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Hermann Broch
Kommentierte Werkausgabe
Herausgegeben von
Paul Michael Lützeier

Band 11

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Hermann Broch
Politische Schriften

Suhrkamp

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Zweite Auflage 1986
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1978
Bibliographischer Nachweis für die
einzelnen Texte am Schluß des Bandes
Alle Rechte Vorbehalten
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany

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Inhalt

Demokratie und Sozialismus


Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem
(1 9 1 9 )........................................................................... 11
Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen
Demokratie ( 1 9 3 9 ) ..................................................... 24
Theorie der Demokratie 1938-1939 (1 9 4 1 ).................. 72
>The City of Man<. Ein Manifest über Weltdemokratie
(1 9 4 0 ) ........................................................................... 81
Nationalökonomische Beiträge zur >City of Man< 1940
(1 9 4 1 ) ........................................................................... 91
Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung (1949) . . 110

Friede und Menschenrecht


Völkerbund-Resolution ( 1 9 3 7 ) ..................................... 195
Völkerbundtheorie 1936-1937 (1941)............................ 233
Rundfunkansprache an das deutsche Volk (1945) . . . . 239
Bemerkungen zur Utopie einer international Bill of
Rights and of Responsibilities< (1946) 243
Die Zweiteilung der Welt ( 1 9 4 7 ) .................................. 278
Strategischer Imperialismus ( 1 9 4 7 ) ............................... 339
Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie
(1 9 5 0 )........................................................................... 364

Praxis und Utopie


Zur Aufgabe des Intellektuellen
Politische Tätigkeit der »American Guild for German
Cultural Freedom< (1 9 3 9 )............................................ 399
Ethische Pflicht (1940)..................................................... 411
Bemerkungen zum Projekt einer »International Univer-
sity<, ihrer Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten
(1 9 4 4 )........................................................................... 414
Bemerkungen zu einem >Appeal< zugunsten des deut­
schen Volkes (1946)..................................................... 428
Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschen­
rechte ( 1 9 5 0 ) ............................................................... 453
Der Intellektuelle im Ost-West-Konflikt (1950)............ 460

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Anmerkungen des Herausgebers
Bibliographischer N achw eis...............................................497
Textkritische Hinweise........................................................ 499
Auswahlbibliographie zur Sekundärliteratur......................506
Verzeichnis der A bkürzungen............................................507
Personenregister..................................................................508
Editorische Notiz (mit Copyright-Angaben)......................513

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Demokratie und Sozialismus

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Konstitutionelle Diktatur
als demokratisches Rätesystem

Jeder Staat ist Machtauswirkung seiner Idee. Auch der soziali­


stische Staat - auch wenn er letzten Endes nicht Staat, sondern
»Gesellschaft« sein will —muß zur Aufrechterhaltung seiner
Organisation, in der sich seine Idee eben inkarniert, den
Machtfaktor, das heißt das Gesetz einstellen. Wer die Idee ak­
zeptiert, akzeptiert damit auch den Machtwillen der Idee. Para­
dox, oder nicht einmal paradox gesprochen: jeder gesunde
Staat ist diktatorisch.
Die russische Revolution hat diese Diktatur paradigmatisch
für den Sozialismus verwirklicht. Nichtsdestoweniger haben
sich gegenüber ihren Methoden gewichtige Einwände erhoben.
Nicht nur von seiten der direkt betroffenen Bevölkerungsklas­
sen, also vor allem der Bourgeoisie, dem Unternehmertum etc.,
deren subjektiven Protest man ohnehin gewärtigen muß, son­
dern auch vom objektiven Forum der Theorie aus. Die Sozial­
demokratie erinnerte, daß sie nicht nur Sozialismus, sondern
auch Demokratie, also Ausdruck des gesamten Volkswillens zu
sein anstrebe, und daß sie - dies wird in Kautskys Schriften zur
russischen Revolution1 eingehend erörtert - mit dem Verlust
des demokratischen Gedankens einen wesentlichen Bestandteil
ihres politischen Ideals einbüße.
Das wesentliche Moment, vielleicht ein Gefühlsmoment, wel­
ches diesen Teil der Sozialdemokratie zur Ablehnung der pro­
letarischen Diktatur drängt, liegt in dem Prinzip und in dem
Willen zur Gerechtigkeit. Denn Demokratie heißt den Ge­
samtwillen der Gemeinschaft mit Gerechtigkeit erkennen und
sich ihm unterwerfen. Die fortschreitende Demokratisierung
der Regierungsformen bis zur Klimax des Proportionalsystems
bildet ein stetes Fortschreiten der Gerechtigkeit gegenüber der
politischen Ungerechtigkeit eines jeden Absolutismus. Die
Sozialdemokratie rechnete es sich als intabulierten Ehrentitel
an, ihre fortschreitende Macht aus dem Prinzipe der Gerechtig­
keit ableiten zu können, und sie will es daher vor sich selbst
nicht verantworten, diese edle Tradition aufzugeben, um sozu­
sagen den schwarzen oder weißen oder gelben Absolutismus
durch einen roten zu ersetzen. An einem Punkte der Macht an­
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gelangt, an welchem sie sich dieses Instrumentes der Gerech­
tigkeit ohne weiteres begeben könnte, stellt sie mit einer gewis­
sen Selbstentäußerung diesen Schritt in Frage, um - vertrauend
auf die weitere Überzeugungskraft ihrer Theorien - die Errei­
chung der sozialistischen Diktatur auf demokratischem Wege
abzuwarten.
Für die Aufrechterhaltung des demokratischen Gerechtig-
keitsprinzipes spricht aber noch ein weiterer gewichtiger Fak­
tor. Gerechtigkeit bedeutet immer Freiheit des Individuums,
und wenn auch jeder Staat Machtidee ist und daher einen Teil
der persönlichen Freiheit des Individuums quasi als grundle­
gende Staatssteuer für sich beansprucht, so will der soziali­
stische Staat-deswegen nennt er sich ja auch bloß Gesellschaft
- das Maximum an Freiheit seinen Bürgern gewährleisten: er
will eine Gesellschaft freier Menschen sein. Sein politisches
Ideal ist also die Identität der vollkommenen Demokratie mit
der vollkommenen Diktatur der neuen Staatsidee; erstrebt ei­
nen Zustand, in welchem die Idee des neuen Staates und seiner
Machtdiktatur von all seinen Bürgern auch gleichmäßig gewollt
werde, mit einem Wort: jene Freiheit der Pflicht, die in der
Kantischen Autonomie2 ihren ethischen Ausdruck gefunden
hat.
Die Diktatur der Räte wird daher von vielen bloß als ein - so­
zusagen pädagogischer - Übergang, als ein, manchmal
schmerzhafter, Kursus angesehen, den die noch nicht aufge­
klärten Staatsbürger mitzumachen hätten, um das reine Den­
ken, die reine Staatsidee schließlich zu erlernen und zu akzep­
tieren. Das ist falsch: denn die Diktatur der neuen
Gesellschaftsordnung ist kein Übergang; sie bleibt nicht nur als
solche das definitive Ziel der Revolution, sondern auch das Rä­
tesystem als solches wird - soweit menschliche Voraussicht
reicht - bestehen bleiben müssen.
Denn das Rätesystem konkretisiert jenes Politikum, das dem
Sozialismus als Partei jene innere Ernsthaftigkeit verliehen hat,
die ihn von der landläufigen politischen und rhetorischen
Windbeutelei abscheidet, die sich ihm in den demokratischen
Parlamenten als Gegenparteien scheinbar paritätisch gegen­
überstellen: der Sozialismus ist ein wirtschaftliches Prinzip, er
ist ein unrhetorischer, unpathetischer Realfaktor, und jener
Unernst, mit welchem der rhetorische Politiker über Phrasen
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zur gesetzgeberischen Arbeit gelangt, ist ihm fremd. Insolange
und insoweit der Staat oder die Gesellschaft ein reales, konkre­
tes Gebilde ist, ist die materialistische Politik an ihrem Platze.
(Womit noch nicht gesagt ist, daß die materialistische Ge­
schichtsauffassung als Geschichtswissenschaft unanfechtbar
wäre.)
Das Rätesystem verwirklicht nun dieses erste Prinzip des Ma­
terialismus. Es geht nicht aus willkürlichen, geographischen
oder sonstweichen politischen Keimzellen hervor, sondern es
liegt in der Wirtschaftsordnung selbst verankert. Bilden das
Bauerngut und die industriellen Produktionsstätten die Ur- und
Keimzellen der Wirtschaft, so sollen sie auch die politischen
Keimzellen der Regierung sein.
Die Frage liegt nun darin, ob die Diktatur solcher Räte auch
tatsächlich der erstrebten Diktatur der neuen Staatsidee ent­
spricht. Die politische Denkweise der Arbeiter und damit der
Arbeiterräte gewährleistet selbstverständlich, daß sie im Sinne
des neuen Staatsgedankens zu arbeiten und diesen vorzuberei­
ten imstande sein werden; auch die Soldatenräte werden in die­
ser Richtung arbeiten. Aber schon mit den Bauernräten wird
- wie Dr. Otto Bauer3 erst kürzlich dargelegt hat4 - in Öster­
reich nicht zu rechnen sein. Aber selbst wenn sich auch noch die
Kleinbauern anschließen würden, so ist es dennoch nur ein Teil
der Gesamtbevölkerung, in deren Hände die Diktatur gelegt
wird, und zwar jener Teil, der, weil er persönliche Besitzinter­
essen dabei vertritt, sozusagen kapitalistisch gegenüber dem
Kapitalismus auftritt. Es kann sich daher in dieser Form tat­
sächlich nur um einen Übergang handeln - umsomehr als die
militärische Institution der Soldatenräte mit dem Verschwin­
den des Militarismus ja ebenfalls verschwinden wird müssen -,
um eine Übergangsform, die ehebaldigst ausgebaut werden
müßte. Denn es ist das Wesen eines Provisoriums, daß es den
Gesamtkomplex eines Problems nur von einer, der augenblick­
lich einfachsten Seite her angeht und daher nur auch Teillösun­
gen zustande bringt; es berücksichtigt sozusagen aus der Ge­
samtheit der Motive zur Problemlösung nur eine Minorität der
Motive, und von welchem Übel Provisorien, speziell wenn es
sich um aufbauende Arbeit handelt, sein können, haben die
Kriegsgesetze zur Genüge bewiesen.
Die Hauptgefahr eines solchen Provisoriums aber liegt - und
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damit kehren wir zu dem sozialistischen Dilemma zwischen Rä­
tesystem und Demokratie zurück - in der konkreten Verge­
waltigung des Freiheitsgedankens. Das demokratische Gerech­
tigkeitsprinzip verlangt nicht nur für den staatlichen Zielzu­
stand, sondern auch für jene Entwicklungsstufe das Maximum
politischer, individueller Freiheit, in der sie eben auch die Ge­
währ der ruhigen, zielsicheren und fruchtbaren Entwicklung
sieht. Auch sie kennt wohl eine Diktatur, und zwar die der Ma­
jorität über die Minorität, aber diese Diktatur ist keine usurpa-
torische, sondern ist Frucht des demokratischen Wahlganges,
sie ist unpersönlich geworden und daher vom Wähler im voraus
als legal anerkannt. Wenn die Gewalt aber imperativ in die
Hände einzelner Volksteile - ganz gleichgültig ob diese die nu­
merische Majorität besitzen oder nicht - gelegt wird, so wird
sich der andere Volksteil - wieder völlig gleichgültig ob er zah­
lenmäßig über- oder unterlegen ist - mit vollem Rechte in sei­
ner Freiheit geschmälert, in seiner Würde als Mensch beleidigt
fühlen. Naivere Kommunisten werden eine solche Beleidigung
als die gerechte Strafe ansehen, mit der nunmehr der einzelne
Kapitalist für seine ausbeuterische Tätigkeit oder die seiner
Vorfahren belegt wird - aber ganz abgesehen davon, ob eine
derartige kindlich-mystische Theorie, die den besitzenden
Menschen im vorhinein als den persönlich Strafbaren betrach­
tet (hier muß doch wieder einmal das Sparkapital erwähnt wer­
den) zu Recht besteht oder nicht, so muß, eben ganz abgesehen
davon, daß diese sogenannte Strafe zum Großteil auch solche
trifft, die mit Kapitalismus nie etwas zu tun gehabt hatten, so
muß, eben aus dem Geist des Sozialismus heraus, immer wieder
darauf verwiesen werden, daß jede imperative Vergewaltigung
der Freiheit an sich, ausgeübt von Menschen gegen Menschen,
daß jede Beleidigung der Menschenwürde fluchwürdigstes
Verbrechen ist und bleibt.
Die notwendige Folge aber ist der Bürgerkrieg. Denn selbst
jener, welcher ansonsten rückhaltlos mit der Idee des neuen
Staates sympathisieren würde, sosehr er auch die ökonomische
Sozialisierung beispielsweise begrüßen möchte, wenn sie von
der sachlichen, gerechten, das heißt - worauf es hier ankommt
- unpersönlichen Staatsgewalt ausgeht, er wird sofort zum
schärfsten Protest gegen diese gedrängt sein, wenn er nicht den
seiner politischen Freiheit gebührenden Teil an der Staatsge­
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walt besitzt und diese in die Hände eines bestimmten Volkspar-
tikels - und zwar überdies eines ökonomisch daran interessier­
ten - gelegt sieht. Der Bürger erträgt den steuersüchtigen
König, wenn sich dieser als »Beamter« des unpersönlichen
Staates geriert und diesen Nimbus aufrechthalten kann, aber er
verweigert ihm seine Windmühle5, das heißt seine Freiheit,
wenn der König persönlich darnach Gelüste trägt. Daß aus die­
ser psychologischen Konstellation der Bürgerkrieg und der
Terror unweigerlich hervorgehen, zeigt das russische Beispiel.
Nun wäre einzuwenden, daß es sich trotz alledem gar nicht um
ein Provisorium handle, daß vielmehr die ausschließliche Ge­
walt bei den Arbeiterräten bereits das Definitivum sei und sein
müsse, da nur diese Gewaltverleihung die Befreiung des Prole­
tariats darstelle und daß daher für diesen Preis Bürgerkrieg und
Terror wohl in Kauf zu nehmen seien. Wer so denkt, ist ein gu­
ter Revolutionär, aber er weiß nichts vom marxistischen Ziel
der Revolution; er will die Revolution um ihrer selbst willen.
Denn auch die Befreiung des Proletariats ist nur Mittel zum
Zwecke; an sich genommen ist sie ein leeres Wort, ja ein Ver­
brechen am Proletariat. Sogar die Sozialisierung der Produk­
tion kann nicht als letztes Ziel der neuen Staatsidee aufgefaßt
werden: die Freiheit des Menschen, die die Freiheit des Prole­
tariers ist, steht höher; sie verlangt, daß das Kulturgut, das jene
menschliche Produktion durch Jahrhunderte geschaffen hat,
ungeschmälert zum sozialisierten Gemeingut der Allgemein­
heit werde. Erst in dieser Sozialisierung des Kulturgutes ist die
Befreiung des Menschen zu sehen, erst durch sie Entpolitisie­
rung gegeben, die den Staat zur Gesellschaft verwandelt. Wie
denn auch erst an dieser Entpolitisierung des freien Menschen
es klar wird, warum das Ernsthafte in der Politik und damit das
Ernsthafte des sozialdemokratischen Gedankens, nämlich die
wirtschaftliche Basis, apolitisch sein mußte. Revolution als sol­
che aber ist immer politisch.
Der Bürgerkrieg aber - umsomehr als er das Erbe der radika­
len Methoden des Weltkrieges angetreten hat - vernichtet die­
sen Siegespreis radikal. Man muß nicht einmal gerade an die
unausweichlichen Nebenerscheinungen des Bürgerkrieges
denken: an die weitere Verrohung und Vertierung des Men­
schen, an die Vernichtung von Kunstschätzen, an die Aufhe­
bung jener äußeren Zivilisation, die den Stolz der Moderne bil­
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det. Man möge sogar diese konservativen und äußerlichen
Werte als Luxuswerte niedrig einschätzen, wenn man auch
nicht vergessen sollte, daß sich unter jenen Luxuswerten, die
bisher in der Verwahrung der bevorrechteten Klassen standen,
auch solche befinden - man denke nur an die Möglichkeiten der
Krankenpflege -, deren das Proletariat einfach nicht wird ent-
raten dürfen. Aber selbst wenn man dies alles als gering erach­
tet: sogar das ökonomische Ziel der Revolution erscheint durch
den Klassenkrieg in Frage gestellt, da ja die eigentlichen Träger
des Wirtschaftslebens-sowohl die Leiterder Großproduktion,
der Finanzen und des Verkehrs, als auch eben die Bauern und
Kleingewerbetreibenden und schließlich die freien Berufe -
nicht dem Proletariat, zumindest nicht der Arbeiterschaft an­
gehören. Ein Kriegszustand mit diesen Gruppen bringt, wie es
eben in Rußland geschehen ist, das gesamte ökonomische Ge­
triebe in die Gefahr der Verelendung und stellt die Arbeiter­
schaft in einer Zeit, wo es ohnehin um Leben und Tod geht, vor
die ungeheure Aufgabe, ein Wirtschaftsleben, das sie organisa­
torisch halbwegs intakt übernehmen hätte können, neu auf­
bauen und ausbauen zu müssen.
Auch im Klassenkampf gibt es ein Brest-Litowsk6. Das Prole­
tariat hat gerade im gegenwärtigen Augenblicke, da es an die
Lösung seiner tiefsten Aufgaben herantritt, alles Interesse
daran, den Kampf, in dem es bereits Sieger ist, abzuschließen
und die unterlegenen Klassen sofort in die Gemeinschaft, in den
Bund aller freien und werktätigen Menschen aufzunehmen und
sie zur Kooperation zu erziehen. Das Mittel hierzu ist ihm im
Prinzip der demokratischen Gerechtigkeit, die auch im Besieg­
ten keine Bitterkeit hinterläßt, gegeben und vertraut.
Praktisch gesprochen: die Sozialdemokratie darf ihr eingebo­
renes demokratisches Prinzip nicht auf geben; auch nicht zu­
gunsten des Rätesystems. Ist dieses - wie Lenin zeigt7 - in sei­
ner Identität von Gesetzgebung und Verwaltung die einzig
adäquate Regierungsform der marxistisch-ökonomischen Ge­
sellschaft, so bedarf es des demokratischen Ausbaues, um aus
dem Provisorium, das es jetzt ist, zum Definitivum werden zu
können. Die einseitige Beschickung der Räte durch die Arbei­
terschaft, also durch die Minorität einer einzigen Wirtschafts­
gruppe, hat wohl für den Moment den Vorteil, daß die neue
Staatsidee durch diese verläßliche Vorhut gesichert werden
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kann. Auch verspricht man uns, daß im endgültigen, kommuni­
stischen Staate sich die Demokratisierung der Räte ohnehin
und automatisch vollziehen werde. Denn es komme nur darauf
an, daß der Fabriksdirektor, der Landwirt, der Gewerbetrei­
bende, die geistigen Berufe auch wirklich zur kommunistischen
Gesinnung gelangen, damit auch sie im rein kommunistischen
Sinne als werktätige »Arbeiter« gelten und ihre Vertretung im
Rätesystem finden könnten. Doch dieser Wechsel auf die Zu­
kunft bringt - wie gezeigt - die schwersten Gefahren. Und sind
jene nicht auch schon jetzt werktätige Arbeiter? Leisten nicht
selbst auch die spezifischen Träger des Kapitalismus, der Fi­
nanzier und Kaufmann, deren Verschwinden ja einmal nur zu
begrüßen sein wird, leistet aber vor allem der industrielle Un­
ternehmer nicht eine, für die Gemeinschaft jetzt noch unum­
gänglich notwendige, werktätige Arbeit? Anläßlich des Soziali­
sierungsentwurfes in der Nationalversammlung sagte Friedrich
Adler8, daß das Proletariat nicht daran denken könne, jetzt
etwa die Unternehmer, Direktoren und Oberbeamten aus den
Fabriken zu verjagen9. Eben die Liquidation der alten Welt
macht es zur größten Wichtigkeit, ihre Arbeitsleistungen klag-
und reibungslos in die neue Wirtschaft zu überführen; dürfen
also die Träger dieser Arbeit politisch entrechtet werden, will
man nunmehr diese zur praktischen Arbeit in Bureau und Fa­
brik versklaven und ihre freien, politischen Bürgerrechte ver­
gewaltigen? Auch sie werden ihre politische Opposition durch
das alte Machtmittel des wirtschaftlichen Streiks und der Sabo­
tage manifestieren, und der Bürgerkrieg muß, wie gesagt, zur
unausweichlichen Folge werden!
Es gibt dagegen nur ein einziges Mittel: sofort allen Wirt­
schaftsgruppen die entsprechende Vertretung im Rätesystem
zu sichern. Diese Demokratisierung muß bereits in den politi­
schen Urzellen beginnen. Ist die industrielle Produktionsstätte
eine derselben, so darf sie sich nicht einseitig in einem Rat der
Lohnarbeiter konstituieren, sondern muß in ihrem Arbeiterrat
alle aufnehmen, die an der Arbeit werktätigen Anteil nehmen,
den Unternehmer, den Direktor, den Beamten in gleicher
Weise wie den Arbeiter. Und da die Fabriken nicht die einzigen
Zellen des Wirtschaftslebens darstellen, so sind auch alle übri­
gen Berufe und ihre (vorderhand noch existenten) sozialen
Schichtungen adäquat zu berücksichtigen. Die Vertretung die-
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scr wirtschaftlichen Gesamtheit aber bildet sodann das demo­
kratische Rätesystem.
Eine kürzlich erschienene Schrift Paul Schreckers10, die leider
den verfehlten Titel »Für ein Ständehaus«11 trägt, beschäftigt
sich mit der Konstitution und Struktur einer solchen gesetzge­
berischen Körperschaft, welche als Vertretung der Gesamt­
wirtschaft zu fungieren hätte. Schrecker behandelt diese Kör­
perschaft mit gutem Grunde als eine »zweite Kammer«, welche
neben das, wenigstens bis auf weiteres, bestehende demokra­
tische Parlament zu treten hätte und dem vor allem die wirt­
schaftlichen Gesetze zur Ausarbeitung zu überantworten wä­
ren, während die eigentliche politische Gesetzgebung der
ersten Kammer Vorbehalten bliebe. Aber auch bei ihm ist es
klar, daß mit dem Vordringen des sozialistischen Staatsgedan­
kens die wirtschaftliche Gesetzgebung immer mehr in den Vor­
dergrund zu treten hat, und daß daher die zweite Kammer ne­
ben ihren jeweiligen praktischen Aufgaben die Entpolitisierung
des Staates als eines ihrer Hauptziele sich vorzunehmen hätte.
Fürs erste aber hätte diese zweite Kammer das wichtigste wirt­
schaftliche Mandat im neuen Staate zu übernehmen: die
Sozialisierungsarbeit.
Denn gerade die Sozialisierungsarbeit bedarf der werktätigen
Mithilfe aller beteiligten Kreise, darf nicht dem Proletariat al­
lein überlassen bleiben, wenn sie das sein will, was sie sein soll:
sachgemäße und fruchtbare Arbeit. Sowenig man den bisheri­
gen Unternehmer, Direktor und Beamten in der Fabrik ent­
behren kann, sowenig ist er hier zu entbehren, wo es gilt, die
Betriebe auf völlig neue Basis umzustellen. Man fürchte nicht,
daß die Mitarbeit des Unternehmers diesen Weg erschweren
werde, denn man darf die Liebe, die er zu seinem Werke hegt,
das meistenteils seine Lebensarbeit ist, nicht unterschätzen.
Auch er arbeitet ja meistens nicht »für sich selbst« - die Ein­
fachheit der Lebensführung vieler Kapitalisten ist bekannt -,
sondern für das »Werk«, manchmal für seine Erben. Und er
wird in gleicher Weise an seinem Werke interessiert bleiben,
wenn man ihm Gelegenheit gibt, seine neuen Erben kennenzu­
lernen und ihnen das Testament seiner Arbeit überantworten
zu können. Es sind dies wohl nur psychologische Erwägungen,
aber sie sind für denjenigen, der einmal im industriellen Wirt­
schaftsleben gestanden ist, beweiskräftig. Und im übrigen ist
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dies auch das einzige, zweckentsprechende Mittel, um die
Sozialisierungsarbeit vor jener Überstürzung zu bewahren, die
- wie Rußland gezeigt hat - die Verelendung der Produktion
nach sich zieht, ihr aber hingegen jene »schrittweise« Entwick­
lung zu sichern, die die Sozialdemokratie immer propagiert
hatte. Daß bei dieser gesetzgeberischen Arbeit der einfache
Nutznießer des Kapitals, der Aktionär und Rentner ausge­
schaltet werden muß, daß im Rätesystem tatsächlich nur die
werktätigen Arbeiter und Fachmänner vertreten sein dürfen,
versteht sich von selbst.
Es wäre nun noch einzuwenden, daß das demokratische Räte­
system sich überhaupt nicht vom demokratischen Parlament
unterscheide: Otto Bauer12 lehnt das Rätesystem für Öster­
reich ab, weil die Bauernräte einfach christlichsozial, die Ar­
beiterräte sozialdemokratisch sein würden, und daß daher die­
selben Leute wie im Parlament zusammentreten würden. Dem
ist aber doch nicht so. Das Rätesystem soll eine Körperschaft
der Fachmänner, nicht die von Abgeordneten sein, und die Ge­
währ für diese Zusammensetzung ist schon in ihrer wirtschaftli­
chen Basis gegeben. Dem Sozialdemokraten, der auch im Par­
lament, in der Gewerkschaft den wirtschaftlichen Hintergrund
besitzt, wird in der Rätekammer nicht der rhetorische Politiker
einer »Partei«, sondern höchstens der Angehörige irgendeiner
anderen Wirtschaftsgruppe, etwa der des Unternehmertums,
entgegentreten. Und daß derartige Oppositionen - die hier
faktisch nur dem Gedeihen des »Werkes« gelten - von ganz an­
derer Fruchtbarkeit sind als die pathetischen der Parlamente,
zeigt sich auch jetzt schon in dem gedeihlichen Zusammenar­
beiten jener Kommissionen, in denen Unternehmer und Ar­
beiterschaft paritätisch ihren Platz gefunden haben. Auch hier
kann man sich den Argumenten Schreckers vollinhaltlich an­
schließen, welcher darauf hinweist, daß in dieser Rätekammer
zwischen dem Vertreter und seinen Urwählern ein steter (wirt­
schaftlicher) Kontakt bestehen muß, der es zu einem viel be­
weglicheren, individuelleren Instrument zu machen befähigt ist,
als es die Parlamente je sein können, die, völlig von der starren
Parteischematisierung beherrscht, immer nur das Ja und Nein
der den Urwählern längst entfremdeten Parteileitungen zeiti­
gen, und die ihre tatsächliche Arbeit bestenfalls nur so nebenbei
und im geheimen fast, nämlich in den Ausschüssen bewerkstel­
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ligen können, bei denen der Träger des Wirtschaftslebens, der
Fachmann, überhaupt nicht eine offiziell entscheidende, son­
dern nur eine beratende Stimme besitzt.
Ein letzter Einwand, allerdings der gewichtigste: wir sagten,
daß die reine Staatsidee stets der Diktatur benötige. Ein demo­
kratisches Rätesystem in seiner individuellen Beweglichkeit ist
kein diktatorisches Element mehr. Es nähert sich vielmehr im
Gegenteil dem Ideal des Apolitikums, das man - allerdings mit
einiger Kurzsichtigkeit - mit politischer Gleichgültigkeit ver­
wechseln kann, so daß das Projekt eines »Ständehauses« im
Parlament als »vormärzlich« abgelehnt werden konnte, wobei
zwar als Entschuldigung dienen kann, daß dieses Projekt von
den Deutschnationalen13 eingebracht wurde. Von wo aber soll
das demokratische Rätesystem seine sozial-diktatorischen Di­
rektiven beziehen? Kann dieses Apolitikum eben nicht ebenso­
leicht zum Instrument der Reaktion werden?
Diese Bedenken werden auch von der Schreckerschen Schrift
erhoben. Sie glaubt, ihnen mit dem Hinweis auf die strukturelle
Zusammensetzung der Rätekammer begegnen zu können.
Denn aus dieser Zusammensetzung (für welche durchaus gang­
bare Vorschläge gemacht werden) sollen ja vor allem jene Trä­
ger des Kapitalismus ausgeschaltet werden, die wie der Rentner
und der Aktionär an der werktätigen Arbeit nicht teilhaben und
daher im eigentlichen Kapitalismus ihre Lebensbedingung se­
hen, während es dem wahrhaft Schaffenden im Grunde gleich­
gültig ist, ob er sein Brot vom Aktionär oder von der Gesamt­
heit erhält - das letztere wird ihm sogar vielfach lieber sein.
Außerdem ist die Zusammensetzung in einer Form vorgesehen
(und auch die Abstimmungsmodalitäten könnten dieser ange­
paßt werden), die an die Struktur der bestehenden paritätischen
Kommissionen erinnert und eine Majorisierung der Kammer
durch ihre reaktionär-verdächtigen Mitglieder zumindest un­
wahrscheinlich machen.
Das Wesentliche aber ist, daß diese Zusammensetzung von ei­
ner höheren und imperativen Instanz ausgeht: und das ist die
Nationalversammlung, respektive, wenn auf die Urwähler zu­
rückgegangen werden müßte, das Plebiszit. Die Nationalver­
sammlung, das demokratische Parlament, geht aus dem glei­
chen und geheimen Wahlrecht hervor und in ihr ist die
Majorität diktatorisch und darf es legal sein. Das demokra­
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tische Parlament ist seiner Wesenheit nach politisch und soll
auch fürderhin die politische Gesetzgebung (bis sich diese als
überflüssig erweisen wird) für sich beanspruchen. Setzt es aber
eine zweite und wirtschaftliche Kammer als Apolitikum neben
sich, so darf es von dieser verlangen, daß es ihr die politische
Richtung als Gesamtheit vorschreiben darf, wie es ja auch sei­
nen eigenen wirtschaftlichen oder sonstigen Ausschüssen - die
Sozialisierungskommission ist das schlagendste Beispiel hierfür
- die genaue politische Wegrichtung vorzeichnet. Ist die Mehr­
heit des Parlamentes sozialistisch, so wird die gesetzgeberische
Arbeit der Rätekammer zur Gänze sozialistisch sein. Die Räte­
kammer steht zur parlamentarischen ersten Kammer im glei­
chen Verhältnis wie das Parlament zur Krone gestanden ist; die
Staatsidee des monarchisch-konstitutionellen Prinzipes mußte
unter allen Umständen diktatorisch in aller Gesetzgebung auf­
rechterhalten werden, im übrigen aber war das Parlament - we­
nigstens ideal gedacht - in seiner Gesetzgebung autonom-dik­
tatorisch. Es entsprach nur dem Wesen der Staatsidee, daß die
Krone und ihr Prinzip nicht in die parlamentarische Debatte
gezogen werden konnte - sie war eine vorgegebene Wegrich­
tung in der Gesetzgebung, gleichwie innerhalb der Rätekam­
mer der Sozialismus eine Wegrichtung der wirtschaftlichen Ge­
setzgebung ist, nicht aber mehr Gegenstand politischer Debatte
sein kann.
Damit aber erweist sich die Rätekammer doch als das, was sie
im Sinne der Staatsidee sein soll: die Diktatur der Idee. Ihre
einzige Voraussetzung hierzu jedoch ist in der legalen Majorität
innerhalb der demokratischen ersten Kammer oder, wenn man
will, in einem Plebiszit gelegen. Denn der Bestand der ersten
Kammer ist eigentlich mit dem Augenblick theoretisch er­
schöpft, da sie sich entschließt, die Rätekammer neben sich zu
setzen und ihr die politische Direktive der Majorität zu geben.
In einem Lande mit gesicherten Parteiverhältnissen wie etwa in
England wäre es ganz gut möglich, daß das demokratische Par­
lament nach erfolgter Wahl zu dieser einzigen legislativen Ar­
beit zusammenträte, um sich sodann sofort bis zu den nächsten
Neuwahlen zu beurlauben, die gesetzgeberische Arbeit aber
der nunmehr fix orientierten Rätekammer in der Zwischenzeit
zu überlassen. In Ländern starker politischer Beweglichkeit
wäre dies vorderhand wohl nicht möglich, und die parallele Ar­
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beit der politischen und wirtschaftlichen Kammer wird, wie ihre
gegenseitige fortlaufende Kontrolle, wohl vonnöten sein. Aber
auch hier wird sich die politische Arbeit des Parlamentes mit
der Zeit immer mehr erschöpfen, und selbst jene kulturellen
Gesetze, die Grundlagen von Staat, Kirche, Ehe und Schule be­
treffend, die jetzt noch als politische Angelegenheiten ersten
Ranges betrachtet werden, werden immer weiter in den Bereich
der Rätekammer rücken, die auch hier, und zwar durch die
Vertretung der geistigen Berufe, eine immerhin objektivere
Behandlung der geistig-kulturellen Fragen erwarten läßt, als sie
im alten Parteiparlament von Menschen »minderer Intelligenz
und verkümmerten sittlichen Verantwortungsgefühls« erfah­
ren haben, die, wie Schrecker sagt, »nichts kannten und wußten
als ihre sinnlosen Parteischablonen, nichts liebten als ihr arm­
seliges Mandat, und denen die Zeitungsartikel über ihre Reden
der Weisheit letzten Schluß bedeuteten«.14
Die Zweiteilung der gesetzgeberischen Gewalt in ein demo­
kratisches Parlament und ein demokratisches Rätesystem ist für
den Augenblick das einzige Mittel, um die Forderung und das
tiefe Bedürfnis der Sozialdemokratie nach Aufrechterhaltung
der Demokratie bei gleichzeitiger zielstrebiger Diktatur der so­
zialistischen Idee zu befriedigen, und das den demokratischen
Gedanken innewohnende Gerechtigkeitsprinzip ist jetzt auch
das einzige, das die Vergewaltigung, den Terror und den Bür­
gerkrieg verhindern, das Proletariat aber vor der damit verbun­
denen physischen und psychischen, ökonomischen und kultu­
rellen weiteren Verelendung behüten kann. Daß das
demokratische Parlament dereinst zugunsten des demokrati­
schen Rätesystems völlig abdanken wird müssen, gleichwie die
Monarchie zugunsten der Parlamente abdankte, verhindert
nicht, daß sie wie diese nunmehr eine Zeitlang nebeneinander
bestehen werden müssen. Denn war das Ziel der Parlamente
völlige Demokratisierung der Welt, und machte erst diese die
Monarchie überflüssig, so ist das Ziel des Rätesystems völlige
Entpolitisierung der Menschheit und kann erst durchdringen,
bis diese die politischen Schlacken abgestreift hat. Wer Revolu­
tion um der Revolution willen treibt, wird das Politische in das
Rätesystem selber verpflanzen und wird in einer kindischen
Ungeduld und Begehrlichkeit jene Blutschuld auf sich laden,
deren tiefstes Verbrechen die Entwürdigung des Menschen ist.
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Denn erst wenn der politische Staat völlig von der apolitischen
Idee durchdrungen sein wird, wird er zur Gesellschaft des freien
Menschen werden.

1 Vgl. Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturge­
schichte der Revolution (Berlin 1919), S. 133ff.
2 Vgl. u. a. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I.
Buch, 1. Hauptstück, § 8, Lehrsatz IV.
3 Otto Bauer (1882-1938), Austro-Marxist, österr. Politiker, 1918 Staatsse­
kretär des Auswärtigen.
4 Vgl. Otto Bauer, Der Weg zum Sozialismus (Wien 1919), S. 4 ff.
5 Anspielung auf eine Anekdote um Friedrich II. (1712-1786).
6 Gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk (1918), in dem das bolschewi­
stische Rußland sich dem Diktat der deutschen Heeresleitung unterwerfen
mußte.
7 Vgl. W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat
und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (Berlin 1918); ferner: Die
nächsten Aufgaben der Sowjet-Macht (Berlin 1918).
8 Friedrich Adler (1879-1960), Austro-Marxist.
9 Vgl. Friedrich Adler, »Eine ernste Warnung«, in: Arbeiterzeitung, XXXI, 119
(1. 5. 1919), S. 2.
10 Paul Schrecker (1889-1963), Professor für Mathematik, später für Philo­
sophie; Mitarbeiter zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Zeit­
schriften, 1929-1933 Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaf­
ten, 1940 Emigration in die USA, wo er an verschiedenen Universitäten
Philosophie lehrte. Einen Namen machte sich Schrecker vor allem als Leib-
niz-Editor und -Forscher. Vgl. seine Studie Leibniz. Ses idees sur l’organisa-
tion des relations internationales (London 1937). Seit 1960 war Schrecker
Emeritus für Philosophie an der University of Pennsylvania in Philadelphia.
Er war ein Freund Brochs aus der frühen Wiener Zeit; in New York und
Princeton traf Broch während des Exils wieder mit ihm zusammen.
11 Paul Schrecker, Für ein Ständehaus. Ein Vorschlag zu friedlicher Aufhebung
der Klassengegensätze (Wien 1919).
12 Vgl. Fußnote 4.
13 Gemeint ist die »Großdeutsche Vereinigung« (letzter Ausläufer der
Deutschnationalen Bewegung der Donaumonarchie), zu der sich 1919 sechs­
undzwanzigdeutschnationale Abgeordnete der österr. Nationalversammlung
zusammenschlossen. 1920 nahm sie den Namen »Großdeutsche Volkspartei«
an und forderte vor allem den Anschluß Österreichs an das deutsche Reich.
14 P. Schrecker, Für ein Ständehaus, a.a.O., S. 30-31.

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Zur Diktatur der Humanität
innerhalb einer totalen Demokratie

Vorbemerkung

Das vorliegende erste Kapitel des obbetitelten Buches versucht


in Gestalt einer »Bestandsaufnahme« die politischen Verhält­
nisse der beiden angelsächsischen Demokratien zu analysieren
und die Möglichkeiten der weiteren Ereignisabfolge an Hand
historischer Theorien und Analogien abzuschätzen. Die Unter­
suchung gelangt zur Feststellung einer sehr ernsten Gefährdung
des amerikanischen Staatswesens durch nationalsozialistisch­
diktatorische Strömungen; die Gefährdung der englischen De­
mokratie ist - soferne der Krieg nicht völlig andere Verhältnisse
schafft - geringer zu veranschlagen.
Das Buch beabsichtigt, einen Beitrag zur konstruktiven Poli­
tik zu liefern, d. h. die Staatstheorie der Demokratie durch
einige, wahrscheinlich bisher noch nicht beachtete Aspekte neu
zu beleuchten und solcherart die Möglichkeiten aufzuspüren,
unter denen sich die Demokratie als Exponent der Humanität
schlechthin gegen den Ansturm von links und rechts noch be­
haupten könnte.
Zu den Hauptthemen1 des Buches gehören:
- »Die technischen Mängel des demokratischen Parlamenta­
rismus«,
- »Die demokratische Unfähigkeit der Großstadt«,
- »Wirtschaftsumsturz und Massenpanikisierung«,
- »Das unbefriedigte religiöse Bedürfnis der modernen Mas­
sen«,
- »Das dämonische Element der Diktaturen«,
- »Traumerleben und Massenpsychologie«,
- »Bildwirkung als Massenführung«,
- »Möglichkeiten einer Humanitätsdiktatur«,
- »Theorie einer totalen Demokratie«,
- »Theorie eines Völkerbundes« etc.
Im letzten Abschnitt »Aussichten«2 des vorliegenden Einlei­
tungskapitels sind die praktischen Ergebnisse der Gesamtun­
tersuchung kurz vorskizziert.

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Bericht an meine Freunde

In meinem Buche »Diktatur der Humanität innerhalb einer to­


talen Demokratie« (Einleitungskapitel beiliegend) glaube ich
nachweisen zu können, daß die diktatorischen Regierungsfor­
men, gleichgültig ob von rechts oder von links, echten Massen­
bedürfnissen entgegenkommen. Wie überall im historischen
Gebiete, sind auch hier die Gründe für das Phänomen äußerst
komplex; sie liegen ebensowohl in den mechanischen Mängeln
des demokratischen Parlamentarismus, wie in der seit der Jahr­
hundertwende eingetretenen maschinentechnischen und
ökonomischen Weltumwälzung, wie - und dies nicht zuletzt -
in der ständig fortschreitenden Auflockerung der religiösen
Einstellungen. Einige dieser Gründe können durch staatliche
Maßnahmen abgeschwächt werden, andere überhaupt nicht.
Das Fazit als solches bleibt und darf als eine außerordentlich
empfindliche, an Panik grenzende Labilität der Massenseele
agnosziert werden. Ein totaler Staat, besonders unter diktatori­
scher Führung, vermag dieser massenpsychischen Labilität
wieder jenen Halt zu verleihen, den sie so überaus benötigt.
Oder er erweckt wenigstens die Hoffnung auf solchen Halt, und
auch dies ist schon sehr viel.
An und für sich wäre gegen eine diktatorische Staatsführung
nichts einzuwenden, wenn sie die ewigen Prinzipien der Huma­
nität, der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit respek­
tierte. Dazu ist sie aber wesensgemäß nicht imstande; die Dik­
taturen in ihrer heutigen Form sind dem radikal Bösen
zugekehrt. Ihre Folgen sind Krieg, Mord und eine bisher uner-
ahnte, ja, auch fernerhin unerahnbare Steigerung menschlichen
Leidens.
Die Demokratie darf also nicht einfach abdanken; sie trägt
Verantwortung für die Menschheit und für die Menschlichkeit,
und es ist ihr die Pflicht auferlegt, ihre Grundprinzipien auf­
recht zu halten und für sie zu kämpfen. Doch sie kann dies bloß
dann tun, wenn sie ihr liberalistisches laisser-aller aufgibt und
versucht, in ihrem eigenen Rahmen den von den Massen benö­
tigten Halt zu errichten.
Man kann von Staats wegen keine Religion installieren - das
etwas jämmerliche österreichische Beispiel3 hat dies erwie­
sen -, und man kann auch den Heilsbringer, nach dem die Mas-
25

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sen verlangen, und der ihnen von den Diktaturen durch einen
Pseudo-Heilsbringer präsentiert wird, nicht von Staats wegen
bestellen. Hingegen ist das Problem des Totalstaates den De­
mokratien immerhin zugänglich, und sie sind nicht berechtigt,
davor die Augen zu schließen.
Unter einem Totalstaat darf ein solcher verstanden werden,
dessen regulative Grundprinzipien in die geschriebene oder
ungeschriebene Verfassung eingegangen und für jeden Bürger
unter Strafsanktion verbindlich geworden sind. In den Dikta­
turstaaten ist die Person und der unwidersprechbare Wille des
Führers mit dieser Funktion betraut; über die Analogien zur
Kirchenverfassung und zum Gnadenbegriff braucht hier nicht
gehandelt zu werden, ebensowenig über den Begriff des Abso­
luten, der ausgesprochen oder unausgesprochen derartigen
Gedankengängen einverwoben ist.
Die Demokratien waren bisher das strikte Gegenteil von
Staatstotalitäten. Ihre Grundprinzipien, die sie mit ihrer
Staatsform verwirklichen wollen, stehen im großen und ganzen
außerhalb ihrer Konstitution. Die amerikanische Verfassung
gründet sich auf die Prinzipien, die in der Unabhängigkeitser­
klärung und später im Bürgereid ihren Ausdruck gefunden ha­
ben, jedoch niemals expressis verbis in die Gesetzgebung ein­
gegangen sind. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen dies
trotzdem geschehen ist, handelte es sich lediglich darum, den
Bürger gegen Übergriffe der Staatsgewalt zu schützen.
Es wäre verfehlt, zu glauben, daß in einer totalitären Demo­
kratie der Bürger etwa nicht gegen Staatsübergriffe geschützt
werden soll; die Schutzlosigkeit des Bürgers ist das traurige
Vorrecht der Diktaturtyranneien. Noch weniger freilich würde
es genügen, den Staat als solchen gegen die Übergriffe seiner
Bürger zu schützen, obwohl auch dies zu geschehen hat; doch
mit einem »Gesetz zum Schutz der Republik«4, wie es von der
Weimarer Republik und von Österreich geschaffen wurde, ist
nach den dort gemachten Erfahrungen kein Auslangen zu fin­
den. Die gewünschte Totalwirkung des Grundprinzipes der
Humanität beschränkt sich nicht auf das Verhältnis des Staates
zum Bürger und des Bürgers zum Staate, sondern muß sich in
einer Durchtränkung des gesamten Rechts-Organes vollziehen,
d. h. in einer organischen Gesetzesgewalt, welche das gesamte
juristisch erfaßbare und faßbare Verhalten der Bürger unter­
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einander in ihrer Eigenschaft als konkrete Personen regelt.
Dies ist das Ziel einer jeden Gesetzgebung, da jede Gesetzge­
bung letztlich zu einer totalitären Ganzheit strebt, im besonde­
ren aber hat es das Gesetzesziel einer Staatstotalität zu sein, die
das Zusammenleben ihrer Bürger unter die Grundprinzipien
der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit, unter das
Prinzip der physischen und psychischen Integrität der Person,
kurzum unter das Prinzip einer unbedingten Wahrung der
menschlichen Würde gestellt haben will.
Eine Demokratie, die auf diese Weise ihre Totalität anstrebt,
verlangt zum Aufbau ihres Rechts-Organes nach einer Reihe
von Gesetzen, denen es obliegt, die Einzelperson mit ihren
Rechten nicht nur - wie bisher - gegen den Staat, sondern auch
gegen Nebenmenschen unbedingt zu schützen. Humanität ist
ein soziales Gut und muß in einer kategorischen, allgemeingül­
tigen Sozialmoral verwurzelt werden. Im Mittelpunkt einer sol­
chen Gesetzesgruppe hätte demnach ein »Gesetz zum Schutze
der Menschenwürde« zu stehen, das etwa wie folgt zu formulie­
ren wäre:
»Wer durch Worte oder Taten danach trachtet, die Prinzipien der
Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Humanität aufzu­
heben, wer durch Worte oder Taten trachtet, einen Menschen, der sich
nicht gegen eine gesetzliche Bestimmung vergangen hat, oder eine
Gruppe solcher Menschen aus der ihnen vom Schöpfer verliehenen all­
gemeinen Menschengleichheit auszuschließen, wer danach trachtet, ih­
nen ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben und Freiheit und Glück­
streben abzustreiten oder zu schmälern, ferner, wer durch Worte oder
Taten danach trachtet, einzelne Personen oder Gruppen von solchen,
welche sich nicht gegen die Gesetze des Staates vergangen haben, aus
den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten auszuschlie­
ßen und insbesondere derart zu diskriminieren, daß ihnen nicht der ge­
rechte Mitgenuß an den bürgerlichen Rechten und Ehren, nicht die
gleiche Anwartschaft an den öffentlichen Einrichtungen, nicht die
gleiche Freiheit ihres persönlichen Lebens, m. a. W., nicht die gleiche
physische und psychische Integrität wie den übrigen Bürgern zustehe,
schließlich, wer danach trachtet, Völker oder irgendeine andere Men­
schengruppe oder einzelne Personen derart zu diffamieren, daß sie zum
Gegenstand des Hasses werden, wer nach solchem trachtet, verstößt
gegen die Grundlage des Staates und soll straffällig gemacht werden.
Gegen diese Straffolgen schützt keine vom Staate sonstwie gewährlei­
stete Rechtsimmunität.«
Mit einem solchen Gesetz ist der Humanitätsfeind, der in dieser
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Eigenschaft eben als Staatsfeind zu gelten hat, definiert. Ein
Staat, welcher ein derartiges Gesetz erläßt, steht im diametra­
len Gegensatz zu einem jeden, der die Hitlersche Judengesetz­
gebung angenommen hat und kann sich daher auch hiervon
eine entsprechende Wirkung erhoffen: erstens sieht eine derar­
tige Gesetzesgruppe jene sehr notwendige, technische Selbst­
beschränkung der Demokratie vor, die geeignet ist, ihre inner­
und außerparlamentarische Selbstzersprengung zu verhindern;
zweitens aber, über die negative Verhinderungswirkung hinaus,
läßt sich hievon eine positive Propagandawirkung für den Hu­
manitätsgedanken erwarten, die an Stärke der von den Nürn­
berger Erlässen5ausgegangenen zumindest gleichkommt, denn
die wahre Popularität einer Idee ist, wie das deutsche Propa­
gandaministerium sehr gut weiß, stets im Gerichtssaal veran­
kert; ein wirkungsvolles Gebot hat stets die Form eines »Du
sollst nicht« zu erhalten.
Eine Freiheit, die sich aus Freiheitsgründen selber aufheben
läßt, eine Humanität, die sich aus Humanitätsgründen selber
vernichten lassen will, ist ein Unding. Und eben deswegen ver­
langt eine Totaldemokratie, die den Volksmassen den von ih­
nen benötigten seelischen Halt zu geben wünscht, nicht nur
nach einer Abriegelung der staatsgefährdenden Gegenpropa­
ganda, sondern auch, durchaus nach dem Muster der Diktatu­
ren, nach dem Aufbau einer zentral geleiteten, mit allen Mitteln
der Presse, des Radios und des Films arbeitenden propagandi­
stischen Volksaufklärung. Denn die Masse weiß nichts von den
Gütern, in deren Besitz sie sich befindet, sie braucht sogar sehr
lange, um deren Verlust zu bemerken, und ihre Verführbarkeit
gilt stets einem mit Neuheitsreiz ausgestatteten Bilde, von dem
sie alles Heil erwartet, vor allem dann, wenn es mit dem Bilde
eines bekämpfbaren Feindes verbunden ist und hierdurch eine
Aggressionsbefriedigung versprochen wird.
Im Gegensatz zu den Diktaturen, welche mit all ihren Maß­
nahmen, nicht zuletzt mit ihrer Propaganda, sich an die trübsten
Masseninstinkte wenden, hat die Demokratie wesensgemäß die
ungleich schwerere Aufgabe auf sich genommen, die hellen und
rationalen Kräfte der Massenseele zu erwecken und zu mobili­
sieren. Der Aufgabenkreis der Demokratie ist ein ungeheuer
großer, und er wächst mit ihrer totalitären Intensivierung, da
der totalitäre Freiheitsentzug, mit dem die Diktaturen sich die
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Arbeit so bequem erleichtern, für eine Demokratie bloß an den
ohnehin nicht mehr zu ihrem Gebiet gehörigen Grenzfällen der
Selbstzersprengung in Wirksamkeit treten darf. Wenn also die
Totaldemokratie zur Bewältigung ihrer Aufgaben, welche von
dem notwendigen Umbau ihres technisch-parlamentarischen
Apparates bis eben zur intensivsten Propaganda für ihre Hu­
manitätsgrundprinzipien reichen, das gesamte Rüstzeug des
Staates in Stellung zu bringen hat und das volle Verfügungs­
recht über den gesamten Waffenbestand sowohl in physischer,
wie in geistiger Beziehung für sich in Anspruch nehmen muß,
(da solches zu den ersten Erfordernissen eines Kriegszustandes
gehört), so kann dies gleichfalls nur mit den der Demokratie
adäquaten, sohin nur mit rationalen und rationalsten Mitteln
geschehen, und gerade weil es bei alldem um die so überaus un­
zugänglichen, der rationalen Behandlung bisher noch weitge­
hend verschlossenen Belange der Massenpsyche geht, wird es
notwendig werden, eine rational-wissenschaftliche Annähe­
rung an dieselben tunlichst bald anzubahnen: der augenblick­
lich sich ausbreitende Massenwahn ist zumindest ebenso ge­
fährlich wie der Krebs, und die Mortalität, die sich aus dieser
psychischen Seuche ergeben hat, übersteigt bereits heute die
des Krebses um ein Tausendfaches, wird sich aber ins Hundert­
tausendfache steigern, soferne dem Wüten der Krankheit nicht
Einhalt geboten wird; es liegt daher im dringendsten Interesse
aller entgegengesetzt gerichteten, humanitätsbejahenden
Kräfte, unverzüglich die Gründung eines »Institutes zur Erfor­
schung und Bekämpfung psychischer Seuchen« ins Auge zu
fassen und seine Errichtung von Staats wegen oder aus privaten
Mitteln oder in Kombination der beiden Initiativen anzustre­
ben.
Gewiß ließen sich die Wünsche noch weiter ausdehnen; sie
hätten zweifelsohne bis zur Neuerrichtung eines regenerierten
Völkerbundes zu reichen. Doch da der Rahmen des Realisier­
baren nicht durchbrochen werden soll, so müßte es fürs erste
genügen, daß sich in den Ländern der Demokratien ehestens
eine Vereinigung von Personen bildete, denen der Weiterbe­
stand der Humanität und der Kultur am Herzen liegt und [die]
daher gewillt sind, die Verwirklichung der angeführten Pro­
grammpunkte tatkräftig in die Wege zu leiten. Diese Vereini­
gung hätte also zu fordern:
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1. Es mögen die Regierungen und Parlamente der demokrati­
schen Länder unverzüglich eine Gruppe von Gesetzen zum
Schutze ihres humanitätsorientierten, demokratischen Staats-
grundprinzipes erlassen, in deren Mitte ein »Gesetz zum
Schutze der Menschenwürde« zu stehen hätte.
2. Es mögen die demokratischen Staaten unverzüglich eine
zentrale Propaganda einrichten, welche mit allen Mitteln der
Presse, des Films, des Radios, usw. eine aufklärende Tätigkeit
zur intensiven Massenführung in der Richtung des humanitären
Staatsgrundprinzipes aufzunehmen hat.
3. Es möge unverzüglich zur Gründung eines »Institutes zur
Erforschung und Bekämpfung psychischer Seuchen« geschrit­
ten werden.
Der Zweck all dieser Maßnahmen, der Zweck der gedachten
Vereinigung ist »Die Diktatur der Humanität durch eine totale
Demokratie«.

Erstes Kapitel

Persönliche Beobachtungen
Ich war in der Lage, das Aufkommen des Nationalsozialismus
innerhalb Deutschlands während der Jahre 1928-33 zu beob­
achten; ich habe ferner die Entwicklung der psychischen Situ­
ation in Österreich bis 1938 mitgemacht und glaube, trotz der
Kürze der Zeit, die ich nunmehr in England und Amerika ver­
bracht habe, die Ansätze zu einer analogen Entwicklung kon­
statieren zu dürfen.
Es wäre lächerlich, wenn man bloß von der Wirkung der deut­
schen Propaganda spräche: gewiß besteht diese Propaganda, sie
besteht sogar in einem viel intensiveren Maße, als gemeiniglich
angenommen wird, doch sie wäre nicht wirksam, wenn sie nicht
auf einen aufnahmsbereiten Boden fiele, d. h. wenn die fasci-
stisch-diktatorischen Ideen nicht einen »gesunden« Kern besä­
ßen, d. h. einen solchen, welcher dem Zeitgeist entspricht.
Die deutsche Propaganda - die italienische ist auf die Levante
beschränkt —hat zwei Angriffspunkte: erstens die besitzend­
herrschende Klasse, die durch die Angst vor der Bolschewisie-
rung zu kaptivieren ist, zweitens aber die Mittelklasse und die
Untermittelklasse, welche an ihren negativen revolutionären
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Instinkten gepackt wird, d. h. an ihrer Tendenz, sich von beste­
henden Moraltraditionen loszulösen und sich einer Moral des
»Warum-nicht« anzuschließen. Es wird also einerseits eine
konservative Übermoral, andererseits eine revolutionäre Un­
termoral propagiert, m. a. W. es wird jedem recht getan, wie es
zum Wesen eines jeden guten Inseratengeschäftes gehört.
Beide [Mittel] sind in gleicher Weise wirksam, ersteres weil es
sich an die unmittelbaren Träger des Machtapparates wendet,
letzteres weil es jene Volksschichten ergreift, welche die ei­
gentlichen Träger jeder Diktatur sind. Die propagierte Über­
moral ist bloß insoferne ehrlich, als sie Ausdruck der imperia­
listischen Reichspolitik ist, hingegen ist die an die breiten
Volksschichten herangetragene Untermoral wesentlich nackter
und stellt die eigentliche »Weltanschauung« der modernen
Diktaturen dar ; im Wesentlichen stellt sie sich als Bruch mit al­
len Prinzipien der Humanität und der Gerechtigkeit dar,
kurzum als Bruch mit der absoluten Ethik an sich, freilich da­
durchgemildert, daß die Lizenzierung der Frage »Warum nicht
morden?« »Warum nicht rauben?« nur in Ansehung einer Mi­
noritätengruppe, den Juden, statthaben soll, eine Einschrän­
kung, welche die weltanschauliche Gefahr der Moralaufhebung
für die herrschenden Klassen in einer durchaus angenehmen
Weise camoufliert.
Nach meinen - so weit es Deutschland und Österreich betrifft
- ziemlich intensiven Erfahrungen findet der Nationalsozialis­
mus mit diesen Grundrichtungen sein propagandistisches Aus­
langen. Die großen Massen sind dem kirchlichen Traditions­
zwang teils entronnen, teils entwachsen - es sei hiezu nebenbei
erwähnt, daß die Diktatur sich in zunehmendem Maße gegen
die Kirchlichkeit stellt, je mehr sie der herrschenden Klasse und
ihrer Moral entraten kann -, und gerade dieses Erlöschen der
religiösen Bindung gibt der Moral des »Warum nicht?« [die]
offene Türe, ja, in einigen Spezialproblemen, wie z. B. in der
Ehegesetzgebung, sogar eine gewisse innere Berechtigung. Be­
denkt man ferner, daß der Durchschnittsmensch sich von dem
Terror einer Diktatur keine Vorstellung zu machen vermag, er
also durchaus nicht weiß, welchen Preis er zu zahlen haben
wird, ja, dies auch meistenteils nicht einmal klar weiß, wenn er
bereits unter den Terror gestellt ist, so ist die Verlockung einer
Moralaufhebung geradezu unwiderstehlich zu nennen.
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Die deutsche Propaganda nützt diese Sachverhalte in einer
bewunderungswürdig genialen Weise aus. Die Träger der Pro­
paganda arbeiten teils unbewußt - zumindest dort, wo es sich
um die Beeinflussung der höheren Gesellschaftsschichten han­
delt-, teils durchaus bewußt, und vielfach hiefür sogar bezahlt.
In England besteht zweifelsohne ein sehr engmaschiges Agen­
tennetz, während in Amerika jeder einzelne Deutsche und gar
erst die deutschen Vereine zu Agenten gemacht werden; die
deutschen Konsulate führen eine genaue Evidenzliste mit aus­
gearbeitetem Stammbaum über alle Ausländsdeutschen, und
diese erhalten vom Institut für Auslandsdeutschtum in Stuttgart
ihre einheitlichen Direktiven. Hiebei spielt das antisemitische
Propagandamaterial eben eine besonders ausschlaggebende
Rolle, weil ja an der Judenfrage die Instinkte des Moralekels
am leichtestenzu entfachen sind. Unter diesem Gesichtspunkt
kann die deutsche Judenausweisung nur mit ehrlichster Be­
wunderungbetrachtetwerden, denn abgesehen von dem finan­
ziellen Resultat der geglückten Beraubung, ist der Hinauswurf
des Beraubten eine propagandistische Großtat; jedes Emi­
grantenschiff muß den Haß gegen die ungebetenen Gäste in den
Emigrationsländern schüren, muß letztlich progermanisch wir­
ken, umsomehr als die fascistischen Gruppen in den betroffe­
nen Ländern sich dieses Agitationsmaterial nicht entgehen las­
sen, die Arbeitslosen auf die Einwanderer hetzen und damit im
Grunde deutsche Politik betreiben; niemand verzichtet gerne
darauf, einen Unglücklichen auch noch überdies schuldig zu
sprechen, und jedwede zu diesem Zwecke geäußerte Lüge, sei
sie noch so durchsichtig, noch so leicht widerlegbar, wird ohne
weiteres geglaubt. Die nämliche, sonderbar zweigleisige Pro­
pagandawirkung muß, in noch weitaus stärkeren Ausmaßen,
den Erfolgen der Diktaturstaaten zugemessen werden: die Nie­
derlagen des eigenen Landes, die Nachrichten über Barbaris­
men, die Nachrichten über Treulosigkeit, Wortbruch und ne­
benbei auch über Zahlungsunwilligkeit, wirken keineswegs, wie
man annehmen sollte, gegen die Diktatoren, sondern durchaus
für sie, denn für eine materialistische Gesellschaft ohne ethi­
sche Bindung hat auch ein toller Hund »Erfolge« und muß an­
erkannt werden, wenn er hiedurch sein Fressen findet; je tiefer
die sittliche Entrüstung einer Regierung wird und je größer die
Empörung, welche von den Journalen geäußert wird, desto in­
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tensiver wirkt die deutsche Behauptung, daß Regierung wie
Presse von den Juden gekauft worden seien, desto weniger wer­
den die Nachrichten geglaubt, und aus diesem circulus vitiosus
gibt es kein Entrinnen. Es sind dies meine persönlichen Fest­
stellungen, und ich glaube, mich mit ihnen nicht zu täuschen:
es mag sein, daß dieser Tatbestand in England, obwohl er auch
dort klar genug zutage tritt (- ich habe während der Tage der
Kriegsgefahr6 mit Einrückenden gesprochen, welche es nicht
fassen konnten, daß sie sich »für die Juden« schlagen sollten -),
immerhin noch ein Gegengewicht in der traditionellen Schwer­
beweglichkeit des politischen Engländers besitzt, doch in Ame­
rika und speziell in dem judenüberschwemmten New York sind
die Verhältnisse weitaus krasser, nicht nur wegen des Völker­
gemisches und des deutschen Einschusses, sondern auch wegen
der rauh-beweglichen, rücksichtslosen Wirtschaftsform dieses
Landes; der Mensch ist überall gleich, und wenn auch der Ame­
rikaner der Mittelklasse sich seine Demokratie nicht nehmen
lassen will, so stellt er sich doch vor, daß ihm diese Demokratie
die Lizenz zu Raub und Plünderung und Vergewaltigung werde
erteilen müssen.
Gewiß gibt es sowohl in England wie in Amerika (vielleicht
aber auch in Deutschland) bloß eine verschwindend kleine Mi­
norität ausgesprochener Fascisten. Doch wahrscheinlich ist die
Gruppe überzeugter Antifascisten nicht viel größer; weder die
Parlamentsreden in beiden Ländern, noch die Stellungnahme
der Presse sind hiefür ausschlaggebend, und am allerwenigsten
darf man sich darauf verlassen, daß sich die überwiegende An­
zahl der Engländer und Amerikaner für Demokraten, z. T. so­
gar für demokratische Sozialisten halten, denn all dies haben
wir mit etwas anderer Färbung in jedem einzelnen der jetzigen
Diktaturstaaten erlebt, all dies ist viel zu vage und zu fluktuie­
rend, um ein richtiges Gesinnungsbild zu ergeben: wirklich an-
tifascistisch dürfte lediglich eine verhältnismäßig dünne Intel­
lektuellenschicht sein, sowie eine Vorhut der Arbeiterschaft,
die freilich auch unter intellektueller Führung steht, und sicher­
lich nicht ausreicht, um die labile Masse des Elendsproletariats
vor fascistischen Schlagworten zu bewahren. Die Fascisierung
Englands und Amerikas (von Frankreich ganz zu schweigen)
steht also durchaus im Bereich konkretester Möglichkeit.
Schließlich darf und muß man es auch als bezeichnendes Sym-
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ptom werten, daß Chamberlains fascistische Sympathien über
eine recht solide Mehrheit im Parlament verfügen und die Op­
position sich mit oratorischen Exkursen begnügt, und wenn
auch in Amerika vorderhand derartiges nicht zu verzeichnen
ist, so vermute ich dennoch - und wahrscheinlich mit Recht -,
daß in den Kreisen des reinen Amerikanismus sehr starke poli­
tische Kräfte am Werke sind, um (- wenn auch nicht gerade mit
Unterstützung, so doch im Kontakt mit Deutschland -) eine
fascistische Neuordnung vorzubereiten, die explosiv in Er­
scheinung treten dürfte und gegen die der Chamberlainsche7
Evolutionsfascismus wahrlich ein Humanitätsideal sein könnte:
schubweis-explosives Wachstum gehört zum Wesen des soge­
nannten Zeitgeistes, gehört sogar zum Wesen einer so rauhen
und dynamischen Lebensform, wie es die amerikanische ist.
Niemals wäre der fünfjährige sukzessive Selbstmord der West­
mächte, der in München8seinen ebenso notwendigen wie über­
flüssigen Abschluß gefunden hat, möglich gewesen, wenn er
nicht eben Ausdruck [des] legendären Zeitgeistes gewesen
wäre.

Interpretation
Es ist das Umsichgreifen einer psychischen Seuche, was sich da
vor unseren Augen abspielt. Nun muß man allerdings mit der­
artigen Bezeichnungen äußerst vorsichtig umgehen; es ist ei­
nerseits viel zu simpel, andererseits viel zu gewagt, um einen
Weltzustand kurzerhand als krankhaft zu bezeichnen: der je­
weilige Zeitgeist war im Laufe der Weltgeschichte immer wie­
der »krank«, ja, es scheint dies sogar - zumindest in den Augen
der jeweiligen älteren Generation - ein Dauerzustand des Zeit­
geistes zu sein, und trotzdem hat sich die Welt durch all die
Krankheit hindurch zu einem Zustand höherer Humanität ent­
wickelt. Wie weit also die Seuchenbezeichnung für die heutigen
Erscheinungen zutrifft, wie weit dieselben unter die Kategorie
eindeutig echter psychischer Seuchen fallen, wie es z. B. der
Hexenwahn und der Flagellantismus gewesen sind, dies bedarf
einer gewissen Scheidung innerhalb der Phänomene. Voranzu­
stellen ist, daß psychische Seuchen stets auch mit einem An­
steckungswillen behaftet sind. Der Irrsinn steht nämlich in ei­
nem sehr merkwürdigen Verhältnis zur Ethik: solange der
Irrsinnige noch eine Spur Vollbewußtsein besitzt, schämt er sich
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mit diesem seiner Narrheit, weiß er, daß er mit der Narrheit ge­
gen ein absolutes Sittengesetz verstößt, und dieses schlechte
Gewissen sucht er durch Propagierung seiner Narrheit zu be­
schwichtigen, meinend, daß die absolute Geltung dieser Narr­
heit ihn zum Gesunden machen werde: er sucht sozusagen eine
demokratische Majorität für seine Narrheit. Die Expansions­
bestrebungen der germanischen Weltanschauungen sind nicht
zuletzt auf dieses Irrsinnscharakteristikum zurückzuführen.
Diese Bewertung fallt aber in sich zusammen, wenn die prak­
tische Seite der Irrsinnspropagierung betrachtet wird. Die Dik­
taturen sind keineswegs vollirrsinnig, auch nicht in ethischer
Beziehung - umsomehr Grund für ihr schlechtes Gewissen!
sie wissen ganz genau, daß es unumstößliche ethische Werte wie
Gerechtigkeit, Pakttreue etc. gibt, und sie sind auch immerzu
bereit, dieselben für sich in Anspruch zu nehmen, zweifelsohne
sogar oftmals mit Berechtigung, wie etwa in dem Wunsch nach
Revision des Versailler Vertrages, etc. Und in den Dienst sol­
cher Gerechtigkeit wird die Irrsinnspropagierung zu einem
durchaus rationalen Mittel: Deutschland steht mit imperialisti­
schen Ansprüchen in der Welt, steht also Gegenspielern und
Feinden gegenüber, darf also nicht wünschen, daß die Kriegs­
gefahr auch durch weltanschauliche Gegensätze verschärft
werde. Darüber hinaus aber bedeutet die Hineintragung der
weltanschaulichen Konflikte ins gegnerische Lager eine unge­
heuere Schwächung des Gegners; ein zwischen Kommunismus
und Fascismus geteiltes Frankreich ist von Deutschland ohne
weiteres zu erledigen. Je mehr die Demokratien durch Kon­
flikte beladen werden, desto unbeweglicher wird der ohnehin
schwerfällige parlamentarische Apparat, desto größer wird der
Rüstungsvorsprung der dynamischen Diktaturstaaten. Das Ju­
denproblem als Agitationsmaterial, die Einpumpung dieses le­
bendigen Materials in die gegnerischen Länder bekommt, von
hier aus gesehen, noch einen zweiten, eminent praktischen
Sinn.
Da die Rückdemokratisierung der Diktaturen versäumt wor­
den ist, scheint unter diesen Umständen praktisch nichts ande­
res übrig zu bleiben, als eine Fascisierung der demokratischen
Länder - selbst um den Preis der Aufopferung der Emigranten
- unter möglichster Beschleunigung vorzunehmen. Ein von
Diktaturen umzingeltes demokratisches Frankreich ist gefähr­
35

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det: für ein fascistisches Frankreich, für ein fascistisches Eng­
land, eingegliedert in den Kreis der anderen Diktaturen, be­
ginnt einfach wieder das nämliche imperialistische Kräftespiel,
wie es unter den Demokratien seit jeher bestanden hat und wie
es seit altersher der diplomatischen Tradition und Routine ent­
spricht. Zu dieser sehr windigen Hoffnung wurde die Macht­
stellung der einstigen Demokratien reduziert, zu einer Hoff­
nung, die ihnen unter Umständen sogar auch noch die
Sympathie und die Hilfe Amerikas verscherzen kann. München
hat diesen Weg ziemlich deutlich aufgedeckt, und die Ge­
schicklichkeit der Diktaturstaaten, die dieses Resultat gezeitigt
hat, ist umso größer, als sie hiedurch ihre Zwitterstellung in ei­
nen Doppeltrumpf verwandelt haben: an und für sich war die
Dreiteilung Europas in Bolschewismus, Fascismus, Demokra­
tismus für die praktische Politik nahezu untragbar, an und für
sich stehen die Diktaturen infolge ihrer Regierungsform und
ihrem ökonomischen Programm dem Bolschewismus weitaus
näher als den kapitalistischen Demokratien, doch unfähig, ne­
ben Rußland innerhalb eines reinen Kommunismus die ange­
strebte europäische Führerrolle zu übernehmen, zumindest
nicht, ehe Rußland entscheidend geschwächt worden ist, muß­
ten die Diktaturen, u. z. vor allem Deutschland, trachten, den
- eigentlich bloß oratorisch bestehenden - Antagonismus ge­
gen Rußland zu unterstreichen, um zuerst einmal die Führer­
rolle in einem voll-fascistisch gewordenen Europa zu überneh­
men. München bedeutet also nicht nur die im Hitlerschen
Konzept liegende (- es ist alles in Mein Kampf nachzulesen -)
Schwächung des Westens, sondern eingestandenermaßen auch
die Rückendeckung gegen Osten. Gelingt es, die westliche
Schwächung durch innere Schwierigkeiten in den betreffenden
Ländern derart gründlich vorzunehmen, daß ein Krieg gewagt
werden kann, so wird dieser den Marsch gegen Osten einleiten;
andernfalls wird dieser Marsch - und dies ist eine Lockspeise
für den Westen - mit der Unterstützung gleichberechtigter
Partner vorgenommen werden, wobei eben dann die Streitig­
keit über die Beuteverteilung noch aussteht. Zweifelsohne ist
aber in dieses Konzept auch Amerika eingeschlossen, gegen
welches mit Hilfe der lateinamerikanischen Staaten bereits die
nämliche Einkreisungspolitik, unterstützt durch innere Zerset­
zung, vorbereitet wird; die Fehler Englands, d. h. die Berufung
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auf die unangreifbar isolierte Lage, die Berufung auf die uner­
schöpflichen Hilfsmittel des Territoriums, werden heute schon
von Amerika begangen, und sie werden sich genauso wie in
England schließlich rächen müssen.
Von Irrsinn kann also angesichts solch [eines] großen und
durch seine Einfachheit bestechenden Konzeptes keine Rede
sein. Was hier geschieht, ist genial durchgeführt, rein machia-
vellistische Machtpolitik, und in ihrem Rahmen legitimieren
sich alle Niederträchtigkeiten, alle Barbarismen, alle Verbre­
chen, deren sich Deutschland bisher schuldig gemacht hat. Gibt
man weiter zu, daß der Versailler Vertrag ein Verstoß gegen die
Weltgerechtigkeit gewesen ist, gibt man weiter zu, daß
Deutschland und Italien tatsächlich in der kapitalistischen
Weltverteilung zu kurz gekommen sind, daß also die Durchfüh­
rung des deutschen Programms eine Erhöhung des Gesamtge­
rechtigkeitszustandes in der Welt bedeuten könnte, so wäre die
Hinopferung des jüdischen, des spanischen, des baskischen, des
tschechischen Volkes, denen noch manche anderen kleineren
Nationalitäten folgen werden, eben der Preis, welcher für den
Gerechtigkeitszuschuß in der Welt zu bezahlen wäre. Und die
Hingeopferten hätten eben ihre Märtyrerrolle auf sich zu neh­
men. Ich habe - wenn auch nicht in so krasser Formulierung -
in puritanischen Kreisen, denen die Versailler Ungerechtigkeit
seit zwanzig Jahren ein Dorn im Auge gewesen war, tatsächlich
Ansätze zu einer derartigen Stimmung gefunden, Ansätze,
die bereits den Keim zur Selbstaufgabe Englands enthielten,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Stimmung, die sich
allerdings des Endresultates nicht bewußt war und jetzt in Er­
schrecken über die Greuel an der Humanität umgeschlagen
ist, durch Jahre hindurch die englische Politik mitbestimmt
hat.
Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: die Struktur
der Diktaturstaaten ist weitgehend bereits der Planwirtschaft
unterworfen und wird sich notgedrungen weiter zu immer
schärferen sozialistischen Formen entwickeln; ob man dies als
Vorstufen oder als Parallelerscheinungen zu den sowjetischen
Formen werten will, ist gleichgültig, via factum stellt sich aber
da wie dort die Diktatur als Übergangsepoche zu einem, freilich
höchst legendären, endgültigen Glückseligkeitszustand der
Menschheit dar, und beide erheben den Anspruch, jedwede
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Wertvernichtung und jedwede Lebensvergewaltigung in Anse­
hung solcher Zukunft vornehmen zu dürfen.
Der überzeugte Kommunist darf also nicht einmal die Hin-
mordungder Kommunisten in Deutschland beklagen, so wenig
wie der überzeugte Stalinist die Opfer des russischen Regimes
zu beklagen hat: in beiden Fällen weisen die Phänomene auf ih­
ren geistigen Urquell, die Hegelsche Dialektik, zurück, in bei­
den Fällen muß in ihrem Sinne gesagt werden, daß das Seiende
immer vernünftig ist, in beiden Fällen darf nicht der Vorwurf
des Irrsinns erhoben werden, besonders dann nicht, wenn man
sich mit der Erbarmungslosigkeit historischen Geschehens ab­
gefunden hat und nüchtern erkennt, daß lediglich Gewalt im­
stande war, imstande ist, irgendeine Änderung im Weltzustand,
u. z. sowohl im großen wie [im] kleinen, sowohl zum guten wie
zum schlechten, herbeizuführen und durchzusetzen.
Nichtsdestoweniger kann sich niemand - und auch die Haupt­
akteure selber sind hievon nicht ausgenommen - dem Eindruck
völligen Irrsinns im heutigen Weltgeschehen entziehen. Wird
dieser Eindruck durch die Besessenheit hervorgerufen, mit
welcher die Diktaturen ihre Zwecke verfolgen? Gewiß ist Be­
sessenheit - schon der Name sagt dies - ein integrierender Be­
standteil jedweden Irrsinns, doch auch der geniale Mensch ist
von seiner Idee besessen, und Genialität in der Durchführung
ist den Diktaturen keineswegs abzusprechen. Irrsinnshandlun­
gen zeichnen sich durch die Unverständlichkeit ihrer Motive
aus, aber nicht nur, daß der geniale Mensch gleichfalls seinen
Zeitgenossen zumeist unverständlich ist, es liegt hier gar nicht
Unverständlichkeit vor, im Gegenteil, die Motive der Diktatu­
ren sind mehr als verständlich, und ihre Begründungen sind zu­
meist schlechterdings platt: weit eher wären ihre Gegenspieler
irrsinnig zu nennen, da sie —in der nämlichen imperialistischen
Geisteshaltung befangen - sich in Gefahr begeben haben, ihre
vor kurzem noch weitgehend gesicherten Positionen sich aus
der Hand nehmen zu lassen. Gerade aber die überaus große
Verständlichkeit, ja, Banalität der diktatorischen Ideologie
deckt deren Irrsinnswurzeln auf: Besessenheit, die sich auf Ba­
nalität bezieht, ist nicht - wie die des genialen Menschen - auf
die Werttotalität der Welt bezogen, sie begreift bloß einen mehr
oder minder engen, bereits vorhandenen Wertteil, eben jenen,
von dem sie besessen ist, und während der geniale Mensch mit
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seinem Werk immer die logische Gesamtmasse der Welt wei­
terentwickelt (und dadurch unverständlich werden kann), sucht
der Irrsinnige dieselbe unter die Logizität seines Besessenheits­
ausschnittes zu bringen; es ist das sittliche Skalar der Genialität
und des Irrsinns, das damit zutage tritt. Im Gegensatz zur ge­
nialischen und weltgeöffneten Besessenheit ist die des Irrsinni­
gen stets abgesperrt und dadurch antisozial und antihuman,
weitgehend also auch infantil, dem Kinde gleichend, für das es
keine Wertwelt gibt und [das] sich in den Nebenmenschen nicht
einzuleben vermag, sie ist dem Destruktiven zugewandt, und je
mehr ihre Leitvorstellung dem Banalen, d. h. der Ideenwelt des
Gestern zugewandt ist, desto eher wird sie imstande sein, sich
destruktiv durchzusetzen und die archaisch-infantilen Tenden­
zen, die eben jedem Irrsinn innewohnen, zur Geltung zu brin­
gen. Aus der Fülle der Mischformen, in denen sich das Geniali­
sche und Irrsinnige verkreuzen, hebt sich dadurch eine als
besonders gefährlich heraus, sie ist die besondere Form des po­
litischen Irrsinns und sie heißt Dämonie: Besessenheit und Ba­
nalität gepaart ergeben Dämonie. Der dämonische Mensch ist
archaisch und er ist infantil, aber dank seiner Banalität ist er
realitätsangepaßt und dank seines genialischen Einschusses ist
er besonders fähig, alle praktischen Mittel zur Befriedigung sei­
ner Irrsinnstriebe in Bewegung zu setzen. Niemand wird leug­
nen, daß der Typus der modernen Diktatoren in diesem Sinne
dämonisch zu nennen ist. Und hierauf beruht der Eindruck des
Irrsinns, der von ihnen ausgeht.
Das Dämonische, sei es nun politisch oder sonstwie ausge­
prägt, ist antihuman und ist damit implizite gegen den christli­
chen Geist gerichtet, welcher das Abendland unter die Leitung
der humanisierten antiken Kultur gestellt hat: die Kirche - al­
leinseligmachend in ihrem Bewußtsein, daß bloß ein noumena-
ler, ein überirdischer, ein unangreifbarer Grundwert, ein Wert,
der zu keinem andern in paritätische Konkurrenz zu setzen ist,
stark und umfassend genug sein kann, um das System aller übri­
gen Werte aus sich folgern zu lassen und dauernd zu halten, daß
alle Sittlichkeit, alle Gerechtigkeit, alle Menschlichkeit nur
durch den Bezug auf diesen obersten Wert zu gewährleisten ist,
und daß mit seiner leisesten Erschütterung unweigerlich das
gesamte sittliche System ins Wanken geraten muß -, die Kirche,
welche um die stete Rückfälligkeit des Menschen weiß, hat stets
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um die Gefährdung des Humanen durch das Dämonische ge­
wußt, und sie hat aus diesem Grunde alle weltlichen Regungen,
all das, was außerhalb ihres Bereiches geschah, mit äußerstem
Mißtrauen betrachtet, sie hat sich stets auf die Seite des Beste­
henden gestellt und in jeder weltlichen Neuerung stets die Ge­
fahr der Wieder-Dämonisierung und Enthumanisierung der
Welt gewittert. Die konservativen Parteien haben diese miß­
trauische Haltung, welche den jeweiligen Stand der Weltdinge
als einen gerade noch knapp haltbaren Glücksfall der Humani­
tät ansieht, konsequent beibehalten, und wenn auch das liberale
Denken sich ebendeshalb dem kirchlichen und außerkirchli­
chen Konservativismus strikt entgegengestellt hat, so war es
doch - bis tief in den Sozialismus hinein, der von der Gerechtig­
keitsidee her seinen eigentlich befeuernden Schwung erhalten
hat - ausschließlich von der christlichen Humanität getragen,
vielleicht sogar noch mehr als der Konservativismus, da gerade
der liberalistische Geist sich nicht vorstellen konnte, daß sein
Vertrauen zur Ratio, daß dieses Vertrauen, um dessentwillen
er die Demokratie erfunden hatte, jemals enttäuscht werden
[könnte], und just aus der Demokratie wieder das Dämonische
hervorbrechen werde, die Grundgerechtigkeit der Welt aufs
neue zu gefährden. Die heutigen Weltereignisse haben voll­
kommen sinngemäß bei den Liberalen weit mehr Verblüffung
hervorgerufen als im konservativen Kreis, und sie sind sehr ge­
neigt, diesem die Verantwortung für die Ereignisse zuzuschie­
ben, sei [es] als [dem] zaristischen Stammvater für die russische
Diktatur, sei es als imperialistischen Ausgangspunkt für die na­
tionalistischen Diktaturen des Westens. Nun gibt es natürlich
für das Motivenkonglomerat historischer Geschehnisse keine
eindeutigen Derivate, und selbst der von den Diktaturen her­
beigeführte Freiheitsverlust des Individuums ist keineswegs
eindeutig ableitbar: die vom Konservativismus gewünschten
und zurückgewünschten gebundenen Lebensformen wider­
sprechen dem liberalistischen Geist, und die von diesem, soweit
er zum Sozialismus sich umgeformt hat, befürworteten gebun­
denen Wirtschaftsformen laufen konservativer Eigentumsan­
schauung entgegen, und es kann daher dem totalitären Staat
nicht vorgeworfen werden, daß er um dieser Totalität willen
jene, wenn auch ihrer Herkunft nach disparaten, Bestrebungen
zusammenfaßt, welche ihm eine maximale Bindung des Indivi­
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duums zugunsten der Staatsganzheit zu verbürgen scheinen.
Der totale Staat ist in diesem Sinne nur eine natürliche Weiter­
entwicklung des demokratischen Gebildes, da dieses in noch
viel auffallenderem Maße imstande gewesen ist, ganz ohne
Kompromiß die disparatesten Strebungen zu einer gewissen
Resultierenden zu vereinigen, und so etwa, je nach den jeweili­
gen Motivierungen, bei allen freiheitlichen oder gar christlichen
Tendenzen ohne weiteres einen blutigen Eroberungskrieg zu
führen vermag, oder aber bei imperialistisch-konservativen
Grundhaltungen sich zu einem tätigen Pazifismus bequemt; die
gleiche natürliche Weiterentwicklung ist hinsichtlich der Inten­
sität zu konstatieren, mit der diese Dinge vor sich gehen, denn
der Radikalismus der Anschauungen, ein Radikalismus, wel­
cher keine andere Meinung berücksichtigt haben will, ja, sogar
den Andersdenkenden kurzerhand physisch zu vernichten
wünscht, diese Radikalität und Ausschließlichkeit, ist ein
durchgängiges Symptom des modernen Lebens und wie überall
auch in den modernen Demokratien präformiert, muß also, in
organischer Weiterentwicklung solchen Radikalismus, von der
natürlichen Staatsbejahung zur Staatstotalität führen, diese
aber eben auch mit allen Zeichen uneingeschränkter Radikali­
tät ausstatten. M. a. W., der totalitäre Staat ist der notwendige
Schlußstein einer langen Entwicklungsreihe, er ist dadurch lo­
gischer und eben zeitgerechter als die noch bestehenden staatli­
chen Vorstufen, die im Gegensatz zu ihm Zwittergebilde sind,
und er ist ihnen eben hiedurch als Machtfaktor überlegen; das
Logische ist stets stärker als das rudimentär Logische. Worin
begründet sich aber dann der plötzliche Umbruch ins Dämoni­
sche, da alle Vorstufen undämonisch und sogar antidämonisch
gewesen waren? worin liegt das Irrsinnige des neuen Gesche­
hens, worin liegt seine spezifisch irrsinnige Unproduktivität, da
inhaltsgemäß die ganze Entwicklungsreihe hiezu produktiv ge­
wesen ist? Dieser Umschwung ins Gegenteil (zweifelsohne ein
spezifisch dialektischer Prozeß, durchaus im Hegelschen Sinne)
hat sich konkret von dem Augenblick an entwickelt, als die
menschliche Ratio, gemäß der ihr durch das Wertsystem, in der
sie eingeordnet war, verbürgten sittlichen Freiheit, daranging,
ihrem rationalen Eigengesetz folgend eben dieses Wertsystem
kritisch zu durchleuchten und die Zweifel bis zur suprana-
tural-göttlichen Wertspitze heranzutragen; es wurde solcherart
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die Wertspitze, trotz sonstigem Fortbestand des Wertsystems,
sukzessive abgebaut, d. h. es blieb wohl das christliche Sittlich­
keitssystem noch jahrhundertelang bestehen, aber die Welt
verlor mehr und mehr den Glauben an die Wertspitze, sie
wurde mehr und mehr ungläubig, nichtachtend, daß hiedurch
der gesamte Wertverband gelöst und die Einzelwerte, so ak­
zeptabel sie auch jeder für sich sein mochten, hypertrophisch
zu wuchern begannen, kurzum, daß sie nicht mehr gemeinsam
auf die Werttotalität bezogen waren, sondern entfesselt in eine
Wertkonkurrenz gerieten, in welcher jeder von ihnen trachten
mußte, an die Systemspitze zu gelangen, um durch Unterjo­
chung der anderen sich selber zu behaupten. Dieses Spiel muß
notgedrungen dann ein Ende finden, wenn es einem dieser
Werte gelingt, tatsächlich an die Spitze zu gelangen: die Demo­
kratie ist sicherlich bloß ein sehr verkleinertes Abbild dieser
komplexen Wertvorgänge, doch sie zeigt, wie in ihrem Kräfte­
spiel sich totalitäre Strebungen nach und nach entwickeln kön­
nen, um dann schließlich innerhalb der Systemregeln bis zur
Aufgebung des Systems selber vorzustoßen. Ein solcher Au­
genblick ist nunmehr eingetreten, d. h. es hat sich aus dem Sy­
stem der humanitären Werte nunmehr der des diktatorisch-ab­
soluten Staats herausgebildet, es hat sich dieser an die Spitze
des Wertsystems gestellt, und er mußte sich, um sich daselbst be­
haupten zu können, sofort mit allen Attributen supranaturaler
göttlicher Machtvollkommenheit ausstatten: hervorgegangen
aus einem Sittlichkeitssystem, das der seelischen Freiheit des
Individuums eine tragende Rolle zuweist, muß die Diktatur
nunmehr dieses System selber aufheben, sie muß die seelische
Freiheit des Individuums vernichten, und zu diesem Behufe ihr
eigenes Sittensystem aufstellen, das weitgehend, zumindest
vom alten System aus gesehen, ein System der Unsittlichkeit ist,
weil darin die Aufhebung des Humanen schlechthin sich be­
gründet. Diese vollständige Umklappung des ethischen Bildes
hat den Freiheitsbegriff zu einem konservativen zurücktrans­
poniert, und mit ihm alle andern sittlichen Werte, welche das
Humane ausmachen; Menschenwürde, Pakttreue, Gerechtig­
keit, Wahrhaftigkeit haben in dem neuen System keinen Platz
mehr, und nirgends zeigt sich vielleicht diese Radikalumklap-
pung so deutlich wie in dem Verhältnis Italiens zum Antise­
mitismus, der vor drei Jahren dortselbst noch der Gegenstand
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berechtigsten Hohns gewesen ist, während heute der italieni­
sche Führer keinen Anstoß nimmt, sich selbst zu desavouieren
und um des Systems willen, gegen besseres Wissen, die Be­
rechtigung des Antisemitismus durch sogenanne Wissenschaft­
ler beweisen zu lassen: Niedertracht zum System und die cäsa-
rische Vergöttlichung des Menschen an der Systemspitze
benötigt einen ebenso fleischlich-materialen Teufel als Gegen­
folie, damit das Dämonische sich an dessen Ausrottung legiti­
miere -, wenn auch die Beweggründe gewechselt haben, hat je­
der Durchbruch des Dämonischen zu Teufelsernennungen und
Teufelsausrottungen geführt, widerwillig von der Kirche gese­
hen, widerwillig von ihr geduldet, und waren es im 16. Jahrhun­
dert arme Weibsbilder, die auf den Scheiterhaufen mußten,
weil man in ihnen unerlaubte Muttermystik gewittert hat, so
widerfährt die Ernennung zum Teufel heute einem völlig vagen
Begriff, wie es der des Kapitalisten und Antirevolutionärs ist,
so wie dem Juden, hinter dem das Gespenst der rationalen Frei­
heit vermutet wird. Und damit ist tatsächlich die Grenze des
Irrsinns bereits überschritten, hier bricht das archaisch Chao­
tische des Wahnsinns auf, denn bei allem Machiavellismus ist
es einfach die Wahrheitsblindheit eines irren Infantilismus oder
infantilen Irrsinns, der sein Spiel auf irgendeinen Wunschwert
eingestellt und diesen verabsolutiert hat, es ist die Haltung des
Kindes, das noch nicht zur Menschenwürde erwachsen ist, und
es ist die Haltung des Irrsinnigen, der seine Menschenwürde
verloren hat, aber auch nicht fähig ist, sie beim Nebenmenschen
gelten zu lassen, ja nicht einmal zu sehen: die ungeheuere Welt­
gefahr des irren deutschen Geistes, der sein Material vom sla­
wischen Bolschewismus und lateinischen Fascismus bezogen
hat, um beide sodann zu verknechten, wird daran klar, die un­
geheure Gefahr dieser gigantischen Irrsinnsmaschine, welche
sich in Erlöserphantasien und Welteroberungsplänen ergeht
und diese auch, unbeschadet aller Selbstvernichtung, verwirkli­
chen wird. Denn so platt kindlich auch die Vorstellungen von
der historischen Gerechtigkeit sind, welche den bevorzugteren
Ländern ihren sogenannten »Besitz« entwenden will (- möge
auch der gesamte Wohlstand Europas durch eine japanische
Herrschaft in Indien untergraben werden -), so platt die hero­
ischen Ideale sind, mit denen die einstigen Raubzüge nun fort­
gesetzt werden sollen, es ist eben die Verhaftung am alten Ein­
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zelwert und seine Umlügung zur Systemspitze, auf der er um
seiner selbst willen besteht, das Spezifikum des Dämonischen.
Es gehört zum Dämonischen, solchen Irrsinnszweck mit genial
gehandhabten Mitteln zu erreichen, und ebendeshalb steht die
Gefahr der Erreichung solchen Zieles unmittelbar vor der
Türe; die Plattheit des dämonischen Ausgangspunktes bewahr­
heitet sich an einer Platitüde, nämlich an der Wahrheit vom Irr­
sinn des unvermeidlich werdenden Krieges, der Irrsinn des To­
talkrieges, des Krieges um seiner selbst willen, der dem Total­
staat zugeordnet ist, mag sich dieser auch rühmen, bisher kraft
übermäßiger Rüstungen krieglos die Welteroberung eingeleitet
zu haben, wofür München das erste Beweisstück geliefert hat.

