
dieser inkonsistenten Neugier, aber auch der Aufmerksamkeit,
welche die Fürsorge * der anderen erfordert, die primitivere
Schicht einer Neugier offenzulegen, die uns in erster Linie i nter
essiert macht an dem, was faktisch das I nteressante p ar ex
cellence ist: der Ursprung - aber interessiert im Modus des Auf
gerütteltseins durch die immer wieder erneuerte Alterität des
Ursprungs, und wenn man so sagen will, im Modus des Eintre
tens in eine Verwicklung mit ihm (die sexuelle Neugier ist nicht
von ungefähr eine exemplarische Form der Neugier - und in
Wirklichkeit mehr als eine Form) .
Wie es sich im Französischen ausdrücken läßt, sind die anderen
Seienden für mich curieux (»seltsam«) 1 8 , weil sie mir Zugang zum
Ursprung verschaffen: Sie bringen mich mit ihm in Kontakt, und
sie machen, daß, wenn ich vor ihm stehe und die Reihe an ihm
ist, ich ihm jedes Mal entzogen bin. Ein anderer - und das kann
hier ein Mensch, ein Tier, eine Pflanze oder ein Stern sein - ist
zunächst die flammende Präsenz eines Punkts o der Augenblicks
des absoluten Ursprungs - unanfechtbar, als solche angeboten
und als solche verschwindend in ihrem Übergang . Noch einmal :
das Gesicht des Neugeborenen, j enes andere Gesicht per Zufall
auf einem Gehweg, ein Insekt, eine Giftschl ange, ein Stein . . . -
wohlgemerkt, es handelt sich nicht darum , diese kuriosen Frä
senzen einander gleichzusetzen .
Soweit wir zum Anderen keinen Zugang im Modus d e s Zugangs
fanden, wie er hier beschrieben wurde, sondern die Aneignung
des Ursprungs suchten- und wir suchen ihn noch immer - , geht
dieselbe Neugier in Aneignungs- oder Destruktionswut über. Wir
suchen im Anderen nicht mehr eine Singularität des Ursprungs ,
sondern den einzigen, ausschließlichen Ursprung, sei es, um ihn
anzunehmen oder ihn zurückzuweisen. Das Andere wird zum
ANDEREN im Modus der Lust oder des H as ses . Die Vergötterung
des Anderen (verbunden mit freiwilliger Dienstb arkeit) oder
seine Verteufelung (verbunden mit s einem Ausschluß und seiner
45
Vernichtung) sind das Los der Neugier, die nicht mehr interes
siert ist an Dis-Position und Miterscheinung, sondern zur Lust
auf die Position selbst geworden ist: fixieren, sich den Ursprung
ein für alle Mal und an einem Ort für immer, also immer außer
halb der Welt, verschaffen . Deshalb ist diese Lust Mordlust, und
nicht nur Lust auf Mord, sondern auf j ene Steigerung der Grau
samkeit und des H orrors , die tendenziell die Intensivierung des
Mords ist: Versehrung, Zerfleischen, Verbissenheit, akribisches
Exekutieren, Freude am Todeskampf, oder auf anderer Ebene:
Massaker, Massengrab, technische Massenexekution, Lageröko
nomie. D abei handelt es sich immer darum, das Andere zum AN
DEREN hochzustilisieren, oder das ANDERE anstelle des Anderen
auftauchen zu lassen und so die Identität des Anderen und den
Ursprung in ihm festzuhalten.
Das ANDERE ist nichts weiter als das Korrelat dieser verrückten
Lust, während die Anderen in Wahrheit unsere ursprünglichen
Interessen sind. Allerdings ist die Möglichkeit der verrückten
Lust in der Disposition der ursprünglichen Interessen selbst ent
halten : Die Streuung [dissemination] des Ursprungs macht den
Urprung in »mir« verrückt in genau dem Maß, wie dieser mich
auf ihn neugierig macht, das heißt aus »mir« ein »Ich« (oder ein
»Subj ekt« , irgendj emanden j edenfalls) . (Es folgt daraus, daß es
keine Ethik gibt , die von der Ontologie unabhängig ist, und daß
in Wahrheit nur die Ontologie ethisch sein kann in einem Sinn,
der nicht inkonsistent sein darf. Aber darauf müssen wir andern
orts zurückkommen. )
46
5. Unter uns: Prima philosophia
47
das hervorzubringen, was »universal« genannt wurde; verstehen
also, wie der Okzident verschwindet , j edoch nicht, wie man
schlafwandlerisch wiederholt, in seiner uniformierten Verallge
meinerung, sondern in und durch j ene »Uniformität« als Aus
dehnung einer singulären Pluralität, die das »Eigentliche« jenes
»0/ Akzidents« zugleich ist und nicht ist. Dann versteht man:
Diese furchteinflößende Frage ist nichts anderes als die des
»Kapitals« (oder des Kapitalismus) . Um das Kapital voll einschät
zen zu können - einschließlich der Prämissen, wonach die Ge
schichte in den Handelsstädten b egonnen hat -, muß man es we
sentlich radikaler als für Marx möglich von seiner eigenen
linearen und kumulativen Geschichtsvorstellung ebenso wie von
der symmetris chen D arstellung einer teleologischen Geschichte
seiner Aufhebung oder deren Bes chwörung lösen . So lautet wohl
die - problematische - Lehre der Geschichte. Aber wir können
daraus vermutlich nur Lehren ziehen, wenn wir zuvor den Auf
takt unserer Geschichte, das heißt der Philosophie, ganz anders
vernehmen .
Die Tradition hat sich in verschiedenen Versionen, j edoch vor
herrschend so dargestellt, daß Philosophie und Polis zueinander
in einem gegens eitigen Subj ektverhältnis stehen (gestanden hät
ten, stehen sollten) .
Die Philosophie als Artikulation des logos ist danach das Sub
j ekt der Polis als Raum dieser Artikulation, während Polis als
Versammlung der logikoi als das Subjekt der Philos ophie gilt, als
Produktion ihres gemeinsamen logos. Der logos selbst bezieht
sein Wesen oder seinen Sinn aus dieser Gegenseitigkeit : Er ist die
gemeinsame Grundlage der Gemeinschaft , und zwar der G e
meinschaft als Grundlage des Seins .
In diesem Horizont haben wir nicht aufgehört, auch hier in vor
herrschender Form und in verschiedenen starken und schwa
chen, glücklichen und unglücklichen Versionen, das »politische
Tier« von Aristoteles zu verstehen : wobei unterstellt war, daß
der logos B edingung der Gemeinschaft und diese wiederum Be
dingung der Menschli chkeit sei , und/oder umgekehrt , w obei
48
jeder der drei Termini seine Einheit und Konsi stenz daraus be
zieht, daß er dem Wesen nach mit den b eiden anderen kommu
niziert (wobei die Welt als solche der ganzen Angelegenheit ver
gleichsweise äußerlich bleibt und nun u nterstellt wird, daß die
N atur oder physis genau im Menschen als logos politikos zur Aus
führung kommt, während sich die techne der einen wie dem
anderen unterordnet) .
Aber dieser Horizont - derjenige der politischen Philosophie im
vollsten Sinne (nicht »politische Philosophie«, s ondern Philoso
phie als Politik) - könnte sehr wohl das sein, w as im selben Zug
die einzigartige Situation, in die sich unsere Geschichte begeben
hat, aufweist und den Zugang zu ihr verstellt . Oder vielmehr: Er
könnte sehr wohl das sein, was i m Lauf seiner Geschichte den
Hinweis zu seiner eigenen Dekonstruktion liefert und von neuem
und anders diese Situation exponiert . 1 9 »Philosophie und Politik«
sp richt diese Situation gut aus . Aber es handelt sich um eine dis
junktive Aussage, eben weil die Situation selbst disj unktiv ist .
Polis ist nicht zuerst »Gemeinschaft«, ebensowenig wie sie zuerst
»öffentlicher Raum« ist: Sie ist mindestens ebenso sehr das An
den-Tag-bringen des Gemeinsam-seins [l 'etre-en-commun«] als
Dis-Position (Dispersion und Disparität) der Gemeinschaft, die
als in Interiorität oder in Transzendenz b egründet repräsentiert
wird. Von da an ist, soweit Philosophie die Suche nach dem Ur
sp rung ist, die Polis ihr Problem, weit davon entfernt, ihr Subj ekt
oder ihr Raum zu sein. Oder sie ist ihr Subj ekt o der ihr Raum im
Modus des Problems, gar der Aporie . Die Philo sophie ist j edoch
ihrerseits die Suche nach dem Ursprung nur unter der Bedingung
der Disposition des logos (das heißt des Ursprungs als gegebener
und durchlaufener Vernunft) : Logos ist Verräumlichung am Ort
des Ursprungs selbst. Von da an ist Philosophie das Problem der
Polis: Sie entzieht ihr das als »Gemeinschaft« erwartete Subj ekt.
1 I1
1 9 . Was hier folgt, will in gewisser Hinsich t den von Jacques Ranciere in sei
nem Buch Das Unvemehmen. Philosophie und Politik, Frankfurt/ Main 2002 ,
vorgeschlagenen Dialog weiterführen.
49
Deshalb stoßen sich die philosophische Politik und die politi
sche Philo sophie regelmäßig am Wesen der Gemeinschaft oder
an der G emeinschaft als Ursprung. Um uns hier nur auf die
exemplari schen Stolpersteine von Rousseau und Marx zu be
schränken : D er erste wirft die Aporie einer Gemeinschaft auf, die
sich s elbst vorangehen müßte, um sich zu konstituieren. Der
»Vertrag« ist, s einem Begriff s elbst nach, die Negation oder Ver
werfung der ursprünglichen Entbindung j ener Singularitäten, die
ihn »schließen« müßter1 . Was den zweiten angeht, den in dieser
Hinsicht gewiß radikalsten : Wo er die Auflösung des Politischen
in alle Sphären der Existenz fordert (was auch der »Verwirkli
chung der Philosophie« entspricht) , verkennt er, daß die derart
aufgehobene Trennung in Wahrheit nicht die zufällige Trennung
der »politischen« Instanz, s ondern die konstitutive Trennung der
Dis-Position ist . Worin auch immer die Kraft seines Denkens in
bezug auf das »wirkliche Verhältnis« und das, was er »das In
dividuum« nannte, lag - der »Kommunismus« vermochte das
Gemeinsam-sein noch nicht als unterschieden von der »Gemein
schaft« zu denken .
In diesem Sinn schreitet die philosophische P olitik mit großer
Regelmäßigkeit zur heimlichen Erschleichung einer Metaphysik
des Einen Ursprungs [origine-une} , und zwar dort, wo sie doch
nolens volens zugleich die Situation einer Dis-Position der Ur
sprünge exponiert . Das Resultat ist ebenfalls mit großer Regel
mäßigkeit, daß die Dis-Position umschlägt in Ausgrenzung und
daß die gesamte philosophische Politik zu einer Politik der Aus
schließlichkeit und der entsprechenden Ausschlüsse wird - Aus
schluß einer Klasse, einer Ordnung, irgendeiner »Gemeinschaft«,
endend immer beim Ausschluß eines »Volks« im »niederen«
Sinne des Worts . Die Forderung nach Gleichheit ist dann die zu
gleich notwendige, höchste und absolute Geste - und ist tatsäch
lich nahe daran, die Dis-Position als solche freizulegen . Jeden
falls soweit es sich um die »egalitäre Forderung, begründet in der
20
gattungsmäßigen Identität« handelt, verhilft die Gleichheit der
Singularität noch nicht zum Recht oder stößt auf b eträchtliche
50
Schwierigkeiten, wenn sie es tun will . Hier gewinnt die Kritik an
der Abstraktheit der Rechte ihr ganzes Profil: Aber das »Kon
krete«, das ihr entgegenzusetzen ist, sind nicht die empirischen
Bestimmungen, die unter kapitalistischer Herrschaftsform auch
den besten Gleichheitswillen zum Erliegen bringen . Das Konkrete
bedeutet zuerst das wirkliche Obj e kt eines Denkens des Gemein
sam-seins, und dieses wirkliche Obj ekt ist in letzter Instanz das
singulär Plurale des Ursprungs, folglich ebenso der Ursprung der
»Gemeinschaft« selbst (wenn man diese B ezeichnung beibehal
ten will) . Das ist wohl der Hinweis, der durch das Wort, das auf
Gleichheit in der republikanischen Devise folgt , gegeben wird :
»Brüderlichkeit« will die Lösung für die Gleichheit (oder die
»Gleichfreiheit« 2 1 ) sein, und zwar indem sie eine »gattungs
mäßige Identität« wachruft und bes chwört . Nun mangelt es aber
genau an jenem gemeinsamen Ursprung des Gemeinsamen. 22
Oder zumindest »ermangelt« es seiner, sofern m an ihn im Hori
zont der philosophischen Politik b ewertet . Ist diese erst dekon
struiert - was derzeit im Gang ist -, kommt die Notwendigkeit
des singulär pluralen Ursprungs zum Vorschein . Ich habe nicht
die Absicht, in dieser Hinsicht eine »andere Politik« vorzuschla
gen. Tatsächlich bin ich nicht mehr sicher, ob dieser Begriff (oder
der der »politischen Philosophie«) j enseits der Lücke im Hori
zont, die am Ende der langen Geschichte unserer okzidentalen
Situation und als erneute Eröffnung derselben auf uns wartet,
noch konsistent sein könnte . Ich will nur zu der Feststellung bei
tragen, daß das Paar Philosophie-Politik mit der ganzen Kraft sei-
20. Andre Tose!, Democratie et liberalisme, Paris 1 99 5 , S. 203 . Vgl. das gesamte
Kapitel »L'egalite, difficile et necessaire«.
2 1 . Etienne Balibar, »La proposition de l' egaliberte«, in: Les conferences du
Perroquet, Nr. 22, Pari s , November 1 98 9 .
2 2 . I c h gebe also Jacques Derrida in seiner Kritik an der Brüderlichkeit ( i n
Politik der Freundschaft, Frankfurt/ M a i n 2002) recht . Wobei ich freilich z u
bedenken gebe, d a ß auch ich an entsprechender Stelle d i e christliche Brüder
lichkeit in Frage gestellt habe. I m übrigen habe ich rriir vorbehalten und behalte
mir trotz allem die Möglichkeit vor, zu untersuchen, ob Brüderlichkeit notwen
digerweise gattungsmäßig und angeboren ist. . .
51
ner Verbindung die Dis-Position des Ursprungs und ihr Korrelat,
das Miterscheinen, zugleich herausstellt und entzieht.
Der philo sophisch-politische Horizont ist das, was die Dis-Posi
tion zu einer K ontinuität und Wesensgemeinschaft ins Verhältnis
setzt . Ein s olches Verhältnis verlangt, um wirksam zu sein, ein
wesentliches Vorgehen : das des Opferns. Bei genauerer Betrach
tung wird man den Anteil des Opferns in j eder politischen Philo
sophie finden (oder man findet dessen abstrakte Ablehnung, was
darauf hinausläuft, die konkrete Singularität zu opfern) . Aber als
singulärer Ursprung ist die Existenz nicht opferbar. 2 3
Dringend geboten ist hier also nicht eine andere politische Ab
straktion, s ondern vielmehr, den Sinn von »Politik« selbst - und,
folglich, auch von Philosophie - unter der Bedingung der ur
sprünglichen Situation: der nackten Exposition der singulären
Ursprünge, neu zu betrachten . Notwendig ist also eine »prima
philosophia« im kanonischen Sinne des Wortes, das heißt eine
On-tologie . Die Philosophie muß neu-beginnen, mit sich neu-be
ginnen ausgehend von ihr selbst gegen sie selbst, das heißt gegen
die politische Philosophie und die philosophische Politik. Dafür
muß sie zuallererst denken, wie wir unter uns »wir« sind : Inwie
fern die Konsistenz unseres Seins im Gemein-sam-sein [etre-en
commun] liegt , aber wie letzteres j ust im »sam« [en]« oder im
»unter« [entre] seiner Verräumlichung besteht .
Die letzte »prima philosophia« ist uns , wenn man so will, mit
der Fundamentalontologie Heideggers vorgelegt worden. Sie hat
uns, mit-ein-ander, ob wir es wissen oder nicht, auf den Weg ge
führt, auf dem wir hier sind. Deshalb konnte auch ihr Autor, in
einer Art Wende der Destruktion selbst, sich so unentschuldbar
in der verbrecherisch gewordenen politischen Philosophie kom
promittieren . Und von wo aus wir neu beginnen müssen, wird
uns wiederum genau dadurch angezeigt : Wir müssen die Funda
mentalontologie (und mit dem, was damit einhergeht, die exi
stenziale Analytik ebenso wie die Geschichte des Seins und das
52
Denken des Ereignisses *) noch einmal aufnehmen - und dieses
Mal entschieden ausgehen vom singulär Pluralen der Ursprünge,
das heißt ausgehen vom Mit-sein .
Ich werde später auf dieses Programm zurückkommen, dessen
Ausführender sein zu wollen ich übrigens nicht die lachhafte
Vermessenheit besitze : Per definitionem und ihrem Wesen nach
muß diese »prima philosophia« »von allen geleistet werden, nicht
von einem«, wie die Dichtung von Maldoror. Im Moment will ich
nur auf das Prinzip seiner Notwendigkeit hinweisen.
Das Mit-sein (das Mitsein *, das Miteinandersein * und das Mit
dasein *) wird von Heidegger explizit als wesentlich für die Kon
stitution des Daseins * selbst bezeichnet . Auf dieser Basis müßte
es absolut klar sein, daß das Dasein * ebensowenig wie »der
Mensch« oder »das Subj ekt« »eines«, einzig und isoliert , ist, son
dern immer nur das eine, jedes eine, ein Mit-ein-ander. Wenn
diese Bestimmung wesentlich ist, muß sie eine mit-ursprüngliche
Dimension aufnehmen und sie rückhaltlos exponieren: Nun hat
man aber schon oft bemerkt, daß diese Mit-Ursprünglichkeit ,
trotz der Betonung, die auf ihr liegt, der Betrachtung des Da
seins * »an ihm selbst« den Vortritt läßt. Es scheint also geboten,
die Möglichkeit einer ausdrücklichen und kontinuierlichen Exp o
sition der Mit-Ursprünglichkeit zu untersuchen und die Auswir
kungen auf die Gesamtheit des ontologischen Unternehmens
(ebenso wie auf die politischen Konsequenzen) abzuschätzen . 24
Man muß nur sogleich hinzufügen, daß es für eine solche Un
tersuchung einen viel tieferen Grund gibt als das, was zunächst
als die einfache Wiederherstellung des Gleichgewichts i m Hei
deggerschen D iskurs erscheinen könnte, was aber o ffensichtlich
viel Bedeutenderes als dies in B ewegung bringt, denn letztlich
handelt es sich um nichts weniger als um die Möglichkeit, »vom
Dasein *« im allgemeinen, dem »Existierenden« und der »Exi-
53
stenz« selbst zu sprechen. Was würde in der Philosophie passie
ren, wenn man ausschließen würde, in ihr vom Sein anders zu
reden als p er »wir«, »ich« und »du«? Wo spricht das Sein, und wer
spricht das Sein?
Die angekündigte Vernunft steht und fällt mit dem Sprechen
(vom) Sein. Das Thema des Mit-s eins und der Mit-Ursprünglich
keit muß erneut Thema werden und die existenziale Analytik
»reinitialisieren«, weil diese auf die Frage des Sinns des Seins
· oder des S eins als Sinn zu antworten trachtet . Wenn aber der
Sinn des S eins sich zuallererst dadurch zeigt, daß das Sein im
Dasein * als Dasein * ins Spiel gebracht wird, also genau als Sinn,
dann kann dieser Einsatz (dieses Um-das-Sein-gehen) sich von
vorn herein nur i m Modus des Mit-seins beweisen und exponie
ren : D enn Sinn gibt es nie nur für einen, sondern immer von
einem zum anderen, immer zwischen dem einen und dem ande
ren . Der Sinn des Seins liegt wohl nie in dem, was gesagt wird
in den Bedeutungen -, sondern mit Sicherheit darin, daß »es ge
sagt wird«, im absoluten Sinn des Ausdrucks . »Man spricht« , »es
spricht« will sagen : »Das S ein wird gesprochen«, es ist Sinn (und
nicht: es macht Sinn) . Aber »man« und »es« ist nie etwas anderes
als wir.
Anders gesagt, indem sich das Dasein als Ins-Spiel-bringen des
Sinns des Seins erweist, hat es sich schon vor jeder weiteren Er
klärung als Mitsein erwiesen. Der Sinn des Seins ist im Dasein
nicht im Spiel , um dann an andere »kommuniziert« zu werden:
Sein Ins-Spiel-gebracht-werden ist identisch mit Mitsein . Oder
auch: Das Sein wird ins Spiel gebracht als » mit« . Dies ist nun
mehr die ontologische Minimalprämisse, die absolut unhinter
gehbar ist. Das Sein ist unter uns ins Spiel gebracht, und es ver
mag keinen anderen Sinn zu haben als die Dis-Position dieses
»unter« [entre].
Im übrigen schreibt Heidegger selbst: »Im Seinsverständnis des
Daseins liegt schon [ ] das Verständnis Anderer.i 5 Aber damit
. . .
54
ist sicher noch zu wenig gesagt : Das Seinsverständnis ist nichts
anderes als das der Anderen, was in j edem Sinne heißt : das der
Anderen durch »mich« und das von » mir« durch die Anderen , das
Verständnis untereinander. Man könnte schlicht sagen: Sein ist
Kommunikation. Bliebe noch zu wissen, was »Kommunikation«
ist.
Im Augenblick kommt es weniger darauf an, die Frage zu be
antworten (wenn es eine Frage ist, und wenn wir im Grunde
nicht schon darauf geantwortet h ab e n , wenn wir nicht j eden Tag
und j edes Mal darauf antworten) , als sich beim Faktum ihrer
Zurschaustellung aufzuhalten. Wenn »die Kommunikation« für
uns heute eine derart geschäftige Angelegenheit ist - in j edem
Sinne des Worts . . . -, wenn die Theorien blühen, wenn die Tech
niken sich vermehren, wenn die »Mediatisierung« der »Medien«
in einen auto-kommunikativen Taumel verfällt, wenn das Thema
von der Ununterschiedenheit von »Botschaft« und »Medium«
eine solche - entzauberte oder begeisterte - Faszination in Bewe
gung setzt, dann, weil etwas bloßgelegt worden ist: das nackte
und in der Tat »inhaltslose« Gewebe der Kommunikation - man
könnte sagen: das nackte Gewebe des »Korn« (der Telekom, sei
in aller Unabhängigkeit gesagt) , das heißt unser Gewebe, oder
»wir« als Gewebe, Netz , als ein zurückgezogenes, ausgedehntes
Wir mit seiner Ausweitung als Wesen und seiner Verräumli
chung als Struktur. »Wir selbst« sind nur zu leicht dazu geneigt ,
hier ein unerträgliches Schicksal der Moderne zu sehen. Es könn
te entgegen dieser armseligen Einsicht sein, daß wir - wie auch
anders - noch nichts von der Situation verstanden haben und
daß wir vielmehr anfangen müßten, uns - unsere Existenz und
die der Welt, unser derart dispaniertes Sein - selbst zu verstehen .
55
6. Singulär plural sein
57
Was auch i mmer existiert: Weil es existiert, ko-existiert es. Ko
I mplikation des Existierens ist Teilen einer Welt. Eine Welt ist
nichts der Existenz äußerliche s , keine äußerliche Hinzufügung
anderer Existenzen: Sie ist die Ko-Existenz, die sie zusammen
dis-poniert. Allerdings, so könnte man einwenden, muß ja not
wendig irgendetwas existieren. Kant zeigte, daß durchaus etwas
existiert , da ich j a zumindest eine mögliche Existenz denke : Nun
folgt aber das Mögliche auf das Wirkliche, und es existiert also
2
schon etwas Wirkliches. 8
Man sollte hier anfügen, daß diese Inferenz in Wirklichkeit auf
einen Plural der Existenz schließen läßt : Es existiert etwas (zu
mindest »ich«) und etwas anderes, zumindest das andere »ich«,
das sich ein M ögliches vorstellt, und auf das ich mich beziehe,
wenn ich mich frage , ob etwas von der Art dessen , was ich als
möglich denke, existiert. Es ko-existiert zumindest mehr als ein
»Ich«. Was hier noch so weiterzuführen ist: Es existieren auch
nicht nur Ichs, verstanden als Subj ekte-der-Repräsentation, denn
mit der wirklichen Differenz von zwei »Ichs« ist auch der Unter
schied der Dinge im allgemeinen gegeben, zumindest mein Kör
per, und folglich mehrere Körper. Diese Unterschiedlichkeit im
alten Stil dient nur dazu, dies zu zeigen : Einen philosophischen
Solipsismus hat es nie gegeben und wird es nie geben, und in
gewisser Weis e hat es eine Philosophie »des Subjekts« im Sinne
einer unendlichen Einschließung eines Für-sichs in sich selbst
nie gegeben und wird es auch nie geben .
Und doch gibt es durchaus, und zwar für die gesamte Philoso
phie, auch dasjenige, wofür in exemplarischer Weise der S atz
von Hegel steht : »Ich ist das an und für sich Allgemeine, und die
auf der auch einerseits Agamben, andererseits Badiou an Bord sind, auch wenn
letzterer ihr in der Form des Gegensatzes folgt und Vielheit gegen das Eine aus
spielt. All dies beweist vor allem, wie richtig es ist, daß wir nur miteinander
denken (durch, gegen, trotz, nahe bei, fern von, sich berührend, sich meidend ,
einander neidend ) .
2 8 . Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes ( 1 763) , I, 3, § 4, in: Werke Bd. 2, Frankfurt; Main 1 960.
58
Gemeinschaftlichkeit ist auch eine , aber eine äußerliche Form
der Allgemeinheit. i9 Man weiß , daß die dialektische Logik den
Übergang von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit als dieser
selbst wesentlich erfordert: Dennoch muß dieser Logik nach
dann immer die »innere« Form und die Subj ektivität des »Ich« die
Wahrheit des Universellen und seiner Gemeinschaft wiederfin
den und sich setzen, um zum Ziel zu gelangen. Uns fällt folglich
die Aufgabe zu, das Moment der »Äußerlichkeit« als in wesent
licher Weise tatsächlich gültig festzuhalten, und zwar als so
wesentlich, daß es sich auf keinerlei »Ich«, weder auf ein indi
viduelles noch auf ein kollektives, mehr bezieht, o hne dabei un
mißverständlich die Ä ußerlichkeit selbst und als solche aufrecht
zuerhalten.
Singulär plurales Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist
nur, als Mit-Wesen [co-essence] . Aber ein Mit-Wesen oder Mit
sein - das Sein-mit-mehreren - bezeichnet seinerseits das Wesen
des Mit-, oder auch, oder vielmehr, das Mit- (das cum) selbst in
der Position oder Art des Wesens . Eine Mit-Wesentlichkeit kann
in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten b este
hen, in der das Wesen der Ansam!Illung noch zu b estimmen
bliebe: Auf sie bezogen würden die versammelten Wesenheiten
zu Akzidenzien. Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Tei
lung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so
will. Dies könnte man auch auf diese Weise ausdrücken : Wenn
das Sein Mit-sein ist, dann ist im Mit-sein das »Mit« das, was das
Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt. Es handelt sich
hier um dasselbe wie bei kollegialer Macht : Die Macht ist den
Mitgliedern des Kollegs weder äußerlich noch j edem von ihnen
innerlich, sondern sie besteht in der Kollegialität als solcher.
Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird,
sondern das Mit im Zentrum des Seins. D afür ist es absolut not
wendig, zumindest die Ordnung der philosophischen Darstellung
59
umzukehren, in der mit großer Regelmäßigkeit das »Mit« - und
der Andere , der damit einhergeht, wenn man so sagen kann -
immer an zweiter Stelle kommt, obgleich diese Folge durch die
tiefere Logik dessen, wovon die Rede ist, dementiert wird. Eine
solche Ordnung ist in sehr bemerkenswerter Weise selbst bei
Heidegger bewahrt , der die Mit-Ursprünglichkeit des Mit-seins *
erst einführt, nachdem er die Ursprünglichkeit des Daseins * eta
bliert hat . Dasselbe kann man gegen die Husserlsche Konstitu
tion des alter ego anführen, obgleich dieses auf seine Weise dem
Ego in der »einzigen . . . Allgemeinschaft« 3 0 ebenfalls gleichzeitig
(wieder das cum) ist .
Man kann auch a contrario zeigen , daß, wenn Hegel in der Phä
nomenologie des Geistes mit der Gestalt der »sinnlichen Gewiß
heit« beginnt, wo, wie es scheint, das Bewußtsein noch nicht in
die Beziehung zum anderen Bewußtsein eingetreten ist , diese
Gestalt dennoch durch die Sprache charakterisiert ist, durch die
das Bewußtsein sich die Wahrheit der s innlichen Unmittelb arkeit
aneignet (j enes berühmte »das Jetzt ist die Nacht«) , und dadurch
wurde die Beziehung zum anderen B ewußtsein erschlichen. Es
wäre leicht, ein Vielfaches solcher Einwände vorzubringen: Zum
Beispiel verweist die Evidenz des ego sum konstitutiv und mit
ursprünglich auf ihre Möglichkeit in j edem der Leser von Descar
tes , und genau dieser Möglichkeit in j edem von uns, das heißt
dieser Mit-Möglichkeit verdankt die Evidenz als Evidenz ihre
Üb erzeugungskraft und ihren Wahrheitsgehalt. 31 Ego sum ego =
cum.
S o könnte offenbar werden, daß - für die Philosophie insgesamt
- die notwendige Abfolge der Exposition nicht verhindert, daß
zwar so tun können, es sei dem so nicht , es aber dennoch unmöglich ist, daß
dem nicht s o ist.« (Antworten auf die 6. Betrachtungen, 1 ) .
