Sie sind auf Seite 1von 11

Shoshana Felman

Im Zeitalter der Zeugenschaft:


Claude Lanzmanns Shoah

Geschichte und Zeugen oder die Geschichte eines Eides

Hätte jemand anders meine Geschichten schreiben können«,


schreibt Elie Wiesel, »dann hätte ich sie nicht geschrieben. Ich
habe sie geschrieben, um Zeugnis abzulegen. Meine Rolle ist die
Rolle des Zeugen. . J Nicht zu erzählen oder eine andere Ge-
schichte zu erzählen, [..] das hiefße Meineid ablegen.«1
Zeugnis ablegen heifßt, Verantwortung für die Wahrheit zu
übernehmen: Es bedeutet implizit, aufgrund des juristischen Ge-
botes und aus der gesetzlichen Verptlichtung zu sprechen, welche
dem Zeugen mit dem Eid auferlegt sind.2 Etwas zu bezeugen - e t

was vor einem Gerichtshot oder dem Gericht der Geschichte und
der Zukunft oder vor einem Publikum von Lesern oder Zuschau-
ern zu bezeugen - bedeutet mehr als einfach bloß Fakten oder
Ereignisse wiederzugeben oder sich auf das Gelebte, Aufgezeich-
nete und Erinnerte zu beziehen. Das Gedächtnis wird heraufbe-
schworen, um einen anderen anzusprechen, um an einen Zuhörer
zu
appellieren, um bei einer Gemeinschaft Anhörung zu finden.
Zeugnis abzulegen bedeutet im übertragenen
Sinn auch immer, in
den Zeugenstand zu treten oder die Position des Zeugen einzu-
nehmen, insofern der Bericht des Zeugen zugleich einen An-
spruch erhebt und durch einen Eid gebunden ist. Etwas zu bezeu-
gen heist demnach nicht bloí, etwas zu erzählen, sondern sich
anderen gegenüber zu verpflichten
und ihnen das Erzählte zu
uberantworten: im und durch das Sprechen selbst Verantwortung
Zu übernehmen für die
Vermittlung der Geschichte und für die
Wahrheit eines Geschehens, für etwas, das seinem Wesen nach
Grenzen des Persönlichen überschreitet und die
allgemeine (nicht-
persönliche) Gültigkeit und Konsequenzen hat.
Elie Wiesel, »Die Einsamkeit Gottes«, in: Dvar Hashavu'a (Magazinbeilage
der
Zeitung Davar), Tel Aviv 1984. Nach der
von Shoshana englischen EErstübersetzung
der englischen
Felman ins Deutsche übertragen.
2Die
*Die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit«s
cin Eid
allerdings, der seinem Wesen nach immer für Meineid antällig ist.
173
jedoch u
ihrem Wesen nach
desorientierende Wahrnehmung der
Wenn die Zeugenaussage werfen, bietet der Film eine
folgende
Buchstaben des Gesctzes und
lich ist (um eine den der Geschu. csen Gegenwart, einen tietgründigen
und überraschenden Einblick
des Richters oder die zwischen
deutende Entscheidung von bezwingender Logik in komplexe Beziehung
der Begebenheiten zu ermöglichen r
über den wahren Verlaut Geschichte und Zeugenschaf.
rekonstruiert werden kann, Wie dic Geschi. was es heißt,
damit objektiv hte Shoah ist ein Film über Zeugenschaft: darüber,
unabhangig vom Zeugen verliet), wie kommt es dann, die zu werden und zu sein. Was in diesem
Zeuge einer Katastrophe
Rede des Zeugenso cinz1gartig unersetzbar Ist?
und buchstablich
Film bezeugt wird, s1nd Grenzertahrungen,
deren überwältigen-
»Hätte jemand anders meine Geschchten schreiben könn
nnen, die Wahrnehmung des Zeugen und seine Fähigkeit,
der Eindruck
dann häte ich sie nicht geschrieben.«
Was bedeutet es, dak oi Zeugnis abzulegen, ständig
auf die Probe stellen. Dabei werden
als Zeugn1s zu gelten, nicht eintach von eincr anda gleichzeitig die Grenzen der
Wirklichkeit erschüttert und in
Zeugnis, um

ren Person abgelegt


oder wiedergegeben werden kann? Was ha Frage gestellt.
-oder Geschichte als solche- nicht
deutet es, dafß eine Geschichte
von jemand anderem erzählt werden kann?
Kunst als Zeuge
Diese Fragen bestimmen m. E. die bahnbrechende Arbeit von
Claude Lanzmann in seinem Film Sboab. In 1hnen formuliert sich Kunst und Zeu-
das Grundanliegen des Films, dessen schockierende Einzigartig Shoah ist auch ein Film über das Verhältnis von
der
keit sie zugleich ausmachen. genschaft, über Film als ein Medium, das die Möglichkeiten
Shoah verstehen, ist es n o t -
Zeugenschaft erweitert. Damit wir
Frage ergründen: Wovon sollen wir als
-

wendig, die folgende zu

Zuschauer des Films -


werden? Diese Ausweitung des-
Zeugen
Eine Vision von Wirklichkeit
sen, wovon wir zu Zeugen werden können, beruht jedoch nicht
aut einer Wiederholung der Ereignisse, sondern aut der Wir-
Shoah ist ein Film, der sich ausschliefslich aus Zeugenaussagen zu-
sammensetzt: Aussagen erster Hand von Zeugen, die an der hi- kungskraft des Films als Kunstwerk: Sie beruht auf der Subtilität
seiner philosophischen und künstlerischen Struktur und auf der
storischen Ertahrung des Holocaust teilgenommen haben und
Von Lanzmann während der elfjährigen Filmproduktion (1974 Komplexität des kreativen Prozesses, den er autnimmt. »Die
Wahrheit tötet die Möglichkeit von Fiktion«, sagte Lanzmann in
1985) interviewt und gefilmt wurden.Tatsächlich ruft Shoah den
Holocaust mit einer solchen Eindringlichkeit wieder ins Leben
einem Interview.3 Aber die Wahrheit tötet nicht die Möglichkeit
von Kunst - im Gegenteil, sie benötigt Kunst für ihre Vermitt
- einer Eindringlichkeit, die kein Film zu diesem Thema zuvor e r
lung, in unser Bewufßtsein
um einzudringen und uns dabei zu
reichthat, dafß der Film nicht nur herkömmliche Vorstellungen, Zeugen werden zu lassen.
die
wir uns gemeinhin vom Holocaust machen, radikal verschiept Und schließlich verkörpert Shoah das Vermögen der Kunst.
und erschüttert, sondern auch unsere eigene Wahrnehmung dcr nicht einfach nur Zeuge zu sein, sondern selbst den Zengenstand
Kealitat, unser Verständnis davon, worum es in der Welt, Kultur
und
Geschichte und in
einzunehmen: Der Film übernimmt Verantwortung tür seine
unserem Leben überhaupt geht, rad Leit, indem er die Bedeutung Zeitalters als ein Zeitalter
unseres
verändert der Zeugenschaft herausstell; ein Zeitalter, in die
Aber der Film ist nicht einfach und nicht in erster Linie en hi dem Zeugen-
storisches Dokument des t er
schaft selbst einmassives
Trauma erlitten hat. Sboah macht
uns
zu
Holocaust. Deswegen verwig Leugen einer bistorischen Krise der Zeugenschaft und zeigt, wie
SIch konsequent und ganz im Gegensatz zu seinen VorlaufeT
icher Verwendung von historischen Filmaufnahmen una
fotos. Sämtliche Interviews und Bilder in Shoah entstamn
ider The Record, 25. 10. 1985; ein Interview mit Deborah Jerome (~Resurrecting
Gegenwart. Statt einen einfachen Blick auf die Horror: the Man behind Shoah«).
zu