Die Gründe
Es handelt sich nicht um die aus der historischen Herkunft ab­
leitbaren Erklärungsgründe, also nicht um diese oder jene Ge­
schichtstheorie, gleichgültig, ob eine solche, wie etwa die
marxistische, eine noch so brauchbare Arbeitshypothese dar­
stellt, es handelt sich überhaupt nicht um eine derartige Dog-
matisierung, sondern um die Gründe, die in der unmittelbaren
Situation liegen, dies umsomehr, als jene Geschichtstheorien
selber Bestandteile der Situation sind. Die Frage lautet: warum
ist die heutige Menschheitssituation für den Wahnsinn auf­
nahmebereit?
Ich beginne mit der rein technischen Frage der Demokratie,
also mit dem Parlamentarismus, d. h. mit dem Problem der po­
litischen Wahrheitsfindung durch Majorität. Es wurde bereits
erwähnt, daß sich die parlamentarische Demokratie von einem
überaus optimistischen Glauben an die Ratio leiten läßt und mit
dem Wahnsinn höchstens als Einzelfall, niemals jedoch als
Massenerscheinung rechnet; für den reinen Demokraten ist es
derart unvorstellbar, daß eine genügend große Körperschaft
kurzerhand den Selbstmord des Staates beschließen könnte, es
ist ihm unvorstellbar, daß außer vereinzelten Wahnsinnigen ir­
gendein Mensch, geschweige denn die Majorität einer gesetz­
gebenden Körperschaft, sich freiwillig in Knechtschaft und
Würdelosigkeit begeben könnte, es ist ihm unvorstellbar, daß
außer vereinzelten Verbrechern irgendein Mensch, geschweige
denn die Majorität einer gesetzgebenden Körperschaft, auf den
Gedanken kommen könnte, die primitivsten Gesetze der Sitt­
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lichkeit wie der Humanität abzuschaffen und Angehörige der
Minorität oder sonst irgendeine unschuldige Menschengruppe
kalten Blutes zu erschlagen, zu berauben, zu vergewaltigen: all
dies ist dem wahren Demokraten so unvorstellbar, all dies läuft
seinem Bilde von menschlicher Gerechtigkeit und menschli­
chem Glück so sehr entgegen, daß er nicht nur gemeint hatte,
die Fundamente der demokratischen Verfassungen seien mit
Axiomen von Ewigkeitswert in den Zeiten verankert, sondern
es sich auch niemals beifallen ließ, für jene unvorstellbaren
Sachverhalte vorzusorgen, niemals sich die juristisch-morali­
sche Frage vorlegte, ob sich die Volksminorität durch eine
Gangstermajorität regieren lassen müsse, ob sich die Volksmi­
norität durch eine Narrenmajorität zum Selbstmord zwingen
lassen müsse, niemals daran dachte, die Verfassung und damit
auch die Minorität gegen die unausweichlichen Verfassungs­
lücken zu schützen, immer im Vertrauen, daß die Ratio und die
ewigkeitsbestimmte Sittlichkeit eine Verfassung bloß verbes­
sern, niemals aber verschlechtern werde; die demokratischen
Verfassungsstifter haben derartige Wahnsinnsfälle für ebenso
wahrscheinlich gehalten wie ein Ausbleiben der Sonne am
Morgen oder wie ein plötzliches Aufglühen der Luft an irgend­
einer Raumstelle, und sie haben dabei vergessen, daß mensch­
liche Wahrscheinlichkeit nicht mit physikalischer verwechselt
werden darf, und daß in der menschlichen Psyche, wie dies eben
heute überdeutlich wird, es viele Tage gibt, an denen die Sonne
nicht aufgeht, und viele Räume, in denen die Luft plötzlich zu
glühen beginnt.
Vielerlei ist für diesen Tatbestand verantwortlich zu machen,
erstens wohl, daß die heute noch bestehenden europäisch-ame­
rikanischen Ur-Demokratien, also die Schweizer und die der
angelsächsischen Länder, aus einer Zeit noch bestehender Re­
ligiosität herstammen und sich für befugt hielten, Konstitu­
tionsstiftungen auf unabänderliche Gesetze Gottes über die na­
türliche Freiheitsbestimmung des Menschen und der Men­
schenseele zu gründen; ferner darf nicht vergessen werden, daß
diese Demokratien nicht nur verhältnismäßig kleine oder zu­
mindest dünnbesiedelte Territorien umfaßten, sondern auch
von einer Bevölkerungsschicht getragen wurden, welche den
Herrschafts- und Verwaltungsbereich jener Territorien voll
übersah und mit voller Verantwortung gewillt war, den Willen
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Gottes und die Freiheit des Menschen auf dem ihr zugeteilten
Gebiet zu wahren und zu verteidigen. Nichts von alledem trifft
heute mehr zu.
Die modernen Demokratien decken kontinentale Territorien
und, was vielleicht noch ausschlaggebender ist, Großstädte von
einstmals unerahnbarer Ausdehnung; die Bevölkerung, welche
die Demokratie tragen soll, ist nicht mehr die einer kantonal
durchgegliederten und durchsichtigen sozialen Ordnung, son­
dern sie hat sich in stürmischer Weise vervielfacht und ist zu ei­
nem Menschenkonglomerat geworden, das zwar klassenmäßig
gesonderte Schichten kennt, trotzdem aber weitgehend fluktu­
ierend ist, sowohl in seiner konjunkturabhängigen Bauern- und
Farmerschaft, als auch in seinem industriellen Proletariat, und
das sich im Grunde um eine weitgehend uneinordnenbare, le­
diglich geldorientierte Großstadtmasse gruppiert. Von dieser
Masse wird nun verlangt, daß sie die Verantwortung für das von
ihr besiedelte Riesenterritorium, das für sie ein vager, durch
eine Fahne repräsentierter Begriff ist, übernehmen möge; und
wenn auch das zusätzliche Verlangen, nämlich das nach einer
politischen Überzeugung, d. h. nach einer Parteizugehörigkeit,
eher eine Erleichterung als eine Erschwerung jenes ersten Ver­
langens darstellt, so ist es doch fast ein Wunder zu nennen, ein
Wunder, das für eine außerordentliche Lebenskraft der Demo­
kratien spricht, daß dieselben unter solch veränderten Umstän­
den nicht schon längst zusammengebrochen sind: denn man
darf sich keiner Täuschung [darüber] hingeben, daß diese, ins
Gigantische angewachsene, demokratische Maschinerie sich
weitgehend im luftleeren Raum bewegt, daß die professionelle
parlamentarische Politik nur durch die sehr dünnen Wahlfäden
und die etwas stärkeren Korruptionsfäden mit dem Volke ver­
bunden ist, und daß insbesondere die demokratische Annahme
von dem Bestand politischer Überzeugungen durchaus eine
Fehlannahme ist, mehr noch, bereits ein Schritt zur Depravie-
rung des Menschen, denn von der Heiligkeit und Unantastbar­
keit politischer Überzeugungen zu sprechen, ist bereits Blas­
phemie, da es keine politische, sondern höchstens eine sittliche
Überzeugung gibt. Diese freilich ist heilig, und sie wäre die ein­
zige Basis für ein der Verfassungssittlichkeit entsprechendes
moralisches Weiterwirken der Politik. Doch ist diese sittliche
Überzeugung von den Wählermassen überhaupt zu erwarten?
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Eine Bestandsaufnahme für die Sittlichkeit eines Volkes oder
einer Volksgruppe ist schier unmöglich; alle Aussagen, welche
hierüber zu machen sind - selbst statistische - beruhen auf einer
mehr oder minder zutreffenden Einfühlung, ohne die weder das
eine noch das andere zu vollziehen ist. Und gerade die geld­
orientierte Großstadtmasse, um die es hier hauptsächlich geht,
ist von einer kaum erfaßbaren Komplexität, besonders seitdem
die Grundlagen des Geldwesens sich verändert haben. Denn
das 19. Jahrhundert, dem die Großstadt und deren Bevölke­
rung ihre Entstehung verdanken, war vom Phänomen der Meß­
barkeit bestimmt, es hatte vom Meßbaren her seine spezifisch
rationale Ausprägung empfangen, seine geistig-wissenschaftli­
che Haltung war davon [geprägt], ebenso seine ökonomische,
und diesem Tatbestand entsprach es, daß es einen Begriff wei­
testgehender Meßfähigkeit, den allesausdrückenden Geldbe­
griff als fiktive Wertspitze benützte; das regulative Grundprin­
zip war hiebei das der Rentabilität, und unter ihrer Leitung
geschah die Industrialisierung der Welt, unter ihrer Leitung
entwickelten sich die Großstädte in der Richtung der maxima­
len Bodenrente, unter ihrer Leitung wurde die Börse zum
Weltzentrum: aber es war auch die letzte Epoche unangetaste­
ter christlicher Humanität, denn wenn auch alles Magische im
Menschengeschehen auf die Wertspitze des Geldbegriffes kon­
zentriert wurde, wenn auch die Partizipation am Gelderwerb
nicht nur Besitz, sondern darüber hinaus ein Stück Seelenheil
bedeutete, und wenn auch Geldbesitz und moralische Respek-
tabilität identisch wurden (besonders da das Problem der Ar­
beitslosigkeit noch unbekannt war), es wurde dieses Wertge­
bäude höchstens in ein paar Grenzfällen, sonst aber nirgends
durch die überkommene Sittlichkeit gestört, im Gegenteil, sie
war zur Einhaltung der Geschäftsverträge, zur Schuldenein­
treibung und zur Aufrechterhaltung einer sozialen Pseudohier­
archie derart vonnöten, daß sie trotz Auswechslung der Wert­
spitze geradezu als Tragstütze, freilich nicht als Mittelpunkt des
Systems betrachtet werden konnte. Es war die Epoche des zur
Selbständigkeit erwachten Gelderwerbes um des Gelderwerbes
willen, und der Demokratie oblag nicht mehr die Wahrung ei­
ner supranaturalen Sittlichkeit und Gerechtigkeit, vielmehr
wurde sie, wie der Sozialismus, dieses rationalste Kind des ra­
tionalen Jahrhunderts, richtig feststellte, um sich gleichzeitig in
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dieses Spiel einzuordnen, ein Kampfplatz von Interessenver­
tretungen; von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen,
verlor der Mensch jegliches Interesse an der konstitutionellen
Politik, sie war zu einer Angelegenheit von Professionals ge­
worden, manchmal noch ein Ziel des Ehrgeizes, zumeist aber
verachtet, als läge in der Sorge um das Gemeinwohl eine Art
pfäffischer Scheinheiligkeit verborgen, die bestenfalls durch
politische Sinekuren zu entschuldigen wäre. Nichtsdestoweni­
ger gab die Ausrichtung auf den Gelderwerb, gab die Sicherheit
des Geldbesitzes, gab die im Geldbegriff installierte fiktive
Wertspitze der Sittlichkeit den großstädtischen Massen einen
gewissen Halt und bei aller moralischen Dürftigkeit noch jenen
Rest von Lebenssinn, den der Mensch braucht, wenn er nicht
wahnsinnig werden soll. Dies hat sich mit der Änderung der
ökonomischen Situation und mit der Erschütterung der Geld­
grundlagen tiefgreifend verschoben; das regulative Prinzip der
Rentabilität war verlorengegangen, und es zeigte sich, daß
selbst die Erschütterung einer fiktiven Wertspitze vom Men­
schen nicht vertragen wird.
Die heutige Großstadt ist von ihrem Gott verlassen; es rentiert
sich nicht mehr, Häuser zu bauen, es rentiert sich nicht mehr,
Geld zu sparen, es rentiert sich kaum mehr das einstige Sitten­
gesetz des Fleißes, aber auch nicht mehr das der Börsenspeku­
lation: was im Rahmen der Rentabilität sinnvoll gewesen war,
ist zu einer leer fürchterlichen, unbegreiflichen Bedrohung im
Sichtbaren wie im Unsichtbaren geworden; äußerlich hat sich
nichts gewandelt, das Stadtbild steht unverändert, Bürohäuser
und Fabriken schlucken allmorgendlich die ihnen zugeteilten
Lebewesen, um sie abends wieder auszuspeien, die Hetzjagd
um ein Stück Zeit geht auf den Straßen, in den Untergrundbah­
nen, in der Rastlosigkeit des Geldumsatzes ungebrochen wei­
ter, ja, immer noch geht der Pflug, allerdings ein motorisierter,
über die Felder, aber hinter allem hat sich eine schier geister­
hafte Unwirklichkeit aufgetan, die für den Menschen umso er­
schreckender ist, je handgreiflicher und gigantischer die Wirk­
lichkeit um ihn herum aufgebaut ist, eine Kulisse von
Wolkenkratzern und Verkehrsmitteln, kurzum einer Lebens­
technik, die ihres Sinnes beraubt worden ist, und wenn auch der
Mensch dies immer nur in Streiflichtern erkennt und kaum er­
kennt, er hat doch begonnen, die Wirrheit seiner Rastlosigkeit
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zu durchschauen, und es ist ihm ein neues Lebensgefühl, ein
neues Wissen geworden, das Wissen um die Unbewältigbarkeit
einer ehemals bewältigbaren Welt. Fragt er sich nach der Ursa­
che solchen Zusammenbruches, so sieht er sich, selbst wenn er
nicht fragt, einer Fülle unüberwindlicher, stumm-dunkler Ge­
walten gegenüber, er sieht sich einer unaufhörlich wachsenden,
selbständig gewordenen Maschinentechnik gegenüber, welche
ihn mit jeder Stunde arbeitslos machen kann, er sieht sich einem
Weltgeschehen gegenüber, dessen blutig gewaltsamer Ablauf
von keinem Staat, geschweige denn von einem Einzelbürger zu
beeinflussen ist, sieht sich von einem Teufelsgott beherrscht,
welcher zwar einen Namen trägt und Konjunktur heißt, dem
sich aber keinerlei Weltgesetz abringen läßt, und inmitten einer
Welt pünktlichster Rationalisierung und Berechenbarkeit, in­
mitten einer Welt von Zentralheizung und Straßenbahn und
Radio und Flugzeugen fühlt er sich - mit Recht - unaufhörlich
den unerwartetsten Unberechenbarkeiten ausgeliefert. Die
apokalyptische Ahnung ist über den Menschen gekommen, sie
ist ihm aus dem Bilde der Großstadt aufgestiegen, und apoka­
lyptisch furchtbar ist ihm die Ingenieurwelt geworden, die er
sich errichtet hat.
Es könnte gesagt werden, daß die Verkoppelung von Wirt­
schaftskrise und Apokalypse unerlaubt sei, und daß eine Wie­
derkehr der prosperity raschestens das Leben wieder sinnvoll
machen werde. Es erklingt also nicht nur aufs neue der beruhi­
gende Ruf »bussiness as usual«, der Heilsruf der Bürgerlich­
keit, sondern es wird auch von den sozialistischen Kreisen vor
allem eine Ankurbelung der Wirtschaft verlangt - zweifelsohne
eine berechtigte Forderung, zweifelsohne eine, deren Erfüllung
ein Menschheitssegen wäre. Und zweifelsohne wünschen sich
die Großstadtmassen nichts dringlicher als eine Wiederkehr der
prosperity und eine Rückkehr ins alte Geleise. Doch während
jene, welche sich auf das »business as usual« verlassen möchten,
die Hoffnung vertreten, es werde sich auch diese tiefste Krise
automatisch wieder beheben, weil die Wirtschaft stets durch
Krisen hindurchgegangen ist, während sie - sicherlich nicht un­
begründeterweise - davor zurückschrecken, sinkenden Kon­
sum mit nochmals erhöhter Investition zu bekämpfen, so zeigt
eben die ganz außergewöhnliche Wendung des Investitionsan­
triebes, der unter wechselnden Formen auf der ganzen Welt
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vorgenommen wird, daß die Depression sich nicht ohneweiters
an die alten Konjunkturkrisen angliedern läßt, sondern eben
Momente enthält, welche auf einen wesenhaften Umbruch der
Wirtschaft hindeuten: allerdings ist dies eine fast müßige Über­
legung; denn die politische und seelische Erschütterung der
Welt ist so weit fortgeschritten, daß sich eigentlich niemand
ernsthaft vorstellen kann, es werde das Riesenwerk der wirt­
schaftlichen Wiederankurbelung, das nun einmal da ist und we­
der rückgängig gemacht werden kann, noch rückgängig ge­
macht werden soll, selbst bei bestem Gelingen (- und dann erst
recht nicht -) einfach dazu dienen, den Geist des 19. Jahrhun­
derts, mag dieser sogar von den Massen selber zurückge­
wünscht werden, wieder aufleben zu lassen, und am allerwenig­
sten ist zu erwarten, daß ein einzelnes Land sich politisch und
wirtschaftlich als eine glückselige Insel rentabler Kapitalsanla­
gen und ungestört sittlichen Geistes zu isolieren vermöchte. Wo
es sich um Massenerscheinungen handelt, besonders dann,
wenn es darum geht, die Massen zu einer Willensäußerung zu
bewegen, gilt immer nur das hinc et nunc der augenblicklichen
Situation, und mag auch das Wunschbild des Gewesenen inner­
halb der Masse noch so groß sein, sie kann ihre Zukunftsent­
scheidung, auch wenn sie mit dieser das alte gemäßigte Vorstel­
lungsbild verwirklichen möchte, immer nur unter das radikale
Entweder-Oder des Ja und Nein stellen; Verzweiflung, Visio­
nen, Ahnungen sind nicht durch rationale Überlegungen zu
kommandieren, nicht einmal beim Einzelmenschen, ge­
schweige denn also innerhalb einer Masse, und die radikalen
Wunschbilder, die der Massenseele vorgaukeln, weil sie als Ve­
hikel für die kleinen vorstellbaren Wünsche benützbar sind,
übersteigen selber immer das Vorstellbare, sind vage Gebilde,
die heute Nazitum oder Bolschewismus heißen, im Grunde aber
ebenso unpräzise und phantastisch sind wie die Phantasien, die
sich ein Knabe über seinen künftigen Beruf macht. Solange das
System der moralischen Werte ungebrochen dastand, konnte
sich der Sozialismus darauf beschränken, von der Wirtschaft ei­
nen gerechteren Lohn für den Arbeiter abzufordern -, auch
heute will der Arbeiter selbstverständlich seinen besseren Lohn
haben, aber er sieht zugleich, daß er von dem üblichen Gewerk­
schaftssozialismus ein für allemal sozial als lohnempfangender
Arbeiter einklassiert wird, und dies sagt ihm nichts mehr, weil
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das ganze moralisch-soziale System, in dem dies vollzogen wird,
sinnlos geworden ist, weil sich an die Stelle der fix eingestellten
moralischen Tradition nunmehr ein Bündel von vagen Vorstel­
lungen geschoben hat, die viel zu flottant sind, um überhaupt
mit einer triftigen Erklärung, wie z. B. Machttrieb, definiert zu
werden, und in denen der Wunsch nach höherem Lohn, mag er
noch so intensiv bestehen, eine bloß untergeordnete Rolle
spielt. Bei allem Fortbestand der Geldgier ist die Vorspiegelung
einer künftigen prosperity noch lange kein Anreiz, um die Mas­
sen zu wahren Verteidigern und Wahrem der Demokratie zu
machen, und selbst wenn diese prosperity eintreten würde oder
eintreten wird, kann nicht erwartet werden, daß die sittliche
Wertpyramide der Humanität durch Neuaufsetzung ihrer fikti­
ven Geldspitze sich wieder konsolidieren werde; ein entthron­
ter Gott ist noch niemals auf seinen Thron zurückgelangt, und
bei allem Fortbestand der Geldgier ist es ausgeschlossen, daß
der Geldbegriff nochmals zum Träger der magisch-mythischen
Vorstellungen des Menschen gemacht wird, oder daß der seeli­
sche Prozeß, den die Massen in den letzten Jahren durchlaufen
und durchlitten haben, wieder eine rückläufige Bewegung er­
halte: Massenahnungen sind Wirklichkeit, man darf in diesem
Zusammenhang mit Fug von einer demokratischen Treffsi­
cherheit der Massen sprechen, und Wirklichkeit ist der äußerst
angstvolle und eben fast apokalyptische Zustand, der ihnen
durch ihre Konfrontation mit dem Unbewältigbaren auferlegt
worden ist.
Es ist also nicht Verachtung der Massen - ob Verachtung oder
Nichtverachtung ist überhaupt eine falsch gestellte Frage -, und
es ist auch nicht Unglaube an die Demokratie, wenn wir die
Frage nach der Möglichkeit einer sittlichen Willensüberzeu­
gung, mit [der] sich die Wählerschaft zur Demokratie stellen
soll, kurzerhand verneinen. Im Gegenteil, es wird der Mas­
senpsyche vielleicht mehr zugetraut, als sie tatsächlich zu leisten
imstande ist, wenn wir Angstgefühle bis zur großen Wirklich­
keitsahnung erweitert wissen wollen, bis zu jenem apokalypti­
schen Wissen, das über die Bedrohung des unmittelbar Unfaß­
baren hinaus alle Schrecknisse, alle Greuel, alles Menschheits­
leid einer mordzerstörten Welt erfühlt. Aber selbst wenn diese
Angst nicht so weit reichte, selbst wenn sie bloß von der unmit­
telbaren Lebensbedrohung und der unmittelbaren Lebensangst
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bedingt wäre, es bleibt das Gemeinwesen dem heutigen Men­
schen mehr schuldig als er ihm, denn er findet im Gemeinwesen
nicht mehr jene Beruhigung, die es ehemals lieferte, als es noch
Produkt und Ausdruck eines gesicherten Wertsystems gewesen
war und ebenhiedurch seine Angehörigen vor jedweder Uner-
klärlichkeit geschützt hat; gewiß hat der Sozialismus versucht,
den Massen eine - sogar weitgehend zutreffende - rationale
Erklärung für die sie bedrohenden Unerklärlichkeiten zu lie­
fern, er hat darüber hinaus sogar versucht, sich zur »Weltan­
schauung« zu dogmatisieren und das gesamte sittliche Wertsy­
stem in seine Terminologie unterzubringen und damit zu
erneuern, was bei einer Schicht von Halbintellektuellen auch
gelungen ist, indes, die eigentliche Massenwirkung ist nicht vom
marxistischen Lehrgebäude ausgegangen, überhaupt kaum
vom Rationalen, wohl aber von der Rückbezogenheit auf das
Bild der Revolution, auf die Erweckung der Vorstellung von
der Revolution; die Massenwirkung ist durch die beinahe my­
stische Berufung auf die Revolution ausgelöst worden, be­
zeichnenderweise nicht durch die Berufung auf die angelsächsi­
schen Demokratiegründungen, wohl aber auf das Bluttheater
der französischen Guillotine, m.a.W. nicht durch eine Wendung
an die Rationalität, sondern an die Vorstellungswelt des Men­
schen, also ungeachtet sittlicher Absichten unter weitgehender
Preisgabe der sittlichen Motivation. Und dies scheint einer der
wesentlichen Punkte zu sein: die Vorstellungswelt des Men­
schen in der Ur-Demokratie deckte sich weitgehend mit den
Belangen dieser Demokratie selber, die sein eigenes Leben
verkörperte und sicherte, die Vorstellungswelt der Großstadt­
demokratie des 19. Jahrhunderts war zwar nicht mehr unmit­
telbar von dem Gemeinwesen beliefert, sondern von der Geld-
bezogenheit der Werte, fand aber doch innerhalb des selber
gezogenen Gemeinwesens ihren gesicherten Platz; die Vorstel­
lungswelt des heutigen Menschen, d. h. die vorstellungsmäßi­
gen Ansätze zu seiner seelischen Lebenssicherung, entspringen
weder dem Gemeinwesen, noch der Geldsucht, sondern stam­
men, so grotesk es klingt, aus der Kinoindustrie und aus dem
Bilderteil der Zeitungen; denn die Seele des Menschen geht
stets den Weg des geringsten Widerstandes, sie sucht stets die
bekannte Welt, sie sucht stets das unmittelbar Wünschens­
werte, sie will von einer Übersetzung ihrer Wünsche in eine an­
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dere, weniger unmittelbare Sprache, zu der auch die rationale
gehört, tunlichst nichts wissen, sie scheut jegliche Anstrengung,
und wenn es ihr, beraubt ihrer Wertwelt, zurückgeworfen in die
Wirrnis ihrer Vorstellung, nottut und nottun muß, die unbe­
kannten, ständig drohender werdenden Gewalten gemeistert zu
sehen, so wird sie dorthin blicken, wo ihr dies am unmittelbar­
sten vor Augen geführt wird, wo innerhalb einer bekannten
Welt zauberhaft das Unerklärliche beiseite geschafft und die
altgewohnten Wünsche befriedigt werden, er flüchtet mit seiner
Seele ins Dämonische und mit seinem Leib ins Kino, wo dem
Kinohelden zuverlässig die Bewältigung des Unbewältigbaren
im allerbekanntesten Wunschtraum gelingt -, denn unverges­
sen ist es der Seele, daß der Dämon ein Gott von gestern ist,
daß er einstmals das Unerforschliche verkörpert hat, das Uner-
forschliche des Meeres, das Unerforschliche des Waldes, das
Unerforschliche der Zeugung und des Todes, das Unerforschli­
che des Kriegssturmes, unvergessen ist es der Seele, daß sie
einstmals - sie tut es noch immer - zu jenem Ur-Gott um die
Aufhellung des Unerforschlichen gebetet hat, daß sie ihm Op­
fer gebracht hat, damit sein Wunsch mit dem ihren Zusammen­
falle, damit im Wunsch und in der Erfüllung des Wunsches stets
aufs neue Gott und Mensch identisch werden mögen, und wenn
auch der Kinoheld, der statt dessen zum [Gegenstand] der
Identifikation erhoben worden ist, das Dämonische an seine
Gegenspieler abgetreten hat, um es in ihnen umso sinnfälliger
zu besiegen, wenn er also auch als Vertreter eines neuen und
lichteren Glaubens fungiert, als Heilsbringer, der kraft seiner
Erkenntniskraft und seiner allumfassenden Ratio, die alten Be­
herrscher der Gewalten nun selber niedergezwungen hat, auf
ihren Sieg einen neuen Sieg setzend, wenn er also auch lichtge-
staltig und zum Zerrbild versüßt immer noch das Erlösungsbe­
dürfnis des Menschen befriedigt, so rollen doch die eigentlichen
Wünsche der Seele in der düstern Sphäre des Ur-Gottes ab, in
der Sphäre des Gestern und des Einst, in der Sphäre des Dämo­
nischen und der von allem Rationalen abgekehrten, dämoni­
schen Bewältigung des Unerforschlichen, in der vor-heilsbrin-
gerischen Sphäre. Die Guillotine des Films ist weitaus
unmittelbarer vorhanden als die Revolutionserinnerung eines
Sozialismus, welcher rational das Klassenbewußtsein des Pro­
letariats erwecken will, sie ist ein handgreifliches Opferinstru­
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ment, errichtet für den Ur-Gott, durch dessen Geneigtheit sich
die Gefahrenwildnis des Lebens öffnen soll, sie ist es unabhän­
gig davon, ob der Film revolutionär oder antirevolutionär ge­
dacht ist, genau so, wie es durchaus gleichgültig ist, ob eine
Schlachtszene mit kriegerischer oder pazifistischer Tendenz
gezeigt wird, denn ob so oder so, es geht um die Identifikations­
richtung, und diese verlangt, soll der Film nicht abgelehnt wer­
den, daß der Ur-Gott von einst sich fähig zeige, entweder die
dunklen Gewalten harmlos zu machen oder aber sie zu besie­
gen, u. z. womöglich mit allen Mitteln der modernen Technik,
alle Gewalten des Unheimlichen in seiner Hand haltend und sie
gegeneinander ausspielend, um im Wohlstand des Happy-Ends
schließlich das Wunschbild von gestern zu konkretisieren: si­
cherlich ist dies nicht nur das Dämonische des Kinos, es ist si­
cherlich das Dämonische, das Panische der Kunst überhaupt,
doch niemals noch war das Dämonische derart industrialisiert,
niemals noch war es derart Massenware für Massenbedarf ge­
wesen; das dämonische Element der Identifikation ist zu einem
standardisierten Konservenartikel geworden, es steht im Leben
der Großstadt nur noch mit dem Sport in Konkurrenz, und auch
dieser hat in seinem Massenbetrieb und [seinen] Rekordisie-
rungen bereits Formen angenommen, die deutlich darauf hin-
weisen, daß die Massen auf der Suche nach einer neuen fiktiven
Wertspitze für ein nicht mehr existentes Wertsystem begriffen
sind, als könnte ein Rekord alles Unerklärliche übertäuben.
Fast könnte man meinen, daß die stumme Identifikation mit
dem Sieger schlechthin die eigentliche Denkform der moder­
nen Massenseele geworden ist, daß damit ihr Erkenntnisdrang
Genüge findet, mehr noch, daß sie darüber hinaus gar nicht er­
kennen will, daß dies ihr Glaube sei, ein neuer Glaube, der nur
eine Wertspitze, jedoch darunter kein sittliches Wertsystem
mehr kennt. Gewiß, das menschliche Leben ist stets ein Traum­
leben gewesen, selbst dann, wenn es im gesichertsten Wertsy­
stem eingebettet war, es ist Traum, weil auch jedes Wertsystem
ans Traumhafte grenzt, allein der Traum verwandelt sich zum
betäubten Herdenschlaf, je wertfreier der Mensch dahinleben
muß, je wertberaubter er wird, und durchaus traumhaft ist das
Leben, dessen Taghaftigkeit sich im Maschinellen und Zah­
lenmäßigen erschöpft, dessen Seinsgefühl aber ausschließlich
auf Identifikation eingestellt ist. Inmitten einer rationalen
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Überwachheit der Dinge, neben einer rational-kritischen
Überwachheit einer von einer sehr dünnen Schicht getragenen
Wissenschaft und Geistigkeit, läuft das Leben des Großstadt­
menschen in Flucht und Traum dahin, vor der Wertentbunden-
heit flüchtend dem Traume zu, vor dem Alptraum flüchtend in
die Zahlenbetäubung: auf welchen Volksmassen soll also da die
Demokratie beruhen, da ihr Wort kaum noch wie ein halbver­
gessener Tagesrest in den Träumen herumwebt? Welches In­
teresse an der Demokratie kann man von einem Träumenden
erwarten, außer [das an] den zahlenmäßig-sportlichen Wahlre­
sultaten? Welche menschliche Würde, welche menschliche
Freiheit, welche menschliche Sittlichkeit hat der Träumende zu
verteidigen? Keine! keine, da er weder Sittlichkeit noch Würde
besitzt, und seine Traumesfreiheit keine Freiheit ist -, es gibt
keine Freiheit ohne Zeitablauf, in dem die Gestaltung der Welt
vorgenommen werden kann, ohne jenen unendlichen Zeitab­
lauf, in dem alle sittlichen Werte mit zukunftsgeschichtlichem
Willen auf das unendliche, niemals erreichbare Ziel ausgerich­
tet sind; und die Welt des Traumes ist ebenso ohne Zeit wie die
des ebenso stets sittlichkeitsberaubten, würdeberaubten
Wahnsinns, obwohl der Träumer wie der Wahnsinnige danach
trachten, die Zeit mit Geschehnissen anzureichern, auf daß sie
eben wieder Zeit werde, sie beide gleichsam in einer steten
Angst vor einer Freiheit, die sich im Zeitlosen verirrt hat und
mit der sie, wie mit der Zeit selber, nichts anzufangen wissen.
Daß die mannigfaltigen Typen des Wahnsinns unaufhörlich in
den Traum hineinragen, ja, daß ein einziger Traum die ver­
schiedensten hievon gleichzeitig enthält, darf vermutet werden,
ebenso daß die magisch-archaische Denktechnik der Personifi­
kation und Identifikation einen gemeinsamen Nenner für
Traum und Wahnsinn abgibt; man muß sich hiebei umsomehr
auf Vermutungen beschränken, als das Grenzgebiet von Traum
und Wahnsinn bereits im Individuellen wissenschaftlich schwer
zugänglich und kaum bearbeitet worden ist, hier aber noch
überdies vornehmlich Massenerscheinungen, Massenträu­
mende und Massenwahnsinn umfaßt: gewiß kann das unbewäl-
tigbar Bedrohliche auch im Individuum zu klinischer Gei­
steserkrankung führen, sehr oft zu solchen depressiver und
melancholischer Art, doch im allgemeinen hat die klinische Er­
fahrung gelehrt, daß hiezu eine auslösungsbereite pathologi-
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sehe Prädisposition gehört, während der Normalmensch eine
merkwürdig zähe Widerstandskraft selbst unter schwerstem
psychischen Druck außergewöhnlichster Umstände sich be­
wahrt, nach wie vor arbeitsfähig bleibt, soferne man ihm nur
Arbeit verschafft, nach wie vor kriegsfeindlich ist, soferne man
ihm nur seinen Frieden läßt, nach wie vor die Ordnung liebt,
den pünktlichen Straßenverkehr, geregelt durch grüne und rote
Lichter, geregelt durch eine Polizei, welche das Eigentum
schützt, und nicht nur, daß seine Träume, zumindest nach dem
vorliegenden Beobachtungsmaterial, sich im gewohnten Nor­
malumkreis bewegen, es geht die Wirkung einer so schweren
Erschütterung wie die des Krieges, greift sie sogar wirklich in
die psychische Gesundheit ein, selten über den Bereich der
kleinen Normalwünsche hinaus, d. h. sie äußert sich in Renten­
neurosen und Rentenpsychosen; erst im Massenpsychischen
ändert sich dieses Bild, erst in der Masse wird die archaische
Gefühlswelt aufgetan, die voller Ordnungsekel, voller Welt­
ekel, voller Freiheitsekel, voller Kulturekel allem Rationalen
gegenübersteht, erst in der Masse wird der Krieg, mag er dem
einzelnen noch so hassenswürdig, noch so sinnlos, noch so
selbstmörderisch erscheinen, aufopferungsfreudig bejaht, erst
die Masse reagiert auf die Bedrohung mit der Anrufung des
einstigen Gottes, der Opfer verlangt und dem Opfer gebracht
werden müssen, erst in der Masse bricht der Dämonentraum
aus, angepeitscht von der apokalyptischen Vision, die ein Wis­
sen der Masse und nicht des einzelnen ist. Und verwirrt vom
Traume, verwirrt von der Angst, verwirrt vom Ekel, gebannt
von einer schlafwandlerischen Vorstellungswelt ohne Wertsitt­
lichkeit, torkelt die moderne Großstadtmasse in den Wahnsinn,
der an den selbstmörderischen, erbarmungslosen Geschehnis­
sen der Zeit, an ihrer Sintflut von Leid und Qual immer wieder
abzulesen ist. Im Schatten des Apokalyptischen wohnt die
Größe und die Zerknirschtheit des menschlichen Herzens, zu­
meist aber seine Armseligkeit.
Die Entwicklung des Wertzerfalles, die Entwicklung der Mas­
senpsyche zu ihrem gegenwärtigen Zustand ist wie jeder histo­
rische Ablauf logisch begründbar und wäre noch begründbarer,
wenn man sämtliche Verursachungen erfassen könnte. Die lo­
gisch notwendige Ableitung einer Krankheit stempelt diese
aber noch lange nicht zur Gesundheit, sie kann höchstens den
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Heilungsprozeß erleichtern, und wenn man auch mit Wahn­
sinnsdiagnosen zurückhaltend sein muß, besonders vor neuen
Phänomenen mit starkem Unbekanntheitscharakter, so scheint
hier-m an braucht nur immer wieder auf die medikamentlosen
Epidemien im chinesischen Kriegsgebiet, auf die verhungern­
den spanischen Kinder, auf die Morde in den deutschen Lagern,
auf die Pogrome und Erschießungen hinzuweisen, die Aufzäh­
lung hat kein Ende - der Wahnsinnsfall ziemlich eindeutig ge­
geben zu sein. Hingegen entspricht es der historischen Notwen­
digkeit, daß jede wahre Führernatur sich in die Richtung des
Ablaufes stellt, daß er, im Sinne seines Genies, den jeweiligen
Zustand der Massenseele erlauscht, gleichgültig ob diese krank
oder gesund ist, und ihr rückhaltlos dient. Ist die Massenseele
irre, so hat der geborene Führer, der sie beherrschen will, vom
gleichen Irrsinn besessen zu sein, muß also ihren Irrsinn tun­
lichst steigern. Würde er statt dessen die Heilung versuchen, er
wäre mehr als ein Führer, er wäre ein Heilsbringer, freilich mit
der Gefahr, gekreuzigt zu werden. Die modernen Diktatoren
haben den Besessenheitsweg gewählt; sie haben mit großer Ge­
nialität den Freiheitsekel, den Demokratieekel, den Sittlich­
keitsekel der Massen erfaßt, zugleich aber deren tiefe Sehn­
sucht, ein neues Wertgebäude zu erhalten, eine neue
Werthierarchie, das eine sichtbare wertstiftende Spitze besitzt,
und sie haben dieses Wertgebäude mit dem totalen Staat, an
deren Spitze sie selber in cäsarisch vergöttlichter Omnipotenz
als Identifikationszentrum stehen, geschaffen und konsolidiert.
Doch darüber hinaus haben sie noch mehr erkannt: sie haben
erkannt, daß alle Widersprüche der menschlichen Seele sich
auch in der objektiven Welt verwirklichen lassen, daß Ordnung
und Zuchtlosigkeit, daß Friedensliebe und Aggression, daß
Sozialismus und Ausbeutung, daß Humanität und Verknech­
tung, daß Ratio und Triebhaftigkeit, daß Wahrheit und Lüge
ohneweiters zu einem einzigen dichten Geflecht zu vereinigen
sind, kurzum, daß die Welt genau die gleiche unsaubere Verfil­
zung von Gegensätzen ist, wie sie in der Seele des unerwachten
und gar des irrsinnig gewordenen Menschen vorliegt. Was in
dieser Verfilzung keinen Platz hat, ist die Würde des Menschen,
ist die Größe und Unantastbarkeit seiner ebenbildlichen Natur
und seiner verstandesbegnadeten Humanität; an ihre Stelle ist
die Befriedigung der archaisch-magischen Irrationalvorstel­
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lungen und eines infantilen Siegeswillens getreten, welche ei­
nen vollwertigen Ersatz für den ohnehin nicht sehr fühlbaren
Freiheitsentzug darstellt. Lenin war der erste dieser genialen
Diktatoren, allerdings auch der letzte Nachfahre des rationali­
tätsbesessenen 19. Jahrhunderts, er hat als erster die Unfähig­
keit der demokratischen Riesenapparate vor der Bewältigung
großer dynamischer Aufgaben erkannt, und er hat als erster
durch Entfesselung von irrationalen Massentrieben am Begriff
einer perpetuierten Revolution es unternommen, die Massen­
wünsche in den Dienst einer ihr dienenden Diktatur zu stellen.
Der Abstand zwischen der russischen Bauernmasse und der
amerikanischen Großstadtmasse ist ein ungeheuerer: aber da­
zwischen liegen Deutschland und Italien und die westeuropä­
ischen Länder, und ihr Beispiel zeigt, daß es einen Weltgeist
gibt, daß die Massenpsyche überall die gleiche ist, ja, daß mit
je höherer und städtischerer Rationalisierung eines Volkes
umso schärfere Aufbrüche des Irrationalen und des magischen
Sadismus zu erwarten sind; je höher der Baum, desto tiefer
seine Wurzeln, und je größer die Freiheit war, deren der
Mensch teilhaftig gewesen ist, desto mehr affektive Güter wer­
den von seiner wahnsinnsbesessenen Seele gefordert, sobald
das sittliche Band völlig aufgehoben wird. Die Moral des
»Warum nicht?«, welche in den europäischen Diktaturen be­
reits die grauenhaftesten Ergebnisse gezeitigt hat, ist eine un­
aufhaltsame Lawine; sie wird immer weitere Gebiete umfassen
und zu immer scheußlicheren Formulierungen gelangen, sie
wird, wenn es einem Diktator einfällt, bis zur gesetzlichen
Menschenfresserei führen, ohne daß deshalb die Bahnen, die
Post, die Fabriken, der Handel zu funktionieren aufhören wer­
den, es wird die vom Christentum eingeleitete Humanisierung
der Welt endgültig aufgehoben werden. Wohlgemerkt, der ge­
samten Welt. Denn Amerika, das dank seiner Konstitution
heute noch die Humanität hochhält und in Kürze das einzige
noch humanitätsorientierte Land sein wird, ist zugleich das
Land der tiefgreifendsten Rationalisierungen, das Land der gi­
gantischsten Großstädte, das Land der zerklüftetsten Massen­
psyche, und wenn die Fascisierung Europas vollendet sein wird,
so wird es ebensowohl infolge seiner politischen Einkreisung,
als auch infolge der psychischen Aufnahmebereitschaft seiner
Massen als Beute der schon heute wirksamen Propaganda dem
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lawinenartig weiterschreitenden Massenwahn zum Opfer fal­
len. Und es läßt sich schon heute prophezeien, daß der künftige
Diktator der Vereinigten Staaten nach Abtretung sämtlicher
Randgebiete seine Massen durch die Wiedereinführung der
Sklaverei für Neger und Juden beschwichtigen wird.

Die Abwehr: Die Diktatur der Humanität und der Freiheit


»We hold these truths to be self-evident, that all men are crea-
ted equal, that they are endowed by their Creator with certain
unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the
persuit of Happiness. That to secure these rights, Governments
are instituted among Men, deriving their just powers from the
consent of the governed.«9 Mit diesen Worten beginnt die Be­
gründung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von
1776. Sie ist der Ausdruck des Grundprinzipes der Humanität,
sie ist die Anerkennung der ebenbildhaften Würde, die allem
Menschengeborenen von vornherein verliehen ist, und in An­
erkennung dieser unveräußerlichen und unverletzlichen Würde
des Menschen verlangt sie vom Staate und seiner Regierung,
daß er die leibliche und geistige Integrität der Person gegen alle
Beeinträchtigungen bewahre. Ausschließlich die Nichtbeach­
tung dieses Grundprinzipes der Humanität durch die Kolonial­
regierung galt für den Zeichner der Unabhängigkeitserklärung
als der vor Gott und den Menschen vertretbare, aber auch ge­
nügend ausreichende Grund, die Bande mit dem Mutterlande
zu zerschneiden: damit war ausgesprochen, daß es nicht darauf
ankommt, wer eine Regierung ausübt, sondern nach welchen
Prinzipien sie ausgeübt wird; es war damit die Absage gegen
jeglichen Imperialismus und gegen die Fehlmeinung ausge­
sprochen, ein Land könne ein anderes »besitzen«, es war die
Absage an jede Gewaltanwendung nach Innen wie nach Außen
mit Ausnahme jener Fälle, in welchen es gilt, die Würde und
die Freiheit des Menschlichen zu verteidigen. Die Konstitution
von 178910hatdie Formen breitgesicherter Demokratie als das
geeignetste Instrument erwählt, um das Grundprinzip der Hu­
manität ein für allemal für die Staatsführung zu verwirklichen
un^ festzulegen. Es soll niemals vergessen werden, daß das In­
strument nicht mit dem Willen, dem es zu folgen hat, verwech­
selt werden darf, denn das Wort Demokratie hat im Munde der
Gegenagitation den verächtlichen Beigeschmack von unfähi­
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gen Parlamentsmaschinen erhalten, um zu vertuschen, daß der
Staat der Humanität hinter dem Worte Demokratie steht. Der
amerikanische Bürgereid hat dies nicht vergessen: »I believe in
the United States of America as a Government of the people,
by the people, for the people; whose just powers are derived
from the consent of the governed; a democracy in a republic;
a sovereign Nation of many sovereign States; a perfect union,
one and inseparable; established upon those principles of free-
dom, equality, justice, and humanity for which American pa-
triots sacrificed their lives and fortunes.«11
Das Bewußtsein der Massen ist ins Vergessen abgetrieben, die
Großstadtmasse träumt zu wilden Affektbefriedigungen hin,
und ins Vergessen ist ihr das einstige Grundprinzip des Huma­
nen, ist ihr die lebendige Demokratie getaucht; sie hat des
Menschen Würde vergessen, sie hat ihren eigenen Würdean­
spruch vergessen, da sie, geblendet von den kriegerischen und
räuberischen Erfolgen der Diktaturen, durchaus neiderfüllt auf
diese blickt, hoffend, daß ein eigener Diktator ihr gleichfalls
Siege einbringen werde, auf daß das Unerklärliche, das über sie
gekommen ist, mit der Befriedigung ihrer Grausamkeitslust
übertäubt und die Identifikation mit dem Helden vorgenom­
men werden könne. Diese Situation ist das Produkt einer
strenglogischen historischen Abfolge, welche nicht mehr rück­
gängiggemacht werden kann. Es wäre vielleicht möglich gewe­
sen, durch rechtzeitiges Eingreifen dem propagandistischen
und imperialistischen Ausbreitungsbedürfnis der Diktaturen
einen Riegel vorzuschieben und damit auch den sogenannt
geistigen Seuchenherd einzudämmen; daß die Demokratien
dies nicht getan haben, mag sogar als Mit-Symptom für die
Überlebtheit der parlamentarischen Maschinerie gewertet
werden, doch selbst wenn sie es getan hätten, es wäre damit
noch nichts Positives geleistet gewesen, denn nicht nur, daß sol­
ches Eingreifen bloß die westliche, nicht aber die russische Dik­
tatur getroffen hätte, es hätte wahrscheinlich ein solches Vor­
gehen wenig dazu beigetragen, die Grundstimmung der Massen
zu ändern und das Bewußtsein demokratischer Humanität wie­
der in ihnen lebendig zu machen. Seuchenbekämpfung durch
Quarantäne und Erschießungen sind zwar ein Ausfluchtsmittel,
indes eines der Verzweiflung, und sie sind nicht geeignet, eine
Krankheit auszurotten, dies umsoweniger, als es sich um eine
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psychische Erkrankung handelt und der Wille zur Krankheit in
den Massen vorhanden ist. Es hat also auch gar keinen Zweck,
immer aufs neue die Schrecknisse dieser Krankheit zu schil­
dern, wie dies in Tausenden von Zeitungsartikeln und Druck­
werken geschieht; je dokumentarischer und richtiger das
Grauen geschildert wird, desto anziehender wird es für den
Krankheitswilligen. Wir brauchen mehr als Schreckbilder, und
wir brauchen mehr als Quarantäne.
Der dunkel-ahnende Wunsch der Massen geht nach Errich­
tung oder Wiedererrichtung eines verbindlichen Wertsystems,
in welchem sie das tiefe menschliche Bedürfnis nach seelischer
Lebenssicherheit aufs neue zu befriedigen vermögen. Es ist ein
religiöses Bedürfnis oder zumindest ein sehr wesentlicher Teil
eines solchen, und wie jedes religiöse Bedürfnis ist es von irra­
tionalen Unterströmungen durchzogen; der totalitäre Staat hat
diese irrationalen Unterströmungen aufgegriffen, er hat sie in
jene magisch-archaische Primitivform zusammengefaßt, in der
sich prä-religiöse Dämonologie immer bestimmt und immer
bestimmen wird, sie ist Ersatz-Religion, und der dämonische
Diktator ist ihr Ersatz-Heilsbringer. Nun läßt sich allerdings
echte Religion nicht von Staats wegen etablieren, so wenig wie
sich ein echter Heilsbringer von Staats wegen bestellen läßt. Ein
solches Vorhaben ist nicht Angelegenheit des Laien, ist nicht
Angelegenheit des Staates. In Österreich wurde der Versuch
gemacht, den Katholizismus und seine Neuerweckung hiefür zu
verwenden, oder richtiger zu mißbrauchen, und es war ein von
vorneherein zum Scheitern verurteilter Versuch, vermutlich
von allem Anfang [an] von der Kirche mit Skepsis betrachtet,
wenn auch geduldet; die mystische Unität von Katholizismus
und Staatsführung war innerhalb der Tradition eines alten Kai­
sertums noch möglich, während sie in der Hand von Halbdikta­
toren, mochten sie persönlich noch so gläubig gewesen sein,
bloß dazu gedient hatte, den Katholizismus bei den Massen
vollends zu diskreditieren und diese mit Sehnsucht nach der
handgreiflichen, affektbefriedigenden Ersatzheilslehre zur
deutschen Grenze hinblicken ließ, hinter der alles lag, was ih­
nen diesseits verweigert wurde, denn diesseits gab es bloß
Nachahmung, diesseits war wohl auch die Demokratie aufge­
hoben, aber es gab keinen Gegenwert für den Freiheitsentzug,
diesseits gab es wohl auch Rüstungen und übermäßige Rü­
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stungslasten, aber keinen Eroberungs- und Siegeswillen hiezu,
diesseits gab es wohl auch Propaganda und Aufmärsche, aber
jene hatte den Charakter von Kanzelreden, und diese gingen im
Tempo von Kirchenprozessionen schwerbäuchig vor sich,
Österreich war in allem und jedem Ersatz des Ersatzes, obwohl
- und dies darf ernsthaft zu denken geben! - es kein Ersatzmehl
und kein Ersatzbrot gab, vielmehr die wirtschaftliche Lage un­
gleich besser als in Deutschland war, und eben diese Ersatzpo­
litik, welche zwar den Ruf »Heil Hitler!« verbot, statt dessen
aber eine Art unausgesprochenes, trotzdem recht vernehmli­
ches »Heil Gott!« einführte, läßt das tragische Geschick jenes
kleinen Landes als paradigmatischstes Musterbeispiel für ver­
fehlte Maßnahmen erscheinen. Was also kann ein humanitäts­
gewillter Staat zur Aufrechthaltung seines Grundprinzipes und
damit zur Aufrechthaltung seines eigenen Bestandes tun, da of­
fenkundig ihm all diese sicherlich gutgemeinten Wege versperrt
sind und versperrt bleiben müssen, ja, sogar eine bessere wirt­
schaftliche Position nichts gegen das unbewußte Affektvolu­
men der Masse nützt? Die Antwort lautet: nicht durch Nachah­
mung der dämonischen Methoden ist es möglich, dem
wertsuchenden Bedürfnis der Massen, wie es nun einmal un­
leugbar vorliegt, gebührende Rechnung zu tragen, sicherlich
also auch nicht durch eine Selbstaufhebung der demokratischen
und sozialen Errungenschaften, sicherlich aber auch nicht da­
durch, daß dieselben zum Selbstzweck erhoben werden und, in
Fortsetzung der alten Verwechslung von Konstitutionsinstru­
ment und Konstitutionswillen, eben diesen hinter der Demo­
kratie stehenden Willen zum Grundprinzip der Humanität ver­
gessen lassen, wohl aber dadurch, daß [es] in radikaler Abkehr
von solcher Verwechslung neuerdings und ausdrücklichst an die
Spitze aller staatlichen Maßnahmen gestellt werde, d. h. sämtli­
che Handlungen des Staates und seiner Gesetzgebung ständig
begleite und darüber hinaus Gesetze veranlasse, welche zum
Schutze dieses Grundprinzipes und damit auch zum Schutze der
Demokratie selber dienen, damit diese nicht, nach dem Muster
anderer Länder, infolge der Lücken ihrer Konstitution von in­
nen heraus zersprengt werden könne; in den Diktaturen wird
die Einheit von sittlichem und staatlichem System durch die
Einbeziehung des diktatorischen Willens in das Gesamtsystem
vollzogen, in Österreich wurde das nämliche mit humaner Ten­
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denz versucht, indem Gott als gesetzliche Wertspitze eingestellt
wurde (-die Gerichtsurteile wurden »Im Namen Gottes« ver­
kündet! -); die Demokratie hat bescheidener zu sein, sie kann
und will kein neues Sittensystem etablieren und auch keine Re­
ligion fundieren, doch indem sie ihr eigenes altes, selber der
Religion entsprossenes Grundprinzip an die Spitze ihres Ge­
setzsystems stellt und ausdrücklich in dieses einbezieht, indem
sie also sich selber zum totalen System schließt, wenn man es
also so ausdrücken mag, zur totalen Demokratie, wird sie zum
Platzhalter des Sittengesetzes, dem sie selber entsprungen ist,
wird sie zum Bewegungsraum für jede Religion, welche das
Sittliche will. Die Demokratie wird zerfallen, wenn sie nicht zur
totalen Demokratie wird.
Fragt man nach der praktischen Durchführung, so scheint es
klar zu sein, daß in erster Linie ein Gesetz zum Schutze des
Grundprinzipes des Staates nottut, d. h. ein solches, welches die
Würde des Menschen ausdrücklich schützt; aus diesem Haupt­
gesetz ergäben sich die übrigen erforderlichen Gesetze zum
Schutze der demokratischen Einrichtungen; es wäre demnach
ein Delikt »Verbrechen gegen die Menschenwürde« zu konsti­
tuieren und unter Sanktion zu stellen, welches über die kleinen
Delikte der Ehrenbeleidigung, des Unfuges etc. weit hinaus­
reicht und insbesondere alle Handlungen gegen die Grundprin­
zipien des Staates, wie sie in der amerikanischen Unabhängig­
keitserklärung und dem amerikanischen Bürgereid Umrissen
sind, zu umfassen hätte: wer durch Worte oder Taten danach
trachtet, die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der Ge­
rechtigkeit und der Humanität aufzuheben, wer durch Worte
oder Taten trachtet, einen Menschen, der sich nicht gegen das
Gesetz vergangen hat, oder einer Gruppe solcher Menschen aus
jener Gleichheit auszuschließen, die ihnen vom Schöpfer ver­
liehen worden ist, wer danach trachtet, ihnen ihre unveräußer­
lichen Rechte auf Leben und Freiheit und Glücksstreben abzu­
streiten oder zu schmälern, ferner, wer durch Worte oder Taten
danach trachtet, einzelne Personen oder Gruppen von solchen,
welche sich nicht gegen die Gesetze des Staates vergangen ha­
ben, aus den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und
Pflichten auszuschließen und insbesondere derart zu diskrimi­
nieren, daß ihnen nicht der gerechte Mitgenuß an den bürgerli­
chen Rechten und Ehren, die gleiche Anwartschaft an den öf­
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fentlichen Einrichtungen, die gleiche Freiheit ihres persönli­
chen Lebens, kurzum die gleiche physische und psychische
Integrität wie den übrigen Bürgern zustehe, schließlich, wer da­
nach trachtet, Völker oder irgendwelche andere Menschen­
gruppen oder einzelne Personen derart zu diffamieren, daß sie
zum Gegenstand des Hasses werden, wer nach solchem trach­
tet, verstößt gegen die Grundlage des Staates und soll straffällig
gemacht werden.
Abgesehen davon, daß eine derartige Gesetzesgruppe zu den
notwendigsten Selbstbeschränkungen der parlamentstechni­
schen Demokratie gehört und - soweit sich nicht nach einer ge­
wissen Zeit neue technische Lücken zeigen - in der Lage ist, die
technische Selbstzersprengung der Demokratie nach zentral­
europäischem Muster zu verhüten und damit ähnlichen Plänen,
wie sie von nationalsozialistischer Seite offen zugegeben wer­
den, rechtzeitig zuvorzukommen, abgesehen von diesem nicht
zu unterschätzenden technischen Vorteil, ist anzunehmen, daß
die Stipulierung des »Verbrechens gegen die Menschenwürde«
weitaus das beste Mittel ist, um den Gedanken des Humanitäts­
staates wieder zum lebendigen Bewußtsein der Massen zu brin­
gen, m. a. W., um die Menschenwürde wieder populär zu ma­
chen. Denn der Gerichtssaal ist die populärste Einrichtung des
Staates, und eine staatliche Einrichtung, die keine strafgericht­
liche Resonanz besitzt, bleibt ohne Interesse; die Diffamierung
der Juden in Deutschland wäre nicht vollständig gewesen, wenn
sie nicht durch die Rassengesetze —vom sexuellen Reiz beson­
ders schmackhaft gemacht - deliktmäßig unterbaut worden
wären. Doch es handelt sich nicht nur um diese billige Propa­
gandawirkung; diese ist bloß Nebeneffekt, allerdings ein hier
sehr erwünschter, während es in Wirklichkeit um Prinzipielles
geht: kein totales Wertsystem kann im Irdischen bestehen,
wenn es nicht seinen irdischen Gegenpol hätte, den Widersa­
cher, der es stürzen will, und um dieser Teufelsgestalt willen
mußte der Antirevolutionär in Rußland, der Jude in Deutsch­
land erfunden und mit den schwärzesten, wenn auch nicht
nachweisbaren Absichten ausgestattet werden; die totale De­
mokratie, um bei diesem Namen zu bleiben, braucht den Wi­
dersacher nicht zu erfinden, weil sie keinen Widersacher an sich
kennt, sondern bloß Delikte bestraft, aber sie muß das Delikt
definieren, damit an Hand des definierten Deliktes auch der
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Widersacher erkannt werde. Grundprinzipien sind Satzungen,
aber Gesetze haben Verbotsform, und erst am Gesetz wird die
Satzung erkannt; nimmermehr wäre die Heiligkeit des Men­
schenlebens dem Menschen zu Bewußtsein gekommen, wenn
es in der Form eines Grundprinzipes »Du sollst das Leben ach­
ten« geäußert worden wäre, erst »Du sollst nicht töten!«
machte die Satzung zum eingängigen Gesetz, und nimmermehr
wird das Grundprinzip der Humanität dem Menschen wahrhaft
inne werden, ehe es nicht in der Form eines »Du sollst nicht«
gesetzlich ausgesprochen wird. Das Gute bedarf des Bösen, um
zu sein.
Es muß wiederholt werden, daß die Masse nicht verachtet
werden darf. Die Diktaturen können sich nur in einer grundle­
genden Verachtung des Menschen begründen, die Demokra­
tien hingegen in einer unauslöschlichen Achtung vor dem Men­
schen. Für die Diktaturen ist also die Massenpropaganda, deren
Erfindung zweifelsohne ein Produkt ihrer dämonischen Genia­
lität ist, ein Mittel, um die Masse an ihren wahnsinnsbereiten,
inhumansten Trieben zu packen: wenn die totale Demokratie
mit Rücksicht auf den seelischen Massenzustand gleichfalls den
Propagandaweg nimmt - und sie muß ihn nehmen -, wenn sie
auch einem »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« jene
propagandistische Wirkung abgewinnen soll, die in einem sol­
chen Gesetz enthalten ist, so darf sie dies nur in dem Wissen tun,
daß [in] des Menschen Seele Gutes und Böses, Dunkles und
Helles unvermittelt nebeneinanderliegen, und daß eben mit
Hinblick auf die dämonische Einstellung der diktatorischen
Propaganda es den Demokratien zu obliegen hat, eine eben­
solche Propaganda für ihr eigenes Staatsgrundprinzip, eine
Propaganda der Humanität zu betreiben. Dies bleibt so lange
undurchführbar, so lange die Konstitution lückenhaft bleibt,
d. h. so lange sie erlaubt, daß gegen die wichtigsten Grundprinzi­
pien, denen sie ihre Entstehung verdankt, Propaganda getrie­
ben wird; eine Bestimmung, wie die über die Rede- und Presse­
freiheit wird sinnlos, wenn zugleich die Aufhebung der
Bestimmung damit inkludiert wird, d. h. wenn die Rede- und
Pressefreiheit benützt wird, um die Rede- und Pressefreiheit
aufzuheben -, es ist dies ein typischer Fall für die Notwendig­
keit, gewisse Grenzsachverhalte, die sich durch verfassungsmä­
ßige oder sonstwie gesetzliche Bestimmungen ergeben können,
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und die vom Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden konn­
ten, nachträglich durch Selbstbeschränkung des Gesetzes aus­
zuschalten. Besteht aber ein Gesetz zum Schutze der Grund­
prinzipien des Staates, also eben das Gesetz zum Schutze der
Humanität, dann ist die Irrsinnsantinomie einer Freiheit, die
sich aus Freiheitsgründen selber aufheben läßt, einer Humani­
tät, die sich aus Humanitätsgründen selber vernichten lassen
will, weitgehend beseitigt; kurzum: es darf jede Rede- und
Presse- und Propagandafreiheit bestehen mit Ausnahme eines
einzigen Falles, nämlich jenem, in welchem die humanitätsge­
tragene Freiheitsgrundlage des Staates selber angegriffen wird.
Und diese Maßnahme ist heute umso dringlicher, als die frei­
heitlichen Einrichtungen der Demokratie systematisch von
auswärtigen Mächten benützt werden, um die Staatsgrundlagen
zu erschüttern; in Zeiten einer annähernd gemeinsamen Welt­
sittlichkeit war in solchen Möglichkeiten keine Gefahr enthal­
ten, und es war auch noch in jenen Jahren keine Gefahr, in de­
nen die Demokratien physisch stark genug waren, um
auswärtige Einflüsterungen als nebensächlich behandeln zu
können, heute jedoch, da sie ihre Machtpositionen zu einem
großen Teil selber geräumt haben, sind sie sehr empfindliche
Gebilde geworden und können, ja, dürfen angesichts der seeli­
schen Stimmung ihrer Volksmassen es sich nicht mehr leisten,
zum Objekt auswärtiger Propaganda herabzusinken: sie müs­
sen zum Subjekt der Propaganda werden. Es ist paradox, daß
zu den wesentlichsten Bestandteilen der diktatorischen Regie­
rungsmaschinerie ein ausgezeichnet arbeitendes Propaganda­
ministerium gehört, während in den angegriffenen Demokra­
tien - und dabei ist Amerika das Ursprungsland der
Propagandatechnik! - sich nichts dergleichen befindet, viel­
mehr ein Zustand völliger Wehrlosigkeit herrscht. Die Demo­
kratien müssen endlich einsehen, daß sie, ob sie nun wollen
oder nicht, sich bereits im Kriegszustand12 befinden, daß ein
Kriegszustand besondere Maßnahmen erfordert, und daß sie
daher entweder zu kapitulieren haben, wozu ja freilich bei den
europäischen Demokratien genügend Neigung vorliegt, oder
aber, wollen sie solche Kriegszeit durchhalten, die Wendung
zur totalen Demokratie werden nehmen müssen, eine Wen­
dung, die es vonnöten macht, daß der Staat nicht nur über die
physischen, sondern auch über die geistigen Waffen das volle
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Verfügungsrecht erhalte, unbeschadet des Freiheitsentzuges an
den ohnehin nicht mehr zum Gebiet der Demokratie gehörigen
Grenzfälle.
Bis hierher haben wir uns auf dem Boden der realen Tatsachen
bewegt, nun hiezu noch eine utopische Bemerkung: der Über­
schrecken des von den Diktaturen erfundenen Totalkrieges
mag den ungeheueren Segen in sich bergen, zu Friedensschlüs­
sen ohne Kriegsführung zu führen, von denen der erste in Mün­
chen stattgefunden hat und eine volle Niederlage der Demo­
kratien darstellte; abgesehen vom Rüstungsvorsprung bestand
das Übergewicht der Diktaturen in der Einheit von Weltan­
schauung und imperialistischem Kriegswillen, und dieses
Übergewicht wird selbst nach erfolgter Rüstungsaufholung
durch die Westmächte unbrechbar anhalten, wenn nicht diese
gleichfalls zu einer Einheit von Ideologie und Staatswillen, zu
einer Einheit von Weltanschauung und Verteidigungswillen
gelangen, d. h. wenn sie nicht, ohne Rücksicht auf Nebeninter­
essen, gewillt sein werden, die Prinzipien der Humanität, die
auf ihren Gebieten in Geltung stehen, geschlossen zu verteidi­
gen. Würde eine derartige Wendung eintreten, die eben die
Wendung zur totalen Demokratie wäre, dann darf mit einiger
Sicherheit vorausgesetzt werden, daß der nächste Friedens­
schluß gleichfalls ohne Kriegführung, aber mit einem Sieg der
Humanität, also mit der Rettung der Weltkultur Zustandekom­
men wird.
Den Demokratien, als rationalen Gebilden, widerstrebt es,
derartige irrationale Momente als Machtfaktoren einzusetzen,
es erscheint ihnen sogar die Staatspropaganda als eine gewisse
zirkusmäßige Unwürdigkeit, obwohl sie durch die Erscheinung
der Diktaturen, durch deren Auftreten und deren Entwicklung
über das geradezu ans Wunder grenzende Überraschungsmo­
ment psychischer Massenkräfte hätten belehrt werden können;
ihre rationale Struktur verlangt, das Hauptgewicht ihrer Maß­
nahmen auf die Belange des Meßbaren zu legen, auf das ratio­
nal und wissenschaftlich Erforschbare, nicht zuletzt also - und
damit berühren sie sich mit der sozialistischen Motivation - auf
die Belange des Wirtschaftlichen und der Volkswohlfahrt, also
immer wieder bereit, wie schon erwähnt, in die rationale Ideo­
logie des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Es wäre eine Bin­
senweisheit, eigens nachzuweisen, daß über die Belange des
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Irrationalen nicht die des Rationalen und gar die des wirt­
schaftlichen Aufstieges vernachlässigt werden dürften, nicht
einmal die Diktaturen tun dies, doch gerade weil das Rationale
so durchaus zu Recht besteht, ist es notwendig, auch die heute
noch irrationalen Bestandteile des Lebens und der Politik ehe­
stens einer rationalen und wissenschaftlichen Behandlung zu­
zuführen. Aus diesem Grunde dürfte es von äußerster Wichtig­
keit sein, sei es von Staats wegen, sei es aus privaten Mitteln,
sei es in Kombination der beiden Initiativen, die Gründung ei­
nes »Institutes zur Erforschung und Bekämpfung psychischer
Seuchen« ins Auge zu fassen; der augenblicklich sich ausbrei­
tende Massenwahn ist zumindest ebenso gefährlich wie der
Krebs, und die Mortalität, die sich aus dieser psychischen Seu­
che bereits ergeben hat, übersteigt die des Krebses zumindest
um ein Zehntausendfaches, wird sich aber ins Hunderttausend­
fache steigern, wenn man die Seuche ungestört weiterwüten
läßt.
Die Richtigkeit dieser Ausführungen vorausgesetzt, wäre an­
zustreben, daß sich in den Ländern der Demokratien rasche-
stens eine Vereinigung von Personen bilde, denen der Weiter­
bestand der Humanität und der Kultur am Herzen liegt und
daher in Wort und Schrift auf die Verwirklichung der angeführ­
ten Programmpunkte hinwirke, also13
1. es mögen die Regierungen und Parlamente der demokrati­
schen Länder ehestens eine Gruppe von Gesetzen zum Schutz
ihrer humanitären Staatsgrundprinzipien erlassen, in deren
Mitte ein »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« zu stehen
hätte;
2. es mögen die demokratischen Staaten ehestens eine zentrale
Propaganda einrichten, welche mit allen Mitteln der Presse, des
Films, des Radios usw. die Führung der Massen in Angriff
nehme und diese in der Richtung des humanitären Staats-
grundprinzipes leite;
3. es möge raschestens zur Gründung eines »Institutes zur Er­
forschung und Bekämpfung psychischer Seuchen« geschritten
werden.
Der Zweck all dieser Maßnahmen, der Zweck der gedachten
Vereinigung ist »Die Diktatur der Humanität in der totalen
Demokratie«.14

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1 Eine Reihe dieser Programmpunkte sind später von Broch in den vierziger
Jahren im Rahmen seiner »Massenwahntheorie« ausgearbeitet worden. Vgl.
dazu den 12. Band dieser Ausgabe.
2 Gemeint ist offenbar der Abschnitt »Die Abwehr«.
3 Broch meint den österreichischen Stände-Staat von 1934-1938
4 Nach den politischen Morden an Erzberger (1921) und Rathenau (1922)
wurden das Gesetz und der Staatsgerichtshof »zum Schutz der Republik« ge­
schaffen. Das Gesetz (Verordnung des Reichspräsidenten vom 21. 7. 1922)
lautete offiziell »Gesetz zur Verteidigung der republikanisch-demokratischen
Staatsform in Deutschland«. Es wurde zunächst auf fünf Jahre erlassen und
dann am 17. 5. 1927 um weitere zwei Jahre verlängert. In abgeschwächter
Form erging am 25. 3. 1930 das zweite Republikschutzgesetz, das am 19. 12.
1932 außer Kraft gesetzt wurde.
5 Broch bezieht sich auf die »Nürnberger Gesetze«, die während des Reichs­
parteitages der NSDAP in Nürnberg am 15.9. 1935 verkündet wurden und
die die »juristische« Ausgangsbasis für die Judenverfolgung bildeten.
6 Gemeint sind die Tage vor dem »Münchner Abkommen« Ende September
1938 als Broch noch in England war. Brochs Exilzeit in England bzw. Schott­
land dauerte vom 29. Juli bis 1. Oktober 1938.
7 Arthur Neville Chamberlain (1869-1940), englischer Premierminister zwi­
schen 1937 und 1940.
8 »Münchner Abkommen« vom 28. 9. 1938.
9 So beginnt der zweite Absatz der »Declaration of Independence« der USA
vom 4. Juli 1776.
10 »Constitution of the United States« vom 4. März 1789.
11 Wortlaut des Eides in den vierziger Jahren. Man legt ihn ab, wenn man als
Ausländer die US-Staatsbürgerschaft erwirbt. Der Text lautet heute etwas
anders, hat sich inhaltlich aber nicht geändert.
12 Broch spricht hier noch nicht vom Zweiten Weltkrieg, der erst einige Monate
nach Abfassung dieses Aufsatzes begann.
13 Vgl. den ähnlich lautenden Schluß des Abschnittes »Bericht an meine
Freunde« am Anfang dieses Aufsatzes. Der »Bericht an meine Freunde«
stellt eine überblicksmäßige Zusammenfassung des »Ersten Kapitels« dar.
14 Broch hat dem Aufsatz ein dreiseitiges Typoskript mit dem Titel »Anhang
(Die Judenfrage)« beigefügt, das Fragment geblieben ist. Es lautet:
»Es gehört, wie bereits ausgeführt, zur Genialität der Dämonie, irrationale
Affekte zu treffsicheren Instrumenten praktischer Zwecke zu machen; nir­
gends ist dies sichtbarer als an dem Judenhaß, der dunkel in Hitlers Besessen­
heit wühlt, von ihm aber in einer Weise, die nicht genug zu bewundern ist,
zu einem der wirkungsvollsten Instrumente der internationalen Machtpolitik
umgeformt worden ist: die teuflische Kaltblütigkeit, mit der diese Machtpoli­
tik von den übrigen Diktatoren, vor allem also von Italien, übernommen wor­
den ist, rückt das Schicksal des kleinen Volkes in die Gefahrenzone der Aus­
rottung schlechthin. An und für sich ist dieses Schicksal nicht tragischer als
das der chinesischen Bevölkerung unter den japanischen Bomben, es ist nicht
tragischer als das der Basken und Katalonier, die halbverhungert und halber­
froren haufenweise erschossen werden, es ist nicht tragischer als das Opfer
des russischen Terrors, es ist bloß unfaßbarer, weil es mit den grauenhaftesten
und perfidesten Mitteln einer erbarmungslosen Abschlachtung innerhalb ei­
nes weitgehend geordneten, technisch tadellos funktionierenden Staatswe-

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sens vonstatten geht, und weil es von dem Führer, dem Anführer des Mordes,
mit dem zynischsten, billigsten Hohn gedeckt wird. Unverschuldetes Leid er­
zeugt Würde, verächtlich ist bloß der Peiniger; die Juden haben das ihnen be­
reitete Schicksal mit der gleichen Gefaßtheit wie die Spanier und die Basken
auf sich genommen, vielleicht mit der etwas besseren Vorbereitung einer
zweitausendjährigen Leidenstradition, von der sie eines ihrer tiefsten Sprich-
worte »Der Mensch möge davor bewahrt werden, all das zu müssen, was er
kann« gelernt haben, und jetzt [sind] sie eben wieder vor das Muß dieses Kön­
nens gestellt, sie sind vor die Aufgabe gestellt, zu erweisen, wieviel das
menschliche Herz in seiner Größe und Stärke zu ertragen vermag, sie sind vor
das Muß des Sterben-Könnens gestellt. Herr Hitler nennt das, was er ver­
bricht, Buße und Vergeltung, doch er weiß selber nicht, was gebüßt, was ver­
golten werden soll, er denunziert die Unschuldigen als Schädlinge, Aufrührer
und Kommunisten, hoffend, daß er die Gepeinigten dadurch zur Gegner­
schaft bringen könne, um die Berechtigung zu bekommen, sie als Gegner zu
erledigen, er nennt überhaupt alles, was nicht mit ihm einverstanden ist, jü­
disch und jüdischen Geist, und es mag ihm gelingen, auf diese Weise wirklich
die insektenmäßige Vertilgung dieses Menschenvolkes herbeizuführen: nim­
mermehr wird es ihm jedoch gelingen, die Besessenheit seines Gewissens zu
beruhigen, um dessentwillen er die Vernichtung auch des letzten Zeugens sei­
ner Untat herbeiwünscht, und mögen auch Mitwelt wie Nachwelt niemals
wissen, daß jedes dieser jüdischen Einzelschicksale, da es an den Märtyrertod
rührt, von der tiefen Größe leidender Unschuld beschattet ist, aus dem Hit-
lerschen Haß steigt gespenstisch der Wille zur Selbstvernichtung der Kultur
auf, aus der als erster Stein die große jüdische Kulturleistung herausgebro­
chen werden soll.
Noch besteht die Hoffnung, daß es nicht so weit kommen werde, und weil
diese Hoffnung besteht, kann die praktische Frage nach dem ferneren Lose
der Unglücklichen glücklicherweise noch nicht beiseite geschoben werden.
Und ist es möglich, diese fürchterlichste Krise des Judentums noch einmal zu
überwinden, so war die Hitlersche Eruption ein Segen, denn sie hat die Af-
fektzerwühltheit der Welt aufgedeckt und dadurch auch dem Juden einen
klareren Platz angewiesen.
Die Hitlersche Abgrenzung der jüdischen Volksmasse nach der großelterli­
chen Blutmischung kann im Großen und Ganzen vollkommen akzeptiert
werden: es ist vielleicht der einzige wirklichkeitsentsprechende Punkt in der
ganzen Rassentheorie, die sowohl in ihren Einteilungen, als auch in ihren Be­
wertungen an keiner Stelle standhält, hier aber tut, denn wenn es auch sicher­
lich keine Arier gibt, so gibt es doch sicherlich Juden, und wenn auch diese
die mannigfachsten Erbzuschüsse erhalten haben, insbesondere durch die
Aufnahme ganzer nicht-semitischer, wahrscheinlich sogenannt arischer
Volksgruppen in die jüdische Religionsgemeinschaft, so hat die jahrhunder­
telange Ghettoabschließung zweifelsohne eine Reihe physischer und psychi­
scher Eigentümlichkeiten entwickelt, die man als die eines Volkscharakters
ansprechen darf; ob man hiebei zwei herkunftsmäßig so verschiedene Grup­
pen, wie etwa die der Orient- und die der osteuropäischen Juden, in einen
Topf werfen kann, [ist fraglich]. Es ist hiebei nicht festzustellen, ob diese Cha­
rakteristika blutmäßiger Art sind oder auf Vererbung erworbener Eigen­
schaften, bedingt durch das Ghettoleben, beruhen: der physische Habitus des
Juden schwankt, er unterscheidet sich zwar unverkennbar vom nordgermani­

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sehen, weniger bereits vom slawischen, am allerwenigsten jedoch vom lateini­
schen; und ähnliches läßt sich vom geistigen Habitus sagen: es ist dies überaus
auffallend, denn abgesehen von dem slawischen Einschlag, der ebensowohl
aus einer starken slawischen Übertrittsbewegung, wie aus jener geheimnis­
vollen Assimilierungskraft des Bodens herrühren kann, der z. B. im Laufe ei­
ner einzigen Generation beinahe alle amerikanischen Einwanderer konstitu­
tiv beeinflußt,«
(Das Fragment bricht hier ab.)

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Theorie der Demokratie (1938-1939)1

Das Schicksal, von den Ereignissen immer wieder überholt zu


werden - ein Schicksal, das ich in diesen Zeiten allerdings mit
sehr vielen teilte und teile -, hatte also auch die Völkerbundar­
beit2 ereilt. Doch so schmerzlich dies in politischer Beziehung
war, theoretisch war es eigentlich belanglos. Denn die Völker­
bundarbeit wurde automatisch zur Grundlage weiterer staats­
philosophischer Untersuchungen, und diese richteten sich
ebenso automatisch auf das aktuellste Problem unseres staatli­
chen Lebens, nämlich auf das Problem der Demokratie und der
Möglichkeit ihres Weiterbestandes.
In der Völkerbundarbeit war der Begriff der »menschlichen
Würde« zum Mittelpunkt der Theorie gemacht worden; dage­
gen zeigte das Phänomen der Diktaturen, daß gerade durch
Vergewaltigung der menschlichen Würde sich eine maximale
politische Wirksamkeit nach innen und außen erreichen läßt.
Ferner zeigte sich, daß die diktatorialen Gebilde direkte Ab­
kömmlinge der Demokratien sind, d. h. daß diese sich weder
sachlich noch formal als fähig erwiesen haben, sich gegen diese
Vernichtung, die aus ihrem eigenen Schoße emporgewachsen
ist, irgendwie zu wehren: der Aufbau einer humanitätsgerich­
teten Staatstheorie wäre also wiederum nichts als bloße Utopie,
wenn sie nicht ein Staatswesen zum Ziele hätte, das von vorne-
herein gegen die Gefahr einer »legalen« Selbstvernichtung
weitgehend gefeit ist und darüber hinaus ein ebenso großes
Ausmaß an politischer Wirksamkeit und Beweglichkeit wie die
Totalitärstaaten oder sonstweiche Angreifer, deren es immer
geben wird, besitzt.

Zuerst einige formale Feststellungen.


Soziale Gemeinwesen, wie Staaten usw., unterscheiden sich
voneinander vornehmlich durch die normativen Haltungen, die
sie einnehmen. Zumeist lassen sich diese normativen Haltun­
gen an »regulativen Prinzipien« ablesen, die sozusagen wie
Operationsregeln für die Funktion des Gemeinwesens wirken.
Die regulativen Prinzipien der Vereinigten Staaten und der
Französischen Republik sind die naturrechtlich-liberalen Men­
schenrechte (unalienable rights, droits de l’homme); für die So­
72

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wjetunion gilt die Marxsche Doktrin, für den Kirchenstaat das
katholische Glaubensdogma als regulatives Prinzip, während
man bei Diktaturen im allgemeinen nicht von einem wirklichen
regulativen Prinzip sprechen kann, es sei denn, daß man den
unbedingten vertrauensvollen Gehorsam gegenüber dem Wil­
len des Führers als solches bezeichnen will. Die regulativen
Prinzipien treten mit dem Anspruch auf Selbstevidenz auf, und
das gibt ihnen ihren Glaubenscharakter; allerdings sind sie in
ihrer Anwendung noch von anderen, und zwar in der Tradition,
im Volkscharakter usw. begründeten Nebenregeln begleitet,
deren Evidenz womöglich noch stärker ist, so daß sie kaum
mehr bemerkt wird oder ausgesprochen werden kann. Das
komplexe Gefüge der englischen Tradition, welche eine eigene
Aufstellung von regulativen Prinzipien für überflüssig erachtet,
beruht auf der Wirksamkeit dieser Evidenzen.
Die Verwirklichung der regulativen Prinzipien in der Staats­
realität ist in erster Linie ein formal-technisches Problem, wenn
es auch von der Natur der jeweiligen Prinzipien nicht ganz los­
zulösen ist. Immerhin läßt sich vorstellen, daß die Konstitution
der Vereinigten Staaten unter Beibehaltung ihrer Grundprinzi­
pien ganz anders hätte aufgebaut werden können, etwa als Ein­
kammersystem oder sonstwie; die Grundprinzipien sind für ein
Gemeinwesen, solange es als solches besteht, unabänderlich;
ihre Verwirklichungsform hingegen ist abänderbar, und deswe­
gen sollte Demokratie nicht, wie das immer wieder geschieht,
mit den Formen ihrer parlamentarischen Repräsentation ver­
wechselt werden.
Nichtsdestoweniger: gerade die Verwirklichungsform der re­
gulativen Prinzipien deckt den eigentlichen Formalunterschied
zwischen totalitären und nicht-totalitären Staaten auf.
Jede Gesetzgebung wird von den Tagesbedürfnissen veran­
laßt; ihre Aufgabe ist einerseits die Feststellung des Verhältnis­
ses zwischen Regierung und Staatsbürger (in beiden Richtun­
gen), andrerseits die Regelung des wechselseitigen sozialen und
ökonomischen Verhaltens der Staatsbürger im Alltagsleben.
Die regulativen Prinzipien haben in einigen Ländern, wie z. B.
eben in Amerika, den ersten Teil dieser Aufgabe unmittelbar
beeinflußt (in Amerika in der »Bill of Rights«3), während der
.zweite Teil der Aufgabe nicht in direktem, sondern nur in indi­
rektem Kontakt mit den regulativen Prinzipien steht: die sich
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auf den bürgerlichen Alltag beziehende Gesetzgebung spricht
nämlich nirgends die regulativen Prinzipien als solche aus, ist
vielmehr bloß verhalten, sich nirgends offenen Widerspruch
gegen die regulativen Prinzipien zuschulden kommen zu lassen
(worüber in Amerika der Oberste Gerichtshof zu wachen hat);
etwas kraß ausgedrückt ließe sich sagen, daß im bürgerlichen
Alltagsleben die regulativen Prinzipien höchstens ein Objekt
oratorischer Anpreisung sind, aber kein eigentliches Rechtsgut
darstellen. Wer also nicht gegen die jeweils bestehenden Ge­
setze verstößt, findet zwischen diesen genügend viele Lücken,
um die regulativen Prinzipien ungestraft mit Wort und Tat zu
verletzen, also - wie es eben in Europa geschehen ist - die bür­
gerliche Freiheit mit Hilfe dieser Freiheit zu vernichten.
In Amerika z. B. war die Angst vor der Tyrannis so groß, daß
man die regulativen Prinzipien bloß dort positiv in der Gesetz­
gebung verwendet hat, wo die Freiheit der Staatsbürger gegen­
über der Regierung geschützt werden sollte (»Bill of Rights«);
hingegen waren die regulativen Prinzipien für das bürgerliche
Alltagsleben einfach selbstevident, ja sie waren die eigentliche
Form des bürgerlichen Alltagslebens, und daher die Demokra­
tie selber, und daher hat niemand daran gedacht, daß es ja not­
wendig sein könnte, den Staat vor den Bürgern oder die Bürger
vor den Bürgern schützen zu müssen, mit anderen Worten, man
hat sich damit begnügen dürfen, die regulativen Prinzipien als
sozusagen bloß negative Rechts- und Gesetzesquelle zu ver­
wenden.
Das Gegenteil findet im totalitären Staate statt. In Rußland ist
die marxistische Theorie ständige Rechtsquelle für beide Ge­
biete, und genauso wie hier »unproletarisches Verhalten« unter
Ahndung gestellt ist, genauso verhält es sich in Deutschland mit
jedem »nicht-nationalsozialistischen« Verhalten. Kurzum: im
Gegensatz zur nichttotalitären Gesetzgebung fügt der totalitäre
Staat seine regulativen Prinzipien als geschütztes Rechtsgut un­
mittelbar in das Alltagsleben seiner Bürger ein, und zwar [so],
daß jeder Schritt des einzelnen, jede Relation, jedes Rechtsge­
schäft, m. a. W. das gesamte Leben hievon durchtränkt wird.
Damit ist die »legale« Vernichtung der regulativen Prinzipien,
wie sie insbesondere in den Demokratien möglich geworden ist,
rigoros aufgehoben.
Rußland hat zur Durchführung dieser Maßnahmen (Rechts­
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quelle der regulativen Prinzipien) das Einparteiensystem er­
funden, das sich nunmehr auch in den übrigen Totalitärstaaten
bewährt. Es ist zweifelsohne das einfachste Mittel, umsomehr
als es von einer eigenen Prätorianergarde getragen wird (Funk­
tion der Staatspolizei), doch ist es durchaus nicht ausgeschlos­
sen, daß bei anderen regulativen Prinzipien auch andere Mittel
zu deren Durchsetzung gefunden werden könnten. Auch dies
ist eine bloß technische Frage.

Sollen die regulativen Prinzipien der Demokratie, wie sie z. B.


in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegt
sind, auf die nämliche Weise erzwungen und geschützt werden?
Es ließe sich einwenden, daß regulative Prinzipien eben derart
selbstevident sein müßten, daß sie solcher Zwangsmaßnahmen
nicht benötigten, ja daß man sie im gegenteiligen Falle lieber
völlig aufgeben und durch andere ersetzen möge. Damit eröff­
net sich neuerdings die Frage nach der Wertabsolutheit, denn
absolut gültige Wertprinzipien sind nicht durch andere zu er­
setzen.
Ehe man sich jedoch auf erkenntnistheoretische Grundlagen­
erörterungen einläßt, hat man den irdischen Aspekt zu be­
trachten, und da läßt sich ganz einfach sagen, daß die Humani­
tätsprinzipien der Demokratie zwar wahrscheinlich nicht ihre
objektive Gültigkeit, sicherlich jedoch ein Stück ihrer Selbst­
evidenz im Laufe des 19. Jahrhunderts eingebüßt haben. In den
kantonalen Gemeinwesen, aus denen die Demokratie entstan­
den ist, waren alle Verhältnisse, mögen sie auch manchmal ge­
fährdet gewesen sein, für jeden Einwohner klar überschaubar;
er wußte um seine eigenen und ökonomischen Bedürfnisse,
nicht minder um die seines Gemeinwesens, und er befand sich
hiedurch in einer ethischen Sicherheit, die es ihm erlaubte, auch
seine moralisch-seelischen Bedürfnisse zu klarem Ausdruck zu
bringen. Nichts stimmt hievon mehr für den Großstadtmen­
schen des technischen Zeitalters; das lebendige Verhältnis zur
Gemeinschaft, in der er lebt, ist ihm weitgehend verlorenge­
gangen, denn die gigantische Staatsmaschine, von der diese
Gemeinschaft repräsentiert wird, funktioniert wie ein unheim­
lich selbständiges, fremdes Lebewesen, das kaum seinen soge­
nannten Lenkern gehorcht, und die technik-starrenden, tech-
nik-erstarrten Millionenstädte, in die das Leben eingefangen
75

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ist, sind von technischen und ökonomischen, immer aber ge­
fahrdrohenden Unbegreiflichkeiten erfüllt. Dem Großstadt­
menschen sind die Humanitätsprinzipien abhanden gekom­
men; allzuviel Inhumanität, allzuviel Ungefestigtheit umgibt
ihn; er ist in ethische Unsicherheit geraten.
In engem Zusammenhang damit steht das technische Problem
der parlamentarischen Demokratie: ein Wähler, der nicht im­
stande ist, die Interessen seines Gemeinwesens zu überschauen,
hat keinen echten politischen Willen, aber noch viel weniger
läßt sich ein solcher von einem Menschen erwarten, der sich in
ethischer Unsicherheit befindet; die Demokratie als staatstech­
nische Einrichtung hat sich bisher als unfähig erwiesen, das
Problem des politischen Willens innerhalb der neuen sozialen
Körper, insbesondere also innerhalb der Großstadt befriedi­
gend zu lösen.

Obwohl die seelische und ethische Unsicherheit der modernen


Massenbevölkerung zum Großteil von ökonomischen Gefähr­
dungen bedingt ist - zumindest ist im ökonomischen fast immer
der auslösende Anlaß zu suchen -, so ist der Gesamtaspekt
trotzdem ein vornehmlich psychologischer, und nichts ist hiefür
bezeichnender, als daß man mit bloß ökonomischen Maßnah­
men (auch wenn sie wirkungsvoll sind) den Massen nicht die
verlorengegangene Sicherheit zurückzugeben vermag: die
Massen befinden sich in einem Zustand, der noch nicht ausge­
sprochene Panik ist, den man aber füglich mit Vor-Panik be­
zeichnen darf, da bereits alle Panikelemente, so die Herabmin­
derung der rationalen Urteilskraft, die völlige Gleichgültig­
keit gegenüber allen Lebenswerten, die Bereitwilligkeit, sich
jedem starken Führerwillen unterzuordnen, etc. deutlichst a n ­
weisbar darin enthalten sind; es ist ein Zustand, der allen Revo­
lutionen, den geglückten wie den niedergeschlagenen, voraus­
geht.
Für den Zusammenbruch der europäischen Demokratien war
es daher weniger ausschlaggebend, daß sie die ökonomischen
Übel bloß mangelhaft zu beseitigen vermochten; weit aus­
schlaggebender war ihre Unfähigkeit, den psychologischen
Aspekt des Sachverhaltes zu erkennen; selber rationale Ge­
bilde, wandten sie sich an eine nicht mehr vorhandene Ratio
und Urteilsfähigkeit, wandten sie sich an den nicht mehr vor­
76

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handenen Willen der Massen, und mußten daher ohne Respons
von diesen bleiben.
Die Diktaturen hingegen haben den eminent psychologischen
Inhalt der Frage erkannt; sie haben erkannt, daß die rationalen
und materialen Lösungen hinter den seelischen zurückstehen
dürfen, daß sie mit Versprechungen (selbst mit unerfüllbaren)
überbrückt werden können, daß aber vor allem die ethische
Unsicherheit der Massen, sollen diese zur Gefolgschaft ge­
bracht werden, beseitigt werden müsse, und sie haben daher mit
einer erstaunlichen psychologischen Einfühlungsgabe vor allem
ihren eigenen regulativen Prinzipien zur unbedingt totalitären
Geltung verholten, indem sie sich nicht auf rationale Wahrheit
stützten, sondern mit jedem Mittel, zu dem selbstverständlich
auch das des Terrors gehörte, die panikisierten Massen zu Af­
fekthaltungen und damit wieder in Aktion brachten: das Resul­
tat war ein Maximum an politischer Wirksamkeit nach innen
wie nach außen.
Daß die Totalitärbestrebungen als erste Versuche zur Behe­
bung der Wertzersplitterung aufgefaßt werden können und daß
sie deshalb von den (eben durch die Wertzersplitterung) pani­
kisierten Massen als Rettung empfunden und begrüßt werden,
gehört schon ein wenig zur Geschichtsmystik und braucht daher
nicht weiter ausgeführt zu werden.

Wenn Demokratie4 weiter- oder wiederbestehen soll - und sie


wird es tun -, so wird dies nicht kraft ihrer parlamentarischen
Einrichtungen, sondern kraft ihrer regulativen Grundprinzi­
pien geschehen. Die parlamentarische Form (und damit die
Konstitution) kann durch geeignetere und modernere Instru­
mente ersetzt werden, d. h. vor allem durch solche, welche den
politischen Willen der Bevölkerung nicht nur besser zu erfassen
vermögen, als es das heutige Wahlsystem vermag, sondern auch
imstande sind, diesen heute fast völlig verlorengegangenen
Willen neu zu erwecken und ihn den Erfordernissen des mo­
dernen Lebens anzupassen; eine solche Reform wird sich wahr­
scheinlich auch als notwendig erweisen, um das seltsame Miß­
trauen, mit dem der Wähler die von ihm gewählte Regierung
sowie die gesetzgebenden Körperschaften zu bedenken pflegt,
endlich wieder zu zerstreuen: doch all dies, d. h. Wiedererwek-
kung des politischen Willens und Wiedererweckung des politi-
77

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sehen Vertrauens, ist bloß dann möglich, wenn sich jede konsti­
tutionelle Reform strikt in den Dienst der regulativen
Grundprinzipien der demokratischen Humanität stellt; diese
Grundprinzipien können wohl ausgestaltet werden, müssen
aber als solche unverändert bestehenbleiben, geschweige also,
daß sie durch andere ersetzt werden dürfen.
Es kann werttheoretisch gezeigt werden, daß Demokratie,
eben infolge ihrer regulativen Grundprinzipien, den »offenen
Systemen« zuzuzählen ist und daher auch deren spezifische
»Wertgültigkeit« besitzt. Andere Prinzipien, wie etwa das feu­
dale oder aber auch das Marxsche, tendieren zu »geschlosse­
nen« politischen Systemen, da ihre Wertnormung nicht nach
funktionalen, sondern nach materialen Gesichtspunkten er­
folgt. Hingegen ist Totalitarismus kein unbedingt gültiges Sym­
ptom für Systemgeschlossenheit; Marxismus z. B. kann eben­
sowohl parlamentarisch wie totalitär repräsentiert werden, und
das nämliche gilt sogar für den Rassismus, denn die Staatsform
als solche ist immer nur technisches Instrument zur Konkreti­
sierung der Grundprinzipien, von denen das Gemeinwesen ge­
lenkt werden soll und die ihm seinen ihm eigentümlichen
»Geist« verleihen. Und umgekehrt könnte demnach auch ein
»offenes« politisches System, wie es die Demokratie ist, »tota­
litär« repräsentiert werden, besonders dann, wenn sich hie­
durch staatstechnisch vorteilhaftere und modernere Lösungen
für die Konkretisierung ihrer Prinzipien finden ließen.
Man wird daher nicht umhinkönnen —und vielleicht gehört
sogar ein gewisser Mut hiezu -, die Frage einer »totalen Demo­
kratie« anzuschneiden. Die Demokratie ist durch die ökono­
misch-soziale und die ethische Unsicherheit ihrer Volksmassen
gefährdet; von dieser Basis aus wurden die europäischen De­
mokratien zerstört, und zwar unter formaler Benützung der
bürgerlichen Freiheit, der es konstitutionell gestattet ist, sich
selbst zu zerstören, und zwar durch fortgesetzte - straflose, weil
unstrafbare - Verletzung der demokratischen Grundprinzipien
im öffentlichen wie privaten Alltagsleben. Das europäische
Beispiel zeigt ferner, daß es nichts nützt, gegen diese verschie­
denen Übel einzelweise einzuschreiten, sondern daß für sie eine
Gesamtlösung hätte gefunden werden müssen: diese Lösung
wäre wahrscheinlich die »totale Demokratie« gewesen, d. h.
eine Demokratie, welche ihre Grundprinzipien nicht nur als
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Gegenstand oratorischer Anpreisung verwendet, sondern sie
zum lebendigen Rechtsgut des Alltagslebens und aller zwi­
schenbürgerlichen Relationen macht. Auf die amerikanische
Legislatur angewandt, würde dies bedeuten, daß diese Verlet­
zung der in der Unabhängigkeitserklärung und Konstitution
zum Ausdruck gebrachten demokratischen Grundprinzipien
strafbar gemacht werden würde, und zwar wo immer und wie
immer eine solche Verletzung erfolgte, also besonders auch,
wenn dies in der Relation der Staatsbürger untereinander er­
folgte ; beispielsweise würde ein »Gesetz zum Schutze der Men­
schenwürde«, wie es bereits in den Untersuchungen zur Reno­
vierung des Völkerbundes gefordert wurde, durchaus in den
Rahmen dieser gesetzlichen (und im übrigen noch weitgehend
konstitutionsgerechten) Maßnahmen fallen. Gewiß, es wird
noch viele andere Wege zur Wiederkonsolidierung der Demo­
kratie als den ihrer Totalisierung geben - obwohl es vielleicht
gerade dieser sein wird, den die Kriegsverhältnisse diktieren
werden-, aber welcher immer auch beschritten werden möge,
es wird die Demokratie das nämliche psychologische Verständ­
nis in der Behandlung der Volksmassen aufbringen müssen, wie
es die jetzt totalitären Staaten mit so großem Vorteil getan ha­
ben: in der Seele des Menschen liegt das Gute und das Böse
knapp nebeneinander, und genauso wie sie aus ihrer Panik zu
Sadismus und Aggression geführt werden kann, ebensowohl
kann sie zur Humanität geführt werden. Das Wesentliche bleibt
die Wiedergewinnung der psychischen und physischen Sicher­
heit, und darum wird die Demokratie, bei aller Wichtigkeit ih­
rer staatsrechtlichen Festigung, sich nach wie vor dringlichst mit
diesen Konkretproblemen zu befassen haben, d. h. nicht nur,
wie bisher, mit den Problemen der Sozialwirtschaft, sondern
nun auch mit denen der Sozial- und Massenpsychologie.

1 In Brochs »Autobiographie als Arbeitsprogramm« folgt dieser Abschnitt dem


Kapitel »Vergil (1937-1940)«, (Bd. 4, S. 464).
2 Vgl. den Abschnitt »Völkerbundtheorie (1936-1937)« in diesem Band.
3 In den USA trat »The Bill of Rights« am 3. November 1791 in Kraft.
4 Brochs Leseliste aus den vierziger Jahren mit Büchern, die Aspekte der Demo­
kratie abhandelten, befindet sich in der Princeton University Library (Nachlaß
Erich von Kahler). Die auf der Leseliste enthaltenen Titel mit den Kurzkom-

79

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mentaren Brochs sei hier wiedergegeben: »Roberts, Richard. T h e U n fin ish ed
P ro g ra m m e o f D e m o c ra c y (London: The Swarthmore Press, 1919), 326 S.
Richtige Ansichten, historisch begründet, linksgerichtet, mit religiösem Hin­
tergrund. - Kraus, Herbert. G e rm a n y in T ra n sitio n (Chicago: The University
of Chicago Press, 1924), 236 S. Politische Analyse Deutschlands nach Versail­
les. - Lindsay, Alexander Dunlop. T h e E ssentials o f D e m o cra c y (Philadelphia:
University of Pennsylvania Press, 1929), 82 S. Historisch-philosophische Stu­
die. Ausgangspunkt Cromwell. Anti-irrational. »Democracy implies faith, but
a reasoned faith.« (S. 82). - Holcombe, Arthur Norman. G o v e r n m e n t in a
P lanned D e m o cra c y (New York: W. W. Norton, 1935), 173 S. Technische
Analyse der Demokratie. Sehr gediegen, vorsichtig, nicht konstruktiv. —Tead,
Ordway. The C ase f o r D e m o cra c y a n d its M e a n in g f o r M o d e rn L ife . W ith a
R ea d in g L is t o n D e m o cra c y b y B e n so n Y. L a n d is (New York: Association
Press, 1938), 120 S. »Businessminded«. Sehr gute Reading List! - Tead, Ord­
way. N ew A d v e n tu r e s in D em o cra cy. P ractical A p p lic a tio n s o f the D em o cra tic
Idea (New York, London: Whittlesey House, 1939), 229 S. Ausgangspunkt
»Science of Administration«, innerhalb liberal kapitalistischer Ordnung, wel­
che im großen und ganzen aufrechterhalten werden soll. (»Fabriken« als de­
mokratische Zellen, industriell-demokratische Führerschaft, etc.) - Cole,
George Douglas. E u ro p e , R u ssia a n d the F uture (London: V. Gollancz, 1941),
186 S. Sozialistisch-gemäßigte Betrachtungen zu den Friedensproblemen. -
Lerner, Max. Id ea s f o r the Ice A g e . S tu d ies in a R e v o lu tio n a ry E ra (New York:
The Viking Press, 1941), 432 S. Gesammelte Aufsätze. - Weinstein, Jerome:
»Pay for Your Own Inflation«, in: T h e N a tio n , 157/8 (21. August 1943), S.
202-204. Schlägt flexible Warenumsatzsteuer vor, welche die steigenden
Preise direkt dem Staat zufließen läßt.«

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The City of Man
Ein M anifest über W elt-D em okratie

Dritter Vorschlag: Eine neue Nationalökonomie1

Die Notwendigkeit, den Hoffnungen des Menschen eine neue


Perspektive zu eröffnen, radikal verschieden von jener des big
business und von jener des Marxschen wie auch von jener des
im sowjetischen Staat verkörperten Kommunismus, ist nur zu
oft schon betont worden, doch scheint ein solcher Kurs bisher
noch nirgends in wirklich erkennbarer Form vorgezeichnet.
Wirtschaftsexperten wie Thorstein Veblen2 oder Gesetzgeber
und prophetische Soziologen wie Henry George3 wurden meist
ignoriert von einer öffentlichen Meinung, die entweder ver­
kommen ist zum Lippendienst eines traditionellen Liberalis­
mus, welcher weit davon entfernt scheint, die neuzeitlichen
Normen der Erzeugung und des Konsums zu berücksichtigen,
oder aber sich in einem leidenschaftlichen Bekehrungseifer und
in blinder Verneinung gegen die vermeintlich unablässigen
»Ränke« von in Europa beheimateten revolutionären Bewe­
gungen versperrt. Der Zeitpunkt scheint daher überreif für eine
objektive Untersuchung des Wesensgrundes unseres jetzigen
sozialen Verfalls, eine Untersuchung, die von befähigten For­
schern der Wirtschaftsgeschichte und -theorie durchgeführt zu
werden hat, welche frei von Vorurteilen und Fanatismus ihre
Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Formulierung von sol­
chen Projekten realistischer Prägung zu lenken haben werden,
die nach der jetzigen allgemeinen Verwüstung für ein Zeitalter
des Wiederaufbaues gesicherte Stabilität und ein möglichst
breites Kollektivwohl gewährleisten können.
Es ist dies zweifelsohne ein Gebiet, in dem es vornehmlich auf
eine möglichst große fachliche Verläßlichkeit der Daten und
auf deren scharfe Kontrolle ankommt, denn das Wirtschaftsle­
ben ist durch sein Eigengewicht im Boden der sofortigen prak­
tischen Überprüfbarkeit aller spekulativen Überlegungen ver­
wachsen. Weniger noch als in jedem andern Gebiet ist es daher
hier zulässig, von einer allgemeinen Annahme auf spezifische
Auswirkungen zu schließen, und es ist durchaus denkbar, daß
manche der konkreteren, in diesem Aufruf höher angelegten
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Reformvorschläge nach gründlicherer Untersuchung einer ent­
sprechenden Anpassung oder Revidierung bedürfen mögen.
Nichtsdestoweniger können die Hauptrichtlinien wie folgt an­
gedeutet werden:
Projekte für ein politisches oder ethisches Eingreifen in den
Wirtschaftsablauf müssen unweigerlich utopisch bleiben, so­
lange sie nicht im Einklang mit den Interessen von Gruppen
stehen, die mächtig genug sind, deren theoretische Grundlagen
durchzusetzen. Insoweit ist also der materialistische Gesichts­
punkt von unabweisbarer Gültigkeit. Aber über diese ur­
sprüngliche Übereinstimmung hinaus gelangen diese Grundla­
gen und deren leitende Prinzipien zu einer wesentlich größeren
Stärke als jene von bloßen Aushängeschildern materieller In­
teressen, im Augenblick da die ihnen innewohnende Eigendy­
namik selbsttätig zu wirken beginnt. So hätte der Marxismus
wohl kaum die Massen derart ergreifen können, wenn dessen
wirtschaftliche Motivierungen nicht gleichzeitig auch vom Ein­
satzwillen für Gerechtigkeit getragen worden wären. Gleicher­
weise wären die Kriege Washingtons und Lincolns sicherlich
schon in ihren Anfängen in Niederlagen zusammengebrochen,
wenn es Washington beispielsweise in erster Linie nur um die
Abschaffung der Teesteuer zu tun gewesen wäre, oder wenn
Lincoln seine Schlachten bloß als Condottiere der neuengli­
schen Industrien geführt hätte. Das aber heißt nichts anderes,
als daß wirtschaftliche Reformen auf der doppelten Grundlage
einer praktischen Notwendigkeit und einer moralischen oder
religiösen Zielsetzung fußen müssen. Wahre Realpolitik ist an­
gewandte Ethik.
Ein Rückfall in das Sklaventum - und zwar ein Sklaventum
moderner Fassung, von einer Kompromißlosigkeit und Aus­
schließlichkeit, wie es die Geschichte noch niemals gekannt hat
- kennzeichnet unsere Zeittendenz. Die Wurzeln dieses Übels
sind sowohl ethischer wie ökonomischer Art, und daher müssen
die Mittel zu dessen Behebung dies ebenso sein. Vom wirt­
schaftlichen Standpunkt aus gesehen, wird der Arbeiter vom
totalitären Staat für ein Minimum an Unterhalt und Sicherheit
erkauft, wogegen er den Verlust von allem anderen, vor allem
jenen seiner Freiheit erleidet. Berufswahl, das Recht auf
Wechsel des Arbeitsplatzes, das Recht auf unvoreingenom­
mene Rechtsprechung, sie alle sind abgeschafft, und allein der
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Arbeitgeber ist es, der über die Zuweisung der Arbeit entschei­
det, der die Arbeitsdauer bestimmt, dem die »Rechtsprechung«
obliegt und der befugt ist, Strafen zu verhängen. Dieser Arbeit­
geber aber ist letztlich niemand anderer als der Staat selber.
Zwar gewährt dieser Totalitärstaat - in seiner fascistischen und
nazistischen Form, und vielleicht auch schon wieder im totalitä­
ren Kommunismus, wenngleich durch getarnte Methoden - ge­
wissen privilegierten Gruppen nicht unbeträchtliche Gewinn­
chancen, sozusagen als Bindeglied zwischen Vergangenheit und
Zukunft, oder aber als Trennungszeichen zwischen der neuen
Autokratie und der Masse des Volkes. Aber derartige Zuge­
ständnisse sind jederzeit widerrufbar, und Privatbesitz ist nichts
als nackter Trug ebenso wie freie Wirtschaft nichts mehr als
eine bloße Erinnerung darstellt. Weder in den oberen, noch in
den unteren Gesellschaftsschichten gibt es noch Raum für den
»gesichtslosen Unbekannten«, denn Staat und Polizei führen
genau Buch über jeden und jedermann. Diese Wirtschaft der
Knechtschaft und der Vergeudung, die zwingend in Rüstungs­
industrie und im Krieg als Beutezug gipfelt, führt durchaus
fälschlicherweise den Namen »Planwirtschaft«.
Dahingegen muß jene Planwirtschaft, die wahrhaft einer de­
mokratischen Ideologie entspricht, völlig anders beschaffen
sein: hier hat das Idealziel darin zu bestehen, daß Nahrung und
Unterkunft jedermann so freizügig zur Verfügung stehe, wie
dies für Wasser, für die Benützung des Straßennetzes und für
eine Reihe anderer öffentlicher Dienste in manchen Ländern
fortgeschrittener Zivilisation schon der Fall ist. Realistischer
formuliert besteht das Problem darin, jedermann einen Min­
destunterhalt zuzusichern ohne dafür einen durch Schnellge­
richte erzwungenen Frondienst abzufordern, gleichzeitig aber
die Sozialdienste so zu bemessen, daß die Sicherheit wohlver­
dienter Versorgtheit nicht in nörgelnde Müßiggängerei einer
parasitären Wohlfahrt entarte. Wenn es daher zur Errichtung
einer entsprechend neubelebten Demokratie auf dem verfas­
sungsmäßigen Gebiet notwendig scheint, die »Bill of Rights«
(also das Staatsgrundgesetz) an eine »Bill of Duties« (also ein
Grundgesetz ziviler Pflichten) einschränkend zu binden, so
muß gleichzeitig und erweiternd das Grundgesetz über poli­
tische Rechte auch dementsprechend durch ein solches über
wirtschaftliche Rechte (»Bill of Economic Rights«) ergänzt
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werden. Zielstrebungen dieser Art sind entlang einer flexiblen
Linie von Kompromissen zu verfolgen, dies umsomehr als das
Kompromiß - und es muß sich dabei durchaus nicht um ein sol­
ches übler Natur handeln - dem eigentlichen Wesen der Demo­
kratie naturgemäß entspricht. Wenig Sinn hätte es dabei, ledig­
lich den Kapitalismus leidenschaftlich - wenngleich nur
rhetorisch - als den einzig Schuldtragenden zu bezichtigen, in­
dem man etwa den altmodischen Schlachtruf »Eigentum ist
Diebstahl« neu aufgreift, denn der Kapitalismus, als Ergebnis
einer langen, mühsamen und verantwortungsvollen geschicht­
lichen Entwicklung, läßt sich nicht einfach durch Schlagworte
und Plakate auslöschen. Und ebensowenig Sinn hat es, den
Sozialismus mit einer Art Kirchenbann belegen zu wollen, denn
der Sozialismus - oder welchen Namen auch immer man einer
Staatsform geben mag, die einen kollektivistischen oder demo­
kratisch-sozialen Charakter trägt - ist zu einem bleibenden
Merkmal unserer Zeit geworden, gleichgültig ob uns dies ge­
nehm sei oder nicht.
In der Tat, es sind dies die beiden janusartig sich gegenseitig
bedingenden Aspekte der Demokratie. Denn einesteils sieht
die Demokratie, im Rahmen ihres sie beseelenden Freiheits-
prinzipes, im Kapitalismus eine sozusagen natürliche, wenn
auch nicht vorbehaltlos notwendige Wirtschaftsform, während
sie andernteils im Rahmen des ihr gleicherweise immanenten
Gerechtigkeitsprinzips sich eher einem Kollektivismus zuneigt,
der ihr zwar weniger naturgegeben, jedoch ethisch unerläßlich
scheint. Ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Prinzipien
konnte solange aufrechterhalten werden, als sich Profitwirt­
schaft mit den Erfordernissen einer auf Verbrauch abgestellten
Wirtschaft deckte, doch wurde dieses Gleichgewicht in dem
Augenblick aufgehoben, da diese beiden Wirtschaftssysteme
sich nicht mehr ergänzten. Dies war teilweise die Folge des mo­
ralischen Zerfalls, der sowohl in den beiden Sphären der Pro­
duktion und des Konsums, als auch in jenen beiden der Arbei­
terschaft und des Arbeitgebertums eingesetzt hatte, hauptsäch­
lich aber und in einer Wirkungskette von streng wirtschaftli­
chen Faktoren, war es die blinde Folge der gleichzeitigen
Unreife und Auswucherung des Maschinenzeitalters, das oft
unnützerweise eine an und für sich verwerfliche Massenpro­
duktion an Stelle eigenständiger Handwerksarbeit gesetzt
84

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hatte. Die Leistung des Arbeiters wurde derart zu einem ent-
geistigten Frondienst herabgewürdigt, und der Arbeitseinsatz
des die Maschine bedienenden Menschen wurde dem automa­
tisierenden Rhythmus der Maschine untergeordnet. Dies, zu­
sammen mit zwangsbegleitenden Umständen und vor allem
unter der Einwirkung der plötzlichen Verlagerung der Welt­
produktion und der Weltmärkte, hat gleichzeitig sinkende Ge­
winne und eine steigende Arbeitslosigkeit mit sich gebracht, so
daß das Kapital wie auch die Arbeiterschaft sich mit einem
Male der Panik eines drohenden Gesamtzusammenbruchs aus­
gesetzt sahen. Krise folgte auf Krise in immer kürzer werden­
den Pausen, bis diese schließlich in einer einzigen Krise, diese
aber von Weltweite und chronischer Dauer, einmündeten.
Und doch können und müssen die Erschütterungen dieser
größten aller technologischen Revolutionen - ebenso wie jene
der früheren Zeitalter der Metallurgie und der Eröffnung des
Welthandels, deren schreckhafte zeitgenössische Auswirkun­
gen uns in deren düsteren Mythen überliefert sind - als der noch
verschattete Tagesanbruch einer neuen und besseren Epoche
angesehen werden. Denn wenn auch die Maschine, des Men­
schen Geschöpf, eine ihr eigene Übermacht entwickelt zu ha­
ben scheint, so ist doch im menschlichen Geiste die ahnende
Überzeugung verwurzelt, daß es ihm gelingen kann und wird,
diesen Homunkulus aufs Neue zu zähmen. Ein weiterer Fort­
schritt in der technischen Erfindungsgabe und eine Neufassung
der menschlichen Zielsetzungen müßte es möglich machen
können, die intensive Wirtschaft, die heute in der ganzen Welt
am Versagen ist, weitgehend durch eine Extensivwirtschaft zu
ersetzen. Sicher scheint es vorderhand nicht möglich, die
Früchte der heutigen Technik voll zu ernten, ohne die großen
Städte erstmals neu aufzubauen, aber schon jetzt eröffnen sich
allenthalben Möglichkeiten, Heimindustrien und individuali­
siertes Handwerk in kleinem und kleinstem Ausmaße durch
autonom mobilisierte Kräfte neu anzuregen und zu unterstüt­
zen. Die allerorts auftretenden zentrifugalen Strömungen her­
aus aus den großen städtischen Ballungen sind zweifelsohne als
ein Vorzeichen zukünftiger Tendenzen zu werten, während
eine im Zeichen der Verbrauchsbedürfnisse statt in jenem des
rein finanziellen Profits stehende Produktion allenthalben
schon mannigfache Beispiele in öffentlichen Unternehmen und
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in den sozialen Diensten und der Forschung gewidmeten Insti­
tutionen aufzuweisen hat, sie allesamt auf eine Gesellschafts­
ordnung der Zukunft hinweisend, die nicht mehr ausschließlich
auf geldliche Werte ausgerichtet sein wird. Derartige Vorzei­
chen und Tendenzen müssen voll ausgenützt und weiter ange­
regt werden; so haben beispielsweise Bewegungen zur Bildung
von Konsumgenossenschaften im Skandinavien der Vor-
Nazi-Zeit und im vor-fascistischen Italien alle Merkmale einer
weltweiten Anwendungsmöglichkeit getragen und drängen sich
daher auf, heute als Brücken zwischen einer Produktions- und
Konsumwirtschaft neu belebt und allgemein nachgeahmt zu
werden. Was immer für spezifische Projekte aber auch von
Wirtschaftlern und Soziologen in Antwort auf die konkreten
Bedürfnisse einer in Umwälzung befindlichen Welt geplant
werden mögen, sie müssen alle von einem einigenden Grund­
gedanken getragen sein: die fascistisch totalitäre Staatsform,
den Krankheitskeimen einer siechenden Demokratie entspros­
sen, hat die beiden dem demokratischen Geiste innewohnen­
den widersprüchlichen Tendenzen - das zum Kapitalismus
drängende Freiheitsprinzip und das den Kollektivismus erfor­
dernde Gerechtigkeitsprinzip —zu einem einzigen Ring zusam­
mengeschmiedet, zum Würgering des Nationalsozialismus. Es
ist dieser verhängnisvolle Kreis, gebildet vom Kapitalismus und
vom Kommunismus als feindliche Brüder oder als verbündete
Komplizen, der gebrochen werden muß, damit die beiden se­
gensbringenden Komponenten der Demokratie - freie Wirt­
schaft und wirtschaftliche Gerechtigkeit - in eine einzige, eini­
gende und sich gegenseitig ergänzende Wesenheit für ein
Zeitalter schöpferischer Blüte zusammengefaßt werden mögen,
ein Zeitalter, in welchem weder die Rechte des Individuums in
Anarchie ausarten, noch seine Pflichten in Sklaventum erstik-
ken werden.
Dabei ist weitgehend auf jene durchaus geniale Anpassungs­
fähigkeit zurückzugreifen, die die Englisch sprechenden Natio­
nen immer wieder in der auswählend neuerungsbereiten Be­
wältigung sozialer Probleme bewiesen haben, eine natürliche
und bisher nicht erlahmende Begabung, inmitten der stürmi­
schen Wogen des historischen Ablaufs trotz allem feste Funda­
mente für die Zukunft zu errichten. Von allen Versuchen, der
Demokratie eine neue wirtschaftliche Formulierung zu geben,
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war zweifellos der »New Deal« der bedeutsamste. Seine Fehl­
schläge, wie z. B. die NIRA4, sind in der Hauptsache einem
vornehmlich empirischen Vorgehen zuzuschreiben, das nur un­
zureichend durch eine entsprechende ideologische Basis ge­
lenkt war. Seine Leistungen hingegen, unter anderem die
Schöpfung der TVA5, der NYA6 und anderer mehr, haben so­
wohl die Nörgelei der Linken, die sie als Schachzüge eines nach
wie vor unbesiegten Kapitalismus verdächtigt, als auch die An­
griffe der Rechten, die sie als dünn verkappten Kommunismus
anprangert, überlebt. Wichtiger aber als deren spezifische Ver­
dienste und Schwächen ist der immanente Wert eines Sozialex­
perimentes, das innerhalb des gelockerten Gewebes der freien
Wirtschaft den Keim für eine geplante Wirtschaftspolitik ein­
zuführen wußte, ein Experiment also, das derart, ungeachtet
seines Schicksals in der absehbaren Zukunft, ein richtungge­
bender Wegweiser für eine Epoche revolutionären Wachstums
bleiben wird. Denn es ist Evolution und nicht Revolution, die
Hoffnung und Ziel der schöpferischen Demokratie darzustellen
hat.7
(Aus dem Englischen übersetzt von
H. F. Broch de Rothermann.)

1 Broch gehörte seit 1939 einer Gruppe von amerikanischen und emigrierten
europäischen Intellektuellen an, die sich um eine Intensivierung des demokra­
tischen Lebens bemühte und sich für die Propagierung der demokratischen
Staatsform einsetzte. Diesem Kreis gehörten an: Herbert Agar, Frank Ayde-
lotte, Guiseppe Antonio Borgese, Hermann Broch, Van Wyck Brooks, Ada
L. Comstock, William Yandell Elliott, Dorothy Canfield Fisher, Christian
Gauss, Oscar Jäszi, Alvin Johnson, Hans Kohn, Thomas Mann, Lewis Mum-
ford, William Allan Neilson, Reinhold Niebuhr und Gaetano Salvemini. Sie
zeichneten als Autoren des Buches T h e C ity o f M a n . A D eclaration on W orld
D e m o c ra c y (New York: Viking Press, 1940). Das Buch besteht im ersten Teil
aus der »Declaration« (S. 11-73). Sie wurde von allen Autoren gemeinsam er­
arbeitet und am 31. Oktober 1940 endgültig formuliert. Beim zweiten Teil
handelt es sich um den »Proposal« (S. 76-96), der wiederum in vier Abschnitte
unterteilt ist. Der erste behandelt den politischen, der zweite den religiös-welt­
anschaulichen, der dritte den volkswirtschaftlichen und der vierte den juristi­
schen Aspekt einer Welt-Demokratie. Broch übernahm die Ausarbeitung des
dritten »Proposal«, der hier in der deutschen Übersetzung wiedergegeben ist.
Das Buch endet mit einer »Note« (S. 97-113), die die Entstehungsgeschichte
der Studie referiert.