60
die Tiefenordnung der Gründe durch Mit-Ursprünglichkeit ge
regelt ist . Wenn ich also vorschlage, die Ordnung der ontologi
schen Exposition zu verkehren, s o s chlage ich nur vor, eine in
der gesamten Geschichte der Philosophie mehr oder w e niger
dunkel gegenwärtige Ressource ans Licht zu bringen - die umso
gegenwärtiger ist, als sie auf die weiter oben beschriebene S itua
tion antwortet: Philosophie beginnt mit und in der »mitbürgerli
chen« Ko-Existenz als solcher (und läßt s ogleich und im U nter
schied zur »Reichsform« die Macht als Problem zum Vorschein
kommen) . Oder vielmehr: »Polis« ist nicht zuerst eine Form der
politischen Institution, sondern zuerst Mit -sein als solches . P hilo
sophie ist insgesamt Denken des Mit-seins, und deshalb ist sie
auch Mit-Denken als solches .
Aber es versteht sich von selbst, daß es nicht nur darum geht,
eine noch fehlerhafte Exposition einfach zu korrigieren . . . Es geht
auch darum, den Wesensgründen gerecht zu werden, deretwe
gen das Mit-sein die gesamte Philosophiegeschichte hindurch
dem Sein untergeordnet ist und gleichzeitig und i m Zug d ieser
Unterordnung selbst unablässig sein Problem als das Problem
des Seins selbst geltend macht : Insgesamt ist das Mit-sein das
eigentlichste Problem des Seins - und es ist nun herauszufinden,
warum und inwiefern dies so ist. 3 2
Nehmen wir also den Faden wieder auf: Nicht zuerst das Sein
des Seienden und dann das Seiende selbst als Mit-ein-ander, son
dern das Seiende - und alles Seiende - in seinem Sein als Mit-ein
ander seiend. Singulär p lural : derart, daß eines j eden Singularität
von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tat
sächlich und im allgemeinen Singularität von Pluralität nicht zu
trennen ist. Auch hier handelt es sich nicht um eine zusätzliche
Eigenschaft. Der Begriff des Singulären impliziert seine Singula
risierung und folglich seine Unterscheidung von anderen Singu-
32. In gewissem Sinne ist Levinas als Zeuge exemplarisch für diese Problema
tik. Was er aber als »autrement qu'etre« (anders als Sein) versteht, muß ver
standen werden als »das Eigentlichsie des Seins«, eben weil es viel mehr d arum
geht, das Mit-sein zu denken statt den Gegensatz des A nderen zum Sein.
61
laritäten (im Unterschied beispielsweise zu den Begriffen des
Individuums - denn das perfekte Individuum wäre eine imma
nente Totalität ohne anderes, oder ohne Besonderes , da dieses
ein Ganzes u nterstellt, dessen Teil es ist und damit gegenüber an
deren P artikularitäten keinerlei anderen Unterschied aufweisen
kann als einen num erischen) . Im übrigen sagt man singuli im
Lateinischen nur im P lural, weil es »eines« von mehreren »nach
ein-ander« bezeichnet. Das Singuläre ist von vornherein jeder
Einzelne, folglich auch j eder mit und unter allen anderen. Das
Singuläre ist ein P lural . Sicher hat es auch die individuelle Eigen
schaft der U nteilbarkeit zu bieten: aber es ist nicht unteilbar als
Substanz, sondern unteilbar in j edem einzelnen Fall, im Ereignis
seiner Singularisierung. Es ist unteilbar als Augenblick, das heißt
ebenso s ehr unendlich teilbar, oder punktuell unteilbar. Es ist
auch als ein B esonderes , aber u nter der Bedingung des pars pro
toto: Das Singuläre ist j edes Mal für das Ganze, auf seinem Platz
und in seinem Blick. (Wenn also der Mensch für das S eiende in
seiner Totalität steht, wie ich auszudrücken versucht habe, so ist
er folglich der Exponierende des Singulären als solches und im
allgemeinen.) Eine Singularität läßt sich nicht auf Grundlage des
Seins aufteilen, sondern sie ist - sofern sie ist - das Sein selbst
oder s ein Ursprung.
Einmal mehr sieht man mühelos, wo diese Merkmale auf das
cartesische ego sum Bezug nehmen . D as Singuläre ist ein ego, das
kein »Subj ekt« im Sinne einer B eziehung von sich zu sich ist .
Vielmehr ist es eine »Ipseität«, die keine Beziehung von einem
»Ich« zu einem »Selbst« ist. 3 3 Es ist weder »ich« noch »du«, son
dern lediglich das Unterschiedene der Unterscheidung, das Dis
krete der Diskretheit . Es ist das Als-abseitiger-Teil-sein [l 'etre-a
part] des S eins selbst und im Sein selbst: das j eweilige Sein, das
bezeugt, daß das Sein nur als Einzelfall stattfindet.
Das Wesen des Seins ist der Fall . »Sein« ist immer, j edes Mal
ein Fall des Seins (Anklopfen , Anlangen, Schock, H erzschlag,
62
Berührtsein, Zusammentreffen, Zugang) . Und folglich immer
auch ein Fall des »Mit« : Singulare, die singulär zusammen sind ,
und deren Zusammen [ensemble] weder ein Summe, noch ein
Umfassendes, noch die »Gesellschaft«, noch die »Gemeinschaft«
ist (diese Worte sind nur Ausdrücke für das Problem) . Das Zu
sammen der Singulare ist »selbst« die Singularität . Sie »versam
melt« sie, indem sie sie verräumlicht, und sie sind »verbunden« ,
insofern sie nicht vereinigt sind .
Unter diesen Bedingungen darf man vom Sein als Mit-sein viel
leicht nicht mehr in der dritten Person des »es ist« oder »es gibt«
sprechen . Es gibt womöglich keinen dem Zusammen-sein äußer
lichen Standpunkt, von dem aus sich aussprechen ließe, daß es
Seiendes und ein Mit-sein der Seienden u ntereinander gibt. Kein
»es ist«, folglich auch kein der Aussage des »es ist« zugrunde
liegendes »ich bin« . Man müßte vielmehr die dritte Person als die
in Wirklichkeit erste denken. Sie wird dann also die erste Person
Plural . Und das Sein läßt sich dann nur auf diese singuläre Weise
sagen: »Wir sind« . Die Wahrheit des ego sum ist ein nos sumus
und dieses »Wir« ist eine Aussage über den Menschen, die für
alle Seienden gilt, mit denen »wir« sind, für die gesamte Existenz
als Wesentlich-mit-sein, als Sein, dessen Wesen das Mit ist .
(»Man wird sprechen . . . «: wer, man? Wir werden sprechen -
wer ist dieses »Wir«? Wie kann ich »wir« sagen für euch , die ihr
mich lest, und für mich? Wie kann man uns gemeinsam denken
lassen, was doch das ist, was wir gerade machen, ob wir »einver
standen« sind oder nicht? Wie sind wir der oder die eine, mit dem
oder der anderen? Was heißt : Wie steht es mit unserer Kommu
nikation, mit diesem Buch, also mit diesen Sätzen und dem Gan
zen der Situation, die ihnen mehr oder weniger Sinn verleihen?
Was eine Frage der Philosophie als »Literatur« ist, nämlich: Bis
wohin ist es möglich , den Diskurs in der dritten Person der Phi
losophie zu halten, ab wo müßte die Ontologie - was? - werden?
Gespräch? Lyrik? . . . Strikte begriffliche Strenge des Mit-seins läßt
den Diskurs seines Begriffs verzweifeln . . . )
63
Was man »Gesellschaft« im weitesten und diffusesten Sinne des
Worts nennt, ist s omit die Chiffre einer Ontologie, die noch frei
gelegt werden muß. Rous seau hat sie vorausgeahnt, als er für
den recht unglücklich so genannten »Vertrag« nicht eine Überein
kunft zwischen Individuen, sondern eben j enes Ereignis ein
setzte, das »aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Lebe
wesen ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht
hat« . 3 4 (Nietzsche bestätigt diese Vorahnung auf paradoxe Weise ,
wenn Zarathustra ausruft, daß »die Menschen-Gesellschaft [ . . . ]
ein Versuch [ . . ] und kein >Vertrag<« 35 sei.) Marx faßt sie, indem
.
64
Das Eine/das Andere: weder »durch« , noch »für«, noch »im«,
noch »trotz«, sondern »mit« . Weniger und mehr zugleich als die
»Beziehung« o der die »Verbindung«, vor allem wenn die B ezie
hung oder die Verbindung j e die vorg�ngige Existenz der Ter
mini, die sie verbinden, voraussetzen: D enn das »Mit« ist das
genau Gleichzeitige seiner Termini, es ist in der Tat ihre Gleich
zeitigkeit. »Mit« ist geteilte Raum-Zeit, ist das Zur-selben-Zeit
am-selben-Ort, das als solches von sich selbst, in sich selbst, ab
gesondert ist. Es ist das Prinzip der Identität, das augenblic klich
vervielfacht ist: Das Sein untersteht gleichzeitig und am gleichen
Ort der Verräumlichung einer unbestimmten Pluralität von Sin
gularitäten. Das Sein ist mit dem Sein, es deckt sich nicht mit sich
selbst, aber es ist bei sich, an seiner Seite, ganz bei sic h , auf
Tuchfühlung, in der paradoxen Nähe, worin sich Entfernung und
Fremdheit offenbaren. Wir: j edes Mal ein anderer, jedes Mal mit
anderen. Das »Mit« deutet in keinem höheren Maße darauf hin,
daß eine Situation gemeinsam geteilt wird, als wenn reine Exte
rioritäten nebeneinander stehen (eine Bank mit einem B aum mit
einem Hund mit einem, der vorbeikommt) .
Die Frage des Seins und des Sinns des S eins ist zur Frage des
Mit-seins und des Zusammen-seins (des Sinns der Welt) gewor
den . Dies ist es, was die moderne U nruhe ausmacht, die w eniger
eine »Krise des Sozialen« aufdeckt als eine Anweisung, die die
»Sozialität« oder die »Soziation« der Menschen an sich selbst
richtet, oder die sie von der Welt erhält : nicht anderes s ein zu
müssen als das, was sie ist, j edoch endlich selbst das Sein als sol
ches sein zu sollen. Eine solche Formuli erung ist zunächst von
einer tautologischen Abstraktion, die verzweifeln läßt - und des
halb sind wir alle beunruhigt -, aber unsere Aufgab e ist es, die
harte Schale dieser Tautologie zu knacken: Was ist das Mit-sein
des Seins?
In gewisser Hinsicht wiederholt sich immer wieder die anfäng
liche okzidentale Situation, es geht immer noch um das Problem
der Polis , dessen Wiederholung unsere Geschichte im Besten wie
im Schlimmsten geprägt hat . Heute reproduziert sich diese Wie-
65
derho lung in einer Situation, wo die zwei wichtigsten Gegeben
heiten eine Art Antinomie bilden: Einerseits breitet sich eine
Welt aus, andererseits stehen wir vor dem Ende der Repräsenta
tionen der Welt. Das heißt nichts geringeres als eine Mutation im
Verhältnis von Politik und Philosophie. Einerseits kann es sich
nicht mehr um eine einzige Gemeinschaft, ihr Wesen, ihre Ge
schlossenheit und S ouveränität handeln, andererseits kann es
nicht mehr darum gehen, die Gemeinschaft den Dekreten einer
S ouveränität des ANDEREN o der den Zwecken einer Geschichte
zu unterstellen. Aber es kann auch nicht darum gehen, Sozialität
als einen bedauerlichen und unvermeidlichen Unfall, als etwas
mehr schlecht als recht zu bewältigtendes Zwanghaftes zu be
handeln. Gemeinschaft steht nackt da, aber sie drängt sich auf.
Einerseits ist also der Begriff der Gemeinschaft als solcher oder
der Polis in j edem Sinne gebrochen - dies ist es, was das vielfäl
tige und chaotische Aufkommen des I nfranationalen, des Supra
nationalen, des Paranationalen und der Dis-Lokation des »Natio
nalen« im allgemeinen bedeutet - , andererseits scheint der
Begriff der Gemeinschaft [communaute] nichts anderes mehr
zum Inhalt zu haben als seine eigene Vorsilbe, das cum, das der
Substanz und der Verbindungen entledigte Mit, dessen Innerlich
keit, Subj ektivität und Personalität abhanden gekommen ist. Auf
die eine wie auf die andere Art ist Souveränität nichts . 3 7 S ouve
ränität ist nichts weiter als das cum, und als solche immer und
unendlich »zu kom-plettieren« .
Nicht ein Verschwinden der Souveränität, sondern diese Frage
muß gedacht werden: Wenn Souveränität der große politische
Terminus war, um die Gemeinschaft (ihren Kern o der ihr Wesen)
ohne ein Jenseits von ihr zu bestimmen, ohne ein anderes Fun
dament o der einen anderen Zweck als sie selbst, wie steht es
dann damit , wenn diese Souveränität nichts anderes mehr erin
nert als singulär plurale Verräumlichung? Wie läßt sich Souve-
37. Es ist bekannt, daß dies eine Formel ist, a n der Bataille viel liegt . Man
könnte sogar sagen, daß das seine Formel war, absolut.
66
ränität als das »Nichts« des entblößten »Mit« denken? Und wenn
gleichzeitig p olitische Souveränität immer die Zurückweisung
von Beherrschung (eines Staats durch einen anderen, durch die
Kirche, eines Volks durch etwas anderes als es selbst) bedeutet
hat, wie läßt sich dann die nackte S ouveränität des »Mit« im Ge
gensatz zur Beherrschung des Zusam men-seins durch eine an
dere Instanz, oder die des Zusammen durch es selbst ( durch
seine Regulierung und »automatische« Kontrolle) denken? Man
hat damit beginnen können, die derzeitige Transformation des
»politischen Raums« 3 8 als einen Übergang zum »Empire« zu be
schreiben. Empire bedeutet genau die B eherrschung ohne Souve
ränität (ohne Ausarbeitung eines solchen Begriffs) und zugleich
eine umgekehrte Verräumlichung und Pluralität der Konzentra
tion im Inneren, die nach politischer Souveränität verlangt : Wie
läßt sich die Verräumlichung des Empire im Gegensatz zu seiner
Beherrschung denken?
Auf die eine oder andere Weise setzt die nackte Souveränität -
wenn ich die Souveränität Batailles einmal so übertrage - voraus,
daß sie zur Ordnung des Politisch-Philosophischen und der »po
litischen Philosophie« auf Distanz geht: nicht zugunsten eines
entp olitisierten Denkens , sondern zugunsten eines Denkens , das
mit der Konstitution, Imagination und Bedeutung des Politischen
selbst wieder neu beginnt, das es in seinem Rückzug und aus
gehend von diesem Rückzug neu zu umreißen erlaubt. Rückzug
des Politischen 3 9 bedeutet nicht dessen Verschwinden. Es b edeu
tet, daß die philosophische Voraus setzung von allem Politisch
Philosophischen verschwindet, die immer eine ontologische ist.
Sie hat unterschiedliche Formen : Sie kann darin bestehen, das
Sein als Gerneinschaft zu denken und die Gemeinschaft als
Schicksal, oder im Gegenteil darin, das Sein als früher und außer
halb der Gesellschaftsordnung und diese als zufällige Äußerlich-
38. Vgl . Toni N egri , »La crise de l ' espace politique«, und die gesammte Num
mer 2 7 »En attendant l ' empire« von Futur anterieur, Paris, Januar 1 99 5 .
39. Vgl. d i e kürzlich in Le retrait du politique u n d Rejouer l e politique zusam
mengetragenen Arbeiten, Paris 1 98 1 und 1 983 .
67
keit des Kommerzes und der Macht. So aber ist Zusammen-sein
nie wirklich Thema und Problem der Ontologie. Der Rückzug des
Politischen ist die ontologische Entdeckung und Entblößung des
Mit-sein s .
40. Zur dekonstruierenden Lektüre des »als solches« des Seins i n der Funda
mentalontol ogie vgl . die Arbeit von Yves Dupeux, Straßburg 1 994.
68
sondern sich setzt, sich hingibt oder ankommt, sich dis-poniert -
zum Ereignis wird, Geschichte macht, Welt wird - als sein eige
nes singulär plurales Mit. Noch einmal anders : Das Sein ist nicht
ohne Sein - ein Satz , der so lange nicht mehr ist als eine erbärm
liche Tautologie, wie man nicht begreift, d aß er im mit-ursprüng
lichen Modus des Seins-mit-dem-Sein-selbst zu verstehen ist.
Diesem Modus gemäß ist das Sein simultan. Wie man, u m das
Sein auszusprechen, es wiederholen und »das Sein ist« sagen
muß , so ist das Sein nur als simultan mit sich selbst. Die Z eit des
Seins (die Zeit, die es ist) ist diese Simultaneität, diese Ko-Inzi
denz , die eine Inzidenz im allgemeinen vorauss etzt: die Bewe
gung, Fortbewegung oder Ausbreitung, die ursprünglich zeitli
che Ableitung des Seins, seine Verräumlichung .
Pollak6s legomenon - das Sein äußert sich in vielfältiger Weise:
in gewisser Weise geht es durchaus darum, das aristotelische
Axiom zu wiederholen. Dem »mit« , dem »auch« und >>noch« einer
Geschichte entsprechend, die j ene Aushebung und Zugkraft des
Seins wiederholt, ist die Singularität des Seins sein Plural . Aber
dies wird nicht mehr in vielfältiger Weise gesagt, wenn man von
einem einzigen vermuteten Kern des Sinns ausgeht . Das Multiple
des Sagens - das heißt der Sagenden -, mit dem je singulären Sa
gen, gehört zu ihm als seine Konstitution, und im Sagen, j e nseits
des Sagens , das Multiple des Seienden in Totalität .
So koinzidiert das Sein nicht mit sich selbst, ohne daß diese Ko
Inzidenz sich sogleich und in wesentlicher Weise selbst b emerk
bar macht entsprechend der Ko-Struktur seines Ereignisses (Inzi
denz , Begegnung, Winkel der Deklination, Schock, nicht über
einstimmende Übereinstimmung) . Das Sein ko-inzidiert mit dem
Sein: das heißt, es ist Verräumlichung, und das Aufkommen [la
suruenue] - die aufkommende Verräumlichung - des Ko-, des
singulär Pluralen. Man könnte fragen, warum man dies immer
noch »Sein« nennen muß, wo doch sein Wesen sich auf eine Vor
silbe des Seins reduziert, auf ein Ko-, außerhalb dessen es nichts
gibt, nichts außer den Seienden oder Existierenden, aber keiner
lei eigene Substanz oder Konsistenz des »Seins« als solchem.
69
Und genau darum geht es in der Tat. Das Sein besteht in nichts
anderem als der Existenz von allem Existierenden. Dennoch ver
schwindet diese Konsistenz selbst nicht in einem Staub von ne
beneinander stehenden Seienden. Worauf ich hinzuweisen ver
suche, wenn ich von »Dis-Position« spreche, ist weder einfache
Position noch ein Nebeneinander. Das Ko- bestimmt durchaus
die Einheit und Einzigartigkeit dessen, was im allgemeinen ist .
Zu begreifen ist von dieser einzigartigen Einheit genau deren
Konstitution als »Ko-« : das singulär Plurale.
(Im übrigen ließe sich mühelo s zeigen, daß dies eine Frage ist,
die entsprechend einer langen Tradition schon oft gestellt wor
den ist, sowohl von der Monadologie von Leibniz wie von all den
Formen einer »ursprünglichen Teilung«, und noch weitergehend
von allen Formen des Unterschieds zwischen dem Einen an sich
und dem Einen für sich. Wichtig ist genau diese Wiederholung:
die Konzentration und das Aufwerfen der Frage - was weder not
wendigerweise einen Fortschritt darstellt, noch sein Gegenteil :
Verarmung, s ondern wohl eher eine Verschiebung, einen Um
weg, einen Ausbruch hin zu etwas anderem, hin zu einer ande
ren philosophischen Haltung . )
Zumindest u n d vorsorglich wird m a n versuchen folgendes z u
sagen: Ebensowenig w i e um ursprüngliche Einheit u n d deren
Teilen handelt es sich um ursprüngliche Multiplizität und ihre
Korrelation (weder das Eine , das sich s elbst erzdialektisch teilt ,
noch Atome und Klinamen) . Im einen wie im anderen Fall muß
der Ursprung in bezug auf irgendein Ereigni s , das ihn ereilt, als
vorgängig gedacht werden (auch wenn es aus ihm hervorgeht) .
Man muß also die Einheit ursprünglich p lural denken : Das heißt
genau , das Plurale als solches zu denken.
Plus ist im Lateinischen der Komparativ von multus nicht
-
70
..
modell: Es gibt die Atome plus Klinamen. Aber das Klinamen ist
nichts anderes, kein anderes Element außerhalb der Atome, es
existiert nicht zusätzlich, es ist das »Mehr« ihrer Exposition : Als
Mehrere können sie nur einander zuneigen oder voneinander ab
weichen. Ihre Unbeweglichkeit oder ein paralleler Fall würde
eine Darstellung unterbinden, käme der reinen Position gleich
und unterschiede sich nicht vom rein-einen-Einen (oder anders
gesagt : dem Anderen) . Das reine Eine ist weniger als das Eine: es
kann weder gesetzt noch gezählt werden . Das eigentlich Eine ist
immer mehr als eines. Es ist, als Einheitsexzeß, das Eine-mit
dem-Einen: sein ko-präsentes Ansichsein.
Das Ko-selbst (und die Ko-Präsenz des S eins als solches) ist als
das Sein, das es »ist«, nicht präsentierbar, da es dieses nur ist,
indem es dieses absondert . Es ist unpräs entierbar nicht, weil es
die am meisten zurückgezogene und geheimnisvolle Seinsregion
besetzt, oder gar die des Nichts , sondern weil es schlicht und ein
fach keiner Logik der Präsentation unterworfen ist. Weder prä
sent, noch zu präsentieren (noch folglich im strikten Sinne »un
präsentierbar«) , ist das Mit die - singulär plurale - Bedingung der
Präsenz im allgemeinen als Ko-Präsenz. Die Ko-Präsenz ist keine
in die Abwesenheit zurückgezogene Präsenz , sie ist auch keine
Präsenz an sich, sondern eine Präsenz für [pour} sich.
Sie ist auch keine reine Präsenz des für [ii} , weder für sich , noch
für anderes, noch auf der Welt. Tatsächlich können diese Arten
der Präsenz - sofern sie stattfinden - nur stattfinden, wenn vor
allem Ko-Präsenz stattfindet . Ein einzelnes Subj ekt könnte sich
nicht einmal bezeichnen und sich auf sich als Subj ekt beziehen .
Ein Subj ekt im klassischen Sinne des Begriffs unterstellt nicht
nur seine eigene Unterschiedenheit vom Obj ekt seiner Repräsen
tation o der Beherrschung: es unterstellt zumindest ebenso sehr
seine eigene Unterschiedenheit von anderen Subj ekten, deren
Selbstheit (j a , wenn man so will, deren Fürheit) sich von s einem
eigenen Umkreis der Repräsentation oder Beherrschung unter
scheiden läßt. D as Mit ist also die Unterstellung des »sich« im all
gemeinen. Aber es ist eben gerade nicht mehr eine zugrundelie-
71
gende Unterstellung oder Supposition im Modus der infiniten
Auto-Präsuppo sition der subj ektiven Substanz. Wie es die syn
taktische Funktion des »mit« anzeigt, ist es die Prä-Position der
Position i m allgemeinen , und das macht derart seine Dis-Position
aus.
Das »Sich«, »sich« im allgemeinen, findet mit statt, bevor es für
sich-selbst und/oder für den Anderen stattfindet. Diese »Fürheit«
des Selbst ist dem Selbst und dem Anderen vorgängig, vorgängig
folglich auch der Unterscheidung eines Bewußtseins und seiner
Welt. Vor der phänomenologischen Intentionalität und vor der
egologischen Konstitution, aber sehr wohl auch vor der dingli
chen Konsistenz als solcher gibt es Mitursprünglichkeit entspre
chend dem Mit. Es gibt genaugenommen also keine Vorgängig
keit: Mitursprünglichkeit ist die allgemeinste Struktur aller Kon
sistenz, aller Kon- stitution und allen Bewußtseins [con-science] .
Präsenz-mit: mit als ausschließlicher Modus des Präsentseins,
ebenso wie das Präsentsein, und das Präsente des Seins, koinzi
diert nicht an sich - das heißt mit sich - es sei denn, es ko-inzi
diert , es »fällt mit« der anderen Präsenz »zusammen«, die ihrer
seits demselben Gesetz gehorcht . Das Zu-Mehreren-zusammen
sein ist die ursprüngliche Situation: Sie bestimmt sogar unsere
»Situation« im allgemeinen . Derart verlangt inzwischen ein ur
sprüngliches oder transzendentales »Mit« besonders dringend
danach , für es selbst freigelegt und artikuliert zu werden. Aber
was an seinen Begriff nicht die geringste Schwierigkeit stellt: Auf
dieses »Ursprüngliche« oder auf dieses »Transzendentale« »geht«
man nicht »zurück«, es ist zu j eder Existenz und j edem Denken
strikt gleichzeitig.
72
7. Ko-Existenz
73
Ausübung von Macht und Herrschaft, sondern als eine Praxis des
Sinns. S eit die traditionellen Souveränitäten (politisch-theologi
scher Ordnung) zwar nicht die Macht (die sich nur verschob) ,
aber die Möglichkeit des Sinnstiftens verloren haben, forderte
der Sinn selbst (also »wir«) das , was ihm sozusagen geschuldet
ist. Was Marx als Entfremdung begriffen hat und wobei man
nicht vergessen darf, daß diese für ihn untrennbar die Entfrem
dung des Proletariats und die der Bourgeoisie war (letztlich eine ,
wenn auch asymmetrische, ungleiche Entfremdung des »wir«) ,
war letztlich die Entfremdung des Sinns . Aber Marx ließ die
Frage der Aneignung oder der Wiederaneignung des Sinns noch
in der Schwebe - zum Beispiel, weil er die Frage dessen, was un
ter »freier Arbeit« zu verstehen wäre, noch offen ließ. Diese
Schwebe war, fristgerecht, die Ö ffnung hin zu einer anderen On
tologie des »Gattungswesensjseins« des Menschen als »gesell
schaftliches Wesen/Sein«: zu einer Ko-Ontologie .
So gesehen bleiben Entzauberung und Bedrängnis unseres Fin
de siecle nicht dabei stehen, den sozialistischen Visionen nach
zutrauern , ebensowenig wie sie sich damit begnügen können,
sie durch ein naives Sich-Stürzen in neue »kommunitaristische«
Themen ersetzen zu wollen. Sie tun anderes und viel mehr: Sie
machen unsere Hauptsorge kenntlich, die »uns« heute zu dem
macht , was »wir« sind, als die Sorge um das »gesellschaftliche
Sein« [etre social] als solches : das heißt insofern, als »Gesell
schaftlich keit« und »Gesellschaft« o ffensichtlicherweise nicht die
angemessenen Begriffe für unser Wesen sind . Deshalb wird d a s
»gesellschaftliche Wesen/Sein« - in zunächst unendlich arme r
und problematischer Weise - z u m »Zusammen-sein« , »Zu-m e h
reren-sein«, zum »Mit-ein-ander-sein« . D a s »Mit« wird bloßge
stellt als Kategorie, die noch keinen Status und Gebrauch hat, a u s
der aber letztlich alles resultiert , was uns z u denken gibt - u n d
alles, was »Uns« denken läßt.
Genau in dem Moment, wo es keine »sozialistische Vision«
mehr vorzustellen und vorzu schlagen gibt für die »Komman d o
stelle« eines Subj ekts der Geschichte und d e r P olitik, in d e m
74
Moment wo es, noch weiter gefaßt, sozusagen keine »Polis« und
nicht einmal mehr eine »Gesellschaft« gibt, aus der sich eine
regulative Figur formen ließe, da b i etet sich in der ganzen Zu
gespitztheit seiner Frage und Souveränität seiner Forderung das
jeder Intuition, j eder Repräsentation oder Imagination entzogene
»Zu-mehreren-sein« an.
Frage und Forderung hängen an der Konstitution des Zu-meh
reren-seins als solchem, also an der Konstitution der Pluralität im
Sein. Die »Ko-Existenz« sieht darin auf außergewöhnliche Weise
ihren zugespitzten und komplizierten B egriff. Es ist in der Tat
bemerkenswert, daß dieser Terminus immer dazu dient , auf ein
Regime oder einen Status hinzuweisen, der mehr oder weniger
von äußeren Umständen aufgezwungen ist. Es ist ein Begriff,
dessen Tonfall zwischen Indifferenz und Resignation oder auch
zwischen Kohabitation und Kontamination oszilliert . I mmer ist
die Ko-Existenz schwachen oder unerfreulichen Konnotationen
ausges etzt , und darin zeigt sich ein Zwang, oder bestenfalls eine
akzeptable Konkomitanz, aber kein Anstoß des Seins oder des
Wesens, allenfalls in der Form einer unüberwindlichen Aporie ,
mit der man höchstens in Verhandlung treten kann: j ene »un
gesellige Geselligkeit«4 1 , mit der Kant selbst sich heute vielleicht
nicht mehr zufrie dengeben würde und deren Paradoxon nicht
mehr als ein umsichtiges Denken der Perfektionierbarkeit der
Völker erscheint , sondern eher als Pudendum für den »Lib eralis
mus« genannten Zynismus dient . Aber letzterer weist alle Zei
chen der Erschöpfung auf - zumindest der Erschöpfung, was den
Sinn angeht - wenn er auf den Zusammenbruch des »Sozialis
mus« keine andere Antwort weiß, als daß es sich beim »Sozialen«
und dem »Soziologischen« um relativ autonome Sphären der
Handlung und des Wis sens handelt . Brüche zu repari eren oder
Strukturen zu bes chreiben wird nie ein Denken des Seins erset
zen kö nnen, auch nicht, wenn es das eines Zusammen-seins ist.
