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VORWORT IX
Die Frage, die mich ursprünglich bewog, die Ästhetik Hegels einge-
hender zu untersuchen, betraf bloss die subjektive Seite des Ästheti-
schen: Ich wollte in Erfahrung bringen, was Hegel über die anthro-
pologischen Gründe des ästhetischen Wohlgefallens denkt, wie er die
ästhetische Ergriffenheit des Menschen vom Menschen selbst aus-
gehend zu begründen sucht. Es zeigte sich jedoch alsbald - was frei-
lich vorauszusehen war -, dass diese Frage nicht beantwortet werden
kann, bevor man versucht hat klarzumachen, wie Hegel die objektive
Seite des Ästhetischen begreift, was also seiner Meinung nach dem
Menschen im Kunst- und Naturschönen begegnet. Denn erst wenn
wir wissen, was auf uns wirkt, können wir der Frage nachgehen, war-
um diese Wirkung überhaupt zustandekommt. Die Freilegung und
kritische Betrachtung des Hegelschen Schönheitsbegriffs boten indes-
sen eine solche Fülle an Problemen, dass der Schwerpunkt der Ar-
beit auf die Objektseite zu liegen kam und die mich bewegende
Grundfrage erst im letzten Kapitel aufgeworfen werden konnte.
Den Schlüssel zu Hegels Ästhetik schien mir sein Freiheitsbegriff
in die Hand zu geben. In ihm wurzelt meines Erachtens nicht nur
seine Antwort auf die Frage, warum uns das Objektiv-Ästhetische
anspreche, sondern auch sein Begriff des Objektiv-Ästhetischen selbst.
Dies schliesst bereits in sich, dass ich seine Ästhetik als wesentlich
anthropozentrisch ansehe, bedeutet doch Freiheit - wenigstens un-
mittelbar - die Freiheit des Menschen. Gerade dies, eine bestimmte
Art menschlicher Freiheit, wird nach Hegels Ansicht im Zustande-
kommen des Ästhetischen verwirklicht.
Dieser anthropozentrische Zug der HegeIschen Ästhetik ist bis
jetzt kaum gewürdigt worden, wie es auch an Versuchen fehlt, seine
ästhetischen Einsichten für die Kunstwissenschaft fruchtbar zu ma-
chen. Ich war daher auch bestrebt, an geeigneten Stellen gewisse em-
x VORWORT
"Idee"
Die Philosophie Hegels ist ein einziger grossangelegter Versuch,
den Gedanken von der Kontingenz der Weltinhalte zu widerlegen,
diese in ihrem Dass- und Sosein als notwendig aufzuzeigen. Voraus-
setzung dieses Unterfangens ist die metaphysische Hypothese, der
zufolge alles Seiende wesentlich geistiger Natur sei, und zwar nicht
toter, sondern sich "bewegender", alles aus sich entwickelnder Geist.
Diese logisch-unzeitlich zu fassende "Bewegung", welcher übrigens
die geschichtliche Entwicklung entsprechen, aber auch nicht entspre-
chen kann, untersteht nun nach Hegel dem Gesetze der Dialektik -
gerade dies macht ihre "Vernünftigkeit" aus. Wenn der philosophie-
rende Mensch den dialektischen Weg des Geistes, das ständige Sich-
selbst-Negieren und Negieren des Negierten nachzeichnet, so gelangt
er zwangsläufig zu Knotenpunkten, die sich als Wesensbestimmungen
der Weltinhalte erweisen. Das auf diese Weise dialektisch entstehen-
de und vom Philosophen "gefundene" Wesen der Dinge nennt Hegel
den "Begriff'?
1 A'sthetik (künftig: Ä), S. 146. Gebraucht wurde die von Friedrich Bassenge
besorgte einbändige Ausgabe (Berlin 1955).
2 Vgl. Hegel: Sämtliche Werke, Bd. VIII, S. 366f: "Der Begriff ist das Dingen
selbst Innewohnende, wodurch sie das sind, was sie sind, und einen
Gegenstand begreifen, heisst somit sich seines Begriffs bewusst werden". (Von
2 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN
Wir halten nun dafür, dass Hegel in seiner Definition des Ästheti-
schen mit "Idee" zunächst nichts anderes als Ich, Selbstbewusstsein,
menschliche Innerlichkeit meint. Gestützt wird diese Annahme auf
die verschiedenen Formulierungen, mit denen Hegel den Inhalt der
Kunst einzukreisen sucht - das' Auszudrückende also, das als solches
wohl ineins zu setzen ist mit dem, was in der Kunst "sinnlich scheint"
(wie sich dieses "Scheinen" auch später bestimmen möge), d.h. mit
der Idee in ihrer der Kunst zugeordneten Gestalt. 5 Der Inhalt wird
da als "das konkret Geistige", als "menschlicher Geist" (Ä/115),
auch als "konkrete Subjektivität", "Einzelheit" (Ä/173) bestimmt,
anderswo wiederum als "wesentlich Individualität" (Ä/691), wobei
in der Hegeischen Begriffssprache "Geist" (der subjektive Geist) "das
Fürsichsein des bewussten und selbstbewussten Lebens mit allen Emp-
findungen, Vorstellungen und Zwecken dieses bewussten Daseins"
(Ä/660) bedeutet, sich also weitgehend mit dem landläufigen Begriff
der "Innerlichkeit" deckt. 6
Wenn wir auf Grund dieser Bestimmungen die Gestalt, in der die
Idee in der Kunst erscheint, als Ich, bzw. Selbstbewusstsein fassen, so
muss dem sogleich hinzugefügt werden, dass es sich hier nicht um
"das" Ich, "das" Selbstbewusstsein handelt, nicht um deren Begriff,
sondern um ihre Konkretion: um dieses Ich, dieses Selbstbewusst-
"Hegel und das Problem der Realdialektik" in: Kleinere Schriften (Berlin 1957),
sodann Ernst Bloch: Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel (Frankfurt/Main
1962), Theodor Litt: Hegel, Versuch einer kritischen Erneuerung (Heidelberg
1961) und Eberhard Fahrenhorst: Geist und Freiheit im System Hegels (Leipzig
1934).
5 Hegel nennt die Idee ausdrücklich den Inhalt der Kunst (ÄI 108).
6 Dieser Auslegung des Begrüfes "Idee", wie er in der Bestimmung des Äs-
thetischen verstanden wird, widerspricht nur scheinbar, dass Hegel als die erste,
unmittelbare Form der Idee das Leben bezeichnet (vgl. etwa 3/142). Zwar ist das
Leben, "dieses ideelle einfache Fürsichsein des Leiblichen als Leiblichen"
(Ä/660), bereits ein Sich-selbst-Haben im Anderen und insofern ein mögliches
Fundament des Ästhetischen sowohl in der Natur als auch in der Kunst. Daher
ist in manchen Bestimmungen Hegels nicht nur das "geistige", sondern auch das
"physische Leben" Inhalt, Thema der Kunst (3/142, auch 15/151). Der grosse
Mangel des Lebens als Geistesidee besteht jedoch darin, dass die lebendige Indi-
vidualität als bloss Lebendiges sich ihres Beisiehseins nicht bewusst ist. Das
Leben bedeutet also kein bewusstes Sich-selbst-Haben im Anderen und ist mithin
doch keine wahre Erscheinungsform des Geistes. Daher verlagert Hegel das
Hauptgewicht in den meisten Umschreibungen seines in der Ästhetik gebrauch-
ten Ideenbegriffes vom "Leben" auf "selbstbewusstes Leben", auf "geistige Be-
seelung". Vgl. hierzu noch: Eduard von Hartmann, Die deutsche ifsthetik seit
Kant (Leipzig 1886), Teil I, S. 110f.
4 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN
7 Vgl. Ä/ 111: " ... die Idee als das Kunstsehäne ... ist die Idee mit der nähe-
ren Bestimmung, wesentlich individuelle Wirklichkeit zu sein".
8 über diese einschränkende Funktion des Sinnlichen in der Kunst schreibt
Hegel folgendes: " ... eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen be-
stimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit (eben
das Menschlich-Individuelle! A.H.) ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dar-
gestellt zu werden ... Dagegen gibt es eine tiefere Fassung der Wahrheit, in
welcher sie nicht mehr dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von
diesem Material in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt werden
zu können" (Ä/56). Darin liegt übrigens eine Vorwegnahme jener Auffassung
Hegels, dass die Kunst doch nicht die alleinige und höchste Stätte des verwirk-
lichten Geistes, der Idee ist. Vgl. S. 96-98.
9 Einzig Helmut Georg Domke hebt in seiner Dissertation über Grundfragen
der Hegelsehen Kunstphilosophie (Kiel 1939) den Anthropozentrismus der He-
gelsehen Ästhetik gehörig, wenn auch nicht in gebührender Detailliertheit hervor
(S.41).
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 5
"Der Hintergrund (der Inhalt, A.H.) braucht ... nicht den höheren
Seinsschichten entnommen oder nachgebildet zu sein (dem seelischen
oder dem geistigen Sein); es genügt, dass er ursprünglich geistig er-
schaut und die Weise des Schauens in der Art seines Erscheinens
festgehalten ist." 10 Auch Georg Lukacs macht diesen humanisti-
schen Gedanken zum Grundpfeiler seiner Ästhetik mit der Behaup-
tung, dass "es kein einziges - an sich noch so objektiviertes - Mo-
ment des Kunstwerks geben kann, das als ablösbar vom Menschen,
von der menschlichen Subjektivität gedacht werden kann." 11
12 Domke interpretiert (a.a.O., S. 34, 38f) das "Scheinen" ebenfalls als We-
sensbekundung und kommt zum Schluss, dass nach Hegel "die Gestalt des
Kunstwerkes ... das Wesentliche zu zeigen" hat (S. 40), dass "die Kunst für
Hegel Wesensschau der Wirklichkeit" ist (S. 78). Auch Nicolai Hartmann meint.
dass es sich hier "nicht eigentlich um ein ,Scheinen' handelt, sondern um ein
Erscheinen" (Ästhetik, S. 79).