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Der hier abgedruckte »Proposal 3« beginnt mit einem Einleitungsabschnitt,
der die Verbindung zum vorausgehenden Kapitel herstellen soll, in dem es um
religiöse Fragen ging. Dieser Übergangsabschnitt ist wohl vom Redaktions­
komitee der Herausgeber eingefügt worden und stammt offensichtlich nicht
von Broch. Der Vollständigkeit halber sei er hier abgedruckt: »The third issue
points to the need of a profound economic reform outlining in detail the law
of the common wealth, the era of distributive justice. For there cannot be any
birth or rebirth of freedom under God unless it be a God of justice, manifest
in breath and bread, beyond and above the vicious era which saw monopolistic
capitalism and materialistic communism concurrently lift to the dignity of su-
preme virtues the three Capital sins of greed, pride, and envy. Therefore the
Declaration of Independence shall be upheld not only in so far as it States each
man’s inalienable rights to life and liberty and the pursuit of happiness, but in
the final oath as well, which consecrates to a common duty beyond each indivi-
dual’s rights »our lives, our furtunes« and pledges to this duty »our sacred ho-
nor«. (S. 85-86).
2 Thorstein Veblen (1857-1929), amerikanischer Nationalökonom und Sozio­
loge. Vgl. T he T h e o ry o fth e L eisu re Class. A n E c o n o m ic S tu d y in the E v o lu tio n
o f In stitu tio n s (1899). Veblen erwartete, daß die neue Technologie der Indu­
strie neue Sozialverhältnisse schaffe und begründete eine kulturgeschichtliche
Entwicklungstheorie, die besonders durch ihre sozialkritische Analyse der
Oberklasse Verbreitung fand. Veblen war Mitbegründer der »New School«.
3 Henry George (1839-1897), amerikanischer Volkswirtschaftler. Vgl. P rogress
a n d P overty. A n In q u iry into the C ause o f In d u stria l D ep ressio n s a n d o f Increase
o f W ant with Increase o f W ealth. T h e R e m e d y (1879). George sah die Hauptur­
sache der sozialen Not im Privateigentum an Grund und Boden. Er forderte
die Aufhebung des privaten Bodeneigentums oder die Konfiskation der
Grundrente durch eine Steuer.
4 National Industrial Recovery Act vom 16. 6. 1933, Teil des New-Deal-Pro-
gramms.
5 Tennessee Valley Authority vom 18. 5. 1933, Teil des New-Deal-Programms:
Entwicklungsprojekt für das sieben Staaten umfassende Stromgebiet des Ten­
nessee.
6 National Youth Administration vom 26. 6. 1935, Teil des New-Deal-Pro­
gramms, begründet zur Arbeitsbeschaffung.
7 Der hier abgedruckte »Proposal« aus der C ity o f M a n wurde von Broch nach
der gemeinsamen Diskussion mit den übrigen Team-Mitgliedern verfaßt.
Brochs Originalbeitrag, der als Diskussionsgrundlage des »Proposals« benutzt
wurde, und den Broch im Oktober 1940 an Guiseppe Antonio Borgese - dem
Spiritus rector des >City-of-Man<-Unternehmens - schickte, liegt im DLA vor.
Es handelt sich um ein titelloses, zweiseitiges, einzeilig geschriebenes Typo­
skript. Es wird hier vollständig abgedruckt:
»Auf ökonomischem Gebiet neigt Demokratie infolge ihres Freiheitsprinzipes
zum Kapitalismus, infolge ihres Gerechtigkeitsprinzipes zum Sozialismus. Sie
konnte solange klaglos funktionieren, solange zwischen den beiden Prinzipien
Gleichgewicht herrschte, d. h. solange dasselbe nicht von der ökonomischen
Seite her gestört wurde. Die Störung erfolgte, als der Kapitalismus durch die
Umschichtung der Weltproduktion sowie durch die technische Entwicklung
gezwungen wurde, von extensiver auf intensive Wirtschaft überzugehen; Pro­
fitschwund trat ein, die erzeugten Güter konnten nicht mehr zu Selbstkosten,

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geschweige denn mit Profit verkauft werden, der Arbeitgeber sah sich vor den
Ruin, der Arbeitnehmer vor Beschäftigungslosigkeit gestellt, die »Krisen«
häuften sich, sie wurden zum Dauerzustand, und die Demokratie, viel zu kom­
pliziert hiezu und selber zu wirtschaftsabhängig, vermochte ihrer nicht Herr zu
werden. Aus dem Boden dieser allgemeinen und bis zur Panik gesteigerten
Unsicherheit erblühten die Diktaturen.
Kapitalismus und Sozialismus bedingen sich gegenseitig; sie sind miteinander
gewachsen und erstarkt, und sie sind heute miteinander geschwächt, zu Unsi­
cherheit gesunken, ja beinahe hilflos geworden, ökonomisch gesehen, ist es
hiebei nahezu gleichgültig, welcher der beiden Partner jeweils die Oberhand
gewinnt. Denn ob auf der einen Seite die Heilung aller Weltschäden von einer
revolutionären Sozialisierung der Wirtschaft erwartet wird, oder auf der an­
dern verlangt wird, daß dieselbe ungeachtet aller zutage getretenen Mängel in
ihrer jetzigen kapitalistischen Form unangetastet bleiben möge, damit sie - und
wenn es nicht anders geht, so unter Akzeptierung fascistischer Hilfe - zu einer
sozusagen »natürlichen« Selbstheilung gelange, der Endeffekt ist für beide
Richtungen, obwohl für beide zumeist unerwünscht, der nämliche: sie führen
beide zur Diktatur und zu einer Wirtschaftsform, der man zwar den Charakter
der Planung nicht absprechen kann, und die man trotzdem kaum Planwirtschaft
nennen darf.
Die fascistische Ökonomie hält das Profit-Prinzip aufrecht, die kommunisti­
sche schaltet es aus; beiden gemeinsam ist die »geplante Produktion«. Doch
was bedeutet diese? Ist sie tatsächlich »geplanter Wohlstand«? Nein, das Ge­
genteil ist der Fall, sie sind beide ausgesprochene »Notwirtschaften« oder rich­
tiger »Zuteilungs-Wirtschaften«, d. h. solche, deren geplante Güterverteilung
zwar die unbedingtesten Lebenserfordernisse deckt, darüber hinaus jedoch
unter dem Zeichen der »Verarmung« steht, teils einer Verarmung durch Min­
derproduktion wie heute noch in Rußland, teils einer solchen durch »Falsch­
produktion«, wie sie sich überall ergeben muß, wo nicht Wohlstand, sondern
Kriegsmaterial erzeugt wird. Es ist der Schluß erlaubt, daß diese Gesamtver­
elendung geradezu eine unumgängliche Voraussetzung für diese Art von »Pla­
nung« darstellt und daß beim heutigen Stand der ökonomischen Verteilungs­
technik überhaupt keine andere möglich ist.
Die soziale Folge solcher Notwirtschaft muß Sklaverei sein und ist Sklaverei.
Sowohl Fascismus wie Kommunismus, in auffallender Übereinstimmung, stre­
ben zu Arbeitsverhältnissen, welche alle Zeichen einer Massenversklavung
tragen, nämlich Aufhebung der Freizügigkeit, Aufhebung der freien Arbeits­
wahl und schließlich Unterstellung unter das Strafrecht des Arbeitgebers, der
nunmehr (wenn auch im fascistischen System unter Einschaltung von Zwi­
schengliedern) im totalitären Staat verkörpert wird. Entgegen jeder soziali­
stischen Theorie ist ein neues Proletariat im Bilden begriffen, ein Unter-Prole­
tariat von Staatssklaven, die für die Preisgabe ihrer Menschenrechte und
Menschenwürde nichts erhalten als ein gewisses, sehr geringes Minimum an
Existenzsicherheit.
Will die Demokratie weiter bestehen, will sie auch weiterhin des Menschen
Würde und des Menschen Rechte schützen, kurzum will sie auch weiterhin
ethische Politik betreiben, so muß sie auf ökonomischem Gebiet den unheil­
vollen Zirkel Kapitalismus-Kommunismus durchbrechen; sie darf nie und nir­
gends den Weg der Versklavung gehen, und sie muß daher auch ökonomisch
den »dritten Weg« suchen. Freilich, mit ethischen Prinzipien, Überzeugungen

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und Aufrufen allein wäre noch nichts getan, denn politische Eingriffe ins Wirt­
schaftsleben müssen, soferne sie nicht bloße Utopie sein wollen, selber »wirt­
schaftsmöglich« sein, d. h. sie müssen mit den ökonomischen Interessen einer
Gruppe zusammenfallen, welche ihrerseits genügend Macht besitzt, um diese
Prinzipien durchzusetzen. Gewiß, die Eigenkraft der unveräußerlichen und
ewigen Grundprinzipien menschlicher Ethik brechen immer wieder durch,
wenn das Getriebe des Alltags und des Eigennutzes zu unerträglichen Situatio­
nen geführt hat, Gerechtigkeit und Humanität haben sich noch immer als Mo-
ventien des eigentlichen Geschichtsfortschrittes erwiesen, und die Aufhebung
der Sklaverei in den verschiedenen Ländern, nicht zuletzt in Amerika, ist wohl
das schlagendste Beispiel hiefür, doch solch revolutionäres Wirken wäre nie­
mals möglich gewesen, hätte es sich nicht jeweils auf echten und neuen Reali­
tätserkenntnissen gründen können; am Anfang eines jeden ethischen Fort­
schrittes steht eine neue Realitätswahrheit. Und eben deshalb muß die
Demokratie nach einer neuen Realitätserkenntnis innerhalb der Wirtschaft
verlangen, auf daß auch hier wieder der »Anwendungsraum« für ethische Prin­
zipien geschaffen werde.
Der ethische Ausgleich zwischen Pflicht und Freiheit ist die erste und wesent­
lichste Aufgabe einer auf Treu und Glauben begründeten Demokratie, sie ist
auch ihre wirtschaftliche Aufgabe, u.z. als Einschränkung der wirtschaftlichen
Handlungsfreiheit zugunsten der des Ganzen, denn gerecht verteilte Existenz­
sicherheit - dieses stärkste Lockungsmittel der Diktaturen - gehört zu den
ethischen Wirtschaftspflichten, und jede Sicherheit erfordert einen gewissen
Freiheitsverlust als Kaufpreis; doch damit die Sklavereilösung der Diktaturen
samt ihrer Zerschlagung und Verelendung der Wirtschaft vermieden werde,
und mehr noch, damit die jahrhundertelange, jetzt unterbrochene Wirtschafts­
stetigkeit wieder aufgenommen werden könne, ist eine umfassende Krisen­
theorie vonnöten, welche über die bisherigen kapitalistischen und marxisti­
schen Anschauungen hinausführt, um solcherart zur Theorie einer tunlichst
krisenbefreiten Wirtschaft zu werden, welche nicht nur Existenzsicherheit,
sondern sogar Wohlstand für alle zu verbürgen imstande wäre. Die Schwächen
des Kapitalismus zeigen den theoretischen, die Schwächen der kapitalistischen
Gruppen aber den praktischen Ansatzpunkt zur positiven Überwindung des
mangelhaft gewordenen Systems.
Die Aufgabe der Demokratie innerhalb der zu erstrebenden krisenbefreiten
Wirtschaft lautet: Aufstellung und Durchführung einer »Economic Bill of
Rights« für den Menschen.«

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Nationalökonomische Beiträge
zur C i t y o f M a n (1940)1

Ich hoffe, meine staatstheoretischen Ansichten dereinst als


»Staatsphilosophie auf werttheoretischer Grundlage« zusam­
menfassen zu können, halte jedoch sowohl aus subjektiven wie
aus objektiven Gründen noch nicht den Zeitpunkt hiefür ge­
kommen. Inzwischen war es mir Befriedigung, mit diesen An­
sichten an der »City of Man« teilnehmen zu dürfen, also einer
Gruppe, die es sich zum Ziele gesetzt hat, eben die Bedingun­
gen für eine Neufestigung des demokratischen Gedankens zu
erforschen und von allen Aspekten her zu beleuchten. Soweit
es sich hiebei um die außerphilosophisch konkreten Aspekte
handelte, bestand mein erster Beitrag zur Konferenz vornehm­
lich in der Umreißung der ökonomischen Problematik, deren
Behandlung als ein Hauptpunkt des gemeinsamen Arbeitspro­
gramms in Aussicht genommen ist.
Politische Ökonomie verlangt heute in erster Linie nach einer
Auseinandersetzung mit dem Sozialismus; der Sozialismus ist
eine Realität, er ist es als geistige Macht innerhalb des Proleta­
riats, er ist es als das durch Rußland verkörperte weltpolitische
Gewicht, und er ist es schließlich, wenn auch in vager Form, als
die neue Ordnung, die als englisches Kriegsziel von Millionen
erhofft wird. Es darf ferner nicht vergessen werden, daß Demo­
kratie, und zwar gerade in ihren regulativen Grundprinzipien,
die allesamt vom Gerechtigkeitsbegriff getragen sind, starke
sozialistische Elemente enthält, und daß gerade eine »totale
Demokratie« mit ihrer Aufgabe, eben diesen Grundprinzipien
zur Vollgeltung zu verhelfen, in eine durchaus klassenkämpfe­
rische Situation geraten würde: man braucht sich bloß vorzu­
stellen, was in Amerika geschehen würde, wollte man mit der
allen Bürgern gewährleisteten pursuit of happiness2tatsächlich
Ernst machen; man hat durchaus den Eindruck, als ob die »to­
tale Demokratie« bloß mit Hilfe einer Diktatur des Proleta­
riats, also unter Aufhebung der Demokratie durchzusetzen
wäre. Das Problem des Sozialismus wird also der Demokratie
sowohl von außen wie von innen aufgedrängt.
Warum beugt sich die Demokratie nicht diesen starken Tatsa­
chen? Warum akzeptiert sie den Sozialismus nicht mit offenen
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Armen? Ist sie wirklich so sehr kapitalistisch verblendet, daß sie
weder den sehr weitgehenden theoretischen Richtigkeitsgehalt
der Marxschen Volkswirtschaftslehre noch den ihr innewoh­
nenden moralischen Gerechtigkeitsanspruch anzuerkennen
vermag? Nun, diese primitive Identifikation von Demokratie
und Kapitalismus ist einfach falsch; es läßt sich ebenso primitiv
darauf antworten, daß der Kapitalist, wenn es darauf ankommt,
den Fascismus zu Hilfe ruft, der echte Demokrat dies aber nie­
mals tun wird, selbst auf die Gefahr hin, hiedurch ins soziali-
stisch-fascistische Kreuzfeuer zu geraten. Und dieses Kreuz­
feuer ist wörtlich zu nehmen, denn sowohl bei einem
fascistischen wie bei einem radikal sozialistischen Sieg wird das
Exekutionspeloton für die Verteidiger der Demokratie bereit­
stehen.
Nein, der echte Demokrat kämpft nicht für einen bestimmten
Typus der Ökonomie, er kämpft einfach für die Humanitäts­
prinzipien der Demokratie, und er bekämpft mit äußerster In­
tensität die Gefahr der Menschheitsversklavung und eines Ter­
rors, der bereits allenthalben im Kommunismus wie im
Fascismus zur Wirklichkeit geworden ist. Er kämpft wahrhaft
für die bedrohte Freiheit und Würde des Menschen. Denn er
fühlt - zumeist unbewußt, selten bewußt -, daß Freiheit bloß
im offenen System der Demokratie, niemals jedoch in einem
geschlossenen nach der Art des Marxismus oder des Fascismus
dauernd realisiert werden kann.
Für den Sozialisten, insbesondere in seiner kommunistischen
Ausprägung (und ebenso für den Fascisten) ist aber just diese
demokratische Freiheit eben nichts als pure Heuchelei, ein Lu­
xusgut für den Besitzenden, ein nutzloses Dekorationsstück für
den Besitzlosen, da dieser in Wahrheit unter sozialer und
ökonomischer Unfreiheit leidet, ja, nicht einmal daran leidet,
sondern bloß den Hunger seines Magens spürt: der Kohlengrä­
ber wird seine sogenannten bürgerlichen Freiheiten sehr gern
für ein tägliches Butterbrot verkaufen, besonders gern, wenn
ihm zugesichert wird, daß in Hinkunft auch die bisher Bevor­
zugten gleich ihm versklavt werden würden. Denn der Mensch
braucht ökonomische Sicherheit und er braucht Affektbefrie­
digung, aber er braucht keine Freiheit; über Freiheit wird ein­
stens einmal gesprochen werden können, wenn die klassenlose
[Gesellschaft] eingerichtet und jeder Magen gefüllt sein wird.
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Der materialistische Geschichtsdeterminismus mit seinem An­
spruch auf unfehlbare Absolutgeltung erlaubt keinerlei Senti­
mentalitäten; die innere Logik der ökonomischen Abläufe be­
stimmt alles Geschehen, und der Mensch in seiner Passivität, in
seiner Gleichgültigkeit und Kurzsichtigkeit (die ihn zum
stumpfen Herden[tier] werden läßt), beweist stets aufs neue,
daß er lediglich Objekt, niemals Subjekt des historischen Ge­
schehens ist. Das proletarische Denken und damit auch die
proletarische Politik betrachten sich selber als Teil des ökono­
mischen Weltgeschehens, und da sie dieses in seiner ganzen
Brutalität sehen, sind sie gleichfalls ungeschminkt brutal: aus­
schließlich mit nackten Realitätstatsachen wird gerechnet, und
aus dieser Konkretheit, nicht aus Menschenverachtung (wie
z. B. in der Ideologie des Fascismus) resultiert der uneinge­
schränkte Machiavellismus, der den radikalen Sozialismus so­
wohl im politischen wie im geistigen Bereich auszeichnet. Die­
ser harte Machiavellismus wird folgerichtigerweise auch nicht
davor zurückscheuen, heute die Demokratie als antikapitalisti­
schen oder zumindest akapitalistischen Bundesgenossen anzu­
erkennen (wie dies zur Zeit des front populaire der Fall gewe­
sen ist), auf daß gemeinsam die demokratische Freiheit
verteidigt werde, um bereits morgen, ändern sich die Macht­
verhältnisse, den Bundesgenossen als kapitalistisch verseucht
zu denunzieren und die Volksmassen, für die ein noch so ab­
ruptes Umschwenken des Propagandaapparates kaum be­
merkbar ist, zum Kampf gegen die verrottete bürgerliche Frei­
heit aufzufordern. Ein unbedingter Angriffswille steckt in
dieser Realpolitik, wie sie da vom Radikalsozialismus, aber
auch vom Fascismus getrieben wird, ein Angriffswille, der sich
unbarmherzig gegen jegliche Schwäche, gegen jegliche Zwei­
deutigkeit, gegen jegliche Unentschlossenheit richtet - und die
Demokratie besitzt von alldem gerade genug - und von v o rn ­
herein jegliche Verständigung mit dem Gegner, auch wenn es
nur ein vermeintlicher ist, als unkonkretes leeres Gerede ver­
achtungsvoll verschmäht, geschweige denn, daß solche Ver­
ständigung im Rahmen »demokratischer Gesinnung«, die
gleichfalls ein weitgehend leeres Wort ist, gesucht werden
könnte. Die Freiheit verblaßt davor zu einem unkonkreten Ge­
bilde, umrankt von den oratorischen Unternehmungen eines
monologisierenden Liberalismus. Und mag es noch so sehr der
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innersten Überzeugung des echten Demokraten entsprechen,
daß jede Schmälerung der menschlichen Freiheit und der
menschlichen Würde als ein Schritt zum Menschheitsunheil
aufzufassen ist, daß also auch die spärlichen Anteile an der bür­
gerlichen Freiheit, die dem Pennsylvania-Bergmann oder dem
Negro der Südstaaten zugemessen sind, als entwicklungsfähige
Keime erhalten und gepflegt werden müssen, so wird dies unter
dem unbarmherzig konkreten Aspekt zu bloßer Freiheitsmystik
degradiert, zu Luftblasen eines »bourgeoisen Denkens«, das be­
wußt oder unbewußt die Geschäfte des Kapitalismus besorgt.
Wo aber bleibt bei alldem die ökonomische Auseinanderset­
zung? Nicht ein einziges ökonomisches Argument wurde vor­
gebracht, und dies ist kein willkürliches Arrangement, sondern
entspricht einer wirklichen Sachlage: man betrachte irgendeine
Periode der sozialistischen Literatur, etwa die der letzten De­
zennien, und man wird, vielleicht mit einigem Erstaunen, fest­
stellen können, daß beinah die gesamte hier geleistete Arbeit
sich auf die politischen Auswirkungen der Ökonomie bezieht
und daß fast nichts für ihr eigentliches sachliches Gebiet übrig­
bleibt. Und so konkret, ja, brutal konkret sich die politischen
Überlegungen immer wieder erweisen, es erwecken die rein
ökonomischen Auseinandersetzungen, soweit sie sich nicht kri­
tisch mit den kapitalistischen Schäden beschäftigen, immer
wieder den Eindruck einer ausgesprochenen Vagheit, unbe­
schadet der Richtigkeit des Marxschen Ausgangspunktes. Dies
sind Feststellungen, die für den Sozialismus zweifelsohne unter
die Rubrik »bourgeoises Denken« fallen, aber man muß, wenn
es not tut, eben auch manchmal den Mut aufbringen, den Vor­
wurf eines »bourgeoisen Denkens« auf sich zu nehmen.
Betrachtet man nämlich die ökonomische Seite der anfangs
gestellten Frage nach den Gründen, durch welche sich die De­
mokratie abhalten läßt, den Sozialismus - für den sie im Grunde
doch so viel Neigung haben sollte - von vorneherein zu akzep­
tieren, so muß die Frage präzisiert und erweitert werden: Was
eigentlich soll sie akzeptieren? Hier darf die Demokratie die
Forderung nach schärferer Konkretheit erheben, denn das
Wort Sozialismus ist an sich leer, und selbst wenn man sich -
berechtigterweise - darüber einigen wollte, daß damit »profit­
lose Planwirtschaft« gemeint werden soll, so ist auch diese inso-
lange ein leeres Wort, insolange sie nicht durch konkrete, zah­
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lenmäßig gestützte, detaillierte Wirtschaftspläne exemplifiziert
wird. Wo sind diese Pläne? Warum z. B. hat noch keine der
amerikanischen sozialistischen Parteien einen solchen ausgear­
beitet und dem Kongreß vorgelegt? Hätte der kommunistische
Präsidentschaftskandidat auf die Existenz eines solchen Planes
hingewiesen, hätte er gezeigt, wie ein solcher Plan wachsenden
Wohlstand und wachsende Freiheit für jeden Staatsbürger zu­
verlässig gewährleistet, er hätte hiedurch einen Stimmenzu­
wachs erzielt, wie er durch keine noch so begründete Empörung
über die politischen Sünden Wall Streets je zu erzielen war oder
je zu erzielen sein wird. Warum ist dergleichen noch niemals
geschehen, weder in Amerika noch in sonst irgendeinem demo­
kratischen Land? Die Antwort, die der Sozialismus darauf er­
teilt, ist verhältnismäßig einfach, sogar übereinfach: zwecklos
wäre es, mit einem solchen Plan an die kapitalistische Demo­
kratie heranzutreten, es gibt mit dem kapitalistischen Denken
keinerlei Verständigung, am allerwenigsten im Sinne einer
durchgreifenden Reform des Wirtschaftssystems, und müßig
wäre jede Bemühung in dieser Richtung; über den Gesamt­
wirtschaftsplan kann erst nach Zerschlagung der Bourgeoisie
und nach Übernahme der von ihr gehaltenen Machtpositionen
gesprochen werden. Man möge sich hiezu erinnern, daß über
die Wiedereinführung der Freiheit auch erst in einem sehr spä­
ten Zeitpunkt, nämlich erst nach Errichtung der klassenlosen
Gesellschaft, wird gesprochen werden können. Ein seltsames
Irgendwie und Irgendwann steigt da aus der sonst so realitäts­
nahen, konkretheitsbesessenen Haltung des Sozialismus auf,
ein mystischer Glaube an die Schöpferkraft der »Revolution«,
nach deren Durchführung sich alle Probleme gewissermaßen
automatisch lösen werden, und am seltsamsten ist es, daß es
hiebei gar nicht um ökonomische, sondern um psychologische
Hypothesen geht: sowohl die Annahme über das prärevolutio­
näre Verhalten der Bourgeoisie wie die über das postrevolutio­
näre des Proletariats sind psychologisch begründet, sind Psy­
chologie des wirtschaftenden und politischen Menschen, aber
nicht mehr. Wo immer er nur kann, entwischt der Sozialismus
dem rein ökonomischen Gebiet und den (man darf wohl sagen)
ihm hier drohenden konkret-sachlichen Auseinandersetzun­
gen.
Es ist ein so überaus auffallender Sachverhalt, daß man sich
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eine weitere Frage vorlegen muß: ist die Aufstellung solch eines
umfassenden Wirtschaftsplanes überhaupt möglich? Und man
darf die Frage mit gutem Gewissen schlankwegs verneinen: es
erscheint ausgeschlossen, die Produktionskapazität einer hoch-
entwickelten Wirtschaft, wie es etwa die amerikanische ist,
wirklich in ihren Details (die sich ja unausgesetzt gegeneinan­
der verschieben lassen) einwandfrei festzustellen, und noch
weit ausgeschlossener erscheint es, hiezu einen Bedarfsplan der
Gesamtbevölkerung theoretisch aufzustellen und nun die Pro­
duktionskapazität nach diesem Bedarf einzurichten und aufzu­
teilen; selbst wenn Hunderte von Wirtschaftsexperten jahre­
lang mit der Sisyphusarbeit beschäftigt wären, sie kämen zu
keinem Ende, und der Sozialismus hat daher ganz recht, daß er
sich an diese Grundaufgabe seines Seins (in Erkenntnis ihrer
Unlösbarkeit) überhaupt nicht herangewagt hat. Trotzdem
kann und soll Planwirtschaft betrieben werden, trotzdem wird
sie - in Rußland, in Deutschland - einigermaßen erfolgreich
betrieben, und aus beidem ergibt sich die Aufforderung, die
Grenzen zu suchen, innerhalb welcher Planwirtschaft möglich
ist: nun, sie ist innerhalb von Rumpfwirtschaften möglich, d.h.
in solchen, bei denen die Hauptkapazität - wie in Rußland -
überhaupt fehlt oder aber künstlich, etwa als Kriegsproduktion
- wie in Deutschland -, dem Wirtschaftskonsumenten unzu­
gänglich wird; eine Rumpfproduktion, welche die notwendig­
sten Lebenserfordernisse der Massen gerade noch mit Müh und
Not deckt, muß planwirtschaftlich betrieben werden, weil die
Revoltegefahr sonst unmittelbar vor der Türe steht, und sie
kann planwirtschaftlich betrieben werden, weil der dringendste
Lebensbedarf, den sie zu decken hat, sich auf »einfache« Güter
bezieht und sich daher leicht überschauen läßt. Nun würde es
natürlich prinzipiell denkbar sein, die Planwirtschaft auf diesen
ihr zugänglichen Kern zu beschränken und den Überschuß in
alter Form frei weiter zu bewirtschaften, aber nicht nur daß
Versuche in dieser Richtung bisher technische Schwierigkeiten
ergeben haben (die sich freilich mit der Zeit wahrscheinlich be­
heben ließen), es will der radikale Sozialismus von solchen
Mischformen, in denen notgedrungen eine Kapitalistenklasse
bestehen bleibt, nichts wissen, und so drängt er - sicherlich oft­
mals unbewußt —zur Herstellung von Rumpfwirtschaften, sei
es durch Unterstützung kriegsgerichteter Handlungen, sei es
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durch Entfachung revolutionärer Zerstörungen, auf daß in dem
verbleibenden Wirtschaftsrest nunmehr einheitlich das neue
System etabliert werden könne. Die große Hoffnung hiebei ist,
daß dann aus dem hiedurch geschaffenen Primitivkern sich
wieder eine Volkswirtschaft entwickeln werde, genau wie sich
das kapitalistische System »natürlich« zu einem halbwegs be­
friedigenden Gleichgewicht zwischen Produktion und Ver­
brauch sukzessive entwickelt hat, nur daß es diesmal die Ent­
wicklung eines Gesamtplanes werden soll, der zwar von
vorneherein theoretisch nicht aufstellbar ist, der aber im natür­
lichen Wachstum sicherlich allen Wirtschaftsmitgliedern, ja, al­
len Menschen des Erdkreises die ihnen zukommende ökono­
mische Sicherheit verschaffen wird. Es ist - sieht man von all
dem Leid und all den Zerstörungen ab, die notwendig vorher­
gehen sollen - eine große und bestechende Hoffnung, indes,
auch sie ist weniger auf ökonomischen als auf psychologischen
Grundlagen aufgebaut, denn sic setzt voraus, daß nach Schal­
tung des planwirtschaftlichen Kernes nun desgleichen die Seele
sich sozialistisch stabilisieren werde und daß keinerlei Verlok-
kung des wiederkehrenden Reichtums, keinerlei Genuß- und
Luxusmöglichkeit den sozialistisch disziplinierten Menschen
der Zukunft vielleicht doch noch einmal bewegen könnte, die
angeblich letztmögliche Wirtschaftsform und deren Klassenlo-
sigkeit wiederum aufzugeben; eine definitive Seelenstabilität
wird da für diese künftigen Wesen imaginiert, eine Stabilität,
welche es verbieten soll, je wieder zu den alten Wirtschafts- und
Sozialformen zurückzukehren oder zu anderen, vielleicht bes­
seren, vielleicht schlechteren fortzuschreiten, obwohl es in der
Zukunft bekanntlich stets Dinge gibt, von denen der jeweils
Lebende sich keinen Begriff zu machen vermag.

Eine etwas paradoxe Vermutung steigt aus alldem auf, nämlich,


daß der Sozialismus (wie eben wahrscheinlich jede politische
Theorie) letztlich überhaupt keine ökonomische, sondern eine
psychologische Theorie darstelle: alle seine Aussagen beziehen
sich auf seelische Verhaltensweisen des Menschen, und das ein­
zige ökonomische Element darin besteht in der Einschränkung
auf den wirtschaftenden Menschen, der ausbeutend oder aus­
gebeutet unter bestimmte, zumeist hypothetische Verhältnisse
gestellt gedacht wird. Vieles spricht für die Richtigkeit dieser
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- allerdings frevelhaft bourgeoisen - Vermutung, vor allem
wohl, daß es durch sie verständlich werden würde, warum bei
aller Dogmentreue und all der prophetischen Sicherheit, von
der die proletarische Realpolitik getragen wird, es in dieser so
viele Irgendwann und Irgendwie gibt, deren Realitätsgeltung
kaum viel größer ist als die der liberalistisch-oratorisch ange­
priesenen bürgerlichen Freiheit, denn diese hat wenigstens den
moralischen Vorteil - und es ist dies die moralische Realität der
Demokratie -, bis zu einem gewissen Grade, wenn auch noch
immer spärlich genug, verwirklicht worden zu sein. Man darf
mit Fug behaupten, daß die Konkretheitsbasis dieser Art Real­
politik überaus schmal ist, daß sie eigentlich über das hic et nunc
nicht hinausreicht, und würde auch eine kommende Weltver­
elendung zeigen, daß diese schmale Basis der sozialistischen
Theorie ausreichend gewesen ist, würde sie also deren Prophe­
zeiungen auch Erfüllung bringen, es ist dies bisher noch nicht
geschehen, und so hat die Demokratie unabweislich die Pflicht,
erst recht auf ihre eigene Konkretheit, die ihre Angreifer ihr so
gerne absprechen möchten, zu pochen und ihr eigenes konkre­
tes Denken zur Überprüfung eben jener Konkretheitsbasen zu
verwenden; hier handelt es sich um die Überprüfung der
ökonomischen Basis, d. h. um ihre Befreiung von der politi­
schen und psychologischen Verbrämung, mit der sie eben be­
sonders im Sozialismus überdeckt worden ist.

Völlig nüchtern und real betrachtet ist die Marxsche Theorie


auf ein einziges Ziel gerichtet: die Menschheit vom Fluche der
Wirtschaftskrisen zu befreien, mit dem sie durch die kapitalisti­
schen Mängel beladen ist, und da der Kapitalismus offenbar
nicht imstande ist, diesem Übel zu steuern, so muß an seine
Stelle ein neues System, eben das der sozialisierten Planwirt­
schaft gesetzt werden, ein System der ökonomischen Gerech­
tigkeit, in dem keine Profitgier mehr den Einklang von Produk­
tion und Bedarf stört, so daß steigender Wohlstand für alle
verbürgt wird. Und wenn auch manche der Marxschen Annah­
men sich im Verlaufe der Entwicklung als unrichtig erwiesen
haben (so die der steigenden Profitrate innerhalb der Kapitals­
konzentration), unbestritten muß der Weitblick bleiben, mit
dem die Krisenentwicklung des industrialisierten und ständig
sich weiter industrialisierenden Kapitalismus vorausgesehen
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worden ist: die Krisen haben sich im Verlaufe des 19. Jahrhun­
derts immer mehr gehäuft, sie sind immer schärfer geworden,
sie haben den ersten Weltkrieg mit verursacht (ohne daß dieser
ihnen eine Lösung gebracht hätte) und haben in der Nach­
kriegsperiode jene übermächtige Stärke erreicht, deren Folge
die apokalyptische Weltsituation ist. Daß der Marxismus als
Politikum selber zu den Moventien dieser Weltsituation gehört,
hat mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Krisentheorie
nichts zu tun.
Die Krisenbehaftung des Kapitalismus, wie sie von Marx kon­
statiert worden ist, kann heute nicht mehr angezweifelt werden.
Und deshalb kann die Demokratie, will sie als solche weiterbe­
stehen, es sich nicht gestatten, sich mit Kapitalismus zu identifi­
zieren oder sich mit ihm identifizieren zu lassen. Andererseits
ist sie nicht in der Lage, die Revolutionslösung des Sozialismus
zu akzeptieren, erstens weil sie ein offenes und daher evolutio-
nistisches System zu sein wünscht, und zweitens weil sie die Re­
duzierung auf eine Rumpfwirtschaft, aus der sich erst in weite­
rer Zukunft (oder wenn das Unglück es will, gar nicht) eine
neue, allerdings sozialisierte Vollwirklichkeit entwickeln soll,
nicht gutheißen kann. Die Demokratie ist daher angewiesen,
ihre eigenen Wege zur Krisenbekämpfung zu finden, und sie
wird umsomehr hiezu verhalten sein, je mehr sie durch die
Weltverhältnisse zur Verwandlung in eine »totale Demokratie«
gezwungen werden wird: ohne weitgehende Krisenausschal­
tung gibt es keine pursuit of happiness für jedermann.
Die Krisentheorien des liberal-bürgerlichen Zeitalters, die an
Richtigkeitsgehalt sicherlich mit der Marxschen Anschauung
wetteifern können, geben im allgemeinen keine Anweisung zur
Krisenbekämpfung; gleich dem Sozialismus betrachten sie die
Krisen als naturgegeben notwendige Krankheit des Kapitalis­
mus, gegen die eigentlich auch mit keiner Medizin - es sei denn,
daß kleine Erleichterungsmittel, wie etwa eine feiner abge­
stimmte Zinsfußgebarung der Notenbanken, als Medizin anzu­
sprechen wären - ernstlich anzukämpfen ist, doch im Gegensatz
zum Sozialismus diagnostizieren sie die Krankheiten nicht als
tödlich, sondern erwarten, daß der unentwegt gesunde Orga­
nismus der Wirtschaft stets aufs neue über sie hinwegkommen
werde. Erst die Wirtschaftskatastrophen der letzten Jahrzehnte
haben die Legende von dieser unerschütterlich ewigen Lebens­
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kraft einigermaßen ins Schwanken gebracht - obschon die ma­
gische Beschwörung »let business alone« wahrscheinlich auch
noch an der Leichenbahre des gesamten Weltbusiness ertönen
dürfte und erst unter Katastrophendruck begann die Theorie
sich mit praktischen Lösungsmöglichkeiten für künftige Kri­
senverhütung zu befassen: ihre Autoren waren und sind zu­
meist sozialistische Wissenschaftler3, die sich angesichts der
Brüchigkeit des Marxschen Revolutionsdogmas mehr oder
minder entschieden von diesem abgewandt und sich einem so­
zialistischen Evolutionismus zugewandt haben, um solcherart
eine sukzessive Überführung des Kapitalismus in die Planwirt­
schaft zu bewirken. Zweifelsohne wird durch diese Hintanstel­
lung des Revolutionsgedankens und des ihm innewohnenden
psychologischen (revolutionierenden) Elementes auch eine Art
ökonomischer Purifizierung der sozialistischen Theorie [her­
beigeführt], allerdings auf Kosten ihrer praktisch-politischen
Wirkungsmöglichkeiten; es mag eine Theorie noch so richtig
sein, sie bleibt - und die alten liberalistischen Krisentheorien
sind das beste Beispiel hiefür - politisch wirkungslos, wenn die
psychische Zündkraft fehlt, d. h. wenn nicht eine Kraft vorhan­
den ist, welche (wie eben etwa die Revolutionsidee) wesensmä­
ßig die Fähigkeit besitzt, die menschlichen Hoffnungen, und
zwar ebensowohl die berechtigten wie die unberechtigten,
ebensowohl die erfüllbaren wie die unerfüllbaren, zu erwecken
und unaufhörlich weiter zu nähren, um kraft solcher Fähigkeit
selber zur »Interessenvertretung« für politisch entsprechend
starke Sozialgruppen zu werden. Nur in Ausnahmefällen ist ei­
ner rein ökonomischen Theorie solch zündende Wirkung be-
schieden; dies war z. B. 1932 der Fall, als der Höhepunkt der
Wirtschaftskrise den »New Deal« zum einzigen Retter in der
Not machte und sogar weite Kreise der Businesswelt zur Unter­
stützung der neuen Maßnahmen veranlaßte.
Allerdings, wenn man an die absolute Geltung der ökonomi­
schen Bedingtheit für alles Geschehen glaubt und dies auch auf
das psychische Geschehen ausdehnt, so muß man sich fragen,
ob die außerordentliche psychische Zündkraft des Kommunis­
mus und Fascismus, die so stark ist, daß sie sogar den Wunsch
nach Selbstversklavung zu erwecken vermag, nicht gleichfalls
auf ökonomischen Tatsachen beruht: ist die auffallende Über­
einstimmung der kommunistischen und der fascistischen Ar­
100

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beitsverhältnisse nicht auf eine allgemein zu geringe Tragfähig­
keit der Wirtschaft zurückzuführen, so daß nur durch eine
allgemeine Wirtschaftsversklavung der Massen wieder das
Gleichgewicht herzustellen ist? In diesem Falle würde es sich
nicht nur um eine politische, sondern um eine ökonomisch be­
gründete Versklavung handeln, doch diese - fürchterliche -
Annahme kann bloß widerlegt werden, wenn eine Lösung auf­
findbar ist, welche zeigt, daß es ökonomisch auch ohne Ver­
sklavung abgeht.

Sohin:
erstens, ist es möglich, daß die wissenschaftliche Durchfor­
schung des Krisenphänomens und seiner Historie nunmehr ei­
nen neuen (von der kommunistischen oder fascistischen [Lö­
sung] abweichenden) Weg zur Krisenbefreiung zeige?
zweitens, dies vorausgesetzt, ist es möglich, innerhalb der De­
mokratie politisch genügend starke Sozialgruppen zur Durch­
führung zu gewinnen?
Das Schicksal der Demokratie ist weitgehend an diese beiden
Fragen gebunden; es geht um deren Bejahbarkeit.
Die erste Frage, also die der Krisenerforschung, ist unter allen
Umständen (unabhängig von jeder »demokratischen Ver­
wendbarkeit«) aus rein intern wissenschaftlichen Gründen
heute mehr denn je eine Hauptaufgabe der ökonomischen Er­
kenntnis. Denn das Forschungsmaterial ist in den letzten De­
zennien ungeheuer angewachsen, und fast ließe sich sagen, daß
es-soweit man in einem historischen Bereich von Abgeschlos­
senheit sprechen darf - heute abgeschlossen vorliegt. Unter der
Fülle der Phänomene, die der rückschauende Blick heute in der
Geschichte des hochindustrialisierten Kapitalismus zu unter­
scheiden vermag, ist es insbesondere ein Doppelphänomen,
dessen krisenerzeugende Momente zunehmend schärfer zutage
treten: der extensiv betriebene Kapitalismus war im Laufe des
19. Jahrhunderts genötigt gewesen, sich immer mehr und ein­
deutiger der Marktbewirtschaftung zuzuwenden, und diese
Nötigung war in erster Linie von der stürmischen Entwicklung
der Technik verursacht worden; nicht nur daß die Technik, ab­
gesehen von der neuen Güterfülle, die sie hervorgebracht hat,
eine völlige Umstellung der Erzeugungsmethoden bedeutete,
sie hat auch eine völlige Umlagerung der Produktions- und
101

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Konsumtionsmärkte vorgenommen, und dieser Prozeß geht
unaufhaltsam weiter, mehr noch, muß unaufhörlich weiterge­
hen, da ja eben die hiedurch verursachte intensive Marktbe­
wirtschaftung nun ihrerseits rückwirkend die Technik zu neuen
Leistungen anspornen muß. Von den Nebenwirkungen dieses
Prozesses, wie Exportstockungen oder schubweise Überpro­
duktionen, die früher als Hauptgründe der Wirtschaftskrisen
gegolten hatten, soll hier ganz geschwiegen werden, denn weit­
aus wichtiger will es erscheinen, daß jenes Doppelphänomen
der intensiven Marktbewirtschaftung und der hypertrophierten
Technik von allem Anfang an den Keim des Rentabilitätsverlu­
stes in sich getragen hat: es sei bloß auf die Abkürzung der
Amortisationszeiten hingewiesen, die sich aus dem Zwange zur
Einführung stets neuer Rationalisierungsmethoden in den In­
dustrieanlagen ergeben, und dies bezieht sich nicht nur auf die
Industrie als solche, sondern auch auf das ganze Gebiet der
»Produktionsverwaltung«, zu der u. a. auch die gesamten mo­
dernen Stadtanlagen mit ihrer unübersehbaren Vielfalt ökono­
misch-technischer Einrichtungen gehören. Hier überall ist das
Rentabilitätsprinzip - das zentrale Prinzip des Kapitalismus -
ins Schwanken geraten, hat die Anlagen mehr oder minder
»wertlos« gemacht (zumindest börsenmäßig), veranlaßt das
mobile Kapital, sich aus der Produktion zurückzuziehen und
zur unverzinsten Hortung zu werden, kurzum zeitigt all die
schweren Unsicherheitssymptome, die das Wesen der Krisen
ausmachen; die Produktion, die einesteils dem Konsum mit
stets billigeren Gütern dienen muß, andernteils vom Konsum
den eigenen Lebensunterhalt zu beziehen hat, ist mit der Krise
in die Phase der »Profiterzwingung« getreten (und dies macht
sie nebenbei zum Mitverursacher des Fascismus).
Es könnte den Anschein haben, als ob mit zunehmender Fa-
denscheinigkeit des Rentabilitätsprinzips es für das herr­
schende Wirtschaftssystem kein anderes Schicksal als das von
Marx vorausgesagte mehr gäbe: die letzten noch lebendigen
Teile dieses unheilvollen, unheilstiftenden Systems müssen
nunmehr vernichtet und durch das sozialistisch-planwirtschaft­
liche ersetzt werden. Dies ist freilich wiederum politisch und
nicht rein ökonomisch gedacht; denn wollte man rein ökono­
misch denken, so muß man sich sagen, daß das planwirtschaftli­
che Moment - über dessen Durchführbarkeit bereits an anderer
102

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Stelle hier gesprochen wurde - ganz zu Unrecht in die Diskus­
sion getragen wird: es gibt nämlich in der Wirtschaft keine
»heiligen Prinzipien« (bloß in der Ethik gibt es solche), auch im
sogenannten Kapitalismus gibt es sie nicht, am allerwenigsten
kann das Prinzip der Amortisation und Verzinsung als heilig
gelten, und wenn sich die Wirtschaft nicht nach ihnen richten
kann, so muß sie sich eben nach anderen richten; der Verzin­
sungsverlust des Finanzkapitals, heute als Krankheit der Wirt­
schaft gewertet, kann auch als Vorbote einer neuen Wirt­
schaftsphase begrüßt werden, in der es, wie einstmals im
Mittelalter, überhaupt keine Finanzverzinslichkeit mehr geben
wird. Manche Theoretiker verlangen bereits heute nach ent­
sprechenden Maßnahmen, und würden oder werden diese ein­
mal durchgeführt werden, so wird dies eine so völlige Umwand­
lung des Geldcharakters sowohl in funktionaler wie in
psychischer Beziehung bedeuten, daß der Verzinsungsanspruch
des Geldes bald zu den unverständlichsten Begriffen der Ver­
gangenheit gehören dürfte; hiezu gesellt sich als zweiter finan­
zieller Veränderungsprozeß, ebenfalls in seinen Ansätzen be­
reits erkennbar, der Schwund des psychisch so wichtigen
Sicherheitskoeffizienten im Geldbesitz, ein Schwund, der nicht
zuletzt durch das Aufkommen neuer Sicherheitsfaktoren be­
dingt [ist]: auf der einen Seite sind die Gemeinschaftseinrich­
tungen, die dem öffentlichen Wohle und der Obsorge für das
Individuum gewidmet sind, zu einem früher ungeahnten Um­
fang angewachsen und dehnen sich unausgesetzt weiter aus,
und auf der andern Seite ist das Versicherungswesen zu einer
Institution geworden, die immer weitere Teile des sozialen Le­
bens, ja, sogar der sozialen Verwaltung erfaßt. Hält man all
diese Momente zusammen, so zeichnet sich hinter ihnen ein
Zukunftsbild ab, sicherlich nur ein hypothetisches Bild mit un­
deutlichen Konturen, dennoch erahnbar als das einer »entkapi-
talisierten Privatwirtschaft«: es wäre dies eine Wirtschaftsform,
welche in ihrem Hauptvolumen nach wie vor auf freier Privat­
initiative beruht und daher hiefür auch das Profitprinzip auf­
rechterhält; daß daneben wesentliche Wirtschaftsteile profitlos
von öffentlichen Körperschaften oder vom Staate bearbeitet
werden, kann nicht als Charakteristikum einer Entkapitalisie-
rung gelten, da ja das nämliche inmitten des Kapitalismus ge­
schieht; hingegen ist der Bruch mit dem Verzinsungsprinzip zu
103

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diesen Charakteristiken zu zählen, denn die damit verbundene
Einschränkung der Hortungs- und Verwendungsmöglichkeiten
der erzielten Profite rollt das ganze Problem der amortisierba­
ren Investitionen und Erneuerungen auf, und für viele, die ge­
wohnt sind, daß die Kreditwürdigkeit einer Investition nur von
einer Bank und ja von keiner andern Stelle geprüft werden darf,
wird das Gespenst der staatlichen Wirtschaftsregulierung und
der aufgehobenen Wirtschaftsfreiheit daraus aufsteigen. Doch
wie immer die Entwicklung vor sich gehen und welche Formen
sie auch immer annehmen wird, ihr Ziel bleibt das der zuneh­
menden Krisenbefreiung, und dies kann nicht durch bloß fiska­
lische Maßnahmen geschehen, etwa durch geeignete Profit-
und Zinsversteuerungen, sondern erfordert eine konstruktive
Lösung, und diese kann bloß gefunden werden, wenn die im
jetzigen Wirtschaftszustand bereits enthaltenen Keime zur Kri­
senbefreiung systematisch zur Vollentfaltung gebracht werden.
Der »New Deal« z. B. weist in ähnliche Richtung, und was ihm
notwendigerweise zugestoßen, das wird notwendig desgleichen
allem zustoßen, was in dieser Richtung liegt: es wird von rechts
als Kommunismus, von links als Kapitalismus denunziert wer­
den; und man darf wohl den Schluß daraus ziehen, daß es sich
hiebei um Bemühungen handelt, die sich vom kapitalistischen
wie vom kommunistischen Bereich gleich weit entfernt halten,
d.h. einen rein ökonomischen und damit wahrhaft demokrati­
schen Weg zur Krisenbefreiung ohne vorhergehende Wirt­
schaftszerstörung und ohne Menschenversklavung zu finden.
Ob man das vieltausendjährige privatwirtschaftliche System
mit all den vielfachen Formen und Moralen, durch die es hin­
durchgegangen ist, einheitlich Kapitalismus nennen darf und
soll, ist eigentlich gleichgültig angesichts so viel Wandlungs­
und Anpassungsfähigkeit, die sich bisher jedenfalls besser, fast
möchte man sagen »natürlicher« bewährt hat als alle planwirt­
schaftlichen Experimente und daher eigentlich recht viel Aus­
sichten hat, sich auch in der Zukunft weiter bewähren zu kön­
nen, Schritt um Schritt sich weiterverwandelnd, vielleicht jetzt
einer entkapitalisierten Privatwirtschaft zustrebend, sicherlich
aber auch diese einmal hinter sich zurücklassend: darauf aber
kommt es an; denn wenn auch die Wirtschaft kein eigentliches
Wertsystem darstellt, es ist die Wirtschaftserkenntnis, von der
sie begleitet und gestützt wird, ein Teil des großen offenen
104

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Wertsystems und für dieses gibt es bloß ewigwährenden Fort­
schritt, aber keinen Endzustand. Nur geschlossene Systeme
maßen sich - wahnhaft - an, einen endgültigen Erfüllungszu­
stand auf Erden schaffen zu können.
Demokratie ist kraft ihrer ethischen und erkenntnismäßigen
Werte ein vollgültig offenes Wertsystem im politischen Bereich,
und darauf ist es wohl zurückzuführen, daß echt demokratische
Tradition, wo immer sie besteht, sich gegen geschlossene poli­
tische Systeme, wie sie vom Kommunismus und Fascismus re­
präsentiert werden, hartnäckig zur Wehr setzt. Die Idee einer
entkapitalisierten Privatwirtschaft ist heute bloß eine hypothe­
tische Annahme, doch sicher ist, daß Demokratie sich bloß mit
einem Wirtschaftssystem befreunden kann, das ohne diktatori­
sche Voraussetzungen, also ohne Rechts- oder Linksdiktatur zu
bestehen vermag. Indes, damit befinden wir uns bereits inmit­
ten des Geltungskreises unserer zweiten Hauptfrage, nämlich
der nach der politischen Wirkungsmöglichkeit einer rein
ökonomischen Bewegung, der es mangels eigener politischer
Machtziele auch eigener psychisch-politischer Zündkraft er­
mangelt. M. a. W., es genügt nicht, daß eine ökonomische Be­
wegung den demokratischen Traditionen entspricht, es genügt
nicht, daß sie sich gegen Fascismus und Kommunismus kehrt
und sich gegen deren drohende Wirtschaftseingriffe behaupten
will, es genügt nicht, weil nur sehr wenige Demokraten auch nur
einen Finger für sie rühren würden, wenn ihr eigenes ökonomi­
sches Interesse nicht Förderung von ihr erhoffen könnte, und
sie wird daher bloß dann politisch sich selbst verwirklichen
können, wenn sie - dieses Gesetz der materialistischen Ge­
schichtsauffassung bleibt auch für sie aufrecht - mit einem
Großteil der ökonomischen Interessen des Landes, womöglich
mit deren Hauptvolumen so deutlich zu identifizieren ist, daß
die hinter diesen Interessen stehenden Sozialgruppen vollzählig
zu ihrer politischen Unterstützung aufzurufen sind. Wo also
sind die Interessen, welche diese spezifisch demokratische
Wirtschaftsbewegung wahren will? Welche Sozialgruppen will
sie zur Unterstützung auf rufen? Gegen welche glaubt sie sich
wenden zu müssen? Und hier muß nun doch der Versuch unter­
nommen werden, zwischen Kapitalismus (mit dem Demokratie
fälschlich auf Gedeih und Verderb identifziert wird) und Pri-
vatwirtschaftstum (an das Demokratie, wenigstens bisher, tat­
105

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sächlich gebunden zu sein scheint) zu unterscheiden: gefühls­
mäßig macht wohl ein jeder diese Unterscheidung, und man
könnte wohl behaupten, daß z. B. die überwiegende Masse der
schaffenden Menschen Amerikas recht wenig an dem herr­
schenden Wirtschaftssystem, in dem sie ihre Geschäfte betrei­
ben, auszusetzen haben, es sei denn daß sie die sogenannten
»Auswüchse« des big business gern beseitigt sehen möchten,
sicherlich ohne sich dabei klarzuwerden, daß sie mit ihrer Zu­
stimmung eben die Privatwirtschaft, mit ihrer Ablehnung je­
doch den Kapitalismus meinen. Allein nicht nur der »kleine
Mann«, der sich der »guten alten Zeiten« erinnert und deren
Rückkunft unter Abschaffung des lästigen big business erhofft,
wird von der unbehaglich schwelenden Zwiespältigkeit der
Wirtschaft betroffen, nein, es liegt hier ein Wiederstreit vor, der
durch das gesamte System geht und auch noch dort, wo es sozu­
sagen am kapitalistischsten ist, zum Ausdruck kommt: es kann
kein Zweifel darüber herrschen, daß innerhalb der kapitalisti­
schen Gesellschaft, und zwar eben sogar in der Klasse der soge­
nannten Ausbeuter, grundlegende Gegensätze in der Art der
Weltanschauung, in der Art der Geschäftsführung, in der Art
der Stellungnahme zum Kapitalismus nachzuweisen sind; es ist
dies jener Gegensatz, welcher beispielsweise in den Differen­
zen zwischen Mittel- und Schwerindustrie, zwischen Kleinfar­
mer und industrialisiertem Großagrarbetrieb, zwischen dem
selbständigen Unternehmer und dem eigentlichen Finanzkapi­
tal besteht, und es kann demnach auch kein Zweifel darüber
herrschen, daß im Zuge einer wirklich geordneten Krisenbe­
kämpfung sich Neugruppierungen innerhalb der kapitalisti­
schen Klasse vollziehen müssen. Solange die Krisen vorüberge­
hende Erscheinungen gewesen sind, war es möglich (wie dies
noch bei Marx geschehen ist), die Kapitalistenklasse als ein­
heitliches Ganzes aufzufassen; die große Krise im Jahre 1932
hat hingegen mit aller Deutlichkeit die Ansätze zu einer begin­
nenden Spaltung gezeigt, und zwar läßt sich mit einer gewissen
Simplifikation sagen, daß sich hiebei zwei Hauptgruppen un­
terscheiden lassen, nämlich einerseits jene, welche an der Auf­
rechterhaltung der alten kapitalistischen Form unter der Füh­
rung des Finanzkapitals interessiert sind, während auf der
andern Seite sich klar jene Gruppen abscheiden, denen ledig­
lich die Aufrechterhaltung der privatwirtschaftlichen Arbeit,
106

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jedoch gerade unter Ausschaltung der Domination durch das
Finanzkapital, am Herzen liegt. Wäre der »New Deal« (von
seinen Initialmängeln abgesehen) seit 1932 nicht unaufhörlich
durch außenpolitische Katastrophen in seiner Ausgestaltung
gestört worden, es hätte sich wahrscheinlich im Zuge seiner
Krisenbekämpfung immer deutlicher gezeigt, daß das Produk­
tionskapital zunehmend »antikapitalistisch« geworden wäre,
um seine privatwirtschaftliche Selbständigkeit dauernd zu be­
wahren; die Ereignisse haben diese Neugruppierung verhin­
dert, aber sie haben damit auch in der Art der Krisenbekämp­
fung eingegriffen, denn die Einheit von Produktions- und
Finanzkapital ist gegen ihre innere Krisenentwicklung machtlos
und wird daher zwangsläufig zu den Gewaltlösungen des Fa-
scismus getrieben, obwohl deren Trügerischkeit sowohl in poli­
tischer wie in ökonomischer Beziehung - das nationalsoziali­
stische System beispielsweise enthält Elemente, die man
ohneweiters in eine »entkapitalisierte Privatwirtschaft« ein­
gliedern könnte - bereits mehr als wohlbekannt geworden sind.
Doch Trug und Wahrheit sind in einer kriegsverdunkelten
Welt, in der nur noch die Scheinblüten der Kriegswirtschaft
leuchten, wohl nicht mehr auseinanderzuhalten; blasser denn je
ist heute die Hoffnung auf eine demokratische Lösung des
Wirtschaftsproblems, stärker denn je sind die Verwirkli­
chungsmöglichkeiten für eine Rechts- oder Linksdiktatur, für
eine zumindest jahrzehntelange Versklavung des menschlichen
Geistes und der menschlichen Arbeit inmitten einer allgemei­
nen Weltverelendung, und bliebe uns unter solchem Aspekte
noch etwas zu wünschen übrig, so wäre es nur, daß es nicht die
fascistische, sondern die sozialistische Form werden würde,
denn diese ist, allem machiavellistischen Überbau zum Trotz,
der Funke der allgemein humanen Gerechtigkeit eingesenkt,
und der ist unverlöschlich.
Nichtsdestoweniger: heute besteht noch die Demokratie, und
die freie Forschung besteht unter ihrem Schutze, sie beide of­
fene Systeme, sich gegenseitig bedingend und beide auf die ob­
jektive Wahrheit ausgerichtet; nichts darf sie also hindern, bis
zum letzten Atemzug weiter ihrem Ziel zuzustreben, denn die
Wahrheitserkenntnis hat um ihrer selbst zu erfolgen, auch wenn
es in der äußeren Welt keinerlei Lebensmöglichkeit mehr für
ein offenes System und keinerlei Realisierbarkeit für die Wahr­
107

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heit mehr gäbe, weil im gegebenen Augenblick die Wahrheit
durch ein geschlossenes System »reguliert« worden ist: für die
Erkenntnispflicht kann dies keine Rolle spielen und tut es um­
soweniger, als jedes geschlossene System über kurz oder lang
den Punkt seiner logischen Sättigung erreicht und mit diesem
Augenblick auseinanderfällt, oder richtiger, vom eigenen
Wahn zersprengt wird.
Die Demokratie besteht heute noch. Und die Hoffnung auf
einen Zusammenbruch der Totalitärstaaten, die Hoffnung auf
die Selbstzersprengung ihrer geschlossenen Systeme unter
Kriegsdruck ist noch nicht erloschen. Kommt es aber dann zum
Aufbau einer neuen Welt, dann wird - mehr denn jemals bevor
- die objektive wissenschaftliche Wahrheit gehört werden müs­
sen; insbesondere wird dies für die ökonomische Erkenntnis
gelten, denn es wird nicht zuletzt auch um den Aufbau einer
neuen Wirtschaftsordnung gehen.
Einer Vereinigung, wie es die »City of Man« ist, können also
in diesem erhofften künftigen Wiederaufbau sehr wichtige
Aufgaben zufallen, nicht zuletzt eben auch im volkswirtschaft­
lichen Gebiete. Alles was hier vorgetragen worden ist, wurde
unter dem Zeichen der Hypothese gesagt, ist eher Frage als
Feststellung, und ich maße mir auch nicht an - trotz mancher
Vorarbeit4 -, diese Fragen lösen zu können. Aber ich kann mir
vorstellen, daß eine kollektive Zusammenarbeit von Fachleu­
ten sehr weittragende Ergebnisse zu den hier angerissenen Pro­
blemen der Krisentheorie, des Sozialismus, der Planwirtschaft
und ihres Verhältnisses zum »New Deal« wird zeitigen können.
Gelänge eine solche Klärung des Krisenproblems, so wäre es
eben die demokratische Klärung, d. h. [diejenige], welche aus
der Suche nach wissenschaftlich objektiver Wahrheit resultiert,
und sie wäre der demokratische Weg zur Rettung der paniki-
sierten Massen aus jener Wirtschaftsunsicherheit, vor der sie
jetzt Schutz bei den Diktaturen suchen. Zwischen der kommu­
nistischen und der fascistischen Lösung wäre es der ersehnte
»dritte Weg«, der Weg ohne Versklavung, der amerikanische
Weg, und sein Ziel wäre der Wideraufbau einer zerrütteten
Welt.

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1 Dieser Abschnitt der »Autobiographie als Arbeitsprogramm« schließt sich
dem Kapitel »Theorie der Demokratie (1938-1939)« an.
2 Vgl. Fußnote 9 des Aufsatzes »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer to­
talen Demokratie«.
3 Gemeint sind u. a. Thorstein Veblen und Henry George.
4 Broch las 1940 volkswirtschaftliche Studien von William Yandell Elliott, John
Maynard Keynes und John Strachey.

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Die Demokratie
im Zeitalter der Versklavung

Erster Teil [Naturrecht und Versklavung]

Sowohl aus triebhaften wie aus praktischen Gründen braucht


das Tier das Nebentier, der Mensch den Nebenmenschen. Doch
darüber hinaus besitzt der Mensch —und das hängt vor allem
mit seiner dem Tier unerreichbaren Vernunftbegabung und
Bewußtseinshöhe, einschließlich der seines Todesbewußtseins,
zusammen - anarchische Tendenzen: die sogenannten Frei­
heitstendenzen des Menschen sind (zu einem sehr großen Teil)
ganz anderer Art als die des Tieres, das einem ihm auferlegten
Zwang, z. B. dem des Käfigs, zu entgehen trachtet, um in seine
eigene (triebhaft vorgezeichnete) Naturordnung zurückkehren
zu können; der Mensch widersetzt sich grundsätzlich jeglichem
Zwang, will nichts dulden, was seinen individuellen Willen ein­
schränkt, wünscht alle nur irgendwie möglichen Befriedigungen
aus seiner Ungebundenheit zu gewinnen, sucht dieser alles zu
unterwerfen (vor allem also den Nebenmenschen) und ist dem­
nach das »anarchische Tier«.

Unfähig jedoch, ohne den Nebenmenschen auszukommen, ist


es dem Menschen nie gegönnt, seine anarchischen Tendenzen
voll auszuleben; er ist zu Assoziierungen gezwungen, die ent­
weder vorwiegend triebhafte Basis haben (wie etwa die Ehe)
oder aber vorwiegend vernunfthaft konstruierte Zweckinstitu­
tionen sind (wie etwa der Staat), immer aber beide Moventien
gemischt enthalten. Mögen Institutionen noch so vernünftig
und zweckbetont sein, sie sind von Menschen errichtet, werden
von Menschen betrieben und sind demgemäß auch niemals von
deren anarchischen Tendenzen frei: jede Institution wünscht
(gleich dem Individuum) uneingeschränkt Machtentfaltung so­
wohl gegenüber ihren Angehörigen als auch - und gerade daran
zeigt sich ihr anarchischer Charakter - gegenüber sämtlichen
Nebeninstitutionen, selbst wenn mit ihnen Assoziierungen hö­
herer Ordnung, also »Kombinationsinstitutionen« (von denen
der Staat eine ist) eingegangen werden können.

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Das Streben nach anarchischer Unbeschränktheit entfesselt ei­
nen unaufhörlichen Kampf einerseits zwischen den verschiede­
nen Institutionen und Institutionsgruppen untereinander, an­
dererseits zwischen ihnen und dem Individuum. Die Mechanik
dieses fortwährenden Kampfes deckt sich mit jenem sozial-dy­
namischen Geschehen, das gemeiniglich mit »Politik« (ob nun
Innen- oder Außenpolitik) bezeichnet wird; m. a. W., Politik
ist ständiger und ständig labiler Ausgleich anarchischer Ten­
denzen. Das ist eine wesentliche Erweiterung jener Definition,
welche Politik als Ausgleich von »Interessen« auffaßt. Gewiß
verlangen auch »Interessen« nach »unbeschränkter« Geltung,
ähnlich also darin den anarchischen Strebungen, ja können ge­
radezu als ein Teil von ihnen angesprochen werden, aber sie
sind - wie gerade an den Institutionen beobachtbar - bloß
deren »vernunftgebundener« Teil: bezöge sich Politik bloß
hierauf, sie wäre nicht das anarchische Geschehen, das sie
ist.

Die Zustände, welche durch den Ausgleich anarchischer Ten­


denzen entstehen, werden »soziale Ordnungen« genannt. In
jeder Ordnung steckt ein Stück Versklavung, und diese wird
von jenen Institutionen und Individuen ausgeübt, denen ver­
möge ihrer gerade vorhandenen Machtüberlegenheit (sei es in­
folge Bewaffnung, Überzahl, Bundesgenossenschaften oder
sonstweichen Gründen) die jeweilige Siegerrolle im Unbe­
schränktheitskampf zufällt, also jenen, die jeweils die gering­
sten Abstriche von ihren Unbeschränktheitsansprüchen zu ma­
chen brauchen. Versklavt werden jedoch im letzten ausschließ­
lich die Einzelindividuen. Nicht nur also, daß jede Institution
die ihr angehörenden Individuen zu versklaven trachtet, sie sind
es auch, welche getroffen werden, wenn ihre Institution von ei­
ner andern, z. B. im Kriegsfall die staatliche von einem Sieger­
staat, versklavt wird.

Versklavung liefert das Individuum unter radikaler Brechung


seiner eigenen anarchischen Tendenzen uneingeschränkt an die
des Sklavenhalters aus. Genauer ausgedrückt (und unter Refe­
renz auf die modernen Sozialverhältnisse) bedeutet dies:
(a) der Sklave ist an den Machtbereich des Sklavenhalters ge­
bunden (Aufhebung der Freizügigkeit),
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(b) der Sklave ist an die ihm vom Sklavenhalter befohlenen Tä­
tigkeiten gebunden (Aufhebung der Berufs- und Beschäfti­
gungswahl),
(c) der Sklave ist in seiner Ernährung, Behausung und sonstigen
Lebenshaltung und -erhaltung ausschließlich vom Willen des
Sklavenhalters abhängig (Aufhebung des Anspruches auf ge­
rechten Lohn),
(d) der Sklave ist der Judikatur des Sklavenhalters unterworfen
(Aufhebung des Anspruches auf unparteiische Rechtspre­
chung).
Das Grundbeispiel für moderne Versklavung ist das Konzen­
trationslager.
Das Konzentrationslager (mitsamt allen übrigen Greueln der
gegenwärtigen Politik) ist ein Produkt des ethischen Relativis­
mus, der durch das Dahinschwinden der alten religiösen
Haltungen eingetreten ist. Der Sklavenhalter sieht nicht
ein, daß seine anarchischen Triebe »schlecht« sein sollen, und
selbst seine Opfer werden eher dumpf leiden, als sich der in
ihnen beleidigten »Freiheit« und »Menschenwürde« zu er­
innern.
Nichtsdestoweniger ist gerade die moderne, am Konzentra­
tionslager so grauenhaft sichtbar gewordene Versklavung ge­
eignet, den Begriffen der »Freiheit«, der »Menschenwürde«,
»Anständigkeit« usw. einen neuen und vielleicht sogar wissen­
schaftlich zu sichernden Inhalt und Anspruch zu verleihen.
Denn im Gegensatz zur ehemaligen Privatversklavung, die in
ihren anarchischen Tendenzen teils aus ökonomischen, teils aus
ethisch-religiösen Gründen noch vielfach gebändigt war, drückt
das Konzentrationslager seine Insassen unverhohlen auf eine
nicht nur untermenschliche, sondern untertierische Stufe
herab, untertierisch, weil das Tier im Unbewußten verbleibt
und daher seinen Käfig höchstens als irgendwie unbehaglich,
nämlich als »Anormalität« empfindet, während der Mensch im
Konzentrationslager vollbewußt und todesbewußt sich der
ständigen Mordbedrohung ausgeliefert sieht. Der biologische
Freiheitstrieb, der das gefangene Tier erfüllt, ist dem Menschen
im Konzentrationslager doppelt und dreifach zuzugestehen. Es
muß also gar nicht auf ethische Überlegungen hinsichtlich
»gut« oder »schlecht« eingegangen werden, um zu erkennen,
daß des Menschen Freiheitswillen im Konzentrationslager nicht
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nur als »natürlich«, sondern auch als »berechtigt« zu gelten hat,
und daß hier ein »natürliches Recht« des Menschen gebrochen
worden ist.
Kurzum, das Konzentrationslager bietet die Handhabe zu ei­
ner säkularisierten Neufundierung des Naturrechtes, und zwar
ausgehend von dem anscheinend banalen, dennoch so überaus
fundierungswürdigen und fundierungspflichtigen Satz: »Der
Mensch darf den Menschen nicht versklaven.« All die übrigen
Begriffe, wie eben »Freiheit«, »Menschenwürde« usw., lassen
sich aus diesem Zentralsatz des Menschenrechtes ableiten.

Das Naturrecht adelt die anarchischen Tendenzen des Indivi­


duums. An den vom Naturrecht verbürgten Menschenrechten
legitimieren sich Revolutionen, selbst wenn ihre Ziele - wie im
19. Jahrhundert das englische gegenüber dem französischen
Beispiel dartut - nachhaltiger und gesicherter in konsequenter
Evolution zu erreichen gewesen wären: die materiellen Ge­
winne einer Revolution bleiben zumeist hinter den auf sie ge­
setzten Hoffnungen zurück, einesteils weil jeder Bürgerkrieg
materielle Werte zerstört (von den ideellen ganz zu schweigen),
andernteils weil die Neuverteilung des Nationaleinkommens
keineswegs jene mechanische ist, die dem Reichen wegnimmt
und dem Armen gibt, sondern eine Produktionsumstellung
nach sich zieht, die alle unmittelbaren Vorteile für den einzel­
nen zuschanden werden läßt, während die politischen Vorteile
zumeist infolge der Revolutionsdiktatur völlig in nichts aufge­
hen; nichtsdestoweniger ist das durch die Revolution verwirk­
lichte Stück Naturrecht von unverlöschlichem Glanz und ist
dauernde, wenn auch vielfach romantische neue Revolutions­
verlockung.
Die Wirkungsmacht der Marxschen Lehre beruht zum wenig­
sten auf dem sozialökonomischen Inhalt ihrer Theorien, der
anfechtbar ist, vielmehr wird diese vom naturrechtlichen Inhalt
getragen, da hier zum ersten Male der Versuch gemacht wird,
das Naturrecht und die von ihm für jedermann geforderte Ge­
rechtigkeit und Freiheit wissenschaftlich - und Wissenschaft­
lichkeit ist der Wunderglaube des modernen Menschen - zu
unterbauen und als kausal bedingtes, also unvermeidlich er­
wartbares Zukunftsbild den Massen vorzustellen.

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Alle Revolutionen zielen auf Ergreifung des staatlichen Macht­
apparates. Daß der naturrechtliche Gewinn nach erfolgter
Machtergreifung sich zumeist als so überaus gering erwiesen
hat, ja sogar - wie in der napoleonischen Usurpation - völlig
annihiliert werden konnte, wird vom Leninismus-Marxismus
als Radikalitätsmangel erklärt, der mit Notwendigkeit immer
wieder die kapitalistische Konterrevolution hervorrufen muß.
Bei genügender Radikalität hingegen hat, seinem Versprechen
gemäß, die klassenlose Gesellschaft etabliert zu werden, und
diese wird den Staat überflüssig machen. In Rußland allerdings,
wo die Revolution genügend radikal war, ist bloß der - mehr
oder weniger - klassenlose Staat etabliert worden, angeblich als
ein Kriegsprovisorium, das nach vollzogener Weltrevolution
fallengelassen werden wird.
Sowohl die Theorie von der kapitalistischen Konterrevolution
wie die vom Kriegsprovisorium trifft nur in beschränktem Maße
zu. In Wahrheit ist da wie dort der Staat als Institution der Sie­
ger. Die anarchischen Tendenzen der Revolution richten sich
gegen die Versklavungstendenzen jedweder Institution, vor al­
lem also gegen die des Staates, aber sobald er in Besitz genom­
men ist, zeigt sich, daß er - wie jede Institution - ein schier un­
brechbares Eigenleben besitzt, und daß seine Versklavungs­
tendenzen nicht minder unbrechbar sind.
Das Rückgrat dieses Eigenlebens ist die Tradition. Die mei­
sten Institutionen sind Gebilde, welche - wie z. B. die Kirchen
- außer den ihnen angehörenden Menschen kein konkretes
Substrat besitzen, also nur dadurch bestehen, daß die von ihrer
Tradition vorgeschriebenen Haltungen eben von diesen Men­
schen akzeptiert werden, und obwohl der Staat infolge seiner
geographischen Statur ein konkreteres Aussehen hat, er ist
darum in seinem Bestand nicht minder traditionsabhängig, ja
er ist es erst recht, weil gerade seine geographische Gestaltung
ihm eine bestimmte außenpolitische und militärische Tradition
auferlegt hat, die sich kaum durch einen Wechsel der Regie­
rungsform ändern läßt. Die Außenpolitik des revolutionären
Frankreichs konnte kaum von der Ludwigs XIV. abweichen,
und ebenso mußten die Sowjets die der Zaren fortsetzen, wenn
Rußland nicht in Brüche gehen sollte. Und eine derart festge­
legte Außenpolitik ist fix in einer Weise, daß keine Revolution
dagegen aufzukommen vermag.
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Jede Tradition hat ihre Träger, und jede Institution hat zu die­
sem Zweck ihre Bürokratie, die Kirche ihre Priester, das Heer
seine Berufsoffiziere, der Staat seine Beamten. Die Bürokratie
ist institutionspatriotisch, d. h. sie will bloß ihre Institutionen
samt deren Traditionen intakt erhalten, und daneben ist es ihr
ziemlich gleichgültig, welche Klasse die politische Macht ge­
winnt. Talleyrand hat unter vier grundverschiedenen Regie­
rungstypen sein außenpolitisches Amt ausgeübt. Die Bürokra­
tie ist apolitisch, und das ist ihr Vorzug, aber sie ist um ihrer
Institution willen so versklavungssüchtig, daß der Vorzug sich
wieder aufhebt. Sogar die jeweils herrschende Klasse, mag sie
auch zu einem großen Teil das Personal der Bürokratie beistel­
len, wird von ihr, wie sich immer wieder zeigt, in Abhängigkeit
gebracht, und besonders ist es diese Abhängigkeit, welche im
letzten den Sieg des Staates über die Revolution bedeutet, den
perpetuellen Sieg des Kastenstaates über den Klassenstaat.

Zweiter Teil (Politische Versklavung)

Der Traditionsursprung der als Staaten bezeichneten Institu­


tionen ist bloß negativ zu fassen, da er - obwohl das Vorhan­
densein eines Staatsgebietes eine notwendige positive Voraus­
setzung bildet — vom Begriff der »Verteidigung« gegen
Staatsgefährdungen abhängig ist. Aus der Notwendigkeit der
Staatsverteidigung ergeben sich historisch drei eng miteinander
verschwisterte Traditionsströme,
(a) der des Primitivimperialismus, der das Staatsgebiet so weit
auszudehnen wünscht, bis es an den idealen strategischen
Grenzen statisch »unangreifbar« wird,
(b) der des Militarismus, dem nicht nur die Offensive zur Errei­
chung der idealen Grenzen und ihrer statischen Unangreifbar­
keit aufgetragen ist, sondern der auch die strategischen Unzu­
länglichkeiten der jeweils erreichten »provisorischen« Grenzen
durch eine ideale dynamische Verteidigung wettmachen soll,
(c) der des Polizismus, der die innere Staatsgrenze bewacht,
d. h. jeden einzelnen Bürger, da die »innere Person« eines jeden
dem Staat unzugänglich ist und ihm infolgedessen soviel wie
»feindliches Ausland« gilt.
Alle drei Traditionsströme, getragen von den zugehörigen
Bürokraten, zeigen Züge des anarchischen Unbeschränktheits­
115

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dranges, mit dem sie sich selbst zum Eigenzweck setzen wollen.
Aus dem Primitivimperialismus verbunden mit Militarismus
entsteht der »anarchische Imperialismus«, der letztlich zur
Welteroberung drängt, und aus dem Polizismus entsteht der
Totalitärstaat, ohne den sich Welteroberung kaum ausführen
läßt, und der umgekehrt bei Welteroberungsplänen am besten
gedeiht. Und jede der Tendenzen, erst recht aber sie alle zu­
sammen, zielen auf Totalversklavung des Bürgers.
Wo »Verteidigung« infolge idealer Grenzen überflüssig oder
infolge irreparabler Grenzen unmöglich wird, da kann sich der
Bürger gegen die ihn bedrohende Staatsversklavung wehren,
d. h. Militarismus und Polizismus auf ein Minimum herabdrük-
ken. Zur ersten Kategorie gehören u. a. England im 19. Jahrhun­
dert, zum zweiten »Kontraktstaaten« wie z. B. die Niederlande,
aber auch solche, welche nach einem verlorenen Krieg unvertei-
digbar werden; sie allesamt werden außerpolitische Anhänger
des Kräftegleichgewichtes, jene als dessen Subjekte, diese als
dessen Objekte, die einen wie die andern wissend, daß im Rah­
men des Status quo ihre Grenzen und ihr innerstaatlicher Libera­
lismus am besten geschützt sind. Ebendarum jedoch bedeutet für
sie die Verringerung des Militarismus nicht notwendigerweise
auch Ausschaltung des Imperialismus, vielmehr kann gerade
von hier aus, wie England und Holland zeigen, seine Weiter­
entwicklung gefördert werden.

Der europäische Imperialismus im engsten Sinne hat vom Rö­


mischen Imperium seinen Ausgang genommen. Das Prinzip der
idealen strategischen Grenze stammt von Rom, und alle seine
Nachfolgestaaten haben in Verfolgung dieses Prinzips das rö­
mische Staatsgebiet (allerdings mit jeweiliger Verlagerung des
Regierungszentrums) wiederherzustellen versucht. Im Westen
ist Karls des Großen Heiliges Römisches Reich Deutscher Na­
tion dem Ideal am nächsten gekommen, und zwar geschah dies
unter Karl V., ist aber am Widerstand Frankreichs, das - nach
Befreiung von der englischen Bedrohung —dem habsburgi­
schen Vormachtsanspruch den eigenen entgegenzusetzen ver­
mochte, mit der Schlacht von Lepanto1 endgültig gescheitert.
Napoleon, Fortführer der von den Bourbonen initiierten, von
Richelieu und Mazarin festgelegten französischen Außenpoli­
tik, gelang es zwar wirklich, das weströmische Gebiet auf dem
116

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Kontinent unter seine einheitliche Herrschaft zu bringen, aber
der Fehlschlag des russischen Feldzuges, der die zaristischen
Aspirationen auf Byzanz hatte brechen sollen, um hiedurch den
Weg zu einer Wiedervereinigung Ost- und Westroms zu ebnen,
wurde zum Siege Englands, das nunmehr ungehindert (und so­
gar als Völkerbefreier) sein System des europäischen Kräfte­
gleichgewichtes einrichten und durch das ganze 19. Jahrhun­
dert hindurch nicht nur aufrechterhalten, sondern auch,
nämlich durch Begünstigung des als Gegengewicht zu Rußland
(und seinen asiatischen Aspirationen) gedachten Bismarck-
Reiches, noch verstärken konnte. Der Gegenschlag erfolgte, als
das Reich nun selber mit Hegemoniebestrebungen auftrat und
dagegen Rußland zweimal zu Hilfe gerufen werden mußte,
so daß nun - bloß vier Jahre lang währte Hitlers Beherrschung
des napoleonischen Gesamtgebietes - die Sowjets als die alleini­
gen Erben des gesamtrömischen Gedankens übriggeblieben
sind.

Das ehemalige römische Reichsgebiet, West- und Südeuropa


mitsamt dem gesamten Mittelmeerbecken, wurde bereits durch
Napoleons Rußlandzug überschritten, umsomehr von Hitler,
dessen Regierungszentrum außerhalb jenes Gebietes lag, und
für die Sowjets ist dieses erst recht nur ein Annex zu ihren um­
fassenden Ansprüchen: als halb europäisch, halb asiatische
Macht verlangen sie den gesamten eurasischen Kontinent als
Herrschafts- oder zumindest Interessensphäre.
Strategisch ist dieser Anspruch durchaus begründet. Soferne
man im Zeitalter der Atombombe überhaupt noch von strate­
gischen Grenzen sprechen kann, so sind diese ausschließlich
durch die Ozeane gegeben, die allein eine gewisse, wenn auch
noch immer unzulängliche Separierung der Flugbasen gewähr­
leisten. Soll also Rußland nicht zu verhüten trachten, daß solche
längs der in Jalta vereinbarten Demarkationslinie Hamburg-
Mukden angelegt werden? Diese Linie (mitsamt ihren Balkan-
und sonstigen Ausbuchtungen) ist die bei weitem ausgedehnte­
ste, die sich auf des Erdballs Festland überhaupt ziehen läßt,
und weil sie auf große Strecken hin - so in Nordchina - für die
Westmächte unverteidigbar ist, kann sie und muß sie daher von
der Roten Armee überschritten werden. Würde Rußland sein
strategisches Ziel in Asien und Europa tatsächlich erreichen, so
117

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würde es bloß in Afrika, südlich der Sahara, kontinental mit der
Einflußsphäre der Westmächte Zusammenstößen, und diese
Grenze wäre nicht nur um mehr als zwei Drittel kürzer als die
Jalta-Linie, sondern verliefe auch durch ein Gebiet, das über­
wiegend so unwegsam ist, daß man von einer nahezu vollkom­
menen ozeanischen Trennung der beiden Gegner sprechen
könnte.
Von einem rein mechanistisch-militärischen Aspekt aus be­
trachtet, wäre eine derartige vollkommene Trennung auch für
die Westmächte akzeptabel, wenn die ihnen verbleibende
Weltsphäre den Aufbau eines dem russischen adäquaten
Machtblocks erlaubt. Doch dies wäre dann keineswegs mehr
der Fall. Denn nicht nur, daß die Überschreitung der Elbe und
des Rheins die Auslieferung der gesamten industriellen Kapa­
zität Europas - wohlgemerkt einschließlich Englands - an
Rußland bedeuten würde, es hätte Rußland, dem jetzt schon
etwa 400 Millionen Chinesen zugefallen sind, nach der Einver­
leibung Südasiens zwei Drittel der gesamten Menschheit unter
seiner Kontrolle. Und dazu könnte sich recht leicht aus natio­
nalistischen Antiyankee-Gründen der südamerikanische Kon­
tinent gesellen, besonders wenn Rußland sich in Dakar festge­
setzt haben sollte. Nordamerika hat also bei all seiner Macht
und all seinem Reichtum mit völliger Isolierung - und wirt­
schaftlich bedeutet das völlige Ausschaltung von allen Welt­
märkten - zu rechnen, hat also Ursache genug, sich dem russi­
schen Vormarsch zu widersetzen.
Die Jalta-Linie ist in Europa noch einigermaßen intakt, doch
in Asien sind die Westmächte bereits auf die zweite Verteidi­
gungslinie, den Schutz Südasiens, zurückgedrängt. Daß Ruß­
land seinen ungeheuren strategischen Vorteil nicht weiter aus­
nützen sollte, ist nicht zu erwarten; bloß seine Kriegsfurcht,
die nicht geringer als die westliche ist, kann es davon ab­
halten.

Als Rußland unmittelbar nach der Niederwerfung Deutsch­


lands daranging - sozusagen ohne Einlegung einer Anstands­
pause -, den von ihm errungenen strategischen Vorteil auszu­
nützen, waren sich seine Staatsmänner klar, daß der weitere
Vormarsch autark vorbereitet und alimentiert zu werden hatte.
M. a. W., Rußland mußte nicht nur seine Kriegsstruktur beibe­
118

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halten, sondern mußte darüber hinaus auch noch zu jener Aut­
arkie zurückkehren, in der es sich zwanzig Jahre hindurch - un­
zulänglich genug - auf den Krieg mit Deutschland hatte
vorbereiten müssen. Angesichts der industriellen Rückständig­
keit des Landes läßt sich eine solche Anstrengung nur unter
schärfstem totalitärem Druck bewerkstelligen.
Westliche Kommunisten meinen und hoffen, daß der russische
Totalitarismus nicht vom Wirtschaftssystem, sondern von der
Kriegsgefahr bedingt sei, und daß nach deren Verschwinden die
notwendige Liberalisierung im Sinne Marx’ eintreten werde.
Nun hätte ja Rußland seinen strategischen Vormarsch, der von
außen besehen nichts anderes als »anarchischer Imperialismus«
ist, nicht fortsetzen müssen, sondern statt dessen lieber unter
gleichzeitiger Liberalisierung sich wirtschaftlich konsolidieren
können, doch dagegen läßt sich sagen, daß bloß die Weltrevo­
lution den endgültigen Frieden bringen werde, und daß eben­
darum der strategische Vorteil der kommunistischen Vormacht
bis aufs äußerste, ohne Rücksicht auf die gegenwärtigen Opfer
des russischen Volkes, hatte ausgenützt werden müssen, umso­
mehr als jeder Verzicht auf jenen Vorteil die kapitalistischen
Staaten zum Gegenstoß ermuntert hätte. All das hat seine Rich­
tigkeiten. Aber ebenso richtig ist es, daß ein Totalitärregime sich
seiner Verschwisterung mit Militarismus und Polizismus niemals
zu entledigen vermag, daß es allüberall »Feinde« wittert und auf
intoleranteste »Verteidigung« eingerichtet ist, und daß daher
Moskau bloß bedingungslose Unterwerfung unter seine Dok­
trinen, jedoch nicht die geringste Abweichung hievon, ge­
schweige die des englischen Liberalsozialismus, duldet.

Obwohl der Soldat, besonders seit Einführung der allgemeinen


Wehrpflicht, infolge der ihm auferlegten Disziplin einen spezi­
fischen Staatssklaventypus darstellt, waren die amerikanischen
und englischen Armeen imstande, überall, wo sie ihr Material­
übergewicht einsetzen konnten - also vor allem auf dem euro­
päischen, weniger auf dem asiatischen Kriegsschauplatz -, mit
einem Minimum an Soldatenversklavung auszukommen, d. h.
die äußerste Schonung für das Einzelleben und die Einzelwohl­
fahrt zu einem Grundprinzip der militärischen Planung zu ma­
chen. Parallel hiezu wurden im Flinterland, selbst in dem so un­
mittelbar gefährdeten England, dem Kriegspolizismus keine
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Übergriffe erlaubt. Das war eine umso bemerkenswertere de­
mokratische Leistung, als es sich, gerade in England, um einen
Totalkrieg handelte. Allerdings war sie bloß erzielbar, weil sie
von dem unermeßlichen Produktionsreichtum Amerikas getra­
gen wurde, und es ist daher durchaus fraglich, ob sie im näch­
sten Krieg sich wird nochmals erzielen lassen. Nicht nur, daß
eine jahrelang sich hinziehende Kriegsspannung und Kriegs­
vorbereitung (nicht zuletzt wegen ihrer keineswegs unberech­
tigten Spionenfurcht) eine ständige Verschärfung des Polizis-
mus hervorruft, es wird der Atomkrieg auch einen weitaus
höheren Totalitätsgrad als alles bisher Bekannte aufweisen, da
das gesamte Hinterland und besonders die kriegswichtigen In­
dustrieorte schier schutzlos den gräßlichsten Gefahren ausge­
setzt sein werden. Das sind Zustände, denen kein Reichtum,
auch nicht der amerikanische, gewachsen ist, noch viel weniger
aber irgendeine Demokratie: schon die Vorbereitungszeit för­
dert eine Art »demokratischen Fascismus«, und je länger sie
dauert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß er sich
stabilisiert und schier unmerklich zum reinen Fascismus aus­
artet. Insolange Rußland den Krieg, den es nicht wünscht, für
vermeidbar hält, wird es - eben durch Verlängerung der
Kriegsspannung sowie durch eine ganze Reihe von Nebenmit­
teln, wie Enthüllungen usw. - überall das Aufkommen des Fa­
scismus fördern, den es für die Vorstufe der kommunistischen
Diktatur hält; bricht der Krieg trotzdem aus, so ist es für Ruß­
land ziemlich gleichgültig, ob es Demokratien oder Fascismen
gegenübersteht.

Dritter Teil (ökonomische Versklavung)

Marxismus und Reinkapitalismus sind sich über die Präponde-


ranz der wirtschaftlichen Momente vollkommen einig. Sie sind
beide überzeugt, daß des Menschen gesamte Lebensgestaltung
im letzten von seinen wirtschaftlichen Interessen abhängig sei,
und beide sind sie von einem durchaus mythologisierenden
Wirtschaftsoptimismus erfüllt: der Kapitalismus glaubt an ei­
nen konstanten Wirtschaftsfortschritt, d. h. an eine konstante
Hebung des allgemeinen Lebensstandards, vorausgesetzt daß
man »die Kräfte« der Wirtschaft nur sich selber überläßt und
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ihnen keine »künstlichen« Fesseln auferlegt, und ebenso glaubt
er, daß dieser geradezu naturgesetzliche Wirtschaftsfortschritt
- und er verweist hiezu auf die moderne Demokratie als das ka­
pitalistische Musterkind - die einzige Bürgschaft für die Men­
schenfreiheit sei; der Marxismus hingegen sieht zwar eine durch
den Zusammenbruch des Kapitalismus verursachte Periode des
Wirtschaftsverfalls vor sich, erwartet aber hernach den dialek­
tisch notwendigen Umschlag, d. h. die durch nichts mehr stör­
bare Dauerprosperität für die ganze Menschheit im Rahmen
der kollektiven Planwirtschaft, in der es keine Eigengesetzlich­
keit der Wirtschaft mehr gibt, so daß der Mensch, wirtschafts­
befreit, erst dann seine wirkliche Freiheit erringen wird. Fürs
erste freilich scheint es, als ob beide den Keim zur schwersten
Menschheitsversklavung in sich trügen.

In der Entwicklung des modernen Kapitalismus sind zwei -


freilich sich vielfach überlappende - Phasen zu unterscheiden:
der Extensiv- und der Intensivkapitalismus.
Der Primitivkapitalismus wurde (vielfach in Verbindung mit
Merkantilismus) extensiv betrieben. Produktionsmäßig - die
Geldgeschäfte liefen nebenher - war dieser Kapitalismus durch
die »Faktorei« bestimmt, eine vielfach nur auf die Vergebung
von Heimarbeit basierte Großbetriebsstätte, in der die späteren
Formen der Fabrik und des Großhandelshauses noch miteinan­
der verquickt waren, und seine Verkaufsmethode zielte - abge­
sehen von Heereslieferungen und ähnlichem - im wahrsten
Wortsinn auf »Markteroberungen«, d. h. auf Aufsuchung der
Bauernmärkte, um daselbst im Bauern ein Warenbedürfnis zu
erwecken, das dessen vordem rein autarker Wirtschaft unbe­
kannt gewesen war. Die ganze industrielle Exporttheorie mit­
samt ihren kolonialistischen Erweiterungen stammt vom pri­
mitiven Bauernmarkt, der übrigens für die zentral- und
insbesondere osteuropäische Produktion bis ins 20. Jahrhun­
dert hinein seine Bedeutung beibehalten hat. Kurzum, Exten­
sivkapitalismus ist Marktexpansion; er beruht auf unsaturier­
tem Warenhunger, und seine Kalkulation ist auf die
Faustformel »höchster Verkaufspreis bei billigsten Erzeu­
gungskosten und geringster Investition« abgestellt. Sein Ideal
ist daher doppelte Ausbeutung, einerseits die einer tunlichst
monopolistischen, konkurrenzlosen »Beherrschung« des
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Marktes, andererseits die einer unumschränkten über den
»Lohnsklaven«.
Je mehr die Gesamtwelt sich industrialisiert, desto schwieriger
wird es dem Extensivkapitalismus, sein Marktgebiet auszudeh­
nen, und desto mehr werden seine Formen durch die des Inten­
sivkapitalismus ergänzt, d. h. durch Formen, die nicht mehr
ausschließlich vom Produzentenbedürfnis, sondern auch zu ei­
nem großen Teil von dem des Konsumenten diktiert werden.
Im Gegensatz zu dem erst vornehmlich ruralen und später ko­
lonialen Extensivkapitalismus ist der intensive hauptsächlich
urban; er ist von den Käufermassen der großen Städte bedingt,
und er benötigt eine fortschreitende Urbanisation des Landes,
da er auf Marktaufstachelung (durch Reklame usw.) beruht,
und eine solche bloß in der Großstadt voll rentabel ist. Gewiß
sucht auch der Intensivkapitalismus monopolistische Positio­
nen, aber da er selbst in einer solchen die Käufer vermittels bil­
liger Preise anlocken muß, ist ihm Konkurrenz erträglicher als
dem Extensivkapitalismus: ob mit oder ohne Konkurrenz, er
muß stets neue Produkte hervorbringen und anpreisen, muß
demgemäß unaufhörlich neue Investierungen machen, beson­
ders solche, deren rasche Amortisation durch Produktionsver­
billigung gewährleistet wird, und er wird daher weit mehr
Gewicht auf lukrative Maschinenarbeit als auf Lohndruck
legen, umsomehr als er weiß, daß eine gut bezahlte Arbeits­
kraft die Kaufkraft des Marktes erhöht. Der Intensivkapitalis­
mus rückt also beidseitig, sowohl in seiner Markt- wie in seiner
Lohnpolitik, zunehmend vom Prinzip der »Ausbeutung«
ab.
Könnte die gesamte Wirtschaft nach dem Prinzip des Inten­
sivkapitalismus betrieben werden, so wäre ein gewisser Teil der
unmittelbaren Wirtschaftsversklavung ausgeschaltet. Dem
aber ist nicht so. Denn in der Urproduktion und damit auch in
der gesamten Bergbau- und Schwerindustrie usw. kann nicht
intensiv gewirtschaftet werden. Die Landwirtschaft kann zwar
durch Herabsetzung der Produktionskosten und Preise ihren
Absatz einigermaßen erweitern, aber doch nur bis zu einer be­
stimmten Normalgrenze, und keinerlei Marktanstachelung
kann darüber hinausführen. Noch viel mehr gilt das für die
Schwerindustrie; die Quote des Stahlpreises in dem Preis eines
fertigen Autos ist zu gering, um durch Ermäßigung den Auto­
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absatz unmittelbar zu beeinflussen, und in andern Fertigwaren,
wie z. B. Textilgütern, ist sie bloß als Maschinenamortisation
enthalten, verschwindet also so gut wie vollständig. Hier also
nützt keine Intensivierung, vielmehr muß hier weiter nach den
Regeln des Extensivkapitalismus gearbeitet werden, und das
bedeutet eben Kolonialismus, Monopolismus und Lohndruck,
politisch aber die Neigung zur fascistischen Versklavung. Die
»liberalen« Mittel- und Fertigindustrien bilden hiefür kein ge­
nügendes Gegengewicht, nicht zuletzt weil sie wegen ihres
schärferen Investitionstempos und infolgedessen wegen ihres
relativ sehr großen Geldbedarfes weitgehend von den Banken
abhängig sind, also von Stellen, bei denen der Einfluß der
Schwerindustrie eine bedeutende Rolle spielt. Die englische
Nationalisierung der Banken und der Schwerindustrie be­
zweckt nicht zuletzt die Befreiung der liberalen Mittel- und
Fertigindustrie aus der sie umfangenden politischen Umklam­
merung. Daß das Risiko der Unrentabilität, von dem die Ur-
industrien bei nicht-extensiver Führung stets bedroht sind, auf
die Gesamtnation fällt, ist freilich eine andere Frage.

Der Hinweis auf die Vollnationalisierung der gesamten russi­


schen Industrie beantwortet diese Frage sicherlich nicht. In
Rußland braucht es nämlich keine unrentablen Industrien zu
geben.
Das zaristische Rußland stand in den ersten Anfängen seiner
Industrialisierung, und trotz der enormen Ausdehnung seiner
Petersburger, Moskauer und Lodzer Industriezentren blieb die
Produktion weit hinter den Bedürfnissen zurück; die Geschäfte
wurden daher, gleichgültig ob Schwer- oder Leichtindustrie,
wie in jedem unterindustrialisierten Land durchwegs nach ex­
tensiven Prinzipien, d. h. mit Maximalgewinnen betrieben. Ob
nun die Sowjets diese Gewinne, sei es in Form von Preisermä­
ßigungen oder in der von Lohnerhöhungen, dem allgemeinen
Besten zugänglich machen, oder ob sie sie zur Aufrechterhal­
tung der Wirtschaftsbürokratie benötigen (was durchaus nicht
ausgeschlossen ist), es hat die Nationalisierung nichts an der
Extensivstruktur geändert, umsoweniger als die Weiterindu­
strialisierung des Landes vornehmlich der Waffen- und kaum
der Gebrauchsgütererzeugung zu dienen hatte: kurzum, jedes
Produkt kann zu jedem beliebigen Preis abgesetzt werden.
123

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Wenn irgendwo, so hat im sowjetischen Rußland der Extensiv­
kapitalismus sein Doppelideal, nämlich Vollbeherrschung der
Arbeiterschaft wie des Marktes, zur Gänze erreicht. Fast ist es
wie eine Bestätigung für die mythische Eigengesetzlichkeit der
Wirtschaft, ja es läßt sich sogar Voraussagen, daß die durch die
Rüstungsnotwendigkeiten in Gang gebrachte Hypertrophie­
rung der russischen Schwerindustrie einstmals, d. h. unter Frie­
densverhältnissen und nach Saturierung der Weltmärkte (be­
sonders bei deren fortschreitender Eigenindustrialisierung),
Absatz- und Rentabilitätskrisen wird hervorrufen müssen, die
den kapitalistischen aufs Haar ähneln und daher - getragen von
der Bürokratie der Schwerindustrie - sich gleichfalls zu ständi­
gem Rüstungsanreiz entwickeln können, während die Mittel­
und Fertigwarenindustrie, auch hier schließlich zu einer Art In­
tensivwirtschaft bemüßigt, das liberale und pazifistische Ge­
gengewicht hiezu abgeben würde. Im übrigen ist es durchaus
nicht unwahrscheinlich, daß die Voraussicht solch künftiger
Entwicklung die Moskauer Expansionspolitik mit beeinflußt,
denn mit Kolonialmärkten - und Rußland wird sich nicht
scheuen, sie unter dem Titel der Kollektivplanung zu Zwangs­
märkten zu machen - läßt sich die jetzige Expansivwirtschaft
noch beträchtlich verlängern.
Doch ob so oder so, es kann mit einiger Bestimmtheit behaup­
tet werden, daß der in der Wirtschaft steckende Versklavungs­
faktor ziemlich invariant bleibt, unabhängig vom privaten oder
nationalen Besitz an den Produktionsmitteln. Die kommunisti­
sche Superversklavung ist politisch, nicht kollektivwirtschaft­
lich bestimmt.

Obwohl die russische Expansion vor allem strategisch bestimmt


ist, enthält sie also auch kolonialwirtschaftliche Motive, die sich
freilich nicht ohneweiters mit den bisherigen westeuropäischen
vergleichen lassen.
Der westeuropäische Kolonialismus war in seiner ersten, noch
vorkapitalistischen Phase einfach auf Goldhunger basiert, war
auf Raubzüge basiert, die daneben - wie etwa in der Eroberung
Mexikos - das Gepräge von Bekehrungskreuzzügen annah-
men. In seiner zweiten, nun schon extensivkapitalistischen
Phase wurde der Kolonialismus zu einer Ausnützung des
»Wirtschaftsgefälles«, das sich in Afrika als Tausch von Glas­
124

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perlen gegen Elfenbein (oder Sklaven), in Amerika als der von
Messern gegen Biberfelle, in Indien aber als der von Schieß­
waffen gegen hochwertige Textilien usw. charakterisieren läßt.
Aus diesem Handelskolonialismus entwickelte sich der Plan­
tagismus als dritte Phase der systematischen Auswertung der
kolonialen Naturschätze durch europäische Siedler, und
schließlich, unter deren Auspizien und patronisiert von der
Schwerindustrie des Mutterlandes, die vierte und letzte Kolo­
nialphase, nämlich die der Vollindustrialisierung. Bereits in der
dritten Phase verringert sich das Wirtschaftsgefälle zwischen
Mutterland und Kolonie; die Siedler beginnen sich gegen die
Hochpreise der extensivwirtschaftlichen Importe aufzulehnen,
besonders wenn sie - wie zur Zeit der amerikanischen Revolu­
tion - die Möglichkeit vor sich sehen, die koloniale Erweiterung
sowie den dazugehörigen Extensivkapitalismus aus Eigenem zu
betreiben, und dieser Zug zur wirtschaftlichen und politischen
Verselbständigung wird in der vierten Phase geradezu unver­
meidbar. Aber noch mehr: da in der vierten Phase die Schwer­
industrie (ihrem Extensivismus gemäß) in den Kolonien Mit­
telindustrie und Fertigwarenfabriken einrichtet (so die
ägyptische und indische Textilindustrie), setzt sie den heimi­
schen Fabriken eine geradezu tödliche Konkurrenz auf den
Hals. Dies alles, verbunden mit den verschiedenen Kolonialne­
benformen der Mandate, Konzessionen usw. und dem noch
verschiedeneren Kolonisationstempo - der Kongo befindet sich
in der zweiten, Südafrika in der vierten Phase -, drückt dem
Kolonialimperialismus seinen spezifisch anarchischen Stempel
auf.
Für Rußland hat es alle Vorteile, diese Anarchie zu vertiefen.
Für die amerikanische Schwerindustrie (ohne Rücksicht auf
ihre Schwesterunternehmungen der Mittelindustrie und Fer­
tigwarenfabrikation) ist es von vitaler Bedeutung, die Indu­
strialisierung in einem wiederbefriedeten China durchzufüh­
ren. Rußland tritt da keineswegs als Konkurrent auf,
wenigstens nicht vorderhand, da es ja jede Tonne Eisen für ei­
gene Zwecke braucht, doch die kommunistische Beherrschung
Chinas bringt ihm jedenfalls Gewinn, da sie entweder Amerika
an Importen verhindern und damit seine Wirtschaftslage dros­
seln wird, oder aber, wenn die Importe trotzdem fortgesetzt
werden, diese indirekt zumindest teilweise dem Warenhunger
125

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Rußlands wird zuführen können. Ganz anderen Wirtschafts­
zwecken dagegen hat die russische Expansion in Europa zu die­
nen. Soferne man hier von Kolonisation sprechen kann, handelt
es sich um eine vorkapitalistische der ersten Phase. Hier geht
es wie bei Cortez um Bekehrung und um Gier, zwar nicht um
eine nach Gold, wohl aber nach Maschinen und Gütern, umso­
mehr als durch die Ausplünderung der Lebensstandard West­
europas sich dem russischen angliche und dies einerseits die
kommunistische Bekehrung erleichtern, andererseits dem rus­
sischen Volk das propagandagefährliche Neidobjekt entziehen
würde.

Man könnte sich der Hoffnung hingeben, daß in dem Augen­


blick, der dem Kommunismus die Gunst und die Nötigung
bringen wird, auf Intensivwirtschaft überzugehen, man nicht
nur mit seiner Liberalisierung, sondern auch mit einer Ein­
schränkung seiner Expansionssucht wird rechnen können.
Denn - so könnte argumentiert werden - auch im Kapitalismus
ist die Intensivwirtschaft der Mittel- und Fertigwarenindustrie
nicht nur ein liberalisierendes, sondern auch pazifistisches, ja
infolge ihrer spezifischen Interessen sogar ein antiimperialisti­
sches, antikolonialistisches Element, und bei der Unabhängig­
keit der Wirtschaft von den in ihr herrschenden Besitzverhält­
nissen wäre es durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Dinge im
Kommunismus nicht anders verlaufen werden. Ist aber die
Umstellung auf Intensität (insbesondere z. B. bei Luxuspro­
dukten) innerhalb des Kommunismus überhaupt möglich? In
Ansehung der großen, Fertigwaren produzierenden amerika­
nischen Konzerne sollte das schließlich auch mit staatlich ge­
führten Konzernen möglich sein, nur kann keinerlei Wirt­
schaftsplanung angeben, ob je oder wann sich der Zeitpunkt
hiefür in Rußland einstellen wird. Hier sprechen neben den
wirtschaftlichen die politischen Erwägungen das gewichtigere
Wort, und da in Rußland der Staat selber (und nicht nur die
Banken) das Bindeglied zwischen Schwer- und Leichtindustrie
ist, und letztere in ihren Interessen weit weniger als jene mit
dem eines diktatorialen Staates übereinstimmt, so werden die
Hoffnungen auf politische Konsequenzen der Wirtschaftsin­
tensivierung überaus dünn.
Darüber hinaus aber ist das ideologische Moment zu berück-
126

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sichtigen. Es geht um die Wirtschaftsversklavung, und die be­
steht nicht nur in der extensivwirtschaftlichen Ausbeutung des
Arbeiters durch niedere Löhne und des Marktes durch hohe
Preise. Es gibt auch eine Wirtschaftsversklavung bei hohen
Löhnen und niedern Preisen, kurzum eine Versklavung in und
durch prosperity, und es läßt sich behaupten, daß gerade die In­
tensivwirtschaft hiefür Pate gestanden hat und daß sie ebenhie-
durch politisch so lahm ist, wie sie ist. Denn wenn alle Energien
des Menschen auf die Güterproduktion gerichtet sind, wenn er
keinen andern Lebenssinn als diesen kennt, so wird er eben in
einer Art von der Wirtschaft beherrscht, daß er, bei aller politi­
schen Freiheit, sich selbst allen Charakteristiken des Sklaven­
tums unterwirft. Nicht zuletzt darum ist der Unterschied zwi­
schen den beiden großen politischen Parteien der Vereinigten
Staaten so überaus gering. Und diese Versklavung ist umso
haltbarer, als sie keinen konkreten Sklavenhalter kennt; sie ist
die bedingungslose Unterordnung unter ein Abstraktum, das
manchmal »die Firma« oder »das Unternehmen« heißt, zu des­
sen Wohl der Mensch seine letzte Kraft herzugeben hat, in
Wahrheit aber stets ein unsichtbarer Götze ist, der den Gene­
raldirektor ebensogut wie den letzten Arbeiter unerbittlich und
absolut beherrscht. All das ist erst durch die Intensivwirtschaft
entstanden: der Fabrikherr der Extensivwirtschaft war immer­
hin noch ein konkretes menschliches Wesen, mit dem man sich
verständigen oder gegen das man sich auflehnen konnte; jetzt
jedoch ist er selber Sklave, ist selber dem absoluten Abstraktum
untertan, und diese allgemeine Unterwerfung unter ein
Abstraktum - es gibt keinen ärgeren Sklavenhalter als den
Sklaven - ist zur Gesamteinstellung der modernen Massen ge­
worden.
Der dem Kapitalismus und dem Marxismus gemeinsame
Glaube an das Wirtschaftliche ist also nicht zuletzt eine Frucht
der Intensivwirtschaft, und daß sich aus ihr, kapitalistisch oder
kommunistisch, die goldene Ära der menschlichen Freiheit
entwickeln könne, entpuppt sich bereits heute als Irrglaube. Ein
intensivwirtschaftlicher Kommunismus - soferne es ihn über­
haupt geben wird - wird sich gegenüber den anarchistischen
Forderungen der Institutionen, der staatlichen wie der wirt­
schaftlichen, genauso willig und lahm verhalten, wie es heute
der Intensivkapitalismus tut. Und noch viel weniger läßt sich
127

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eine Abnahme der marxistischen Dogmengläubigkeit erwar­
ten.