75
Auf den Zusammenbruch des Kommunismus antwortet man der
art nur mit einer überstürzten Verdrängung der Frage des Ge
mein-sam-seins selbst (das der »real« genannte Kommunismus
seinerseits hinter einem gemeinsamen Sein verdrängt hatte) .
Nun ist aber genau diese Frage hier ans Licht gekommen, diese
und nichts anderes ; und sie wird uns nicht mehr loslassen, sie
wird nicht mehr aufhören wiederzukehren, denn in ihr stehen
wir in Frage .
Was derart ans Licht kommt, ist keine »soziale« oder »kommu
nitäre Dimension«, die sich dem einfach Gegebenen hinzugesellt
- auch keine wesentliche oder bestimmende Zugabe (man
könnte an die vielen Schemata und Umstände gewöhnlicher Dis
kurse denken , in denen uns diese Ordnung aufgezwungen wird:
erst das Individuum, dann die Gruppe, erst der eine, dann die an
deren , erst das Rechtssubj ekt , dann die wirklichen Beziehungen,
erst eine »individuelle Psychologie«, dann eine »kollektive Psy
cho logie«, und vor allem - wie man erstaunlicherweise immer
noch sagt, erst das »Subj ekt« , dann die »Intersubj ektivität« . . . ) . Es
handelt sich auch nicht um eine Sozialität oder Alterität, die sich
anschickt, die Instanz des Subjekts, begriffen als solus ipse, prin
zipiell zu durchkreuzen , zu verkomplizieren, ins Spiel zu brin
gen - zu alterieren. Es geht um mehr und noch um etwas ande
res . Es geht um das, was das wie auch immer beschaffene ipse
(das »individuelle« oder »kollektive« , sofern diese Termini einen
präzisen Sinn haben) im Prinzip nur dadurch bestimmt, daß es
dieses mit-bestimmt mit der Pluralität des ipse, für das j eder in
der Welt mit-ursprünglich und mit-wesentlich ist, in einer Welt ,
die nunmehr eine Ko-Existenz bestimmt, die in einem noch un
erhörten Sinne zu verstehen ist, weil sie sich nicht »in« der Welt
befi ndet, sondern das Wesen und die Struktur der Welt bildet.
Keine Nachbarschaft, noch eine Gemeinschaft der ipse, sondern
eine Ko-Ipseität : Das ist es, was ans Licht kommt , j edoch als ein
Rätsel , an dem sich unser Denken stößt.
In der Philosophie des 20. Jahrhunderts bleibt die H eidegger
sche Ontologie des Mitseins eine bloße Skizze (ich werde darauf
76
zurückkommen) . Die Busserlsehe Ko-Existenz oder Gemein
schaft verbleibt i m Status einer Korrelation von verschiedenen
Ego, und die »solipsistisch« genannte Egologie b leibt prima phi
losophia. Außerhalb der Philosophie ist es bemerkenswert, daß
nicht die politische und Gesellschaft stheorie dem Rätsel der Ko
Ipseität (und folglich der Hetero-Ipseität) am nächsten kam,
sondern einerseits eine immer mehr mit den Phänomenen der
Mit-Zugehörigkeit (co-appartenance) konfrontierte Ethnologie4 2 ,
andererseits der Freud der zweiten Topik, dessen dreifache Be
stimmung insgesamt konstituiert ist entsprechend einer Ko-Exi
stenz des Prinzips (Was sind »Es« und »Über-Ich«, wenn nicht
Mit-sein, Ko-Konstitution des »Ich« ? ) . Man könnte dasselbe von
der Lacan 'schen Theorie des »Signifikanten« sagen , insofern als
durch diesen eben nicht auf Bedeutung verwiesen wird , sondern
auf die instituierende gegenseitige Korrelation der »Subj ekte«
(insofern, als der Lacan 'sche »ANDERE« i mmer alles ist, nur kein
»Anderer«: seine B enennung ist ein theologisierender Rückstand ,
der »Soziation« bezeichnen soll) .
Ebenso bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß die Psycho
analyse immer noch die individuellste Praxis ist, die es gibt, und
mehr noch: eine Art paradoxer Beraubung dessen repräsentiert,
was seiner Eigengesetzlichkeit nach » rapport« in j eder Hinsicht ,
das heißt Beziehung und Bericht ist . Kurioserweise gilt hier viel
leicht dasselbe wie in der Ökonomie: Die »Subj ekte« des Aus
tauschs sind dort die im striktesten Sinne mit-ursprünglichen ,
und als Ko-Existenz im starken Sinne verschwindet diese ge
genseitige Ursprünglichkeit in der ungleichen Aneignung des
Tauschs . Nicht von ungefähr verkörpern Marx und Freud in ei
ner Art Symmetrie zwei jeweils unauflösbar theoretisch-prakti
sche Versuche, mit dem »Gemeinsam-sein« als dem kritischen
Punkt (der Unordnung, der Krankheit) der Geschichte oder der
Zivilisation in Berührung zu kommen. Sofern es erlaubt ist, sum
marisch zu schematisieren , könnte man sagen: Zwischen Ökono-
77
mie und Psychoanalyse erstreckt sich - da es eine »sozialistische
Ökonomie« ebenso wenig gegeben hat (statt dessen gab es einen
Staatskapitalismus) wie eine »kollektive Psychoanalyse« (es gab
lediglich die Proj ektion eines individuellen Modells) - der nackte
Raum eines »Zusammen-seins«, dessen Aneignung sich poli
tisch-theologisch erschöpft hat und der nur noch als reaktiver
Schock wiederkehrt. Und dieser Raum ist mondial geworden ,
was nicht einfach bedeutet, daß e r sich auf der Oberfläche des
Planeten - und darüber hinaus - ausgebreitet hat, sondern ins
gesamt das An-die-Oberfläche-kommen von dem bedeutet, was
sich i m Grunde abspielt: des Wesens des Mit-seins .
Daraus folgt zugleich eine Verschweißung, eine Konzentratio n ,
deren L o s Uniformismus und Anonymität zu sein scheint, und
andererseits eine Atomisierung, eine Ko-Dispersion, deren Los
Idiotie scheint, sowohl im griechischen Sinne des Privateigen
tums als a u c h in ihrem mo dernen Sinn von verschlossener
Dummheit (das »Privateigentum« als des-Sinns-beraubt) . Derart
erscheint die Dialektik endgültig blockiert, die Marx wahrzuneh
m e n glaubte in einer »individuellen« Aneignung, die in sich d i e
Momente d e s Privateigentums und d e s Gemeineigentums ver
mittelt. Und so scheint gleichzeitig der Freu dsche Kontrast zwi
schen der möglichen Heilung einer individuellen Neurose und
dem Unheilbaren des Unbehagens in der Kultur endgültig bestä
tigt . Aber derart haben auch j ene Dialektik und dieser Kontrast -
ebenso wie ihr gelähmtes Gegenüber ohne Kommunikation -
dann auf ihre Weise und verworren den Knoten der Fragen, Er
wartungen und Zweifel einer Epoche angezeigt : Wie kann das
Zusammen-sein als solches sich aneignen , solange es als das ,
was es ist, sich selbst ausgeliefert ist in seiner nackten Forme l
und ohne substantiell angenommen z u werden , oder mit eine r
anderen Lexik : ohne symbolische Auszeichnung? W a s wird aus
dem Mit-sein, wenn das Mit sich selbst nicht mehr als Kom
Positi on, sondern als Dis-Position erscheint?
Was ist das Ko- als Dis- : Was ist dieses »als s olches« des Seins ,
das es als seine eigene Teilung exponiert und ankündigt , daß e s
78
sich - wie Sein [comme] -zwischen dem Sein und dem Sein
selbst befindet? Und mehr noch: Was verbindet im Sein das
»wie« [comme] = »als« mit dem »wie« »gleich«? Das Sein als
=
solches ist j edes Mal das Sein als Sein eines Seienden, und es ist
dies j edes Mal in gleicher Weise. Was b ewirkt, daß das Sein als
solches ein Gleich-sein ist, das von Seiendem zu Seiendem zirku
liert und also die Disparität, die Diskontinuität und die Simulta
neität impliziert, die nötig ist, um eine »Ähnlichkeit« ausmachen
zu können? Was ist diese Kom-plikation - Ko-Implikatio n und
Komplexität -, durch die der Mensch im Thema des »Ähnlichen«
(und folglich Unähnlichen) , in diesem so schwierigen Thema,
das die »Menschheit« als solche ins Spiel bringt, eine (Ver) Stel
lung [(dis)similitude] des Seins durch alles Seiende hindurch ex
poniert? Wie kann das Sein als solches nichts anderes sein als die
(Un-) Ähnlichkeit des Seienden in seiner Simultaneität?
Wenn man sagt , daß diese Frage eine ontologische Frage ist -
und daß sie sogar absolut die ontologische Frage wird - heißt
dies also nicht, daß man die Gebiete der Ökonomie oder der
Krankheit im Stich läßt, ebenso wenig wie die Ordnung der Pra
Im Gegenteil ist, wie ich schon gesagt habe, diese Frage keine
xis .
andere als die Frage nach dem, was man »das Kapital« nennt,
und ebenso ist sie keine andere Frage als die nach »der Ge
schichte« und der »Politik« . »Ontologie« gehört nicht zu einer
prinzipiellen, zurückgezogenen, spekulativen und, womit alles
gesagt wäre, abstrakten Ordnung . Ihr Name will besagen: Den
ken der Existenz , und ihre Situation heute bedeutet: Denken der
Existenz auf der Höhe der Herausforderung des Denkens , das
die Globalisierung als solche stellt (ob man sie als »Kapital«,
» (Ent-) Okzidentalisierung, »Technik« oder »Bruch mit der Ge
schichte« usw. bezeichnet) .
79
8. Bedingungen einer Kritik
81
dieses selbst. Auf der anderen Seite nimmt daher die Wirklichkeit
der ökonomischen, technischen und leidenschaftlichen Kräfte
verhältnisse deutlich verselbständigte Umrisse an, sofern nicht
das Recht selbst es unternimmt , sich in der Art eines absoluten
Gesetzes zum Ursprung oder zum Grund zu machen. (Hier beob
achtet man zuweilen, wie die Psychoanalyse bemerkenswerter
weise den Versuch unternimmt, eine substantiell- autoritäre Vi
sion der Gesellschaft stark zu machen) . Das Gesetz als solches
ist notwendig das Gesetz eines ANDEREN, oder das Gesetz als
ANDERES . Der ANDERE impliziert seine Nicht-Repräsentierbarkeit.
Sie kann in einer theologischen Ordnung die Grundlage für
ein »Verbot der Repräsentation« sein, das eine heilige Natur des
ANDEREN unterstellt, zu der eine ganze Ökonomie des Heiligen
und des Opfers gehört , die hierarchisch und letztlich doch
hierophan ist - auch wenn die Theophanie und mit ihr die Theo
logie negativ bleibt : Ein Zugang zur Präsenz und sogar zu einer
»Überpräsenz« ist immer gesichert . In einer atheologischen Ord
nung wird aus dem Verbot j edoch eine Leugnung der Repräsen
tation: Die Alterität des Gesetzes bedeckt, verdrängt oder leugnet
seinen Ursprung und s einen Zweck in der singulären Präsenz
j edes einzelnen Anderen. In diesem Sinne droht die Instanz ei
nes »Undarstellbaren« o der »Ungestaltb aren« sich als gänzl i c h
repressiv z u erweisen, u n d wenn nicht als terroristisch , so d o c h
zumindest a l s terrorisierend u n d offen für die Angst v o r einem
ursprünglichen Mangel . Dagegen kann sich dann die »Gestalt«
als das bewahrheiten, was in der Lage ist, zum »Mit« als z u m
Rand selbst und zur Grenze seiner Umrisse h i n zu eröffnen .
(Wohlgemerkt , die beiden »Ordnungen« sind nicht d arauf b e
schränkt , in der Geschichte aufeinander zu folgen. Die einen w i e
d i e anderen , und d i e einen i n d e n anderen, s i n d i m Verbot u n d /
oder i n der Beunruhigung der Repräsentation impliziert : d a s
heißt i n d e r Frage d e s Zugangs z u m Ursprung/ zu d e n Ursprün
gen, ihrer Möglichkeit/Unmöglichkeit) .
Es geht deswegen j etzt nicht darum, umgekehrt das R e c h t
selbst z u leugnen : Vielmehr s o l l dem plural singulären Ur-
82
sprungs »zu seinem Recht verholfen« w erden, was heißt , inso
fern es sich dabei um Recht handelt: dem, was man seine »ur
sprüngliche Anarchie« nennen könnte, oder den Ursprung des
Rechts in dem, was »ohne Recht rechtens« ist - seine als solche
nicht zu rechtfertigende Existenz . Sicherlich ist die Herleitung
oder Deduktion des Rechts aus diesem nicht zu Rechtfertigenden
nichts, was unmittelb ar oder von selbst vonstatten ginge. Viel
leicht ist es sogar dessen Wesen, daß es sich einem Verfahren der
»Deduktion« entzieht. Aber eben dies muß durchdacht werden,
denn wo solches fehlt, wird das Sein und sein Sinn durch onto
logieloses Recht in der leeren Wahrheit des Gesetzes resorbiert .
Wenn die Politik »die Menschenrechte« zu ihrer S ache macht,
dann bedeutet dies auch eine Vereinnahmung des »Menschen«
im ANDEREN . D arin liegt , was den Ruf nach einer »Ethik« so oft
verdeckt: eine transzendentale Nichtpräsentierbarkeit der Prä
senz konkretester Art.
Am anderen Pol des Rückzugs ist es umgekehrt die Repräsenta
tion, die triumphiert und die zugleich alles Transzendentale und
alles Konkrete absorbiert. Was unter dem armseligen Wort der
»Gesellschaft« noch gefaßt wird, unter diesem Wort, das arm
geworden, das von allem Geselligen, ja von aller »Assoziation«
entleert ist, ganz zu schweigen von den »Gemeinschaften« und
den »Brüderlichkeiten« , aus denen man die primitiven Szenarien
schmiedete (die primitive Bühne im allgemeinen hatte sich als
die Bühne der P hantasmen herausgestellt) - was unter diesem
Wort noch gefaßt wird, scheint nichts mehr weiter zu sein als die
besagte »Gesellschaft« sich selbst gegenüber, das Sozial-sein
selbst, bestimmt durch j enes Spiel der Spiegel, das sich verliert in
den schillernden Reflexen seiner Spiegelungen . Weder der AN
DERE noch die Anderen, sondern ein p lural Singuläres , dessen
Übernahme erfolgt durch seine eigene Neugier auf sich selbst,
und zwar in einer verallgemeinerten Äquivalenz aller Selbst
repräsentationen, die es sich zur Konsumption überläßt .
Man hat dies »Spiegelgesellschaft der Ware« und »Gesellschaft
des Spektakels« genannt. Dies entsprach der post- oder meta-
83
marxistischen Intuition des Situationismus, der meinte, daß der
»Warenfetischismus«, das heißt die Herrschaft des Kapitals, in ei
nem allgemeinen Zur-Ware-werden von Fetischen zur Erfüllung
gekommen war, d . h . in einer Produktion und Konsumption von
materiellen und symbolischen »Gütern« (wozu in erster Linie ge
rade die demokratische Rechtsordnung gehört) , die sämtlich die
Natur von Bildern, Ködern oder ähnlichem haben. Das »Gut« ,
des s en allgemeiner Köder das »Spektakel« ist, ist nichts anderes
als die reale Aneignung des gesellschaftlichen Seins [etre social]
durch sich selbst. Einer Ordnung, die durch eine sichtbare Tei
lung der Gesellschaft strukturiert ist und ihre Rechtfertigung nur
in einem unsichtbaren Jenseits dieser Teilung findet (Religi o n ,
Ideal) folgt eine immanente Ordnung, die überall - als die Sicht
barkeit selbst - ihre Selbstaneignung mimt . Die Gesellschaft des
Spektakels ist die Gesellschaft , die die Entfremdung durch eine
imaginäre Entfremdung der realen Entfremdung vollendet . Das
Geheimnis des Köders besteht darin, daß die reale Aneignung in
nichts anderem bestehen darf als in einer freien schöpferischen
Selbstimaginierung, die unauflöslich individuell wie kollektiv i s t :
Die spektakuläre Ware besteht in allen ihren Formen selbst w e
sentlich aus Imaginärem, d a s s i e anstelle dieser authentis c h e n
Imagination verkauft . Woraus universeller Kommerz gernacht
wird , ist die Repräsentation der Existenz als Erfindung und a l s
sich selbst aneignendes Ereignis. Ein Subjekt der Repräsentatio n
- das heißt ein Subj ekt, das auf die Summe oder den Fluß der R e
präsentationen, die es kauft, reduzi ert ist - nimmt den Platz u n d
die Rolle eines Subj ekts d e s S eins und der Geschichte ein . ( D e s
halb wird d i e Entgegnung z u m Spektakel formuliert a l s d i e fre i e
Schöpfung einer »Situation«: a l s aneignendes Ereignis , d a s i m
Augenblick der Logik des Spektakels entzogen [derobe] ist. D e s
halb auch verwies der Situationismus, der aus Künstlerbeweg u n
gen hervorgegangen ist, a u f ein Paradigma d e r künstleri s c h e n
Schöpfung, auch ohne und sogar gegen Ästhetizismus . )
Auf diese Weise begriff der Situationismus (den ich hier nicht
untersuchen will und den ich vielmehr als ein Sympto m b e -
84
trachte44) - und mit ihm einige seiner Nachfolger in verschiede
nen Analysetypen der Auto-Simulation und der Selbstkontrolle
in unserer Gesellschaft -, daß der Marxismus das Moment der
symbolischen Aneignung verfehlt hatte , weil er es mit dem Mo
ment der produktiven Aneignung verwechselt oder weil er ge
dacht hatte, dieses müsse sich selbst-reproduzieren und sich der
art zu einer symbolischen Aneignung hin überschreiten: Die
Selbst-Aufhebung des Kapitals als umfassende Wiederaneignung
des Seins als gemeinsamer Existenz . G enauer begriff er, daß sich
eine solche Überschreitung sehr wohl abspielte. Allerdings spielt
sie sich nicht ab als Erzeugung einer Aneignung des Gemeinsam
seins als symbolischem Sein (mit Symbol im starken Sinn, das
heißt als Verbindung der Anerkennung, o ntologische Instanz des
Gemein-samen [en-commun] - wie wohl für Marx die Verbin
dung der »freien Arbeit«, wo j eder sich als Subj ekt mit den ande
ren und als Subj ekt des Mit-ein-ander-seins schaffte) : Es spielt
sich ab als die Symbolisierung der Produktion selbst, welche eine
Ko-Existenz nur in den Spielarten der technischen und ökonomi
schen Ko-Ordination der Warennetze s chafft.
Der Situationismus begriff derart, daß die »Humanwissenschaf
ten« dort angelangt sind, wo sie diese Selbst-Symbolisierung der
Gesellschaft konstituieren, die in Wirkli chkeit keine Symbolisie
rung isf, sondern nur eine Repräsentation, und genauer die Re
präsentation eines Subj ekts, das keine andere Subj ektivität hat
als diese Repräsentation ihrer selbst. Die »Humanwissenschaf
ten« fungieren in der Tat immer offensichtlicher (und was auch
immer die Funktionen kritischer Analyse sein mögen , die sie
auch ausfüllen können, soweit diese Funktionen selbst sich nicht
44. Als Symptom als solches, und ein umso bemerkenswerteres durch die un
erwartete Gunst, die ihm beim Tod von Guy Debord im Jahr 1 995 erneut zuteil
wurde. Man müßte aus den Artikeln zitieren, die zu diesem Anlaß erschienen
sind, und zeigen, wie sehr die Bezugnahme auf Debord vielen als notwendig
und wichtig, als der letzte kritische Rückhalt in einer Welt ohne Kritik erschei
nen konnte. Zur Frage von Fetischismus und Kritik vgl. Jacques Derrida, Marx '
Gespenster, Frankfurt/ Main 1 99 5 .
85
fälschlicherweise in eine Art Über-Repräsentation verkehren . . . )
als die wirklichen Träger dessen, was man das generalisierte
»Spektakel« genannt hat. Die sogenannte Frage der »Medien« h at
in Wirklichkeit hier ihren Gravitationspunkt Die »Mediatisie
rung« hängt ganz und gar nicht an dem ostentativen Wirbel, der
gemacht wird und an dem nichts neues ist, und auch nicht an
den technischen und ökonomischen Kräften als solchen . Sie
hängt in erster Linie daran, daß eine Gesellschaft sich ihre Reprä
sentation in der Form des Symbolhaften gibt. Deshalb auch h at
sie ein solches Absorptionsvermögen gegenüber der Kritik an ihr
und deren Inszenierung in provokanter, ironischer oder distan
zierter Weise. Eine Art der allgemeinen Psychosoziologie wird
zum Ort der Übernahme einer Gestalt oder Identität des Gesell
schaftlich-seins.
Darin hatte der Situationismus nicht unrecht, daß er ein Elend
ausmachte , das sich mitten im Überfluß eingenistet hat , ein sym
bolisches Elend, das i m übrigen in keiner Weise materielle s
Elend ausschließt, das sich hält und bei Bedarf für manche
schlimmer wird, insbesondere für ganze Subkontinente , überall
auf der Welt . . . D as Elend des »Sp ektakels« nennt die Ko-Existenz
beim Namen, deren Ko- auf nichts verweist, wodurch das »Zu
sammen mit« der Existenz etwas symbolisieren könnte ; w a s
darauf hinausläuft: nichts , wodurch die Existenz sich als solche
ausdrücken könnte, nichts, wodurch sie dem Sein Sinn geb e n
könnte, und dies genau in dem Augenblick, wo sie sich als d i e
gesamte Eigenschaft des Seins erweist und exponiert . Nichts ,
was Sinn machen könnte, weder gemeinschaftlichen noch indi
viduellen, dies im Moment, wo mit der Existenz nichts andere s
gegeben ist als die Existenz-mit als Raum der Entfaltung u n d
Aneignung. Zusammen-sein ist bestimmt durch d a s Zusammen
sein-im-Sp ektakel , und dieses Zusammen-sein begreift s i c h
selbst als eine Umkehrung j ener Selbstrepräsentation, d i e es s i c h
a l s ursprünglich (und verloren) geben zu könn en glaubt : d i e
griechische Polis , versammelt a l s Gemeinschaft im Theater ihrer
eigenen Mythen . Worauf zum Beispiel heute die Werbung rea-
86
giert, die selbst - unter anderem - eine schwindelerregende spek
takuläre Wiederinbesitznahme der Situationistischen Kritik ver
körpert: »Der Fußball macht jede andere Form der Kunst un
bedeutend«. 4 5
Genau diese unbestimmte Fähigkeit, die Situationistische Kritik
zu vereinnahmen, muß jedenfalls auch aufmerken lassen. Die
Kritik des Scheinbaren gleitet mühelos selbst ins Scheinbare
über, weil sie das Eigentliche - das Nicht-Scheinbare - nicht an
ders ausweisen muß als durch die obskure Kehrseite des Spekta
kels. Da letzteres den ganzen Raum besetzt , kann seine Kehrseite
sich nicht anders bemerkbar machen als durch das insgeheim
Unaneigenbare einer ursprünglichen Eigenschaft, die sich unter
dem Offensichtlichen versteckt h ält. Deshalb ist die Rückseite
des trügerischen »Imaginären« eine schöpferische »Imagination« ,
deren Urform alles in allem ziemlich deutlich dem romantischen
Genie verhaftet bleibt. Der Künstler hat das produzierende Sub
jekt abgelöst, dies aber weiterhin entsprechend derselben Struk
tur ontologischer Prä-Supposition, in der keinerlei spezifische
Befragungen zum »Gemeinen« oder »Gemein-samen« des Seins
und des Sinns des Seins, um das es geht, enthalten sind.
Man muß folglich auch begreifen, wie diese Version der marxis
tischen Kritik, und mit ihr vermutlich alle Versionen des kriti
schen Denkens im dem Sinne, wie es von Marx eingeleitet wurde
(ob es sich um die eher »linksradikalen« oder die eher »soziolo
gischen« Versionen, die von Bataille oder diej enigen der Frank
furter Schule usw. handelt) , in gewisser Hinsicht in statu nas
cendi die Richtigkeit der eigenen Intuition verdunkelte . Es war
die Intuition der sich selbst exponierten Gesellschaft, die sich ihr
Gesellschaftlich-sein selbst, ohne einen anderen Horizont als die
ses, bestätigte - sprich ohne Horizont des Sinns, auf den sich das
Zusammen-sein [etre-ensemble] als solches beziehen ließe, ohne
4 5 . Werbung für die Marke »Nike«, in der Pariser Metro im August 1995.
[ Nancy merkt außerdem an, daß, ob intendiert oder nicht, in diesem Satz »Le
football rend insignifiante toute autre forme d'art« das Wort »insignifiant« in der
Werbung im Maskulinum stand. (A.d.Ü.) ]
87
I nstanz der Kom-Position für seine lebendig und nackt ausgebrei
tete Dis-Position. Aber eben diese Intuition wurde nur als Reich
der Erscheinung interpretiert, als ersatzweises Spektakel für
echte Präsenz - wobei die Erscheinung auf klassischste Weise
begriffen wurde, das heißt nur als »einfache Erscheinung« (Ober
fläche , sekundäre Äußerlichkeit, unwesentliches Schillern) , und
höchstens als »falscher Schein« (Anschein, falscher Schmuck) .
Die Kritik gehorchte in dieser Hinsicht weiter der philosophi
schen Tradition in ihrer konstantesten - und im Sinn von Nietz
sche »metaphysischsten« - Weise: Herabsetzung der Ordnung
der »Erscheinungen« zugunsten einer eigentlichen Wirklichkeit
(die tief, lebendig, ursprünglich ist - und immer der Ordnung
eines ANDEREN angehört) .
Es ist bekannt , daß man in dieser Traditionslinie die sinnliche
Erscheinung im selben Zug durch die Anforderung der intelligi
blen Wirklichkeit konstituierte und herabsetzte , ebenso wie Plu
ralität durch das Erfordernis der Einheit konstituiert und herab
gesetzt wurde. Entsprechend wurde die öffentliche Erscheinung
zugunsten einer inneren und theoretischen Wirklichkeit konsti
tuiert und herabgesetzt (man denke an den Thales von Platon,
der für die Angelegenheit der Polis unfähig war) - und wo au
thentische Wirklichkeit in der politischen oder gemeinschaftli
chen Ordnung gefordert wird, geschieht dies durch eine Über
nahme des Politischen oder Gemeinschaftlichen als Innerlichkeit
und durch die Herabsetzung der schlicht »gesellschaftlichen«
Äußerlichkeit (die Sphäre der Äußerlichkeit der Bedürfnisse und
des Tauschs, die Sphäre der weltlichen Erscheinungen usw .) . Die
Situationistische Kritik, die darin bezeichnend ist für einen mehr
oder weniger konstanten Zug in der gesamten modernen Kritik
der Äußerlichkeit , der Erscheinung und der gesellschaftlichen
Entfremdung zumindest seit Rousseau, hat darin den Verweis
auf etwas fortgeführt, das wesentlich zur Ordnung einer inneren
Wahrheit gehört und das beispielsweise durch »Wunsch« u n d
»Imagination« bezeichnet wird , wofür der gefüllte Begriff die
subj ektive Aneignung eines »wahren Lebens« ist, das s elbst als
88
genuiner Ursprung, als Selbstentfaltung und Selbstbefriedigung
gedacht wird.
Damit will ich sicherlich nicht insinuieren, daß es unter dem,
was als Entfremdung, Illusion und I deologie kritisiert wird,
nichts Wirkliches gibt. Es ist j edoch notwendig, daß man sich
fragt, bis zu welchem Punkt die Kritik der Entfremdung Gefahr
läuft, selbst einer anderen, symmetrischen Entfremdung unter
worfen zu bleiben: nämlich der, die ich mit Bezug auf j ede Art
eines ANDEREN zu bezeichnen versuche - was immer heißt, auf
den Seiben oder auf das SICH-SELBST einer einzigen, ausschließli
chen, egohaften Aneignung, wobei u nerheblich ist, um welches
(generische, gemeinschaftliche oder individuelle) Ego es dabei
geht . Auf anderer Ebene könnte man auch sagen, daß dieser
Bezug stets mehr oder weniger ausdrücklich auf eine »Natur«
verweist: auf die universelle Natur, die menschliche Natur, das
Naturell j edes einzelnen oder das Naturell eines Volks . D urch die
Vorstellung von »Natur« hält sich so das dominante Thema der
Selbstgenügsamkeit, der Selbstorganisation und der eines Pro
zesses, der auf eine Endstufe hin ausgerichtet ist. Solche Natur
bleibt der Äußerlichkeit und der Kontingenz entzogen, die frei
lich ansonsten die Kennzeichen der »Natur« als j enes »Außen«
sind, dem wir exponiert sind und ohne das unsere Exposition
nicht stattfände. Und ebenso ist das Ego zuallererst der Äußer
lichkeit und der Kontingenz entzogen, ohne die es als Ego nicht
einmal exponierbar wäre .
Die Kritik - nicht nur ihre Theorie, sondern auch ihre Praxis -
zeigt somit, daß sie absolut das Bedürfnis hat, sich auf ein ande
res Prinzip als auf das einer Ontologie des ANDEREN und des GLEI
CHEN zu stützen : Sie braucht eine Ontologie des Mit-ein-ander
seins , und diese Ontologie muß die Sphären der »Natur« und
der »Geschichte« , des »Menschlichen« und des »Nicht-Menschli
chen« zusammen tragen, sie muß eine Ontologie für die Welt
sein, für alle, wenn ich so sagen darf, für einen j eden und die
Welt »als Totalität« , und nichts als für die ganze Welt, wo dies
doch alles ist, was es gibt (aber so gibt es alles) .