174
Vergangen 175
durch und über diese Krise hinaus das Zum-Zeugen-Werden
Zur oder andere Weise den Prozes der Wahrheitsfindung verbessern
kritischen Handlung (in jeder Bcdeutungdes Wortes)
sollen. Entscheidender als alle diese Aspekte - und möglicher-
Auf all diesen verschiedenen benen stellt Claude Lanzmans
unablässig die eine Frage: Was bedeutet es, Zeuge zu sein? Was he. weise entscheidender als all diese Faktoren zusammen - ist die Be-

deutet es, ein Zeuge des Holocaust zu sein? Was bedeutet weiskraft des Augenzeugenberichts.
Zeuge des Films zu sein? Was bedeutet Zeugenschaft, wenn es, Film ist in dieser Hinsicht die Kunst par excellence, die, wie das
nicht einfach w i e wir im allgemeinen annehmen - das Beobac Gericht (allerdings für andere Zwecke), zur Augenzeugenschaft
ten, Registrieren und Erinnern eines Ereignisses ist, sondern eine aufruft. Wie reflektiert der Film als visuelles Medium über Au-

vollig einzigartige und unersetzliche topographische Stelluno- genzeugenschatt, über Augenzeugenschaft als Maßstab der Be-
weiskraft seiner eigenen Kunst wie auch als Gesetz der Beweis-
nahme in bezug auf dies Geschehen? Was bedeutet Zeugenschaft, kraft von Geschichte?
wenn sie auf der Einzigart1gkeit der narrativen Durchfübrung ei
ner Geschichte beruht - auf der Tatsache, dafß - ähnlich wie heim

Eid, der von niemand anderem abgelegt werden kann niemand Opfer, Täter und Zuschauer: Uber das Sehen
-

anders sie auf diese Weise darstellen kann?


Weil Zeugenschaft einzigartig und nicht austauschbar ist, ergrün-
det Lanzmanns Film die Unterschiede zwischen heterogenen
Das westliche Gesetz der Evidenz Standpunkten bzw. den Positionen der Zeugen, die einander we-
der angeglichen noch untergeordnet werden können. An erster
Die Einzigartigkeit des Sprechaktes der
Zeugenaussage ergibt Stelle geht es in dieser Hinsicht um die unterschiedlichen Per-
sich aus dem nicht austauschbaren Sehakt des Zeugen - sie beruht spektiven dreier Gruppen von Zeugen oder dreier Gruppen von
auf der Einzigartigkeit des Blicks des Zeugen, der »etwas mit ei- Befragten, um historische Akteure, die, in Antwort aut Lanz-
genen Augen sieht«, »Herr Vitold«, sagt der Vorsitzende des Jü- manns
Fragen, als einzigartig reale Schauspieler des Films sich
dischen Bundes zu dem polnischen Kurier Jan Karski, der 35 selbst spielen. Sie lassen sich drei
Jahre spater in seinem filmischen Zeugnis erzählt, wie der Vorsit-
grundlegenden Kategorien zu-
ordnen: jene, die die Katastrophe als deren Opfer
zende des Bundes ihn
bezeugten (die
gedrängt und
überzeugt hat, ein
entscne überlebenden Juden); jene, die die Katastrophe als Täter bezeug-
denderAugenzeuge (unter dem Decknamen Vitold) zu weraen. ten (die ehemaligen Nazis); jene, die die Katastrophe als Z
Herr Vitold, ich kenne den Westen. Sie werden mit den Englän- schauer bezeugten (die Polen). In dieser
dern verhandeln. [. ..] Ich bin mir sicher, daß Sie überzeugender nicht einfach nur um eine
Unterteilung geht es
Verschiedenheit von Standpunkten
Wirken, wenn Sie sagen können: Ich habe es mit eigenen Auge oder um unterschiedliche Grade der
gesehen (S. 23o). Verwicklung und emotiona-
len Beteiligung, sondern vielmehr um die
In der juristischen, philosophischen und epistemologischca schiedener topographischer und Unverembarkeit ver
kognitiver Positionen, deren
Iradition der westlichen Welt liegt der Zeugenschaft das Auge Diskrepanz nicht überbrückt werden kann. Um es konkreter aus-
Zeugnis zugrunde. Der »Augenzeugenbericht« hat im Geric zudrücken: Die Kategorien im Film bringen die Unterschiede m
saal die der
grolfßte Beweiskraft. »Es gibt unzählige Regeln, was Ver- Durchführung des Sehakts zum Vorschein.
der
mutungen, den Charakter des Angeklagten oder Zeugen ou
der
Meinungsäulserungen des Zeugen u. ä. betrifft, die alle aur ae eine s Vgl. John Kaplan, »Foreword« to Elizabeth F. Lottus, Eyewiiness Testi
mony, Cambridge/Mass. 1979, S. VII.
4
In:1Claude Lanzmann,] Shoab [Text Film), Düsseldort
6
Aategorien, die Lanzmann aus Hilbergs historischer Analyse bezieht, die
genden Zitate zum
1g80 der Filmjedoch bestechend verkörpert und neu bedenkt.
Filmmanuskript bezien hgaben
dem
aus
auf
aese A vollständigen
usgabe und werden Vgl. Raul Hilberg.
ater, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der europaischen
(in Klammern) versehen. im folgenden noch mit den Seitena"b" Juden 1933 -45
nur
Frankfurt/M. 1994
176
177
Opfer, Zuschauer und Täter sind danach nicht so sehr
durcl schirmt. Franz Suchomel, ein ehemaliger Aufseher in Treblinka,
das unterschieden, was sie tatsachlich sehen; was sie alle seb
aus unterschiedlichen D sagt d a z u aus:
wenn auch nicht gleichzeitig und
tiven, kommt in der Tat logisch letztendlich zur Deckung. Sie spek- Stacheldraht, und in den Draht var hineingeflochten, so dicht,
un-
erecheiden sich vielmchr dadurch, was und wie sie nicht sehen
hen, Zweige von Bäumen, von Fohren ..Waldbaume, sogenannte Tar-
da alles verdeckt, alles, alles. Die sahen nicht
und dadurch, wie sie als Leugen versagen. Die Juden sehen, aber nung. [...]Und war aus,

sie verstehen nicht den Zweck und die Bestimmung dessen, Was die konnten nicht links und nicht rechts sehen, gell. Gar nichts. Da
sie sehen: Uberwältigt durch Verlust und Täuschung, sindsie konnte man nicht durchschauen |... unmöglich.« (S. 151)
blind gegenüber der vollen Bedeutung deSsen, was sie sehen. Ri
Es ist kein Zufall, dafs es für uns als Zuschauer des Films während
chard Glazar schildert cindrucksvoll einen Moment, in den sehen, der
dieser Zeugenaussage schwer 1st, Zeugen ge-
zu