Vierter Teil (Ideologische Versklavung)

Die westlichen Massen verhalten sich zwar wirtschaftsgläubig


und sind darüber hinaus weitgehend wirtschaftsversklavt, mehr
noch, sie bejahen geradezu diese Haltung als das Mittel, mit
dem sich immer mehr Frigidaires und Autos gewinnen lassen,
aber diese restlose Hingabe an die Wirtschaft, diese rastlose
Sucht nach einem Immediatglück, das sich für den amerikani­
schen Geist als das der Vergeudung charakterisiert, hat durch­
aus das Gepräge eines faute de mieux: es ist ein Ideal, aber of­
fenbar das eines schlechten Gewissens und wird demnach bloß
unbewußt angestrebt; die ins Bewußtsein dringenden Ideale
werden von andern Instanzen geliefert, von den Kirchen, von
politischen Parteien usw., und sie sind zumeist Klischees, die
zwar immerhin, merkwürdig genug, das Denken, nicht jedoch
das Handeln bestimmen, - die Massen leben ohne gesichertes
Wertsystem.
Die russischen Massen, seit Jahrhunderten in schärfster und
nicht nur wirtschaftlicher Versklavung gehalten, sie sicherlich
nicht bejahend, aber sich ihr als Gottesfügung unterwerfend
und hiefür gerechten Jenseitslohn erwartend, wurden mit ei­
nem Male belehrt, daß sie sich bereits im Zustand der Freiheit
befänden und daß deren kleine, vielleicht noch spürbare Män­
gel nur mehr eine kurze Weile ertragen werden müßten, damit
der Lohn, kein jenseitiger, nein, ein diesseitiger, das Paradies
auf Erden, wenn schon nicht den Kindern, so doch spätestens
den Enkelkindern zuteil werde: sie besaßen ein gesichertes
Wertsystem, das mit einem Schlage durch ein neues von ähnli­
chem Plausibilitätsanspruch ersetzt werden sollte; es ist durch­
aus nicht ausgeschlossen, daß der hiedurch entstandene Wert­
bruch früher oder später in einer Wiedervereinigung von
Kirche und Staat, wofür ja schon die ersten Anzeichen vorlie­
gen, zu schließen sein wird, denn Kommunismus und Urchri­
stentum sind - hier steht Tolstoj als Beispiel - zur Genüge ver­
wandt, und die orthodoxe Kirche wird ihre urchristlichen
Inhalte besonders gerne unterstreichen, wenn sie hiedurch, zu­
sammen mit dem Vormarsch der Sowjets, den seit Jahrhunder­
128

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ten angestrebten Sieg über das verhaßte Rom sich versprechen
kann. (Kein Zweifel, daß das mit einer der Gründe ist, die Rom
veranlaßt haben, den russischen Kommunismus als Erzfeind
der katholischen Christenheit zu erklären).

Die Erfolgsaussichten des Kommunismus in der westlichen


Welt sind bedeutend, und sie sind auf der hier herrschenden -
einem Wertvakuum zustrebenden - Wertzersplitterung be­
gründet. Mit dem Dahinschwinden der religiösen Haltung als
Zentralwert ist der westliche Mensch direktionslos geworden:
handelt er absolut religiös, so verstößt er gegen die Gebote des
Staates, der ihn zum Töten zwingen will; handelt er absolut wis­
senschaftlich, so verstößt er gegen die Gebote der Humanität,
welche von jeder neuen physikalischen Entdeckung tiefer be­
droht wird; handelt er absolut militärisch, so verstößt er gegen
die Gebote der Wirtschaft, für die jede Erhöhung der unpro­
duktiven Militärlasten letztlich ruinös wird; und handelt er ab­
solut wirtschaftlich, so verstößt er gegen alles andere, gefährdet
Religion wie Staat wie Landesverteidigung wie Wissenschaft
wie alle hergebrachten kulturellen Güter. Jedes dieser einzel­
nen Wertsysteme will sich den Gesamtmenschen absolut
dienstbar machen, jedes sucht sich auf seine Kosten zu hyper-
trophieren und zu einem Totalitärsystem zu entwickeln, in dem
der Mensch bürokratisch versklavt ist, und für welches von ih­
nen immer er sich entscheidet - zumeist ist es eben das wirt­
schaftliche, weil die Magenbedürfnisse das immerhin noch
plausibelste Argument sind -, er kann sich den andern nicht
gänzlich entziehen und gerät hiedurch in eine Art schizophre­
nen Zustand, jedenfalls in einen Zustand hochgesteigerter Un­
sicherheit. Es gehört zum Wesen der Fascismen und zu ihrem
Erfolg, diesen Sachverhalt durchschaut zu haben: man hat sich
oft gewundert, daß sie - als ob es die amerikanischen Parteien
anders machten —vor der Machtergreifung den verschiedensten
Interessenkreisen volle Wunscherfüllungen versprachen; sie
taten sogar mehr, denn sie beließen mit vollem Bewußtsein den
Einzelmenschen in den Bindungen, von denen er sich zerrissen
fühlt und die er doch nicht aufzugeben vermag, aber sie ver­
sprachen ihm dafür diese Bindungsübermacht zu bändigen und
unter einen Hut zu bringen, nämlich den des Staates. Das war
Mussolinis Entdeckung und Erfindung, und sie schlug, obschon
129

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nicht ganz ernsthaft, sogar bei einem so wenig schizophrenen
Volk wie dem italienischen ein, erst recht also beim deutschen,
dessen ganze Geschichte danach angetan war, schizoide Züge
zu begünstigen.
Der kommunistische Totalitarismus geht um ein sehr ent­
scheidendes Stück weiter als der fascistische, und ebendarum
darf er nicht mit diesem verwechselt werden. Der Kommunis­
mus beläßt dem Menschen keine seiner sonstigen Bindungen,
er befreit ihn von allen und konzentriert ihn dort, wo er ohnehin
sich schon neigungsgemäß befindet, also im Wirtschaftlichen,
und da er überdies wissenschaftlich konstruiert ist und der
westliche Mensch nur das »wissenschaftlich Beweisbare«
glaubt, ist die marxistische Heilslehre - mitsamt ihrem Ver­
sprechen auf ein wirtschaftlich bedingtes irdisches Gottesreich
- strukturell durchaus geeignet, dem westlichen Menschen
wieder die Sicherheit eines einheitlichen Wertsystems zu ge­
ben.
Das Marxsche System transzendiert über die von ihm sonst
eingehaltene wissenschaftliche Sphäre hinaus, oder genauer,
es läßt seinen philosophisch-hegelischen Hintergrund durch­
schimmern, wenn - zumeist in der Revolutionstheorie - die
Idee der Wirtschaftsgerechtigkeit vorangestellt wird, und es
sinkt unter die Wissenschaftssphäre, d. h. es wird praktische
Politik und weiter nichts, wenn - besonders im Leninismus —
»die« Kapitalisten mit Weib und Kind zur jeweiligen Sünden­
bockgeneration erklärt werden, die physisch ausgerottet ge­
hört. Auf dem Überwissenschaftlichen wie auf dem Unterwis­
senschaftlichen gründet sich die unmittelbare Propagierungs­
möglichkeit des Kommunismus: dies wird zuerst gehört.
Gerechtigkeit ist ein transzendentaler Begriff, und wenn es
auch der Hunger ist, der den Proletarier die Forderung nach
Gerechtigkeit erheben läßt, er wird sie auch dann erheben,
wenn ihre Erfüllung ihm nur sehr wenig Nahrung verschafft.
Dagegen wird er umso lieber für sie kämpfen, wenn er in ihrem
Namenseine sadistischen Triebe befriedigen darf: der Ruf nach
Gerechtigkeit ist ein immanenter Bestandteil alles Menschli­
chen, und das sadistische Bedürfnis ist es gleichfalls, nämlich als
Bedürfnis zum Herabsinken ins Untermenschliche; aber beides
ist nicht auf den Proletarier beschränkt.
Ein etwas sonderbares und doch recht gewichtiges Gefühls­
130

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moment steht der Bejahung der kommunistischen Wirtschafts­
gerechtigkeit im Westen und vor allem in Amerika entgegen:
die wirtschaftliche Heroenverehrung, für die - ohne daß er sie
absichtlich gezüchtet hätte - in erster Linie der Intensivkapi­
talismus verantwortlich ist. Es ist durchaus bezeichnend, daß
überall in der Welt, wo Intensivwirtschaftsformen mit ihren un­
geheuren Wettbewerbsspannungen einsetzten, diese (einfach
weil der Mensch nicht mehr spannungslos zu leben vermag)
auch auf die Mußestunden übertragen werden; sozusagen gei­
stig hat dieser Sachverhalt zu der gewaltigen Spannungsindu­
strie geführt, deren zahmer Vorläufer der Detektivroman ge­
wesen ist und die als Kino, Radio und Television sich immer
noch weiter ausbreitet, während auf physischem Gebiet der
moderne Sportbetrieb mit seinen spezifischen Rekordspan­
nungen hier seinen Ausgang genommen hat. Und solcherart aus
der Wirtschaft entsprungen, wird dieser alle Lebensgebiete,
nicht zuletzt auch die Politik, durchdringende »Sportsgeist« zu­
rück auf die Wirtschaft angewandt und wird hier gleichfalls zur
Rekord- und Erfolgsanbetung. Die success story wird zur Na­
tionallegende, und die Großverdiener der amerikanischen Ex­
tensivperiode sind zu mythischen Gestalten geworden. Nur von
hier aus ist die befremdliche Gefühlsbeziehung zu verstehen,
die zwischen amerikanischer Demokratie und Kapitalismus
tatsächlich herrscht und durchaus danach angetan ist, die ihr
mangelnde theoretisch-wissenschaftliche Systematik zu erset­
zen. Allerdings, wenn der Kommunismus selber zur success
story werden sollte - und das zu werden, ist durchaus seine Ab­
sicht -, dann hat er auch alle Aussicht, jene Gefühlsbeziehun­
gen zu durchbrechen.

Man hat also zu unterscheiden zwischen jenen Völkern, welche


infolge ihrer Wertzersplitterung kommunismusreif sind (wenn
auch, wie in Amerika, unter gewissen psychologischen Ein­
schränkungen), und jenen, welche (wie das russische Volk sel­
ber) mit dem Kommunismus bloß ein stabiles Wertsystem
durch ein anderes ersetzen. Der Entschluß zum »Dienen«, der
den westlichen Menschen in zunehmendem Maße erfaßt und
ihn nach dem »richtigen« Totalitätsanspruch fahnden läßt, dem
er sich vollkommen ergeben kann, so Chesterton2 und Eliot3
dem Katholizismus oder Lawrence4 einem anonymen, schier
131

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nihilistischen Soldatismus (- Yeats’5 Gedicht vom irischen
Flieger -) oder den greisen Knut Hamsun6 sogar dem Nazis­
mus, ist ein Verzweiflungsentschluß, und er ist keineswegs, wie
man vielleicht denken könnte, auf die Intellektuellen be­
schränkt, vielmehr bilden diese nur die Exponenten echter Be­
wegungen, von denen eben die des Kommunismus die den
Massen erfaßbarste ist. Anders freilich verhält es sich bei den
östlichen Völkern, deren Wertsystem zwar durch die Berüh­
rung mit dem kolonisierenden Westen vergewaltigt wurde, die
sich ebendarum aber erst recht zu behaupten trachten: sie sehen
im Kommunismus vor allem bloß den russischen Bundesgenos­
sen, mit dessen (politischer) Hilfe sie nunmehr endlich hoffen
dürfen, ihrer Opposition den Sieg zu verschaffen. Daß die So­
wjets mit Völkerschaften, die in ihren Machtbereich geraten
sind und nicht vollständig parieren, aufs rücksichtsloseste um­
springen und sie zu Hunderttausenden »umsiedeln«, also ver­
nichten, diese Vorgänge hinter dem Eisernen Vorhang, an de­
nen die Gefährlichkeit der Bundesgenossenschaft sichtbar
werden könnte, bleiben entweder wirklich verborgen oder sie
werden kaum zur Kenntnis genommen, nicht nur weil jeder -
selbst die Juden glaubten den Nazis, die ihnen ein friedliches
Leben als »Gastvolk« versprachen-drohende Gefahren zu ba­
gatellisieren trachtet, sondern auch weil jeder gerne ein unbe­
kanntes Übel in Kauf nimmt, wenn er nur das bekannte, hier
das der Kolonialbedrückung, sich vom Halse schafft. Also fällt
die offizielle Nationalitäten- und Minoritätenpolitik, die von
den Sowjets allüberall, nicht zuletzt bei allen internationalen
Zusammenkünften mit viel Nachdruck und Geschick vertreten
wird und im Prinzip tatsächlich vorbildlich ist, weit mehr ins
Gewicht als ihre geheime Praxis.
Das soll nicht heißen, daß der Kommunismus nicht mit den
einzelnen nationalen und national-religiösen Wertsystemen
Asiens Fusionen nach Art seines jetzigen Bündnisses mit der
orthodoxen Kirche eingehen würde, falls dies seine Etablierung
erleichtern sollte. Fürs erste freilich werden in Moskau die
kommunistischen Propagandisten für die einzelnen asiatischen
Länder rein nationalistisch, d. h. freigeistig geschult, denn ein
Land, dessen Götter, d. h., dessen eigene Werte gebrochen
werden, hat geringere Widerstandskraft. Es ist ja nicht einmal
ausgemacht, ob die Fusion mit der orthodoxen Kirche über die
132

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Wiedereinrichtung des Patriarchats Konstantinopel hinaus Be­
stand haben wird; wenn die politische Leitung dann findet, daß
die mystischen Zusatzkräfte der Kirche damit ihren Dienst ge­
leistet haben und der Partei nichts mehr nützen, ja sie sogar ge­
fährden könnten, so wäre eine neuerliche blutige Kirchenver­
folgung ein Ausweg, der den Sowjets bloß selbstverständlich
wäre. Bis dahin jedoch ist trotz aller Elastizität der Sowjetpoli­
tik kaum anzunehmen, daß ein ähnliches Verhältnis zur römi­
schen Kirche in Betracht käme, und hinterher erst recht nicht,
da ja hiedurch der dem Kommunismus so überaus günstige Zu­
stand der westlichen Wertzersplitterung bloß beeinträchtigt
werden würde.

Was haben die westlichen Mächte diesem ungeheuren ideolo­


gischen Apparat entgegenzusetzen? Im Grunde nichts als die
Atombombe und auch die nicht mehr für lange. Und dabei war
sicherlich ein ausnützungsbereites ideologisches Kapital vor­
handen gewesen, und zwar in der Kriegspolitik Roosevelts, die
diesen mehr und mehr zu einem Wahrzeichen demokratischen
Willens für die Völker des Erdkreises gemacht hatte. Gewiß
war die Situation nach Einstellung der Feindseligkeiten kom­
plizierter, als er - wahrscheinlich - es sich vorgestellt hatte, und
es ist durchaus fraglich, ob er, bei all seiner Geschicklichkeit,
solcher Kompliziertheit Herr geworden wäre. Er hatte - wahr­
scheinlich - mit viel zu großem Vertrauen in die Russen sich
vorgestellt, sie würden die Jalta-Linie tatsächlich einhalten und
loyale Partner in den United Nations werden, während sie
schon längst vorher allüberall und nicht zuletzt in den Kolonial­
ländern (so besonders in Indien) ihre Agenten für sich arbeiten
hatten. Nichtsdestoweniger, selbst in diesen Ländern waren die
Augen der Völker damals noch auf Amerika als den großen
Befreier gerichtet, erwarteten sie von Amerika die Erfüllung
der Atlantic Charter, und wäre damit wirklich Ernst gemacht
worden, so wäre Rußland von vorneherein der Wind aus den
Segeln genommen worden. Statt dessen fielen die beiden Bom­
ben auf Japan: ein Humanitätsverbrechen, das zum initialen
Nachkriegssieg Rußlands wurde.
Wäre die Atombombe als internationales Schreck- und
Schaustück demonstriert worden, sie hätte nicht nur den glei­
chen desaströsen Effekt für den japanischen Kriegswillen ge­
133

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habt, sondern sie wäre auch zu einem ideologischen Positivum
geworden, das Propagandamittel der ebenso starken wie hu­
manen Demokratie, in deren Schutz sich die Völker gerne be­
geben hätten. Statt dessen hat die Bombe Amerika die asia­
tische Feindschaft eingetragen. Kann das noch durch
irgendeine - übrigens bisher noch nicht vorhandene - Ideologie
wettgemacht werden? Daß in Amerika viel von Weltföderation
und Weltregierung gesprochen wird, ist für niemanden ein
schlagkräftiges Argument, denn jedermann weiß, daß der Kon­
flikt mit Rußland eben um die Weltregierung geht: für die Rus­
sen sind all diese One-world-Bewegungen, die sie als offiziell
geförderte Propagandaorganisation betrachten, nichts anderes
als das Einbekenntnis der amerikanischen Weltherrschafts­
aspiration, und da ihre eigenen Regierungsmethoden auf Kon­
stitutionsbruch und Konstitutionsumgehungen aufgebaut sind
- an und für sich ist gegen die russische Konstitution nichts ein­
zuwenden -, so sind ihnen all die schönen Weltkonstitutions­
entwürfe (mit einigem Recht) leeres und aufreizendes Ge­
schwätz; für die andern Nationen jedoch und vor allem für die
asiatischen, selbst für die, welche noch nicht unter russischem
Einfluß stehen, hat die Fassade eines Friedenspalastes, hinter
der sie die Errichtung einer Kaserne vermuten, wenig Verlok-
kendes, umsoweniger als sie die United Nations - diesen dürfti­
gen Rest der Rooseveltschen Wünsche - vor Augen haben.
Und doch ist die United-Nations-Ideologie die einzige, die ge­
genwärtig noch eine Art praktikable Bedeutung hat. »One
world« ist noch keine Ideologie, sondern bestenfalls wishful
thinking.

Wer aber meint, daß sich nach dem Ableben Stalins alles zum
Guten wenden werde, macht sich eines analogen wishful thin­
king schuldig. Denn man kann zwar die kommunistische Nach­
folgerfrage mit den prätorianischen Cäsarenausrufungen ver­
gleichen, nicht minder aber mit den Papstwahlen, die bei aller
Unfehlbarkeit des neuen Statthalters Christi den Kurs der Ku-
rialpolitik höchstens um Nuancen ändern. Die päpstliche Poli­
tik ist im Detail flexibel, in ihren Grundlinien jedoch hart und
starr: ihrer Humanisierungsaufgabe bewußt, ist sie gegen den
Laiengeist mißtrauisch, ja intolerant, weil sie in ihm - und Hit­
ler hat das gerechtfertigt - den jederzeit möglichen Rückfall in
134

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heidnische Barbarei und Dehumanisation argwöhnt, und eben
dies macht sie auch gegen alle weltlichen Vorgänge, Regie­
rungsformen und -Veränderungen verachtungserfüllt-gleich-
gültig, fast erbarmungslos, so daß es ihr sogar gestattet ist, mit
exkommunikationsreifen, heidnischen Gegnern wie Hitler zu
paktieren, wenn sie sich dadurch erhoffen kann, den Baube­
stand der Kirche —besonders seitdem er in der Reformation ei­
nen so bedrohlichen Riß erlitten hatte - intakt zu erhalten und
durch anderweitige Seelengewinnung zu festigen. Und nicht
viel anders sieht es mit der Sowjetpolitik aus: von wem immer
sie geleitet sein wird, die übrige Welt befindet sich für sie in ei­
nem verächtlichen Laienzustand, mit dem man zur Not und un­
ter Zwang wohl paktieren kann, ohne daß jedoch von den eige­
nen ideologischen Grundlagen das Geringste preisgegeben
werden darf; an den dogmatisch ein für allemal festgelegten
Richtlinien der politischen Handlungsweise darf und wird für
lange Zeit hinaus nichts geändert werden.

Der Mangel an einer spezifisch demokratischen, westlichen


Ideologie ist nicht zuletzt an dem allenthalben wachsenden po­
litischen Einfluß der römischen Kirche zu erkennen: sie allein
besitzt eine logisch festgefügte, in ihrer Art sogar wissenschaft­
liche Ideologie, deren orthodoxe Starrheit sich mit der marxi­
stischen nicht nur messen kann, sondern sie sogar noch über­
trifft, und sie ist bereit, mit diesem Rüstzeug jedem und sogar
der von ihr wahrlich nicht geliebten Demokratie beizustehen,
soferne hiedurch die Verteidigung gegen den Bolschewismus
(einschließlich der orthodoxen Kirche und ihrer Rom-Feind­
lichkeit) gestärkt und zu einer Welteinheitsfront entwickelt
werden kann. In Frankreich und Italien gewinnen die katholi­
schen Parteien an Boden, in Österreich und Deutschland haben
sie ihren früheren zum Großteil bereits zurückgewonnen (sehr
gefördert durch die Halbheiten der nichtkommunistischen, so­
zialistischen Parteien), und da es eben dieser Block ist, mit dem
die amerikanische Politik ihren Widerstand gegen den russi­
schen Vormarsch zu organisieren hat, müssen auch seine Au­
ßenteile, die spanischen Fascismen der Alten und Neuen Welt
mitgenommen werden, dort den Flugbasen in den Pyrenäen zu­
liebe, hier zur Aufrechterhaltung des Panamerikanismus, bei­
des jedoch unter aktiver Mitwirkung der bedeutenden katholi-
135

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sehen Kräfte innerhalb der Vereinigten Staaten selber. Daß es
Rußland solcherart gelungen ist, die protestantischen Demo­
kratien in eine ihnen durchaus inadäquate, ihre Ideologie aufs
äußerste belastende Bundesgenossenschaft hineinzutreiben, ist
ein diplomatischer Sieg, dessen Früchte noch zur Reife gelan­
gen werden.
Die Korruption der öffentlichen Meinung in den demokrati­
schen Ländern gehört zu diesen Früchten. Gewiß, England hat
offensiven Imperialismus betrieben und hat ihn - politics stop
on the water edge - niemals mit den innenpolitisch geltenden
demokratischen Prinzipien in Einklang zu bringen vermocht,
eine Haltung, die sich nicht so rasch abstellen läßt, am wenig­
sten für ein Land, das sich in der Defensive befindet, doch noch
schwieriger wird das Problem für einen nicht-imperialistischen,
ja sogar bis jetzt isolationistisch gewesenen Staat, der nun
plötzlich eine seinen eigenen ideologischen Grundlagen entge­
gengesetzte Außenpolitik führen soll: hier greift die öffentliche
Meinung viel intensiver als in England ein und kann unter Um­
ständen geradezu lähmend auf die Außenpolitik wirken, so-
ferne sie nicht selber von letzterer gelähmt wird; die Schwarz-
Weiß-Manier des politischen Denkens ist in Amerika mehr
denn anderswo zu Hause, und die Gewöhnung der Öffentlich­
keit an einen Businesspartner vom Schlage Francos kann zur
moralischen Gewöhnung führen, nicht nur um der schwarz­
weißen Wohlgeordnetheit willen, sondern noch weit mehr weil
die Verlockung des Totalitären allüberall im modernen Leben
lauert. Und eben das wird von der Kurialpolitik in ihrem Be­
mühen um eine antibolschewistische Einheitsfront ausgenützt.
Nicht etwa daß der christkatholische Glaube heute mit Fascis-
mus identisch sei; aber die Kirche tut nichts gegen die Totalitär­
bedürfnisse des Menschen, und die ideologische Annäherung
der Demokratien an den Fascismus ist ihr sympathischer als
eine noch so milde Demokratisierung der katholischen Fascis-
men, obwohl sie eine solche recht gut zugunsten der Einheits­
front in die Wege leiten könnte, und obwohl sie den Fascismus
durchaus nicht als ihr Eigenkind - bloß die katholische Gottes-
gnaden-Monarchie ist es - betrachtet, ja manches in ihm, so
seine Hitler-Reste wie den Rassenantisemitismus usw., grund­
sätzlich verwirft. Warum nimmt sie ihn dann doch in Kauf? Vor
allem wohl zur Förderung eines Nebeneffektes, nämlich der
136

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Schwächung des hinter den Demokratien stehenden angelsäch­
sischen Protestantismus.

Das alles gilt aber nur für Europa. Abgesehen von Jerusalem
und den Philippinen hat die römische Kirche in Asien für die
Westmächte alle Bedeutung verloren. Die katholische Seelen­
gewinnung in China, eine der großen Hoffnungen Roms, ist
durch den Zusammenbruch der christlichen Generale auch der
amerikanischen Politik eine entschwundene Hoffnung gewor­
den. Soferne in Asien überhaupt noch etwas von der katholi­
schen Mission übrigbleibt, so wird das weit eher ein Band zum
Patriarchat Moskau als zum Westen hin werden. Der Westen
ist ideologisch isoliert.
Und jeder weitere Schritt zur Fascisierung oder Totalisierung
des Westens wird diese Isolierung verschärfen. Von der euro­
päischen Demokratie haben die asiatischen Völker bloß Kolo­
nialismus erfahren, und die Erwartungen, die sie auf die ameri­
kanische Demokratie während des Krieges gesetzt hatten,
wurden nur allzubald zerstört; eine Fascisierung des Westens
bedeutet also für sie bloß Weiterführung oder Wiederaufnahme
der alten Kolonialpolitik. Selbst das befreite Indien ist von sol­
chen Befürchtungen nicht frei, umsoweniger als es ein Haupt­
ziel der kommunistischen Agitation geworden ist: das Schlag­
wort von der echten »Volksdemokratie«, zu der sich der
russische Totalitarismus umgetauft hat, wird bei allen vom We­
sten unterdrückten Völkern stets seinen Dienst tun.
Utopie? Der russische Totalitarismus ist sicherlich keine Uto­
pie, der spanische Fascismus ist keine, ebensowenig sind es die
südamerikanischen Diktaturen, ja nicht einmal ein gaullisti­
sches Frankreich, das dann auch in Italien eine ähnliche Regie­
rung stark rechtskatholischer Färbung nach sich ziehen dürfte,
kann heute mehr als Utopie bezeichnet werden. Wahrhaft de­
mokratisch im alten Sinne fungieren heute neben England nur
noch Holland-Belgien und die skandinavischen Staaten, wäh­
rend in Amerika, das den ganzen Block Zusammenhalten soll,
sowohl aus diplomatisch-außenpolitischen wie aus ökono­
misch-innerpolitischen Gründen der Kampf um die Fascisie­
rung bereits längst eröffnet worden ist. Nein, es ist nicht Utopie
zu behaupten, daß aus der gegenwärtigen Situation ein Weltto­
talitarismus entspringen kann und vermutlich entspringen wird,
137

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dessen verschiedene, einander feindliche Nuancen sich zwar um
den marxistischen und den fascistischen Pol gruppieren werden,
um einander zu bekriegen, für den Historiker des Jahres 3000
aber ideologisch ebensowenig oder ebensoviel voneinander ab­
weichen dürften wie die Parteien der Grünen und Blauen in
Byzanz.
Und jener Historiker des Jahres 3000 wird vollkommen im
Recht sein; er wird ja auch kaum mehr irgendwelche Differen­
zen zwischen den Wirtschaftsformen der beiden Staatengrup­
pen entdecken können. Es mag sein, daß die Menschen des
Jahres 3000 bereits zur Einsicht gelangt sein werden, daß die
Wirtschaft mitsamt ihrer Güterverteilung keine Angelegenheit
von »Überzeugungen« ist, sondern wie die Technik einfach ein
System von Optimalproblemen darstellt, die ihre - vielleicht
nicht immer eindeutigen-Lösungsmöglichkeiten »objektiv« in
sich tragen, so daß die Wirtschaftsformen weit mehr von der je­
weils vorhandenen Gütermenge und ihrer Verwendungsbreite
abhängen als vom Verwendungswillen des wirtschaftlichen
Subjekts, kurzum daß der Mensch seit jeher - wenn auch mit
Weh und Ach - in der jeweils besten aller ökonomischen Wel­
ten gelebt hat, und daß unter solchem Aspekt auch die Diffe­
renzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht viel ande­
res als terminologische Schattierungen sind. Daß weder der
kapitalistische noch der sozialistische Wirtschaftsfatalismus
sich zu dieser letzten Konsequenz durchgerungen hat, ist nicht
unerklärlich: täten sie es, sie würden ihren Überzeugungscha­
rakter und damit ihre Selbstgewichtigkeit wie ihr Kampfver­
gnügen verlieren. Wird aber der Historiker des Jahres 3000 den
Welttotalitarismus von 1950 gleichfalls als eine derart fatali­
stische, man möchte wohl sagen jämmerlich fatalistische Funk­
tion auffassen müssen?
Gewiß, bis zu einem gewissen Grade ist alles in der Mensch­
heitsgeschichte determiniert. Aber selbst die materialistische
Geschichtsbetrachtung versucht das Moralische, das für sie in
der Revolutionsentscheidung liegt, dem ökonomischen Fatalis­
mus zu entlösen und dem freien Willen anheimzustellen, d. h.
aufzutragen: dahinter steht das tiefe, allgemeinmenschliche,
metaphysische Wissen um das Moralische, das dem freien Wil­
len aufgetragen werden kann (da sich einem determinierten
nichts auftragen läßt) und das den Menschen zum Sünder
138

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macht, wenn es nicht befolgt wird. Und genau so verhält es sich
mit dem totalitären Staats- und Lebensgedanken: mag er auch
dem Menschen durch den Zerfall seines Wertsystems und durch
seine Unsicherheit (von der die ökonomische ein Teil ist) auf­
gedrängt worden sein, mag er ihm also auch unausweichlich,
unentrinnbar zwingend erscheinen, es ist die Superversklavung,
zu der das Totalitäre ausartet, es ist der Terror, zu dem es sich
entwickelt hat und offenbar immer weiter entwickelt, eine mo­
ralische Sünde, deren Begehung und Nichtbegehung vom freien
Willen abhängt. M. a. W.: das Hitlerische im Totalitären ist
daran, ein Bestandteil der Weltideologie zu werden, soweit es
dies nicht schon, wie im Sowjetismus und Fascismus, geworden
ist.

Fünfter Teil (Totalitarismus)

Das Gespenst des Totalitarismus gleicht einer ungeheuren, die


bewohnte Erde einhüllenden Nebeldecke: über weite Flächen
hin sitzt sie bereits fest am Boden, mit den heute noch nebel­
freien mag es in Kürze ebenso ergehen. Wo der Nebel festsitzt,
da herrscht Ordnung, die Nebel-Ordnung der Laterne, die
Ordnung der kurzen Sicht, den Menschen vom Nebenmen­
schen isolierend, die unmenschliche, fast anarchische Ordnung
der Dinghaftigkeit. Aber ist es nicht besser, in die Ordnung der
Dinghaftigkeit eingespannt zu sein, als die eigene Anarchie se­
hen zu müssen? Gespensterhaft erzeugt der Mensch seine Ne­
bel.

Eine Ordnung, die mit jedem Tag wechseln kann, ist keine.
Wenn der Mensch seine Sozialrelationen zur Ordnung bringt,
wünscht er die heutige morgen wiederzufinden; Ordnungssi­
cherheit gibt es bloß bei zeitlicher Dauer, und hiezu bedarf es
eines zeitüberdauernden Ordnungsapparates, eines »Tradi­
tionsapparates«, in dem die geordneten menschlichen Hand­
lungen sich vollziehen und von dem sie (gesetzlich) geregelt
werden; als solche Apparate - die ebensowohl Kegelklubs wie
Staaten sein können - hat der Mensch seine handlungsbestim­
menden Institutionen geschaffen. Wo eine lebendige Ord­
nungstradition vorhanden ist, da darf damit gerechnet werden,
daß für all die möglichen Wechselfälle der Zukunft der (gesetz­
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gebende) Traditionsapparat der Institutionen die initiale Ord­
nung- so in den antiken Staaten oder im englischen - auch ohne
ausdrücklich gesetzte Normungen wahren wird; wo jedoch eine
solche Tradition fehlt, da muß sie durch einen Normungsakt,
durch eine »Konstitution« inauguriert werden.
Allerdings ist auch der normsetzende Konstitutionsakt nicht
völlig traditionsfrei; er muß sich auf unbedingte, auf axioma-
tische »Plausibilitäten« stützen. In einer absoluten Monarchie
z. B. reduziert sich der Konstitutionsakt auf die Inthronisierung
der Dynastie, da von hier aus gefolgert wird, daß sowohl der in­
thronisierte Herrscher wie seine Nachkommen Gesetzgebun­
gen vornehmen werden, welche einer gottgewollten Ordnung
entsprechen; indes, die Untertanen hätten solche Folgerung nie
und nimmer akzeptieren können, wenn ihnen das »Gottesgna-
dentum« des Herrschers und seiner Deszendenz nicht eine
Voraussetzung absoluter Plausibilität gewesen wäre. Und diese
sonderbar plausible Mystik ist auch in die anscheinend so ratio­
nalen Konstitutionen der Demokratien eingegangen. Daß die
Menschen allesamt als gleich und frei geboren sind, ist eine zwar
plausible, dennoch mystische Annahme, zu deren Stützung man
sich noch wahrlich am besten auf die göttliche Ebenbildhaftig­
keit des Menschen und somit auf ein Gottesrecht berief, wäh­
rend das an seine Stelle getretene Naturrecht (ganz zu schwei­
gen von der Farce mit der »Göttin der Vernunft« in der
Französischen Revolution) ein eher dürftiger Abklatsch davon
ist, wenn es nicht gelingt, es auf eine völlig neue Basis zu stellen.
Nicht viel weniger mystisch ist der Glaube an das »Volk« und
an die Volksmajorität, die nunmehr (und sei es nur mit der
Mehrheit einer einzigen Stimme) der Träger des Gottesgna-
dentums und seiner unumstößlichen Weisheit geworden ist.
Für die amerikanische Republik sind diese mystischen Plausi­
bilitäten zum Hauptteil in der Unabhängigkeitserklärung nie­
dergelegt, für die europäischen Staaten sind sie zumeist Konsti­
tutionspräambeln, doch da wie dort ist ihnen die Funktion von
zeitüberdauernden, also unanfechtbar normativen Richtlinien
zugedacht.

Die Demokratien der Neuzeit sind durchwegs aus der revolu­


tionären Niederwerfung monarchischer Tyrannei hervorge­
gangen, und darum waren die Menschenrechte ihnen von einer
140

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Plausibilität, der gegenüber die gottesrechtliche (und später die
der Begründung im Naturrecht) fast wie ein überflüssiges An­
hängsel erschien. Daß diese normativen Richtlinien als Rechts­
gut je von irgendwem anders als von einem verbrecherischen
Tyrannen angezweifelt oder angetastet werden könnten, war
schlechterdings unvorstellbar, und so hieß es bloß - dies der
Zweck der amerikanischen »Bill of Rights« -, sie vor den An­
schlägen einer etwa neuaufflammenden Regierungstyrannis zu
schützen.
Die Demokratien wurden hiedurch zu einem Ausnahmefall,
ja geradewegs zu einem Fall staatsrechtlichen Leichtsinns. Seit­
dem sich Juristen mit Staatsformen beschäftigen, sind die nor­
mativen Richtlinien des Staates wohl immer als schutzpflichti­
ges Gut angesehen worden. Ob der Sokrates-Prozeß bereits
unter die Kategorie dieser juristischen Schutzmaßnahmen fällt,
sei dahingestellt, doch sicherlich fällt das Problem der römi­
schen Kaiserbüsten darunter, deren Verehrung, auch wenn sie
bloß eine formale war, zu den Grundlagen des römischen Im­
periums gehörte. Nun ließe sich zwar einwenden, daß diese
Kaiservergottung selbst schon für den Römer und erst recht für
ein Fremdvolk vom Schlage der Juden so überaus unplausibel
war, daß sie eben erzwungen werden mußte, indes der Zwang
wurde auch dort keineswegs geringer, wo die Staatsgrundlagen,
wie im Mittelalter, höchste Plausibilität besaßen: der mittelal­
terliche Staat wollte und sollte die symbolisch-irdische Spiege­
lung des vom Nachfolger Petri regierten geistig-geistlichen
Universalstaates sein, und er beruhte daher gleich diesem auf
unbedingtem Gottesglauben und unbedingter Katholizität, aus
der allein sich die weltliche Macht des Gottesgnadentums her­
leitete; das stand in Plausibilität unerschütterlich fest, und
trotzdem war es keineswegs nur Sorge um das Seelenheil des
einzelnen, wenn Kirche und Staat miteinander in Ketzerverfol­
gung wetteiferten, vielmehr ging es dabei weitgehend um die
Intaktheit der normativen Richtlinien, nach denen gleicher­
weise der geistliche wie der weltliche Staat aufgebaut war.
Was als des sogenannt »dunklen« Mittelalters Intoleranz be­
zeichnet wird - Dunkelheit ist da übrigens eine sehr einseitige
Beurteilung -, beruht vornehmlich auf jenem Schutz der nor­
mativen Richtlinien, während umgekehrt deren Ungeschützt-
heit die »Toleranz« der Demokratien ausmacht und sie zu Aus­
141

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nahmefällen stempelt: sie sind gerne geneigt, diese Einzigkeit
als Endgültigkeit zu nehmen und in solchem Stolz sogar zu ver­
gessen, daß ihre eigenen Richtlinien (auch wenn sie ins Natur­
rechtliche umgetauft werden) nicht minder mystisch als die
darin weitaus folgerichtigeren und logischeren des Mittelalters
sind. Und besonders gerne vergessen sie, daß aus ihrer Struktur,
also offenbar nicht ohne deren Schuld, sich die Richtlinien der
Totalitarismen und Fascismen entwickelt haben.
Die ursprüngliche demokratische Toleranz des Marxismus
wurde durch seine leninistische Umwandlung aufgehoben. Die
normativen Richtlinien des Sowjetstaates sind zwar noch man­
chen Schwankungen und Präzisierungen ausgesetzt, haben aber
jedenfalls ihre Grundlage in der Hegelschen Dialektik, d. h. in
der Mechanik des ins Materiale konvertierten »Weltgeistes«,
dessen deistische Ursprünge infolge dieser Unkehrung ver­
schwunden sind; jedenfalls ist diese Fundierung haltbarer als
die rein demokratische, die sich auf Gott berufen müßte und
sich doch nicht dazu entschließen kann. Ausgestattet mit dieser
Grundlage und ihrer spezifischen Scholastik, hat der Sowjet­
staat die mittelalterliche Tradition des Richtlinienschutzes wie­
der voll aufgenommen: wer nach der Meinung der Partei, also
der Instanz, der die Obsorge für die Einhaltung der Richtlinien
anvertraut ist, gegen diese auch nur im geringsten verstößt (und
sei es auch auf den politikfremdesten Gebieten), der ist ein
Ketzer, der keiner Toleranz würdig ist, da er die Gesamtheit
gefährdet; er gehört ausgerottet.

Ein Totalitärstaat ist demnach ein solcher, dessen normative


Richtlinien unter strafrechtlichem Schutz stehen.
Für den mittelalterlichen Totalitärstaat war das Gottesgna-
dentum logische Notwendigkeit, weil das göttliche Recht, auch
wenn es in der einmaligen Offenbarung begründet war, einer
ständigen Weiterentwicklung im Irdischen bedurfte, und die
hiezu gehörigen Entscheidungen bloß von einem getroffen
werden konnten, den Gott selber aus der Masse der Sterblichen
herausgehoben und zu solchem Amt berufen hat, auf daß er da­
selbst zum Mundstück des Heiligen Geistes werde: als logische
Konstruktion ist es die nämliche, welche die Existenz Christi als
heilsbringerische Funktion erfordert, und angesichts dieser ein
für allemal statuierten Mittlerschaft durfte alles Weitere durch
142

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Delegation erfolgen, d. h. die Mittlerschaft ging durch Petrus
auf die Reihe der Päpste über, und durch die kirchliche Salbung
wurde der Herrscher zu seiner weltlichen Berufung sanktio­
niert. Der Delegierte ist aber kein Heilsbringer mehr. Es wird
zwar angenommen, daß er kraft der Delegation immer im Rah­
men der göttlichen Richtlinien handeln und entscheiden werde
- gerade darauf stützt sich das (allerdings sehr späte) päpstliche
Unfehlbarkeitsdogma7-, doch darüber hinaus bleibt der Dele­
gierte ein dem Irrtum verfallener irdischer Mensch; das gilt ins­
besondere für den Laienstand und demzufolge für den weltli­
chen Herrscher. M. a. W., trotz Salbung vermag der Herrscher
von den ihm vorgeschriebenen Richtlinien abzuweichen, und
wenn das geschieht, so verwandelt sich die göttliche Ordnung
in menschliche Willkür, verwandelt sich die Institution des ab­
soluten Königtums in Tyrannis, die sich eben an solcher Ver­
kehrung der normativen Richtlinien definiert. Der mittelalter­
liche Staatsaufbau und mit ihm die Kirche rechnete stets mit der
Möglichkeit von Tyrannis; für die Kirche war der Tyrann ein
Sünder, der seine Sünden im Jenseits abzubüßen hatte, aber er
blieb trotzdem der Gottgesalbte, freilich ein Beklagenswürdi­
ger, weil er gesendet worden ist, um durch seine Untaten die
Menschen zu strafen und sich dabei selber strafwürdig zu ma­
chen, so daß nur in ganz extremen Fällen mit Exkommunika­
tion gegen ihn vorgegangen werden konnte.
Indem der Sowjetstaat die mittelalterliche Tradition wieder
aufnahm, mußte er auch das Risiko der Tyrannis wieder auf­
nehmen. Die normativen Richtlinien des Sowjetismus sind ein
abstraktes Dogmengebilde wissenschaftlicher Prägung (dessen
theologische Absolutheitsursprünge kaum mehr sichtbar sind),
und ihr Schutz wurde einem Kollektivum übergeben, nämlich
der »Partei«. Nominell steht die Partei an der Stelle des mittel­
alterlichen Herrschers; sie ist eine Kollektivperson, gebildet aus
einer Bevölkerungsminorität, und in gewissem Sinn ist sie
gleichfalls gottesgesalbt, denn wenn sie auch eine »Kaste« ist,
die angeblich für jeden Befähigten aufnahmebereit ist, so ist sie
doch auch infolge des Marxschen Proletariatsglaubens weitge­
hend Geburtskaste, die sich überdies - selbst nach Proletarisie­
rung der Gesamtbevölkerung - geradezu notgedrungen immer
mehr bürokratisiert und in sich selbst abkapselt, also Minorität
bleiben will. Damit ist mit dem (freilich nicht minder mysti-
143

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sehen) demokratischen Majoritätsprinzip radikal gebrochen.
Die Partei ist absolut; sie soll sich wie der absolute Herrscher
an die ihr vorgeschriebenen Richtlinien halten, aber sie kann
auch »sündigen« und wird nicht zur Verantwortung gezogen.
Ihre »Diktatur« steht stets am Rande der Tyrannis, ja ist im
Grunde nichts anderes als deren moderne Form.

Nach außen hin absolut und diktatorisch, will die kommunisti­


sche Partei innerhalb ihres Gefüges - als Rest der alten Marx-
schen demokratischen Anschauungen - das Majoritätsprinzip
gelten lassen; m. a. W., der mystische Glaube an die Majoritäts­
weisheit wird auch hier mobilisiert, nämlich mit der Absicht,
ihm die Reinerhaltung der (Marxschen) normativen Richtlinien
anzuvertrauen, auf daß die Diktatur niemals in Willkür und Ty­
rannis ausarte. In seinem leninistischen Grundplan ist also der
Sowjetismus eine Diktatur mit demokratischem Überbau,
theoretisch eine fast ideale Lösung. Warum mußte sie im Prak­
tischen so erbärmlich versagen? Warum mußte sie zu einer
Diktatur mit diktatorialem Überbau werden? Gewiß, Macht
korrumpiert, und eine Parteimacht, die zur Etablierung ihrer
Herrschaft einen See von Blut durchschritten hat, ist doppelt
korrumpierbar, denn nicht nur - und das ist der konkrete Kern
dieser ansonsten viel zu allgemeinen Erklärung -, daß eine Mi­
noritätsgruppe, welche durch Gewalt zur Herrschaft gelangt ist
und durch Gewalt sich zu behaupten hat, hiefür keine demo­
kratische, sondern bloß eine militärisch-hierarchische Intern­
organisation brauchen kann, sie wird eben diese auch benützen,
um ihre innern Meinungsverschiedenheiten mit Hilfe von Ge­
walt auszutragen, wobei diejenigen, welche den Machtapparat
bereits befehligen, weitaus im Vorteil sind. Außerdem jedoch
- und das ist noch ausschlaggebender - ist die Parteileitung mit
der Staatsleitung identisch und ist daher geradezu gezwungen,
die an sich autonomen, realitätsbedingten Staatsinteressen ge­
genüber den mehr oder minder ideologischen Parteiinteressen
(so im Kampf Stalins gegen Trotzkij) in die Waagschale zu wer­
fen. Die Tyrannis, in die der moderne Totalitärstaat solcherart
übergeht, ist infolge ihrer Abstraktheit unvergleichlich katego­
rischer und inhumaner als jedwede andere, welche die Weltge­
schichte, sei es in der römischen Kaiserzeit, sei es im Mittelalter,
hervorgebracht hat.
144

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Nichtsdestoweniger muß an der demokratischen Fassade der
Partei als Ausdruck einer legendären Volksmajorität strikte
festgehalten werden. Denn ohne diese wenigstens fiktive My­
stik des Volkswillens gäbe es keinen Ersatz für das Gottesgna-
dentum der herrschenden Clique und ihres Führers. Gleich dem
Gesalbten des Herrn handelt er in höherm Auftrag, und die
Gewalt, mit der er seine Herrschaft befestigt, ist für ihn wie ein
Gottesgericht, aus dem er siegreich hervorgegangen ist. Alles
andere und insbesondere die Ideologie samt ihren normativen
Richtlinien, zu deren Hüter er sich emporgeschwungen hat, be­
trachtet er als ein fast überflüssiges Beiwerk. Und eben dies ist
die Einstellung, die von den eigentlichen Fascismen aufgegrif­
fen wird: durch Gewalt und Volksakklamation emporgekom­
men, haben sie überhaupt keine andere Ideologie mehr, son­
dern begnügen sich - sozusagen in völliger Nacktheit - mit
diesem einzigen pseudomystischen Akt, umsomehr als sie ihn
beliebig oft wiederholen lassen können; ihre normativen Richt­
linien bestehen ausschließlich in den willkürlichen Entschei­
dungen des Führers, und der ihm zu zollende Gehorsam ist das
Staatsgrundgesetz an sich, ja das einzige invariable Gesetz, aus
dem alle andern erfließen, so daß jede Übertretung eine mittel­
bare Mißachtung des Führerbefehls ergibt und daher unter To­
desstrafe gestellt werden kann. Ebenhiedurch ist hier auch die
Verschwisterung von Partei und Staat viel inniger als im So­
wjetismus; es geht einfach um die Staatsmacht an sich, und die
Totalitärorganisation des Staates ist nicht wie dort ein Mittel
zum Zweck, sondern ist primärer Zweck. In den praktischen
Resultaten läuft das zwar auf das nämliche hinaus, doch theore­
tisch ist der Fascismus gewissermaßen die »reinere« Form; er
ist die Tyrannis an sich.

Die mystischen Gründe, um derentwillen Fascismen und Dik­


taturen sich auf die Volksakklamation berufen und sich als die
wahren »Volksdemokratien« ausgeben müssen, haben eine
eminent praktische Bedeutung. Denn das Denken, Fühlen,
Handeln der Masse ist im Mystischen, ja sogar im Magischen
verankert. Sie glaubt an Omnipotenzen, und sie glaubt umso­
mehr daran, je mehr sie sich mit ihnen zu identifizieren vermag.
Der Mann in der Masse handelt gegen seine rationalen Überle­
gungen irrational, und mag er als Einzelperson einen Hitler
145

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oder Stalin ablehnen, er ist, sobald er sich in der Masse befindet,
stets bereit, jedem sein Vertrauen zu schenken, dem diese zuju­
belt.
Das innere Sein und Denken der Einzelperson liegt außerhalb
des Staates, und sie ist daher für ihn und erst recht für seine
vollkommenste Form, den Totalitärstaat, »Ausland«, und zwar
potentielles »feindliches Ausland« ; er hat daher das begreifli­
che Bestreben, das Individuum auszulöschen und es in der
Masse aufgehen zu lassen. Dem Prozeß solcher »Vermassung«
dienen zwei Hauptmittel: Propaganda und Terror, sowie die
Ausrichtung der Gesamtbevölkerung gegen einen gemeinsa­
men »Feind«, der hiezu u. U. eigens erfunden werden muß,
aber auch ohneweiters erfunden werden kann.
Das Propagandainstrument des mittelalterlichen Totalitär­
staates war die Kirchenkanzel. Aber die Kirche durfte nicht
»Vermassung« anstreben, sie hatte - und dieser ursprünglichen
christlichen Humanitätsaufgabe blieb sie trotz ihrer vielen
Schwankungen treu - für die Einzelseele zu sorgen; ihr Ziel lag
nicht in der Bildung von Massen, sondern in der zur »Ge­
meinde«, also in einer Gruppenbildung, welche die Einzelper­
sönlichkeit intakt läßt. Hierauf ist es wohl, wenigstens teilweise,
zurückzuführen, daß keine der mittelalterlichen Tyrannisfor­
men zu jener noch immer unvorstellbaren Barbarei gediehen
sind, deren sich die modernen Diktaturen schuldig gemacht ha­
ben und schuldig machen. Das hindert nicht, daß im Mittelalter
gleichfalls aufs kräftigste sowohl von der weltlichen wie von der
geistlichen Macht - die Kirche war eben auch Institution und
darin weltlich —mit Terror gearbeitet worden ist, umsomehr als
das Heidnische noch keineswegs erloschen war und daher in
Gestalt des Teufels den stets bekämpfbaren und überdies lo­
gisch notwendigen Gottesfeind abgab. Nichtsdestoweniger, der
eigentliche Terror, also Inquisition, Ketzerverbrennungen,
Hexenverfolgungen waren in der Hauptsache nachmittelalter­
liche Erscheinungen und fielen in eine Zeit, in der die Stellung
der Kirche als alleiniger Zentralwert bereits zu wanken begann.
Ob Propaganda oder Terror, ihrer beider moderne Fassung
unterscheidet sich von der mittelalterlichen durch den Mangel
normativer Richtlinien: sie dienen beide der nackten Willkür
und ihrer Sprunghaftigkeit; da die Diktaturen im letzten nichts
als sich selbst vertreten und eben hiefür prinzipien- und stand­
146

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punktlos sein müssen, also eine rüdeste Realpolitik treiben, die
sich mit den täglichen Erfordernissen immerzu ändert, ist das
Widerspruchsvolle geradezu ihr Lebenselement und hat auch
ihre Propaganda danach eingerichtet, d. h. wendet sie unge-
scheut und mit stets gleicher Uberzeugungsstärke auf die wi­
derspruchsvollsten Entscheidungen und Handlungen an, und
da es in solch kontradiktorischem Wirbel kein Gut und kein
Schlecht gibt, also keiner ein wirklicher Ketzer sein kann, wird
der Terror einfach wahllos und unverhohlen um seiner selbst
willen ausgeübt. Trotzdem wirkt diese Art der Propaganda, und
zwar nicht anders wie ihre harmlose Vorgängerin, nämlich die
(von der Intensivwirtschaft benötigte) kommerzielle Reklame,
die auch von niemandem geglaubt wird und doch die Verkaufs­
ziffern hinauftreibt. Und gerade der wahllose Terror wirkt
grauenhafter als jener alte, der sich noch gegen »Schuldige« ge­
richtet hatte, denn schuldig wird nun jeder, der vom Terror ge­
troffen worden ist; ob der Feind »Kapitalist« oder »Jude«
heißt, wird dabei zunehmend belangloser, vielmehr geht es um
die Feind-Kategorie an sich, die nicht aussterben darf und da­
her vom Terror immer weiter mit neuen Opfern frisch aufgefüllt
wird, weil gerade damit die Diktatur - die sich in diesem Zu­
sammenhang auch »Revolution in Permanenz« nennt - ihre
Daseinsberechtigung propagandistisch zu beweisen trachtet
und schließlich auch hiefür Glauben findet: das Ruhebedürfnis
des Menschen grenzt immer an Gleichgültigkeit, und wenn er
unter ständigem Propaganda- und Terrordruck lebt, geht sie in
eine Abgestumpftheit über, die ihn am Ende alles glauben läßt,
was man ihm vorschreibt.

Jeder Staat wird im Kriegsfall totalitär, und die Totalitärstaaten


sollten daher von vornherein die besten Kriegsmaschinen sein;
in den beiden Weltkriegen wurden sie aber trotzdem von den
ad-hoc-Totalitarismen der Demokratien geschlagen.
Man kann aber die kriegerische Überlegenheit der Demokra­
tien nicht zur allgemeinen Regel machen. Im Vergleich zwi­
schen Napoleons m. Frankreich und dem Bismarckschen Preu­
ßenstaat scheint sich die Waage des Liberalismus immerhin
noch jenem zuzuneigen, und doch wurde es von diesem besiegt.
Und daß für die maßlosen Schrecken eines dritten Weltkrieges
eine totalitäre Staatsstruktur gewisse Vorteile besitzt, kann
147

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kaum bezweifelt werden; für Kriegstriremen braucht man Ga­
leerensklaven.
Denn vor allem muß berücksichtigt werden, daß der moderne
Krieg, ja vielleicht nur er die unbedingte Anwendung techno­
kratischer Prinzipien erfordert. Idealistische Technokraten -
und es gibt deren sowohl solche kapitalistischer wie sozialisti­
scher Richtung - behaupten zwar, daß ihre Lehre die Heilsbot­
schaft für die friedliche und glückliche Entwicklung der
Menschheit in sich trage, aber es verhält sich damit genauso wie
mit dem Kapitalismus und dem Sozialismus selber: man kann
ebensowohl mit einer kapitalistischen wie mit einer soziali­
stischen Wirtschaft in den Totalitarismus hineingeraten - und
gerade der heutige Weltzustand spricht für beides -, aber man
kann auch mit beiden Wirtschaftsformen zu einem Maximum
menschlicher Freiheit gelangen, soferne ein allgemein humaner
Wille, eine allgemein humane Moral - die freilich heute fehlt
- hiefür vorhanden ist. M. a. W., Technokratie mag sehr wohl
zur Einrichtung einer humaneren Welt verwendet werden, aber
sie zwingt nicht dazu, vielmehr ließe sich behaupten, daß sie
eine zumindest ebenso große Affinität zum Totalitarismus be­
sitzt: denn Technokratie ist unbedingte Sachgebundenheit; sie
bemüht sich, die Logik der Dinge zu erforschen, um aus dieser
die richtige soziale Verhaltensweise zu gewinnen - beispiels­
weise die Entscheidung für kapitalistische oder sozialistische
Bewirtschaftung der einzelnen Produktionszweige -, aber in
gewissem Sinn tut der Totalitarismus das nämliche, indem er
den Staat als technisches Gebilde in die Betrachtung ein­
schließt. Kurzum, sowohl die Maschinentechnik wie die Insti­
tutionstechnik, diese das Objekt des totalitären Denkens, jene
das der eigentlichen Technokratie, sie sind beide Menschen­
werk, und wenn man das Menschenwerk vom Menschen loslöst,
um umgekehrt dessen »richtiges« Verhalten daraus abzuleiten,
so entsteht ein Zirkel, aus dem das Menschliche als solches ge­
radezu automatisch ausscheidet.
Es spricht vieles dafür, daß ein strikt technokratisch geleitetes
Gemeinwesen zu anderwärts unerreichbaren materiellen Lei­
stungen gelangen wird, doch mit zumindest ebenso großer Si­
cherheit ist zu erwarten, daß dieses Rekordgemeinwesen ein
totalitäres sein wird.

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Sechster Teil (Anarchie)

Sowohl Totalitarismus wie Demokratie setzen die Gleichheit


des Menschen voraus, diese in radikaler Auflehnung des Indi­
viduums gegen die Institution und daher mit dem Ziel allgemei­
ner Freiheit, jener in radikaler Unterwerfung unter die Institu­
tion und daher mit dem Ziel allgemeiner Unfreiheit. In beiden
droht die Anarchie, im ersten Fall die Anarchie der Staatsinsti­
tution, welche nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleich­
heit aufhebt, weil eine omnipotente Führerschicht und Büro­
kratie notwendig wird, dahingegen im zweiten Fall einerseits
die Anarchie des Individuums, andererseits die jener nicht­
staatlichen, sozusagen »privaten« Unterinstitutionen, vor allem
z. B. der wirtschaftlichen, zu deren Errichtung das »freie« Indi­
viduum sich berechtigt fühlt, und die nun ihrerseits an Stelle des
totalitären Staates die Versklavung vornehmen.
Da die Demokratie nicht volle Anarchie werden darf, also ab­
gesehen von ihren Unter- und Zwischeninstitutionen auch die
Institution des Staates beibehalten muß, beibehalten will, ist sie
im Vergleich mit dem viel radikaler und einfacher konstruierten
Totalitärstaat ein Zwittergebilde: dem ständig wachsenden Be­
dürfnis der Menschen nach einem neuen ruhespendenden Zen­
tralwert, dem zuliebe sie auch ihre anarchischen Individualbe­
strebungen aufzugeben bereit sind, wird durch den Totalitaris­
mus eine simple und eindeutige Befriedigung geboten,
allerdings um den nicht geringen Preis völliger Versklavung; die
Demokratie möchte unter Weglassung der Versklavung - de­
ren Bekämpfung ihr Daseinsgrund ist - das nämliche bieten,
und das macht ihre Zwiespältigkeit aus. Wird sie, belastet mit
solcher Antinomie, sich da gegen den Totalitarismus behaupten
können?

Der Totalitarismus hat - zumindest theoretisch - im Sowjetis­


mus eine ideale Staatskonstruktion gefunden: Diktatur mit de­
mokratischem Überbau. Auch die demokratische Staatsform
hatte einstmals ihre ideale Struktur: Demokratie mit diktatori­
schem Überbau, wobei dieser durch die Christengläubigkeit
und deren feststehende Moral geliefert wurde. Heute ist die
Demokratie ein Gebäude ohne Dach, aber es mag ihr ein Trost
und vielleicht sogar eine Chance sein, daß dem Marxschen To­
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talitärstaat infolge seiner Verwandlung in nackte Diktatur et­
was Ähnliches geschehen ist; auch er hat kein Dach mehr oder
bestenfalls nur ein sehr flaches.
Betrachtet man den theoretischen Sowjetaufbau genau, so
kann man nicht umhin, seine wohlausgewogene Subtilität zu
bewundern: die Masse des politisch noch nicht reifen Volkes
steht unter dem edukatorischen Diktat der Partei (in die es al­
lerdings in zunehmendem Maße hineinwachsen soll), und diese
agiert ihrerseits auf scheinbar demokratischer Basis, wobei
freilich die normativen Richtlinien ihres Handelns durch die
Wissenschaftlichkeit der Marxschen Lehre ein für allemal fest­
gelegt sind; daß hinter dieser auch noch eine mystische Abso­
lutheit steht, nämlich der ins Materiale gewendete Hegelsche
Weltgeist, und daß auch das Vertrauen zu der innerhalb der
Partei wirkenden Majoritätsvernunft (abgesehen von Wahr­
scheinlichkeitsüberlegungen) mystische Wurzeln hat, ist in dem
Gesamtaufbau so peripher geworden, daß eine eigentliche Be­
rufung auf ein göttliches oder Naturrecht kaum mehr nötig er­
scheint, obwohl es im Prinzip der »sozialen Gerechtigkeit«
noch immer durchschimmert und seine guten Dienste, insbe­
sondere für Propagandazwecke, tut.
Der theoretische Kommunist hält nach wie vor an dieser
Struktur fest und meint, daß sie trotz ihrem gegenwärtigen Ver­
fall spätestens nach erfolgter Weltrevolution wieder zur Akti­
vierung gelangen könnte. Doch wie immer dem auch sei oder
sein wird, es ist eine Struktur, die in ihrer Vielschichtigkeit die
ganzen Mängel der simplen Zweigeschossigkeit Demokratie-
Naturrecht zutage treten läßt: entweder muß die Demokratie
zu ihrer klaren Verwurzelung im göttlichen Recht zurückkeh­
ren - aber staatliche Maßnahmen sind das schlechteste Mittel
zur Wiedererweckung von Glaubenshaltungen und ihrer Plau­
sibilität -, oder sie muß trachten, gleich dem Sowjetismus sich
der Fiktion des Naturrechtes, das ein bloßer Ersatz ist, zu entle­
digen, und versuchen, ihre normativen Richtlinien auf andere
- wissenschaftlichere —Weise zu begründen: der demokratische
Praktiker möge dies für überflüssig halten, aber die Kurzlebig­
keit all der Diktaturen, die ohne theoretische Stütze lediglich
der Tagespolitik dienen, darf als Gegenbeweis angeführt wer­
den.

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Immerhin, die Demokratie behauptet, bereits in einem Zustand
zu sein, der vom Sowjetismus erst angestrebt wird: sie erachtet
ihre Mitglieder für politisch allesamt gleichmäßig reif (höch­
stens annehmend, daß etwaige Reifeabstufungen sich automa­
tisch ausgleichen) und kann daher auf »die« Partei verzichten,
welche als interndemokratische Führerschicht über das übrige
Volk gesetzt ist und ihm diktiert. Nichts wäre also unange­
brachter als eine Übertragung der Sowjetstruktur auf demo­
kratische Verhältnisse, und sollte etwa dagegen eingewendet
werden, daß in diesen ein Organ fehlt, das - wie eben »die Par­
tei« - über die Reinheit der normativen Richtlinien zu wachen
hat, so scheint das eine Aufgabe zu sein, mit der in einer richtig
funktionierenden Demokratie ohneweiters die normalen ge­
setzgebenden Körperschaften sowie der oberste Gerichtshof
betraut werden können. Was wahrhaft fehlt, ist die exakte For­
mulierung dieser Aufgabe.
Denn je mehr die Demokratie sich säkularisiert, desto mehr
hat es den Anschein, als würde sie vor einer Auseinanderset­
zung mit ihren Absolutheitsgrundlagen zurückscheuen, mehr
noch, als würden diese geradezu geflissentlich mit ihren Effek­
ten verwechselt werden: weil die Demokratie kraft ihres initia­
len, gegen die Versklavung des Menschen gerichteten Impetus
Meinungs- und Redefreiheit hervorgebracht hat, ist die Ansicht
entstanden, daß sie nichts anderes als Meinungs- und Redefrei­
heit sei, auch wenn damit Mißbrauch getrieben und die Wie­
derversklavung des Menschen gefordert wird, ja daß das Zu­
standekommen eines derartigen absurden Majoritätsbeschlus­
ses, der die Selbstaufhebung der Demokratie bedeuten würde,
von ihr widerstandslos hingenommen werden müsse. M. a. W.,
die Mystik des Glaubens an die absolute Vernunft der Majorität
hat den Sieg über die Mystik der normativen Richtlinien und
deren absolute Invarianz davongetragen, und das Resultat ist
hemmungsloser Relativismus, ein Relativismus, in dem sich so­
gar die Grenzen zwischen Normal und Abnormal, zwischen
Gesundheit und Krankheit verwischen: »normal« ist das, was
die Majorität will (und sei es auch nur mit der Mehrheit einer
Stimme), und wenn man einstmals geglaubt hatte, es könnte
niemals eine Majorität so pathologisch abnorm sein, daß sie für
einen Verzicht auf die Menschenrechte und eine Selbstaufhe­
bung der Demokratie stimmen werde, so hat das deutsche Bei­
151

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spiel gezeigt, wie leicht sich hiefür eine Majorität finden läßt.
Und dies eben ist das Wesentliche, wenn die demokratische
Gesetzgebungsmaschinerie den Schutz der normativen Richtli­
nien, deren Weiterbestand mit dem der Demokratie eins ist,
übernehmen soll, auf daß sie dem stets drohenden Majoritäts­
relativismus entzogen werden: gibt es für die Demokratie ein
System so unangreifbar gültiger ethischer Sätze (von denen die
Verabscheuungswürdigkeit der Menschenversklavung einer
wäre), daß diese selbst gegen einen Majoritätsbeschluß vertei­
digt werden müssen? Und welcher Art soll diese Verteidigung
sein? Läuft das nicht doch auf Minoritätsdiktatur nach Art der
sowjetischen (wenn auch mit anderm Inhalt) hinaus? Und als
letztes: können die normativen Richtlinien der Demokratie
gleich den totalitären strafrechtlich geschützt werden?
Das ist cum grano salis der Problemstand der modernen De­
mokratie, zumindest soweit Großdemokratien in Frage kom­
men. Bestünde nämlich die Welt aus lauter Kleinstaaten, so
gäbe es - wenigstens fürs erste - auch keine Totalitarismen.
Aber an eine Rückparzellierung der Welt zu denken, wäre
sinnloses Phantasieren.

Das göttliche Recht, auf das sich die modernen Demokratien


bei ihrer Gründung berufen konnten, läßt sich dogmatisch aus
der Bibel ableiten. Sein Ersatz, das Naturrecht, entbehrt solch
dogmatischer Ableitung, und sein Vorhandensein läßt sich bloß
aus dem des positiven Rechtes rückschließen; d. h., es könnte
vertreten werden, daß alle positiven Rechtssatzungen das Na­
turrecht sukzessive konkretisieren. Wie aber steht es dann mit
Gesetzen, die wie die sowjetischen die Erschießung von
Menschewiki8, Sozialrevolutionären, kurzum von allen politi­
schen Gegnern verordnen? Wie steht es mit denen der Nazige­
setzgebung? Sind das alles Konkretisierungen des gleichen Na­
turrechtes? Oder gibt es etwa deren mehrere? Wenn man vom
positiven Recht ausgeht, gerät man unweigerlich in jenen Rela­
tivismus, zu dem die moderne Demokratie nur allzusehr hin­
neigt.
Doch läßt sich aus solchem Relativismus nicht am Ende doch
noch eine Tugend machen? Selbst wenn man im neokantschen
Sinn die Existenz eines transzendenten »Rechtes an sich« be­
fürwortet, es würde auch dieses nicht unbedingt gegen den Re­
152

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lativismus im positiven Recht sprechen: das Recht an sich ist
leere Form und gestattet gleich der Logik zwar keine Wider­
sprüche in einem gegebenen System, wohl aber die mannig­
fachsten Systeminhalte, so daß sogar das Nazirecht als Derivat
jenes »Rechtes an sich« gelten dürfte. Und der Inhaltsrelativis­
mus erscheint umso gebotener, als kein Rechtssystem starr
bleibt, vielmehr jedes im Zuge seiner Entwicklung ganz funda­
mentale Veränderungen erfährt: von den Hexenverbrennun­
gen bis zur Strafausschließung auf Grund von Irrsinn ist ein ge­
waltiger Weg von Rechtstransformationen zurückgelegt
worden. Die Verbrennung von Hexen war aber zu ihrer Zeit
ebenso »natürlich« wie es heute die Unbestrafbarkeit von Irr­
sinnstaten ist; von einer Invariabilität des Naturrechtes kann
also keine Rede sein, vielmehr muß es, soferne überhaupt mit
ihm operiert werden kann, in relativistischer Beleuchtung be­
trachtet werden, d. h. als eine Art gefühlsmäßiges Rechtsemp­
finden, das eine Art Vorstadium des positiven Rechtes ist, sich
aber von ihm bloß im Helligkeitsgrad unterscheidet und, gleich
ihm Menschenwerk, sich mit ihm nach Zeit, Ort und sozialen
Umständen verändert.
Aus diesem Relativismus kann die Menschheit immerhin eini­
ges lernen, vor allem, daß sie mit Absolutheitsüberzeugungen
und Absolutheitsforderungen, die sich auf »inhaltliche« Sach­
verhalte beziehen, äußerst vorsichtig umzugehen hat: als Le­
nin9verkündete, daß es nur eine einzige Moral, nämlich die des
Klassenkampfes gäbe, und daß ihrethalben jede andere, also
Pakttreue oder Mitleid oder sonst irgendeine Haltung simpler
menschlicher Anständigkeit, gebrochen werden dürfte, ja ge­
brochen werden müßte, hat er eine wissenschaftliche Theorie,
die Marxsche, zu einem Absolutheitsrang erhoben, der keiner
Theorie, und nicht einmal [einer] besser fundierten, geschweige
denn irgendeiner sozialökonomischen, zukommt. Lenin war ein
großer und ebendarum sogar auch ein gütiger Mensch, der trotz
seiner ungeheuren Tatenergie niemals gewagt hätte, millionen­
fachen Mord - nackten, gemeinen Mord - zu entfesseln, wenn
er sich nicht durch seine »Überzeugung«, durch seinen Glauben
an die Absolutheitsgeltung der Marxschen Lehre hiezu ver­
pflichtet gefühlt hätte; es war der gigantische Fehlschluß eines
gigantischen Menschen, und er hatte ihn - so darf behauptet
werden - mit Selbstzerrüttung zu bezahlen. Was nach ihm kam
153

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-Trotzkij, freilich weitaus geringeren Formates als er, schied
aus war machiavellistisches Gesindel, das auch ohne Abso­
lutheitsglauben gemordet hätte, und erst recht trifft das auf die
außermarxistischen Diktatoren vom Schlage Hitlers zu, wenn
man auch diesem den Glauben an die Absolutheitsgeltung sei­
ner Rassentheorie zugestehen muß.
Kann aber bei solch allgemeinem Relativismus sich die De­
mokratie auf eine »bessere« Absolutheit stützen?

Wer einen Code des Naturrechtes aufschreiben wollte, muß


entweder die Bibel kopieren oder sich eine Sammlung von De­
sideraten aufstellen, welche die Form positiver Rechtssatzun­
gen10 haben müßten - eine andere Form als die von positiven
Gesetzen gäbe es da nicht - und über deren Natürlichkeit sich
wahrscheinlich streiten ließe, einfach weil alles Positive nur
durch die Bedürfnisse der Praxis natürlich wird. Oder etwas pa­
radox ausgedrückt: weil das legendäre Naturrecht, wenn über­
haupt, bloß in Gestalt von positivem Recht zu imaginieren ist,
läßt sich keine positive Aussage über seinen Umfang und seine
möglichen Inhalte machen.
Dagegen ist ihm von negativer Seite her beizukommen. Denn
jedes verletzte Recht verlangt nach »Strafe«, und da das posi­
tive Recht Strafen kodifiziert, so darf es auch mit diesem Teil
des Rechtsvorganges als Konkretisierung des Naturrechtes
aufgefaßt werden. (Eine Stütze dieser Ansicht wäre im Revolu­
tionsvorgang zu finden, durch welchen ein noch nicht positiv
gewordenes Stück Naturrecht sozusagen aus sich selbst heraus,
nämlich mit Hilfe der in ihrem Rechtsempfinden beleidigten
Massen, seine Konkretisierung besorgt und zugleich auch die
zumeist über jede Gebühr hinaus blutige »Strafe« über seine
Beleidiger verhängt.) Von hier aus kann geschlossen werden,
daß zum Natur-»Recht« eine - zwar nicht minder legendäre -
Natur-»Strafe« gehört, und daß es an deren im positiven Recht
aufscheinenden Struktur sich bis zu einem gewissen Grad
(wenn auch nur negativ) bestimmen lassen wird. Was nämlich
durch die »Strafe« dem Menschen aberkannt wird, das kann
nur dasjenige sein, was ihm das Naturrecht (nunmehr ins Posi­
tive gewendet) als sein »Ur-Recht« zuerkennt.
Und in der Tat, so scheint es sich wirklich zu verhalten. Be­
trachtet man nämlich das Schema aller (logisch möglichen)
154

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»Strafen«, so zeigen sie sich durchwegs als zwangsweise »Ich-
Verkleinerungen«. Über sein Ich weiß der Mensch, allerdings
nur gefühlsmäßig, recht gut Bescheid, da er es, berechtigter­
weise, mit seinem Leben schlechthin identifiziert. Das Ich ist ein
physisch-psychisches Aggregat, und alle Wunschbilder des
Menschen zielen auf eine ständige Erweiterung oder zumindest
Intakthaltung dieses Aggregats. Gewiß, physische Erweiterung
ist trotz aller Gigantenphantasien ausschließlich dem Kinde
während seines Wachstums (das Organglück der Jugend) Vor­
behalten, doch die Bewegungs- und Leistungsfähigkeit des
Körpers bleibt auch später immerhin noch ein Wachstumssym­
bol, und vor allem sind alle Umweltteile, welche ins »Eigen­
tum« des Individuums übergehen, als solche Symbole zu neh­
men: ob der Mensch sich materielle Außenweltbestandteile, sei
es in Gestalt von Nahrung, Kleidung, Besitztümern usw., an­
eignet oder ob er den Nebenmenschen sich durch Liebe oder
Zwang in Dienstbarkeit bringt, oder ob er die Außenwelt -
noch symbolischer und sublimierter - durch geistige Annexion,
d. h. durch Erkenntnis bewältigt, oder ob er sich all das nur er­
träumt und hiezu Rauschgifte verwendet, immer ist es reale
oder fiktive Ich-Erweiterung, und ebendiese, zusammen mit
den sie begleitenden ekstatischen Gefühlen, wird vom Men­
schen als »Wert«, als sein Lebenswert bezeichnet. Alle »Stra­
fen« richten sich gegen Ich-Erweiterungen; sie schränken sie
ein oder heben sie auf oder gehen mit ausgesprochenen Ich-
Verkleinerungen vor, schneiden also Werterlebnisse sowie die
dazugehörigen Ekstasegefühle ab und erzeugen im Menschen
die Panikgefühle, von denen jede Ich-Verkleinerung unab-
weislich begleitet wird. Die radikalste Ich-Verkleinerung ist die
Todesstrafe, und für den Primitivmenschen ist sie auch die ein­
zig denkbare, umsomehr als Ausstoßung aus dem Stamm (um
die es dabei geht) geradezu automatisch den Individualtod nach
sich zieht. Alles was in der späteren Strafentwicklung sich voll­
zogen hat, angefangen von den Leibesstrafen bis zur humani­
sierten Einkerkerung und zu den Geldstrafen, ist nicht nur
Symbol der Ich-Verkleinerung, sondern ebendarum auch sym­
bolische Todesstrafe. Strafe ist demnach Hintanhaltung von Ich-
Erweiterung: das »Recht« des Straflosen ist das Recht auf unge­
störte Ich-Erweiterung, und nur von hier aus - anders ist auch die
»pursuit of happiness« der amerikanischen Unabhängigkeits­
155

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erklärung nicht auszulegen - ist der positive Inhalt des Natur­
rechts zu verstehen.

Der Begriff der Freiheit ist ein Akzessorium des Rechtes zur
Ich-Erweiterung, ist also inhaltlich bestimmt, während der
Gleichheitsbegriff ein formaler Begriff ist, der aus dem des
Rechtes als solchem hervorgeht: das »Recht an sich«, ein­
schließlich des Naturrechts und des positiven Rechts, kennt
Ich-Einschränkungen bloß als Strafe, hat aber keine Handha­
ben, um innerhalb der Gruppe der »Straflosen« irgendwelche
Distinktionen zu machen, etwa so, daß einem ein größeres, dem
andern ein geringeres Maß an Ich-Erweiterung zukommt; hier­
aus erfließt u. a. auch der Satz: Vor dem Gesetz gibt es keinen
Unterschied der Person.
Der Relativismus beginnt mit dem Begriff des »Verbrechens«.
Daß ohne geschehenes Verbrechen der Mensch nicht aus dem
Stand der Straflosigkeit in den der Strafwürdigkeit versetzt
werden darf, geht aus dem Formalbegriff des Rechtes hervor
und ist infolgedessen selber eine lediglich formale Feststellung,
- wo aber ist das inhaltliche Kriterium des Verbrechens? Und
damit wird wieder das Gebiet der (eben relativistischen) nor­
mativen Richtlinien betreten. Wenn noch im 17. Jahrhundert
Hexen zur Strafe des Feuertodes verurteilt werden konnten, so
war dies möglich, weil die These von der Fleischwerdung der
Sünde im Teufel und durch den Teufel eben noch volle Moral­
plausibilität besaß. Und wenn Lenin jeden politischen Gegner,
so revolutionär er auch eingestellt sein mag, als einen Agenten
der Bourgeoisie bezeichnete1\ der mit ihr zusammen der Strafe
der Ausrottung zu verfallen hat, so ist das zwar eine Ungeheu­
erlichkeit, aber sie stimmt mit den normativen Richtlinien, die
er vermittels Absolutierung der Marxschen Thesen dem bol­
schewistischen Staat gegeben hatte, logisch unanfechtbar über­
ein, genauso wie die Hexenverbrennungen logisch mit der Teu­
felstheorie übereinstimmen. Die Teufelstheorie ist von einer
höchsten Moralebene ausgegangen, und der Marxismus von ei­
ner, der sehr bedeutender wissenschaftlicher Rang zukommt,
und doch sind sie beide zu Auswirkungen gelangt, zu deren Er­
reichung ebensogut von der rassentheoretischen Tiefebene
hätte ausgegangen werden können: sie gelangten dorthin, wo
Verbrechensbestrafung gemeiner Mord wird. Denn alles In­
156

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haltliche besitzt bloß relativen Wahrheitswert, und wenn es zum
Absolutum erhoben und bis in seine letzte Konsequenz verfolgt
wird, muß es, um sich zu behaupten, zu Wahnsinn und Mord
führen.
Humanität muß sich des Relativismus aller inhaltlichen Fest­
stellungen bewußt bleiben. Und gerade darin liegt für die De­
mokratie die Schwierigkeit bei der Fassung ihrer normativen
Richtlinien. Denn das Verbot zur Behinderung der individuel­
len Ich-Erweiterung (gleichbedeutend mit dem Verbot zur Be­
hinderung der persönlichen Freiheit und der pursuit of happi-
ness) sagt nichts über sozial erlaubte und sozial unerlaubte
Ich-Erweiterungen aus; sehr viele individuelle Ich-Erweite-
rungen beeinträchtigen die des Nebenmenschen, - wo also en­
det deren Antastbarkeit, wo beginnt ihre Unantastbarkeit?
Gewiß, die jahrtausendealten Sozialtraditionen der Mensch­
heit, nicht zuletzt in den Kodifikationen der großen Weltreli­
gionen, also für das Abendland in denen der Bibel und in den
Humanisierungsbestrebungen der Christlichkeit, haben eine
für nahezu die ganze bewohnte Erde gültige Rechtsmoral ge­
schaffen, kraft welcher sich Mord, Diebstahl, Paktbruch usw.
allüberall als Verbrechen qualifizieren, und trotzdem konnte in
den amerikanischen Lynchregionen12 [sich] eine - durchaus
hitlerisch begründete - Mischung von Rassenmord und Hexen­
verbrennung als fiktive »Verbrechensbestrafung« etablieren,
deren Duldung auch heute noch für die Einzelstaaten »demo­
kratisches Recht« ist, so daß sie sich bemüßigt fühlen, es gegen
die Bundesregierung zu verteidigen. Das ist freilich ein Ex­
tremfall des demokratischen Relativismus, - und doch, gibt es
tatsächlich (außer der Bibel) keine Handhabe, um auch inner­
halb der Demokratie einem inhaltlichen Tatbestand, wie eben
dem Mord, absoluten Verbrechenscharakter beimessen zu
können?
Wo es um Inhalte geht, ist aus formalen Bestimmungen, mö­
gen sie auch die einzig wahrhaft einwandfreien sein, nichts zu
gewinnen; Inhalte müssen auf Inhalte referiert werden. Nun
haben aber die von Staats wegen über den Verbrecher verhäng­
ten »Strafen« nicht nur die Formalfunktion der Einschränkung
oder Aufhebung seiner Ich-Erweiterung, sondern sie haben
auch sehr materielle Inhalte, nämlich Deklassierung und eine
sehr weitgehende Entrechtung bis zur erfolgten Strafabbüßung,
157

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zwangsweisen Geldentzug, Drosselung der Freizügigkeit durch
Einkerkerung mitunter fürs ganze Leben und schließlich bei
Kapitalverbrechen Hinrichtung. Wesentlich hiebei ist, daß alle
diese Strafinhalte auch die Charakteristika von Versklavung
sind, und wenn auch der Staat mit seinen Sträflingen nicht will­
kürlich verfahren darf, sondern regulativ gebunden bleibt, er
agiert ihnen gegenüber doch auf Strafdauer als Sklavenhalter.
Und das ist der Punkt, von dem aus der Rückschluß gezogen
werden darf: wenn das legendäre Naturrecht dem Nicht-Ver­
brecher voll zuerkennt, was es dem Verbrecher aberkennt, so
hat die Demokratie, die ihrer Intention und infolgedessen ih­
rem Inhalt nach Auflehnung des Menschen gegen jegliche Art
von Versklavung ist und überdies solche Auflehnung natur­
rechtlich zu begründen wünscht, dafür zu sorgen, daß in ihrem
Machtbereich keinerlei Handlungen begangen werden, die in
ihrer Tendenz irgendeines der Versklavungscharakteristika
aufweisen: das gilt sowohl für die Handlungen des Bürgers im
Verhältnis zum Nebenbürger als auch für die Handlungen der
von den Bürgern gebildeten Institutionen und insbesondere für
den Staat selber, und zwar ebensowohl in seinen gesetzlichen
wie administrativen Funktionen. Ein Staat, der diesen Kriterien
nicht genügt und z. B. einer Gruppe seiner Bürger Lynchjustiz
gestattet, ohne eine solche als gemeinen Mord zu ahnden, kann
trotz sonstiger demokratischer Einrichtungen nicht Demokra­
tie genannt werden.

Die Demokratie wurde hier von allem Anfang an als Aufleh­


nung gegen Versklavung vorgestellt, und am Ende wurden ihr
jegliche Versklavungstendenzen verboten. Doch das ist nur ein
scheinbarer Zirkelschluß. Denn es ging darum, einesteils den
Relativismus in allem Inhaltlichen aufzuweisen, andererseits
aber zu zeigen, an welchem Punkt solcher Relativismus endet,
nicht zuletzt weil die Demokratie infolge ihrer spezifischen
Konstruktion immer die Neigung hat, sich relativistisch aufzu­
lösen. Die Säkularisierung des göttlichen Rechtes, auf das die
abendländische Demokratie bei ihrer Gründung sich stützte,
führt nicht zu der in der Luft schwebenden naturrechtlichen
Hilfskonstruktion, sondern zur Ich-Funktion, die in ihrer er­
kenntnistheoretisch-logischen und nicht nur psychologischen
Fassung das einzige Absolutum neben Gott für den Menschen
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ist, so daß von hier und wohl nur von hier aus, also im Gegensatz
zum Marxismus weit mehr im psychologisch-erkenntnistheore­
tischen als im ökonomischen Gebiet verwurzelt, die Theorie der
Demokratie und ihrer normativen Richtlinien jene wissen­
schaftliche Begründung erfährt, die dem rationalisierten Plau­
sibilitätsbedürfnis dieser säkularisierten Epoche entspricht.

Siebenter Teil (Demokratie)

Die Sehnsucht nach einem Zentralwert treibt den Menschen


zur Flucht ins Totalitäre, doch darum ist sein individuelles Stre­
ben nach schlechterdings anarchischer Freiheit, seine Aufleh­
nung gegen die Institutionen und ihre Autorität keineswegs er­
loschen, vielmehr bleibt er sich seines Rechtes auf Nichtver­
sklavung stets bewußt: er will beides haben, Freiheit und
Geborgenheit zugleich, und insbesondere sind es die Massen,
die ohne Zaudern das Widersprechendste auf einmal verlan­
gen.
Aber sind nicht im Gegenteil die Massen allzeit auf ein Ent­
weder-Oder eingestellt? Die Schwarz-Weiß-Methode jeder
Politik und vor allem der heutigen, die unaufhörlich auf Mas­
senwirkung bedacht sein muß, würde hiefür sprechen. Und
doch ist dem nicht so. Denn eben diese Schwarz-Weiß-Me­
thode greift ganz instinktiv, ja selbst wenn sie die richtige Frei­
heit meint, nach einer stets parat liegenden »Ersatzfreiheit«,
nämlich nach der des »Sieges«, mit dem ein hiezu bis zur Un­
kenntlichkeit »angeschwärzter« Feind vernichtet werden muß,
vernichtet werden darf. Das ist eine dem politischen Leben fast
unentbehrliche Infamie, die sich je nach Bedarf gegen einen
äußern oder gegen einen innern Feind richtet, der ebensogut
durch »die« Aristokraten wie »die« Juden repräsentiert werden
kann, und es war Marx’ politische Genialität, daß er ihn »wis­
senschaftlich« als »den« Kapitalisten, »den« Bourgeois (der gar
kein Kapitalist mehr zu sein braucht) lokalisiert hat.
Mit nicht geringerem wissenschaftlichem Anspruch, d. h. ei­
nem, der sich nicht nur auf psychologische Tatbestände, son­
dern sogar auch gleich Marx auf den dialektischen Fortschritt
der Geschichte berufen darf, läßt sich aber behaupten, daß die
anscheinend so antinomische Moralzwiespältigkeit der Massen,
ihr konstantes Beides-zugleich-haben-WoIlen, gar nicht so an­
159

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tinomisch ist, und daß in Wahrheit darin das unbewußte Wissen
um die schließlich unvermeidbare Synthese von Thesis und An­
tithesis sich anmeldet, so daß der so infame Trick der Kreierung
von »Feinden« als eine für den Augenblick zwar praktische,
letztlich jedoch überflüssige und ebendarum unheilsträchtige
Beschwindelung der Massen sich erweist. Im 18. Jahrhundert
waren noch fast für jedermann Republikanismus und Monar­
chismus zwei antinomische Begriffe, und doch war das engli­
sche Volk, schier ohne es selber zu bemerken, bereits daran, sie
zur konstitutionellen Monarchie zusammenzuschweißen, in der
konservative Gefühls- und Moralhaltungen, wie eben Anhäng­
lichkeit an Tradition und altbewährte Einrichtungen, sich aufs
glücklichste und nachhaltigste mit der neuen Freiheitsmoral
kombinierten. Unendlich viele Wellen von Thesen und Anti­
thesen durchziehen den Geschichtsablauf, und gewiß führen sie
nicht samt und sonders zu synthetischen Kompromissen - am
allerwenigsten lassen sich solche zwischen Wahrheit und Lüge
schließen -, doch wo es um die Anpassung der Tradition an
neue Notwendigkeiten geht, nicht zuletzt also im Kerngebiet
der Tradition, also dem der Moralhaltungen, da hat sich wohl
immer am Ende die Traditionsanreicherung durch die Synthese
und ihre Fruchtbarkeit ergeben.
Wellenberg und Wellental sind wieder einmal vertauscht. Das
Freiheitsbedürfnis des Menschen, verkörpert in den wenigen
noch verbliebenen Demokratien, ist zum konservativen Ele­
ment geworden, während das Streben nach Sicherheit mit sei­
nen Totalitärneigungen den Anspruch erhebt, als neue Welt­
moral anerkannt zu werden. Die Demokratien wären berufen
(gerade weil der Kompromiß zu ihrer Mechanik gehört), das
Neue zu assimilieren und damit sowohl die fascistischen wie die
kommunistischen Anschläge, von denen sie im Innern bedroht
werden, unschädlich zu machen, d. h. die Tendenz der Antiver­
sklavung vor solch eminenter, mit jedem Tag wachsender Ge­
fährdung zu retten. Täten sie das nicht, so wäre das ein Zeichen
für die von den Totalitarismen behauptete und doch kaum
glaubhafte Seniiität des Individualismus und seiner demokrati­
schen Moral.
Freilich, mit einer einfachen Negierung der totalitären Stre­
bungen ist es nicht getan. So selbstverständlich es ist, daß der
Staat und gar der Rechtsstaat, als dessen Konkretisierung kat’
160

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exochen die Demokratie sich dünkt, die moralischen Haltungen
seiner Bürger bloß im Wege des Gesetzes und der gesetzlichen
Strafen zu regeln vermag, es können bloß konkrete Gesetze
eine lebendige Wirkung haben, also solche, die sich auf die
konkreten Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Ne­
benmenschen anwenden lassen und zugleich seine unbewußten
moralischen und rechtlichen Vorstellungen zum Aufklingen
bringen. Mit abstrakten Lehrgesetzen (etwa nach Art des »Ge­
setzes zum Schutz der Republik«13, mit dem Deutschland die
Nazigefahr hatte abwenden wollen) hat noch nie ein Staat die
Haltung seiner Bürger beeinflußt.

Es geht also um eine »Totalisierung« der Demokratie, und weil


das Totalitäre im strafgesetzlichen Schutz der normativen Leit­
linien besteht, wäre dieser auf die demokratischen Leitlinien
anzuwenden. M. a. W., der Bürger wäre zu verpflichten, die
»Menschenrechte« des Nebenbürgers als so absolut zu be­
trachten, wie sie sind, und sie nie und nirgends, also auch nicht
im Alltagsleben, anzutasten. Mit allem Fug nämlich läßt sich
behaupten, daß ein Generalverbrechen wie das der Nazis aus­
schließlich von der Kleinpropaganda im Alltagsleben seinen
Ausgang genommen hat: geschützt von der demokratischen
Meinungs- und Redefreiheit, gelang es ihnen, die Staatsgrund­
lagen und deren normative Prinzipien zu untergraben, vor al­
lem indem sie diese mit dem weltverderbenden Tun »des« Ju­
den, der zum Weltfeind ernannt wurde, in Wechselwirkung
setzten: alle Übel der Welt könnten geheilt werden, wenn nur
mit der liberalistischen Menschengleichheit endlich aufgeräumt
und insbesondere den Juden die Menschenwürde abgesprochen
werden würde. Hätte es eine gesetzliche Handhabe gegeben, es
hätten diese Umtriebe, hinter denen die Idee der Menschheits­
versklavung schlechthin stand, im Keim erstickt werden kön­
nen. Man wende nicht ein, daß man damit bloß Märtyrer ge­
schaffen hätte: die Anwendung eines wohlfundierten konkre­
ten Gesetzes schafft keine Märtyrer, sonst wäre jeder ertappte
Wechselfälscher ein solcher; bloß mit abstrakten, deklamatori­
schen Gesetzen wie denen »zum Schutz der Republik« werden
Märtyrer erzeugt.
Die bisherigen Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte
- geboren aus der Furcht vor den Tyranneigelüsten, zu denen
161

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jeder Machthaber verführt werden könnte - haben sich als »Bill
of Rights«, »Declaration des Droits de THomme«14 usw. aus­
schließlich gegen die Regierungen gerichtet, und sie haben in­
sofern günstig gewirkt, als sie die in deren Schatten arbeiten­
den, ja oftmals sie befehligenden und überdies zumeist
diktaturzugeneigten Dauerbürokratien (wie z. B. die der fran­
zösischen Ministerien) immerhin gezügelt haben. Die Regie­
rungen als solche jedoch hätten, entgegen den ursprünglichen
Befürchtungen, solcher Zügelung kaum bedurft; demokratisch
gewählt, haben sie, bisheriger Erfahrung gemäß, fast niemals
versucht, den ihnen vorgeschriebenen Rahmen zu sprengen,
natürlich mit Ausnahme derjenigen, welche wie Hitler von
vornherein solche Absicht gehegt und von langer Hand vorbe­
reitet hatten, also auch von vornherein willens waren, die ihnen
auferlegte Verpflichtung zur Respektierung der Menschen­
rechte zu brechen und ihrem von den Wählermassen gutge­
heißenen Programm entsprechend an das offen angekündigte
Versklavungswerk zu gehen.
Wird die Verletzung der Menschenrechte zu einem gemeinen
Verbrechen erklärt - und es ist nicht einzusehen, warum sie et­
was anderes sein sollte, da sie im letzten eingestandenermaßen
Mordabsicht ist —,dann können die konstitutionellen Deklara­
tionen nach Art der »Bill of Rights« ruhig ihre heutige mehr
dekorative als praktikable Form beibehalten: der eigentliche
Schutz der Menschenrechte wird dann den ordentlichen Ge­
richten überantwortet sein, ja schon bei denen erster Instanz
beginnen.

Nichtversklavung ist des Menschen oberstes Recht, und das


machte seine Menschenwürde aus. Aber wo Rechte geschützt
werden sollen, müssen Verpflichtungen gesetzt werden. Die
Zusprechung von Rechten ist leeres Papier; sie werden erst
konkret, wenn der Mensch hiefür den gebührenden Preis be­
zahlt, und ohne die Umreißung und Vorschreibung entspre­
chender Pflichten lassen Menschenwürde und Nichtverskla­
vung sich weder definieren noch etablieren. M. a. W.,
Rechtsobjekte werden durch die Verbote definiert, die sie ge­
gen Antastung schützen; mit dem Recht auf »pursuit of happi-
ness« und noch viel weniger mit dem auf »Ich-Erweiterung«
läßt sich juristisch nichts anfangen, und wenn diese Begriffe auf
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»Nichtversklavung« reduziert werden, so ist damit eben auch
ausgedrückt, daß sie am Versklavungsverbot zu konstituieren
sind, genauso wie des Menschen Recht auf sein Leben - seit den
Zehn Geboten-sich am Mordverbot konstituiert. Kurzum, die
Demokratie benötigt zur Aufrechterhaltung ihres Bestandes
nicht nur eine »Bill of Rights«, sondern auch eine »Bill of Du-
ties«, d. h. eine Gruppe von »Gesetzen zum Schutze der Men­
schenwürde«, mit denen zu verhüten ist, daß irgendeine Person
im Staatsbereich irgendeine andere in Sklaverei zu versetzen
sucht oder dies tatsächlich tut.
In Ansehung der amerikanischen Verhältnisse wären hiezu
folgende strafwürdige Tatbestände zu skizzieren.

(1) Schutz der »Bill of Rights«


Wer durch Wort oder Schrift eine diktatoriale oder fascistische
Staatsform propagiert, d. h. eine, in der die durch die »Bill of
Rights« dem Menschen verbürgten Grundrechte offen oder
versteckt aufgehoben werden, dem soll der Genuß dieser
Rechte sowie das aktive und passive Wahlrecht bis zu der Dauer
von... Jahren entzogen werden.
Im Wiederholungsfall hat neben den Verlust der staatsbür­
gerlichen Rechte eine Kerkerstrafe bis zu... Jahren zu treten.

(2) Schutz gegen legislatorische Diskrimination


Wer durch Wort oder Schrift propagiert, daß bestimmte natio­
nale, rassische, religiöse oder soziale Gruppen (z. B. Iren, Ne­
ger, »Gelbe«, Juden, aber auch »die« Kapitalisten, »die« Pro­
letarier) oder einzelne Menschen, bloß weil sie einer solchen
Gruppe angehören, von irgendwelchen staatsbürgerlichen
Rechten oder auch Pflichten ausgeschlossen werden sollen,
macht sich eines Verbrechens schuldig, das mit Kerker bis zu...
Jahren zu bestrafen ist.

(3) Schutz gegen ökonomische Diskrimination


Wer durch Wort oder Schrift zum Boykott einer Erwerbsunter­
nehmung auffordert, weil sie sich im Besitz eines Angehörigen
der unter (2) genannten Gruppen befindet oder von einem sol­
chen betrieben wird oder weil Angehörige solcher Gruppen
darin angestellt sind, macht sich eines Vergehens schuldig, das
mit Kerker bis zu... Monaten zu bestrafen ist. Mit jedem Wie­
163

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derholungsfall hat sich der erste Strafsatz respektive zu verdop­
peln, zu verdreifachen usw.

(4) Schutz gegen bürgerliche Diskrimination


Wer durch Wort oder Schrift die Angehörigkeit zu einer der sub
(2) genannten Gruppen als eine diffamierende Tatsache dar­
stellt bzw. als Schimpfwort gebraucht(z. B. »Nigger«), macht
sich eines Vergehens schuldig, das mit Kerker bis zu... Mona­
ten zu bestrafen ist, wobei mit jedem Wiederholungsfall sich der
Strafsatz wie sub (3) erhöhen soll.
Das nämliche gilt für pseudowissenschaftliche Schriften, wel­
che über einzelne Gruppen abfällige Feststellungen machen
(z. B. »dieNegersind vonminderer Intelligenz«),ohne konkrete
allgemeingültige Beweise beizubringen.
Das nämliche Vergehen bürgerlicher Diskrimination ist zu
statuieren, wenn eine Vereinigung irgendwelcher Art die An­
gehörigen irgendeiner der sub (2) genannten Gruppen von der
Aufnahme ausschließt, obwohl die Aufnahmebewerber sonst
alle nötigen Qualifikationen für die Mitgliedschaft beibringen;
insbesondere soll das für alle beruflichen Vereinigungen usw.
gelten. Dagegen sind soziale Vereinigungen gestattet, welche
auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sind und sämtliche an­
dern (nicht aber nur einzelne) Gruppen und deren Angehörige
von der Aufnahme ausschließen.

(5) Schutz gegen Haßpropaganda


Wer durch Wort oder Schrift zur Verachtung einer der sub (2)
genannten Gruppen oder zum Haß gegen sie oder ihre einzel­
nen Angehörigen auffordert, macht sich eines Verbrechens
schuldig, das in den schwersten Fällen wie Aufforderung zum
Mord zu werten ist. Der Strafsatz hat also mindestens... bis...
Jahre zu betragen.
Wenn die sub (4) genannten pseudowissenschaftlichen Schrif­
ten eine ähnliche Haßpropaganda enthalten, so ist der Verfas­
ser und/oder der verantwortliche Redakteur nach dem Verbre­
chensstrafsatz zu bestrafen.

Da damit die Verstöße gegen die Menschenrechte zu einem Teil


in die Kategorie des gemeinen Verbrechens gebracht sind, hebt
sich für diesen Teil die Immunität von Regierungsfunktionären
164

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und Kongreßmitgliedern automatisch auf, sicherlich keine po­
puläre Konsequenz, dennoch eine wichtige, vor allem weil die
Einbringung eines jeden parlamentarischen Antrages, mit dem
die demokratischen Freiheiten und die Menschenwürde ange­
griffen werden sollen, eine Selbstaufhebung der Demokratie
darstellt, dann aber auch, weil die Parlamentstribüne - die Na­
zis sind hiefür das traurigste Beispiel - nicht zu derart zynischen
und verbrecherischen Propagandazwecken mißbraucht werden
darf.

Es gibt wohl keine eindrucksvollere Gegenüberstellung als das


»Gesetzzum Schutz der Menschenwürde« und das Nürnberger
»Gesetz gegen Rassenschande«15, das gewissermaßen die »Bill
of Duties« des Rassenstaates gewesen ist: auf der Seite der De­
mokratie die unbedingte Hochschätzung des menschlichen In­
dividuums, dem es zur Hauptverpflichtung gemacht wird, die
Freiheit und die Würde des Nebenmenschen (nicht seine ei­
gene!) zu achten, auf der Seite des Totalitärstaates der Eingriff
in die privateste Sphäre des Individuums und seine Erniedri­
gung zu einem - allerdings noch biologischen - Teilchen der to­
talitären Staatsmaschine. Und wenn auch die andern Totalitär­
staaten sich nicht dem Rassenwahnsinn ergeben haben, ihre
Achtung vor der individuellen Person und deren Würde und
Privatexistenz ist darum auch nicht größer.
Für alle Totalitarismen gilt nämlich, daß ihnen das Individuum
nicht viel mehr als eine juristische Person bedeutet, ja daß sie
ihre Anschauung vom Menschen geradezu nach diesem alten
juristischen Begriff gebildet haben. Und bezeichnenderweise
sind die Demokratien, vor allem unter kapitalistischem Einfluß,
ins gegenteilige Extrem verfallen: sie sind geneigt, der juristi­
schen Person alle jene Rechte und Freiheiten zu gewähren, die
allein dem Menschen als solchem und seiner Würde zukom­
men, da er und nur er —und sicherlich keine einzige juristische
Person welcher Form immer - kraft seiner Auflehnung gegen
die Versklavungstendenzen der Institutionen die Demokratie
geschaffen hat und infolgedessen nach wie vor deren einzige
Basis darstellt. Es ist eine höchst unerlaubte Begriffsverwechs­
lung, die wie jede durchaus geeignet ist, kraft Verabsolutierung
sich gegen ihren Erzeuger zu wenden, hier also gegen die De­
mokratie selber, denn die juristische Person steht der Institu­
165

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tion sehr nahe (ist manchmal sogar eine solche), und wenn sie
mit Menschenrechten und Menschenfreiheit ausgestattet wird,
so ist das eine Art Selbstbeschwindelung des demokratischen
Antiinstitutionalismus und umsomehr ein Unfug, als sich - mit
der Transformierung von Riesenunternehmungen zu staats­
bürgerlichen R iesen-von hier aus einer der Wege zum (kapi­
talistischen) Fascismus eröffnet. Es zeugt für die Gesundheit
der amerikanischen Demokratie, daß sie verhältnismäßig bald,
schon unter Theodore Roosevelt, sich dieser Gefahren bewußt
wurde.
Kurzum, die lebende Person ist in ihren staatsrechtlichen
Freiheiten unantastbar; die juristische Person besitzt keine die­
ser Freiheiten, und wenn sie darum auch nicht vogelfrei ist, es
kann ihre Existenz nicht nur durch Strafen bei Gesetzesüber­
tretungen, sondern auch durch andere gesetzliche Bestimmun­
gen eingeschränkt und sogar aufgehoben werden: bloß die
Strafbarkeit hat die juristische Person mit der lebenden Person
gemein; immerhin, gerade dies ist mit einer der Gründe, die zu
der verhängnisvollen Gleichsetzung der beiden Personbegriffe
geführt haben, denn bei der stets bereiten Neigung zur Anthro-
pomorphierung wurde daraus - wenn auch nur unbewußt - ge­
schlossen, daß die juristische Person gleichfalls ein Ich besäße,
dessen Erweiterung (groteskerweise also ihre pursuit of happi-
ness)bloß im Straffall eingedämmt werden dürfe. Noch folgen­
schwerer freilich ist es, daß umgekehrt auf Grund dieser vom
Straffall bedingten Gleichsetzung die Demokratie sich für be­
rechtigt, ja verpflichtet hält, in Ansehung des Verbrechers die
Personauffassung des Totalitarismus zu adoptieren, d. h. ihn (in
seiner Voll-Sklavenhaftigkeit) juristisch als bloße Sache einzu­
schätzen, deren Radikalvernichtung (ohne Rücksicht auf ir­
gendwelche Menschenhaftigkeit) ohneweiters zulässig ist: das
ist nichts als ein rationaler Kniff, mit dem die magischen
Grundlagen der Todesstrafe bemäntelt werden sollen, ein un­
würdiger Kniff, weil er auf einer (in echter Magie und ihrer
strengen Logizität niemals vorkommenden) Begriffsverwechs­
lung aufgebaut ist, ein funebrer Irrationalkniff der Rationalität
und überdies voll schlechten Gewissens, weil die Demokratie
genau weiß, daß die Unantastbarkeit der Menschenwürde, daß
die daraus erfließende Forderung nach Separierung der leben­
den von der juristischen Person die radikale Aufhebung der
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Todesstrafe in sich schließt. Nur wo der Staat legitim diktato­
risch wird, wie z.B. im Kriege, darf er auch das Totalitärakzes-
sorium kat’exochen, die Todesstrafe, wieder aufnehmen.
Die Separierung der lebenden von der juristischen Person so­
wie die Aufhebung der Todesstrafe bilden offensichtlich not­
wendige Ergänzungen zur »Bill of Rights«, fallen also auch mit
ihr unter den Schutz der »Bill of Duties«, ohne in dieser eigens
erwähnt zu werden. Die sich aus dem Sachverhalt ergebenden
zusätzlichen Verhaltensmaßregeln für juristische Personen wä­
ren Gegenstand der gewöhnlichen Gesetzgebung.