89
Dem Situationismus, der letzten großen Form der radikalen Kri
tik, war diese Notwendigkeit nicht fremd. Denn wo er Kritik
übte, brachte diese immerhin die Problematik des Rückverweises
der G esellschaft auf irgendein Modell ins Spiel (darin brach der
Situationismus mit den verschiedenen Marxismen wohl am ent
schiedensten, aber in dieser Hinsicht war er - zusammen mit
einigen anderen und teils im Namen von Marx - auch einer der
ersten und heftigsten Kritiker des bis vor kurzem »real« genann
ten S ozialismus wie auch der Sozialdemokratien) : Seine Kritik
hat vielmehr, ohne sich über ihre Tragweite ganz im klaren zu
sein, eine Problematik der Rückverwiesenheit der Gesellschaft
auf sich selbst an den Tag gebracht. Die »Gesellschaft des Spek
takels« ist zugleich Anklage (des generalisierten Waren-Spekta
kels) und Affirmation: der Gesellschaft sich selbst gegenüber,
und mehr noch vielleicht der Gesellschaft , insofern sie sich selbst
gegenüber und nur sich gegenüber exponiert ist.
Die folgenden zwei großen Fragen sind daher gleichzeitig zu
stellen:
1) die Frage, wie und bis wohin die Kritik - sprechen wir es
j etzt aus, die revolutionäre Kritik bis in ihre letzten Formen hin
ein, aber dies gilt für die »reformistisch« genannten Kritiken
a fortiori - paradoxerweise und unbewußt einem klassischen
Modell einer der Erscheinung gegenübergestellten Wirklichkeit
und einer der Pluralität gegenübergestellten Einheit unterworfen
geblieben ist (was auch unterstellt, daß eine gewisse nietzsche
anische Lehre in der kritischen Tradition offenbar immer wieder
mißverstanden und fehlgeleitet wurde, und daß gleichzeitig die
Frage dessen, was man vom Standpunkt der Gesellschaftskritik
aus »Kunst« nennt, so ziemlich insgesamt offenbleibt) - j a , bis zu
welchem Punkt im »kritischen« Denken und in der »kritischen«
Haltung als solcher diese Unterwerfung impliziert sein könnte
(sofern »Kritik« weiterhin die Möglichkeit unterstellt, die Intelli
gibilität einer Wirklichkeit zu enthüllen) , und daraus folgend,
welche andere Haltung sich aufdrängt , die aber ebenfalls nicht
die der Resignation ist;
90
2) die Frage, ob das »Spektakel« nicht in der einen oder anderen
Weise eine konstitutive Dimension der Gesellschaft ist: ob das ,
was man »soziale Bindung« nennt, anders gedacht werden kann
als in der Form der symbolischen Ordnung, und diese wiederum
anders als in der Form der Ordnung einer »Imagination« oder
einer »Gestaltung«, wobei alles auf die Notwendigkeit verweist,
dies ganz neu zu überdenken . Einmal mehr käme dann die
»Kunst« ins Spiel: aber in einem völlig anderen Denken der trivial
»Kunst und Gesellschaft« genannten Frage, und zugleich ein völ
lig anderes Denken der »Kunst« selbst und dem, was unter »kri
tischer Kunst« vorgestellt werden kann .
91
oder als Mit, und nicht einem Sein oder einem Wesen des Gemei
nen entsprechend: also den Sinn des Mit-seins dem Mit selbst zu
geben, und dies insgesamt in einem »Mit-Sinn-machen« (in einer
Praxis des Mit-Sinns) , in dem sich der Gegensatz eines Sinns
( Horizont, Geschichte, Gemeinschaft) und eines einfachen »Mit«
(Verräumlichung, Äußerlichkeit, Dis-Paratheit) vermischen und
brechen würd e . Letzlieh müssen wir dringend wissen, ob die Kri
tik der G esellschaft hinsichtlich einer Voraussetzung gemacht ist,
die nichts »Gesellschaftliches« an sich hat (entsprechend einer
Ontologie des Seins-ohne-Zusatz, wenn man so will) , oder ent
sprechend einer Ontologie des G emeinsam-seins, das heißt des
singulär pluralen Wesens des Seins. Deshalb bedeutet das Unter
nehmen einer »Ontologie« vor allem (und zumindest) , die Bedin
gungen einer Kritik im allgemeinen kritisch zu untersuchen .
92
9. Miterscheinung [Comparution]
93
folgt also weiterhin, daß nicht nur das Mit-ein-ander-sein nicht
ausgehend von einer Voraussetzung zum Eins-sein begriffen wer
den darf, sondern es ist im Gegenteil das Eins-sein (das Sein als
solches , das absolute Sein, oder das ens realissimum) , das nicht
anders als ausgehend vom Mit-ein-ander-sein begriffen werden
kann . Die Frage, die wir noch als »Frage nach dem gesellschaft
lichen S ein« stellen , muß in Wirklichkeit die ontologische Frage
konstituieren .
Wenn man die Notwendigkeit dieser Voraussetzung ohne
Grund richtig versteht , wird man versucht sein zu s agen : Wenn
die Situation des Gesellschaftlich- seins nicht die einer spektaku
lären Selbst-Entfremdung ist, mit ihrer Voraussetzung einer
»wirklichen Präsenz«, die verloren gegangen oder verstellt ist,
dann ist sie wohl auch nicht die eines allgemeinen kommunika
tiven Handelns, das ein »rationales Subj ekt« der Kommunikation
voraussetzt . Das bedeutet freilich nicht, daß es nicht einerseits
Lockmittel, andererseits Rationalität gäbe. Aber es bedeutet , daß
»wirkliche Präsenz« und »Rationalität« nur von etwas anderem
aus gedacht und bewertet werden können und daß sie nicht aus
sich selbst heraus die Voraussetzung konstituieren können . Der
doppelte Konstrast des »Spektakels« und der »Kommunikation«,
der sich selbst überlassen bleibt als eine Art große hermeneu
tische Antinomie der modernen Welt (wie m a n s i e in der Tat
überall am Werk sehen kann) , könnte sogar sehr s chnell seine
Prädikate kreuzen : wobei sich das »Spektakel« als bloße »Kom
munikation« herausstellt, und umgekehrt . Übrigens ist es genau
dieser Chiasmus oder Zirkel , der uns in einem verwirrten und
ängstlichen Bewußtsein beunruhigt, das die »Gesellschaft« sich
noch sub stanz- , grund- und ziellos »im Kreis drehen« sieht .
Vielleicht ist tatsächlich das , was uns ereilt, nichts anderes als
eine and ere Art »kopernikanischer Wende« : weder die des kos
mologischen Systems, noch die der Beziehung zwischen Obj ekt
und Subjekt, sondern die des »gesellschaftlichen S eins« , das sich
inzwischen sich selbst zuwendet oder um sich selbst dreht , und
nicht mehr um etwas anderes (Subj ekt, Anderer, Selb st) .
94
Was uns derart ereilen würde und wovon das »Spektakel« und
die »Kommunikation«, die »Ware« und die »Technik« lediglich
Gestalten wären, perverse vielleicht, j edenfalls aber noch nicht
durchdachte, wäre die Entblößung der gesells chaftlichen Wirk
lichkeit - des Wirklichen des Gesellschaftlich-seins selbst - in der
Symbolik, durch sie und als die Symb olhaftigkeit , die es konsti
tuiert .
Wir müssen uns noch darüber verständigen, was »symbolis ch«
heißen soll . Der eigentümliche Vorzug des Symbolischen ist es,
Symbol zu stiften, das heißt Band, Aneinanderfügung46 , und die
ser Verbindung eine Gestalt zu geb en, oder in diesem Sinne ein
Bild hervorzubringen. Das Symbolische ist das Wirkliche der Be
ziehung, insofern sie sich darstellt, und weil die Beziehung als
solche in der Tat nichts anderes ist als ihre Repräsentation. Eine
Beziehung ist keineswegs die Repräsentation von etwas Wirk
lichem (im zweiten, mimetischen Sinn der Repräsentation) , s on
dern sie ist sehr wohl und nichts anderes als das Reale einer
Repräs entation, ihre Tatsächlichkeit und Wirksamkeit. (Paradig
matisch dafür ist »ich liebe dich« , origineller aber vielleicht noch
»ich richte mich an dich« .)
Hier muß jetzt unterstrichen werden, daß in dieser Hinsicht das
Symb olische und das Imaginäre keineswegs Gegensätze sind,
entgegen der verbreiteten Meinung, die das Bild - als D arstellung
mit Wiedererkennungswert - und das Simulakrum - als verein
nahmend-mystifizierende Hypostase - verwechselt. Die etwas
einfache, ja simplifizierende Kritik am »Bild« (und an der »Bilder
kultur«) , die zu einer Art ideologischem Tick in den Theorien des
»Sp ektakels« wie in denen der »Kommunikation« geworden ist,
ist ja gerade nur der mythische und mystifizierende Effekt des
heftigen Wunsches nach »reiner« Symb oli sierung (und sympto
matisch für die Schwäche der »Kritik« im allgemeinen) . Krite-
46. Wie man weiß, war das griechische symbolon das Stück eines Gefäßes aus
Ton, das in zwei Stücke zerbrochen wurde, wenn Freunde oder Gast und Gast
geber auseinandergingen; deren Aneinan derfügung sollte später das Zeichen
des Wiedererkennens sein.
95
rium für Symbolisierung ist nicht, daß sie das Bild ausschließt
oder herabsetzt, sondern daß es ihr gelingt, im Bild-Symbol und
durch es und gleichzeitig mit der Aneinanderfügung den Ab
stand, den o ffenen Zwischenraum spielen zu lassen, den das
Sym-bol als s olches zum Ausdruck bringt: Das Wort will nichts
anderes sagen als »mit-gesetzt« [mis-avec] (griechisch syn =
lateinisch cum) , und hier sind genau die Dimension, der Raum
und die N atur des »Mit« i m Spiel . D as »Symbolische« ist also kein
Aspekt des Gesellschaftlich-seins : Auf der einen Seite ist es die
ses Sein s elbst, auf der anderen gibt es dieses Symbolische nicht
ohne (Re-) Präsentation. Es ist die (Re-) Präsentation der einen
gegenüber den anderen, derzufolge sie mit-ein-ander sind.
Wenn ich also von der auf ihre Symbolik reduzierten »gesell
schaftlichen« Wirklichkeit spreche, spreche ich von der »Gesell
schaft«, die sich als etwas erweist, das gerade von nichts ande
rem mehr die Erscheinung ist als von sich selbst, die auf keinerlei
Rückhalt verweist, die (im üblichen Sinn) nichts »symbolisiert«
(keine Gemeinschaft, keinen mystischen Körper) , sondern mit
sich selbst ein Symbol bildet, sich selbst gegenüber erscheint, u m
so dann a l l das , was s i e ist und zu sein hat, z u sein. Das gesell
schaftliche Sein verweist j etzt auf keinerlei innere oder höhere
Einheit mehr, die sich seiner annimmt. S eine Einheit ist schiere
Symbolik: Sie ist gänzlich Mit. Das gesellschaftliche Sein ist das
Sein, das ist, indem es sich selbst gegenüber, mit sich selbst
erscheint: Es ist Mit-Erscheinung [com-parution] .
Miterscheinung [comparution} bedeutet nicht nur, daß Subj ekte
gemeinsam erscheinen . D enn in diesem Fall (exemplarisch ist
der des »Gesellschaftsvertrags«) muß man sich noch fragen, von
woher sie »erscheinen« , aus welcher zurückgezogenen Tiefe des
Gesellschaftlich-seins als solchem, aus welchem Ursprung, u n d
m a n m u ß sich auch fragen , warum· s i e »zusammen« erscheinen
und für welche andere Tiefe sie »alle zusammen« o der sogar
»über das Zusammen hinaus« bestimmt sind . Entweder ist das
·Prädikat »zusammen« tatsächlich nichts anderes als eine den
Subj ekten äußerlich bleibende Qualifizierung, es gehört nicht zu
96
�
jedem Erscheinen als solchem, und es b ezeichnet eine rein indif
ferente Entgegen-Setzung, oder es fügt ganz im Gegenteil eine
besondere Qualität hinzu, die über einen besonderen Sinn ver
fügt und sich auf alle Subj ekte »zusammen« und als »Zu sammen«
auswirken muß . Diese beiden Fragen führen geradewegs in die
Sackgassen einer Metaphysik - und ihrer P olitik -, die gesell
schaftliche Mit-Erscheinung nie anders denkt denn als Epiphäno
men des Übergangs , und die Gesellschaft selbst als eine Etappe
in einem Prozeß, der stets dazu führt, daß mal das Zusammen
[ensemble] oder das Gemeinschaftliche (Gemeinschaft, Verbin
dung [communion}) , mal das Individuum hypostasiert wird.
Im einen wie im anderen Fall findet man sich in einer Sackgasse
wieder, denn das gesellschaftliche Sein als solches - oder auch
das, was man die Vergesellschaftung des Seins nennen könnte -
wird instrumentalisiert und auf etwas zurückgeführt, das es
nicht ist. In dieser Rechnung ist das Wesen des »Gesellschaft
lichen« nicht selbst »gesellschaftlich« . Folglich ist es niemals als
eine der Arten des »Gesellschaftlichen« darstellbar, sondern nur
in den Arten sei es einer einfachen, äußerlichen und vorüber
gehenden »Assoziation«, sei es einer transsozialen Übernahme ,
einer einheitlichen Entelechie des gemeinsamen Seins [etre com
mun] : zwei Weisen, das Problem der »Soziation« zu verdrängen
und auszuschließen.
Der eigentliche Sinn des Worts »zusammen« ebenso wie der
j enige des Worts »mit« scheint unendlich und ohne Ruhepunkt
zwischen zwei Bedeutungen hin- und herzuschwanken: entwe
der das »Zusammen« des Nebeneinanders von partes extra par
tes, von isolierten Teilen ohne Beziehungen, oder das »Zusam
men« der Versammlung totum intra totum, als Alleinheit, wo die
B eziehung sich im reinen Sein aufhebt. Hier sieht man aber gut,
daß das, woraus der Terminus sich speist, genau im Ruhepunkt
zwischen den b eiden Bedeutungen liegt . »Zusammen« ist weder
extra noch intra . Tatsächlich würde sowohl reines Außen wie
reines Innen jede Art des Zusammen unmöglich machen : Das
eine wie das andere unterstellt eine reine einzige isolierte Sub-
97
stanz derart, daß man sie nicht einmal »isoliert« nennen könnte,
da man dann j a bar j eder Beziehung zu ihr wäre. Ebenso ist Gott
mit nichts und niemandem zusammen, umgekehrt ist er aber -
zumindest auf unterschiedliche, j edoch exemplarische Weise bei
Spinoza und Leibniz - das Zusammen oder das Zusammen-sein
von allem, was ist : Genau auf diese Weise ist er nicht »Gott«. 4 7
Aber Zusammen [ensemble] und Zusammen-sein sind nicht
gleichwertig (vielmehr macht das Zweideutige zwischen den bei
den den Status von j enen Göttern der Onto-Theologie, Pantheis
mus, Panentheismus, Polytheismus, Monotheimus, Atheismus ,
Deismus, usw . ungewiß: repräsentabel oder nicht repräsentab el,
die Repräsentation begründend oder entziehend, oder auch die
Repräsentation selbst darstellend) . Das Zusammen im substanti
vischen Sinn ist eine Sammlung (so etwa in der Mengenlehre) .
Die Sammlung unterstellt eine äußerliche oder indifferente Zu
sammenstellung zu einem Zusammen- (»Gemeinsam«) -sein der
Obj ekte der Sammlung. In dieser Tonlage bewegen sich im allge
meinen durchaus die Thematiken und Praktiken des »Kollektivs«
oder des »Kollektivismus«. Das heißt also, daß das ontologische
»Zus ammen«, das wir zu denken haben, nie Substantiv ist, son
dern immer das Adverb eines Zusammen-seins. Aber dieses Ad
verb ist kein Prädikat des »Seins«: Es beschafft ihm keine beson
dere und zusätzliche Qualifikation. Wie alle Adverbien modi
fiziert oder modalisiert es das Verb : Aber die Modalisierung ist
hier wesenhaft oder ursprünglich. Das Sein ist zusammen , und
es ist nicht ein Zusammen .
»Zusammen« bedeutet Simultaneität (in, simul) : das »zur sel
ben Zeit« . Zusammen sein ist gleichzeitig sein (und a m selben
98
Ort, der selbst die Bestimmung der »Zeit« als »gleiche Zeit« ist) .
Das »gleiche Zeit/gleicher Ort« s etzt voraus, daß die »Subj ekte«,
um sie so zu nennen, diese Raum-Zeit teilen - aber nicht i m äu
ßerlichen Sinn des »Teilens«: Sie müssen sie sich teilen, sie müs
sen sie als die »selbe Raum-Zeit« »symbolisieren«, ohne dies gäbe
es weder Zeit noch Raum . Die Raum-Zeit selbst ist vor allem die
Möglichkeit des »Mit« . Sehr u mfangreiche Analysen wären hier
nötig. Abkürzenderweise will ich mich auf das Folgende be
schränken: Zeit kann ·weder reiner Augenblick noch die reine
Sukzession sein, ohne zugleich S imultaneität zu sein. Zeit impli
ziert sich selbst als »gleichzeitig«. Die Simultaneität eröffnet un
mittelbar den Raum als Verräumlichung der Zeit selb st. Zeit ist
möglich, aber vor allem ist sie notwendig ausgehend von der Si
multaneität der »Subj ekte«: denn um zusammen zu sein und zu
kommunizieren bedarf es einer Korrelation der Orte und einer
Transition der Übergänge . Teilung und Übergang bedürfen ein
ander wechselseitig . Husserl schreibt: »Das Zusammensein von
Monaden, ihr bloßes Zugleichsein bedeutet wesensnotwendig
Zeitlich-Zugleich-Sein. «4 8 In der Tat ist das Simultane nicht Un-
99
unterschiedenheit : Vielmehr ist es Unterscheidung der zusam
men genommenen Orte . Von einem Ort zum anderen , dafür
b raucht es Zeit. Und auch ein Ort als solcher braucht Zeit: die Zeit
für den Ort, um sich als Ort zu öffnen , die Zeit, sich zu verräum
lichen. Umgekehrt braucht die »ursprüngliche« Zeit - das Auftau
chen als s olches - den Raum für ihre eigene Dis-tension, den
Raum des Übergangs , der also Teilung schafft . Nichts und nie
mand kann geboren werden ohne zu j emandem hin und mit an
deren geboren zu werden, die ihrerseits geboren werden und
sich begegnen. »Zusammen« ist also eine absolut ursprüngliche
Struktur. Was nicht zusammen ist, befindet sich in der Ort- und
Zeitl o sigkeit des Nicht-seins.
Miters cheinung muß also heißen - darum geht es von jetzt an
-, daß das »Erscheinen«, das heißt das Auf-die-Welt-kommen
und Auf-der-Welt-sein , die Existenz als solche, strikt untrennbar
und ununterscheidbar vom cum, vom mit ist, in dem es nicht nur
seine Stätte und sein Stattfinden hat , sondern auch - und dies ist
dasselbe - seine ontologische Grundstruktur.
Daß das Sein absolut Mit-sein ist, ist das, was wir denken müs
sen. 49 Mit ist der erste Zug [trait] des Seins, der Zug der singu
lären Pluralität des Ursprungs oder der Ursprünge in ihm.
Das Mit als solches ist wohl nicht darstellbar. Ich habe es schon
gesagt , aber ich muß noch einmal darauf insistieren . Aber das
Mit ist nicht »undarstellbar« wie eine entzogene Präsenz, noch
wie ein ANDERES . Wenn es Subj ekte nur mit anderen Subjekten
gibt, ist das »Mit« selbst kein Subjekt. Es ist oder bildet den
Binde- bzw. Trennungs strich, der s elbst weder Bindung noch
Trennung als durch den Strich [trait] gesetzte Substanzen sich
aneignet : Der Strich ist nicht das Zeichen für eine Realität und
nicht einmal für eine »intersubj ektive Dimension« .
49. Wie Francis Fischer, seit langem ein Weggefährte in der Anerkennung die
ser Forderung, es ausdrückt, ist »das >Mit< eine strenge Bestimmung des Un
wesens des Existierens. Das An-sein ist unmittelbar >Mit<, weil das Dasein kein
Wesen hat . « (Heidegger et la question de l 'homme, Diss . , S traßburg, Universite
des sciences humaines, 1 995) .
1 00
Es handelt sich wahrhaft - »in Wahrheit« - um einen auf dem
Leeren gezogenen Strich, der diese Leere zugleich überwindet
und unterstreicht, der die Spannung und den Antrieb , S pannung
und Antrieb - Anziehung/ Abstoßung - des »Zwischen« bzw.
»Unter«-uns ausmacht . Das »Mit« bleibt zwischen uns , und wir
bleiben unter uns: nichts als wir, aber nichts als Abstand zwi
schen uns .
Ebenso wenig darf man »das Mit« sagen, sondern man sollte
einfach »mit« sagen , die Präsposition j eder Position, die selbst
ohne Position ist. Wenn aber die Unpräsentierbarkeit von »mit«
nicht diejenige einer verborgenen Präsenz ist, dann deshalb , weil
sie die von j ener Prä-Position ist , oder anders gesagt , die der Prä
sentation selbst. »Mit« läßt sich nicht dem Sein hinzufügen, son
dern bildet die innere , immanente Bedingung der Präsentation
im allgemeinen.
Präsenz ist unmöglich, es sei denn als Ko-Präsenz . Wenn ich
sage, daß das Einzige präsent ist, so habe ich ihm bereits einen
Kompagnon der Präsenz gegeben (und wäre es nur sie selbst, die
ich zweigeteilt h abe) . Das Ko- der Ko-Präsenz ist das Unpräsen
tierbare par excellence : doch es ist nichts anderes als - und es
ist nicht das ANDERE der - Präsentation, die Existenz, die mit
erscheint .
Es ist durchaus wahrscheinlich , daß es erstlieh nichts anderes
zu vermitteln gibt, wie man sagt , das heißt nichts zu deuteln und
zu bewegen zwischen uns , wenn wir j etzt vom gesellschaftlichen
Sein etwas anderes denken sollen als dessen spektakuläre S elbst
entwertung als Ware oder seine kommunikative Selbst-Affirma
tion, beides auf dem Grund unwahrscheinlicher und nostal
gischer Authentizität. Das Eigentümliche der Gemeinschaft ist
weder - als grundlegende innere Ressource angelegte - Kreativi
tät, noch Rationalität , die verfügbar wäre, wenn sie durch Kritik
offengelegt wird. Was dies angeht, befinden wir uns ganz ent
schieden nicht mehr in der Epoche der Aufklärung, und auch
nicht in der der Romantik. Wir sind anderswo, was nicht heißen
soll, daß wir auf der entgegengesetzten Seite sind , noch daß wir
1 01
uns j enseits im Stadium dialektischer Aufhebung befinden. Wir
sind mitten in einer Art simultanen Spannung jener beiden Epo
chen , sind gleichzeitig mit der einen wie der anderen, aber auch
gleichzeitig mit deren Verbrauchtheit, bis zur extremsten Platt
heit, was die eine, und bis hin zur Nacht der Auslöschung, was
die a ndere angeht. Also in einem Innehalten der Geschichte,
worin sich von neuem ein Rätsel versammelt, das mit uns gleich
zeitig ist, das Rätsel der Bloßlegung des Gemeinsam-seins .
Das Eigentümliche der Gemeinschaft ist uns also derart ange
zeigt : Sie muß sich keine andere Ressource aneignen als das
bloße »Mit«, das sie konstituiert, das cum der »Gemeinschaft« ,
ihre Innerlichkeit ohne Inneres, und doch ist vielleicht auch sie
auf ihre Weise interior intimo suo. Folglich das cum einer Miter
scheinung, worin wir in der Tat l e diglich gemeinsam mit-ein
ander, die einen mit den anderen , und vor keiner anderen In
stanz als vor diesem »Mit« selbst erscheinen, dessen Sinn sich
uns augenblicklich in der B edeutungslosigkeit, Äußerlichkeit ,
unorganischen, empirischen und aleatorischen Inkonsistenz des
reinen, schlichten »Mit« aufzulösen scheint.
Wie es uns scheint, ist also das Eigentümliche der Gemeinschaft
nichts anderes mehr als die verallgemeinerte Unsauberkeit der
Banalität, der Anonymität, der einsamen Masse und der Verlo
renheit der Herde. Dabei scheinen die einfachsten Bekundungen
der Solidarität , die elementarste Nähe ortlos zu werden. »Kom
munikation« ist nichts als geschäftiger H andel mit dem vernünf
tigen, interesselosen Bild einer Gemeinschaft , die ihrem eigenen
Unterhalt dient , der sich erneut lediglich als der Unterhalt der
spektakulären Warenmaschine erweist.
Man muß es zugeben : Miterscheinung könnte nichts anderes
sein als ein Name für das Kapital . Und gleichzeitig ein Name, der
einmal mehr das zuzudecken droht, worum es geht, weil er ein
mal mehr ein tröstendes , insgeheim resigniertes D enken stiftet .
Doch diese Gefahr ist kein hinreichender Grund, sich mit einer
Kritik des Kapitals zu begnügen, die befangen bleibt in der Vor
aussetzung eines »anderen Subjekts« der Geschichte , der Ökono-
1 02
mie und der Aneignung des Eigenen im allgemeinen . Als Marx
auf das »Kapital« hinwies, hat er auf eine allgemeine Enteignung
hingewiesen, die ein anderes oder das ANDERE als Subj ekt einer
allgemeinen Wiederaneignung nicht gestattet.
Oder genauer, die Vorauss etzung darf nicht die Form eines
»Subjekts«, sondern muß die eines Mit-ein-ander-seins haben,
und dies in viel problematischerer, aber auch - wenn es gestattet
ist, dies so auszudrücken - radikalerer Weise als Marx es h atte
ahnen können. Man muß also durchaus sagen, daß die klassi
sche Kritik des Kapitals bis hinein in i hre letzten post-marxisti
schen Formen nicht genügen kann, um das, was das Kapital > dar
stellt«, faßbar zu machen . Zumindest diese Beunruhigung muß
das Denken der Miterscheinung wachrufen .
Sicher ist auch die tiefe Intuiti o n von Marx selbst durch diese
Ambivalenz charakterisiert: Das Kapital drückt gleichzeitig die
allgemeine Entfremdung des Eigenen aus - die verallgemeinerte
Ent-Aneignung [desappropriation] oder Aneignung des Elends in
j edem Sinn des Ausdrucks - , und die Freilegung des Mit als Zug
[trait] des Seins oder Zug des Sinns . Unser D enken ist noch nicht
auf der Höhe dieser Ambivalenz . Insbesondere deshalb stößt e s ,
u n d dies seit Marx und vermittelt durch Heidegger, b e i m Thema
»Technik« ständig auf große unbestimmte Vorbehalte, als dem
Grenz-Obj ekt - und vielleicht Bildschirm-Obj ekt - eines D en
kens , das in der Technik manchmal das Versprechen der Selbst
überwindung des Kapitals sieht, dann wieder den Beweis des
unerbittlichen Charakters seiner unkontrolliert entfesselten Ma
schinerie, die ob dieser Nichtkontrolliertheit alles kontrolliert .
Daran liegt es im übrigen auch, daß sich die Wahrheit unserer
Zeit nur in marxistischen oder post-marxistischen Termini zum
Ausdruck bringen läßt, ob es sich nun um den Markt, das Elend,
die sozialdemokratische Ideologie o der um substantielle Wiede
raneignungen handelt, die auf sie die Antwort sind (Nationa
lismen, Fundamentalismen , Faschismen) . Aber diese Wahrheit
selbst macht erforderlich, daß sie ausgehend vom Mit der Mit
erscheinung gedacht wird , denn daß sie mit Leben erfüllt und
1 03
freigelegt wurde, bedeutet zumindest dies - um es auf eine For
mel zu bringen : Worum es geht, ist nicht eine Wiederaneignung
des Mit (des Wesens eines gemeinsamen Seins) , sondern ein Mit
der Wiederaneignung (wobei das Eigene nicht wiederkehrt oder
nur mit kommt) .
(Deshalb sparen wir die Ontologie nicht aus , aber deshalb muß
diese Ontologie zugleich auch Ethos und Praxis sein . Das wird
später entwickelt werden. 50 Halten wir hier nur dies fest: Eine
Ontologie des Mit-seins kann sich nur im Diess eits der Unter
scheidung der folgenden Termini situieren: Sein , Handeln, Ereig
nis, Sinn, Zweck, Haltung, ebenso wie - und weil - diesseits der
Unterscheidung des »Singulären« und des »Pluralen« , des »bei
sich« [a soi] und des »zu mehreren« .)
1 04
10. Spektakel der Gesellschaft
1 05
mini ausgedrückt w erden : niemals Identität, immer Identifizie
rungen.)
Insofern kann , w o rauf ich schon hinzuweisen hatte, Descartes
nur deshalb so tun, als ob er allein und ohne irgend jemand an
ders auf der Welt wäre, weil er weder allein noch ohne andere
ist. Durch seine Verstellung macht er vielmehr deutlich, daß
wer immer auch Einsamkeit vortäuscht, gerade dadurch seine
»Selbst-Referentialität« als irgend jemand beweist. Und daß der
Charakter einer Evidenz dieser ersten Wahrheit aufrechtzuerhal
ten ist, liegt in der Tat gerade in der Anerkennung der Gewißheit
des ego sum durch irgend jemanden. Vollständig muß der Satz
deshalb heißen: Ich sage, daß wir alle und jeder »ich bin«, »ego
existo« sagen. Man darf Descartes also nicht lesen, wie Heidegger
es tut, der nicht bis zu dieser absolut ersten Bedingung zurück
geht, sondern b ei der Position der Substanz res cogitans - ste
-
1 06
es ein reines und schlichtes Sein, das heißt alles und nichts, alles
wie nichts nicht gäbe.