13 Trotzdem scheint Hegel dem Phänomen der lllusion (und damit der Nach-
ahmung) nicht die Bedeutung beigemessen zu haben, die ihm in der Auslegung
und Weiterführung seiner Ästhetik objektiv zukommt. VgI. S.72ff.
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 7
des "Scheinens" einer der Gründe war, weswegen Hegel diesen nicht
gerade glücklichen Ausdruck dem "Erscheinen" vorzogY
Der wichtigste Grund wird jedoch wohl darin liezen, dass sich in
der Hegeischen Terminologie der "Schein" selbst in der Bedeutung
der Wesenbezogenheit von "Erscheinung" unterscheidet. Hierüber
lesen wir folgendes: "Das Wesen scheint zunächst in ihm selbst, in
seiner einfachen Identität ... Das Wesen erscheint, so ist es nunmehr
realer Schein, indem die Momente des Scheins Existenz haben ...
Die Erscheinung ist daher Einheit des Scheins und der Existenz"
(4/623). Erscheinung hat somit dem Schein dies voraus, dass sie
existiert, dass sie das Wesen in der Realität transparent werden lässt.
Ihr gegenüber bleibt der Schein in die Nicht-Realität zurückgedrängt:
in die begriffliche Idealität, aber wohl auch in die charakteristische
"Halb-Idealität" des Kunstwerks. Die eigentümliche Seinsweise aller
Kunstgegenstände, ihr Herausgelöstsein aus den Bezügen der ge-
wöhnlichen Wirklichkeit, den Umstand also, dass sie der Realität
gleichzeitig zugehören und nicht zugehören, hatte schon Kant be-
merkt. Ihm wurde allerdings diese Eigenschaft des Ästhetischen an
dessen subjektbezogener Seite lebendig, an der Tatsache, dass es
nicht unter dem Aspekt eines Zweckes betrachtet wird, der Praxis
also enthoben ist. Hegel hingegen ist in erster Linie an den objekti-
ven Konsequenzen dieses Sachverhaltes interessiert. Eben dadurch,
dass das Kunstwerk nicht "im Leben steht", kann es - im Gegensatz
zu all dem, was ausserhalb der Kunst real existiert - zum "wesent-
lichen Schein" werden, der "nichts zeigt, was nicht im Wesen ist".
Der Schein als Stufe zwischen Realem und Ideellem, das Scheinen
als Herausgelöstsein, als Entnommensein - diese Wortbedeutung lässt
sich in den folgenden Formulierungen Hegels eindeutig erkennen:
"Das Sinnliche im Kunstwerk ist im Vergleich mit dem unmittelba-
ren Dasein der Naturdinge zum bIossen Schein erhoben ... Es ist
selbst ein ideelles, das aber, als nicht das Ideelle des Gedankens,
zugleich als Ding noch äusserlich vorhanden ist" (Ä/81). Oder:
"Ums ... Scheinen ... und nicht um das natürliche wirkliche Sein
ist es in der Kunst zu tun" (Ä/251).
Der Gebrauch des Wortes "Scheinen" war also unter den termino-
14 Nicolai Hartmann erwähnt noch einen möglichen Grund, dass nämlich die
Kunst zwar der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber wohl die tiefere Wahrheit
repräsentiere, mit der Philosophie verglichen jedoch Schein, d.h. "Grenze der
Erkenntnis" sei (A·sthetik, S. 79). über diese Auszeichnung der Philosophie der
Kunst gegenüber, siehe S.97-101.
8 BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN
schenke einstweilen auf die Seite. Sie sind zu schön, um sie gerade
jetzt zu gebrauchen. Ich hab die Uhr verkauft, damit ich Geld hätte,
dir deine Kämme zu kaufen."
Die Wirkung dieser Geschichte beruht zum Teil offensichtlich auf
der paradoxen Situation, die sie vor uns entstehen lässt und die - wie
jede Paradoxie - geistreich ist. Della und Jim haben einander das
grösste Opfer gebracht, das für sie möglich war; eigentlich jedoch
sinnlos, denn das Opfer des einen konnte dem anderen - gerade sei-
nes eigenen Opfers wegen - von keinem Nutzen sein. Eben weil sie
einander keine "praktische" Freude bereiten konnten, sind sie zum
Teil auch enttäuscht. Dafür werden sie jedoch vielfach entschädigt
durch das Bewusstsein, dass das Motiv, das den Anderen zu seiner
zur Enttäuschung führenden Tat bewog, die Opferbereitschaft und
somit die Liebe war. Das - und nicht das Praktische - ist das eigent-
liche Geschenk, und obwohl "die drei Weisen aus dem Morgenlande
wertvolle Geschenke mitbrachten, das war nicht unter ihnen."
Die künstlerische Grösse O. Henrys bekundet sich aber in dieser
Novelle vornehmlich darin, dass er gerade in dieser paradoxen Situa-
tion eine Form fand, welche die wahre, weil selbstlose Liebe zweier
Menschen restlos und prägnant, d.h. ohne jegliches überflüssige
Formelement auszudrücken vermochte. 18 Denn nur deswegen konnte
das gegenseitige Beschenken vorübergehend sinnlos erscheinen, weil
sie einander so sehr liebten, dass sie bereit waren, das einzig Wert-
volle, das sie besassen, aufzuopfern, und dabei keinen anderen
Wunsch hatten, als dieses Wertvolle des anderen durch die Kämme,
bzw. die Uhrkette noch wertvoller zu machen. Den Einfall loben wir,
mit dem O. Henry einen konkreten seelischen Inhalt sinnlich zu ma-
chen verstand.
Es ist hieraus jedoch ersichtlich, dass jene Einheit, jene Entspre-
chung zwischen Form und Inhalt nicht als gegenseitiges Verhältnis
aufzufassen ist, in dem beide Seiten zugleich "Herr" und "Knecht"
wären. Obwohl, worauf wir oben (S. 3f) hingewiesen haben, der all-
gemeine Charakter des Inhalts von der Form als Sinnlichem her mit-
bestimmt wird, ist es im besonderen Falle gerade umgekehrt: Es ist
der Inhalt, der die Form bestimmt. Die Geschichte, jene wahrhaft
dialektische Situation von Della und Jim, konnte nur aus dem Boden
ihrer besonderen Liebe erwachsen.
18 Vgl. Hegel Ä/132f: "Im Kunstwerk ist nichts vorhanden, als was wesent-
liche Beziehung auf den Inhalt hat und ihn ausdrückt."
BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN 11
eine rein subjektive Bestimmung sei, und dass auch das, was vorhin
über die Freiheit des Gegenstandes gesagt wurde, nicht objektiv ge-
meint sei, sondern als Kehrseite der subjektiven Freiheit: Insofern
ich nicht von praktischen Zwecken bedrängt bin, ist auch der Gegen-
stand von mir nicht "bedrängt", gekürzt - er darf erscheinen, wie er
"ist". Diese von Kant beeinflusste, einseitig-subjektivistische Auffas-
sung, welche uns noch später (S. 81f) beschäftigen wird, stimmt je-
doch mit der Hegeischen nicht überein. Nach Hegel ist das Ästheti-
sche in erster Linie als objektive Freiheit, als Freiheit des objektiven
Inhalts zu fassen.
Von dieser objektiv gemeinten Freiheit her interpretiert Alfred
Baeumler die Hegeische Ästhetik, indem er das Kunstschöne - kurz
und unexpliziert - als "die freie konkrete Individualität überhaupt"
bestimmt.21
Den wichtigsten Schritt in dieser Richtung hat Nicolai Hartmann
getan. Er fasst den Hegelschen Begriff des Schönen primär als "Ge-
formtheit allein von innen heraus", als Selbstbestimmung, als Frei-
heit. Er bringt auch als erster diese Freiheit mit der eigentümlichen
Daseinsweise des ästhetischen Gegenstandes, mit dessen "Nicht-Rea-
lität" in Zusammenhang: Er nennt sie "eine Funktion des ,Schei-
nens"'.22 Doch hebt er den humanistischen Charakter der HegeI-
schen Ästhetik nicht gebührend hervor, stellt nicht eindeutig klar,
dass mit dem "freien Erscheinen der Idee" eigentlich menschliche
Freiheit gemeint ist, und kann daraus folglich auch nicht die nötigen,
noch zu erörternden Folgerungen ziehen. Er geht ausserdem auf die
einzelnen Aspekte dieser Inhaltsfreiheit nicht näher ein, wie er ja über-
haupt die Ästhetik Hegels - der Anlage seines Werkes gemäss -
nicht von der Kunstwissenschaft her angeht. Gerade diese beiden
Mängel lassen den vorliegenden Versuch trotz seiner bahnbrechen-
den Interpretation gerechtfertigt, ja notwendig erscheinen.
wir hier, sei der "Grund", die "innere Notwendigkeit" seiner Form.
Oder negativ: "Wenn ich sage: die Natur des Dinges, das Ding folgt
seiner Natur, es bestimmt sich durch seine Natur, so setze ich darin
die Natur (den Begriff, den Inhalt, würde Hegel sagen, A.H.) allem
demjenigen entgegen, was von dem Objekt verschieden ist, was bloss
als zufällig an demselben betrachtet wird, und hinweggedacht werden
kann, ohne zugleich sein Wesen aufzuheben." Kurz: das schöne Ding
ist etwas, das "sich selbst zugleich gebietet und gehorcht." 6
Verlassen wir jetzt einstweilen Schiller und wenden wir uns den
Formen zu, in denen sich die Inhaltsfreiheit bekundet. 7
8 Freilich spielen da auch tabuierende Motive mit hinein. Manches vom Vege-
tativen ist z.B. "unappetitlich" und somit tabu. Vielleicht liesse sich aber auch
diese Beurteilung mit der menschlichen (d.h. "geistigen") Irrelevanz der in Frage
stehenden Funktionen in Zusammenhang bringen.
18 FREIHEIT DES INHALTS IN DER FORM
1 Dies ist nicht Hegels Interpretation. Er fasst den Begriff der Nachahmung
eng und lehnt sie aus später noch darzulegenden Gründen ab. (Vgl. S. 89, Anm.