Wahrnehmung und Unverstandnis gekoPpelt sind. Er steht ex wurde: Wie die meisten der Ex-Nazis in Shoah er-
heim gefilmt
emplarisch für das Scheitern der Juden, die visuellen Zeichen und Lanzmanns Fra-
klärte sich Franz Suchomel z w a r einverstanden,
werden; er war also
offensichtliche Bedeutung zu lesen oder zu entzitftern, obwohl sie gen zu beantworten,
wollte aber nicht gefhlmt
z u machen, aber n u r unter der
diese mit ihren eigenen Augen sehen: einverstanden, eine Zeugenaussage
Bedingung, dais e r als Zeuge
nicht gesehen werde:
Der Zug, auf einmal, ist ganz langsam von der Hauptstrecke abgebo-
Sie im Moment, wir reden
gen und fuhr ganz, ganz langsam
durch einen Wald. Und als wir also »Herr Suchomel, wir reden gar nicht über
haben, das Fenster haben wir doch leicht geöffnet, der nur über Treblinka. Sie
sind ein sehr wichtiger Augenzeuge, und Sie
hingeschaut
Alte in unserem hat einen gesehen, das warsoein...Hat...dort
Abteil können erklären, was Treblinka w a r
Namen.
haben Kühe geweidet... und den Jungen so getragt, aber mit Ge-
nur Aber bitte nennen Sie nicht meinen

sten, wo wir sind. Und der hat


was... eine
so komische Gestegemacht, Nein, nein, ich habe es versprochen.« (S. 78)
so, am Hals. [...] die mit einer
In den verschwommenen Bildern der Gesichter,
Undjemand in dem Waggon bat gefragt... mehrere Wände durchdringenden, geheimen Kamera autgenom-
er hat
Und jemand hat also nicht gefragt, n u r Gesten, hat gezeigt, dals der Holocaust
Geste m e n werden, macht der Film konkret sichtbar,
getragt mit Gesten, was da los ist? Und der hat eben diese ge die Täter
Aur- ein historischer Anschlag auf das Sehen w a r und dats
nicht
macht. Also das da. Wir haben dem aber überhaupt nicht grofse
so
erklaren.« selbst heute noch im grofßen und ganzen unsichtbar sind:
merksamkeit geschenkt, oder wir konnten u n s das
(S. 51 f.) »Und da war alles verdeckt, alles, alles. Die sahen nicht [herJaus,
die
Da konnte
konnten nicht links und nicht rechts sehen, gell. Gar nichts.
Anders als
die Juden, sehen die Polen, aber als nebenstehende
schauer blicken sie nicht wirklich hin, sie vermeiden es, au man nicht durchschauen.« (S. I51)
hinzusehen, und daher überseben sie zugleich ihre VerantWOl
tung und ihre Komplizenschaft als Zeugen:
Man konnte von dieser Seite aus nichts sehen. Man konnte mit dden Figuren*7
Juden nicht sprechen. |...] die eigene Absicht -und
Haben Sie trotzdem
geschaut? Die Nazis beabsichtigen, sich selbst und sollen unsichtbar
Ja, Lastwagen kamen hierher, und hat
uden
anschließend die Ju dieJuden unsichtbar zu machen. Die Juden
-

man
werden, nicht nur,
Weltertransportiert. Man konnte das sehen, aber heimlich!« (S. 1347 gemacht werden, nicht nur, indem sie getötet werden,
ndem sie in »getarnte«, unsichtbare Todeslager gesperrt
uch
Die Nazis andererseits sehen zu, daß sowohl die Juden
deslager
die Vernichtung ungesehen, unsichtbar bleiben: Die Todesi 7 Mit Sternchen Deutseh im Original.
Sind zu diesem Zweck durch eine Wand ge
von Bäumen"b 179
178
sondern auch, indem selbst die Materialität der toten
Rauch und aufgeht. Die radikale
Asche Undurchdringlichkei n »Haben Sie diese Vergasungswagen gesehen?
fuhren ja immer vorbei über die Strafße. Aber
Anblicks der toten Körper wie auch die linguistische Refere des Nein. Von aufSen ja, die Ich hab
habe ich ja nie. Ich habe nie Juden drin gesehen.
Wortes Leiche« wird aufserdem durch die Transparen z des reingesehen
das Aulaere gesehen.« (S. I16)
einer rei- nur
nen Form und der Rhetorik einer blofsen igur buchstäblicha
gehoben: ein entkörpertes, verbales Substitut, das auf abstrakt
Weise das sprachliche Gesetz unendlicher Austauschbarkeit nd
Ersetzbarkeit bezeichnet. So werden die toten Körper auf snra
Das unbezeugte Ereignis
licher Ebene unsichtbar gemacht und ihrer Substanz und Beson prach der Haltungen von Opfern, Zuschauern und
So hat die Vielfalt
derheit enteert, indem der Nazijargon sie als krguren* behandelt: die Unvereinbarkeit ihrer ver-
Tatern als Zeugen paradoxerweise
als das, was nicht gesehen werden kann oder durch das man hin- Positionen des Nichtsehens gemein-
schiedenen und besonderen
durchblicken kann. radikale Divergenz ihrer topographischen, emotionalen
sam, die
nicht eintach als Zeugen, son-
Die Deutschen hatten sogar gesagt, daiS es verboten war, das Wort und epistemologischen Positionen
im
Toter oder das Wort Opter« auszusprechen, sie wären nichts als dern als Zeugen, die nicht bezegen, die den Holocaust als ein
Holzklötze, nichts als Scheifke, es hätte überhaupt keine Bedeutung, es wesentlichen unbezeugtes Ereignis geschehen liefßen. Lanzmanns
wäre Nichts. [...] Die Deutschen zwangen uns, von den Leichen zu Film macht durch die Aussagen seiner Augenzeugen konkret
daß es Figuren« seien, d.h. Marionetten, Puppen, oder sichtbar und macht uns damit zu Zeugen - , wie sich der Holo-
-

sagen, ...