Das Sein gibt sich singulär plural, und verpflichtet sich so selbst
als zu seiner eigenen Bühne . Wir präsentieren uns ein-ander als
»ich«, ebenso wie »ich« sich uns j edes Mal ein-ander als »uns«
präsentiert. In diesem Sinn gibt es keine Gesellschaft ohne Spek
takel, 5 1 oder genauer: Es gibt keine Gesellschaft ohne Spektakel
der Gesellschaft . Diese aus der Ethnologie oder insbesondere in
der westlichen Tradition als Position zum Theater wohlbekannte
These muß in ihrer ontologischen Radikalität begriffen werden.
Es gibt keine Gesellschaft ohne Spektakel, weil die Gesellschaft
aus sich selbst heraus Spektakel ist.
Aber dies darf selbst nicht verstanden werden im Sinne eines
Spiegelspiels (solange jedenfalls, wie »Spiel« und »Spiegel« ein
fach Künstlichkeit und Irrealität b edeuten) . Mit-Erscheinung, als
Begriff des Zus ammen- seins , besteht darin, sich zu erscheinen :
das heißt genau gleichzeitig sich und ein-ander zu erscheinen.
Man erscheint sich nur, indem man ein-ander erscheint. Will
man dies auf klassische Weise ausdrücken und mit der unter
stellten Sphäre einer eigenen isolierten Individualität beginnen,
müßte man sagen, daß man sich erscheint, während man schon
für sich selbst ein anderer ist . 52 Aber sofort wird sichtbar [mani
feste] , daß man für sich selbst ein anderer zu sein nicht einmal
beginnen könnte, wenn man nicht schon in der Alterität mit -
oder von - anderen im allgemeinen begonnen hätte . Die anderen
»im allgemeinen« sind weder die anderen »Ich« [moi] , (da es
»Ich« und »Du« nur ausgehend von Alterität im allgemeinen
gibt) , noch das Nicht-Ich (aus demselben Grund) . Die anderen
5 1 . Guy Debords »La societe de spectacle« wurde - sicher zurecht - mit »Die
G esellschaft des Spektakels« übersetzt. Das vielschichtige Wort »spectacle«, das
im Französischen Oberbegriff für Schauspiel, Theaterstück und Film und auch
»Spektakel« im üblichen deutschen Sinn bedeutet, verschiebt sich in diesem
Kontext in Richtung der ersteren Bedeutung; wir bleiben um der kategorialen
Eindeut igkeit willen bei »Spektakel« (A. d.Ü. ) .
5 2 . Vgl. den Titel d e s Buchs v o n Paul Ricceur, Das Selbst als ein A nderer, Mün
chen 1 9 96.
1 07
»im allgemeinen« sind weder die SELBEN , noch der ANDERE. Sie
sind Die-einen-wie-die-anderen , oder Die-einen-der-anderen, ei
ne erstliehe Pluralität , die mit-erscheint. »Sich erscheinen« - und
sich ganz genauso wie ein-ander - gehört also nicht zur Ordnung
der Erscheinung, des Hervortretens, des Phänomens , der Enthül
lung oder irgend eines anderen Begriffs des Sichtbar-werdens mit
all dem, was es unvermeidlicherweise an Ursprung im Unsicht
baren und der Beziehung zu diesem Ursprung als Ausdruck oder
als Illusion, als Ähnlichkeit oder als Scheinen nach sich zieht. 53
Kurz : Mit-erscheinen ist nicht »sich erscheinen« : ist nicht heraus
treten aus einem An-sich-sein, um sich den anderen zu nähern,
noch um auf die Welt zu kommen . Es ist Sein in der Simultanei
tät des Mit-seins , worin es kein »an sich« gibt, das nicht unmit
telbar »mit« wäre .
Aber »unmittelbar mit« verweist nicht auf eine Unmittelbarkeit
im Sinne einer Abwesenheit der Äußerlichkeit. I m Gegenteil , dies
ist die augenblickliche Äußerlichkeit der Raum-Zeit (der Augen
blick selbst als Äußerlichkeit: das Simultane) . So bildet die Mit
Erscheinung eine Bühne, die nicht ein Spiegelspiel ist - oder viel
mehr, die Wahrheit des Spiegelspiels muß als die Wahrheit des
»mit« b egriffen werden . In diesem Sinne ist die »Gesellschaft«
»spektakulär« .
53. Ein Großteil der Arbeit von Philippe Lacoue-Labarthe ist der dekonstruie
ren den Analyse dieser ursprüngli chen mimesis gewidmet .
1 08
Spektakels gespielt , und es ist kein Zufall, wenn das »Spektakel«
für sie in erster Linie Verfälschung der Kunst war. ) Im schlechten
Spektakel vergegenwärtigt sich das soziale Sein die Äußerlichkeit
der Interessen und Begehrlichkeiten , die egoistischen Leiden
schaften und den falschen Ruhm des O stentativen. Letztlich un
terstellt diese manichäische Teilung nicht nur eine Unterschei
dung der repräsentierten Obj ekte , sondern einen Gegensatz im
Status der Repräsentation: Es ist sie selbst, mal als Innerlichkeit
(Hervortreten, Ausdruck des Eigentlichen) , mal als Äußerlichkeit
(Bild, Reproduktion) . Man übersieht so ihre gegenseitige Ver
strickung: Kein »Ausdruck«, der sich nicht als »Bild« gibt, keine
»Präsentation« , die nicht schon in der »Repräs entation« ist, das
heißt keine »Präsenz«, die nicht Präsenz der einen den anderen
gegenüber ist.
Wie man weiß, findet man eine H erabsetzung des Spektakels
sehr explizit bei Rousseau , der ausdrücklich betont , daß das be
ste Spektakel und das einzig notwendige das des Volks selbst sei ,
das versammelt ist und um den Baum herum tanzt, den es als
sein eigenes Symbol gepflanzt hat . Was Rousseau unwillkürlich
damit sinnlich greifbar macht , 54 ist ja gerade nichts anderes als
die Notwendigkeit des Spektakels . Mit der Modernität weiß sich
die Gesellschaft als das , was sich in der ihr immanenten Nicht
Präsenz abspielt, das heißt als ein Subjekt, das weniger das »Sub
jekt der Repräsentation« ist als die Repräsentation als Subjekt:
54. Nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn Rousseau hat die Notwendigkeit
des Spektakels, das er verurteilte, sehr gut erfaßt, und was er denken wollte,
war eine Art Selbstüberwindung der spektakulär-repräsentativen Äußerlichkeit ,
von der Seite der »bürgerlichen Religion« her wie von der Literatur aus . Von
daher gesehen sind Literatur (mit der »Musik« oder »Kunst« im allgemeinen) ei
nerseits und »bürgerliche Religion« andererseits (das heißt die darstellbare
Gestalt einer laizistischen Gemeinschaftlichkeit) die Vorläufer unseres Pro
blems als Problem des Mit-Si nns. Einerseits »einen Menschen seinesgleichen zu
zeigen . . . «, andererseits - weil man das Ereignis nicht leben kann - den institu
ti onalisierenden Pakt der Menschheit selbst zu feiern. Das Modell gibt es überall
und nirgend s , es ist singulär p lural. Deshalb muß das Problem entsprechend ei
nes Zusammenschlusses und einer Spaltung zwischen »Kunst« und »bürger
licher Religion« konstruiert werden . . .
1 09
eine Präsentation-auf-etwas-hin [presentation-0.}, die man auch
Apräsentation nennen könnte, die Ordnung eines Kommens
zur Präsenz als zusammengefügtes, ko-inzidentes und kon-kur
rierendes , simultanes und gegenseitiges Kommen. Eine solche
Apräsentation ist die eines »Wir« , das weder die Natur eines ge
meinsamen »Ichs« besitzt, noch die eines geometrischen Orts
oder eines Zusammen aller voneinander gleichentfernten »Ich« ,
sondern sie eröffnet - diesseits von j edem Ich-Subj ekt - die Ver
räumlichung der Mit-Erscheinung. »Soziation« erweist sich nicht
als Sein, s ondern als Akt, und definitionsgemäß exponiert sich
dieser Akt : Indem er sich exponiert, ist er das , was er ist, oder
macht, was er macht. D as G esellschaftlich-sein muß vor sich
selbst den Akt der Soziation bezeugen, j enen Akt, der es zu dem
macht, was es ist - nicht in dem Sinne, daß er es hervorbrächte
(wie ein Resultat) , sondern eher in dem Sinn, daß sich das »Sein«
- hier - gänzlich im Akt und in der Exposition des Aktes hält. I n
diesem Sinne könnte m a n sagen , d a ß das Wesen des Rousseau
schen »Vertrags« nicht der Abschluß einer Konvention ist, son
dern die Bühne, das Theater der Konvention .
1 10
In dieser Hinsicht weiß sich j ede Gesellschaft konstituiert in der
Nicht-Immanenz der Miterscheinung. Sie weiß dadurch - nicht
als ein »Wissen«, sondern exponiert als und durch ihre eigene
Bühne, als ihre szenographische Praxis -, daß es ein Sein hinter
dem Zusammen-sein, das nicht mehr oder noch nicht Zusam
men-sein ist, das aber das Zusammen selbst wäre, als Präsenz ,
als Person, als Körper oder als Wesen, nicht gibt. Sie weiß als o ,
daß das »Zusammen« kein Prädikat des Seins i s t u n d d a ß »zu
sammen« vielmehr ein Zug des Seins selbst ist. Oder auch: das
Zusammen des Seins ist kein Sein, es teilt das Sein.
Insofern ist das spontane Wissen der Gesellschaft - ihr »präon
tologisches Verständnis« von sich selbst - ein Wissen vom Sein
selbst, absolut, und nicht über eine b esondere untergeordnete
Region des Seienden, das seine »gesellschaftliche« Regio n ist
Das Mit-sein ist für das Sein konstitutiv , und es ist (darauf werde
ich später noch zurückkommen) für die Totalität des Seienden:
Die »gesellschaftliche« Miterscheinung ist selbst das Exponie
rende der allgemeinen Miterscheinung der Seienden. Das ist das
Wissen, das von Rousseau zu B ataille oder von Marx zu Heideg
ger führt und das nach einer Sprache verlangt, die die unsere ist.
Wahrscheinlich stammeln wir j etzt wieder: Die Philosophie
kommt immer zu spät, und folglich auch zu früh . Aber das Stam
meln selbst gibt die Form des Problems vor: Wir, »Wir« , wie s ol
len wir zu uns wir sagen? O der was spricht zu »uns«, und was
111
sagt man uns über uns, in diesem technischen Wuchern des ge
sellschaftlichen Spektakels, des spektakulären Gesellschaftli
chen, der auto-mediatisierten Globalität und der globalisierten
Mediatisierung? Wir sind nicht in der Lage, uns dieses Wu
chernde anzueignen , denn wir · vermögen es nicht zu denken,
weder die »spektakuläre« Natur (die wir bestenfalls auf die in
konsistenten Insignien des »Bildschirms« oder der »Kultur« zu
rückverweisen) noch die »technische« Natur (die wir als eine
autonome Instrumentierung betrachten, ohne uns zu fragen, ob
nicht vielmehr »unser« Verständnis von »uns-selbst« diese Tech
niken findet und sich darin erfindet, und ob die Technik nicht
wesentlich verbunden mit dem »Mit« angefangen hat . . . ) . 5 6 Wir
sind nicht auf »unserer« Höhe: Wir wenden uns ständig an eine
»Soziologie« , die selbst nur die gelehrte Form des »Spektakulär
Warenhaften« ist, aber »uns« als »uns«, als »Wir« zu denken
haben wir nicht einmal begonnen.
Das soll nicht heißen, daß uns dieses Denken morgen oder spä
ter ereilen müßte wie durch die Wirkung eines Fortschritts oder
einer Eröffnung . Denn es handelt sich dabei vielleicht nicht um
ein neues Obj ekt des Denkens, das man als solches identifizieren ,
definieren und ausstellen könnte . Wir müssen uns nicht als uns ,
als ein »Wir« identifizieren . Vielmehr müssen wir uns als Uns
des-identifizieren von aller Art des »Wir«, das Gegenstand seiner
eigenen Repräsentation ist, und wir müssen dies tun, insofern
»wir« mit-ers cheinen : D as »Denken« von »uns«, das j edem Den
ken vorausgeht - und in Wahrheit nichts anderes als seine Be
dingung ist -, ist kein repräsentatives Denken (keine Idee, keine
Vorstellung, kein Begriff) , sondern Praxis und Ethos: die Insze
nierung der Miterscheinung, j ene Inszenierung, die Miterschei-
56. Wenn physis das ist, was sich von selbst präsentiert und vollendet, dann ist
»mit« von einer anderen O rdnung. S o gesehen gibt es dann Wuchern und Zu
sammenvorkommen selbst (und schon) »in der Natur« . Techne hätte dann zu
tun mit dem, was nicht von selbst geht, noch auf sich zuläuft - mit Disparathei t ,
Kontiguität, u n d insofern m i t einem unvollendeten u n d unvollen dbaren Wesen
des »Mit«.
1 12
nung ist . Wir sind schon dabei , schon immer, in j edem Augen
blick. Das ist keine Neuigkeit - aber man muß, wir müssen sie
jedes Mal neu erfinden, j edes Mal von neuem auf die Bühne tre
ten.
113
sich vielleicht üb erhaupt nicht präsentiert, seine Logik keine der
Präsenz ist . 5 7
Dies anzuerkennen dürfte darauf hinauslaufen, anzuerkennen ,
daß der »gesellschaftliche logos«, die Logik der »Soziation« und
die »Soziation« selbst als logos mimesis erfordert. Gab es aber je
einen logos , der nicht »gesellschaftlich« war? Was immer logos
heißt - Wort oder Rechnung, manifeste Sammlung oder Entge
gennahme des Seins, gegebene oder konstruierte Vernunft -, lo
gos impliziert immer Teilung [partage] , und ist immer als Teilung
impliziert . Wenn wir das innere Moment oder die innere Dimen
sion der mimesis auslöschen, löschen wir diese Teilung aus . Wir
geben uns die Repräsentation einer immanenten , geschlos senen,
selbst-konstituierten und selbstgenügsamen Präsenz, die Reprä
sentation einer völlig selbstreferentiellen Ordnung dessen, was
wir i m allgemeinsten und summarischstell Sinne eine »Logik«
nennen. Das in diesem Sinne »Logische« repräsentiert die seiner
ontologischen Bedingung entzogene Selbstreferentialität, die die
ursprüngliche - und als solche existentielle � Pluralität oder Tei
lung des logos selbst ist .
Stellen wir nun der guten Verbindung des Logischen und des
Mimetischen die schlechte gegenüber: In ihr zieht sich das Logi
sche zurück in seine immanente, kalte und gesichtslose Ordnung
(heute ist das für uns die »Logik des Kapitals«) , und produziert
dabei äußerlich eine mimesis, die in ihrem verkehrten Simula
krum, dem sich selbst konsumierenden Spektakel, ihre Verstel
lung betreibt. Die Selbstreferentialität des »Bildes« errichtet sich
gegenüber der Selbstreferentialität des Prozesses o der der Macht
[force] als sein Produkt und seine Wahrheit . Unsere Tradition hat
so seit langem dem »griechischen Paradigma« gegenüber das »rö-
57. All dies setzt selbstredend voraus, daß man allgemein auf die Arbeiten zur
mimesis von Derrida und Lacoue-Labarthe ebenso wie auf die Arbeit von Bali
bar in La philosophie de Marx ( Pari s , 1 99 3 ) bezugnimmt , die die Betonung auf
die innere Verbindung von »Notwendigkeit der Erscheinung« und »gesellschaft
liches Verhältnis« legt , und daß - von diesen Bedingungen ausgehend - eine
»Ontologie des Verhältnisses« ausgearbeitet wird .
1 14
mische« Paradigma errichtet: die Spiele des Zirkus, das burleske
Theater oder das des Schreckens, ohne Rückhalt in der staatsbür
gerlichen Gesellschaft, das Reich und die Reichsraison, das leere
Forum und seine Bedeutung . . 58 .
5 8 . Außer man stellt sich, wie man es während der französischen Revolution
und bei den deutschen Romantikern tat, ein anderes Rom vor, das republikani
sche, als ein unmittelbares politisches Theater, das nichts vorgaukelt: das der
Toga und des Senats.
1 15
11. Maß des »Mit«
1 17
valeur] oder »absoluten Wert« - also einem inkommensurablen
Wert ohne Preis (das , was Kant »Würde« nannte) . Auf diese Wei
se kommt es zur Gleichzeitigkeit der Globalisierung des Marktes
und der »Menschenrechte«: Diese repräsentieren den angeblich
absoluten Wert, den das Kapital gegen . . . sich selbst einzutau
schen vorgibt .
Doch d a s Gesellschaftlich-sein wird dadurch sowohl bloß
gestellt als auch lebendig: Denn der »Mensch« der »Rechte« ist
aus sich selbst heraus nichts »wert« . Er ist nur die Idee des
»Werts an sich« oder der »Würde«. Wenn der »Mensch« etwas
wert sein soll, oder wenn das Sein im allgemeinen »etwas wert«
sein soll mit Berufung auf ehendieses Wort »Mensch«, dann geht
dies strenggenommen nur, wenn er singulär etwas wert ist , aber
zugleich und simultan auch durch und für und mit dem Pluralen,
das die Singularität ebenso impliziert wie der »Wert« selbst : In
der Tat, was könnte für sich allein, ab-seits von sich gelten? »Gel
ten« kann nur in der Ordnung eines »Mit-seins« gelten, das heißt
in der Ordnung eines Kommerzes in j edem Sinn des Worts. 60 Ge
rade aber die Teilung dieser Bedeutungen - Handel mit der W are
I Sich- Verhalten im Gesellschaftlich-sein - wird vom Kapital ex
poniert : die Teilung des Sinns des A ustauschs, die Teilung der
Teilung selbst. Das Kapital exponiert sie wie eine Gewalt, worin
das Zusammen-sein zum Ware-sein und vermarktet wird . Das
Mit-sein wird hier zum Verschwinden gebracht, während es
gleichzeitig in seiner Blöße ausgestellt wird.
Wenn man sagt, daß diese Gewalt ein Absolutes der Exi stenz
als singulär plurales Sein bloßstellt , dann wird sie dadurch nicht
gerechtfertigt . Denn dem, was sie bloßstellt, tut sie Gewalt an .
Das heißt umgekehrt auch nicht, daß man das »Geheimnis« des
Kapitals und die Mittel, es in sein Gegenteil zu verkehren, ent
deckt hat. Sondern die Gewalt des Kapitals gibt den Maßstab ab
für das , was exponiert wird , dem sich »wir« exponiert hat : D as
1 18
singulär plurale Mit-sein ist das einzige, absolute Maß des Seins
oder der Existenz. Inkommensurables Maß, wenn es dem »j edes
Mal« von j edem »Einzelnen« gleichzeitig mit der unbestimmten
Pluralität der Ko-Existenzen gleichzusetzen ist, mit denen jeder
Einzelne sich seinerseits mißt, und zwar entsprechend einer
unbestimmten Kommensuration der Ko-inzidenzen , des Kom
merzes , des Kampfs, des Wettbewerb s , des Vergleichs, der Kom
munikation, der Konkurrenz, der Wollust, des Mitleids, der Mit
61
freude . . .
Es gibt ein gemeinsames Maß, das nicht ein einheitliches Richt
maß angewandt auf alle und alles , sondern die Kommensurabili
tät der inkommensurablen S ingularitäten ist: die Gleichheit aller
Ursprünge-der-Welt, die als die Ursprünge, die sie sind, j edes
Mal strikt unsubstantiell und in diesem Sinne schlechthin un
gleich sind, die aber als solche nur insofern sind, als sie alle glei
chermaßen mit-ein-ander sind. Ein s olches Maß ist es, das wir
j etzt nehmen müssen.
6 1 . Im Französischen handelt es sich hier um Worte mit einem aus »cum« ab
geleiteten Präfix: combat, concours, comparaison, communication, concurrence,
concupiscence, usw . , A.d.Ü.
1 19
»uns« stattfindet) -, und »wir« ist auch nicht aus Subj ekten »zu
sammengesetzt« (das Gesetz einer solchen Zusammensetzung ist
die Ap orie j eder »Intersubj ektivität«) . »Wir« ist j edoch nicht
nichts, es ist sogar j edes Mal »irgend eines« [quelque un}, ebenso
wie »jeder« »irgend eines« ist. Deshalb gibt es im übrigen kein
universelles »Wir« : Aber einerseits sagt man »wir« jedes Mal von
irgendeiner Konfiguration, einer Gruppe oder von einem Netz,
sei es groß oder klein, und andererseits sagen »wir« »wir« für alle,
das heißt in Wahrheit auch für die Ko-Existenz , die stumm und
ohne »Wir« des ganzen Universums ist, Dinge, Tiere und Leute .
»Wir« heißt weder das »Eine«, noch die Addition der »Einen« und
der »Anderen«, sondern »wir« heißt »eines« auf eine s ingulär plu
rale Art, einer nach dem anderen und einer mit dem anderen.
Nichts von dieser Situation kann gedacht werden , wenn das
Eine im allgemeinen nicht zuerst entsprechend dem Mit-ein
ander gedacht wird . Nun scheitert unsere Ontologie aber gerade
hier, seit wir »unter uns« sind und sich das Sein - wenn man so
will - genau darauf beläuft.
(Als hätte das Sein dieses »inter« , das sein wahrer Ort ist, zuge
deckt, als handelte es sich also vielmehr um »Inter-Vergessen
heit« denn um »Seins vergessenheit« - oder wohl vielmehr, als
wäre die Erfindung des Seins - also unsere gesamte Tradition -
nichts anderes gewesen als die Erfindung unserer Existenz als
solcher, das heißt zwar als Existenz , gewiß, aber als Existenz von
uns und als wir, wir auf der Welt , wir-alle: »wir« wäre somit das
absolut Vorgängige, das Zurückgezogenste aller Ontologie, und
»Wir« wären somit auch die späteste Wirkung, das Schwierigste ,
das am wenigsten Aneigenbare des ontologischen Anspruchs . )
Das Mit konstituiert eine Art permanenten Stein d e s Ansto ßes
der Tradition: eine mindere Kategorie, kaum eine K ategorie in
dem Maß, wie das »Sein« bis zu uns, bis zu Heidegger selbst in
gewi sser Hinsicht als allein , als abgeschieden und ohne j ede Ko
Exist enz oder Ko-Inzidenz repräsenti ert wurde. Husserl mag also
zwar erklären : »Das an sich erste Sein, das j eder weltlichen Ob
jektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale
1 20
Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemein
schaftende All der Monaden« 62 - trotzdem konstituiert dieses
Sein für sich genommen einen von der Kontingenz der Ko-Exi
stierenden und ihrer Äußerlichkeit i nsgesamt abgelösten letzten
Horizont, der mehr einer transzendentalen Solidarität als empi
risch-transzendentaler Simultaneität gehorcht und somit wieder
zu einer Art Substrat wird, das seiner Ko-Konstitution nach eben
nicht offen, nicht dis-p oniert ist. Das Sein der philosophischen
Ontologie kann, allgemein ausgedrückt, kein Mit-Wesen [co
essence] haben, es gibt nur das Korrelat des Nicht-seins . Was
aber, wenn das Mit-Wesen der Existenz selbst das Sein ist ?
Da das Gesellschaftlich-sein uns in symmetrischer Weise so
wohl als Gemeinschaft (Übernahme der Subj ekt [funktion] , rei
nes Sein ohne Bezüge) als auch als Assoziation (Anpassung von
Subj ekten, Beziehungen ohne Wesentlichkeit) außer Reichweite
zu sein scheint, wird das gegenwärtige Denken vom »ANDEREN«
durchquert. Man müßte zeigen , wie diese Kategorie und die
Heimsuchung, die sie inzwischen für weite Teile unseres Den
kens darstellt, die Inkommensurabilität des Seins als Mit-ein-an
der-sein repräsentiert und zugleich das Regime dieses Seins als
Regime des Mit, das heißt als der Maßstab für diese I nkommen
surabilität, wieder zu entstellen oder zu verändern droht.
Der Andere kann eher als alter ego oder eher als das Andere des
ego dargestellt werden, eher als das Andere außer seiner selbst
oder eher als das Andere im Selb st , eher als »der Andere«
[»autrui«] oder eher als »der Andere« , alle diese Wege und alle
diese Aspekte, alle diese Fixpunkte und all dieses »Unfixierbare«
- deren Notwendigkeit in allen Fällen unbestreitbar ist - führen
immer wieder im Kern des Begriffs zu einer Alterität oder einer
Alteration, worin das »Sich« auf dem Spiel steht . Das Andere ist
nur denkbar und denknotwendig von dem Moment an, wo das
Sich (und sich) als »Selbst« erscheint.
121
Nun findet diese I dentifizierung des Sich als solches - seine
Subj ektivierung zugleich im reichsten und im ärmsten philoso
phischen Sinne des Wortes, die mit Hegel ihr Extrem erreicht -
von dem Moment an statt , in dem das Subj ekt in der unendlichen
Unterstellung des Sich , das es konstituiert, und gemäß dem not
wendigen Ges etz einer solchen Unterstellung sich als anders-als
sich findet oder ursprünglich setzt : als Selbst, das älter und ur
sprünglicher ist als es, als Selbst, das an sich anders ist als es für
sich selbst ist, müßte man sagen - und Hegel dabei kaum um
schreiben.
S o weiß sich das Selbst als prinzipiell anders als es : Das ist die
Konstitution des »Selbstbewußtseins«, und die Logik dieser Kon
stitution läuft simultan und paradoxerweise darauf hinaus, das
Selbst dem anderen zu öffnen und es ihm zu verschließen . Tat
sächlich konstituiert die Alterität des Anderen genau dasj enige ,
dessen Anerkennung den Zugang gerade verbietet, oder dasj e
nige , zu dem man Zugang nur unter der Bedingung einer radika
len Veränderung oder genauer : einer Entfremdung haben kann.
Eine Dialektik des Seiben und des Anderen, des Seiben im Ande
ren, des Seiben als Anderem löst die Aporie , aber um den Preis
- der der Preis der Dialektik im allgemeinen ist - offenzulegen,
daß die Kraft des Negativen, die das Sich im anderen bewahrt ,
die ent-entfremdende und wiederaneignende Kraft der Entfrem
dung (des) selbst, sich immer wieder voraussetzt als die Kraft
des Selbst, oder als das Selbst als diese Kraft selbst. Das S elbst
bleibt mit sich allein genau in dem Moment, wo es aus sich her
austritt . Eigentlich verfehlt oder übersprungen bei dieser fal
schen Lösung wird das Moment des Mit.
Als dem Anderen gegenüber o ffen und als Anderes ist das Sich
ursprünglich im Verlust des Sich . Geburt und Tod werden zu den
Kennzeichen einer Herkunft und einer Bestimmung i m Anderen:
zu einer Herkunfts- Bestimmung als Verlust, als trauerndes An
denken des Unvordenklichen, und zur Wiedererob erung, Wiede
raneignung einer unaneigenbaren Selbstheit [aseite] i n ihrer irre
duziblen Alterität . Dieses Andere ist nicht »mit« , es ist nicht mehr
1 22
oder noch nicht »mit«, es ist näher oder weiter weg als j edes Zu
sammen-sein. Es begleitet nicht, es durchquert und überschreitet
die Identität, es übergeht sie. I n gewisser Weise begleitet eine
allgemeine Modalität des trans- (Transport, Transaktion, Trans
parenz, Transsubstantialität, Transzendenz) im Namen der Alte
rität ständig die Modalität des cum-, die sie j edoch weder über
decken noch ersetzen kann.
An sich und von sich aufsteigend wird das S ubj ekt in seiner In
timität (»interior intimo meo«) geboren, und seine Intimität ent
fernt sich von ihm in statu nascendi (»inter feces et urinam nasci
mur«) . »Existieren« wird zu: nicht mehr »sein« (an sich, in sich) ,
schon-nicht-mehr-sein und noch-nicht-sein, oder im-Mangel
sein, ja in-der-Schuld-des-Seins-sein. Existieren wird zum Ins
Exil-gehen. Daß das Intime, das absolut Eigene im absolut Ande
ren besteht, darin alteriert der Ursprung in sich selbst, in einer
63
Selbstbeziehung »ursprünglicher Trauer« . Das Andere steht i n
einer ursprünglichen Beziehung z u m Tod, u n d in einer Bezie
hung zum ursprünglichen Tod .
Somit erscheint d i e »Einsamkeit« - sie i s t d a s christliche Ereig
nis, was nicht heißen soll, daß es sich nicht schon viel früher vor
bereitet hätte, noch daß es nicht auf seine Art i n unserer gesam
ten Tradition gegenwärtig wäre . Einsamkeit ist vorzugsweise
Einsamkeit des Selbst [soi] , insofern es sich in extremis und in
principiis außer sich und außer der Welt, als ek-sistierende Exi
stenz auf sich bezieht. Das Selbstbewußtsein ist Einsamkeit . Das
Andere ist diese Einsamkeit selbst, exponiert als solche: als ein
unendlich an sich , zu sich, an sich als zu sich zurückgezogenes
Selbst-Bewußtsein.
Der Ko-Existierende - der andere Mensch, aber genauso auch
das andere Geschöpf im allgemeinen - erscheint also als der
oder dasj enige , welches an sich unendlich zurückgezogen ist.
Unzugänglich für »mich« , insofern es zu »sich« im allgemeinen
zurückgezogen ist - und was es als Außer-sich-selbst [soi-hors-
1 23
de-soi] ist , ist es das Andere im allgemeinen, das Andere, das im
göttlichen Anderen das Moment seiner Identität hat und das
ebenso sehr das Moment der Identität aller, des universellen
corpus mysticum ist. Das Andere ist der Ort der Gemeinschaft als
Vereinigung [communion} , das heißt eines Sich-selbst-sein-im
anderen, das nicht mehr verändert ist, dessen Alteration Identi
fikation ist. Das Mysterium der Kommunion kündigt sich - in
dieser Welt - in der Form des Nächsten an.
