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KUNST UND FREIHEIT

Eine kritische Interpretation der Hegelschen ifsthetik


ANDRASHORN

KUNST UND FREIHEIT

Eine kritische Interpretation der Hegelsehen Ä~thetik

SPRINGER-SCIENCE+BUSINESS MEDIA. B.V. 1969


ISBN 978-94-017-4621-2 ISBN 978-94-017-4854-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-94-017-4854-4

@ 1969 by Springer Science+Business Media Dordrecht


Ursprünglich erschienen bei Martinus Nijhoff, The Hague, Nether1ands 1969
All rights reserved, inc/uding the right to trans/ate or to
reproduce this book or parts thereof in any form
Meinen Eltern
INHAL TSVERZEICHNIS

VORWORT IX

Erstes Kapitel: BEGRIFF DES ÄsTHETISCHEN


Die Hegelsche Definition 1
"Idee" 1
Das "sinnliche Scheinen" 5
Inhalt und Form 8

Zweites Kapitel: FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM


Hegel und Schiller 13
Inhaltsfreiheit und das Naturhafte 15
Inhaltsfreiheit und Schicksal 18
Inhaltsfreiheit und Umgebung 22
Inhaltsfreiheit und Sprache 22

Drittes Kapitel: NATÜRLICHKEIT - EINE BESONDERE FORM DER


INHALTSFREIHEIT
Begriff der Natürlichkeit 24
Illusion 25
Gefährdung der Natürlichkeit 26
Gefährdung durch einen "objektiven" Grundinhalt 27
Gefährdung durch eine "Moral" 28
Gefährdung durch formale Notwendigkeit 33
Abwendung der Gefahr: Synthese und Einfall 34

Viertes Kapitel: FREIHEIT DES INHALTS IN SICH


Zwei Aspekte der Inhaltsfreiheit 36
Das Substantielle als "Pathos" 38
Das Substantielle als "Weltzustand" 41
Kritisches zum Begriff des Substantiellen in der Kunst 49

Fünftes Kapitel: FREIHEIT DES KÜNSTLERS


Der Begriff des Allgemeinen 58
Die Selbstbesonderung des Inhalts und der Hegelsche Künstlerbegriff 59
Kritik der Selbstbesonderungshypothese 61
Freiheit im Kunstwerk - ein Schein? 64
VIII INHALTSVERZEICHNIS

Sechstes Kapital: FREIHEIT DES MENSCHEN IN DER ÄSTHETISCHEN


SITUATION
Die Unentbehrlichkeit einer anthropologischen Fundierung der Ästhetik 79
Herausgelöstsein des Subjekts - Grund des ästhetischen Genusses? 80
Das allgemeine Bedürfnis zur Kunst 85
Das spezifische Bedürfnis zur Kunst 88
Genuss des Formalschönen 92
Das Unableitbare am ästhetischen Genuss 93
Jenseits der Strebung, frei zu sein 94
Die Grenzen der Freiheit in der ästhetischen Situation 95

AUSGEWÄHLTES SCHRIFITUM 103


VORWORT

Die Frage, die mich ursprünglich bewog, die Ästhetik Hegels einge-
hender zu untersuchen, betraf bloss die subjektive Seite des Ästheti-
schen: Ich wollte in Erfahrung bringen, was Hegel über die anthro-
pologischen Gründe des ästhetischen Wohlgefallens denkt, wie er die
ästhetische Ergriffenheit des Menschen vom Menschen selbst aus-
gehend zu begründen sucht. Es zeigte sich jedoch alsbald - was frei-
lich vorauszusehen war -, dass diese Frage nicht beantwortet werden
kann, bevor man versucht hat klarzumachen, wie Hegel die objektive
Seite des Ästhetischen begreift, was also seiner Meinung nach dem
Menschen im Kunst- und Naturschönen begegnet. Denn erst wenn
wir wissen, was auf uns wirkt, können wir der Frage nachgehen, war-
um diese Wirkung überhaupt zustandekommt. Die Freilegung und
kritische Betrachtung des Hegelschen Schönheitsbegriffs boten indes-
sen eine solche Fülle an Problemen, dass der Schwerpunkt der Ar-
beit auf die Objektseite zu liegen kam und die mich bewegende
Grundfrage erst im letzten Kapitel aufgeworfen werden konnte.
Den Schlüssel zu Hegels Ästhetik schien mir sein Freiheitsbegriff
in die Hand zu geben. In ihm wurzelt meines Erachtens nicht nur
seine Antwort auf die Frage, warum uns das Objektiv-Ästhetische
anspreche, sondern auch sein Begriff des Objektiv-Ästhetischen selbst.
Dies schliesst bereits in sich, dass ich seine Ästhetik als wesentlich
anthropozentrisch ansehe, bedeutet doch Freiheit - wenigstens un-
mittelbar - die Freiheit des Menschen. Gerade dies, eine bestimmte
Art menschlicher Freiheit, wird nach Hegels Ansicht im Zustande-
kommen des Ästhetischen verwirklicht.
Dieser anthropozentrische Zug der HegeIschen Ästhetik ist bis
jetzt kaum gewürdigt worden, wie es auch an Versuchen fehlt, seine
ästhetischen Einsichten für die Kunstwissenschaft fruchtbar zu ma-
chen. Ich war daher auch bestrebt, an geeigneten Stellen gewisse em-
x VORWORT

pirische Eigenheiten der Kunst, welche allgemein als ästhetisch gel-


ten, im Sinne der Hegeischen Ästhetik zu begründen, indem ich näm-
lich versuchte, sie auf Hegels Begriff des Ästhetischen zurückzufüh-
ren. Es scheint mir, dass uns gerade auf diesem Gebiet ein gutes
Stück systematischer Arbeit aufgetragen ist: Wie oft begnügt sich
doch der Kunstwissenschaftler damit, auf ästhetisch ansprechende
Eigenschaften hinzuweisen, ohne angeben zu können, inwiefern sie
Modifikationen des Ästhetischen sind. Ich glaube, wir können uns
nicht erlauben, bei einem solchen Brückenschlag zwischen Kunst-
wissenschaft und Ästhetik auf die Hilfe Hegels zu verzichten.

Basel, im Juli 1968. A.H.


ERSTES KAPITEL

BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

Die HegeIsche Definition


Bekanntlich hat Hegel das Ästhetische als "das sinnliche Scheinen
der Idee" bestimmt - eine verschlüsselte Definition, die im folgen-
den in Kunst- und Menschennähe gebracht werden soll.1 Ihr Kern
wird offensichtlich vom Begriff der "Idee" gebildet, in dem wohl das
Wesentlichste an der Hegelschen Philosophie eingefangen ist. Um
ihm beizukommen, muss jedoch weiter ausgeholt werden.

"Idee"
Die Philosophie Hegels ist ein einziger grossangelegter Versuch,
den Gedanken von der Kontingenz der Weltinhalte zu widerlegen,
diese in ihrem Dass- und Sosein als notwendig aufzuzeigen. Voraus-
setzung dieses Unterfangens ist die metaphysische Hypothese, der
zufolge alles Seiende wesentlich geistiger Natur sei, und zwar nicht
toter, sondern sich "bewegender", alles aus sich entwickelnder Geist.
Diese logisch-unzeitlich zu fassende "Bewegung", welcher übrigens
die geschichtliche Entwicklung entsprechen, aber auch nicht entspre-
chen kann, untersteht nun nach Hegel dem Gesetze der Dialektik -
gerade dies macht ihre "Vernünftigkeit" aus. Wenn der philosophie-
rende Mensch den dialektischen Weg des Geistes, das ständige Sich-
selbst-Negieren und Negieren des Negierten nachzeichnet, so gelangt
er zwangsläufig zu Knotenpunkten, die sich als Wesensbestimmungen
der Weltinhalte erweisen. Das auf diese Weise dialektisch entstehen-
de und vom Philosophen "gefundene" Wesen der Dinge nennt Hegel
den "Begriff'?
1 A'sthetik (künftig: Ä), S. 146. Gebraucht wurde die von Friedrich Bassenge
besorgte einbändige Ausgabe (Berlin 1955).
2 Vgl. Hegel: Sämtliche Werke, Bd. VIII, S. 366f: "Der Begriff ist das Dingen
selbst Innewohnende, wodurch sie das sind, was sie sind, und einen
Gegenstand begreifen, heisst somit sich seines Begriffs bewusst werden". (Von
2 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

Der Begriff verharrt jedoch nicht in der Idealität, sondern besitzt


die Macht, sich in Wirklichkeit umzusetzen. Dadurch ist alles und ist
so, wie es ist. Diese Arl"leit des Begriffs kann aber von Äusserlichkei-
ten durchkreuzt werden, die es verhindern, dass er sich restlos ver-
wirklicht. Sofern dem nicht so ist, sofern also die Realität ihrem Be-
griffe, ihrem vernünftigen, mit Notwendigkeit herleitbaren Wesen
entspricht, haben wir das vor uns, was von Hegel "Idee" genannt
wird.
In diesem (weiteren) Sinne können wir z.B. von der Idee einer Blu-
me, eines Kristalls oder überhaupt eines jeden möglichen Weltinhalts
reden, sofern er so ist, wie er nach seinem Begriff sein so11. 3 Es gibt
aber bei Hegel auch eine emphatische Bedeutung des Wortes "Idee",
da nämlich, wo nicht eine beliebige Stufe der Geistesentwicklung,
sondern der Geist selber "zu sich kommt", seinem Begriff gemäss
wird. Denn das objektiv gefasste dialektische Fortschreiten von We-
senheit zu Wesenheit ist nicht nur ein Erschaffen der Welt in ihrer
Vielfalt, sondern auch ein allmähliches Sich-Erschaffen des Geistes,
indem der Geist auf jeder Stufe, in jedem neuen Begriff dem Begriffe
seiner selbst immer näher kommt.
Worin besteht aber dieser Begriff - das Wesen des Geistes? Am
kürzesten lässt es sich als "Fürsichsein" bestimmen, worunter das be-
wusste Sich-selbst-Haben im Anderen verstanden wird. Die erste
wahre Erscheinungsform des Geistbegriffes ist die menschliche In-
nerlichkeit, genauer das Ich. Das Ich hat nämlich den Wesenheiten,
die ihm in der dialektischen Stufenfolge vorangegangen sind, gerade
dies voraus, dass es in allen seinen Inhalten bei sich ist, sich selber
hat, und sich dieses Beisichseins, dieses Zu-ihm-Gehörens all seiner
Inhalte auch bewusst ist. In ihm kommt also der Geist zuerst wahr-
haft zu sich: Es ist der Geist als selbstverwirklichter, als Idee. 4
mir gesperrt. Hegels Werke werden, wenn nicht anders angegeben, nach der
Jubiläumsausgabe von Hermann Glockner zitiert, und zwar mit blosser Angabe
der Band- und Seitenzahl.)
3 Vgl. 3/142: "Die Idee ist die Einheit des Begriffs und der Realität, der Be-
griff, insofern er sich und seine Realität selbst bestimmt, oder die Wirklichkeit,
die so ist, wie sie sein soll und ihren Begriff selbst enthält."
4 Dem Verfasser würde es schwer fallen, in dieser Interpretation des HegeI-
schen Ideenbegriffes und somit der HegeIschen Grundkonzeption seine eigenen
Gedanken von denen seiner Wegweiser zu sondern. Statt einzelne Hinweise zu
geben, möchte er daher an dieser Stelle einige Werke als ganze erwähnen, die -
von Hegels Werken erhellt und sie erhellend - ihm in seiner Arbeit am meisten
geholfen haben; so vor allem Nicolai Hartmanns Hegel-Monographie in seiner
Philosophie des deutschen Idealismus (Berlin 1929), seine Abhandlung über
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 3

Wir halten nun dafür, dass Hegel in seiner Definition des Ästheti-
schen mit "Idee" zunächst nichts anderes als Ich, Selbstbewusstsein,
menschliche Innerlichkeit meint. Gestützt wird diese Annahme auf
die verschiedenen Formulierungen, mit denen Hegel den Inhalt der
Kunst einzukreisen sucht - das' Auszudrückende also, das als solches
wohl ineins zu setzen ist mit dem, was in der Kunst "sinnlich scheint"
(wie sich dieses "Scheinen" auch später bestimmen möge), d.h. mit
der Idee in ihrer der Kunst zugeordneten Gestalt. 5 Der Inhalt wird
da als "das konkret Geistige", als "menschlicher Geist" (Ä/115),
auch als "konkrete Subjektivität", "Einzelheit" (Ä/173) bestimmt,
anderswo wiederum als "wesentlich Individualität" (Ä/691), wobei
in der Hegeischen Begriffssprache "Geist" (der subjektive Geist) "das
Fürsichsein des bewussten und selbstbewussten Lebens mit allen Emp-
findungen, Vorstellungen und Zwecken dieses bewussten Daseins"
(Ä/660) bedeutet, sich also weitgehend mit dem landläufigen Begriff
der "Innerlichkeit" deckt. 6
Wenn wir auf Grund dieser Bestimmungen die Gestalt, in der die
Idee in der Kunst erscheint, als Ich, bzw. Selbstbewusstsein fassen, so
muss dem sogleich hinzugefügt werden, dass es sich hier nicht um
"das" Ich, "das" Selbstbewusstsein handelt, nicht um deren Begriff,
sondern um ihre Konkretion: um dieses Ich, dieses Selbstbewusst-

"Hegel und das Problem der Realdialektik" in: Kleinere Schriften (Berlin 1957),
sodann Ernst Bloch: Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel (Frankfurt/Main
1962), Theodor Litt: Hegel, Versuch einer kritischen Erneuerung (Heidelberg
1961) und Eberhard Fahrenhorst: Geist und Freiheit im System Hegels (Leipzig
1934).
5 Hegel nennt die Idee ausdrücklich den Inhalt der Kunst (ÄI 108).
6 Dieser Auslegung des Begrüfes "Idee", wie er in der Bestimmung des Äs-
thetischen verstanden wird, widerspricht nur scheinbar, dass Hegel als die erste,
unmittelbare Form der Idee das Leben bezeichnet (vgl. etwa 3/142). Zwar ist das
Leben, "dieses ideelle einfache Fürsichsein des Leiblichen als Leiblichen"
(Ä/660), bereits ein Sich-selbst-Haben im Anderen und insofern ein mögliches
Fundament des Ästhetischen sowohl in der Natur als auch in der Kunst. Daher
ist in manchen Bestimmungen Hegels nicht nur das "geistige", sondern auch das
"physische Leben" Inhalt, Thema der Kunst (3/142, auch 15/151). Der grosse
Mangel des Lebens als Geistesidee besteht jedoch darin, dass die lebendige Indi-
vidualität als bloss Lebendiges sich ihres Beisiehseins nicht bewusst ist. Das
Leben bedeutet also kein bewusstes Sich-selbst-Haben im Anderen und ist mithin
doch keine wahre Erscheinungsform des Geistes. Daher verlagert Hegel das
Hauptgewicht in den meisten Umschreibungen seines in der Ästhetik gebrauch-
ten Ideenbegriffes vom "Leben" auf "selbstbewusstes Leben", auf "geistige Be-
seelung". Vgl. hierzu noch: Eduard von Hartmann, Die deutsche ifsthetik seit
Kant (Leipzig 1886), Teil I, S. 110f.
4 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

sein, diese menschliche Innerlichkeit. 7 Dies wundert uns nicht, wenn


wir bedenken, dass einerseits das Ästhetische "sinnliches Scheinen
der Idee", in die Sinnlichkeit Eingebildetes ist, und andererseits der
Geist (als Fürsichsein) in der Sinnlichkeit, in der Realität nur als ein-
zelnes Selbstbewusstsein, als dieser Mensch gegeben rind vorstellbar
ist. "Der" Mensch, "das" Selbstbewusstsein kann nicht sinnlich an-
geschaut werden. Hegel drückt dies folgendermassen aus: "Die Ein-
zelheit ist das Prinzip der selbständigen Vorstellung des Geistigen,
weil der Geist nur als Individuum, als Persönlichkeit zu existieren
vermag" CA/608). Wenn wir also den Begriff des Geistes mit Hegel
ins Fürsichsein setzen und es gelten lassen, dass der Inhalt der Kunst
- als Idee - eine Verwirklichung des Geistesbegriffes sein soll, so
folgt aus der Sinnlichkeit des Ästhetischen notwendig, dass dieser In-
halt konkret sein muss, aber auch, dass "das Menschliche den Mit-
telpunkt und Inhalt der wahren Schönheit und Kunst" ausmacht
(Ä/422).8
Dieser humanistische Zug der HegeIschen Ästhetik ist bis jetzt
kaum gewürdigt worden, wie ja überhaupt oft die Tendenz besteht,
in Diskussionen über die Kunst - wegen der überwältigenden Fülle
der Einzelaspekte - das Wesentliche aus den Augen zu verlieren:
dass es in ihr nämlich um den Menschen geht. 9 Selbstverständlich be-
deutet dies nicht, dass die Thematik der Kunst auf den Menschen
beschränkt wäre; es bedeutet nur, dass das Thema - selbst wo es
Nicht-Humanes ist - in der Brechung einer menschlichen Subjektivi-
tät erscheint. Dieser Gedanke lebt auch bei Nicolai Hartmann fort,
der ihn an einer Stelle seiner "Ästhetik" folgendermassen formuliert:

7 Vgl. Ä/ 111: " ... die Idee als das Kunstsehäne ... ist die Idee mit der nähe-
ren Bestimmung, wesentlich individuelle Wirklichkeit zu sein".
8 über diese einschränkende Funktion des Sinnlichen in der Kunst schreibt
Hegel folgendes: " ... eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen be-
stimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit (eben
das Menschlich-Individuelle! A.H.) ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dar-
gestellt zu werden ... Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in
welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von
diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden
zu können" (Ä/56). Darin liegt übrigens eine Vorwegnahme jener Auffassung
Hegels, dass die Kunst doch nicht die alleinige und höchste Stätte des verwirk-
lichten Geistes, der Idee ist. Vgl. S. 96-98.
9 Einzig Helmut Georg Domke hebt in seiner Dissertation über Grundfragen
der Hegelsehen Kunstphilosophie (Kiel 1939) den Anthropozentrismus der He-
gelsehen Ästhetik gehörig, wenn auch nicht in gebührender Detailliertheit hervor
(S.41).
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 5

"Der Hintergrund (der Inhalt, A.H.) braucht ... nicht den höheren
Seinsschichten entnommen oder nachgebildet zu sein (dem seelischen
oder dem geistigen Sein); es genügt, dass er ursprünglich geistig er-
schaut und die Weise des Schauens in der Art seines Erscheinens
festgehalten ist." 10 Auch Georg Lukacs macht diesen humanisti-
schen Gedanken zum Grundpfeiler seiner Ästhetik mit der Behaup-
tung, dass "es kein einziges - an sich noch so objektiviertes - Mo-
ment des Kunstwerks geben kann, das als ablösbar vom Menschen,
von der menschlichen Subjektivität gedacht werden kann." 11

Das "sinnliche Scheinen"


Nachdem wir nun die in der HegeIschen Definition gemeinte
"Idee" vorläufig als konkrete menschliche Subjektivität oder Inner-
lichkeit bestimmt haben (wobei unter "Subjektivität" die menschliche
Seele als Ganzes, in ihrer Struktur und Geschichte zu verstehen ist;
unter "Innerlichkeit" dagegen eher ein momentaner Querschnitt,
d.h. die im Hier-und-Jetzt aktuell gewordenen Inhalte der Subjekti-
vität), möchten wir uns der Auslegung des "sinnlichen Scheinens" zu-
wenden. Das bereitet insofern Schwierigkeiten, als am Begriff des
Scheinens die oft beklagte HegeIsche Äquivokation besonders ausge-
prägt zu Tage tritt, verwendet doch Hegel dieses Wort in zwei einan-
der fast diametral entgegengesetzten Bedeutungen. Einmal hören wir,
dass Schein "wesenloses Sein", ja "das Unwesen" schlechthin sei
(4/486f), "Dasein, das dem Wesen unangemessen ist" (7/143). Das
Wort wird also hier im landläufigen Sinne, in der Bedeutung von "Un-
mittelbarkeit als Nicht-Wesentlichem" gebraucht. Ein anderes Mal
jedoch wird der Schein nachgerade zum Transparent des Wesens er-
hoben: "Der Schein ist nicht das Nichts, sondern er ist ... Beziehung
auf das Absolute; oder er ist Schein, insofern das Absolute in ihm
scheint" (4/666). Hier wird "Schein" bereits im Sinne des "wesent-
lichen Scheins" (4/625), der "Erscheinung" gebraucht, die "nichts
zeigt, was nicht im Wesen ist" (8/313). Es besteht kein Zweifel, dass
in der Definition des Ästhetischen diese letztere Bedeutung gemeint
ist, "Schein" also Manifestation, "Scheinen" In-die-Erscheinung-Tre-
ten, Für-das-Bewusstsein-Werden des Wesens bedeutet. Denn die
Definition selbst wird mit der Behauptung eingeleitet, dass im Schönen

10 Ästhetik, Berlin 1953, S. 89.


11 "Zur Konkretisierung der Besonderheit als Kategorie der Ästhetik", Deut-
sche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 4 (1956), S. 415, auch 417.
6 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

das Wahre, d.h. die Idee, in "seinem äusserlichen Dasein unmittelbar


für das Bewusstsein ist" (Ä/146), womit eindeutig das sinnliche Schei-
nen gemeint ist. 12
Eben wegen der Wesenhaftigkeit des Scheinens kann keine Rede
davon sein, dass das Wort hier im Sinne des "biossen Scheines", der
Täuschung gebraucht würde. Hegel selber verwahrt sich am lebhafte-
sten gegen diese Unterstellung. "Die ganze Sphäre der empirischen in-
neren und äusseren Welt", so schreibt er, "ist nicht die Welt wahrhaf-
ter Wirklichkeit, sondern vielmehr in strengerem Sinne als die KUIist
ein blosser Schein und eine härtere Täuschung zu nennen ... In der
gewöhnlichen äusseren und inneren Welt erscheint die Wesenheit
wohl auch, jedoch in der Gestalt eines Chaos von Zufälligkeiten...
Weit entfernt also, blosser Schein zu sein, ist den Erscheinungen der
Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität
und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben" (Ä/55).
Was Hegel damit in Frage stellt, ist die Unwahrheit des künstleri-
schen Scheines. Die andere mitschwingende Bedeutung des Scheines
als Täuschung, nämlich die blosse Subjektivität des Gegebenen, die
Tatsache also, dass gewisse Kunstgebilde uns Realität vorgaukeln,
wo keine ist, wird jedoch nicht bestritten. Obwohl sich Hegel des
Wortes "Illusion" in seinen Schriften niemals bediente, war er dieses
Phänomens wohl eingedenk; er lobte z.B. die holländische Malerei
gerade für ihre Fähigkeit, "die vorhandenen flüchtigen Scheine der
Natur als vom Menschen neuerzeugte zu tausend und aber tausend
Effekten umzuschaffen" - eine Zauberei, denn "statt existierender
Wolle, Seide, statt des wirklichen Haares, Glases, Fleisches und Me-
talls sehen wir blosse Farben, statt der totalen Dimensionen, deren
das Natürliche zu seiner Erscheinung bedarf, eine blosse Fläche, und
dennoch haben wir denselben Anblick, den was Wirkliche gibt"
<A/188f).13 Es mag wohl zutreffen, dass diese günstige Konnotation

12 Domke interpretiert (a.a.O., S. 34, 38f) das "Scheinen" ebenfalls als We-
sensbekundung und kommt zum Schluss, dass nach Hegel "die Gestalt des
Kunstwerkes ... das Wesentliche zu zeigen" hat (S. 40), dass "die Kunst für
Hegel Wesensschau der Wirklichkeit" ist (S. 78). Auch Nicolai Hartmann meint.
dass es sich hier "nicht eigentlich um ein ,Scheinen' handelt, sondern um ein
Erscheinen" (Ästhetik, S. 79).
13 Trotzdem scheint Hegel dem Phänomen der lllusion (und damit der Nach-
ahmung) nicht die Bedeutung beigemessen zu haben, die ihm in der Auslegung
und Weiterführung seiner Ästhetik objektiv zukommt. VgI. S.72ff.
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 7

des "Scheinens" einer der Gründe war, weswegen Hegel diesen nicht
gerade glücklichen Ausdruck dem "Erscheinen" vorzogY
Der wichtigste Grund wird jedoch wohl darin liezen, dass sich in
der Hegeischen Terminologie der "Schein" selbst in der Bedeutung
der Wesenbezogenheit von "Erscheinung" unterscheidet. Hierüber
lesen wir folgendes: "Das Wesen scheint zunächst in ihm selbst, in
seiner einfachen Identität ... Das Wesen erscheint, so ist es nunmehr
realer Schein, indem die Momente des Scheins Existenz haben ...
Die Erscheinung ist daher Einheit des Scheins und der Existenz"
(4/623). Erscheinung hat somit dem Schein dies voraus, dass sie
existiert, dass sie das Wesen in der Realität transparent werden lässt.
Ihr gegenüber bleibt der Schein in die Nicht-Realität zurückgedrängt:
in die begriffliche Idealität, aber wohl auch in die charakteristische
"Halb-Idealität" des Kunstwerks. Die eigentümliche Seinsweise aller
Kunstgegenstände, ihr Herausgelöstsein aus den Bezügen der ge-
wöhnlichen Wirklichkeit, den Umstand also, dass sie der Realität
gleichzeitig zugehören und nicht zugehören, hatte schon Kant be-
merkt. Ihm wurde allerdings diese Eigenschaft des Ästhetischen an
dessen subjektbezogener Seite lebendig, an der Tatsache, dass es
nicht unter dem Aspekt eines Zweckes betrachtet wird, der Praxis
also enthoben ist. Hegel hingegen ist in erster Linie an den objekti-
ven Konsequenzen dieses Sachverhaltes interessiert. Eben dadurch,
dass das Kunstwerk nicht "im Leben steht", kann es - im Gegensatz
zu all dem, was ausserhalb der Kunst real existiert - zum "wesent-
lichen Schein" werden, der "nichts zeigt, was nicht im Wesen ist".
Der Schein als Stufe zwischen Realem und Ideellem, das Scheinen
als Herausgelöstsein, als Entnommensein - diese Wortbedeutung lässt
sich in den folgenden Formulierungen Hegels eindeutig erkennen:
"Das Sinnliche im Kunstwerk ist im Vergleich mit dem unmittelba-
ren Dasein der Naturdinge zum bIossen Schein erhoben ... Es ist
selbst ein ideelles, das aber, als nicht das Ideelle des Gedankens,
zugleich als Ding noch äusserlich vorhanden ist" (Ä/81). Oder:
"Ums ... Scheinen ... und nicht um das natürliche wirkliche Sein
ist es in der Kunst zu tun" (Ä/251).
Der Gebrauch des Wortes "Scheinen" war also unter den termino-
14 Nicolai Hartmann erwähnt noch einen möglichen Grund, dass nämlich die
Kunst zwar der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber wohl die tiefere Wahrheit
repräsentiere, mit der Philosophie verglichen jedoch Schein, d.h. "Grenze der
Erkenntnis" sei (A·sthetik, S. 79). über diese Auszeichnung der Philosophie der
Kunst gegenüber, siehe S.97-101.
8 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

logischen Voraussetzungen Hegels deswegen angebracht, weil es


gleichzei~ zwei Wesens aspekte des Ästhetischen auszudrücken ver-
mochte: seine Wesenhaftigkeit und seine ontische "Autonomie".
Nach dem Gesagten lässt sich die HegeIsche Definition des Ästhe-
tischen zunächst folgendermassen umschreiben: Das Schöne ist das
wesensmässige sinnliche Erscheinen einer konkreten menschlichen
Innerlichkeit in der Späre der "Nicht-Realität".

Inhalt und Form


Es ist schon weiter oben (S. 3) darauf hingewiesen worden, dass
das durch die Kunst auszudrückende "Innere" von Hegel als "In-
halt" (manchmal wohl auch als "Gehalt") bezeichnet wird. Der Ge-
genpol dieses Begriffs, die sinnliche Unmittelbarkeit, in der uns der
Kunstinhalt gegeben ist, ist die "Form".
Inhalt wie Form sind der Kunstwissenschaft vertraute Begriffe; es
ist ein Gemeinplatz der Kunstkritik, dass sie in Einheit sein müssen.
Inwieweit diese Forderung, wie überhaupt die Anwendung dieser
beiden Kategorien auf das Kunstwerk historisch mit Hegel in Zusam-
menhang gebracht werden kann, ist eine Frage, die uns hier nicht
beschäftigt. Tatsache bleibt, dass Hegel nie müde wurde, dafür ein-
zutreten, dass "Idee und Gestalt ineinander gearbeitet" erscheinen
(Ä/l1O), dass "Idee und Darstellung... einander wahrhaft ent-
sprechen" (Ä/ll2), dass "Inhalt und Form adäquat sein sollen"
(A/423), und was es noch an dergleichen Formulierungen in seiner
"Ästhetik" geben mag. Diese Forderung lässt sich nur dadurch er-
klären, dass sie eine kunstwissenschaftliche Transposition und Varia-
tion seiner ästhetischen Grundforderung ist, dass mit der Einheit, der
gegenseitigen Entsprechung von Form und Inhalt nichts anderes als
das oben analysierte sinnliche Scheinen der Idee gemeint ist.
Dass Hegel das Wesen des Ästhetischen in der Einheit von Gehalt
und Gestalt, von Inhalt und Form gesehen hat, muss umso nach-
drücklicher hervorgehoben werden, als eine bestimmte Auszeichnung
des Inhalts, die - um Späteres vorwegzunehmen - kurz darin besteht,
dass der Inhalt als das "Wahre" bestimmt wird, leicht den Eindruck
erweckt, der Inhalt sei das eigentlich Ästhetische. So lesen wir etwa
bei Heinrich Barth: "Die Erscheinung des Ästhetischen im Gebilde
der Kunst ist nichts mehr als ein Transparent für das, was erst eigent-
lich Sein und Sinn des Ästhetischen ausmacht. Indem der Schein der
Kunst ,durch sich hindurchleuchtet' , weist er über die ästhetische
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 9

Erscheinung hinaus auf ,ein Geistiges', welches im Kunstwerk zum


Ausdruck kommen soll. Daraus ergibt sich für das Ästhetische die
Diastase zwischen einem wesenhaften geistigen Gehalte und seiner
Darstellung in der phänomenalen Wirklichkeit ... Womit die Er-
scheinung zum bIossen Vordergrunde des Ästhetischen wird!" 15
Auch Ernst Bloch interpretiert das von Hegel in seiner Definition
gemeinte Sinnliche als "farbigen Abglanz", in dem die Schönheit
quasi als etwas Vorgegebenes erscheint. 16 Ohne hier auf Sinn und
Gültigkeit der erwähnten Auszeichnung des Inhalts näher einzu-
gehen, sei an dieser Stelle lediglich an das Ergebnis der vorhergehen-
den Untersuchung erinnert, nach dem das Ästhetische - wie Hegel
es auffasst - weder der Form noch dem Inhalt allein gleichzusetzen
ist, sondern nur als ihre Einheit, als Formwerden des Inhalts be-
stimmt werden kann. 17
Was es mit dieser Einheit auf sich hat, möchten wir im folgen-
den anband eines literarischen Beispiels veranschaulichen. "Das Ge-
schenk der drei Weisen", die berühmte Novelle des amerikanischen
Schriftstellers O. Henry, handelt von zwei jungen Eheleuten, die zu
arm sind, um einander ein ihrer Liebe würdiges Weinachtsgeschenk
zu kaufen. So beschliesst Della, die Frau, ihren grössten Stolz, ihre
wunderschönen langen braunen Haare zu verkaufen. Für die zwan-
zig Dollars, die sie dafür bekommt, kauft sie Jim, ihrem Mann, eine
Uhrkette aus Platin, um damit das Wertvollste, das er besitzt, seine
prachtvolle goldene Uhr zu schmücken. Als dieser am Abend heim-
kehrt, kann er seinen Blick von Della nicht abwenden. Della, die
meint, sie gefalle ihm mit ihrem kurzen Haar nicht mehr, verrät in
ihrer Verzweiflung, dass sie es nur abschneiden liess, um ihm ein
Geschenk kaufen zu können. Bald stellt sich indes heraus, dass Jim
sie vorhin deswegen so merkwürdig anstarrte, weil er Della gerade
jene wundervollen Schildpattkämme gekauft hatte, die sie schon so
lange hätte in ihrem Haar tragen mögen. Doch Jim hat das ihm zu-
gedachte Geschenk noch nicht gesehen. Wie er es auf Dellas offener
Hand erblickt, sinkt er auf das Sofa nieder, legt die Hände unter den
Kopf und lächelt. "Dell," sagt er, "legen wir unsere Weihnachtsge-
1'5 Philosophie der Erscheinung, Eine Problemgeschichte, 11. Teil, Basel 1959,
S.608.
16 a.a.O., S. 277.
17 Auch Nicolai Hartmann betont, dass nicht die Idee das Schöne sei, sondern
ihr "Scheinen" (A'sthetik, S. 76; Hegel S. 370). Vom Inhalt als dem "Wahren"
wird im vierten Kapitel ausführlich die Rede sein.
10 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

schenke einstweilen auf die Seite. Sie sind zu schön, um sie gerade
jetzt zu gebrauchen. Ich hab die Uhr verkauft, damit ich Geld hätte,
dir deine Kämme zu kaufen."
Die Wirkung dieser Geschichte beruht zum Teil offensichtlich auf
der paradoxen Situation, die sie vor uns entstehen lässt und die - wie
jede Paradoxie - geistreich ist. Della und Jim haben einander das
grösste Opfer gebracht, das für sie möglich war; eigentlich jedoch
sinnlos, denn das Opfer des einen konnte dem anderen - gerade sei-
nes eigenen Opfers wegen - von keinem Nutzen sein. Eben weil sie
einander keine "praktische" Freude bereiten konnten, sind sie zum
Teil auch enttäuscht. Dafür werden sie jedoch vielfach entschädigt
durch das Bewusstsein, dass das Motiv, das den Anderen zu seiner
zur Enttäuschung führenden Tat bewog, die Opferbereitschaft und
somit die Liebe war. Das - und nicht das Praktische - ist das eigent-
liche Geschenk, und obwohl "die drei Weisen aus dem Morgenlande
wertvolle Geschenke mitbrachten, das war nicht unter ihnen."
Die künstlerische Grösse O. Henrys bekundet sich aber in dieser
Novelle vornehmlich darin, dass er gerade in dieser paradoxen Situa-
tion eine Form fand, welche die wahre, weil selbstlose Liebe zweier
Menschen restlos und prägnant, d.h. ohne jegliches überflüssige
Formelement auszudrücken vermochte. 18 Denn nur deswegen konnte
das gegenseitige Beschenken vorübergehend sinnlos erscheinen, weil
sie einander so sehr liebten, dass sie bereit waren, das einzig Wert-
volle, das sie besassen, aufzuopfern, und dabei keinen anderen
Wunsch hatten, als dieses Wertvolle des anderen durch die Kämme,
bzw. die Uhrkette noch wertvoller zu machen. Den Einfall loben wir,
mit dem O. Henry einen konkreten seelischen Inhalt sinnlich zu ma-
chen verstand.
Es ist hieraus jedoch ersichtlich, dass jene Einheit, jene Entspre-
chung zwischen Form und Inhalt nicht als gegenseitiges Verhältnis
aufzufassen ist, in dem beide Seiten zugleich "Herr" und "Knecht"
wären. Obwohl, worauf wir oben (S. 3f) hingewiesen haben, der all-
gemeine Charakter des Inhalts von der Form als Sinnlichem her mit-
bestimmt wird, ist es im besonderen Falle gerade umgekehrt: Es ist
der Inhalt, der die Form bestimmt. Die Geschichte, jene wahrhaft
dialektische Situation von Della und Jim, konnte nur aus dem Boden
ihrer besonderen Liebe erwachsen.
18 Vgl. Hegel Ä/132f: "Im Kunstwerk ist nichts vorhanden, als was wesent-
liche Beziehung auf den Inhalt hat und ihn ausdrückt."
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 11

Diese inhaltliche Bestimmtheit der Form kann auch so ausgedrückt


werden, dass die Form vom Inhalt aus gesehen nicht zufällig, nicht
von Anderem, dem Inhalt Äusserlichem bestimmt, sondern von ihm
selbst mit Notwendigkeit gesetzt ist. Es herrscht also eine innere Not-
wendigkeit im Kunstwerk, die sich auch als Selbstbestimmung des
Inhalts beschreiben lässt, denn dieser hat nichts an ihm, was nicht
von ihm selbst bestimmt wäre. Das bedeutet aber eigentlich die Frei-
heit des Inhalts. Denn "die Freiheit ist eben dies, in seinem Andern
bei sich selbst zu sein, von sich abzuhängen, das Bestimmende seiner
selbst zu sein" (8/87).19
Dass dieses Einsetzen des Freiheitsbegriffes in die Definition des
Ästhetischen kein biosses Spiel mit Worten ist, dass ihm vielmehr
eine hier noch nicht abzuschätzende Bedeutung zukommt, kann einst-
weilen nur mit dem Hinweis angedeutet werden, dass unter "Inhalt"
- wie wir gesehen haben - zunächst ganz allgemein konkrete mensch-
liche Innerlichkeit verstanden wird, dass also mit dem Wort von der
"Freiheit des Inhalts" nichts geringeres als die Freiheit des Menschen
in der Sinnlichkeit gemeint ist. Wie diese Freiheit im Element der
Kunst näher zu verstehen ist, was für Relativierungen sie sich gefal-
len lassen muss, welche Konsequenzen sie für den mit der Kunst
konfrontierten Menschen hat - dies darzulegen setzt sich die vorlie-
gende Untersuchung zum Ziel.