Schmattes, d. h. Lappen,« (S. 28f.) caust beispiellos, unvorstellbar als ein Ereignis ohne Zeugen ent-
wickelt, ein Ereignis, das, historisch betrachtet, aus der Planung
Es sind jedoch nicht nur die toten Körper der Juden, welche die der buchstäblichen Auslöschung seiner Zeugen besteht, das aber
Nazis paradoxerweise nicht »sehen«. In einigen bezeichnenden darüber hinaus, philosophisch betrachtet, aus einer willkürlich
Fallen bleiben auch die lebenden Juden auf dem Transport in entstellten Wahrnehmung besteht, aus einer Zersplitterung der
ihren Tod den Chefarchitekten ihrer Deportation unsichtbar. sich; das em-
Walter Sie, Leiter der Abteilung 33 der Reichseisenbah1n der
Augenzeugenschaft an ein Ere1gnis also, zwar nicht
pirisch, aber kognitiv unter dem Aspekt seiner Wahrnehmung
NSDAP und Hauptverkehrsplaner der Todeszüge (»Sonder ohne Zeugen bleibt, weil es sowohl das Sehen als auch die Mög-
züge« war der beschönigende und verhüllende Naziausdruck, lichkeit einer Gemeinschaftlichkeit des Sehens ausschlielat: ein
sagt aus:
Ereignis, das die Möglichkeit des Rückgritfs (den Anspruch) aut
visuelle Bestätigung (auf die Deckungsgleichheit zweier verschie-
Haben Sie gewußt, dafß diese Transporte nach Treblinka oder Ansc-
witz gingens dener Sichtweisen) radikal auslöscht und so jede Möglichkeit
Ja, narürlich wußten wir das! Denn ich mufßte ja... ich muiste den einer Gemeinsamkeit des Bezeugens, einer Gemeinschaft der
Lechmußteden Zug.. ich wardie...letzte Direktion. [.., Zeugenschaft, auflöst.
WuSten Sie, daß z. B. Treblinka Venichtung bedeutete, oder ht? Shoah gibt uns Einblick und macht für uns ersichtlich, daß der
Nein, ach woher! Ich... [...] ich bin nie in Treblinka gewc sen. Holocaust ein absolutes historisches Ereignis ist, dessen buch-
(S. 183) stäblich überwältigende Evidenz es
Sie haben niemals
einen Zug paradoxerweise zu einem Er
eignis ohne jeden Beweis macht. Das Zeitalter der Zeugenschaft
Nein, nie. Nie. Ich gesehen?
konnte vor lauter Arbeit von meinem Schreeib- ist das Zeitalter der
thsch gar nicht fort. Wir haben doch
Tag und Nacht gearbeitet.« 180)
Beweislosigkeit, das Zeitalter eines Ereignis-
ses, das trotz der Vielfalt seiner Indizien aufßerhalb oder jenseits
Frau Michelson, Ehefrau eines Nazilehrers in Chelmno, der Beweisbarkeit steht.
eant-
wortet Lanzmanns Fragen in der
gleichen Weise:
180
181
Die Vielzahl der Sprachen chers, in der der Film konzipiert wurde und selbst Zeugnis ablegt,
dient als der gemeinsame Nenner, in den die Zeugenaussagen
Die Inkommensurabilität der unterschiedlichen Standpunkte de die Es ist m. E. kein Zufall, daß
Zeugen und die Vielzahl bestimmter kognitiver Positionen (und Untertitel)übersetzt werden.
diese Sprache nicht die Sprache auch nur eines seiner Zeugen ist.
Sehens und Nichtsehens werden durch die zahlreichen Sprache
Es ist eine Metapher des Films, dals seine Sprache eine Sprache der
verstärkt, in denen die Zeugenaussagen gemacht werden (Franzö. Ubersetzung und als solche doppelt fremd ist: dafs das Geschehen
sisch, Deutsch, Sizilianisch, Englisch, Hebräisch, Jiddisch, Pol sich in einer Sprache ereignet, die der Sprache des Films fremd ist,
nisch), was die Anwesenheit ciner professionellen Dolmetscherin aber auch als ob die Bedeutung des Geschehenen nur in einer
als Vermittlerin zwischen den Zeugen und ihrem Interviewer
Lanzmann nöüg macht. Es wird nicht synchronisiert, und die Tä
Sprache artikuliert werden könnte, die den Sprachen des Gesche-
hens fremd ist.
tigkeit der Dolmetscherin ist absichtlich nicht aus dem Film ge- Der Titel des Films allerdings ist nicht französisch und beinhal-
schnitten worden - im Gegenteil, sie ist häufg im Bild, als eine
tet daher eine weitere sprachliche Fremdheit, eine Enttremdung,
weitere wirkliche Schauspielerin des Films neben Lanzmann, weil deren Bedeutung rätselhaft und auch dem tranzösischen Publi-
der Übersetzungsprozefs ein integraler Teil des Films ist, indem er kum der Originalfassung nicht unmittelbar zugänglich ist: Das
sowohl Teil seines Szenariums wie auch Teil des Aktes seiner fl hebräische Wort »Shoah« bedeutet mit dem (hier fehlenden) be-
mischen Zeugenschaft ist. Angesichts der Vielzahl fremder Spra- stimmten Artikel »Der Holocaust«, ohne den Artikel aber rätsel-
chen und der durch die Ubersetzung verursachten Verzögerung, haft und unbegrenzt »Katastrophe«. Das Wort Shoah benennt
angesichts der Aufsplittung der Augenzeugenschaft, aus der das hier die absolute Fremdheit der Sprachen, die absolute Namenlo-
historische Geschehen zu bestehen scheint, wird es auch für die sigkeit einer Katastrophe, die in keiner Muttersprache zu tassen
Zuschauer des Films unmöglich, das, was sie sehen, spontan und ist und die in der Sprache der Ubersetzung allein das Unübersetz-
schon beim Sehen in Sinn und bare genannt werden kann: das, was Sprache nicht bezeugen
Bedeutung zu übersetzen. Der
Film versetzt uns in die Position eines Zeugen, der zwar sieht und kann, oder das, was nicht in einer Sprache artikuliert werden
hort, aber die Bedeutung der Vorgänge nicht versteben Rann, kann: das, wovon die Sprache nicht Zeuge sein kann, ohne zu z e r
die Dolmetscherin eingreift und mit einer Verzögerung die B splittern.
deutung der visuellen und akustischen Informationen vermittet
und wiedergibt. Allerdings entstellt und verdeckt sie die Intora
tionen in mancher Hinsicht, weil die Übersetzung nicht imme Der Historiker als Zeuge
absolut genau ist, worauf der
Film, durch Lanzmanns Eing
und Korrekturen, an einigen Stellen hinweist. Die Aufgabe, Zeichen zu entziffern und Verständlichkeit herzu-
purbare Fremdheit der Sprachen innerhalb des i n
ist stellen welche die Aufgabe des Ubersetzers" genannt werden
bezeichnend für die radikale Fremdheit der Holo- konnte , wird im Film allerdings nicht nur von der professionel
caust, und zwar nicht nur für Erfanru5 die an
en
Dolmetscherin übernommen, sondern auch von zwei weite
uns, sondern sogar
Als man Lanzmann fragt, ob iu",Teilneh-
ihm teilgehabt haben. ren realen Schauspielern - dem Historiker (Raul Hilberg) und
mer
eingeladen hat, den Film zu sehen, verneint er ae InI n wel-
wel em Filmemacher (Claude Lanzmann). Wie die Zeitzeugen spie-
len diese
cher Sprache hätten
sich die Teilnehmer den Film er a
denn chauen