Der proximus ist das Korrelat des intimus: der, der »ganz in der
Nähe« , »am Nächsten« ist , das heißt auch mein »Am-meisten-bei
naher« , mein »Unendlich-beinaher«, aber nicht ich, - nicht ich,
da an sich zurückgezogen ins Sich im allgemeinen. Die Nähe des
Nächsten ist die verschwindende, intime, aber insofern unendli
che Distanz, deren Auflösung sich im ANDEREN findet . Der Näch
ste ist der Entfernte par excellence - daher stellt sich die Bezie
hung zu ihm dar 1) als Imperativ, 2) als Imperativ einer Liebe
und 3) als eine Lieb e, die »wie die Liebe zu mir selbst« 64 ist .
Selbstliebe ist hier nicht Egoismus in dem Sinn, daß einer sich
den Vorzug vor anderen gibt (was zum Gebot im Widerspruch
stünde) , wohl aber Egoismus im Sinn einer Privilegierung des
Sich-selbst, des eigenen- Selbst [soi-propre} als Modell, des sen
Nachah mung die Liebe den anderen gegenüber stiftet. Im Ande
ren muß man das eigene-Selbst lieben, umgekehrt jedoch ist das
eigene-Selbst in mir das Andere als das Ego , dessen entzogene
Intimität.
Deshalb handelt es sich um »Lieb e« : Diese Liebe ist nicht der
mögliche Modus einer Beziehung, sie bezeichnet die Beziehung
5
selbst im Zentrum des Seins - ja, an Ort und Stelle des Seins 6 -
und zwar die Beziehung des Einen zum Anderen als unendliche
Beziehung des Selben zum Selben als dem ursprünglich Anderen
1 24
als es selbst . Derart ist die »Liebe« der Abgrund des Sich für das
Sich , sie ist die »Hingabe« oder das »Sorge tragen« für das , was
im Ursprung sich entgleitet oder fehlt : Sie besteht im S orge-Tra
gen für diesen Rückzug und in diesem Rückzug. Daher kommt
es, daß diese Liebe »Nächstenliebe« ist : Sie ist Gegenstand der ca
ritas , des extremen, absoluten und folglich unschätzbaren Prei
ses oder Werts des Andern als Anderem, das heißt als in-sich-zu
rückgezogenem-Sich . Eine solche Lieb e nennt den unendlichen
Preis dessen, was unendlich zurückgezogen ist : die Inkommen
surabilität des Anderen. Das Gebot dieser Liebe spricht sie folg
lich aus als das, was sie ist : der Zugang zum Unzugänglichen.
Nun reicht es aber nicht aus , diese Liebe aus überzogenem I dea
lismus oder religiöser Scheinheiligkeit herabzuwürdigen . Viel
eher muß die Christlichkeit und die Gefühlsbezogenheit eines
Imperativs dekonstruiert werden, der uns mit seinem offen ex
zessiven, klar exorbitanten Charakter aufhorchen lassen müßte -
ich würde sogar sagen: dafür gemacht ist, uns aufhorchen zu las
sen . Man muß sich fragen, worin der »Sinn« für ein oder der
»Wunsch« nach einem Denken oder einer Kultur besteht, die sich
eine Begründung geben, die, wenn sie geäußert wird , deren Un
möglichkeit zum Aus druck bringt ; und man muß sich fragen, ob ,
bis zu welchem Grad und inwiefern, die »Verrü cktheit« dieser
Liebe das inkommensurable Maß der Konstitution des »Sich« und
des »Anderen«, des »Sich« im »Anderen« nicht selbst exponiert .
Man müßte also verstehen, wie in dieser Konstitution - und so
im Zentrum und auf der Rückseite des Jüdisch-Christlichen - die
Dimension des Mit gleichzeitig erscheint und verschwindet . Ei
nerseits bezeichnet die Nähe des Nächsten das »bei« des »mit«
65 . Ich halte mich hier nicht mit der Verstrickung der Begriffe eros, agape, ca
ritas auf, für die die »Liebe« der Knoten ist, noch bei der jüdisch-christlichen
Verstrickung von Liebe und Gesetz. Man weiß, was für ein riesiges Forschungs
feld diese Konstellation darst ellt , die man nur so gerade eben begrifflich zu nen
nen wagt und w orüber man wenig sagt , wenn man betont, daß unsere gesamte
Tradition - unser gesamtes Denken des »wir« - daraus geschöpft hat. Das Chris
tentum - der Theologie und/oder des Herzens - vom »Liebet ein-ander« zu
dekonstruieren, das ist die Aufgabe.
125
(das apud hoc seiner Etymologie) . Man kann wohl sogar hinzu
fügen , daß sie dieses »bei« für es s elbst einkreist und ablöst als
Kontiguität und Simultaneität des Nahe-bei-seins als solchem
und ohne weitere Bestimmung. Das heißt, daß der »Nächste«
nicht mehr der »Nahestehende« in der Familie oder der »Nach
bar« im Stamm ist, worauf vielleicht die einstige Bedeutung der
biblischen Gebote verwiesen hat; er ist nicht der Nächste der
gens, der philia oder der Geschwister; unterworfen ist er viel
mehr der Logik der Gruppe oder des Zusammen, der Logik der
Gemeinschaft von Natur aus, der Gemeinschaft des Bluts, der
Herkunft, des Prinzips und des Ursprungs . 66 Das Maß des »Näch
sten« ist nicht mehr gegeb en, und das »bei«, das »ganz nah bei«
ist ausgestellt in seiner Blöße und ohne Maß : das Zusammenvor
kommen, die Menge , die Masse werden möglich - bis hin zum
Gedränge des anonymen Massengrabs und zur Zerstreuung der
kollektiven Asche. Die Nähe des Nächsten als reine Dis-tanz,
reine Dis- Position kann diese Dis-Po sition aufs extremste zu
gleich zusammenziehen und ausdehnen . Im universellen Mit
ein-and er-sein wird das »-same« des Gemein-samen rein extensiv
und distributiv .
Deshalb exponiert sich - andererseits - das »bei« des Mit, die
Simultaneität des Abstands und des Kontakts, das heißt die ur
eigenste Konstitution des cum als Unbestimmtheit und als Pro
blem. Es gibt in dieser Logik kein eigenes Maß des Mit: Das
Andere entzieht es ihm, in der Alternative oder in der Dialektik
der gemeinsamen Inkommensurabilität und Intimität . In einem
extremen Paradoxon erweist sich das Andere als das A ndere des
Mit.
66. Unterworfen folglich der Logik und der »Politik der Freundschaft«, wie
Derri da sie zu dekonstruieren vorschlägt.
126
Das Intime und das Nächste, das Selbst und das Andere bezeich
nen in ihrer gegenseitigen Verweisung ein »nicht sein mit« und
insofern ein »nicht in Gesellschaft sein«, ein ANDERES des Gesell
schaftlichen, wo das Gesellschaftliche - das Gerneinsame als
Sein oder als gerneinsames Subjekt - an und für sich sich s elbst
gehört: die Selbstheit [memete] selbst des Anderen als Anderem.
Das Mit-sein bezeichnet dagegen das Andere , das nie auf das
Selbst rückführbar ist, die Pluralität der Ursprünge. Das richtige
Maß des Mit, oder genauer, das Mit oder Mit-sein als richtiges
Maß, als Richtigkeit und als Gerechtigkeit ist also das Maß der
Dis-Position als solcher: das Maß des Abstands eines Ursprungs
zu einem anderen Ursprung .
In seiner Analytik des Mitseins * wird Heidegger diesem Maß
noch nicht gerecht . Zwischen der Indifferenz eines einfachen
»Zusarnrnenvorkornrnens« und einem authentischen »Verständ
7
nis Anderer«6 , dessen Status so lange unbestimmt bleibt, wie es
sich weder um das negative Verständnis der Unaneigenbarkeit
des Tods anderer [autrui] noch u m die Mit-Bestimmung eines
Volks handelt, verweist das Thema der existentialen »Abstän
digkeit«68 unmittelbar auf Wettbewerb und Herrschaft , u m mit
der ununters chiedenen Herrschaft des »Man« zu beginnen . Das
»Man« ist zu nichts anderem geschaffen als zu einer nivellieren
den Verkehrung des allgerneinen Auf-Distanz-haltens aller ge
genüber allen, das darauf hinausläuft , daß die Mittelmäßigkeit,
das gerneine Maß - gerneinsam im Sinn von gemein, durch
schnittlich - dominiert , daß das »Gemein-Mittelmäßige« das we
sentliche Gemeinsam-mit verdunkelt. So aber b leibt unerhellt,
wie eben gerade das Mit-sein wesentlich ist, wie es das Wesen
der Existenz mit-bestimmt.
Nun schreibt Heidegger selbst : »Als Mitsein >ist< daher das Da
sein wesenhaft urnwillen Anderer. [ . . . ] Im Mitsein als dem exi
stenzialen U rnwillen Anderer sind diese in ihrem Dasein schon
1 27
erschlossen . « 69 Das Mit b ezeichnet also ein Sein-in-Hinsicht-auf
ein-ander, so wie j eder Einzelne dort ist und dafür »offen«, das
heißt als Existierender konstituiert ist : als das Da, sprich als die
Öffnung des Seins, als ein »jedes Mal« dieser Öffnung, so daß es
keinerlei Öffnung gäbe (keinerlei S ein) , wenn das »Offene« sich
nicht gegenüber einem anderen »O ffenen« öffnen würde , wobei
die Öffnung selbst in nichts anderem besteht als in der Ko-Inzi
denz der Öffnungen. D as-da-sein [etre-le-la] heißt nicht, einen
Ort dem Sein als ANDEREM zu öffnen, sondern es heißt öffnen/
offen sein für/durch die Pluralität der singulären Öffnungen.
»Mit« ist nicht »Liebe«, nicht einmal »Beziehung« im allgemei
nen und auch nicht Gegenüberstellung von In-Differenzen, es ist
folglich die eigentliche Verfassung der Pluralität der Urspünge, in
sofern sie ursprünglich sind, nicht die Einen der Anderen, nicht
die Einen für die Anderen, sondern die Einen im Hinblick auf die
Anderen oder mit Hinsicht auf die A nderen. Ein Ursprung ist
nicht Urs prung für sich, noch um sich in sich zurückzuhalten
(er würde nichts entspringen lassen) , noch um eine abgeleitete
Reihe zu überragen, worin ihr S ein vom Ursprung an sich ver
löre : Ein Ursprung ist etwas anderes als ein Beginn , er ist zu
gleich Prinzip und Entspringen [s urgissement], und darin wieder
holt er sich als »fortgesetzte Schöpfung« in j edem Punkt , den er
urspringen läßt .
Wenn die Welt keinen Ursprung »außer sich« »hat«, wenn die
Welt ihr Ursprung oder der Ursprung selbst ist , dann ist der
Ursprung der Welt überall, in j edem Punkt der Welt . Er ist das
»j edes Mal« des Seins, und seine Verfaßtheit ist das Mit-sein von
j edem Mal mit allen Malen . Der Ursprung ist für und durch das
singulär Plurale aller möglichen Ursprünge . »Mit« ist das Maß ei
nes Ursprungs-der-Welt als solchem , oder auch eines Ursprungs-
1 28
des-Sinns als solchem . Mit-sein heißt gegenseitig Sinn hervor
bringen, und nur so. Der Sinn ist das ganze Maß des inkommen
surablen »Mit« . Das »Mit« ist das gesamte Maß des inkommensu
rablen Sinns (des Seins) .
1 29
12. Körper, Sprache
Der Ursprung der Welt wird von der P luralität der Ursprünge
wesentlich zerstreut. Die Welt entspringt überall und in j edem
Augenblick - simultan. Derart entspringt sie aus nichts, und sie
»ist geschaffen«, wenn man es in dieser Sprache ausdrücken will
- aber man wird dies künftig so verstehen müssen: Sie ist nicht
das Resultat einer besonderen Produktionstätigkeit , s ondern sie
ist, insofern sie ist, als geschaffen, sprich: entsprungen, gekom
men, gewachsen ([frz. cru:] cresco, creo) immer-schon von allen
Seiten [toutes parts] entsprungen, oder genauer : Sie ist selbst das
Entspringen des Eintretens des »immer-schon« und »aller S ei
ten« . Jedes Seiende ist derart von (echtem) Ursprung an, j eder ist
ursprünglich (Entspringen des Entspringens selbst) und j eder ist
original (unvergleichbar, unableitbar) . Alle teilen sie j edoch die
selbe Ursprünglichkeit und dieselbe Originalität: Diese Teilung
selbst ist der Ursprung.
Was er teilt, ist nichts von der Ordnung einer einzigen Sub
stanz, an der j edes Seiende teilhat: Was geteilt wird, ist ebenso
sehr das , was teilt, was strukturell konstituiert ist durch die Tei
lung und was wir »die Materie« nennen. Die Ontologie des Mit
seins kann nur »materialistisch« sein, in dem Sinn, in dem
»Materie« nicht eine Substanz oder ein Subj ekt - auch nicht ein
Gegen-Subj ekt - b ezeichnet, sondern ureigentlich das, was von
sich aus geteilt ist, das, was nicht von sich unterschieden ist,
partes extra partes, ursprünglich undurchdringlich gegenüber j e
ner vereinigenden und sublimierenden D urchdringung, die ein
»Geist«, ein Punkt ohne Dimension und ohne Teilung außerhalb
der Welt wäre . Die Ontologie des Mit-seins ist eine Ontologie des
Körpers , aller Körper - unbelebter, belebter, fühlender, spre
chender, denkender, wiegender Körper. In der Tat , »Körper« be
deutet vor allem: was außerhalb ist, als außerhalb , abseits, ge
gen, bei, mit einem (anderen) Körper, mit dem Körper am
Körper, was zur Dis-Position steht. Nicht nur ein »Sich« gegen
über einem »Anderen« , sondern zuerst als Sich, von sich zu sich:
131
aus Stein , aus H olz, aus Plastik oder aus Leder, ein Körper ist Tei
lung und Aufbruch des Sich, zu sich, das Bei-sich , ohne welches
»sich« nicht einmal »ab-seits von sich« wäre. 70
Die Sprache ist (wie die Stoiker sagten) körperlos . Das Sagen ist
körperlich , als hörbare Stimme oder sichtbarer Strich , aber was
gesagt wird, ist körperlos, ist das ganze Unkörperliche der Welt .
Es ist nicht auf der Welt oder im Inneren der Welt als einem Kör
per: In der Welt ist es das Außerhalb der Welt . Es ist das ganze
Außerhalb der Welt: nicht der Ausbruch eines ANDEREN , das die
Welt entführen oder erhöhen, sie zu etwas anderem ums chrei
ben würde, sondern die Expo sition der Welt-der-Körper als sol
che, das heißt als Singulär-plurale des Ursprungs. Das Körper
lose exponiert die Körper gemäß ihres Mit-ein-ander-seins : nicht
isoliert, nicht vermischt [confondu], sondern unter sich als Ur
sprünge . Die Beziehung der singulären Ursprünge untereinander
ist die B eziehung des Sinns . (Die Beziehung eines einzigen Ur
sprungs zum Rest als entsprungen [origine] wäre eine Beziehung
des saturierten Sinns: keine Beziehung, sondern reine Konistenz,
und auch kein Sinn, sondern seine Wiederholung als Schleife,
die A nnullierung des Sinns, und das Ende des Ursprungs . )
D i e Sprache i s t d e r Exponent d e r pluralen Singularität . In i h r ist
das S eiende insgesamt als sein Sinn exponiert, das heißt als die
ursprüngliche Teilung, dernach Seiendes sich auf Seiendes be
zieht, die Zirkulation eines Sinns der Welt, die weder Anfang
noch Ende hat, die der Sinn der Welt als Mit-sein ist, die Simul
taneität aller Präsenzen , die alle die Einen in Hinsicht auf die An
deren sind und von denen keine sich gehört [n 'est 0.. soi}, o hne
den Anderen zu gehören. Deshalb auch ist der Dialog oder we
sentliche Polylog der Sprache identisch mit dem, wie wir mitein
ander sprechen und mit dem, durch den ich zu »mir s elb st« spre
che und dabei eine ganze »Gesellschaft« bin - eine Wahrh eit, in
der Sprache und als Sprache, stets simultan » wir« und »ich« , und
»ich« als »wir« ebenso wie »wir« als »ich« . Denn ich würde mir
1 32
nichts sagen, wenn ich nicht mit mir wie mit zahlreichen Ande
ren wäre , wenn dieses Mit nicht »in« mir wäre, i n mir selbst,
gleichzeitig wie »ich«, gerrauer als das Zur-gleichen-Zeit, dem ge
mäß nur ich bin.
Gerrau an diesem Punkt läßt sich also bestens das Wesen der
Singularität wahrnehmen: Sie ist nicht die Individualität, sie ist
jedes Mal die Punktualität eines »Mit«, die einen gewissen Ur
sprung des Sinns verknüpft und die ihn mit der U nendlichkeit
anderer möglicher Ursprünge verb indet. Sie ist also zugleich in
fra- bzw. intra-individuell und trans-individuell, und immer b ei
des zusammen. Das Individuum ist ein Knotenpunkt von Singu
laritäten, die diskrete - diskontinuierliche und transitorische -
Exposition ihrer Simultaneität .
Deshalb gibt es nicht »die« Sprache, s ondern Sprachen, u nd
Rede (weisen) [paroles] , und Stimmen, eine singuläre ursprüng
liche Teilung der Stimmen, ohne die es keinerlei Stimme gäbe . In
der unkörperlichen Exposition der Sprachen durchläuft das gan
ze Seiende den Menschen . 7 1 Aber diese Exposition exponiert den
Menschen selbst außerhalb des Menschlichen, im Sinn der Welt,
im Sinn des Seins als Sinn-sein der Welt . Der »Mensch« ist - in
der Sprache - nicht das S ubj ekt der Welt, er repräsentiert es
nicht, er ist weder ihr Ursprung noch ihr Zweck. Er ist nicht ihr
Sinn, noch gibt er ihn ihr. Er ist der Exponierende, aber was er
derart exponiert, ist folglich nicht ihn selbst, den Menschen, son
dern die Welt und sein eigenes S ei n-mit-allem-Seienden in der
Welt, als Welt. Deshalb ist er ebenso das Exponierte des Sinns :
als sprachbegabter ist der Mensch zuallererst wesentlich ex
poniert in seinem Sein. Er ist dem unkörperlichen Außen und als
das unkörperliche Außen der Welt im Zentrum der Welt ex
poniert, was dazu führt , daß die Welt in ihrer singulären Plurali
tät »zusammenhält« oder »besteht«.
71. »Sprache, ob gesprochen oder geschwiegen, die erste und weiteste Vermen
schung des Seienden. So scheint es. Aber sie gerade die ursprünglichste Ent
menschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen und >Subjekt< und alles
Bisherigen.« Heidegger, Beiträge zur Philosophie, Frankfurt a. M., 1989, S . 5 10 .
1 33
Es ist nicht genug zu sagen, daß »die Rose ohne Grund wächst« .
Denn wenn die Rose allein wäre, schlösse ihr grundloses Wachs
tum alle Gründe der Welt an sich, in sich ein . Aber die Rose
wächst grundlos, weil sie zusammen mit der Reseda, der Hek
kenrose und der Distel - dem Kristall und dem Seepferdchen,
dem Menschen und seinen Erfindungen wächst . Und das Ganze
des Seienden, Natur und Geschichte, ergibt kein Zusammen, des
sen Totalität ohne Grund oder nicht ohne Grund ist. Das Ganze
des S eienden ist sein eigener Grund, es gibt keinerlei andere, was
nicht heißt, das es für es-selbst Prinzip und Zweck ist, denn es
ist ja nicht es-selbst. Es ist seine eigene D is-Position als Pluralität
von Singularitäten. Dieses Sein ex-poniert sich also als das Zwi
schen [entre} und als das Mit des Singulären. Sein, zwischen und
mit bedeutet dasselbe: es bedeutet genau das, was nicht gesagt
werden kann (und was man andernorts das »Unsagbare« nennen
würde) , das, was nicht präsentiert werden kann als ein Seiendes
unter [parmi] anderen , denn es ist das »unter« aller Seienden
(unter: drin , in der Mitte von, mit) , die alle und j edes Mal unter
ein-ander sind. Sein besagt nichts anderes , und wenn folglich das
Sagen immer auf die eine oder andere Weise das Sein sagt, dann
wird umgekehrt das Sein nur im Unkörperlichen des Sagens ex
poniert.
Was nicht bedeutet, daß das Sein »nichts als ein Wort« ist - son
dern vielmehr, daß das Sein all das ist, was ein Wort [mot} ist
und macht, soll heißen : Mit-sein in j eder Hinsicht . Denn ein Wort
ist das , was es ist, nur im »Mit« der Worte [paroles} . Die Sprache
ist wesentlich im Mit . Jedes Wort ist Simultaneität von minde
stens zwei Worten, dem gesagten und dem gehörten - und sei es
nur von mir selbst -, das heißt dem Erneutgesagten. Sobald ein
Wort gesagt wird , wird es erneut gesagt , und der Sinn besteht
nicht in der Übertragung eines Senders an einen Empfänger, s o n
dern in der Simultaneität (zumindest) der beiden Ursprünge d e s
Sinns, d e s Sagens und d e s Wiedersagens.
1 34
Der Sinn ist, daß das , was ich sage , nicht bloß »gesagt« wird,
sondern um gesagt zu sein, in Wahrheit wiedergesagt zu mir zu
rückkommt. Wenn es aber so zu mir zurückkommt - vorn Ande
ren - ist dies auch ein anderer Ursprung des Sinns geworden . D er
Sinn ist der Übergang und die Teilung von Ursprung zu Ur
sprung, singulär plural . Der Sinn ist die Ausstellung des Grunds
ohne Grund, der kein Abgrund ist, s ondern schlicht das Mit der
Dinge, die sind, insofern sie sind. Logos ist Dialog, aber der Dia
log verfolgt nicht den Zweck, sich auf einen »Konsensus« hin zu
überschreiten, sein Grund ist, weiter zu spannen, nur das cum-,
das Mit des Sinns , die Pluralität seines Entspringens weiter aus
zuspannen und ihm dabei Färbung und I ntensität zu geben. Es
genügt also nicht, dem Geschwätz die Authentizität eines Worts
voller Sinn entgegenzusetzen. Vielm ehr muß man im Geschwätz
den Unterhalt des Mit-seins als solchem ausmachen : I ndem man
sich - im Sinn der Diskussion - »unterhält« , »unterhält« man sich
- im Sinn des Fortbesteheus im Sein . Das Sprechen-mit exponiert
den conatus des Mit-seins , oder besser, es exponiert das Mit-sein
als conatus, als Anstrengung und Wunsch, sich als »Mit« aufrecht
zu erhalten, und folglich das , was von sich aus nicht stabile und
fortdauernde Substanz ist, sondern Teilung und Übergang. Und
in dieser Unterhaltung des Mit-seins muß man ausmachen, wie
die Sprache j edes Mal in j eder Bed eutung, den höchsten wie den
bescheidensten - und bis hi n zu den »phatischen« Bedeutungs
losigkeiten (»Hallo«, »Tag« , »also . . . «) , die nur die Unterhaltung
selbst unterhalten - , das Mit exponiert und sich selbst als das Mit
exponiert , sich einschreibt und sich in ihm ausschreibt, bis zur
von Bedeutung entleerten Erschöp fung .
»Bedeutungsentleert« : das heißt , j ede Bedeutung an den Kreis
lauf des Sinns zurückzugeben, an den Transport vorn Einen zum
Anderen , wobei es nicht um »Übersetzung« im Sinn des Erhalts
einer (auch veränderten) Bedeutung geht, sondern im Sinn einer
»Über-S etzung« , einer Verlängerung und Erweiterung von Sinn
Ursprung zu Sinn-Ursprung. Deshalb geht diese immer in der Be
deutung latente Erschöpfung - immer latent , und immer dem
1 35
Sinn selbst immanent : seine Wahrheit - in zwei entgegenge
setzte Richtungen : in die des gemeinen Geschwätzes und in die
der absoluten poetischen Distinktion. Erschöpfung durch »phati
sche« B edeutungslosigkeit und durch unaus schöpfbare Aus
tauschbarkeit, oder Erschöpfung durch reine »apophatische »Be
deutung, durch Erklärung oder Aufweisung (»Apophansis«) der
Sache selbst als eines unaustauschbaren, unveränderlichen Wor
tes als die Sache selbst, aber als die Sache als solche. Vom Einen
zum Anderen ist es derselbe conatus: Das »Mit«, demzufolge wir
uns gegenseitig als »Eine« und als »Andere« exponieren, und da
bei die Welt als Welt exponieren.
Die Sprache konstituiert und artikuliert sich aus »als«. Etwas zu
sagen, was auch immer es sei, heißt wovon auch immer das »als«
zu präsentieren . Unter dem Blickwinkel der Bedeutung heißt
dies, ein Ding als etwas anderes zu präsentieren (zum Beispiel
als sein Wesen , sein Prinzip, s einen Ursprung oder s einen
Zweck, seinen Wert, seine Bedeutung) - aber unter dem Blick
winkel des Sinns und der Wahrheit heißt dies, das »als« als sol
ches zu präsentieren, das heißt die Äußerlichkeit des Dings , s ein
Davor-sein, sein Sein-mit-allen-Dingen (und nicht sein Sein-in
oder sein Woanders-sein) .
Das »ich sage >eine Blume< . . . « von Mallarme besagt, daß dieses
Wort »die Blume« als »Blume« und als nichts anderes besagt, die
nur deshalb »in allen Sträußen abwesend« ist, weil ihr »als«
ebenso sehr die Präsenz j eder Blume in jedem Strauß als solche
präsentiert . Agamben schreibt: »Ein Denken, das das Sein als
Sein erfassen möchte, darf, wenn es auf das Seiende zurück
kommt, diesem . . . [k] eine letzte Bestimmung geben, [ . . . sondern]
muß das Sein vermittels s eines als in einem So-Sein verstehen ,
um zur reinen Unverborgenheit, zur reinen Äußerlichkeit zu ge
langen. Es sagt nicht mehr etwas als >etwas< , sondern bringt das
>als< selber zur Sprache .« 72 Jedes Wort führt dieses »als s elbst«
zum Wort , das heißt die gegenseitige Expo sition und Dispo sition
1 36
der Singularitäten der Welt (eine Welt der Singularitäten, der ein
zelnen Welten, der Welt-Singularitäten) . Die Sprache ist das Ele
ment des Mit als solchem: Der Raum seiner Aussage - und diese
kommt, wiederum als solche, auf alle und auf niemanden zu
rück, gelangt wieder auf die Welt und zu ihrer Ko-Existenz .
Wie La Bruyere sagte - und er war nicht der erste, der dies be
merkt hat - ist »alles gesagt, und man kommt zu spät . . . « . Alles
ist gesagt, mit Sicherheit, denn alles ist immer schon gesagt wor
den, aber alles muß gesagt werden, denn das Ganze als solches
muß immer wieder neu gesagt werden. Der Tod präsentiert die
Unterbrechung eines Sagens des Ganzen, und einer Totalität , die
besagt: Sie präsentiert, daß das Alles-sagen jedes Mal ein »alles
ist gesagt« ist, eine diskrete und transitorische Vollständigkeit .
Deshalb geschieht »für das Subj ekt« nicht der Tod - sondern nur
dessen Repräsentation. Deshalb aber wird »mein Tod« auch nicht
mit »mir« im schieren Verschwinden verschlungen. Sofern er,
wie Heidegger sagt, die »unüberholbare Möglichkeit des D a
seins« ist, exponiert er die Existenz als solche. Derart geschieht
der Tod wesentlich als Sprache, und entsprechend äußert die
Sprache immer den Tod: sie äußert immer die Unterbrechung des
Sinns als ihre Wahrheit . Der Tod als solcher (und die Geburt als
solche) geschieht als Sprache: Er geschieht in und durch das Mit
ein-ander-sein. Er ist die Signatur des »Mit« selbst: Der Tod ist
das , was nicht mehr »Mit« ist, und was gleichzeitig nach ge
nauem Maß, nach rechtem Maß den Platz des inkommensura
blen »Mit« einnimmt. Der Tod ist das »als« ohne Eigenschaft und
Zus atz : das Körp erlose als solches, und folglich die Ex-Position
des Körpers . Man wird geboren und man stirbt nicht als derj e
nige oder diejenige , sondern als ein »als solcher«, ab solut , das
heißt als ein Sinn-Ursprung, losgelöst und absolut abgeschnitten,
wie es sich geziemt (unsterblich also) .
D araus folgt , daß man weder alleine ist, wenn man geboren
wird, noch, wenn man stirbt, oder vielmehr, daß die Einsamkeit
der Geburt/des Todes - j ene Einsamkeit, die nicht einmal mehr
eine ist - die genaue Kehrseite ihrer Teilung ist . Wenn es wahr
1 37
ist, wie noch einmal Heidegger sagt, daß ich nicht anstelle des
Anderen sterben kann, so ist es doch nicht weniger wahr und
von derselben Art Wahrheit, daß der Andere als mit mir Seiender
stirbt, und daß wir für einander geboren werden und sterben,
daß wir, ein-ander, uns dabei exponieren und j edes Mal nicht ex
ponierbare Singularität des Ursprungs sind. Im Französischen
sagt man » mourir a« - an der Welt, am Leben [zugrunde gehen]
- ebenso wie >>naftre a« , [ erweckt werden zu] . 7 3 Der Tod gehört
zum Leben [la mort est a la viel - was etwas anderes ist als die
Negativität zu sein, die das Leben durchläuft, um aufzuerstehe n .
Um ganz genau z u sein: D e r T o d als fruchtbare Negativität i s t
derj enige eines einzigen S ubj ekts (als I ndividuum oder Art) . D e r
Tod , d e r z u m Leben gehört , d i e Ex-position als solche (das Ex- p o
nierte als Ex-poniertes w a s sich z u r Welt h i n dreht , was in d e r
=
1 38
und er ist nichts anderes als dies , das, was seinem Wesen nach
zur Sprache gebracht wird - und was sich dort h ält.