Dass der Schlüssel zu Hegels Ästhetik in seiner Freiheitslehre liegt,


hat schon Kuno Fischer erkannt. Die betreffende Stelle seines Hegel-
Buches lautet folgendermassen: "Das Subjekt muss ... im Zustande
seiner vollen Freiheit sein, um ästhetisch vorstellen zu können; eben-
so muss der Gegenstand im Zustande seiner vollen Freiheit sein, um
ästhetisch erscheinen zu können oder ästhetisch vorstellbar zu sein.
Ohne den Zustand der Freiheit von seiten der subjektiven Betrach-
tung . . . ist nichts ästhetisch; diesen Zustand vorausgesetzt ist alles
ästhetisch." 20 Hieraus würde jedoch folgen, dass das Ästhetische
19 Vgl. unter anderem Nicolai Hartmanns Kommentar zu Hegels Freiheits-
begriff: "Nicht Willensfreiheit ist gemeint, auch nicht eine allgemeiner verstan-
dene Undeterminiertheit, also überhaupt kein Gegensatz zur Notwendigkeit ...
Es ist Freiheit ... als Gegensatz nur zum Zwang, zur äusseren Notwendigkeit
also, nicht zur inneren; Freiheit als Betätigung eigener innerer Tendenz, ...
Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung; ein Wirken demnach, welches seine Ur-
sächlichkeit keineswegs verleugnet; eine Wirklichkeit, welche nichts ist als die
,enthüllte Notwendigkeit'" (Hegel, S. 259).
20 Hegels Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 1901, Bd. TI, S.818f.
12 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN

eine rein subjektive Bestimmung sei, und dass auch das, was vorhin
über die Freiheit des Gegenstandes gesagt wurde, nicht objektiv ge-
meint sei, sondern als Kehrseite der subjektiven Freiheit: Insofern
ich nicht von praktischen Zwecken bedrängt bin, ist auch der Gegen-
stand von mir nicht "bedrängt", gekürzt - er darf erscheinen, wie er
"ist". Diese von Kant beeinflusste, einseitig-subjektivistische Auffas-
sung, welche uns noch später (S. 81f) beschäftigen wird, stimmt je-
doch mit der Hegeischen nicht überein. Nach Hegel ist das Ästheti-
sche in erster Linie als objektive Freiheit, als Freiheit des objektiven
Inhalts zu fassen.
Von dieser objektiv gemeinten Freiheit her interpretiert Alfred
Baeumler die Hegeische Ästhetik, indem er das Kunstschöne - kurz
und unexpliziert - als "die freie konkrete Individualität überhaupt"
bestimmt.21
Den wichtigsten Schritt in dieser Richtung hat Nicolai Hartmann
getan. Er fasst den Hegelschen Begriff des Schönen primär als "Ge-
formtheit allein von innen heraus", als Selbstbestimmung, als Frei-
heit. Er bringt auch als erster diese Freiheit mit der eigentümlichen
Daseinsweise des ästhetischen Gegenstandes, mit dessen "Nicht-Rea-
lität" in Zusammenhang: Er nennt sie "eine Funktion des ,Schei-
nens"'.22 Doch hebt er den humanistischen Charakter der HegeI-
schen Ästhetik nicht gebührend hervor, stellt nicht eindeutig klar,
dass mit dem "freien Erscheinen der Idee" eigentlich menschliche
Freiheit gemeint ist, und kann daraus folglich auch nicht die nötigen,
noch zu erörternden Folgerungen ziehen. Er geht ausserdem auf die
einzelnen Aspekte dieser Inhaltsfreiheit nicht näher ein, wie er ja über-
haupt die Ästhetik Hegels - der Anlage seines Werkes gemäss -
nicht von der Kunstwissenschaft her angeht. Gerade diese beiden
Mängel lassen den vorliegenden Versuch trotz seiner bahnbrechen-
den Interpretation gerechtfertigt, ja notwendig erscheinen.

21 Einleitung zu "Hegels Ästhetik", München 1922, S. 14.


22 Hegel, S. 371-374. Vgl. unsere auch ihm verpflichtete Darstellung auf S. 7.
ZWEITES KAPITEL

FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

Hegel und Schiller


Wenn man das Ästhetische als Freiheit bestimmt sieht, wird man
unwillkürlich an den Ausspruch Schillers erinnert, wonach "die
Kunst eine Tochter der Freiheit" sei. 1 überhaupt: die grosse Rolle,
die dem Begriff der Freiheit in Schillers Ästhetik zukommt, legt die
Frage nahe, inwiefern der HegeIsche Grundgedanke von Schiller vor-
weggenommen worden sei.
Hier muss - im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung - so-
gleich betont werden, dass das auf Hegel Vorausweisende in Schillers
Gedankengut in erster Linie nicht in seinen "Ästhetischen Briefen",
sondern in seiner Korrespondenz mit Körner, in den sog. Kallias-
Briefen zu suchen ist. 2 Der Grund hierfür liegt zunächst ganz allge-
mein darin, dass die Ästhetischen Briefe wesentlich subjektivistisch
ausgerichtet sind, wohingegen Schiller in den Kallias-Briefen bestrebt
war, "hinreichend zu beweisen, dass die Schönheit eine objektive
Eigenschaft ist".3 Obwohl die Briefe über die ästhetische Erziehung
auch die objektive Komponente nicht ausser acht lassen und diejeni-
gen an Körner sich auch um die ästhetische Zuständlichkeit des emp-
fangenden Subjekts kümmern, ändert dies an der grundsätzlichen

1 "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen", Schillers sämtliche


Werke, hg. von O. Güntter und G. Witkowski, Leipzig, Bd. XVllI, S. 9. (Künftig
zitiert als: Ästhetische Briefe.)
2 Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass Hegel die Kallias-Briefe über-
haupt nicht kennen konnte. (Sie wurden erst 1847, also sechzehn Jahre nach sei-
nem Tode veröffentlicht.) Solche Vergleiche scheinen auch dann ihre Berechti-
gung zu haben, wenn von einer Beeinflussung keine Rede sein kann, denn einer-
seit befriedigen sie ein legitimes historisches Interesse, andererseits erhellea sie
sowohl die verglichenen Lehrmeinungen als auch das in Frage stehende Problem.
3 Schillers Briefwechsel mit Körner, hg. von Karl Goedeke, Bd. 11, Leipzig
18742 , S. 18 (Künftig zitiert als: Kallias.)
14 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

Ausrichtung und Betrachtungsweise dieser beiden Werke nichts. Es


dürfte also schon von vornherein klar sein, dass mit der objektivistisch
angelegten Ästhetik Hegels in erster Linie die Kallias-Briefe werden
verglichen werden können.
Des näheren muss unsere Aufmerksamkeit zunächst der Definition
gelten, die Schiller hier vom Begriff der Freiheit gibt. "Frei sein und
durch sich selbst bestimmt sein, von innen heraus bestimmt sein, ist
eins." 4 Dies hört sich fast wie ein Hegeisches Zitat an, und an diesem
Punkt lässt sich vielleicht auch eine historische Verbindungslinie
zwischen Fichte einerseits und Schiller und Hegel andererseits ziehen.
Wichtiger ist jedoch der Schritt, den Schiller über Fichte hinaus in
Richtung auf Hegel tut: seine Definition des Ästhetischen. Darüber
lesen wir nun folgendes: "Entdeckt ... die praktische Vernunft bei
Betrachtung eines Naturwesens, dass es durch sich selbst bestimmt
ist, so schreibt sie demselben ... Freiheitähnlichkeit oder kurzweg
Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objekte von der Vernunft
nur geliehen wird, ... so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit
der Form der praktischen Vernunft nicht Freiheit in der Tat, sondern
bloss Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung . ..
Schönheit also ist nichts anderes, als Freiheit in der Erscheinung."
Und über das Kunstschöne: "Schön ist ein Kunstprodukt, wenn es
ein Naturprodukt frei darstellt. .. Frei dargestellt heisst ... ein Ge-
genstand, wenn er der Einbildungskraft als durch sich selbst bestimmt
vorgehalten wird." 5
Wie wir sehen, wird hier die Schönheit von Schiller objektiv, als
Selbstbestimmung, als Freiheit des Gegenstandes bestimmt, wobei
allerdings diese Freiheit nur Freiheit in der "Erscheinung", also kei-
ne wirkliche, sondern bloss scheinbare Freiheit ist. Was es mit dieser
Scheinbarkeit der ästhetischen Freiheit auf sich hat, wird weiter un-
ten (S. 64-71) noch ausführlich zu erörtern sein. Einstweilen möch-
ten wir bloss an der "Selbstbestimmung" als objektivem Charakteri-
stikum des Ästhetischen und wesentlichem Berührungspunkt zwischen
Hegel und Schiller festhalten.
Diese Auffassung vom Ästhetischen führt nun bei Schiller not-
wendig zu Formulierungen hinsichtlich der Dienstbarkeit der Form
oder - was dasselbe ist - der Freiheit des Inhalts, die sich mit denen
Hegels weitgehend decken. Die Natur eines schönen Dinges, so lesen
4 ebd., S. 26.
5 ebd., S. 14 und 45f.
FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM 15

wir hier, sei der "Grund", die "innere Notwendigkeit" seiner Form.
Oder negativ: "Wenn ich sage: die Natur des Dinges, das Ding folgt
seiner Natur, es bestimmt sich durch seine Natur, so setze ich darin
die Natur (den Begriff, den Inhalt, würde Hegel sagen, A.H.) allem
demjenigen entgegen, was von dem Objekt verschieden ist, was bloss
als zufällig an demselben betrachtet wird, und hinweggedacht werden
kann, ohne zugleich sein Wesen aufzuheben." Kurz: das schöne Ding
ist etwas, das "sich selbst zugleich gebietet und gehorcht." 6
Verlassen wir jetzt einstweilen Schiller und wenden wir uns den
Formen zu, in denen sich die Inhaltsfreiheit bekundet. 7

Inhaltsfreiheit und das Naturhafte


Als Ausgangspunkt möge die wohl gesicherte Erkenntnis dienen,
wonach dem Menschen als Selbstbewusstsein seine Leiblichkeit, das
Naturhafte an ihm ebensowohl äusserlich, fremd ist als auch nicht.
Es ist zwar einerseits wahr, dass mir das Bewusstsein der Einheit, der
Zusammengehörigkeit, der engstmöglichen Verbundenheit zwischen
mir und meinem Leib unmittelbar gegeben ist, dass mein Leib - an
sich, aber auch für mich - Ausdruck und Ausfluss meiner Innerlich-
keit sein kann, dass ich also in ihm auch bei mir bin. Es ist aber an-
dererseits ebenso wahr, dass ich ihn auch als etwas Fremdes, Äusser-
liches erlebe. Dies tut sich nicht nur darin kund, dass ich mir meines
Körpers nicht in dem Sinne und Masse bewusst bin, wie meiner
selbst, sondern vorzüglich in Phänomenen wie Schmerz, Krankheit
und Tod. Da wird zugleich das unentrinnbare Verbundensein mit
meinem Leib, aber auch meine Abhängigkeit von ihm, das Nicht-bei-
mir-Sein, die Unfreiheit offenbar. Es gibt also Aspekte meiner Leib-
lichkeit, die für mich als Selbstbewusstsein zufällig sind, die folglich
als das rein Körperliche, rein Biologische oder Bloss-Naturhafte an
mir bezeichnet werden können.
Wenn nun die Kunst die menschliche Innerlichkeit, das Selbstbe-
wusstsein als Freies darstellen soll, so muss sie es auch vom Zufälli-

6 ebd., S. 28 und 32.


7 An dieser Stelle möchte der Verfasser vorausschicken, dass er auf den fol-
genden Seiten nicht einmal annähernde Vollständigkeit anstrebt. Diese Absage
an systematische Behandlung ist nicht nur dadurch bedingt, dass sein Haupt-
interesse nur einer der Künste, der Literatur gilt, sondern auch durch die not-
wendige Begrenztheit seiner Erfahrungen selbst auf diesem Gebiet. Was er ver-
spricht, ist ein Bericht über die Formen, die sich ihm in seinem Umgang mit
Hegel und den Werken der Literatur ergeben haben.
16 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

gen seiner Lieblichkeit "befreien". Diese Forderung liegt ganz allge-


mein und zunächst negativ bereits in der HegeIschen Bestimmung
beschlossen, wonach "der Mensch in seiner konkreten Geistigkeit
und deren Subjektivität" den Inhalt der Kunst ausmache (A/251).
Da ist auch das Wort "Geistigkeit" emphatisch gebraucht: in seiner
Geistigkeit also, und nicht in seiner Natürlichkeit. (Wobei man - um
die Wahrheit dieser Forderung zu akzeptieren - überhaupt nicht ge-
nötigt ist, die Hegelsche Auslegung von "Geist" und "Natur" und
somit seine idealistische Voraus-setzung und Bevorzugung des Gei-
stes zu übernehmen. "Geist" ist hier schlicht Selbstbewusstsein, "Na-
tur" das vom Selbstbewusstsein nicht durchdrungene Körperliche; die
Annahme der Forderung, dass sich die Kunst auf ersteres beschrän-
ken müsse, bedeutet noch kein Bekenntnis zur "Nicht-Natürlichkeit"
des Geistes.)
Näher besteht die diesbezügliche Aufgabe des Kunstwerks darin,
in der äusseren Erscheinung seines Gegenstandes, so Z.B. in einer
von der Skulptur zum Vorbild genommenen menschlichen Gestalt,
"dasjenige fortzulassen, was für den Ausdruck des Inhalts bloss äus-
serlich und gleichgültig bleiben würde (A/190). Dadurch wird "jede
Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge ver-
wandelt, welches der Sitz der Seele ist, und den Geist zur Erschei-
nung bringt" (A/181).
In der modemen Skulptur gibt es Tendenzen, die in dieser Hin-
sicht noch konsequenter sind als die klassische: Sie begnügen sich
nicht damit, das Unwesentliche der menschlichen Gestalt fortzulas-
sen, sondern - sofern die gegebenen Formen des menschlichen Kör-
pers als Ganzen gewisse Intentionen der Seele durchkreuzen - scheu-
en auch nicht davor zurück, diese Formen zu verwerfen bzw. um-
zugestalten. Die Intention etwa der ihr Kind schützenden Mutter ist
das vollständige In-sich-Schliessen, Einverleiben des Kindes, was je-
doch eben vom Leib vereitelt wird. Der Leib wird dadurch - auf
diese Intention der Liebe bezogen - zufällig, und muss folglich in
dem Masse umgeformt werden, dass diese Zufälligkeit verschwindet
und er zum Transparent der Seele wird. Henry Moore, der immer
wieder zum Thema "Mutter und Kind" zurückkehrt, löst dieses Pro-
blem so, dass er den Körper der Mutter in ein Gefäss, oft in ein
durchbrochenes Gefäss, in zwei das Kind umgebende Hälften ver-
wandelt, sodass es wirklich in ihr, von ihrem Körper umfangen ist.
Dadurch wird diese "abstrakte" Skulptur zu einer adäquateren Form
FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM 17

der auszudrückenden Seelenintention als irgendeine oberflächliche


"Treue zur Natur". (Ob allerdings dieser Gewinn den Verlust an in-
takt-erkenntlicher Gestalt und somit an unmittelbarem menschlichem
Bezug aufwiegt, bleibe hier dahingestellt.)
Das notwendige Prinzip des Fortlassens alles Bloss-Körperlichen
erklärt auch, warum alle grosse Literatur auf die Beschreibung von
vegetativen Funktionen, von Krankheiten, vom Tod als körperlichen
Prozessen verzichtet. 8 Im entgegengesetzten Fall haben wir das vor
uns, was "Naturalismus" genannt wird, eine Kunstrichtung, deren
Interesse am rein Biologischen nicht nur durch die seinerzeit vorherr-
schende Anthropologie zu erklären ist, wonach der Mensch ein "Na-
turding" sei, sondern - davon zum Teil unabhängig - auch durch
ihren programmatischen Drang zum "Alles-Wiedergeben", zum "Ko-
pieren", "Photographieren" der gegebenen empirischen Wirklichkeit
- und aus diesem "Alles" ist das Körperliche freilich nicht wegzu-
denken.
Einzelne grosse Beschreibungen solcher Vorgänge sind bloss Aus-
nahmen, die die Regel bestätigen: Diese Vorgänge werden hier nicht
als solche, "an sich" wiedergegeben, sondern immer in ihrer Bedeu-
tung für eine konkrete Subjektivität. Nicht auf sie, sondern auf dieses
Selbstbewusstsein kommt es an, das sie auf seine einmalige Weise er-
lebt und in diesem Erleben sich zu erkennen gibt. Man denke nur an
die Krankheit und den Tod des Iwan Iljitsch bei Tolstoj, die aus-
schliesslich von "innen", von seinem Bewusstsein her beschrieben
werden - als Ursache seiner Läuterung; oder an den Verwesungsge-
ruch in der Geschichte der "Brüder Karamasow", den die Leiche des
Starez Sosima verbreitet - "es ist mir nachgerade widerlich", schreibt
hierüber Dostojewskij, "an dieses Ereignis zurückzudenken, das ...
im Grunde ... ganz bedeutungslos und natürlich war, und ich hätte
es in meiner Erzählung mit Stillschweigen übergangen, hätte es nicht
das Herz und die Seele des freilich erst künftigen Haupthelden mei-
ner Erzählung, Aljoschas, in einer sehr starken und ganz besonderen
Weise beeinflusst ... "
Das gleiche Mittel kann auch zur Abhebung der Pornographie von
der emphatisch gemeinten Literatur dienen. Sofern das Geschlecht-

8 Freilich spielen da auch tabuierende Motive mit hinein. Manches vom Vege-
tativen ist z.B. "unappetitlich" und somit tabu. Vielleicht liesse sich aber auch
diese Beurteilung mit der menschlichen (d.h. "geistigen") Irrelevanz der in Frage
stehenden Funktionen in Zusammenhang bringen.
18 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

liehe nicht als bloss körperliches Phänomen beschrieben wird, son-


dern in der Weise, wie es konkreten Menschen gegeben ist, wie sie
es inmitten und trotz der höchsten Entrückung er~eben (und dies ist
z.B. bei D. H. Lawrences "Lady Chatterley" wohl der Fall), kann von
Pornographie keine Rede sein.

Inhaltsfreiheit und Schicksal


In der Epik und Dramatik, wo Ereignisse dargestellt werden, wo
also etwas notwendig geschehen kann, gibt es auch eine Inhaltsfrei-
heit in bezug auf die Schicksalsgestaltung. Die Autonomie der Kunst-
welt ermöglicht es, dass das Zufällige in der Schicksalsbestimmung
(der "Zufall") nicht zu Worte komme, dass die Geschicke des Indi-
viduums notwendig, d.h. vom Wesentlichen in ihm und in seiner Um-
welt bedingt seien. 9 (Schon hier sei jedoch darauf hingewiesen, dass
mit dem Begriff der "Umwelt" nichts Oberpersönliches, Nicht-
Menschliches in die Ästhetik eingeführt zu werden braucht, nichts
also, was uns zwingen müsste, unsere Bestimmung des Inhalts als
konkreter menschlicher Innerlichkeit aufzugeben. Denn die Umwelt,
die für die Literatur als schicksalsbestimmend in Frage kommt, gibt
es nur in einzelnen Menschen; das Wesentliche in der Umwelt, das
da frei wird, meint also das Wesentliche in konkreten Menschen. 10
Das Eingreifen des Zufalls verwerfen wir nun nicht nur deswegen,
weil dadurch diesem individuellen Schicksal das Exemplarische, Ty-
pische, Über-sieh-Hinausweisende genommen wird, weil das "Bild"
seine Geltung verliert und wir dadurch um eine Erfahrung über den
Aufbau der existentiell relevanten Wirklichkeit und die in ihr wal-
tenden Gesetzmässigkeiten gebracht werden (dies wäre "bloss" theo-
retisch-existentieller Verlust), sondern auch deswegen, weil damit das
Individuum plötzlich unfrei würde und daher unästhetisch. Dies ist
der Grund für die Notwendigkeit der Notwendigkeit in der Literatur.
Der Eingriff des Zufalls ist eigentlich ein Eingriff der künstleri-
schen Subjektivität in die innere Logik der Personen und der Um-
stände. Anstatt sie so sich entwickeln zu lassen, wie sie sich von sich
aus entwickeln würden, wenn es sie wirklich gäbe und wenn sie in
ihrer Entwicklung - vom Zufälligen nicht durchkreuzt - einzig
ihrem Wesen folgen könnten, tut ihnen der Autor Gewalt an. Er mag

9 über die Unterschiede in bezug auf die notwendige Schicksalsbestimmung


im Epos und Drama, siehe Ä/963f.
10 über diese Umwelt als "Weltzustand", vgI. weiter unten S. 41-48.
FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM 19

damit der Fabel dienen, um das gewollte (etwa abgerundete) Ende


herbeizuführen, wie dies in unzähligen "romantischen" Geschichten
der Fall ist; oder auch einer unwahren "Moral", die nur dadurch
hervorspringen kann, dass der Autor seine Gestalten - mit einem
Wort Gorkijs - "Lügen straft". ("Zufälliges Schicksal" kann hier
biossen inneren Wandel, Bekehrung usw. bedeuten; gerade diese Art
Zufallsherrschaft wird Gorkij mit dem Wort vom Lügenstrafen 00-
stojewskij vor.) Und schliesslich kann das Hereinbrechen des Zufalls
in die dichterische Welt der Ausfluss einer Weltsicht sein, die das
"blinde Schicksal" - aus welchem Grunde immer - für bedeutend,
weil bestimmend hält. Unter den neueren Dichtern ist besonders Tho-
mas Hardys Werk von dieser fatalistisch-pessimistischen Philosophie
beherrscht.
Die Kompliziertheit der Art und Weise, wie sich die Inhaltsfreiheit
verwirklichen lässt (sei sie auf das Zufällige als Bloss-Körperliches
oder als Zufall bezogen), möge im folgenden an einem Phänomen
aufgezeigt werden, in dem gerade Körperliches und Schicksal zur
Einheit verschmelzen: am Phänomen des "äusseren Todes".
Das Innere, worauf es in der Kunst ankommt, ist in der Epik und
Dramatik insbesondere der "existentielle Weg": die wesentlichen Er-
eignisse, das, was einer menschlichen Subjektivität an Entscheiden-
dem, Richtungsbestimmendem widerfährt. Das tiefste und einschnei-
dendste dieser Ereignisse ist das Scheitern, der "innere Tod". Dem
gegenüber ist der äussere Untergang, der effektive Tod des Protago-
nisten - als bloss Leibliches - zufällig, und es gilt, ihm gerade diese
seine Äusserlichkeit zu nehmen, ihn dienstbar, d.h. innerlich zu
machen, den Inhalt auch in dieser Hinsicht zu befreien.
Die einfachste und schönste Lösung dieser Aufgabe besteht darin,
dass der Tod als Konsequenz des inneren Unterganges dargestellt,
dass er also notwendig gemacht wird. Dies ist inShakespeares "Othel-
10" der Fall, wo der Held in und wegen seines schuldvollen Schei-
terns sich selbst richtet.
Zweitens ist es möglich, den Protagonisten "weiterleben zu las-
sen", mit dem deutlichen Hinweis, dass dieses Leben ein virtueller
Tod ist. Hier wird die Äusserlichkeit der physischen Existenz also
eben nicht "aufgehoben", sondern - umgekehrt - ihr Anderssein
wird bewahrt und unterstrichen. Dadurch wird aber das Innere ge-
rade als das allein Wesentliche hingestellt, wenn auch nicht als das
alles Bestimmende und somit eindeutig Freie. Die leibliche Existenz
20 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

- obwohl in ihrem Sein oder Nicht-Sein vom existentiell Entschei-


denden unberührt - strahlt wenigstens ihren eigenen Unwert aus und
wird somit in einem bestimmten Sinne und indirekt doch zum Trans-
parent des Innern.
In Jozsef Katonas "Ban Bank" (1814), dem repräsentativsten
Drama der ungarischen Literatur, das einen geschichtlichen Stoff
aus dem 13. Jahrhundert aufgreift, ermordet des Königs Statthalter,
Bank, Königin Gertrud - aus Rache für die Verführung seiner Frau
durch einen Bruder der Königin, dem Gertrud bei der Ausführung
seines Vorhabens behilflich gewesen sein soll, sowie für die Unter-
drückung seines Volkes durch sie und ihre bevorzugten meranischen
Landsleute. Vor den heimkehrenden König zitiert, erfährt Bank, dass
Otto, der Bruder der Königin, für den Tod Gertruds Rache genom-
men hat: Er liess Banks Frau ermorden. Der Zusammenbruch des
auch von seinem Gewissen geplagten Bank ist nun vollkommen. Als
ihm der König das Leben nehmen will, raten diesem seine Gefolgs-
leute mit den Worten ab: "Herr, sieh die Verzweiflung! / Die Strafe
ist für ihn Erbarmen." Und: "Furchtbarer manchmal ist die Gnade."
Wenn auch bildhaft-übertrieben, enthalten diese Worte doch das
Wahre, dass für Bank der äussere Tod mindestens gleichgültig ge-
worden ist, dass er für ihn keine zusätzliche Strafe mehr bedeuten
würde. "Kein andrer ist im Weltall, der verlor! / ...Unendliche Ver-
nichtung ist mein Urteil" - wer solche Worte spricht, der ist ein To-
ter unter den Lebenden. 11
In einem Klassiker der modemen amerikanischen Romanliteratur,
in F. Scott Fitzgeralds "Der grosse Gatsby", haben wir sodann einen
dritten Fall vor uns, in welchem der äussere Untergang wenn nicht
als Konsequenz, so doch als Symbol des inneren dargestellt wird.
Der Tod wird hier durch Zufall verursacht (Gatsby und seine wie-
dergefundene Jugendliebe überfahren auf der Landstrasse eine Frau,
und Gatsby wird aus Rache von deren Mann getötet) - dies ist je-
doch ein akzeptabler Zufall. Er stört nicht nur deswegen nicht, weil
uns die alleinige Wesentlichkeit des inneren Unterganges auch hier
bewusst ist (selbst wenn Gatsby weitergelebt hätte, wäre dies, da er
Daisy zwar wiedergefunden, aber nicht wiedergewonnen hatte, blos-
ses Vegetieren und kein Leben gewesen); sondern auch deswegen,
weil dem Zufall Notwendigkeit bescheinigt wird. Der weitverbreitete
Kunstgriff, mit dem der Eindruck dieser inneren, der dargestellten
11 Zitiert nach der übertragung von Jenö Mohacsi, Budapest 1955.
FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM 21

Welt immanenten Notwendigkeit hervorgerufen wird, besteht darin,


dass der Künstler die Kette der Ereignisse, die den zufälligen Tod
herbeiführen sollen, bereits an einem Punkt beginnen lässt, wo ihre
Funktionalität, ihre Dienstbarkeit noch nicht zu durchschauen ist,
wo sie den Anschein erwecken, nur deswegen da sein zu müssen,
weil sie am (fiktiv-illusionären) Sein der dargestellten Welt teilhaben,
weil sie "sind". Wir nehmen sie an diesem Punkt als biosses, weiter
nicht belangvolles Faktum hin, "glauben" an sie und empfinden so-
mit in unserer Naivität den durch sie verursachten Tod als notwen-
dig. 12 Der Tod Gatsbys (oder besser: der Tod von Frau Wilson, der
dann seinerseits zu dem Gatsbys führte) ist in diesem Sinne gut "ein-
gefädelt": Wir erfahren zeitig, dass Wilsons Garage an der Land-
strasse liegt, dass er mit seiner Frau Streit hatte (dass also ihrHinaus-
rennen in ihrer Verzweiflung auf die Strasse zwar nicht notwendig,
aber doch glaubwürdig ist), und dass schliesslich Gatsby und Daisy
- ebenfalls in Erregung - gerade auf dieser Strasse nach Hause fuh-
ren (dass also Frau Wilson von Daisy wohl überfahren werden konn-
te, wenn auch nicht musste).13
Diese Notwendigkeit des zufälligen Endes ist eine bloss schein-
bare: Sie scheint dem Sein der fiktiven Welt entsprungen zu sein, ist
aber in Wirklichkeit von "aussen" , von der künstlerischen Subjekti-
vität in sie hineingebaut. Mit der Vortäuschung dieser Notwendig-
keit bezweckt der Künstler eben dies, den äusseren Tod in akzep-
tabler, weil natürlicher Weise herzuleiten, und dadurch einer anderen
Notwendigkeit, der "Selbstbestimmung" des inneren Todes wenig-
stens zu teilweisem Durchbruch zu verhelfen. Denn wenn der äussere
Untergang dem inneren auf die oben dargelegte Weise auf den Fer-
sen folgt, so wird das Innere zwar nicht in dem Sinne befreit, dass
es das Aussere zur Folge hätte, wohl aber in dem Sinne, dass das
Aussere zu dessen Symbol, zu dessen Spiegel wird. Auch das ist Be-
stimmung von innen heraus, wenn auch keine vollkommene, da bei
dieser Art Transparenz die künstlerische Subjektivität über das selbst
bei der "Selbst"-Bestimmung Notwendige hinaus bemüht werden
muss. 14
12 Vom ungarischen Ästhetiker Mihm Füst wurde dieses Problem etwa folgen-
dermassen formuliert: "Der Zufall in der Wirklichkeit rechtfertigt sich selbst,
indem er ist. Der Zufall in der Kunst muss eigens gerechtfertigt werden."
13 Der Faden der Notwendigkeit ist hier allerdings besonders dünn, da ja die
zeitliche Koinzidenz nicht "abgeleitet", nicht notwendig gemacht wird.
14 Dass der Inhalt selbst bei der scheinbar reinsten Selbstbestimmung nicht
22 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM

Inhaltsfreiheit und Umgebung


Dem Selbstbewusstsein ist jedoch nicht nur das bloss Naturhafte
und der seine Schicksalsgestaltung betreffende Zufall fremd, sondern
auch vieles in seiner dinglich-materiellen Umgebung. Da es nun un-
vermeidlich ist, dass das Selbstbewusstsein in seiner historisch-wirk-
lichen Konkretion sich mit all den Gegebenheiten verwickle, die -
teils zur äusseren Natur, teils zur Kultur gehörend - seine Umwelt
bilden, müssen mit ihm auch die Dinge um es und sein Umgang mit
ihnen in das Kunstwerk aufgenommen werden. Damit aber entsteht
die Gefahr, dass sich der Künstler dermassen in der Schilderung von
Dinglichkeiten verliert, dass dabei der innere Vorgang, um den es
eigentlich zu tun ist, kaum mehr hindurchscheint. Dies dürfte bei
mancher Zweikampfbeschreibung der "Ilias", bei manchem "Umge-
bungsinventar" eines Balzac wohl der Fall sein.
Als Gegenbeispiel, wo also die dingliche Umgebung, die ja "nur in
Beziehung auf das Innere des Bewusstseins einen wesentlichen Wert
hat" (Ä/878), dieses Innere auch wirklich herauskehrt, liesse sich
etwa die Beschreibung anführen, mit der uns Gogol in seinem Ro-
man "Die toten Seelen" das Herrenhaus von Sabakowitsch vorstellt.
"Der Hof war mit einem dichten und beispiellos festen Bretterver-
schlag umgeben. Stall, Scheune und Küche bestanden aus schweren,
dicken, für die Ewigkeit berechneten Balken. Sogar der Brunnen war
mit Eichenbohlen ausgelegt, die man sonst nur zu Mühlen und Schif-
fen verwendet... In einem Winkel des Gastzimmers stand ein
Schrank aus Nussholz, auf vier dicken Füssen, ein wahres Ungetüm.
Der Tisch, die Sessel, die Stühle, alles war schwer und vierschrötig,
mit einem Worte, jeder einzelne Stuhl schien zu sprechen: ,Auch ich
bin Sabakowitsch!' oder: ,Auch ich sehe Sabakowitsch sehr ähn-
lich!' " Er selber schien nämlich - äusserlich wie innerlich - "einem
Bären mittlerer Statur auf ein Haar ähnlich zu sehen."