beiden Personen sich selbst, aber anders als die Zeugen,
sollen? Die a kein
Originalfassung war französisch:
Französisch,* »Sie
n
Laurel Vlock), 5.5. 1986. Transkript, S.24f. Zitate aus diesem Interview
Französisch, die Filmema
des Fil Werden von nun an durch die Abkürzung »Interview« gekennzeichnet, ge-
8
Aus einem Interview, das Lanzmann Muttersprache Yale
er
Ogt durch Angabe der Seitenzahl aus dem unveröftentlichten Manuskript.
Universität gab; es wurde im anläfßlich seines Besu Holocaust
cal Te 8 . Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte
Stmonies an der Fortur Video Archive for Dori Laub und Schriften, Bd. IV.1, hg.v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1972, S. 9-21.
Yale-Universität eefilmt (Interviewer: Dr. Do
182
183
und darin der Dolmetscherin ähnlich, stellen sie Zeugen 2weiten anhaltenden Kampf gegen
die blindmachende Wirkung
Grades dar: Sie sind Zeugen von Zeugen, Zeugen der Zeugnisc in dem Augenzeugenschaft
und die Zersplitterung der
Der Filmemacher im Film und der Historiker auf der Leinwand des Ereignisses Aber Wissen a n und für sich ist nicht
sind wie die professionelle Dolmetscherin, wenn auch in völlio absolut unentbehrlich. ausreichend aktiven und effektiven Art
einer
gleichbedeutend mit Films besteht
verschiedener Weise, Katalysatoren- oder Vermittler des Re Die Neuartigkeit der Sichtweise des
zeptionsvorgangs. Ihre retlektierende Leugenschatt und bezeu-
des Erkennens. überraschenden Einblick, den sie in die radikale
gerade in dem
gende Haltung helfen uns bei unserer eigenen Rezeption und un- im Hinblick
Jnwissenheit erlaubt, in die
wir
alle unwissentlich
sind. Diese Un-
serem Streben nach Verständnis, bei unserem endlosen Ringen historische Ereignis getaucht
auf das wirkliche Geschichtswissen nicht einfach aufgeho-
der Fremdheit der Zeichen undbei der Verarbeitung nicht nur wissenheit wird durch
der buchstäblichen Bedeutung der Zeugnisse (wie es die Dolmet das Geschichtswissen als solches. Der
ben, sondern sie umschlie/st z u m Zweck eines historischen (fort-
scherin tut), sondern auch dabei, einen gewissen Einblick in ihre Film zeigt, wie
Geschichte
benutzt wird, das ironischer
philosophische und historische Bedeutung zu gewinnen dauernden) Prozesses des Vergessens mit einschlie/ßt. Ge-
Der Historiker hat daher innerhalb des Films weder das letzte weise die Gesten der Geschichtsschreibung
wissende Wort noch die endgültige Autorität in Sachen Ge das Ergebnis der Leidenschaft sich
nau wie Geschichtsschreibung
so ist sie auch das Ergebnis
der Leidenschaft zu
schichte, sondern er ist in seiner topographischen und kognitiven zu erinnern ist,
Position vielmehr ein zusätzlicher Zeuge. Die Aussage des Filme- vergessen.
und Chef-
machers-und das Zeugnis, das der Film im ganzen darstellt - ist Walter Stier, der frühere Leiter der Reichseisenbahn
das fol-
der Aussage oder dem Zeugnis des Historikers keineswegs unter- planer der Judentransporte in die Todeslager, kann daher
geordnet. Die historischen Einsichten Hilbergs, denen Lanzmann gende Zeugnis ablegen:
offensichtlich großen Respekt zollt und durch die er sich sowohl Was war Treblinka für Sie? Treblinka oder Auschwitz?[..] Ein Ziel?
inspirieren als auch unterrichten lälst, werden vom Filmemacher Ja, ein Ziel. Weiter nichts.
mit einbezogen; dennoch macht der Film die Geschichtsschrei- Aber nicht Tod.
bungauch zum Gegenstand seiner Betrachtung und stellt siein e Nein. Nein. (S. 184)
nen Kontext, indem er auf ihre Grenzen stößt und diese,
indem er Und diese Vernichtung war eine große Uberraschung für Sie?
über sie stolpert, sichtbar macht. »Shoah«, sagte Claude Lanz- Völlig., ja. Ja.
Sie hatten keine Ahnung?
mann in Yale, Gar nicht. Uberhaupt nicht. Genauso... wie heiat das
Lager noch
ist ganz sicher kein historischer Film.[...] Der Zweck von Shoah 1st in... das in den Bezirk Oppeln
gehörte? Na, Auschwitz.
es
nicht, Wissen zu vermitteln, trotz der Tatsache, dafß Wissen im ii Ja Auschwitz gehörte zur Reichsbahndirektion Oppen. |..
enthaltenist.[.] Hilbergs Buch Die Vernichtungder europäischenj Auschwitz- Krakau, das sind sechzig Kilometer.
den war für viele Jahre wirklich meine Bibel. Aber trotzdem ist Shoa Ja, das ist doch keine Entfernung!
kein historischer Film, sondern etwas anderes Um [...]. in einem Und Sie haben keine...
zu verdichten, was der Film für mich ist, würde ich sagen, dals deriFilm Ach, gar nichts. Keine Spur. [...]
eine Verkörperung, eine Wiederauferstehung ist und dals das riuP - Aber Sie wußten doch, daß die Nazis oder Hitler die Juden nicht
jekt als solches ein philosophisches ist.«10 gern hatten.
Ja, das ist klar. Das wurde ja offen publiziert. Das war ja überall zu
ilberg 1st der Repräsentant eines einzigartigen und beeina ruk- lesen.[... Aber daß die vernichtet wurden, das war uns absolut
kenden Wissens über den
Holocaust. Wissen, so zeigt der Filmg " ch neu...
mein', das ist ja heute noch, wird da ja noch dagegen gekämptt
und
gesagt, hier, das ist doch unmöglich, so viel Juden kann's
10 »Ein Abend mitClaude Lanzmann, 4. 5. Begeben haben! Ob's wahr ist, weiß ich nicht. Das gar nicht
1986; erster ic (S. 185f.) wird denn erzählt.«
Lanzmanns in Yale, aufgezeichnet und urheberrechtlich zt durch
dieYale-Universität. Transkription des ersten geschutz
Videos, S. 2.
184
185
Um sein eigenes Vergessen (des Namens von Auschwitzi
seine Behauptung, er habe im wesentlich 1z) und Dr Grassler, das ist Czerniakows Tagebuch.12 Er schreibt über Sie.
nichts gewnfßt,
zu-
Ach, diesind gedruckt.. Existieren die?
mauern, bezieht sich Stier 1mpl1zit aut den
Wissensanshr
und die historische Autorität der »revisionistischen Gesch Er hat ein Tagebuch geschrieben, und das ist jetzt veröffentlicht. Er
schreibt am 7.Juli 41.. .
schreibung, auf Verötfentlichungen in verschiedenen Linde Am7.Juli'41? Das ist das erste Mal, daß ich cin Datumselberwieder
von Historikern, die es vorziehen zu behaupten, daß sich dio 7.11 erfahre, ne. Darf ich da ein Zettel nehmen? Ich mein', ich hätt' natür-
der Toten nicht beweisen lasse und dals der Võlkermord, da es fir lich genug da, net, aber das interessiert mich auch. Net? Denn ich hab'
das exakte Ausmafs des Massenmordes keine wissenschaftlichen nie... also, also, dann war ich Mit.. . im Juli schon dort. (S. 238)