»In mir spricht der Tod. Mein Wort ist die Ankündigung, daß
der Tod genau in diesem Moment i n die Welt entlassen worden
ist, daß er zwischen mir, der spricht und dem Sein, das ich an
rufe, plötzlich aufgetaucht ist: Er ist unter uns als die D istanz, die
uns trennt, doch ist diese Distanz auch das, was verhindert , daß
wir getrennt werden, denn er ist die Bedingung j edes Einver
ständnisses .«74 »Die Literatur« ist folglich die Sprache in der
Spannung von Geburt und Tod, weil und insofern sie in der
Spannung zwischen Ansprache, Einverständnis und der Unter
haltung steht - und da sie es als Erzählung, als Diskurs und als
Gesang ist (welche ihrerseits die D is-Position der Sprache selbst
bilden: ihre Äußerlichkeit an/in sich, ihre Teilung nicht nur der
einzelnen Sprachen, sondern auch der Stimmen , der Arten oder
der Färbungen, vielfache Teilung, ohne die es kein »als« im
allgemeinen gäbe) . »Literatur« besagt: Gemeinsam-sein dessen,
was ohne gemeinsamen Ursprung ist, aber ursprünglich gemein
sam oder mit .
Deshalb impliziert, wenn die eigene Beziehung zum Tod nach
Heidegger darin b esteht , »sein eigenstes Sein von ihm selbst her
aus ihm selbst zu übernehmen«/5 diese Übernahme entgegen der
Versicherung eben j enes Heidegger durchaus nicht, daß »j edes
Mitsein mit Anderen versagt« . 76 Wenn das Mit-sein dem Sein taut
court wirklich mit-wesentlich oder vielmehr im Sein selbst ist,
dann ist die eigenste Möglichkeit mit-wesentlich eine Möglich
keit des Mit und als Mit. Mein Tod ist eine Mit-Möglichkeit, ist
die »eigenste« der eigenen Möglichkeit der anderen Existieren-
74. Maurice Blanchot, Die Literatur und das Recht auf den Tod, Berlin, 1 9 82
( 1 949) . Aber dies durchzieht das gesamte Werk von Blanchot, der nicht auf
hört , von diesem Wort des Todes zu sprechen, das heißt der »einzigen Geburt«
der Sprache des Werks, wo das Werk sich ent-werkt (»L' ceuvre de la communi
cation«, in: L 'espace litteraire, Pari s , 1 9 5 5 , S . 277) .
7 5 . Sein und Zeit, § 5 3 , S. 263f.
76. Ebd . S . 263 .
1 39
den . Er ist, er »wird« mein Tod »sein« in ihrem Wort , das sagt : »Er
ist tot«: Insofern ist er, wird er nirgendwo anders sein. Er ist
»meine« Möglichkeit insofern als sich in ihm die Möglichkeit des
»Mein« entzieht : das heißt insofern als diese »Jemeinigkeit« darin
zurückgesetzt wird in das singulär Plurale der immer-anderen
MeinheiL Im »er ist tot« ist wohl vom Sein - und als Mit-sein -
die Rede.
»Der Tod« ist also nicht die Negativität , und die Sprache kennt
nicht, noch praktiziert sie die Negativität (außer der logischen) .
Negativität ist die Operation, die die Setzung des Seins ent-setzen
will, um es zum Opfer, zum fehlenden Obj ekt des Verlangens ,
zur Eklipse des Bewußtseins oder zur Entfremdung werden zu
lassen - und folglich nie zum Tod ebensowenig wie zur Geburt,
sondern nur zur Übernahme einer unendlichen Unterstellung:
Das Sein ist unendlich sich selbst voraus-gesetzt , und sein Pro
zeß ist die Wiederaneignung dieser Voraussetzung, die stets dies
seits und stets j enseits ihrer selbst und deshalb tätige Negativität
ist . Doch verhält es sich ganz anders , wenn das Sein Dis-Posi
tion, singuläre Pluralität ist. Der Abstand der Dis-Position ist
nichts : Dieses »Nichts« ist von nichts das Negative. Es ist das Un
körperliche, wodurch bzw. demnach die Körper miteinander, die
Einen bei den Anderen sind , Seite an Seite, die einen im Kontakt
und (folglich) in Abstand zu den Anderen . Dieses Nichts ist res
ipsa, die Sache selbst: die Sache als das Sein-selbst, das heißt das
So-sein von allem Seienden , die gegenseitige Exposition der Sei
enden, die nur von und in dieser Exposition existieren. So ist
ein Demonstrativpronomen : Das S o-sein ist das demonstrative
Wesen des Seins: das Seiende, das sich dem Seienden und im Mi
lieu des Seienden zeigt .
Ob gewollt oder nicht , alles Denken der Negativität führt zum
selben Punkt (zumindest wird er gestreift , auch wenn solches
Denken es zuweilen ablehnt, sich dabei aufzuhalten) : an diesem
Punkt, wo das Negative selbst, um das Negative zu s ein (um ni
hil negativum und nicht nur nihil privativum zu sein) , sich s einer
eigenen Operation unterziehen und für sich selbst b estätigt wer-
1 40
den muß, restlos - oder im Gegenteil bestätigt als der abs olute
Rest, den nichts eingliedert in eine Prozeß- oder Operationskette
(das ist der nichtoperative kritische Punkt, der im Zentrum der
Dialektik in der Schwebe bleibt) . Die Selbst-Präsupposition wird
unterbrochen, eine Synkope des Prozesses und seines Denkens
stellt sich ein: Synkope und plötzliche Verkehrung der Supposi
tion in Dis-Position. Die Dis-Position ist dasselbe wie die Suppo
sition: In gewissem Sinne ist sie das absolut Vorausgehende, und
das »Mit« ist immer schon gegeben . Aber sie ist nicht »darunter
gesetzt«, sie ist den Positionen nicht präexistent, sie ist ihre Si
multaneität . Das Nicht-sein des Seins - sein Sinn - ist seine Dis
Position. Das nihil negativum ist das quid positivum als singulär
Plurales: das heißt, insofern als keinerlei quid, keinerlei Seiendes
ohne mit gesetzt ist . Es ist ohne (im Abstand) in dem exakten
Maß, in dem es mit ist: gezeigt und aufgezeigt im Mit-sein, dem
Beweis der Existenz.
So ist auch das Böse nie in etwas anderem als in einer Opera
tion, die das Mit ausfüllt . Man kann das Mit ausfüllen, indem
man es auffüllt oder indem man es entleert: Man kann es einem
Grund der Fülle und der Kontinuität oder aber einem Abgrund
der Intransivität zurechnen . I m ersten Fall wird das Singuläre ein
Partikulares in einer Totalität - und ist nicht mehr singulär noch
plural; im zweiten Fall existiert das Singuläre nur ab-seits von
sich, und folglich als Totalität - und es ist auch nicht singulär
oder plural . In beiden Fällen lauert am Horizont der Mord,
sprich: der Tod als operative Negativität des Einen, der Tod als
Werk des Einen-Ganzen oder des E inen-Ich. Eben deshalb ist der
Tod das Gegenteil des Mords : Er ist das inoperative, aber existie
rende »Mit« (und der Mord verfehlt den Tod, unweigerlich) .
Das »Mit« ist weder Grund noch ohne-Grund . Es ist - nichts als
Mit-sein, das unkörperliche Mit des Körper-seins als solches. Be
vor die Sprache Wort , Einzelsprache, Verbalität oder Bedeutung
wird, ist sie dies : die Erweiterung und die Simultaneität des
»Mit« , insofern die eigentlichste Kraft eines Körpers in dessen Ei
genschaft besteht , einen anderen Körper zu berühren (oder sich
141
zu berühren) , was nichts anderes ist als seine De-Finition als
Körper. Er kommt zum Ende - hört auf und vollendet sich in ein
und derselben Geste - dort, wo er mit-ist.
»Sprechen mit« in diesem Sinne, eher als sprechen-zu oder zu
sich- sprechen , eher als »sagen« (verkünden, benennen) und aus
sprechen ( weitertragen, ans Tageslicht des Sinns bringen) , »spre
chen mit« als die Unterhaltung und der conatus eines Exponiert
seins, das kein Geheimnis exponiert, abgesehen von s einer Exp o
sition selbst. »Sprechen mit« , wie man sagt »schlafen mit« , »aus
gehen mit« (co-ire) oder »leben mit« : ein (Eu-) Phemismus , u m
(nicht) nichts geringeres z u sagen als das , was das »Sagen
Wollen« auf alle Arten sagen will, das heißt das Sein selbst als
Kommunikation, und das Denken, wie es genannt wird : co-agita
tio des Seins . Die »Sprache« ist kein Instrument der Kommunika
tion, und die Kommunikation ist kein Instrument für das Sein :
Die Kommunikation ist aber genau das Sein, und das Sein ist
folglich nur das Unkörperliche, worin die Körper ein-ander als
solche ankündigen .
1 42
13. Ko-existenziale Analytik
Die existenziale Analytik von Sein und Zeit ist das Unterneh
men, in dessen Schuld das gesamte spätere Denken steht, ob es
sich um Heideggers Denken selbst o der unsere D enkansätze h an
delt - welche auch immer, und in was für einem Verhältnis des
Konflikts oder der Überschreitung sie sich zu Heidegger selbst se
hen mögen. Diese Behauptung77 ist keineswegs ein B ekenntnis
zum »Heideggerianismus«, gegen die armseligen Zurechnungen
zu Schulen ist sie völlig immun. Sie bedeutet auch nicht, daß
diese Analytik definitiv wäre, sondern daß sie, so wie sie ist, das
seismische Beben eines endgültigen Bruchs in der Konstitution
und Betrachtung des Sinns vernommen hat (vergleichbar zum
Beispiel mit dem des »cogito« oder der »Kritik«) . Gerade deshalb
übrigens ist sie nicht vollendet, sondern die von ihr ausgelöste
Erschütterung ist bis zu uns spürbar .
Nun bleibt die Analytik des Mitseins * dort nur skizziert und un
tergeordnet, während der Zug des Mitseins * doch als dem Da
sein * mit-wesentlich gegeben ist. In dieser Hinsicht birgt die
existenziale Analytik wohl das Prinzip einer Verschließung ge
genüber seiner eigenen Eröffnung. Wiederzueröffnen und voran
zutreiben ist daher ein Übergang, des sen Obstruktion ganz ohne
Zweifel die Füllung und Einfaltung des Mit-seins durch das
»Volk« und sein »Schicksal« bestimmt hat . Das soll nicht heißen,
daß es darum ginge , eine nur skizzierte Analyse zu »vollenden«
oder dem Mitsein * den ihm gebührenden »prinzipiellen« P latz zu
verschaffen. Das Mitsein entgeht der Vollendung und der prinzi
piellen Position wohl »aus Prinzip« . Aber man muß an die Skizze
noch einmal herangehen und die Linien soweit nachziehen, bis
deutlich wird, daß die Mit-Wesentlichkeit des Mit-Seins nichts
Geringeres ins Spiel bringt als eine Mit-Ursprünglichkeit des
Sinns - und daß »der Sinn des Seins« nicht das wäre, was er ist,
das heißt nicht »Sinn« und vor allem nicht sein eigenes »Vor-Ver-
143
ständnis« als Verfaßtheit der Existenz, wenn er nicht als Mit ge
geben wäre. Auf gewisse Art gibt es nur »Sinn« aufgrund eines
»Selbst« (die subj ektive Formel der I dealität des Sinns: Es ge
schieht für und durch ein »Selbst«) . Aber »Selbst« gibt es nur auf
grund eines »Mit« , das es in Wahrheit strukturiert : Dies müßte
das Axiom einer nunmehr ko-existenzialen Analytik sein.
»Selbst« ist nicht die Beziehung eines »Ich« zu »sich-selbst«. 7 8
»Selbst« ist ursprünglicher als »ich« und »du«. Vor allem andern
ist »selbst« nichts anderes als das »als s olches« des S eins im all
gemeinen. Das Sein ist nichts als sein eigenes »als Sein« . Das
»als« überkommt es nicht, es fügt sich ihm nicht hinzu und es
verdoppelt es auch nicht: Es ist es, in konstitutiver Weise. Das
Sein ist also sofort , unmittelbar, mit sich vermittelt, selbst Ver
mittlung . Vermittlung ohne Instrument - und folglich nicht dia
lektisch: dia-lektisch ohne Dialektik. Arbeitslose Negativität,
nichts vom Mit und nichts als Mit. Mit als Mit : nichts als Exposi
tion des Als-solches-sein, j edes mal singulär Solches und folglich
immer plural Solche.
Dem »ich« und »du« vorgängig ist das »Selbst« als ein »uns«, das
weder kollektives Subj ekt noch »Intersubj ektivität« ist, sondern
die unmittelbare Vermittlung des Seins als »Selbst« [etre en
»soi«] , die plurale Faltung des Ursprungs. (Ist dann gar die Ver
mittlung selbst das Mit? G ewiß, sie ist es. »Mit« ist die Permuta
tion dessen, was auf seinem Platz bleibt, j eder/s Eine und j edes
Mal . »Mit« ist die Permutation ohne Anderes. Anders ist immer
der Vermittler: Sein Prototyp ist Christus . Hier geht es dagegen
um Vermittlung ohne Vermittler, das heißt ohne »Macht des Ne
gativen«, und folglich ohne die beachtliche Kraft, seinen eigenen
78. Ich folge hier den Hinweisen der Beiträge, ebd. , S . 3 1 9ff, um dann im fol
genden einen bekannten Verweisungszusammenhang aus Sein und Zeit auf
zunehmen und dafür eine Neufassung vorzuschlagen, in der das Mitsein *
tatsächlich mit-wesentlich und ursprünglich wäre. Man muß Sein und Zeit neu
schreiben: Das ist keine lächerliche Anmaßung, und es ist auch nicht »meine« ,
es ist dies die Notwendigkeit größerer Werke, insofern als sie die unseren sind.
Zu dieser Notwendigkeit gehört auch, man wird es mühelos erraten, die Auf
gabe einer politischen Neufassung.
1 44
Widerspruch, der das Subj ekt bestimmt und verschließt, in sich
zu bewahren. Die Vermittlung ohne Vermittler vermittelt nichts :
sie ist mi-lieu /9 Ort [lieu] der Teilung und des Übergangs, das
heißt schlicht Ort, in absoluter Weise. Nicht Christus, sondern nur
ein solches Mi-lieu : und dieses wäre nicht mehr das Kreuz, son
dern nur die Kreuzung, der Knotenpunkt und der Abstand, die
Bestirnung auf der Dimension der Erde selbst. Es wäre der Höhe
punkt und der Abgrund einer Dekonstruktion des Christentums:
die Dis-Lozierung des Okzidents) .
»Selbst« bestimmt das Element, in dem »ich« und »du« und
»wir«, und »ihr« und »sie« sich b efinden können . »Selbst« be
stimmt das »als« des Seins: Wenn es ist, so ist es, insofern als es
ist . Es ist »an sich« Selbst [»(I soi«], keinerlei »Ichheit« , keinerlei
präsentierbarer Eigenschaft ist vorgängig. Es ist das » (insofern)
als« von allem, was ist. Es ist keine präsentierbare Eigenschaft,
denn es ist die Präsentation selbst. Die Präsentation ist weder
eine Eigenschaft noch ein Zustand, sondern das Ereignis , die An
kunft von etwas: von seiner Ankunft auf der Welt, aber die
»Welt« selbst ist das Geometrale oder das Exponierende aller An
künfte.
In seiner Ankunft eignet sich das Existierende an: Es wird we
der von einem, noch einem »Selbst« angeeignet (dieses Selbst
könnte sich nicht vorausgehen, ohne die Ankunft in sich zurück
zunehmen und zu neutralisieren) . Was seinem »Selbst« vor sich
zuwächst: Es hat es da (das heißt »Dasein« * bei Heidegger) . Da,
das heißt da unten in raum-zeitlicher Distanz (der Körper, die
-
1 45
in sich s elbst di fferierend [differant] eröffnet) . Deshalb prä-exi
stiert das »Selbst« (sich) nicht. »Selbst« ek-sistierend als sol
=
che s .
In d e m Maß, wie »Selbst« - die »Ip seität« - »zu sich« heißt, Be
ziehung zu sich, Rückkehr in sich, Präsenz zu sich so wie dem
»Selben« gegenüber (der Selbstheit des »als solchen« gegenüber) ,
ko mmt die Ipseität an, das heißt kommt zu sich an, als Ankunft
[venue] , und die Ankunft ist Zuvor-kommenheit [pre-venance] ,
was weder Präexistenz noch Vorsehung ist, sondern im Gegen
teil Über-kommenheit [s ur-venance], Überraschung und Zurück
setzung zum »Kommen« als solchem, zur Zu-kunft. »Selbst« ist
weder vergangen gegeben noch zukünftig gegeben: es ist das
Präsente der Ankunft , das präsentierende Präsente, das Zu-s ein
kommende und derart zum Sein kommende. Dort, wo es kommt,
ist dies also nicht »an sich« wie im Inneren eines disponierten Be
reichs, s ondern es ist »bei-sich«. 80 Bei sich: im Abstand der Dis
Position, im allgemeinen Element von Nähe und Sichentfernen,
die sich an nichts messen lassen, da nichts als Fixpunkt der
Ipseität gegeben ist (vorh er, nachher, außerhalb der Welt) , und
die sich folglich an der Dis-Po sition selbst messen lassen.
Auf Anhieb , auch wenn man sie in der Art eines einzigen und
solitären »Selbst« betrachtet, ist die Struktur des »Selbst« Struktur
des »Mit« . Der Solipsismus, wenn man diese Kategorie verwen
den will, ist singulär plural . Jeder ist bei-sich insofern und weil
er bei-anderen ist. »Wir« sind also zuerst die Miteinander: weder
als versammelte Punkte noch als aufgeteiltes Zusammen, son
dern als ein Mit-ein-ander-sein. Das Mit-sein ist genau dies e s :
d a ß d a s Sein, oder vielmehr, d a ß sein sich weder a l s gemei nsame
Resultante der Seienden versammelt noch sich als ihre gemein
same Substanz aufteilt . Sein ist nichts Gemeinsames , so ndern
80. »Bei sich« * : Man müßte einmal zumindest ab Hege! das fo rtlaufende Zu
sammenvorkommen, die gegenseitige Verstrickung und den Abstand in der
grundlegenden Struktur des »Selbst«, des »an sich«, des »bei sich« und des »an
sich selbst« aufnehmen. Das » Für sich«, wo es ankommt und wenn es an
kommt, ist davon nur die Resultante.
1 46
nichts als der Abstand, wo sich das Gemein-same dis-poniert und
mißt, das heißt das Mit, das Bei-sich des Seins als solchem, das
von seiner eigenen Transitivität von Teil zu Teil überschrittene
Sein: Sein, welches alle Seiende ist, nicht als ihr individuelles
und/oder gemeinsames »Selbst«, sondern als die Nähe, die sie
auf Abstand hält.
Die Seienden berühren sich : sind in Kon-takt miteinander, dis
ponieren und unterscheiden sich derart . Das Seiende, das man
sich nicht unterschieden vorstellen möchte, nicht-disponiert,
wäre tatsächlich ununterschieden, und indisponibel: eine abso
lute Leere des Seins . Deshalb ist die ontologische Instanz oder
die ontologische Ordnung notwendig: »Sein« ist nicht das Sub
stantiv des Bestehenden [consistance], es ist das Verb der Dispo
sition. Nichts besteht , weder »Materie« noch »Subj ekt« . »Materie«
und »Subjekt« sind tatsächlich, man versteht es, nur die beiden
ein-ander korrelierenden Sub stantive, die im Modus des B este
henden auf die ursprüngliche Verräumlichung der allgemeinen
ontologischen Dis-Position verweisen.
»Das-da-sein« (Dasein *) ist also Sein entsprechend dem transi
tiv verbalen Wert der Dis-Position: Das-da-sein heißt das Sein
selbst dis-ponieren, als Abstand/Nähe , heißt die Ankunft von al
lem mit allem als solchem s ein »lassen« oder »zulassen« . Dasein *
(der Mensch als Exponierender des Seins) exponiert derart das
Sein als Sein.
Es tritt j emand in ein Zimmer ein; bevor er das eventuelle Sub
j ekt einer Repräsentation dieses Zimmers ist, disponiert er sich
selbst in ihm und zu ihm, und so, wie er es durchquert, bewohnt,
besucht, usw . , er exponiert davon die Disposition - die Korrela
tion, die Kombination, den Kontakt , die Distanz, das Verhältnis
von all dem, was das bzw . was in dem Zimmer ist, also des Zim
mers selbst. Er exponiert die Simultaneität, von der er im Augen
blick selbst der nehmende Teil ist und worin er sich exponiert,
soweit er sich exponiert und soweit er dort exponiert ist. Er ex
poniert sich: Auf diese Weise ist er »selbst« , das heißt , daß er es
ist - oder daß er es wird - , sooft und j edes Mal wenn er in die
1 47
Disposition eintritt . Dieses »jedes Mal« ist nicht die Erneuerung
der Erfahrungen oder der Umstände eines und dess elben Sub
j ekts : Soweit »ich« »der Selbe« bin, bedarf es immer eines ande
ren Mals, wo ich mich entsprechend j ener »Selb stheit« dispo
niere. Was seinerseits impliziert, daß ein anderes Mal im
allgemeinen, das heißt, daß andere Male unbestimmt nicht nur
möglich, sondern wirklich sind: D as »j edes« des »j edes Mal« -
das Statt-finden des da und als da ist impliziert, nicht in erster
-
1 48
»Mit« ist weder unmittelbar, noch vermittelt. D er Sinn, den wir
verstehen, so wie wir ihn verstehen, ist nicht das Produkt einer
Negation des Seins , das dazu bestimmt ist, es uns als Sinn zu re
präsentieren, und es ist auch nicht die reine und einfache eksta
tische Bekräftigung seiner Präsen z . »Mit« verläuft nicht vom
Selbst zum Anderen, noch vom Selbst zum Selbst, noch vom An
deren zum Anderen . In gewisser Weise »verläuft« »mit« nicht ,
setzt keinen Prozeß in Gang. Aber da ist das Zusammenvorkom
men, die Berührung und das Sich-kreuzen, das In-etwa der ent
fernten Nähe. Sobald wir versuchen, es zu bewerten, b ietet sich
uns ein verhuschtes, verstörtes Zusammenvorkommen (so, als
würden wir auf dem Markt, i n einem B ahnhof oder auf dem
Friedhof fragen, was von j enen hunderten Leuten, ihrem Han
deln und ihrer Trägheit der Sinn und die Werte sind) . Aber der
Sinn des »Mit« - oder das »Mit« des Sinns - kann nur in und
durch das »Mit« selbst bewertet werden, in einer Erfahrung, die
nichts von sich selbst, von ihrer singulären Pluralität abziehen
kann. Wir verstehen , indem wir uns verstehen, daß es nichts zu
verstehen gibt - aber dies heißt präzise: daß es keine Aneignung
des Sinns gibt, weil der »Sinn« die Teilung des Seins ist. Es gibt
keine Aneignung, folglich gibt es keinen Sinn. Dies genau ist un
ser Verständni s . Es handelt sich dabei nicht um eine dialektische
Operation (derzufolge »nichts zu verstehen« »alles zu verstehen«
hieße) , es handelt sich auch nicht um ein Sich-versetzen in den
Abgrund (das Nichts des Verstehens selbst zu verstehen) , noch
um eine Reflexivität (verstehen, um für alles Verständnis zu ha
ben, damit wir uns verstehen) - sondern all dies zusammen auf
andere Weise neu aufgeführt: als Ethos und als Praxis .
Um es in Kantschen Worten zu sagen , wenn die reine Vernunft
aus sich heraus praktisch ist (und nicht in Bezug oder mit Rück
sicht auf irgendeine transzendente Norm) , dann deshalb , weil sie
ihrem Wesen nach »gemein (sam) e Vernunft« ist; was heißt : das
»Mit« als Vernunft, als Grundlage . Es gibt keinen Unterschied
zwischen Ethik und Ontologie: die »Ethik« exponiert, was die
»Ontologie« disponiert.
1 49
Unser Verständnis (des Sinns des Sein) ist ein Verständnis, daß
und weil wir es - in einem Zug - uns teilen: mit allen, gleich
zeitig, alle, Tote und Lebende und alle Seienden.
1 50
Anhang:
Der Titel mag lächerlich klingen, aber das nehme ich in Kauf.
Ich will damit die Aufmerksamkeit auf das folgende Problern len
ken: Dem Heideggerschen Dasein * , das man im Französischen
unter »l'Etre-la« sofort wiedererkennt, haftet per definitionern die
konstitutive oder ursprüngliche Eigentümlichkeit an, in identi
scher Weise »Etre-avec« oder Mitsein * zu sein. Genau genom
men führt Heidegger auch den Terminus Mitdasein * ein. Bei ei
nem Leser, der sich nicht regelmäßig an die Lektüre von Sein und
Zeit macht, stößt letzterer sicherlich auf keinerlei Resonanz, und
die Resonanz auf den vorhergehenden dürfte ziemlich schwach
sein . Obwohl beide im Text dieses Werks durchaus angezeigt
und wiederholt werden, kommen sie in dem Bild, das von sei
nem »System« oder seiner »Ökonomie« an die Oberfläche dringt,
gewöhnlich nicht vor (von D asein abgesehen, im Gegensatz zu
»Sorge«, »Angst«, »Welt« , »Sein-zum-Tode« , usw . ) . Dies ist kein
Zufall, sondern ein Umstand, der dem Text selbst geschuldet ist,
in dem für diese Termini, auch wenn sie vorhanden sind, bei
weitem nicht die Analysen aufgeboten werden, die nötig wären
und sich an Ausf:ührlichkeit und Akribie mit denen der H auptbe
griffe messen könnten. Und doch sind Mitsein * und Mitdasein *
im Wesen des Daseins * als mitwesentlich gesetzt, d. h. in ihrer
Eigentümlichkeit des Existierens, wo das Sein nicht ontologische
Grundlage ist, sondern von seinem eigentlichen Seinssinn aus als
eigentlicher Sinn des Seins ins Spiel gebracht wird .
Das Mitsein und genauer: das Mitdasein bildet also eine We
sensbedingung für dieses Wesen des D aseins . Wie? Eben dies ist
nicht gerade leicht freizulegen wegen der Grenzen der Analyse,
die der Text aufweist (und dem, wie hinzuzufügen ist, das spä-
1. Das französische Original »L' etre-avec de l' etre-la« ist erschienen in: lieu
dit. Revue, Nr. 1 9 , Lyon , Oktober 2003.
151
tere Werk Heideggers praktisch keinerlei zusätzliches Element
hinzufügt, auch wenn er das fragliche Motiv nicht völlig aus
läßt .) Warum stößt man hier auf Widerstand, und warum bleibt
dieser Punkt vergleichsweise dunkel? Warum bietet die Analytik
des Daseins den Zugang zu einer ihrer wesentlichen Dimensio
nen nicht ausdrücklich und vertieft auf?
1) Dasein *
1 52
formt. (Lassen 1 entschließen: zwei Seiten, zwei Möglichkeiten
oder zwei Aspekte ein und derselben Exposition. Es h at das sin
guläre »Da« einer eigenen Art zu sein, etwas in die Welt zu set
zen, d.h. eine Totalität des Sinns herzustellen oder zu ihr hin zu
eröffnen. Insgesamt konstituiert das Da * des Seins * seine Expo
sition. Man kann also sagen : Dasein * ist eine singuläre , einzig
artige Möglichkeit, einen Eigensinn der Welt und/oder die Welt
eines Eigensinns sich eröffnen zu lassen (zu tun und zuzulas
sen) . Die wesentliche Eigentümlichkeit dieses Sinns ist, daß sein
letzter Sinn die eigene Nichtung ist. Der Tod, die Beendigung die
ses Da * , ist ebenso sehr dieses Da *, das zu nichts mehr eröffnet
außer zur eigenen Offenheit. Sich diesem Horizont, der gerade
kein Horizont ist , diesem endlichen horos eines unendlichen
apeiron a-qszusetzen, gerrau dies ist das Ansinnen des Ansin
nens. Insgesamt heißt das, meines aus dem zu machen , was es
nicht sein kann, oder mich zur und von der Spitze der Jemeinig
keit ent-aneignen [desapproprier] zu lassen (die verkehrte Ver
sion des Hegeischen Tods) .
1 53
des Volks einher. Und ebenfalls um es herum wurde über 1 93 3
hinaus eine Erklärung weiterverfolgt die mit dem Nazismus eng
zusammenhängt . Dem wurde zwar abgeschworen , doch die Er
innerung an ihn hält sich im Zusammenhang mit einem höheren
Denken von Volk und Geschichte hartnäckig. Davon zeugen die
Texte der Beiträge und der Vorlesungen derselben Jahre.
Wo kommt es also zu dieser so gefährlich entscheidenden Wen
de, und wie, und warum? Diese Frage, das will ich auch s o fort
zu verstehen geben, betrifft nicht nur Heidegger allein. Bei wei
tem nicht. Sie betrifft das Ganze des okzidentalen D enkens und
das , was es im allgemeinen zu fassen oder nicht zu fassen in der
Lage ist, was gerade Heidegger als erster mit solcher Genauigkeit
freigelegt hat: den wesentlichen Charakter des existenzialen Mit
( d . h . das Mit als Bedingung der Möglichkeit der menschlichen
Existenz - wenn nicht gar der Existenz alles Seienden, womit ich
mich hier nicht beschäftigen kann) . Man könnte es s o sagen: S eit
Sein und Zeit ist sichtbar geworden, inwiefern die Ko-Existenz
ein experimentum crucis unseres Denkens bildet.
3) Vom Gemein(sam)en
1 54
doch ohne daß diese in einem einzigen D asein durcheinander
kämen, (wodurch das Mit verloren wäre) ? O der - dritte V ariante
- als einen gemeinsamen Bezug zu einem Da, das sich j enseits
des Singulären befindet (aber was wäre dann ein solches Jen
seits-da?) ?