Jeder neue Gesichtspunkt in der Gesetzgebung kann zu ökono­


mischen Konsequenzen führen, und der Wechsel in den An­
schauungen über die juristische Person ist sogar vom Ökono­
mischen her, nämlich von der Notwendigkeit zur Regelung des
Monopolismus initiiert worden.
Zur Menschenwürde und Nichtversklavung gehört ein men­
schenwürdiges Dasein. Überall wo sozialistische Parteien (alten
Schlages) zum politischen Faktor geworden sind, also vor allem
in Zentraleuropa, Australien und Neuseeland, haben sie ihren
Kampf um eine gerechtere Güterverteilung mit der Sozialfür­
sorge begonnen, indem sie vor allem - u. a. auch zu ihrer Selbst­
propagierung-den Staat und die von ihm umschlossenen Ge­
meinwesen, wie Kommunen usw., zu einer tunlichst ausgebrei­
teten Obsorge für Massenwohlfahrt, nicht zuletzt für die
»Wirtschaftsunfähigen« und »Wirtschaftsausgeschalteten«,
verpflichten. Von hierher rührt der Schmähbegriff des »Für­
sorgestaates« . In Amerika liegen die Dinge anders. Hier stehen
nicht kapitalistische und sozialistische Parteien gegeneinander,
vielmehr ist eine durch und durch kapitalistisch gesinnte Ge­
samtgesellschaft vorhanden, zu deren grundsätzlichen Moral­
haltungen die Verpflichtung zum Profit gehört, von der sich je­
doch eine nicht minder kapitalistisch gesinnte Einzelgruppe,
nämlich die des politischen Berufes, abgespalten hat und, bei
aller Abhängigkeit von ihr, einen ständigen Machtkampf mit ihr
führt: das ist eine der Eigentümlichkeiten der amerikanischen
Demokratie, und sie hat im Vergleich mit der sogenannten
»Überzeugungspolitik«, mit der sie den Jargon der verlogenen
Schlagworte zu teilen sich nicht scheut, immerhin den Vorteil
einer manchmal wahrhaft demokratischen, wenn auch manch­
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mal zynischen Aufrichtigkeit für sich; der Lobbysmus und die
Parteimaschinerien sind Instrumente dieses Machtkampfes,
daneben aber auch das »Recht zum Geben«, - soll die soziale
Fürsorge aus freiwilligen Beiträgen der Gesellschaft (welche
damit die Massen mit der bestehenden ökonomischen Struktur
versöhnt) oder aber (um der am Ruder befindlichen Partei die
nächste Wiederwahl bei den Massen zu sichern) aus der Staats­
kasse und durch Steuereintreibungen bestritten werden? Da es
ein innerkapitalistischer Konkurrenzstreit ist, zieht der Befür-
sorgte seinen Nutzen daraus; sowohl das staatliche wie das pri­
vate Sozialvolumen, d. h. die Zahl der Sozialagenturen, der
Krankenanstalten usw., ist in ständigem Ansteigen begriffen,
und rechnet man noch das Unterrichtswesen hinzu, an dem,
insbesondere in seinen höhern Graden, die Gesellschaft ver­
mittels Universitäts-, Bibliotheks- und andern wissenschaftli­
chen Stiftungen hervorragend beteiligt ist, so zeigt das Gesamt­
system, sozusagen ein Halbfürsorgestaat, eine Praktikabilität,
die wahrscheinlich durch keinen Ganzfürsorgestaat sich über­
bieten läßt.
Der Nur-Marxist mag das Ganze als Beweis für die Abhängig­
keit moralischer Haltungen von ökonomischen Strukturen
nehmen. Der Nur-Demokrat liberalistischer Schule mag sagen,
daß zwar ein Hitler die Wirtschaftsausgeschalteten und Wirt­
schaftsunfähigen abschlachten kann, daß dies jedoch keines­
wegs auch Wirtschaftsgewinn bedeute, ja daß diese spezifische
Gattung unproduktiver Konsumenten einen nicht minderen
Produktionsanreiz als die Luxusbedürfnisse der leisure dass
bilde, und daß gerade darum ein so reiches Land wie Amerika
- von einem armen ist es nicht zu verlangen, weil keine Wirt­
schaft mehr herzugeben vermag als sie produziert - auch ohne
Marxsche Nötigung und ohne Berufung auf die Erfordernisse
der Menschenwürde, also einfach aus Gründen der ökonomi­
schen und sozialen Prosperität, die nationale Sozialfürsorge,
gleichgültig ob aus privaten oder staatlichen Quellen gespeist,
auf einen möglichst hohen Stand bringen müsse; das war einer
der Gedankengänge des New Deal, und damit hat er, sicherlich
kein Anwalt des Fürsorgestaates, seine Erfolge erzielt.
Beide, der Marxist wie der Demokrat, haben in diesem Fall
recht: mit Moralprinzipien —und die Forderung nach Men­
schenwürde kann mit Stolz behaupten, daß sie ein Moralprinzip
168

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ist-werden keine Wirtschaftsformen und [wird] demnach auch
kein Fürsorgestaat geschaffen. Es geschieht immer dasjenige,
was die technische oder, wenn man will, die technokratische
Notwendigkeit des Ökonomischen und Sozialen im letzten will.
Und auch das Moralische könnte nicht bestehen, wenn es nicht
Notwendigkeit wäre, zum Teil sogar eine im Marxschen Sinne
ökonomisch-soziale Notwendigkeit, dennoch mit einer absolu­
ten Komponente darüber hinausreichend: die Vertretung der
Menschenwürde ist heute eine praktische Notwendigkeit für
die Demokratie, damit sie weiterbestehen könne; doch der
Geltungsgrund, mit dem sie ihren Weiterbestand vertreten
kann, darf, muß, ist im Absoluten gelegen, wenn man will, im
irdisch Absoluten, dennoch im Absoluten und ebendarum mit
der Hoffnung auf Massenwirkung. Fragt man aber, wie sich
diese absolute Moralgeltung mit den technokratischen Sozial-
und Ökonomienotwendigkeiten verträgt, so wird sich wohl im­
mer erweisen, daß diese, so zwingend sie in ihrer Eigengesetz­
lichkeit sind, in moralischer oder in unmoralischer Weise sich
handhaben lassen: ob kapitalistisch oder sozialistisch gewirt-
schaftet werden muß, entzieht sich dem moralischen Befehl,
nicht jedoch die Art der Ausführung, die dem moralischen Be­
fehl unterliegt; ein fascistischer Kapitalismus ist ebenso unmo­
ralisch wie eine kommunistische Diktatur, und gegen beide hat
eine auf die Menschenwürde bedachte Demokratie, ob kapita­
listisch oder sozialistisch oder in Mischformen, die ungeheure
Chance der Moralität.

Man mag hieraus folgern, daß sich die Demokratie im Grunde


»wirtschaftsneutral« verhält: sie ist es; ihre einzige Forderung
an die Wirtschaft ist trotzdem schwerwiegend, nämlich daß der
Mensch niemals als Wirtschaftssache, kurzum als Sklave be­
handelt werden darf. Ja, mehr noch, in gewissem Sinn ist die
Demokratie auch politischen Formen gegenüber neutral; sie
kann die mannigfachsten Formen akzeptieren, Einkammer-
und Zweikammersysteme, Ständekammern mit und ohne Vi­
rilstimmen, Staatspräsidenten und Könige, und sie mag in der
Zukunft noch ganz andere Formabwandlungen akzeptieren,
aber sie wird ihnen auch immer die gleiche schwerwiegende
Forderung gegenüberstellen, nämlich daß keine von ihnen den
Menschen zum Staatssklaven reduzieren darf. Das ist der Reia-
169

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tivismus der Demokratie, gepaart mit ihrem Absolutheitsan­
spruch.
Und eben aus diesem Absolutheitsanspruch mag die Demo­
kratie ihre künftige Propagandastärke ziehen, mehr noch, sie
mag ihr sogar auch den Relativismus dienstbar machen, durch
dessen bisherige Alleingeltung sie in eine propagandistische
Selbstlähmung geraten war und insbesondere nichts der Totali­
tärpropaganda entgegenzustellen hatte. Anders jedoch steht es
mit dem Absolutheitsanspruch der Nichtversklavung: denn
dieser gründet sich auf das »irdische Absolutum«, auf den Ter­
ror, auf das unablässige tierhafte Grauen, dem der Mensch
durch die Diktaturen ausgesetzt ist, und nicht zuletzt auf die
unvorstellbare Dehumanisation durch einen neuerlichen Krieg.
Gewiß, all das ist »Feind«, aber nur ein sehr abstrakter Feind,
kein so konkreter wie es »die« Juden, »die« Kapitalisten, »die«
Neger sind. Zudem ist der Terror, um den es da geht, ein un­
sichtbarer; er wird irgendwo im Ausland, in Rußland, in Spa­
nien, in China ausgeübt, und nicht nur, daß der Mensch Hor­
rorschilderungen liebt, weil er sich ja mit dem Quäler und nicht
mit dem Gequälten identifiziert (- bloß ausnahmsweise setzt
volle Identifikation ein, z. B. beim Intellektuellen, dem die von
den Sowjets ausgeübte Drosselung der wissenschaftlichen und
künstlerischen Produktionsfreiheit zur Kenntnis gebracht
wird -), es muß sich Inlandspropaganda auch gegen einen inlän­
dischen »Feind« richten, da sie sonst allzuleicht zur Kriegshetze
wird. Zudem darf Demokratie, besonders wenn sie eine »Bill
of Duties« hat, nicht selber gegen deren Artikel 5 verstoßen
und en bloc zu Haß gegen irgendeine Gruppe von Personen
auffordern. Dagegen darf sie, ja muß sie Abscheu vor der un­
moralischen Tat, also vor dem gerichtlich gebrandmarkten
Verbrechen erregen. Daß dies unbestimmt gefühlt wird, zeigen
die reichlich ungeschickten Hexenprozesse, die jetzt unter der
Flagge der »Unamerican Activities«16 veranstaltet werden und
dank ihrer Aufmachung und den Persönlichkeiten ihrer Veran­
stalter bisher so ziemlich das Gegenteil der von ihnen ange­
strebten Wirkung auf die Öffentlichkeit ausgeübt haben; es gibt
keine direkten Inkriminationen, vielmehr müssen sie auf Ne­
bengeleise wie Spionage umgeleitet werden, und jedermann
spürt, daß diese unbehaglichen Schauprozesse17 Fremdkörper
im demokratischen Aufbau sind. Strafprozesse, denen eine
170

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präzise gesetzliche Basis fehlt, sind Selbstmordaktionen der
Demokratie und nützen bloß ihren Gegnern. Ebendiesem übel
aber kann die »Bill of Duties« abhelfen: abgesehen von ihrem
Artikel 1, in dem es um die demokratische Staatsform als solche
geht, sind auch die kleineren von ihr bezeichneten Vergehen
durchaus danach angetan, die dehumanisierende Wirkung, die
von jeder, auch der kleinsten Verletzung der Menschenwürde
ausgeht, sichtbar zu machen. Es gibt kein besseres Propaganda­
mittel als das ordentliche Gerichtsverfahren, und gerade in Ba­
gatellfällen ist es durchaus geeignet, den Mann von der Straße
über die Tragweite seiner moralischen Haltungen aufzuklären
- eine Verurteilung für die Schmähung »Nigger« ist da keines­
wegs weniger gewichtig als eine nach Artikel 1 der »Bill of Du­
ties« -, allerdings nur insolange als das Gericht nicht selber, wie
in den Diktaturen, zum Terrorinstrument herabgewürdigt wird.
Ein klagloses Funktionieren der Gerichte vorausgesetzt, ist der
gegen die Menschenwürde verstoßende Verbrecher der Public
Enemy No. 1, der »Feind« schlechthin der Demokratie.
Je intoleranter die Demokratie in jedem einzelnen Fall des
»Schutzes der Menschenwürde« auftritt, d. h. je totalitärer sie
die »Bill of Rights« verteidigt, desto toleranter, relativistischer
und liberaler kann, darf, muß sie sich gegenüber den von dieser
gewährleisteten Bürgerfreiheiten verhalten. Hier begründet
sich die moralische Haltung jener »Fairness«, die besonders als
Bestandteil der angelsächsischen Demokratie die Meinung des
Nebenmenschen unbedingt achtet, jene Haltung der schlichten
»Anständigkeit«, die als Pakttreue und Verläßlichkeit jedem
eingeht, und die doch nicht möglich wäre, wenn nicht alle Bür­
ger der Gemeinschaft im letzten einer gemeinsamen morali­
schen Grundhaltung absolut verpflichtet wären. Nur in dieser
Kombination von maximaler Gebundenheit in der Grundhal­
tung und maximaler Freiheit in allen sonstigen staatsbürgerli­
chen Belangen vermag der Mensch sich mit der Staatsinstitu­
tion abzufinden, und nur hiedurch vermag er in ihr und durch
sie die von ihm benötigte seelische Sicherheit zu finden: ist die
totalitarisierte Demokratie imstande, ihm das zu vermitteln, so
ist darin auch ihr stärkster Propagandawert gegeben.

Es geht um die Wiedergewinnung der seelischen Sicherheit, die


der Mensch in dieser wertzerrissenen Epoche verloren hat, und
171

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um derentwillen er sich in das Unheil des Staatstotalitarismus
zu stürzen bereit ist. Und es geht ebendeswegen um Assimilie-
rung totalitärer Prinzipien durch das Humane, oder genauer,
um eine säkularisierte Wiederassimilierung, denn einstens war
ja das nämliche bereits durch das Christentum bis zu einem ge­
wissen Grade erreicht gewesen. Man dürfte daher auch mit
einigem Fug eine solcherart totalitarisierte Demokratie einen
humanisierten Totalitarismus nennen, ohne sich damit einer
Schmähung schuldig zu machen: im Gegenteil, eine wahrhaft
totale Humanitätshaltung ist das Höchste, was von einem irdi­
schen Gemeinwesen erwartet werden kann.
Unzweifelhaft liegt darin eine besondere Kraftprobe für die
Demokratie. Aber befindet sie sich nicht schon inmitten einer
solchen? Ist der innere und äußere Ansturm der Totalitarismen,
dem sie ausgesetzt ist, nicht schon in vollem Schwung? Daß in
einem solchen Halbkriegszustand sich auch schon eine Halb­
diktatur zu entwickeln beginnt, ist nur selbstverständlich, indes,
diese Halbdiktatur kann sich, bricht der Krieg tatsächlich aus,
ohneweiters in einen Vollfascismus verwandeln, wenn nicht
Vorkehrungen für einen wahrhaft demokratischen Totalitaris­
mus getroffen werden. Eingefleischte Altliberale werden darin
ein Vorauspaktieren mit dem Feind und seinem Ideengut se­
hen, ja sogar ein nutzloses Paktieren, weil eine Demokratie,
welche nicht die Kraft aufbrächte, in ihrer jetzigen Form zu sie­
gen, einen bereits so schwachen Humangehalt hätte, daß sie
auch der Kraftprobe der Totalitarisierung nicht mehr gewach­
sen wäre. Es ist etwa so, als ob man einen, der einen wohlbe­
waffneten Feind möglicherweise nicht mit den bloßen Händen
zu erwürgen vermag, nicht bewaffnen dürfte, weil ihm vielleicht
auch die Stärke zum Tragen der Rüstung fehlen könnte. Gerade
um diese Rüstung aber geht es im gegenwärtigen Augenblick,
umsomehr als es wahrscheinlich der letzte ist: nur um ein weni­
ges später, und es mag der Humanitätsgehalt wirklich so
schwach geworden sein, daß er die ihm so notwendige totalitäre
Bewaffnung nicht mehr auf sich nehmen könnte.
Der Mensch, von seinem doppelten Streben nach Freiheit und
Sicherheit beherrscht, steht zwischen zwei Anarchien, zwischen
der individuellen und der institutionellen, und wenn es ihm ge­
lingt - freilich zumeist nur für kurze Zeit -, die beiden in Ba­
lance zu halten, dann gibt es ein Stück ruhigen irdischen Glük-
172

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kes für ihn: das ist das psychologische Grundgesetz allen
politischen Lebens. Die wunderbare und prekäre Kraft der De­
mokratie ist mit dieser ebenso wunderbaren und prekären Mit­
telstrecke identisch; es ist die Kraft der Mitte. Ist sie bloß eine
Funktion der beiden Extreme, die Funktion einer Durchzugs­
station? Für denjenigen, der lediglich relativistisch denkt, kann
sie bloß das sein, doch in Ansehung der Absolutheit, auf die sie
sich beziehen läßt, auch wenn es nur eine irdische Absolutheit
ist, nämlich die der absoluten Versklavung des Menschen zu ei­
nem Tier, besitzt die Mitte ihre Eigenkraft, und ihr Bestehen
vorausgesetzt - eine Voraussetzung, ohne die der Mensch kaum
zu leben imstande wäre, denn sie entspricht der Mitte seines ei­
genen Ich -, muß es, nein, wird es möglich sein, die Mittel­
strecke immer wieder zu verlängern, so daß die Ausschläge zu
den beiden unheilvollen Extremen hin sich zu immer kleineren
Oszillationen reduzieren. Man mag das Utopie nennen, aber da
sie sich auf offenbar invariante oder weitgehend invariante
Grundhaltungen der Menschennatur berufen kann, muß ihr ein
zumindest ebenso starker, wenn nicht stärkerer Realisations­
wert als der Marxschen Utopie zugemessen werden, umsomehr
als sich diese gleichfalls auf die psychologische Struktur des
Menschen, d. h. auf sein psychologisches Verhalten im be­
schränkten Feld der Ökonomie beruft; mehr noch, während die
klassenlose Gesellschaft ein Zukunftsbild ist, um derentwillen
der Menschheit im Augenblick die entsetzlichsten Opfer zuge­
mutet werden sollen, ja angeblich zugemutet werden dürfen,
verlangt das demokratische Ideal, obwohl im letzten gleichfalls
ein (von der klassenlosen Gesellschaft nicht einmal so weit ent­
ferntes) Zukunftsbild, daß unabhängig von dessen künftiger
Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit stets die unmittelbare
Wohlfahrt des Menschen vorangestellt werde: sosehr Ideale
angestrebt werden müssen, bei dem ihnen innewohnenden
vollkommen undurchsichtigen Unbekanntheitsfaktor rechtfer­
tigen sie nie und nimmer, daß ihrethalben der Menschheit die
entsetzlichsten Opfer auferlegt werden, und diese Grundregel
macht die demokratische Utopie realitätsnahe. Gegenüber der
Radikalität der beiden anarchischen Extreme vergißt die De­
mokratie - und das ist ihre Schwäche - nur allzuoft, daß sie
gleichfalls eine Radikalität zu vertreten hat, die Radikalität der
Mitte.
173

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Achter Teil (Der Konflikt)

Soweit es den kapitalistisch-kommunistischen Gegensatz an­


geht, hat die Welt einen merkwürdig einheitlichen Aspekt: ob
unter kapitalistischer oder kommunistischer Herrschaft, der
Mensch ist Beute seiner Institutionen, und ob kapitalistisch
oder kommunistisch geleitet, die Wirtschaft gibt nicht mehr her
als sie hat, ja sie drängt gleichfalls ins Institutionelle und Auto­
nome, so daß selbst bei einer (übrigens noch immer fragwürdi­
gen) Verbesserung der Güterverteilung der Mensch ihr ver­
sklavt bleibt, und ob kapitalistisch oder kommunistisch gesinnt,
es sucht der Mensch beides ins Totale und Totalitäre zu stei­
gern, weil er sich einem Zentralwert unterordnen will, von dem
er sich seelische Sicherheit versprechen kann. Das ist eine
merkwürdige Parallelität, und man fragt sich, wo eigentlich der
angeblich unüberbrückbare Abgrund zwischen den beiden
Antagonisten sich auftut. Ist er nicht einfach eine jener Wahn­
vorstellungen, die aus den Schlagworten von Institutionen ent­
stehen? Oder genauer, reduziert sich der Gegensatz nicht tat­
sächlich auf das irrational-sinnlose Expansionsbedürfnis, das in
der mächtigsten aller Institutionen, in der des Staates, steckt?
Und so ist es auch: die Irrationalität des Rationalen, d. h. die
Irrationalität der rational gedachten Institutionen bildet die
hartnäckigste aller menschlichen Sinnlosigkeiten, denn sie setzt
der Vernunft rationale Gründe entgegen, - das ist die Tragik
des Völkerbundes, die Tragik der United Nations, die Tragik
jedweder Instanz, welche die Institutionen zügeln und »zur
Vernunft« bringen soll.
Der Stärkere braucht keine Vernunft. Oder richtiger, seine
Vernunft ist die der Ausnützung seiner augenblicklichen Vor­
teile. Das ist die gegenwärtige Situation Rußlands. Der russi­
sche Block ist festgefügt und bildet eine kompakte Masse; der
westliche ist ein zerstreutes Länderkonglomerat mit sehr losen
innern Bindungen, die durch die Unabhängigkeitsbewegungen
in den ehemaligen Kolonien eher noch loser als fester werden.
Und die ökonomisch-ideologische Struktur des russischen
Blocks besitzt ungeachtet aller Ähnlichkeiten mit dem Totali­
tarismus der westlichen Fascismen die Anziehungskraft des
Revolutionären, so daß allenthalben teils offen, teils versteckt
rußlandfreundliche kommunistische Parteien in schier unauf-
174

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haltsamem Wachstum begriffen sind, während der Westen, ge­
rade hiedurch ideologisch zerklüftet, gerade hiedurch zum Fa-
scismus getrieben, ohne jedoch - zumindest in den altdemokra­
tischen Ländern - ihn voll akzeptieren zu können, ein
ideologisches Trümmerfeld bleibt. Kein Wunder, daß der We­
sten, eben als der Schwächere, nach der Vernunft ruft, daß er
die Durchsetzung solcher Vernunft von den United Nations er­
hofft, freilich dabei selber immer von den eigenen Staatstradi­
tionen (nicht zuletzt in den Kolonialproblemen) auf den Weg
irrationaler Unvernunft gebracht wird.

Je mehr Länder zum Sowjetblock übergehen, desto besser wer­


den seine Siegesaussichten, desto mehr wird Rußland zur Ge­
waltanwendung in der Erreichung seiner eurasischen und afri­
kanischen Ziele gedrängt, und desto näher rückt für die
Westmächte, vor allem also für Amerika, die Notwendigkeit ei­
nes Präventivkrieges, in dem der noch bestehende Bewaffnungs­
vorsprung sich ausnützen läßt. In der Bewaffnungs- und Mate­
rialübermacht liegt die einzige Stärke, die der Westen heute
noch besitzt, und es mag sein, daß mit ihr Rußland schließlich
niederzuwerfen sein wird. Doch selbst wenn dieser Sieg, wie
anzunehmen ist, vor allem auf den östlichen Schlachtfeldern er­
rungen werden mag, er bedeutet, soferne Frankreich und Ita­
lien überhaupt kämpfen, die schutzlose Preisgabe der europä­
ischen Kultur- und Industriezentren, und er bedeutet jedenfalls
die Zerstörung Englands. Dahingegen würde er keineswegs die
Zerstörung Rußlands bedeuten: man kann nicht damit rechnen,
daß die Wirkung der Atombombe, auch wenn sie alle russischen
Großstädte vernichtete, einen Aufstand gegen die Sowjets her-
vorrufen würde, im Gegenteil, es würden diese dann erst recht
zur nationalen Regierung werden, und Amerika müßte seine
Kräfte bis zum Äußersten anstrengen, um den nationalen Wi­
derstand in dem ungeheuren Gebiet endgültig zu brechen. Das
Resultat wäre die Verelendung Amerikas, die Verelendung der
Gesamtwelt in einem Ausmaß, demgegenüber das jetzige
Elend geradezu als Reichtum würde gelten müssen, und in einer
solchen Gesamtverelendung gibt es nur mehr eine einzige
Wirtschaftsform: die des Weltkommunismus, in dem auch das
geschlagene Rußland ein gewichtiges Wort mitzureden hätte.
Der Welttotalitarismus wäre unabwendbar, und zwar in einer
175

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Welt, die ihre besten materiellen und kulturellen Güter verlo­
ren hätte.
Der Marshall-Plan18, von den Russen (wider besseres Wissen)
als Kriegshetze ausposaunt, versucht - in zwölfter Stunde - sol­
ches Unheil abzuwehren. Er versucht ein Kräftegleichgewicht
zwischen den beiden Weltblöcken herzustellen, auf daß auf
Grund solchen Gleichgewichts wirklich die Vernunft zu Worte
gelangen kann; würde das gelingen, so würde sich herausstei­
len, daß die beiden Blöcke friedlich nebeneinander zu bestehen
vermögen, ja daß der angeblich zwischen ihnen befindliche Ab­
grund verschwunden sein und statt dessen ein Zusammenarbei­
ten Platz greifen wird, ohne das es keine echte und dauernde
Weltprosperität gibt. Um zu solchem Gleichgewicht zu gelan­
gen, heißt es die strategischen Positionen in Süd- und Klein­
asien zu erobern oder wiederzuerobern, heißt es den Kampf­
willen Westeuropas zu stärken, heißt es Westeuropa zu
bewaffnen und seine fifth-column-Parteien auszuschalten,
heißt es - durch das ERP19 - daselbst eine befriedigende
ökonomische Lage zu schaffen. Kurzum, es geht um die militä­
rische, ökonomische und ideologische Konsolidierung des
Westblocks. Und das ist eine gigantische Aufgabe.

Die Grundstruktur des Blocks ist einerseits durch das schon seit
langem nicht mehr einheitlich organisierte, ehemalig britische
Commonwealth gegeben, zu dem die asiatischen Kolonien
Hollands in engerer, die französischen in loser Beziehung ste­
hen, andererseits durch den noch lange nicht zu einer einheitli­
chen Organisation gelangten panamerikanischen Bund, zu dem
nunmehr auch die pazifischen Inseln sowie die Kette von Japan
zu den Philippinen gehören.
Doch zwischen diesen beiden Hauptkonglomeraten befinden
sich die drei Gruppen der Mittelmeerländer, also Westeuropa
mit seinen nordafrikanischen Annexen, weiters die beiden ägä-
ischen Uferstaaten Griechenland und Türkei, und schließlich
das von Nordafrika bis Kleinasien reichende Gebiet der Arabi­
schen Liga mitsamt seiner israelischen Enklave, sie alle in mili­
tärisch-politisch wichtiger Situation, während bei den angren­
zenden mittelasiatischen Staaten zu solch strategischer
Wichtigkeit auch noch die der vorderhand noch kriegsunent­
behrlichen Ölproduktion hinzutritt. Dieser lockere Ländergür­
176

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tel soll zu einigermaßen straffem Band verwoben werden, und
wenn auch, was südlich von ihm liegt, bis auf weiteres quantite
negligeable bleiben darf, so liegen dafür die skandinavischen
Länder in der unmittelbaren Gefahrenzone und müssen in die
Gesamtkombination einbezogen werden.
Die nordatlantischen Länder sind mehr oder minder parteide­
mokratisch (mit geringen kommunistischen Parlamentsminori­
täten), die südatlantischen sind (mit Ausnahme Mexikos) mehr
oder minder fascistisch (wozu sich jetzt auch Südafrika gesellt
hat), und in Frankreich wie in Italien kann sich die demokra­
tische Mitte gerade zur Not zwischen den beiden totalitären
Extremen halten. Griechenland wird gegen eine starke kom­
munistische Volksbewegung diktatorisch regiert, und die Tür­
kei ist ein zwar parlamentarischer, dennoch fascismusnaher
Autoritärstaat. Den arabischen Ländern fehlen eigentlich poli­
tische Volksbewegungen, doch ist ein von religiösen Motiven
durchsetzter Nationalismus sicherlich im Werden, ein Nationa­
lismus, der in Industrie- und Schiffahrtszentren wie etwa Alex­
andria unzweifelhaft kommunistische Färbung annehmen
kann, und Israel schwankt aus begreiflichen Opportunitäts­
gründen zwischen einer prorussischen und prowestlichen Ein­
stellung. Im Kolonialosten dagegen ist - mit Ausnahme Indiens
- der Nationalismus dank der Ausbeutung durch den europä­
ischen Plantagismus schlechterdings mit kommunistisch-russo-
philer Gesinnung identisch geworden.
Die wirtschaftliche Gruppierung deckt sich keineswegs mit
der politischen. Uneingeschränkter Kapitalismus herrscht nur
mehr, so sonderbar die Zusammenstellung ist, in Nordamerika,
den Niederlanden und in den fascistischen Staaten, während
ansonsten die Demokratie von Skandinavien bis Neuseeland
sich seit langem mit Stetigkeit auf gemäßigt sozialistischen
Bahnen bewegt, zwar in Frankreich und Italien immer wieder
recht schwankend, dagegen nun in England mit festen Zielen.
Ein Unikum im westlichen Sozialismus jedoch ist die israelische
Wirtschaft, da sie unter ausgesprochen kapitalistischer Patro­
nanz von allem Anfang an vorwiegend kollektivistisch - Kom­
munismus nicht als Selbstzweck, sondern als Dienst zur Ver­
wirklichung einer höheren moralischen Idee - betrieben
worden ist, ein Unikum für den Westen, ein Fremdkörper für
die arabische Welt. Daß diese sowie die ganze südasiatische
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Autochthonie kaum als Kapitalismus bezeichnet werden darf,
versteht sich von selbst; sie enthält kapitalistische Inseln, ist
aber um diese herum einfach Privatwirtschaft, für die es, so we­
nig wie für den südsibirischen Nomadismus, auch bei Adoptie­
rung des politischen Kommunismus, noch lange keine Ände­
rung geben wird.
Welch einigendes Band kann um derart disparate Teile ge­
schlungen werden? Wo sind die Punkte, an denen die West­
mächte ansetzen können, um solche Aufgabe zu bewältigen?

Es ist ein Witz der Geschichte, daß Rußland, der Totalitärstaat


par excellence, einen revolutionären Nimbus besitzt, der es ihm
gestattet, sich allenthalben an das Freiheitsstreben oder zumin­
dest an die nationalen Freiheitsgefühle des Individuums zu
wenden, also echte Volksbewegungen zu inaugurieren, und daß
dagegen die nach wie vor der Freiheit verpflichteten, nach wie
vor antiinstitutionellen Westmächte sich nirgends ans Volk
wenden können, sondern die bestehenden Institutionen, die
Staaten, die Regierungen zu Bundesgenossen wählen müssen.
Für die politische und diplomatische Technik scheint dies al­
lerdings ein Vorteil zu sein. Denn Völker als solche sind keine
verläßlichen Vertragspartner; Institutionen, Regierungen und
andere Machthaber sind da weitaus verläßlicher, und sie sind
es umsomehr, je volksunabhängig-diktatorischer sie sind, vor­
ausgesetzt, daß man sie dabei, unter tunlichster Stärkung ihrer
Macht, in Abhängigkeit zu halten vermag. Das war, soweit nicht
einfach mit kriegerischen Raubzügen kolonisiert worden ist,
seit jeher das Kolonisationsprinzip schlechthin, wurde von den
englischen, französischen, holländischen Regierungen, unbe­
schadet ihres sonstigen Liberalismus, seit jeher angewandt, und
wahrscheinlich gibt es kein anderes. Und heute, da der Kolo­
nialismus am Ende ist, bietet sich groteskerweise offenbar erst
recht kein anderer Weg. Von hier aus ist zu erklären, daß die
Westdemokratien außenpolitisch eine so auffallende Vorliebe
für Diktaturen, deren Willigkeit sie sich versichern können, an
den Tag legen; der gesamte Westblock soll, ließe sich fast sagen,
im Zeichen des Kolonialprinzipes zusammengeschweißt wer­
den. Von Spanien bis zur indischen Grenze, über Nordafrika
und ganz Vorderasien zieht sich eine fast ununterbrochene
Kette von Voll-, Halb- und Vierteldiktaturen (abgesehen von
178

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den Kaumregierungen der Nomadenstämme und ihren
Scheichs), und zu dieser Gruppe, die durch Zugeständnisse,
Drohung, gegenseitiges Ausspielen und Bestechung schlecht
und recht zusammengehalten wird, wurde im Nordmittelmeer
—mit Italien ist es nicht vollständig geglückt - auch noch Grie­
chenland zugesellt. Und gerade Griechenland zeigt, wie die
Kolonialmethode, auch wenn sie nun keine Kolonisationsziele
mehr verfolgt, ja sie nicht einmal mehr verfolgen will, sondern
nur mehr die Schaffung einer politischen Einheitsfront an­
strebt, letztlich zur Gewalt greifen muß; sie wird überall unver­
meidbar sein, wo ein strategischer Punkt - Berlin ist kein sol­
cher - unmittelbar gefährdet ist, im Augenblick also vor allem
in Südasien.
Teils infolge seiner immer noch bestehenden Führerschaft im
Commonwealth, teils infolge der hundertfünfzigjährigen, von
einem Schatz sachlicher, technischer und politisch-psychologi­
scher Erfahrungen getragenen Tradition seines Colonial Office
hat England trotz dahinschwindender Macht und trotz gefähr­
deter Lage die ihm gebührende Siegerstellung neben Amerika
beim Aufbau des Westblocks zu behaupten und zu sichern ge­
wußt. Die andern Siegerländer, oder genauer die befreiten Na­
tionen Frankreich, Belgien und Holland, haben so viel Eigen­
wünsche und Eigenempfindlichkeit, nicht zuletzt kolonialer
Natur, daß sie in mannigfacher Beziehung Belastungen bei der
Blockbildung sind, und so wünschenswert es ihrerhalb auch
wäre, Frankreichs finanzielle und innerpolitische Schwierigkei­
ten durch eine starke und zudem antisowjetische Regierung
stabilisieren zu lassen, es ist den antiangelsächsischen Zügen im
Gaullismus nicht ohneweiters zu trauen. Andererseits freilich
können diese kontinentaleuropäischen Nationalismen zur
wahrscheinlich notwendig werdenden gewaltsamen Wiederge­
winnung der strategischen Position in Südasien vorangeschickt
werden; England hat mit der Indien-Befreiung dem Common­
wealth einen Prestigegewinn bei den asiatischen Völkern ver­
schafft, kann sogar hoffen, daß ihnen Delhi zu einem Common­
wealth-Zentrum werden mag, hat aber dafür in Südafrika einen
vielleicht nur vorübergehenden, keinesfalls jedoch unbedeu­
tenden Prestigeverlust in Kauf genommen, kann also nicht den
Gewinn, dem ja auch die antiisraelischen Manöver dienen sol­
len, durch einen Kolonialkrieg wieder aufs Spiel setzen, son-
179

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dem wird ihn den Franzosen in Indochina, den Holländern in
Indonesien umso lieber überlassen, als eine künftige von Delhi
ausgehende definitive Regelung eine noch weitere Prestige­
stärkung bedeuten würde. Und obwohl Amerika genau weiß,
daß Frankreich und Holland, die es gegen einen russischen Ein­
fall aufzurüsten hat, hier vielleicht überhaupt nicht zu kämpfen
gewillt sein mögen, fürs erste jedoch die neue militärische
Stärke benützen werden, um sich in den Kolonialfragen nicht
ausschalten zu lassen, wird es die Waffenlieferungen an sie nicht
einstellen, sondern die mit deren Hilfe installierten kolonialen
(und überdies den alten Plantagenkapitalismus aufs neue festi­
genden) Scheindemokratien ohneweiters anerkennen.
In der gegenwärtigen, im Grunde völlig vertragslosen und
bloß auf gegenseitiger Kriegsfurcht beruhenden Weltkonstel­
lation, die man schlechterdings als das Musterbeispiel von In­
stitutionsanarchie bezeichnen kann, muß jede Partei auf die ra­
scheste Herstellung von faits accomplis bedacht sein: das ist die
Tugend, welche die Westmächte aus ihrer Not machen. Und
Rußland, aus seiner Tugend eine Not machend, ist das Analo­
gon hiezu; d. h. es wendet sich zwar an die institutionsfeindli­
chen Instinkte des Individuums und der Massen, um damit die
Anarchie der Revolution und womöglich der Weltrevolution zu
entfesseln, doch auch hier liegt das eigentliche Ziel in der Ein­
setzung von neuen Institutionen, die das Individuum knebeln
und sogar nach bolschewikischer Manier knebeln, da eine von
den Sowjets eingesetzte Scheinregierung noch viel weniger Be­
wegungsfreiheit besitzt als eine von den Westmächten patroni-
sierte. Kurzum, auch Rußland befleißigt sich letztlich der Kolo­
nialmethode, zu der die Westmächte von vorneherein
gezwungen sind. Trotzdem ist es nicht das gleiche. Vom revolu­
tionären Nimbus läßt sich nämlich lange zehren, und eine ru­
mänische oder bulgarische Regierung darf sich ohneweiters
diktatoriale Maßnahmen leisten, die der griechischen als
schwere Volksbedrückung angerechnet werden und ebenhie-
durch schließlich der amerikanischen Politik zur Last fallen.

Gewiß, all das widerspricht den demokratischen Prinzipien.


Aber wo militärisch-strategische Erwägungen notwendig wer­
den, da endet das Demokratische, denn da waltet nur noch die
militärische Vernunft, umsomehr als ja der Mensch nur sehr
180

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selten von »der« Vernunft, vielmehr zumeist nur von Partial-
vernunften, der militärischen, der kommerziellen usw., geleitet
wird.
In Wahrheit freilich gibt es keine derart allgemeine Vernunft.
Ob eine militärische oder kommerzielle Maßnahme als not­
wendig zu erachten ist, läßt sich im Rahmen der militärischen
oder kommerziellen Vernunft immerhin mit einiger Verläß­
lichkeit entscheiden, doch wollte man ganz allgemein behaup­
ten, daß der Westblock einen viel gediegeneren Zusammenhalt
haben würde, wenn allüberall die Völker nach freiem Ermessen
ihre Regierungsform bestimmten, so befindet man sich im Be­
reich vager und daher unpolitischer Hypothesen oder purer
Glaubensmeinungen. Was für ein befreites Indien vielleicht,
freilich nur vielleicht, zutreffen wird, nämlich seine Entwick­
lung zu einer Stütze des Commonwealth, das trifft sicherlich
nicht auf Griechenland zu, dessen Entwicklung von seinem hel­
denhaften, jedoch kommunistisch gefärbten antideutschen Wi­
derstand eine bestimmte Initialrichtung erhalten hat und daher
auch heute noch - nicht viel anders sieht es ja mit der französi­
schen Widerstandsbewegung aus - zum Anschluß an den So­
wjetblock drängt, und daß sich heute das spanische Volk mit
wenig Dankbarkeit an das amerikanischen Waffenembargo20,
hingegen mit Dank der russischen Hilfe erinnert, darf als gesi­
chert gelten, während in Österreich, wollte man hier den Din­
gen ihren wirklich »freien« Lauf lassen, sich die Überraschung
einer neuen hitleroiden Regierungsform ergeben könnte. Ge­
wiß sind es Sünden der Demokratie, die sich solcherart rächen,
die ehemaligen sowohl wie die gegenwärtigen, und zu diesen
Sünden gehört u. a. der Mangel eines dem kommunistischen
ebenbürtigen ideologischen Systems, von dem der angelsächsi­
sche Geist im Grunde nichts wissen will und das trotzdem ge­
rade für die diversen Widerstandsbewegungen so überaus
wichtig gewesen wäre; der mystische Glaube der Demokratie
an ihre universelle Heilkraft ist, obwohl er sich auf Kant21 beru­
fen kann, schlechterdings politischer Leichtsinn, ein unpsycho­
logisches Vertrauen zur allgemeinen Vernunft, dessen sich u. a.
auch Wilson im höchsten Maße schuldig gemacht hat, und bes­
ser noch als die Fortsetzung dieser vagen Liberalismus-Mystik,
die ohne Änderung neue Sünden auf die alten häufen würde,
scheint der strategische Machiavellismus zu sein, der sich mit
181

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den Fascismen wie mit den ebenso verabscheuungswürdigen
Scheindemokratien abfindet, weil sonst, sozusagen zur reumü­
tigen Abbüßung der alten Fehler, einfach vor der Brutalität der
allerdings folgerichtigeren und infolgedessen weniger fehlerbe­
hafteten Sowjetpolitik die Segel gestrichen werden müßten.
Ein anderer Einwand der allgemeinen Vernunft ist der
ökonomische, und weil er eben allgemein ist, hat er wenig
Ökonomisches an sich. Von hier aus wird behauptet, daß allein
eine unbefriedigende Wirtschaftslage die Völker in die Arme
des Kommunismus treibe und daher der Zusammenhalt des
Westblocks ausschließlich von Amerikas wirtschaftlicher Bei­
hilfe und deren Verteilung abhänge. Richtig daran ist, daß
Mangel an lebenswichtigen Gütern eine sozialistische Vertei­
lung erfordert, und daß jede kraß ungerechte Güterverteilung
revolutionäre Tendenzen auslöst. In einigen Rohmaterialien,
so in Kohle und Eisen und manchen anderen Metallen, ist die
westeuropäische Wirtschaft (einschließlich Westdeutschlands)
selbstgenügsam, Faserstoffe müssen für alle Länder eingeführt
werden, Nahrungsmittel für alle mit Ausnahme Frankreichs,
Nordamerikas Bedarf an europäischen Industriegütern ist be­
reits heute auf wenige Spezialartikel beschränkt und nimmt im­
mer weiter ab, und sein eigener Industrieexport wird daher
nach Wiederankurbelung der europäischen Wirtschaft und de­
ren Exporttätigkeit sich mit dieser auf den vorderhand noch
unterindustrialisierten Märkten wie dem südamerikanischen zu
messen haben, und selbst wenn auf diesem Umweg die jetzt in
den Marshall-Plan investierten Dollars zurückkehren sollten,
wird dieser Plan, wenn nicht gänzlich neue Prosperitätsmo­
mente innerhalb des Westblocks hinzutreten, die inflatorische,
aus Steuergeldern zu bestreitende Aktion bleiben, zu der die
Vereinigten Staaten heute unter politischem Druck, fast
möchte man sagen unter politischer Erpressung, gezwungen
sind. Daß dieser Druck an einem politischen Gefährdungs­
punkt wie Frankreich, wo jedes Absacken der Wirtschaft ein
Erstarken der Extremparteien links und rechts bedeutet - doch
schließlich mußten auch die italienischen Wahlen »erkauft«
werden -, am nachhaltigsten ist, versteht sich von selbst, und
unter diesen Umständen muß dem Gläubigerland die Auf­
rechterhaltung einer kolonialen Einnahmequelle wie Indochina
- und ähnliches gilt für Holland - wichtiger sein als die poli­
182

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tische und soziale Wohlfahrt der dortigen Eingeborenen, um­
somehr als die strategische Besetzung des Territoriums jeden­
falls notwendig ist. Sicherlich ist das ein kapitalistisches
Ausbeutungsmanöver, und zwar eines auf kurze Sicht, da ja
auch hier mit dem Dahinschwinden des »Wirtschaftsgefälles«
zwischen Mutterland und Kolonie desgleichen deren Rentabi­
lität versiegen wird, genauso wie das in Indien geschehen ist, das
die endlich erreichte Unabhängigkeit z. T. seinem Rentabili­
tätsschwund verdankt; indes, wie immer sich die Dinge einstens
gestalten werden, der heutige Zustand kann bloß als Proviso­
rium gelten, als ein Provisorium äußerster Anspannung, und
unter solcher Anspannung ist Amerika unzweifelhaft berech­
tigt, jede Gelegenheit zur Verkleinerung seiner ohnehin maßlos
gewordenen Belastung zu ergreifen. Es mag sein, daß der
Wunsch nach amerikanischen Zivilisationsgütern, der z. B. ge­
rade bei den asiatischen Völkern durch den Krieg erweckt wor­
den ist, später einmal einen Faktor zur Einleitung einer neuen
Weltprosperität bilden wird, doch fürs erste kann er nicht be­
friedigt werden, selbst auf die Gefahr hin, die hiedurch geför­
derten Rußland-Sympathien vermittels Gewaltanwendung, die
sich immerhin billiger stellt, unterdrücken zu müssen. Gott ist
zwar allmächtig, aber wenn er wem Geld geben soll, muß er -
und gar wenn er unter politischer Erpressung steht - es wem
andern wegnehmen.

Nichtsdestoweniger und ungeachtet des so überaus undemo­


kratischen Mittels einer offenbar unvermeidlichen Gewaltan­
wendung: gerade weil die finanzielle Hilfe, die Amerika den
Völkern zu geben vermag, von politischen Motiven diktiert ist,
muß mit ihr, trotz ihrem provisorischen Charakter und ihren
wirtschaftlichen Limitationen, der Versuch zur Festigung des
Westblocks unternommen werden. Daß mit der Grundtendenz
des Antikommunismus allein nicht das Auslangen zu finden ist,
hat das folgenschwere und schmerzliche chinesische22 Experi­
ment gezeigt; hier wurden Milliarden Dollars verwendet, um
eine Regierung zu alimentieren, die ihren Antikommunismus
vor allem in ihrem korrupten Privatkapitalismus dartat, so daß
im Volk jede Widerstandskraft gegen den Kommunismus, mit
dem es nur besser, keinesfalls schlechter werden konnte, zum
Erlöschen gebracht wurde, und es ist fraglich, ob es um die Ver­
183

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hältnisse in Griechenland23 wesentlich anders bestellt ist. Es ist
von keinem und am allerwenigsten vom politischen Gesichts­
punkt aus zu begreifen, daß eine von einem angeblich ehrlich
demokratischen Staat finanziell abhängige oder gar von ihm
eingesetzte Regierung keine reinen Hände haben und ein In­
strument der Volksbedrückung und -ausbeutung sein soll:
wollte man dagegen auf die Unverantwortlichkeit patronisier-
ter Regierungen verweisen, so heißt das nur, daß die Verant­
wortlichkeit auf den Patronanzstaat zurückfällt; er übernimmt
ja auch diese tatsächlich, wenn er Militärregierungen einsetzt,
wobei nicht wenige von diesen die Gerechtigkeit geachtet und
die Menschenrechte in dem ihnen anvertrauten Staatsgebiet
gewahrt haben.
Und wiederum stehen hiebei die Menschenrechte im Vorder­
grund. Und wiederum muß daher auf die Struktur der totalitä­
ren Demokratie zurückgegangen werden, umsomehr, als sie
zwar in der Frage der Menschenwürde und des Schutzes ihrer
normativen Richtlinien zu äußerster Unnachgiebigkeit ver­
pflichtet ist, sich aber eben in allen andern Fragen, so in denen
der Staatsform, der Volksrepräsentanz, des Wahlrechtes usw.,
äußerste Toleranz leisten darf. Gewiß ist die totalitäre Demo­
kratie kein alle Leiden heilendes Wunderelixier. Bei Chinas
augenscheinlich vollkommen verrotteter Verwaltung z. B. hätte
man mit Menschenrechten allein nichts auszurichten vermocht,
ehe nicht - an Mahnungen von berufener Seite hat es nicht ge­
fehlt - eine Reorganisation an Haupt und Gliedern vorgenom­
men worden wäre; m. a. W., es hätte Amerika ohne Rücksicht
auf den erwartbaren (nach griechischem Muster von Kommu­
nisten genährten) nationalen Widerstand, dem jedes, auch das
gutwilligste Eingreifen einer fremden Macht ausgesetzt ist, die
Einsetzung einer auf die Menschenrechte basierten, völlig
neuen Regierung erzwingen müssen. Umgekehrt: wo derartiges
bereits geschehen ist, wie eben in Griechenland, oder gesche­
hen wird, wie in Indochina oder Indonesien, da kann nur dann
auf eine Wiedergewinnung der Bevölkerung (und nebenbei auf
Indiens Mithilfe hiezu) gehofft werden, wenn man diese Regie­
rung unbedingt unter die normativen Richtlinien der Humani­
tät, unter die der »Bill of Rights« und zu deren Schutz unter die
der »Bill of Duties« stellt. Und den gleichen Preis hätte die
Franco-Regierung für die von ihr angestrebte Aufnahme in die
184

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United Nations24 und den Einschluß in das European Recovery
Program zu zahlen25. Freilich ist das für ein rein fascistisches
Regime nach Art des spanischen ein hoher Preis; er bedeutet
das Wiederinkrafttreten der bürgerlichen Freiheiten und das
der Unantastbarkeit der Person, und er ist trotzdem ein zahlba­
rer Preis, da die »Bill of Duties« die Handhabe zur Bekämpfung
der kommunistischen fifth columns bietet, deren gutes morali­
sches Recht zu radikalstem Anti-Francoismus leider außer
Frage steht, und die doch nicht nur für Spanien, sondern auch
für den ganzen Westblock im Augenblick schwerste Gefahr
sind.
All das läuft an der Utopiegrenze, allerdings ohne sie zu über­
schreiten; es bleibt im Gebiet des politisch Möglichen. Als
Noch-Möglichkeit ist es das Maximum dessen, was die demo­
kratische Vormacht Amerika dem demokratischen Gewissen
seiner Bürger und sohin auch den im Westblock zu vereinigen­
den Völkern bieten kann, aber es ist das Minimum dessen, was
die Völker von einem sich demokratisch nennenden Staatswe­
sen zu fordern haben. Und da es ein Minimum ist, so wäre es,
selbst wenn es zu verwirklichen wäre, nur ein sehr dünnes Band
zur Zusammenhaltung des Westblocks, ein umso dünneres, als
z. B. den Beduinenstämmen nicht eigens Menschenrechte, die
sie sich in jedem beliebigen Ausmaß nehmen, zugestanden
werden müssen. Trotzdem: besser ein dünnes Band als gar kei­
nes.
Und trotzdem: in dieses dünne Band ist der Ansatz zu einer
Ideologie einverwoben, die allein der marxistischen die Spitze
bieten kann, die Ideologie unbedingter Humanität.

Amerika als Weltfinancier ist, weil es sich um politisches Darle­


hen handelt, zu politischen, nicht jedoch zu wirtschaftlichen
Forderungen an seine Schuldner berechtigt. Das ist eine Um­
kehrung aller früheren Anschauungen, nicht zuletzt der ameri­
kanischen, die dem Gläubiger bloß die Erstellung wirtschaftli­
cher Bedingungen gestattet: eine Begriffsverwirrung, die an
dem Debacle der nach China gegangenen Anleihen mit schuld­
tragend war und jetzt zu dem noch lächerlicheren Verlangen
geführt hat, die Schuldner mögen sich uneingeschränkt zum
Kapitalismus bekennen. Gewiß wird im allgemeinen der Finan­
cier sein Geld bloß an solvente Debitoren mit geordneter Wirt-
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Schaft verleihen, also kaum an eine Wirtschaft, welche wie die
chinesische zum Großteil auf Defraudationen beruhte, doch
wie diese Ordnung beschaffen ist, ob kapitalistisch, ob staats­
kapitalistisch oder sonstwie kollektivistisch, kann und darf ihm
gleichgültig sein, finanziell gleichgültig, weil der Schuldner bloß
eine juristische Person für ihn darstellt, politisch gleichgültig,
weil gerade die Demokratie prinzipiell »wirtschaftsneutral« ist
und überdies wissen sollte, daß bei Güterknappheit eine geord­
nete Wirtschaft sich ohne gewisse Kollektivplanungen einfach
nicht erzielen läßt. Wollte man heute England wegen der ame­
rikanischen Anleihen zur Rückgängigmachung seiner Soziali­
sierung zwingen, so würde das nicht nur eine Gefährdung der
Anleihen bedeuten, sondern darüber hinaus einen politischen
Eingriff in die Souveränitätsrechte, der in seiner Sinnlosigkeit
jedwedes Gläubigerrecht weitaus überschritte.
Anders steht es mit den Menschenrechten. Vor ihrer Absolut­
heit hätte - bisher allerdings bloß theoretisch und prinzipiell -
jegliche Souveränität dahinzuschwinden. Würde heute das
Gläubigerrecht aus Zweckmäßigkeitsgründen (die allein in der
Politik Geltung haben) den Menschenrechten zu Hilfe kom­
men, d. h. sie zur Zusammenschweißung des Westblocks be­
nützen, so würden sie wahrscheinlich zum ersten Mal praktisch
zu dem ihnen gebührenden überstaatlichen Platz gelangen. Daß
hiefür Amerika, vorerst einmal Amerika selber, die »Bill of
Duties« adoptieren müßte, daß dem die andern dem Westblock
angehörenden unabhängigen Staaten zu folgen hätten (nicht
zuletzt Frankreich und Holland, denen es obläge, ihre Kolo­
nialstaaten in gleichem Sinn einzurichten), das versteht sich von
selbst und ebenso, daß die der »Bill of Duties« gewidmeten ge­
setzlichen Bestimmungen in den einzelnen Ländern weitge­
hend gleichlautend zu sein hätten. Denn der überstaatliche
Charakter des Schutzes der Menschenwürde wäre von vorn­
herein verloren, wenn das Gerichtsverfahren, dem solcher
Schutz obliegt, nicht einen Instanzenzug hätte, der letztlich zu
einer überstaatlichen obersten Instanz führte.
M. a. W., neben die »International Bill of Rights«26, die von
den United Nations angenommen worden ist, würde für die
Staaten des Westblocks eine »International Bill of Duties« tre­
ten, die nicht nur wie jene die Regierungen verpflichtet, und
zwar unverbindlich verpflichtet, da ja bei Verstößen gegen die
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Menschenrechte nicht einmal diese Regierungen (es sei denn
nach vorhergegangenem, sieghaft beendetem Krieg) verant­
wortlich gemacht werden können, sondern ein gemeines Ver­
brechen statuiert, das ebensowohl vom privaten Bürger wie
vom Regierungsmitglied begangen werden kann, und für das
der eine wie der andere vor Gericht zu stellen ist. Und da in ei­
nem Staat, dessen Bürger oder gar Regierungsmitglieder eine
Bewegung gegen die Menschenrechte, sei es mit kleinen, sei es
mit gewichtigen Taten zu inaugurieren beabsichtigen, auch zu­
meist die Gerichte nicht unaffiziert bleiben und daher korrupt
werden, tut es not, Prozesse dieser Art über die Staatshoheiten
hinaus bis zu dem hiefür zu installierenden »Internationalen
Gerichtshof« verfolgen zu können oder sogar - unter Anrufung
der ihm hiezu anzugliedernden »Internationalen Staatsanwalt­
schaft« - unmittelbar bei ihm anhängig zu machen. Und zur
Komplettierung der Kontrolle wären wohl Internationale
Staatsanwälte zu den höheren Gerichten der einzelnen Staaten
zu delegieren, besonders dorthin, wo zu befürchten wäre, daß
eine mehr oder minder primitive Bevölkerung durch die Ge­
richtsbehörden eingeschüchtert werden könnte.
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« umfaßt einen
verhältnismäßig kleinen Teil des öffentlichen Lebens und
braucht doch einen unverhältnismäßig großen Apparat, um aus
dem Bereich der Einzelsouveränitäten herausgehoben werden
zu können. Denn mit der Installierung des dazugehörigen In­
ternationalen Gerichtes ist es ja noch nicht getan; es gehören,
da es sich stets um individuelle Verbrecher handelt, Bestim­
mungen über ein Auslieferungsverfahren sowie über den inter­
nationalen Strafvollzug hiezu, und zu alldem wiederum gehören
die Zwangsmittel einer entsprechend bevollmächtigten Exeku­
tive, und sicherlich hieße es mit Kanonen nach Spatzen schie­
ßen, wenn zur Erzwingung eines einzigen Gesetzes eine eigene
internationale Polizeimacht aufgestellt werden müßte. Hier al­
lerdings vereinfacht sich das Problem: macht Amerika den
Schutz der Menschenrechte zu seiner eigenen Sache, d. h. ver­
knüpft es sie mit seinem Gläubigerrecht, dann wird ihm auch
automatisch die Pflicht zur Beistellung der Exekutive zufallen.

Mit dem Schutz der Menschenrechte soll der Versuch gemacht


werden, die Idee des Westblocks den von ihm umschlossenen
187

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Völkern näherzubringen, d. h. das Bewußtsein der Humanität,
das Bewußtsein des individuellen Antitotalitarismus in ihnen zu
erwecken, die Abscheu vor einer Staatsaggression, die um ihrer
selbst willen geübt wird. Im Gegensatz zur russischen Technik,
welche zuerst die Völker revolutioniert, um sie sodann mit Hilfe
der Kolonialmethode in den eisernen Klammern der Staatsin­
stitutionen zu immobilisieren, soll also hier das Umgekehrte
geschehen: zwar zur sofortigen Anwendung der Kolonialme­
thode gezwungen, um ihren Block zusammenschweißen zu
können, müssen die Westmächte, wenn sie auch einen innern
Zusammenhalt der Länder wünschen, alles daransetzen, um die
Völker von ihrer revolutionär-humanen Seite zu packen. Der
Schutz der Menschenrechte ist permanente Revolution »von
oben«.
Freilich, jede Revolution »von oben« begegnet Mißtrauen,
wird als Trick der Institutionen, als Trick der Staatsgewalt auf­
gefaßt. Wäre es also nicht richtiger, »von unten« anzufangen?
Wäre es nicht richtiger, zur Erreichung des Humanitätszieles
eine richtige »Humanitätspartei« zu bilden, die gleich der
Kommunistischen Internationalen sich über alle Länder er­
streckt, so daß der Marxschen Weltrevolution eine »Weltrevo­
lution der Humanität« entgegenzustellen wäre? Derartige
Konzeptionen haben, auch wenn sie keineswegs bloß als Imita­
tionen, als Komintern-Imitationen aufgefaßt zu werden haben,
zumeist den Charakter intellektueller Phantasien und sind da­
her zumeist von Politik weit entfernt; gewiß kann eine Theorie
der Humanität, wie sie von der Psychologie und den Sozialwis­
senschaften heute schon lieferbar ist, die Aktionsgrundlage für
politisches Handeln und somit auch für eine »Partei« abgeben,
aber Humanität ist kriegsfeindlich, und da Revolution und
Krieg heute identische Begriffe geworden sind, wäre es not­
wendigerweise eine Evolutions- und keine Revolutionspartei,
d. h. eine, welche wohl dem demokratischen Ideal entspräche,
jedoch eine sehr geringe Anziehungskraft für die nach wie vor
revolutionsbegierigen Massen besäße.
Was wäre das Programm einer solchen Humanitätspartei? Es
ginge kaum über das hier bereits Gesagte hinaus, und seine
Hauptpunkte wären daher: erstens, das Prinzip der unmittelba­
ren Wohlfahrt, besagend, daß den Menschen und der Mensch­
heit nicht für einen chimärischen künftigen Glückszustand in­
188

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humane oder gar - wie in Rußland - barbarische Opfer
auferlegt werden dürfen; zweitens, das Prinzip der Menschen­
rechte, besagend, daß jeder Bruch der Menschenrechte, von
wem immer er begangen wird, unbedingt abgestellt und geahn­
det werden muß, ja daß hiefür, allerdings auch nur hiefür, der
Mensch, da es um die unmittelbare Rettung gefährdeter Ne­
benmenschen geht, zu Opfern verhalten werden darf und muß;
drittens, das Prinzip der Scheidung zwischen lebender und juri­
stischer Person, besagend, daß der juristischen Person keine
Menschenrechte zustehen und umgekehrt der lebende Mensch
nicht als juristische Person zu betrachten ist, also unter keinen
Umständen vom Staat ausgelöscht werden darf ; und schließlich
(als Resultat der vorangegangenen Prinzipien) das antimachia-
vellistische Prinzip der unbedingten Pakttreue sowohl zwischen
den Einzelpersonen wie zwischen den Institutionen und den
Staaten. Gewiß mag man das ein dürftiges Programm nennen,
- aber ist etwa das kommunistische Parteiprogramm reichhalti­
ger?
Am wesentlichsten aber ist wohl, daß es das Programm der
demokratischen Tradition ist, und daß es auch zum Großteil in
den demokratischen Konstitutionen seinen Niederschlag ge­
funden hat. Und ebendarum darf es als Revolution »von oben«
(ohne eigentliche Revolution) zur Anwendung gebracht wer­
den, ehe es hiefür zu spät ist. Wollte man erst Humanitätspar­
teien bilden, so wäre es zu spät, umsomehr als dem eine Unzahl
von Schwierigkeiten und Verzögerungen begegnen würde:
nicht nur, daß die Parteien in den wahrhaft demokratischen
Ländern (mit Ausnahme ihrer kommunistischen Gruppen) oh­
nehin evolutionistisch eingestellt sind, und nicht nur, daß das
angelsächsische Zweiparteiensystem technisch für andere Par­
teibildungen ungeeignet ist, es wäre geradezu unsinnig, mit sol­
chen Parteiprojekten zu den Kolonialvölkern zu kommen, die
darin bloß einen Ausbeutertrick des weißen Mannes vermuten
würden; ehe sie nicht wirkliche Taten sehen - und der Schutz
der Menschenrechte sowie die Abschaffung der Todesstrafe
wären der erste Ansatz hiezu - , kann hier das Vertrauen zu
Amerika, das jetzt von einem den Sowjets zugewendeten abge­
löst worden ist, nicht wiedergewonnen werden.
Die Humanitätspartei wäre also fürs erste jedenfalls nichts als
eine bloße Geste, umsomehr, als sie nicht, wie die Komintern,
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ein fifth-column-Instrument wäre. Ob sie später wahrhaft in­
ternational werden kann, ist eine Machtfrage, d. h. hängt von
der Aufhebung des weltzerteilenden Eisernen Vorhangs ab.

1 Seeschlacht am 7. 10. 1571. in der Don Juan d’Austria als Oberbefehlshaber


der von Spanien, Papst Pius v. und der Republik Venedig ausgerüsteten Flotte
die Seemacht der Türken schlug.
2 Gilbert Keith Chesterton (1874-1936), konvertierte 1922 zum Katholizis­
mus; katholischer Gegenspieler Shaws. Vgl. u.a. St. T h o m a s A q u in a s (1933).
3 Thomas Stearns Eliot (1888-1965), trat 1928 zur anglikanischen Hochkirche
über. Im Auftrag der Kirche schrieb er das Mysterienspiel M u rd e r in the C a ­
thedral (1939).
4 Thomas Edward Lawrence (1888-1935) englischer Schriftsteller, nahm als
Oberst am Ersten Weltkrieg teil, führte die Araber gegen die Türken, trat
1922 als einfacher Soldat in die Armee ein und verschenkte vorher sein ganzes
Besitztum. Vgl. u. a. S even Pillars o f W isd o m (1926).
5 William Butler Yeats (1865-1939), stand 1896 einige Zeit mit der irischen
revolutionären Bewegung in Verbindung. Vgl. »An Irish Airman Foresees
His Death«, Gedicht des Bandes »The Wild Swans at Coole« (1919), in: The
C ollected P o e m s o f the W. B . Yeats (New York 1967), S. 133-134.
6 Knut Hamsun (1859-1952). Sein Mißverstehen des nationalsozialistischen
Blut- und Bodenmythos in Verbindung mit seinem Haß auf alles Anglo-
Amerikanische verführten ihn dazu, sich im 2. Weltkrieg zu Deutschland und
der Quisling-Bewegung in Norwegen zu bekennen, weshalb er 1945 nach der
Befreiung Norwegens in Arrest gehalten und des Landesverrats angeklagt,
wegen seines Alters aber nur zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde.
7 Die Infallibilität wurde 1870 auf dem Vatikanischen Konzil definiert.
8 Die Menschewiki war die gemäßigte Gruppe der russischen Sozialdemokra­
ten seit deren 2. Parteitag in London (1903). Bolschewiki nannte sich seitdem
der radikalere Flügel, der auf jenem Parteitag den Abstimmungssieg errang.
9 Vgl. W. I. Lenin, »Die Demokratie der Arbeiter und der Bourgeoise«, in: L e ­
nins W erke (S o ch in en ija , in Russisch), Band vii (Leningrad-Moskau, 1930),
S. 65 ff.
10 Brochs Verzeichnis seiner Wiener Bibliothek enthält folgende Titel von Bü­
chern, in denen Fragen des Natur- bzw. Vernunftrechts und des Positiven
Rechts erörtert werden: Arens, Heinrich. N a tu rrech t u n d P h ilo so p h ie des
R echts u n d des Staates. A u f d em G ru n d e des ethischen Z u sa m m e n h a n g s von
R echt u n d C u ltu r (Wien 1870); Brunner, Heinrich. F orschungen z u r G e ­
schichte des d eu tsch en u n d fra n zö sisc h e n R ech ts (Stuttgart 1894); Byk, S. A.
R ech tsp h ilo so p h ie. D e r letzte G ru n d des R ech ts u n d sein e p ra k tisch e n C onse-
q u en zen (Leipzig 1882); Cassirer, Ernst. N a tu r- u n d V ö lkerrech t im L ic h te
der G eschichte u n d d e r sy stem a tisch en P h ilo so p h ie (Berlin 1919); Hasner,
Leopold. P h ilo so p h ie des R ech ts u n d sein er G eschichte (Prag 1851); Kauf­
mann, Felix. D ie K riterien des R echts. E in e U n tersu ch u n g über die P rin zip ien
der juristischen M e th o d e n le h re (Tübingen 1924) und L o g ik u n d R e c h tsw is­
senschaft. G ru n d riß eines S ystem s d er reinen R ech tsleh re (Tübingen 1922);

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Kirchmann, Julius Hermann von. D ie G ru n d b e g riffe des R echts u n d der M oral
als E in leitu n g in d a s S tu d iu m rech tsp h ilo so p h isch er W erke (Berlin 1873);
Köhler, Joseph. D a s R e c h t als K u ltu rersch ein u n g . E inleitung in die verglei­
ch en d e R ech tsw issen sch a ft (Würzburg 1889); Pollack, Walter. Perspektive
u n d S y m b o l in P h ilo so p h ie u n d R ech tsw issen sch a ft (Berlin 1912); Tren­
delenburg, Adolf. N a tu rrech t a u f d e m G ru n d e der E th ik (Leipzig 1868);
Zoepfl, Heinrich Mathias. G ru n d riß zu V orlesungen über R echtsphilosophie
(N a tu rrech t) (Berlin 1879).
11 Vgl. Fußnote 9. Dort werden die politischen Gegner - wie häufig bei Lenin
- als zu bekämpfende Feinde bezeichnet; das Wort »ausrotten« fällt aller­
dings nicht.
12 Anspielung auf politische Geheimbünde in Amerika wie den Ku Klux Klan.
13 Vgl. Fußnote 4 »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demo­
kratie«.
14 Die »Declaration des droits de l’homme et du citoyen« wurde am 3. Septem­
ber 1791 in die französische Verfassung integriert. Der Konvent suchte durch
Wiederholung dieser Erklärung (29. Mai 1793) die revolutionäre Begeiste­
rung zu steigern.
15 Vgl. Fußnote 5 »Zur Diktatur der Humanität...«.
16 Vgl. Fußnote 2 zum Aufsatz »Die Zweiteilung der Welt«.
17 Die Ausschüsse des Senats und des Repräsentantenhauses der USA zur Un­
tersuchung von sogenannten »unamerican activities« betrieben ihre Schau­
prozesse gegen angebliche »Kommunisten« gegen Ende der vierziger und zu
Anfang der fünfziger Jahre. Von 1950 bis 1954 leitete dann der berüchtigte
Joseph Raymond McCarthy, Senator für Winsconsin, den betreffenden Se­
natsausschuß.
18 Das »European Recovery Program« (ERP), als Marshall-Plan benannt nach
dem seinerzeitigen US-Staatssekretär für Auswärtiges George Marshall
(Rede vom 5. Juni 1947), wurde von den USA begründet zur wirtschaftlichen
Unterstützung der europäischen Länder. Von 1948 bis 1952 wurde es durch­
geführt aufgrund der »Foreign Assistance Act« von 1948.
19 Vgl. Fußnote 18.
20 Anspielung auf das Verhalten der USA und der UdSSR während des Spani­
schen Bürgerkrieges (1936-1939).
21 Vgl. Immanuel Kant, Z u m ew igen F rieden. E in p h ilo so p h isch er E n tw u rf
(1795).
22 Wenige Monate nach Fertigstellung dieses Essays wurde am 1. 10. 1949 die
Volksrepublik China von Mao Tse Tung begründet.
23 Hinweis auf den von 1944 bis zum Winter 1949/1950 andauernden Bürger­
krieg in Griechenland.
24 1946 wurde in der UNO negativ über die Aufnahme Spaniens in die Weltor­
ganisation entschieden, seit 1950 wurde das Land zur Mitarbeit in einigen
Gremien zugelassen, seit 1955 ist Spanien Vollmitglied der UNO.
25 Spanien erhielt keine Hilfe durch den Marshall-Plan und wurde auch nicht
an der Gründung der OECD beteiligt.
26 Am 10. 12. 1948 wurde von der UNO die »Universal Declaration of Human
Rights« abgegeben.

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Friede und Menschenrecht

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V ö lk e r b u n d -R e s o lu tio n

Kommentar

Durchaus bewußt, daß Manifeste in dieser aufgewühlten Zeit,


mögen sie noch so wohlgesinnt sein, praktisch ein ziemlich
hoffnungsloses Beginnen darstellen, doch nicht minder der
Pflicht bewußt, gerade in einer solchen Zeit und gerade gegen
ihre Ungunst nichts von dem unversucht zu lassen, was einen
Schimmer von Hoffnung in sich birgt, einen geringen Beitrag
zur Abwendung des drohenden Kultur-Unheils liefern zu kön­
nen, richtet sich die vorliegende Resolution an die fußend an­
geführten großen Humanitätsorganisationen mit der Einla­
dung, sie mögen durch ihre Unterschrift den Völkerbund
auffordern, daß er sich auf den Boden dieser Resolution stelle
und damit eine Deklaration zum Schutze der allenthalben ver­
gewaltigten Menschenwürde erlasse.
Es ist ein Schritt, der nicht den Anspruch auf besondere Origi­
nalität erhebt; er will, so weit man von einem praktischen
Zwecke sprechen darf, propagandistisch wirken. Weder sind
humane Prinzipien an sich originell, noch sind originelle The­
mata geeignet, irgendeinen propagandistischen Einfluß aus­
zuüben. Auch die Deklarierung der Menschenrechte durch den
Konvent war in diesem Sinne nichts anderes als eine Banalität;
was sie über das Banale hinaus und zu ihrer säkularen Wirkung
erhoben hat, das war die vorausgegangene geistige Arbeit, die
so lebendig in sie eingeflossen war, daß ihre ethisch-philosophi­
schen Begründungen noch viele Jahre hindurch ungebrochen in
der Deklaration mitgeschwungen sind. Wenn Humanität und
Demokratie heute am Rande des Abgrundes stehen, beinahe
unfähig, die gegen sie gerichteten Angriffe abzuwehren, wenn
die alten Ideale der Menschlichkeit, ungeachtet ihres ewigen
Gehaltes, heute so viel an Schlagkraft eingebüßt haben, daß sie
nicht mehr imstande sind, die gegen sie gerichtete Propaganda
abzuschwächen oder gar zu besiegen, nicht imstande, Gegenar­
gumente von nämlicher Suggestibilität ins Treffen zu führen, so
weist dies darauf hin, daß ihr geistiger Hintergrund nichts mehr
hergeben will, m. a. W., daß das vielberufene geistige Primat zu
versiegen beginnt, und dies liegt nicht zuletzt an der - allerdings
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geschichtsgesetzlich bedingten - schubweisen Entwicklung, die
noch alle historischen Ideenformulierungen betroffen hat: Je
größer und scheinbar unerschütterlicher deren Wirkungsfeld
geworden ist, desto mehr neigen sie zum Stillstand und zu einer
Erstarrung, die mit dialektisch-logischer Folgerichtigkeit
schließlich das Aufkeimen von mehr oder minder unklaren Ge­
genideen aus dem Irrationalen provozieren müssen, und desto
ausschließlicher erhalten sie erst von diesen den neuen Impuls
zur Weiterarbeit an ihrer eigenen geistigen Fundierung, die
freilich unerläßlich ist, um ihre Erstarrungskrise zu überwin­
den. An diesem Krisenpunkt ist heute die Welt angelangt. Denn
obwohl die Weltlage und die mit ihr in unlösbarem Zusammen­
hang stehende geistige Atmosphäre zweifelsohne wesentlich
komplizierter ist, als sie es zur Zeit der Menschenrechtsde­
klaration gewesen war, ist die demokratische und humane
Weltanschauung ethisch-philosophisch den Ideenformulierun­
gen des 18. Jahrhunderts verhaftet geblieben, und sie glaubte
genug getan zu haben, wenn sie deren Weiterentwicklung in
sozial-ökonomischer Beziehung berücksichtigte. Die Folge ist
das, was man die Krise der Demokratie nennt und nun zugleich
auch eine Krise des Völkerbundes geworden ist. Und eben weil
diese Krise ihrem Höhepunkt zueilt, eben weil es höchste Zeit
ist, ein Gegengewicht zu der humanitätsfeindlichen, pseudo­
mystischen Propaganda in die Waagschale zu werfen, und eben
weil der Völkerbund als einzige übernationale Institution und
unbeschadet der Größe seines Initialdenkens realpolitisch zu
einer täglich wachsenden Ohnmacht verurteilt erscheint, wen­
det sich die vorliegende Resolution an seine Adresse: es ist das
Bemühen, aus dem Völkerbundstatut selber jene Maßnahmen
zu entwickeln, welche geeignet sein könnten, die Prinzipien der
Humanität, der Gerechtigkeit und der unantastbaren Men­
schenwürde wieder in ihren Rang einzusetzen und sie mit der
für diese Absicht unbedingt erforderlichen ethisch-philosophi­
schen Neubegründung auszustatten, begleitet und getragen von
einer Überzeugung, für die es unwiderlegbar geworden ist, daß
einer mit dem Pathos unfundiert hohler Appelle übersättigten
und mißleiteten Welt nichts so nottut wie eine Berufung auf die
Ratio, die den alleinigen Seinsgrund allen Fortschrittes, aller
Wahrheit und allen wahrhaft guten Willens bedeutet. Selbst
wenn der Völkerbund durch die realpolitische Situation gehin­
196

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dert wäre, sich das Manifest vollinhaltlich oder auch nur teil­
weise zu eigen zu machen, es genügte schon, daß eine allge­
meine Diskussion über die manifestierten Themen in Gang
gebracht werde: gelänge dies - und angesichts des moralischen
Gewichtes der zur Unterschrift designierten Organisationen
müßte es eigentlich gelingen -, so wäre es an sich schon ein pro­
pagandistischer Faktor von stärkster Intensität, jedenfalls von
einer, die größer wäre als die jeder Schlagwortpathetik, doch
darüber hinaus zeigt die darin enthaltene unmittelbare Erfas­
sung der Öffentlichkeit, daß der Völkerbund vor eine Vertie­
fung seiner Aufgaben gestellt ist, nämlich vor die Aufgabe, den
Geist seiner Friedensmission zum wesentlichsten Inhalt seiner
Tätigkeit zu machen, seine Humanitätsidee neu in seiner Struk­
tur zu verankern und eben hiedurch eine geistige Wirksamkeit
zu entfalten, die wahrscheinlich das einzige Mittel ist, um die
Welt wieder zur Paktfähigkeit zurückzuführen, das einzige
Mittel, um einer Friedensinstitution wieder die praktische
Wirksamkeit zu sichern; gelänge dies nicht, so würde der Völ­
kerbund und mit ihm seine Friedensmission kaum die ihn und
die Kultur bedrohende Krise überdauern, er würde sie nicht
bekämpfen können, geschweige denn daß es ihm möglich wäre,
die endgültige Katastrophe aufzuhalten.
Als Signatare sind vorderhand folgende Organisationen in
Aussicht genommen:
1. Carnegie Endowment for International Peace.1
2. Englische Völkerbundliga unter Einbeziehung der übrigen
Ligen.
3. Gesellschaft der Freunde.2
4. Institut für internationales Recht, Genf.
5. Internationales Friedensamt, Genf.3
6. Nobelpreiskomitee, Oslo.
7. Paneuropa Union, Wien.4
8. Penklub-Zentrale, London.
9. Rassemblement universel pour la Paix, Paris.
10. Rotes Kreuz, Genf.
11. Zentrale der Liga für Menschenrechte, Paris.5
Außerdem ist gedacht, die Träger des Friedensnobelpreises zur
persönlichen Unterschrift aufzufordern.

197

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Resolution

Bei aller Anerkennung der Übermacht eines jeden materialen


Konfliktstoffes in der praktischen Politik, bei allem Wissen um
die Machtlosigkeit rein ethischer Gesichtspunkte in allen Fra­
gen der Gewaltsentscheidung und Gewaltsanwendung und
dennoch zutiefst überzeugt, daß Friede und Menschenwürde in
einem sehr innigen Zusammenhang stehen, und dennoch tief
entsetzt vor dem Anblick einer terrorerfüllten Zeit, die mit
Menschenleben und Menschenwürde und Menschenleid so un­
bedenklich wüstet, daß sie sowohl sich selber als auch den Men­
schen zu einem bloßen Provisorium erniedrigt, erachten die
Unterfertigten6 es für ihre unabweisliche Pflicht, im schlichten
Sinne einer ebenso banal-natürlichen wie utopisch-idealisti­
schen humanen Anständigkeit festzustellen, daß jegliche öf­
fentliche Verfügung, sei es nun innerstaatliches Gesetz oder
zwischenstaatliche Vereinbarung, ausschließlich der Würde
und dem Wohle der von solchen Maßnahmen betroffenen
Menschen sowie dem Schutze ihres realen Lebens in physi­
scher, geistiger und seelischer Beziehung zu dienen habe: und
weil sie tief überzeugt sind, daß das Utopische von Gestern das
Banale von heute ist, das Utopische von heute das Banale von
morgen sein wird, ja, daß sich darin der einzige Weg zur Ver­
wirklichung humaner Anständigkeit zeigt, der einzige Weg des
Kulturfortschrittes und damit auch der einer stetig straffer wer­
denden geistigen Friedensorganisation, so halten sie sich für
befugt, dem Völkerbund als dem höchsten europäischen Frie­
densforum die nachstehend angeführten und im Anhang erläu­
terten Vorschläge zur Wahrung der Menschenwürde zu unter­
breiten und das dringliche Ersuchen hinzuzufügen, er möge den
Inhalt dieser Vorschläge nach erfolgter Prüfung und Diskutie-
rung zum ergänzenden regulativen Prinzip seines eigenen Sta­
tuts erheben und in gleicher Weise den innerstaatlichen Ge­
setzgebungen seiner Mitglieder zur Annahme empfehlen.

A. Prinzipien

I.
Als überstaatliche Instanz und gemäß der ihm erstellten Frie­
densaufgabe, betrachtet sich der Völkerbund als einen Teil je-
198

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ner Herrschaftsinstitutionen, die von den Völkern, letztlich
aber vom einzelpersönlichen Menschen eingerichtet worden
sind, damit die Absolutheit menschlichen Seins, die physische
und psychische Integrität des einzelpersönlichen Lebens, der
Bestand der Kultur und ihrer Werte gesichert, ausgebaut und
vor Schädigungen bewahrt werden.
Die nämliche Auffassung von den Pflichten jeglicher Herr­
schaftsinstitution gegenüber dem Einzelmenschen muß der
Völkerbund, soferne er eben Ausdruck einer einheitlichen völ­
kerverbindenden Gesinnung sein soll, desgleichen bei den ihm
angeschlossenen, paktwilligen und friedenswilligen Regierun­
gen voraussetzen; denn ohne ein gemeinsames pakttragendes
Ethos gibt es keinerlei friedensstiftende Mission.

II.
Der Völkerbund anerkennt demnach den einzelpersönlichen
Menschen als den Urträger jeglicher ethischer Haltung und da­
mit auch als den Träger jener Paktfähigkeit, von deren Vorhan­
densein seit eh und je der initiale Friedensauftrag ergangen ist
und stets aufs neue ergehen wird: denn die unbedingte Achtung
vor dieser urhaften, dem Menschen eingeborenen ethischen
Absolutheit ist die erste und natürlichste Pflicht, die der
Mensch gegen sich selbst und gegen den Nebenmenschen aus­
zuüben hat, doch die Verteidigung dieser Absolutheit ist mit
der nämlichen Unabänderlichkeit sein erstes und natürlichstes
Recht; beides zusammen macht des Menschen Würde aus, und
durch beides zusammen werden unabänderlich die Aufgaben,
Rechte und Pflichten, aber auch die Würde jeder Herrschafts­
institution bestimmt.
Der Völkerbund vertritt die Ansicht, daß es in Fragen, welche
die menschliche Würde berühren, keine innerstaatliche Auto­
nomie zu geben hat; denn hier handelt es sich um grundlegende
moralische Einstellungen, deren Gemeinsamkeit auch in der
innerstaatlichen Gesetzgebung zum Ausdruck kommen muß:
jede Zerreißung einer solchen Gemeinsamkeit bedeutet
Kriegsgefahr.

III.
Der Völkerbund ist wie jede andere Herrschaftsinstitution, sei
sie nun staatlicher oder sonstweicher Art, zur Hintanhaltung
199

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und zur Bekämpfung von Unrecht eingesetzt, und wenn ihm
auch hiezu die üblichen materialen Machtmittel fehlen, so soll
die einmütige moralische Haltung der Mitgliedstaaten, diesen
Mangel wettmachend, ihn zur Erfüllung jener Herrschaftsauf­
gabe befähigen.
Der Völkerbund ist daher gewillt, seine unrechtsbekämpfende
Aufgabe nicht auf die der direkten Kriegsverhinderung zu be­
schränken, sondern darüber hinaus sie tunlichst weit auszudeh­
nen: als Unrecht, ja, als Verbrechen ist alles zu umreißen, was
gegen die absolute Würde des Menschen verstößt, also eine
Vergewaltigung der natürlichen humanen Rechte in sich
schließt; der Krieg als legalisierte und systematische Verletzung
menschlicher Integrität ist lediglich die Verdichtung sämtlicher
Verbrechen gegen die Menschenwürde.
Alles öffentliche Unrecht trägt den Keim unmittelbarer oder
künftiger Kriegsursachen in sich; der Völkerbund ist gewillt,
jedes Auftauchen derartiger Haltungen und Phänomene wach­
sam zu registrieren und, unbeschadet seines human-pazifisti­
schen Zieles, ja, um dieses Zieles willen, sie offensiv, wo immer
und wie immer sie auftreten, zu bekämpfen.

IV.
Der Völkerbund wendet sich insbesondere gegen Regierungs­
maßnahmen, welche Unrecht gesetzlich verankern und damit
zur dauernden Kriegsgefahr eternisieren wollen, und er regi­
striert insbesondere jene Fälle, in denen das legalisierte Un­
recht bis zu legalisierter Ungerechtigkeit gesteigert wird: Un­
gerechtigkeit verstößt unmittelbar gegen die grundlegende
natürliche Menschenpflicht, denn in jeder Ungerechtigkeit ist
Mißachtung und Verkleinerung menschlicher Würde enthal­
ten, und so wenig es möglich ist, Unendliches zu verkleinern,
so wenig können von der Absolutheit irgendwelche Abstriche
gemacht werden; weder für die absolute Würde, noch für das
absolute Ethos, noch für den Menschen als den Träger solcher
Absolutheit sind Abstufungen und verschiedene Klassengrade
zulässig.
Und ebenso ist die Konkretisierung der Gerechtigkeit, also
das Gesetz, auf unbedingte Achtung vor der einzelpersönlichen
Würde und ihrer unschmälbaren Absolutheit angewiesen, mit­
hin aber auch auf jene Valenzgleichheit gegründet, die dem
200

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Menschen ebendeshalb vor dem Gesetze zusteht; eine Schmä­
lerung dieses urhaft menschlichen Anspruches auf Achtung und
paritätische Behandlung kann lediglich in Ausnahmefällen
platzgreifen, nämlich in solchen, in denen das Gesetz gezwun­
gen ist, zufolge bestimmter Delikte strafrechtlich ahndend auf­
zutreten: d. h. es müssen bestimmte, in ihrem Begriff möglichst
vorher definierte Handlungen stattgefunden haben, welche ge­
eignet sind, die Menschenwürde und die Menschenrechte zu
beeinträchtigen - die meisten der landläufigen, strafrechtlich
verfolgten Verbrechen fallen unter diese Kategorie -, und es
müssen bestimmte konkrete Personen als Täter stellig gemacht
werden können, damit diese und nur diese, so weit sie durch
ihre Tat zu Schädigern am Recht und an der Gerechtigkeit ge­
worden sind, im Rahmen der vorgesehenen Strafsanktionen ih­
rerseits an Integrität, Parität und Würde beeinträchtigt werden
dürfen.
Der Völkerbund steht mit seiner Sympathie und mit seiner
Unterstützung hinter allen Institutionen, die es sich in seinem
Sinne angelegen sein lassen, jedwede Ungerechtigkeit, zumal
jede haßerzeugte und haßerzeugende, zu bekämpfen und die
öffentlichen Maßnahmen in die Richtung wachsender Gerech­
tigkeit zu lenken.

V.
Der Völkerbund brandmarkt als Verrat am Frieden alle jene
Fälle legalisierter Ungerechtigkeit, in denen eine Regierung
sich wissentlich ihrer grundlegenden Menschen- und Herr­
schaftspflicht entzieht und durch Entwürdigung des Menschen
mittel- oder unmittelbar neue Haßwellen heraufbeschwört.
Derartige Verstöße können sowohl von passiver, wie von akti­
ver Struktur sein, und zwar erfolgen sie
1. als passive, wenn eine innerstaatliche Gesetzgebung es un­
terläßt, in die Liste der strafrechtlich zu ahndenden Verbrechen
auch jene aufzunehmen, die - wie z. B. der Sklavenhandel -
vom Völkerbunde bekämpft werden,
2. als aktive, wenn eine Regierung sich in den Dienst eines
»Siegesprinzipes« stellt,
a) außenpolitisch, indem sie überhaupt Kriege führt und im
Falle des Sieges daran geht, das besiegte Volk oder Teile des­
selben zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren, d. h. zu sol­
201

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chen, denen zwar die gleichen oder gar größere Lasten als der
Siegergruppe auferlegt werden, doch ohne daß ihnen der ent­
sprechende gerechte Mitgenuß an den bürgerlichen Rechten
und Ehren, die gleiche Anwartschaft an den öffentlichen Ein­
richtungen, die gleiche Freiheit ihres persönlichen Lebens,
kurzum die gleiche physische und psychische Integrität zuge­
standen werden soll,
b) innenpolitisch, indem die Herrschaftsgruppe, sei es als In­
strument einer siegreichen Majorität, sei es in anderer Eigen­
schaft, einen ähnlichen Unterschied zwischen den Staatsbür­
gern installiert und eine größere oder kleinere Anzahl von
ihnen, ohne daß dieselben sich strafrechtlich vergangen hätten,
in ihrer Würde, in ihren Rechten, in ihrer Freiheit beeinträch­
tigt, m. e. W., ihnen den Charakter von Unterworfenen und von
Menschen zweiter Klasse aufzwingt.
Der Völkerbund hat in seinem Statut, ebensowohl durch die
Grundsatzungen der nationalen Selbstbestimmung und
Gleichberechtigung, als auch durch die des Minoritätenschut­
zes unzweideutig kundgetan, daß er jede Majorisierung und
Verknechtung von Menschen verwirft, weil in einem solchen
Vorgehen, selbst wenn es auf demokratischem Wege erfolgte,
die Zuschanzung von unzulässigen Sonderbegünstigungen für
eine Gruppe zum Nachteil einer anderen zu erblicken ist und
derartige Sondervorteile durch nichts, am allerwenigsten durch
die Berufung auf das Staatsinteresse zu Recht und Gerechtig­
keit werden können: der Staat ist zwar legitimiert, ja, sogar ver­
pflichtet, Betätigungen, die sich gegen seinen Bestand richten,
zu verbieten und, wenn nötig, schon im Keime zu ersticken, er
kann und darf die betreffenden Erlaubnis- und Verbotsgrenzen
weiter oder enger ziehen, doch das Kriterium der Verfolgungs­
lizenz hat einzig und allein in der gesetzwidrigen Handlung oder
in deren Vorbereitung, niemals in der Person als solcher zu lie­
gen; ein Staatsprinzip, welches daran zu rütteln wagte oder gar
infolge einer Majoritäts- oder Regierungsentscheidung sich
entschlösse, diese urtümlichsten Rechte seiner Bürger anzu­
greifen, ist im Innern paktbrüchig und daher auch nach außen
hin nicht paktfähig. Gerade die Friedensmission des Völker­
bundes verlangt, daß das Menschenwohl dem Staatswohl vor­
angestellt werde, denn nur hierin ist das pakttragende, frie­
denstragende gemeinsame Ethos der Welt zu fundieren.
202

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VI.
Der Völkerbund verwirft auf das entschiedenste die bereits zur
staatlichen Gepflogenheit gewordenen Ausbürgerungsakte,
denn sie stellen theoretisch wie praktisch die Fortsetzung der
durch Bürgerdegradationen gegebenen staatlichen Pflichtver­
letzung dar-theoretisch, weil es beinahe gleichgültig ist, ob ein
Bürger im Inland durch Entzug seines Vollbürgertums zum Teil
schutzlos gemacht oder vogelfrei erklärt wird, oder ob ihm dies
im Auslande durch Entzug seines Passes zur Gänze geschieht
sowohl bei diesen Auslands-, als auch bei jenen Inlandsausbür­
gerungen, wie man sie bezeichnen darf, handelt es sich um
Strafsanktionen ohne vorhergegangene Straftat, also um sol­
che, die lediglich auf die Person zielen, und der Vorgang wird
umso unmoralischer, als der ausbürgernde Staat sich damit ein
handliches Mittel verschafft hat, um die Unbequemlichkeiten,
die ihm aus der Anwesenheit strafrechtlich nicht verfolgbarer,
dennoch unerwünschter Personen erwachsen, von sich abzu­
schütteln und auf moralischere, humanere Verwaltungskörper,
zu denen hier auch der Völkerbund mit seiner Institution der
Staatenlosenpässe gehört, einfach abzuwälzen, zugleich aber
auch dieselben mit der ökonomischen Obsorge für die ausge­
bürgerten Personen zu belasten.
Der Völkerbund, welcher in Erfassung des ganzen Umfanges
der Emigranten- und Staatenlosenfrage sowie ihrer sozialen,
ökonomischen, friedensstörenden Gefahren sie durch seine
bisherigen Vorkehrungen tunlichst gemildert hat, erachtet dies
noch keineswegs als definitive Lösung: eine solche kann nur auf
der Linie einer Beendigung des Emigrationszwanges und der
Ausbürgerungen, eines gerechten Ausgleiches der hiedurch
verursachten finanziellen Belastungen und schließlich in der
Wiederherstellung der Freizügigkeit des Menschen gefunden
werden, so daß Entlassungen aus dem Staatsverband wieder je­
nen unpathetischen Charakter annehmen, den sie ehedem hat­
ten, nämlich den von technischen Maßregeln, die lediglich von
der freien Staatenwahl des Bürgers und von der Aufnahmebe­
reitschaft des gewählten Staatsverbandes abhängig sind. Vor­
derhand ist allerdings nichts anderes zu erhoffen, als daß in den
Mitgliedstaaten des Völkerbundes die Besitzer der von ihm
ausgestellten Pässe nicht als lästige Ausländer und nicht als
Menschen zweiter Klasse behandelt werden, vielmehr ihnen
203

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eine möglichste Erleichterung in der Erwerbung des Arbeits­
anrechtes, wenn schon nicht der Einbürgerung gewährt werde.

VII.
In Zusammenfassung der angeführten Prinzipien und gemäß
seiner Friedensmission deklariert sich der Völkerbund zum un­
bedingten Hüter und Schützer der menschlichen Würde und ih­
rer Unantastbarkeit; er deklariert ferner, daß alle von ihm ge­
troffenen und zu treffenden Maßnahmen unmittelbar dem
Wohle des realen einzelpersönlichen Menschen zu dienen ha­
ben, weil in der menschlichen Persönlichkeit und in der Ge-
wahrtheit ihrer physischen und psychischen Integrität, die ihre
Würde einschließt, der absolute Quell eines allgemeinverbind­
lichen friedensstiftenden Ethos und damit jeder kulturfördern­
den Herrschaftsaufgabe erkannt werden muß, und ebenso ent­
spricht es auch der Herrschaftsaufgabe des Völkerbundes, daß
er an seine Mitglieder die Forderung stellt, sie mögen die näm­
lichen Anschauungen, die nämliche unbedingte Achtung vor
der menschlichen Persönlichkeit und vor der Absolutheit
menschlicher Würde als regulatives Prinzip in ihren Verfassun­
gen verankern: Staaten, welche die Zustimmung zu diesen
Prinzipien verweigern, stören jede Friedensgemeinschaft; sie
können nicht als pakt- und friedensfähig gelten und sind nicht
imstande, das Mitgliedsrecht am Völkerbund zu erwerben.

B. Desiderata

Mögen auch, bei aller Erstrebenswürdigkeit eines Sofortpro­


grammes, sehr viel praktische Bedenken den dargelegten Prin­
zipien und ihrer unverzüglichen Umsetzung in die Tat gegen­
überstehen, ja, sogar so beachtliche, daß bestenfalls nur mit
einer sukzessiven Realisierung gerechnet werden kann, es ist
doch noch immer das Maß des praktisch angeblich Erreichba­
ren weit von dem Maße der menschlichen Kulturkraft übertrof­
fen worden, und darum halten die Unterfertigten es für wichtig,
das Augenmerk des hohen Völkerbundes auf die folgend auf­
gezählten Realisierungsmaßnahmen zu lenken, die ihnen, un­
abhängig vom verwirklichbaren Durchführungstempo, dring­
lich wünschenswert, mehr noch, durchaus notwendig erschei­
nen:
204

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ad I. ( Propagierung des Völkerbundgeistes)
Erweckung und Wiedererweckung eines allgemeinverbindli­
chen, absolutheitsnahen Ethos, m. a. W., Erweckung zur Pakt­
fähigkeit kann nur im einzelpersönlichen Menschen erfolgen
und nur in ihm Widerhall finden, denn er ist der initiale Träger
des ethischen Willens sowie des Wunsches nach kulturbringen­
dem Frieden: an den Menschen schlechthin und an seine Seele
hat jede Friedens- und Herrschaftsinstanz, hat der Völkerbund
zu appellieren.
Gelingt es dem Völkerbund, diese Aufgabe zu erfüllen, näm­
lich unter Anrufung der menschlichen Einzelpersönlichkeit und
durch deren Vermittlung seine Prinzipien und Tendenzen an
das Bewußtsein der Völker heranzutragen und dort ständig
wach zu erhalten, so wäre damit das wesentlichste Gegenge­
wicht zu der allerwärts wirkenden geistigen Kriegsverhetzung
und Kriegspropaganda geschaffen: es handelt sich um die Mo­
bilisierung der geistigen Gegenkräfte und um die längst fällige
Gegenpropaganda, und hiezu hätte der Völkerbund eine eigene
Propagandaabteilung zu errichten.
Das Arbeitsgebiet einer solchen Propagandaabteilung ergäbe
eine natürliche Gliederung nach zwei Hauptgruppen, u. z.
erstens in die eines Büros für direkte Propaganda, das mit allen
Mitteln der Werbetechnik, d. h. mit Hilfe der Presse, des
Radios und des Films sich zu betätigen hätte, wobei es der
Phantasie unbenommen bleibe, an den späteren Bau eines
eigenen Völkerbundsenders zu denken,
zweitens in die eines Büros für Jugendprobleme, das entgegen
der jetzt üblichen Sieg- und Haßerziehung sich mit der
Aufgabe zu befassen hätte, den Kampf- und Haßwillen
der Jugend in die Richtung wider das Unrecht zu lenken,
die Heroisierung des Unrechtes abzustellen und den ju­
gendlichen Offensivgeist gegen die Menschheitsverbre­
chen aller Zeiten zu richten, kurzum den Haß wider den
Haß zu erzeugen und ihm sein einzig legitimes, sein ethi­
sches Ziel zu geben.
Soll eine solche Friedenspropaganda wirksam durchgeführt
werden, so setzt dies die Unterstützung vonseiten der Mitglied­
staaten voraus, d. h. deren Verpflichtung, innerhalb ihrer
Machtbereiche allen Empfehlungen und Verfügungen des Völ­
kerbundes entsprechenden Eingang und entsprechende Ver­
205

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breitung zu sichern, Radio und Presse in diesen Dienst zu stel­
len und insbesondere in der Jugenderziehung den Völkerbund­
vorschriften unbedingt Folge zu leisten.

ad II. (Landesverrat)
Angesichts der überall wirkenden Tendenz, die physische und
psychische Integrität des Menschen zugunsten der Staatsexi­
stenzen einzuschränken, eine Tendenz, die sich am krassesten in
der steten Erweiterung des Deliktes »Landesverrat« und der
damit verbundenen Todesstrafe äußert, erscheint es dringend
geboten, daß von autoritativer überstaatlicher Seite, also vom
Völkerbund, resp. von einer juristischen Völkerbundkommis­
sion, eine Präzisierung jener Begriffe vorgenommen werde, um
deren weitere Extension möglichst zu verhindern: unter aller
Anerkennung des gebotenen Schutzes, den jeder Staat für seine
Landesverteidigung und insbesondere für die Wahrung seiner
militärischen Geheimnisse beanspruchen muß, soll grundsätz­
lich festgehalten werden, daß innerhalb der Mitgliedstaaten nie­
mand für ein Wirken angeklagt oderbestraftwerdendarf,dasim
Sinne des Völkerbundgeistes und des Völkerbundstatuts erfolgt,
das mit den Anschauungen des Völkerbundes im Einklang sich
befindet, sie befördern oder verbessern und so der Völkerver­
ständigung und dem Weltfrieden dienen will.

ad III. ( Verbrechen gegen die Menschenwürde)


Unter Voraussetzung einer Bejahung der vorstehenden regula­
tiven Prinzipien durch den Völkerbund und durch die Mitglied­
staaten, erscheint es notwendig, daß der Bund eine juristische
Gruppierung und Kodifikation jener Handlungen anbahne,
welche in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt als friedensge­
fährdende, kriegsfördernde »Verbrechen gegen die Menschen­
würde« einheitlich verfolgt und bestraft werden sollen. Insbe­
sondere wären z. B. solche Handlungen unter diese Delikte zu
reihen, die - wie etwa die Diffamierung von Völkern oder an­
derer Gruppen - der Haßpropaganda im Wege der Presse, des
Unterrichts oder sonstwie zu dienen beabsichtigen.
Jede überstaatliche Vereinheitlichung von Institutionen be­
rührt notwendigerweise auch zwischenstaatliche Beziehungen
und hier noch überdies die zwischen Einzelstaat und Völker­
bund, zumal ein Begriff wie der des Deliktes »Verbrechen an
206

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der Menschenwürde« sich tief in den Komplex der Kriegsver­
hütung hineinverzweigt. Es tut sich also auch die Frage nach ei­
ner obersten Instanz in diesem ganzen Beziehungsnetz auf, eine
Frage, die zwar heute noch im Utopischen liegt, dennoch schon
im ureigensten Gebiet des Völkerbundes, nämlich in dem der
internationalen schiedsgerichtlichen Tätigkeit.

ad IV. {Rechtsangleichung)
Die internationale Schiedsgerichtbarkeit, verstrickt in dem
komplizierten Gewirr imperialistischer, ökonomischer und
sozialer Konflikte, hat weder auf dem engeren, noch auf dem
weiteren Einflußgebiet der Mächte sehr wesentliche Erfolge
aufzuweisen; desgleichen haben die vielen internationalen Ein­
richtungen und Abkommen, deren Fülle auf allen Tätigkeitsge­
bieten die Hoffnung und den Stolz der Vorkriegszeit gebildet
hat, sich erstaunlich wirkungslos gezeigt, und wenn auch die
Anzahl von ihnen, teils unter der Ägide des Völkerbundes,
nach dem Kriege wieder aufgelebt ist, so sind doch nicht wenige
von ihnen heute einfach vergessen. Trotzdem bilden Schieds­
gerichtsbarkeit und einheitliche internationale Institutionen
nach wie vor die Wege, auf denen fortgeschritten werden muß,
um zur sukzessiven Ausschaltung der Kriegsursachen zu gelan­
gen. Und ebendeshalb muß auch gefordert werden, daß der
Völkerbund sich mit seiner überstaatlich-juristischen Vorbe­
reitungsarbeit dem Projekt einer stufenweise vorzunehmenden
Gleichstellung der zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen in
den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten zuwende und damit
einen ebenfalls bereits in der Vorkriegszeit angesponnenen Fa­
den wieder aufnehme. Denn ein künftiges einheitliches und
überstaatliches Gesetzbuch entspräche der Idee einer absolu­
ten Gerechtigkeit, entspräche der Stellung des Völkerbundes
und seiner Friedensmission.

ad V. {Soziologische Prinzipiengrundlegung)
Die zunehmende massenpsychologische Verhetzung der Welt,
das Operieren mit den billigsten Schlagworten, die außerdem
als weltbeglückende und wissenschaftlich unangreifbare Weis­
heiten verkündet werden, die Flucht in mystisch dunkle Moti­
vierungen, um mit ihnen politische Amoralitäten zu begründen,
die Spekulation auf ungeklärte Triebe kollektiver und anderer
207

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Art, getragen von der zynisch eingestandenen Absicht, daraus
Nutzen für die Schaffung oder Stützung von Machtpositionen
zu schlagen, all dies macht es äußerst dringlich, daß derartige
Erscheinungen wissenschaftlich beobachtet, geordnet und er­
forscht würden, damit die Forschungsresultate, so weit sie als
objektiv gesichert gelten dürfen, in den Prinzipien der Staats­
führung entsprechend ausgewertet werden können.

Es erschiene demnach wünschenswert, daß der Völkerbund


sich entschlösse, sein Arbeitsprogramm auf die Vorbereitung
von Institutserrichtungen zum Studium der einschlägigen
sozialen Probleme und Phänomene auszudehnen. Und unter
den so gedachten wissenschaftlichen Anstalten hätte derzeit ein
Institut zur Rassenforschung wahrscheinlich den aktuellsten
Anspruch auf Verwirklichung: der Völkerbund wird daher ge­
beten, ein Komitee von Fachleuten einzuberufen und dasselbe
mit dem Projekt dieses Institutes zu befassen.

ad VI. ( Völkerbundvertretungen)
Die durch die massenpsychische Verhetzung täglich bedrohli­
cher werdende Lage der Minoritäten sowie der Staatenlosen,
kurzum aller jener Gruppen, für die der Völkerbund heute die
einzige Möglichkeit eines karg-juristischen, öffentlichen
Schutzes darstellt, läßt es mehr als wünschenswert erscheinen,
daß der Völkerbund ständige Vertreter mit Beobachtungs­
funktion und mit der Befugnis, Völkerbundpässe auszufertigen,
in allen Mitgliedstaaten unterhalte, in den übrigen Ländern
aber die Delegation eines Mitgliedstaates mit diesem Amte be­
traue.

ad VII. ( Völkerbundhoheit)
All diese vorgeschlagenen Verfügungen schließen den Wunsch
in sich ein, Vorstufen zur Erreichung eines vorderhand noch
utopischen Zieles zu werden, nämlich jenes einzig erstrebens­
werten, würdigeren Weltzustandes, in welchem ein wirklicher
Bund der Völker kraft der in ihm vereinigten Exekutivgewalt
und Herrschaftsbefugnis als ein wahrer primus inter pares, als
ein wahrer primus unter den Staaten, ausgestattet mit sämtli­
chen Hoheitsrechten einer Großmacht, berufen sein wird, die
Geschicke des zivilisierten Erdkreises zu lenken: denn worauf
208

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immer sich die vorgebrachten Wünsche beziehen mögen, ob auf
Propagierung des Völkerbundgeistes oder auf Maßnahmen für
eine allgemeine Rechtsangleichung oder auf solche für die zu­
nehmende Gerechtigkeit, es bedeutet die Annahme eines
durchgängigen regulativen Prinzipes zum Schutze der Men­
schenwürde nichts anderes als die Anbahnung einer rationalen
Verfassungsgleichheit, es bedeutet den Wunsch nach einer zu­
nehmenden Logosnähe für alles staatliche Leben, und es be­
deutet, daß die Institution eines nicht nur ideell, sondern auch
realpolitisch gefestigten Völkerbundes einstmals zum morali­
schen Vaterland für einen jeden werde, der seine Heimat, sein
Land, sein Volk, der das menschliche Dasein, die Menschheits­
kultur und ihren Frieden liebt und deren Bestand gesichert ha­
ben will.