Inhaltsfreiheit und Sprache


Unsere Betrachtungen über die Formen der Inhaltsfreiheit setzen
wir mit einem Hinweis auf die künstlerische Sprache fort. Ihre Rele-
vanz für unser Thema ergibt sich schon aus dem Wort "dichten",
das sich ja primär auf die Sprache bezieht und zunächst wohl nichts
anderes ausdrücken will, als dass in der "gedichteten" Sprache jedes
nur durch sich selbst bestimmt ist, darüber wird noch weiter unten (S. 61-71)
ausführlich die Rede sein.
FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM 23

Element Wesentliches aussagt. Wenn Thomas Mann in seinem "To-


nio Kröger" das Bezeichnende der literarischen Sprache darin er-
blickt, dass sie die Welt "bei Namen nennen, aussprechen und zum
Reden bringen" kann, so meint auch er dies: Der Dichter ist imstan-
de, das vor seinen inneren Augen stehende, zu beschreibende "Bild"
eines bestimmten Weltinhalts, seine momentane künstlerische Inner-
lichkeit in und mit seiner Sprache frei werden zu lassen. Ein einziger
Satz aus "Krieg und Frieden", eine Schilderung im Regen reitender
Husaren und Kosaken, möge diese befreiende Macht des Wortes ver-
sinnbildlichen: "Die Menschen sassen zusammengekauert, bemüht,
sich nicht zu regen, um das Wasser, das bis auf den Körper gedrun-
gen war und sich unten am Sitz, an den Knien und am Hals gesam-
melt hatte, zu wärmen und kein neues, kaltes hineinzulassen."
Im Empfänger erweckt dieses "Dichten", dieses Sich-Beschränken
auf das W~~~nt1iche, wobei dem "Bild" mit jed(!lll Wort etwas Neues
hinzugefügt wird, den Eindruck der sinnlichen Fülle, der Totalität.
Und das will ja der Dichter auch: mit den wenigsten Worten das
meiste vom Inhalt zu vermitteln, ihn durch nichts ihm Äusserliches
zu beschränken. Die sinnliche Fülle wird gerade deswegen genossen,
weil sie den Eindruck hervorruft, dass alles vermittelt, ausgedrückt
wurde, dass nichts "dringeblieben", dass der Inhalt vollkommen frei
geworden ist.
DRITTES KAPITEL

NATÜRLICHKEIT - EINE BESONDERE


FORM DER INHALTS FREIHEIT

Begriff der Natürlichkeit


In Kunstformen, bei denen die ihnen eigentümliche menschliche
Erscheinungsweise an sich "natürlich", d.h. auch ausserhalb ihrer,
realiter existierend ist (so z.B. in der Epik und im Drama), kann der
Inhalt wohl nur dann vollends frei genannt werden, wenn er sich
seiner Eigengesetzlichkeit gemäss manifestieren darf, wenn die be-
treffende menschliche Erscheinungsweise im Einklang bleibt mit der
menschlichen Natur. Unter "Natur" möchten wir in diesem Zusam-
menhang die Gesamtheit jener Gesetzmässigkeiten verstehen, die
einen konkreten Menschen (und in ihm den Menschen) in einer kon-
kreten Situation so und nicht anders bestimmen. Eine konkrete
menschliche Subjektivität "natürlich" darzustellen heisst, sie so zu
bestimmen, wie sie bestimmt wäre, wenn sie real existierte; es heisst,
im Geiste der Natur, "laut" der Natur zu schaffen. Es geht nicht
darum, etwas so darzustellen, wie es von der Natur geschaffen wur-
de, sondern wie es von ihr hätte geschaffen werden können. Dies ist,
wie uns scheint, die einzig legitime, weil auf die grosse Kunst tat-
sächlich anwendbare Fassung der Natürlichkeit oder Wahrheit in der
Kunstdarstellung, des viel bemühten Begriffes der Nachahmung der
Natur. 1

1 Dies ist nicht Hegels Interpretation. Er fasst den Begriff der Nachahmung
eng und lehnt sie aus später noch darzulegenden Gründen ab. (Vgl. S. 89, Anm.
17). Die hier vertretene Auffassung ist jedoch seiner Ästhetik so wenig fremd,
dass die Notwendigkeit und Anziehungskraft der weit interpretierten Nachah-
mung erst mit seinen ästhetischen Begriffen, erst im Zusammenhang mit den
Problemen der Inhaltsfreiheit hinreichend erklärt werden können. Mit den Grün-
den, deretwegen die Natürlichkeit, wie ja überhaupt die Inhaltsfreiheit genossen
wird, wird sich das letzte Kapitel dieses Buches zu befassen haben.
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 25

Illusion
Zur Freiheit einer menschlichen Innerlichkeit, wie sie etwa in der
Literatur dargestellt wird, gehört aber nicht nur freies, natürliches
Sosein, sondern "davor", es begründend, auch freies, vom Kunst-
werk unabhängiges Sein, Wirklichkeit, reale Existenz. Die Eigenge-
setzlichkeit menschlicher Innerlichkeiten zu achten heisst also, sie
nicht nur so darzustellen, wie sie wären, wenn es sie gäbe, sondern
auch so, als ob es sie gäbe, als ob sie wirklich existierten.2 Dieser
Schein als subjektives Erlebnis ist nun nichts anderes als die Illusion. 3
Das Wesen der von Werken der Literatur erweckten Illusion be-
steht gerade darin, dass wir meinen: diese humane Erscheinung sei
nicht nur deswegen da und deswegen so, wie sie ist, damit Ästheti-
sches zustande komme, sondern auch weil es sie gibt. Sie hat nicht
nur künstlerische Funktion, sondern auch reales Sein und mit diesem
Sein ursprünglich gegebenes, keiner Begründung fähiges und bedür-
fendes, unableitbares Sosein.
Hervorgerufen wird diese Illusion durch die oben analysierte Re-
spektierung des menschlichen Soseins, durch Nachahmung. Gerade
weil dieser Mensch so ist, wie wenn er von der Natur geschaffen
wäre, meinen wir, dass er in der Tat von ihr geschaffen, dass er
wirklich sei.
Wir heben hier nur einen Aspekt dieses Soseins hervor, der - als
beherrschendes Zeichen der menschlichen Wirklichkeit - in der
Kunst besonders illusionsfördernd ist: die Einmaligkeit alles Mensch-
lichen. Sie stellt die Forderung an den Dichter, bei der Erfindung
seiner Figuren und deren Erscheinungsweisen mit der Phantasie des
Lebens Schritt zu halten. Die Stärke und der Reichtum seiner Phan-
tasie bewähren sich unter anderem eben in seiner Fähigkeit, Einma-
liges, Noch-nie-Dagewesenes zu entwerfen. Um aber die übrigen As-
pekte des menschlichen Soseins nicht zu verletzen, muss der Dichter
gleichzeitig Sorge tragen, dass - was auch immer an Menschlichem
in seinem Werke erscheint - es zwar unerwartet und überraschend,

2 Wobei die blosse Scheinhaftigkeit des selbständigen Seins durch die not-
wendige Idealität und allgemeine Scheinhaftigkeit der Kunstwelt bedingt ist.
Näheres hierüber siehe auf S. 67f, 89, 102.
3 Hegel hat sich in seiner Ästhetik der Bezeichnung "Illusion" nicht bedient
und auch dem Phänomen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bloss in einigen
wenigen Formulierungen, so z.B. da, wo er von der "unabhängigen, für sich gül-
tigen und lebendigen Existenz der besonderen Seiten" im Epos spricht, scheint er
den Begriff der Illusion im Sinne gehabt zu haben (Ä/888, 973). Vgl. auch S. 6.
26 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT

aber gleichwohl überzeugend, den konkreten Möglichkeiten des


menschlichen Seins entsprungen sei. Ja wir können die Behauptung
wagen: Je überraschender, paradoxer innerhalb des konkret Mög-
lichen der dargestellte Mensch oder seine Manifestation ist, umso
wirklichkeitsähnlicher, glaubhafter, wahr-scheinlicher ist die Darstel-
lung.
Gefährdung der Natürlichkeit
Wenn wir nun diese zuletzt besprochene Form der Inhaltsfreiheit
mit den früher behandelten vergleichen, so fällt uns ein wichtiger Un-
terschied auf. Dort wurden Freiheitsformen untersucht, die in der
"Natur" nicht gegeben sind, die wirklich existierenden menschlichen
Innerlichkeiten abgehen, die folglich nur in einer "künstlichen" Welt
möglich sind. Hier hingegen wird etwas gefordert, das eo ipso "na-
türlich" ist, das also eben nicht ein Abweichen von der Natur bedeu-
tet, sondern ein Harmonisieren mit ihr. Und während dort die
"Künstlichkeit" der Kunst die notwendige Bedingung der Inhaltsfrei-
heit war, steht sie ihr hier im Wege: Die Natürlichkeit kann nur ge-
gen den Widerstand der Künstlichkeit verwirklicht werden. Dabei
denken wir in erster Linie nicht an das Neuerschaffen als solches, an
jene Schöpfung "im Geiste der Natur", auf die wir vorhin anspielten
- dies ist Sache der künstlerischen Begabung, deren Geheimnis (die
Tatsache also, dass der Künstler weiss, wie sich etwa eine gegebene
epische oder dramatische Figur in einer bestimmten Situation beneh-
men könnte) bei dem heutigen Stand der Künstlerpsychologie kaum
ergründet werden kann. Was uns interessieren muss, sind die beson-
deren und rational bestimmbaren Schwierigkeiten, die sich für die
Verwirklichung der Natürlichkeit gerade aus der KÜDstlichkeit der
Kunst ergeben können.
Die hier gemeinte Gefährdung der Inhaltsfreiheit rührt kurz daher,
dass - da hier die Natur nicht gebietet - der Künstler in der Verfol-
gung seiner grundlegenden Absicht, die Form von innen bestimmen
zu lassen, der Natur untreu werden kann. Es besteht mit anderen
Worten die Gefahr, dass bei der Durchführung der einen Notwendig-
keit die andere, die der Natur, ausser acht gelassen wird. Was kann
aber diese fremde Notwendigkeit sein, welche da die menschliche
Erscheinungsweise vergewaltigen soll? Gibt es im Kunstwerk doch
noch Notwendigkeiten, die nicht vom Zentrum des Inhalts, von die-
sem Menschen ausgehen?
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 27

Gefährdung durch einen "objektiven" Grundinhalt


In der Tat hat unsere bisherige Darstellung den Eindruck erweckt,
als lege sich die zum Inhalt erwählte konkrete Innerlichkeit immer
nur zu seiner eigenen sinnlichen Form auseinander, als würde über-
haupt nur eine Subjektivität den Inhalt eines Kunstwerks abgeben.
Dies mag wohl für die Musik, die Lyrik, für gewisse Arten der Skulp-
tur und Malerei zutreffen, nicht aber etwa für die Epik und Drama-
tik. Da gehören zum notwendigen Kreis des Grundinhalts - z.B. zur
Fabel, die ja im optimalen Fall ebenfalls eine Auseinanderlegung der
zentralen Subjektivität ist - auch andere Subjektivitäten, deren Frei-
heit - da sie selber potentielle ästhetische Kerne sind - trotz ihrer
Dienstbarkeit respektiert werden muss. So hat zum Beispiel die
Hauptfigur eines epischen oder dramatischen Werkes einen mehr
oder minder notwendigen "Hof", eine "Aura" um sich, die aus an-
deren selbständigen Individualitäten besteht. Diese müssen einerseits
"dienen", zweckmässig sein, um gerade die Freiheit des Grundinhal-
tes zu gewährleisten, andererseits darf aber ihre Dienstbarkeit an
ihnen nicht ausdrücklich herausgekehrt sein, das sie ja ihrerseits
ebenfalls Inhalte, zu befreiende Subjektivitäten sind. Näher wird
diese scheinbare Selbständigkeit von Hegel folgendermassen erläu-
tert: "Beides muss im schönen Objekte vorhanden sein: die durch
den Begriff gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der beson-
deren Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nicht nur
für die Einheit hervorgegangener Teile" (Äj149). Der Grundinhalt
muss zwar "als das Beseelende des Ganzen ... in allem Einzelnen
tätig sein, aber diese Gegenwärtigkeit bleibt das durch die Kunst
nicht ausdrücklich hervorgehobene, sondern innerliche Ansieh, - wie
die Seele (d.h. das Leben, A.H.) unmittelbar in allen Gliedern leben-
dig ist, ohne denselben den Schein eines selbständigen Daseins zu
nehmen." Diese "seelenvolle Einheit des Organischen" unterscheidet
sich deutlich von der "prosaischen Zweckmässigkeit": "Die Zweck-
mässigkeit gibt ihre Herrschaft über die Objektivität, in welcher der
Zweck sich realisiert, offenbar kund. Das Kunstwerk aber kann den
Besonderheiten, in deren Entfaltung es den zum Mittelpunkt erwähl-
ten Grundinhalt auseinanderlegt, den Schein selbständiger Freiheit
zuteilen" (Äj888f).
Die Frage ist nun: wie ist das möglich? Wie kann die Eigengesetz-
lichkeit des Darzustellenden - wie es erforderlich ist - unter allen
Umständen gewahrt bleiben? Wie können die einzelnen Subjektivi-
28 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTSFREIHEIT

täten ihre etwaige Dienstbarkeit verraten und verstecken? Die Ant-


wort ist kurz gefasst die: die künstlerische Absicht, die Zweckmässig-
keit muss mit Natürlichkeit vereint werden.
Schiller, der auch diesen Gedanken vorweggenommen hat, bringt
in seinen Kallias-Briefen folgendes schöne Beispiel aus der Land-
schaftsmalerei: "Alles in einer Landschaft soll auf das Ganze bezo-
gen sein, und alles Einzelne soll doch nur unter seiner eigenen Regel
zu stehen, seinem eigenen Willen zu folgen scheinen. Es ist aber un-
möglich, dass die Zusammenstimmung zu einem Ganzen kein Opfer
von Seiten des Einzelnen koste, da die Kollision der Freiheit unver-
meidlich ist ... Ein Baum im Vordergrund könnte Z.B. eine schöne
Partie im Hintergrund bedecken... Der verständige Künstler ...
lässt in diesem Fall denjenigen Ast des Baumes, der den Hintergrund
zu verhüllen droht, aus eigener Schwere sich heruntersenken, und da-
durch dem hintern Prospekte freiwillig Platz machen; und so voll-
bringt der Baum den Willen des Künstlers, indem er bloss seinem
eigenen folgt." 4

Gefährdung durch eine "Moral"


Um aber hochmals zur Literatur zurückzukehren: Der Grundin-
halt, das eigentlich zu Befreiende, kann in der Epik und Dramatik
auch "ausserhalb" der dargestellten Welt liegen, es kann mit einem
Innerlichkeitsinhalt der künstlerischen, darstellenden Subjektivität
identisch sein. Was wir hier im Sinn haben, lässt sich am einfachsten
als "Moral" bezeichnen, womit ganz allgemein Aussage, Gehalt ge-
meint ist, die subjektive Botschaft, die vermittelt werden soll, sei es
in der Form banaler bis tief-philosophischer Allgemeinheit oder als
konkrete, emotional-stimmungsmässige Stellungnahme der dargestell-
ten menschlichen Wirklichkeit gegenüber. Dies hat selbstverständ-
lich keine eigene sinnliche Form, sondern ist in den dargestellten
Subjektivitäten und ihrer Geschichte impliziert. (Die Frage, wie nun
4 Kallias, S. 37f. Für die Hegeische Analyse dieser scheinbaren Freiheit vom
Grundinhalt, wie sie sich in Epik und Lyrik darbietet, siehe Ä/973, 1019. In die-
sem Zusammenhang darf es uns übrigens nicht stören, dass hier z.B. vom "Wil-
len" eines Baumes die Rede ist. Die "Menschlichkeit" der Kunst zeigt sich bei
nicht-menschlichem Thema nicht nur darin, dass alles Dargestellte notgedrungen
im Spiegel eines menschlichen Bewusstseins, eben in dem des Künstlers erscheint,
sondern auch in der Tatsache, dass in die künstlerische Form - ob sie an sich
Menschliches darstellt oder nicht - ganz allgemein Seele projiziert wird und uns
somit der Kunstinhalt immer als Subjektivität, als Willenhaftes erscheint. (Hier-
über näheres siehe auf S. 72ff.)
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 29

diese Ineinanderschachte1ung vorzustellen sei, ob uns die etwaige


Moral mit der gleichen Unmittelbarkeit gegeben ist wie die darge-
stellte Seele, diese Frage muss hier allerdings offen gelassen werden.)
Weiter oben (S. 18f) haben wir bereits gesehen, dass der Autor-
gerade um seine Aussage zu vermitteln - seine Figuren manchmal
Lügen strafen mag, indem er sie einem aus ihrem Wesen nicht ableit-
baren inneren Wandel unterzieht. Was die Aussage selbst anbelangt,
kommt sowohl hier als auch bei sonstigen Verunstaltungen des
dargestellten "Lebens" unbestreitbar Freiheit zustande, da die Frei-
heit des Grundinhalts (als welcher ja die Aussage hier figuriert) wohl
gewährleistet wird. Wenn es nur auf sie ankäme, wenn zum Ästheti-
schen nur Einheit in der Mannigfaltigkeit, Allgegenwart des Grund-
inhalts erforderlich wäre, hätten wir mit dieser Freiheit bereits Äs-
thetisches vor uns. Der Preis dieser Freiheit ist jedoch die Unfreiheit
der dargestellten Figuren: Die Natur wird vom Zweck, von der künst-
lerischen Absicht vergewaltigt, und da die (wenn auch hier bloss
scheinbare) Freiheit konkreter menschlicher Innerlichkeiten eine un-
erlässliche Bedingung, ja das objektive Wesen des Ästhetischen ist,
kommt somit letztlich Unästhetisches zustande.
Demgegenüber hat schon Schiller Gestalten und Umstände gefor-
dert, die wahr und zweckdienlich sind, deren partielle Unfreiheit also
zugedeckt ist, denn "die moralische Zweckmässigkeit eines Kunst-
werks trägt ... zur Schönheit desselben so wenig bei, dass jene viel-
mehr sehr verborgen werden und aus der Natur des Dinges völlig
frei und zwanglos hervorzugehen den Anschein haben muss, wenn
diese, die Schönheit, nicht darüber verloren gehen soll." 5
Die Stellung Hegels gegenüber einer Moral und deren Verwen-
dung in der Kunst ist nicht eindeutig. Einerseits scheint er sie zu dul-
den, unter der Bedingung, dass sie nicht expliziert wird. Wenn näm-
lich "die allgemeine Natur des dargestellten Gehalts als abstrakter
Satz, prosaische Reflexion, allgemeine Lehre für sich direkt hervor-
treten und expliziert werden und nicht nur indirekt in der konkreten
Kunstgestalt implicite enthalten sein soll, dann ist durch solche Tren-
nung die sinnliche, bildliehe Gestalt, die das Kunstwerk erst gerade
zum Kunstwerk macht, nur ein müssiges Beiwesen, eine Hülle, die
als blosse Hülle, ein Schein, der als blosser Schein ausdrücklich ge-
setzt ist" (Äj92).6
5 Kallias, S. 21.
6 Das begriffliche Explizieren einer Moral ist jedoch nur ein Sonderfall des
30 NATÜRLICHKEIT-EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT

An anderer Stelle verwirft er jedoch jegliche Moral, jegliches "re-


ligiöse Erbauen, Lehren, moralische Bessern, politische Aufregen"
als Zweck der Literatur. "Denn kommt es ihr wesentlich auf derglei-
chen Absichten an, welche in diesem Falle aus der ganzen Fassung
und Darstellungsart herausscheinen, so ist sogleich das poetische
Werk aus der freien Höhe, in deren Region es nur seiner selbst we-
gen dazusein scheint, in das Gebiet des Relativen heruntergezogen,
und es entsteht entweder ein Bruch zwischen dem, was die Kunst
verlangt, und demjenigen, was die anderweitigen Intentionen for-
dern, oder die Kunst wird, ihrem Begriffe zuwider, nur als ein Mittel
verbraucht und damit zur Zweckdienlichkeit herabgesetzt" (A/898).
Da ist zunächst zu bemerken, dass es sich hier überhaupt nicht um
ein Entweder-Oder handelt; die beiden Erscheinungen - der Bruch
zwischen künstlerischer und ausserkünstlerischer Forderung einer-
seits und die Zweckdienlichkeit der Kunst, oder besser: der einzelnen
Elemente andererseits - sind ein und dasselbe: Was die Kunst hier
fordert, ist nichts anderes als die Verdeckung der Zweckdienlichkeit,
und der Bruch kommt gerade dadurch zustande, dass die Zweck-
dienlichkeit - dieser Forderung zum Trotz - nackt zutage tritt. Ab-
gesehen hiervon scheint Hegel an dieser Stelle seine vorangegangene
Ausserung nicht mehr im Auge gehabt zu haben, wonach eine Moral
erlaubt ist, solange sie in das Medium der Form eingesenkt erscheint.
Da jedoch die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Implizierens an
der soeben zitierten Stelle nicht widerlegt wurde, möchten wir an der
ursprünglichen Formulierung Hegels festhalten und der darin ausge-
sprochenen Forderung die bereits bei Schiller vermerkte anreihen,
wonach die eingesenkte Moral die Inhaltsfreiheit nicht einschränken,
sondern sich natürlich aus dem Wesen des dargestellten "Lebens"
ergeben soll.
Theoretisierens innerhalb der Literatur überhaupt. Somit ist es der Kunst nicht
nur deswegen abträglich, weil es die Unfreiheit der konkreten Kunstgestalt aus-
drücklich hervorkehrt, sondern auch aus einem tieferen Grund. Zwar gehört
auch diese oder jene Theorie zu den möglichen Inhalten einer konkreten Sub-
jektivität, trotzdem darf sie als solche nur insofern Thema der Literatur werden,
als sie zur Charakterisierung, zur Befreiung dieses Menschen beiträgt. (Dies
dürfte Z.B. bei einem Naphta oder Settembrini in Thomas Manns "Zauberberg"
wohl der Fall sein.) Sobald sie nicht mit diesem Zweck eingeführt wird, ist sie
deswegen nicht legitim, weil der Mensch in ihr sich nicht als Dieses, als konkrete
Subjektivität bekundet, sondern als Denken, als überpersönliches, das - eben als
solches - etwas allgemein-objektiv Gültiges, nicht nur in bezug auf ihn Relevan-
tes aussprechen will. Was hier erscheint, ist nicht dieser Mensch. sondern etwas
Allgemeines: seine Vernunft und die von ihr intendierte eidetische Wirklichkeit.
NATÜRLICHKEIT-EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 31

Wenn nun die Moral eines Kunstwerks tatsächlich moralischer


Natur ist, d.h. aus einem ethischen Urteil besteht, so muss dies letz-
tere - wenn es der oben genannten Forderung entschprechen soll -
möglichst tief, d.h. "widerspruchsvoll" gefasst werden. Denn wenn
es einseitig, nur verwerfend oder nur bejahend ist, wird es der ethi-
schen Komplexität alles Menschlichen nicht gerecht und kann sich
somit im Medium der dialektischen "Wirklichkeit" nur mit Gewalt
durchsetzen. Je summarischer ein solches Urteil ist, desto freiheits-
verletzender wird es auch sein, wie auch umgekehrt; je vielseitiger,
wahrer die Darstellung, umso unmöglicher ist jede eindeutige, schwarz-
weisse moralische Stellungnahme. Es dürfte in diesem Sinne die Be-
hauptung gewagt werden, dass sich Moralität und "Realismus" ge-
genseitig schlecht vertragen, dass sie einander entgegengesetzte For-
derungen sind.
Nun muss aber jede Moral, die den Leser zum praktischen Han-
deln anhalten will, jede Tendenz also und Propaganda, mehr oder
weniger einseitig sein. Denn je grösser die bezweckte Umwälzung ist,
umso mehr ist es zu ihrem Erfolg notwendig, dass der ganze Mensch
hinter seinem Handeln stehe, dass er durch Anhören der anderen
Seite, durch möglichst objektiv gehaltene und somit "widerspruchs-
volle" Erkenntnis nicht gespalten und geschwächt, dass er von des
Gedankens Blässe nicht angekränkelt sei. Hierin liegt der Grund für
die Neigung der Tendenzliteratur, bei epischer und dramatischer
Darstellung des Menschen in "Lügen" zu entarten. Diese Neigung
zu bekämpfen, ist eben wegen der hier waltenden Notwendigkeit
ausserordentlich schwierig, und es darf uns daher auch nicht wunder-
nehmen, dass in der grossen Kunst so wenig ausgesprochen tenden-
ziöse Werke zu finden sind.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass der ausserkünstlerische
Zweck an sich überhaupt nicht "böse" ist. Er kann - als Konzentra-
tion der darstellenden, künstlerischen Subjektivität - den organisie-
renden Inhalt eines Kunstwerks ebensogut abgeben, wie die vom
Künstler erfundene, die dargestellte Subjektivität. Nicht weil er der
Kunst äusserlich ist, muss er verworfen werden, sondern weil und so-
fern er zur Unfreiheit der Einzelfiguren führt und somit das Ent-
stehen des Ästhetischen gefährdet. Ein Werk darf einerseits wohl
Mittel zu äusserlichen Zwecken sein, muss aber andererseits (und in
erster Linie) in sich selbst, in seinem eigenen Ästhetisch-Sein seinen
Zweck haben, wenn es den Namen Kunstwerk verdienen will. Weil
32 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT

dies - trotz notwend~ger Schwierigkeiten im konkreten Fall - an sich


möglich ist, können gegen die Einsenkung ausserkünstlerischer
Zwecke von seiten der Ästhetik keine prinzipiellen Bedenken ange-
meldet werden.
Eben weil ein Kunstwerk durch die Befreiung einer Moral eines-
teils Mittel, durch die Bewahrung und Verwirklichung der Freiheit
in der "objektiven" Welt gleichzeitig auch Selbstzweck sein kann,
weil es also in solchen Fällen auf zwei verschiedene Zwecke bezogen
ist, ist es auch in zwei verschiedene Wertbezüge eingespannt. Es ist
nun mehr als natürlich, dass der Leser - der ja nicht weniger als der
Künstler im praktischen Leben steht, mit existentiellen Stellungnah-
men erfüllt ist und auch in der ästhetischen Situation nicht über
seinen Schatten springen kann - an einer etwaigen Moral oft nicht
gleichgültig vorbeigeht, sondern sie - ähnlich wie irgendeine andere
geistige Haltung in seinem sonstigen Leben - wertet. Diese Wert-
schätzung mag im konkreten Fall - je nach der Betroffenheit von der
in Frage stehenden Moral - sogar das Ausschlaggebende sein, und es
gibt keine Überlegung, die jemandem das Recht nähme, sich bei
der Beurteilung eines bestimmten Werkes von dessen ausserkünst-
lerischem Wert leiten zu lassen. Nur muss sich der Betreffende in
diesem Fall darüber im klaren sein, dass der Masstab, den er hier an
das Werk anlegt, unspezifischer, wesensfremder, ausserästhetischer
Natur ist, und dass er folglich mit dessen Hilfe nicht das geringste
über des Werkes künstlerischen Wert aussagt. Es ist also wohl mög-
lich, ja in gewissen geschichtlichen Situationen sogar ehrbar und mo-
ralisch wünschenswert, dem ausserkünstlerischen Aspekt den Vor-
rang einzuräumen und (hierauf läuft es ja meistens hinaus) den prak-
tischen Nutzen eines Kunstwerks als entscheidend anzusehen. Der
Irrtum wird nur begangen, wenn dies als ästhetische Wertschätzung
ausgegeben wird.
Von der utilitaristischen Kunstauffassung her ist es nun üblich,
diesen ästhetischen Gesichtspunkt und den ihm zugeordneten rein
künstlerischen Wert überhaupt geringschätzig zu beurteilen und Wer-
ke ohne Aussage als Spielerei, als "bIossen" Ästhetizismus abzutun.
Demgegenüber gilt festzuhalten, dass das Ästhetische die Würde be-
sitzt, der einzige gemeinsame Nenner und folglich das Fundierende
aller Kunstwerke zu sein, und es somit jede Hochachtung, die man
der Kunst als solcher entgegenbringt, für sich beanspruchen darf.
Ferner steht es - wie wir bereits gesehen haben - mit ontologisch so
NATüRLICHKEIT-EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 33

hervorragend wichtigen Phänomenen wie Mensch, Freiheit, Sinnlich-


keit in direkter Verbindung. Und schliesslich kann es - das wird uns
der spätere Verlauf unserer Untersuchung mit aller Deutlichkeit zei-
gen - mit dem ihm gegenüberstehenden Menschen in einen spezifi-
schen Bezug gebracht werden, dem erstrangige existentielle Bedeu-
tung zukommt. Dieses Ästhetische hervorbringen zu wollen, ist alles
andere als "böse".

Gefährdung durch formale Notwendigkeit


Das Organisierende, dasjenige, was Notwendigkeit in die sinnliche
Form bringt, kann aber nicht nur inhaltlicher, sondern auch selber
formaler Natur sein. Dies ist der Fall, wenn der Künstler die vom In-
halt her unbestimmbaren Seiten des Kunstwerks wenigstens von sich
aus zu bestimmen sucht, indem er ihnen Regelmässigkeit, Symmetrie,
Harmonie verleiht. (Wobei das Walten objektiver, in diesem Fall
wohl rational-verstandesmässiger Prinzipien selbstverständlich auch
hier nicht abzuleugnen ist.) 7 über den Rhythmus z.B. heisst es bei
Hegel, er sei kein "eigentliches Element für den Inhalt, sondern ...
eine akzidentellere Äusserlichkeit, welche eine Kunstform nur noch
annimmt, weil die Kunst keine Aussenseite sich schlechthin zufällig
nach eigenem Belieben ergehen lassen darf" (Ä/871).
Auch hier besteht nun die Gefahr, dass die künstlerische Absicht
eine natürliche Äusserung vergewaltigt, und auch hier kommt es
darauf an, die eine Notwendigkeit der anderen nicht zu opfern. Schil-
ler fasst diese Dialektik von inhaltlich und formal Schönem in be-
zug auf die Versifikation folgendermassen zusammen: "Eine Versi-
fikation ist schön, wenn jeder einzelne Vers sich selbst seine Länge
und Kürze, seine Bewegung und seinen Ruhepunkt gibt, jeder Reim
sich aus innerer (d.h. vom Inhalt herrührender, A.H.) Notwendigkeit
darbietet und doch wie gerufen kommt (d.h. der künstlerischen Ab-
sicht entspricht und - etwa im Falle des Reimes - zusammenklingt,
A.H.) - kurz, wenn kein Wort von dem andern, kein Vers von dem
andern Notiz zu nehmen, bloss seiner selbst wegen da zu stehen
scheint, und doch alles so ausfällt, als wenn es verabredet wäre." 8

7 Vgl. Ä/260-265.
8 Kallias, S. 38.
34 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTSFREIHEIT

Abwendung der Gefahr: Synthese und Einfall


Die Möglichkeit des Scheiterns bei der Vereinigung von Zweck,
dienlichkeit und Wahrheit rührt daher, dass diese beiden Forderun-
gen einander widersprechen können. Dies möge nun an dem auch
von Schiller herangezogenen Beispiel des Reimes verdeutlicht wer-
den.
Der Reim ist ein Teil der sprachlichen Form, die berufen ist, den
konkreten Inhalt der dichterischen Subjektivität zu vermitteln. Rein
formal betrachtet besteht die Bestimmung des Reimes kurz darin, die
grösstmögliche phonetische Ähnlichkeit mit der grösstmöglichen ety-
mologischen und morphologischen Verschiedenheit zu vereinen.
(Wodurch übrigens der Reim selber als "widerspruchsvolles" Gebil-
de bestimmt wird.) Je mehr sich nun der Dichter an die einzig ange-
messene Fassung seines "Gedankens" hält, umso unwahrscheinlicher
ist es - eben wegen dieser dialektischen Kompliziertheit und somit
"Seltenheit" des Reimes als solchen -, dass sich daraus Reime erge-
ben; und zwar je besser ein Reim sein soll, umso unwahrscheinlicher
ist es, dass er zufällig "vorkommt". Und umgekehrt: je mehr eine im
Prozess des Dichtens entstandene, bloss formelle Reimidee der obi-
gen Bestimmung entspricht, desto geringer ist die Wahrscheinlich-
keit, dass beim Einbauen des zweiten Reimgliedes der Inhalt nicht
umgestaltet wird. Das bedeutet aber, dass den Inhalt möglichst an-
gemessen auszudrücken, ihm seinen freien, natürlichen Lauf zu las-
sen und gleichzeitig den bestmöglichen Reim zu verwenden, d.h.
auch die hier in Frage kommende formale Notwendigkeit zu respek-
tieren, widerstreitende Bestrebungen sind. Was hier vonnöten ist -
genauso wie bei den einander manchmal ebenfalls widersprechenden
Erfordernissen der menschlichen Wahrheit und der Moral - ist eine
dialektische Synthese, die Aufhebung, spannungsvolle Versöhnung
von "Widersprüchen". Allerdings handelt es sich hier ebensowenig
um eine Aufhebung kontradiktorischer Gegensätze, also um etwas
von der traditionellen Logik her gesehen Irrationales, wie bei den
meisten von Hegel selbst behandelten realdialektischen Synthesen. 9
Es geht "bloss" um gegenseitiges Modifizieren (bei allem Vorgege-
bensein des Inhalts), um den besten Kompromiss, in dem ein Maxi-

9 Vgl. dazu die bereits zitierte Arbeit von Nicolai Hartmann: Hegel und das
Problem der Realdialektik, sowie die ebenfalls ausserordentlich aufschlussreiche
Abhandlung von Agnes Dürr: Zum Problem der Hegelsehen Dialektik und ihrer
Formen, Berlin 1938.
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 35

mum an Zweckdienlichkeit mit einem Maximum an Natürlichkeit


vereint wird. Gleichwohl - trotz seiner letzthinnigen "Rationalität"
- scheint dieses Zusammenfassen von Auseinanderstrebendem auf
rationalem Wege unlösbar zu sein: Es ist "Kunst", es ist Sache des
künstlerischen Einfalls. 10

10 Die in diesem Kapitel besprochene Natürlichkeit betrifft freilich nur das


Wesentliche, die Hauptlinien der inneren Bewegung, die Grundgebärde der
Seele. Jede Abweichung vom Natürlichen an der Oberfläche, jedes Stilisieren,
Umformen, Verdichten wird annehmbar, wenn und sobald wir uns daran "ge-
wöhnen", d.h. wenn es einen notwendigen Bezug nach innen verrät, wenn es sich
als Nicht-von-aussen-Bestimmtes erweist. Der Zweck einer solchen Abkehr von
der Natürlichkeit ist eben der, den Inhalt auf eine tiefere Weise zu befreien, als
es jede sich auf die kleinsten Einzelheiten erstreckende Natürlichkeit vermöchte,
oder - bei der formalen Schönheit - eine innere Notwendigkeit der Form über-
haupt erst zu ermöglichen. Gerade weil - mit anderen Worten - hierdurch Äs-
thetisches entstehen soll, sind wir zu jener "willing suspension of disbelief" be-
reit, von der Coleridge spricht. Deswegen stossen wir uns nicht - um nur ein paar
Beispiele zu nennen - an der Missachtung der Zeit- oder Raumeinheit im
Drama, an der rhythmisierten, gereimten Diktion als solcher, an der bereits be-
rührten "Unnatürlichkeit" eines Henry Moore usf. Der Vorsprung der Kunst vor
der Wirklichkeit zeigt sich eben nicht nur im Weglassen alles Zufälligen inner-
halb des Natürlichen, sondern auch in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, eine
oberflächliche Natürlichkeit gänzlich zu verwerfen, wenn diese zufälliger ist als
die "künstliche" Form.
VIER TES KAPITEL

FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

Zwei Aspekte der Inhaltsfreiheit


Hegellässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich das We-
sen des Ästhetischen für ihn keineswegs im Formwerden des Inhalts
erschöpft. Er betont immer wieder, dass es beim sinnlichen Scheinen
in der Kunst nicht nur auf das Dass, sondern auch auf das Was an-
komme, dass es nicht gleichgültig sei, was da sinnlich scheint. Die
Kunst hat nach ihm "nichts anderes zu ihrem Beruf, als das in sich
selbst Gehaltvolle zu adäquater sinnlicher Gegenwart herauszustel-
len." In ihr haben wir es "mit der Befreiung des Geistes vom Gehalt
und den Formen der Endlichkeit" zu tun, sie "hebt . .. die blasse
Zufälligkeit des Gehalts sowohl als der äusseren Erscheinung auf."
(Ä/573, 1105, 300. Von mir hervorgehoben.) Es handelt sich hier
also überhaupt nicht nur um eine Freiheit des Inhalts in der Form,
sondern auch um eine Freiheit des Inhalts in sich: Der Inhalt muss
auch von seinen eigenen Zufälligkeiten bereinigt, auch im Hinblick
auf sich selbst frei gemacht werden.
Dass dem so ist, darf uns nach dem Vorangegangenen nicht be-
fremden, haben wir doch bereits eingangs gesehen, dass das Ästhe-
tische nach Hegel das sinnliche Scheinen - nicht von Beliebigem,
sondern der Idee ist. Schon dadurch wurde der Bereich dessen, was
zum Inhalt werden kann, eingeschränkt, und zwar - wie wir es da-
mals gezeigt haben - auf nichts anderes als das Selbstbewusstsein,
auf die konkrete menschliche Subjektivität. Dies konnte für die in
der Definition gemeinte "Idee" (oder genauer: für die Idee des Gei-
stes) wohl eingesetzt werden, da im Selbstbewusstsein als Fürsichsein
der Begriff des Geistes Wirklichkeit wird.
Darin lag aber bereits zweierlei beschlossen. Einerseits bedeutet
jede Begriffsverwirklichung, also auch die des Geistes im Selbstbe-
wusstsein, ein Bei-sich-Sein, ein Sich-Haben-im-Anderen, mit einem
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 37

anderen Wort: Freiheit. Wenn also das Selbstbewusstsein als das im


Schönen sinnlich Scheinende postuliert wird, so wird ineins damit
bereits eine "Freiheit-in-sich" gefordert: Der Geist, der ja - da er
"alle Realität" ist - den einzig möglichen Inhalt abgibt, ist als und in
diesem Inhalt bei sich, in sich frei, eben Idee.
Wenn jedoch andererseits etwas Idee ist, wenn seine Wirklichkeit
mit seinem Begriff übereinstimmt, so ist es nach der Terminologie
Hegels auch "wahr". In diesem Sinne ist die durch die ganze HegeI-
sche Ästhetik sich hindurchziehende Forderung zu verstehen, wo-
nach die Kunst den Beruf habe, das "Wahre" darzustellen. Der Geist
muss als Verwirklichtes, als Wahres: als Selbstbewusstsein die sinn-
liche Form "durchscheinen". "
"Idee" hat aber bei Hegel - wie wir anfangs ebenfalls gesehen ha-
ben - auch die allgemeinere Bedeutung, die Selbstverwirklichung
eines beliebigen Begriffes zu sein (selbstverständlich nur, sofern die-
ser vernünftig, dialektisch ableitbar ist). Eine der grössten Schwierig-
keiten bei dem Verständnis der Hegelschen Ästhetik rührt nun gerade
daher, dass er das Wort "Idee", und folglich auch die Worte "wahr"
und "Wahrheit", in beiden Bedeutungen verwendet, ohne sie vonein-
ander zu trennen.
Wenn er sagt, "das Schöne muss wahr an sich selbst sein" (Ä/145),
so meint er nicht nur, dass das im Kunstwerk Dargestellte mit dem
Begriff des Geistes übereinstimmen, somit Idee im engeren Sinn,
Selbstbewusstsein, Ich, Mensch sein soll, sondern zugleich auch dies,
dass es die Bestimmung hat, als Mensch ebenfalls wahr, mit dem Be-
griffe des inhaltlich erfüllten Menschen übereinstimmend, Idee im
weiteren Sinne zu sein.
Diese beiden Ideenbegriffe werden nicht nur nicht getrennt, son-
dern (im theoretischen Sinn) auch nicht verbunden. Einerseits erblickt
Hegel das "formelle" Wesen des Menschen darin, dass er Selbstbe-
wusstsein ist. Andererseits ist es für ihn klar, dass diese Form -
Form von etwas sein muss, dass sich der Mensch erst in den Inhalten
seines Bewusstseins seiner selbst bewusst werden kann. Da nun diese
Inhalte nicht nur von aussen, sondern auch vom Sein des Menschen
her bestimmt sind, drängt sich die Notwendigkeit eines inhaltlich er-
füllten Menschenbegriffes auf, welcher unter anderem die grundle-
genden menschlichen Wollungen, Zielsetzungen enthielte. Hegel -
wie wir sogleich sehen werden - hat tatsächlich einen solchen "in-
haltlichen" Begriff vom Menschen; er "hat" ihn aber nicht kraft ir-
38 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

gendeiner Deduktion, nicht als ob er das inhaltliche Wesen des Men-


schen aus dem formellen abgeleitet hätte. Es wird nähmlich weder in
seiner "Ästhetik" noch sonstwo gezeigt, ob und wieso die Begriffs-
verwirklichung des Menschen eine "Fortsetzung" der Begriffsver-
wirklichung des Geistes sein soll, ob es sich darum handelt, dass das
"Selbstbewusstsein" zu dem "wird", was über das Selbstbewusstsein
hinaus - als dessen Inhalt - das Substantielle des Menschen aus-
macht, und falls ja, wie dieser Übergang vorzustellen sei. Wir haben
hier wohl mit einem der Fenster zu tun, die Hegel - ohne dies ein-
zugestehen - auf die Empirie öffnete.
Unabhängig von diesem theoretischen Mangel (wenn es einer ist),
bleibt die Tatsache bestehen, dass nach ihm der Inhalt des Kunst-
werks nicht nur allgemein wahrer und das heisst: freier Geist, kon-
kretes Selbstbewusstsein sein soll, sondern genauer wahrer Mensch,
der nicht nur in seinem Äusseren, in der Form, sondern auch in sich
frei ist, der - eben als wahrer - nur sein Substantielles herauskehrt.
Worin nun dieses Substantielle von Hegel gesehen wird - dies gilt
es im folgenden zu untersuchen.