17). Die hier vertretene Auffassung ist jedoch seiner Ästhetik so wenig fremd,
dass die Notwendigkeit und Anziehungskraft der weit interpretierten Nachah-
mung erst mit seinen ästhetischen Begriffen, erst im Zusammenhang mit den
Problemen der Inhaltsfreiheit hinreichend erklärt werden können. Mit den Grün-
den, deretwegen die Natürlichkeit, wie ja überhaupt die Inhaltsfreiheit genossen
wird, wird sich das letzte Kapitel dieses Buches zu befassen haben.
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 25
Illusion
Zur Freiheit einer menschlichen Innerlichkeit, wie sie etwa in der
Literatur dargestellt wird, gehört aber nicht nur freies, natürliches
Sosein, sondern "davor", es begründend, auch freies, vom Kunst-
werk unabhängiges Sein, Wirklichkeit, reale Existenz. Die Eigenge-
setzlichkeit menschlicher Innerlichkeiten zu achten heisst also, sie
nicht nur so darzustellen, wie sie wären, wenn es sie gäbe, sondern
auch so, als ob es sie gäbe, als ob sie wirklich existierten.2 Dieser
Schein als subjektives Erlebnis ist nun nichts anderes als die Illusion. 3
Das Wesen der von Werken der Literatur erweckten Illusion be-
steht gerade darin, dass wir meinen: diese humane Erscheinung sei
nicht nur deswegen da und deswegen so, wie sie ist, damit Ästheti-
sches zustande komme, sondern auch weil es sie gibt. Sie hat nicht
nur künstlerische Funktion, sondern auch reales Sein und mit diesem
Sein ursprünglich gegebenes, keiner Begründung fähiges und bedür-
fendes, unableitbares Sosein.
Hervorgerufen wird diese Illusion durch die oben analysierte Re-
spektierung des menschlichen Soseins, durch Nachahmung. Gerade
weil dieser Mensch so ist, wie wenn er von der Natur geschaffen
wäre, meinen wir, dass er in der Tat von ihr geschaffen, dass er
wirklich sei.
Wir heben hier nur einen Aspekt dieses Soseins hervor, der - als
beherrschendes Zeichen der menschlichen Wirklichkeit - in der
Kunst besonders illusionsfördernd ist: die Einmaligkeit alles Mensch-
lichen. Sie stellt die Forderung an den Dichter, bei der Erfindung
seiner Figuren und deren Erscheinungsweisen mit der Phantasie des
Lebens Schritt zu halten. Die Stärke und der Reichtum seiner Phan-
tasie bewähren sich unter anderem eben in seiner Fähigkeit, Einma-
liges, Noch-nie-Dagewesenes zu entwerfen. Um aber die übrigen As-
pekte des menschlichen Soseins nicht zu verletzen, muss der Dichter
gleichzeitig Sorge tragen, dass - was auch immer an Menschlichem
in seinem Werke erscheint - es zwar unerwartet und überraschend,
2 Wobei die blosse Scheinhaftigkeit des selbständigen Seins durch die not-
wendige Idealität und allgemeine Scheinhaftigkeit der Kunstwelt bedingt ist.
Näheres hierüber siehe auf S. 67f, 89, 102.
3 Hegel hat sich in seiner Ästhetik der Bezeichnung "Illusion" nicht bedient
und auch dem Phänomen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bloss in einigen
wenigen Formulierungen, so z.B. da, wo er von der "unabhängigen, für sich gül-
tigen und lebendigen Existenz der besonderen Seiten" im Epos spricht, scheint er
den Begriff der Illusion im Sinne gehabt zu haben (Ä/888, 973). Vgl. auch S. 6.
26 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT
7 Vgl. Ä/260-265.
8 Kallias, S. 38.
34 NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTSFREIHEIT
9 Vgl. dazu die bereits zitierte Arbeit von Nicolai Hartmann: Hegel und das
Problem der Realdialektik, sowie die ebenfalls ausserordentlich aufschlussreiche
Abhandlung von Agnes Dürr: Zum Problem der Hegelsehen Dialektik und ihrer
Formen, Berlin 1938.
NATÜRLICHKEIT - EINE FORM DER INHALTS FREIHEIT 35
punkt, die echte Domäne der Kunst; die Darstellung desselben ist das
hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer. Denn
das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust wider-
klingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Ge-
halt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an. Das Pathos be-
wegt, weil es an und für sich das Mächtige im menschlichen Dasein
ist" (248f).
Wenn wir nun versuchen, das Gemeinsame dieser "Mächte" zu
bestimmen, so finden wir, dass der Mensch durch sie über sich hinaus
getrieben und in überindividuelle Bezüge eingespannt wird. Das Sub-
stantielle des Menschen kann also nach Hegel als das Nicht-nur-
Selbstisch-Partikuläre, als das im "Allgemeinen", in den vernünfti-
gen Ordnungen Aufgehende definiert werden. Gerade dies macht
aber für ihn das" Gute" im Menschen aus. 1
Wir haben es somit bei Hegel mit einer durchaus optimistischen
Menschenauffassung zu tun: Der Mensch ist an sich (d.h. seinem Be-
griff, seiner Anlage und Bestimmung nach) im soeben umrissenen
Sinne "gut". Sofern er sich nicht in seiner Einzelheit verschanzt, son-
dern zu dem ihm immanenten Allgemeinen emporläutert, ist er mit
seinem Begriff identisch, bei sich: Er ist nicht nur "gut", sondern zu·
gleich auch innerlich frei. So, in dieser inneren Freiheit, soll nun nach
Hegel die Kunst den (immer als konkrete Innerlichkeit verstandenen)
Menschen darstellen. In dieser Forderung liegt eigentlich auch das
Weitere beschlossen, dass das Wahre, Gute und Schöne - freilich in
einer ganz spezifischen Bedeutung - auch für ihn zusammenfallen. 2
Gerade diese Auszeichnung des Pathos bringt es wohl mit sich,
dass es von Hegel mehrmals als das "Göttliche" bezeichnet wird.
"Der Mensch trägt nicht etwa nur einen Gott als sein Pathos in sich,"
lesen wir z.B. in seiner "Ästhetik", "der ganze Olymp ist versammelt
in seiner Brust" (252). Damit sehen wir uns aber auf unsere ur-
sprüngliche Frage zurückgeworfen, ob es nämlich gerechtfertigt ist,
im Namen Hegels den Menschen als den zentralen Inhalt der Kunst
hinzustellen. Hegel-Interpreten vom Range eines Rudolf Haym ha-
ben ja behauptet, das Schöne sei nach Hegel "Darstellung des Absolu-
ten oder des Göttlichen": "Nicht der Mensch, sondern das Absolute
stellt sich in der Kunst dar." 3 Was hat es nun damit für eine Be-
wandtnis?
Ganz allgemein ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Hegel
Gott nichts Abgetrenntes, Nur-Transzendentes ist: Er ist inseiend in
allem Vernünftigen, Wahren, er ist der "absolute Geist". Gerade das
macht für Hegel seine Absolutheit aus, dass er - mit einem Wort Ni-
colai Hartmanns - "alles in allem" ist: Er ist sowohl "ausser" als
auch "in" der Welt. 4 Wenn aber alles Wahre an sich göttlich ist, so
kann die Alternative, ob nun das Göttliche oder der Mensch den In-
halt der Kunst abgebe, überhaupt nicht gestellt werden. Der Mensch
der Kunst - als Wahres - ist eben Mensch und Göttliches zugleich.
Darüber hinaus ist jedoch das Göttliche - in dem Hegel eigentüm-
lichen, emphatischen Sinne des Wortes - nur im Menschen wirklich
(denn nur in ihm hat Gott sein Fürsichsein). Dies wird von Hegel
selbst ausgesprochen, indem er sagt, dass "wenn Gott erscheinen soll,
seine Natürlichkeit die des Geistes sein müsse, was für die sinnliche
Vorstellung wesentlich der Mensch ist, denn keine andere Gestalt
vermag es, als Geistiges aufzutreten" (llj325f).
Die Forderung nach dem Göttlichen als Inhalt der Kunst bedeutet
also gleichzeitig und notwendig eine Forderung nach dem Menschen. 5
Trotzdem kann aber nicht abgestritten werden, dass es sich hier
nicht um eine Tautologie handelt: "Göttliches" und "Mensch" sind
nicht bloss verschiedene Wörter mit derselben Bedeutung.. Das Gött-
liche ist für Hege! auch Transzendentes: Es hat ewiges, notwendiges
logisches Sein. Das, was im Menschen als Pathos erscheint, "gibt es"
12 ebd., S. 536.
13 ebd., S. 612.
14 ebd., S. 536.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 45
16 Der Grund für diese immer wieder vorgenommene Reduktion des jeweili-
gen Kunstwerkes auf den bereits zum Gemeinplatz gewordenen "geschichtlich-
gesellschaftlichen Hintergrund" liegt nicht nur in dem etwaigen persönlichen
Unvermögen, das Schwierigere zu vollbringen und konkret zu denken, sondern
auch in der Tatsache, dass die Kunst - gerade da sie Transparent des (zu ver-
ändernden oder zu verwirklichenden) Weltzustandes ist - vom Marxismus nicht
nur als Mittel der Erkenntnis, sondern auch als Mittel der Praxis, der pragma-
tisch-ideologischen Beeinflussung betrachtet wird.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 47
24 Aus diesem Zitat geht übrigens mit aller Deutlichkeit hervor, dass nach
Hegel nicht das, was dargestellt wird, das eigentlich Künstlerische, d.h. Ästheti-
sche ausmacht, sondern etwas davon theoretisch Getrenntes, die Tatsache näm-
lich, dass es erscheint.
52 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH
25 a.a.O., S. 554.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 53
28 Gerade diese Art Richtigkeit macht die Kunst - ebenfalls nur in der Theorie
- zum Zugangsweg zu dem Menschen, zur Quelle psychologisch-anthropologi-
scher Erkenntnis.