akademisch stichhaltigen Beweise gebe, nur eine Erfindung sein Die Geste der Geschichtsschreibung fällt mit der Leugnung von
könne, eine Ubertreibung derJuden und dats der Holocaust in Verantwortung und Er1nnerung zusammen und stellt nichts wei-
Wirklichkeit niemals stattgetunden habe." »Aber dafß sie vernich- ter dar als ein leeres Blatt Papier, aut das die »Notizen« gemacht
tet wurden, das war uns absolut neu.. . l...lch mein', das ist ia werden.
heute noch, wird da ja noch dagegen gekmptt und gesagt, hier Im Mittelpunkt des nächsten Filmabschnitts steht der Histori
das ist doch unmöglich, so viel Juden kann's gar nicht gegeben ha- ker Hilberg, der das Tagebuch Czerniakows in den Händen hält
ben! Ob's wahr ist, weil ich nicht. Das wird denn erzählt« und diskutiert. Durch die Montage des gefilmten Materials wech-
(S. 186). Ich weitsvon nichts, und diejenigen, die Bescheid wissen, selt der Blick zwischen dem Gesicht Grasslers (der fortfährt, das
die sagen auch, dafs es nicht gab, was ich nicht weiß. »Ob's wahr Getto aus seiner eigenen Sicht darzustellen) und dem Gesicht Hil-
ist, weiß ich nicht.« bergs (der fortfährt, den Inhalt des Tagebuchs darzustellen sowie
Dr. Franz Grassler hingegen (ehemaliger Assessor des Nazi- die Perspektive, die der Tagebuchautor Czerniakow auf das Getto
kommissars des Warschauer Gettos) verfällt vor der Kamera in eröffnet). Durch die Struktur des Films wird der Naziassessor des
den Gestus der Geschichtsschreibung, um sich ein Alibi für sein Gettos weniger mit einer Gegendarstellung des Historikers kon-
frontiert als vielmehr mit dem Zeugnis aus erster Hand des (toten)
Vergessen zu schaffen.
Tagebuchautors. Das unausweichliche Schicksal des Gettos trieb
Sie haben keine Erinnerung an diese Zeit? Czerniakow dazu, seinen Vorsitz durch Selbstmord zu beenden
Sehrwenig. [...] Eindeutig, daíß der Mensch schlechte Zeiten-Gott und sein Tagebuch so mit seinem Freitod zu zeichnen.
Dank!leichtervergilst als schöne Erinnerungen.
seilch L..
in Warschak
Die Hauptrolle des Historikers besteht also weniger darin,
Ge-
werde Ihnen helfen, sich zu erinnerm. Sie waren
zu erzählen, als den Selbstmord rückgängig zu machen
Assessor bei Dr. Auersuwald? schichte
und so an der filmischen Vision mitzuwirken, die Lanzmann so
Ja. (S. 237)
zentral als»Verkörperung« und »Wiederauterstehung* denniert
hat. »lch habe einen Historiker genommen«, bemerkte Lanz
anal
II
Vgl. z. B. Robert Faurisson: »Ich habe Tausende von Dokumenten mann etwas rätselhaft, »damit er einen Toten verkörpert, obwohi
siert. lch habe Spezialisten und Historiker unermüdlich mit meine ich einen Lebenden hatte, der selbst ein Vorsitzender des Gettos
vertolgt. Vergeblich habe ich versucht, auch nur einen einzigc daßer
da
gewesen ist.« 3 Der Historiker ist da, um den toten Autor des la
8en Deportuerten zu finden, der in der Lage war, mir zu bew
eine Gaskammer gebuchs zu verkörpern, um ihm Fleisch und Blut zu geben. An-
wirklich mit eigenen Augen gesehen na
9 7 2 . Wir haben »einen selektiven Blick auf Geschichte«,ko nmen ders jedoch als in der christlichen Auferstehung geht es im rim
nert 511 Moyers. Wir leben innerhalb einer Mvthologie mildtauge darum, das Czerniakow gerade als Toter ins Leben zurückkebrt.
wohlwollender
dert Bücher gibt,Erfahrung. [...] Es gewidmet
die der Aufgabe ist kaum zu glauben, aa
sind, die Idee.zu verbreiten,
war Vorsitzender des Judenrats«
in Warschau.
der ist, dafs
er
2
Adam Czerniakow
Holocaust sei eine Fiktion gewesen, daís er nicht 8e ehen
n e Aussage, die Lanzmann in einem privaten Gespräch machte, das in
von den Juden aus vielen verschiedenen Gründen dee (lnter historien qu'il incarne un
erfunae wur am 18. 1. 1987 stattfand: »'ai pris pour
arls un