Das Substantielle als "Pathos"


Der Gehalt des Kunstwerks - so lesen wir auf S. 219 seiner "Äs-
thetik" - wird von den "ewigen weltbeherrschenden Mächten" gebil-
det - eine Bestimmung, die zunächst merkwürdig "menschenfremd"
anmutet und dem bisher betonten anthropozentrischen Charakter der
HegeIschen Ästhetik zu widersprechen scheint. Dieser Eindruck ver-
schwindet jedoch, sobald diese "Mächte" weiter verdeutlicht werden.
"Die grossen Motive der Kunst", heisst es etwa auf S. 237, sind "die
ewigen religiösen und sittlichen Verhältnisse: Familie, Vaterland,
Staat, Kirche, Ruhm, Freundschaft, Stand, Würde, in der Welt des
Romantischen besonders die Ehre und Liebe usf." Zugleich sind
aber diese "ewigen herrschenden Gewalten dem Selbst des Menschen
immanent; sie machen die substantielle Seite seines Charakters aus"
(242); sie bilden "die wesentlichen Bedürfnisse der menschlichen
Brust" (237), "die höheren Interessen des Geistes und Willens"
(288). Diese "allgemeinen Mächte" nun, "welche nicht nur für sich
in ihrer Selbständigkeit auftreten, sondern ebensosehr in der Men-
schenbrust lebendig sind und das menschliche Gemüt in seinem In-
nersten bewegen", werden von Hegel mit dem Ausdruck "Pathos"
bezeichnet. Das Pathos bildet nach ihm "den eigentlichen Mittel-
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 39

punkt, die echte Domäne der Kunst; die Darstellung desselben ist das
hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer. Denn
das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust wider-
klingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Ge-
halt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an. Das Pathos be-
wegt, weil es an und für sich das Mächtige im menschlichen Dasein
ist" (248f).
Wenn wir nun versuchen, das Gemeinsame dieser "Mächte" zu
bestimmen, so finden wir, dass der Mensch durch sie über sich hinaus
getrieben und in überindividuelle Bezüge eingespannt wird. Das Sub-
stantielle des Menschen kann also nach Hegel als das Nicht-nur-
Selbstisch-Partikuläre, als das im "Allgemeinen", in den vernünfti-
gen Ordnungen Aufgehende definiert werden. Gerade dies macht
aber für ihn das" Gute" im Menschen aus. 1
Wir haben es somit bei Hegel mit einer durchaus optimistischen
Menschenauffassung zu tun: Der Mensch ist an sich (d.h. seinem Be-
griff, seiner Anlage und Bestimmung nach) im soeben umrissenen
Sinne "gut". Sofern er sich nicht in seiner Einzelheit verschanzt, son-
dern zu dem ihm immanenten Allgemeinen emporläutert, ist er mit
seinem Begriff identisch, bei sich: Er ist nicht nur "gut", sondern zu·
gleich auch innerlich frei. So, in dieser inneren Freiheit, soll nun nach
Hegel die Kunst den (immer als konkrete Innerlichkeit verstandenen)
Menschen darstellen. In dieser Forderung liegt eigentlich auch das
Weitere beschlossen, dass das Wahre, Gute und Schöne - freilich in
einer ganz spezifischen Bedeutung - auch für ihn zusammenfallen. 2
Gerade diese Auszeichnung des Pathos bringt es wohl mit sich,
dass es von Hegel mehrmals als das "Göttliche" bezeichnet wird.
"Der Mensch trägt nicht etwa nur einen Gott als sein Pathos in sich,"
lesen wir z.B. in seiner "Ästhetik", "der ganze Olymp ist versammelt

1 Dieses Ineinandergreifen von Ethischem und Anthropologischem schlägt


sich am deutlichsten etwa im folgenden Satz nieder: "Das allgemein Gute am
Einzelnen als solchen ist das Pathos, das Allgemeine, das ihn treibt" (18/77f).
2 Die hier bloss zusammengedrängt umrissene Anthropologie Hegels ist in
sein Gesamtwerk eingebettet; es lassen sich also schwerlich einzelne Stellen zitie-
ren. Gleichwohl sei - neben der einschlägigen Abschnitten der "Rechtsphilos0-
phie" - besonders auf S. 258-263 der "Religionsphilosophie" hingewiesen, wo
das Problem, ob der Mensch gut oder böse sei, eingehend erörtert wird. Ober
Hegels Anthropologie sind besonders zwei Arbeiten zu erwähnen: Justus
Schwarz, Die anthropologische Metaphysik des jungen Hegel, Diss. Königsberg
1931; sowie Walter Brüning, "Das Bild des Menschen im objektiven Idealismus",
Kantstudien, Bd. 46 (1954/55). Beiden Arbeiten ist der Verfasser verpflichtet.
40 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

in seiner Brust" (252). Damit sehen wir uns aber auf unsere ur-
sprüngliche Frage zurückgeworfen, ob es nämlich gerechtfertigt ist,
im Namen Hegels den Menschen als den zentralen Inhalt der Kunst
hinzustellen. Hegel-Interpreten vom Range eines Rudolf Haym ha-
ben ja behauptet, das Schöne sei nach Hegel "Darstellung des Absolu-
ten oder des Göttlichen": "Nicht der Mensch, sondern das Absolute
stellt sich in der Kunst dar." 3 Was hat es nun damit für eine Be-
wandtnis?
Ganz allgemein ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Hegel
Gott nichts Abgetrenntes, Nur-Transzendentes ist: Er ist inseiend in
allem Vernünftigen, Wahren, er ist der "absolute Geist". Gerade das
macht für Hegel seine Absolutheit aus, dass er - mit einem Wort Ni-
colai Hartmanns - "alles in allem" ist: Er ist sowohl "ausser" als
auch "in" der Welt. 4 Wenn aber alles Wahre an sich göttlich ist, so
kann die Alternative, ob nun das Göttliche oder der Mensch den In-
halt der Kunst abgebe, überhaupt nicht gestellt werden. Der Mensch
der Kunst - als Wahres - ist eben Mensch und Göttliches zugleich.
Darüber hinaus ist jedoch das Göttliche - in dem Hegel eigentüm-
lichen, emphatischen Sinne des Wortes - nur im Menschen wirklich
(denn nur in ihm hat Gott sein Fürsichsein). Dies wird von Hegel
selbst ausgesprochen, indem er sagt, dass "wenn Gott erscheinen soll,
seine Natürlichkeit die des Geistes sein müsse, was für die sinnliche
Vorstellung wesentlich der Mensch ist, denn keine andere Gestalt
vermag es, als Geistiges aufzutreten" (llj325f).
Die Forderung nach dem Göttlichen als Inhalt der Kunst bedeutet
also gleichzeitig und notwendig eine Forderung nach dem Menschen. 5
Trotzdem kann aber nicht abgestritten werden, dass es sich hier
nicht um eine Tautologie handelt: "Göttliches" und "Mensch" sind
nicht bloss verschiedene Wörter mit derselben Bedeutung.. Das Gött-
liche ist für Hege! auch Transzendentes: Es hat ewiges, notwendiges
logisches Sein. Das, was im Menschen als Pathos erscheint, "gibt es"

3 Hegel und seine Zeit, BerIin 1857, S. 441.


4 Hegel, S. 137.
5 Daneben mag aber zwischen der Phänomenologie des Geistes und der .J·s-
thetik wohl auch eine gewisse Akzentverlagerung in der HegeIschen Kunstauf-
fassung stattgefunden haben: Im früheren Werk ist mehr von Gott, vom absolu-
ten Geist die Rede, der im Menschen wirklich wird; im späteren mehr vom Men-
schen, der die Wirklichkeit Gottes ist. Dieser übergang von einer mehr theo-
zentrischen zu einer mehr anthropozentrischen Ästhetik ändert jedoch an der
grundlegenden Verflochtenheit von Göttlichem und Menschlichem nichts.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 41

auch ausser ihm (allerdings in unwahrerer, weil nicht selbstbewusster


Form). Wenn wir nun diese "ewigen Mächte" als nicht denknot-
wendige Hypostasierungen des objektiven Idealismus vom Menschen
abtrennen und den Umfang des Kunstinhalts dem Seinsbereich des
realen Menschen gleichsetzen, so bedeutet dies nach dem Gesagten
wohl eine Abkehr von Hegel. Der Unterschied betrifft jedoch nur
die Seinsweise, nicht aber den "Inhalt" des Inhalts. Denn ob es die
"ewigen Mächte" auch ausserhalb des Menschen gibt, ob - anders
gewendet - der Mensch auch über ihn ontologisch Hinausweisendes,
ihm Transzendentes "enthält" oder nicht: Das, was in der Kunst
dargestellt wird, ist auch nach Hegel immer nur menschliches Pathos.
Alles Dargestellte gehört - wenigstens in seiner Unmittelbarkeit, als
Dargestelltes - zur Innerlichkeit eines konkreten Menschen. Für uns
wird in der Kunst nur der Mensch frei.

Das Substantielle als " Weltzustand"


Dem Geiste seiner Philosophie entsprechend fasst Hegel das Sub-
stantielle des Menschen, und somit den zu befreienden Inhalt der
Kunst, nicht nur als Beharrendes, als Pathos auf. Wie alles Reale,
hat auch dies seine "Geschichte": Es besondert sich in der Zeit, ohne
die Identität mit sich zu verlieren. Zwar ist der Mensch einerseits
immer der gleiche, indem er - sobald und solange er "Mensch" ge-
nannt werden darf - von den gleichen Interessen, Strebungen in
Atem gehalten wird, andererseits existieren aber diese Interessen und
Strebungen auf dem Boden der realen Welt nicht in ihrer Allgemein-
heit, sondern immer geschichtlich abgewandelt, in zeitlich-histori-
scher Besonderung. Die "allgemeine Art und Weise" nun, "in wel-
cher das Substantielle vorhanden ist, das als das eigentlich Wesent-
liche innerhalb der geistigen Wirklichkeit alle Erscheinungen dersel-
ben zusammenhält", wird von Hegel "Weltzustand" genannt (AI
203). Dieser ist in unserer Fassung als die prozessartige Besonderung
der "ewigen Mächte" anzusehen. Hegel schreibt ja selber: "Von
seiten des Weltzustandes ... erscheint das Sichzeigen der Individuen
zwar als Werden seiner Allgemeinheit zu einer lebendigen Besonde-
rung und Einzeilheit, zu einer Bestimmtheit aber, in welcher sich zu-
gleich die allgemeinen Mächte als das Waltende erhalten" (A/218f).
Näher kann der Weltzustand als allgemeine "Bewusstseinslage", gei-
stiges "Gesamtbefinden", Welt-Anschauung, philosophisch-psycholo-
gisches Charakteristikum, kurz als das geschichts- und kulturphilosi-
42 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

phische Wesen eines menschlichen Hier-und-Jetzt umschrieben wer-


den. 6
Angesichts der betonten Historizität, der Hegelschen Kunstbehand-
lung ist es nicht verwunderlich, dass sein Ideen- (und das heisst in
unserem Fall: Inhalts-) Begriff oft ausschliesslich vom Weltzustand,
von der Geschichte her ausgelegt wurde. So setzt etwa Eduard von
Hartmann die Idee, die in der Kunst sinnlich scheint, mit dem "Welt-
prozess" ineins,7 und auch Rene Wellek sieht in ihr "den histori-
schen Prozess selber." 8 Vollends geschichtlich interpretiert den He-
gelschen "Inhalt" Georg Lukacs, der ihn ausdrücklich mit dem Welt-
zustand identifiziert und den Weltzustand selbst auf den "jeweiligen
Entwicklungszustand der Gesellschaft und der Geschichte"reduziert. 9
Beide Schritte sind nun vom Standpunkt Hegels aus ungerechtfertigt:
Es wird in ihnen bereits eine verkappte marxistische "Umstülpung"
vollzogen. Denn einerseits erschöpft sich für Hegel der Weltzustand
nicht im Sozialen und äusserlich-materialistisch Geschichtlichen. Der
Weltzustand des Klassischen z.B. und der der Modeme sind für ihn
nicht bloss zwei verschiedene soziale Strukturen oder Abschnitte der
"Geschichte", wie Lukacs das Wort versteht, sondern Stationen in
der Geschichte des menschlichen Geistes. Wenn der Unterschied
zwischen ihnen etwa darin gesetzt wird, dass in der "Heroenzeit" das
Individuum selber Orakel des Sittlichen ist, in den "gegenwärtigen
prosaischen Zuständen" hingegen das Sittliche sich zu gesetzlicher
Ordnung objektiviert hat, die das Individuum um seine Selbständig-
keit bringt (vgl. Ä/203-216), - so mag dies noch wohl als "geschicht-
lich"-soziale Änderung gefasst werden. Gänzlich versagt jedoch diese
Interpretation dort, wo der Unterschied auf Grund der "Extro-" bzw.
"Introvertierheit" des klassischen bzw. "romantisch"-modernen Be-
wusstseins gemacht wird, wo einerseits von einer "Versöhnung des
6 Domke (a.a.O., S. 55) bestimmt den Weltzustand als "das in einem Zeit-
zustand fixierte Absolute"; nach Christa Dulckeit-v. Arnim ist für Hegel die
Kunst überhaupt "eine Form der Erfassung der Gesamtwirklichkeit auf der je-
weiligen Stufe ihrer Entwicklung." ("Hegels Kunstphilosophie", Philosophisches
Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, Bd. 67 [1959], S. 286). Dass hier allerdings
höchstens von der Erfassung der menschlichen Gesamtwirklichkeit die Rede sein
kann, braucht nicht nochmals eigens dargetan zu werden.
7 a.a.O., S. 107f.
8 AHistory of Modern Criticism 1750-1950, Bd. 11, New Haven 1955, S. 320.
9 "Hegels Ästhetik" (einführender Essay zur von uns gebrauchten Bassen-
geschen Ausgabe der Hegeischen Asthetik), S. 21. Auf S. 29 definiert Lukacs
den Inhalt als "aus konkreten gesellschaftlichen, historischen Situationen heraus-
gewachsenes Lebensgefühl."
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 43

Geistes im Leiblichen", andererseits von einer "Versöhnung seiner


in sich selber" gesprochen wird (Aj495f). Dies ist bereits "innere",
Bewusstseins-Geschichte, die in der "äusseren", sozial-materiell ver-
standenen nicht aufgelöst werden kann. 10
Zweitens geht es - wie wir bereits gesehen haben - durchaus nicht
an, im Namen Hegels das menschlich Substantielle blass als Prozess,
und nicht als Prozess und Beharrendes aufzufassen. Die konkrete
Subjektivität, die in der Kunst frei wird, soll nach Hegel nicht nur
Repräsentantin des Weltzustandes, des Menschen von hier und jetzt
sein, sondern zugleich auch exemplarisch für den Menschen als Gat-
tung.
Diese überbetonung des Geschichtlichen ist nun nicht nur für die
Lukacs'sche Interpretation der HegeIschen Ästhetik charakteristisch,
sondern für die ganze marxistische Kunstauffassung überhaupt. Und
es ist kennzeichnend, dass selbst wenn von marxistischer Seite das
Bleibende im Menschen als Gegenstand der Kunst anerkannt wird,
dies gleichsam nur mit halbem Herzen, widerspruchsvoll geschieht.
So taucht z.B. in der Ästhetik des alten Lukacs überraschenderweise
der Begriff des "gattungsmässig Menschheitlichen" auf. Er bestimmt
es in dessen von der Kunst widergespiegelter Form als das, "was die
Menschen in zeitlich und räumlich weiten Entfernungen, unter hi-
storisch völlig veränderten Umständen mit dem Gefühlsakzent: nostra
causa agitur erleben können." 11 Dieses scheinbar als Beharrendes
gemeinte Gattungsmässige wird jedoch von Lukacs sogleich histori-
fiziert. Er räumt zwar ein, dass es so etwas wie eine "anthropologi-
sche Beschaffenheit" des Menschen gebe, die "mit dem Abschluss
10 Kennern der HegeIschen Ästhetik mag übrigens aufgefallen sein, dass wir
das Prinzip der "Versöhnung des Geistes im Leiblichen" (oder wollen wir allge-
meiner sagen: im Sinnlichen), wobei "sich das Geistige vollständig durch seine
äussere Erscheinung hindurchzieht" (Ä/495), unbedenklich auch auf die von
Hegel "romantisch" genannte Kunstperiode übertragen, es überhaupt verallge-
meinert, "ontologisiert" haben, obwohl dieses Prinzip für Hegel bloss das der
klassischen Kunst war. Dazu ist einerseits zu sagen, dass für ihn Ästhetisches in
seiner wahren Form und klassische Kunst schlechterdings zusammenfielen; dass
es also durchaus legitim ist, seinen Begriff des Ästhetischen vom Grundprinzip
des Klassischen her zu deuten. Was andererseits die Anwendung dieses Prinzips
auf die moderne Kunst betrifft, so erwuchs sie aus der kunstwissenschaftIich
belegbaren und im Laufe dieser Untersuchung an sich bereits mehrfach belegten
überzeugung, dass mit dem Wort von dem sinnlichen Scheinen der Idee genialer-
weise nicht nur das Wesen der Klassik, sondern das Wesen der Kunst schlechthin
getroffen wurde, dass es also - mit anderen Worten - grosse Kunst nicht nur in
Hellas gab.
11 Die Eigenart des A·sthetischen, Neuwied 1963, Bd. I, S. 610.
44 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

des Prozesses seiner Menschwerdung in ihren wichtigsten Bestim-


mungen ... sich fixiert, und keinen qualitativ entscheidenden Verän-
derungen mehr unterworfen wird" 12 - er sieht aber diesen bleiben-
den Kern als unbedeutend, als eingehenderer Analyse unwürdig an.
Viel wesentlicher erscheint ihm das durch die gesellschaftliche Ent-
wicklung ununterbrochen hervorgebrachte Neue, welches die Eigen-
tümlichkeit besitzt (oder besitzen kann), "in den entstehenden ,cor-
pus' des Gattungsmässigen einverleibt" zu werden. 13 Statt in den ge-
sellschaftlich-geschichtlich bedingten Veränderungen des Menschen
bloss neue Formen des sich gleich bleibenden Anthropologischen zu
erblicken, fasst er also das gattungsmässig Menschheitliche primär
als sich im Fluss Befindliches auf. Wenn aber selbst das, was den
Menschen zum Menschen macht, ständig im Entstehen, in Entwick-
lung begriffen ist, wenn es stets "anders" ist, wie kann es überhaupt
zum Erlebnis des nostra causa agitur kommen? Wie könnte es dem
Menschen angesichts der Kunst bewusst werden, dass es in ihr im
Grunde um ihn geht, wenn er mit den Menschen von dort und dann
nicht auch identisch wäre?
Aus dieser Schwierigkeit rettet sich Lukacs - wie wir' gesehen ha-
ben - nicht mit einem Rückgriff auf das Anthropologische, sondern
durch das Postulat, dass "bestimmte in diesem Entwicklungsprozess
entstehende Bedürfnisse und ihre Befriedigungsweise von ihrer Ent-
stehung an Bewusstseinsbestandteile der Menschheit bleiben".u Es
geht also um ein Aufbewahren des geschichtlich Entstandenen, um
die Unverlierbarkeit wesentlicher, erworbener menschlicher Eigen-
schaften. Das Problematische dieser Annahme liegt nicht nur in der
Modalität einer solchen Einverleibung (die Vererbung erworbener
seelischer Verhaltensweisen ist wissenschaftlich keineswegs so ein-
deutig bewiesen, wie Lukacs es anzunehmen scheint), auch nicht
bloss in der aus dieser Annahme notwendig folgenden, recht be-
fremdlichen (freilich auch niemals widerlegbaren) Hypothese, wo-
nach etwa Sophokles die Werke eines Shakespeare menschlich nicht
verstehen könnte. Die Schwäche von Lukacs' Position zeigt sich vor
allem, wenn wir bedenken, dass selbst wenn das hier-und-jetzt Ent-
stehende erhalten bleibt, dieser Prozess wohl nicht die Gesamtheit der
Menschengattung umgreift, wir aber trotzdem Werke verstehen kön-

12 ebd., S. 536.
13 ebd., S. 612.
14 ebd., S. 536.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 45

nen, die nicht unserer Vergangenheit, sondern der anderer Kultur-


kreise angehören. -
Das Bild der HegeIschen Ästhetik erleidet aber bei LuHcs auch
noch in einer anderen Hinsicht Verzerrung. Nicht nur wird der von
Hegel gemeinte allgemeine Inhalt, das menschlich Substantielle von
ihm bloss als Weltzustand ausgelegt und dies wiederum auf das Ge-
sellschaftlich-Geschichtliche reduziert; den Beruf, die wesentliche
Funktion der Kunst erblickt er - in vermeintlichem Einklang mit
Hegel - darin, dass sie den Weltzustand zu erschliessen, uns zu des-
sen Erkenntnis zu verhelfen habe. Er wirft Hegel nur vor, dass die
Kunst letzten Endes auch für ihn bloss eine unvollkommene Form
der Erkenntnis sei und nicht - wie für die von LuHcs vertretene
marxistische Ästhetik - eine der begrifflichen Erkenntnis ebenbürti-
ge, "selbständige Art der richtigen Widerspiegelung der Wirklich-
keit".lli Aber dass die Kunst in den Augen Hegels eine Form der Er-
kenntnis ist, steht für ihn ausser Zweifel.
Hegel hält nun tatsächlich dafür, dass an sich die Kunst das Wah-
re erschliesse. Eben wegen dieses ihres Wahrheitsgehaltes ist sie für
ihn unbestreitbar auch Mittel der Erkenntnis. Aber eben: nur für ihn
als Philosophen, nicht aber als Rezipienten, als mit dem Ästhetischen
konfrontiertes Subjekt. Das Wahre der Kunst hat für ihn wohl theo-
retische Relevanz, da das Erkennen, das Bewusst-Machen, das dia-
lektische Nachzeichnen dieses Wahren zum Fürsichwerden und so-
mit zur Verwirklichung des absoluten Geistes gehört. Ausser dieser
theoretischen besitzt es aber nach ihm auch eine eminente ästhetische
Bedeutung. Denn sofern das Wahre als für den Rezipienten seiender
Inhalt der Kunst angefordert wird, geschieht dies nicht aus ausser-
ästhetischen Gründen, nicht weil es wahr und somit Objekt möglicher
Erkenntnis ist (auch nicht, weil es zugleich "gut" ist, d.h. um seines
moralischen Wertes willen), sondern einzig und allein, weil die
Selbstbegegnung des Subjekts, welche sich im kommenden als die
unerlässliche subjektive Bedingung des Ästhetischen erweisen wird,
nur in der Begegnung mit dem Wahren, d.h. hier: mit dem eigenen
allgemeinen Wesen, gewährleistet werden kann. Das Wahre wird
zwar nicht als Ästhetisches beansprucht, wohl aber als Vorausset-
zung des Ästhetischen.
LuHcs hat also wohl recht, wenn er behauptet, Hege! sehe die
Kunst als Zugangsweg zum Wahren; er irrt sich jedoch, wenn er
15 Hegels Ästhetik, S. 26-28.
46 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

meint, damit etwas über Hegels )fsthetik ausgesagt zu haben. Denn


Ästhetik ist streng genommen nur die Theorie dessen, was als Ästhe-
tisches empfunden, was ästhetisch genossen wird. Und insofern das
Wahre als Quelle der Erkenntnis dient, trägt es eben nicht zum Ent-
stehen von Ästhetischem bei.
Ebenso wie das Beschränken des Substantiellen auf den Weltzu-
stand mit der allgemeinen marxistischen Tendenz zum einseitig-über-
triebenen Historifizieren zusammenhing, lässt sich auch diese "kogni-
tivistische" Verzerrung der Hegelschen Ästhetik erst im Zusammen-
hang der allgemeinen marxistischen Kunstauffassung verstehen. Denn
diese bestimmt ja das Wesen, die Hauptfunktion der Kunst gerade
als "Widerspiegelung" , als erkenntnismässiges Erschliessen der je-
weiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Konstellation.
Wenn hier - eher als Exkurs - einige kritische Bermerkungen zu
dieser Auffassung erlaubt sind, so sei zunächst auf die Allgemeinheit,
auf die "Abstraktheit" hingewiesen, die dem somit postulierten Wi-
derspiegelungsobjekt eigen ist. Hegel hat selbst den von ihm wohl
reicher gefassten "Weltzustand" mehrfach als bloss den "allgemeinen
Boden" bezeichnet, aus dem die darzustellenden Subjektivitäten erst
hervorwüchsen. Gerade wegen dieser seiner Allgemeinheit, seiner
Ubiquität ist das ständige Zurückführen der individuellen Kunstwer-
ke auf ihn, wie dies im Vulgärmarxismus praktiziert wird, nicht nur
vom Gesichtspunkt der Ästhetik, sondern auch erkenntnismässig
irrelevant. Anstatt auf die Genese des betreffenden Kunstwerkes ein-
zugehen, seine konkrete Gestalt - soweit dies möglich ist - vom All-
gemeinen des Weltzustandes abzuleiten (gerade bei Lukacs finden
sich überzeugende Beispiele dieser Annäherungsweise), wird hier nur
das wiederholt, was von allen Kunstwerken einer Periode ausgesagt
werden kann, womit also das Einmalige des individuellen Gebildes,
das eigentliche Objekt kunstwissenschaftlicher Erkenntnis, eben nicht
erfasst und erschöpft wird. 16
Es können aber auch grundsätzlichere Einwendungen erhoben

16 Der Grund für diese immer wieder vorgenommene Reduktion des jeweili-
gen Kunstwerkes auf den bereits zum Gemeinplatz gewordenen "geschichtlich-
gesellschaftlichen Hintergrund" liegt nicht nur in dem etwaigen persönlichen
Unvermögen, das Schwierigere zu vollbringen und konkret zu denken, sondern
auch in der Tatsache, dass die Kunst - gerade da sie Transparent des (zu ver-
ändernden oder zu verwirklichenden) Weltzustandes ist - vom Marxismus nicht
nur als Mittel der Erkenntnis, sondern auch als Mittel der Praxis, der pragma-
tisch-ideologischen Beeinflussung betrachtet wird.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 47

werden. Die Konzeption der Widerspiegelung bringt es notwendig


mit sich, dass von Lukacs ein gemeinsames Kriterium gefordert wird
für Wissenschaft und Kunst: die inhaltliche RichtigkeitP Ganz ab-
gesehen nun davon, dass die hier gemeinte, sich auf das Besondere,
auf die historischen Besonderungen des Menschen beziehende Rich-
tigkeit der Kunst nicht immer und nie so exakt verifiziert werden
kann wie die der Wissenschaft, ist sie ästhetisch völlig irrelevant.
Denn wenn diese Richtigkeit an sich auch immer vorhanden ist (und
dem ist übrigens auch nach Hegel so), ist sie bei Werken, deren Welt-
zustand jenseits unseres geschichtlichen Horizontes liegt, nicht für
uns, nicht für den Rezipienten, kann also den Grund für den ästhe-
tischen Genuss dieser Werke nicht abgeben. Somit wird es aber auch
unmöglich, sie ineins zu setzen mit dem, was überhaupt in der Kunst
genossen wird: mit dem Wesen des Ästhetischen.
Die ansichseiende Richtigkeit der Kunst im Hinblick auf das Be-
sondere macht sie in der Tat zum legitimen Zugangsweg sowohl zum
Weltzustand wie auch zur objektiv-geschichtlichen Genese des Kunst-
werks. Diesen doppelten Weg zu beschreiten gehört indessen zur
Theorie, welche diese Richtigkeit, die Tatsache und den konkreten
Inhalt der Widerspiegelung aus der ästhetischen Situation heraus-
tretend für sich macht, und nicht zur ästhetischen Erfahrung selber.
Der Marxismus konzentriert sich nun in der Hauptsache auf das,
was sich in der Stunde der Theorie erschliesst, auf das Kunstwerk als
Kulturprodukt also, und nicht auf das, was uns in der ästhetischen
Situation gegeben ist: auf das Kunstwerk als Gegenstand des ästhe-
tischen Genusses. Er meint, mit Geschichtswissenschaft und Kunst-
soziologie der Eigenart der Kunst vollends gerecht werden zu kön-
nen. Dabei wird aber - wie wertvoll und erleuchtend diese Erkennt-
nisse auch sein mögen - gerade dasjenige ausser acht gelassen, was
das Sein der Kunst und unsere Beschäftigung mit ihr erst rechtfertigt
und mit Sinn erfüllt: ihre Ästhetizität. Für die marxistische Kritik
wird somit die Kunst zum bIossen Dokument oder - mit den Worten
Friedrich Bassenges - "zum bIossen Orientierungsmittel: für die
Zeitgenossen über das, was jetzt ,ist' und deshalb ,zu tun ist', und
für die Späteren über das, was ,war'."18 Dies darf der Kunst ohne
Zweifel als wertvolle Leistung angerechnet werden; es ist aber von

17 Zur Konkretisierung der Besonderheit, S. 432.


18 "Hegels Ästhetik und das AlIgemeinmenschIiche", Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, Bd. 4 (1956), S. 544.
48 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

ihrem Begriff, ihrer ursprünglichen und grundlegenden Bestimmung


her gesehen doch nur eine Nebenleistung.

Es dürfte nach dem Vorangegangenen klar sein, dass die Defini-


tion, die wir auf S. 11 vom Ästhetischen gaben, nunmehr Erweite-
rung und Präzisierung bedarf. Das Ästhetische ist nach Hegel - wie
wir gesehen haben - nicht sinnliche Freiheit eines beliebigen Men-
schen, sondern nur eines Menschen, der Repräsentant des mensch-
lich Substantiellen ist, sowohl in dessen Allgemeinheit als auch in
dessen historischer Besonderung. Eines Menschen also, der nicht nur
in der Sinnlichkeit, sondern auch "in sich" frei ist.
Gerade diese letztere Art Freiheit muss jedoch noch eingehender
untersucht werden. Was wird beim Herauskehren des Substantiellen
eigentlich frei?
Einerseits sicherlich der Einzelmensch. Hegel behauptet ja, das
Aufgehen im Allgemeinen, in den vernünftigen Ordnungen des "ob-
jektiven" und "absoluten" Geistes konstituiere das Wesentliche des
Menschen. Wenn nun der Mensch - wie Hegel es fordert - seine
"Partikularität" abstreift und eben durch die Selbstaufhebung im
eigenen Allgemeinen "wesentlich" wird, so ist er dadurch in emi-
nentem Sinne bei sich, bei seinem Selbst: er ist frei. 19
Ineins damit wird aber andererseits auch das menschlich Wesent-
liche, Substantielle selber frei: Es ist in diesem Menschen zu sich ge-
kommen, es hat sich verwirklicht, es hat seine Realität, den Einzel-
menschen, seinem Begriff gemäss gemacht. Worum es nun Hegel in
erster Linie geht, ist - der Anlage seiner ganzen Philosophie ent-
sprechend - nicht die Freiheit des Individuums, sondern die des All-
gemeinen, "des" Geistes, der - als menschlich Substantielles frei ge-
worden - seinem Ziel, der absoluten Selbstverwirklichung wieder um
einen Schritt näher gekommen ist. Es geht ihm um die "Befreiung
des Geistes vom Gehalt ... der Endlichkeit (Ä/II05. Von mir her-
vorgehoben).
Ob nun hier mit Fug und Recht von "Freiheit" geredet werden
kann, wird später zu entscheiden sein. Auf jeden Fall wird auf der
Ebene des realen Kunstwerks die Forderung aufgestellt, die konkrete
Innerlichkeit, der zur sinnlichen Freiheit verholfen wird, müsse zur
Substantialität geläutert werden. Gerade der Begriff des Substan-
tiellen ruft in uns indessen Bedenken wach. Kann ihm, wie er von
19 Vgl. hierzu S. 88.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 49

Hegel gefasst wird, tatsächlich ästhetische Notwendigkeit bescheinigt


werden?

Kritisches zum Begriff des Substantiellen in der Kunst


Das Substantielle wird von Hegeloft mit dem Namen "Allgemei-
nes" bezeichnet, worunter in seiner Begriffssprache keineswegs das
bloss Gemeinschaftliche, allen Einzelnen Zukommende, sondern das
Wesentliche im Gemeinschaftlichen verstanden werden muss. 20 Die-
ses Wesentliche wird nun von Hegel im Falle des Menschen mit dem
"Guten" identifiziert: eine - wie wir bereits auf S. 37f erwähnt haben
- echt empirisch-intuitive, nirgends zwingend begründete Erkenntnis,
bei deren Herausbildung übrigens auch der Optimismus der Aufklä-
rung mitgewirkt haben mag. 21 Diese Ineinssetzung von menschlich
Wesentlichem und Gutem (in der Hegel eigentümlichen Bedeutung des
Wortes) ist nicht nur nicht bewiesen, sondern selbst als "Standpunkt-
liches" unhaltbar. Dies möge hier nicht mit ethischen Argumenten
aufgezeigt werden (indem man etwa versuchte zu beweisen, dass
auch das hegelisch gemeinte "Böse", die ausdrückliche Negation, das
Zerstören oder Zerstören-Wollen der allgemeinen Ordnungen zum
Wesen des Menschen gehöre). Zum Ausgangspunkt soll vielmehr eine
weitere Besinnung auf den Begriff des Substantiellen dienen. Diese wird
- mit uns bereits bekannten Wendungen - als "das Mächtige im Sub-
jekt" definiert, als das, wovon "das ganze menschliche Gemüt ... im
Innersten bewegt wird": "jedes tiefere Interesse der Brust" (Ä/200f).
Angesichts solcher Formulierungen scheint es nicht abwegig zu sein,
das "Substantielle" Hegels als "existentiell Relevantes" zu bezeich-
nen, handelt es sich hier doch um Strebungen und Werte, die den
Menschen eminent angehen, die an die Grundlagen seiner Existenz
rühren. Bei einer solchen - wie wir meinen: legitimen - Fassung des
Begriffs wird es jedoch sofort klar, dass in ihm nicht nur überindivi-
duelle "Interessen" Platz finden müssen, sondern auch all das, wo-
mit sich der Mensch gerade als Individuum, als Einzelnes ausein-
andersetzen, womit er auf sich zurückgeworfen fertig werden muss.
Schon die Problematik des Todes lässt erkennen, dass das mensch-
lich Substantielle keineswegs auf das hegelisch interpretierte "Gute"
reduziert werden kann.
Es ist bereits oben (S. 45) kurz berührt worden, dass das Substan-
20 Vgl. besonders 8/377f.
21 Vgl. Justus Schwarz, a.a.O., S. 6, 47.
50 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

tielle seine spezifisch ästhetische Bedeutung dadurch erhält, dass es


die Selbstbegegnung des Subjekts ermöglicht. Damit Ästhetisches ent-
stehe, muss das Subjekt nicht nur sich frei wiederfinden (das wird
durch die Freiheit-des-Inhalts-in-der-Form gewährleistet), sondern
auch sich wiederfinden, d.h. mit der sinnlichen Freiheit konkreter
Innerlichkeiten konfrontiert werden, die menschlich Allgemeines "be-
inhalten", die Besonderungen seiner Allgemeinheit sind. Gerade da-
durch wird die Substantialität, oder wie Hegel es haben will: die
"Freiheit" des Inhalts in sich, ästhetisch bedeutsam. 22
Wenn es aber nur auf das Sich-Finden im Andern ankommt, so
wird es offensichtlich, dass der Inhalt der Kunst nicht auf das Sub-
stantielle des Menschen eingeschränkt werden darf. Denn zum All-
gemeinen des Menschen gehören nicht nur die Sternstunden, sondern
auch der Alltag, nicht nur die existentiell wichtigsten Strebungen,
Leidenschaften und Ziele, sondern auch all das, was Hegel mit un-
verkennbarer Verachtung "prosaisch" nennt.
Somit kann und muss nicht nur das sozial ausgerichtete "Gute"
als Inhalt der Kunst bezeichnet werden, ja nicht einmal das schon
allgemeiner, als Menschlich-Grundlegendes gefasste Substantielle,
sondern einzig das Allgemeinmenschliche schlechthin. 23
Der Begriff des Allgemeinmenschlichen ist freilich auch Hegel
nicht fremd. Im Zusammenhang mit der Literatur z.B. weist er zu-
nächst auf deren räumlich-zeitliche Partikularisation hin, um dann
folgendermassen fortzufahren: "Durch diese Mannigfaltigkeit der
Volksunterschiede und den Entwicklungsgang im Verlauf der J ahr-
hunderte zieht sich ... als das Gemeinsame und deshalb auch ande-
ren Nationen und Zeitgesinnungen Verständliche und Geniessbare
einerseits das Allgemeinmenschliche hindurch, andererseits das

22 Näheres hierzu siehe auf S. 85-92.


23 Die künstlerische Relevanz des existentiell streng genommen Irrelevanten
zeigt sich u.a. in der wichtigen Rolle, die es im Komischen spielt - als Abfall von
den hohen geistigen Bestimmungen des Menschen, oder (in der Form des Natur-
haft-Prosaischen) von den geistigen Bestimmungen überhaupt. Als Unwesentli-
ches kann es sogar wesentlich werden, wenn es darauf ankommt, den Helden in
Menschennähe zu bringen. Das Prosaische wird hier allerdings nicht als partiku-
lärer Zug zur Wesentlichkeit erhoben, sondern als Zeichen der Kreatürlichkeit,
denn es gehört zum Wesen des Menschen, dass er auch Unwesentliches, Allzu-
menschliches an sich hat. Und schliesslich scheint das Prosaische in unserem
Zeitalter selbst für die Darstellung des Wesentlich-Allgemeinen notwendig und
daher vollauf legitim zu sein.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 51

Künstlerische" (Ä/883).24 Ebenfalls Allgemeinheit (zwar natürlich


individuierte) wird in dem Ausspruch gefordert, wo es heisst, "zu
jedem Kunstwerk gehöre. . . die Anschauung, . . . was der Mensch
und was dieser Mensch ist" (Ä/804).
Der Gebrauch dieses Begriffes ist nun aber entweder als Inkonse-
quenz anzusehen, da ja der Inhalt der Kunst an den übrigen Stellen
der Hegeischen "Ästhetik" als das Substantielle, als das Wesentliche
im Gemeinschaftlichen definiert worden ist, und nicht als das (geistig)
Gemeinschaftliche überhaupt, wie es hier mit dem Wort "allgemein-
menschlich" wohl angedeutet wird; oder aber - und das scheint
wahrscheinlicher - nicht nur wird das Substantielle von Hegel mit
dem "Guten" ineins gesetzt, sondern auch das Allgemeinmensch-
liche mit dem Substantiellen. Wenn er also hier "Allgemeinmensch-
liches" sagt, so meint er eigentlich das Substantielle, letztlich das
"Gute" darunter. Als indirekter Beweis für diese Annahme lässt sich
etwa anführen, dass Hegel sowohl das "Prosaische" (d.h. das Gegen-
teil des Substantiellen) wie auch das "bloss historisch Äussere" (das
wohl als das Gegenteil des Allgemeinmenschlichen betrachtet werden
darf) mit dem gleichen Wort "partikulär" nennt. So spricht er z.B.
davon, dass in den Dramen Kotzebues "dem Publikum nur dessen
eigene zufällige Subjektivität, wie sie geht und steht, in ihrem ge-
wöhnlichen gegenwärtigen Tun und Treiben vorgeführt wird. Diese
Subjektivität heisst alsdann nichts anderes als die eigentümliche Weise
des alltäglichen Bewusstseins im prosaischen Leben." Diese Dramen
seien seinerzeit gerade deswegen so wirkungsvoll gewesen, weil "je-
der seine eigene Häuslichkeit oder die eines Bekannten und Ver-
wandten usf. vor sich sah oder überhaupt erfuhr, wo ihn in seinen
partikulären Verhältnissen und besonderen Zwecken der Schuh
drückt" (A/279). Auch im Zusammenhang mit dem "bloss historisch
Äusseren" sagt er, das Subjekt müsse "die falsche Forderung auf-
geben, sich selbst mit seinen bloss subjektiven Partikularitäten und
Eigenheiten vor sich haben zu wollen" (A/289).
Nach ihm scheint eben nur das als "Gutes" ausgelegte Substantielle
allgemein zu sein; alles Übrige ist persönlich-historisch bedingt, ein-
zeln, partikulär und daher verwerflich. Wie es sich jedoch gezeigt

24 Aus diesem Zitat geht übrigens mit aller Deutlichkeit hervor, dass nach
Hegel nicht das, was dargestellt wird, das eigentlich Künstlerische, d.h. Ästheti-
sche ausmacht, sondern etwas davon theoretisch Getrenntes, die Tatsache näm-
lich, dass es erscheint.
52 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

hat, kann das Allgemeinmenschliche nicht derart eng gefasst werden.