C. Anhang (Motivation und Erläuterung)

Die Unterfertigten stützen ihre dem hohen Völkerbunde vor­


gelegten Anregungen durch die nachfolgenden Erwägungen:

Von den absoluten Grundlagen jeder Paktfähigkeit


Sollen die Beziehungen zwischen Menschen und zwischen
Menschengruppen nicht bloß auf gegenseitige Furcht, auf
Angst vor Schadenzufügung und Gewinstentgang begründet
sein, so müssen sie von Vereinbarungen getragen werden, de­
ren Haltbarkeit von den zeitgebundenen Anlässen unabhängig
ist: geschieht dies, so gewinnen sie die Eigenschaft von Kultur­
werten. Denn jeder Kulturwert ist Gegenstand einer Wertver­
einbarung, die unausgesprochen oder ausgesprochen, tradi­
tionsbefohlen oder spontan sein kann, immer aber aus der
Kulturganzheit erfließt und von moralisch zwingender Bedeu­
tung ist; selbst eine Spielregel könnte kaum auf Einhaltung hof­
fen, wenn die beteiligten Parteien nicht durch ein gemeinsames,
hinter ihnen stehendes, letztlich also absolutes Ethos zur Ver­
tragstreue verpflichtet wären. Ohne die Wirkung einer derarti­
gen ethisch absoluten Instanz gäbe es keine freiwillige Über­
einstimmung, mithin noch viel weniger eine wahre Freiheit, es
gäbe keine Vertragsfähigkeit, keine Verfassungsfähigkeit, und
vor allem: keine Gerechtigkeit und keinen Frieden.
Außenweltlich nur in seiner kulturschaffenden Wirkung zu
209

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erkennen und nur aus dieser zu erschließen, an sich jedoch un-
erfaßlich und unsichtbar, besitzt das Absolute seine weitaus
stärkste Erfahrungsgrundlage in der menschlichen Einzelseele
und ihrer ethischen Struktur: gewiß wirkt es hier nicht minder
geheim, gewiß ist das religiöse Erleben, das der Seele eigenste
Kultur ausmacht und alle Kultur in der Welt schafft, nicht min­
der verborgen, indes klar und deutlich, ja, jederzeit kontrollier­
bar ist die Pflicht zur Vernunft für den Menschen vorhanden,
unablässig ist seine Ratio unter diese Pflicht gestellt, so sehr
dem Logos und seiner lebendigen Fortentwicklung verhaftet,
daß der Mensch sie mit Fug als Ebenbildhaftigkeit empfinden
darf, seine Seele aber als das einzige Gefäß einer Absolutheit,
die sich spiegelnd in ihr erzeugt.
Es ist hier weder die Legitimation, noch der Ort gegeben, die
suprahumane Herkunft der logischen und ethischen Absolut­
heit zu erörtern, obschon es am einfachsten wäre, die religiösen
Sachverhalte heranzuziehen, in welchen die Grundzüge aller
seelischen und weltlichen Kultur eingezeichnet sind. Es soll ge­
nügen, die Existenz eines gesunden Menschenverstandes, die
Existenz eines geraden menschlichen Gewissens anzunehmen,
denn so prekär auch diese primitiv humane Annahme gewor­
den sein mag, sie trifft trotzdem eine Realität der noch vorhan­
denen Kultur, und wenn diese weiterbestehen soll, so wird sie
niemals des absoluten und dadurch sozial paktfähigen Kernes
im menschlichen Verhalten entraten können.

Von der kulturerzeugenden


und der kulturzerstörenden Logik
Gerechtigkeit, Friede, Freiheit, Vertragstreue, Geltung einer
absoluten Moral im öffentlichen Leben, kurzum alle Sicherun­
gen der persönlichen Integrität, wie sie im Rechte des Schwä­
cheren als schönste, humanste, absolutheitnächste Errungen­
schaft von der Kultur geoffenbart werden und diese ausmachen,
sind ebensowohl Wünsche des einzelpersönlichen Menschen
und seiner Ratio, als auch Ausfluß des vielleicht suprahuma­
nen, jedenfalls aber humanen Logos und seiner lebendigen
Entwicklung. Dem allen steht die Logik der Umweltsentwick­
lung gegenüber, die Entwicklung des exhumanen Realitätsbe­
reiches, zu dem auch die ungebändigte Natur gehört und der
gleich dieser bloß das Recht des Stärkeren kennt, jedoch den
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individuellen Kultur- und Friedenswillen strikte verneint.
Daß die gewaltlose, dennoch so starke Stimme der Humanität
sich jemals gegen die Übermacht der Umweltsentwicklung
hatte durchsetzen können, stempelt den Bestand der Kultur zu
dem Wunder, das sie ist, und das Wunder ist umso erstaunli­
cher, als noch jede humane Strömung, die in Gestalt staatlicher
oder gesellschaftlicher oder sonstweicher Institutionen von der
Außenrealität aufgenommen worden ist, äußerst rasch den Zu­
sammenhang mit ihrer Basis, dem lebendigen Logos, verloren
und zu einem erstarrend-erstarrten Instrument einer mensch­
heitsfeindlichen Umwelt sich verwandelt hat: oft und oft hat es
sich im Laufe der Geschichte schon gezeigt, daß nur eine stän­
dige vom Menschen und vom Logos ausgehende Erneuerung
befähigt ist, den Kulturbestand gegen diese vernichtenden Ab­
wehr- und Aufsaugungskräfte zu schützen, und daß jede noch
so kurze und augenblickhafte Unterbrechung der darauf ge­
richteten Bemühungen genügt, um das barbarische Chaos der
Umwelt wieder hervorbrechen zu lassen.
Diese stete Umkehrung des Humanen ins Inhumane, des
Sinnvollen ins Sinnlose, des Lebenswillens in den Todeswillen
könnte sicherlich nicht stattfinden, wenn nicht im Menschen
selber Tendenzen wirksam wären, die den Wünschen seiner
Ratio, seiner Seele, seines Herzens zuwiderliefen: All seine ir­
rationalen Strebungen, sogar seine heroische Aufopferungsbe­
reitschaft, besonders aber all seine Atavismen, seine Mordlust,
seine Kriegslust, sein Kulturekel, sein Vertragsekel, sein Ord­
nungsekel, all diese Haßregungen reihen sich in die Erbar­
mungslosigkeit der Umweltsentwicklung ein, und da es Stre­
bungen sind, die sich der einzelne kaum einzugestehen wagt, so
werden sie umso hemmungsloser innerhalb des Kollektivs mas­
senpsychisch ausgelebt. Denn das Kollektiv, bar eigener ethi­
scher Zielsetzungen und gesichert in seiner Massenexistenz, ist
immerzu bereit, das Recht des Schwächeren als Angstrecht zu
verachten und bedenkenfrei jegliches Kulturgut aufs Spiel zu
setzen: nichts ist falscher als die Sentenz von der Friedensliebe
der Völker; bloß der einzelne will den Frieden, dem Kollektiv
aber ist er gleichgültig und oftmals sogar verhaßt.
Die Weltgeschichte stellt eine unendliche Kette von Einbrü­
chen innerer und äußerer Barbarei dar, und wenn sie trotzdem
aus allen Kultur- und Menschheitsstürzen stets aufs neue in die
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Linie des Humanitätsfortschrittes zurückgeschwungen ist, aus
jeder der unablässig sich wiederholenden Erstarrungen heim­
findend zu lebendigem sozialen Sein, aus jeder Entwürdigung
zurück zur Würde, aus jeder Bedrückung zurück zur Freiheit,
aus jeder Verfassungsunfähigkeit zurück zur besseren Verfas­
sungsfähigkeit, als wirke darin eine geheimnisvoll unerschöpf­
liche und eben wundersame Lebenskraft, die sogar imstande ist,
für jede vernichtete Kultur schließlich doch immer wieder eine
andere in verjüngter Gestalt und auf höherer logischer Stufe
erblühen zu lassen, so darf darin zwar ein Schimmer von der
Unzerstörbarkeit absoluter Werte gesehen werden, eine
gleichsam ewigliche Keimesstärke in des Menschen Seele und
in der Welt, eine durch nichts verdrängbare Menschheitserin­
nerung, gleichsam eine Art Besinnung auf das Absolute und
seine unveräußerlichen Rechte, die - freilich oft genug um den
Preis revolutionärer Eruptionen ärgsten unheilsträchtigsten
Umweltscharakters - immer wieder das Bewußtsein der Völker
schmerzhaft aufbricht, allein gerade diese Vielfalt innerer und
äußerer Gefährdungen, gegen die sich die Kultur zu behaupten
gehabt hat, macht es mit nicht geringerer, ja, mit beängstigen­
der Deutlichkeit klar, daß das Wunder wertschaffender Selbst­
behauptung und Widerstandszähigkeit keineswegs unerschüt­
terlich ist, und daß seine Feuerprobe erst bevorsteht: denn hatte
das Auf und Ab des kulturellen Verlöschens und Wiederauf-
flackerns sich bisher in geographisch, zeitlich und zivilisatorisch
getrennten Räumen vollzogen, so drängt nunmehr die wach­
sende Zivilisationseinheit der Welt unabweislich zu einem all­
umfassenden Entweder—Oder, dessen Radikalität lediglich To­
talitätssiege kennt, entweder den der Ratio und eines
allgemeinen human-kulturellen Wiederanstieges, oder den des
Wahnwitzes und des Rückfalls in eine Barbarei, die sich den ge­
samten Erdkreis unterwerfen wird.

Vom Weltenwahnsinn
Wo die Herrschaft der ethischen Absolutheit endet und den
Menschen freigibt, so daß er zum Objekt der inneren und äuße­
ren Umweltslogik herabsinkt, an dieser Grenze beginnt - in be­
zeichnender Verquickung mit dem Verfall und der Verbiegung
aller moralischen Haltungen - die Herrschaft des Wahnsinnes,
u. z. eines Wahnsinnes von durchaus klinischer Bedeutung.
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Die seit Jahrhunderten vorbereitete und im Weltkrieg erst­
malig konkret sichtbar gewordene Wertzerrüttung der
Menschheit weist alle Symptome eines Absolutheitsschwundes
auf: Ledig der Fesseln eines allgemeinverbindlichen Ethos, wie
es vornehmlich das religiöse gewesen ist, wurden die einzelnen
Wertgebiete, unbeschadet ihres Ranges, immer mehr auf sich
selbst verwiesen, auf ihre internen Ziele, auf ihre verschiedenen
internen Eigenstrukturen beruflicher, weltanschaulicher oder
sonstwie ideologischer Art, und verlustig des Kontaktes, in dem
sie einstmals unter der Leitung einer echten Absolutheit kul­
turgebunden gestanden hatten, mußten sie füreinander logisch
unbegreiflich und zur gegenseitigen, feindschaftserfüllten Um­
welt werden, mehr noch, sie mußten kraft solcher Vereinzelung
und Autonomie jedes für sich nach eigener Totalität streben,
also nach einer Pseudo-Absolutheit, die zu ihrer Selbstbehaup­
tung gezwungen ist, jeden unbotmäßigen Nebenwert rück­
sichtslos zu vernichten. Unbeschränkte Macht der eigenen au­
tonomen Interessensphäre, unbeschränkte Geltung der eige­
nen autonomen Logizität, unbeschränkte Anerkennung der
eigenen autonomen Moral, das sind die Ziele eines jeden der
selbständig gewordenen Wertgebiete, und in diesem bis zu zy­
nischester Radikalität übersteigerten Wertrelativismus ist für
die Stimme der Vernunft, für die Stimme des Logos - etwa als
die einer Humanitätsideologie innerhalb des Wertsystems der
Rüstungswirtschaft - schon längst kein Gehör und kein Platz
mehr vorhanden; eine schwere ethische Gleichgewichtsstörung
hat sich, vielleicht als Folgeerscheinung, vielleicht sogar als Ur­
sache zu der politischen, sozialen und ökonomischen Erschüt­
terung der Welt gesellt, und sie bestimmt deren Wahnsinnscha­
rakter. Denn verengt und getrübt, erstarrt in dieser Enge,
abhängig von umweltsbedingten Voraussetzungen, dem Trieb­
haften untertan, geleitet von außerrationalen Schlagworten, ist
jede Pseudoabsolutheit genötigt, alle Irrsinnselemente im
Menschen zu mobilisieren, das Atavistische und Barbarische in
ihm heraufzubeschwören, die einzelpersönliche Ratio aber zum
Schweigen zu bringen, und wenn dies mit der Hinwendung zur
Massenpsyche gelingt, wenn der Zusammenklang des Kollek­
tivwahnsinnes mit dem Wahnsinn des ihm adäquaten Machtha­
bers, in gegenseitiger Konkurrenzierung einander hervorbrin­
gend, einander aufstachelnd und überbietend, bis zu einem
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Punkt völlig logosferner, selbstverhafteter Blindheit gediehen
ist, dann entsteht starr-grausam, folgerichtig bloß für sich, ab­
gelöst von allem andern jene ethische Autarkie, die eben kei­
neswegs auf die seelische Haltung allein beschränkt ist, jeden­
falls aber das Ethos des Narren und die ihn auszeichnende
würdelose Würde repräsentiert.
Der Weltkrieg, selber schon Frucht der pseudoabsoluten
Wahngebilde, furchtbare Frucht eines dennoch verhältnismä­
ßig noch harmlos gewesenen Vorbereitungsstadiums, scheidet
dieses von dem mit ihm einsetzenden Aktualirrsinn; die dro­
hende Gefahr hatte sich vorher deutlich genug gezeigt, die Um­
weltsentwicklung trug alle symptomatischen Elemente auf ihrer
Oberfläche, die Autonomie der Wertgebiete hatte bereits be­
standen, insbesondere der technische und der ökonomische
Bereich hatten sich bereits weitgehend selbständig gemacht, in­
des, die Masken waren noch nicht gefallen, und eigentlich war
das Vorrecht autonomer Moral, oder richtiger Unmoral, das
machiavellistische Recht auf Treuebruch und Wortbruch und
auf jede Gewalttat, bloß der imperialistischen Außenpolitik der
Staaten und ihrem heiligen Egoismus eingeräumt worden,
während auf sozialem und innenpolitischem Gebiet kaum
daran gedacht wurde, die Geltung des human-absoluten Ethos
anzutasten. Daraus ergab sich jene eigentümliche Mischung
von Paktfähigkeit und Paktunfähigkeit, die in der Vorkriegszeit
allenthalben anzutreffen war, doch auch die eigentümliche
Stellung des imperialistischen Krieges als eines isoliert-provi­
sorischen Phänomens inmitten eines sonst intakten Kulturle­
bens. Dieses Vorstadium ist im Irrsinnssturm der Umweltsent­
wicklung untergegangen. Und wenn auch in dem Kampf, der
zwischen den pseudo-absoluten Wertsystemen gräßlich und
unerbittlich entbrannt ist, vorderhand noch die Staatsexisten­
zen sich als die stärksten erweisen, weil sie eben die fundierte
imperialistische Tradition und überdies die realen Machtmittel
besitzen, also unter Rückgriff auf alte und Ersinnung neuer
Zwangsformen am ehesten zu jener Totalitätsstellung gelangen
können, die gleichermaßen zur Niederhaltung der Nebenwerte
wie zur politischen Außenwirkung nötig ist, es sind trotzdem die
zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konfliktfronten der­
art verknäult, sind derart mit allen übrigen Interessen vermengt
und vor allem derart von ethischen und pseudoethischen Stre­
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bungen durchsetzt und durchbrochen, daß die Kriegsgefahren
bei weitem nicht mehr - wie dies noch zur Zeit der Völker­
bundgründung der Fall war - mit den Möglichkeiten von
Staatszusammenstößen ausgeschöpft sind, sondern zur Un-
übersehbarkeit sich vermehrt haben und immer weiter sich ver­
mehren: der Krieg in Permanenz, der pseudoabsolute Wahn­
sinnskampf aller gegen alle steht vor der Türe.

Von der Gerechtigkeit des Krieges


und von seinem Wahnwitz
So lange es gegolten hatte, einen höheren und absolutheitsnä­
heren Kulturbereich gegen den Einbruch der Barbarei eines
geographischen Außen zu schützen, wie solches dem römischen
Imperium an seinen Reichsgrenzen oder dem christlichen Mit­
telalter in der Abwehr der Ostnomaden aufgetragen war, so
lange durfte die Absolutheit der Idee oder zumindest die ihrer
Gerechtigkeit auch für die Durchführung eines derartigen krie­
gerischen Schutzes und sogar für die Ergreifung von Präventiv­
maßregeln in Anspruch genommen werden. Aus dieser Kriegs­
form gerechtfertigter Interessenwahrung hat sich, bekanntlich
bereits bei den Primitiven, eine zweite entwickelt, nämlich die
des Paktkrieges, des Krieges auf Vereinbarung, also eine Form,
die einesteils Vertragsfähigkeit voraussetzt, und die andernteils
ebendeshalb sich verpflichtet fühlt, den Krieg nach bestimmten
Regeln zu führen, auf daß er kraft solcher Regeltreue zum lega­
len, ja, ritterlichen Instrument der Politik werde und eine Ge­
rechtigkeit dartue, die wenigstens die Vorzüge unantastbarer
Formalität besitzt.
Abgesehen von den trüben, mord- und habgierigen, subhu­
manen Nebenströmungen, ohne die es selbst im gerechtesten
Kriege nicht abgeht, die sich aber mit je größerer Kulturgleich­
heit der Partner immer mehr zu Hauptströmungen entwickeln,
um letztlich nichts als den nackten Brudermord, die nackte
Kulturvernichtung zu zeitigen, ist der Paktkrieg überdies durch
die modernen Kampfmethoden, die schon rein technisch auf
Überraschungs- und Überfallswirkung eingestellt sind, so sehr
ad absurdum geführt worden, daß er geradezu als Dokument
für die Paktunfähigkeit der Welt genommen werden darf.
Wenn aber nun trotzdem nach wie vor die Fiktion seiner Gül­
tigkeit aufrechterhalten und darüber hinaus sogar auch noch die
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alte Gerechtigkeit des Krieges hervorgeholt wird, um die Bar­
barei zu legitimieren, wenn also unter jener Devise, welche die
Wahrung heiligster Kulturgüter fordert, über kurz oder lang der
ganze Erdkreis mit einem Netz von Verteidigungskriegen bar
jeglichen Angreifers überzogen sein dürfte, so entblößt sich
darin eine Lüge, deren Obszönität dem Bösen schlechthin ver­
wandt ist: denn es geht bei alldem schon längst nicht mehr um
die wirkliche Verteidigung irgendwelcher Interessen, umsowe­
niger als im Chaos eines modernen Krieges wohl kein Interes­
senanspruch unverändert weiterbestehen könnte oder durch­
zusetzen wäre, es geht auch nicht um die nationale Ehre oder
um Völkersympathien und -antipathien, umsoweniger als de­
ren Erzeugung zum Requisit massenpsychischer Technik ge­
worden ist, ja, es geht bei alldem, mögen die Ereignisse von
noch so furchtbarer Realität sein, überhaupt nicht um Reales
oder um real Austragbares, vielmehr wird einzig und allein der
Krieg an sich ausgetragen, das Elend an sich, das Elend um des
Elends willen: denn es ist das Wertsystem des Krieges an sich,
das zur Autonomie und Totalität drängt, mehr noch, es ist die
Autonomie der selbständig gewordenen Kriegsmittel, und es ist
eben damit die krasseste Form der durchgängigen Wertautono-
misierung und Wertzersplitterung, so krass, so radikal, so unwi­
derstehlich, daß sie den zur Hilflosigkeit verdammten Men­
schen in ihren Bann geschlagen hat, verfangen in der
Logoswidrigkeit, verfangen in der Lüge, verfangen in einem
Wahnwitz, der mit einem Gewirr von Generals- und Banden­
kämpfen allenthalben schon konkrete Gestalt anzunehmen be­
ginnt und das Bevorstehende samt all seiner Gräßlichkeit erah­
nen läßt.
Eine Gerechtigkeit des Krieges gibt es nicht mehr, und wer
vom Krieg als einem notwendigen Mittel zur Fortsetzung der
Politik spricht, macht sich einer obszönen Infamie schuldig. Als
gerecht hingegen muß jede Maßnahme anerkannt werden, und
sogar jede Zwangsmaßnahme, die den Krieg, die den Kriegs­
geist, die das Unrecht bekämpft und ein absolutes Ethos vertei­
digt. Und dies ist die Gerechtigkeit der Auflehnung gegen das
Verbrechen schlechthin.

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Vom Fatalismus
Nicht nur gleichgültig gegen den Nebenmenschen, sondern
auch gegen sich selbst, nicht nur unempfindlich gegen fremdes
Leid, sondern auch gegen die eigene Entwürdigung, ist das In­
dividuum, obwohl an sich durchaus imstande, den Welten­
wahnsinn zu erfassen und ihn als solchen zu bezeichnen, allzeit
bereit gewesen und heute nicht minder bereit, unter Verge­
waltigung der humanen, ihm unverlierbar eingesenkten Ratio
sich der irren Umweltsentwicklung und Umweltsideologie ein­
zufügen, insonderlich so lange Gut und Leben hiedurch nicht
bedroht werden, vielmehr im Gegenteil zu hoffen ist, daß aus
der Zugehörigkeit zur aufgestachelten Massenpsychose und
zum Volkswillen, kurzum zur sogenannten Lebensrealität mit
all ihren Genuß- und Erwerbsformen genügend viel Vorteile
erwachsen, um die Flucht in eine Gewissensapathie und in ei­
nen Fatalismus zu rechtfertigen, der in geschäftiger Untätigkeit
unbekümmert die Dinge der Welt so laufen läßt, wie sie eben
laufen. Kein Wunder also, daß eine solche umweltsideologische
Auffassung, die sich außerdem gerne auf die in allen Wirrnissen
noch immer glanzvoll bewiesene Lebenszähigkeit der Kultur
berufen zu können glaubt, schließlich in jenem heroisch-akti­
ven Dynamismus gipfelt, der in Blut und Mord höchst begrü­
ßenswerte Kulturfaktoren sehen will und daher deren Hin­
nahme, ja, Förderung als geeignete Mittel zur Erreichung eines
glücklicheren, ethischeren, absolutheitsnäheren Weltzustandes
empfiehlt.
Allerdings ist es fraglich, ob eine derart optimistische, beinahe
fröhliche, jedenfalls sehr realitäts- und zweckverhaftete Ein­
schätzung der Geschehnisse überhaupt noch Fatalismus ge­
nannt werden kann. Echter Fatalismus verlangt nach einer ge­
wissen Erkenntnistiefe, er verträgt sich schlecht mit allzu großer
Zweckverhaftung an die irdischen Angelegenheiten, er neigt in
ihrer Betrachtung wesensgemäß zu einer pessimistischen Stel­
lungnahme, und solcherart zwar gefeit vor gedankenloser Apa­
thie, mehr noch, sogar oft einer geradezu fanatischen und dog­
matischen Pflichterfüllung im Irdischen hingegeben, ist er mit
alldem doch von Strömungen bewegt, die ihn in die Nähe stoi-
zistischer Haltungen bringen und sämtliche Gefahren einer
verzweifelten Passivität in sich bergen: wer den apokalypti­
schen Weltzustand mit wahrhaft verzweifelter Erkenntnis be­
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griffen hat, der ist zumeist auch schon gewillt, jeglichen Wider­
stand fahren zu lassen, nicht nur aus Müdigkeit, und nicht nur
weil Auflehnung ihm fruchtlos erscheint, und nicht nur weil er
darin ein metaphysisches und vielleicht strafendes Geschick se­
hen mag, sondern auch weil sein von Abscheu gegen jegliche
Gewalttat erfülltes Gewissen keiner Machtanwendung zustim­
men darf und keinem Kriege ein Maß von Gerechtigkeit zuge­
steht, das gestatten könnte, Unrecht mit Unrecht zu bekämp­
fen; er ist in eine ethische Zwangslage geraten, und eindeutig,
wenigstens für ihn eindeutig, schreibt sie ihm vor, was er zu tun
hat, nämlich in duldendem Märtyrertum widerstandslos die
Greuel über sich ergehen zu lassen.
Doch diese ganze fatalistische Skala, angefangen von der ge­
dankenlos optimistischen Bejahung bis zur wissend erleidenden
Verneinung hat etwas Gemeinsames: durchgängig wird gegen
primitivste Menschenpflicht verstoßen, durchgängig wird ver­
gessen, daß jeder Tag passiven oder aktiven Zuwartens mit
neuem realen Leid vergewaltigter Menschen und entwürdigter
Seelen bezahlt wird; es ist ein Verstoß gegen die schlichteste
humane Anständigkeit, und hieraus erfließt zweifelsohne das
fast mystische Schuldbewußtsein, von dessen Schatten wohl
jeglicher Fatalismus berührt wird, das Schuldbewußtsein vor
dem apokalyptischen Elend, mit dem die beleidigte Absolutheit
sich an einer unfähig gewordenen Menschheit rächt.

Von der Würde des Individuums und des Kollektivs


Die Vorstellung von einem Opfer um des Opfers willen ent­
spricht zwar einer bis zu extremster Radikalität gediehenen
Wertautonomisierung, die es tatsächlich schon zu einem ver­
selbständigten Opferungsethos gebracht hat, aber sie hat darob
trotzdem nichts an Groteskheit eingebüßt, und ebenso kann
Märtyrertum an sich nicht als ethische Tat gewertet werden:
Märtyrertum, auch freiwillig auf gesuchtes, ist lediglich als letzte
Phase einer Reihe von Kampfhandlungen zu verstehen, mit de­
nen ein echt oder vermeintlich übergeordnetes, absolutheitsnä­
heres Wertsystem an eine ihm feindliche Welt herangebracht
wird; Märtyrertum entspringt dem seelisch tiefsten Absolut­
heitsbewußtsein und -bedürfnis, steht in seinem Dienste und
verlangt, will es nicht sinnlos werden, einen unbedingten Glau­
ben an den Sieg des absoluten Ethos, für das es erlitten wird,
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verlangt also nach jenem unerschütterlichen und eben absolu­
ten Optimismus, der allein die Kraft besitzt, Recht gegen Un­
recht zu verteidigen; Märtyrertum ist seinem innersten und in­
nigsten Grunde nach stets Verteidigung absolutesten Men­
schenrechtes, doch gleichzeitig damit auch Erfüllung der
ethischen Menschenpflicht schlechthin, während jedweder Fa­
talismus, sei er nun so oder so gefärbt, sowohl diesen Pflichten,
wie auch jenen Rechten sich als nicht gewachsen erweist.
Denn es gibt ein natürliches, unantastbares Recht des Men­
schen und nur dieses: das Recht auf unbedingte Achtung der
seinem Leben eingeborenen ethischen Absolutheit. Und es gibt
eine natürliche, unabweisbare Pflicht des Menschen und nur
diese: die Pflicht zur Verteidigung der absoluten Sittlichkeit. Es
ist ein Recht auf Pflichtausübung, und es ist die Pflicht zur Gel­
tendmachung solchen Rechtes, indes beides zusammen bildet
die absolute Würde des kulturschaffenden Menschen, bildet die
eingeborene Freiheit der Einzelpersönlichkeit und ihrer Wert­
setzungen.
Denn Würde ist Repräsentanz; in ihr repräsentiert der
Mensch kraft seiner moralischen Haltungen das ihm überge­
ordnete und von ihm geschaffene Wertsystem, letztlich also die
absolute Idee. Und wenn auch kein konkretes Wertsystem an
die Absolutheit heranreicht, so ist es doch beauftragt worden,
sich ihr unablässig zu nähern, und je näher es ihr wird, desto
mehr wird ihre Repräsentanz zur wahren Würde des Menschen,
desto mehr wird sie zu seiner Unterordnung unter eine selbst­
geschaffene, dennoch existente höhere Seinssphäre, desto mehr
wird sie zur Wesenheit des human Schöpferischen, das sie zu­
gleich darstellt, Freiheit und Selbstverantwortung in sich tra­
gend. Allerdings, je kleiner und konkreter dieses übergeord­
nete Gebilde ist, desto konkreter werden auch die Utensilien
und Etiketten, die Riten, Trachten und Orden, die zu seiner
Repräsentation benötigt werden, desto hohler und kläglicher
wird die aus ihm erfließende Würde: damit konkrete menschli­
che Institutionen und Sachverhalte, zu denen schließlich auch
die Kollektiva gehören, imstande [sein] werden, an der huma­
nen Würde teilzunehmen, Würde zu manifestieren und Würde
zu verleihen, ist es nötig, daß sie in ihrer Wirksamkeit den Cha­
rakter einer moralisch handelnden Person erhalten.
Denn Kollektiva, mögen sie nun naturgegebene oder zweck­
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betonte Ansammlungen sein, bestehen aus sterblichen, einan­
der ablösenden Einzelmenschen, und ein derartiges, zeitbe­
dingtes und diffus-fluktuierendes Gebilde ist nur dann aus
seiner Eigenschaftslosigkeit herauszuheben und zu einer eigen­
schaftstragenden, zeitüberdauernden, also historischen Einheit
umzugestalten, wenn die Gesamtheit der Handlungen, die ihre
Lebensstruktur ausmachen, durch einen zukunftsweisenden
Festsetzungsakt zusammengefaßt und bestimmt wird, d. h.,
wenn eine Gesetzes- und Verfassungsstiftung von außeror­
dentlicher Plausibilität stattfindet, von so starker Plausibilität,
daß sie sowohl den Zeitgenossen, als auch den Nachfahren
zwingend eingeht, daß sie für dieselben eine zwingende Hand­
lungsvorschrift bildet, daß sie also, gleichgültig ob hoch- oder
tiefstehend, ob kulturschaffend, kulturindifferent oder kultur­
abgeneigt, ob athenisch oder spartanisch, jedenfalls eine Wert­
vereinbarung darstellt, eine Wertmoral, welche die menschli­
chen Handlungen in gute und böse, in erlaubte und verbotene
einteilt und daher für die einheitliche Haltung des Kollektivs,
für seine einheitliche ethische Willensbildung richtunggebend
ist. Solcherart an sich schon auf den Einzelmenschen und die
einzelmenschliche Handlung bezogen, ist der verfassungsstif­
tende Akt genötigt, zur Erreichung seiner vollen ethischen
Höhe sich mit all seiner Obsorge und all seiner Betreuung ein
für allemal an das einzelmenschliche Wohl und an das einzel­
seelisch-moralische Heil zu wenden - nirgends ist diese Linie
so deutlich vorhanden, wie im rein geistigen Grenzfall einer
theokratischen Verfassung, also der Kirche -, auf daß durch
Erweckung des in der einzelpersönlichen Würde ruhenden Lo­
gos stets aufs neue die Umwandlung des Menschenkonglome­
rats zur kulturtragenden humanen Gemeinschaft und Ge­
meinde angebahnt werde, auf daß kraft der Wechselwirkung
zwischen der Ratio des Gesetzes und der des handelnden Men­
schen jene Niederhaltung der irrational-atavistischen, barba-
risch-massenpsychischen Regungen innerhalb des Kollektivs
sich vollziehe, die für die Statuierung des sozialen Seins und der
sozialen Gemeinschaftswürde erforderlich ist. Der Verfas­
sungsstifter kann anonym bleiben, er kann ein Lykurg, er kann
ein Solon, aber er kann auch mehr sein, nämlich der Religions­
gründer schlechthin: Je absolutheitsnäher die verfassungsstif­
tende Tat ist, desto erhabener wird der, dem sie in Ausübung
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seiner unbedingten natürlichen Menschenpflicht, in Ausübung
seiner unbedingten Achtung vor der Absolutheit jeglicher Ne­
benseele gelingt, desto mehr wird er zum Heilsbringer der
Menschheit, desto mehr wird seine Gestalt dem irdischen Fata­
lismus entlöst, desto zukunftweisender, kulturweisender, desto
optimistischer ist sein Tun; doch desto mehr auch wird ihm die
Würdegröße wahren Märtyrertums auferlegt, denn seine ganze
irdische Person wird von der vorwegnehmenden Verantwor­
tung in Anspruch genommen, die ihm infolge seiner überragen­
den Logosnähe zugefallen ist.

Von den Verfassungen


Die ganze Weite einer Religionsstiftung und die ganze Gedan­
kenarbeit der aus ihr entwickelten Theologie ist notwendig, um
den antinomischen Gehalt aufzuheben, der jeder Verfassung
innewohnt: denn Verfassungen müssen zur Sicherung ihres
Dauerbestandes, und im theokratischen Fall sogar ihres Ewig­
keitsbestandes, dasjenige tun, wozu der Mensch am allerwenig­
sten befähigt ist, nämlich zukünftige Verhältnisse vorauszuse­
hen und vorwegzunehmen, und da außerdem, nicht zuletzt
wegen der mehr oder minder suprahumanen Natur solchen
Vorganges, die verfassungsmäßige Machtübertragung, welche
das Kollektiv zugunsten seiner Regierung und deren Beamten
vollzieht, eben diese machtausübenden Ämter im Rahmen ih­
rer Wirkungskreise und der ihnen zugemessenen Befehlsgewalt
mit einem Stück Unfehlbarkeit ausstattet, also gleichfalls mit
etwas, das menschliche Begabung und menschliche Kraft weit
übersteigt, so muß im Zuge der Verfassungshandhabung un­
weigerlich der antinomische Tatbestand aufbrechen, es muß
der Widerstreit zwischen irdischer Unvollkommenheit und
zwangsläufig arrogierter suprahumaner Vollkommenheit, zwi­
schen verantwortungsbelasteter persönlicher Fehlbarkeit und
verantwortungsbefreiter amtlicher Unfehlbarkeit unweigerlich
flagrant werden und über kurz oder lang zu den schweren Ver­
fassungskrisen führen, von denen die Zivilisation immer wieder
befallen wird, zumal die vorhergehenden Lösungsversuche fast
niemals den antinomischen Bereich verlassen, sondern gera­
dezu ausnahmslos ihn ins Dogmatische transponieren, um
durch Terror und Gewalt, aber auch mit all dem verantwor­
tungslosen Fatalismus, der sich vor einem unlösbaren Sachver­
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halt einstellt, ihn und seine Unzulänglichkeit, so lange es eben
geht, aufrechtzuerhalten. Es sind die Verantwortungskrisen der
Menschheit.
Das Wesentliche dürfte wohl darin liegen, daß dogmatisierte
Staatsformen, bar jener metaphysischen Demut, die etwa ech­
ten Theokratien zu eigen ist, sich selbst als konkret vollerreich­
tes Verfassungsideal betrachten, als eines, das über eine an und
für sich schon märchenhafte technische Makellosigkeit hinaus
kurzerhand den Logos auf Erden inkarniert, so daß damit
schlechterdings der logosnächste und würdehöchste Idealzu­
stand für das Kollektiv fingiert erscheint, eine Gesetzesvoll­
kommenheit und -reichhaltigkeit in sich bergend, die das ge­
samte Leben samt seiner jeweils gegenwärtigen und all seiner
künftigen Vielfalt eingefangen hat und in ihren Paragraphen
spiegelt: gleichgültig, ob es sich hiebei um theokratische Staats­
formen handelt, die im Irdischen degeneriert sind, oder um ir­
dische Verfassungen, die sich auf ihrem wertrelativistischen
Wege vergöttlicht und theokratisiert haben, immer ist das Re­
sultat eine Pseudoabsolutheit mit allen Merkmalen einer sol­
chen, feindlich jedwedem Nebenwert, feindlich sogar dem ei­
genen Anhänger, da ihre abstrakt gewordene Obsorge nicht
mehr dem realen Menschen, sondern nur sich selbst dient und
das moralische Ziel der Verfassung, unter Verrat an der ethi­
schen Wirklichkeit, in einen fern-unerreichbaren Zukunftszu­
stand projiziert wird; es ist die völlige Nullifizierung des einzel­
persönlichen Individuums im abstrakten Vakuum, die auf diese
Weise angestrebt wird, und Hand in Hand damit geht die Ten­
denz, die Regierungsgeschäfte zu einem möglichst unpersönli­
chen, also sehr passiven und sehr fatalistischen Betätigen des
Verfassungsautomaten zu machen, zu einer technisch-neutra­
len, unmenschlichen Funktion mit einem Minimum persönli­
cher Handlungsverantwortung, hingegen mit einem Maximum
amtlicher Unfehlbarkeit, u. z. einer durchaus rationalen Un­
fehlbarkeit, deren radikalste Geltung sämtlichen behördlichen
Äußerungen, angefangen von denen der Regierungsspitze bis
herab zu denen der untersten Beamtenkategorie, den Stempel
absolut ethischer Entscheidungen und direkter Logosenunzia-
tionen aufzudrücken hätte. Gewiß, nie und nimmer kann ein
Verfassungsmonstrum von solch dogmatischer Abstraktheit für
die Dauer innerhalb einer lebendigen Welt realisiert werden,
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und wenn auch in Zeiten der Wertzersplitterung derartige dog­
matische Pseudoabsolutheiten einen günstigen Nährboden ha­
ben und mit all ihren lebensfeindlichen, kulturfeindlichen,
paktfeindlichen Begleiterscheinungen allenthalben aufschie­
ßen, so werden nicht minder die ihnen innewohnenden antino­
mischen Gegensätze begünstigt, und bis zur Selbstvernichtung
verschärft; gerade der radikale Weltrelativismus mit seiner
Fülle von Umweltsideologien zeigt, u. z. bereits auf der ober­
sten Oberfläche, nämlich der politischen, daß gerade durch ihn
eine dogmatisch festgelegte, ideologisch fixierte Staatsführung
aufs ärgste gefährdet wird, daß gerade der durch ihn entfesselte
allgemeine Kampf der Wertgebiete eine äußerste Beweglich­
keit, Schmiegsamkeit und Wendigkeit, von jeder Regierung er­
heischt, damit sie in diesem Kampf aller gegen alle sich behaup­
ten kann, eine Wendigkeit, die dem grundsätzlichen Verfas­
sungsbegriff strikte widerspricht, von seiner Moralität ganz zu
schweigen, und die bloß darauf bedacht sein muß, unter dem
Einsatz stärkster persönlicher Verantwortung das materiell
Notwendige, ja, das Verbrecherische machiavellistisch zu tun,
soferne der Augenblick es verlangt. Und gerade Zeiten der
Wertzersplitterung sind es, in denen sich der logische Umschlag
der abstrakten Staatsdogmatik in ihr Gegenextrem mit beson­
ders sichtbarer Raschheit und deutlichster Präzision vollzieht,
freilich nicht als Aufhebung der Unfehlbarkeit und des dogma-
tisierten Regierungsprinzipes, wohl aber als Aufhebung der
Methode, welche die der Verfassung ist; aus der abstrakten
Dogmatik wird eine konkrete, es ist die streng logische Weiter­
entwicklung des pseudoabsoluten Unheils. Denn das Gegenex­
trem, das sich mit rücksichtslosester, radikalster Brisanz und
mit weitaus engerer Wirklichkeitsverhaftung einstellt, ist das
Extrem einer total diktatorischen Staatsform, und obzwar ihre
Impulsivität letztlich jede Bindung an eine Verfassung verwirft
und den Diktator, sein irrational-empirisches Wesen, sein poli­
tisches Genie, zum ständigen Heilsbringer und Verfassungs­
schöpfer, zum unversiegbaren Quell der staatlichen Unfehlbar­
keit machen will, vermag selbst diese totale und höchst
verantwortungsfreudige Autokratie nicht eines breiteren An­
kergrundes für ihre Unfehlbarkeit zu entraten; es ist, als wäre
das Übermaß der aufgelasteten Verantwortung sonst nicht
tragbar: als Exponent des irrationalen Volkswillens, der an die
223

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Stelle der rationalen Verfassung nunmehr tritt, als Exponent
dieses immer wieder befragten, immer wieder aufgestachelten,
massenpsychischen Seins, dessen Würde er zu repräsentieren
trachtet, findet der Diktator in mystischer Identifikation mit
dem Kollektiv jene irrationale Unfehlbarkeit, ohne die sein
seltsames Wechselverhältnis zur Masse, ohne die sein dynami­
scher Fatalismus nicht denkbar, nicht erklärbar, m. e. W. nicht
möglich wäre. Allerdings, so sehr und so offensichtlich zwischen
extremer Abstraktheit und extremer Massenbindung, zwischen
extrem rationaler und extrem irrationaler Unfehlbarkeit, zwi­
schen extrem passivem Automatismus und extrem aktiver Dy­
namik sich anscheinend Unüberbrückbares auftut, so sehr es
sich hier auch um polare Gegensätze handeln möge, in der we­
sentlichen Sinngebung des Lebens, in der Nullifizierung der
einzelmenschlichen Persönlichkeit, in der Verachtung ethischer
Wirklichkeiten, in der unbedingten Hochachtung ihres Dog­
mas, und sei es selbst um den Preis erbarmungsloser Inhumani­
tät, bleiben sie identisch und bleiben einander derart verwandt,
daß sie in einer ganzen Reihe von praktischen Belangen, z. B.
in denen des Militarismus, sich vielfach verkreuzen und einig
gehen dürfen; weder verschlägt es etwas, daß der abstrakte
Staatsgedanke sich als Konkretisierung eines heiligen Geistes
geriert, noch daß der diktatorische sich eine konkrete gottvä­
terliche Macht anmaßt, die Konkretisierung ist bei ihnen beiden
pseudoabsolut, sie glauben beide, das Empirische und damit
ihre eigene Institution vergöttlichen und mythisieren zu kön­
nen, mehr noch, sie beide halten sich auf Grund solcher Mythi-
sierung zu jeglicher Gewaltanwendung für befugt, sie sind beide
dem Empirischen fatal und fatalistisch verhaftet, und so ist ih­
nen beiden - zum Unterschied von der Position einer echten
Theokratie - die Umweltsentwicklung zu einer Art irdischen
Vorsehung geworden.
Die Skala der irdischen Staatsformen hat sich bisher als ziem­
lich feststehend und wenig reichhaltig erwiesen, und wohl noch
für sehr lange Fristen ist anzunehmen, daß die Gezeiten der
Geschichte diese Skala durchlaufen werden, ehe ihnen in der
Realisation eines Gottesreiches auf Erden abendliche Ruhe
vergönnt sein wird. Bis dahin ist bloß zu wünschen, daß die Ge­
zeitenwellen nicht bis zu den beiden extremen Polen ausschla-
gen mögen, daß das historische Pendelspiel sich möglichst stabil
224

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in der Skalenmitte vollziehe, denn hier, in dieser Mittelzone, ist
die Gefahr der antinomischen Pseudoabsolutierungen und da­
mit auch die der Verfassungs- und Verantwortungskrisen noch
am nachhaltigsten gebannt, hier ist die breiteste Basis zur ge­
rechten Verteilung der Verantwortungen sowohl in morali­
scher, als auch in praktisch-politischer und ökonomischer Be­
ziehung gegeben, die stärkste Sicherung der menschlichen
Integrität und ihres kulturzugewandten Seins: Es ist die terror­
freieste und daher paktfähigste Zone des sozialen Lebens, und
wenn sie auch, eingedenk ihrer irdischen Unzulänglichkeit,
keineswegs das Absolute konkretisiert, ja, nicht einmal den
Ehrgeizzu diesem aussichtslosen Beginnen hat, es ist die Zone,
in welcher die Realität einer schlicht humanen Anständigkeit
und einer reinlichen Verfassungsmoral etabliert werden kann,
es ist die Zone, in welcher ein Maximum an Freiheit für das In­
dividuum verbürgt ist, in welcher diese Freiheit bloß durch die
Notwendigkeitendes rational-sozialen Ethos eingegrenzt wird,
es ist die Zone der ethischen Kulturwirklichkeit, und in ihr wird
dem Absoluten der ständig klarer werdende Spiegel errichtet,
das human-irdische, dennoch ewige Ebenbild der absoluten
Würde.

Von den Aufgaben der Herrschaft


Weder von abstrakten Ämtern, noch von konkreten Göttern,
und sicherlich nicht über leere Nullen wird Regieren ausgeübt,
sondern von Einzelmenschen über Einzelmenschen, und wenn
auch Machtausübung, vom Menschen ausgehend und auf den
Menschen gerichtet, stets an das Absolute rührt, so wird damit
nicht eine legendäre Absolutheit in der Außenwelt getroffen,
wohl aber die der humanen Wirklichkeit in des Menschen
Seele. Das Gespenst einer fatalistischen Verfassung oder Re­
gierung, widersinnig als Verfassungsgedanke, aus dem das Ver­
antwortungsprinzip nicht zu eliminieren ist, widersinnig in der
praktischen Politik, in der Fatalismus Zusammenbruch bedeu­
tet, dieses Gespenst wird an dem Vorhandensein der menschli­
chen Seele, des menschlichen Herzens zuschanden; auf diesen
sehr einfachen Tatbestand reduziert sich schließlich das an­
scheinend so antinomische Problem des Fatalismus und der
aufgespaltenen, dogmatischen, pseudoabsoluten Konkretisie­
rungen.
225

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Denn gleichgültig, wie weit eine ideale Verfassung überhaupt
im Irdischen zu realisieren ist, durch all ihre realisierten Formen
hindurch, von der primitivsten bis zur kompliziertesten Staats­
und Gesellschaftsstruktur, steht sie unter dem edukatorischen
Kulturauftrag, der ihr die moralische Gestaltung des Kollektivs
anbefiehlt, und unweigerlich geht dieses Verantwortungserbe
von der Verfassung auf jeden über, der zur Leitung eines Kol­
lektivs berufen ist, und gerade weil jede Verfassung mit wach­
sender Logosnähe befähigter und befähigter wird, absolute
Würde darzustellen und an den Menschen weiterzugeben, ge­
rade weil sie immer mehr zur Repräsentanz der natürlichen
Rechte und Pflichten des Menschen sich entwickelt und enttvik-
keln muß, ebendeshalb ist es schlechterdings unmöglich, den
Regierenden aus diesem primären Pflicht- und Verantwor­
tungskreis auszuschalten und ihn - so erfreulich dies unter
manchen Umständen auch wäre - zum bloß technischen Beam­
ten herabsinken zu lassen oder gar über die grundlegende
Pflichtsphäre hinaus ihn in mystische Gefilde zu versetzen;
nichts und abernichts, keinerlei Herrschergewalt und keinerlei
Unfehlbarkeit enthebt ihn ihrer prinzipiell ethischen Verant­
wortungen, nichts entbindet ihn seiner natürlichsten schlichten
Menschenpflicht, nichts darf seine Achtung vor der Absolutheit
jeglicher Nebenseele schmälern, doch alles und aberalles weist
ihn zu der Aufgabe hin, sich mit seiner ganzen Bemühung und
mit seiner ganzen Obsorge dem einzelmenschlichen Wohl und
der einzelmenschlichen Würde zuzuwenden, auf daß mit der
unablässigen Anrufung der Einzelseele stets aufs neue die ab­
solute Sittlichkeit aus einer relativistischen Umweltsentwick­
lung entlöst und zu ihrem gemeinschaftsstiftenden Wirken frei­
gemacht werde, zur Freiheit jener Selbstverantwortung, aus der
die moralische Haltung des Kollektivs hervorgeht. Jede andere
Handlungsweise ist Beleidigung des absolut humanen Seins, ist
Beleidigung des Untertans durch den Herrscher, ist Verletzung
der psychischen und physischen Integrität der menschlichen
Einzelpersönlichkeit, und einerlei an welchem Punkte dieselbe
verletzt wird, einerlei, ob sie in ihrem freien Glaubensgewissen
oder in ihrem Pflichtrecht auf freie Selbstverantwortung und
auf freie Selbstverwaltung des individuellen Seins geschädigt
wird, oder ob dies durch Nullifizierung ihres Bestandes und ih­
rer Würde oder sonstwie geschieht, es mündet jedwede Tyran­
226

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nis, selbst wenn sie, sei es als abstraktes Amt, sei es als kon­
kret-diktatorische Person, den Kollektivwillen verkörpert, und
selbst wenn sie den Forderungen des politischen Alltags noch
so vortrefflich genügt, letztlich in ihr eigenes Verderben, und
dieses ist zumeist auch das des Kollektivs: Wer die Freiheit des
Beherrschten mißachtet, verliert die Freiheit seiner Herrschaft,
wer die Mitverantwortung des Nebenmenschen abzulehnen
sich bemüßigt fühlt, gerät selbst ins Verantwortungslose, ins
Maßlose und Maßunfähige, gerät mit dem Verlust der äußeren
Kontrolle in innere Kontrollosigkeit, lediglich der Umwelt aus­
geliefert, die ebensowohl die Übermacht eines Dogmas wie die
der Ereignisse sein kann, und endet schließlich mitsamt seiner
Herrschaft in jener nicht mehr lenkbaren Erstarrung, deren
Unerträglichkeit, vom Humanen aus unzugänglich geworden,
die gewaltsame Lösung ihres antinomischen Gehaltes zur Regel
macht und kaum anders als unter dem blutigsten Schrecken der
Kulturvernichtung zu sprengen ist, aufseiten des Herrschenden
in der mythischen ultima ratio des Krieges, aufseiten der Be­
herrschten im revolutionären Durchbruch des Absoluten. Und
da wie dort wird Unerträgliches durch Unerträglicheres abge­
löst. Denn nicht Völker werden beherrscht, sondern Menschen,
und wer nicht zum Heile des Menschen regiert, der tut es zum
Unheil der Völker.
Niemals ist die Absolutheit der humanen Herrschaftsaufgabe
völlig auszutilgen gewesen, und niemals ist sie völlig auszutil­
gen: mag ein Regime noch so autokratisch sein und noch so sehr
im Massenpsychischen fußen, es wird, wie eh und je, Frieden,
Gerechtigkeit und soziale Paktfähigkeit zu seiner Devise erhe­
ben, wird für menschliche Freiheit und menschliche Würde ein­
zutreten behaupten, sicherlich sehr oft bloß von dem heuchleri­
schen, politisch praktischen Wunsche bewegt, jene Unbotmä­
ßigen, die im eigenen oder im fremden Land sich nicht unter
den massenpsychischen Bann begeben wollen, trotzdem zur
Gefolgschaft zu bringen, und sicherlich nicht minder oft von
dem sehr bösen Gewissen getrieben, welches von der Sinnlosig­
keit des unethischen Tuns weiß - vielerlei Widersprechendes
wohnt mit der gleichen Gutgläubigkeit und der gleichen
Schlechtwilligkeit in des Menschen Brust -, und das sich selbst
wieder mit der Wahrheit in Einklang zu bringen wünscht, damit
sie sich nicht einstens grausam räche, und sicherlich sind noch
227

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manche andere Motive anzuführen, doch sicherlich keines, das
nicht im Hintergrund von einer tiefen Beunruhigung erfüllt
wäre und erfüllt sein muß, weil niemand, selbst der Verstockte­
ste nicht, sich der unverlierbar ehrfürchtigen und fast immer
furchtgetragenen Ahnung des menschlichen Seins schlechthin
entziehen kann, der Ahnung um das Absolute, das unbeschadet
jedweder Umweltsentwicklung und jedweder Gefährdung wie
ein unzerstörbarer gemeinsamer Nenner auf dem Boden alles
Humanen und aller menschlichen Institutionen und aller Rela­
tivismen ruht.

Von der Mission des Völkerbundes


Ermöglicht durch die zu jener Zeit noch rudimentär vorhanden
gewesene europäische Paktfähigkeit, doch entstanden unter
dem grauenerfüllten Eindruck der auf den französischen
Schlachtfeldern blutig sichtbar gewordenen Vision einer allge­
meinen Wertzersplitterung und -Vernichtung, hatte der Völ­
kerbund, eben in Entsprechung seiner Gründungsveranlassung
und Gründungsvoraussetzung, es sich zur Aufgabe gemacht,
dem Weitergreifen der Zersplitterung Einhalt zu gebieten und
die Weltpaktfähigkeit zu stärken. Dieses Gründungsziel,
schlechterdings identisch mit der Umgestaltung des Mensch­
heitskonglomerates zu einem Weltkollektiv moralischer Hal­
tung und Würde, war und ist von so umfassender Bedeutung,
daß nur eine Herrschaftsinstanz ähnlich großer Einflußweite
dasselbe sich hatte stecken können und vielleicht einmal errei­
chen wird: Ziel, Sinn und Lebensberechtigung des Völkerbun­
des sind damit umschlossen; ohne eine derartige Herrschafts­
befugnis, ohne unmittelbare Mitbeteiligung an der Führung der
Weltgeschicke, ohne eine Autorität, die den Regierungen der
pakt- und friedenswilligen Staaten zumindest gleichgeordnet
ist, wäre die Friedensmission des Völkerbundes dahin. Und fast
ist es, als müßte solche Auflösung sehr bald eintreten. Denn die
Umweltsentwicklung der letzten Jahre hat den Völkerbund
keineswegs verschont; die Tendenzen der Wertzersplitterung
und des Weltrelativismus sind in ihn eingedrungen, nicht min­
der die Neigung zum fatalistischen Geschehenlassen, und oh­
nehin geschwächt durch die verschiedenen, freilich unvermeid­
lich gewesenen Mängel seiner Initialkonstruktion, gleitet er
offensichtlich mit wachsender Beschleunigung in den Zustand
228

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einer schönen Illusion, deren Palliativwirksamkeit, bereits sel­
ber beinahe paktunfähig geworden, von ständiger Sabotage be­
droht wird und kaum mehr als taugliches Instrument der prak­
tischen Tagespolitik zu betrachten ist, geschweige denn als ihre
oberste Friedensinstanz.
Kriege werden nicht durch gütlichen Zuspruch verhütet, und
ebensowenig sind Beschlüsse und Resolutionen imstande, ein
pakttragendes Ethos zu erzeugen; manches spräche also dafür,
daß die Dinge eine andere und bessere Wendung genommen
hätten, wenn der Völkerbund - im Sinne des Idealwunsches
seiner Freunde - zum Träger der militärischen Exekutivgewalt
Gesamteuropas gemacht worden wäre. Trotzdem darf die Aus­
stattung mit kriegerischen Machtmitteln nicht überschätzt wer­
den. Angesichts der sich häufenden, allenthalben ausbrechen­
den Generalsrebellionen wird es nämlich betrüblich klar, was
Wertautonomie auf militärischem Gebiet bedeutet, und daß zur
Handhabung eines Machtapparates primär Paktfähigkeit und
verläßliche Pakttreue gehören. Daß aber eine solche primäre
Statuierung des pakttragenden Geistes möglich ist, exemplifi­
ziert die Geschichte an einer ganzen Reihe politischer Parteien
und anderer Gesinnungsgruppen, die allesamt zu Beginn ihrer
Tätigkeit lediglich ihre Programmidee zur Verfügung gehabt
hatten und denen es durch bloße Propagierung und Verbrei­
tung dieser beschworenen Ideologie gelungen ist, sich eine aus­
reichende materielle Basis und eine genügende Gefolgschaft
zur Durchführung ihres Aufstieges und schließlich realen
Machtergreifung zu sichern. Nichts ist so unrichtig, als zu glau­
ben, daß die Idee, sei sie nun gut oder böse, minder- oder hoch­
wertig, praktisch nichts bedeute, und daß der geistige Impuls
der Geschichtsformung geringgeschätzt werden dürfe: Was
nottut, ist einzig und allein die Umwandlung der Idee zur wirk­
samen Leitvorstellung in der menschlichen Seele.
Der Völkerbund ist aus einer echten Herrschaftsidee heraus
geboren, und alle Elemente zur geschichtsformenden Funktion
sind in seiner Aufbaustruktur enthalten: mit den Prinzipien der
nationalen Selbstbestimmung und der Gleichberechtigung ist
jene Grundanerkennung der menschlichen Würde ausgespro­
chen, die als Urbedingung aller Sozialwirklichkeit, aller Pakt­
wirklichkeit, aller Friedenswirklichkeit zu gelten hat, und mit
der Stellungnahme zu den Fragen des internationalen Arbeits­
229

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rechtes, des Emigrantenproblems, des Mädchenhandels, der
Rauschgiftbekämpfung, kurzum in allen Belangen, in denen es
um humane Gerechtigkeit und humanen Schutz geht, ist jene
Wendung zur unmittelbaren Obsorge für die physische und
psychische Integrität der Einzelperson vollzogen, ohne die kei­
nerlei moralische Herrschaft ausgeübt werden kann, am aller­
wenigsten eine überstaatlichen Charakters. Es sind also sämtli­
che Prämissen für eine aktive Wirksamkeit in der Idee des
Völkerbundes vorhanden; nichtsdestoweniger wäre es vermes­
sen, zu behaupten, daß er jemals eine Vorstellung und gar eine
Leitvorstellung im lebendigen Bewußtsein der Menschen ge­
bildet hätte, eine gewisse Schemenhaftigkeit war ihm stets zu
eigen, und dies nicht nur jetzt, da die Schatten eines Abstieges
ihn bedecken, sondern auch zur Zeit seiner Gründung und sei­
ner Blüte war dies nicht besser. Denn wessen der Völkerbund
von Anbeginn an, nebst manchem anderen, ermangelte, das
war die konstitutionelle Möglichkeit, seine Ideologie tatsäch­
lich an eben jenes lebendige Bewußtsein der Völker und Men­
schen heranzubringen; zwischen diesen und ihm standen und
stehen die Staatsgebilde samt ihren Regierungen, und mag so­
gar der gemeinsame Nenner absoluter Humanität aus keinem
Staatswillen wegzudenken sein, er wird insolange ungehoben
und von allen irrationalen massenpsychischen, haß-schürenden
und haß-pflegenden Strebungen überdeckt bleiben müssen, in­
solange dieser ganze Wust nicht von einer hiezu befugten Au­
torität zerrissen sein wird, d. h., insolange der Völkerbund nicht
dagegen ausdrücklich die Würde des Menschen anmeldet, jene
Menschenwürde, die den gesamten Staatsautonomien zutrotz
das unbedingte und unbestreitbare, eigenste Herrschaftsan­
recht der völkerbundlich gefaßten, überstaatlichen Instanz ist,
das Herrschaftsanrecht des Logos und der ethischen Absolut­
heit, das Herrschaftsanrecht des moralischen Weltkollektivs
und seiner in der humanen Selbstverantwortung begründeten
Freiheit.
So sehr der Kulturtod mit all seinen Schrecknissen auch nahe­
gerückt erscheint, zweitausend Jahre abendländischer humaner
Entwicklung sind kaum mit einem Schlage wegzuwischen, und
immer noch besteht die Hoffnung auf ein menschheitsbewußtes
Weltgewissen, das nicht zusammenbrechen kann, nicht zusam­
menbrechen darf, sondern sich bloß umformt: und es mag sein,
230

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daß ein Stück solch umgeformten Weltgewissens bereits heute
zu gewahren ist, ja, als gäbe der Völkerbund selber von dieser
Umformung Kunde, denn bei aller Wertzersplitterung hat sich,
zunehmend mit der zunehmenden allgemeinen Wertrelativie­
rung, gleichsam als ein Absolutes im Relativierungsakt, eine
früher niemals geahnte Achtung vor bestimmten Kulturwerten,
u. z. vor den natürlich gewachsenen einzelnen Volkskulturen
eingestellt; es ist ein sozusagen relativistisches Welt- und Kul­
turgewissen, und seine konkrete Wirksamkeit hat sich demge­
mäß auch als höchst prekär erwiesen, zumindest bisher keine
sehr realen Resultate geliefert, wahrscheinlich weil darin, wie
in jedem Relativismus, viel zu viel gefährlich-antiuniversale
und sogar barbareifreundliche, kriegsfördernde Autochthon-
tendenzen und Egoismen mitschwingen. Dennoch ist es eine
neue Form, und in der neuen Form wohnt vielleicht der Ansatz
zu neuem Inhalt und neuer Entwicklung, der Ansatz zu einer
neuen Humanität, zu einer neuen Achtung vor der Gestalt des
Menschen, die unabweislich hinter der des Volkes sich erhebt,
sich zur Gestalt der Menschheit schlechthin entfaltend: es ist
nur eine Hoffnung, aber eine umso berechtigtere, als der Au­
genblick nicht mehr ferne sein dürfte, in welchem die Völker,
müde des Mordens, müde des selbsterzeugten Elends, wahrhaft
schreckensmüde sein werden, der Sehnsucht voll, einer stillen
und milden Erlaubnis gemäß wieder heimkehren zu können aus
den Sphären des Massenwahnes, des Blutvergießens, des
Grauens und der gegenseitigen Verknechtung, heim in den
Frieden ihres humanen Seins, heim in den Frieden erneut rei­
fender Kulturwirklichkeit. Der Menschheit hiezu behilflich zu
sein und sie dem automatenhaften Gespenstertum ihres Fata­
lismus zu entreißen, ihr und ihrer Seele, aber auch ihrem Be­
wußtsein wieder die ewigtröstliche Leitvorstellung kultureller
Humanität zu geben, das ist die Aufgabe des Völkerbundes: er
deklariere deshalb von der Höhe seines Friedensforums aus,
daß er die Würde des Menschen in seinen Schutz nehme.

1 Eine Vereinigung, die 1910 mit einem Kapital von zehn Millionen Dollar von
Andrew Carnegie begründet wurde. Der Hauptsitz der Stiftung ist in New
York, ein europäisches Zentrum befindet sich in Genf. Das Ziel ist das Studium

231

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der Kriegsursachen und das Finden von praktischen Mitteln zur Kriegsverhin­
derung, ferner die Entwicklung einer internationalen Gesetzgebung und die
Verbesserung internationaler Beziehungen im allgemeinen.
2 Society of Friends (The Religious Society of Friends). Quäker-Bewegung, die
1652 von George Fox in England begründet wurde und deren pazifistische Be­
strebungen stets Hand in Hand ging mit einer aktiven Arbeit für den Frieden.
3 Den Aufgaben des Völkerbundes dienten mehrere besondere Organistionen
wie das Internationale Friedensamt in Genf oder das Institut für Internationa­
les Recht, das heute seinen Sitz in Brüssel hat.
4 Die Pan-Europa-Bewegung ging zurück auf den 1923 von Graf Coudenhove-
Kalergi in der Schrift P aneuropa geforderten Zusammenschluß der europä­
ischen Staaten. Sie kann als die erste europäische Einigungsbewegung des
zwanzigsten Jahrhunderts angesehen werden.
5 Die Liga für Menschenrechte wurde als »Ligue pour la Defense des Droits de
l’Homme et du Citoyen« 1898 in Paris zur Revision des Dreyfus-Prozesses ge­
gründet. Der heutige Sitz ist in London. Sie kämpft u. a. für die friedliche Rege­
lung internationaler Konflikte und verteidigt die Grundsätze der Demokratie.
Ihr Organ ist die Wochenschrift Cahiers de l ’H o m m e (seit 1919).
6 Vgl. die oben genannten Signatare. Broch stand 1937 in dieser Angelegenheit
in Korrespondenz mit Jacques Maritain, Albert Einstein, Stefan Zweig, der
Duchess of Atholl, Gräfin Listowel, Aldous Huxley, Thomas Mann u. a. Zur
Unterbreitung der Resolution beim Völkerbund kam es nicht mehr. Thomas
Mann erwog seinerzeit, die Resolution in M a ß u n d W ert zu veröffentlichen.
Bei der Vorbereitung dieser Studie las Broch u. a. Ernest Barker, The C itizen 's
Choice, Cambridge University Press, 1937.

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Völkerbundtheorie (1936-1937)

So sehr diese dichterische Betätigung1 meinen innern Wün­


schen und Bedürfnissen entsprach, sie wurde neuerdings von
den Ereignissen überholt. Hitler hatte die Macht in Deutsch­
land ergriffen, die Nazipropaganda begann mit unwiderstehli­
cher Präzision in sämtlichen Grenzländern zu arbeiten, und da­
hinter stand die Aufrüstung sowie die täglich deutlicher
werdende Kriegsdrohung: es waren Mächte, gegen welche mit
Beeinflussung eines Lesepublikums nichts mehr auszurichten
war. Wer in diesem Augenblick noch etwas gegen Barbarei,
Blutwahnsinn und Krieg tun wollte, durfte keine Umwege mehr
gehen, sondern hatte sich zu bemühen, sich unmittelbar in den
Dienst jener Kräfte zu stellen, welche noch in der Lage waren,
sich dem kommenden Unheil zu widersetzen. Wer dies in jenen
Tagen nicht tat, der setzte die Sünde der geistigen Arbeiter und
Intellektuellen fort, die Sünde des ivory tower und seiner
Verantwortungslosigkeit; gerade das Deutschland des Jahres
1933 [zeigte], welche Folgen aus der politischen Gleichgültig­
keit des geistigen Arbeiters entstehen konnten: hätte
Deutschland mehr Männer von der politischen Leidenschaft
eines Max Weber2 gehabt, hätte der deutsche Intellektuelle
sich nicht jahrzehntelang vom politischen Geschehen ausge­
schaltet, es wäre um die deutsche Demokratie besser bestellt
gewesen.
Denn trotz des Vorwurfes der »Weltfremdheit«, mit dem die
geistige Arbeit bedacht wird und der schon manchen Intellek­
tuellen dazu veranlaßt hat, sich eingeschüchtert in den ivory
tower zurückzuziehen, hat diese Weltfremdheit doch immer
wieder ins historische Geschehen eingegriffen, und zwar stan­
den ihr hiezu stets zwei Wege, welche allerdings aufs engste
miteinander verknüpft sind, zur Verfügung: der erste Weg führt
durch die ethische Realität zu den Erfordernissen des Tages,
d. h. er gibt diesen Erfordernissen (wie es etwa die französi­
schen Enzyklopädisten getan haben) durch Aufdeckung der in
ihnen enthaltenen ethischen Wahrheit die ihnen notwendige
moralische Legitimation und moralische Wirkungsmöglichkeit;
der zweite Weg führt durch die Dingrealität und entwickelt auf
Grund neuer »Realitätserkenntnisse« (als welche z.B. die
233

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Marxsche Nationalökonomie anzusprechen ist) neue morali­
sche Haltungen.
Ich bin durchaus überzeugt, daß der Fortschritt der Mensch­
heit wieder seine wichtigsten Impulse von diesen beiden Wir­
kungsmöglichkeiten des Geistes erfahren wird. Im Jahre 1935
mußte man sich vor allem fragen, wo die praktischen Erforder­
nisse zu finden seien und wie man daselbst die geistig-theore­
tische Arbeit würde einschalten können.

Durch ein seltsames Zusammentreffen günstiger Umstände


hätte in den Jahren 1934/35 der agonisierende Völkerbund zu
einem wirklichen Friedensinstrument (das er niemals gewesen
war) im Sinne der Wilsonschen Gründungsidee3 gemacht wer­
den können. M. a. W., es wäre damals [möglich] gewesen, den
Völkerbund zu einer wirklichen Union - nicht viel anders, als
wie eine solche heute CI. Streit4 vorschwebt - zu entwickeln,
und zwar infolge einer besondern Machtkonstellation, denn
ohne realpolitischen Hintergrund können keine ethischen Ziele
verfolgt werden. Der Schlüssel zur Situation lag damals bei Ita­
lien5, welches gerne ideologische Konzessionen gemacht hätte,
wenn seine berechtigten Ansprüche auf eine kollektive Man­
datspolitik in den Kolonien halbwegs befriedigt worden wären;
nur widerwillig und gleichfalls unter ideologischen Konzessio­
nen [hat es sich dann] dem deutschen Bündnis zugewandt. Der
Völkerbund oder richtiger die Diplomatie der Westmächte in
ihrem unheilvollen Schwanken zwischen »Gesinnungsethik«
und »Verantwortungsethik«6 hat diese Gelegenheit versäumt;
weder kam es zu den satzungsgemäßen kriegerischen Aktionen
gegen Italien (welche vielleicht die diktatoriale Bedrohung ein
für allemal gebrochen hätten), noch wurden die unbrauchbar
gewordenen Bund-Satzungen, deren ethischer Inhalt bei die­
sem Anlaß eben sogar hätte verschärft werden können, derart
umgewandelt, daß sie Italien das Verbleiben im Bunde ermög­
licht hätten.
Es war damals die Gelegenheit, dem Völkerbund und damit
der Welt jene »Paktfähigkeit« wieder zu verschaffen, die im
Zuge der »Wertzersplitterung« verlorengegangen war; auf
diese Paktfähigkeit kam es an, denn ohne sie gibt es keinen
Frieden. Doch Paktfähigkeit setzt ein Minimum an ethischer
Gemeinsamkeit als Verständigungsbasis voraus.
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In meiner Untersuchung über die Möglichkeiten eines haltba­
ren Völkerbundes bin ich von diesem Problem einer ethischen
Minimalbasis ausgegangen. Meine Arbeit gliederte sich in drei
Teile, erstens in eine staatsphilosophische Grundlegung, zwei­
tens in den Aufbau der staatstechnischen Konsequenzen, wel­
che sich aus der prinzipiellen Grundlegung ergeben, und drit­
tens in die praktischen Desiderata, deren Durchführbarkeit sich
als möglich zeigte.

1. Im staatsphilosophischen Teil wurde nachgewiesen, daß al­


les Regieren - soferne es den Frieden zu wahren beabsichtigt
- auf der Achtung vor der »Würde des menschlichen Individu­
ums« begründet sein müsse und daß im Entschluß zu dieser
Achtung die allgemeine Basis für die neue Paktfähigkeit zu er­
kennen ist. Dieser Teil gipfelt in der Aufforderung an die frie­
denswilligen Staaten, welche sich zu dem neuen Völkerbund zu­
sammenschließen wollen, eine »Deklaration zum Schutze der
Menschenwürde« zu erlassen und diese ebensowohl in ihren ei­
genen Konstitutionen und Gesetzgebungen wie im Status des
neuen Völkerbundes unterzubringen.

2. Der zweite staatstechnische Teil als Konsequenz dieses Ur-


prinzips der Humanität läßt sich in eine Anzahl von Grundthe­
men aufgliedern:
a) werden allgemeine regulative Prinzipien (wie eben das
Grundprinzip der Menschenwürde) akzeptiert, so ist damit
auch die Verantwortung umrissen, welche jedes humanitätsge­
richtete Staatswesen, insbesondere also die Demokratie, den
zur Regierung und Gesetzgebung bestellten Vertretern aufla­
stet, nämlich die Verantwortung der »aktiven Unheilsverhü­
tung«, denn immer ist das Unheil im Gemeinwesen auf Verlet­
zung der Menschenwürde begründet, und alle andern Übel,
heißen sie nun Krieg, Verbrechen oder sonstwie, sind Folgen
dieses Grundübels;
b) unter dieser Voraussetzung wird es gleichgültig, von wem ein
Gebiet regiert wird - »kein Volk beherrscht ein anderes« -
sondern es kommt lediglich darauf an, wie regiert wird, d. h. daß
tatsächlich die akzeptierten Grundprinzipien der Humanität
allenthalben streng durchgeführt werden;
c) es gibt daher für die Mitgliedstaaten des neuen Völkerbundes
235

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keine »reine Souveränität« mehr; jeder Staat steht in seiner in-
nern Gesetzgebung unter der Kontrolle aller andern, d. h. des
Bundes;
d) es gibt keine »verantwortungsbefreiten« Staatsmänner
mehr; jeder einzelne Staatsmann ist den akzeptierten Grund­
prinzipien verpflichtet und kann bei Zuwiderhandeln als »Ver­
brecher« an der Menschenwürde vom Bund strafverfolgt wer­
den;
e) die Mitgliedstaaten geben demnach gewisse Souveränitäts­
teile, zu denen nicht zuletzt auch das Rüstungsrecht gehört, an
den Bund ab.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß gewisse Ansätze zu derar­
tigen Einrichtungen bereits in den Statuten des alten Völker­
bundes (als Reste des Wilsonschen Entwurfes) enthalten gewe­
sen sind.

3. Schließlich ergeben sich praktische Desiderata, teils als


Ausgestaltung des alten Völkerbundprogrammes, teils über
dieses hinausreichend. Einige hievon seien angeführt:
a) Einfluß des Bundes auf die Jugenderziehung in den Mit­
gliedstaaten;
b) zentrale Völkerbund- und Friedenspropaganda, insbeson­
dere als Gegengewicht gegen die fifth-column-Tätigkeit der
Aggressorstaaten;
c) gegenseitige Rechtsangleichung für sämtliche Mitgliedstaa­
ten, nicht zuletzt auf dem Gebiete des Sozial- und Arbeitsrech­
tes;
d) weiterer Ausbau der sozialen Völkerbundinstitutionen, wie
denen des Arbeitsamtes, des Büros für geistige Zusammenar­
beit, sowie in den Belangen des Rauschgiftvertriebes, des Mäd­
chenhandels, der Sklavereiverhütung usw.;
e) Einrichtung eines Institutes zur Erforschung und Bekämp­
fung von Massenwahnerscheinungen.

Diese Desiderata lassen sich natürlich noch ziemlich weit ver­


mehren, nämlich so weit, als sie sich deduktiv aus den aufge­
stellten Grundprinzipien ableiten lassen und sich an diesen be­
gründen. Denn jede moralische Institution muß ein logisches
Organon darstellen, in welchem jeder Teil sich am Ganzen be­
gründen läßt.
236

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Ich stehe auch noch heute zu dieser Arbeit, umsomehr als sie
mir als ein Beweis für die praktische Anwendbarkeit meiner
Werttheorie erscheint, und ich glaube vertreten zu können, daß
sie prinzipiell alles enthält, was man als »Friedensziel« für den
heutigen Krieg zu umreißen hätte, vielleicht sogar als pax ame-
ricana, denn da sie den Wilsonschen Gedanken weiterführt, be­
sitzt sie sicherlich einen innern Zusammenhang mit den Grund­
zügen der amerikanischen Konstitution, insbesondere also mit
der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

Während der Jahre 1936/37 stand ich mit einer Reihe bedeu­
tender europäischer Persönlichkeiten7 in Korrespondenz, um
diese Arbeit zu einem kollektiven Dokument zu machen, wel­
ches in einem repräsentativen Schritt beim Völkerbund einzu­
bringen gewesen wäre. Die politische Entwicklung des Jahres
1937 zwang zur Aufgabe dieses Vorhabens; es war sinnlos ge­
worden.
Im Widerspruch zur Meinung mancher meiner Freunde habe
ich die Völkerbundarbeit nicht veröffentlicht. Derartige Arbei­
ten sind an den Augenblick ihrer Verwirklichbarkeit gebunden ;
nehmen sie hierauf nicht Rücksicht, so sinken sie zur Utopie ei­
nes wishful thinking herab. Und diese Weigerung gegen die
Veröffentlichung wurde überdies für mich persönlich zu einem
Glücksfall: wäre die Veröffentlichung erfolgt, so hätte ich das
Nazigefängnis, in dem ich mich einige Wochen befunden hatte,
kaum mehr verlassen.8

1 Vgl. den vorangehenden Abschnitt »Literarische Tätigkeit (1928-1936)« von


Brochs »Autobiographie als Arbeitsprogramm« in Band 9/2, S. 247-248 dieser
Ausgabe.
2 Vgl. Max Weber, G e sa m m e lte p o litisch e S ch riften (München 1923). Dieser
Band befand sich in Brochs Wiener Bibliothek.
3 Vgl. »The Fourteen Points. President Wilson’s Address to Congress, January
8, 1918«. Der 14. Punkt lautet: »A general association of nations must be for-
med under specific covenants for the purpose of affording mutual guarantees
of political independence and territorial integrity to great and small States alike.
[...]«.
4 Vgl. Clarence Kirshman Streit, U nion n o w . A p ro p o sa l fo r a fed era l union o f
the d em o cracies o f the N o rth A tla n tic (New York 1939).
5 Italien trat 1937 aus dem Völkerbund aus.

237

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6 Vgl. Max Weber, P o litik als B e ru f (München 1919), S. 57f.
7 Vgl. Fußnote 6 der »Völkerbundresolution«.
8 Broch wurde aufgrund einer Denunziation am 13. März 1938 von der Gestapo
in Alt Aussee (Österreich) verhaftet, am gleichen Tag ins Gefängnis von Bad
Aussee eingeliefert und dort am 31. März 1938 entlassen.

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Rundfunkansprache an das deutsche Volk1

Das deutsche Volk fühlt sich heute wie ein gehetztes Wild, das
von den Jägern umringt und gestellt worden ist, um den Gna­
denstoß zu empfangen.
Das deutsche Volk möge sich erinnern, daß es einstens, im
Jahre 1814, als ein anderer Völkerbedrücker, Napoleon, nie­
dergeworfen werden sollte, selber zu den Siegermächten gehört
hat, daß es damals in der Völkerschlacht von Leipzig und auf
der Ebene von Waterloo Schulter an Schulter mit seinen heuti­
gen Feinden gekämpft hat, nicht nur um seinen eigenen Boden
zu befreien, sondern auch um dem mißgeleiteten französischen
Volk Befreiung von unerträglicher Tyrannei zu bringen.
Frankreich hat nach dem Tag von Waterloo in die friedliche
Völkergemeinschaft zurückgefunden; es hat seitdem nie mehr
einen Angriffskrieg unternommen. Deutschland hat sich seit
den Befreiungskriegen immer mehr und mehr aus der Völker­
gemeinschaft herausgelöst. Es hatte in jenem Befreiungskrieg
zum ersten Mal seine nationale Stärke erprobt, und nun, in dem
darauffolgenden Aufschwung, begann es sich für unbezwinglich
zu halten. Es geriet in einen Wunschtraum hinein, der nach den
Siegen von 1866 und 1870 noch tiefer wurde, in den tollen
Wunschtraum von der Bestimmung der Deutschen zur Welt­
herrschaft: die Macht des deutschen Schwertes sollte diese
Weltherrschaft zugleich begründen und rechtfertigen, die
Macht des Schwertes sollte sie zur gerechten Sache machen.
Das deutsche Volk begann damit wieder an jenes heidnische
Gottesurteil zu glauben, das sich im Schwertkampf verkünden
soll.
»Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen«2rief Wilhelm II.
dem deutschen Volke zu und führte es damit in den ersten
Weltkrieg. Damals, im August 1914, ist Hitler, wie er selber in
Mein Kampf3erzählt, ins Knie gesunken, um dem Schöpfer für
diese herrliche Zeit zu danken. Es wurde eine Zeit des Grauens
und des Elends. Wiederum schloß sich ganz Europa, ja die
ganze Welt zusammen, diesmal nicht gegen Frankreich, son­
dern gegen Deutschland.
Trotzdem folgte kein Erwachen aus den Weltherrschaftsträu­
men. Das Gottesurteil ist verfälscht worden, erklärten Luden­
239

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dorff und Hitler. Die deutschen Armeen haben eigentlich ge­
siegt, aber sie sind gleich Siegfried von einem Dolchstoß4 in den
Rücken getroffen worden: das feige Hinterland, geführt von
Juden und Kommunisten, hat den Helden gefällt. Und obwohl
ein jeder im Hinterland, also sechzig Millionen Deutsche, hie­
durch der Feigheit und der Dummheit bezichtigt wurden, fand
die beschimpfende Lüge wachsenden Glauben, denn sie er­
laubte es, den Wunschtraum vom unbezwinglichen Deutsch­
land und seiner mystischen Berufung zur Weltherrschaft wei­
terzuträumen.
Gewiß, nicht alle Deutschen, die Hitler und den Seinen die
Macht in die Hand gaben, haben damit Krieg im Sinne gehabt,
aber fast alle haben an die Auserwähltheit und an das Herr­
schaftsrecht Deutschlands geglaubt, und sie haben nicht ge­
merkt, daß dies schon den Krieg bedeutete, den die Nazis von
allem Anfang an vorgehabt und bewußt vorbereitet hatten.
In unzähligen Reden und Zeitungsartikeln der Nazi wurde
nun das alte Thema vom Gottesurteil des Krieges und von der
historischen Gerechtigkeit, die am Schlachtfeld erkämpft wer­
den muß, wieder aufgenommen. Wilhelm II. hatte leere Ver­
sprechungen gemacht. Hitler hat gelogen, bewußt gelogen, ja,
er hat sich in Mein Kampf sogar ganz zynisch und öffentlich ge­
brüstet, daß man mit Lügen die Welt beherrschen kann.5 Den­
noch hat das deutsche Volk ihm geglaubt, es hat ihm die Dolch­
stoßlegende geglaubt, es hat die Augen verschlossen vor den
vielen Nazi-Verbrechen und Nazi-Greueln in den Gefängnis­
sen und Konzentrationslagern, es hat die Pogrome und Folte­
rungen geduldet, immer in der Hoffnung, daß das große Got­
tesurteil der Geschichte all die Schande wieder wegwaschen
werde. Und in solch freiwilliger Blindheit ist das deutsche Volk
an der Entfesselung dieses neuen Weltkrieges mitschuldig ge­
worden. Hitler aber und die Seinen, sie logen weiter. Das de­
mokratisch verseuchte England kann keinen Krieg gewinnen,
erklärten Hitler und Goebbels, das Rassengemisch Amerika
wird sofort auseinanderbrechen.6 Keine Bombe wird auf
Deutschland fallen, versprach Göring. Die russische Armee
besteht nicht mehr, verkündete Hitler. Dann wieder höhnte er,
die Strategie der Alliierten sei infolge ihrer vollkommenen
Idiotie gänzlich ungefährlich. Und während diese Lügen sich
schon selbst entlarvten und Niederlage auf Niederlage folgte,
240

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hat das deutsche Volk diesen Leuten weiter geglaubt, hat die
deutsche Armee diesen Leuten weiter gehorcht, hat sich von
ihnen zu Henker- und Folterdiensten erniedrigen lassen, hat
alle die unnennbaren Verbrechen in den Mordfabriken von
Maidanek, Oswiecim, Buchenwald, Nordhausen, Ravensbrück
und wie sie alle heißen, gedeckt und unter ihre Obhut genom­
men. Blind wie ein Schlafwandler war das deutsche Volk.
Wird es auch jetzt die Augen nicht öffnen wollen? Wird es eine
neue Dolchstoßlegende erlauben, auf daß der Wunschtraum
vom ewig siegenden deutschen Schwert weiter gesponnen wer­
den könne? Kein Jude, kein Kommunist konnte diesmal den
Dolch gegen den deutschen Helden zücken, denn Hitler hat
nicht nur die Juden und Kommunisten, sondern auch gleich ihre
Frauen und Kinder, Millionen von ihnen, ermorden lassen.
Schlafwandlerisch blind hat das deutsche Volk sein Schicksal
Lügnern und Verbrechern ausgeliefert, schlafwandlerisch blind
hat es an ihren Verbrechen teilgenommen, schlafwandlerisch
blind und stumpf gegen fremdes Leid hat das deutsche Volk die
Verantwortlichkeit an dem Verbrechen des Krieges und an den
furchtbarsten Greueln der gesamten Menschengeschichte auf
sich geladen.
Das deutsche Volk hat an ein heidnisches, barbarisches Got­
tesurteil geglaubt, das es nicht gibt. Denn das Urteil, mit dem
das Schicksal gegen ein erblindetes Deutschland entschieden
hat, dasselbe Urteil, das dazumal gegen ein vermessenes
Frankreich unter Napoleon entschieden hatte, dieses Urteil
stammt aus einer Sphäre, die höher ist als die der bloßen Ge­
walt; es stammt aus der Sphäre der unwandelbaren Gerechtig­
keit. Deutschlands größter Sohn, Goethe, hat dies gewußt und
vorausgewußt, als er 1814 beim Sturz Napoleons den propheti­
schen Bannspruch dichtete:
Verflucht sei, wer nach falschem Rat,
Mit überfrechem Mut,
Das was der Korse-Franke tat,
Nun als ein Deutscher tut!
Er fühle spät, er fühle früh,
Es sei ein dauernd Recht;
Ihm geh’ es, trotz Gewalt und Müh’,
Ihm und den Seinen schlecht!7
241

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1 Broch schickte diese Ansprache gleich nach Kriegsende im Frühjahr 1945 an
seine Freundin Ruth Norden, die in Berlin an der Rundfunkabteilung des ame­
rikanischen Office of War Information (später RIAS) tätig war. Gesendet wor­
den ist die Ansprache nicht.
2 In der Rede Wilhelms II. auf dem Brandenburgischen Provinzial-Landtag am
24. Februar 1892 hieß es: »[...] Brandenburger, zu Großem sind wir noch be­
stimmt, und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen. [...]« Zitiert nach
Wilhelm Schröder, D as p e rsö n lich e R eg im en t. R e d e n u n d sonstige ö ffen tlich e
Ä u ß e ru n g e n W ilhelm II. (München 1907), S. 96.
3 Vgl. Adolf Hitler, M e in K a m p f, Bd. 1 (München 1925), S. 169.
4 Vgl. ibid, S. 197 ff und Erich Ludendorff, D ie R e v o lu tio n vo n O b en . D as
K riegsende u n d die V orgänge beim W a ffen stillsta n d (Lorch o. J.).
5 Vgl. A. Hitler, M e in K a m p f, a.a.O., S. 185 ff.
6 Vgl. Hermann Rauschning, G espräche m it H itler (New York 1940), S. 67ff.
7 J. W. von Goethe, »Epimenides Erwachen, letzte Strophe« (1814).

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Bemerkungen zur Utopie einer
international Bill of Rights and of Responsibilities<

Einleitung

Das Problem: Souveränität vs. Humanität


Trotz tiefstgreifender Gegensätze innerhalb der zivilisierten
Welt, trotz dieser politischen und ökonomischen und morali­
schen Gegensätze, von denen die zwischen der westlichen und
der russischen Staatsstruktur die gewichtigsten sind, hat das in
San Francisco versammelte Nationen-Kollektiv1 sich zu einem
einheitlichen Friedensziel bekannt, das manche Züge eines
wiedererwachten humanen Weltgewissens trägt. Denn dieser
Versuch zur Errichtung einer Weltorganisation, die ein friedli­
ches Zusammenleben der Völker ermöglichen und die Vermei­
dung künftiger Kriege anstreben soll, ist auf den Richtlinien der
Rooseveltschen Four Freedoms2 basiert und ebendarum auch
auf der unbedingten Anerkennung von Menschenfreiheit und
Menschenwürde, um derentwillen die physische und psychische
Integrität des Menschen stets und uneingeschränkt als oberstes
Gut gewahrt zu werden hat.
In der »International Bill of Rights«3, die gemäß den Be­
schlüssen von San Francisco dieses Bekenntnis zu Ausdruck
und Anwendung bringen soll, offenbart sich daher ein Doppel­
aspekt: positiv genommen läßt er die verbindende Gemein­
samkeit, den gemeinsamen Humanitäts-Nenner unter all den
verschiedenen nationalen Verhaltensweisen und Strebungen
sehen; hingegen negativ genommen zeigt er die nicht minder
gemeinsame Absage an die Antihumanität jedweden Fascis-
mus.
Freilich darf dieses Gemeinsamkeits-Bekenntnis auch nicht
überwertet werden. Trotz der Garantie, die das Nationen-Kol­
lektiv für die »International Bill of Rights« auszusprechen ha­
ben wird, ist ihr Enforcement im Übertretungsfall kaum zu er­
warten, da die Festhaltung am alten Nichteinmischungsprinzip
dawider steht. Wenn ein Staat innerhalb seines Souveränitäts­
bereiches die Bestimmungen der »Bill of Rights« nicht einhal-
ten will, so wird er dies ungestraft tun können; erst wenn seine
Übertretungen zu Schädigungen anderer Staaten werden (so
243

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z. B. durch die Flüchtlingsmassen, die er infolge seiner Mißach­
tung von Humanität und Menschenwürde, also etwa infolge
Rassen- und Gewissensintoleranz über die Grenzen jagt), oder
wenn er unverkennbar Kriegsvorbereitungen trifft oder gar
Aggressionen begeht, wird er Gegenaktionen des Nationen-
Kollektivs zu gewärtigen haben.
Die »International Bill of Rights« ist demnach dem Nichtein­
mischungsprinzip unterordnet worden, allerdings aus einem
sehr realistischen Grund: man sagte sich, daß bei den großen
innern Gegensätzen - wie eben denen zwischen den Weststaa­
ten und Rußland - gerade eine »Bill of Rights« die mannig­
fachsten Auslegungen zuläßt, und indem man diese, die ja be­
sonders empfindliche Punkte im Souveränitätsbewußtsein der
verschiedenen Staaten darstellen, als deren unantastbares Ei­
genrecht anerkannte, wollte man verhindern, daß das Natio-
nen-Kollektiv, etwa geführt von den Interessen einzelner,
mächtiger Mitglieder, solche (mehr oder minder weltanschauli­
chen) Auslegungsdifferenzen als Einschreitungsvorwand be­
nütze. Und selbst wenn das Einschreiten von der Humanität
geboten wäre, es bedeutet »Einmischung«, auch wenn sie als
Polizeiaktion gedacht ist, de facto doch schon Krieg, ja sogar
Weltkrieg, und da es um seine Vermeidung geht, schien die
Nichteinmischung auf Grund des Souveränitätsprinzipes im­
merhin noch vorziehbar. In den Jahren 1934/37 war es (unge­
achtet sonstiger politischer Gründe) diese Kriegsfurcht gewe­
sen, welche die Westmächte und den von ihnen geleiteten
Völkerbund vor wirksamen Sanktionen gegen die usurpierte
»Souveränität« der Fascismen in Abessinien und Spanien zu­
rückschrecken ließ; heute sind die Souveränitätsbedenken
Rußlands von ähnlichen Motiven gelenkt. Kein Zweifel, die
Kriegsfurcht, ob berechtigt oder nicht, überwiegt die Fascisten-
furcht.
An diesem unvermeidlichen Schwanken zwischen Humani­
tätspflicht und Souveränitätsanerkennung krankt jede Frie­
densvereinbarung, die unabhängige Staaten zwecks Etablie­
rung eines Dauerzustandes eingehen wollen. Es ist, als ob
zwischen den beiden Begriffen eine unlösbare Antinomie
herrschte und vermöge ihrer Unlösbarkeit unweigerlich jeder
Friedensorganisation den Stempel der Utopie aufdrückte. Sie
wird daher von flachen Skeptikern und Realpolitikern von vor­
244

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neherein abgelehnt, während die nicht minder flachen Optimi­
sten die utopische Struktur als bare Realität betrachten. Aber
die Utopien von gestern sind die morgigen Realitäten, und
wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, daß das Nichteinmi­
schungsprinzip die neue Friedensorganisation und ihre antifa-
scistischen Tendenzen genau so lähmen wird wie es den alten
Völkerbund, der an der fascistischen Aggression zerbrochen ist,
gelähmt hat, so muß doch, unbeschadet des angeblich antino-
misch-utopischen Charakters, nach den Konstruktionslücken
gefragt werden, welche solche Gefahr verursachen. Es handelt
sich um den möglichen Realitätsgehalt der »International Bill
of Rights«.
Demgemäß erhebt sich als erste Frage: ist es möglich, den Be­
stimmungen der »International Bill of Rights« eine allen Staa­
ten (in deren heutiger Struktur) akzeptable Formulierung mit
juristisch so scharfen Definitionen zu geben, daß künftige Aus­
legungsdifferenzen tunlichst vermieden werden können?
Und soferne es hierauf eine bejahende Antwort gibt, so
schließt sich eine zweite Frage an: läßt sich jene juristische For­
mulierung auch praktisch zu einer so starken Bindung innerhalb
der einzelnen Staats-Strukturen machen, daß sie daselbst zu ei­
ner Art »innerer« Sicherung wird, zu einer Art »Selbstgaran­
tie«, welche - ist sie möglich - Umgehungsfälle auf ein Mini­
mum zu reduzieren imstande wäre und damit auch die
Notwendigkeit von Außen-Interventionen aufs äußerste ein­
schränken würde?
Und endlich die dritte Frage: kann die Garantie des Natio-
nen-Kollektivs, die in jenen erhoffbar seltenen Ausnahmefäl­
len eben doch mobilisiert zu werden hätte, in einer Weise
vorgesehen werden, daß sie auf die legitimen Souveränitäts­
bedenken weitestgehend Rücksicht zu nehmen vermag und in­
folgedessen auch ein Minimum an Kriegsgefahr in sich
birgt?
Die folgenden Untersuchungen bewegen sich - insbesondere
so weit sie Vorschläge enthalten - mit aller Bewußtheit auf uto­
pischem Boden, umsomehr als sie seine Tragkraft für künftige
Realität zu erproben haben. Die Realwerdung einer Utopie er­
weist sich nämlich immer an ihren Ausweitungsmöglichkeiten,
d. h. an den weiteren Utopien, die sich auf ihr aufbauen lassen
und ebenhiedurch in die Realität hineinführen.
245

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Unter diesem Gesichtswinkel darf behauptet werden, daß die
»International Bill of Rights« sich - allen Skeptikern zutrotz —
auf dem Weg zur Realitätswerdung befindet, daß sie aber ihren
utopischen Charakter erst abzustreifen vermag, wenn sie durch
eine strafgesetzlich gedeckte »Bill of Responsibilities«, u. z. vor
allem durch ein »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« er­
gänzt wird. Denn Humanität als Satzung und Nichteinmischung
als Satzung stehen insolange in antinomischem Gegensatz, als
sie nicht auf ein ihnen zuzugesellendes drittes Prinzip, durch das
sie beide zu regulieren sind, bezogen werden. Immer noch hat
die Menschheit ihre scheinbaren Antinomien durch Erfindung
oder Entdeckung eines verbindenden dritten Prinzipes gelöst,
und im vorliegenden Fall läßt sich vertreten, daß dieses dritte
Prinzip eben im Strafgesetz schlechthin, in der strafgesetzlichen
Institution zu erkennen ist.
Utopien sind keine Phantasmen; sie sind Wegweiser, welche
die »Realitätsrichtung« angeben, freilich - auch dies ein Argu­
ment für den Skeptiker - ohne Angabe der Weglänge und der
Wegschwierigkeiten. Das neue, das dritte Prinzip, das sich in
einer »Bill of Responsibilities« verkörpern soll, entstammt der
Hauptsache nach, wie aus dem zu seiner Deckung geforderten
strafgesetzlichen Schutz recht klar hervorgeht, jener psycholo­
gisch-pädagogischen Sphäre, deren Regeln fast überall, wo es
auf Massenbeeinflussung ankommt, das moderne Leben so­
wohl in seiner unblutigen wie in seiner blutigen Kriegführung
durchgängig bestimmen; daß in ihr desgleichen die neue poli­
tische Realitätssphäre zu sehen ist, also die, in der die »Interna­
tional Bill of Rights« möglicherweise ihren utopischen Charak­
ter abstreifen und zur Realität werden könnte, erscheint
demnach recht plausibel. Ebendarum aber darf angenommen
werden, daß sich darin eine echte Realitätsrichtung der politi­
schen Entwicklung zeigt, wenn auch ihr Tempo unangebbar
bleibt, ja unangebbar bleiben muß, nicht zuletzt weil wesensge­
mäß bloß revolutionäre (und in ihrer Nachahmung pseudore­
volutionäre) Politik gewillt ist, ihre Technik durch neue Prinzi­
pien und neue Richtlinien zu bereichern. Die bewußte
Anwendung psychologischer Grundsätze im politischen Be­
reich wurde zuerst in Rußland geübt, wurde nachher von den
Fascismen übernommen und meisterhaft ausgebaut, fand aber
nur sehr beschränkte Aufnahme in der westdemokratischen
246

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Politik und überhaupt keine in den Bemühungen Genfs4 und
San Franciscos5, obschon die da wie dort höchst ernsthaft ange­
strebte und doch niemals zustandegebrachte Versöhnung zwi­
schen Humanitäts- und Nichteinmischungsprinzip deutlich ge­
nug hätte dartun können, daß das Problem einen psycholo­
gisch-pädagogischen Faktor enthält, dessen Vernachlässigung
die Lösbarkeit nicht nur zu beeinträchtigen, sondern sogar ganz
zu vereiteln vermag.
Freilich, nirgends gelangen Utopien so langsam zur Verwirk­
lichung wie auf internationalem Gebiet (und nirgends werden
daher so viele unverwirklichbare Utopien gebaut wie gerade
hier). Alle Staaten sind »utopie-mißtrauisch«; alle - die revo­
lutionären ebensowohl wie die antirevolutionären - sind hin­
sichtlich der sie einschließenden internationalen Struktur äu­
ßerst neuerungs-abgeneigt, und auch dies hängt mit ihrer
Souveränitätsempfindlichkeit zusammen. Soll sich hier eine
Utopie über den Rang einer bloßen Phantasie hinausheben, so
genügt es nicht, daß sie in der Realitätsrichtung liegt; vielmehr
muß ihre Verwirklichungsmöglichkeit in der Reichweite der al­
lernächsten Entwicklungsschritte liegen. Ebendarum ist z. B.
die Errichtung einer einheitlichen Weltdemokratie6, wie sie von
so vielen als das einzig erstrebenswerte Friedensziel erachtet
wird, heute als eine noch unverwirklichbare Phantasie zu wer­
ten. Aber der San Francisco-Plan einer »International Bill of
Rights« (er selber noch voll utopischer Inhalte) ist ein erster
Schritt zu jenem noch sehr fernen Ziel, und der Vorschlag eines
»Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde« (als Kernstück ei­
ner »Bill of Responsibilities«) will ein zweiter Schritt in dieser
Realitätsrichtung sein, darf es vielleicht sein und darf gewagt
werden, weil sich in der unmittelbaren Realität von heute be­
reits Ansätze hiezu zeigen: von dem Verlangen nach einer in­
ternationalen Aburteilung der Kriegsverbrecher, das mit spon­
taner Selbstverständlichkeit im Bewußtsein der Völker
aufgekeimt ist, zu dem nach einem internationalen Strafgesetz,
in dem eine neue Weltmoral ihren kodifizierten Ausdruck fin­
den wird, ist kein allzulanger Weg. Denn wo es eine Realitäts­
richtung gibt - und immer gibt es eine - da äußert sie sich auch
in der Moralentwicklung, ja sie bewahrheitet sich geradezu an
ihr, und jene, die mit der Proklamierung der Four Freedoms
angehoben hat, weist zu einer Weltmoral wiedererwachter Hu­
247

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manität hin; sie ist die erste Voraussetzung einer künftigen
Weltdemokratie.
Denn keine politische Welteinheitlichkeit ist ohne moralische
Gemeinsamkeit denkbar; wie utopisch immer deren Erstre-
bung auch scheinen mag, an ihr verwirklicht sich jede Utopie,
jede Weltutopie, und stets aufs neue - also auch hier - kommt
es auf ihre Fundierung an.

I.
Moralische Einheitlichkeit als Friedensvoraussetzung

Jeder Friedensschluß konstituiert eine Art Sozialgemeinschaft,


deren contrat social - der Friedensvertrag - von den Gemein­
schaftsmitgliedern dann und nur dann eingehalten wird, wenn
sie, sei es aus innerem, sei es aus äußerem Zwang, sich gewissen
regulativen Grundprinzipien moralischen Charakters unter­
worfen haben, zu denen u. a. Paktwilligkeit und Pakttreue ge­
hören.
Die historischen Sozialgemeinschaften sind zumeist durch
Besiegung schwächerer Gruppen, also durch Zwangsfriedens­
schlüsse entstanden. Diesen Weg wollte auch Hitler mit der Er-
siegung seiner Neuen Ordnung gehen. Folgerichtigerweise
mußte er auch trachten, in allen eroberten Gebieten sofort die
Nazi-Moral zum regulativen Grundprinzip zu erheben.
Im Gegensatz zum Apriori der Gewaltanwendung gibt es
einige wenige Beispiele für Gemeinschaftsgründungen, die un­
ter einem Apriori der moralischen Grundanschauungen vor
sich gegangen sind; die U.S.A. sind eines dieser seltenen Bei­
spiele. Die gemeinsamen moralischen Grundprinzipien wurden
als Amerikas Bekenntnis zur Freiheit und Würde des Menschen
mit den Einleitungssätzen der Unabhängigkeitserklärung ma­
nifestiert, und das technische Instrument zur Konkretisierung
der Grundprinzipien wurde mit der Konstitution und ihrer Ga­
rantie der bürgerlichen Freiheiten geschaffen.
Der Vergleich zwischen dem heute zum Friedenswerk verei­
nigten Nationen-Kollektiv und den dreizehn amerikanischen
Urstaaten braucht nicht weiter unterstrichen zu werden. Die
Aufgabe ist zur Weltenweite angewachsen, ist aber prinzipiell
die gleiche geblieben. Die Funktion der regulativen Grund­
prinzipien ist hiebei den Four Freedoms Roosevelts zugefallen:
248

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in ihnen soll die gemeinsame Moral der friedenschließenden
Nationen zum Ausdruck gelangen.

II.
Die Four Freedoms

Woodrow Wilsons Friedenskonzept7 war auf sein Vertrauen in


den common man basiert. Er sah die dauernde Kriegsgefahr,
die im Weiterbestand vielfältiger Staaten liegt, mußte dabei de­
ren Anzahl überdies noch selber auf Grund des Selbstbestim­
mungsrechts erhöhen, dachte aber, daß es ihm trotzdem gelin­
gen werde, solche Gefahr zu bannen, indem er die Staatsleitung
allenthalben - nach dem Muster der amerikanischen Konstitu­
tion - der Friedens- und Freiheitsliebe des common man zu
überantworten suchte. Hiedurch hoffte er jene moralische und
rechtliche Einheitlichkeit herstellen zu können, ohne die es
keine Paktfähigkeit, keine Paktwilligkeit, keine Pakttreue gibt,
und diese große Länder-Einheitlichkeit hätte vom Völkerbund
bekrönt und besiegelt werden sollen. Die Sicherheit der Welt,
die Sicherheit des Menschen, sollte aus seiner Freiheit erflie-
ßen.
Versailles hat Wilsons Anschauungen für zu idealistisch be­
funden und hat - wenn auch im Rahmen des Völkerbundes -
die realistischere Friedenssicherung durch Machtausbalancie­
rung vorgezogen.
Roosevelt, stets auf Ausgleich von Gegensätzen bedacht,
trachtete die Gegner von Versailles zu integrieren, u.z. in seinen
Four Freedoms. Ihre beiden ersten, die Freedoms »of« (Free­
dom of Speech und Freedom of Religion8) decken sich mit dem
Wilsonschen Konzept und sollen daher wie dieses - überdies
aber jetzt auch als Manifest gegen jeglichen Fascismus - eine
Moraleinheitlichkeit herstellen, in der menschliche Freiheit
und Würde immerwährende Anerkennung und Bürgschaft zu
finden hätten. Die beiden andern jedoch, die Freedoms »from«
(Freedom from Fear und Freedom from Want) beziehen sich
eigentlich nicht auf Freiheit, sondern auf Sicherheit, nämlich
auf jene, die den Opponenten Wilsons als die einzig gültige er­
schien; die Vervollständigung durch die Freedom from Want ist
für den Wandel, der sich seit 1918 vollzogen hat, äußerst be­
zeichnend: die großen Volksmassen wünschen vor allem
249

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ökonomische Sicherheit, und von den Four Freedoms ist ihnen
die »from want« sicherlich die wichtigste.
M. a. W., statt der einseitigen Abhängigkeit der Sicherheit von
der Freiheit wird diesmal im vorhinein deren beider gegensei­
tige Abhängigkeit stipuliert.

III.
Konkretisierung der Four Freedoms

Fast alle demokratischen Konstitutionen sind auf den Free­


doms »of«, also auf Gewissens-, Ausdrucks- und Religionsfrei­
heit gegründet. Diese Anerkennung der Menschenwürde und
ihrer Unantastbarkeit ist - den Wilsonschen Intentionen gemäß
- auch in die Charter des Völkerbundes eingegangen und findet
sich in den unter seinen Auspizien getroffenen Abmachungen,
insbesondere in denen über Minoritätenschutz, ebenso in den
»moralischen« Bestimmungen gegen Sklaven- und Mädchen­
handel, immerhin aber auch in denen gegen Rauschgiftvertrieb
(soweit er als Beeinträchtigung der Menschenwürde gilt), wei­
ters in manchen industriellen Abmachungen, wie denen über
Frauen- und Kinderarbeit sowie über Arbeitszeiten, und
schließlich in mancherlei Empfehlungen pädagogischer und
ähnlicher Art. Diese internationalen Übereinkommen sind
durchaus Konkretisierungen der Freedoms »of«; sie werden
jedenfalls von der neuen Friedensorganisation ausgebaut und
teilweise auch in der »International Bill of Rights« unterge­
bracht werden.
Die Konkretisierung der Freedoms »from« hingegen (und mit
ihnen auch weitgehend die der Atlantic Charter9) findet ihr
Instrument nach wie vor in den üblichen »politischen« Staats­
verträgen, die hinsichtlich materialer Substrate geschlossen
werden. Hierunter fallen u. a. alle Abmachungen über Gebiets­
abgrenzungen, Einflußsphären, Trusteeships, Rüstungsbe­
schränkungen, Rohstoffverteilungen, Valuta- und Finanz­
gemeinsamkeiten und schließlich auch einige der Bestimmun­
gen, die von den Freedoms »of« ihren Ausgang genommen
haben, trotzdem aber, wie z. B. die über industrielle Arbeitsbe­
dingungen, ein materiales Substrat besitzen.
Gleichgültig jedoch ob Freedoms »of« oder »from«, die Ga­
rantie der aus ihnen erfließenden Bestimmungen ist der Ge­
250

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meinschaft der friedensstiftenden Nationen anheimgegeben;
diese haben für die Ausübung solcher Garantie entsprechende
Vorsorge zu treffen, in erster Linie durch Installierung eines
zweckmäßigen Schiedsgerichtverfahrens, dann aber durch Or­
ganisierung und Bereitstellung eines Machtapparates, der gra­
duell mit Hilfe diplomatischer Maßnahmen, ökonomischer
Sanktionen und internationaler Polizeiaktionen das Enforce-
ment der Schiedssprüche durchführt.