56 FREIHEIT DES INHALTS IN SICH
21l Das Sichselbstfinden im historisch Anderen hat jedoch neben dieser ästhe-
tischen auch eine allgemeinere, existentielle Bedeutung. Denn je unverhoffter
und ungeahnter die Selbstbegegnung ist, umso mehr wird es zum besonderen
Erlebnis, dass ich Glied des ganzen Menschengeschlechts bin, dass ich mich -
wohin ich mich im Bereich des Humanen auch begeben mag - unter meines-
gleichen bewege, mich daher geborgen und frei fühlen kann. Dieses Erlebnis
meiner Ubiquität, des grundsätzlichen Zusammengehörens aller Menschen ist
von der Selbstbegegnung, die uns die Kunst gewährt und die später noch zu spezi-
fizieren sein wird, scharf zu trennen. Dieses Gefühl des Geborgenseins kann sich
auch an Gestalten der Historie, ja der Philosophiegeschichte entzünden.
30 a.a.O., S. 610.
FREIHEIT DES INHALTS IN SICH 57
31 a.a.O., S. 609.
FÜNFTES KAPITEL
1 VgI. hierzu 8/377-379, sowie in erster Linie Iwan lljin, Die Philosophie
Hegels als kontemplative Gotteslehre, Bem 1946, 5. Kapitel; sodann Litt, a.a.O.,
S.48-57, 185-194; Gottfried Mann, Zum Begriff des Einzelnen, des Ich und des
Individuellen bei Hegel, Diss. Heidelberg 1935, bes. S. 43f; August Brunner,
"Das Allgemeine bei Hegei", Scholastik, Bd. 25 (1950).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 59
eine Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht
des subjektiven Denkens und Wollens selber ist, dass in der vollen-
deten Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben ver-
mag" (A/305). Nur wenn der Künstler auf diese Weise zum Gefäss
der Sache wird, ist er wahrhaft originell, denn dann wird die Indivi-
dualität seines Werkes die des sich konkretisierenden Vernünftigen
sein; sonst, wenn sich "die zufälligen Partikularitäten seiner subjek-
tiven Eigentümlichkeit" (300) in den Vordergrund drängen und den
"vernünftigen Lauf der Sache" (303) stets willkürlich unterbrechen,
sinkt die Originalität zu Manier herab. "Keine Manier zu haben, war
von jener die einzig grosse Manier, und in diesem Sinne allein sind
Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare originell zu nennen" (305).2
Die Selbstbestimmung des Substantiellen scheint indessen selbst
nach Hegel ihre Grenzen zu haben. Eine dieser notwendigen Grenzen
wird von der Individuiertheit der Kunstgestalt gebildet. Ganz allge-
mein drückt er dies folgendermassen aus: "Die Idee ist ... in sinn-
licher Gestalt und in einer Individualisierung, für welche die Zufäl-
ligkeiten des Sinnlichen nicht entbehrt werden können" (15/151).
Näher, im Zusammenhang mit den griechischen Götterdarstellungen
spricht er von der "Einzelheit jedes Gottes ... , wie sie sich für eine
lebendige Individualität gebührt und ihr notwendig ist. Mit solcher
Art der Einzelheit ist aber zugleich die Zufälligkeit der besonderen
Züge verknüpft, welche sich auf das Allgemeine der substantiellen
Bedeutung nicht mehr zurückführen" (A/472). Es ist dies eine "Sei-
te der Willkür und Zufälligkeit, welche zum konkreten Individuum
gehört" (477).
Trotz der anderweitigen Versicherung Hegels, wonach "die in
sich konkrete Idee. . . das Prinzip ihrer Erscheinungsweise in sich
selbst trägt und dadurch ihr eigenes freies Gestalten ist" (A/112),
wird also hier doch anerkannt, dass es selbst in der Kunst eine Sphä-
re gibt, in die das Substantielle nicht mehr hineinreicht. Eben weil
die Kunstgestalt ein sinnliches Dieses ist, ist sie auch konkret, indivi-
2 Es ist wiederum auffallend, wie weit sich hier Hegels Formulierungen mit
denen der Kallias-Briefe decken. "Leidet die Eigentümlichkeit des darzustellen-
den Objekts", so lesen wir etwa bei Schiller, "durch die Geisteseigentümlichkeit
des Künstlers, so sagen wir, die Darstellung sei maniriert. Das Gegenteil der
Manier ist der Stil, der nichts anderes ist, als die höchste Unabhängigkeit der
Darstellung von allen subjektiven und allen objektiv zufälligen Bestimmungen.
Reine Objektivität der Darstellung ist das Wesen des guten Stils: der höchste
Grundsatz der Künste" (S. 48).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 61
duell, und gerade dieses Individuelle an ihr lässt sich vom Allgemei-
nen nicht restlos ableiten. Diese Sphäre notwendiger Zufälligkeit,
dieser zufällige "Rest" muss - wem anders? - der künstlerischen
Subjektivität, der "Willkür" des Künstlers überantwortet bleiben. Es
scheint also, dass "keine Manier zu haben" selbst nach Hegel eine
Sache der Unmöglichkeit ist.3
Diese Einschränkung ändert aber an Hegels grundsätzlicher Auf-
fassung über die Objektivität des Schaffensprozesses nichts. Die
Funktion des Künstlers wird im wesentlichen doch darauf beschränkt,
die Sache zu "entbinden".
keine ,Zelle' ohne Subjektivität, sein Ganzes involviert diese als Ele-
ment des Baugedankens. " 7 Er lässt indes die im Bild implizierte Ob-
jektivität doch nicht fallen: Er spricht von der im Begriff der ästhe-
tischen Widerspiegelung konzentrierten Widersprüchlichkeit, "höch-
ste Objektivität bei höchster Subjektbezogenheit" zu bewahren. 8
Wie ist das aber möglich? Ist es überhaupt möglich? Da Ideelles
sich nicht besondern kann (wenigstens hat Hegel das Gegenteil, die
Möglichkeit ideeller Selbstbesonderung nicht bewiesen; wir sind also
berechtigt, bei der Annahme ihrer Unmöglichkeit zu bleiben) - kann
es sich bei der Entstehung eines Kunstwerkes doch nur darum han-
deln, dass der Künstler selber aus den Möglichkeiten der ihm - so-
wohl in ihm als auch ausserhalb seiner - vorgegebenen "mensch-
lichen Materie" im Schöpfungsakt einen Inhalt konzipiert und diesen
Inhalt - weiterhin schöpferisch, mit Hilfe seiner Einbildungskraft -
zur Form konkretisiert.
Lässt aber diese notwendig gewordene Korrektur des Hegeischen
Künstlerbegriffes die bisher analysierte Konzeption über Notwendig-
keit und Freiheit im Kunstwerk nicht in sich zusammenfallen? Was
hat es noch unter den veränderten Umständen mit dieser Objektivi-
tät auf sich?
einer Freiheit des Inhalts zu sprechen, inwiefern kann die Form, die
der Künstler für "sein" Inneres schafft, noch objektiv genannt wer-
den?
Die erste Antwort wird uns von Schiller selber an die Hand ge-
geben. In den Kallias-Briefen macht er nämlich die folgende bedeut-
same Unterscheidung: "Freilich wird der Begriff der Freiheit selbst,
oder das Positive, von der Vernunft erst in das Objekt hineingelegt,
indem sie dasselbe unter der Form des Willens betrachtet; aber das
Negative dieses Begriffes gibt die Vernunft dem Objekte nicht, son-
dern sie findet es in demselben schon vor. Der Grund der dem Ob-
jekte zugesprochenen Freiheit liegt also doch in ihm selbst, obgleich
die Freiheit nur in der Vernunft liegt." 12
Wenn man hier für das "Positive" das Wesensmerkmal der Schil-
lersehen "Freiheit", das Von-innen-bestimmt-Sein einsetzt, leuchtet
einem die Relevanz des Zitats sogleich ein. Dann bedeutet es näm-
lich einfach dies: Obwohl der schöne Gegenstand streng genommen
nicht von innen, nicht vom Inhalt her bestimmt ist, da dieser ja kei-
nen Willen besitzt, ist er wenigstens nicht von aussen bestimmt. Dem
Inhalt kann also insofern wohl ansichseiende Freiheitähnlichkeit zu-
gestanden werden, als ja von seinem Anderen, von der Form alles Frem-
de, alles real-möglich Ausserliehe ferngehalten wird. All das, was an
Zufälligem die dargestellte menschliche Innerlichkeit in der Realität
bestimmen könnte (und reale Subjektivitäten auch tatsächlich be-
stimmt), wird vom Künstler aus der Darstellung weggelassen. All die
Formen der Inhaltsfreiheit, die wir weiter oben (S. 15-23) behandelt
haben, müssen also weiterhin als reelle Gegebenheiten gelten gelassen
werden: Das konkrete Selbstbewusstsein, das etwa in der Literatur
zur Darstellung gelangen soll, wird von den Ausserlichkeiten des Na-
turhaften, der Schicksalsbestimmung, der dinglich-materiellen Um-
gebung, der Sprache usf. tatsächlich befreit.
Gerade weil diese Befreiung auf der Ebene der Realität unmög-
lich ist, muss sie eben "künstlich", vom Künstler vorgenommen wer-
den. Die Befreiung von der einen Ausserlichkeit, vom real-möglich-
Ausserlichen, bedingt also unter den gegeben Umständen notwendig,
dass die Form von der anderen, vom "Ausserlichen" der künstleri-
schen Subjektivität bestimmt werde; sie (oder besser: die Beschaffen-
heit der Realität) bringt es mit sich, dass höchstens von einer in An-
12 ebd., S. 33.
68 FREIHEIT DES KÜNSTLERS
verleugnung, der uns sagen lässt: Das ist nicht mehr dieser Künstler,
das ist bereits die V. Symphonie, das ist Hamlet.
Allein : sagen wir das nur einmal? Ist es nicht vielmehr so, dass
dieser hohe Grad an Objektivität immer wieder erreicht wird - aber
in notwendig subjektbedingten Formen? Die Gestik, die Mimik, die
Stimme - all das ist einmalig, persönlich, subjektiv. Und doch: der in
uns verpflanzte Inhalt - die inneren Läufte einer V. Symphonie, die
wir mitempfinden - der Mensch Hamlet, dem wir begegnen - all dies
bleibt bei den Grössten (trotz Verschiedenheit, trotz allenfalls von
den anderen abweichender Interpretation) immer der gleiche, es ist
der Inhalt in seiner Objektivität.