Es ist sehr wohl möglich, dass etwas im Hegeischen Sinne partikulär,
weil prosaisch ist (so z.B. die Freude an sinnlichen Genüssen) und
trotzdem allgemeinmenschlichen, daher der Kunst würdigen Inhalt
abgibt; man denke nur an die niederländische Genre-Malerei. Was
in der Kunst zu verwerfen ist, ist nicht das Prosaische, sondern das
bloss historisch Bedingte, nicht die Tatsache, dass das "Tun und
Treiben" etwa der Kotzebueschen Figuren "gewöhnlich", sondern
dass es bloss "gegenwärtig" ist.
Allein: da es das Allgemeine real nur in seiner geschichtlichen
Konkretion gibt, wie könnte vom historisch Bedingten abgesehen
werden? Und umgekehrt: da es keine individuelle menschliche Mani-
festation geben kann (innerhalb des "Normalen"), die nicht die Spe-
zifikation des auch mir immanenten Gattungsmässig-Allgemeinen
und somit letzten Endes "verständlich", "bekannt" wäre (denn was
könnte sie auch anderes sein? wie könnte mir Menschliches streng
genommen fremd sein?) - wenn dem, wie gesagt, so ist, wozu dann
das Allgemeine noch eigens anfordern?
Es geht hier offenkundig um "quantitative" Unterschiede, um sol-
che des Grades. Gewisse Manifestationen sind mehr historisch, mehr
von aussen her bedingt, sie tragen den Stempel des konkreten Hier-
und-Jetzt deutlicher auf der Stirn und sind daher "fremder" als an-
dere. Die in ihrer Preziosität, ihrer Geziertheit verfangenen Figuren
einer "Verlorenen Liebesmüh" sind - trotz ihrer grundsätzlichen
Menschlichkeit - wohl weniger allgemeinmenschlich als etwa ein
Hamlet - trotz seiner historischen Bedingtheit. Die Kunst, die ja je-
dem Menschen den Spiegel vorhalten will, muss, wie es scheint, unter
den möglichen menschlichen Manifestationsformen solche auswäh-
len (oder besser: verwirklichen), welche allgemein genug sind, um
für möglichst viele Menschen möglichst spontan, möglichst unmittel-
bar transparent zu werden. Sie müssen - mit einem Wort Friedrich
Bassenges - "überall als Gleichnisse für Erfahrungen des eigenen
Herzens empfunden werden können." 25
Für Bassenge, der die Kunstgestalt ebenfalls nicht nur als Reprä-
sentantin des Weltzustandes, sondern des Menschen überhaupt ver-
standen haben will, hängt nun eben von dieser Allgemeinmenschlich-
keit die "Grösse" eines Kunstwerks ab. Es gibt nach ihm drei Stufen

25 a.a.O., S. 554.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 53

der Kunstbeurteilung: ,,1. Ein Kunstwerk ist dann ,vollendet', wenn


sein Gehalt vollkommen sinnliche Gestalt geworden ist. 2. Ein "voll-
endetes" Kunstwerk ist um so ,grösser', je allgemeinmenschlicher sein
Gehalt ist. 3. Auch zwischen ,gleichgrossen' Kunstwerken kann es
Rangunterschiede geben, für die andere Masstäbe in Betracht kom-
men". Dies sei "ein Problem höherer Stufe, das nicht mehr mit spe-
zifisch-ästhetischen Kategorien erschöpft werden kann. Auf dieser
Stufe der Betrachtung werden auch Gesichtspunkte wie die umfas-
sende Transparenz eines Weltzustandes ... ihre Rolle zu spielen
haben." 26
Wir meinen indessen, dass die Allgemeinmenschlichkeit als solche
noch keine Grösse verbürgt; sie ist nicht etwas, das - als erwünschtes,
aber doch zufälliges Plus - zu der Vollendung, dem Ästhetisch-Sein
hinzukommen kann, oder auch nicht; sie ist vielmehr die notwendige
Bedingung dafür, dass von der Subjektseite her über die Enge eines
Hier-und-Jetzt hinaus Ästhetisches zustande komme, und das heisst:
damit Ästhetisches überhaupt sei. Ohne Zweüel besteht das objektiv
Ästhetische im Formwerden des Inhalts; dies ist aber - wie es später
noch zu verdeutlichen sein wird - mit dem Ästhetischen durchaus
nicht identisch. Je mehr der formgewordene Inhalt im menschlich
Oberflächlichen, Absonderlichen, Anomalen, aber auch im überwie-
gend raum-zeitlich Bedingten stecken bleibt, umso weniger hat das
betreffende Werk - ungeachtet der in ihm waltenden Inhaltsfreiheit
- Anspruch darauf, als Werk der Kunst, d.h. als Ästhetisches zu gel-
ten. Das Anekdotische, Kuriose befriedigt eben nur die Neugier,
nicht aber das ästhetische Interesse.
Und umgekehrt: wie allgemeinmenschlich z.B. die einfache Fröh-
lichkeit einer Breughelschen "Bauernhochzeit" auch sein mag, sie
kann darum - etwa mit den Selbstbildnissen eines Rembrandt ver-
glichen - noch keineswegs "gross" genannt werden. Nicht die Grös-
se, sondern der eigentliche ästhetische Wert hängt von der Allge-
meinheit des Inhalts oder - was dasselbe ist - vom allgemeinen An-
klang eines Werkes ab. 27
Worin besteht aber dann die Grösse eines Kunstwerks? Was un-

26 a.a.O., S. 546f, 553.


27 Dies wird ja stillschweigend auch von Bassenge anerkannt, indem er auch
die Allgemeinmenschlichkeit eine "spezifisch-ästhetische Kategorie", einen As-
pekt des Ästhetischen nennt.
54 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

terscheidet die soeben erwähnten Rembrandtsehen Selbstporträts von


den unzähligen Meisterwerken der niederländischen Genre-Malerei?
Wir meinen, hier auf den Begriff des Substantiellen, näher den des
Pathos zurückgreifen zu müssen. Denn was uns in diesen Bildern
Rembrandts erschüttert, ist gerade die Tiefe und Wesenhaftigkeit der
dargestellten menschlichen Problematik: Wir spüren, dass hier
Grundhaltungen des Menschen offenbar werden gegenüber dem, was
man gewöhnlich den "Ernst des Lebens" nennt. Dies - die existen-
tielle Relevanz - scheint über die Grösse eines Kunstwerks zu ent-
scheiden, und nicht dessen allgemeine "Verständlichkeit".
Diese Grösse ist nun - ähnlich wie eine etwaige Moral - keine
ästhetische Kategorie, obwohl sie - auch hierin mit der Moral ver-
gleichbar - zum Wirksamsten an einem Kunstwerk gehören kann.
Hier wie dort zeigt es sich, dass wir selbst in der ästhetischen Situa-
tion unserer Existenz verhaftet bleiben: Weder das Mensch-Sein in
seiner Allgemeinheit und die damit gegebenen grundlegend-gattungs-
mässigen Probleme können "vergessen", hinter uns gelassen werden,
noch die Tatsache, dass man - trotz "Entpersönlichung" - dieser
Mensch ist, mit individuell gefärbten praktisch-moralischen Wertun-
gen.
Gerade weil wir einerseits aus unserer Existenz nie hinaustreten
können und andererseits im Substantiellen mit dem menschheitlich
Wesentlichen konfrontiert werden, wühlt uns das Grosse im Kunst-
werk so elementar auf. Ja die Kunst ist sogar besonders geeignet, uns
dieses Wesentliche näherzubringen. Im Gegensatz etwa zur begriffs-
mässigen Wesensschau der philosophischen Anthropologie, vermag sie
das für die menschliche Situation Exemplarische erlebbar (da mensch-
lich-konkret) zu machen. Im Gegensatz zum wirklichen Leben, zur
Historie, in der wir ja dem Grossen ebenfalls begegnen (hier sogar
individuiert), vermag sie es, dieses Grosse zu explizieren, von Grund
auf zu zeigen, zu offenbaren, uns gleichsam ins Haus zu liefern. Sie
vermag all dies dank ihrem Wesen: ihrer Fähigkeit, eine konkrete
Innerlichkeit sinnlich zu befreien.
Und trotz der faszinierenden Wirkung des Substantiellen, trotz
der eigentümlichen Eignung der Kunst, diese noch zu potenzieren,
trotz der Tatsache, dass diese im gegebenen Fall aus der Gesamt-
wirkung scheinbar nicht wegzudenken ist - müssen wir uns damit
abfinden, dass die durch die Anwesenheit des Substantiellen ver-
bürgte Grösse keine ästhetische Eigenschaft ist, dass sie den ästhe-
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 55

tischen Wert des Kunstwerks nicht berührt. Wir haben ja gesehen,


dass sie auch fehlen kann, dass Ästhetisches auch ohne sie zustande
kommt, dass dazu nur Allgemeinmenschlichkeit, nicht aber Substan-
tialität erforderlich ist. Dann kann sie aber auch kein konstitutiver
Faktor im Ästhetischen sein. Sie liefert - ebenso wie die Moral -
einen natürlichen und legitimen, aber gleichwohl bloss zusätzlichen,
ausserästhetischen Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Kunst. Es
kommt ihr existentielle und nicht ästhetische Bedeutung zu.
Wie steht es aber mit dem Substantiellen als Weltzustand? Es hat
sich ja gezeigt, dass die Richtigkeit in bezug auf das historisch Be-
sondere, die "Widerspiegelung" des Weltzustandes bloss für die
Theorie vorhandenes Ansieh ist, dass es in der ästhetischen Situation
nur auf das für uns Seiende, auf die Richtigkeit in bezug auf das All-
gemeine ankommen kann. 28 Besitzt etwa das Geschichtlich-Reprä-
sentative ebensowenig ästhetische Bedeutung wie das Substantielle
als Pathos, als Bleibendes?
Wir würden sagen: als Repräsentatives ja, als Geschichtliches, An-
deres, von mir Abweichendes - nein. Denn was nicht notwendig für
uns ist und was somit nichts mit dem Ästhetischen zu tun haben
kann, ist nur der repräsentative Charakter des Historischen, die Tat-
sache, dass eine konkrete Kunstgestalt für ihr eigenes Hier-und-Jetzt
typisch ist. Die blosse Historizität, das Anderssein ist jedoch sehr
wohl für uns, ja es ist - trotz und wegen der alleinigen Relevanz des
Allgemeinen - eine Bedingung des Ästhetischen.
Denn Allgemeines ist ohne Konkretes, das Sichselbstfinden ohne
Ein-Anderes-Vorfinden nicht denkbar. Ich muss etwas Fremdes vor-
finden, damit ich zu mir selbst, zum Allgemeinen komme: Ich werde
nur durch "Negation" des Anderen "gefunden". In mir mich selbst
zu finden, ist eine Selbstverständlichkeit, ist kein Erleben meiner All-
gemeinheit, sondern blosse Tautologie. Es braucht eben ein Anderes,
um in ihm mir selber begegnen zu können. Je bunter, mannigfaltiger, in
ihrer Individualität von mir und voneinander abweichender die Ge-
stalten der Menschenwelt sind, der ich in der Kunst begegne, desto
grösser ist der Triumph der Allgemeinheit, die durch die Negation
all dieser Vielfalt zu sich kommen kann, desto mehr fühle ich, dass
überall "ich" frei werde, "mir" als Freiem begegne.

28 Gerade diese Art Richtigkeit macht die Kunst - ebenfalls nur in der Theorie
- zum Zugangsweg zu dem Menschen, zur Quelle psychologisch-anthropologi-
scher Erkenntnis.
56 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH

Das Andere, das historisch Konkret-Individuelle wird also eben


nicht - wie das von den Marxisten implizite behauptet wird - als
Anderes genossen, sondern als Ich-im-Anderssein. Aus der Tatsache
aber, dass Ich nur im Anderen genossen werden kann, erwachsen
Bedeutung und Würde des Geschichtlichen in der Kunst. 29

Am Anfang dieses Kapitels haben wir uns die Frage gestellt, ob


der Inhalt der Kunst eine beliebige menschliche Innerlichkeit sein
könne oder ob er noch näher bestimmt, auf irgendeine Weise ausge-
zeichnet werden müsse. Der Weg, den wir in Beantwortung dieser
Frage zurückgelegt haben, führte uns vom Hegeischen "Wahren"
zum Allgemeinmenschlichen. Allein: wie sehr sich der Inhaltsbegriff
Hegels auf diesem Weg auch modifiziert haben mag, eines bleibt ihm
erhalten: seine Rückgebundenheit an die menschliche Wirklichkeit.
"Zwar soll sich nach Hegel", so formuliert Heinrich Barth diesen
Gedanken, "die Kunst nicht auf die Nachahmung einer ihr vorgege-
benen ,Natur' ausrichten. Doch ist ihr umso eindeutiger der ,Begriff'
vorgegeben: der Begriff in der ganzen Gewichtigkeit des sich selbst
gemässen, an und für sich seienden Vernunftinhaltes. Vom Eidos der
vernunftvollen Wirklichkeit her wird ja das Wesen der Kunst erläu-
tert. In diesem Eidos liegt für das Ästhetische diejenige Vorgegeben-
heit, die an die Stelle einer vorgegebenen Natur treten muss." 30
Auch wenn wir das hier gemeinte Eidos mit dem menschlichen
Ansich ineins setzen und geltend machen, dass mit ihm nur die Gren-
zen des Darstellbaren, nicht aber das Dargestellte in seiner Konkre-
tion, vorgegeben sind, lässt sich - wie es scheint - an diesem Vorge-
gebensein nicht rütteln. Wir meinen aber nicht, hier auf eine schwa-
che Stelle im Hegeischen Gedankengang gestossen zu sein, sondern
im Gegenteil: das Vorgegebensein des menschlichen Ansich erscheint
uns als eine Notwendigkeit des Ästhetischen. Denn wenn es richtig

21l Das Sichselbstfinden im historisch Anderen hat jedoch neben dieser ästhe-
tischen auch eine allgemeinere, existentielle Bedeutung. Denn je unverhoffter
und ungeahnter die Selbstbegegnung ist, umso mehr wird es zum besonderen
Erlebnis, dass ich Glied des ganzen Menschengeschlechts bin, dass ich mich -
wohin ich mich im Bereich des Humanen auch begeben mag - unter meines-
gleichen bewege, mich daher geborgen und frei fühlen kann. Dieses Erlebnis
meiner Ubiquität, des grundsätzlichen Zusammengehörens aller Menschen ist
von der Selbstbegegnung, die uns die Kunst gewährt und die später noch zu spezi-
fizieren sein wird, scharf zu trennen. Dieses Gefühl des Geborgenseins kann sich
auch an Gestalten der Historie, ja der Philosophiegeschichte entzünden.
30 a.a.O., S. 610.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 57

ist, dass die Kunst wesentlich Anthropozentrisches, vom Menschen


über den Menschen für den Menschen Hervorgebrachtes ist, so be-
deutet dies, dass sie keine absolute Autonomie besitzen kann, dass
sie aus den Möglichkeiten eines vorgegebenen menschlichen Seins
schöpfen, den Menschen zu ihrer Voraussetzung haben muss.
Damit müssen wir aber auch einen weiteren Vorwurf Heinrich
Barths in Kauf nehmen, dass nämlich "Hegels Ästhetik eine ,Reduk-
tion' des Schönen bedeutet. Das Schöne ist für sie nicht ein in sich
selbst Beruhendes, Unableitbares, Letztes. Vielmehr ist es nicht un-
möglich, es ,zurückzuführen'; und dies will sagen: es aus einem seine
Bedeutung übergreifenden Zusammenhange verstehbar zu machen. "31
In der Tat: das Ästhetische kann und muss auf "Mensch", "Freiheit",
"Sinnlichkeit" reduziert werden. Das ihm Eigentümliche ist in der
einmaligen Kombination dieser Momente zu suchen: darin, dass in
der Kunst, und nur in ihr, der Mensch sinnlich frei wird.

31 a.a.O., S. 609.
FÜNFTES KAPITEL

FREIHEIT DES KÜNSTLERS

Der Begriff des Allgemeinen


Das Wort "allgemein" wird von der Hegelschen Philosophie in
zwei verschiedenen Bedeutungen in Anspruch genommen. Es meint
einerseits das Substantielle, d.h. das Wesentliche im Gemeinschaft-
lichen. Andererseits bezeichnet es aber auch "das sich selbst Beson-
dernde (Spezifizierende) und in seinem Anderen in ungetrübter Klar-
heit bei sich selbst Bleibende" (8/359). Dem Allgemeinen wird also
die Fähigkeit zugeschrieben, seine eigenen Besonderungen und Kon-
kretisierungen aus sich selbst hervorzutreiben, im Besonderen und
Einzelnen nur sich selbst zu haben und somit. - trotz seiner ansich-
seienden, "ursprünglichen" Abstraktheit - das alleinige Prinzip des
Konkreten zu sein. Das Allgemeine vermag sich aber nicht nur in der
Idealität auseinanderzulegen, sondern besitzt auch die Macht, seine
Konkretionen in Wirklichkeit umzusetzen, Reales zu erschaffen.
Als Paradigmen des Allgemeinen werden zwar oft das Ich oder die
Gattung herangezogen, streng genommen allgemein ist jedoch nur
der absolute Geist, der in seiner Dialektizität einerseits wohl das
Wesentliche alles Seienden ausmacht, andererseits aber - eben in
und mit der Dialektik - alles "gebiert", alles Besondere und Einzelne
aus sich hervorbringt.1
Für den weiteren Gang unserer Untersuchung ist es nun von Be-
lang, dass für Hegel auch das Substantielle des Menschen Allgemei-
nes ist, nicht nur - per definitionem - in der ersten, sondern auch in
dieser zweiten Bedeutung. Das Substantielle besondert sich nicht nur
unzeitlich, zu den einzelnen "pathe", den beharrenden "Mächten"

1 VgI. hierzu 8/377-379, sowie in erster Linie Iwan lljin, Die Philosophie
Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bem 1946, 5. Kapitel; sodann Litt, a.a.O.,
S.48-57, 185-194; Gottfried Mann, Zum Begriff des Einzelnen, des Ich und des
Individuellen bei Hegel, Diss. Heidelberg 1935, bes. S. 43f; August Brunner,
"Das Allgemeine bei Hegei", Scholastik, Bd. 25 (1950).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 59

des menschlichen Gemüts, sondern auch zeitlich: zum "Menschenzu-


stand" der verschiedenen Hier-und-Jetzt. Ja darüber hinaus bestimmt
es sich zu den einzelnen Subjektivitäten - nicht nur der von Zufällig-
keiten behafteten Realität (woher allerdings dieses Zufällige, Nicht-
Vernünftige herrühren soll, wird nirgends angegeben), sondern auch
der vom Zufälligen gereinigten Welt der Kunst. Es ist recht eigentlich
das Substantielle selber, das diese Innerlichkeit, den konkreten Inhalt
dieses Kunstwerks hervorbringt, und dieser Inhalt als Besonderung
des Allgemeinen soll nun seinerseits die Macht besitzen, sich zu einer
ihm adäquaten sinnlichen Gestalt zu vereinzeln. Dass diese Konzep-
tion des Inhalts weitgehende Folgen für die Hegeische Auffassung
über die Funktion des Künstlers haben muss, liegt auf der Hand.

Die Selbstbesonderung des Inhalts und der Hegelsehe Künstlerbegriff


Eben weil die Idee als menschlich Substantielles sich bis zum Sinn-
fälligen des Kunstwerks zu bestimmen vermag, bleibt dem Künstler
nichts mehr übrig, als bloss das "Organ", der "lebendige Durchgangs-
punkt" der "Sache selber" zu sein (A/297, 305), "das Ganze ...
sich durch sich selber produzieren" zu lassen (304).
Dies bedeutet nach Hegel keineswegs, dass die "Sache" als solche
dem Künstler vorgegeben wäre. Sie entsteht vielmehr - als die indi-
viduelle Konfiguration und Konkretion des Substantiellen - erst im
Künstler selbst. Das Substantielle jedoch - sowohl als Pathos wie
auch als Weltzustand - ist dem Künstler freilich vorgegeben: Aus
Nichts könnte auch er nicht Etwas machen.
Wenn aber der Künstler "nur gleichsam die Form ist für das For-
mieren des Inhaltes, der ihn ergriffen hat" (A/297), so mag die Fra-
ge gestellt werden, wie doch - bei einer derartigen Objektivität der
Darstellung - die künstlerische Subjektivität noch überhaupt zum
Zuge kommen kann. Hegel hat hier die gleiche Antwort bereit, mit
der er u.a. auf dem Gebiete der Ethik zwischen einzelnem und allge-
meinem Willen zu vermitteln sucht: Es ist grundsätzlich möglich für
den Einzelnen, im Allgemeinen aufzugehen, sich mit ihm zu identi-
fizieren, ohne dass er seine Identität mit sich selbst preisgeben müss-
te - eben weil das Allgemeine auch sein Allgemeines ist. Der Inhalt
kann sehr wohl vom innersten Kern des Subjekts stammen, voraus-
gesetzt, dass dies selber substantiell, für Pathos und Weltzustand re-
präsentativ ist. "In allem wahrhaftigen Dichten, Denken und Tun",
so behauptet Hegel, "lässt die echte Freiheit das Substantielle als
60 FREIHEIT DES KüNSTLERS

eine Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht
des subjektiven Denkens und Wollens selber ist, dass in der vollen-
deten Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben ver-
mag" (A/305). Nur wenn der Künstler auf diese Weise zum Gefäss
der Sache wird, ist er wahrhaft originell, denn dann wird die Indivi-
dualität seines Werkes die des sich konkretisierenden Vernünftigen
sein; sonst, wenn sich "die zufälligen Partikularitäten seiner subjek-
tiven Eigentümlichkeit" (300) in den Vordergrund drängen und den
"vernünftigen Lauf der Sache" (303) stets willkürlich unterbrechen,
sinkt die Originalität zu Manier herab. "Keine Manier zu haben, war
von jener die einzig grosse Manier, und in diesem Sinne allein sind
Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare originell zu nennen" (305).2
Die Selbstbestimmung des Substantiellen scheint indessen selbst
nach Hegel ihre Grenzen zu haben. Eine dieser notwendigen Grenzen
wird von der Individuiertheit der Kunstgestalt gebildet. Ganz allge-
mein drückt er dies folgendermassen aus: "Die Idee ist ... in sinn-
licher Gestalt und in einer Individualisierung, für welche die Zufäl-
ligkeiten des Sinnlichen nicht entbehrt werden können" (15/151).
Näher, im Zusammenhang mit den griechischen Götterdarstellungen
spricht er von der "Einzelheit jedes Gottes ... , wie sie sich für eine
lebendige Individualität gebührt und ihr notwendig ist. Mit solcher
Art der Einzelheit ist aber zugleich die Zufälligkeit der besonderen
Züge verknüpft, welche sich auf das Allgemeine der substantiellen
Bedeutung nicht mehr zurückführen" (A/472). Es ist dies eine "Sei-
te der Willkür und Zufälligkeit, welche zum konkreten Individuum
gehört" (477).
Trotz der anderweitigen Versicherung Hegels, wonach "die in
sich konkrete Idee. . . das Prinzip ihrer Erscheinungsweise in sich
selbst trägt und dadurch ihr eigenes freies Gestalten ist" (A/112),
wird also hier doch anerkannt, dass es selbst in der Kunst eine Sphä-
re gibt, in die das Substantielle nicht mehr hineinreicht. Eben weil
die Kunstgestalt ein sinnliches Dieses ist, ist sie auch konkret, indivi-

2 Es ist wiederum auffallend, wie weit sich hier Hegels Formulierungen mit
denen der Kallias-Briefe decken. "Leidet die Eigentümlichkeit des darzustellen-
den Objekts", so lesen wir etwa bei Schiller, "durch die Geisteseigentümlichkeit
des Künstlers, so sagen wir, die Darstellung sei maniriert. Das Gegenteil der
Manier ist der Stil, der nichts anderes ist, als die höchste Unabhängigkeit der
Darstellung von allen subjektiven und allen objektiv zufälligen Bestimmungen.
Reine Objektivität der Darstellung ist das Wesen des guten Stils: der höchste
Grundsatz der Künste" (S. 48).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 61

duell, und gerade dieses Individuelle an ihr lässt sich vom Allgemei-
nen nicht restlos ableiten. Diese Sphäre notwendiger Zufälligkeit,
dieser zufällige "Rest" muss - wem anders? - der künstlerischen
Subjektivität, der "Willkür" des Künstlers überantwortet bleiben. Es
scheint also, dass "keine Manier zu haben" selbst nach Hegel eine
Sache der Unmöglichkeit ist.3
Diese Einschränkung ändert aber an Hegels grundsätzlicher Auf-
fassung über die Objektivität des Schaffensprozesses nichts. Die
Funktion des Künstlers wird im wesentlichen doch darauf beschränkt,
die Sache zu "entbinden".

Kritik der Selbstbesonderungshypothese


Dass die Theorie Hegels über die Selbstbesonderung des Inhalts,
des Substantiellen (letztlich: des absoluten Geistes) unhaltbar sein
muss, ist zunächst ganz "empirisch" aus den Konsequenzen zu er-
sehen, zu denen sie namentlich auf dem Gebiet der Literaturtheorie
führt. Sie mündet nämlich notgedrungen in die Verwerfung der Bild-
haftigkeit. Obwohl selbst bei den dichterischen Bildern der subjek-
tiven Willkür eine Grenze gesetzt ist durch die "Verwandtschaft der
Bedeutung und des für dieselbe gebrauchten Bildes, insofern sie
(nämlich die Willkür, AH.) gerade aus dem Grunde der Ähnlichkeit
beider die Vergleichung unternimmt" (A/412) - sind hier doch In-
halt und Form "vollkommen selbständig geworden, und die zusam-
menhaltende Einheit ist nur die unsichtbare vergleichende Subjektivi-
tät" (421), in deren freiem Ermessen es liegt, diese Sache durch die-
ses oder jenes ("ähnliche") Bild zu vermitteln. Eben weil "die Bezie-
hung beider aufeinander. . . nicht. . . ein in der Bedeutung selber
schlechthin begründetes Beziehen ist, sondern ... ein mehr oder we-
3 Zu diesem (unableitbaren) Individuellen gehört auch all das Beiläufige, Zu-
fällige, das an einzelnen menschlichen Erscheinungsweisen, ja sogar an ganzen
selbständigen Figuren, Ereignissen und Dinglichkeiten - mehr in der Epik, we-
niger im Drama - ins Kunstwerk eingestreut ist, ohne die "Entblössung" der zum
Mittelpunkt gewählten Gestalten, ohne die Entwicklung der Handlung oder die
Auseinanderlegung irgendeiner Moral zu fördern. Diese letzthinnige Konkretion
führt zum Erlebnis der "Rundheit", der "Totalität", der sinnlichen Fülle und
erweckt somit einerseits den Eindruck, dass das Vermittelte wirklich ist (denn
die unendliche Mannigfaltigkeit ist ebensosehr ein Kennzeichen der Wirklichkeit
wie die bereits berührte Einmaligkeit), andererseits aber auch den Eindruck, dass
dieses Wirkliche in seiner Ganzheit "durchgekommen" ist, dass es restlos vermit-
telt, befreit wurde. Was der Künstler zu diesem Effekt benötigt, ist das sichere
Wissen, was alles "da sein" könnte, und - zum Ausmalen all dieses Episodischen
- epische Geduld.
62 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

niger zufälliges Zusammenbringen, welches der Subjektivität des


Poeten ... angehört" (376), nennt Hegel die Bilder, Gleichnisse,
Allegorien, Metaphern "Schmuck und Zierat" , "bIosses Beiwesen"
(391), und betrachtet die vergleichende Kunstform überhaupt als
"eine untergeordnete Gattung" (377).
Eine Theorie jedoch, welche in ihrer logischen Verlängerung zur
Verwerfung der bildhaften Rede, wohl einer der allgemeinsten und
bedeutendsten poetischen Eigentümlichkeiten führt, muss uns von
vornherein fragwürdig erscheinen.
Unsere Zweifel werden durch theoretische überlegungen noch
verstärkt. Als erstes möge hier ein von Georg Lukacs verwendetes
Zitat Marxens angeführt werden. "So leicht es nun ist", sagt Marx,
"aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung: ,die Frucht' zu
erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung: ,die
Frucht' wirkliche Früchte zu erzeugen." 4 Und Lukacs fügt noch hin-
zu: "Um diese unlösbare Aufgabe zu einer Scheinlösung führen zu
können, gebraucht der spekulative Idealismus alle seine Kunststücke:
die Äpfel, Birnen usw. sind die ,Selbstunterscheidungen' ihrer Sub-
stanz, der Frucht ... "
Marx weist hier im Grunde auf die prinzipielle Schwierigkeit hin,
Konkretes aus Abstrakterem abzuleiten, aus einem Weniger an Be-
stimmungen ein Mehr zu gewinnen, die Welt in ihrer Besonderung
und Konkretion "von oben her" aufzubauen. Diese Schwierigkeit
(die übrigens nicht nur als subjektiv erkenntnismässige aufzufassen
ist, sondern - eben als solche - zugleich und in erster Linie Un-
wahrscheinlichkeit, objektive "Schwierigkeit" bedeutet) wird uns
merkwürdigerweise von der HegeIschen Philosophie selber vorde-
monstriert. Bereits Nicolai Hartmann merkte, dass die meisten ver-
meintlich kontradiktorischen "Widersprüche" Hegels eher konträre
Widerstreite sind, deren Momente sich logisch nicht "aufheben".5
Er verwendete aber diese Erkenntnis, um über den Wahrheits an-
spruch einzelner Hegelscher Analysen zu entscheiden, und nicht, um
die dialektische Ableitung als solche in Frage zu ziehen. Diese Ver-
wendung fand die Hartmannsche Entdeckung bei Jack Kaminsky.
Nachdem dieser mit Hartmann feststellt, dass sich Hegels kontra-
diktorische Gegensätze häufig als konträre entpuppen, fährt er fol-

4 Zitiert in: "Das Besondere im Lichte des dialektischen Materialismus", Deut-


sche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 3 (1955), S. 166.
5 Hegel und das Problem der Realdialektik, S. 345f.
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 63

gendermassen fort: "Der kontradiktorische Gegensatz von ,Werden'


ist ,Nicht-Werden', aber Hegel setzt für ,Nicht-Werden' ,Dasein' ein,
damit die Kategorie positiv wird. Er deduziert etwas, das in Wirk-
lichkeit Konträres ist, obwohl er nur berechtigt wäre, Kontradiktori-
sches zu deduzieren ... Leider zeigt Hegel nirgends, wie kontradik-
torisch Entgegengesetztes zum Setzen von Konträrem führt." 6
Dies bedeutet aber nichts geringeres, als dass die Besonderung des
absoluten Geistes, wie sie in den HegeIschen Ableitungen nachge-
zeichnet wird, nicht auf Notwendigkeit beruht. Denn das jeweilig
nächste Moment in der dialektischen Entwicklung des absoluten
Geistes lässt sich durch Negation aus dem vorherigen gar nicht ab-
leiten; es wird aus dem grossen Bereich des dem vorherigen kontra-
diktorisch Widersprechenden von Hegel willkürlich herausgegriffen.
(Gerade deswegen ist das Erscheinen einer neuen Kategorie in der
HegeIschen "Logik" eine überraschung, ein wahrhaftes "Hervor-
springen".)
Aber dies impliziert seinerseits, dass der Erweis, die Welt in ihrem
Sosein sei nicht kontingent, sondern notwendig, Hegel nicht geglückt
ist. Sein Versuch, im Widerspruch einen objektiven "Motor" zu fin-
den, der die Entwicklung des absoluten Geistes zu den einzelnen
Kategorien und Wesenheiten mit Notwendigkeit und von sich aus
gewährleisten würde, ist gescheitert. Selbst er konnte nicht ohne Sub-
jektives (seine Subjektivität) und das heisst: der "Sache" Äusser-
liches auskommen. Und dies wiederum bedeutet, dass innerhalb seines
Systems nicht zu beweisen ist, dass das Allgemeine (in unserem Fall:
das menschlich Substantielle) auch sich selbst überlassen, ohne Äus-
serliches, Zufälliges sich besondem könnte. Aus dem gleichen Grun-
de bleibt es auch unbewiesen, dass es "Originalität" im HegeIschen,
einen "Stil" im Schillerschen Sinne gibt, dass das Substantielle zwar
im und durch den Künstler, aber doch wesentlich ohne sein Zutun,
ohne Inanspruchnahme seiner einmaligen Subjektivität sich zur sinn-
fälligen Kunstgestalt auseinanderlegen kann.
Trotz des marxistischen Bildes der Wider-Spiegelung ist selbst
Georg Lukacs dieser Ansicht nicht abhold, behauptet er doch selber,
dass es "kein ästhetisches Objekt ohne ästhetisches Subjekt geben
kann; das Objekt (das Kunstwerk) ist seiner ganzen Struktur nach
von Subjektivität durch und durch gewoben; es besitzt kein ,Atom',
6 Hegeion Art, An Interpretation 01 Hegel's Aesthetics, New York 1962,
S. 18 (Übersetzung des Verfassers).
64 FREIHEIT DES KüNSTLERS

keine ,Zelle' ohne Subjektivität, sein Ganzes involviert diese als Ele-
ment des Baugedankens. " 7 Er lässt indes die im Bild implizierte Ob-
jektivität doch nicht fallen: Er spricht von der im Begriff der ästhe-
tischen Widerspiegelung konzentrierten Widersprüchlichkeit, "höch-
ste Objektivität bei höchster Subjektbezogenheit" zu bewahren. 8
Wie ist das aber möglich? Ist es überhaupt möglich? Da Ideelles
sich nicht besondern kann (wenigstens hat Hegel das Gegenteil, die
Möglichkeit ideeller Selbstbesonderung nicht bewiesen; wir sind also
berechtigt, bei der Annahme ihrer Unmöglichkeit zu bleiben) - kann
es sich bei der Entstehung eines Kunstwerkes doch nur darum han-
deln, dass der Künstler selber aus den Möglichkeiten der ihm - so-
wohl in ihm als auch ausserhalb seiner - vorgegebenen "mensch-
lichen Materie" im Schöpfungsakt einen Inhalt konzipiert und diesen
Inhalt - weiterhin schöpferisch, mit Hilfe seiner Einbildungskraft -
zur Form konkretisiert.
Lässt aber diese notwendig gewordene Korrektur des Hegeischen
Künstlerbegriffes die bisher analysierte Konzeption über Notwendig-
keit und Freiheit im Kunstwerk nicht in sich zusammenfallen? Was
hat es noch unter den veränderten Umständen mit dieser Objektivi-
tät auf sich?

