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Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im


außermoralischen Sinne
al
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Der deutsche Philosoph Friedrich


Nietzsche (1844–1900) zählte zu dend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: Der
den einflussreichsten Persönlichkei- Stein ist hart: als ob uns „hart“ noch sonst bekannt
ten des ausgehenden 19. Jahrhun- väre, und nicht nur als eine ganz subjektive Reizung!
derts. In seiner bereits 1873 ven Wir teilen die Dinge nach Geschlechtern ein, wir be-
fassten,jedocherst1896 zeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als 35
veröffentlichten Schrift„Über eiblich: Welche willkürlichen Übertragungen! Wie
hinausgeflogen über den Kanon der Gewissheit!
Wahrheit und Lüge im außermora- wireit reden von einer „Schlange": Die Bezeichnung
lischen Sinne" stellt er den Wahr-
heitsanspruch der Sprache als einer trifft nichts als das Sichwinden, könnte also auch
dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen Ab- 40
der Ersten seiinfrage.
grundlegend ner ZeiDietgenossen
Schrift grenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald
der, bald jener Eigenschaft eines Dinges! Die ver-
markiert deshalb
intensiven den über
Diskurses n einesschiedenen Sprachen, nebeneinandergestellt, zei-
BeginSprach-
kritik und Sprachskepsis um die Jahrhundertwende. gen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie
f einen adäquaten Ausdruck ankommt: Denn 45
|.) Jetzt wird (..) das fixiert, was von nun an „Wahr-
gäbe es nicht so viele Sprachen. Das „Ding an
ch" (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit
heit" sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich
gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge er- und ganz und gar nicht erstrebenswert. [..)
funden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch Denken wir besonders noch an die Bildung der Be- so
s die ersten Gesetze der Wahrheit: Denn es entstehtgriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es
hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und eben nicht für das einmalige ganz und gar individu-
Lüge. Der Lügner gebraucht die gültigen Bezeich-alisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt,
nungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich
erscheinen zu machen; er sagt zum Beispiel: „Ich bin für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, das heißt ss
1o reich“, während für seinen Zustand gerade „arm" die streng genommen niemals gleiche, also auf lauter
richtige Bezeichnung wäre. Er missbraucht die festen ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begrif entsteht
Konventionen durch beliebige Vertauschungen oder durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiss nie
gar Umkehrungen der Namen. [.J (Wie steht es mitein Blatt einem andern gleich ganz ist, so gewiss ist
jenen Konventionen der Sprache? Sind sie vielleichtder Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser 60
is Erzeugnisse der Erkenntnis, des Wahrheitssinnes, de- ndividuellen Verschiedenheiten, durch ein Verges-
cken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist diesen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun
Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten? die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blät
Nur durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazutern etwas gäbe, das „Blatt" wäre, etwa eine Urform,
kommen zu wähnen, er besitze eine „Wahrheit“ in nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, 65
dem eben bezeichneten Grade. Wenn er sich nichtgefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von unge-
mit der Wahrheit in der Form der Tautologie', dasschickten Händen, sodass kein Exemplar korrekt
heißt mit leeren Hülsen begnügen will, so wird er ad zuverlässig als treues Abbild der Urform ausge-
ewig Illusionen für Wahrheiten einhandeln. Was istfallen wäre. [..J Was ist also Wahrheit? Ein bewegli-
ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lau-ches Heer von Metaphern, Metonymien , Anthropo- 70
s ten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen aufmorphismen , kurz eine Summe von menschlichen
eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einerRelationen, die, poetisch und rhetorisch gesteiger
falschen und unberechtigten Anwendung des Satzesübertragen, geschmückt wurden und die nach lan-
m Grunde. Wie dürften wenn die Wahrheit gem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und ver-
bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt derbindlich dünken: Die Wahtheiten sind Illusionen, 7:
Gewissheit bei den Bezeichnungen allein entschei-
Metonymie = rhetorische Figur, bei der ein Wort dur
Tautologie = im Bereich der Logik eine Aussage, die unab- anderes ersetzt wird, das eigentlich eine andere Bedeutung
hängig vom Wahrheitswert ihrer einzelnen Bestandteile im- hat, aber in enger Beziehung zu dem ursprünglichen Aus
druck steht und somit im übertragenen Sinn dasselbe meint
mer zutreffend ist (z. B. „Es regnet oder es regnet nicht.") (z. B. „das Eisen" für „ das Schwert")
hesis = Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose; hier: Anthropomorphismus = Vermenschlichung
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Zusatzmaterial
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worden sind, Münzen, die ihe Bild verloren habenandeutende Übertragung, eine nachstammelnde
als Metall, nicht mehr als Münzen, in BeUbersetzung
pdchtnunkomme aber jedenfallsin einer
eine ganz fremde Sprache:
frei dichtenden und freiWozuerfin.
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Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zurdenden Mittelsphäre und Mittelkvaft bedarf. Das i
vahrheit stammt: Denn bis jetzt haben wir nur vonWort „Erscheinung" enthált viele Verfühnungen,
der Verpflichtung gehört, die die Geselischaft, um zuweshalb ichdases möglichst
Wesen dervermeide:
Dinge in Denn es ist nicht
der empirischen
kistieren, stellt: wahrhaft zu sein, das heißt die usu- vahr, das
eller Metaphem
un drückt: zu brauchen, ao monaisch ageWelt escheint. Ein Maler, demn die Hiinde feblen und
von der Verpfichtung, nah einer festen Kon-der durch Gesang das ihm vorschwebende Bild aus-
ation zu lügen, herdenweise in einem für alledricken wollte, wird immer noch mehr bei dieser
verbindlichen Stile zu lügen. ..) Vertauschung der Sphären verraten, als die empiri.
Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapher-sche Welt vom Wesen der Dinge verrät. Selbst das
* welt, nur durch das Hart- und Starwerden einer ur-Verhältnis eines Nerventeizes zu dem hervorge
sprünglichen, in hitziger Flüssigkeit aus dem Urver-brachten Bilde ist an sich kein notwendiges: Wenn 1a
ögen menschlicher Fantasie hervOorströmendenaber dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht
ildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben,und durch viele Menschengeschlechter hindurch
diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahr-vererbt ist, ja zuletzt bei der gesamten Menschheit
« heit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sichjedes Mal infolge deselben Anlasses erscheint, so be.
als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Sub-kommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeu- 18
jekt, vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und tung, als ob es das einzig notwendige Bild sei und als
Konsequenz: Wenn er einen Augenblick nur aus denob jenes Verhältnis des ursprünglichen Nervenreizes
Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte,zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Kausalitäts-
no 50 wäre es sofort mit seinem „Selbstbewusstsein“verhältnis sei: wie ein Traum, ewig wiederholt,
vorbei. (.) DJer adäquate Ausdruck eines Objekts durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurteilt 1
im Subjekt - ein widerspruchsvolles Unding: Dennwerden würde.
zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie AUs: NieuZSC e, FrieanCn U0er WVai IInen uITu Luye uI auIseItO aSCIen Slrine.

zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausali-sohlechta,Nar: Fredich Nietzche. Wierte in drei
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suell = gängig, gebräuchlich, üblich

1. Fassen Sie Friedrich Nietzsches zentrale Thesen, die Anlass zur Sprachskepsis geben, zusam-
men. Erläutern Sie in diesem Zusammenhang auch den Titel seiner Schrift.
2. Lesen Sie Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich fürchte nmich sO vor der Menschen Wort" (Schüler.
arbeitsheft, S. 60) emeut und vergleichen Sie die Sichtweisen beider Dichter.

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