Wenn die am Beispiel der Interpretationskunst gewonnenen Er-
kenntnisse verallgemeinert werden dürfen, dann trifft es zu, dass die
Form einerseits tatsächlich zufällig ist, sofern sie nämlich auch an-
ders hätte sein können, andererseits aber auch nicht zufällig ist, indem
sie auch in jener Zufälligkeit das Wesen und die Fülle des Inhalts zu
vermitteln vermag. Wie ist das aber möglich? Wie können wir uns
diese Dialektik der Form theoretisch zurechtlegen?
Eine mögliche Antwort scheint die zu sein, dass der Inhalt, der ja
konkreter seelischer Inhalt ist, als Totalität und somit als Unend-
liches gefasst werden muss. Seine Unendlichkeit besteht einesteils
darin, dass er als individuelle Ganzheit mit der Begriffssprache der
Psychologie etwa niemals restlos eingefangen, niemals "ausgespro-
chen" werden kann. Über jede begriffliche Bestimmung muss hinaus-
gegangen werden, ohne je zum "Begreifen" der jeweiligen Individu-
alität zu gelangen.
Er ist aber anderenteils auch im echt Hegeischen Sinne unendlich:
Er ist das Allgemeine (zwar nicht das Kreierende) seiner Besonderun-
gen. Seine Allgemeinheit besteht darin, dass er - in welcher subjek-
tiven Form er auch erscheinen mag - bei sich ist, dass alle seine
möglichen Formen, die im Bemühen um eine möglichst grosse Ob-
jektivität entstehen können, auf ihn hin transparent sind. Aber das
bedeutet, dass er - gleich dem Ich - nicht nur zu Diesem besondert
werden kann, sondern theoretisch zu unendlich Vielem, dass er aber
in all seinen Besonderungen voll "vorhanden" ist, ohne jedoch in
irgendeiner von ihnen aufzugehen. Er kann eben wegen seiner Un-
endlichkeit nie völlig konkretisiert, nie aufgezehrt, höchstens ange-
deutet, "symbolisiert" werden, wobei jede Form treffend, adäquat
zu nennen ist, welche durch ihre Symbolhaftigkeit die Fülle eines un-
70 FREIHEIT DES KÜNSTLERS
doch in seiner }l'sthetik, dass "der geistige Gehalt ... gar nicht ohne Zutun eines
lebenden Geistes in der geformten Materie liegt. Er ist überhaupt nicht ,an sich'
in ihr, sondern nur ,für uns', die Auffassenden" (S. 90).
16 Die lllusion im engeren Sinne wurde auf S. 25f als subjektiver Niederschlag
einer Form der Inhaltsfreiheit, nämlich der Natürlichkeit, interpretiert und da-
durch implizite als notwendig aufgewiesen. In ihrer weiteren Fassung kann sie
aber - wie wir sehen - noch tiefer begründet werden: Sie ist ganz allgemein Be-
dingung der menschlichen Selbstbegegnung in der Kunst. Genauso ergeht es der
Natürlichkeit: Sie ist recht eigentlich als eine Spezifikation der Allgemeinmensch-
lichkeit zu nehmen und als solche ist sie nicht nur Bedingung der Inhaltsfreiheit,
sondern auch - wie wir auf S. 50-53 gesehen haben - der Selbstbegegnung.
74 FREIHEIT DES KÜNSTLERS
17 Dies tun wir auch bei der subjektiven Komponente sonst objektiver, darstel-
lender Kunstwerke, etwa bei der Moral, die - wenn richtig behandelt - aus der
Fabel und den Figuren hervorzuspringen, objektiven Bestand zu haben scheint.
1S Wobei wir - wenn und insofern wir von der lllusion befallen sind - Form
und Inhalt nie als Getrenntes erleben, sondern - wie im realen Leben die mensch-
liche Seele und ihre Ausserung - als Einheit. Nur wird uns in der Kunst diese
Einheit als in jedem Punkt der Form auf notwendiger Zuordnung beruhend vor-
gehalten. - Auf diese Eigentümlichkeit im Füruns des Kunstwerks hat bereits
Alfred Baeumler hingewiesen. Er spricht vom "Standpunkt des unbefangenen
Bewusstseins ... , dem die Trennung von Form und Inhalt etwas Unverständ-
liches ist" (a.a.O., S. 3).
FREIHEIT DES KÜNSTLERS 75
19 Dies ist einer der Gründe, deretwegen wir das Wort "Widerspruch", "Wi-
dersprüchlichkeit" konsequent in Anführungszeichen setzen. Der andere wurde
in Nicolai Hartmanns Arbeit über die Realdialektik bei Hegel angegeben: "Zum
Widerspruch gehört der ,Spruch', und das will logischerweise sagen: das Urteil.
Begriffe und Urteile können sich freilich widersprechen ... Aber Dinge, Ge-
schehnisse, Realverhältnisse können es streng genommen nicht. In ihrer Ebene
gibt es kein Sprechen, Urteilen, Aussagen; also auch kein Widersprechen. Was
man in übertragenem Sinne als das Widersprechende im Leben und in der Wirk-
lichkeit bezeichnet, das ist in Wahrheit gar nicht widersprechend, sondern wider-
streitend ... Solcher Widerstreit ist Realrepugnanz" (S. 345).
20 Warum dieses Wissen um das Gemacht-Sein dem Ästhetischen notwendig
ist, wird weiter unten (S. 80-83, bes. Anm. 5) dargetan werden.
76 FREIHEIT DES KÜNSTLERS
das betreffen, was wirksam ist - nichts über das Wesen des Ästheti-
schen aus. Sie gehören zur Kunstwissenschaft und nicht zur Ästhe-
tik im strengen Sinne des Wortes.
Die uns zugekehrte Seite des Kunstwerks hat sich trotz der Ein-
schränkungen und Umdeutungen, die wir im Laufe dieses Kapitels
am Begriff der Inhaltsfreiheit vornehmen mussten, nicht geändert.
Der Inhalt ist - wenigstens für uns - so, wie Hegel ihn gedeutet hat:
er ist frei.
SECHSTES KAPITEL
Existenz des Gegenstandes, sondern auch auf das Bild, das er uns
bietet: auf seine "Erscheinung". Um ihn überhaupt zu diesem oder
jenem Zweck verwenden zu können, muss er uns zunächst als dazu
geeignetes Mittel, als eidetisch so und nicht anders Bestimmtes er-
scheinen, er muss begrifflich betrachtet werden. Das bedeutet eine
Reduktion der Erscheinung, eine Ausklammerung all jener Elemen-
te, die nicht unter den Begriff des jeweils erwünschten Mittels sub-
sumiert werden können.
Das Erscheinungsbild wird aber nicht nur im Bereich des Prakti-
schen, im "Alltag" gekürzt, sondern erst recht in der Theorie, die
ja von Haus aus nur am Allgemeinen der Erscheinungen interessiert
ist. In beiden Fällen handelt es sich darum, dass die "reine" Erschei-
nung - mit Heinrich Barths Worten - "durch Vorgreifen des Begrif-
fes gestört oder gebrochen wird." 1
Das Gewährenlassen in diesem erweiterten, nicht nur pragmati-
schen Sinne, als Ermöglichung integraler Erscheinung überhaupt,
soll nun nicht bloss eine durch das Herausgelöstsein geförderte Mög-
lichkeit, sondern eine für das Ästhetische konstitutive Notwendigkeit
sein, ja es soll recht eigentlich das Ästhetische "hervorbringen". So
ist etwa nach Heinrich Barth die ästhetische Erfahrung als solche
dahin zu bestimmen, "dass sie sich Erscheinung in ihrer Integrität
erscheinen lässt." 2 Barth sieht auch Kants Begriff des "freien Spiels"
der Erkenntnisvermögen, der übereinstimmung von Verstand und
Einbildungskraft - die für das Entstehen des Ästhetischen wesens-
mässig sein soll - gerade darin begründet, "dass in der ästhetischen
Erfahrung. . . der Begriff vor der Anschauung nicht im Vorsprung
ist, in dem Sinne, dass die Anschauung von dem ihr vorgegebenen
Begriffe ihr Gepräge empfangen würde." 3
Dieser Auffassung gegenüber gilt es festzuhalten, dass die durch
das Gewährenlassen ermöglichte integrale Erscheinung wohl als eine
notwendige Voraussetzung des Ästhetischen, nicht aber als dessen
Wesen anzusprechen ist. Diese Theorie läuft in ihrer letzten Konse-
quenz darauf hinaus, dass es nur von der subjektiven Verfassung,
von der "Einstellung" des Rezipienten abhängt, ob etwas als Ästhe-
1 "Grundgedanken der Ästhetik", Studia Philosophica, Bd. 16 (1956), S.74.
2 ebd., S. 73.
3 Philosophie der Erscheinung, Bd. TI, S. 478. Vgl. noch den bereits zitierten
Ausspruch Kuno Fischers: "Ohne den Zustand der Freiheit von seiten der sub-
jektiven Betrachtung (d.h. ohne Interesselosigkeit, A. H.) ... ist nichts ästhetisch;
diesen Zustand vorausgesetzt, ist alles ästhetisch."
82 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
tisches erlebt wird oder nicht - die objektive Beschaffenheit des Er-
scheinenden wird als gleichgültig hingestellt. Es ist indessen nicht er-
sichtlich, wie aus solchen Prämissen die empirische Tatsache erklärt
werden könnte, dass es Gegenstände gibt, die das ästhetische Erleb-
nis gleichsam herausfordern - eben die Kunstwerke und das Schöne
in der Natur. Wenn grundsätzlich alles ästhetisch werden kann, wie
lassen sich Kunstwerke von Nicht-Kunstwerken, das gemeinhin als
schön Empfundene vom Nicht-Schönen abheben? Und wenn eine
Theorie diesem Unterschied nicht Rechnung trägt, wenn in ihr die
Kunst - etwas, an dem uns der Begriff des Ästhetischen eminent le-
bendig wird - der übrigen Wirklichkeit gegenüber keine Auszeich-
nung erhält, kann da noch behauptet werden, dass durch eine solche
Theorie das Wesen des Ästhetischen getroffen worden sei?