Freiheit im Kunstwerk - ein Schein?


Was zunächst das Substantielle (oder besser: das Allgemeinmensch-
liche in seiner geschichtlichen Besonderung) betrifft, so ist darüber
folgendes zu sagen. Für uns, die wir uns in der ästhetischen Situation
befinden, könnte seine supponierte Freiheit nicht einmal als Schein
vorhanden sein. Denn was wir erleben, ist nur der konkrete Inhalt,
dieser Mensch, und nichts Darüber-hinaus-Seiendes, geschweige
denn dessen Freiheit. An sich ist hier jegliche Freiheit nicht nur des-
wegen fraglich, weil die Möglichkeit einer ideellen Selbstbesonderung
unerwiesen ist, sondern auch, weil diese Selbstbesonderung ihrerseits
7 Zur Konkretisierung der Besonderheit, S. 417. Am Anfang unserer Unter-
suchung (S. 5) hatten wir bereits Gelegenheit, diese Ansicht von Lukacs kennen-
zulernen. Dort handelte es sich allerdings um das Durchwobensein des Kunst-
werks von einer menschlichen Subjektivität als dargestellter, als Inhalt, der mit
der unmittelbaren Subjektivität des Künstlers identisch, aber auch nicht identisch
sein kann. Hier hingegen geht es um die Allgegenwart der darstellenden, sich bei
jedem Schritt des Schaffensprozesses immer wieder, so oder anders entscheiden-
den künstlerischen Subjektivität. Lukacs trennt diese beiden Aspekte nicht. Was
er aber meint, hat hier wie dort Relevanz.
8 Eigenart des A·sthetischen, Bd. I, S. 617.
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 65

die objektiv-ideelle, logisch-unzeitliche Existenz des menschlich We-


sentlichen voraussetzen würde - eine Annahme, für deren Mitvoll-
zug keine Notwendigkeit zu bestehen scheint.
Dass der Inhalt trotzdem (und notwendig) allgemeinmenschlich
ist, haben wir bereits gesehen (S. 50). Es ist ihm daher insofern tat-
sächlich Objektivität zuzubilligen, als er über die jeweilige geschicht-
liche Besonderung des Allgemeinmenschlichen Aufschluss zu geben
vermag. Er ist aber (als so-und-so bestimmter) keineswegs notwendig
gesetzt: Er ist eine dem Künstler eigentümliche konkrete mensch-
liche Innerlichkeit. Dass die HegeIsche Auffassung über die Freiheit
"des" Menschen somit in Frage gestellt wird, ist ästhetisch deswegen
ohne Belang, weil es sich ja hier um Nicht-für-uns-Seiendes handelt.
Nicht so bei der angenommenen Freiheit des Inhalts. Nicht nur ist
diese für uns - sie soll auch das objektive Wesen des Ästhetischen
ausmachen. Mit ihrer Geltung steht oder fällt die HegeIsche Ästhe-
tik; sie muss daher besonders gründlich untersucht werden.
Wir möchten eingangs an die Definition Schillers erinnern, nach
der das Schöne "Freiheit in der Erscheinung" sei. 9 In der Er-schei-
nung - das will bei Schiller heissen: Die Freiheit, um die es hier geht,
ist bloss scheinbar; was mit ihr bezeichnet wird, kann höchstens ver-
gleichsweise "Freiheit" genannt werden. Warum ist dem aber so?
Warum kann es sich hier nicht im wirkliche Selbstbestimmung, Von-
innen-bestimmt-Sein handeln? Die Antwort lautet: Weil der "Gegen-
stand" (wir würden sagen: die Form) "nicht durch einen Willen ...
da ist".lO Freiheit kommt - so könnten wir etwa Schiller ergänzen -
nur dem real existenten Willen, dem lebendigen Einzelmenschen zu,
und der Inhalt eines Kunst-Werks kann offenkundig nicht als solcher
angesprochen werden.
Da ist Hegel freilich anderer Meinung. Für ihn ist zwar der Inhalt
selbstverständlich ebenfalls nicht reales Subjekt, aber dies hindert ihn
durchaus nicht, diesem trotzdem objektive Freiheit zuzuschreiben.
Denn gerade darin ist er ja Idealist, dass er sich das Ideelle einer-
seits als objektiv Existierendes, andererseits als "Beseeltes", "Leben-
diges", Sich-selbst-Bestimmendes und somit eigentlich Willenhaftes
vorstellt, dass er den menschlichen Geist hypostasiert und zum We-
sen alles Wirklichen erhebt. Für ihn ist daher die Form eines Kunst-
werks sehr wohl "durch einen Willen da": durch den Willen des
9 VgI. S. 14.
10 Kallias, S. 13.
66 FREIHEIT DES KüNSTLERS

Begrüfs (letztlich des absoluten Geistes), der auch im Inhalt wirksam


ist.
Wir halten jedoch mit Schiller dafür, dass der Inhalt - da er als
Ideelles kein Leben und keinen Willen besitzt - ebensowenig frei ge-
nannt werden kann wie das hypostasierte Wesen des Menschen. (Ge-
rade deswegen war der Hegeische Versuch, Ideelles durch sich selbst
besondern zu lassen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.) Was
an sich tatsächlich frei wird, ist nicht der Inhalt, sondern der Künst-
ler. Denn die darzustellende konkrete Subjektivität ist streng genom-
men nichts anderes als der jeweilige, so-und-so bestimmte Inhalt der
künstlerischen Innerlichkeit, worunter nicht (oder nicht notwendig)
die Innerlichkeitsinhalte des in der Praxis, im "Leben" stehenden
Künstlers gemeint sind, sondern die des schaffenden: seine des Aus-
drucks, der Darstellung harrende Subjektivität - das, was er sich
"vorstellt", was ihm "vorschwebt". An sich ist jede Freiheit des In-
halts eigentlich Freiheit, Sich-ausdrücken-, Sich-objektivieren-Kön-
nen des Künstlers, wobei allerdings gleich bemerkt werden muss,
dass selbstverständlich auch diese Freiheit insofern keine vollends
reale ist, als sie auf die halb-ideelle Welt der Kunst beschränkt bleibt.
Sie bedeutet kein Sich-selbst-Bestimmen der künstlerischen Subjek-
tivität in der Wirklichkeit, keine Freiheit des Künstlers in seiner je
eigenen Existenz.
Unserer These über die "Passivität" des Inhalts widerspricht frei-
lich das Zeugnis eines Balzac und vieler anderer Dichter, denen ihre
Gestalten wie wirkliche Menschen, wie "Fremdkörper" vorkamen,
die sich nach ihren eigenen Gesetzen zu verhalten, ihre Besonderun-
gen tatsächlich selber hervorzutreiben schienen. Solche Dichter ha-
ben den Eindruck, als erschöpfe sich ihre Aufgabe darin, ihren Ge-
stalten gleichsam nur zuzusehen und sie abzubilden. Allein: wegen
der ansichseienden Leb- und Willenlosigkeit jeglicher künstlerischer
Vorstellung kann es sich bei derartigen Erfahrungen unmöglich um
etwas anderes handeln, als um ein Zusammenspiel hochentwickelter
Einbildungskraft und mangelhafter Reflexion, mithin um blosse
Täuschung.
Wenn aber die Freiheit des Inhalts nicht von selbst entsteht, son-
dern gemacht werden muss, wird Schiller wohl recht behalten, wenn
er sagt: dem Schönen komme Freiheitähnlichkeit, nicht aber Frei-
heit zu. 11 Inwiefern sind wir aber berechtigt, selbst metaphorisch von
11 ebd., S. 14.
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 67

einer Freiheit des Inhalts zu sprechen, inwiefern kann die Form, die
der Künstler für "sein" Inneres schafft, noch objektiv genannt wer-
den?
Die erste Antwort wird uns von Schiller selber an die Hand ge-
geben. In den Kallias-Briefen macht er nämlich die folgende bedeut-
same Unterscheidung: "Freilich wird der Begriff der Freiheit selbst,
oder das Positive, von der Vernunft erst in das Objekt hineingelegt,
indem sie dasselbe unter der Form des Willens betrachtet; aber das
Negative dieses Begriffes gibt die Vernunft dem Objekte nicht, son-
dern sie findet es in demselben schon vor. Der Grund der dem Ob-
jekte zugesprochenen Freiheit liegt also doch in ihm selbst, obgleich
die Freiheit nur in der Vernunft liegt." 12
Wenn man hier für das "Positive" das Wesensmerkmal der Schil-
lersehen "Freiheit", das Von-innen-bestimmt-Sein einsetzt, leuchtet
einem die Relevanz des Zitats sogleich ein. Dann bedeutet es näm-
lich einfach dies: Obwohl der schöne Gegenstand streng genommen
nicht von innen, nicht vom Inhalt her bestimmt ist, da dieser ja kei-
nen Willen besitzt, ist er wenigstens nicht von aussen bestimmt. Dem
Inhalt kann also insofern wohl ansichseiende Freiheitähnlichkeit zu-
gestanden werden, als ja von seinem Anderen, von der Form alles Frem-
de, alles real-möglich Ausserliehe ferngehalten wird. All das, was an
Zufälligem die dargestellte menschliche Innerlichkeit in der Realität
bestimmen könnte (und reale Subjektivitäten auch tatsächlich be-
stimmt), wird vom Künstler aus der Darstellung weggelassen. All die
Formen der Inhaltsfreiheit, die wir weiter oben (S. 15-23) behandelt
haben, müssen also weiterhin als reelle Gegebenheiten gelten gelassen
werden: Das konkrete Selbstbewusstsein, das etwa in der Literatur
zur Darstellung gelangen soll, wird von den Ausserlichkeiten des Na-
turhaften, der Schicksalsbestimmung, der dinglich-materiellen Um-
gebung, der Sprache usf. tatsächlich befreit.
Gerade weil diese Befreiung auf der Ebene der Realität unmög-
lich ist, muss sie eben "künstlich", vom Künstler vorgenommen wer-
den. Die Befreiung von der einen Ausserlichkeit, vom real-möglich-
Ausserlichen, bedingt also unter den gegeben Umständen notwendig,
dass die Form von der anderen, vom "Ausserlichen" der künstleri-
schen Subjektivität bestimmt werde; sie (oder besser: die Beschaffen-
heit der Realität) bringt es mit sich, dass höchstens von einer in An-

12 ebd., S. 33.
68 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

führungszeichen gesetzten "Freiheit" des Inhalts gesprochen werden


kann.
Der zweite Grund, weswegen die subjektive Form - trotz ihrer
Subjektivität, trotz der Uneigentlichkeit der Inhaltsfreiheit - in einem
bestimmten Sinne doch objektiv genannt werden kann, besteht darin,
das die hier waltende künstlerische "Willkür" so weit wie möglich
relativ gehalten wird, oder anders: dass die Form zugleich zufällig
und nicht zufällig ist.
Zufällig ist sie im bereits besprochenen Sinne: Es ist der Künstler,
der die Form bestimmt, und nicht der Inhalt selbst; sie hängt von
seiner Subjektivität, seiner Einbildungskraft ab und könnte - wenn
der gleiche Inhalt von einem anderen Künstler auseinandergelegt
würde (und werden könnte) - selber eine andere sein. Bei gegebenem
Inhalt - so könnte man es noch formulieren - ist es im voraus nicht
auszumachen, zu was für Besonderungen dieser gelangen wird.
Andererseits wird die "Willkür" des Künstlers insofern relativiert,
ist die Form insofern nicht zufällig, als sie im optimalen Fall inhalts-
bezogen ist: Der Künstler stellt seine Einbildungskraft in den Dienst
des Inhalts, er ist bemüht, eine möglichst adäquate, d.h. das Ganze
in seiner Wahrheit vermittelnde Form zu finden. Und dies kann ihm
- wie es scheint - auch dann gelingen, wenn "seine" Form nicht die
einzig mögliche ist, wenn die Befreiung prinzipiell auch anderen ge-
lingen könnte. Trotz der Subjektivität der Form scheint nämlich
nicht nur einfach Objektivität, sondern in verschiedenen Formen ver-
wirklichte und dennoch gleichwertige, gleich hohe Objektivität mög-
lich zu sein. Im gegebenen Falle ist es also nie zu beweisen, dass die
(noch so treffend zu sein scheinende) Form die adäquateste sei, dass
nicht in der Phantasie eines anderen Künstlers eine verschiedene aber
ebenso adäquate hätte geboren werden können.
Den Prüfstein für diese Annahme bietet jene Kunstart, bei der die
soeben skizzierte Dialektik in reiner Form zu beobachten ist, weil in
ihr in der Tat vom vorgegebenen Inhalt gesprochen werden kann: die
Kunst der Interpretation. Sowohl bei Dirigenten als auch bei Schau-
spielern - um nur diese beiden Beispiele herauszugreifen - handelt
es sich ja darum, dass sie sich samt ihrer ganzen Körperlichkeit zum
Instrument, zum Vermittler eines im zu interpretierenden Werk vor-
gegebenen Inhalts machen. Dabei bemühen sie sich um Objektivität,
um das Ergreifen und Vermitteln des Inhalts und nur des Inhalts.
Die grössten unter ihnen erreichen denn auch den Grad der Selbst-
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 69

verleugnung, der uns sagen lässt: Das ist nicht mehr dieser Künstler,
das ist bereits die V. Symphonie, das ist Hamlet.
Allein : sagen wir das nur einmal? Ist es nicht vielmehr so, dass
dieser hohe Grad an Objektivität immer wieder erreicht wird - aber
in notwendig subjektbedingten Formen? Die Gestik, die Mimik, die
Stimme - all das ist einmalig, persönlich, subjektiv. Und doch: der in
uns verpflanzte Inhalt - die inneren Läufte einer V. Symphonie, die
wir mitempfinden - der Mensch Hamlet, dem wir begegnen - all dies
bleibt bei den Grössten (trotz Verschiedenheit, trotz allenfalls von
den anderen abweichender Interpretation) immer der gleiche, es ist
der Inhalt in seiner Objektivität.
Wenn die am Beispiel der Interpretationskunst gewonnenen Er-
kenntnisse verallgemeinert werden dürfen, dann trifft es zu, dass die
Form einerseits tatsächlich zufällig ist, sofern sie nämlich auch an-
ders hätte sein können, andererseits aber auch nicht zufällig ist, indem
sie auch in jener Zufälligkeit das Wesen und die Fülle des Inhalts zu
vermitteln vermag. Wie ist das aber möglich? Wie können wir uns
diese Dialektik der Form theoretisch zurechtlegen?
Eine mögliche Antwort scheint die zu sein, dass der Inhalt, der ja
konkreter seelischer Inhalt ist, als Totalität und somit als Unend-
liches gefasst werden muss. Seine Unendlichkeit besteht einesteils
darin, dass er als individuelle Ganzheit mit der Begriffssprache der
Psychologie etwa niemals restlos eingefangen, niemals "ausgespro-
chen" werden kann. Über jede begriffliche Bestimmung muss hinaus-
gegangen werden, ohne je zum "Begreifen" der jeweiligen Individu-
alität zu gelangen.
Er ist aber anderenteils auch im echt Hegeischen Sinne unendlich:
Er ist das Allgemeine (zwar nicht das Kreierende) seiner Besonderun-
gen. Seine Allgemeinheit besteht darin, dass er - in welcher subjek-
tiven Form er auch erscheinen mag - bei sich ist, dass alle seine
möglichen Formen, die im Bemühen um eine möglichst grosse Ob-
jektivität entstehen können, auf ihn hin transparent sind. Aber das
bedeutet, dass er - gleich dem Ich - nicht nur zu Diesem besondert
werden kann, sondern theoretisch zu unendlich Vielem, dass er aber
in all seinen Besonderungen voll "vorhanden" ist, ohne jedoch in
irgendeiner von ihnen aufzugehen. Er kann eben wegen seiner Un-
endlichkeit nie völlig konkretisiert, nie aufgezehrt, höchstens ange-
deutet, "symbolisiert" werden, wobei jede Form treffend, adäquat
zu nennen ist, welche durch ihre Symbolhaftigkeit die Fülle eines un-
70 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

verwechselbaren, individuellen Inhalts als Unentfaltetes, als der un-


endlichen Besonderung Fähiges vermitteln kann.
Ob nun diese Dialektik (falls sie überhaupt eine reale Grundlage
hat) einen wahrhaften "Widerspruch" in sich birgt oder nicht, müsste
durch eine eingehende logisch-ontologische Analyse geklärt werden.
Falls ja, so würde ihre "Möglichkeit" ebensosehr ein Problem bedeu-
ten wie die der wahrhaften Dialektik überhaupt. 13
Zum soeben skizzierten Begriff der "relativen Willkür" sind bei
Hegel höchstens Ansätze vorhanden. So hält er Z.B. dafür, dass bei
den poetischen Bildern die künstlerische "Willkür" durch die objek-
tive Ähnlichkeit zwischen Bild und Objekt relativiert wird: Womit
auch das zu verdeutlichende Objekt verglichen werden möge, stets
sei das Bild auf dieses Objekt hin transparent. 14
Allein: Hegel erachtet dieses Phänomen aus bekannten Gründen
für das Form/Inhalt-Verhältnis nicht für notwendig und somit auch
nicht für allgemein. Obwohl der negative Akzent, den es daher bei
ihm bekommt, eben durch die Relativität der hier herrschenden Will-
kür gemildert wird, ist er unverkennbar da, denn nur Notwendiges
kann positiv gewertet werden.
Anstelle der "relativen Willkür", deren Begriff er übrigens nirgend-
wo entwickelt, beschäftigt sich Hegel vornehmlich mit der "absolu-
ten", in der die Form vom Inhalt völlig losgelöst ist. Dass es solche
Formelemente - etwa im Bereich der formalen Schönheit - tatsäch-
lich gibt, ist kaum zu bezweifeln. Zwar kann z.B. die Metrik sehr
wohl auf den Inhalt bezogen sein, und zwar nicht nur als so-und-so
bestimmtes Metrum, das stimmungsmässig oder onomatopoetisch
den Inhalt widerspiegelt, sondern - vorzüglich im Drama - auch als
geformte Rede überhaupt, impliziert sie doch Distanz gegenüber den
pathischen Erlebnissen, somit innere Freiheit und Würde (daher die
rhythmisierte Diktion der "edlen" Charaktere bei einem Shakes-
peare). Dem ist aber nicht notwendig so: Die Metrik kann frei über
13 Es kann vielleicht noch hinzugefügt werden, dass in Kunstformen, in wel-
chen die Natürlichkeit eine Rolle spielen kann, sich die erstrebte Objektivität des
Künstlers nicht nur in bezug auf die darzustellende konkrete Subjektivität be-
kundet, sondern auch in bezug auf das, wovon diese eine Besonderung ist, näm-
lich auf die menschliche Natur. Der Künstler bleibt nicht nur beim Konzipieren
des Inhalts, sondern auch bei dessen Auslegung und Vermittlung innerhalb des
menschlich Möglichen. Diese Objektivität ist mit eines jener Phänomene, die uns
berechtigen, von einer ansichseienden Freiheitsähnlichkeit des Inhalts zu spre-
chen.
H Vgl. S. 6lf.
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 71

dem Inhalt schweben, sie kann - allerdings meistens innerhalb tra-


ditioneller Formen - ausschliesslich der künstlerischen Subjektivität
anheimgestellt sein. Dies sind die Punkte, an denen die Form jegliche
Objektivität verliert, wo an sich nicht einmal bildhaft von einer Frei-
heit des Inhalts gesprochen werden kann.
Welches Bild bietet sich aber uns dar? Wir wissen ja bereits, dass
nicht das Ansich, sondern das Füruns das ästhetisch Ausschlaggeben-
de ist. Wie verhält es sich nun damit? Inwiefern ist der Inhalt wenig-
stens für uns frei?
Paradoxerweise müssen wir bei der Beantwortung dieser Frage
zum Ansich des Ästhetischen zurückkehren und von ihm ausgehen.
Dabei muss das vorhin Gesagte noch weiter verschärft werden: Der
Inhalt ist an sich nicht nur nicht frei, sondern er ist objektiv, "im"
Kunstwerk überhaupt nicht vorhanden. Hierüber hatte auch Hegel
nicht den mindesten Zweifel. In seiner "Religionsphilosophie" lesen
wir etwa die folgenden gewichtigen Worte: " ... das Kunstwerk ist
als für die Anschauung gesetzt zunächst ein ganz gemein äusserlicher
Gegenstand, der sich nicht selbst empfindet und sich nicht selbst
weiss. Die Form, die Subjektivität, die der Künstler seinem Werke
gegeben hat, ist nur äusserliche, nicht die absolute Form des sich
Wissenden, des Selbstbewusstseins. Die vollendete Subjektivität fehlt
dem Kunstwerke. Dieses Selbstbewusstsein fällt in das subjektive Be-
wusstsein, in das anschauende Subjekt" (15/151).
Objektiv gesehen gibt es also am Kunstwerk nur das Sinnliche,
nur die Form; das Selbstbewusstsein, der Inhalt gehört zum leben-
digen Menschen und nicht zum "toten" Kunstwerk. Auf den ersten
Blick mag dies befremden. Wie kann das "In-Sein" des Inhalts im
Kunstwerk geleugnet werden, wo diesem doch von Hegel objektive
Existenz zugeschrieben wird? Der Widerspruch ist jedoch bloss
scheinbar. Unter "objektiver Existenz" versteht Hegel durchaus kein
In-Sein, sondern eine geistig-dynamische Existenz, ein vom vorstel-
lenden Subjekt unabhängiges Ansichsein des Inhalts, das allerdings
nur im Medium des Künstlers und des Rezipienten, wo es also in das
Zeitliche eintritt, bewusst werden, zum Fürsichsein gelangen kann.
Der Inhalt als objektiv-unzeitlich Existierendes und Sich-Besondern-
des, der in echt dialektischer Weise mit der zeitlichen Vorstellung
des ästhetischen Subjekts zugleich identisch und nicht-identisch sein
soll, repräsentiert das eigentlich Objektiv-Idealistische der HegeI-
schen Ästhetik. Im Gegensatz zu dieser Lehrmeinung halten wir da-
72 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

für, dass der Inhalt ausschliesslich im Bereich des Subjektiv-See-


lischen, in der menschlichen Vorstellung beheimatet ist. Er ist weder
etwas im Kunstwerk (hierin sind wir mit Hegel einig), noch etwas
objektiv Geistiges, sondern einzig die Vorstellung des Künstlers, die
in die sinnliche Form, in die "leere" Gegenständlichkeit befreit wird,
um nachher im Rezipienten wieder aktuell zu werden.
über diese Reaktualisierung, die ja die objektiv-geistige Existenz
des Inhalts nicht voraussetzt, können wir uns wiederum von Hegel
belehren lassen. Die unmittelbare ästhetische Situation, der Aus-
gangspunkt ist bereits oben umrissen worden: Das anschauende Be-
wusstsein, das Subjekt, findet ein "totes" Objekt vor. "In dieses Be-
wusstsein fällt nun der Prozess, wodurch das Kunstwerk aufhört, nur
Gegenstand zu sein, und das Selbstbewusstsein dasjenige, das ihm als
ein Anderes erscheint, mit sich identisch setzt. Es ist dies der Pro-
zess, der... bewirkt, dass das anschauende Subjekt sich das be-
wusste Gefühl, im Gegenstand sein Wesen zu haben, gibt." Das Un-
mittelbare ist die Trennung, das Vermittelnde ist dieser näher nicht
bestimmte "Prozess", "in welchem die Wahrheit als körperlich ohne
Seele auf der einen Seite steht und auf der andern das anschauende
Selbstbewusstsein, das diese Trennung wieder aufhebt" (15j152f).
Hegel meint also einerseits, dass der ansichseiende Inhalt sein
Selbstbewusstsein im lebendigen Menschen, im aufnehmenden Sub-
jekt habe - eine Annahme, die nicht nur auf der Hypostasierung
eines objektiv-geistigen Seins beruht, sondern auch darauf, dass der
sich objektiv entwickelnde Inhalt und das betrachtende Bewusstsein
als ein und derselbe Geist aufgefasst werden. Daher die überzeugung
Hegels, dass das, was sich im Aufnehmen des Inhalts in das ästhe-
tische Bewusstsein seiner selbst bewusst wird, recht eigentlich der In-
halt selber sei.
Andererseits - und das ist das für uns Wesentlichere - geht es He-
gel darum, dass in der ästhetischen Situation auch der betrachtende
Mensch für sich werde, denn gerade darin und dadurch wird sich
der Inhalt Oetzten Endes: der Geist) der Wahrheit seines Wesens
bewusst. Wie ist dies aber angesichts der Tatsache möglich, dass der
Mensch im Kunstwerk etwas Leblosem, eben keinem Selbstbewusst-
sein gegenübersteht? Die HegeIsche Antwort geht dahin, dass das
Selbstbewusstsein sich selbst in die leblose Form projiziert, ihr ganz
allgemein Leben und Seele leiht. 15 Die künstlerische Form, die so-
15 Auch Nicolai Hartmann bewegt sich in diesem Gedankenkreis, schreibt er
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 73

und-so geformte Materie besitzt die Eigenschaft, im Menschen das


"Bild" einer konkreten Totalität hervorzurufen, das jedoch nicht als
in uns, sondern als im Kunstwerk seiend erlebt wird.
Daraus erhellt schon, dass die projektive Beseelung der an sich
seelenlosen Form aus dem Gesamtgefüge des Ästhetischen überhaupt
nicht wegzudenken ist. Wir sind geneigt, dieses Erlebnis als Illusion
niederen Grades zu bezeichnen. Illusion im strengen Sinne gibt es
zwar nur in der Begegnung mit Kunstwerken, bei denen auch die
sinnliche Form real Mögliches, in der gleichen Art auch sonst, auch
"natürlich" Existierendes ist. Musikwerke erwecken nie die Illusion,
als hätten wir es bei ihnen mit sinnlich Realem zu tun, da organisier-
te Tonfolge realiter nicht existiert. Wir haben aber wohl den Ein-
druck, als sänge eine Seele aus den Tönen, als hätten wir mit un-
entrinnbarer Präsenz geistig Reales vor uns. 16
Illusion in dieser weiteren Fassung ist also theoretisch notwendig:
Sie muss sein, damit Ästhetisches sei. Die reale Notwendigkeit für ihr
Entstehen kann hier nur in ihren Umrissen aufgezeichnet werden. Auf
unserer Seite beruht sie anscheinend auf einer in Anbetracht der Kunst
aktiv werdenden Neigung zum "Animismus", zur Beseelung alles Dar-
gestellten. Dem Künstler wiederum scheint es gegeben zu sein, die
Form so zu organisieren, dass sie - gerade auf dieser unserer Nei-
gung aufbauend - den von ihm erschaffenen Inhalt in uns neu erstehen
lässt und sich mit demselben zu jener Einheit von Sinnlichem und
Geistigem zusammenschliesst, welche als das Wesen des Ästhetischen
erkannt wurde. Oder wie Hegel sagt: Durch die sinnliche Realität,
die Form, geht der Inhalt "aus der Vorstellung in die Vorstellung"
ein (Ä/596). Die faktische Relativität der ästhetischen Werturteile,
die Tatsache, dass sich gewisse Kunstwerke gewissen Menschen nicht
aufschliessen, beruht eben darauf, dass den Betreffenden gerade jene
"geistige" (und das heisst keineswegs bloss gedankenmässige, son-

doch in seiner }l'sthetik, dass "der geistige Gehalt ... gar nicht ohne Zutun eines
lebenden Geistes in der geformten Materie liegt. Er ist überhaupt nicht ,an sich'
in ihr, sondern nur ,für uns', die Auffassenden" (S. 90).
16 Die lllusion im engeren Sinne wurde auf S. 25f als subjektiver Niederschlag
einer Form der Inhaltsfreiheit, nämlich der Natürlichkeit, interpretiert und da-
durch implizite als notwendig aufgewiesen. In ihrer weiteren Fassung kann sie
aber - wie wir sehen - noch tiefer begründet werden: Sie ist ganz allgemein Be-
dingung der menschlichen Selbstbegegnung in der Kunst. Genauso ergeht es der
Natürlichkeit: Sie ist recht eigentlich als eine Spezifikation der Allgemeinmensch-
lichkeit zu nehmen und als solche ist sie nicht nur Bedingung der Inhaltsfreiheit,
sondern auch - wie wir auf S. 50-53 gesehen haben - der Selbstbegegnung.
74 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

dern mindestens sosehr gefühls- und stimmungsmässige, an Phanta-


sie gebundene) Erlebnismöglichkeiten abgehen, die notwendig wären,
um die gegebenen sinnlichen Momente zum Ästhetischen zu ergän-
zen.
Diese für das Ästhetische notwendige illusion, dieser Eindruck
einer auf jeden Fall, wenn auch bei den nicht-darstellenden Künsten
in reduzierter Form vorhandenen "Lebendigkeit" hat nun für unsere
Problemstellung, für die Frage nach dem Fürunssein der Inhaltsfrei-
heit weittragende Bedeutung. Denn sie besagt nichts weniger, als dass
der Inhalt, die dargestellte Subjektivität trotz des ansichseienden und
- wie wir bald sehen werden - auch für uns seienden Gemacht-Seins
des Kunstwerks für uns auch Selbständigkeit, Unabhängigkeit vom
Künstler besitzt: er wird immer auch als nicht-gemacht erlebt. Wir
glauben daran, dass das, was wir vor uns haben, reale, existente Seele
istP Als solche kann sie aber nichts an sich haben, was uns als Aus-
fluss der künstlichen Formung, als relative oder absolute Willkür des
Künstlers erschiene. Eben weil wir vom Künstler, vom Gemacht-Sein
abstrahieren, kann uns die durch das "Machen" notwendig verur-
sachte Unfreiheit des Inhalts nicht bewusst sein. Da überdies die
Form tatsächlich nicht von real-möglich Äusserlichem bestimmt und
dieses Nicht-von-aussen-bestimmt-Sein auch für uns ist, erscheint
uns in der Form alles als einzig mögliche, mithin notwendige Konse-
quenz des Inhalts. Daher das Gefühl des "So-muss-es-sein", von dem
- allerdings im Sinne einer objektiven Notwendigkeit - Hegel spricht
(7/68), daher der Eindruck, als wäre der Inhalt freps
Im Banne der Illusion wird also kein Unterschied gemacht zwi-
schen inhaltlicher und künstlerischer Bestimmtheit; es gibt für uns
keine Zäsur, keinen Punkt, wo wir sagen würden: Das ist nicht mehr
der Inhalt, das ist der Künstler. Nicht einmal das Oberflächlichste,
etwa die Metrik, wird als "Willkür" empfunden, sondern als Gegebe-

17 Dies tun wir auch bei der subjektiven Komponente sonst objektiver, darstel-
lender Kunstwerke, etwa bei der Moral, die - wenn richtig behandelt - aus der
Fabel und den Figuren hervorzuspringen, objektiven Bestand zu haben scheint.
1S Wobei wir - wenn und insofern wir von der lllusion befallen sind - Form
und Inhalt nie als Getrenntes erleben, sondern - wie im realen Leben die mensch-
liche Seele und ihre Ausserung - als Einheit. Nur wird uns in der Kunst diese
Einheit als in jedem Punkt der Form auf notwendiger Zuordnung beruhend vor-
gehalten. - Auf diese Eigentümlichkeit im Füruns des Kunstwerks hat bereits
Alfred Baeumler hingewiesen. Er spricht vom "Standpunkt des unbefangenen
Bewusstseins ... , dem die Trennung von Form und Inhalt etwas Unverständ-
liches ist" (a.a.O., S. 3).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 75

nes, als Selbstverständlichkeit: Alles bezeugt nur die Freiheit dieses


Menschen, dieser Innerlichkeit.
Umgekehrt haben wir aber auch das Wissen, dass das ganze Kunst-
werk - Werk der Kunst, Werk des Künstlers ist, dass nichts in ihm
ist, das nicht vom Künstler stammen würde, dass die Freiheit des
Inhalts eigentlich Freiheit, Selbstbefreiung des Künstlers als darstel-
lender Subjektivität ist, Objektiv-Werden seines so-und-so bestimm-
ten "Innerlichkeitsbildes". Die Kunst hat - mit Hegels Worten - den
Inhalt so darzustellen, "dass sich erkennen lässt, sowohl er selbst als
seine Gestalt sei nicht nur eine Realität der unmittelbaren Wirklich-
keit, sondern ein Produkt der Vorstellung und ihrer geistigen Kunst-
tätigkeit. " Somit erhalten wir eigentlich nicht "die Vorstellung von
einem Gegenstande, sondern die Vorstellung einer menschlichen Vor-
stellung" (Äj595).
Dies ist nun nicht so zu verstehen, als wäre das Gemacht-Sein nur
in der nachträglichen theoretischen Betrachtung für uns, nicht aber
in der ästhetischen Situation selber. In Wirklichkeit haben wir im
idealen Fall (und jedes Kunstwerk ist für den idealen Rezipienten
geschaffen) zugleich den Eindruck des Gemacht-Seins und des Nicht-
gemacht-Seins. Allerdings darf das wiederum nicht als kontradiktori-
scher Gegensatz augefasst werden. 19 Es ist nicht so, dass das Kunst-
werk in ein und derselben Hinsicht, für denselben "Teil" unseres Be-
wusstseins gemacht und nicht-gemacht wäre. Obwohl diese Unter-
scheidung von Hegel nicht eingeführt wird, handelt es sich hier offen-
kundig um die Dualität von Bewusstem und "Vorbewusstem": Wir
wissen um das Gemacht-Sein des Kunstwerks, selbst wenn es uns im
Augenblick des Kunstgenusses nicht bewusst ist. 20
Es ist nun ohne Zweifel wahr, dass das Wissen um das Gemacht-
Sein des Kunstwerks manchmal selbst während des Kunsterlebnisses