IV.
Souveränität vs. Enforcement

Vertragliche Bindungen, die ein Staat eingeht, bilden keine


Einschränkung seiner Souveränitätsrechte; höchstens Nazi-
Regierungen werden eine solche in der Aufforderung zur Ein­
haltung ihrer Verträge sehen. Bei Verletzungen von Verträgen
politisch-materialen Substrats mag sich also das Nationen-Kol-
lektiv zwar durch allerlei andere Gründe, kaum aber durch
Souveränitätsbedenken abhalten lassen, gegen den vertrags­
brechenden Staat einzuschreiten, und das Enforcement kann
besonders dann erwartet werden, wenn die allgemeine Macht­
situation dem geschädigten Vertragspartner halbwegs günstig
ist. Die Freedoms »from« werden demnach manchmal, viel­
leicht sogar öfters, mit einem einigermaßen zureichenden, frei­
lich niemals unbedingten Schutz innerhalb der Friedensorgani­
sation rechnen können.
Anders verhält es sich mit Verpflichtungen, die ein Staat hin­
sichtlich der Freedoms »of« oder gar der Menschenwürde auf
sich nimmt. Die »International Bill of Rights« z. B. ist kein ma­
teriales Substrat in den vertraglichen Querverbindungen zwi­
schen Staat und Staat, sondern parallelisiert bloß deren interne
Rechtsverhältnisse. Nicht nur also, daß von Anfang an die Un­
terwerfung unter solche Parallelisierung wirklich einen Ver­
zicht auf ein Stück souveräner Staatsautorität bedeutet, es wird
außerdem durch die Nicht-Einhaltung einer derartigen Ver­
pflichtung keiner der Vertragspartner materiell und direkt ge­
schädigt. Beide Fakten aber, sowohl die Freiwilligkeit der Sou­
veränitätseinschränkung wie die Nicht-Schädigung der Partner,
liefern dem Nationen-Kollektiv ausgezeichnete Gründe für
Passivität, wenn der Fall eines Enforcements eintritt: die Ein­
251

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haltung einer »International Bill of Rights« wird - durchaus im
Sinn des traditionell realpolitischen Nichteinmischungsprinzips
- dem guten Willen des Einzelstaates überlassen bleiben.
Allerdings sprechen hiefür auch noch tiefere, ja gewichtigere
Gründe. Es gibt nämlich unzählige Rechtsparallelismen, die so
selbstverständlich sind, daß niemand an deren internationale
Sicherung denkt: Mord und Diebstahl und Betrug nebst man­
chen andern Delikten sind in den Codices der ganzen gesitteten
Welt seit Jahrtausenden verboten; selbst die Zehn Gebote sind
Nachfahren noch ältern Ur-Rechtes, das augenscheinlich aus
des Menschen eigenster Natur als solcher entsprossen ist, möge
man nun diese »Natur« logisch oder biologisch oder ökono­
misch-materialistisch oder sonstwie auffassen. Die verschiede­
nen Rechtsparallelismen zeigen sich also als Ausflüsse einer in
ihrer »Natürlichkeit« wahrhaft einheitlichen Moral, und jeder
neue Parallelisierungsakt ist Weiterbau an solch allgemeiner
Menschheitsmoral. Ähnliches wird, zumindest unbewußt, mit
der »International Bill of Rights« beabsichtigt, obwohl sie nicht
mit den »natürlichen Verboten«, denen der Mensch sich zu fü­
gen hat, sondern mit seinen »natürlichen Forderungen«, näm­
lich seinen »Menschenrechten« anhebt: die »International Bill
of Rights« will ein neuer Beitrag zur menschlichen Moraltradi­
tion werden; sie will die Freedoms »of« in der allgemeinen und
»natürlichen« Moral-Selbstverständlichkeit verankert wissen
und hält daher ihr Enforcement für überflüssig, wenn nicht gar
für unmöglich.
Einerseits also wird das Enforcement der Freedoms »of« für
realpolitisch vernachlässigbar gehalten (insbesondere wenn
Souveränitätsbedenken in Frage stehen), andererseits wird es
als Verstoß gegen die erhabene Selbstverständlichkeit des Na­
turrechts empfunden; aus beiden ergibt sich eine äußerst ge­
fährliche Stellung: sie erlaubt jedem Staat ohneweiters, die
Freiheit und Menschenwürde seiner Bürger zu vergewaltigen,
wenn er bloß - sei es weil er an und für sich ein »benevolenter
Despot« ist, sei es weil er durch Einschüchterung oder aber
durch appeasement hiezu gebracht wird - seine materialen
Vertragsverpflichtungen nach außen hin erfüllt und damit auch
bis zu einem gewissen Grad die Freedoms »from« wahrt;
kurzum, es wird eine Rechtsseparierung zwischen den Free­
doms »from« und »of« vorgenommen, welche die letzteren mit
252

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äußerster Gleichgültigkeit behandelt und infolgedessen, zu­
mindest unbewußt, auf Herstellung oder Aufrechthaltung der
moralischen Einheitlichkeit innerhalb der Staatenfamilie ver­
zichtet. Daß trotzdem Pakttreue weiter gepriesen werden soll,
ja sogar wirklich in Geltung bleiben könnte ist wishful thinking,
und als solches entpuppt sich das realpolitische Denken nur all­
zuoft. Deutlich genug hat das deutsche Beispiel gezeigt, daß bei
mangelnder Einschüchterung keinerlei Mittel, am allerwenig­
sten aber appeasement ausreicht, um einen Paktunwilligen zu
Pakteinhaltungen zu bringen, und daß ebenhiedurch nicht nur
die Freedoms »of«, sondern nun plötzlich auch die des »from«
unweigerlich dem »guten« Willen des Einzelstaates anheimge­
geben sind: die Nichteinmischung bei Vergewaltigung der
Freedoms »of« gefährdet mittelbar jegliche Pakttreue und so­
hin auch den Frieden. Gewiß, Einmischung bedeutet stets
Kriegsgefahr, doch Gleichgültigkeit ist das schlechteste Mittel
zu ihrer Vermeidung: Verbrechen müssen verhindert werden
ehe sie begangen worden sind.

V.
Die psychologische Situation

Die »gute« oder »schlechte« Gesinnung des Einzelstaates, sein


»guter« sowie sein »schlechter« Wille, von dem solcherart alles,
d. h. eben der Weltfriede abhängt, ist ein vorwiegend psycholo­
gisches Phänomen, ist es umsomehr als es nicht in dem Ab­
straktum »Staat«, sondern in den konkreten Menschenköpfen
zu lokalisieren ist. Die konkreten Menschen, sowohl die kon­
kreten Machthaber des Staates wie die konkreten Volksmas­
sen, die sich regieren lassen oder - bei demokratischen Einrich­
tungen - ihre Regierung eingesetzt haben, sind die Träger der
moralischen Grundanschauungen, und ob sich diese als »guter«
oder »schlechter« Wille, als Pakttreue oder Paktvergeßlichkeit
auswirken, das ist ein massenpsychisches Problem erster Ord­
nung.
Solch psychologische Problematik hat für die demokratische
Tradition eigentlich nie existiert, zumindest nicht für die ameri­
kanische nach Lincoln; sein unbedingtes Vertrauen in den
common man hat ihre Form geprägt, und von hier aus ist zu ver­
stehen, daß sie schließlich, so bei Wilson, zu einem fast mysti-
253

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sehen Glauben geworden ist, zu einem Glauben an des common
man’s unwandelbaren Willen zur Freiheit und zur Menschen­
würde, an seine - jeder psychologischen Wandelbarkeit entho­
bene - stete Fähigkeit zur Bewahrung dieser demokratischen
Güter, in denen zugleich die Glaubensgrundlage zu erkennen
ist: denn sie sind die unabdingbaren, natürlichen Menschen­
rechte, die der Schöpfer für alle Ewigkeit festgesetzt hat, so daß
sie, sozusagen auf des Schöpfers eigenes Geheiß dem monar­
chischen Regime hatten abgerungen werden müssen, um Kraft
ihrer Ewigkeitsgeltung für alle künftigen Generationen festge­
legt zu werden, nämlich als Demokratiestiftung in der Konsti­
tution; gewiß, die Konstitution erlaubt trotzdem Abänderun­
gen, doch ihre regulativen Prinzipien bleiben, eben als
Naturrecht, ewiglich unwandelbar, und der formale Abände­
rungsprozeß ist (gerade in der amerikanischen Konstitution) so
kunstreich normiert, daß er zu seiner Durchführung eine echte
Volksmajorität erfordert, also wiederum an den common man
als höchste Instanz zu appellieren hat. Nichts jedoch schien bei
der Demokratiestiftung so widersinnig und ist vielen sogar auch
noch heute so sehr unvorstellbar als daß der common man sich
je mit Hilfe seiner demokratischen Freiheiten gegen die Frei­
heit wenden könnte und seine »Bill of Rights« benützen würde,
um diese selber sowie die durch sie garantierte Menschenwürde
aufzuheben; nur Verbrechern oder Irrsinnigen ließ sich ein sol­
cher Anschlag etwa noch Zutrauen, und für solch verschwin­
dende Volksminorität würden, falls einfache Ignorierung nicht
als Abwehrmittel genügt - so meinte man und meint es viel­
leicht noch heute - die Zucht- und Irrenhäuser schließlich aus­
reichenden Aufnahmeraum bieten.
Es mag sein, daß solch optimistische Ansicht über die »nor­
male« Haltung der Volksmajorität noch immer für Länder
standhält, die eine starke demokratische Tradition besitzen,
obwohl auch da mancherlei Skepsis zulässig wäre. Hingegen
zeigt das deutsche Schreckensbeispiel, wie bei Fehlen einer de­
mokratischen Tradition sehr wohl Verbrecher und Irrsinnige
eine Volksmajorität erringen können; gründlicher als anderswo
ist es in Deutschland gelungen, durch Mißbrauch einer anson­
sten vorbildlichen Verfassung die Freiheit des Bürgers aufzu­
heben, seine Menschenwürde mit Füßen zu treten, und die
»Normalen«, die sich dagegen wehrten, zu einer Minorität zu
254

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reduzieren, die ohne Schwierigkeit, so weit man nicht vorzog sie
sofort auszurotten, in Gefängnissen und Konzentrationslagern
unterzubringen war.
Eine »International Bill of Rights« soll alle Länder des Erd­
kreises umfassen, also nicht nur jene wenigen, welche demo­
kratische Tradition ihr eigen nennen, ja sie soll sogar in den an­
dern diese Tradition inaugurieren. Ist aber da nicht zu
befürchten, daß ihr genau das Los widerfährt, das der deutschen
»Bill of Rights« widerfahren ist? Ob international oder natio­
nal, eine »Bill of Rights« kann durch den Staat, wenn er
»schlechten« Willens ist, vermittels unzähliger Maßnahmen, ja
einfach vermittels stillschweigender Nichtbeachtung zu einer
leeren Bestimmung gemacht werden. Es sind Umgehungen
möglich und zumeist sogar üblich, die fast anonym bleiben, da
sie nicht offiziell von der Staatsregierung verordnet sind, son­
dern gleichsam nebenbei von Regions- und Lokalbehörden be­
werkstelligt werden. In Deutschland ist solch behördlicher
Kleinfascismus sozusagen unter den Augen des immerhin noch
funktionierenden Reichstags und der immerhin noch demokra­
tischen Reichsregierung vor sich gegangen, und keine der libe­
ralen Parteien war imstande, diesen diffusen, rechtlich kaum
faßbaren Sachverhalt aufzuhellen und zu bekämpfen. In man­
chen Ländern, wie eben auch in den U.S.A., existieren private
Vereinigungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten -, kön­
nen aber solche Vereinigungen all die Wachsamkeit aufbrin­
gen, deren eine »International Bill of Rights« bedürfte, um vor
Umgehungen und Schädigungen tatsächlich bewahrt zu wer­
den?! Zumeist wissen ja nicht einmal die unmittelbar Betroffe­
nen selber ob und wie weit die konstitutionellen Rechte und
Freiheiten bereits geschädigt [wurden] oder im Begriffe sind
geschädigt zu werden, und wo kein Ankläger ist, da gibt es auch
keinen Richter. Wie also soll das ohnehin aktionsunwillige Na-
tionen-Kollektiv gegen einen Staat, in dessen Souveränitätsbe­
reich dergleichen geschieht, Vorgehen oder gar Enforcement
anwenden?
Nichts also ist so möglich, als daß die allenthalben ausgestreu­
ten Keime der fascistischen Massenpsychose - die durch die
Niederwerfung Deutschlands noch keineswegs ausgemerzt
worden ist - nun unter dem Schutz einer »International Bill of
Rights« erst recht zu sprießen beginnen werden, kurzum daß
255

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allenthalben verbrecherisch-gemeingefährliche Irre erstehen
können, die für die Menschheit keine geringere Gefahr als die
Hitlerische bedeuten würden, die Gefahr der Kriegsperpetu-
ierung mit immer furchtbareren Mitteln.
Hieraus ergibt sich: da vom Nationen-Kollektiv, seinem
Schiedsverfahren, seinem Machtapparat, kein ausreichender
Schutz für die »International Bill of Rights« zu erwarten ist, und
ihre Einhaltung ganz dem »guten« Willen des Einzelstaates,
oder richtiger dem seiner Bevölkerung anheimgestellt bleibt,
kommt alles darauf an, ob solch »guter« Wille erweckt und so
weit gestärkt zu werden vermag, daß er sich gegen den
»schlechten« der fascistischen Kräfte behaupte, um ebenhie-
durch deren Vernichtung einzuleiten. Es ist eine massenpsy­
chologische Aufgabe, u. z. eine der Massenpädagogik.

VI.
Die psychologische Aufgabe des Strafgesetzes

Sei es Verbrechen, sei es gemeingefährlicher Irrsinn genannt,


das »abnormale« Verhalten, das sich in dem einen wie in dem
andern offenbart, kann und muß vom Strafgesetz diktiert wer­
den. Erst wenn das Strafgesetz die Kriterien der Gemeinge­
fährlichkeit aufgestellt hat, ist im einzelnen Fall zu entscheiden,
ob es sich um strafwürdiges Verbrechen oder um behandlungs­
bedürftigen Irrsinn handelt.
Doch das Strafgesetz erfüllt nicht nur eine formal-definitori-
sche Aufgabe. Seine eigentliche Leistung liegt in der Verbre­
chensverhütung, und wenn auch diese, soweit sie rationale Ab­
schreckungskraft ist, in der rationalen Form des Gesetzes fußt,
sie wäre dennoch unwirksam, trüge nicht alles Gesetz in sich die
uralte Tabu-Erbschaft, die den Menschen zu Rechtsgehorsam
verzaubert. Das Strafgesetz ist sinnfälligster Ausdruck der
Moraltradition des Staates, und indem es an ihr infolge seiner
Eigenentwicklung aktiv weiterbaut, wird es Hauptinstrument
der Traditionskontinuität, wird es zum pädagogischen Instru­
ment, durch das Generation um Generation in gleichbleibender
Moral erzogen werden. Denn die Erziehung des Menschen ge­
schieht nur zum geringsten Teil durch die Worte, die er mit sei­
nem Ohr aufnimmt, um sie alsbald wieder zu vergessen, viel­
mehr geschieht sie durch und in des Menschen Alltagsleben,
256

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durch die irrationale und sozusagen anonyme Fülle der Tradi­
tionsströmungen, die ihn mitsamt seiner Umgebung umschlie­
ßen, so daß ihm ebenhiedurch deren Verhaltungs- und Hand­
lungsvorschriften aufgenötigt werden, und in dieser Fülle kaum
faßbarer Gebräuche, Sitten und Gewohnheiten, die der Mensch
meistens ganz unbewußt motorisch befolgt und seine Alltags-
Erziehung ausmachen, bildet das Strafgesetz gewissermaßen
den rationalen Teil, da es seine Gebote mit äußerster Klarheit,
nämlich mit der »Erweckungskraft« rationaler Drohungen zu
Bewußtsein ruft.
Vonseiten der »International Bill of Rights« wird also, im Fall
ihrer Einführung, das Verlangen an das Strafgesetz gerichtet
werden müssen, sie gegen fascistische Anschläge zu schützen,
erstens durch eine eindeutige Definition des verbrecherischen
Tatbestandes, der in diesen Anschlägen liegt, und zweitens
durch Stipulierung der Straffolgen, die sich aus solchem Tatbe­
stand zu ergeben hätten.
Denn obwohl die Untaten, mit denen die Terroristen des Fa-
scismus und des Nazitums die Staatsmacht an sich gerissen ha­
ben, gegen viele, ja gegen die meisten Bestimmungen des Straf­
gesetzes (beginnend mit denen über gemeinen Mord) aufs
gründlichste verstoßen, so sind doch gerade jene, welche kraft
»abnormer« Ausnützung der demokratischen Freiheit sich
eben gegen diese Freiheit wenden, bisher strafgesetzlich nicht
erfaßbar gewesen und müssen daher erfaßbar gemacht werden.
Es geht - wie übrigens überall im Strafgesetz, doch hier ganz
besonders - um den »normalen« Gebrauch der staatsbürgerli­
chen Freiheit, auf daß sie nicht ohneweiters wieder mißbraucht
werden könne.

VII.
Die legale Situation

Als Deutschland und Österreich von der Massenpsychose des


Nazitums erfaßt wurden, versuchte man gegen deren spezi­
fische Gewalttaten ein eigenes Gesetz zu schaffen. Es hieß das
»Gesetz zum Schutz der Republik«10, und es blieb - niemand
erstaunte sich darob - vollkommen wirkungslos. Denn kann in
einer Monarchie »der Staat« als solcher noch geschützt werden,
nämlich durch die Gesetze gegen Majestätsbeleidigung und
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ähnliche Delikte, weil der Herrscher als zwar mystisches, den­
noch konkretes Symbol der Gesamtheit steht, so ist »die Repu­
blik« ein aller Symbolmystik entkleidetes, reines Abstraktum;
niemand aber vermag verbrecherische Handlungen zu definie­
ren, die unmittelbar gegen ein Abstraktum (ohne Zwischen­
schaltung konkret geschädigter Personen) gerichtet sind: jeder
derartige Definitionsversuch läßt einen ins Leere greifen und
gar, wenn man auf Grund solcher Definition nach Verbrechern
greifen will.
Mit der Schwächlichkeit ihrer Abwehr gegen das Nazitum ha­
ben Deutschland und Österreich dargetan, wie unterhöhlt ihre
demokratische Struktur bereits gewesen war. Eine lebendige
Demokratie könnte (und dürfte) solch ein papierenes Schutz­
gesetz nie und nimmer hervorbringen. Demokratisches Den­
ken, demokratische Staatsauffassung, demokratische Gesetz­
gebung haben wesensgemäß nicht das geringste mit Abstrakta
zu schaffen. Wenn man in Deutschland und Österreich gemeint
hatte, »den Staat« (trotz seiner Abstraktheit) vermittels des
»Gesetzes zum Schutz der Republik« gegen aufsässige Bürger
verteidigen zu können, so offenbart sich darin der nämliche
Denkfehler wie jener, welcher meint, daß umgekehrt die »Bill
of Rights« den Bürger gegen »den Staat« schützen müsse: in
Wahrheit geschieht nichts dergleichen; in Wahrheit kann im­
mer nur Konkretes gegen Konkretes geschützt werden; und in
Wahrheit gibt die »Bill of Rights« nicht dem abstrakten
»Staat«, sondern den konkreten Organen seiner legislativen,
exekutiven und richterlichen Amtsbehörden gewisse Verhal­
tensvorschriften, um diese konkreten Personen vor Übergriffen
gegen des konkreten Bürgers Freiheit und Menschenwürde zu­
rückzuhalten. »Der Staat« ist nichts als eine abgekürzte Rede­
weise, und Abkürzungen führen leicht zu verhängnisvollen
Denkfehlern.
Demgemäß hat ein Gesetz, das die spezifischen Untaten des
Fascismus und Nazitums treffen und verhüten will, sich vor al­
lem mit ihren konkreten Schadensstiftungen und erst in zweiter
Linie mit ihren Absichten gegen den abstrakten »Staat« zu be­
schäftigen.
Und wirklich, ungeachtet all ihrer Schmähungen gegen die
Demokratie, es waren die konkreten Anschläge, mit denen die
Fascisten und Nazi sich zur Macht brachten, formal besehen
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nicht einmal »umstürzlerisch« zu nennen - ihre »Revolution«
berühmte sich auch nicht wenig der einwandfreien »Legalität«,
mit der sie die staatsrechtliche Position der Demokratie über­
tölpelt hatte, - nein, sie griffen keineswegs »den Staat« als sol­
chen an, wohl aber bestimmte Mitbürger und Mitbürgergrup­
pen, und indem sie ihre Untaten in einer Form begingen, die
eine gesetzliche Erfassung entweder überhaupt unmöglich
machte oder aber wenigstens die Identifikation der einzelnen
Schuldigen verhinderte, gelang es ihnen nicht nur, den ange­
griffenen Personen die Ausübung des natürlichen Rechtes auf
Life, Liberty und Pursuit of Happiness abzuschneiden, sondern
auch die demokratische Institution als Ganzes zu schädigen;
denn ein Staat, der mangels zureichender Gesetzesbestimmun­
gen gezwungen ist, Verbrechensopfer unbeschützt zu lassen,
während die Verbrecher straffrei ausgehen, ja darüber hinaus
auch noch weiterhin durch eine demokratische »Bill of Rights«
geschützt bleiben, ein Staat, in dessen Struktur sich keinerlei
Handhabe zur Abstellung solchen Mißstandes findet, hat einen
uneinbringlichen Prestigeverlust erlitten.
Damit aber ist auch schon der Charakter des geforderten Ge­
setzes bestimmt: es wird nur dann ein sinnvolles, konkret
zweckgerichtetes (und ebendarum auch demokratisches) Ge­
setz sein, wenn es haargenau den nämlichen Zielen wie die »Bill
of Rights« selber dient, d. h. wenn es wie diese - anders lassen
Freiheit und Menschenwürde sich nicht schützen - ausschließ­
lich auf den Schutz der physischen und psychischen Integrität
des konkreten Bürgers angelegt ist.
Es geht also um einen gesetzlichen Schutz der Menschen­
würde selber, u. z. um einen, der konkrete Bürger nicht nur, wie
es in der »Bill of Rights« geschieht, vor Übergriffen der Staats­
behörden, sondern auch vor Anschlägen des Nebenbürgers
bewahrt. Gelingt dies, d. h. wird jeder Anschlag, von wem im­
mer er ausgehen mag, unter Strafe gestellt, so ist der Ansatz zu
einer wichtigen, ja unumgänglichen Ergänzung der »Bill of
Rights« geschaffen, nämlich die durch eine »Bill of Responsibi-
lities« oder »Bill of Duties«, der es also zu obliegen hätte, neben
das »Freiheits-Recht« des Menschen seine »Freiheits-Verant­
wortung« zu setzen und hiedurch den »normalen« Gebrauch
der Freiheit zu definieren, deren Mißbrauch aber hintanzuhal­
ten.
259

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Im Schutz des Menschen vor dem Nebenmenschen ist die
wirksamste und vielleicht sogar die einzige Gewähr für die Er­
haltung der Demokratie zu sehen. Denn ist die Würde des kon­
kreten Menschen Schädigungen durch den Nebenmenschen
ausgesetzt, so wird mittelbar auch der Staat als demokratische
Institution geschädigt; umgekehrt jedoch wird diese mittelbar
geschützt, wenn des konkreten Menschen Würde unter wirksa­
men gesetzlichen Schutz gestellt wird. Nicht nur also, daß diese
Aufgabe eine der wichtigsten der demokratischen Rechtspflege
ist, sie kann geradezu als deren eigentlichste Wesenheit aufge­
faßt werden.

VIII.
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«

(A) Das »Verbrechen gegen die Menschenwürde«


Ein Blick auf die fascistischen Aktionen zur Eroberung der
Staatsgewalt lehrt, daß sie, etwas simplifiziert ausgedrückt, im
allgemeinen zwei Tatbereiche umfassen, nämlich einerseits den
des Verbrechens selber, und andererseits den der behördlichen
Verbrechensdeckung; die beiden überschneiden sich zwar oft,
lassen sich aber etwa folgendermaßen auseinanderhalten:

(1) Bereich des Verbrechens.


Es gehört zum Wesen einer jeden fascistischen Bewegung, eine
bestimmte Gruppe von Bürgern als »Elite« auszusondern und
sie mit allen Rechten und Pflichten des Staatslebens - nicht zu­
letzt mit den »Four Freedoms« (mögen sie dann auch anders
heißen) - auszustatten, während sämtliche andern Gruppen,
vor allem natürlich die nationalen Minoritäten, hievon ausge­
schlossen und als »minderwertig« betrachtet werden. Die
Stempelung des »Minderwertigen« zum »Feind«, der Haß ge­
gen ihn und die ständige Vermehrung solchen Hasses, dies alles
wird bei der Werbung für die »Elite« nachdrücklichst als Lock­
mittel verwendet und dient überdies als deren stärkster und
dauerndster Kitt. Zugleich mit der Konstituierung solch »in-
nern Feindes« und seiner »Minderwertigkeit« wird auch der -
ebenso minderwertige - »äußere Feind« konstituiert, denn
»Elite« bedeutet konsequenterweise stets auch Menschheits-
Elite, d. h. Überlegenheit über alle andern Menschengruppen
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der Welt. Jede fascistische Propaganda, ob öffentlich oder ge­
heim, ob rassenmäßig oder anderswie begründet, wird aus die­
sen Quellen gespeist, um sodann im Kleingeschwätz weiterge­
tragen zu werden, und das eine wie das andere hat durch
gesetzliche Sanktionen abgeschnitten zu werden.

(2) Bereich der behördlichen Verbrechensdeckung.


Der Immunitätsschutz, unter den die Demokratie ihre Parla­
ments- und Regierungsmitglieder sowie deren Äußerungen ge­
stellt haben, stammt - wie eben auch viele andere psychologi­
sche Schwächen der Demokratie - aus einer Zeit, in der es
unvorstellbar gewesen ist, daß ein vollsinniger Mensch die de­
mokratische Freiheit angreifen und gar hiezu die Prärogative
seines offiziellen Amtes ausnützen könnte. Nach den seither
gemachten Erfahrungen scheint es unerläßlich geworden zu
sein, einer der gefährlichsten fascistischen Propaganda-Arten,
nämlich der von der Parlamentstribüne aus, von vorneherein
das Handwerk zu legen: würden Staatsmänner und Volksver­
treter nicht schrankenlos reden und handeln können, und wür­
den ihnen entsprechende gesetzliche Schranken auferlegt wer­
den, so daß sie bei Übertretung derselben nicht nur Amts- und
Mandatsverlust zu gewärtigen hätten, vielmehr ihr Tun gege­
benenfalls vor Gericht verantworten müßten, es wäre die
Kriegsgefahr in der ganzen Welt beträchtlich herabgemindert.
Persönliche Voll-Verantwortung auf allen Lebensgebieten ist
eine vitale Forderung der Demokratie und verlangt radikalste
Erfüllung, da sonst eine Korruption eintritt, die alle Errungen­
schaften der Demokratie zuschanden macht, kurzum diese sel­
ber wieder aufhebt.
Damit ist im großen und ganzen der Aufgabenkreis Umrissen,
den ein »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« zu erfüllen
hätte; es versteht sich, daß er noch wesentlich weiter gezogen
werden könnte, besonders wenn eine allgemeine »Bill of Re-
sponsibilities« ins Auge gefaßt werden würde.

(B) Text des Gesetzes.


Die Skizzierung dieses Gesetzes ist nicht als exakt-formeller
Vorschlag gemeint; doch abgeleitet aus dem hier gesteckten
Aufgabenkreis, dürfte sie pour fixer les idees genügen, nämlich
etwa folgendermaßen:
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Artikel (1)
Wer in Wort oder Schrift oder tätlich oder sonstwie die morali­
sche Gleichheit der Menschen (Bürger und Nicht-Bürger) an­
greift, also den Versuch unternimmt, eine nicht durch strafge­
richtliche, sondern bloß durch biologische oder religiöse oder
sonstwie gesinnungsmäßige Kriterien definierte Gruppe von
Personen, sei es kollektiv, sei es individuell verächtlich zu ma­
chen, oder vom Genuß der dem Staatsbürger zustehenden
Rechte (u. a. insbesondere von dem einer legalen pursuit of
happiness) auszuschließen, oder von der Ausübung der dem
Staatsbürger zukommenden Pflichten fernzuhalten, oder
sonstwie dem Haß der Mitbürger auszusetzen, oder diese zu
solchem Haß aufzufordern, der macht sich - gleichgültig ob ein
derartiger Versuch glückt oder nicht - des » Verbrechens gegen
die Menschenwürde« schuldig und soll mit Kerker nicht un­
ter... Jahren bestraft werden.
Artikel (2)
Keinerlei Amts-Immunität, gleichgültig ob infolge Zugehörig­
keit zu einer gesetzgebenden Körperschaft oder ob infolge
Ausübung einer staatsexekutiven oder richterlichen Funktion,
vermag die Rechtsfolgen aufzuhalten, welche aus der Übertre­
tung dieses Gesetzes entstehen.
Als Gerichtsstelle für Abhandlung der Verstöße gegen dieses
Gesetz käme, da es sich um qualifizierte Verbrechen handelt,
das Schwurgericht in Betracht.

(C) Prozedur
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« soll in erster Li­
nie ein rasch wirkendes, verläßliches Instrument in der Hand
demokratischer Staaten sein, auf daß sie jedes Aufkommen
fascistischer Propaganda sofort im Keime ersticken können.
Für Staaten mit lebendiger demokratischer Tradition dürfte das
Gesetz diesen Zweck voraussichtlich befriedigend zu erfüllen
imstande sein.
Verstöße gegen das Gesetz wären demgemäß vor allem bei den
innerstaatlichen Gerichten anzuklagen und hätten von diesen
abgeurteilt zu werden. Doch da auch mit Staaten gerechnet
werden muß, denen demokratische Tradition mangelt, das Ge­
setz aber trotzdem zur Geltung gebracht zu werden hat, damit
seine internationale Bedeutung als Friedenssicherung gewahrt
262

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bleibe, sind einige zusätzliche Bestimmungen notwendig, näm­
lich:
(I) der Appellationsweg ist über den Obersten Gerichtshof des
betreffenden Staates hinaus bis zu einem internationalen Ge­
richt (das z. B. dem in Haag anzuschließen wäre) fortzusetzen,
und dieser Internationale Senat hat als letzte Instanz zu fungie­
ren;
(II) der Internationale Gerichtshof entscheidet nicht nur wie die
(meisten) innerstaatlichen Obersten Gerichte ausschließlich
über formale Verfahrensmängel, um bei Konstatierung von
solchen den Fall an das Erstgericht zurückzuverweisen, sondern
er ist auch berechtigt, ohne Rückverweisungen, also in seinem
eigenem Judikaturbereich das materiale Gesamtverfahren wie­
deraufzunehmen;
(III) sollte sich der Internationale Gerichtshof entschließen, das
Gesamtverfahren in seiner eigenen Judikatur abzuhandeln und
zum Urteil zu bringen, so ist ihm das Recht zuzugestehen, Un­
tersuchungen im Staat des Tatortes kommissionsweise vorzu­
nehmen und, falls es ihm erforderlich dünkt, eine Auslieferung
der Angeklagten zu begehren;
(IV) Anklagen hinsichtlich des »Verbrechens gegen die Men­
schenwürde« können auch unmittelbar beim oder vom Inter­
nationalen Gerichtshof erhoben werden, wobei es diesem frei­
stehen soll, den Fall entweder im eigenen, dem internationalen,
Judikaturbereich zu behandeln, oder ihn dem zuständigen na­
tionalen Gericht zu überweisen;
(V) sofern der Internationale Gerichtshof Urteile in seinem ei­
genen Judikaturbereich fällt, ist vor allem der Staat des Tatortes
zur Urteilsvollstreckung zu verhalten, doch muß für den Fall
seiner Weigerung eine internationale Vorsorge zur Urteilsvoll­
streckung getroffen werden, u. z. wohl mit Hilfe jener Staaten,
welche auch die internationale Polizeimacht zum Enforcement
und zur Wiederaufrichtung des gebrochenen Rechtes beistel­
len.
Die Bestimmungen lt. (III), (IV) und (V) werden vornehmlich
dann zur Anwendung gelangen, wenn ein Staat - etwa infolge
einer Untergrundbewegung - fascistisch bereits so arg ver­
seucht ist, daß Behörden und Gerichte nicht mehr zuverlässig
arbeiten, weiters wenn dieser Staat schließlich gar zum Kriegs­
aggressor geworden ist, so daß es nach seiner Niederwerfung
263

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notwendig wird, die (fascistischen oder sonstweichen) Kriegs­
initiatoren und Kriegsverbrecher vor einem internationalen
Gericht zur Aburteilung zu bringen.

(D) International Bill of Responsibilities


Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« trägt demnach
die Keime zu einem internationalen Strafgesetz in sich, u. a.
auch weil sein Geltungsbereich einen großen Teil jener Delikte
umfaßt, die gemeiniglich als Kriegsverbrechen bezeichnet wer­
den. Für Kriegsverbrechen aber isi internationale Aburteilung
eine von der Weltmoral und ihrem Rechtsempfinden akzeptierte
Tatsache geworden11, obwohl sie eigentlich ein Novum in der
modernen Rechtsgeschichte darstellt, und diese Tatsache gilt cs
zu einer Dauerinstitution im Dienst der Kriegsverhütung zu ent­
wickeln. Dies kann jedoch nicht durch ein einzelnes Gesetz,
mages auch mit einem so zentralen Problem wie dem der Men­
schenwürde befaßt sein, besorgt werden, sondern bedarf eines
ausgearbeiteten, weitgreifenden Gesetzbuches, eines interna­
tionalen Gesetzbuches, das dem neuen Welt-Rechtsempfinden
Rechnung trägt und es zugleich vorwärtsentwickelt. Dieser
künftige internationale Strafgesetz-Kodex ist mit der »Interna­
tional Bill of Responsibilities« gemeint, die einstens als gleich­
berechtigt vollgültige Ergänzung zur »International Bill of
Rights« zu fungieren bestimmt ist.

IX.
Möglichkeiten eines wirklichen Enforcement

Daß das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« in letzter


Urteils-Instanz (nach verlängertem Appellationsweg) der Ju­
dikatur eines Internationalen Gerichtshofes unterstehen soll,
also einer Instanz, deren Urteilssprüche und Vorschriften (wie
etwa die eines Auslieferungsbegehrens) dem Enforcement
durch das Nationen-Kollektiv zu überantworten sein werden,
das entspricht in jeder Beziehung der internationalen Garantie,
die der »Bill of Rights« und demzufolge eben auch ihrer Ergän­
zung, nämlich der »International Bill of Responsibilities« zu­
kommt.
Während aber das Enforcement einer unergänzten »Interna­
tional Bill of Rights« mit aller Wahrscheinlichkeit an den Sou-
264

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veränitäts-Bedenken, den Appeasement-Tendenzen und man­
chen andern Hemmungen des Nationen-Kollektivs zu scheitern
verurteilt ist, darf von der »Bill of Responsibilities« eine be­
trächtliche Erleichterung dieser Schwierigkeiten erwartet wer­
den. Denn:
a) Das Gesetz zum Schutz der Menschenwürde ist ein »nor­
males« Strafgesetz, das konkrete Delikte behandelt und kon­
krete Übeltäter zur Verantwortung zieht. Anklage und Abur­
teilung erfolgen im normalen Gerichtsgang und beginnen mit
der Anzeige bei der öffentlichen Anklagebehörde, im allge­
meinen bei der des zuständigen innerstaatlichen Gerichts-
sprengels, in Ausnahmefällen jedoch bei der des Internationa­
len Gerichtshofes, wobei da wie dort die Anzeige sowohl vom
Geschädigten selber wie von einer andern Person wie von der
Polizei erstattet werden kann. Das Nationen-Kollektiv als poli­
tische Instanz hat während dieser rein gerichtsmäßigen Be­
handlung des Falles überhaupt nicht in Erscheinung zu treten.
b) Ist einmal das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«
in einem Land (z. B. zwecks Aufnahme ins Nationen-Kollektiv)
eingeführt worden, so kann der ordentliche Gerichtsgang nicht
einmal von »schlechtwilligen« Regierungen ohne weiteres sa­
botiert werden; selbst Hitler hat während seiner ersten Herr­
schaftsjahre an dem Prestige eines Rechtsstaates festgehalten.
Dies ist freilich ein heuchlerischer Zustand, aber solange er an­
dauert, wirkt trotzdem noch die verbrechensverhütende
»Selbstgarantie« des Gesetzes; würde seine präzise Konkret­
heit nicht eben doch die »schlechtwillige« Regierung einiger­
maßen binden, es wäre diese durch nichts davon abzuhalten, die
an sich vage »Bill of Rights« teils offen, teils in der üblichen
anonymen Weise hinterrücks zu vergewaltigen, so daß das Na­
tionen-Kollektiv entweder bereits mit seinem politischen En-
forcement einzuschreiten oder überhaupt den Gedanken an die
internationale Geltung der »Bill of Rights« aufzugeben hätte.
c) Die Situation wird erst dann kritisch, wenn die schlechtwil­
lige Regierung das ordentliche Gerichtsverfahren im eigenen
Land sabotierte und, darüber hinaus, die Weisungen und Ur­
teile des Internationalen Gerichtshofes, der in diesen Fällen
einzugreifen hätte, nicht achtete und nicht zur Ausführung
brächte. Dann allerdings ist der Augenblick für das politische
Einschreiten des Nationen-Kollektivs gekommen, aber wohl
265

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auch der, in dem Souveränitäts-Bedenken und Appeasement-
Tendenzen beiseite gelassen werden können; denn eine solche
Mißachtung von Gesetz und Gericht ist nicht nur ein Abtun des
eigenen Rechtsstaat-Charakters, sondern auch eine eklatante
Kampfansage an das Nationen-Kollektiv (das wesensgemäß
sich aus Rechtsstaaten und nur aus solchen zusammensetzt), so
daß die Enforcement-Aktion, die da zu unternehmen ist, sich
in einem de facto bereits eingetretenen Kriegszustand ab­
spielt.
Gewiß, trotz aller Konkretheit, es kann nicht erwartet werden,
daß die Dinge in absoluter Eindeutigkeit vor sich gehen. Man
braucht sich nur der Mißstände zu erinnern, die sich bei
Schwurgerichten immer wieder ergeben, wenn Fälle von Aus­
schreitungen auf Rassenhaß-Grundlage oder andere Delikte
dieser Art abgehandelt werden sollen. Und daß schlechtwillige
Regierungen unzählige Mittel zur stillschweigenden Beeinflus­
sung der Geschworenenauslese wie zur Instruierung ihrer
Staatsanwälte stets an [der] Hand haben werden, das wird wohl
niemand bezweifeln; ja sie werden sogar mit einigem Geschick
und einigem Terror Appellationen an den Internationalen Ge­
richtshof recht leicht zu verhindern wissen, ohne daß diese Ma­
chinationen zur offenen Sabotage zu werden brauchen.
Trotzdem bleibt ein bedeutender Unterschied zwischen den
Enforcement-Möglichkeiten einer unergänzten und denen ei­
nerergänzten »International Bill of Rights«. Während eine un-
ergänzte »Bill of Rights« von jeder Regierung ganz offen fla-
griert werden kann, da das Nichteinmischungsprinzip jede
beliebige Auslegung der »Bill« zuläßt, also der ganze Rechts­
zustand des Staates verändert werden darf, geht es bei Hinzu­
tritt der »Bill of Responsibilities« nicht mehr um den allgemei­
nen Rechtszustand, sondern um distinkte Einzelfälle, in denen
die Menschenwürde bestimmter konkreter Personen durch an­
dere konkrete Personen verletzt worden ist, und diese, nicht
Regierungen, nicht »Staaten« als solche werden vom interna­
tionalen Recht verantwortlich gemacht, selbst wenn die
schlechtwillige Regierung die Verbrecher durch Machinationen
-d ie bereits ein gewisses Maß an Korruption und Geheimhal­
tung erfordern, also hiedurch auch schon eine gewisse Ein­
schränkung erfahren - zu schützen sucht. Gegen Regierungen
kann man bloß mit »politischen« Mitteln Vorgehen, doch gegen
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Verbrecher wird mit Mitteln des Strafrechtes vorgegangen: das
Enforcement wird »entpolitisiert« und damit auch konkreti­
siert.
Gerade auf diese »Entpolitisierung« kommt es an. Ein poli­
tisches Vorgehen gegen eine schlechtwillige Regierung bedarf
der politischen Vorbereitung, und die ist in demokratischen
Ländern besonders schwierig. Z. B. wäre es 1936 für die West­
mächte, trotz ihrer mangelhaften Kriegsausrüstung - sie war
auch 1939 nicht besser -, aus Gründen der Machtgruppierung
wahrscheinlich vorteilhaft gewesen, mit Rußland die von Litwi-
now12 propagierte »Volksfront« zu bilden und gemeinsam, un­
ter »verfrühter« Riskierung des Weltkrieges, in Spanien und
damit gegen sämtliche Fascismen einzuschreiten, und doch
wäre es sehr fraglich gewesen, ob sich hiefür (ja auch nur für
die Aufhebung des Waffenembargos) in Amerika eine wirkli­
che Volksmajorität gefunden hätte. Die »Verfrühung« wäre
damals vorteilhaft gewesen, das nächste Mal braucht sie es nicht
zu sein, und eben dies macht die demokratische Haltung immer
wieder entscheidungs-langsam. Alle Appeasement-Tenden­
zen, alle Souveränitäts-Bedenken, auch die heutigen, sind z. T.
auf diese Verfrühungs-Angst zurückzuführen. Wenn aber die
Entscheidung aus dem vagen politischen Gebiet in das einer
wohldefinierten Rechtsnotwendigkeit transponiert wird, dann
kann sie auch in demokratischen Ländern rasch getroffen wer­
den. Aus der politischen Verantwortlichkeit wird eine präzise
Rechtsverantwortlichkeit.
An solcher Rechtsnotwendigkeit und Rechtsverantwortlich­
keit wird das Enforcement zum »gerechten Krieg«. Denn vom
Recht, nicht von der Politik wird die moralische Haltung der
Massen geformt; im Gesetz findet die Moral ihren Ausdruck,
und die Wiederherstellung gebrochenen Rechtes ist das stärk­
ste Argument, mit dem die politische Aktion die Unterstützung
der öffentlichen Meinung anzufordern vermag. Und gerade ein
Enforcement einer »Bill of Rights« bedarf dieser Unterstüt­
zung, ja würde ohne sie geradezu sinnlos werden: die Freedoms
»of«, Menschenfreiheit und Menschenwürde, um deren Schutz
es da geht, sind bloß sinnvoll, wenn sie vom Menschen selbst
gewollt werden.

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X.
Vorbedingung des Selbstbestimmungsrechtes

Wilson hat die Etablierung und Anerkennung der Freedoms


»of« kurzerhand mit Demokratie identifiziert. Das war unzu­
lässig, die Freedoms »of« sind nicht Demokratie, doch sie sind
deren unentbehrliche moralische Vorbedingung, genauso un­
entbehrlich, wie es die amerikanische Unabhängigkeitserklä­
rung für die Schaffung der Konstitution gewesen ist. Freilich
sind die demokratischen Vorbedingungen keineswegs mit ih­
nen erschöpft, vielmehr haben sie mit fortschreitender Ent­
wicklung ständig erweitert zu werden; die Freedoms »from«
liegen in der Richtung solcher Erweiterung.
Die Vorbedingungen sind eindeutig; ihre Ausführung kann
mehrdeutig sein. Daß die Unabhängigkeitserklärung, wäre sie
nicht von Jefferson geschrieben worden, mit einem wesentlich
andern Text versehen worden wäre, ist kaum vorstellbar, ja
kaum möglich; dahingegen ist ihre Konkretisierung durch eine
andere Konstitution, etwa mit einem Einkammer- oder gar
Dreikammersystem ohne weiteres als möglich vorstellbar, und
ebendarum läßt sie auch - im Gegensatz zu den regulativen
Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung - künftige Zusätze
und Abänderungen zu. Es kommt also alles auf die Einhaltung
der regulativen Vorbedingungen an: sie werden eingehalten,
können eingehalten werden, wenn die Demokratie dafür sorgt,
daß das menschliche Individuum die ihm gewährten bürgerli­
chen Freiheiten nicht vermittels Mißbrauchs der Freiheit (also
auch nicht durch mißbräuchliche Konstitutionsabänderungen)
wieder zerstöre; die Ausübung der Freiheits-Rechte erfordert
die Übernahme von Freiheits-Pflichten, auf daß die moralische
Paktwilligkeit und Pakttreue der Gemeinschaft, kurz ihre mo­
ralische Conformity bewahrt bleibe.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es in der Atlan­
tic Charter aufs neue bekräftigt worden ist, bildet das Analogon
zum Freiheits-Recht des Individuums. Doch über die Frei­
heits-Pflichten der Völker ist - umsomehr als da der alte Sou­
veränitätsbegriff im Wege steht - hiedurch noch nichts ausge­
sagt. Auch die Teheraner Konferenz13 hat, obwohl in ihr den
Völkern eine Nicht-Wiederkehr jeglicher Tyrannei verspro­
chen wurde, nicht gesagt, welcher Gebrauch des Selbstbestim-
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mungsrechtes erlaubt und welcher Mißbrauch unerlaubt sein
soll; sie hat keinerlei Definition zwischen erlaubten nicht-fas-
cistischen und unerlaubten fascistischen Regierungsformen ge­
geben. Das ist nicht unverständlich, denn das Wilsonsche Kon­
zept, das solche Unterscheidungsdefinition hatte geben wollen,
hat versagt und hätte außerdem niemals die Unterschrift Ruß­
lands erlangt, dessen Staatsstruktur hiefür allzusehr von der
westlichen abweicht. Nichtsdestoweniger mußte Wilsons Idee
- u. z. nicht nur faute de mieux - nachträglich teilweise wieder
aufgegriffen werden, nämlich mit dem Vorschlag der »Interna­
tional Bill of Rights«, freilich um damit gerade im wesentlich­
sten Punkt, dem der Freiheits-Pflichten zu kurz zu fassen: die
mangelhafte Definition des Fascismus wird also selber zur fa­
scistischen Gefahr, und so ist umgekehrt die Ergänzung durch
die »International Bill of Responsibilities« mit ihrer strafge­
setzlichen Bestimmung der fascistischen Verbrechen und ihrer
Verfolgbarkeit auch zur Definition der fascistischen Regie­
rungsform, zu ihrer Erkennung und Vermeidung höchst not­
wendig.
Soferne aber der Fascismus wirklich vermittels der »Bill of
Responsibilities« (als notwendiger Ergänzung der »Bill of
Rights«) zu charakterisieren, d. h. negativ zu definieren ist, so
müßten sich andererseits, als positiver Aspekt, an ihr die Ge­
meinsamkeiten der nicht-fascistischen Regierungsformen fest­
stellen lassen; und in der Tat: nicht nur daß der in San Francisco
akzeptierte Plan der »International Bill of Rights« den gemein­
samen Humanitäts-Nenner zeigt, der all den divergierenden
Anschauungen, ja sogar denen der westlichen und der russi­
schen Staatsauffassung innewohnt, es zeigt sich darin auch das
Bemühen, von hier aus die Vorbedingung zu finden, die ein
aufnahmewerbender Staat für seine Zulassung zum Nationen-
Kollektiv zu erfüllen hat. Hiefür scheint aber die Verschärfung
der »Bill of Rights« durch das »Gesetz zum Schutz der Men­
schenwürde« und schließlich durch eine »Bill of Responsibili­
ties« einfach unerläßlich zu sein. Ob man dann die solcherart
konstituierte Vorbedingung als die aller Demokratie oder als
die des humanitäts-gerichteten Staates schlechthin oder als die
einer jeden auf Gerechtigkeit basierten sozialen Gemeinschaft
bezeichnen will, ist eine lediglich terminologische Angelegen­
heit. Auf jeden Fall ist es die erste Vorbedingung für die Staa­
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tengemeinschaft, die den Weltfrieden gewährleisten soll, denn
auf eine andere Weise ist nicht zu bewerkstelligen, daß in jedem
Land, gleichgültig von wem und wie es regiert wird, die gleichen
regulativen Grundprinzipien herrschen, der Mensch aber ruhig
im Genuß der »Four Freedoms« zu leben vermag.

XI.
Der massenpädagogische Effekt

Die »Four Freedoms« stehen noch keineswegs allüberall in


Geltung und werden es auch fürderhin noch für geraume Zeit
nicht tun.
Denn die Völkergemeinschaft, in der sie wirken sollen, ist so­
wohl äußerlich wie innerlich erst im Entstehen begriffen; weder
sind alle Völker des Erdkreises von ihr umfaßt, noch bilden die
bereits umfaßten jene politisch-moralische Conformity, die
durch die Deklarierung der »Four Freedoms«, vor allem der
Freedoms »of« angestrebt worden ist.
Es kann auch gar nicht anders sein, und desgleichen ist die bis­
her geübte Zurückstellung der Freedoms »of« hinter die
»from«, zumindest unter diesem Aspekt, fast eine Notwendig­
keit. Es möge nämlich nicht vergessen werden (wie es eben zu­
meist geschieht), daß die United Nations, die sich im Kampf ge­
gen Deutschland und Japan zusammengefunden haben und nun
den berechtigten Anspruch auf einen Platz in der künftigen
Friedensorganisation erheben, zum überwiegenden Teil, etwa
mit Ausnahme der russischen und westlichen Elauptalliierten
sowie einiger europäischer Kleinstaaten, durchaus halb- und
dreiviertelfascistische Gebilde darstellen; das verpönte Argen­
tinien bildet da keineswegs einen so isolierten Fremdkörper,
wie manche gerne glauben. Die Ausrichtung dieses disparaten
Konglomerats auf einen gemeinsamen Humanitäts-Nenner,
auf die Freedoms »of« und den Schutz der Menschenwürde ist
also keine leichte Aufgabe: die Herstellung der politisch-mora­
lischen Conformity ist u. a. eine Aufgabe der Selbsterziehung
für das Nationenkollektiv, und sie ist aufs engste mit einer jetzt
sehr akut gewordenen verquickt, nämlich der einer Erziehung
Deutschlands und Japans, da ja auch diese Völker einstens wie­
der in die Staatengemeinschaft aufgenommen werden sollen14.
Ein durch die Schule des Fascismus hindurchgegangenes Volk
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läßt sich aber kaum anders als vermittels des Strafgesetzes er­
ziehen, umsomehr als es sich um eine Immediat-Erziehung von
Erwachsenen handelt, die ihre zumeist tief eingefahrenen Hal­
tungen, wenn überhaupt, nur unter der Einwirkung strafandro-
hender Verbote zu ändern vermögen. Geschähe dies nicht, so
würde z. B. die nächste Generation - geradezu automatisch -
in einer Weise von ihren Vätern vergiftet werden, daß jede Ju­
genderziehung (die überdies ein eigenes Problem präsentiert)
von vornherein vereitelt werden würde. Doch noch wichtiger ist
jene Immediat-Erziehung, um die Völker der halb- und ganz-
fascistischen Länder, besonders die, welche seit vielen Jahr­
hunderten unter mehr oder minder diktatorialer Herrschaft ge­
lebt haben, für die durch die »International Bill of Rights«
gewährten Freiheiten reif zu machen: die Angehörigen der
United Nations werden dieser Freiheiten nun sofort teilhaftig
werden, doch es wäre - gleichfalls aus erzieherischen Gründen
-sicherlich nicht gut, Deutschland und Japan allzulange hievon
auszuschließen, und es kann mit aller Bestimmtheit, bei jenen
wie bei diesen, ein fascistischer Mißbrauch der Freiheit voraus­
gesagt werden, wenn nicht eine strafgesetzliche Hemmung, also
im Sinne des Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde, dage­
gen gestellt wird.
Denn in den Fascismen werden alle Primitivhaltungen der
Menschenseele wieder ans Tageslicht gefördert - der Rückfall
des deutschen Volkes in Ur-Barbarei hat dies in erschreckend­
ster Weise bestätigt -, und bei einem solchen Geisteszustand
läßt sich durch Gewährung von Freiheiten allein keine Huma­
nisierung erzielen. Für die mystischen, ja theologisch-mysti­
schen Überlegungen, aus denen die »Bill of Rights« mit ihrer
Aufstellung der »natürlichen Menschenrechte« hervorgegan­
gen ist, hat ein in die Urzeiten seiner Entwicklung zurückge­
kehrter Geist nicht die geringste Aufnahmefähigkeit; der Pri­
mitive denkt nicht mystisch sondern magisch. Wenn ihm aber
das nämliche »Naturrecht« in Gestalt von Verboten geboten,
oder richtiger auferlegt wird, so kann es einen Zugang zu ihm
finden, weil es dann von der Magiewirkung des Tabu, das sich
gerade in der Strafandrohung äußert, getragen wird. Was die
»Bill of Rights« nicht zu leisten vermag, das kann die »Bill of
Responsibilities« in ihrem »Gesetz zum Schutz der Menschen­
würde« leisten.
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Diese magische Tabuwirkung scheint um so größere Bedeu­
tung zu gewinnen, als nicht nur der Fascismus, sondern auch
Kriege als solche schier unausweichlich zu Primitivhaltungen
des Menschen zurückführen und ihn magie-zugänglich machen.
Nationalismus z. B. kann und wird immer wieder ins Magische
ausarten (ist dementsprechend auch stets eines der Hauptin­
strumente alles Fascismus), und siegreiche Völker neigen er­
fahrungsgemäß immerzu einem übertriebenen Nationalismus.
Hiezu kommt noch, daß dieser zweite Weltkrieg noch ganz be­
sondere nationalistische Reaktionen erweckt hat, da nach einer
so brutalen Unterdrückung, wie sie die europäischen Völker
durch Hitler erlitten haben, nun notwendigerweise die gestau­
ten Haßgefühle nach einem Auslaß verlangen. Kein Wunder
also, daß die Niederwerfung Deutschlands, die ein rein demo­
kratischer Sieg hätte werden sollen, vielerorts zu einem rein na­
tionalistischen geworden ist, und daß in ganz Europa Zeichen
von Minoritätenhaß, von Antisemitismus usw. aufflammen,
unzweifelhaft auch noch genährt von den fascistischen Elemen­
ten, die sich allenthalben, nicht zuletzt in den Siegerländern sel­
ber, erhalten haben und bloß ihre neue Gelegenheit abwarten.
Dies alles geht im dunkelsten Gefühlsbereich vor sich, und fast
ist es, als ob sich da eine neuerliche Enthumanisierungswelle
vorbereitete: mit einer »Bill of Rights« allein ist sicherlich nicht
dagegen aufzukommen.
Hitler wußte um die magische Tabuwirkung des Strafgesetzes,
und ebendarum hat er die Nürnberger Rassengesetze zum
Kernstück, ja zum Symbol der ganzen Nazi-Moral gemacht und
hat mit ihrer pomphaften Proklamation seine eigentliche Herr­
schaft eingeleitet. Das »Gesetz zum Schutz der Menschen­
würde« ist das genaue Gegenstück zu diesen Rassengesetzen,
und wenn mit diesen die Erziehung zur Barbarei und Enthuma­
nisierung angehoben hat, so kann jenes den Beginn der Wie-
der-Humanisierung und zugleich deren gültigstes Symbol be­
deuten, vielleicht das einzige Symbol, das die Massen im
Augenblick zu verstehen fähig sind.

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XII.
Widerstände und Konsequenzen

Ausdrücklicher noch fast als andere Kriminalgesetze wendet


sich das Gesetz zum Schutz der Menschenwürde gegen die
Ausbrüche des dunkel-ungehemmten Trieblebens. Und da es
mit seiner Inkrimierung von Völker- und Rassenhaß eine Ge­
fühlssphäre trifft, die dem Menschen besonders mühelose
Triebbefriedigungen bietet, so hat es, soll es eingeführt werden,
unzweifelhaft auch mit besonders starken Widerständen zu
rechnen.
Die Argumentationen zu diesen Widerständen sind nicht neu;
man hat sie in Deutschland während des Dezenniums vor Hit­
lers Machtergreifung in überreichlichem Maß gehört. Daß es
überall reaktionäre oder auch nur konservative Kreise gibt, die
noch immer der Meinung sind, sie könnten den Fascismus als
ein bloßes Instrument für die Durchsetzung ihrer eigenen Ab­
sichten benützen, und die ihn daher nicht durch ein Gesetz zum
Schutz der Menschenwürde behindert sehen wollen, das ver­
steht sich nur von selbst. Sonderbarerweise aber werden sie von
der sogenannt fortschrittlichen Gegenseite nicht minder unter­
stützt. Ganz abgesehen von den Optimisten, die niemals eine
Gefahr sehen können und demgemäß auch vor der fascistischen
den bekannten Standpunkt des »it can’t happen here« bezie­
hen, und abgesehen von den fatalistischen Pessimisten, die
nichts als die - hier wahrlich nicht zu unterschätzenden -
Schwierigkeiten sehen und aus deren angeblicher Unüber-
windlichkeit gleichfalls die Erlaubnis zur Propagierung völliger
Untätigkeit folgern, gibt es jene sehr ehrenwerten Liberalen,
welche überzeugt sind, in der besten aller Demokratien zu le­
ben und all ihre Streitbarkeit für die Formalverteidigung der
Konstitutionsbestimmungen und der kodifizierten civil liberties
verwenden, also auch in einem Gesetz zum Schutz der Men­
schenwürde, obwohl es einen Schutz der Freiheit gegen deren
selbstschädigenden Mißbrauch anstrebt, bloß einen reaktionä­
ren Anschlag auf Rede-, Presse- und Gewissensfreiheit wittern
werden, den zu bekämpfen sie sich verpflichtet fühlen, umso­
mehr als sie - mit großem Abscheu - fürchten, daß den von dem
Gesetz getroffenen Personen die Rolle politischer Märtyrer zu­
fallen könnte.
273

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Wenn man bedenkt, wie sehr diese Erwägungen, Abneigun­
gen, Vorsichtshaltungen und Einwendungen (trotz manchmal
guter Absicht) an dem deutschen Grauensresultat mitgewirkt
haben, und wie sie nun offenbar daran sind, sich in weltweitem
Ausmaß zu wiederholen, so daß auch das Grauensresultat eine
Vervielfachung erfahren würde, so mag man sich wohl fragen,
ob die »Four Freedoms« tatsächlich eine realitätsfähige und
nicht nur leer-phantastische Utopie darstellen, ob in ihnen tat­
sächlich eine echte Realitätsrichtung der Welt vorgezeichnet
ist, oder ob nicht im Gegenteil deren Entwicklung gerade den
umgekehrten Weg gehen wird.
Nun, »Entwicklung« ist eine sehr unspezifische Realitätsrich­
tung menschlichen Geschehens; im Kontinuum ihres großen
Hauptstroms bietet sie Raum für die verschiedenst spezifizier­
ten Realitätsrichtungen, für deren Parallelismen, eben auch für
deren gegenseitige Hemmungen und Ablenkungen. Es ist also
nur selbstverständlich, daß zu der durch die »Four Freedoms«
angezeigten »Humanitätsrichtung« auch Gegenkräfte vorhan­
den sind, und daß diese unbeschadet ihrer Disparatheit - sie
umfassen sowohl die fascistischen wie all die andern politischen
Gegenkräfte, die sich (selbst wenn sie als liberal auftreten) der
Humanitätsentwicklung entgegensetzen - unter dem Schlag­
wort »Antihumanität« zusammengenommen werden dürfen:
und trotzdem ist hier dieser Gegensatz bedeutungsschwerer als
anderswo.
Denn die Technisierung und Kollektivierung der Welt ist un­
zweifelhaft- daran läßt sich nichts ändern - zutiefst antihuman
und barbareifördernd, ist es umsomehr, als sie hiebei von allen
sadomasochistischen Trieben der Menschennatur, von ihrer
Sucht nach Vernichtung und Selbstvernichtung unterstützt
wird. Der Technisierungsprozeß ist unaufhaltsam, weil der
menschliche Erfindungsgeist sich nicht zügeln läßt, und nicht
nur, daß die Vernichtungsinstrumente, die hervorzubringen er
bereits im Begriffe ist, über jegliches menschenbezogene Aus­
maß hinaus zu dem von Naturkräften anwachsen und kaum
mehr »Waffen« zu nennen sind, nicht nur, daß sie in der Hand
von »schlechtwilligen« Gruppen oder Staaten - und Schlecht­
willigkeit ist mit solcher Handhabung schier unlösbar verbun­
den - jederzeit zur unausdenkbarst entsetzlichen Menschheits­
gefahr werden können, es wird in einer so sehr der Maschine
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(wortwörtlich) unterworfenen Welt der Unterschied zwischen
Krieg und Frieden überhaupt aufgehoben, da die apokalyp­
tische Bedrohung unaufhörlich, ob Krieg, ob Frieden, in un­
brechbarer, gleichbleibender Intensität weiterbesteht und da­
mit die Menschen, deren Einzelleben nichts mehr gilt, nichts
mehr gelten kann, in eine Paniknähe bringt, die bloß in schärf­
ster Sklavendisziplin und dunkelster Sklavenstumpfheit zu
überkommen ist. Was die Fascisten bisher an Antihumanität
geleistet haben, ist ein zart-mildes Frühlingsbild angesichts sol­
chen Zukunftsausblickes.
Kann sich die Welt vor einem derartigen Schicksal noch be­
wahren? Kann überhaupt noch von einer Humanitätsrichtung
gesprochen werden, da die Technik selber in ihrer Unaufhalt-
samkeit die Realitätsrichtung in die Hand genommen hat? Der
Fascismus - getrieben von seinem Vernichtungswillen, der im
letzten Grund seinen eigentlichen Charakter ausmacht - ver­
neint es, aber auch das laisser-aller all der andern Kräfte, die
ihm zu Diensten sind, besagt das nämliche. Hat also der
Mensch, als ob er neben seinen Vernichtungstrieben keinen
Lebenstrieb kennte, sich fatalistisch der von der Technik ange­
zeigten Realitätsrichtung zu beugen?
Es gibt keine irrtumsfreie, eindeutige Anzeige von Realitäts­
richtungen, und es gibt keine, die den Menschen zum Fatalis­
mus aufzufordern vermöchte: kann eine Realitätsrichtung auf­
gezeigt werden, so heißt dies, daß es möglich ist, bestimmte
Realitätsaufgaben aufzustellen und vielleicht sogar zu lösen;
eine Realitätsrichtung manifestiert sich ausschließlich in der
Möglichkeit von Problemstellungen und -lösungen, die einem
gewissen Realitätstypus angehören. Unter diesem theoreti­
schen Gesichtswinkel ist die Humanitätsrichtung, wie sie von
den »Four Freedoms« angezeigt ist, durchaus nicht der techni­
schen Antihumanitätsrichtung unterlegen.
Gewiß, man muß sich damit abfinden, daß die technische Er­
findungskraft des Menschen sich nicht unter Kontrolle halten
läßt, und daß er immer neue, immer gräßlichere Mordapparate
ersinnen wird; aber über die Moral oder Unmoral, welche die
Maschinen zu benützen beabsichtigt, ist eine einigermaßen
aussichtsreiche, freilich immer nur partielle, niemals völlig be­
friedigende Kontrolle zu gewinnen. Dies ist die praktische Pro­
blemstellung, an der sich die Humanitätsrichtung manifestiert,
275

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und wenn es gelingt, hiezu auch noch praktikable Lösungen
beizubringen, so ist solche Leistung nicht nur Ausfluß des
menschlichen Lebenstriebes, sondern zugleich auch Ausdruck
seiner wiederbeginnenden Selbsterweckung.
Ist also in San Francisco die dem wiedererwachenden Lebens­
willen dienende Humanitätsrichtung mit der »International Bill
of Rights« sichtbar geworden, so gilt es jetzt, den Menschen für
sie »reif« zu machen, und diese moralische Aufgabe - die zu
fördern auch das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«
beabsichtigt - ist eben die einer Massenerziehung und gleich­
zeitig einer Selbsterziehung der Menschheit, die zur Humani­
tätsmoral zurückzufinden wünscht. Im Alltagsleben der Völker
aber wird sie zur neuen, zur moralischen Aufgabe der Politik.
Nur indem die Politik diese Aufgabe im Zuge ihrer praktischen
Zwecke verfolgt, ist sie imstande, sie dem modernen Menschen,
der keine andere Plausibilität als die praktische kennt, nahe zu
bringen, und da sie von den praktischen Zwecken (der Kriegs­
vermeidung) selber vorgeschrieben ist, wird sie nicht nur uto­
piefrei und erfüllungsfähig, sondern biegt auch, sozusagen aus
bloßer Nüchternheit, in jene ethische Linie ein, die all die gro­
ßen Kulturreligionen seit jeher festgehalten haben: in die Linie
der sukzessiven Humanisierung des Menschengeschlechtes
durch eine ständige, moralpädagogische und psychologische
und manchmal zwangsmäßige Stärkung der humanen Tenden­
zen in der Menschenseele, auf daß ihre Vernichtungs- und
Selbstvernichtungstendenzen nicht das Übergewicht erlangen
und weltenumspannendes Unheil erzeugen. Und vieles spricht
dafür, daß dies nochmals glücken könnte.
Es ist nicht unausweichlich notwendig, daß der Mensch seine
Gaben ausschließlich zur Menschheitsvernichtung verwende.

1 Am 26. 6. 1945 wurde die United Nations Organization (UNO) in San Fran­
cisco (USA) von 50 Nationen begründet.
2 Vgl. Franklin D. Roosevelts »Four Freedom«-Rede vom 6. Januar 1941.
3 Seit Anfang 1946 arbeitete die UN-Kommission für Menschenrechte unter
dem Vorsitz von Anne Eleanor Roosevelt an der Formulierung der »Interna­
tional Bill of Human Rights«. Am 10. 12. 1948 wurde von der UNO die
»Universal Declaration of Human Rights« abgegeben. Mitte 1946 schickte
Broch seine »Bemerkungen« (in englischer Übersetzung) an Anne Eleanor

276

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Roosevelt. Um die Arbeit der UN-Kommission für Menschenrechte zu un­
terstützen und die Verabschiedung einer »International Bill of Human
Rights« zu beschleunigen, hatte der amerikanische Bischof G. Bromley Ox-
nam Ende 1946 ein »Committee on Human Rights of the Commission to
Study the Organization of Peace« mit Sitz in New York City begründet. Dem
Executive Committee dieser Organisation gehörten auch Brochs Freunde
Christian Gauss, Dekan an der Princeton University, und Alvin Johnson, Di­
rektor der New School for Social Research, an. Oxnam bat Broch um Unter­
stützung seiner Aktion, und auch an ihn schickte der Autor seine »Bemer­
kungen«.
4 Gemeint ist der Völkerbund.
5 Gemeint ist die UNO.
6 Vgl. Brochs Beitrag zur City o f M a n in diesem Band.
7 Vgl. Wilsons »Fourteen Points« vom 8. 1. 1918.
8 Wörtlich heißt es: »freedom of every person to worship God in his own way«.
9 Vgl. die zwischen Roosevelt und Churchill am 14. August 1941 abgeschlos­
sene »Atlantic Charter«.
10 Vgl. Fußnote 13 zu »Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung«.
11 Anspielung auf die »Nürnberger Prozesse« (1945-1950), deren Gegenstände
nationalsozialistische Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren.
12 Maxim Maximowitsch Litwinow (1876-1951), sowjetischer Politiker, Mitar­
beiter Lenins; 1930-1939 Volkskommissar des Äußeren.
13 Konferenz von Teheran (28. 11. bis 1. 12. 1943). Hier trafen Roosevelt und
Churchill zum ersten Mal persönlich mit Stalin zusammen, um die militärische
Strategie zu koordinieren und die Grundzüge der Nachkriegspolitik abzu­
sprechen.
14 Japan trat 1956 der UNO bei. Die beiden deutschen Staaten wurden 1973
in die Weltorganisation aufgenommen.

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Die Zweiteilung der Welt

Erster Teil
Gibt es noch Demokratie?
Kann es, soll es sie noch geben?

Auch wenn es keine Demokratie gäbe, sie stünde jedenfalls im


Gegensatz zu Totalitarismus. Historisch ist Demokratie, welche
Formen sie auch immer angenommen hat, aus der Auflehnung
gegen Tyrannis hervorgegangen, und ungeachtet all ihrer De­
generierungen, ungeachtet der Vagheit ihrer Begriffs- und
Ideenbildungen, es läßt sich Demokratie heute wie eh und je
in dieser negativen, antityrannischen Funktion bestimmen: so­
weit demokratisches Bewußtsein noch lebendig ist, zeigt es sich
als Auflehnung gegen Totalitarismus, als Non-Totalitarismus,
als Anti-Totalitarismus.
Die Untersuchung - wohlgemerkt eine analysierende Unter­
suchung, die vorderhand noch keinerlei Forderungen aufstellen
will - wird also zweckmäßig an diesem Punkt zu beginnen sein.

(i)
Demokratie gegen Totalitarismus,
ein Staatenkonflikt?

Der demokratische Staat ist stets ein Kompromißgebilde


Staaten dienen zum Schutz ihrer Bürgerschaft, genauer gesagt
jenes Bevölkerungsteiles, dem sie volles Bürgerrecht zuspre­
chen; für diese Schutzfunktion wurden sie errichtet, werden sie
errichtet, hiezu wurden sie mit ihrem Machtapparat ausgestat­
tet, hiezu wird dieser aufrechterhalten. Im Innern entledigt sich
der Staat seiner Aufgabe, indem er dem bürgerlichen Leben
Ruhe und Ordnung gewährleistet, also Polizeistaat ist, während
er nach außen Militärstaat zu sein hat, also einer, der zur Ab­
wehr feindlicher Angriffe gerüstet ist, ja sogar bereit sein muß,
präventiv, d.h. aggressiv zum Schutz des Staatsgebietes oder zu
seiner Vergrößerung vorzugehen, falls hiedurch seine strategi­
sche Position »verbessert« werden kann. Und da der Staat mit
dieser Aufgabe betraut ist - er wäre eben kein Staat, wenn er
nicht damit betraut wäre -, kennt er keinen andern »Willen«,
278

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keine andere »Idee« als diese Aufgabe, und wenn er auch als
Maschine, als Machtmaschine selber keinen Willen und keine
Ideen besitzt, wenn auch all das ausschließlich in den Köpfen
wohnt, die aus Amt oder Neigung das Staatsinteresse und die
Staatsaufgabe betreuen, sie werden ebenhiedurch zu Gliedern
der spezifischen Funktion, die von jeder Maschine in ihrer Ei­
genlogik entwickelt wird, sie werden hier zu »Dienern des Staa­
tes«, und es wird ihnen der Staat mitsamt seiner Aufgabe zum
absoluten und einzigen Selbstzweck: durch sie und durch ihre
Verantwortung »will« der Staat seiner Grundaufgabe bestens,
also womöglich »absolut« gerecht werden, durch sie »will« er
all seine Bürger zu absolut gehorsamen Gliedern der Staats­
maschine machen; durch sie strebt der Staat, jeder Staat,
zur totalen Erfüllung seiner Idee, d. h. zu seinem Totalitaris­
mus.
Demokratie ist demnach in erster Linie Auflehnung des Indi­
viduums und seines individuellen Freiheitsbedürfnisses gegen
die Totalitärtendenz, die jeder Staatsmaschinerie notwendig
innewohnt. Soweit also Demokratie Ausdruck des menschli­
chen Freiheitsbedürfnisses ist, muß sie, fast anarchistisch, frei­
lich nicht anarchisch, den Staat überhaupt abzutun suchen;
auch die sozialistische Phantasie von der klassenlosen, staats­
überwindenden Gesellschaft hat hier ihren (demokratischen)
Ursprung. Doch da ein staatenloser Zustand - und selbst ein
Weltstaat wäre immer noch und vielleicht erst recht ein Staat
- zumindest vorderhand undenkbar ist, also Demokratie, schier
groteskerweise, sich immer nur in dem ihr feindlichen Element
des Staates konkretisieren kann, muß sie mit ihm ein Kompro­
miß eingehen. Der sogenannt demokratische Staat ist ein Kom­
promiß; die Errichtung eines volltotalitären Staates ist theore­
tisch möglich, nicht jedoch die eines volldemokratischen: vom
Staatsbegriff aus beurteilt bleibt Demokratie stets ein Zwitter­
gebilde.

Krieg ist Staatsfunktion, und es ist vor allem diese


Funktion, die dem Staat ein schier tödliches Übergewicht
gegenüber der Demokratie verleiht
Demokratie ist wesenhaft friedlich; sie ist es nicht nur, weil der
Einzelmensch (der sich in ihr gegen den Staat behauptet) fried­
lich ist, sondern noch viel mehr, weil sie im letzten dem Staat
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(als Träger des Totalitarismus) überhaupt abgeneigt ist. Denn
Kriege werden zwischen Staaten geführt, und allein der Staat
will Krieg. Gewiß, es darf ein Staat, der gemäß seiner Grund­
pflicht für den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger sorgen
will, diese nicht den Gefahren eines mutwilligen und risikenrei­
chen Krieges ausliefern, doch wenn er die Gewinnchancen für
günstig hält, sich also erhöhte Sicherheit und erhöhten Wohl­
stand für die Zukunft versprechen kann, wird er ohne Beden­
ken jeglichen Krieg wagen. Krieg und Frieden sind für den Staat
lediglich ein Maximal- und Minimalproblem, und dies gilt erst
recht für den totalitären Staat.
Der Krieg zwischen den totalitären Achsenstaaten (die unbe­
schadet ihrer nazistischen, fascistischen und feudalistischen
Nuancierungen allesamt Volltotalitarismen waren) und den
Westdemokratien war also - im Gegensatz zu einer weitver­
breiteten Meinung, die allerdings nicht von dem klareren Chur­
chill geteilt wurde - keineswegs eine Auseinandersetzung zwi­
schen zwei Ideologien; er war ein Staatenkrieg, ein Machtkrieg
im alten Sinn. Er mußte ausbrechen, weil die Welt - stets hat
es für sie Zeiten der kompromißhaften Balance und solche des
unbalancierten Radikalismus gegeben - nun unter der Leitung
des westlichen Menschen und seiner ebenso radikalen wie radi-
kalisierenden Technik in ein Stadium äußerster Kompromißlo-
sigkeit getreten ist, und weil derjenige, der in einer solchen Zeit
an Kompromissen festzuhalten sucht, in Zwitterhaftigkeit gerät
und infolgedessen sich selbst gefährdet: hier haben die Überle­
gungen und Entschlüsse der Totalitärstaaten angesetzt; denn
nicht ganz zu Unrecht betrachteten sie die Demokratien als
staatliche Zwittergebilde, also als geschwächte Staaten, und sie
hielten sich daher zum Zuschlägen berechtigt, ja sogar ver­
pflichtet. Der ideologische Gegensatz Totalitarismus-Demo­
kratie spielte dabei nur eine akzessorische Rolle.
Im Krieg wird jeder Staat volltotalitär, und nur weil den West­
demokratien die Umstellung auf Kriegstotalitarismus - eine
außerordentliche Leistung - so rasch und so gründlich gelungen
ist, vermochten sie, im Verein mit dem bereits vorher volltotali­
tär gewordenen Rußland, den Sieg zu erringen. Unter diesen
Umständen wäre es lächerlich, von einem demokratischen Sieg
zu sprechen, und die Nachkriegsperiode zeigt deutlich genug,
daß es kein solcher gewesen ist.
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Nichtsdestoweniger kann der Antagonismus Totalitarismus-
Demokratie nicht weggeleugnet werden. Möge auch durch den
Krieg der westliche Demokratiegedanke noch prekärer als frü­
her geworden sein, ein Rest von ihm ist vorhanden und leben­
dig, und da er nun nur mehr eine einzige Folie, nämlich die des
russischen Totalitärkommunismus besitzt, hat der Gegensatz
an Eindeutigkeit gewonnen, freilich um hiedurch zugleich auch
wieder an ideologischem Gehalt zu verlieren: er wird durch den
der Staaten und ihrer Machtansprüche überdeckt.
Daß in dieser neuen Konstellation dem »staatlicheren«, dem
totalitären Rußland die aktivere, die aggressivere, fast könnte
man sagen die reaktionärere Rolle zugefallen ist, will nur na­
türlich erscheinen; Rußland verkörpert eben den Staatsbegriff
in reinerer Form als die Demokratien. Der neue Staatenstreit
geht um die alten imperialistischen Belange, geht - als ob die
Technik das ideologische und machtpolitische Bild der Welt
nicht gründlich verändert hätte - wie einst um Gebietserweite­
rungen, um Einflußzonen, um Häfen und strategische Punkte
und Rohstoffbasen, doch während die durch Demokratie ge­
milderten (oder geschwächten) Weststaaten sich im großen und
ganzen, freilich mit Ausnahme der amerikanischen Pazifik-
Ansprüche, auf die Erhaltung ihrer Vorkriegsbestände be­
schränken wollen, hat der Staat Rußland die Tradition der za­
ristischen Expansionspolitik mitsamt all ihren historischen
Zielen vollkommen wiederaufgenommen.
Denn ebenso wie der Staat schlechthin, der Staat als Macht­
maschine schlechthin gewisse ihm wesentliche Funktionen be­
sitzt, die (trotz oder wegen ihrer Abstraktheit) für jeden, der
an der Staatsverantwortung teilhat, unentrinnbar verbindlich
sind, ebenso entwickelt der einzelne konkrete Staat aus seinem
historischen Werdegang heraus die ihm eigentümliche Spezifi­
kation der allgemein-staatlichen Funktionalregeln, und ebenso
werden nun diese in ihrer spezifizierten Form für die Staatslei­
tung zur unentrinnbaren Richtlinie; es ist ein geradezu mysti­
scher Vorgang. So lassen sich nur sehr wenige rationale, am we­
nigsten wirtschaftliche Gründe angeben, um derentwillen die
Nachfolgestaaten Westroms, das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation wie das napoleonische Frankreich, wie das
fascistische Italien, unentwegt von dem Gedanken beseelt wa­
ren, das alte römische Reichsgebiet wiederherzustellen; sie ha­
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ben der Reihe nach diesen Versuch unternommen, und da jetzt
Rußland, der historische Erbe Ostroms, in eine Machtposition
gelangt ist, die ihm gestattet, nun seinerseits seine Ansprüche
anzumelden, wird es diese nicht mehr fallenlassen und wird
nicht eher ruhen, bis es sich und damit die Herrschaft eines rus-
sifizierten Byzanz - schon ist ja die Wiederversöhnung mit der
griechischen Kirche, in deren Namen das Patriarchat Kon­
stantinopel zu errichten ist, vorgenommen worden - im Mittel­
meerbecken, zumindest soweit es zu Ostrom gehört hat, durch­
gesetzt haben wird. Und fast sieht es aus, als könnte den Sowjets
glücken, was seit dem Jahr 476 A. D .1 noch keinem geglückt
ist.
Das wird, wenn es geschieht, nicht von heute auf morgen ge­
schehen. Rußland hat ein langsames Tempo, und sein Vorrük-
ken - auch dies liegt in seiner Tradition - vollzieht sich nicht
fernkolonial wie das englische, sondern es rückt sozusagen von
Haus zu Haus vor; aber eben diese schier antik anmutende,
langsame Nahkolonisation birgt den Keim zur russischen Dau­
erhaftigkeit: der Starke darf sich Zeit lassen.

Wenn Demokratie nicht bei Beendigung eines Krieges


die ihr gebührende Machtstellung erringt, hat sie einen nur
schwer wiedergutzumachenden Positionsverlust erlitten
Gewiß, die russischen Motive sind nicht ausschließlich imperia­
listischer Natur; Rußland hat auch ideologische Motive zu sei­
nem Verhalten, und selbst wenn sie, wie behauptet werden darf,
heute hauptsächlich als imperialistische Hilfsmittel verwendet
werden, sie sind außerhalb des Imperialismus entstanden. Aber
sie sind durchaus danach angetan, ihn sowohl in seinen defensi­
ven wie offensiven Tendenzen zu unterstützen, und zwar:
(a) Nach marxistischer Auffassung kann kein sozialistischer
Staat sich friedlicher Sicherheit erfreuen, solange er von kapi­
talistischen Staaten - und mögen diese sich noch so demokra­
tisch gebärden - umgeben ist. Er kann sich also bloß am Leben
erhalten, wenn er radikal seine militärische Staatsaufgabe er­
füllt, d. h. wenn er für ausreichend zu verteidigende strategische
Grenzen sorgt und hinter ihnen eine starke, bestausgerüstete
Armee stehen hat.
(b) Infolge der These von der kapitalistischen Angriffslust
muß der sozialistische Staat unverbrüchlich auf Vernichtung
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des Weltkapitalismus bedacht bleiben. M. a. W., der russische
Staat als solcher hat - eben weil er staatlicher Machtapparat ist
und seine rein staatlichen Ziele zu verfolgen hat - die Politik
der aufgelösten Komintern (die tatsächlich hiedurch überflüssig
geworden ist) übernehmen müssen, und dies umsomehr, als die
von der Komintern anfangs angestrebte Weltrevolution im alt­
marxistischen Sinn, also die Revolution des Generalstreiks, der
Barrikaden und der Bandenkämpfe, heute im Zeitalter des
technisch schwerbewaffneten Staates illusorisch geworden ist;
wenn es keine ideologische Irredenta gibt, d.h. wenn sich die
Revolutionärgruppe nicht auf einen Nachbarstaat stützen kann,
von dem sie bewaffnet wird und der zum Eingreifen und Zu­
schlägen bereit ist, gibt es keine Revolution.
An die Stelle der Revolution ist also prinzipiell der Krieg ge­
treten, an die Stelle der Weltrevolution ein neuer Weltkrieg,
und der russische Imperialismus ist sich dessen bewußt.
Immerhin, zur Aufgabe des Staates gehört Vorsicht, und
Krieg ist eine vorsichtige Maximal- und Minimalaufgabe, ins­
besondere angesichts wehrfähiger Gegner. Der russische Staat
hat also diese Verantwortung mit seinen imperialistischen und
revolutionären Bestrebungen auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen. Die Lösung hiefür ist verhältnismäßig einfach; sie
besteht in der modernen Form jenes bereits von den Römern
geübten (und neuerdings von den Nazis virtuos ausgebildeten)
nervenspannenden Halbkrieges, der mit der Förderung oppo­
sitioneller Parteien in Nachbarländern beginnt, Autonomiebe­
wegungen dort unterstützt, Politiker besticht und Aufstände
bewaffnet, um solcherart zur Einsetzung gefügiger Puppenre­
gierungen zu gelangen.
Die russische Regierung fühlt sich derzeit umsomehr zu sol­
chem Kurs verhalten, als sie eine einzigartige Situation aus­
schöpfen kann und daher ausschöpfen muß: überall in der Welt
(freilich mit Ausnahme der verschiedenen russischen Besat­
zungszonen) haben die russischen Siege dem Kommunismus
einen ungeheuren Prestigegewinn eingebracht, und der darf
nicht unausgenützt bleiben. Insbesondere in den Koloniallän­
dern, deren Reichtum und deren Bevölkerungen seit jeher von
den Westmächten - unter Hintansetzung aller demokratischen
Prinzipien - exploitiert worden sind und offenbar weiter exploi-
tiert werden sollen, wird die unausweichlich gewordene natio­
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nalistische Opposition, auch wenn sie nicht (oder noch nicht)
kommunistisch gefärbt ist, ihre Augen nach Rußland richten
und dort den natürlichen Verbündeten, ja den Erlöser sehen.
Die Westmächte haben selber diesen Prestigegewinn den
Russen in die Hände gespielt. Während des Krieges waren sie,
nicht Rußland die große Hoffnung all der vielen unterdrückten
Völker gewesen, und nicht Stalin, sondern Roosevelt hat ihnen
als der große Erlöser gegolten. Wo immer die alliierten Trup­
pen einzogen, da wurden sie als Freiheitsbringer begrüßt, als
Bringer der echten demokratischen Freiheit, nicht bloß als Be­
freier vom Hitler-Joch. Sie haben nichts dergleichen gebracht.
Ob Roosevelt imstande gewesen wäre, für die Erfüllung der
Erwartungen der Völker tatkräftig einzutreten, ist heute eine
müßige Frage, die nicht beantwortet werden kann. Es mag sein,
daß er, wie Churchill, die Befreiungstat als solche überschätzt
hat und infolgedessen, wie eben auch Churchill, nicht imstande
gewesen wäre, für die Befreiten, die nun noch überdies nach ei­
ner positiven Freiheit in Gestalt völliger Selbstbestimmung
verlangten, irgendwelches Verständnis aufzubringen. Doch da
er aus anderer Tradition als Churchill hervorgegangen war und
die Fähigkeit besaß, mit großer Raschheit Realverhältnisse zu
erfassen, hätte auch, wahrlich zum Heile der Völker, das Um­
gekehrte eintreten können, und dann wäre wohl das zur Wirk­
lichkeit geworden, was ihm (doch nicht so sehr Churchill) si­
cherlich vorgeschwebt hatte: eine echte Völkerverständigung,
kraft welcher die Westmächte und die in ihren Einflußzonen
wohnhaften Nationen sich zu einer echt freien, demokratischen
Gemeinschaft hätten zusammenfinden müssen, um eben in sol­
cher Freiheit, eben in solcher Gemeinschaft nicht nur das ideo­
logische Gegenstück, sondern auch das Gegengewicht, das ak­
tive Gegenstück zum russischen Totalitarismus zu bilden.
Alle politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen waren
für einen solchen Schritt unzweifelhaft gegeben. Aber es fehlte
die Ideologie, die demokratische Ideologie, die zu diesem
Schritt notwendig gewesen wäre, und ob Roosevelt eine solche
hätte schaffen können, bleibt trotz seines Genies für Improvi­
sationen sehr fraglich. Ihm, dem Praktiker der Politik, war es
offenbar vor allem wichtig, auf dem Grund der Befreiungstat
rasch den Rahmen für die künftige Weltdemokratie zu zim­
mern, und offenbar dachte er, daß nach Schaffung dieses orga­
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nisatorischen Rahmens, also der United Nations, sich daraus
der demokratische Geist von selber entwickeln werde, gleich­
wie der demokratische Geist Amerikas erst mit und in der Kon­
stitution gewachsen ist. Doch wenn derartiges hätte eingeleitet
werden sollen, dann hätte dieser demokratische Geist Ameri­
kas gerade zum Kriegsende vorhanden und am Werke sein
müssen; statt dessen war ein Vakuum vorhanden, und damit
wird der Vergleich mit der amerikanischen Konstitution hinfäl­
lig, denn niemand wird behaupten, daß sie über einem demo­
kratischen Vakuum errichtet wurde: eben aber dies ist mit der
UNO geschehen, und weil es geschehen ist und ihr jene
menschlich-demokratische Grundgesinnung mangelt, ohne die
es keine kollektive Sicherheit gibt, ist sie zu einer lediglich
staatlichen Apparatur geworden. Die Westmächte haben im
historisch ausschlaggebenden Augenblick ihr demokratisches
Kapital vertan, und Rußlands Totalitarismus wurde der Nutz­
nießer solcher Verschleuderung.

Da die Demokratien ihren historischen Augenblick


versäumt haben, sind alle politischen und militärischen Vorteile
dem russischen Totalitarismus zugefallen
Die Westmächte waren sich des verhängnisvollen, von ihnen
begangenen Fehlers nicht oder in nur sehr mangelhafter Weise
bewußt, und so mußten sie die weitere Entwicklung als Enttäu­
schung, als bittere Schicksalsungerechtigkeit empfinden. Nach
der Jalta-Konferenz schien ihnen die große eurasische Demar­
kationslinie Hamburg-Mukden, mochte sie auch in Einzelhei­
ten noch gewisse Präzisierungen erfordert haben, eine Frie­
densgrenze zu werden, längs welcher gute Nachbarschaft
zwischen den beiden Weltblöcken, dem kommunistischen und
dem demokratischen, sich würde halten lassen können, und
heute schon zeigt sie sich so vielfach, so bedenklich durchbro­
chen, daß es schier unmöglich geworden ist, sie politisch oder
ökonomisch oder gar militärisch zu verteidigen.
Es hat eben derjenige, der in der Hauptsache, ob nun freiwillig
oder gezwungen, auf Verteidigung angewiesen ist, von vorne-
herein die weitaus schwächere Position. Und hinter jener brü­
chigen Demarkationslinie steht die Rote Armee in nach wie vor
voller Kriegsstärke, während die Westmächte, selbst wenn es
ihnen unter Überwindung des Antimilitarismus ihrer Bevölke­
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rungen und Parlamente gelänge, ihre demobilisierten Kader
wieder halbwegs aufzufüllen, schon aus technischen Gründen
außerstande wären, diese ungeheure Linie zu besetzen. Gewiß,
sie haben dagegen den Vorsprung in der Atombombenerzeu­
gung, und den möchten sie sich auch gerne während solcher
Krisenzeit erhalten - doch welch praktischen Vorteil können
sie sich davon versprechen? Allzu genau wissen sie, daß sie als
demokratische Staaten, die sie schließlich noch immer sind, sich
eine Wiederholung des Verbrechens von Hiroshima nicht mehr
leisten dürfen, und daß bloß höchste Defensivnot die Wieder­
anwendung der kompromittierenden Verzweiflungswaffe eini­
germaßen legitimieren würde. Gerade hiezu aber lassen es die
Russen nicht kommen; sie werden, sooft es not tut, von ihrem
Manöver des Vorrückens abstehen und elastisch zurückwei­
chen, aber sie werden auch bei nächstgünstiger Gelegenheit
aufs neue und mit verdoppelter Macht vorstoßen, kurzum, sie
werden ihren nervenzerrüttenden Halbkrieg weiterführen, um
solcherart, mit sozusagen friedlichen Mitteln, Stellung um Stel­
lung zu erobern.
Indes, die in Jalta gezogene Demarkationslinie ist nicht nur
durchbrochen, sie ist von den Russen gewissermaßen auch
übersprungen worden. Solange der Krieg währte, war es ihnen
wichtig, ja lebenswichtig, daß der angelsächsische Machtblock
intakt bleibe; heute werden sie durch ihn, der dem ihren die
Waage hätte halten sollen, gestört und beunruhigt, und sie
wünschen daher seine Auflösung, nicht anders wie Hitler diese
Auflösung gewünscht hat. Im Zuge solch beinahe zwangsläufi­
ger Hitler-Nachfolge liegt z. B. das Verhalten gegenüber den
Lateinvölkern. Denn zu den Weltplänen der Nazis gehörte u. a.
die Errichtung eines (selbstverständlich deutsch orientierten
und dirigierten) Lateinblocks, der - gestützt auf die traditio­
nelle Unbeliebtheit der Briten und Yankees bei den Südvölkern
- von Rom und Madrid aus gegen England, und von Buenos
Aires und den übrigen südamerikanischen Zentren aus gegen
die Vereinigten Staaten zu operieren gehabt hätte. Daß dieser
Lateinblock, wenn auch in veränderter Kombination, heute
wieder aktiv geworden ist, wäre ohne eine sympathisierende
Haltung der Sowjets, ja ohne deren direkte oder indirekte
Hilfe, so in den entsprechenden Anweisungen an die kommu­
nistischen Parteien, kaum möglich gewesen, zumindest nicht
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mit dem starken Erfolg, wie er heute bereits sichtbar geworden
ist: die von Hoover inaugurierte und von Roosevelt zwecks Na­
ziabwehr intensivierte panamerikanische Politik ist unverse­
hens in ein Liquidationsstadium geraten, das sich, wenn über­
haupt, trotz der Labilität der südamerikanischen Staatsgebilde
nur unter schweren Opfern wird wieder rückgängig machen
lassen, und auf der europäischen Seite hat sich der Churchill-
sche Plan, der das Mittelmeer mit einer Reihe demokratischer
Königreiche nach englischem Muster hatte umgeben wollen,
einfach zu nichts verflüchtigt. Allüberall sind die Angelsachsen
vom russischen Gegenspieler zum diplomatischen Rückzug ge­
nötigt worden, und während sie auf der einen, eben der europä­
ischen Seite in groteske und kompromittierende Rückzugsge­
fechte, wie das sehr schmähliche zur Deckung Francos,
hineinmanövriert worden sind, müssen sie auf der anderen na­
hezu untätig Zusehen, wie Perön daran geht, sein südamerika­
nisches Imperium zusammenzuschweißen, ja sie können nicht
einmal bemängeln, daß er dabei russische Unterstützung ge­
nießt, denn sie selber haben Argentinien in die UNO gebracht,
haben selber den dagegen gerichteten Einspruch Rußlands nie­
dergestimmt, und so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn
der russische Antifascismus gleich dem ihren in Bedarfsfällen
abgestellt wird.
Aber wie immer dem sei, die ersten Linien einer politischen
Einkreisung der Westmächte sind sichtbar geworden, und es
kann die militärische Einkreisung folgen. Mit wirtschaftlichen
Mitteln wird nur wenig dagegen auszurichten sein - sollen also
doch Atombomben fallen, nicht nur auf Rußland, nein, auch
auf Argentinien und all die andern widerspenstigen Staaten?
Soll die Verwirklichung des großen Traums von der demokrati­
schen Vereinigung der angelsächsischen und lateinischen Völ­
ker nun mit Hilfe der Atombombe erzwungen werden? Es ist
ein fast erbärmlicher Sachverhalt.

Die in die Defensive gedrängte Demokratie,


vor allem die amerikanische, sucht zu ihrer Selbstbehauptung
ihre eigene totalitäre Ideologie aufzubauen;
es ist die des Kapitalstotalitarismus
Eine militärische Offensive ist also für die Westmächte nahezu
ausgeschlossen, und die Defensive ist höchst fragwürdig gewor­
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den. Für die friedlich-ideologische Offensive, die sie nach
Kriegsende zu ergreifen gehabt hätten, haben sie sich aber als
unfähigerwiesen, und demzufolge sieht ihre ideologische Ver­
teidigung heute womöglich noch fragwürdiger als ihre militäri­
sche aus.
Denn wer auf bloße Verteidigung angewiesen ist, also Beste­
hendes verteidigen soll, der wird sehr oft auch ideologisch kon­
servativ. Gewiß, die Westmächte möchten am liebsten alles
Ideologische beiseite schieben und insbesondere das ganze
Problem der ihnen so notwendigen Friedenserhaltung tunlichst
auf dem Gebiet des Staatsmechanismus und der Staatsverträge
erledigen. Aber sie stehen vor einem ideologisch aktiven Geg­
ner, und das zwingt sie zur Gegenaktivität und damit zu jener
Gegenposition, die ihnen vom Kommunismus von allem An­
fang an zugewiesen worden ist: sie handeln als kapitalistisch­
konservative Staaten, d.h. als Staaten, welche die ihren Bürgern
gebührende Ordnung als eine kapitalistische auffassen und im
Rahmen des kapitalistischen Systems zu wahren suchen.
Unter dem Druck des totalitär-kommunistischen Gegenspie­
lers läßt der demokratische Staat es zu, daß sich aus seiner
Wirtschaftsstruktur heraus eine sonderbare Art von Antitota­
litarismus entwickelt, nämlich ein Kapitalstotalitarismus, der
zwar außerhalb des Staates steht und deshalb als demokratisch
angesehen wird, trotzdem aber den totalitären Urneigungen
des Staates genügend entspricht, um von ihnen akzeptiert zu
werden. Demokratisch ist hiebei die fast sentimentale Erinne­
rung an das kapitalistische Heroenzeitalter, in dem die bürger­
liche Demokratie herangewachsen ist, demokratisch ist sogar
auch noch die daraus erfließende Gleichsetzung von free enter-
prise und menschlicher Freiheit, und selbst die Klasseninteres­
sen, die bei alldem mitspielen, lassen sich noch als demokra­
tisches Element anerkennen; staatstotalitär dagegen, oder
wenn man will pseudo-staatstotalitär, ist das Ergebnis: analog
dem intoleranten Einparteiensystem des Bolschewismus wird
- und das gilt insbesondere für die beiden amerikanischen
Hauptparteien, da zwischen ihnen nicht der geringste ideologi­
sche Unterschied besteht - ein nicht weniger intolerantes Ein­
parteiensystem der kapitalistischen Ordnung errichtet, werden
gleichwie in Rußland, wenn auch unbemerkter und raffinierter
als dort, die sogenannt demokratischen Wahlen zum Zerrbild
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ihrer selbst, d.h. sie werden zu Intern-Auseinandersetzungen
innerhalb der übergeordneten Einheitspartei, zwischen deren
demokratischem und republikanischem Flügel gemacht, und
wenn in Rußland mit radikalem Schwarz-Weiß-Verfahren die
Menschheit in gehorsame Sowjetfreunde und vertilgungswür­
dige Sowjetfeinde eingeteilt wird, so wird hier in wiederum
analoger Weise ein bedingungsloser right-or-wrong-Einsatz für
das kapitalistische System gefordert, so daß jeder, der solcher
Forderung sich nicht fügt oder gar auf die demokratieschädli­
chen Schwächen des krisendurchschüttelten Kapitalismus hin­
weist und infolgedessen sozialistische Lösungen in Erwägung
zieht, sofort als Staatsfeind und roter fifth columnist gebrand­
markt wird.
Das alles ist freilich in England weniger kraß; hier ist das in­
nerpolitische Leben infolge der Traditionssicherheit des Lan­
des und seiner echt ideologischen Parteiungen wesentlich tole­
ranter: das Prinzip der Fairness erstreckt sich auf jedwede
politische Gegnerschaft, gleichgültig ob sie sich gegen Konser­
vativismus, Sozialismus oder Kommunismus richtet; ein Dies-
Committee2amerikanischen Schlages wäre hier kaum möglich.
Doch über das englische Mutterland hinaus ist - wenigstens
bisher - diese demokratische Fairness nicht gedrungen; außer
Landes scheint die Verteidigung kapitalistischer Einrichtun­
gen immer noch als beste Propagierung von Demokratie zu
gelten.
Kurzum, der demokratische Staat hat, bei all seiner Gefähr­
dung, so gut wie nichts zu seiner ideologischen Selbstbehaup­
tung aus Eigenem vorzubringen; er hat zu seinem ausschließli­
chen Wortführer den Kapitalismus ernannt, und dadurch wird
seine Verteidigung zu einer lediglich antikommunistischen,
wird sie rein negativ, wird sie jeglicher Produktivität unfähig.
Angesichts solch ideologischer Unleistung ist es den Russen
wahrlich nicht zu verargen, daß sie ihren Sowjetismus als die
einzig echte oder zumindest einzig positive Demokratieform
einschätzen, und daß sie eine Erlösungsaufgabe zu erfüllen
glauben, wenn sie - in Nachfolge Dostojewskijs und der Pan­
slawisten, die gleichfalls die Welterlösung als die »Bürde des
russischen Menschen« auf sich zu nehmen gedachten - sich ver­
pflichtet fühlen, an der ihnen widerfahrenen Gnade die gesamte
Menschheit teilhaben zu lassen, ja diese selbst unter Anwen-
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düng von Feuer und Schwert zu solcher Teilhaberschaft zu
zwingen.

England, als erstes Ziel des russischen Expansionismus, ist mili­


tärisch viel zu verwundbar, um wieder durch amerikanische
Waffenhilfe gerettet werden zu können; es ist mitsamt seinen de­
mokratischen Einrichtungen durchaus auf die Kollektivsicher­
heit der United Nations angewiesen
England, zum unmittelbaren Nachbarn und unmittelbaren An­
griffsziel Rußlands geworden, ist sich der militärischen und
ideologischen Überlegenheit der Sowjets viel eindringlicher als
Amerika bewußt; wenn eine Nation in ihrem innersten Nerv
bedroht ist, so spürt sie es. Jalta3 war die große Hoffnung gewe­
sen, die Hoffnung auf ein Welt-Zweiparteiensystem, in dessen
fairem Gleichgewicht man sich friedlich hätte einrichten kön­
nen, um sein Haus zu bestellen, doch seitdem die Russen dieses
Konzept im Stich gelassen, ja einfach verraten haben, fühlt man
sich ihnen wehrlos ausgeliefert. Man weiß, daß es für die Bri­
tische Insel, auch wenn sie am Rhein oder an der Elbe verteidigt
wird, keinen Schutz gegen russische Rockets oder gar Atom­
bomben gibt; man weiß, daß im Kriegsfall das Empire und
Commonwealth sich sofort in Dutzende von Nationalstaaten
und -staatchen auflösen würde, die sich der russischen Kon­
trolle weder entziehen würden noch dies könnten; man weiß,
daß keinerlei amerikanische Waffenbrüderschaft, und möge sie
sogar zu einer Zerschmetterung Rußlands vermittels der
Atombombe führen, die Vernichtung des englischen Lebens im
Heimatland aufhalten könnte; man weiß also, daß Krieg gegen
einen russifizierten Kontinent für England unweigerlich seine
Auslöschung als weltpolitischer Faktor bedeuten würde, und
daß es daher, droht solcher Krieg, am ratsamsten wäre, London
geradewegs dem hiezu designierten Sowjetkommissar zu über­
geben, also sich zu einem russischen Satrapen zu erniedrigen,
damit dem englischen Volk ein kümmerliches Weitervegetieren
mit Hilfe russischer Getreidelieferungen ermöglicht werde.
Das sind schwer ertragbare Erkenntnisse, und für viele Eng­
länder scheint ein heroischer nationaler Selbstmord erträgli­
cher als solches Los. Unter diesem Gesichtswinkel ist Churchills
Rede in Missouri4 zu verstehen: er sprach für die Wiederver­
einigung der angelsächsischen Länder, auf daß sie sich mitsamt
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ihrer spezifischen Lebensart und ihrer Demokratie (wie sie von
ihm verstanden wird) erhalten mögen, wenn die große Kata­
strophe und mit ihr die Vernichtung des Mutterlandes wirklich
eintreten sollte. Churchills Programm ist ein Vabanquespiel,
aber es ist kein Bluff. England, unter den Weltmächten die
schwächste, ist am meisten von der Kollektivsicherung der Uni­
ted Nations abhängig, Rußland vermutlich am wenigsten, weil
seine Unangreifbarkeit auch ohne United Nations in voller
Stärke bestehen bleibt, und einen, der so stark ist, bluffen zu
wollen, ist ein allzu gewagtes Beginnen: Churchill hat den
Krieg, der trotz der amerikanischen Waffenbrüderschaft der
nationale Selbstmord Englands sein würde, an die Wand ge­
malt, er hat die Bereitschaft Englands zu diesem Selbstmord
verkündet, und er hat es ernst gemeint, denn er mußte sich sa­
gen, daß bloß durch solche Ernsthaftigkeit, durch solch ernste
Untergangsbereitschaft die Sowjets - die mit Hinblick auf die
amerikanische Macht sich nicht ohneweiters in einen Krieg ein­
lassen dürfen und selber ihn zu scheuen haben - zum Verbleib
in den United Nations und zur Respektierung der unter deren
Auspizien getroffenen Abmachungen zu bringen sein werden;
andernfalls könnten sie die United Nations genauso behandeln,
wie Hitler den Völkerbund behandelt hat, könnten jede Abma­
chung sabotieren und würden jede Schwäche ihrer Partner, also
vor allem die organische Verteidigungsschwäche Englands,
rücksichtslos-ungezügelt ausnützen. Und das muß verhindert
werden. Was Churchill ausgedrückt hat, ist für jede englische
Regierung, gleichgültig ob sie in Tory- oder Labourhänden
liegt, die einzig mögliche Haltung: denn es war eine Friedens­
rede, freilich eine mit Selbstmorddrohung.
Trotzdem war es, bei aller tiefen und ernsten Besorgtheit,
keine Panik- und Angstrede. England ist durch viele Krisen
hindurchgegangen, und als Churchill im Schatten der Dünkir­
chen-Katastrophe5 die Regierung übernahm, war die Frage
nach der englischen Weiterexistenz noch viel bedrohlicher und
akuter, als sie es jetzt ist. Ein Volk, das durch jahrhundertealte
politische Erfahrung seine Selbstsicherheit und sein Selbstbe­
wußtsein gewonnen hat, weiß sich von Panik fernzuhalten, denn
es weiß, daß im Auf und Ab des Geschehens unweigerlich ein
jeder, und auch der anscheinend Stärkste, einen entscheiden­
den Fehler begeht. Der Zarismus als Totalitärstaat war von
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schier unüberwindlicher Stärke und steckte doch voller Schwä­
chen; auch sein kommunistischer Nachfolger wird noch die sei­
nen, die jeder Diktatur innewohnenden Schwächen früher oder
später offenbaren: Angst gehört weit mehr zum Bestand einer
Diktatur als zu dem eines im Grunde noch immer demokrati­
schen Staates. Es gilt also vor allem Zeit zu gewinnen. Und da
Rußland seiner traditionellen Methode gemäß in Beharrlich­
keit von Kleinvorteil zu Kleinvorteil fortschreiten will, um sol­
cherart schließlich Stück um Stück aus dem Commonwealth
herauszusprengen und sich dienstbar zu machen, kann nur ein
ebenso beharrliches Nein, selbst wo es offensichtlich berechtig­
ten russischen Ansprüchen entgegengeworfen wird, den ge­
wünschten Zeitgewinn bringen; nur mit Hilfe dieses Zeitge­
winns sind die notwendigen Vorkehrungen gegen die
befürchtete sukzessive Aufsplitterung zu treffen, u.a. auch die,
mit denen alles daran gesetzt wird, die Reichseinheiten, so die
indische (aber auch die arabische) unbeschadet der ihnen zuge­
standenen Autonomien zu festigen und zu wahren. Gewiß wer­
den dabei auch allerlei Fehler begangen, indes, wer einem Ner­
venkrieg ausgesetzt ist, braucht Stoizismus, selbst in seinen
unvermeidlichen Fehlern, und Stoizismus angesichts von Ge­
fahren ist eine englische Eigenschaft.