Selbst wenn diese Frage verneint werden muss, kann doch die
Notwendigkeit des Gewährenlassens im ästhetischen "Prozess" nicht
bestritten werden. Es bildet auf der Seite des Subjekts ebensosehr eine
unerlässliche Bedingung des Ästhetischen wie auf der Objektseite das
technische Können, das sich im Besiegen des Stoffes bekundet. Einer-
seits dürfte es nämlich ohne weiteres klar sein, dass die vom Künst-
ler intendierte Gesamtform in ihrer Integrität in den Stoff eingesenkt
werden muss, die geformte Materie (bis auf ihre notwendigen Vor-
gegebenheiten) keine eigene Prägung aufweisen darf, wenn Ästheti-
sches entstehen soll. Denn erst wenn die Form des Stoffes mit der
intendierten identisch ist, wenn letztere integral "da" ist, kann über-
haupt die Frage aufgeworfen werden, ob nun dieser geformte Stoff
(die eigentliche Form) tatsächlich der Ausdruck einer Totalität ist
oder nicht. 4 Andererseits ist es ebenso klar, dass auch das hiemit
vollständig Aktualisierte in seiner Integrität in das Bewusstsein des
Aufnehmenden eingehen, ihm gegeben sein muss, denn sonst könnte
die Freiheit des Inhalts überhaupt nicht für ihn sein. Diese bekundet
sich nämlich eben darin, dass der Inhalt in allem vorhanden ist, dass
er alles durchdringt. Wie könnte er aber in allem entdeckt werden,
wenn - gerade wegen der oben analysierten begrifflichen Reduktion
- überhaupt nicht alles aufgenommen wurde?
Wir sehen, dass es sich hier tatsächlich um zwei notwendige Vor-
aussetzungen handelt: Ohne das "Da"-Sein der Gesamtform kann
Ästhetisches ebensowenig zustandekommen, wie ohne das vollständi-
ge Gegebensein dieses "Da"-Seienden. Erst wenn der Begegnung der
zwei Bewusstseine keine Hindernisse im Wege stehen, wenn weder
der Künstler noch der Rezipient eine Mauer vor sich haben, ist die
Vorbedingung zur Entstehung des Ästhetischen, die ästhetische Si-
tuation vorhanden, erst jetzt kann darüber geurteilt werden (im emo-
tionalen wie auch im sprachlich-logischen Sinn), ob der Inhalt wirk-
lich frei ist, ob also Ästhetisches geschaffen wurde oder nicht. I'}
Das Phänomen des Gewährenlassens muss jedoch nicht nur auf
die Frage hin kritisch untersucht werden, wieweit es objektiv mit
dem Ästhetischen ineins gesetzt oder ihm wenigstens unmittelbar
vorgelagert werden darf, sondern auch - und in unserem Zusammen-
hang in erster Linie - in seiner subjektiven Bedeutung. Es soll näm-
lich den Hauptgrund für den ästhetischen Genuss abgeben, indem es
ja nicht nur die Freiheit des Objekts gewährleistet, sondern auch die
des Subjekts: Insofern der Gegenstand in der Reinheit seiner Erschei-
nung von mir nicht eingeschränkt ist, insofern ich ihn zum Worte
kommen lasse, bin auch ich selbst in dem Sinne frei, dass ich von
keinem praktischen Zwecke bedrängt bin. Bereits Kant mag mit dem
Wort vom freien Spiel der Erkenntniskräfte auf diesen Zustand an-
gespielt haben. 6 In den Mittelpunkt des ästhetischen Interesses wurde
er aber erst von Schiller gerückt. Wir haben schon am Anfang un-
serer Untersuchung (S. 13f) darauf hingewiesen, dass im Gegensatz
zu den Kallias-Briefen seine Briefe über die ästhetische Erziehung
ihrem Wesen nach subjektiv ausgerichtet sind. Seine Aufmerksam-
I'} Gerade weil wir, damit Ästhetisches sei, integrale Erscheinung vor uns ha-
ben müssen, ist es auch notwendig, dass uns die Illusion als Illusion ebensowohl
bewusst als auch nicht-bewusst sei. Wenn wir nämlich naiverweise Opfer der
Illusion werden und das Kunstwerk für einen Bestandteil der "wirklichen Wirk-
lichkeit" halten, wird auch unsere Einstellung zu ihm praktisch, d.h. eben nicht
"liberaler Art". Der ästhetisch Ungebildete, der sich etwa im Theater auf die
Bühne stürzt und sich in die Handlung einmischt, um der gerechten Sache zum
Siege zu verhelfen, kann unmöglich gleichzeitig die Freiheit des Inhalts geniessen.
6 Vgl. Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1921, Bd. I, S. 258.
84 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
keit gilt hier nicht so sehr der objektiven Beschaffenheit des schönen
Objekts, sondern vielmehr der Wirkung, die es im Menschen hervor-
ruft. Dies wird nun bekanntlich als Freiheit von jeder Nötigung be-
schrieben, wobei "sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze als
der geistige Zwang der Sittengesetze" verschwindet. 7 • Das Objektive,
aus dem er diese "Gemütsfreiheit" ableitet, ist nichts anderes als der
eigentümliche ontologische Status des ästhetischen Objekts, seine
vermittelnde Stellung zwischen Realem und Nicht-Realem. Daher die
überragende Bedeutung, die dem Begriff des "Scheines" in den Äs-
thetischen Briefen zukommt. Eben die Schein-haftigkeit der Kunst
ermöglicht es, dass wir in der ästhetischen Situation unserer unmittel-
baren Existenz enthoben werden, uns - wie er sagt - "wie aus der
Zeit gerissen" fühlen, dass die Begegnung mit der Kunst im Gegen-
satz zum Ernst des Lebens "Spiel" ist. 8
Auch Nicolai Hartmann identifiziert - im Namen Hegels - den
subjektiven Niederschlag des Ästhetischen im wesentlichen mit der
Bestimmungsfreiheit. In seiner Hegel-Monographie lesen wir etwa
folgendes: "Weil das Objekt herausgelöst ist aus der Verkettung
des Aktuellen, so löst es auch den Betrachter heraus aus dem Drang
und der Mühsal seiner Lebensaktualität." Auf diese Weise entsteht
"die wohlbekannte, jedem ästhetisch Empfindenden fühlbare Frei-
heit des Subjekts in der Betrachtung."9
Was nun die grundsätzliche Gültigkeit dieser Auffassung betrifft,
so ist zunächst zu bemerken, dass das Beglückende des Irrealen, des
Spiels, des Unernsten aus dem Kunsterlebnis tatsächlich nicht weg-
zudenken ist. Allein: diese Heiterkeit ist offenkundig kein Spezifikum
des Kunstgenusses. Schon das von Kant und Schiller in diesem Zu-
sammenhang verwendete Wort des "Spiels" weist darauf hin, dass
diese Art Freiheit in jeder Situation empfunden wird, in der wir aus
den praktischen Bezügen entlassen sind und unsere Tätigkeit ihren
Zweck einzig und allein in sich selbst hat.
Dass nach Hegel der subjektiven Komponente des Ästhetischen
mit dem Hinweis auf die Interesselosigkeit, auf die Gemütsfreiheit
in Wirklichkeit nicht Genüge getan wird und dass seine Lösung tat-
sächlich auf die Kunst zugeschnitten ist, dies gilt es im folgenden
darzutun.
ihrer Schöpfung schon haben müsste und doch noch nicht hat, weil
er es erst am Ende und in unserem Wissen bekommt." 14
Diese Schwierigkeiten verschwinden jedoch, wenn wir die uner-
laubte Hinausverlegung des menschlichen Geistes als solche erken-
nen und die Tendenz zum Fürsichsein aus der aussermenschlichen
Wirklichkeit zurückholen ins Anthropologische. Dort hat nämlich
die HegeIsche Erkenntnis, wonach es in der Natur des Geistes liege,
"Gnothi seauton zum Gesetze seines Seins zu haben" (7/447), em-
pirisch nachweisbare Gültigkeit.
Das Fürsichsein als menschliches Charakteristikum darf allerdings
nicht auf das im geläufigen Sinne verstandene Selbstbewusstsein re-
duziert werden. Es will nicht nur die Tatsache bezeichnen, dass das
Bewusstsein um seine Inhalte als um zu ihm gehörende weiss, dass
es sich in ihnen immer auch seiner selbst bewusst, dass es - mit
einem Wort - Ich ist. Die beiden Momente des Fürsichseins, das ob-
jektive, bewusstseinsunabhängige Beisichsein und das Bewusstsein
dieses Beisichseins (das eigentliche Fürsichsein) sind nämlich nicht
nur im formalen Verhältnis zwischen dem Ich und seinen Inhalten
aufzufinden, also darin, dass es sie ganz allgemein auf sich bezieht -
sondern auch in seiner Beziehung zum "Inhaltlichen" dieser Inhalte.
Der Mensch begnügt sich nicht damit, zu wissen, dass die Inhalte
seines Bewusstseins seine Inhalte sind; er möchte auch in diesen In-
halten selber - ob sie endogenen oder exogenen Ursprungs sind -
sich selbst wiederfinden. Dieses allgemein gefasste Beisichsein und
Bewusstsein des Beisichseins, dieses bewusste Sich-selbst-Haben im
Anderen ist nun nichts anderes als die Freiheit. In diesem Sinne ist
der HegeIsche Ausspruch zu verstehen: "Die Freiheit ist die höchste
Bestimmung des Geistes." Der menschliche Geist, der Mensch als
Selbstbewusstsein hat die grundlegende Tendenz, in allem ihm Be-
gegnenden "nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke ... , son-
dern sich selber" finden zu wollen (Äj134).