19 Dies ist einer der Gründe, deretwegen wir das Wort "Widerspruch", "Wi-
dersprüchlichkeit" konsequent in Anführungszeichen setzen. Der andere wurde
in Nicolai Hartmanns Arbeit über die Realdialektik bei Hegel angegeben: "Zum
Widerspruch gehört der ,Spruch', und das will logischerweise sagen: das Urteil.
Begriffe und Urteile können sich freilich widersprechen ... Aber Dinge, Ge-
schehnisse, Realverhältnisse können es streng genommen nicht. In ihrer Ebene
gibt es kein Sprechen, Urteilen, Aussagen; also auch kein Widersprechen. Was
man in übertragenem Sinne als das Widersprechende im Leben und in der Wirk-
lichkeit bezeichnet, das ist in Wahrheit gar nicht widersprechend, sondern wider-
streitend ... Solcher Widerstreit ist Realrepugnanz" (S. 345).
20 Warum dieses Wissen um das Gemacht-Sein dem Ästhetischen notwendig
ist, wird weiter unten (S. 80-83, bes. Anm. 5) dargetan werden.
76 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

ins Zentrum unseres Bewusstseins rückt, dass es "überschwellig"


wird. Dies ist etwa bei nachahmenden Künsten der Fall, wenn der
Künstler gegen die Gebote der Natürlichkeit verstösst, wenn er mensch-
lich Unmögliches "behauptet", wenn er seine Figuren Lügen straft.
(Wobei die Tatsache, ob man etwas als "Lüge", als "Widerspruch"
empfindet oder nicht, immer auch von der Tiefe der individuellen
Menschenkenntnis abhängt: Manchmal wird gerade der "Wider-
spruch", das Überraschende als Zeichen der Echtheit, der wahrheits-
getreuen Darstellung erkannt.) Hier wird uns das Gemacht-Sein - in
der Form künstlerischer Willkür - wohl vollends bewusst; dennoch
haben wir es dabei bloss mit einer Ausnahme zu tun, welche die Re-
gel, wonach in der ästhetischen Situation der Inhalt für unser Be-
wusstsein grundsätzlich frei ist, nicht widerlegt, sondern bestätigt.
Denn jene Vergewaltigung der menschlichen Natur hat zur notwen-
digen Folge, dass unsere Illusion jäh zerstört wird und wir uns folg-
lich ausserhalb der ästhetischen Situation befinden. Unsere jetzige
Bewusstseinslage hat also für die Überlegungen der Ästhetik streng
genommen keine Relevanz.
In seiner allgemeinsten Form wird uns das Gemacht-Sein als Ge-
wahr-Werden des künstlerischen Könnens bewusst. Wenn die Durch-
führung der künstlerischen Absicht, Ästhetisches hervorzubringen, in
eminenter Weise gelingt oder misslingt (wenn wir z.B. auf die soeben
beschriebene Weise "ernüchtert" werden), so wird dies - je nach
ästhetischer Empfindlichkeit - registriert, als Anzeiger der "Kunst"
des betreffenden Künstlers gewertet, womit uns auch die "Künst-
lichkeit" des Kunstwerks eindeutig ins Bewusstsein gehoben wird.
Wir werden uns hier des Künstlers als Machenden, sich Befreienden,
seine Absichten durch Organisieren Verwirklichenden, als Künstlers
in Aktion bewusst.
Auch dies entkräftet aber unsere These über die "Widersprüch-
lichkeit" der ästhetischen Situation nicht. Denn sobald wir über das
Können befinden, ist unsere ästhetische Befangenheit bereits unter-
brochen und durch theoretische Betrachtungsweise abgelöst. Dass
hier von ästhetischem Erlebnis überhaupt nicht mehr die Rede sein
kann, wird uns deutlich, wenn wir bedenken, dass wir dabei nicht die
Freiheit einer konkreten Totalität in der Anschauung erleben, son-
dern - im positiven Falle - die Freiheit einer bloss ihre künstleri-
schen Fähigkeiten mobilisierenden, also beileibe nicht totalen Sub-
jektivität mit unserem Verstand erkennen. Denn es handelt sich hier
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 77

doch darum, dass wir das sinnlich Dargebotene begrifflich betrach-


ten: Wir beziehen es auf den künstlerischen Zweck und schliessen
aus dem Entsprechen zwischen Zweck und Wirklichkeit auf ein Kön-
nen, das diese "Zweckmässigkeit", eben das Ästhetisch-Sein des
Kunstwerks, erst ermöglicht hat. Dementsprechend wäre auch das
Positive, mit dem wir in solchen theoretischen Augenblicken das
Können erleben, nicht als ästhetischer Genuss zu betrachten, sondern
als Achtung, die uns jegliches menschliche Können einfiösst, sei es
ästhetischer oder anderer Natur.
Der Theorie, der kunstwissenschaftlichen Betrachtung fällt über-
haupt die Aufgabe zu, das in der ästhetischen Situation verborgene
Ansich des Kunstwerks, den wahren Sachverhalt in all seinen Ver-
zweigungen in die Helle des Bewusstseins zu heben. Dabei handelt es
sich selbstverständlich nicht nur um die Bewusstmachung der banal-
allgemeinen Tatsache, dass das Kunstwerk Gemachtes ist. Der Kunst-
wissenschafter möchte vielmehr ergründen, wieviel von dem, was in
der ästhetischen Situation als mit objektiver Notwendigkeit Gesetztes
erlebt wird, an sich doch "Stil", Eigenheit des betreffenden Künst-
lers ist. Dabei entpuppen sich - um bei der Literatur zu bleiben -
nicht nur gewisse Aspekte der poetischen Bilder, sondern auch sol-
che der einzelnen Figuren, der Fabel oder erst recht der Moral, der
Grundstimmung usf. als subjektiv bedingte, individuelle Charakte-
ristika, als Ausflüsse der jeweiligen künstlerischen Partikularität.
Zugleich wird aber auch all das zutage gefördert, was - trotz der
Tatsache, dass faktisch, im Akte des Schaffens alles vom Künstler
bestimmt wird - letztlich doch nicht von ihm stammt. Hier wird auf
Determinationen verschiedenster Art hingewiesen: auf ausserkÜllst-
lerische (geschichtliche, ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle,
sprachliche, psychologische) Determinanten nicht weniger als auf
kunstmässige, wobei nicht allein an die Einflüsse der Tradition zu
denken ist, sondern zum al an die bestimmende Kraft des vorgefass-
ten Inhalts (der ja trotz relativer Willkür besteht, weswegen auch
diese Art Willkür bloss relativ genannt wird), an die "innere Logik"
des Kunstwerkes also, die befolgt werden muss, wenn Ästhetisches
entstehen soll.
Allein - und das ist für unsere ursprüngliche Problemstellung das
Entscheidende - all dies gehört eben zum Bereich des sich nur in der
Reflexion aufschliessenden Ansich und nicht zum unmittelbaren Für-
uns des Kunstwerks. Diese Entdeckungen sagen - eben weil sie nicht
78 FREIHEIT DES KÜNSTLERS

das betreffen, was wirksam ist - nichts über das Wesen des Ästheti-
schen aus. Sie gehören zur Kunstwissenschaft und nicht zur Ästhe-
tik im strengen Sinne des Wortes.
Die uns zugekehrte Seite des Kunstwerks hat sich trotz der Ein-
schränkungen und Umdeutungen, die wir im Laufe dieses Kapitels
am Begriff der Inhaltsfreiheit vornehmen mussten, nicht geändert.
Der Inhalt ist - wenigstens für uns - so, wie Hegel ihn gedeutet hat:
er ist frei.
SECHSTES KAPITEL

FREIHEIT DES MENSCHEN IN DER


ÄSTHETISCHEN SITUATION

Die Unentbehrlichkeit einer anthropologischen Fundierung der A's-


thetik
Jede Ästhetik ist eine Metaphysik des Schönen und der direkten
Verifizierung somit entzogen. Niemand erlebt Z.B. das Ästhetische
als InhaItsfreiheit, sondern bloss als etwas, das ganz allgemein Wohl-
gefallen hervorruft, als "Schönes". Es ist nicht möglich, auf einen
spezifisch ästhetischen Erlebnisinhalt hinzuweisen und dadurch eine
Grundannahme der Ästhetik einleuchtend zu machen. Da anderer-
seits die Möglichkeit einer apriorischen Herleitung im Hegeischen
System ebenfalls nicht vordemonstriert wurde, bleibt es wie bei allen
unbeweisbaren Hypothesen: man muss bestrebt sein, der Annahme
möglichst grosse Wahrscheinlichkeit nachzuweisen.
Eine ästhetische Hypothese ist nun wohl umso wahrscheinlicher
zu nennen, je mehr Forderungen der Kunstkritik, welche ja ihrer-
seits allgemeines Gefallen bzw. Missfallen widerspiegeln, durch sie
begründet werden können. In diesem Sinne ist jede kunstwissen-
schaftliche Konkretisierung einer Ästhetik als indirekte Beweisfüh-
rung für deren Gültigkeit zu betrachten, und zwar je breiter angelegt
sie ist, je mehr allgemein anerkannte Prinzipien der einzelnen Künste
sie auf die betreffende Grundannahme zurückzuführen vermag, de-
sto grössere Beweiskraft besitzt sie. Es gehörte denn auch zu den
Zwecken der vorliegenden Untersuchung, innerhalb ihres bescheide-
nen Horizontes diese Aufgabe mit Bezug auf die Hegeische Ästhetik
durchführen zu helfen.
Eine ästhetische Hypothese muss aber auch vom Menschen her
plausibel gemacht werden. Das bedeutet, dass man imstande sein
muss, die Frage zu beantworten, weswegen das auf diese Weise aus-
gelegte Ästhetische dem Menschen gefallen sollte. Können anthropo-
80 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

logische Gegebenheiten genannt werden, die in der Begegnung mit


diesem hypothetischen ästhetischen Sein zum Werturteil "Es ist
schön" führen müssen?
Das Ausbleiben einer Antwort darauf ist freilich noch kein Beweis
gegen die Gültigkeit der betreffenden ästhetischen Annahme, es sei
denn, man könnte schlüssig beweisen, dass sie grundsätzlich nicht
geliefert werden kann, dass es also im Menschen nichts gibt, das eine
solche Reaktion ermöglichen würde. Wenn hingegen eine Ästhetik
im soeben umrissenen Sinne anthropologisch begründet werden kann,
so ist das zwar auch kein hinreichender Beweis tür ihre Gültigkeit,
wohl aber ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine indirekte Veri-
fizierung hin. Selbst in diesem Fall muss man sich allerdings darüber
im klaren sein, dass dieser Schritt einen Rückgriff auf eine andere
Metaphysik bedeutet, auf die des Menschen nämlich, welche ihrer-
seits ebenfalls eines Wahrheitsbeweises bedarf. Der Beitrag, den die
Anthropologie zur Verifizierung einer Ästhetik leisten kann, hängt
also von ihrer eigenen Gültigkeit ab.
Im abschliessenden Kapitel unserer Untersuchung möchten wir
uns mit diesem anthropologischen Aspekt der Hegelschen Ästhetik
befassen, mit der Frage also, wie er das Wohlgefallen, das wir an der
Freiheit des Inhalts finden sollen, vom Menschen ausgehend begrün-
det.

Herausgelöstsein des Subjekts - Grund des ästhetischen Genusses?


Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, auf die eigentümliche on-
tologische Mittelstellung des Kunstwerkes hinzuweisen: dass es näm-
lich der Realität sowohl zu- als auch nicht zugehört. Mit dem Wort
vom Scheinen der Idee hat Hege! - wie sich damals gezeigt hat -
unter anderem gerade dieses Herausgelöstsein aus den unmittelbaren
Bezügen der Realität angezielt (S. 7f).
Diese teilweise Autonomie des ästhetischen Gegenstandes hat nun
zur Folge, dass er dem Subjekt nicht - oder doch nicht primär - als
mögliches Mittel zu praktischen Zwecken erscheint, dass es nahelie-
gend ist, ihn "ohne Interesse" zu betrachten. Eben weil "das Kunst-
interesse ... seinen Gegenstand frei für sich bestehen lässt, während
die Begierde ihn für ihren Nutzen zerstörend verwendet", ist für He-
gel "die Betrachtung des Schönen liberaler Art, ein Gewährenlassen
der Gegenstände" (A/81, 149).
Dieses Gewährenlassen bezieht sich aber nicht nur auf die aktuelle
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 81

Existenz des Gegenstandes, sondern auch auf das Bild, das er uns
bietet: auf seine "Erscheinung". Um ihn überhaupt zu diesem oder
jenem Zweck verwenden zu können, muss er uns zunächst als dazu
geeignetes Mittel, als eidetisch so und nicht anders Bestimmtes er-
scheinen, er muss begrifflich betrachtet werden. Das bedeutet eine
Reduktion der Erscheinung, eine Ausklammerung all jener Elemen-
te, die nicht unter den Begriff des jeweils erwünschten Mittels sub-
sumiert werden können.
Das Erscheinungsbild wird aber nicht nur im Bereich des Prakti-
schen, im "Alltag" gekürzt, sondern erst recht in der Theorie, die
ja von Haus aus nur am Allgemeinen der Erscheinungen interessiert
ist. In beiden Fällen handelt es sich darum, dass die "reine" Erschei-
nung - mit Heinrich Barths Worten - "durch Vorgreifen des Begrif-
fes gestört oder gebrochen wird." 1
Das Gewährenlassen in diesem erweiterten, nicht nur pragmati-
schen Sinne, als Ermöglichung integraler Erscheinung überhaupt,
soll nun nicht bloss eine durch das Herausgelöstsein geförderte Mög-
lichkeit, sondern eine für das Ästhetische konstitutive Notwendigkeit
sein, ja es soll recht eigentlich das Ästhetische "hervorbringen". So
ist etwa nach Heinrich Barth die ästhetische Erfahrung als solche
dahin zu bestimmen, "dass sie sich Erscheinung in ihrer Integrität
erscheinen lässt." 2 Barth sieht auch Kants Begriff des "freien Spiels"
der Erkenntnisvermögen, der übereinstimmung von Verstand und
Einbildungskraft - die für das Entstehen des Ästhetischen wesens-
mässig sein soll - gerade darin begründet, "dass in der ästhetischen
Erfahrung. . . der Begriff vor der Anschauung nicht im Vorsprung
ist, in dem Sinne, dass die Anschauung von dem ihr vorgegebenen
Begriffe ihr Gepräge empfangen würde." 3
Dieser Auffassung gegenüber gilt es festzuhalten, dass die durch
das Gewährenlassen ermöglichte integrale Erscheinung wohl als eine
notwendige Voraussetzung des Ästhetischen, nicht aber als dessen
Wesen anzusprechen ist. Diese Theorie läuft in ihrer letzten Konse-
quenz darauf hinaus, dass es nur von der subjektiven Verfassung,
von der "Einstellung" des Rezipienten abhängt, ob etwas als Ästhe-
1 "Grundgedanken der Ästhetik", Studia Philosophica, Bd. 16 (1956), S.74.
2 ebd., S. 73.
3 Philosophie der Erscheinung, Bd. TI, S. 478. Vgl. noch den bereits zitierten
Ausspruch Kuno Fischers: "Ohne den Zustand der Freiheit von seiten der sub-
jektiven Betrachtung (d.h. ohne Interesselosigkeit, A. H.) ... ist nichts ästhetisch;
diesen Zustand vorausgesetzt, ist alles ästhetisch."
82 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

tisches erlebt wird oder nicht - die objektive Beschaffenheit des Er-
scheinenden wird als gleichgültig hingestellt. Es ist indessen nicht er-
sichtlich, wie aus solchen Prämissen die empirische Tatsache erklärt
werden könnte, dass es Gegenstände gibt, die das ästhetische Erleb-
nis gleichsam herausfordern - eben die Kunstwerke und das Schöne
in der Natur. Wenn grundsätzlich alles ästhetisch werden kann, wie
lassen sich Kunstwerke von Nicht-Kunstwerken, das gemeinhin als
schön Empfundene vom Nicht-Schönen abheben? Und wenn eine
Theorie diesem Unterschied nicht Rechnung trägt, wenn in ihr die
Kunst - etwas, an dem uns der Begriff des Ästhetischen eminent le-
bendig wird - der übrigen Wirklichkeit gegenüber keine Auszeich-
nung erhält, kann da noch behauptet werden, dass durch eine solche
Theorie das Wesen des Ästhetischen getroffen worden sei?
Selbst wenn diese Frage verneint werden muss, kann doch die
Notwendigkeit des Gewährenlassens im ästhetischen "Prozess" nicht
bestritten werden. Es bildet auf der Seite des Subjekts ebensosehr eine
unerlässliche Bedingung des Ästhetischen wie auf der Objektseite das
technische Können, das sich im Besiegen des Stoffes bekundet. Einer-
seits dürfte es nämlich ohne weiteres klar sein, dass die vom Künst-
ler intendierte Gesamtform in ihrer Integrität in den Stoff eingesenkt
werden muss, die geformte Materie (bis auf ihre notwendigen Vor-
gegebenheiten) keine eigene Prägung aufweisen darf, wenn Ästheti-
sches entstehen soll. Denn erst wenn die Form des Stoffes mit der
intendierten identisch ist, wenn letztere integral "da" ist, kann über-
haupt die Frage aufgeworfen werden, ob nun dieser geformte Stoff
(die eigentliche Form) tatsächlich der Ausdruck einer Totalität ist
oder nicht. 4 Andererseits ist es ebenso klar, dass auch das hiemit
vollständig Aktualisierte in seiner Integrität in das Bewusstsein des
Aufnehmenden eingehen, ihm gegeben sein muss, denn sonst könnte

4 Wenn das technische Können grundsätzlich vorhanden ist, die Stofflichkeit


aber an gesonderten Punkten trotzdem Oberhand gewinnt, so handelt es sich hier
wohl nicht mehr um eine "vorästhetische" Erscheinung - denn die Voraussetzun-
gen auf der Objektseite sind ja grundsätzlich gegeben -, sondern um ein Vergehen
gegen die Ästhetizität selbst, um eine Vereitelung der Inhaltsfreiheit. Vgl. hierzu
Schillers Formulierungen über die "dreierlei Naturen", die beim Entstehen eines
Kunstwerks "miteinander ringen: die Natur des Darzustellenden, die Natur des
darstellenden Stoffes und die Natur des Künstlers ... Es ist ... bloss die Natur
des Nachgeahmten, was wir an einem Kunstprodukt zu finden erwarten ... So-
bald aber entweder der Stoff oder der Künstler ihre Naturen mit einmischen,
so erscheint der dargestellte Gegenstand nicht mehr als durch sich selbst be-
stimmt, sondern Heteronomie ist da" (Kallias, S. 47).
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 83

die Freiheit des Inhalts überhaupt nicht für ihn sein. Diese bekundet
sich nämlich eben darin, dass der Inhalt in allem vorhanden ist, dass
er alles durchdringt. Wie könnte er aber in allem entdeckt werden,
wenn - gerade wegen der oben analysierten begrifflichen Reduktion
- überhaupt nicht alles aufgenommen wurde?
Wir sehen, dass es sich hier tatsächlich um zwei notwendige Vor-
aussetzungen handelt: Ohne das "Da"-Sein der Gesamtform kann
Ästhetisches ebensowenig zustandekommen, wie ohne das vollständi-
ge Gegebensein dieses "Da"-Seienden. Erst wenn der Begegnung der
zwei Bewusstseine keine Hindernisse im Wege stehen, wenn weder
der Künstler noch der Rezipient eine Mauer vor sich haben, ist die
Vorbedingung zur Entstehung des Ästhetischen, die ästhetische Si-
tuation vorhanden, erst jetzt kann darüber geurteilt werden (im emo-
tionalen wie auch im sprachlich-logischen Sinn), ob der Inhalt wirk-
lich frei ist, ob also Ästhetisches geschaffen wurde oder nicht. I'}
Das Phänomen des Gewährenlassens muss jedoch nicht nur auf
die Frage hin kritisch untersucht werden, wieweit es objektiv mit
dem Ästhetischen ineins gesetzt oder ihm wenigstens unmittelbar
vorgelagert werden darf, sondern auch - und in unserem Zusammen-
hang in erster Linie - in seiner subjektiven Bedeutung. Es soll näm-
lich den Hauptgrund für den ästhetischen Genuss abgeben, indem es
ja nicht nur die Freiheit des Objekts gewährleistet, sondern auch die
des Subjekts: Insofern der Gegenstand in der Reinheit seiner Erschei-
nung von mir nicht eingeschränkt ist, insofern ich ihn zum Worte
kommen lasse, bin auch ich selbst in dem Sinne frei, dass ich von
keinem praktischen Zwecke bedrängt bin. Bereits Kant mag mit dem
Wort vom freien Spiel der Erkenntniskräfte auf diesen Zustand an-
gespielt haben. 6 In den Mittelpunkt des ästhetischen Interesses wurde
er aber erst von Schiller gerückt. Wir haben schon am Anfang un-
serer Untersuchung (S. 13f) darauf hingewiesen, dass im Gegensatz
zu den Kallias-Briefen seine Briefe über die ästhetische Erziehung
ihrem Wesen nach subjektiv ausgerichtet sind. Seine Aufmerksam-
I'} Gerade weil wir, damit Ästhetisches sei, integrale Erscheinung vor uns ha-

ben müssen, ist es auch notwendig, dass uns die Illusion als Illusion ebensowohl
bewusst als auch nicht-bewusst sei. Wenn wir nämlich naiverweise Opfer der
Illusion werden und das Kunstwerk für einen Bestandteil der "wirklichen Wirk-
lichkeit" halten, wird auch unsere Einstellung zu ihm praktisch, d.h. eben nicht
"liberaler Art". Der ästhetisch Ungebildete, der sich etwa im Theater auf die
Bühne stürzt und sich in die Handlung einmischt, um der gerechten Sache zum
Siege zu verhelfen, kann unmöglich gleichzeitig die Freiheit des Inhalts geniessen.
6 Vgl. Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1921, Bd. I, S. 258.
84 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

keit gilt hier nicht so sehr der objektiven Beschaffenheit des schönen
Objekts, sondern vielmehr der Wirkung, die es im Menschen hervor-
ruft. Dies wird nun bekanntlich als Freiheit von jeder Nötigung be-
schrieben, wobei "sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze als
der geistige Zwang der Sittengesetze" verschwindet. 7 • Das Objektive,
aus dem er diese "Gemütsfreiheit" ableitet, ist nichts anderes als der
eigentümliche ontologische Status des ästhetischen Objekts, seine
vermittelnde Stellung zwischen Realem und Nicht-Realem. Daher die
überragende Bedeutung, die dem Begriff des "Scheines" in den Äs-
thetischen Briefen zukommt. Eben die Schein-haftigkeit der Kunst
ermöglicht es, dass wir in der ästhetischen Situation unserer unmittel-
baren Existenz enthoben werden, uns - wie er sagt - "wie aus der
Zeit gerissen" fühlen, dass die Begegnung mit der Kunst im Gegen-
satz zum Ernst des Lebens "Spiel" ist. 8
Auch Nicolai Hartmann identifiziert - im Namen Hegels - den
subjektiven Niederschlag des Ästhetischen im wesentlichen mit der
Bestimmungsfreiheit. In seiner Hegel-Monographie lesen wir etwa
folgendes: "Weil das Objekt herausgelöst ist aus der Verkettung
des Aktuellen, so löst es auch den Betrachter heraus aus dem Drang
und der Mühsal seiner Lebensaktualität." Auf diese Weise entsteht
"die wohlbekannte, jedem ästhetisch Empfindenden fühlbare Frei-
heit des Subjekts in der Betrachtung."9
Was nun die grundsätzliche Gültigkeit dieser Auffassung betrifft,
so ist zunächst zu bemerken, dass das Beglückende des Irrealen, des
Spiels, des Unernsten aus dem Kunsterlebnis tatsächlich nicht weg-
zudenken ist. Allein: diese Heiterkeit ist offenkundig kein Spezifikum
des Kunstgenusses. Schon das von Kant und Schiller in diesem Zu-
sammenhang verwendete Wort des "Spiels" weist darauf hin, dass
diese Art Freiheit in jeder Situation empfunden wird, in der wir aus
den praktischen Bezügen entlassen sind und unsere Tätigkeit ihren
Zweck einzig und allein in sich selbst hat.
Dass nach Hegel der subjektiven Komponente des Ästhetischen
mit dem Hinweis auf die Interesselosigkeit, auf die Gemütsfreiheit

a.a.O., S. 60. Vgl. noch S. 54, 57, 65f, 76f.


7
8 a.a.O., S. 81, 84, 102, 113. Vgl. noch Eduard von Hartmann, a.a.O., S. 26f,
auch - über den Begriff des Spiels bei Kant - S. 4. - Dies ist übrigens auch der
einzige Aspekt, unter dem in den Ästhetischen Briefen das Objektive am Ästheti-
schen thematisch wird; gleichzeitig wird es klar, dass hier auf objektiv gesehen
Anderes abgezielt wird als in seinen Briefen an Körner.
9 Hegel, S. 372.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 85

in Wirklichkeit nicht Genüge getan wird und dass seine Lösung tat-
sächlich auf die Kunst zugeschnitten ist, dies gilt es im folgenden
darzutun.

Das allgemeine Bedürfnis zur Kunst


Hegels Idealismus bekundet sich in der Erkenntnistheorie be-
kanntlich darin, dass er die Seinserfüllung vom Erkanntwerden ab-
hängig macht, dass nach ihm "zum Sein die menschliche Gedachtheit
desselben gehört." 10 Da jedoch nach seiner idealistischen Grund-
these alles Geist ist, das Objekt nicht weniger als das Subjekt, han-
delt es sich bei der erkenntnismässigen Vollendung des Seins eigent-
lich um ein Für-sich-Werden des Geistes. 11
Sätze wie "Was nicht begriffen ist, ist nicht" 12 sind allerdings cum
grano salis zu nehmen. Wenn er - wie hier - behauptet, die gesamte
Wirklichkeit werde erst im philosophischen Erkenntnisprozess "wirk-
lich", so bedeutet dies nach seiner Terminologie nicht etwa, dass an
der realen Existenz der Welt vor ihrem Erkanntwerden gezweifelt
würde. Es heisst nur, dass der sich dialektisch besondemde und die
realen Gegenstände "setzende" Geist, mit dem ja die Wirklichkeit
ihrem Wesen nach gleichzusetzen ist, erst im Fürsichsein seinem Be-
griff, seiner Bestimmung entspricht. "Bestimmung" ist aber bei Hegel
immer Bestimmung zu etwas,13 sie enthält ein dynamisches, teleolo-
gisches Moment, ja sie ist recht eigentlich das Treibende am Ansich:
das, was den Begriff Wirklichkeit werden lässt. Wenn also die Be-
stimmung des Geistes darin liegt, für sich zu werden, so wird ihm
damit eine Tendenz, ein Trieb zugeschrieben: Er ist "von allem An-
fang an" darauf angelegt, sich seiner selbst bewusst zu sein.
Fürsichsein als letzthinniges Wesen und Ziel des absoluten Geistes
- dies ist freilich ein Axiom, etwas, das zum unabgeleiteten Grund-
bestand der HegeIschen Philosophie gehört. Es führt zu den grössten
theoretischen Schwierigkeiten, so etwa zur doppelten Paradoxie, auf
die von Fahrenhorst hingewiesen wurde, dass nämlich, "einmal Gott
zwar schon ist, vor der Erschaffung der Welt, aber so noch nicht
ganz wirklich ist, dass er ausserdem zweitens das höchste Wissen zu

10 Jakob Hommes, Zwiespältiges Dasein, Die existentiale Ontologie von Hegel


bis Heidegger, Freiburg 1953, S. 111.
11 Vgl. dazu etwa N. Hartmann, Heget, S. 23, 260.
12 Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S. 389.
13 Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 209.
86 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

ihrer Schöpfung schon haben müsste und doch noch nicht hat, weil
er es erst am Ende und in unserem Wissen bekommt." 14
Diese Schwierigkeiten verschwinden jedoch, wenn wir die uner-
laubte Hinausverlegung des menschlichen Geistes als solche erken-
nen und die Tendenz zum Fürsichsein aus der aussermenschlichen
Wirklichkeit zurückholen ins Anthropologische. Dort hat nämlich
die HegeIsche Erkenntnis, wonach es in der Natur des Geistes liege,
"Gnothi seauton zum Gesetze seines Seins zu haben" (7/447), em-
pirisch nachweisbare Gültigkeit.
Das Fürsichsein als menschliches Charakteristikum darf allerdings
nicht auf das im geläufigen Sinne verstandene Selbstbewusstsein re-
duziert werden. Es will nicht nur die Tatsache bezeichnen, dass das
Bewusstsein um seine Inhalte als um zu ihm gehörende weiss, dass
es sich in ihnen immer auch seiner selbst bewusst, dass es - mit
einem Wort - Ich ist. Die beiden Momente des Fürsichseins, das ob-
jektive, bewusstseinsunabhängige Beisichsein und das Bewusstsein
dieses Beisichseins (das eigentliche Fürsichsein) sind nämlich nicht
nur im formalen Verhältnis zwischen dem Ich und seinen Inhalten
aufzufinden, also darin, dass es sie ganz allgemein auf sich bezieht -
sondern auch in seiner Beziehung zum "Inhaltlichen" dieser Inhalte.
Der Mensch begnügt sich nicht damit, zu wissen, dass die Inhalte
seines Bewusstseins seine Inhalte sind; er möchte auch in diesen In-
halten selber - ob sie endogenen oder exogenen Ursprungs sind -
sich selbst wiederfinden. Dieses allgemein gefasste Beisichsein und
Bewusstsein des Beisichseins, dieses bewusste Sich-selbst-Haben im
Anderen ist nun nichts anderes als die Freiheit. In diesem Sinne ist
der HegeIsche Ausspruch zu verstehen: "Die Freiheit ist die höchste
Bestimmung des Geistes." Der menschliche Geist, der Mensch als
Selbstbewusstsein hat die grundlegende Tendenz, in allem ihm Be-
gegnenden "nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke ... , son-
dern sich selber" finden zu wollen (Äj134).
Hegel versäumt es nicht, mit der Analyse der beiden Haupttätig-
keiten des Menschen, der theoretischen und der praktischen, seine
anthropologische Grundthese empirisch zu untermauern. über das
theoretische Begreifen als Akt der Befreiung lesen wir bei ihm fol-
gendes: "Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine
fremde Welt, ein Drüben und Draussen, von welchem er abhängt,
ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und da-
14 a.a.O., S. 62.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 87

durch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre. Der Trieb der
Wissbegierde, der Drang nach Kenntnis, von der untersten Stufe an
bis zur höchsten Staffel philosophischer Einsicht hinauf, geht nur aus
dem Streben hervor, jenes Verhältnis der Unfreiheit aufzuheben und
sich die Welt in der Vorstellung und im Denken zu eigen zu machen"
(A/135). Ob nun dieses Begreifen auch ein Ein-greifen in die gegen-
ständliche Welt bedeutet oder nicht - auf jeden Fall handelt es sich
bei der Erkenntnis um die Bestätigung der allgemeinen "Rationali-
tät" alles Wirklichen, um die Entdeckung einer Korrespondenz zwi-
schen menschlicher Vernunft und objektiver Wirklichkeit: um Bei-
"sich"-Sein.
Der Mensch hat aber auch den praktischen Trieb, "in demjenigen,
was ihm unmittelbar gegeben, was für ihn äusserlich vorhanden ist,
sich selbst hervorzubringen und darin gleichfalls sich selbst zu er-
kennen. Diesen Zweck vollführt er durch Veränderung der Aussen-
dinge, welchen er das Siegel seines Innern aufdrückt und in ihnen
nun seine eigenen Bestimmungen wiederfindet ... Und nicht nur mit
den Aussendingen verfährt der Mensch in dieser Weise, sondern
ebenso mit sich selbst, seiner eigenen Naturgestalt, die er nicht lässt,
wie er sie findet, sondern die er absichtlich verändert" (Aj75). Diese
Tendenz des Menschen, seine Umgebung zu vermenschlichen, sein
Wunsch, in ihr heimisch werden zu können, lässt sich aber nicht nur
in Handlungen nachweisen, die kein anderes Ziel verfolgen als eben
das Fürsichsein (Hegel erwähnt hier das Beispiel des "Putzes und
Schmuckes" sowie des Knaben, der "Steine in den Strom wirft und
nun die Kreise bewundert, die im Wasser sich ziehen, als ein Werk,
worin er die Anschauung des Seinigen gewinnt"). Sie ist im Grunde
genommen in jeder menschlichen Strebung, jeder Wollung nachweis-
bar, ist doch jede Befriedigung - über die Befriedigung des spezifi-
schen Bedürfnisses hinaus - immer auch ein Sich-zusammen-Schlies-
sen mit sich selber, ein Antreffen des Seinigen (des Gewollten) im
Wirklichkeit gewordenen Zweck.
Die Bedeutung, die diese Tendenz zum Fürsichsein für unser
Thema besitzt, besteht nun darin, dass sie den allgemeinen Grund
für das Bedürfnis zur Kunst abgibt. Denn wenn der Mensch Kunst-
werke schafft, so ist dies doch nur eine bestimmte "Weise der Pro-
duktion seiner selbst in den Aussendingen" , und der Genuss, der ihm
daraus erwächst, ist zunächst der allgemeine, den ihm jede Selbstbe-
gegnung bereitet.
88 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

Das spezifische Bedürfnis zur Kunst


Es ist wohl klar, dass der Mensch sich selber (im wahren und voll-
ständigen Sinne des Wortes) nur in einem anderen Selbstbewusst-
sein, im Mitmenschen begegnen kann. Dass diese Begegnung in
jedem Falle bereits Freiheit ist, dürfte auch durch Erfahrung ge-
sichert sein: Das Beglückende des Beisichseins wird einem gerade in
dessen Fehlen, etwa im Falle unentrinnbarer Verlassenheit inmitten
einer menschenleeren Natur, besonders eindringlich zum. Erlebnis,
wobei das Gefühl der Beengung, der Unfreiheit desto stärker ist, je
allgemeiner die wegfallenden Formen des Beisichseins sind. In einer
zwar von Menschen verlassenen, aber doch "belebten" Umgebung
fühlen wir uns wesentlich freier, wesentlich mehr zu Hause, als in der
öde des Anorganischen.
Wenndem aber so ist, weshalb die Verdoppelung des menschlichen
Selbstbewusstseins in der Kunst? Warum bringen wir uns in der Halb-
idealität des Kunstwerks nochmals hervor, wo wir doch in der wirk-
lichen Welt der Menschen immer bei uns sein können? Die HegeIsche
Antwort liegt in der Unterscheidung zwischen formaler und wahrhaf-
ter Freiheit. Die Freiheit besteht nämlich nur "ihrer ganz formellen
Seite nach ... darin, dass das Subjekt in dem, was demselben gegen-
übersteht, nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke hat, sondern
sich selber darin findet ... Näher aber hat die Freiheit das Vernünfti-
ge überhaupt zu ihrem Gehalte" (A/134). Von wahrhafter Freiheit
kann also nur dann die Rede sein, wenn das Selbstbewusstsein im An-
deren nicht nur ganz allgemein, sondern in seiner Vernünftigkeit sich
selbst hat, wenn es mit seinem vernünftigen, "objektiven" Wesen kon-
frontiert wird. Dies, "die Substanz des Geistes", ist nun nichts anderes
als die Freiheit selber (10/31). Sich wiederfinden, eigentlich frei sein,
heisst demnach: seiner eigenen Freiheit innewerden. Und der Trieb
hierzu, "der absolute Trieb des freien Geistes, dass ihm seine Freiheit
Gegenstand sei" (7/78), macht die Kunst vom Subjekt her notwendig.
"Innere", moralische Freiheit ist zwar nach Hegel auch auf dem
Boden der "gemeinen Wirklichkeit" (8/321), der von Zufälligkeiten
durchkreuzten "Realität" möglich. Wenn sich der Mensch mit dem
eigenen (moralisch gefassten) Allgemeinen identifiziert, so ist bereits
unmittelbare, auf seine Person beschränkte Freiheit vorhanden. Wird
er sich dieses in ihm verwirklichten Allgemeinen auch im Anderen
bewusst und der Andere desselben in ihm, so ist dieses gegenseitige
Sich-selbst-Haben im Anderen die vermittelte, wahrhafte "innere"
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 89

Freiheit, welche im idealen Staate wirklich wird. 15 Anders jedoch bei


der "äusseren", sinnlichen Freiheit des Selbstbewusstseins.
Dieser Freiheit können wir im Anderen nicht nur deswegen nicht
gewahr werden, weil in der gegenseitigen Abhängigkeit, in die uns
der Trieb zur Selbsterhaltung verwickelt, der eine Mensch dem ande-
ren vielfach als biosses Mittel, als begrifflich Reduziertes erscheint,
sondern auch, weil die menschliche Erscheinungsweise auch objek-
tiv gesehen nicht nur von innen bestimmt wird. Schon die Tatsache,
dass hier das Selbstbewusstsein in Sinnliches, also ihm Fremdes
hinausgehen muss, erklärt manches von der relativen Unfreiheit, die
sich der Mensch in der Realität gefallen lassen muss. Darüber hinaus
ist er aber auch in umgreifende Zusammenhänge hineingestellt, die
ihn nicht vollständig so sein lassen, wie er von seinem Zentrum allein
aus sein würde. "Das Individuum, wie es in dieser Welt des Alltäg-
lichen und der Prosa erscheint, ist ... nicht aus seiner eigenen Tota-
lität tätig und nicht aus sich selbst, sondern aus anderem verständ-
lich" (Ajl77). Die Selbständigkeit und Freiheit seines Willens "bleibt
mehr oder weniger formell, durch äussere Umstände und Zufälle be-
stimmt und durch die Hemmungen der Natürlichkeit gehindert"
(Aj178).16
Gerade weil die sinnliche Freiheit des Menschen in der Objekti-
vität nicht vollständig verwirklicht werden kann und weil daher in
der Natursphäre auch das Freiheitsbedürfnis des Subjekts unbefrie-
digt bleiben muss, schafft sich der Mensch eine künstliche Welt, um
sich hier in seiner vollen und uneingeschränkten Freiheit geniessen zu
können. Das spezifische Bedürfnis zur Kunst wird also dadurch er-
weckt, dass "der Geist ... in der Endlichkeit des Daseins und dessen
Beschränktheit und äusserlichen Notwendigkeit den unmittelbaren
Anblick und Genuss seiner wahren Freiheit nicht wiederzufinden
vermag und das Bedürfnis dieser Freiheit daher auf einem anderen,
höheren Boden zu realisieren genötigt ist. Dieser Boden ist die Kunst"
(Aj180). Gerade weil die Kunst den Geist ungestört bei sich sein
lässt, kommt ihr nach Hegel- trotz ihrer Halbidealität - "Wirklich-
keit" im emphatischen Sinne des Wortes zu, im Gegensatz zur gemei-
nen Wirklichkeit, der Realität,u
15 über die Fragwürdigkeit dieses Begriffes der "inneren" Freiheit, vgl. Fah-
renhorst, a.a.O., S. 22,119.
16 VgI. hierzu auch N. Hartmann, Hegel, S. 373.
17 über die HegeIsche Unterscheidung von "Wirklichkeit" und "Realität" so-
wie über die Kunst als "Wirklichkeit" vgl. noch Fahrenhorst, a.a.O., S. 57,73,
90 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

