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"Denn nachdem die Vernunft über 2000 Jahre, man weiß nicht was?
j e n s e i t s der Erfahrung gesucht, verzagt sie nicht nur auf einmal an der
progressiven Laufbahn ihrer Vorfahren, sondern verspricht auch mit eben so viel
T r o t z den ungeduldigen Zeitverwandten- und zwar in kurzer Zeit - jenen
allgemeinen und zum Katholizismus und Despotismus notwendigen und
unfehlbaren S t e i n d e r W e i s e n , dem die R e l i g i o n ihre
H e i l i g k e i t und die G e s e t z g e b u n g ihre M a j e s t ä t flugs
unterwerfen wird, besonders in der letzten Neige eines kritischen Jahrhunderts,
wo beiderseitiger Empirismus, mit Blindheit geschlagen, seine eigene Blöße von
Tag zu Tag verdächtiger und lächerlicher macht."
"Ein großer Philosoph hat behauptet, daß allgemeine und abstrakte Ideen
nichts als besondere sind, aber an ein gewisses Wort gebunden, welches
ihrer Bedeutung mehr Umfang oder Ausdehnung gibt und zugleich uns
jener bei einzelnen Dingen erinnert." Diese Behauptung des eleatischen,
mystischen und schwärmenden Bischofs von Coyne, GEORGE BERKELEY,
erklärt HUME (1) für eine der g r ö ß t e n u n d s c h ä t z b a r s t e n
E n t d e c k u n g e n , welche zu unserer Zeit in der gelehrten Republik
gemacht worden.
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Zu den v e r b o r g e n e n e G e h e i m n i s s e n , deren
Aufgabe, geschweige ihre Auflösung, noch in keines
Philosophen Herz gekommen sein soll, gehört die
Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von Gegenständen
der Erfahrung, o h n e und v o r aller Empfindung eines
Gegenstandes. Auf dieser doppelten U n - Möglichkeit und dem
m ä c h t i g e n U n t e r s c h i e d e analytischer und synthetischer Urteile
gründet sich die Materie und Form einer transzendentalen Elementar- und
Methodenlehre; denn außer dem eigentlichen Unterschiede der Vernunft,
als eines O b j e k t s oder E r k e n n t n i s q u e l l e o d e r a u c h
E r k e n n t n i s a r t , gibt es noch einen allgemeinen, schärferen und
reineren Unterschied, kraft dessen Vernunft allen Objekten, Quellen und
Arten der Erkenntnis zum Grunde liegt, keines von dreien selbst ist und
folglich auch weder einen empirischen oder ästhetischen, noch logischen
oder diskursiven Begriff nötig hat, sondern bloß in subjektiven
Bedingungen besteht, worunter A l l e s , E t w a s und N i c h t s als
Objekt, Quelle oder Art der Erkenntnis gedacht und wie ein unendliches
Maximum oder Minimum zu unmittelbaren Anschauung g e g e b e n , auch
allenfalls g e n o m m e n werden kann.
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man nachdenkt, desto tiefer und inniger man verstummt und alle Lust zu
reden verliert. "Weh den Tyrannen, wenn sich Gott um sie bekümmern
wird! Wozu fragen sie also nach Ihm? Mene, mene, tekel den Sophisten!
ihre Scheidemünze wird zu leicht gefunden und ihre Wechselbank
zerbrochen werden!
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Ohne jedoch auf den Besuch eines neuen, aus der Höhe aufgehenden,
LUZIFERs zu warten, noch mich am Feigenbaum der g r o ß e n G ö t t i n
D i a n a ! zu vergreifen, gibt uns die schlechte Busenschlange der
gemeinen Volkssprache das schönste Gleichnis für die hypostatische
Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den
gemeinschaftlichen Idiomenwechsel ihrer Kräfte, die synthetischen
Geheimnisse beider korrespondierenden und sich widersprechenden
Gestalten a p r i o r i und a p o s t e r i o r i , samt der Transsubstantiation
[Wesensverwandlung - wp] subjektivischer Bedingungen und
Subsumtionen in objektive Prädikate und Attribute durch die c o p u l a m
eines Macht- oder Flickwortes zur Verkürzung der langen Weile und
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selbst und durch dieses widerholte Band wird dem Verstand eben der
Begriff vermittels des Wortzeichens als vermittels der Anschauung selbst
mitgeteilt, eingeprägt und einverleibt.