ew mit Margot Strom in: 1986, nort, alors que j'avais un vivant qui était directeur du Getto.«
Facing History and Ourselves, ric

186
187
mit m1r noch einmal nach
Seine»Auferstehung« löscht seinen lod nicht aus. Die Vision d konnen,
Kind überzeugen
das singende
Films läßt den toten Schreiber in einem Historiker auferstche k o m m e n . « (S. 17f.)
zu
Chelmno
der lebendigen Stimme eina
Dabei hauchen die Einzigartigkeit selbst erzählt, versetzt die
Selbstmord der Geschichte a die der Filmemacher
Diese Einleitung,
seinem
Toten und die Stille nach nd und tafßt eine Vergangenheit
zusam-

diesem Historiker neues Leben ein.


Geschichte in die Gegenwart ist, sondern eher als
die noch nicht als Geschichte präsent
Ge-
eine Vor-Geschichte: Die eigentliche
men,
Vorgeschichte, als
zeitlich seiner Rede, die im An-
Der Filmemacher als Zeuge schichte des Films entsprichtVorwort des Erzählers mit dem
Lied
schluf das geschriebene
wieder singt, also nach-
an

Shoah (der Liste der Zeugen) Srebnik in der Gegenwart


Auf der Liste der Darsteller von einsetzt, das das Srebnik »gefunden« und
auch der Filmemacher an- Der Erzähler ist das »lch«,
wird neben dem Historiker schlietslich spielt.
mir nach Chelmno
zurückzukehren«. Der
und den Toten hin und her rei überzeugt« hat, »mit
geführt. Zwischen den Lebenden Orten und Erzähler eröffnet- oder
eröffnet v o n n e u e m die
Geschichte der
-

send, im Vor und Zurück zwischen unterschiedlichen des Erzählens. Aber das »Ich«
wenn auch diskret, am Vergangenheit in der Gegenwart
Stimmen, ist dieser Filmemacher standig, den Film zeichnet, hat keine Stimme: Die
des Erzählers, der für
Bildrand anwesend, vielleicht der schweigend aussagende Zeuge, Text eines stummen Drehbuchs
der Einleitung ist als schweigender
der am aussagekraftugsten schweigende Leuge. Dabei spricht eine synchronisierende Scbrift
Stimme, in seiner aut die Leinwand projiziert, als
Schöpfer des Films allerdings in seiner eigenen in der ohne Stimme.
Rolle als Erzäbler des Films (und als Vertasser
-

dreifachen Einerseits hat der Erzähler also keine Stimme. Andererseits je


ersten Person des Drehbuchs),
als Interviewer der Zeugen (der
doch ist die Kontinuität der Erzählung durch nichts als Lanz-
und als Untersuchender (der
Zeugnisse verlangt und empfängt) w o v o n die Zeug-
manns Stimme gesichert, die sich durch den Film zieht
und deren
Künstler als Subjekt auf der Suche nach dem,
des Zeugen als Suchender
und die des Fra- Klang die verschiedenen Stimmen und Zeugenepisoden verbin-
nisse zeugen; die Figur Ermittler als Träger det. Aber diese Stimme die aktive Stimme, in der wir den Filme-
-

von Fakten, sondern


genden, nicht bloßs als des Films).
macher sprechen hören-ist genaugenommen die Stimme Un- des
des philosophischen Anspruchs und der Ermittlung tersuchenden und des Interviewers und nicht die des Erzählers.
Diese drei Rollen des Filmemachers sind
vermischt und existie-
sol- Als Erzähler spricht Lanzmann nicht selbst, sondern rezitiert
ren nur in ihrer Beziehung zueinander.
Da der Erzähler als vielmehr die Worte anderer. Bei zwei Gelegenheiten leiht erseime
seine Ge
ist, beschränkt sich
cher strenggenommen ein Zeuge Fragenstellens: Stumme, um die Schriften jener Autoren vorzulesen, die nicht für
schichte auf die Geschichte des
Die Erzählung
besteht aus dem, was der Interviewer hört. Lanzmanns
Strenge as sich selbst sprechen können: den Brief des Rabbiners von Gra-
bow, in dem dieser die Juden von Lódz vor der in Chelmno schon
als Untersu
Erzähler ist es, ausschliefßlich als Fragender (und Degonnenen Vernichtung warnt einen Brief, dessen Verfasser
chender) zu sprechen und darauf verzichten, irgend etwas
zu selbst zusammen mit seiner gesamten Gemeinde in Chelmno ver-
direkter Rede zu erzählen aufßer am Anfang, dem einzigen M
-

acs gast wurde (»Denkt nicht«, rezitiert Lanzmann, »das all dies von
erste Person
ment, in dem der Film sich ausdrücklich auf die einem Mann geschrieben würde, der den Verstand verloren hätte.
Filmemachers als Erzähler bezieht: Ach, das ist die tragische, furchtbare Wahrheit« [S. I17|), und das
»Die Handlung beginnt in unseren Tagen, in Chelmno,
in P'olen. Nazidokument»Geheime Reichssache«, das die technischen Ver
Chelmno [war] der Ort in Polen, an dem die ersten Juden durch Desserungen der Vergasungswagen betrifft (»Die sonstigen bisher
umgebracht wurden.[..] Von den 400 ooo Männern, Frauen una gemachten Erfahrungen lassen
folgende technische Abänderun-
dern,
nik, Überlebender Ortzweiten
die an diesen der haben zwei
kamen, Periode, überlebt: [...]
war damals ein Kind oa b
Simon drei- 8en zweckmälßig erscheinen« [S. 141]). Man kann dieses autserge-
1abe wohnliche Dokument als formelle
zehneinhalbJahren. [. ..] Und in Israel habe ich ihn gefunden.
Icn
n Bekräftigung des Nationalso-
188 189
zialismus ansehen (die perverse und konkrete Vernichtuno
darin zu einer rein technischen und funktionalen Frage alh Wird .Kann er beschreiben?« (S.95) »Wie sahen diese
die Stille
Lastwagen aus? [..] Welche Farbe?« (S. I13) Es sind nicht die
hiert). Wir werden zu Zeugen davon, wie LanzmannsStimmmed die konkreten Besonder-
grofßen Verallgemeinerungen, sondern
perversen Ton dieses Dokumentes in gleichmfßiger Modulati ation, einem Bild fügen und daher helfen, sowohl die
ohne Emotionen und ohne Kommentar, wiedergibt. heiten, die sich zu als auch das Schwei-
cinem stummen Blendwirkung des Ereignisses autzuheben
Neben der Wiedergabe der Dokumente und
Hinweis auf seine eigene Stimme im schrittlichen Vorwort des gen zu brechen, aut das das Zersplittern der Augenzeugenschaft
durch winzige Einzelheiten, in klei-
tonlosen Filmbeginns spricht Lanzmann als Interviewer und F den Zeugen reduziert. Nur
nen Schritten und nicht durch Riesenschritte oder Sprünge -

mittler. Als Erzähler aber schweigt er. Der Erzähler lätkt die Ge- und
etwas aufge-
kann die Barriere des Schweigens verschoben
schichte von anderen austuhrenvon den lebendigen Stimmen hoben werden. Dieses gezielte
und genaue Fragen bietet jeder
der befragten Zeugen, deren Geschichten fur sich selbst sprechen
möglichen Kanonisierung der Ertahrung des Holocaust Einhalt.
können müssen, wenn sie aussagen, d. h., wenn sie ihr einzigarti Insofern der Interviewer zugleich die Heiligkeit (die Unaus-
ges und unersetzliches Zeugnis aus erster Hand ablegen sollen. sprechlichkeit) des Todes und die Heiligkeit der Totenstille (des
Nurwenn sich der Erzähler zurücknimmt, kann der Film cine Er- Schweigens) des Zeugen in Frage stellt, sind Lanzmanns Fragen
zählung des Zeugnisablegens sein: eine Erzählung genau dessen, im wesentlichen entsakralisierend.
was von keinem anderen berichtet oder erzählt werden kann. Die
Wie ist das vor sich gegangen, als die Frauen in die Gaskammer ka-
Erzählung ist daher im wesentlichen cine Erzählung des Schwei- men? (S. 155) Was haben als Sie all die nackten Frauen zum
Siegefühlt,
ie Geschichte des Zubörens des Filmemachers: Der Erzäh- ersten Mal sahen?
ler ist nur insofern der Erzähler des Films, als er der Träger dieses lch habe Sie doch gefragt: Was haben Sie das erste Mal empfunden,
besonderen Schweigens des Films ist. als Sie die nackten Frauen mit den Kindern sahen, was haben Sie ge-
Als Interviewer und Ermittler allerdings überschreitet der Fil- fublt? Sie haben daraufnicht geantwortet. (S. 157)
memacher per Definition die Grenzen des Schweigens und über- Wissen Sie, dort etwas zu fühlen... Das war dort kaum möglich, et-
was zu fühlen oder eine Empfindung zu haben. Stellen Sie sich vor, Tag
geht das Schweigen selbst. Von seiner eigenen Uberschreitung und Nacht zwischen Toten, zwischen Leichen zu arbeiten. Da ver-
nicht ver-
sagt der Interviewer zum Befragten, auf dessen Stimme schwinden Ihre
Gefühle, Sie waren im Gefühl tot, völlig tot.« (S. I57t.)
ZIchtet werden kann und dessen Schweigen gebrochen werden
Shoah ist die Geschichte der Befreiung der
muis: »Ich weil, dafs es schwer ist, ich weiß, verzeihen Sie mir« Zeugenaussage durch
(.158). Als Interviewer verlangt Lanzmann keine langen Erkla- ihre Entsakralisierung, Geschichte
die der Dekanonisierung des
Holocaust um seiner bis dahin unmöglichen
rungen des Holocaust, sondern fragt nach konkreten Beschrei len. Was der Interviewer v. a.
Historisierung wil-
vermeidet, ist eine Komplizenschatt
bungen von minutiösen Details und scheinbar trivialen Einzel mit dem
Schweigen des Zeugen, eine Art mitfühlender und wohl-
heiten.4 War es sehr kalt?« (S. 26) »Wie viele Kilometer sind c>
ZWIschen dem Bahnhof und der Rampe im Innern des Lag wollender Allianz, in der Fragende und Betragte ott impl1z1t
wurden? [...] Wie lange hat die Fan übereinstimmen und zusammenarbeiten, um sich in der Vermel-
die Menschen ausgeladen dung der Wahrheit gegenseitig Trost zu geben.
gedauert? (S.49f.)»War es die Stille, die ihn hat begreifenlass
14 In dieser Hinsicht teilt der Filmemacher die Vorgehensweise des Histo
Es ist die Todesstille des Zeugen, die Lanzmann hier historisch
anfechten muß, um den Holocaust wiederzubeleben und um das
kers ilberg: »Bei meiner ganzen Arbeite, sagt Hilberg, »habe ich
nie