Hegel versäumt es nicht, mit der Analyse der beiden Haupttätig-
keiten des Menschen, der theoretischen und der praktischen, seine
anthropologische Grundthese empirisch zu untermauern. über das
theoretische Begreifen als Akt der Befreiung lesen wir bei ihm fol-
gendes: "Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine
fremde Welt, ein Drüben und Draussen, von welchem er abhängt,
ohne dass er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und da-
14 a.a.O., S. 62.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 87
durch in ihr als in dem Seinigen bei sich selber wäre. Der Trieb der
Wissbegierde, der Drang nach Kenntnis, von der untersten Stufe an
bis zur höchsten Staffel philosophischer Einsicht hinauf, geht nur aus
dem Streben hervor, jenes Verhältnis der Unfreiheit aufzuheben und
sich die Welt in der Vorstellung und im Denken zu eigen zu machen"
(A/135). Ob nun dieses Begreifen auch ein Ein-greifen in die gegen-
ständliche Welt bedeutet oder nicht - auf jeden Fall handelt es sich
bei der Erkenntnis um die Bestätigung der allgemeinen "Rationali-
tät" alles Wirklichen, um die Entdeckung einer Korrespondenz zwi-
schen menschlicher Vernunft und objektiver Wirklichkeit: um Bei-
"sich"-Sein.
Der Mensch hat aber auch den praktischen Trieb, "in demjenigen,
was ihm unmittelbar gegeben, was für ihn äusserlich vorhanden ist,
sich selbst hervorzubringen und darin gleichfalls sich selbst zu er-
kennen. Diesen Zweck vollführt er durch Veränderung der Aussen-
dinge, welchen er das Siegel seines Innern aufdrückt und in ihnen
nun seine eigenen Bestimmungen wiederfindet ... Und nicht nur mit
den Aussendingen verfährt der Mensch in dieser Weise, sondern
ebenso mit sich selbst, seiner eigenen Naturgestalt, die er nicht lässt,
wie er sie findet, sondern die er absichtlich verändert" (Aj75). Diese
Tendenz des Menschen, seine Umgebung zu vermenschlichen, sein
Wunsch, in ihr heimisch werden zu können, lässt sich aber nicht nur
in Handlungen nachweisen, die kein anderes Ziel verfolgen als eben
das Fürsichsein (Hegel erwähnt hier das Beispiel des "Putzes und
Schmuckes" sowie des Knaben, der "Steine in den Strom wirft und
nun die Kreise bewundert, die im Wasser sich ziehen, als ein Werk,
worin er die Anschauung des Seinigen gewinnt"). Sie ist im Grunde
genommen in jeder menschlichen Strebung, jeder Wollung nachweis-
bar, ist doch jede Befriedigung - über die Befriedigung des spezifi-
schen Bedürfnisses hinaus - immer auch ein Sich-zusammen-Schlies-
sen mit sich selber, ein Antreffen des Seinigen (des Gewollten) im
Wirklichkeit gewordenen Zweck.
Die Bedeutung, die diese Tendenz zum Fürsichsein für unser
Thema besitzt, besteht nun darin, dass sie den allgemeinen Grund
für das Bedürfnis zur Kunst abgibt. Denn wenn der Mensch Kunst-
werke schafft, so ist dies doch nur eine bestimmte "Weise der Pro-
duktion seiner selbst in den Aussendingen" , und der Genuss, der ihm
daraus erwächst, ist zunächst der allgemeine, den ihm jede Selbstbe-
gegnung bereitet.
88 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
76; N. Hartmann, a.a.O., S. 286; Bloch, a.a.O., S. 253, 275; sowie Barth, Philo-
sophie der Erscheinung, Bd. n, S. 606. - Eben wegen der notwendigen Unvoll-
kommenheit der "Realität" misst Hegel dem Schönen in der belebten Natur
untergeordnete Bedeutung bei und verwirft die Nachahmung in ihrer engen, auf
das Nachahmen des Gegebenen beschränkten Bedeutung. Auf der Hegeischen
Unterscheidung zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" beruht übrigens auch
die Lukacs'sche Dichotomie von "Realismus" und "Naturalismus". Vgl. noch
Bernard Teyssedre, L'esthetique de Hegel, Paris 1958, S. 27.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 91
mit der gegebenen Welt und in diesem Sinne wohl "Flucht" und
Verwirklichung eines "Traumes". Aber diese Flucht führt nicht in
eine der Wirklichkeit fremde Traumwelt, sondern zurück zur eigent-
lichen, wahrhaften Wirklichkeit. 18 Die Hegeische "Kunst" lässt uns
nicht (oder doch nicht notwendig) an der Verwirklichung erotischer
oder ehrgeiziger Wünsche teilhaben, wie die von Freud gemeinte es
tut; sie schliesst die notwendigen Bezüge der menschlichen Situation
- mithin auch alles Negative am Dasein - überhaupt nicht aus. Im
Gegenteil, sie stellt auch Schmerz und Leid, als dem Menschen not-
wendig Mitgegebenes, mit letzthinniger Konsequenz in die Sinnlich-
keit heraus. In der Totalität der Kunst muss der Mensch nach Hegels
Auffassung auch in seiner psychischen und sozialen Not thematisch
werden - sofern er nur von seiner "ontischen Not" befreit ist. Die
Kunst mag also sehr wohl eine Welt der "Träume" sein, aber es sind
Träume über die Verwirklichung der Wirklichkeit. 19
Nach dem Vorangehenden sind wir nunmehr imstande, vom Äs-
thetischen eine Subjekt und Objekt gleichermassen umfassende De-
finition zu geben: Es ist das Fürsichsein des Menschen in seiner sinn-
lichen Freiheit.20 Damit wird das Ästhetisch-Sein eindeutig als sekun-
18 Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 375: " ... das Ideal ist ... nicht wirklichheits-
fremd. Es ist vielmehr das eigentlich Wirkliche ..." In diesem Sinne ist etwa der
HegeIsche Ausspruch zu verstehen, wonach ein nur das Wesentliche heraus-
kehrendes Porträt "gleichsam getroffener, dem Individuum ähnlicher sei als das
wirkliche Individuum selbst" (Ä/787).
19 Um Freud Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss allerdings bemerkt
werden, dass er an vereinzelten Stellen seines Gesamtwerkes doch auch dem Un-
lustvollen in der Kunst Rechnung zu tragen versuchte, so z.B. in "Jenseits des
Lustprinzips" und "Zeitgemässes über Krieg und Tod" (Gesammelte Werke,
Bd. XIII bzw. X).Zu seiner Theorie der Kunst als Ersatzbefriedigung siehe u.a.
"Der Dichter und das Phantasieren" sowie seine XXXII. Vorlesung zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse (Bd. VII bzw. XI).
20 Auch Nicolai Hartmann merkt, dass sich nach Hegel die Notwendigkeit
der Kunst für das Subjekt aus der "Unvollständigkeit der Natur-Sphäre" ergibt
(a.a.O., S. 373f), dass also letzten Endes die Existenz der Kunst aus dem Frei-
heitsbedürfnis des Menschen zu erklären ist. Er leitet aber einerseits die Genuss-
haftigkeit der Kunst zur Hauptsache nicht aus dieser Freiheitsverwirklichung ab,
sondern aus dem bereits besprochenen "Enthobensein"; andererseits stellt er
nicht expressis verbis heraus - wie dies übrigens auch Hegel nicht tut -, dass das,
was wir in der ästhetischen Situation geniessen, eine potenzierte Freiheit, eine
emphatisch gemeinte Selbstbegegnung des Subjekts ist. Wohl spricht er von der
Verwirklichung der Freiheit in der Kunst, zeigt aber nicht auf, wie diese ausser-
halb der Kunst zur Freiheit führt. Umgekehrt fasst Lukacs in seinem Alterswerk
- ohne sich allerdings auf Hegel zu beziehen - die Kunst wohl als "Selbstbewusst-
sein des Menschengeschlechts", als "Fürsichsein" (Eigenart des Ästhetischen,
92 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
däre Qualität bestimmt: Erst im und durch den Menschen wird das
Ästhetische wirklich.
Inwiefern erfüllt aber diese Art Fürsichsein die HegeIsche Forde-
rung, wonach dem Freien seine eigene Freiheit auch bewusst sein
müsse? "Das Prinzip der Freiheit", so lesen wir in der "Ästhetik",
ist das "Sichwissen" (357); "ohne Bewusstsein der Freiheit gibt es
auch keine Freiheit." 21 Unsere Antwort geht nun dahin, dass gerade
das ästhetische Wohlgefallen die Form ist, in der die Freiheit dem
Subjekte bewusst wird. Die begriffsmässige Bewusstmachung dessen,
dass dieses Wohlgefallen an sich Freiheit "in der zweiten Potenz" ist,
bleibt allerdings der Theorie, der Ästhetik vorbehalten. Trotz dieses
Mangels an Bewusstheit, an begrifflicher Klärung bleibt aber die Tat-
sache bestehen, dass der Mensch der Kunst gegenüber nicht nur an
sich, ohne sein Wissen frei ist, d.h. dass er nicht nur bei sich ist, son-
dern sich im Kunstgenuss dieses Beisichseins bewusst wird, seine äs-
thetische Freiheit also selbst nach HegeIschen Masstäben echte Frei-
heit ist.
gesichert ist, ich desto mehr bei mir sein kann, das Werk mir desto
näher steht, je mehr die notwendige Besonderung des Allgemeinen
mit meiner Partikularität übereinstimmt. Fürsichsein, auf dem ja der
ästhetischen Genuss beruht, bedeutet nicht nur, dass ich mir als freiem
begegne und somit im tiefsten Sinne bei mir selber bin, sondern
"davor" auch dies, dass ich mir als Freiem begegne, dass also die
menschliche Innerlichkeit, die in der Kunst sinnlich befreit wird, auch
in ihren einzelnen Bestimmungen meinesgleichen ist. Und wie sehr
ich auch bestrebt sein kann und muss, meine Partikularität in den
Hintergrund zu drängen und mich auf das mir inwohnende Allge-
meine zu reduzieren - und zwar gerade um der ganzen geschicht-
lichen Breite des Ästhetischen erschlossen zu sein -, bleibe ich immer
und auf jeden Fall dieses partikulare Subjekt, dessen Freiheit in der
ästhetischen Situation auch davon abhängt, inwiefern es hinsichtlich
seiner Partikularität bei sich ist. 25
Da nun das Kunstwerk als sinnliches Dieses nicht weniger indivi-
duell ist als das rezeptive Subjekt, ist es unmöglich, dass der Mensch
in der ästhetischen Situation vollkommen bei sich sei. Als Indivi-
duum muss er im Inhalt immer auch Fremdes vorfinden, und dies
- seine und des Kunstwerks Individualität - bildet eine unübersteig-
bare Schranke seiner absoluten Freiheit.