Ist es nun möglich, frägt der Idealismus von der einen Seite, aus der
bloßen Anschauung eines Worts den Begriff desselben zu finden? Ist es
möglich, aus der Materie des Wortes V e r n u n f t , seinen 7 Buchstaben
oder 2 Silben - ist es möglich, aus der Form, welche die Ordnung dieser
Buchstaben und Silben bestimmt, irgend etwas vom Begriff des Worts
Vernunft herauszubringen? Hier antwortet die Kritik mit ihren beiden
Wagschaalen gleich. Zwar gibt es in einigen Sprachen mehr oder weniger
Wörter, aus denen Logogryphen [Worträtsel - wp], welsche Charaden und
witzige Rebus durch eine Analyse und Silbe der Buchstaben oder Silben in
neuen Formen erschaffen werden können. Alsdenn sind es aber neue
Anschauungen und Erscheinungen von Wörtern, die mit dem Begriff des
gegebenen Wortes ebensowenig übereinstimmen, als die verschiedenen
Anschauungen selbst.
Ist es ferner möglich, frägt der Idealismus von der anderen Seite, aus dem
Verstand die empirische Anschauung eines Worts zu finden? Ist es
möglich, aus dem Begriff der Vernunft die Materie ihres Namens, d. h. die 7
Buchstaben oder 2 Silben im deutschen oder irgendeiner anderen Sprache
zu finden? Hier deutet die eine Wagschaale der Kritik ein entscheidendes
Nein! Sollte es aber nicht möglich sein, aus dem Begriff die Form seiner
empirischen Anschauung im Wort herzuleiten, vermöge welcher Form die
eine von 2 Silben a priori und die andere a posteriori steht oder daß die 7
Buchstaben, in bestimmtem Verhältnis geordnet, angeschaut werden? Hier
schnarcht der Homer der reinen Vernunft ein so lautes Ja! wie Hans und
Grete vor dem Altar, vermutlich, weil er sich den bisher gesuchten
allgemeinen Charakter einer philosophischen Sprache, als bereits erfunden
im Geist geträumt.
Diese letzte Möglichkeit nun, die Form einer empirischen Anschauung ohne
Gegenstand noch Zeichen desselben aus der reinen und leeren
Eigenschaft unseres äußeren und inneren Gemüts heraus zu schöpfen ist
eben das d o s m o i p o u s t o [Gib mir einen Platz, wo ich stehen kann
und ich werden die Welt aus den Angeln heben. Satz des Archimedes / wp]
und p r o t o n p s e u d o s , [erste Lüge, Grundirrtum, falsche
Voraussetzung - wp] der ganze Eckstein des kritischen Idealismus und
seines Turm- und Logenbaues der reinen Vernunft. Die gegebenen oder
genommenen Materialien gehören den kategorischen und idealischen
Wäldern, peripatitischen [aristotelischen - wp] und akademischen
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Vorratskammern. Die Analyse ist nichts mehr als jeder Zuschnitt nach der
Mode, wie die Synthese, die Kunstnaht eines zünftigen Leder- oder
Zeugschneiders. Was die Transzendental-Philosophie metagrabolisiert [auf
vergeblichen Fang das Blei auswerfen / schreibend Leeres ausloten - wp],
habe ich, um der schwachen Leser willen, auf das Sakrament der Sprache,
den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet und
überlasse es einem jeden, die geballte Faust in eine flache Hand zu
entfalten. - -
Vielleicht ist aber ein ähnlicher Idealismus die ganze Scheidewand des
Juden- und Heidentums. Der Jude hatte das Wort und die Zeichen, der
Heide die Vernunft und ihre Weisheit.
Anmerkungen
1) Siehe "A Treatise of human nature: being an attempt to reproduce the
experimental reasoning into moral subjects", Vol. I of the Understanding. London
1739, Seite 34. Dieses meines Wissens e r s t e Meisterstück des berühmten
DAVID HUME soll zwar ins Französische, aber noch nicht wie sein letzteres ins
Deutsche übersetzt sein. Auch die Übersetzung von des scharfsinnigen BERKELEY
p h i l o s o p h i s c h e n W e r k e n ist leider ins Stocken geraten. Der erste Teil
kam bereits 1781 zu Leipzig heraus und enthält nur die G e s p r ä c h e
z w i s c h e n H y l a s u n d P h i l o n o u s , welche schon in der
E s c h e n b a c h e r S a m m l u n g d e r I d e a l i s t e n , Rostock 1756,
stehen.
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