den grossen Fragen begonnen, weil ich fürchtete, magere Antworten " CrEgnis-obne-Zeugen ins Bezeugen, in Geschichte umzuschrei-
kommen. Ich habe es daher vorgezogen, mich der Präzisierung un0 ben. Es sind ebendie Todesstille des Zeugen und die Leblos1gkeit
des
Details zuzuwenden, um sie zu einer Gestalte zusammenfügen zu kon Zeugen, die durchbrochen und überwunden werden mussen.
zu
einem Gesamtbild, das wenn schon keine Erklärung doch wb
-

at
stens eine umfassende Beschreibung dessen wäre, was sich ereignet
(S.99).
190 191
Ich bitte Sie. Wir müssen das machen. Sie wissen das. die ersten
Stunde der Juden im Lager, in Treblinka,
Ich kann nicht. Schock. Die erste nach dem Mal stellen. [...]
Minuten. Ich werdeimmer die Frage
ersten

Es muß sein. Ichweilß,dafß es schwer ist, ich weiß, verzeiben Sic den letzten Augenblicken, dem \Warten, der Furcht.
Lassen Sie uns aufhören... mir Besessen von
Furcht und auch voll von Energie. So einen Film
Shoah ist ein Film voll
Ich bitte Sie,fahren Siefort.« (S. 158) theoretisch machen. Jeder theoretische Ansatz, den ich
kann man nicht
aber diese Mifßerfolge waren n o t w e n -
Was bedeutet fortfahren? Das Dilemma, mit seiner Aussage um ausprobierte, war ein Reintall,
Man macht so einen Film im Kopt, im Herzen, im Bauch, in-
jeden Preis fortfahren zu müssen, ähnelt für Abraham Bomba der dig....]
Zwangslage in seiner Vergangenheit: weiterleben zu müssen und nendrin, überall. [...J«1
überleben zu müssen trotz der Gaskammern, im Angesicht des Der Film legt nicht nur Zeugnis ab, indem er Fragmente der Zeu
ihn umgebenden Todes. Aber jetzt fortfabren und weiterhin genschaft sammelt und zusammenstellt, sondern auch indem er
Zeugnis ablegen zu müssen bedeutet mehr, als einfach mit der aktiv alle möglichen Eingrenzungen alle möglichen Rahmen
- -

Aufforderung konfrontiert zu sein, die Vergangenheit nachzu- spreng, die vorgeben, die Fragmenteeinzutassen und in ein zu
stellen und damit auch sein eigenes Uberleben zu wiederholen. sammenhängendes Ganzes zu fügen. Shoah legt Zeugnis davon
Lanzmann drängt Bomba, aus ebender Leblosigkeit auszubre ab, wie die Fragmentierung der Zeugnisse alle Definitionen, alle
chen, die das Uberleben erst ermöglichte. Der Erzähler ruft den Bezugsparameter, alle bekannten Antworten radikal ungültig
Zeugen auf, aus dem blofaen Modus des Uberlebens zurückzu- macht, währender zugleich die absolute Notwendigkeit des Spre
kehren in den des Lebens - und des lebendigen Schmerzes. Wenn chens ohne Einschränkung bejaht und auf materiell kreative
es die Rolle des Interviewers ist, das Schweigen zu brechen, so ist Weise bestätigt. Der Film setzt sein
eigenes überraschendes Zeug
nis in Gang, indem er die historische und
es die Rolle des Erzählers sicherzustellen, dafs die Geschichte,
widersprüchliche Auf-
und sei es im Schweigen, weitergeht. gabe austührt, das Schweigen zu brechen und zugleich jeglichen
vorhandenen Diskurs zu zerschmettern und alle
Rahmen autzu-
kein sprengen.
Dasich der Film von Singularität zu Singularität bewegt und
Zeuge einen anderen darstellen kann, verlangt Lanzmann von
Aus dem Amerikanischen von
uns, dal wir zehn Stunden absitzen, damit wir zu Zeugen werden Astrid von Chamier und
Johanna Bodenstab
und einen konkreten Eindruck bekommen: von unserer eigenc
Unwissenheit und von der Inkommensurabilität des Geschenens
Das Geschehen wird gerade durch diese Fragmentierung
aet
Leugenaussagen vermittelt, welche für die Fragmentierung der
Zeugenschaft steht. Der Film ist eine Zusammenstellung u
Fragmente der Zeugenschaft. Aber die Sammlung der Fragmente einer
fuhrt sogar nach den zehn Stunden, die der Film dauert, zu Ke
mogichen Vereinheitlichung und zu keinem Schluis: Die z uibt
t
menstellung der zeugenschaftlichen Unvereinbarkeiten c
lielse,
weder eine theoretische Aussage, die sich verallgemeinc h
Erzäh-
noch tügt sie sich zu einer geschlossenen monolog1schen
Ho
lung. Als Antwort auf eine Frage nach seinem Konzepta
locaust antwortete Lanzmann:

»lch hatte kein Konzept; ich war besessen, was ein Unterschied ist.

Besessen von der Kälte. [..] Besessen vom erstern Der erste
Lanzmann, Interview in Yale, S. 22f.
ia
192

Das könnte Ihnen auch gefallen