Sich in der Realität - und übrigens auch in der schlechten Kunst -


zu begegnen, bedeutet nach dem Gesagten, sich als relativ Unfreiem
zu begegnen und daher nur formal, nicht jedoch dem Wesen nach,
im wahren Sinne des Wortes bei sich zu sein. Gerade weil ich im
Unfreien nicht nur mir selber begegne, verursacht es in mir auch
nicht den Genuss der Freiheit, oder - was dasselbe ist - finde ich es
nicht schön. Schön ist, was mich durch eigene Freiheit frei macht,
oder - nur-objektiv bestimmt,... der in seiner Sinnlichkeit freie Mensch.
Der Mensch - oder besser das Allgemeine, das Wahre des Menschen
- muss in seiner Freiheit dargestellt werden, damit ich, der Betrach-
tende, frei werde. Die Freiheit des Menschen in der ästhetischen Si-
tuation wird durch die Freiheit des Inhalts verbürgt.
Es scheint also, als wäre der Mensch in der Kunst nicht so, wie
er ist, sondern wie er - seiner nicht notwendig bewussten Tendenz
nach - sein möchte. Wird aber dadurch die Kunst nicht zur bIossen
"Traumverwirklichung" degradiert, zur Möglichkeit der Flucht vor
der Realität, wie sie etwa von Sigmund Freud gefasst wurde, der in
ihr Tagtraumartiges, "Ersatzbefriedigung" sah? Dazu ist zunächst
zu sagen, dass die Freiheit des Menschen in der Kunst nicht die Ver-
wirklichung von etwas absolut Irrealem ist: Der reale Mensch ist -
wie dies durch die Bezeichnung "relative Unfreiheit" bereits ange-
deutet wurde - sowohl frei wie auch nicht frei. (Es wäre wahrlich ein
merkwürdiges "Wesen", das nur in den "Träumen" des Menschen in
Erscheinung träte!)
Darüber hinaus ist die Kunst in Hegelscher Sicht durchaus nicht
"Wunschbefriedigung" im Sinne Freuds. Sie verwirklicht nicht ein-
zelne Bestimmungen, die dieser Mensch in seiner zufälligen Situation
nicht verwirklichen kann, sondern eine auf dem Boden der Realität
grundsätzlich unverwirklichbare Bestimmung, nämlich die sinnliche
Freiheit des Menschen. Da sich "die Notwendigkeit des Kunstschö-
nen . . . aus den Mängeln der unmittelbaren Wirklichkeit" herleitet
(A/180), ist die Kunst zweifelsohne ein Produkt der Unzufriedenheit

76; N. Hartmann, a.a.O., S. 286; Bloch, a.a.O., S. 253, 275; sowie Barth, Philo-
sophie der Erscheinung, Bd. n, S. 606. - Eben wegen der notwendigen Unvoll-
kommenheit der "Realität" misst Hegel dem Schönen in der belebten Natur
untergeordnete Bedeutung bei und verwirft die Nachahmung in ihrer engen, auf
das Nachahmen des Gegebenen beschränkten Bedeutung. Auf der Hegeischen
Unterscheidung zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" beruht übrigens auch
die Lukacs'sche Dichotomie von "Realismus" und "Naturalismus". Vgl. noch
Bernard Teyssedre, L'esthetique de Hegel, Paris 1958, S. 27.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 91

mit der gegebenen Welt und in diesem Sinne wohl "Flucht" und
Verwirklichung eines "Traumes". Aber diese Flucht führt nicht in
eine der Wirklichkeit fremde Traumwelt, sondern zurück zur eigent-
lichen, wahrhaften Wirklichkeit. 18 Die Hegeische "Kunst" lässt uns
nicht (oder doch nicht notwendig) an der Verwirklichung erotischer
oder ehrgeiziger Wünsche teilhaben, wie die von Freud gemeinte es
tut; sie schliesst die notwendigen Bezüge der menschlichen Situation
- mithin auch alles Negative am Dasein - überhaupt nicht aus. Im
Gegenteil, sie stellt auch Schmerz und Leid, als dem Menschen not-
wendig Mitgegebenes, mit letzthinniger Konsequenz in die Sinnlich-
keit heraus. In der Totalität der Kunst muss der Mensch nach Hegels
Auffassung auch in seiner psychischen und sozialen Not thematisch
werden - sofern er nur von seiner "ontischen Not" befreit ist. Die
Kunst mag also sehr wohl eine Welt der "Träume" sein, aber es sind
Träume über die Verwirklichung der Wirklichkeit. 19
Nach dem Vorangehenden sind wir nunmehr imstande, vom Äs-
thetischen eine Subjekt und Objekt gleichermassen umfassende De-
finition zu geben: Es ist das Fürsichsein des Menschen in seiner sinn-
lichen Freiheit.20 Damit wird das Ästhetisch-Sein eindeutig als sekun-

18 Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 375: " ... das Ideal ist ... nicht wirklichheits-
fremd. Es ist vielmehr das eigentlich Wirkliche ..." In diesem Sinne ist etwa der
HegeIsche Ausspruch zu verstehen, wonach ein nur das Wesentliche heraus-
kehrendes Porträt "gleichsam getroffener, dem Individuum ähnlicher sei als das
wirkliche Individuum selbst" (Ä/787).
19 Um Freud Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss allerdings bemerkt
werden, dass er an vereinzelten Stellen seines Gesamtwerkes doch auch dem Un-
lustvollen in der Kunst Rechnung zu tragen versuchte, so z.B. in "Jenseits des
Lustprinzips" und "Zeitgemässes über Krieg und Tod" (Gesammelte Werke,
Bd. XIII bzw. X).Zu seiner Theorie der Kunst als Ersatzbefriedigung siehe u.a.
"Der Dichter und das Phantasieren" sowie seine XXXII. Vorlesung zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse (Bd. VII bzw. XI).
20 Auch Nicolai Hartmann merkt, dass sich nach Hegel die Notwendigkeit
der Kunst für das Subjekt aus der "Unvollständigkeit der Natur-Sphäre" ergibt
(a.a.O., S. 373f), dass also letzten Endes die Existenz der Kunst aus dem Frei-
heitsbedürfnis des Menschen zu erklären ist. Er leitet aber einerseits die Genuss-
haftigkeit der Kunst zur Hauptsache nicht aus dieser Freiheitsverwirklichung ab,
sondern aus dem bereits besprochenen "Enthobensein"; andererseits stellt er
nicht expressis verbis heraus - wie dies übrigens auch Hegel nicht tut -, dass das,
was wir in der ästhetischen Situation geniessen, eine potenzierte Freiheit, eine
emphatisch gemeinte Selbstbegegnung des Subjekts ist. Wohl spricht er von der
Verwirklichung der Freiheit in der Kunst, zeigt aber nicht auf, wie diese ausser-
halb der Kunst zur Freiheit führt. Umgekehrt fasst Lukacs in seinem Alterswerk
- ohne sich allerdings auf Hegel zu beziehen - die Kunst wohl als "Selbstbewusst-
sein des Menschengeschlechts", als "Fürsichsein" (Eigenart des Ästhetischen,
92 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

däre Qualität bestimmt: Erst im und durch den Menschen wird das
Ästhetische wirklich.
Inwiefern erfüllt aber diese Art Fürsichsein die HegeIsche Forde-
rung, wonach dem Freien seine eigene Freiheit auch bewusst sein
müsse? "Das Prinzip der Freiheit", so lesen wir in der "Ästhetik",
ist das "Sichwissen" (357); "ohne Bewusstsein der Freiheit gibt es
auch keine Freiheit." 21 Unsere Antwort geht nun dahin, dass gerade
das ästhetische Wohlgefallen die Form ist, in der die Freiheit dem
Subjekte bewusst wird. Die begriffsmässige Bewusstmachung dessen,
dass dieses Wohlgefallen an sich Freiheit "in der zweiten Potenz" ist,
bleibt allerdings der Theorie, der Ästhetik vorbehalten. Trotz dieses
Mangels an Bewusstheit, an begrifflicher Klärung bleibt aber die Tat-
sache bestehen, dass der Mensch der Kunst gegenüber nicht nur an
sich, ohne sein Wissen frei ist, d.h. dass er nicht nur bei sich ist, son-
dern sich im Kunstgenuss dieses Beisichseins bewusst wird, seine äs-
thetische Freiheit also selbst nach HegeIschen Masstäben echte Frei-
heit ist.

Genuss des Formalschönen


Weiter oben (S. 70f) war bereits davon die Rede, dass Regelmäs-
sigkeit, Symmetrie und Harmonie von Hegel abschätzig beurteilt
werden, da sie aus einer konkreten Subjektivität meistens nicht ab-
geleitet werden können. Es lässt sich indessen nicht bestreiten, dass
uns auch das Formalschöne ästhetischen Genuss bereitet, und so er-
hebt sich die Frage, ob diese Tatsache der Hegeischen Grundkon-
zeption widerspricht oder ob sie mit seiner Theorie letzten Endes
doch in Einklang gebracht werden kann. Dass die ansichseiende Un-
ableitbarkeit des Formalschönen in der Kunst nicht für uns ist, dass
also das Formalschöne als vermeintlich Von-innen-Bestimmtes den
Genuss der Inhaltsfreiheit durchaus nicht beeinträchtigt, haben wir
bereits gesehen (S. 74f). Wie verhält es sich jedoch im Dekorativen
und in der Natur, wo Regelmässigkeit, Symmetrie und Harmonie
nicht als Ausfluss einer konkreten Subjektivität erlebt werden? In-
wiefern kann hier von Selbstbegegnung die Rede sein?
Die Lösung dieser Frage liegt vielleicht in der auf S. 33 angestell-
Bd. I, S. 617; Bd. 11, S. 325), womit er übrigens seinen Kunstbegriff wesentlich
erweitert, "ästhetisiert" und humanisiert. Er merkt aber nicht, dass das Spezifi-
sche des Fürsichseins, wie es im Kunsterlebnis Wirklichkeit wird, darin liegt, dass
hier der Mensch sich seiner selbst als freien bewusst wird.
21 Litt, a.a.O., S. 289.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 93

ten überlegung, dass es sich bei den Formen der Formalschönheit


um Bestimmungen rational-verstandesmässiger Art handeln dürfte,
wir in ihnen also wenigstens unserer in die Sinnlichkeit befreiten
Ratio begegnen. Dies wäre auch eine Selbst-begegnung, wenn auch
in reduzierter, weil nicht die Totalität einer konkreten Innerlichkeit
umfassender Form, was seinerseits für den geringeren Grad des am
Formalschönen gefundenen Gefallens verantwortlich gemacht wer-
den könnte.
Damit hätten wir aber höchstens das Wohlgefallen am Dekorati-
ven begründet, das ja durch menschlichen Willen entsteht, uns also
sehr wohl uns selbst entgegenzuhalten vermag. Der übergang zur
Natur könnte vielleicht durch eine Kantsehe Bemerkung erleichtert
werden, wonach Natur schön ist, wenn sie aussieht wie Kunst; und
Kunst schön ist, wenn sie aussieht wie Natur. 22 Wenn also Naturge-
genstände so aussehen, als ob sie durch einen menschlichen Willen
bestimmt wären, der die Prinzipien des menschlichen Verstandes in
das Sinnliche überführt, so finden wir sie schön - wohl deswegen,
weil wir hinter ähnliche Folgen ähnliche Ursachen, eben einen
menschlichen Willen projizieren, folglich auch im Formalschönen
der Natur bei uns zu sein scheinen.

Das Unableitbare am ästhetischen Genuss


Wenn wir uns nun die Frage stellen, ob es Hegel gelungen sei, sei-
nen Begriff des Ästhetischen anthropologisch zu begründen, so kann
unsere Antwort nicht eindeutig positiv ausfallen. Einerseits po-
stuliert er - wie sich gezeigt hat - ein Streben nach Freiheit im Men-
schen, das als Streben bei seiner Befriedigung Lust hervorrufen
muss. 23 Andererseits trägt er auch Sorge, das Fürsichsein, wie es in
der ästhetischen Situation Wirklichkeit wird, von seinen anderen
möglichen Formen abzuheben, indem er das dem Menschen hier Be-
gegnende als freien, und zwar in der Sinnlichkeit freien Menschen
bestimmt. Damit gibt er eine erste, ganz allgemeine Antwort auf die
Frage, die durch die Zurückführung des ästhetischen Genusses auf
das Freiheitsstreben aufgeworfen wird: wie es nämlich zu erklären
sei, dass der ästhetische Genuss mit der beim Erleben des Fürsich-
22 Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1954, S. 159. Nach einer Paraphrase
Schillers.
23 In der "Phänomenologie des Geistes" finden wir die bedeutsame Gleich-
setzung: des Individuums "Fürsichsein oder seine Lust". (S. 269. Von mir ge-
sperrt.)
94 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

seins sonst verspürten Lust nicht gleichzusetzen ist, dass er eigentüm-


liche emotionelle Merkmale, ein besonderes Quale aufweist. Hegels
tastende, und übrigens nur implizite gegebene Antwort lautet dahin,
dass das Spezifische der Lust, die wir angesichts des Objektiv-Ästhe-
tischen empfinden, wohl mit dem Spezifischen des ästhetischen Für-
sichseins im Zusammenhange steht. Worin aber dieser Zusammen-
hang besteht, warum unsere Begegnung mit dem Menschen in seiner
sinnlichen Freiheit gerade zu dieser Art Genuss führen muss - darauf
erhalten wir keine Antwort.
Ist aber eine solche Antwort möglich? Schiller hatte sich in den
Kallias-Briefen unter anderem vorgesetzt zu beweisen, dass "Freiheit
in der Erscheinung eine solche Wirkung auf das Gefühlsvermögen
notwendig mit sich führe, die derjenigen völlig gleich ist, die wir mit
der Vorstellung des Schönen verbunden finden." Er gab aber so-
gleich zu, dass es "ein vergebliches Unterfangen sei, dieses Letzte a
priori zu beweisen, da nur Erfahrung lehren kann, ob wir
bei einer Vorstellung etwas fühlen sollen, und was
wir dabei fühlen sollen. "24 Aus Begriffen lässt sich das Quale
des ästhetischen Genusses, wie überhaupt das eines jeden Gefühls,
"analytisch nicht herausziehen", vermutlich deshalb, wei1letzten En-
des nichts Gefühlsmässiges begrifflich erfasst werden kann. Der Punkt,
an dem Hegel stehen bleibt, ist mithin die unüberschreitbare Grenze
jeder anthropologischen Begründung der Ästhetik.

Jenseits der Strebung, frei zu sein


Wenn uns in dieser Richtung der Weg auch verbaut ist und wir
es als anthropologisch Letztes hinnehmen müssen, dass uns die sinn-
liche Freiheit des Menschen einen besonderen, aber weiter nicht er-
klärbaren Genuss bereitet, so können wir vielleicht doch im Zusam-
menhang mit dem Freiheitsstreben als solchem einen Schritt weiter
tun.
An einer Stelle der "Kleinen Logik" spricht Hegel davon, dass die
"Tätigkeit des Vermeinigens" als "die Natur alles Bewusstseins" an-
zusehen sei. "Das Streben der Menschen", so fährt er hier fort, "geht
überhaupt dahin, die Welt zu erkennen, sie sich anzueignen und zu
unterwerfen und zu dem Ende muss die Realität der Welt gleichsam
zerquetscht d.h. idealisiert werden" (8/129). Wenn wir bedenken,
dass Hegel unter "Idealisieren" eigentlich Aufhebung des Anders-
24 S. 25. Von mir gesperrt.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 95

seins, somit Fürsichwerden versteht (auch das Wort vom "Vermeini-


gen" spielt hierauf an), so dürften wir kaum fehlgehen, wenn wir
diese Stelle als den Versuch deuten, das Freiheitsstreben des Men-
schen anthropologisch zu überholen. Demnach wäre die Genusshaf-
tigkeit der Selbstbegegnung darauf zurückzuführen, dass sie eine
noch tiefer gelagerte menschliche Strebung befriedigt, nämlich die
Strebung, über die Welt Herr zu werden, sich in ihr zu behaupten,
d.h. letzten Endes, sich zu erhalten. In diesem Fall könnte man sa-
gen, dass der eigentliche, metaphysische Grund des menschlichen
Freiheitsstrebens nach Hegel in der Tendenz des Geistes liege, für
sich zu werden (wobei dies axiomatisch bleibt). Der anthropologische
Grund jedoch - die Form, in der sich diese Tendenz des Geistes im
Menschen realisiert und durch die der Mensch an deren Verwirk-
lichung "interessiert" wird (eine abermalige "List der Vernunft",
wenn man will) - sei gerade der Selbsterhaltungstrieb. Der Mensch
meine nur, ausschliesslich im eigenen Interesse, zwecks Selbst-be-
hauptung frei werden zu wollen; in Wirklichkeit führe er bloss den
Machtspruch des durch ihn absolut werdenden Geistes aus. Und selbst
wenn wir von Hegels Lehre vom absoluten Geist Abstand nehmen,
verbleibt uns wenigstens die anregende Frage, ob das menschliche
Freiheitsstreben nicht aus dem Selbsterhaltungstrieb verständlich ge-
macht werden könnte.

Die Grenzen der Freiheit in der ästhetischen Situation


Als Abschluss unserer Untersuchung möge noch kurz auf die
Schranken hingewiesen werden, die selbst in der ästhetischen Situa-
tion, ja gerade durch die Eigenart des Ästhetischen, der absoluten
Verwirklichung der menschlichen Freiheit gesetzt sind.
Im Zusammenhang mit seiner Kritik an Kotzebues Dramen er-
wähnt Hegel, dass solche Werke zwar die Begegnung des Publikums
mit seiner Partikularität ermöglichten und es daher mit dem genuss-
vollen Gefühl des Zu-Hause-Seins erfüllten, dass sie aber trotzdem
nicht als wahre Kunstwerke anzusehen seien, weil sie im menschlich-
geschichtlich Oberflächlichen steckengeblieben seien (Ä/279f). Das
entsprechend oberflächliche Heimisch-Werden, das sie verursachten,
sei also mit dem wahrhaften ästhetischen Genuss durchaus nicht zu
verwechseln.
Trotz der Wahrheit, die diese Bemerkungen enthalten, ist es nicht
abzuleugnen, dass, wenn die Allgemeinmenschlichkeit des Inhalts
96 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

gesichert ist, ich desto mehr bei mir sein kann, das Werk mir desto
näher steht, je mehr die notwendige Besonderung des Allgemeinen
mit meiner Partikularität übereinstimmt. Fürsichsein, auf dem ja der
ästhetischen Genuss beruht, bedeutet nicht nur, dass ich mir als freiem
begegne und somit im tiefsten Sinne bei mir selber bin, sondern
"davor" auch dies, dass ich mir als Freiem begegne, dass also die
menschliche Innerlichkeit, die in der Kunst sinnlich befreit wird, auch
in ihren einzelnen Bestimmungen meinesgleichen ist. Und wie sehr
ich auch bestrebt sein kann und muss, meine Partikularität in den
Hintergrund zu drängen und mich auf das mir inwohnende Allge-
meine zu reduzieren - und zwar gerade um der ganzen geschicht-
lichen Breite des Ästhetischen erschlossen zu sein -, bleibe ich immer
und auf jeden Fall dieses partikulare Subjekt, dessen Freiheit in der
ästhetischen Situation auch davon abhängt, inwiefern es hinsichtlich
seiner Partikularität bei sich ist. 25
Da nun das Kunstwerk als sinnliches Dieses nicht weniger indivi-
duell ist als das rezeptive Subjekt, ist es unmöglich, dass der Mensch
in der ästhetischen Situation vollkommen bei sich sei. Als Indivi-
duum muss er im Inhalt immer auch Fremdes vorfinden, und dies
- seine und des Kunstwerks Individualität - bildet eine unübersteig-
bare Schranke seiner absoluten Freiheit.
Nach Hegel gibt es jedoch für die restlose Befriedigung des
menschlichen Freiheitsstrebens in der Begegnung mit dem Objektiv-
Ästhetischen noch grundsätzlichere Hindernisse.
Wir haben eingangs auf die emphatische Bedeutung des Wortes
"Idee" hingewiesen, auf die Tatsache, dass dieses Wort bei Hegel
nicht nur allgemein Einheit von Begriff und Realität bedeutet, son-
dern genauer die Verwirklichung des Geistbegriffes. Den Begriff des
Geistes haben wir in Anlehnung an Hegel als bewusstes Sich-selbst-
Haben im Anderen bestimmt, dessen erste wahrhafte Realisations-
form, das menschliche Selbstbewusstsein, als die in der Hegeischen
Definition des Ästhetischen gemeinte "Idee" herausgestellt wurde.
Im Laufe unserer Untersuchung hat es sich indessen ergeben, dass
das Ich als Form der Idee in der philosophischen Systematik nicht
nur "Vorgänger" hat - nämlich das Leben -, sondern auch "Nach-
folger", höhere Formen der Entsprechung zwischen Geistbegriff und
Realität. Im idealen Staat haben wir es ja nach Hegel, wie dies auf
26 Vgl. zu diesem Problem: Georg Lukacs, Die Eigenart des Ästhetischen,
Bd. I, S. 6llf.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 97

S. 88f bereits angedeutet wurde, ebenfalls mit einer Form der Idee zu
tun: Das Ich ist hier nicht nur in dem Sinne Selbstbewusstsein, dass
ihm seine Inhalte als zu ihm gehörende gegeben sind, sondern auch
im allgemeineren Sinne, dass es sich im andern Ich seiner eigenen
Allgemeinheit, somit eigentlich seines tiefer gefassten Selbstes be-
wusst wird. Wie wir sehen, bedeutet die "Entwicklung" der Idee
einerseits eine Erweiterung des "Anderen" (von "Bewusstseinsinhalt"
zu "Mitmensch"), andererseits eine Vertiefung des Sich-selbst-Ha-
benden (vom Allgemeinen als zentralem Beziehungspunkt des Be-
wusstseins zum sittlich verstandenen Allgemeinen).
Aber auch das Objekt wie Subjekt umfassende Ästhetische, das
in die Hegeische Systematik unter der Bezeichnung "Kunst" einbe-
zogen wird, ist eigentlich nichts anderes als eine Stufe in der Ent-
wicklung der Idee. Auch hier geht es ja um ein bewusstes Sich-selbst-
Haben im Anderen, wobei es der sich zur Allgemeinheit des Pathos
abbauende Mensch ist, der im "Anderen", in der gesamten Welt der
Kunst als halb-ideeller Verwirklichung seiner sinnlichen Freiheit sich
selber anschaut.
Dieses Sich-selbst-Haben ist aber Freiheit, und unsere Frage geht
gerade dahin, ob nach Hegel diese angesichts der Kunst sich ver-
wirklichende Freiheit des Einzelmenschen noch übertroffen werden
kann, ob sie, mit anderen Worten, eine Grenze besitzt.
Hegels Antwort geht davon aus, dass auf der Stufe der Kunst we-
der das Subjekt noch das Objekt ihre letzte Wesenhaftigkeit erreicht
haben. Der Mensch, der mit der Kunst konfrontiert wird, verhält
sich bloss anschauend; das Kunstwerk als Repräsentant des Objek-
tiven ist bloss der anschaulich gewordene Inhalt einer konkreten
Subjektivität. Erst wenn in der dialektisch-unzeitlichen Entwicklung
- über die Religion - die Philosophie erreicht wird (worunter wohl-
gemerkt nur die Hegelsehe Philosophie zu verstehen ist), erst da wird
sowohl das Sich-selbst-Habende als auch das Andere zu dem, was
es eigentlich ist: zum Denken. Denn "das Wesen des Subjektes ist
das spekulative Denken; und das Wesen des Objekts ist auch speku-
latives Denken." 26 Hier wird die gesamte Wirklichkeit, die Totalität
aller Weltinhalte als dialektische Selbstentwicklung des Geistes be-
griffen, welche auf Selbstbewusstwerden ausgerichtet ist. Gerade
diese durch Negation der Negation sich ständig bereichernde Ent-
wicklung nennt Hegel Denken im objektiven Sinne. Der Begreifende,
26 lljin, a.a.O., S. 122.
98 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

der Philosoph, zeichnet diese Entwicklung nach, wobei sein subjek-


tives Denken notwendig ebenso "spekulativ" ist wie das Begriffene
selbst. Dieses Nachzeichnen ist nichts anderes als das verwirklichte
Selbstbewusstsein des absoluten Geistes, und die mit diesem Nach-
vollzug bereits an sich beendete Entwicklung wird damit gekrönt,
dass sich die Philosophie ihres Wesens, Selbstbewusstsein des abso-
luten Geistes zu sein, bewusst wird. 2T Damit ist der Geist im tiefsten
und allgemeinsten Sinne zu sich gekommen. Er (oder besser: seine
Wirklichkeit, der Mensch) hat wahrlich in allem Anderen nur sich
selbst, seine eigene dialektische Geistigkeit und ist sich dieses seines
absoluten Sich-selbst-Habens auch bewusst. Daher ist in Hegels Au-
gen der Inhalt seiner eigenen Philosophie nichts geringeres als die
absolute Idee (3/142), und diesen Inhalt sich anzueignen, den Weg
seiner "Wissenschaft" mitzuvollziehen beschert dem Menschen die
grösste, die absolute Freiheit.28
Wenn es diese Freiheit gibt, so übertrifft sie - als absolute - not-
wendig diejenige, die uns von der Kunst gewährt wird. Aber gibt es
sie tatsächlich? Handelt es sich hier nicht vielmehr um ein "Gedan-
kending", eine Konstruktion der Hegeischen Philosophie, der keine
Wirklichkeit zukommt?
Damit man hier zu einer wenigstens wahrscheinlichen Antwort
kommen könne, müssen zunächst die Voraussetzungen des HegeI-
schen Gedankenganges ins Auge gefasst werden.
Hegels Theorie der absoluten Freiheit fusst zum Teil auf der an-
thropologischen Hypothese, das Wesen des Menschen sei das Den-
ken. Bei dieser These begegnen wir von neuem der bereits beklagten
Äquivokation der Hegeischen Philosophie, wird doch in diesem Zu-
sammenhang das Wort "Denken" in zwei verschiedenen Bedeutun-
gen gebraucht. So behauptet er vom Ich, es sei "das Denken als Sub-
jekt, und indem Ich zugleich in allen meinen Empfindungen, Vorstel-
lungen, Zuständen usf. bin, ist der Gedanke allenthalben gegenwärtig
und durchzieht als Kategorie alle diese Bestimmungen" (8/75). Wie
kann aber das Ich als Denken verstanden werden? Hegel spielt hier
wohl auf die Dialektik des Ichs an, auf die Tatsache, dass es mit dem
2'l Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 281: "Gegen alles andere ... Denken ist Philo-
sophie dadurch abgehoben, dass sie um sich als um die Selbstverwirklichung des
Absoluten weiss."
28 Vgl. Phänomenologie des Geistes, S. 152: "Im Denken bin Ich frei, weil ich
nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe ... und
meine bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst."
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 99

Erlebten zugleich identisch und nicht-identisch ist. Das Ich ist näm-
lich dadurch gekennzeichnet, dass es einerseits unmittelbar erlebt,
andererseits um dies sein Erleben weiss und insofern Selbstbewusst-
sein ist. Die Nicht-Identität zeigt sich gerade in diesem Wissen-um:
Ich trenne meine Bewusstseinsinhalte von meinem Ich, beziehe sie
aber zugleich auf mich, wodurch etwa das Wissen entsteht: "Ich -
friere". Durch dieses Trennen und Beziehen wird nach Hegel eigent-
lich geurteilt, und das heisst: gedacht. Wir sehen indes, dass hier das
Wort "Denken" im uneigentliehen Sinne gebraucht wird, und es ist
fraglich, ob etwas dermassen Entscheidendes wie die Wesensbestim-
mung des Menschen auf den teils doch willkürlichen Gebrauch eines
Wortes gegründet werden könne.
Denken im uneigentlichen Sinne des Selbstbewusstseins könnte
aber auch gar nicht den Vorrang der Philosophie von der Subjekt-
seite her begründen, da diese Art "Denken" auch in der Begegnung
mit der Kunst mit am Werke ist. Wir kommen um die Annahme
nicht herum, dass nach Hegel das Denken im eigentlichen Sinne des
Wortes, genauer das "spekulative" Denken das Wesen des Menschen,
sein eigentlich zu verwirklichendes Ansieh ausmache. Notwendig
wird diese Hypothese für ihn dadurch, dass er die Wirklichkeit als
"Begriff" fasst und daher das der Kunst zugeordnete Erkenntnisver-
mögen, die Anschauung, als dem Ansieh der Wirklichkeit unange-
messen beurteilen muss. Erst wenn das Subjekt in der "Hierarchie
der Erkenntnisvermögen" (Lukacs) den aufwärts weisenden Weg
Anschauung-Vorstellung-Denken zurückgelegt hat, erst wenn es über
die Religion bei der Philosophie angelangt ist (all dies selbstverständ-
lich logisch-unzeitlich gedacht), erst dann wird "die Adäquatheit
zwischen Gegenstand und Form des Wissens" hergestellt. 29 In der
Kunst wird der Geist noch als freier Mensch angeschaut, nicht als
Gedanke begriffen. Deswegen ist "die schöne Kunst nur eine Be-
freiungs-Stufe, nicht die höchste Befreiung selbst" (10/452).
Wie fragwürdig es jedoch ist, den verschiedenen Formen des Welt-
erlebens einzelne, die übrigen ausschliessende "Erkenntnisvermögen"
zuzuteilen, darauf hat bereits Goethe hingewiesen. 3o Seine Auffas-
29 N. Hartmann, a.a.O., S. 148.
30 Vgl. Georg Lukacs, "Das ästhetische Problem des Besonderen in der Auf-
klärung und bei Goethe", in: Festschrift für Ernst Bloch, Berlin 1955, S. 223:
" ... für Goethe ist in Leben, Wissenschaft und Kunst gleichermassen der ganze
Mensch, mit Einsatz aller seiner seelischen Flihigkeiten, das notwendige Subjekt
für die Rezeption und Reproduktion der objektiven Wirklichkeit."
100 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

sung wird von der empirisch fundierten ganzheitlichen Betrachtungs-


weise der modemen Psychologie nur bestätigt. Dass die Vorrangs-
stellung der Philosophie aus der allgemeinen Begrifflichkeit alles
Wirklichen ebenfalls nicht abgeleitet werden kann, werden wir so-
gleich sehen. Hier möchten wir dem Leser - ganz unabhängig von
Hegels systematischen Voraussetzungen - nur noch die Worte Karl
Barths zu bedenken geben, der grundsätzlich gegen die HegeIsche
Auffassung polemisiert, wonach "das Zentrum der Humanität" das
Denken sei. " ... hat die Humanität dieses Zentrum?" stellt sich
Karl Barth die Frage. "Hat sie überhaupt ein solches Zentrum?
Existiert der Mensch nicht immer in dem unsichtbaren Schnittpunkt
von Denken und Wollen? ... Ist eine Theorie der Wahrheit, die sich
aufbaut auf die innere Konsequenz eines von der Praxis gelösten
Denkens, noch die Theorie des wirklichen Menschen, die Theorie
seiner Wahrheit? Kann die Theorie der Wahrheit eine andere sein,
als die Theorie der Praxis des Menschen?" 31
Selbst wenn jedoch hier Hegel recht behielte und das Subjekt seine
letzte Eigentlichkeit tatsächlich im spekulativen Denken fände, wür-
de dies seine absolute Freiheit nocht nicht verbürgen. Dazu ist noch
eine zweite, ontologische Hypothese erforderlich, nämlich die An-
nahme der geistigen Homogeneität der Wirklichkeit, die von Ernst
Bloch auf die Formel gebracht wurde: "Die Welt ist aus gleichem
Stoff wie der im Menschen erkennende Geist".32 Dass die Weltin-
halte nichts anderes seien als Stationen auf dem Geistesweg, Momen-
te im dialektischen Fürsichwerden des absoluten Geistes, dass der
philosophierende Geist mithin in allem sich selber begegne - dies zu
beweisen hat Hegel allerdings nie unternommen. Wenn die dialek-
tische Ableitung alles Wirklichen aufgeht, d.h. wenn sie logisch zwin-
gend und seiner empirisch-intuitiven Erfahrung entsprechend ist, so
ist ihm dies bereits ein indirekter Beweis dafür, dass die Welt nicht
kontingent, dass sie von der Notwendigkeit des Begriffs beherrscht
ist. 33 Nun ist aber Hegel dieses ungeheure Unterfangen - wie es sich
auf S. 62f gezeigt hat - nicht einmal von der logischen Seite her
restlos geglückt: Das jeweilige neue Moment seiner Ableitungen ist
dem vorherigen gegenüber nicht immer kontradiktorisch, sondern
bloss konträr, wobei die "Auswahl" des neuen Momentes von dem

31 Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon 1947, S. 374.


32 a.a.O., S. 195.
33 Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 387.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 101

ihm vor-schwebenden, empirisch-intuitiven Erfahrungsbild bestimmt


wird. Es findet also in solchen Fällen überhaupt keine "blinde" und
daher wirklich rein-apriorische Ableitung statt, wobei der Philosoph
nur die "Sache selbst" sprechen liesse und nicht wüsste, was sich aus
dem Abstrakteren entwickeln werde. Es wird vielmehr im Hinblick
auf das zu Gewinnende deduziert, oder anders: das Abstraktere wird
rückwärts konstruiert, so gefasst, dass es all das enthalte, was aus
ihm abgeleitet werden soll. 34
Die absolute Freiheit des im Geiste Hegels philosophierenden
Menschen ist aber selbst dann nicht gesichert, wenn wir innerhalb
der HegeIschen Voraussetzungen bleiben und die zweifache Hypo-
these über das Denken als das allein Wesentliche akzeptieren. Denn
die HegeIsche Ableitung betrifft höchstens das Begriffsbild des Ein-
zelnen (sie bewegt sich ja überhaupt nur im Bereich des Idealen -
nicht von ungefähr wurde seine Philosophie als "pantheisme idealis-
te" bezeichnet); 35 sie betrifft nicht dieses reale Einzelne in seiner
Individualität und Zufälligkeit. Das Zufällige lässt sich per definitio-
nem nicht ableiten. Da aber die wirkliche Welt mit ihm durchwoben
ist, kann in ihr der Geist als Subjekt nicht restlos bei sich, nicht ab-
solut frei sein. Es bleibt ihm nur die Möglichkeit offen, sich in die
Philosophie, in die ideelle Welt der Vernunftgestalten zurückzuziehen.
Dort könnte er - falls die eidetische Wirklichkeit als Selbstbewegung
des Geistes zu fassen wäre - wohl bei sich sein, aber wäre das abso-
lute Freiheit? Diese bedeutet doch in allem bei sich zu sein, und aus
"Alles" ist die reale Welt schwerlich auszuschliessen. 36 Die "Allein-
herrschaft des Logos", die Theodor Litt mit Recht als die Bedingung
der absoluten Freiheit bezeichnet 37, ist schon wegen der unleugba-
ren Präsenz des Zufälligen unmöglich.
Wir sehen also, dass es Hegel nur unter Zuhilfenahme fragwür-
digster metaphysischer Hypothesen möglich ist, seiner Philosophie
eine Vorrangsstellung gegenüber der Kunst einzuräumen. Demgegen-
über ist die Theorie über die Freiheitsverwirklichung in der ästheti-
schen Situation nicht darauf angewiesen, sich mit leicht verwund-
baren Versicherungen zu bescheiden. Die Tatsächlichkeit sowohl
eines menschlichen Freiheitsstrebens als auch der sinnlichen Freiheit

34 Vgl. dazu Litt, a.a.O., S. 243, 246, 251.


35 Djin, a.a.O., S. 403.
36 Vgl. dazu Fahrenhorst, a.a.O., S. 73, HOf.
37 a.a.O., S. 292.
102 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION

des Menschen in der Kunst lässt sich wenigstens in dem Sinne a pos-
teriori nachweisen, dass menschliche und ästhetische Erscheinungen
vom Begriff der Freiheit her zufriedenstellend interpretiert, rational
"erklärt" werden können. Hier, der Kunst gegenüber, scheint die
Freiheit des Menschen gesichert zu sein, und wir können dem Dik-
tum von Georg Lukacs nur beipflichten, das Ästhetische sei die
"adäquateste Form für die Äusserung des Selbstbewusstseins der
Menschheit." 38
Dass aber selbst diese adäquateste Form keine vollkommene ist,
dass der Mensch nicht einmal in ihr absolut bei sich sein kann, liegt
ausser in der bereits erwähnten Individuiertheit von ästhetischem
Subjekt und Objekt darin, dass auch die von der Kunst gewährte
Freiheit keine vollends reale ist. Bei aller Gleichheit von geniessen-
der und genossener Subjektivität ist in der Begegnung mit der Kunst
immer auch Ungleichheit - und zwar trotz der Illusion auch tür uns
seiende Ungleichheit - vorhanden: Der Mensch steht zwar einem
freien, aber keinem wirklichen Menschen gegenüber. Dass die Frei-
heit des Menschen in der ästhetischen Situation diese unaufhebbare
Schranke besitzt, oder anders: dass die Freiheit des Inhalts "ge-
macht" werden muss, ist natürlich eine direkte Folge dessen, dass der
Mensch in der Realität nicht frei sein kann. Wenn dem nämlich nicht
so wäre, brauchte der Mensch nichts Künstliches hervorzubringen,
um frei zu sein: Er könnte in jedem Augenblick, in jedem Aspekt
seines realen Daseins seine Freiheit geniessen. Der Mangel der Kunst
gründet im Mangel der Realität, und die Kunst als Befreiendes zu
übertreffen wäre allein eine kunstvolle, ästhetische Wirklichkeit im-
stande.

38 Eigenart des Ästhetischen, Bd. I, S. 614.


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