Wir haben s o gesehen letztlich drei mögliche Modi des »Ge
meinsamen«: banales Zusammenvorkommen (gemeinsam im
Sinne von gemein, gewöhnlich) , das Gemeinsame als geteilte Ei
genschaften (Beziehungen , sich Kreuzendes, Mischungen) , das
Gemeinsame als eigene Instanz, insofern verbindend oder kollek
tiv.
Anders ausgedrückt haben wir an den beiden äußeren Enden
reine Äußerlichkeit und reine I nnerlichkeit, während man uns
zwischen den beiden eine andere Ordnung nahelegt , die schwer
zu benennen ist. Nun muß sogleich bemerkt werden, daß die bei
den äußeren Ordnungen a priori zumindest potentiell gegen das
Prinzip der Wesentlichkeit des Mit verstoßen. Denn die erste
scheint in das einfache Nebeneinander der Dinge zurückzu
fallen, während die letztere die Form einer Gemeinschaft als Da
sein * j enseits der Einzelnen anzunehmen scheint. Was in Sein
und Zeit in Bewegung kommt, ist tatsächlich diese doppelte Po
tentialität, und zwar genau in dem Maß, wie die dazwischen
liegende Ordnung in diesem Werk darunter leidet, was auch in
der Folge des Werks so bleibt.
(Nebenbei in Klammern: Wenn ich hier das Wort »Ordnung«
[n?gime] benutze, dann beabsichtige ich durchau s , dabei auch
seine politische Bedeutung anklingen zu lassen. Die erste Ord
nung entspricht der Demokratie oder zumindest der Vorstellung,
die der Autor von Sein und Zeit ebenso wie viele andere in seiner
Zeit davon haben, die letztere entspricht dem, dessen Erwartung
in derselben Zeit mehr oder weniger sichtbar zu der einen oder
anderen Form des »Totalitarismus« neigt . Dadurch will ich unter
streichen, daß die Politik hier als Resultat, nicht als Grund, einer
fundamentalen Veranlagung des Denkens oder der Kultur im
Zeitalter des »Unbehagens« in ihr in Erscheinung tritt, und daß
1 55
man vor allem nicht vergessen sollte, wie sehr sie dieser Zeit
gemein ist und bis heute fortbesteht. )
Allerdings sind - um j etzt einen Blick a u f das weitere Werk v o n
Heidegger z u werfen - nach Sein und Zeit d i e meisten Motive der
»existenzialen Analytik« nicht mehr vorhanden, und Heidegger
wollte der grundlegenden Verfaßtheit seines Denkens eine »Keh
re« geben (nicht mehr vom Menschen zum Sein, s ondern vom
Sein zum Menschen) . Da aber ist es umso frappierender, daß
sich in dieser Folge des Werks unschwer die zumindest latente
und manchmal ausdrückliche Präsenz des »Volks« aufweisen
läßt (zum Beispiel durch die »Begründungen«, die insbesondere
Der Ursprung des Kunstwerks nahelegt , oder durch H ölderlin und
die Motive der Poesie und der Sprache insgesamt genommen -
unterstützt durch die in den Beiträgen zum Ausdruck kommende
Idee, daß »das Volk eine Stimme« ist) . In symmetrischer Weis e
könnte m a n o h n e Mühe zeigen, d a ß d a s Thema d e s Gemein-Vul
gären, ohne daß es neuerlich im Namen des »Man« thematisiert
würde, sich durch so einige Analysen der Technik hindurchzieht
und sie durchdringt (allerdings nicht alle, was auch wiederum
entwickelt zu werden verdient) .
4) Denkmangel
1 56
den Lacoue-Labarthe als »Erzfaschismus« bewertet und in dem
das Individuum nichts zählt, außer daß es weitergereicht (da
zu bestimmt? geopfert?) wird zur Geste und Legende einer ge
meinsamen Grundlegung und Eröffnung, d . h . auf der Ebene des
Schicksals und der Kultur . Dies ist w ahr, es ist aber nicht weniger
wahr, daß kein anderes Denken zuvor mehr in das Rätsel des
Mit-seins eingedrungen ist, und daß es weder im U mkreis von
Heidegger noch in der heutigen Zeit einen Gegenstand des Den
kens gibt, der mehr darunter leidet als dieses Rätsel (das genau
deshalb ein Rätsel ist, weil das D enken es seit ziemlich l anger
Zeit zu sich auf Distanz hält) . Heutzutage zeugen der Verfall der
Politik ebenso wie das Wiederauftauchen aller Arten von Kom
munitarismen seit mindestens zwanzig Jahren von einem be
trächtlichen Denkmangel in dieser H insicht . Und dieser M angel
sagt sicherlich viel aus über die grundlegende Verfaßtheit u nse
rer gesamten Tradition: Zwischen zwei Subj ekten, wovon eines
»die Person« und das andere »die Gemeinschaft« ist, gibt es für
das »Mit« keinen Platz, noch in allgemeinerer Weise für das, was
kein »Subj ekt« (im Sinne einer Selbstkonstitution) ist, ohne des
halb ein bloßes Ding zu sein (im Sinne von schlicht nebeneinan
der gestellten Dingen, dem Sinn von Mit entsprechend, den Hei
degger gerade vermeiden will) .
Deshalb will ich in schematischer Weise auf die Ökonomie von
Sein und Zeit zurückkommen und untersuchen, wie zwischen
Man und Volk das Mit sich entblößt , fehlgeleitet oder verdrängt
fühlen konnte.
Nehmen wir die Untersuchung des Man wieder auf. Dieses ver
körpert den uneigentlichen (»impropre« , im Französischen allzu
oft mit »inauthentique« übersetzten) Modus des Mit-seins: Die
gemein (sam) e Existenz im Sinne des »Banalen« . Da verhält man
sich wie jedermann, und Unterschiede des Werts (Adel, Größe
1 57
usw . ) werden verwischt oder nivelliert . Wir brauchen uns bei
dieser bekannten Beschreibung nicht aufzuhalten.
Dagegen muß folgendes unterstrichen werden :
Während die eigentlichen * Modalitäten des Daseins * im Werk
sehr rasch freigelegt werden, läßt der eigentliche Modus des Mit
seins sehr viel länger auf sich warten (fünzig Paragraphen) und
wird dann als Historizität oder Geschichtlichkeit präsentiert . Das
Man ist nicht geschichtlic h , und daraus folgt, daß, weil es bloß
alltäglich ist, die Alltäglichkeit sich als eine solche entpuppt, die
einen Fehler der Geschichtlichkeit aufdeckt , der erst viel später
offenkundig gemacht wird . Dann aber muß die Geschichtlich
keit , um sich durchzusetzen, mit der Alltäglichkeit brechen . Die
Schwierigkeit, die alltägliche Existenz auf sich zu nehmen - was
auch die Schwierigkeit ist zu akzeptieren, daß sich das Alltäg
liche um das Je-meinige * des Daseins * kümmern könnte - bildet
einen prinzipiellen Widerstand, worin den roten Faden in der ge
samten Tradition wiederzufinden nicht schwer ist .
Denn wie könnte sich das Gewöhnliche zum Sinn, zum Wert
oder zur Wahrheit erheben? Aber auch: Wie einen Sinn , einen
Wert oder eine Wahrheit annehmen, die sich des Gewöhnlichen
nicht annimmt ? Dieser double bind ist nirgends so greifbar ge
worden wie bei Heidegger, auch wenn er ihn nicht als solches in
Angriff nimmt . Er erklärt j edoch mehrmals, daß das Eigentliche
nicht im Entfernen des Uneigentlichen liegt, sondern in einer mo
difizierten Fassung der Welt des Uneigentlichen selbst . . .
Ein Hinweis in Richtung eigentliches Mit-sein ist uns dennoch
gegeben. Im § 26 wird die spezifische Art der Beziehung des
Mit analysiert : das »Besorgen, oder »sich sorgen um« , die »Für
sorge * « . »Besorgen« unters cheidet sich von »benutzen« , das die
Art des Bezugs zu den seienden Nicht-Dasein bildet . (Nebenbei
bemerkt : Einerseits bleibt die Trennung zwischen menschlichem
Seienden und anderen Seienden ebenso deutlich und dicht wie in
jedem anderen klassischen Denken, und andererseits ergeht sich
die Beziehung zur »Natur« in Anspielungen und bleibt auswei
chend. Diese doppelte Bemerkung macht zu gegebener Zeit ge-
1 58
wisse Folgerungen erforderlich, die auf unser derzeitiges Thema
verweisen: sprich auf das, was das Mit umstandslos mit einer
Trennung in Verbindung bringt, die ich mit Verlaub als ontolo
gisch hochnäsig im Umgang mit der Welt des sogenannten einfa
chen und platten Zusammenvorkommens der Dinge bezeichne .
Aber hier ist nicht der Ort, um diesen Aspekt zu entwickeln . )
Es gibt zwei positive Arten d e s »Besorgens« (die negativen Ar
ten der Zurückweisung oder Verweigerung anderer bestätigen es
nur: Selbst im Modus des Negativen bleibt dem Mit der Status
des Wesentlichen. Einsamkeit und Rückzug seien auch Modi des
Mit, präzisiert Heidegger) . Die erste Art besteht darin , zu b esor
gen oder an der Stelle des Anderen sich zu sorgen und ihm so die
Mühe der Sorge zu ersparen. Die Hilfe entlastet den anderen von
seiner eigenen Sorge : Sie ist enteignend. (Wie man oft hervorge
hoben hat, steht hier unter anderem »Sozialhilfe« im H orizont
der Heideggerschen Entwertung, was schon einer gewissen poli
tischen Tonlage entspricht) .
Die zweite Art besteht dagegen darin , den Anderen in seine ei
gentliche Sorge oder i n die Eigentlichkeit seiner Sorge zurück
zuversetzen: d . h . in die Logik seines Seins als existentielle Ent
schlossenheit, eine Entschlossenheit also , die sich für einen
eigentlichen Einsatz des Sinns des Seins entschließt. (Man kann
hier auf eine zumindest erhellende Analogie zurückgreifen , die
im günstigsten Fall vielleicht sogar andere Entwicklungen nahe
legt: Der Unterschied zwischen den beiden Arten der Fürsorge *
gleicht demj enigen, der trennen soll zwischen der psychologi
schen Therapie und der psychoanalytischen Beziehung , wie sie
insbesondere ausgehend von Lacan begriffen wird .)
Wie kann man sich vor die Entschlossenheit und die Eröffnung
des anderen bringen, insgesamt genommen vor sein Da * um
-
1 59
Nicht-Äußerlichkeit zwischen den Existierenden (und nicht zwi
schen den bl oßen Seienden) folgen . Das der Existenzialität ge
mäß begriffene Mit muß also als die Natur eines sehr besonderen
Raums ausgearbeitet werden - wobei das Wort »Raum« hier zu
gleich im eigentlichen Sinne verstanden wird , denn die Existie
renden sind auch Körper , ausgedehnte Seiende , und dies in ei
nem übertragenen Sinne, der auf folgende Frage antwortet : »Was
geschieht zwischen uns ?« (Freilich, wie soll man hier eigentli
chen und übertragenen S inn trennen? Das wäre eine weitere
Frage, bei der sich im übrigen die Problematik des Eigentlichen
verdoppeln würde. Auch sie lassen wir im Augenblick beiseite .)
Die Frage des »unter/zwischen uns«2 - die in der Tat die Frage
nach einem »Zwischen« ist, demzufolge es dann ein »Uns« geben
kann - stellt sich hinsichtlich zweier Möglichkeiten, die sich aus
dem Text von Heidegger ergeben: Auf der einen Seite findet man
gemeines Besorgen, das sich nach einer äußerlichen Aufgabe
richtet (wobei die eine durch die andere ersetzt werden kann) ,
auf der anderen muß sich ein » Sicheinsetzen für dieselbe Sache« *
zeigen , das von j edem Existierenden als eigentlichem ausgeht .
Einerseits bleibt das Mit in der Äußerlichkeit - die selbst gemein
in den beiden Bedeutungen des Wortes bleibt -, auf der anderen
Seite wird es in eine Gemeinschaft verwandelt , die im Bezug zu
einer einzigartigen Sache oder Anliegen steht . Einerseits einfache
Kooperation, andererseits Miteigentlichkeit [copropriation]. Ei
nerseits alltägliches Besorgen , andererseits Fürsorge : was auch
darauf hinausläuft, daß wirklich besorgtes, fürsorgendes B esor
gen sich nur auf der zweiten Seite der beiden Möglichkeiten fin
det .
1 60
6) Vom Tod zum Geschick
Bevor wir viel später erfahren, daß diese Sache und dieses An
liegen nichts anderes ist als das Volk als gemeinsames Geschick
oder Mit-Geschick, durchlaufen wir den zentralen und berühm
testen Teil des Werks , den langen Weg der existenzialen Analytik
entlang der Sorge, der Angst, der Entschlossenheit und der Ex
position seines Seins gegenüber seinem eigenen E insatz . Um es
kurz zu machen und wie man weiß , handelt es sich u m den Ein
satz des eigenen Selbst in seiner l etzthinnigen Möglichkeit, die
sich als die Unmöglichkeit erweist, dieses Eigentliche zu setzen,
indem es aufhört, es auszulegen und es sich anzueignen. Der
Tod bringt die Verlassenheit von j eder Art des eigentlichen S inns
des Seins (man könnte sogar s agen, des Sinns i m allgemeinen)
und verkörpert die Befreiung vom uneigentlichen Willen zu ei
nem solchen Sinn.
Ein solcher Tod unterscheidet sich vom A bleben: Dieses ist von
sich aus lediglich das gemeine Schicksal, daß das Leben endet .
Aber der Tod erschließt eine höhere Möglichkeit : die Expo sition
des Existierenden aufrecht zu erhalten bis in seine Auslöschung
hinein. Darin ist sie strikt eigentlich, und nichts kann an die
Stelle meines Todes treten. Das »Besorgen« kommt hier an seine
Grenze . Oder wir sehen vielmehr besser, wie das Höchste der
Sorge um den Anderen darin besteht, ihn auf seinen eigenen Tod
zurückzuverweisen. Auf eine Art, die ebensowenig ausgeführt
(genauer gesagt : nicht einmal gestreift) ist, handelt es sich da
rum, am Anderen seine eigentlichste und am meisten unveräu
ßerliche Eigenschaft des Sterbens auszuzeichnen.
Sich für die Freiheit zu entschließen oder eigentlich in die Frei
heit des »Seins-zum-Tode« verwiesen zu sein, derart verstanden
als wesentliche Endlichkeit, das heißt als Unendlichkeit der Ex
position, dies ist der Sinn des Einsatzes des Sinns des Seins, der
das Existierende ist, und dies j edes Mal eigentlich für es selbst
auf einzigartige und unteilbare Art . Mein Tod ist das, wofür kein
anderer meine S orge durch seine ersetzen kann . Der Andere
161
kann sich nur darum sorgen, mich auf meine Sorge zurückzuver
weisen: Aber noch einmal , die Natur einer solchen Operation ist
nicht dargelegt. Wie dem auch sei , der Ausgang ist derselb e : d i e
absolute Einsamkeit im Tod . Auf dieser Ebene gibt es a l s o e i n e
wesentliche Beschränkung a u f das Prinzip d e r Wesentlichkeit
des Mit. Dies freilich ist in solchen Termini durch Heidegger nie
ausgeführt worden .
D och lehrt uns später der § 74, daß das Existierende entspre
chend dieser strikten Isolierung seines Todes noch nicht auf der
Höhe des Geschicks ist, und es hat - parallel und ergänzend -
auch noch nichts getan, was einem eigentlichen »Mitdasein« ent
spräche. Im G egenteil, die Freiheit zum Tode ereignet sich stän
dig auf der Grundlage des stets uneigentlichen Mit-seins . Man
verscheidet gemeinsam, während ich alleine sterbe. Wenn vom
Tod nichts geteilt wird, bleibt alles um ihn in der Äußerlichkeit
(so wie der Leichnam zurückkehrt in das materielle Nebeneinan
der der Dinge) .
Etwas anderes ist es j edoch, wenn man zur Höhe und Intensität
des Geschicks Zugang gewinnt (wenn man die Fähigkeit des Zu
gangs erwirbt - aber über eine s olche Fähigkeit wird nichts ge
sagt) . Geschick bedeutet geschickt werden zu, in Richtung von
gewissen Möglichkeiten, die nicht mehr vom Rang der höchsten
Möglichkeit des Existierenden allein sind, sondern durch die eine
Geschichte stattfindet (Geschick, Geschichte) . Geschichte heißt:
Nicht -Alltäglichkeit.
1 62
d.h. sein Entschlossen-sein sich vergegenwärtigen mittels dieser
Kontingenz. Es ist dann schicksalhaft * , für das S chicksal qualifi
ziert. Ein Geschick erhält es dadurch noch nicht. Man könnte s a
gen, daß es geschickträchtig ist, ohne bislang noch geschickt
oder geschickhaft zu sein.
Heidegger schreibt im § 74: »Wenn aber das schicksalhafte D a
sein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen exi
stiert, ist sein Geschehen * [Geschehen ist auch ein Wort für Er
eignis] ein Mitgeschehen * und b estimmt als Geschick.« In dieser
Ordnung also, als Ordnung eines wesentlichen Mit, verwandelt
sich das Ereignis vom Schicksalsschlag zum geschickhaften Er
eignis. Und was diese Transformation möglich macht, ja sie aus
führt, ist genau die Dimension des wesentlichen Mit.
Heidegger fährt fort: Mit dem Wort Geschick »bezeichnen wir
das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes . Das Geschick setzt
sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das
Miteinander als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subj ekte
begriffen werden kann.« (Hier wird in einer Fußnote ein Bezug
zum § 26 hergestellt, in dem das Prinzip des wesentlichen Mit als
unterschieden vom Nebeneinander gesetzt wurde) . »Im Mitein
andersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für be
stimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon
geleitet . In der Mitteilung * und im Kampf* wird die Macht des
Geschickes erst frei . «
Es gibt also keinen Übergang v o m Man z u m Volk, während zu
gleich das Man und das Volk sehr deutlich als die beiden Seiten
des Mit-seins erscheinen: die uneigentliche und die eigentliche.
Von der einen zur anderen gibt es folglich keinen Übergang, und
nichts erlaubt die Modalität eines »veränderten Aufgreifens« des
uneigentlichen Mit durch das eigentliche Mit zu umreißen.
Das Man bleibt uneigentlich, denn es steht in der reinen Äußer
lichkeit und jeder bleibt dort seinem einzigartigen Schicksal ge
genüber ausgeliefert oder offen, einzigartig als eigentlicher Tod
und b anal als das gemeine Aufhören des Lebens . Das Volk ist
eigentlich, denn in ihm oder als es läuft sich das Mit als das Ge-
1 63
rr
1 64
8) Zwischen dem Eigentlichem und dem Uneigentlichem
1 65
Wenn dem so ist, dann kann es weder das bloße Man noch das
bloße Volk sein , das dieser Bedingung entspricht . Nun ist sie
aber durchaus die existenziale Bedingung eines Mit-seins, das in
der Verfaßtheit des Existierens nicht bloß sekundär ist, sondern
wirklich und wesentlich mitursprünglich im Existierenden .
So sehr Heid egger, und zwar mit b esonderer Dringlichkeit , die
Ursprünglichkeit des Mit in seiner Notwendigkeit wahrgeno m
men hat (er ist wohl der erste, der seit dem Verhältnis der be
gründenden Bewußtseine im Hegeischen Subj ekt diesen Punkt
so klar gesehen hat) , so sehr hat er die Möglichkeit, die er er
schlossen hat , selbst unterdrückt : das Mit genau seinem Hinweis
entsprechend zu denken , sprich weder äußerlich noch innerlich .
Weder Masse, noch Subj ekt. Weder anonym noch »j e-meinig« .
Weder uneigentlich noch eigentlich. Grenze, Sackgasse und Um
leitung finden sich also genau am Ort eingeschrieben , und zu
gunsten einer Öffnung des Textes von Sein und Zeit selbst .
Im gleichen Zug wird auch der Tod, dem Heidegger das Dasein
oder das Seiende zugeordnet hat, unterdrückt oder dialektisiert,
und zwar erschlichenermaßen. Sprich im Geschick wird wider
Willen die Unendlichkeit des Endes oder die absolute Endlich
keit , die der »Tod« bedeutet (oder vielmehr nicht-bedeutet) in ge
wisser Weise sublimiert , aufgewertet und heroisiert . Ganz uner
wartet erweist sich das »Sein-zum-Tode« so als geschickt. Denn
gefaßt in seiner Eigentlichkeit der Gemeinschaft und nicht in sei
ner Uneigentlichkeit des Man, ist es nun das wesentliche Mit, das
j edes Existierende bis zu einer möglichen Geschichtlichkeit hin
geleitet, mitnimmt und entführt und ihm eine Art Überexistenz
zusichert ; sie ist als solche im Text sicherlich versteckt , aber
zwingend deduzierbar aus dem Gegensatz von Geschichtlichkeit
der Gemeinschaft und uneigentlicher Ges chichte der Alltäglich
keit .
1 66
Diese Überexistenz - ich nenne sie so in Analogie zu dem Über
wesen, das dem Gott der negativen Theologie zugesprochen wird
- findet im § 75 ihre Bestätigung, wo Heidegger der Kontinuität
und Gliederung des Lebens in der Ordnung des Man die Augen
blicksnatur einer »Lösung« gegenüberstellt, in der sich die wahr
hafte »Treue [ . . . ] zum eigenen Selbst« [§ 75 , S. 39 1 ] ereignet.
Diese Treue zu sich selbst »stabilisiert« sich nicht in der Konti
nuität eines Gelebten, s ondern gemäß der Augenblicklichkeit ei
ner Lösung (im Unterschied zur I nstabilität des Man) und macht
sich derart »augenblicklich [ . . . ] für das Welt-Geschichtliche« [§
75 , S. 39 1 ] . Hier muß man dann begreifen, daß »die Entschlos
senheit als Schicksal 3 [ . . . ] die Freiheit für das möglicherweise si
tuationsmäßig geforderte A ufgeben eines bestimmten Entschlus
ses« [ebd.] ist. Anders gesagt ist das Opfer des Aufgebens das
letzte Wort der Vereinigung i m Augenblick des einzelnen Seins
zum-Tode und des Gemeinsam-seins-zum-Geschick. Entspre
chend besteht das eigentliche Besorgtsein um den Anderen darin,
ihn zu exponieren oder ihn diesem Opfer auszusetzen. Ein sol
ches Opfer, oder die Dialektik, können wir nach Bataille nur wie
derholen . . .
Später, nach der Naziepisode, spricht Heidegger in seinem
Kommentar zum Hölderlinhymnus »Der Rhein« von der Gemein
schaft der Soldaten an der Front, während er zugleich vom
Thema des Daseins * und mehr noch von dem des Mitdaseins *
weitgehend abgelassen hat . Tatsächlich kann man in den Beiträ
gen sehen, daß er das erste Thema fortführt, ohne das zweite
wiederaufzunehmen , wobei sich gleichzeitig ein neuerliches
Festhalten am Volk zeigt , das bemüht ist, diesem eine Wendung
zu geben, die der des Nazismus entgegengesetzt ist (kurz gesagt ,
das Volk als »Stimme« und nicht als »Rasse) . Anders ausgedrückt
hat Heidegger - auch über j ene Periode des Krieges hinaus, wie
1 67
ich flüchtig angedeutet habe - am Bemühen festgehalten , ein Mit
zu denken , das auf der Höhe j ener Wesentlichkeit steht, mit der
er es versehen hatte.
Ich werde die Analyse, von der ich nur das Prinzip darlegen
wollte, hier nicht weitertreiben. Ich will im Augenblick nur auf
die andere Form der Analyse hinweisen, die sich von hier aus
aufdrängt . Diese andere Ordnung muß weit über Heidegger hin
ausgehen , aber von ihm ausgehen, denn vor allem sollte man es
sich verbieten , etwas, das sowohl die - unverzichtbare - Wesent
lichkeit des Mit als auch die - gefährliche - Geschickhaftigkeit
der Gemeinschaft eng verschlungen in sich enthält, gleich en
bloc zu verwerfen. Man muß sich also die folgende Frage stellen:
Warum dieser Sprung des Mit in ein so begriffenes Volk?
1 68
mit den Rationalismen des Fortschritts und die dann schlicht ver
doppelt wurde durch die Katastrophenszenarien des Verfalls .
Wie man weiß, gibt es bei Heidegger eine Sicht der Ges chichte
(des Seins) , die zur Vollendung kommt und die sich in einer letz
ten Schickung erschöpft , die dem endgültigen »Seinsvergessen«
gilt, also dem Sinn, o der dem Sinn seines Sinns. In gewisser
Weise geht es dabei im Positiven wie im Negativen immer um
einen Hegelianismus im überkommensten Sinne des B egriffs .
Aber das bedeutet, daß das Sich-voraus-sein des Ek-sistieren
den anders denn als Geschick zu denken bleibt, d . h . sehr genau
als Aus-legung oder Ex-position, und diese Ex-position selbst als
Mit-Exposition, als Exposition des und hin zum wesentlichen Mit
seiner Ko-Konstitution. Dies bleibt in der Tat die Aufgabe, die
weder Opfer, noch Gemeinschaft, noch Tragödie, noch H eil lösen
können. Auf paradoxe Weise ist H eidegger selbst hinter seiner ei
gentlichen Forderung zurückgeblieben. Aber dieses Paradoxon
ist der gesamten Philosophie auf b anale Weise gemein . . .
1 69
Tod hin nicht als Opfer gefaßt ist, sondern als Teilung zwischen
uns , unter uns, der Ewigkeit j eder Existenz.
Denn wenn sich Chance und Risiko des Existierens genau am
Ort des Mit zeigen, dann muß man auch, und zwar weiterhin im
Einklang mit dem Heideggerschen Paradoxon, daran festhalten,
daß dies der Ort des Todes ist. Zwis chen dem unüberwindlichen
Tod des allein Sterbens und dem Opfertod im Kampf für die Zu
kunft des Volks - und im übrigen sogar ohne diese beiden äußer
sten Möglichkeiten einfach auszuschließen -, wie läßt sich da ein
Tod denken, den wir uns teilen? Wie läßt sich der Tod unter uns,
j a der Tod als Mit-Eröffnung des Da selbst denken?
Um genau zu sein, hat Heidegger diese Frage fast gestreift , als
er im Zentrum der Analytik des Seins-zum-Tode den folgenden
Punkt betrachtet hat: Indem das Existierende seine eigentlichste
Möglichkeit ausgehend vom Tod als Ende aller Möglichkeiten be
greift , »bannt das Dasein die Gefahr, [ . . . ] die es überholenden
Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen . « Derart »ver
einzelt der Tod aber nur, um als unüberholb are [Möglichkeit]
das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das S einkönnen
der Anderen .« (§ 5 3 ) . Doch könnte dieses Verständnis der Mög
lichkeiten von anderen - wenn es denn möglich ist, ausgehend
von dieser Passage, die isoliert bleibt, etwas dazu zu sagen -
ohne eine andere Form des Prozesses zum »situationsmäßig ge
forderte [n] A ufgeben eines bestimmten Entschlusses« führen,
wie ich weiter oben zitiert habe? Vermutlich ist auf die »Selbst
aufgabe« im Kontext, der dem § 5 3 unmittelbar vorausgeht, als
auf die »äu ßerste Möglichkeit« verwiesen worden, und der Über
gang , der an die »Möglichkeiten anderer« gemahnt , leitet direkt
auf die des Aufgebens über.
Allerdings ist diese Verkettung nicht deutlich. Es gibt nichts,
was das Aufgeben als privilegierten Modus des »Verständnisses
der Möglichkeiten anderer« explizit macht . Und dies umso weni- ·
1 70
geführt - und wie wir wissen, auch später nicht . Wie kann man
das »Opfer« des Aufgebens begreifen, wenn es nicht an die In
dienstnahme einer geschickhaften Sache gebunden ist, für die
hier die »Möglichkeiten der anderen« keinerlei H inweis geben?
Zwischen dem »Opfer« des Aufgebens und dem »Verständnis der
anderen«, ebenso wie zwischen dem »Volk« und »den anderen
entsprechend dem Mitsein« besteht ein Abstand , der weder an
gezeigt, noch folglich analysiert, sondern vielmehr, mit Absicht
oder nicht, übergangen worden ist . Ein weiteres Mal leidet dar
unter das Mit und das Teilen des Todes.
Koda
171
diese Briefe hier keiner Lektüre unterziehen, was andernorts ge
schehen muß . Aber unerläßlich ist es, festzuhalten, daß die Auf
rechterhaltung der Liebe außerhalb der allgemeinen Sphäre des
Mit, deren Wahrheit sie j edoch verwahrt - eine Aufrechterhal
tung, an der Hannah Arendt selbst ihr ganzes Werk hindurch
festgehalten hat , wo der »amor mundi« die Leidenschafts-Liebe
zweier Existierender ausklammert und nur als Ausnahme behan
delt - Heidegger nicht eigen ist und im Gegenteil ein Axio m des
gesamten Denkens des »Gemeinsamen« in der gesamten Tradi
tion darstellt - in j ener Tradition übrigens, die in ihrer Struktur
dem christlichen Gebot der Liebe ständig gegen-exponiert ist . Un
sere Betrachtungen zu diesem Paradoxon und seinem Geheim
nis sind noch zu keinem Ende gekommen.
1 72
Nachwort des Übersetzers
1 73
uns um der Sache willen für einen enger am französischen Original ori
entierten Stil entschieden, der womöglich zusätzlich zulasten einer
leichten Lesbarkeit geht.
F ü r Hilfen zum Verständnis des Textes, zu zitierten Texts tellen und zu
Varianten der Übersetzung danke ich Clemens Bellut, für tatkräftige Un
terstützung Petra Thöring. Ein besonderer Dank geht an den »Deutschen
Übersetzerfonds e . V . « , der durch das Johann-Joachim-Christoph-Bode
Stipendium wichtige Hintergrundrecherchen für die Arbeit an der Über
setzung ermöglicht, und an Vincent v. Wroblewsky, der sie mit mir rea
lisiert hat.
1 74