Nach Hegel gibt es jedoch für die restlose Befriedigung des
menschlichen Freiheitsstrebens in der Begegnung mit dem Objektiv-
Ästhetischen noch grundsätzlichere Hindernisse.
Wir haben eingangs auf die emphatische Bedeutung des Wortes
"Idee" hingewiesen, auf die Tatsache, dass dieses Wort bei Hegel
nicht nur allgemein Einheit von Begriff und Realität bedeutet, son-
dern genauer die Verwirklichung des Geistbegriffes. Den Begriff des
Geistes haben wir in Anlehnung an Hegel als bewusstes Sich-selbst-
Haben im Anderen bestimmt, dessen erste wahrhafte Realisations-
form, das menschliche Selbstbewusstsein, als die in der Hegeischen
Definition des Ästhetischen gemeinte "Idee" herausgestellt wurde.
Im Laufe unserer Untersuchung hat es sich indessen ergeben, dass
das Ich als Form der Idee in der philosophischen Systematik nicht
nur "Vorgänger" hat - nämlich das Leben -, sondern auch "Nach-
folger", höhere Formen der Entsprechung zwischen Geistbegriff und
Realität. Im idealen Staat haben wir es ja nach Hegel, wie dies auf
26 Vgl. zu diesem Problem: Georg Lukacs, Die Eigenart des Ästhetischen,
Bd. I, S. 6llf.
FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION 97
S. 88f bereits angedeutet wurde, ebenfalls mit einer Form der Idee zu
tun: Das Ich ist hier nicht nur in dem Sinne Selbstbewusstsein, dass
ihm seine Inhalte als zu ihm gehörende gegeben sind, sondern auch
im allgemeineren Sinne, dass es sich im andern Ich seiner eigenen
Allgemeinheit, somit eigentlich seines tiefer gefassten Selbstes be-
wusst wird. Wie wir sehen, bedeutet die "Entwicklung" der Idee
einerseits eine Erweiterung des "Anderen" (von "Bewusstseinsinhalt"
zu "Mitmensch"), andererseits eine Vertiefung des Sich-selbst-Ha-
benden (vom Allgemeinen als zentralem Beziehungspunkt des Be-
wusstseins zum sittlich verstandenen Allgemeinen).
Aber auch das Objekt wie Subjekt umfassende Ästhetische, das
in die Hegeische Systematik unter der Bezeichnung "Kunst" einbe-
zogen wird, ist eigentlich nichts anderes als eine Stufe in der Ent-
wicklung der Idee. Auch hier geht es ja um ein bewusstes Sich-selbst-
Haben im Anderen, wobei es der sich zur Allgemeinheit des Pathos
abbauende Mensch ist, der im "Anderen", in der gesamten Welt der
Kunst als halb-ideeller Verwirklichung seiner sinnlichen Freiheit sich
selber anschaut.
Dieses Sich-selbst-Haben ist aber Freiheit, und unsere Frage geht
gerade dahin, ob nach Hegel diese angesichts der Kunst sich ver-
wirklichende Freiheit des Einzelmenschen noch übertroffen werden
kann, ob sie, mit anderen Worten, eine Grenze besitzt.
Hegels Antwort geht davon aus, dass auf der Stufe der Kunst we-
der das Subjekt noch das Objekt ihre letzte Wesenhaftigkeit erreicht
haben. Der Mensch, der mit der Kunst konfrontiert wird, verhält
sich bloss anschauend; das Kunstwerk als Repräsentant des Objek-
tiven ist bloss der anschaulich gewordene Inhalt einer konkreten
Subjektivität. Erst wenn in der dialektisch-unzeitlichen Entwicklung
- über die Religion - die Philosophie erreicht wird (worunter wohl-
gemerkt nur die Hegelsehe Philosophie zu verstehen ist), erst da wird
sowohl das Sich-selbst-Habende als auch das Andere zu dem, was
es eigentlich ist: zum Denken. Denn "das Wesen des Subjektes ist
das spekulative Denken; und das Wesen des Objekts ist auch speku-
latives Denken." 26 Hier wird die gesamte Wirklichkeit, die Totalität
aller Weltinhalte als dialektische Selbstentwicklung des Geistes be-
griffen, welche auf Selbstbewusstwerden ausgerichtet ist. Gerade
diese durch Negation der Negation sich ständig bereichernde Ent-
wicklung nennt Hegel Denken im objektiven Sinne. Der Begreifende,
26 lljin, a.a.O., S. 122.
98 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
Erlebten zugleich identisch und nicht-identisch ist. Das Ich ist näm-
lich dadurch gekennzeichnet, dass es einerseits unmittelbar erlebt,
andererseits um dies sein Erleben weiss und insofern Selbstbewusst-
sein ist. Die Nicht-Identität zeigt sich gerade in diesem Wissen-um:
Ich trenne meine Bewusstseinsinhalte von meinem Ich, beziehe sie
aber zugleich auf mich, wodurch etwa das Wissen entsteht: "Ich -
friere". Durch dieses Trennen und Beziehen wird nach Hegel eigent-
lich geurteilt, und das heisst: gedacht. Wir sehen indes, dass hier das
Wort "Denken" im uneigentliehen Sinne gebraucht wird, und es ist
fraglich, ob etwas dermassen Entscheidendes wie die Wesensbestim-
mung des Menschen auf den teils doch willkürlichen Gebrauch eines
Wortes gegründet werden könne.
Denken im uneigentlichen Sinne des Selbstbewusstseins könnte
aber auch gar nicht den Vorrang der Philosophie von der Subjekt-
seite her begründen, da diese Art "Denken" auch in der Begegnung
mit der Kunst mit am Werke ist. Wir kommen um die Annahme
nicht herum, dass nach Hegel das Denken im eigentlichen Sinne des
Wortes, genauer das "spekulative" Denken das Wesen des Menschen,
sein eigentlich zu verwirklichendes Ansieh ausmache. Notwendig
wird diese Hypothese für ihn dadurch, dass er die Wirklichkeit als
"Begriff" fasst und daher das der Kunst zugeordnete Erkenntnisver-
mögen, die Anschauung, als dem Ansieh der Wirklichkeit unange-
messen beurteilen muss. Erst wenn das Subjekt in der "Hierarchie
der Erkenntnisvermögen" (Lukacs) den aufwärts weisenden Weg
Anschauung-Vorstellung-Denken zurückgelegt hat, erst wenn es über
die Religion bei der Philosophie angelangt ist (all dies selbstverständ-
lich logisch-unzeitlich gedacht), erst dann wird "die Adäquatheit
zwischen Gegenstand und Form des Wissens" hergestellt. 29 In der
Kunst wird der Geist noch als freier Mensch angeschaut, nicht als
Gedanke begriffen. Deswegen ist "die schöne Kunst nur eine Be-
freiungs-Stufe, nicht die höchste Befreiung selbst" (10/452).
Wie fragwürdig es jedoch ist, den verschiedenen Formen des Welt-
erlebens einzelne, die übrigen ausschliessende "Erkenntnisvermögen"
zuzuteilen, darauf hat bereits Goethe hingewiesen. 3o Seine Auffas-
29 N. Hartmann, a.a.O., S. 148.
30 Vgl. Georg Lukacs, "Das ästhetische Problem des Besonderen in der Auf-
klärung und bei Goethe", in: Festschrift für Ernst Bloch, Berlin 1955, S. 223:
" ... für Goethe ist in Leben, Wissenschaft und Kunst gleichermassen der ganze
Mensch, mit Einsatz aller seiner seelischen Flihigkeiten, das notwendige Subjekt
für die Rezeption und Reproduktion der objektiven Wirklichkeit."
100 FREIHEIT IN DER ÄSTHETISCHEN SITUATION
des Menschen in der Kunst lässt sich wenigstens in dem Sinne a pos-
teriori nachweisen, dass menschliche und ästhetische Erscheinungen
vom Begriff der Freiheit her zufriedenstellend interpretiert, rational
"erklärt" werden können. Hier, der Kunst gegenüber, scheint die
Freiheit des Menschen gesichert zu sein, und wir können dem Dik-
tum von Georg Lukacs nur beipflichten, das Ästhetische sei die
"adäquateste Form für die Äusserung des Selbstbewusstseins der
Menschheit." 38
Dass aber selbst diese adäquateste Form keine vollkommene ist,
dass der Mensch nicht einmal in ihr absolut bei sich sein kann, liegt
ausser in der bereits erwähnten Individuiertheit von ästhetischem
Subjekt und Objekt darin, dass auch die von der Kunst gewährte
Freiheit keine vollends reale ist. Bei aller Gleichheit von geniessen-
der und genossener Subjektivität ist in der Begegnung mit der Kunst
immer auch Ungleichheit - und zwar trotz der Illusion auch tür uns
seiende Ungleichheit - vorhanden: Der Mensch steht zwar einem
freien, aber keinem wirklichen Menschen gegenüber. Dass die Frei-
heit des Menschen in der ästhetischen Situation diese unaufhebbare
Schranke besitzt, oder anders: dass die Freiheit des Inhalts "ge-
macht" werden muss, ist natürlich eine direkte Folge dessen, dass der
Mensch in der Realität nicht frei sein kann. Wenn dem nämlich nicht
so wäre, brauchte der Mensch nichts Künstliches hervorzubringen,
um frei zu sein: Er könnte in jedem Augenblick, in jedem Aspekt
seines realen Daseins seine Freiheit geniessen. Der Mangel der Kunst
gründet im Mangel der Realität, und die Kunst als Befreiendes zu
übertreffen wäre allein eine kunstvolle, ästhetische Wirklichkeit im-
stande.