Ein neuer amerikanischer Isolationismus, besser fundiert


als der alte, ist im Werden begriffen
In Amerika ist Churchills Rede sehr ungünstig aufgenommen
worden; sie wurde, teils aus Unverständnis, teils aus üblem
Willen, als Kriegshetze interpretiert.
Die alte amerikanische England-Feindschaft ist noch keines­
wegs erloschen, ebensowenig der dazugehörige Isolationismus,
und so wird das tragische Schicksal, von dem das einstige Mut­
terland bedroht ist, gar manche gleichgültig lassen, und manche
andere - und nicht nur die Kommunisten - mit Befriedigung,
ja mit Schadenfreude erfüllen. Und das wird mit mannigfachen
Begründungen ausgestattet werden. Hat England nicht seit
zwei Jahrhunderten Humanität und Demokratie verraten, in­
dem es den preußisch-deutschen Militarismus großgezüchtet
hat, damit es durch ihn gegen Rußland und Frankreich ge­
schütztwerde? Hat es nicht ebendeswegen auch Hitler so lange
nur irgendwie möglich am Ruder gehalten? Spielt es nicht aus
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gleichen und ähnlichen Gründen überall in der Welt, in Spa­
nien, in Italien, in Griechenland, in Palästina, in Indien aufs un­
bedenklichste mit dem Schicksal der ihm ausgelieferten Völ­
ker? Werden da nicht überall willfährige Diktatoren, Könige,
Sultane, Maharadschas, Scheichs unterstützt, so daß sie sich ge­
gen den Willen der Beherrschten zu behaupten vermögen?
Wird nicht allüberall ein Volk gegen das andere, ein Volksteil
gegen den andern aufgehetzt, wenn solches der englischen Poli­
tik und den englischen Kapitalsinteressen zuträglich dünkt? Wo
ist die Humanität, für die England angeblich immer eintritt?
Die Abschaffung der indischen Witwenverbrennung und des
neuseeländischen Kannibalismus war nicht sehr kostspielig,
aber eine zureichende Bekämpfung der Hungersnöte in Indien
wäre zu kostspielig gewesen - hat da der deutsche Fluch aus
dem Ersten Weltkrieg »Gott strafe England« nicht weltenweite
Geltung erlangt? Warum also soll Rußland nicht wirklich die
Rolle übernehmen, die England nur allzulange innegehabt hat?
Es wird Englands Zahltag für seine vielen kolonialen Misseta­
ten sein, und ärger als unter britischer Herrschaft kann es den
Völkern unter der russischen auch nicht ergehen; im Gegenteil,
es ist Aussicht auf Besserung ihres Loses gegeben, denn Ruß­
land hat im eigenen Land bereits den Beweis erbracht, daß es
Hungersnöte zu bekämpfen versteht, und ebenso, daß es für
Minoritätenprobleme befriedigende Lösungen bereithält. Das
allein ist schon sehr viel; keinesfalls erfordert also das Mensch­
heitsinteresse, daß Amerika für das englische Empire eintrete.
Noch viel weniger wäre die Ankündigung des nationalen
Selbstmordes, wäre sie in Churchills Rede verstanden worden,
amerikanischen Sympathien begegnet. Nutzloser Heroismus
gilt nichts mehr in dieser Welt und erregt kein Mitgefühl. Wenn
Englands Selbstmord sich tatsächlich vollziehen muß, weil
keine militärische Verteidigung gegen Rußland mehr möglich
ist, so zeigt das nur, daß interkontinentale Landkriege daran
sind, ein militärischer Nonsens zu werden; der Stärkere braucht
einen solchen Krieg nicht zu führen, und der Schwächere darf
ihn nicht führen. Anders freilich steht es noch mit dem trans­
ozeanischen Krieg; diesen würde Amerika vielleicht wagen,
könnte es hiedurch seinen europäischen Brückenkopf England
retten, doch Beihilfe zum nationalen Selbstmord wäre kein
ausreichendes Motiv für ein so riskantes Unternehmen.
293

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Selbst der von Churchill ausgesetzte Preis, die Erbschaft der
britischen Liquidationsmasse, wäre die Risiken des Unterneh­
mens nicht wert. Um diesen Preis dürfte, könnte, würde Ame­
rika keinerlei Krieg führen, weder für noch gegen England.
Überdies aber würde diese Erbschaft, sollte das Mutterland von
der Katastrophe wirklich ereilt werden, ohnehin nahezu sicher
den Vereinigten Staaten zufallen. Ist einmal London ausge­
schaltet, so wird ganz automatisch Washington der neue Ori­
entierungspunkt der verbleibenden angelsächsischen Länder
Kanada, Australien, Neuseeland; fast ist diese Gruppierung
natürlicher als die bestehende. Sie wäre die natürliche Abrun­
dung der amerikanischen Einflußzone im Pazifik, die dann von
Japan über die Philippinen bis Australien reichen und wohl
auch noch das Zwischenstück des Malaiischen Archipels mit
einschließen würde.
Damit zeichnet sich aber eine ganz neue Weltkonstellation am
Horizont ab. Denn das südafrikanische Kolonialreich, bisher
von allen Empire-Teilen am engsten mit dem Mutterland ver­
bunden, wird sich kaum aus der neuen Gemeinschaft ausschlie­
ßen wollen; über die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile, die
es in dieser Kombination finden würde, läßt sich noch nichts
aussagen, doch sicher ist, daß der politisch-militärische Schutz,
den bisher das Mutterland beigestellt hat, von Amerika aus er­
setzt werden könnte. Das alles liegt zwar noch in weiter Ferne,
hingegen keineswegs im Bereich des Utopischen und Unreali­
sierbaren: die amerikanische Bastion in Nordwestafrika ist z.B.
ein bereits sehr aktuelles politisches Problem, nicht nur weil die
Vereinigten Staaten diesen vorgeschobenen Posten als Schutz
gegen europäische Angriffe benötigen und wahrscheinlich
dringend benötigen, sondern auch, und sicherlich nicht weniger
dringlich, weil sie von hier aus ihrer panamerikanischen Politik
bessern Nachdruckzu verleihen imstande sind. Und diese Fest­
setzung an der afrikanischen Westküste steht wiederum mit
dem Verhältnis zu Südafrika in engster Wechselwirkung, näm­
lich in der gegenseitigen Schutzes oder gegenseitiger Bedro­
hung; es ist nicht schwer zu entscheiden, daß da der gegenseitige
Schutz vorzuziehen wäre.
Kein Zweifel, die angelsächsischen Kollonialländer hegen
starke Anhänglichkeit zum Mutterland, und sein Fall unter rus­
sischem Ansturm wäre ihnen ein tiefschmerzliches Erlebnis und
294

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ein Bedauern, das sicherlich nicht nur von jenen Amerikanern
geteilt werden würde, die sich von Anglophobie ferngehalten
haben. Das hindert aber nicht nüchterne Beurteilung, und diese
lehrt, daß das englische Mutterland überflüssig oder zumindest
ersetzbar geworden ist. Und gerade dies ist der Ausgangspunkt
des neuen amerikanischen Isolationismus: auch dort, wo er
englandfreundlich ist, weiß er, daß England sehr bald aus­
schaltbar sein wird, und wenn das auch noch nicht allgemein
ausgesprochen wird, es wird doch schon allgemein gespürt.
Dieser neue Isolationismus ist also im Begriff, jegliches Inter­
esse an England, an Europa und damit auch an den arabischen
Mittelmeerländern wie an Kleinasien aufzugeben. Gewiß, noch
sind die Interessen am kleinasiatischen Öl vorhanden, sowohl
an den darin investierten Kapitalien wie an dem militärischen
Wert des Produktes, aber beides kann und wird wahrscheinlich
in Kürze entwertet sein, erstens durch die Auffindung neuer in­
neramerikanischer Quellen, zweitens durch Verbilligung der
synthetischen Ölerzeugung und schließlich - am ausschlagge­
bendsten - durch die industrielle Verwertung der Atomenergie.
Ob nun kombiniert oder einzeln, jeder dieser drei Faktoren
wird die Zurückziehung Amerikas aus Europa und dem Mittel­
meerbecken, wird die amerikanische Preisgabe Englands be­
schleunigen.
Angesichts dieser Preisgabe verliert aber auch die Demarka­
tionslinie Hamburg-Mukden völlig ihre bisherige - an den Be­
stand des Britischen Imperiums gebundene - Bedeutung. Wenn
heute Amerika noch an der ihm zugänglichsten Strecke dieser
Linie, nämlich in China, operiert, so geschieht das mit recht ge­
ringer Hoffnung auf Gewinnung einer Dauerposition, so sehr
auch eine solche für den amerikanischen Handel und sein Inve­
stitionskapital erstrebenswert wäre. Und wenn auch China mit
seinen 400 Millionen Menschen das einzige Land ist, das (bei
zureichender Bewaffnung durch Amerika) noch einen inner­
kontinentalen Krieg mit Rußland aufnehmen könnte, der
nordchinesische Kommunismus (von den Sowjets bewaffnet)
wird voraussichtlich einen solchen Plan sowohl militärisch wie
propagandistisch und politisch zu verhindern wissen. Nur mit
einem unter der national-konservativen Regierung Chang
Kai-Cheks straff geeinten China hätte ein wirksamer Druck auf
Rußland ausgeübt werden können, nur für diese wirksame
295

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Kriegsdrohung hätten die Waffenlieferungen sich gelohnt, d.h.
wäre ihre Einstellung zu einem einträglichen Verhandlungsob­
jekt in der amerikanisch-russischen Auseinandersetzung ge­
worden, während sie jetzt nichts anderes als eine Alimentierung
politisch verhältnismäßig unwichtiger Bandenkämpfe bedeu­
ten. Nichtsdestoweniger läßt sich die Angelegenheit nicht oh-
neweiters liquidieren, denn solange England im Mittelmeer­
becken unterstützt werden muß, so lange muß Rußland
anderwärts beschäftigt werden, und das kann eben bloß von
China aus geschehen. Und da Rußland dies weiß, verhält es sich
hier rein defensiv; es ist zufrieden, daß der Bandenkrieg weiter­
geht, tut das Seinige dazu und kann den Abmarsch der Ameri­
kaner abwarten.
Vieles davon ist bereits ins öffentliche Bewußtsein Amerikas
gedrungen. Die chinesische Expedition ist im Zuge der japani­
schen Kriegsoperation als Selbstverständlichkeit hingenommen
worden und wird auch heute noch hingenommen, weil ein Volk
mit business mind nicht gerne die ihm einmal zugefallenen
Chancen wieder aus der Hand läßt, besonders wenn sich unter
ihnen so phantasieanregende wie die Regulierung des Yang-
tse-Stromes finden lassen. Andererseits aber werden diese
Chancen nicht hoch genug eingeschätzt, um dafür die Knochen
eines amerikanischen Grenadiers opfern zu wollen. Und
ebendarum, und nicht etwa weil die öffentliche Meinung Ame­
rikas kommunistisch verseucht ist, dürfte China das erste Land
sein, dem gegenüber der neue amerikanische Isolationismus,
der eben andere Interessen hat, zu vollem Ausdruck gelangen
wird; schon jetzt mehren sich die Stimmen gegen die dortige In­
tervention.6

Der neue amerikanische Isolationismus trifft sich mit dem


bereits bestehenden russischen in einer utopischen Phantasie,
nämlich in der einer Weltzweiteilung
Die alte Blockidee - Jalta ist eben schon veraltet - ist demnach
prinzipiell nicht fallengelassen; sie ist durch eine neue ersetzt
worden: statt der Demarkationslinie Hamburg-Mukden, der
längsten interkontinentalen, die auf dieser Erde gezogen wer­
den kann, würde eine der kürzesten und unpassierbarsten eta­
bliert werden, nämlich eine, die vom Atlas ausgehend am Süd­
rand der Sahara Äquatorialafrika zu durchqueren hätte. Die
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von Rußland angemeldeten Ansprüche auf Libyen können be­
reits als ein Vorfühlen zu dieser Linie hin gewertet werden.
Würde diese Linie als Grenze, als einzige Landgrenze zwi­
schen dem russischen und dem angelsächsischen Block, ein­
stens etabliert werden, so wären Rußlands historische Wünsche
und Ziele, wären seine römischen Erbschaftsansprüche in einer
so überkompletten Weise erfüllt, daß man an der Verwirkli­
chung zweifeln möchte, besonders wenn man der west- und
südeuropäischen Hochkulturen gedenkt - und das ist auch die
Furcht des Papstes, der sich von neuer, noch gründlicherer Ein­
kerkerung bedroht sieht -, die im Zuge solch gewaltigster Um­
schichtung ihr Eigenleben verlören, und doch es verlieren müß­
ten, wenn ihnen der amerikanische Schutz aufgesagt wird.
Aber Amerika hätte an solcher Schutzaufsagung nur zu ge­
winnen. Gerade weil ein innerkontinentaler Krieg gegen Ruß­
land von Amerika aus nicht mehr zu führen ist, hingegen der
transozeanische führbar ist und daher tatsächlich droht, muß
Amerika eine Machtposition suchen, welche innerkontinentale
Reibungspunkte vollkommen ausschaltet (- kürzeste Land­
grenze quer durch Afrika! -), zugleich aber auch die Gefahr des
transozeanischen Krieges auf ein Minimum reduziert, also ne­
ben der Wegräumung von Konfliktstoff für ein tunlichst per­
fektes Kräftegleichgewicht sorgt. Dies aber deckt sich mit dem
Interesse Rußlands, das den transozeanischen Bombenkrieg
genauso wie Amerika zu fürchten hat, und deshalb darf be­
hauptet werden, daß der bereits bestehende russische Isolatio­
nismus bereit ist, sich mit dem neuentstehenden amerikani­
schen zu verbünden, um mit ihm gemeinsam das neue
Blocksystem der Welt festzulegen.
Das ist keine Prophezeiung und ist kein Vorschlag; es ist die
Feststellung eines bereits recht deutlich gewordenen Sachver­
haltes: Isolationismus ist eine spezifische Form des staatlichen
Denkens, und sie wird von diesem dann angenommen, wenn
der strategische Defensivschutz des Staates dem Offensivschutz
vorzuziehen ist. Das trifft (im Gegensatz zu den infolge ihrer
strategischen Lage zum offensiven Imperialismus genötigten
Staaten Mitteleuropas) prinzipiell vor allem auf Rußland und
Amerika zu und ist daher so stark in ihre politische Tradition
eingegangen, daß sogar ihre imperialistischen Neigungen hie­
von nicht nur umgefärbt worden sind, sondern auch, wie heute,
297

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einen neuen Sinn erhalten können. Denn es geht für beide, den
russischen wie den amerikanischen Isolationismus, um die
Schaffung einer geographischen Konstellation, die gegen die
beidseitig möglichen transozeanischen Bombenangriffe den
höchsten Schutz gewährt. Demzufolge sind sie beide über den
»Kleinimperialismus«, wie er von ihnen - fast als Tarnung -
derzeit noch betrieben wird, eigentlich schon hinaus; die von
ihnen angestrebte geographische Konstellation ist eine Art
Überimperialismus, ist ein Konzept, kraft welchem der Krieg
technisch unmöglich werden soll, denn sie beide wissen - und
dieses skeptische Realitätswissen ist eines der Hauptmotive ih­
rer isolationistischen Haltung -, daß im Verlauf der Geschichte
schon tausende von Verträgen zur Errichtung des ewigen Frie­
dens geschlossen worden sind, daß keiner noch länger als ein
paar Jahre gehalten hat, daß aber die technische Separierung
und Isolierung zweier potentieller Gegner die einzig reale Frie­
denssicherung ist, jedenfalls eine realere als eine vertragliche,
und möge der Vertrag mit noch so viel Unterschriften geziert
sein. Für sie beide ist daher die UNO ein nicht bloß überflüssi­
ges, nein, ein sogar höchst störendes Instrument, denn sie er­
achten die vielen Kleinsouveränitäten, welche die UNO zu
schützen hat und zu denen letztlich auch England gehört, für
absterbenswürdig, und sie fürchten, daß deren nur zu begreifli­
cher Lebenswille die Ursache zu stets erneuter Zwietracht wer­
den könne, werden müsse. Nur im Isolationismus der beiden
Hauptmächte, so darf unter diesem Gesichtswinkel argumen­
tiert werden, ruht der Friede, nur in ihm ist er technisch be­
gründbar, und darin dürfen sie von den widerstreitenden Klein­
interessen der Nebenstaaten nicht gestört werden.
Angenommen, daß eine derartige Einigung zwischen Moskau
und Washington tatsächlich in der Zukunft - vorderhand ist an
diese Preisgabe Englands noch nicht zu denken - zustande
käme, so würde das bedeuten, daß Amerika sich vom eurasi-
schen Kontinent und dem Mittelmeerbecken völlig zurückzu­
ziehen hätte, und daß dagegen Rußland die Unterstützung
der Antiyankee-Politik in Südamerika einstelle, aber sich
auch zu einem Desinteressement an dem sozialistischen Austra­
lien verpflichte, wenn dieses Land kommunistische Neigun­
gen zeigen und darum, trotz angelsächsischer Blutsverwandt­
schaft, sich entschließen sollte, zugunsten der Sowjets den
298

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kapitalistischen amerikanischen Bruder im Stiche zu lassen.
Und angenommen, daß dies alles einmal tatsächlich eintrete:
werden dann die beiden großen Blöcke, jener unter der Leitung
Moskaus, dieser unter der Washingtons, wirklich reinen
Sozialismus und reine Demokratie repräsentieren? Daß sie das
täten, ist der geheime Wunsch vieler kommunistischer und de­
mokratischer Idealisten, und sicher ist, daß eine erkleckliche
Anzahl von ihnen aus diesem Grund zu Isolationisten geworden
sind. Denn auf diese Weise wollen die einen die Ungestörtheit
des demokratischen, die anderen die des kommunistischen
Aufbaus gewährleistet sehen, und sie beide hoffen, daß das sol­
cherart eingeleitete praktische Experiment - und welch groß­
artiges, noch niemals vorgenommenes Experiment wäre die
damit etablierte friedliche Konkurrenz zweier einander wider­
sprechender Ökonomie- und Sozialsysteme - die Welt von der
Überlegenheit des einen Systems, für das sie eintreten, über­
zeugen könne.

Die isolationistisch zweigeteilte Welt hätte strukturell


keinen Platz für Demokratie
Wie gewöhnlich hätten die Idealisten eine Enttäuschung zu ge­
wärtigen. Die beiden einander angeblich widersprechenden
Systeme, denen die Welt bei ihrer Zweiteilung überantwortet
werden soll, würden in der Praxis sich voraussichtlich kaum
voneinander unterscheiden; das eine wäre nicht Demokratie
und das andere nicht Kommunismus, sondern sie wären beide
Totalitarismus und nichts weiter.
Denn einerseits liegt kein Grund vor, der den russischen Staat
zu einer Änderung seiner Struktur veranlassen könnte; er hat
als Totalitarismus seine außerordentlichen Erfolge errungen,
und der wachsende Aufgabenkreis, der ihn erwartet, die An­
gliederung neuer Gebiete, die nach Einorganisierung verlangen
- im wahrsten Wortsinn danach verlangen -, und die Notwen­
digkeit möglichster Vereinfachung und Vereinheitlichung,
ohne die ein so riesiges Gebiet nicht übersehen, geschweige
denn verwaltet werden kann, all das ist geradezu ein Zwang zur
Beibehaltung des nun schon erprobten Kurses.
Auf der demokratischen oder angeblich demokratischen Seite
sieht es aber auch nicht viel anders aus, auch wenn ein wesentli­
cher Unterschied nicht vernachlässigt werden darf: der künftige
299

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Sowjetblock - sofern er tatsächlich zustande kommen sollte -
erstreckt sich über die ehemaligen Kriegsgebiete, deren Wirt­
schaft so gründlich zerstört worden ist, daß die kollektiv ge­
plante Behandlung des Wiederaufbaues sich als beinahe einzige
Lösung empfiehlt, während die Gebiete, die in die amerikani­
sche Einflußzone einzureihen wären, zum überwiegenden Teil
kriegsverschont geblieben sind und daher privatwirtschaftliche
Einrichtungen noch ohneweiters zulassen. Indes, gerade das
drängt nun auch hier zur totalitären Form, nämlich zu jener
sonderbar außerstaatlichen und doch staatlichen Totalität, wel­
che sich, nicht zuletzt als Gegenposition zum Kommunismus, in
den Vereinigten Staaten bereits fest etabliert hat und Kapitals­
totalitarismus genannt werden durfte. Gerade die endgültige
Formung, fast möchte man sagen Eternisierung, die der Ge­
gensatz Kapitalismus-Kommunismus mit der Bildung der bei­
den Großblöcke erfahren würde, wäre auch der Anlaß zu einer
ähnlichen Festlegung oder Eternisierung des Kapitalstotali­
tarismus.
M.a.W., der Kapitalstotalitarismus ist zwar eine Funktion,
eine Gegenfunktion des kommunistischen Totalitarismus, ge­
nauso wie vorher der ursprüngliche (rein sozialistische) Kom­
munismus eine Funktion des liberalen Kapitalismus gewesen
ist, doch eben weil dies eine dialektische Doppelleiter von Posi­
tion und Gegenposition darstellt, muß jede weitere Sprosse auf
ihr eine Annäherung an den Vereinigungspunkt der beiden
Leiterteile bringen, also zur endlichen Synthese der Gegensatz­
reihen, wie das von der Realität gefordert wird: in ihrer Staats­
aufgabe und besonders in jener, die sie erwartet, werden kom­
munistischer und kapitalistischer Totalitarismus ununter­
scheidbar einander ähnlich.
Der radikale Isolationismus ist radikaler Defensivismus; er
versucht dem Staat die Struktur einer belagerten Festung mit
absolut undurchdringlicher Verteidigung zu geben. Die Wirt­
schaft im Festungsgebiet hat restlos autark zu sein, damit für
alle Zeit jedwede Aushungerung unmöglich gemacht werde;
der Bürger, jeder Bürger ist ebensowohl Wirtschafts- wie Mili­
tärsoldat, da anders für den Fall des Angriffs nicht vorgesorgt
werden kann; der Bürger ist also nichts als dienendes Glied der
gefährdeten Gemeinschaft, um deren Sicherheit es geht, er darf
nichts anderes sein, und damit er diese Haltung unverbrüchlich
300

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beibehalte, muß dafür gesorgt werden, daß keine andern Ideen
aufkommen oder von außen infiltriert werden, ist also schärfste
Zensur im Innern, schärfste Absperrung gegenüber dem Außen
zu üben. Bloß mit Totalitarismus ist derartiges zu leisten; er ist,
ob mit kommunistischer oder kapitalistischer Färbung, eine di­
rekte Folge des Isolationismus.
Daß hiebei der Isolationismus sehr oft die Fahne der Freiheit
aufzieht, ist weder Fleuchelei noch ist es ein Widerspruch. Denn
nur bei sehr kleinem Festungsgebiet wird das Alltagsleben des
Bürgers zur Gänze von der totalitären Versklavung getroffen,
während jede Erweiterung und Sicherheitserhöhung des Ge­
bietes dem bürgerlichen Tun und Lassen ein vergrößertes Maß
persönlicher Freiheit zugesteht. Ebenso ist diese Art des auf
Großräume angewandten totalitären Isolationismus ohnewei-
ters imstande, gewisse Autonomieformen zu gestatten, ja sogar
zu fördern, vorausgesetzt freilich, daß hiebei die Grundprinzi­
pien der Gesamtgemeinschaft nicht angetastet werden.
Hiedurch wird die Etablierung von Totalitarismen ganz we­
sentlich erleichtert. Die Sowjetverfassung gewährt den ihr an­
geschlossenen Republiken weitgehende Autonomie, duldet so­
gar, wenigstens bis auf weiteres noch, monarchische Institutio­
nen in ihren Einflußzonen. Und wenn die Verfassung der
Vereinigten Staaten, die ja gleichfalls auf föderalistischer
Grundlage beruht, außerdem aber einen wesentlich lockereren
Rahmen als die russische besitzt, allerwärts im amerikanischen
Großraum zur Anwendung gebracht wird, so mag es ihr viel­
leicht noch besser als der russischen gelingen, manches sich Wi­
dersprechende unter einen Hut zu bringen. Der südamerikani­
sche Fascismus wird sich sozusagen mit aller Natürlichkeit in
den Kapitalstotalitarismus einordnen - ein bei der Bildung die­
ses Großblocks nicht zu unterschätzender Vorteil -, doch es ist
auch durchaus denkbar, daß bestimmte Formen des Sozialis­
mus, z. B. eben die kooperativen Australiens, die den Kapi­
talismus nicht völlig negieren, sondern bloß eine gerechtere
Einkommensverteilung vornehmen wollen, sich ohne Schwie­
rigkeit, gewissermaßen als Gegenstück zu den kommunisti­
schen Königreichen, in den Kapitalstotalitarismus werden ein-
fügen lassen.

301

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Kommt es nicht zur isolationistischen Zweiteilung der Welt, so
droht der Hegemoniekampf der beiden Hauptmächte, und
gleichgültig, ob er friedlich oder kriegerisch geführt werden wird,
der Totalitarismus ist auch in ihm unentrinnbar
Es ist leicht, auf dem Papier mit Ländern und Herrschaftsge­
bieten zu jonglieren. Auf diese Weise entstehen kindische Uto­
pien, sind die meisten der verschiedenen Friedenspläne als
Ausfluß eines teils wishful, teils fearful thinking entstanden.
Angesichts der Realität, die unbekümmert ihrer eigenen erbar­
mungslosen Logik folgt und die Menschen in ihren Bann
zwingt, ist weder mit wishful noch mit fearful thinking etwas an­
zufangen. Gewiß, der Mensch hat Verhältnisse zu schaffen, in
denen er - das entspricht seinem Menschentum - seine berech­
tigten Wünsche erfüllen und seiner berechtigten Furcht entge­
hen kann, doch für beides muß er erst wissen, was Berechtigung
heißt und welche Befriedigungsmöglichkeiten ihm die Realität
hiezu zur Verfügung stellt: er muß hiezu die in der Welt wirken­
den Realtendenzen erkennen.
Der Isolationismus, der amerikanische wie der russische, ist
eine Realtendenz, da er dem wirklichkeitsnahen, in der Wirk­
lichkeit fundierten Kraftgefühl der beiden stärksten politischen
Machtzentren organisch entspricht. Und darum ist die Idee
zweier Großblöcke, die dank einer ihnen beiden gemäßen geo­
graphischen Konstellation beinahe vertragslos nebeneinander
zu bestehen vermögen, an und für sich nicht utopischer als die
Idee von der One World, die zu ihrer kollektiven Sicherheit ei­
nen immensen Vertragsapparat benötigt; nicht nur daß diese
Verträge durch ein halbes Hundert disparater Unterschriften
prekär werden, sie sind überdies in ihrer Einhaltung völlig vom
guten Willen der beiden Hauptkonkurrenten abhängig, und das
beinhaltet unmittelbare Kriegsgefahr: denn One World muß
letztlich Weltregierung bedeuten - die UNO kann hiefür bloß
eine Vorstufe sein- und es ist nur natürlich, daß jede der beiden
Hauptmächte die Hegemonie, nicht bloß das Primat in dieser
Weltregierung erreichen will. Regierungen mit Doppelleitung
haben sich bisher noch niemals als haltbar erwiesen.
Was heute im Schoße der UNO vorgeht, zeigt das Wirken die­
ser Realtendenzen, zeigt, wie sich sowohl die isolationistischen
Tendenzen wie die der Hegemonie durchzusetzen trachten. Bis
zu welchem Punkt sich die einen oder anderen konkretisieren
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werden und welche von ihnen dabei die Oberhand gewinnen
wird, das läßt sich nicht prophezeien. Voraussichtlich wird fürs
erste die Entwicklung zu keiner der letztradikalen Konsequen­
zen führen, sondern kompromißhafte Zwischenlösungen zeiti­
gen. Doch wie immer diese Lösungen ausschauen werden, mö­
gen sie mehr in der Richtung des Isolationismus oder des
Hegemonismus liegen, möge sich die Waagschale dabei mehr
zugunsten Rußlands oder Amerikas neigen, und gleichgültig,
wie tief sie sich neigt, der eigentliche Sieger wird stets der Staat
sein, d.h. es wird jede Lösung die Welt dem Totalitarismus, dem
kommunistischen oder kapitalistischen, vielleicht auch beiden
zusammen, ein Stück näher bringen. Die Verlustträger sind ei­
nerseits die Demokratie, andererseits der Sozialismus in seinem
ursprünglichen Sinn.

Totalitarismus scheint jedenfalls das Ziel der gegenwärtigen


Weltentwicklung zu sein, und das bedeutet den Sieg des Staates,
die Niederlage des Menschen
Weder der überzeugte Demokrat noch der überzeugte Sozialist
wird solchen Sieg der Staatstotalität wahrhaben wollen.
Der Demokrat wird nach wie vor mit einer demokratisch-ver­
traglichen Völkerverständigung rechnen, und selbst wenn er
einzusehen vermöchte, daß die Demokratie eine schier unein­
bringliche Schuld auf sich geladen hatte, als sie am Kriegsende
sich zu keiner ihr wesenseigenen Ideologie und Politik aufraffen
konnte und solcherart ihren historischen Augenblick ver­
säumte, er wird, er darf seine Hoffnung auf Wiedergutmachung
des großen Versäumnisses nicht aufgeben, und er wird (doch
dürfte nicht) nun diese Hoffnung auf die Atombombe setzen,
auf die von ihr erzeugte Furcht, von der er annimmt, daß in ih­
rem Namen die Welt sich werde einigen und zu einer demokra­
tischen Weltkonstitution zusammenfinden wollen. Es ist ein
ziemlich realitätsferner Gedanke.
Der Sozialist hingegen, für dessen mystischen Glauben alles,
was geschieht und nicht geschieht, Bestätigung der materialisti­
schen Geschichtsauffassung und der von ihr eindeutig vorge­
zeichneten Entwicklung zu sein hat, wird den Totalitärvorstoß,
der heute im Gange ist, als Vorstufe zur Weltrevolution begrü­
ßen, genauso wie er einstens Mussolini und Hitler als ihre Weg­
bereiter begrüßt hat. Gewiß, er wird, soferne er Trotzkist ist,
303

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in Stalin einen Revolutionsverräter und -verzögerer sehen, und
wird trotzdem, da die Geschichte unbeirrbar ihre marxistische
Bahn weiterverfolgen muß, auch selbst ihn als ihr Werkzeug
betrachten. Bei allem Gegensatz zum Stalinisten wird er kaum
seine Zustimmung verhehlen können, wenn dieser behauptet,
daß die großartigen Erfolge, die Rußland im Innern und Äu­
ßern errungen hat, auf die neue, sozialistische Staatsgrundlage
zurückzuführen sind, daß sie es war, die dem russischen Volk
die Kraft zu seinen schier übermenschlichen Leistungen ein­
flößte, daß sie es war, die den russischen General, den russi­
schen Staatsmann inspirierte und zur überlegenen Figur im po­
litischen Leben Europas machte, und daß daher - mit oder ohne
Krieg, mit oder ohne Hegemoniekampf in der UNO, mit oder
ohne vorangegangene isolationistische Zweiteilung dieser Welt
- an dem letzten und endgültigen Sieg des Sozialismus, der mit
allen andern Staaten auch den russischen auflösen und zur klas­
senlosen Gesellschaft umformen wird, nicht mehr gezweifelt
werden darf.
Von diesen beiden Zukunftsillusionen scheint die kommuni­
stische realitätsnäher zu sein, nicht etwa in ihrem Bild von der
klassenlosen Gesellschaft - da ist noch eher die demokratische
Weltregierung zu verwirklichen -, wohl aber im Bilde der russi­
schen Hegemonie, die zur Herbeiführung (und vielleicht Ver­
hinderung) der klassenlosen Gesellschaft zu errichten sein wird.
Denn die russische Hegemonie wird nicht nur von der ganzen
Macht des Sowjetstaates vorwärtsgetragen, und sie wird nicht
nur allenthalben von den kommunistischen Parteien und den
(oftmals unbewußten) fifth-column-Diensten ihrer Mitläufer
gefördert, so daß z.B. ein kommunistisches Australien sogar ein
Weltblocksystem, käme es zu einem solchen, immerhin zu
sprengen vermöchte, nein, die russische Hegemonie hat auch in
der Sehnsucht der Menschen nach Welteinheitlichkeit einen
starken Rückhalt: viele möchten sich lieber für eine einheitliche
Weltregierung mit Sowjetprimat als für eine Weltzweiteilung
entscheiden, da sie, kaum aus rationalen Gründen, sondern
einfach aus irrationalem Einheitsbedürfnis, vor einer solchen
zurückschrecken; sie halten die russische Hegemonie für das
kleinere Übel.
Doch es kommt gar nicht darauf an, sich für das eine oder das
andere zu entscheiden: die Entscheidung wird sich aus den rea­
304

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len Machtverhältnissen herauskristallisieren, und dieser Kri­
stallisationsprozeß wird für die Welt offenbar nicht weniger
schmerzlich als ihre bisherigen Erfahrungen sein. Und noch viel
weniger hat es Sinn, sich mit Illusionen über den künftigen
Glückszustand zu trösten, der nach Überwindung der totalitä­
ren Vorstufe, der kommunistischen oder kapitalistischen, ein-
treten wird; denn Illusionen machen den Menschen vor dem
gegenwärtigen Übel blind, halten ihn also von seinen unmittel­
baren Pflichten ab. Und dieses gegenwärtige Übel, das Übel ei­
ner Vorstufe, auf der es nach dem Willen der Totalitarismen für
alle Ewigkeit zu verweilen gilt, und von der - und das ist das
Wesentliche - jedenfalls das Schicksal der jetzigen und der
nächsten Generation bestimmt wird, dieses Übel ist wahrlich
arg genug: wie immer die Entscheidungen fallen werden, der
Totalitarismus, der Vernichter der menschlichen Freiheit, steht
drohend vor der Tür; ob kommunistischer oder kapitalistischer
Staat, es droht die totale Versklavung des Menschen.

(ii)
Demokratie gegen Totalitarismus,
ein Ökonomiekonflikt?

Der Sozialismus hält das kapitalistische System für die


Versklavung des Menschen verantwortlich
Im Zustand der Sklaverei ist dem Menschen jede freie Willens­
entscheidung genommen; alle Entscheidungen werden vom
Sklavenhalter für ihn getroffen. Der Sklavenhalter regelt mit
seinen Geboten jeden Schritt des Sklaven; er überwacht die
Einhaltung dieser Gebote und setzt nach Belieben die Strafhö­
hen für jede Übertretung fest: er hat gegenüber dem Sklaven
sowohl legislative wie administrative wie judizielle Macht.
Im besondern ermangelt also der Sklave
(1) der Freizügigkeit,
(2) der freien Berufswahl,
(3) des Anspruches auf »gerechten Lohn«,
(4) des Genusses einer unparteiischen Rechtsprechung,
vielmehr hängt er in allen vier Punkten von der Willkür des
Sklavenhalters ab.
Mit dieser Definition der Sklavenhalterfunktion deckt.sich die
des Totalitärstaates. Seinem Polizeicharakter gemäß trachtet er
305

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jegliche Eigenentscheidung seiner Bürger hintanzuhalten; al­
lein ihm, dem Sklavenhalter, steht alles Entscheidungsrecht zu.
Das soll jedoch nicht besagen, daß diese vom Totalitärstaat
ausgehenden Entscheidungen durchwegs von purer Willkür
und Ungerechtigkeit getragen sein müssen. Zur Willkür und
Ungerechtigkeit gehört die Unberechenbarkeit eines persönli­
chen Tyrannen, und keineswegs ist Totalitarismus auch immer
Diktatur, oder richtiger, es kann die Diktatorrolle - und das ge­
schieht oftmals - von einem abstrakten Prinzip übernommen
werden, das allerhand Gerechtigkeitsqualitäten besitzt. Für
eine christliche Theokratie liegt dieses abstrakte Diktaturzen­
trum in der Gleichheit der zur Gnade bestimmten Menschen­
seele vor Gott, hingegen für einen kommunistischen Totalitär­
staat in der Zuteilung des »gerechten Lohnes« an jedermann.
Freilich können auch abstrakte Zentralprinzipien nicht anders
als durch konkrete Machthaber in die Tat umgesetzt werden,
denen bei noch so vorsichtiger Auswahl (Enklave usw.) ein sehr
hohes Maß autokratischer Willkür, ja Unfehlbarkeit zugestan­
den werden muß.
Für den Sozialismus ist das Problem der Tyrannis mit dem der
Ausbeutung identisch. Er sieht demnach im kapitalistischen
Klassenstaat den einzigen Quell allen Totalitarismus und aller
Menschenversklavung. Die vier Hauptdefinanten der Verskla­
vung erscheinen ihm hier vollauf erfüllt, ja unausweichlich er­
füllt. Denn
(1) insolange dem Proletarier infolge Unterbezahlung der
Nickel für eine Tramfahrt fehlt, kann nicht von Freizügigkeit
gesprochen werden;
(2) insolange des Bergarbeiters Sohn mit 14 Jahren schon in
die Mine einfahren muß, um das Familieneinkommen zu ver­
größern, gibt es keine freie Berufswahl;
(3) insolange der Arbeitsmehrwert in kapitalistischen Profit
verwandelt wird, bleibt das Einkommen des Proletariers will­
kürlich verkürzt, bleibt also vom »gerechten Lohn« weit ent­
fernt;
(4) insolange die Justiz solche Klassenstruktur zu vertreten
hat, wird der in deren Geist herangebildete Richter niemals die
Haltung und Beweggründe des Proletariers begreifen, ge­
schweige denn sein Vertrauen erringen können, viemehr wird
dieser, zumindest unbewußt, stets gewahr sein und niemals ver­
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gessen, daß er dem Unverständnis und der Ungerechtigkeit ei­
ner gegen ihn gerichteten Klassenjustiz ausgeliefert ist.
Weder also ist der Klassenstaat fähig - und selbst wenn er den
Willen dazu aufbrächte wirklich demokratische Freiheit zu
gewährleisten, noch ist er fähig, hiefür eine wirkliche Trennung
der staatlichen Gewalten durchzuführen und einen wirklich un­
abhängigen Richterstand zu schaffen, denn das alles scheitert
am Kardinalpunkt, nämlich an dem der Verbürgung eines ge­
rechten Lohnes. Und da dies innerhalb des Kapitalismus unab­
änderlich ist, bleibt es bei einer Scheinunabhängigkeit des
Richters, bei einer Scheintrennung der Gewalten, kurzum bei
Scheinfreiheit und Scheindemokratie. Echt bleibt - nach sozia­
listischer Ansicht - bloß die Versklavung des Menschen.
Das Problem der Menschenversklavung wird solcherart vom
Sozialismus - seinen Grundlagen und seinen wohlausgearbei-
teten Begründungen gemäß - vornehmlich als ein wirtschaftli­
ches betrachtet; die Versklavungsdefinition ist ihm in erster Li­
nie laut Punkt (3) gültig, und er erwartet alles Heil von der
Regelung des »gerechten Lohnes«: insolange diese Regelung
nicht allgemein durchgeführt ist, bleibt der Mensch vollver­
sklavt, bleibt er eine menschlichkeitsberaubte, willensberaubte
Robotmaschine, deren Dienste kostenlos oder tunlichst billig
ausgeschrotet werden. Und da der Kapitalismus, seinem Wesen
und seiner Struktur entsprechend, an solcher Ausbeutung des
Proletariats und damit an der Umwandlung des Menschen zur
Arbeitsmaschinerie festhalten muß, wird er der Menschheits­
feind katexochen, der Sklavenhalter der Menschheit; es ist sein
unentrinnbares Schicksal.
So also wird erst mit der antikapitalistischen Regelung des
Lohnproblems die wahre Freiheit des Menschen, die Freiheit
der ihm gebührenden Demokratie sich einstellen, und zwar als
schier automatische Folgeerscheinung jener Regelung. Ein un­
ter der Diktatur des Proletariats entstandener und stehender
Staat, in dem das Prinzip des gerechten Lohnes, also die Aus­
schaltung des kapitalistischen Profits bereits durchgesetzt ist,
kann demnach auch nicht als ein totalitärer angesehen werden;
sein angeblicher Totalitarismus ist lediglich eine Gegenmaß­
nahme gegen den kapitalistischen. Wenn einmal der Kapitalis­
mus tatsächlich allerorts ausgerottet sein wird, dann werden die
Staatsgebilde - einschließlich des russischen - allesamt ver­
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schwinden und mit ihnen auch jede totalitäre Tendenz; es wird
die Aufhebung jeglicher Versklavung sein.

Die Extensivperiode des Kapitalismus scheint in einem hohen


Grade die sozialistischen Anwürfe zu bewahrheiten
Die von Marx Vorgefundene extensivwirtschaftliche Form des
Kapitalismus war durchaus geeignet, diesen so und nicht anders
zu beurteilen, d.h. ihn in der Sklavenhalterrolle zu zeigen.
Extensivität gehört - gleich der goldenen Kaufmannsregel
vom billigen Einkauf und teuren Verkauf - zu den natürlichen
Grundtendenzen allen privatwirtschaftlichen Tuns. Das Exten­
sivziel ist Marktexpansion, einerseits zwecks Umsatzerhöhung,
also Profitvervielfältigung, andererseits zwecks Preisstabilisie­
rung, denn wer dem Angebot-Nachfrage-Gesetz entgehen und
Preisreduktionen oder gar völlige Verkaufsstagnation bei
Marktsaturierungen vermeiden will, der muß neue kaufhung­
rig-kaufkräftige Märkte suchen. Für Glasperlen war der euro­
päische Markt begreiflicherweise sehr bald und sehr vollkom­
men gesättigt, aber in Afrika ließ sich wertvolles Elfenbein
gegen sie eintauschen.
Extensivwirtschaft beruht solcherart - wenigstens zum Teil -
auf Bewertungsrelativitäten. Daß in London Elfenbein hohe
und Glasperlen bloß gedrückte Preise erzielen, hingegen im In­
nern Afrikas das Umgekehrte stattfindet, ist eine Bewertungs­
relativität, die von der Glasperlenexpansion ausgenützt werden
muß. Dabei läßt sich vertreten, daß diejenige Wirtschaft, wel­
che die »objektiv fundiertere« Wertskala besitzt, also dieje­
nige, die ein Pfund Elfenbein (z. B. in Ansehung des Selten­
heitsfaktors oder des Erstellungsaufwandes) wesentlich höher
als ein Pfund Glasperlen bewertet, die realitätsnähere, die rea­
litätsstärkere ist; sie hat sich auf einer breiteren und praktische­
ren Basis zur Realitätsbewältigung organisiert. Und eben von
hier aus lassen sich auch ihre Expansionsbestrebungen legiti­
mieren: wenn irgendwo ein Land anzutreffen ist, das sich ge­
genüber den in ihm befindlichen Schätzen als nutzungsunwillig
oder nutzungsunfähig zeigt, d. h. sie nicht als Schätze behandelt,
obwohl sie es nach der »objektiveren« Wertskala sind, so ist ein
solches Land mitsamt seinem brachliegenden Reichtum schier
mystisch vorbestimmt, ein aufsuchbarer, nein, der aufsuch-
pflichtige Expansionsmarkt für das Extensivzentrum zu wer­
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den, denn von diesem und seinem Bewertungsschema aus gese­
hen handelt es sich hiebei um die Organisierung eines noch
nicht organisierten Reichtums, auf daß man kraft solcher Orga­
nisierungsarbeit eine Partizipation an ihm erwerbe. M.a.W., es
handelt sich um die Ausnutzung jenes »Wirtschaftsgefälles«,
das zwischen organisiertem und nicht-organisiertem oder
noch-nicht-organisiertem Reichtum besteht. Und ebendeshalb
führt Extensivwirtschaft unmittelbar zu Kolonialismus.
Kolonialismus braucht aber zu seiner Durchführung nicht nur
»Wirtschaftsgefälle«, sondern auch »Machtgefälle«, d.h. die
Ausnutzung eines militärischen Übergewichtes. Die römische
Kolonialisation war nichts als eine Kette von Raubkriegen, die
vornehmlich zu strategischen Zwecken geführt worden sind,
und der Beginn des modernen Kolonialismus war im großen
und ganzen nichts als Seeräuberei, und dazu noch eine meisten­
teils sehr mangelhaft organisierte. See- und Landräuberei wa­
ren die Urformen aller späteren Kolonialkriege und wirkten in
ihnen unentwegt nach, mochten sie auch solches Verbrecher­
tum unter mancherlei Flagge zu verbergen getrachtet haben, so
unter der Missionsflagge des Christentums, unter der Flagge
der westlichen Zivilisationsverbreitung und - als dem Hoch­
banner aller wahren Wirtschaftsüberzeugung - unter der
Flagge der Erschließung von Naturschätzen, die dem Wohle der
gesamten Menschheit dienen können. Noch Hitler, ein letzter
Nachzügler der Expansionsromantik, wollte seinen Krieg gegen
Rußland als eine Art Kolonialunternehmen (der Zivilisation)
aufzäumen, um ihn dem Westen moralisch schmackhafter zu
machen.
Das 19. Jahrhundert war um seine Mitte - in die auch das
Hauptschaffen Marx’ fällt - die goldene Zeit des Industrialis­
mus, der kapitalistischen Extensivwirtschaft, des Kolonialismus
und der Kolonialkriege. Gewiß, die Indianerkriege an der vor­
rückenden nordamerikanischen frontier (die eine besondere
Form der kolonisierenden Extensivwirtschaft darstellten) wa­
ren als bloße Polizeiaktionen gedacht, und die Indianer erhiel­
ten Industrieprodukte und Waffen, ja sogar Reservationen, al­
lerdings auch Branntwein als Gegenleistung für das genom­
mene Land, genauso wie gleichzeitig in Afrika die Neger
Glasperlen für Elfenbein einheimsten, Kommerzialisierungen
da wie dort, so daß da wie dort nicht mehr von purem Raub ge­
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sprochen werden konnte; gewiß, manche Kolonialkriege wur­
den nun - so die chinesische Opiumexpedition7 der Engländer
oder die nicht minder gewaltsame Hafenerzwingung des Com-
modore Perry8 in Japan - nicht mehr, wie ehedem ausschließ­
lich üblich, für imperialistische Besitzergreifungen, sondern nur
noch für kommerzielle Markteröffnungen unternommen; doch
kein aufmerksamer Beobachter, am letzten also einer vom
Schlage Marx’, konnte oder kann sich durch die scheinbar hu­
maneren Ziele dieser Unternehmungen auch nur im geringsten
über ihre wahre Natur hinwegtäuschen lassen: sie waren Raub­
kriege und waren es sogar mit besonderer Akzentuierung, denn
gerade bei Ländern wie China und Japan, die ihre Reichtümer
und Hilfsquellen auf die ihnen eigene Weise organisiert und da­
mit ihr Genüge gefunden hatten, ist von dem für eine echte Ko­
lonisation notwendigen Wirtschaftsgefälle keine Spur mehr
vorhanden, vielmehr wird es durch den militärischen Zugriff
erzwungen, ja geradezu künstlich erzeugt, und obwohl sich dies
alles bloß Markterschließung nennt, ist es Raub und mehr als
Raub, ist es zunehmende Proletarisierung und ebenhiedurch
zunehmende Versklavung für das Kolonialland, dessen bereits
vorhandenes Ausbeutungssystem nun noch überdies vom kolo­
nialen überdacht wird. Im Zusammenhalt von Wirtschaftsge­
fälle und Machtgefälle war die kapitalistische Versklavung der
farbigen Rassen in Angriff genommen, und davon durfte der
Kolonialismus, wollte er den Extensivbedürfnissen der Wirt­
schaft genügen, nicht abgehen.
Mochte sich also auch der Kolonialismus seit seinen Seeräu­
beranfängen humanisiert haben, an seinen ihm grundsätzlichen
Versklavungsabsichten hat sich - zumindest nach sozialistischer
Ansicht - nichts geändert. Vier Haupttypen der kolonialen Ex-
ploitierung traten im Zuge dieser Entwicklung nacheinander,
freilich auch späterhin mannigfach miteinander verquickt, in
Erscheinung: die Urkolonisation hat sich vor allem »Reich­
tumsmärkten« (z.B. in Indien und im Inka-Peru) zugewandt
und hat sie zuerst einfach mit nackter Gewalt und hierauf han­
delsmäßig ausgeplündert; das nächste kolonialwirtschaftliche
Stadium bestand desgleichen (so etwa an der vorrückenden
nordamerikanischen frontier) in vorwiegend handelsmäßiger
Ausbeutung, und zwar wurden vom Kolonisierungszentrum aus
die Trapper, die Settier, die Goldsucher und durch sie die von
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ihnen - zumeist raubmäßig - erschlossenen Naturschätze aus­
gebeutet; dahingegen hat in dem nachfolgenden, teilweise aus
den beiden vorangegangenen Phasen hervorgewachsenen drit­
ten Stadium der kapitalistische Unternehmer sich mit Hilfe der
unterbezahlten und bedürfnislosen eingeborenen Arbeitskraft
unmittelbar an die Ausschrotung des Koloniallandes (sei es
durch Anlage von Großplantagen, sei es durch Minenausbau)
herangemacht, hat aber damit auch bereits viel zur Einleitung
des vierten, des Endstadiums aller kolonialen Entwicklung bei­
getragen; denn in diesem wird Vollindustrialisierung vorge­
nommen, und die hiezu erforderliche Einfuhr von Maschinen,
Eisenbahnmaterial, Fabrikausrüstung usw. aus den Mutterlän­
dern und Kolonisierungszentren bildet deren letzte, gewichtige
Manifestation ihres wirtschaftlichen Übergewichtes, läßt ihren
Exportismus zu letzter Spätblüte gedeihen. England hat alle
vier Phasen der kolonialen Extensivwirtschaft ausgenützt, der
industrielle amerikanische Osten hauptsächlich das zweite und
vierte Stadium, Holland das erste und dritte, doch ob so oder
so, während der dritten Phase (in der die amerikanischen Süd­
staaten über Gebühr lang zu verharren gedachten) vollzieht
sich der Übergang von der urtümlich-leibeigenen zur kapitali­
stischen Sklaverei, vollzieht sich die soziale Gleichstellung des
farbigen und weißen Proletariats, eine Gleichstellung, die unter
dem Titel »Sklavenbefreiung« zwar das schlechte Gewissen der
kapitalistischen Gesellschaft beruhigt, zugleich aber ihrer Ein­
schätzung des Arbeiters eine letztgültige Legitimation gab: er,
der weiße Arbeiter, wurde hiedurch gleich dem farbigen zur
bloßen Arbeitskraft, zur Robotmaschine im Wirtschaftsge­
triebe. Das Wenige, das der alte europäische Handwerkerstand
an sozialen Vorrechten dem Arbeiter noch vererbt hatte, es
ging mit diesem Augenblick ein für allemal verloren.
Die Gesetze der Wirtschaft, aller Wirtschaft sind hart, und der
Kolonialismus, der mit seinem Pioniertum und seinen Kriegen
nur allzusehr an Risiken, Gefahren und Tod sich gewöhnt hat,
also dem Menschenleben und dem Menschlichen nur sehr we­
nig Bedeutung beizumessen geneigt ist, macht jene Gesetze
womöglich noch härter. Um hochwertige Güter billig einzu­
handeln (die eigenen jedoch tunlichst teuer zu verkaufen), hat
die Extensivwirtschaft unter vielerlei Fährlichkeiten Fremd­
märkte aufgesucht und im wahrsten Wortsinn erobert; unter
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derartigen Umständen wird Härte in Kauf und Verkauf gera­
dezu ethische Pflicht. Zwecks Erledigung eines Konkurrenten
darf seine ganze menschliche und wirtschaftliche Existenz un­
tergraben werden, und wenn die Möglichkeit besteht, ist dem
Verkäufer die von ihm angebotene Ware zu einem Preis abzu­
pressen, der ihm vollen Ruin bringen kann. Soll es da dem Ver­
käufer jener Ware, welche Arbeitskraft heißt, anders ergehen?
Eine Milderung solch menschlicher Härte ist bloß zu erwarten,
wenn außerwirtschaftliche, etwa religiöse Einstellungen die
Direktive übernehmen; innerwirtschaftliche Motive, wie z.B.
Reichtum - dem man solche Fähigkeiten eigentlich Zutrauen
möchte -, waren und sind niemals dazu imstande.
So zeigte sich der Reichtum der Extensivwirtschaft gerade­
wegs als ein Gipfelpunkt wirtschaftlicher Erbarmungslosigkeit.
Und das war nur natürlich. Denn solange die extensivwirt­
schaftliche Blütezeit währte, strömten die Profite so überreich­
lich in die kapitalistischen Zentren ein, daß bei aller Ungerech­
tigkeit der Güterverteilung der Kreis der Begünstigten sich
ständig erweiterte. Jedermann - und dieses Jedermann war
dem Kapitalismus das Um und Auf aller Demokratie - hatte
Gelegenheit, irgendwie an dem Profitsegen teilzunehmen, und
solche Teilnahme schien unabweislich moralische, wirtschafts­
moralische Pflicht. Wer sich dagegen sträubte und gewisserma­
ßen freiwillig im Proletariat verblieb, oder gar infolge seiner
wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten nicht aus dem Goldstrom
schöpfte, der hatte weit eher mit Verachtung denn mit Mitge­
fühl zu rechnen. Er war (bezeichnenderweise nicht viel anders
als im Puritanismus) ein Verworfener, der gerechte Strafe emp-
fing.
Und was im Reichtum nicht geschah, das konnte noch viel we­
niger in der Verarmung geschehen, nämlich dann, als der Ex­
tensivismus unter der Konkurrenz der Kolonial-Industrialisie-
rung zu leiden begann und seinen Niedergang vor sich sah. Die
Versklavung des Proletariats, und eben auch des heimischen,
wurde da zur strikten Notwendigkeit, umsomehr als der Ar­
beitsmarkt sich infolge des Zuzugs aus den ehemaligen Kolo­
nialgebieten (u.a. des Rückstromes von der frontier) mehr und
mehr auffüllte und die Sklavenpeitsche der Arbeitslosigkeit
gleicherweise für Farbige wie Weiße zunehmend spürbar
wurde.
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Der Werdegang des Kolonialismus hat - so darf wohl behaup­
tet werden - mit all seinen Ergebnissen die Marxsche Vision der
kapitalistischen Menschenversklavung bestätigt.

Gegen die sozialistische Versklavungstheorie läßt sich, zugun­


sten des Kapitalismus, die Wohlstandstheorie setzen
Die sozialistische Theorie erwartet als notwendige Konsequenz
der von ihr gedachten Wirtschaftsänderung die große Wendung
zur Vollhumanisierung der Welt. Für die kapitalistische Theo­
rie ist das kein Wirtschaftsargument; sie mag zwar - besonders
wo sie Popularität sucht - darauf hinweisen, daß alle bisherigen
demokratischen Errungenschaften nahezu ausnahmslos im
Schoße, ja sogar mit Hilfe des Kapitalismus (nämlich seines
Antifeudalismus) erzielt worden sind, daß also das Volk selber,
und zwar in seiner proletarischen Gesamtmasse, die kapitalisti­
sche Wirtschaftsform als geeignetes Instrument zur Erreichung
politischer Freiheit erkannt und verwendet habe, wird aber im
allgemeinen und begründetermaßen es als unzulässig erklären,
daß eine Wirtschaftsform nach ihren humanen oder inhumanen
Konsequenzen, den historisch eingetroffenen oder den bloß
hypothetisch eintreffbaren, bewertet werde: Wirtschaft ist
Wirtschaft, und in ihrer manchmal harten, manchmal weniger
harten, immer jedoch autonomen Gesetzlichkeit hat sie mit au­
ßerwirtschaftlichen Motiven, wie denen der Freiheit und Hu­
manität, nichts zu schaffen.
Sinnlos also ist es, zumindest unter diesem Gesichtswinkel,
den Kapitalismus ob der Versklavung anzuklagen, die er, be­
sonders in seiner kolonialextensiven Abart, dem Proletariat
hatte angedeihen lassen; sinnlos ist es, den Stab über ihn zu bre­
chen, weil in der kapitalistischen Wirtschaft der Mensch nur als
Arbeitskraft und bloße Arbeitsware eingeschätzt wird, er selber
aber in seiner menschlichen Würde nichts gilt. Sinnlos ist es,
denn es kann gar nicht anders sein; alles andere wäre eine uner­
laubte Kategorienvermengung, die auf die wahrhaft autonome
Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft keine Rücksicht nimmt:
gleich wie es im Gebiet des reinen Rechts keine »Menschen«
als solche, sondern bloß Rechtsträger und deren Rechtshand­
lungen gibt, so gibt es im Bereich der Wirtschaft bloß ökonomi­
sche Funktionen und nicht »den Menschen«. Ob kapitalistisch
oder sozialistisch gewirtschaftet wird, ob dabei Kauf und Ver­
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kauf mit oder ohne privaten Nutzen getätigt werden, ob der
Verkauf menschlicher Arbeitskraft an jedermann stattfinden
darf oder ob der Staat (als einziger Arbeitgeber) sich das Kauf­
monopol vorbehält, das alles ändert daran nichts: solange man
in der rein wirtschaftlichen Kategorie verbleibt, hat der Mensch
keine »menschliche«, hat er lediglich sachfunktionale Bedeu­
tung, nämlich als produzierendes oder konsumierendes Wirt­
schaftsglied; ausschließlich in solch scharf abstrakter Funktion
ist er ins Wirtschaftsleben eingeschaltet, wird er von diesem ge­
würdigt, und daß die kapitalistische Praxis - und im übrigen
auch die sozialistische, soweit sie nicht demagogisch ist - damit
Ernst gemacht hat, das ist ihr wahrlich nicht zur Last zu legen.
Und ebenso muß man sich damit abfinden, daß die Wirtschaft
kraft ihrer abstrakten Un-Menschlichkeit (die allerdings zu­
gleich Unmenschlichkeit sein kann) im Grunde bloß zwei Ex­
tremfunktionen erfüllt, nämlich einerseits Verschaffung von
Sättigung und andererseits Verurteilung zum Hungertod: wer
ins Wirtschaftsleben eingeschaltet ist, vermag an den Gütern
dieser Erde zu partizipieren, und er braucht nicht zu hungern;
wer ausgeschaltet ist, muß hungern. Die Ausschaltungsursa­
chen liegen entweder in der Person des Ausgeschalteten oder
in der Wirtschaft als solcher oder in beidem zusammen; die
Kranken und die Alten, die Arbeitsunwilligen und die Krimi­
nellen schalten sich selber aus dem Wirtschaftskreis aus, doch
darüber hinaus werden auch Arbeitsfähige und Arbeitswillige
ausgeschaltet, wenn - etwa in Krisenzeiten - die Ernährungs­
kraft der Wirtschaft oder eines Wirtschaftssegmentes hinter ih­
rer Produktionskraft zurückbleibt. Denn keine Wirtschaft kann
mehr hergeben, als sie produziert. Wer im Einzelfall für die
wirtschaftliche Ausschaltung einer Person verantwortlich ge­
macht werden soll, ist freilich schwer zu entscheiden; daß ein
Kaufmann im Zuge einer schweren Wirtschaftskrise in den
Ruin getrieben worden ist, braucht nicht gerade immer als Be­
weis seiner persönlichen Unfähigkeit angesehen werden, und
von tausenden Kinomusikern, die durch die Tonfilmerfindung
auf die Straße geworfen wurden, vermochte zwar eine Anzahl
sich anderen Berufen zuzuwenden, manchen indes gelang es
nicht. Der Kapitalismus ist da nicht abgeneigt, von einer natür­
lichen Auslese der Wirtschaftstüchtigen zu sprechen; das sind
Pioniervorstellungen mit darwinistischer Verbrämung, aus de­
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nen das freundliche Bild einer kapitalistischen Herrenrasse
emporsteigt. Jedenfalls kommt das Proletariat bei solcher Aus­
lese recht schlecht weg; denn in der Tat: es vegetiert am Wirt­
schaftsrand dahin, halb noch zur Wirtschaft gehörig, halb be­
reits aus ihr ausgeschaltet, unaufhörlich von völliger Ausschal­
tung bedroht, und von hier bis zur Einreihung in die Klasse der
Arbeitsunfähigen oder der Arbeitsunwilligen, wenn nicht gar
der Kriminellen ist nur ein Schritt. Für den kapitalistischen Fa­
brikherrn alten Stils ist es ja auch wirklich ein Gnadenakt gewe­
sen, daß er »den Leuten ihr Brot gegeben« hat.
Nun, es ereignen sich auch echte Gnadenakte innerhalb des
Kapitalismus, und sie ereignen sich sogar häufig. Denn Kran­
kenhäuser, Altersheime, Armenfonds stehen für den Arbeits­
unfähigen bereit, Straf- und Korrektionsanstalten für den kri­
minell Arbeitsunwilligen, und mit Arbeitslosenrenten und
-Versicherungen wird, wiewohl in oft noch unzureichender
Weise, für das Heer der übrigen Ausgeschalteten gesorgt. Be­
gnadigt also die Wirtschaft den ausgeschalteten Menschen,
nachdem sie ihn zum Hungertod verurteilt hat? Nein, sie tut es
nicht, die Gesellschaft tut es, und sie tut es aus außerwirtschaft­
lichen Gründen, aus religiösen und humanitären und vor allem
politischen Gründen, die für sie so zwingend sind, daß sie sich
auch zur Auftreibung der hiefür erforderlichen Finanzierung
genötigt sieht. Die Wirtschaft selber kann nicht mehr hergeben,
als sie produziert, aber die Gesellschaft, und gerade die kapita­
listische, hat Reserven aus ihr gezogen, um ihre Luxus- und Ge­
wissensbedürfnisse damit befriedigen zu können, und wenn es
sich gar um politische Bedürfnisse dreht, ist sie auch bereit, die
Mittel hiefür in Gestalt von Anleihen (Anweisungen auf künf­
tige Produktion) aus der Wirtschaft zu ziehen.
Die kapitalistische Theorie streitet das Vorhandensein dieser
Reserven keineswegs ab; im Gegenteil, sie wünscht deren dau­
ernde Vermehrung. Aber als reine Wirtschaftslehre wünscht sie
auch eine scharfe Auseinanderhaltung von Gesellschafts- und
Wirtschaftsbedürfnissen. Die Wirtschaft hat zwar die Aufgabe,
dem Wirtschaftsangehörigen maximalen Wohlstand zu ver­
schaffen, aber es ist nicht ihre Aufgabe, irgendwem und gar ei­
nem Wirtschaftsausgeschalteten ein Lebensminimum zu ga­
rantieren; das mag die Gesellschaft tun, wenn es ihr tatsächlich
danach steht. Die sozialistische Theorie hingegen will solche
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Auseinanderhaltung von Gesellschafts- und Wirtschaftsfunk­
tion nicht anerkennen; die Gesellschaftsfunktion der Wirt­
schaft, die Wirtschaftsfunktion der Gesellschaft sind ihr ein und
dasselbe.
Diese Identifikation von Wirtschaft und Gesellschaft wird im
kommunistischen Staat konkretisiert und daselbst mit Hilfe des
Prinzips der gerechten Güterverteilung vorgenommen; jedes
Gesellschaftsmitglied ist zugleich Wirtschaftsmitglied, so daß es
keine Wirtschaftsausgeschalteten mehr gibt. Der gesamte Er­
zeugungsmehrwert der Wirtschaft wird, wennzwar auch in ab­
gestufter Weise, dennoch so, daß keiner davon völlig ausge­
schlossen ist, unter den Gesellschaftsangehörigen (hier den
Staatsangehörigen) aufgeteilt, und die russische Praxis hat ge­
zeigt, daß mit solcher Umstülpung des Mehrwertes durchaus
nicht der wirtschaftliche Selbstmord verübt wird, den der bür­
gerliche Antisozialismus einstens vorausgesagt hatte. Unge­
achtet der Anfechtbarkeit des Gerechtigkeitsbegriffes als sol­
chem und ungeachtet der noch größeren Anfechtbarkeit der
kommunistischen Bürokratie, die ihm zur Verwirklichung zu
verhelfen hat. ist hier eine Annäherung an die erstrebte ge­
rechte Güterverteilung im besten Gange, ein Zeugnis für die
Übersetzbarkeit der dialektisch-logischen Methode in die Rea­
lität, ein Zeugnis für ihre wissenschaftliche Exaktheit. Ob aber
die Umlagerung des Mehrwertes, d.h. seine Verschmelzung mit
der Lohnquote nun tatsächlich, wie von der sozialistischen
Theorie erwartet, die definitive Freisetzung der Produktion
nach sich ziehen wird, so daß auch seine eigene Entwicklung zu
Gipfeln führen mag, die von keiner kapitalistischen Mehr­
wertshöhe je erreicht worden ist oder erreicht werden kann, das
läßt sich heute noch in keiner Weise abschätzen.
Gerade aber hier, im Problem des Mehrwertes und seiner
Entwicklung, findet die kapitalistische Gegenposition ihren
Halt. Denn durch den Mehrwert und nur durch ihn ist das Ei­
genziel der Wirtschaft zu erreichen, das einzig ihr wesensge­
mäße, neben dem sie, folgt sie der reinen Wirtschaftslehre, kein
anderes Ziel dulden kann, dulden darf; das Ziel heißt: maxima­
ler Wohlstand für das bewirtschaftete Areal. Infolgedessen
wird auch das jeweilige System der Güterverteilung ausschließ­
lich von diesem einzigen innerwirtschaftlichen und von keinem
außerwirtschaftlichen Ziel aus bestimmt, am allerwenigsten
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von dem einer Gerechtigkeit, die zwar der Politik, der Moral,
der Ethik und manchmal sogar Gott, niemals aber der reinen
Wirtschaft zugehörig ist, selbst wenn sie auf »Wirtschaftsge­
rechtigkeit« umgetauft wird. Gewiß läßt sich auch mit Wirt­
schaftsgerechtigkeit operieren, möglicherweise sogar auf recht
lange Zeit hinaus, da ja der Mensch immer Denkfehler macht
und Kategorien vermengt und die Lebenspraxis damit ihr Aus­
langen finden muß; allein, jeder Denkfehler wird an dem Scha­
den, den er stiftet, schließlich offenbar, und je länger er von der
Lebenspraxis ertragen worden ist, und je höher sich die Schä­
den akkumuliert haben, desto revolutionärer vollzieht sich die
Abstellung. Von der Wirtschaft aus gesehen heißt dies, daß jede
»Gerechtigkeit«, die ihr-und sei es mit noch so guten Gründen
- auferlegt wird, eine Beeinträchtigung ihres eigentlichen
Wohlstandszieles in sich birgt, also entweder fortlaufend durch
wirtschaftliche Opfer erkauft werden muß oder aber, läßt man
die Schäden akkumulieren, revolutionär schwere Wirtschafts­
krisen verursacht.
Der Extensivkapitalismus - der für all dies ein natürliches und
auch weitgehend zutreffendes Beispiel abgibt - ist im großen
und ganzen simple Profitwirtschaft, und ebendarum hat das
Wohlstandsstreben, zu dem er wie jede andere Wirtschaftsform
verpflichtet ist, in ihm auch besonders simple Gestalt angenom­
men: Maximalwohlstand und Maximalproduktion fallen für ihn
in eines zusammen. Das gilt insbesondere für jenen Kolonialis­
mus, der den Maximalwohlstand des Heimatlandes vermittels
aktiver Handelsbilanzen zu erzielen trachtet und erzielt, weil in
ihnen die hochwertigen Importe mit kolonial-niedern Ein­
kaufspreisen, die minderwertigen Exporte mit kolonial-hohen
Verkaufspreisen figurieren. Hieraus ergab sich die extensivka­
pitalistische Produktionspolitik. Je mehr Verkaufsgüter aus den
vorhandenen Rohmaterialien und den vorhandenen Arbeits­
kräften gewonnen werden konnten (- und wenn die Kapazitä­
ten der beiden Erzeugungskomponenten nicht miteinander
übereinstimmten, wurde die zu geringe durch Zusatzimporte,
sei es von Rohstoffen, sei es von Arbeitskraft, entsprechend er­
gänzt -), desto höher stiegen die Profitchancen, da ja der Ab­
satz infolge der Kolonialoffenheit beinahe unbegrenzt gesichert
war. Und aus dem nämlichen Grund war es auch ziemlich
gleichgültig, ob dabei Glasperlen oder Zylinderhüte zum Aus­
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tausch für Elfenbein exportiert wurden; es war umso gleichgül­
tiger, als bei der weiten Profitmarge, mit der man durchwegs
rechnen durfte, es sich nicht verlohnte, den einen oder andern
Artikel sonderlich zu bevorzugen. Man lieferte en bloc, was ir­
gendwie gebraucht wurde. Denn lediglich auf Massenproduk­
tion kam es an: durch sie wurden die ungeheuren Reichtümer
ins Land gebracht, die während des 19. Jahrhunderts den Kolo­
nisationszentren, so London wie New York, ihr eigentümliches
Gepräge verliehen haben.
Doch eben dieses eigentümliche Zivilisationsgepräge weist
darauf hin, daß mit der Massengütererzeugung das Produk­
tionsvolumen des Extensivkapitalismus nicht erschöpft war; es
wurde mehr von ihm verlangt, und er hat mehr geleistet. Denn
für arm und reich gilt zweierlei Maßstab, und wenn für die
Wirtschaftsausgeschalteten, für die Kolonialvölker, für die
»Unzivilisierten«, zu denen auch das heimische Proletariat ge­
zählt wurde, der billige Massenartikel zu genügen hatte, er ge­
nügte nicht für den Kreis der bevorzugten und eigentlichen
Wirtschaftsangehörigen, die - wie jede herrschende Klasse -
auch die eigentlichen Zivilisationsträger sein wollten, ja in ei­
nem gewissen Sinn sogar waren. Für sie und ihren Komfort
mußte eine zweite Produktionsschicht eingerichtet werden, und
es war jene, in deren Erzeugungsbreite alles fällt, was die bür­
gerliche Kultur des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat: das Fa­
milienhaus in Stadt und Land mit Ansprüchen, die an den ein­
stigen Palazzo erinnern, der Ozeandampfer mit seinen
Staatskabinen, das Pullmansystem im Eisenbahnwagen, die
Vergnügungs- und Theaterpracht der Großstädte und nicht zu­
letzt das gewaltige Quantum von Luxuswaren für den persönli­
chen Gebrauch des Reichen. Freilich vermochte das Proleta­
riat, zumindest das großstädtische, soweit es sich über die
unterste Einkommensstufe erhoben hat, in mehr oder weniger
bescheidenem Ausmaß an diesen Lebensgütern zu partizipie­
ren, aber im allgemeinen ist die Zweiteilung der Güterproduk­
tion und ihrer Zuteilung ganz eindeutig vorhanden, ein Spiegel
des ebenso eindeutigen Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und
Proletariat, zwischen Kolonisationszentrum und Kolonialland.
Niemand, auch nicht die kapitalistische Theorie, wird die »Un­
gerechtigkeit« eines solchen Zustandes bestreiten oder die ex­
tensivwirtschaftliche Verantwortlichkeit hiefür anzweifeln.
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Daß die nordamerikanische Einkommensskala einerseits bis zu
Dollarmillionen und andererseits bis zu einer Stufe reicht, auf
der nahezu ein Viertel aller Einkommensträger, also über zehn
Millionen Menschen und deren Familien, mit 1000 oder höch­
stens 1500 Dollar (800 bis 1000 Golddollar) ihr Jahresaus­
kommen finden sollen, das ist extensivkapitalistisches Erbe.
Schreit das nicht nach einem sozialistischen Eingriff? Würde
man das amerikanische Nationaleinkommen auch nur einiger­
maßen gleichmäßig aufteilen, es könnte jenen Unterprivile­
gierten sofort eine zumindest 50prozentige Aufbesserung ihrer
Einkünfte zuteil werden - vorausgesetzt natürlich, daß im Zuge
einer solchen Maßregel das Nationaleinkommen seine bis­
herige Höhe beibehält. M. a. W.: erlaubt eine hochentwickelte
und im Vollbetrieb befindliche moderne Wirtschaft eine kom­
munistische Umschichtung ihrer Mehrwerte, ohne hiedurch
eine empfindliche Einbuße im Gesamteinkommen zu erleiden?
Kein Zweifel, es gäbe einen Umschichtungsschock, und es
versteht sich, daß ein solcher mit den von ihm ausgelösten Pro­
duktionsstörungen das Nationaleinkommen in rückläufige Be­
wegung bringen würde; es ginge ja dabei nicht nur um eine neue
Art der Gewinnverteilung, sondern noch weit mehr um eine
vollständige Änderung der Absatz- und Marktverhältnisse: der
Markt verlöre seine reichsten und reichen und auch nur wohl­
habenden Käuferschichten, und statt dessen bliebe (einige
kommunistische Spitzengehälter ausgenommen) nur die prole­
tarische mit ihrem kleinbürgerlichen Bedarf am Platze. Das er­
fordert eine Produktionsumorganisierung mit nicht unbe­
trächtlichen Schwierigkeiten, die aber von der sozialistischen
Theorie für durchaus überwindbar gehalten werden. Denn ge­
rade die amerikanische Produktion hat bereits zweimal, zum
Anfang und am Ende des Krieges, klar bewiesen, daß sie zu ra­
schesten Umstellungen fähig ist, und das nämliche ist wieder zu
erwarten; auch der gesicherte Absatz, die beide Male, zuerst als
Kriegsbedarf, dann als Marktaushungerung, den Vorgang er­
leichtert hatte, ist wiederum vorhanden, da ein Proletariat, des­
sen Kaufkraft mit einem Schlage um 50 Prozent erhöht worden
ist, an sich schon einen ausgehungerten Markt abgibt. Außer­
dem ist die Umstellung auf diese Käuferschicht für die ameri­
kanische Industrie, die in ihrer Haupterzeugung sich ohnehin
dem kleinbürgerlichen Bedarf angepaßt hat, ungemein einfach,
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jedenfalls einfacher als alles, was ihr zu Kriegsanfang und -ende
zugemutet und zugetraut wurde. Unter diesen Umständen kann
der Initialschock nicht von langer Wirkung sein; die wiederauf­
genommene Produktion sowie ihre Sozialisierung, durch die sie
aller kapitalistischen Fesseln und Risiken ledig werden würde,
bürgt für eine baldige Wiederherstellung des Nationaleinkom­
mens, ja für seine ständige Weitersteigerung. Und träfe dies al­
les so ein, es wäre solch geglückte Vollüberführung einer hoch­
industrialisierten Wirtschaft in die kommunistische Bahn der
schönste Beweis für die Gültigkeit der Marxschen Voraussa­
gen.
Freilich: was geschähe, wenn es etwa nicht so einträfe? Nun,
vor allem müßte und würde der Marxismus eine hinreichende
Erklärung für das Nichteintreffen finden, auf daß seine Unfehl­
barkeit gewahrt bleibe. Es spielt sich ja das alles hier im Reich
der Hypothese, im Reich des bloßen Denkexperimentes ab,
und bei aller dafür aufgewandten logischen Denkschärfe kann
das Realexperiment Überraschungen bringen. So ist keines­
wegs ausgeschlossen, daß das Beispiel der beiden großen
Kriegsumstellungen nicht mehr auf die sozialistische Umstel­
lung anwendbar ist, u. a. weil jene unter gleichgebliebener
Wirtschaftsstruktur vor sich gegangen sind, während diesmal
die Struktur selber einer durchgreifenden Änderung unterwor­
fen werden soll. Auch ist es möglich, daß die gigantische Aus­
dehnung der amerikanischen Einkommensskala produktions­
fördernde Faktoren enthält, deren Stärke erst bei ihrer
Abschaffung zum Vorschein kommen wird. Derartiger unvor­
hersehbarer Imponderabilien gibt es die Menge, und viele von
ihnen sprechen gegen den sozialistischen Optimismus.
Kurzum, es ist durchaus möglich, daß die Wohlstandseinbuße,
welche die Wirtschaft unter dem Initialschock zu erleiden be­
müßigt ist, nur in langsamstem Tempo wieder aufgeholt werden
könnte: ist z. B. der Schock katastrophal gewesen, d. h. so stark,
daß unter seiner Wirkung überhaupt alle Mehrwerte aus der
Wirtschaft verschwinden, so hat das Proletariat nicht nur mit
dem Entfall der sofortigen Einkommenserhöhung, sondern
vielleicht sogar auch (es sei denn, daß es sich durch revolutio­
näre Sachplünderungen schadlos hält) mit Einkommensrück­
gängen zu rechnen; ist der Initialschock milder, so wird ein Teil
der erwarteten Einkommenssteigerung verwirklicht werden,
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sicherlich jedoch nicht die vollen 50 Prozent, eher ein nur sehr
kleiner Teil davon, und je geringer der wird, desto mehr ver­
langsamt sich die Produktionsankurbelung, die man von der er­
höhten Kaufkraft des Proletariats erwartet hat, verlangsamt
sich umsomehr, als erfahrungsgemäß - sonst ein Vorteil, hier
ein Nachteil - Wirtschaften mit nivelliertem Einkommen stabi­
ler als jene sind, die von einer kräftigen Einkommensdynamik
bewegt werden. M. a. W., es ist sehr leicht möglich, daß die
Vollsozialisierung einer hochentwickelten Industriewirtschaft
dem Proletariat einen nur sehr mäßigen Einkommensgewinn,
vermutlich höchstens einen von etwa 20 Prozent einträgt, und
daß er sich auf viele Jahre hinaus nicht steigern läßt, weil er um
den Preis einer schweren Wohlstandseinbuße der Gesamtwirt­
schaft zustande gekommen ist, nur um diesen Preis hatte zu­
stande kommen können - einem sehr hohen Preis, der aller­
dings für niemanden mehr fühlbar ist, wenn die außerproletari­
schen Wirtschaftsangehörigen revolutionär ausgerottet wer­
den.
Gewiß, jede proletarische Einkommenssteigerung ist Ge­
rechtigkeit, und für Gerechtigkeit darf, selbst wenn es sich bloß
um 20 Prozent handelt, ein hoher Preis bezahlt werden. Wenn
der Kommunismus durch irgendetwas in seinen Revolutions­
absichten gerechtfertigt wird, so ist es - und das spüren auch die
Massen - durch sein Streben nach Gerechtigkeit für den Men­
schen. Sonderbarerweise aber gibt er (mit Marx) vor, daß es
ihm nicht um Gerechtigkeit, sondern einzig und allein um die
Wirtschaft geht, nämlich um jene Wirtschaftsform, die dem
Menschen das Maximalquantum an Lebensgütern zur Verfü­
gung stellt, und daß er Gerechtigkeit und Humanität bloß als
Nebenresultate achtet, die sich aus der kommunistischen Form
von selber ergeben werden. Wie aber, wenn die wirtschaftlichen
Ergebnisse, die er wirklich anstrebt, auch anderswie erzielbar
wären? Muß für jene 20 Prozent tatsächlich eine Revolution
mobilisiert werden?
Und hier darf nochmals die kapitalistische Theorie einsetzen
und nochmals ihre Forderung nach dem Maximalwohlstand,
der die einzige Aufgabe allen Wirtschaftens ist, zu Gehör brin­
gen. Sie darf darauf hinweisen, daß bereits der Extensivkapi­
talismus trotz seiner Härte, Erbarmungslosigkeit und Unge­
rechtigkeit eine beträchtliche Steigerung des proletarischen
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Lebensstandards (freilich vor allem nur im Heimatlande) ange­
bahnt hat, und daß seitdem diese Entwicklung in ein zuneh­
mend beschleunigtes Tempo gekommen ist, und zwar ohne daß
darum Gerechtigkeit und Humanität eigens hätten bemüht
werden müssen. Wenn heute ein Viertel aller Beschäftigten der
untersten Einkommensstufe angehören, so war es 1900 ein vol­
les Drittel, und ihr Einkommen (in Golddollar) lag etwa 30
Prozent unter dem heutigen. Ist da nicht zu erwarten, daß jene
weitere Steigerung von 20 oder gar 50 Prozent, die der Kom­
munismus dem Proletariat verschaffen will, desgleichen von der
kapitalistischen Wirtschaft wird aufgebracht werden können, ja
daß deren künftige Fortentwicklung, soferne sie nur rein auf
Erhöhung des Gesamtwohlstandes gerichtet bleibt, auch bei
keiner 50-Prozent-Grenze haltmachen wird? Lind würde dies
nicht auch schier automatisch zunehmende Wirtschaftsgerech­
tigkeit bedeuten?
Angesichts dieser Fragen will es wohl scheinen, als dürfte man
den kapitalistischen Möglichkeiten keine geringeren Chancen
als den kommunistischen zumessen, und wahrlich nicht etwa,
weil man mystisch an eine jeweils beste Wirtschaftswelt glaubt,
die fatumgleich von der wirtschaftlichen Eigengesetzlichkeit
erzeugt wird; nein, es ist der Übertritt des Kapitalismus aus sei­
ner Extensiv- in seine Intensivperiode, der zu solcher Meinung
berechtigt oder zumindest sie stützt. Denn erst in der Intensiv­
wirtschaft gelangt die Theorie vom maximalen Wohlstand zu
ihrer vollen Geltung.

Während der Kapitalismus zu intensivwirtschaftlichen Formen


gefunden hat, bleibt es fraglich, ob der Kommunismus zu sol­
chem Fortschritt fähig ist; er wird nach wie vor extensivwirt­
schaftlich betrieben
Soweit die westliche Welt vom industriellen Volkskapitalismus
beherrscht wird, scheint sein Übergang von extensivwirtschaft­
lichen zu intensivwirtschaftlichen Formen unausweichlich zu
sein. Das hervorstechendste Symptom für dieses Faktum ist das
Absterben des Kolonialismus.
Kolonialismus kann nicht mehr betrieben werden; keiner der
vier Typen, in denen er einstens betrieben worden ist, läßt sich
heute mehr anwenden, und einen fünften gibt es nicht, kann es
nicht geben. Die beiden ersten dieser Typen (Auspowerung von
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Reichtumsmärkten und frontier-Ausbeutung) sind mit ihrem
Objekt verschwunden, und der dritte hat den Kampf, den sie
um die Weiterexistenz in ihrer bisherigen, nämlich vom Mut­
terland abhängigen Form (des Plantagen-Domänialismus)
noch führt, schon so gut wie verloren, muß sich also darein
schicken, in den Formen der vierten Phase, d. h. denen des selb­
ständig gewordenen kolonialen Industrialismus, aufzugehen.
Denn dieser hat sich bereits allenthalben stabilisiert. Und gleich
den Wirtschaften der europäischen Kleinstaaten auf dem
Balkan nach dem Ersten Weltkrieg, und gleich ihnen vom Na­
tionalismus ihrer Bevölkerung getragen (einem Nationalismus,
der stets auf Unterstützung durch die Exportzentren hatte zäh­
len können), sind allüberall in der Welt neue Wirtschaftsein­
heiten entstanden, größere wie kleinere, die ihren Produk­
tionsreichtum aus Eigenem organisiert haben und daher der
Ressourcen des kolonisierenden »höherorganisierten« Reich­
tums zu entraten imstande sind. Das »Wirtschaftsgefälle« ist
verschwunden, und es kann durch kein noch so starkes »Macht­
gefälle« ersetzt werden, denn der »unorganisierte Reichtum«,
um den es in aller Kolonisation geht, läßt sich in keiner Weise
künstlich hersteilen.
Nirgends wird ein Faktum so eklatant deutlich als dort, wo es
zu Fehlern Anlaß gibt. Und da es zum Wesen des gegenwärti­
gen Weltzustandes gehört, daß kein Bereich vom andern etwas
weiß, so daß also die Wirtschaft wohl wirtschaftlich aber nicht
politisch, hingegen die Politik wohl manchmal politisch aber
nur höchst selten wirtschaftlich zu denken vermag, spuken wie
in alten Zeiten noch immer extensivwirtschaftliche Kolonial­
aspirationen im politischen Haushalt herum; kein Wunder, daß
sie da zu schweren Verlegenheiten werden: an der wirtschaftli­
chen Verlegenheit, die den Weststaaten heute die Existenz
Deutschlands und Japans ist, läßt sich ermessen, wie faden­
scheinig extensivwirtschaftliche Ambitionen geworden sind;
keinerlei Sieg vermag den alten Kolonialismus wiederzuerwek-
ken. Und so ist auch der oftmals vernehmbare Wunsch nach ei­
ner Behandlung Deutschlands als Kolonialgebiet nichts als
schiere Träumerei. Gewiß ist zur Zeit der deutsche Reichtum
desorganisiert, gewiß besteht zwischen ihm, und dem (infolge
Kriegsverschontheit) noch intakt organisierten Reichtum des
Westens ein ausgesprochenes Wirtsschaftsgefälle, gewiß ist der
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deutsche Eingeborene wirtschaftlich auf den Stand eines farbi­
gen Unterproletariats herabgedrückt, doch wenn nun dieses
chaotisch gewordene Reichtumspotential kolonialhaft zur
Wieder-Organisation gebracht werden soll - und das könnte
bloß nach dem Plantagen- und Domänensystem des Kolonisa­
tionstypus Nr. 3 geschehen, da die beiden ersten überhaupt au­
ßer Frage stehen -, so würde man damit strackwegs in eine neue
Vollindustrialisierung des Landes hineinsteuern, die zwar eine
Zeitlang lukrativ sein könnte, aber aus politisch-militärischen
Gründen vermieden werden soll und außerdem das Koloniale
letztlich - lt. Typus Nr. 4 - schier automatisch zur Gänze auf­
höbe. Schränkt man die deutsche Produktion zu sehr ein, etwa
indem man sich mit Rohstoffexploitierungen, also vor allem mit
denen von Minenprodukten begnügen wollte, so werden die
Kolonisations-Investierungen, wie immer billig man sie rech­
nete, kurzerhand profitlos; steigert man jedoch die Güter­
menge, so wird sie in einem ebenso sich steigernden Ausmaß
die westliche Unternehmer- und Arbeiterschaft auf dem Welt­
markt konkurrenzieren, ja kann hier geradezu krisenerzeugend
wirken, so daß voraussichtlich ein Großteil der eingeheimsten
Kolonialprofite wieder verloren gehen wird: um wie viel prak­
tischer wird es sich da erweisen, den Absatz jener Gütermenge
gleich im Erzeugungsland zu bewerkstelligen, d. h. den Kolo­
nialprofit sofort zu beschneiden, um solcherart die Kaufkraft
des deutschen Marktes zu stärken. Ob Deutschland oder Japan
oder sonst irgendwo, der koloniale Extensiv-Kapitalismus läßt
sich in keiner Weise neubeleben.
Anders freilich würde es um den desorganisierten deutschen
und japanischen Reichtum bestellt sein, wenn er - und unzwei­
felhaft ist das in den Besatzungszonen der Roten Armee der
Fall - dem russischen Wirtschaftsgebiet einverleibt werden
würde. Rußland hat bisher noch niemals seinen Industriebedarf
aus eigenem zu befriedigen vermocht, und da er infolge der
Kriegsverwüstungen nunmehr ins Gigantische angewachsen ist,
werden wohl noch etliche Fünfjahrespläne aufgestellt und
durchgeführt werden müssen, ehe er zu einer wirklich autarken
Deckung gelangen wird. Von hier aus gesehen ist es nur recht
und billig, daß der deutsche Lebensstandard auf den des russi­
schen Proletariats herabgesetzt werden soll, und daß der hie­
durch ermöglichte Güterüberschuß, d. h. der Überschuß der
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ganzen, irgendwie nur erfaßbaren industriellen Vollproduktion
nach Rußland geleitet werde; wie groß auch immer diese
Quantitäten seien, sie vermögen bloß einen Bruchteil des ange­
richteten Schadens zu heilen. Was also für den Westen bloße
Kolonialerwägung und ebendeshalb undurchführbar ist, das ist
für Rußland wohlfundierte, bittere Notwendigkeit.
Wollte man beim Kolonialbild bleiben, so ließe sich mit leich­
ter Paradoxierung sagen, daß Rußland eine inverse Kolonisa­
tionspolitik betreibt, ja betreiben muß: es annektiert indu­
strielle Kolonisierungszentren zu einem bereits vorhandenen,
doch noch nicht bestellten Kolonialmarkt, freilich ohne jenen
Zentren irgendwelche Kolonialprofite zuzugestehen. Doch
nicht um eine paradoxe Metapher geht es da, und auch nicht um
die Paradoxie eines Heiligen Deutschen Reiches Russischer
Nation, sondern um einen recht nüchternen Inhalt dieser inver­
sen Kolonisierung: die russische Wirtschaft wird genau so ex­
tensiv betrieben wie der Kolonialkapitalismus extensiv betrie­
ben worden ist.
M. a. W., im 19. Jahrhundert war das nahezu ausschließlich
agrikultural orientierte Rußland, dieses Bauernland mit seinem
starken Geburtenüberschuß, mit seinen riesigen Strecken un­
bebauten Bodens, mit seinen unausgenützten Naturschätzen,
aber auch mit seiner überalterten dominalen Feudalstruktur
sozusagen kolonialreif geworden, ohne im eigentlichen Sinn
kolonisiert worden zu sein. Es war Frontierland, aber eines,
dessen Frontier sich kaum vorwärtsbewegte. Und sie konnte
sich nicht vorwärtsbewegen, weil das industrielle Kolonisa­
tionszentrum fehlte. Es fehlte daher auch die für den Extensiv­
kapitalismus charakteristische Doppelschichtung der Produk­
tion, und dies umsomehr als die Oberklasse ihre Luxusbedürf­
nisse vornehmlich aus Importen befriedigte und daher in ihrer
Zivilisation westlich-internationalistischen Charakter ange­
nommen hatte. Nur sehr allmählich, viel zu allmählich für die
Erfordernisse des Riesenreiches entwickelten sich mithilfe
englischer Investierungen und französischer Anleihen Indu­
striezentren um Moskau und in Polen (hier überwiegend unter
jüdischer Initiative), und wo immer das geschah, da war der ex­
tensive Kapitalismus voll am Werke: gefördert vom gesicherten
Absatz, den die Frontier bot, wurden ohne viel Qualitätsdiffe­
renzierungen en bloc Massengüter erzeugt, und begünstigt von
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Konkurrenzlosigkeit, begünstigt von billigster Arbeitskraft
wurden ungeheure Profite erzielt; wenn irgendwo, so konnte
hier das extensivwirtschaftliche Grundprinzip, das Prinzip
höchsterreichbarer Maximalproduktion zu uneingeschränkter
Anwendung gelangen.
Der Bolschewismus hatte diese Wirtschaftsstruktur bloß zu
übernehmen und auszubauen. Er fand jene Voraussetzungen
vor, die Marx im Frühindustrialismus gefunden hatte, und er
durfte daher - das war mit einer der Gründe für die von Lenin
durchschaute Möglichkeit einer »Überspringung« der bürger­
lichen Revolution gewesen - sich glatt an die Marxsche Linie
halten und ohne irgendwelche strukturelle Abänderungen die
vorhandene kapitalistische Form in die kommunistische über­
führen. Die Wirtschaft durfte nicht nur, sie mußte extensiv wei­
terbetrieben werden; das kommunistische Produktionspro­
gramm brauchte sich lediglich auf eine Erweiterung und
Vervielfältigung der industriellen Kolonisationszentren kon­
zentrieren, und da diese nun der Profite entblößt worden wa­
ren, d. h. da der enge Kreis der kapitalistischen Wirtschaftsan­
gehörigen nun zur kommunistischen Allgemeinheit ausgedehnt
wurde, bedeutete in einfachster Rechnung Maximalproduktion
zugleich auch Maximalwohlstand für die Gesamtheit. Und fast
ist es, als könnte Kommunismus überhaupt nur im Extensiven
verwirklicht werden.
Denn die Identität von Gesellschaft und Wirtschaft - und
diese Identität ist die erste Vorbedingung allen Kommunismus’
- wird vor allem dort unabweisliches, ja geradezu natürliches
Bedürfnis, wo die Wirtschaft nicht mehr imstande ist, einfachste
Lebensnotwendigkeiten in zureichendem Maße zu decken;
wenn z. B. im Krieg die Hauptproduktionskraft auf außerwirt­
schaftliche Zwecke gerichtet wird und infolgedessen das zivile
Leben mit einer Art »Rumpfwirtschaft« das Auslangen zu fin­
den hat, so müssen die verbleibenden knappen Produktionsre­
ste kommunistisch aufgeteilt werden, damit die Wirtschaft
halbwegs noch in Gang gehalten werden kann. So war es 1918
in Rußland, und so ist es nicht nur dort, sondern auch in einem
großen Teil Europas heute noch immer der Fall. Und wenn der
dritte Weltkrieg ausgebrochen sein wird, so wird es für den gan­
zen bewohnten Erdkreis der Fall sein. Der Krieg wird der Welt­
wirtschaft einen so starken »Initialschock« versetzt haben, daß
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es wohl kaum eines eigenen Revolutionswillens mehr bedarf,
um soziale Gerechtigkeit zu etablieren; sie wird ohne besonde­
res Zutun vonseiten der Gesellschaft als pure Wirtschaftsnot­
wendigkeit eintreten. Indes, selbst in einer solchen Mangel­
wirtschaft, selbst in solchem Kriegssozialismus (- seine erste
Konkretisierung durch Rathenau wurde nicht umsonst von Le­
nin als vorbildlich befunden -), selbst hier ist noch der Exten­
sivcharakter des sozialistischen Wirtschaftens klar zu erkennen;
der Grundzug bleibt das Streben nach Maximalproduktion, be­
sonders da sie hier aus einem Minimum an Rohmaterialien her­
ausgeholt zu werden hat, und wenn es auch ein sozusagen
verkümmerter Extensivismus ist, er enthält alle Keime
zur Wiederentfaltung in einem künftigen Abundanz-Sozialis-
mus.
Der Abundanz-Sozialismus hätte, marxistischer Theorie ge­
mäß, die endgültige Verschmelzung von Wirtschaft und Gesell­
schaft zu zeitigen. Was die Gesellschaft im Kapitalismus zum
Schutz des Menschen als solchen geleistet hat und leistet, diese
rudimentäre Obsorge für den Wirtschaftsausgeschalteten, für
das noch nicht wirtschaftende Kind und den nicht mehr wirt­
schaftenden Erwachsenen, das wird, kann und muß sie in Ge­
meinschaft und in Einheit mit der Wirtschaft zu einer vollen
Chartader ökonomischen Menschenrechte ausbauen, um eben
damit die Menschenrechte überhaupt erst richtig zu festigen.
Denn im Mittelpunkt einer solchen Charta hat das Recht auf
Arbeit, hat das Recht auf ein solides Lebensminimum und nicht
der vage Anspruch auf eine pursuit of happiness zu stehen. Die
Wirtschaft wird also jedermann täglich einen Laib Brot, jähr­
lich einen Anzug und ein Paar Stiefel, dauernd aber eine ge­
heizte und beleuchtete Wohnungsgelegenheit kostenfrei beizu­
stellen haben, genau so wie sie jetzt schon mancherlei
kostspielige Investierungen, wie z. B. Wasserwerke oder Stra­
ßen und Brücken kosten- und zollfrei der allgemeinen Benüt­
zung übergeben hat. Die Grenze, an der mit derlei Zuweisun­
gen haltgemacht werden wird - vielleicht mögen einmal noch
Glasperlen kostenfrei nach Afrika geschickt werden -, hängt
ausschließlich von der jeweiligen Produktionskapazität der
Wirtschaft und in manchen Artikeln von der physiologischen
Konsumptionskapazität des Menschen und seines Magens ab.
Keinesfalls aber wird durch das Moment der Kostenfreiheit der
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Extensivcharakter der Wirtschaft irgendwie geändert; die Um­
stülpung des Profites ändert nicht ihre Struktur.
Kurzum, die kommunistische Wirtschaftsstruktur ist die ge­
radlinige Fortsetzung der extensivkapitalistischen und hat de­
ren Wirtschaftsideal, nämlich das der absatzgesicherten Maxi­
malproduktion, unverändert übernommen; sie ist also gleich
dem Extensivkapitalismus eine Produzenten-, keine Konsu­
mentenwirtschaft: selbst wo sie den Konsumenten gratis belie­
fert, richtet sie sich weit weniger nach seinen als nach den Pro­
duktionsbedürfnissen, ja wird u. U. sogar bereit sein müssen,
ihm seinen Güteranteil aufzuoktroyieren. Unwohlwollende Be­
urteiler werden darin ein Versklavungssymptom sehen, und die
Lebenssicherheit, die der Kommunismus dem Menschen ver­
mittels Durchsetzung der ökonomischen Menschenrechte ver­
schaffen will, als eine Sklavensicherheit bezeichnen, während
eine wohlwollendere Betrachtungsweise eben diese Sicher­
heitserringung als die Befreiungstat auffassen wird, auf die alle
Hoffnung zur Erreichung eines »realistischen Humanismus« im
Sinne Engels’ gesetzt werden muß. Vermutlich ist beides rich­
tig. Denn die Extensivwirtschaft wird ihre Versklavungsten­
denzen wohl niemals, also auch nicht unter sozialistischer Diri-
gierung völlig verlieren, und gerade die Vernachlässigung der
Konsumenteneigenschaft des Menschen, gerade die Hervor­
kehrung seiner Produzentenfunktion kann ihn innerhalb eines
kommunistischen Systems, das den Bürokratismus eines all­
mächtigen Arbeitgeberstaates totalitär über ihn setzt, wieder zu
jenem Robot-Sklaven degradieren, der er im kolonialen Ex­
tensivkapitalismus gewesen ist. Manches Sowjetische scheint in
diese Richtung zu deuten. Und doch und trotzalledem: der
Aufruf zum Menschentum, mit dem der Sozialismus in die Welt
getreten ist, läßt sich von niemandem und nicht einmal vom
Sozialismus selber jemals mehr zum Schweigen bringen. Die
russische Wirtschaft steht ihrem Werdegang nach dem Extensi­
vismus so nahe, daß es anderwärts dem Sozialismus möglicher­
weise noch glücken könnte, seine Extensiv-Schlacken abzu­
streifen.

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Der moderne Kapitalismus ist aus Gründen seiner
Selbstbehauptung genötigt, sich dem intensivwirtschaftlichen
Wohlstandsprinzip unterzuordnen
Der Sozialismus wird vielleicht einmal - doch vielleicht auch
überhaupt nie - den Weg zu intensivwirtschaftlichen Formen
finden; der Kapitalismus scheint ihn bereits gefunden zu haben.
Diese neue Form des Kapitalismus ist in erster Linie durch die
wirtschaftliche Emanzipation der ehemaligen Kolonial- und
Frontierländer bestimmt; der amerikanische Westen hat seinen
Frontiercharakter abgestreift, ebenso Australien, und desglei­
chen haben Nord- und Südafrika sowie die volkreichen Gebiete
Vorder- und Südasiens nunmehr als kolonial-emanzipiert zu
gelten. M. a. W.: gleichgültig, ob die damit entstandenen und
neuentstehenden, emanzipierten Wirtschaftseinheiten autark
sind oder nicht - bloß die größten sind es - und gleichgültig, wie
weit sie im Güteraustausch voneinander abhängen, die Exporte
von einem Land ins andere haben mit wenigen Ausnahmen ih­
ren Kolonialcharakter eingebüßt, d. h. sie können weder in
Gold noch in Austauschwaren wesentliche Überpreise erzielen.
Ob für Auslands- oder Inlandsbedarf, die Preisbildung geht -
und darin bekundet sich eben das Dahinschwinden des Wirt­
schaftsgefälles - auf ziemlich gleichem Niveau vor sich, ja oft­
mals kommt es vor, daß der Exportpreis besondere Reduktio­
nen erfordert. Setzt sich dieser Prozeß der gegenseitigen
Marktangleichungen fort, so wird es in Kürze über alle Zoll­
mauern und Entfernungen (die zudem immer leichter zu be­
wältigen sein werden), über alle Absperrungen und Valutadif­
ferenzen hinweg nur noch Weltpreise geben; daß sich im Zuge
einer solchen Entwicklung die psychologischen Bewertungsdif­
ferenzen - wie Glasperlen-Elfenbein usw. -, die so viel zur Bil­
dung von Wirtschaftsgefällen beigetragen haben, zunehmend
verwischen werden, versteht sich von selber. One World würde
auf diese Weise eine Funktion des Weltpreisniveaus darstellen,
die Welt aber einen einzigen Binnenmarkt, der trotz der ver­
schiedenartigen Verteilung der Produktionsstätten eine ein­
heitliche Marktstruktur aufwiese. Die kolonialistische Unter­
scheidung zwischen Produktions- und Konsummärkten,
Produktions- und Konsumbevölkerungen wird hinfällig; wo
immer und wie immer der Mensch Güter produziert, er ist auch,
ob nun direkt oder indirekt, deren Verbraucher.
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Es ist ein Sachverhalt, der nicht als solcher, sondern mit seinen
Symptomen ins allgemeine Bewußtsein dringt und das Verhal­
ten der Wirtschaft bestimmt. Das hervorstechendste dieser
Symptome ist das der Konkurrenz.
Im Extensivkapitalismus war das Phänomen der Konkurrenz
beinahe vernachlässigbar. Die eigentliche Konkurrenz spielte
sich im imperialistischen Wettlauf der Staaten ab, doch war die­
ser für einen von ihnen - das viktorianische England stand da­
bei an der Spitze - günstig entschieden, so war in dem solcherart
geschaffenen Wirtschaftsgebiet fast für jeden Produzenten Ma­
ximalproduktion und Maximalprofit ein erreichbares Doppel­
ziel. Unter solchen Verhältnissen konnte der private Konkur­
renzkampf, so weit er überhaupt sich bemerkbar machte - und
wiederum stand England dabei an der Spitze - , faire und kolle­
giale Formen annehmen. Die außerordentlich hohe private
Moral, die sich hieraus ergibt - und nochmals muß England
hiezu genannt werden -, ist demnach das Produkt einer kollek­
tiven Unmoral, von der das Individuum im allgemeinen nichts
weiß. Wer in solcher Tradition aufgewachsen ist, wird es kaum
begreifen, daß er seinen Berufskollegen unterbieten und die ei­
gene Ware zum Nachteil der seinen anpreisen soll. Und doch
sieht er sich zu seinem Entsetzen und zu seiner Empörung
plötzlich dazu gezwungen. Denn plötzlich zeigt sich das ganze
System der gediegen-ernsten Arbeit und der wohlwollenden
Geschäftsfreundschaften, in das man hineingeboren war, als
nicht mehr funktionsfähig. Denn plötzlich zeigt sich der Markt
als nicht mehr aufnahmewillig. Denn es ist der Augenblick ge­
kommen, in dem das kolonisierende Land seine Monopolstel­
lung zu verlieren beginnt und die einstigen Kolonialgebiete sich
zu selbständigen Wirtschaftseinheiten zu entwickeln beginnen.
Und es ist auch der Augenblick, in dem der Konsument, der
sich bisher seine Bedürfnisse vom Produzenten hatte diktieren
lassen müssen - in England geschah dies freilich vielfach in ei­
ner patriarchalisch-konservativen und durchaus wohlmeinen­
den Art, nicht zuletzt hinsichtlich der Warenqualitäten - , seine
eigenen Wünsche erhebt und unabweislich nach Berücksichti­
gung verlangt. Aus der Produzentenwirtschaft der monopoli­
stischen Extensivperiode wird eine Konsumentenwirtschaft
unter Konkurrenzdruck. Hiebei drängen sich dem Produzenten
drei Hauptbedingungen auf:
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1) Warenverbilligung und Unterbietung,
2) Geschmacks- und Qualitätsvervielfältigung,
3) Anpreisung und Markterforschung.
In solch konstanter Wachsamkeit gegenüber den Wünschen des
Marktes und in solch konstanter Anpassung an sie, kurzum in
der konstanten Marktbearbeitung liegt das Wesen der Inten­
sivwirtschaft. Die ständig vorrückende Intensivierung des
Marktes bildet den Ersatz für die vorrückende Frontier des Ex­
tensivsystems.
Ein vierter Punkt der Marktpräparierung, nicht weniger wich­
tig als die drei anderen, wird nur von wenigen Unternehmen
unmittelbar erkannt: es ist die Notwendigkeit zur Steigerung
des Lohnniveaus, auf daß der Markt, in dem das Proletariat
nunmehr eine wesentliche, ja sogar die wesentliche Konsumen­
tenfunktion zu erfüllen hat, mit erhöhter Kaufkraft ausgestattet
werde.
Doch es kann auch gar nicht verlangt werden, daß der Einzel­
unternehmer solche Notwendigkeit erkenne. Die Intensivwirt­
schaft tritt in der Form von scharfen Anforderungen an ihn
heran, u. z. nicht nur beim erstmaligen Versagen der alten Ex­
tensivmethoden, sondern auch wenn die Intensivmethoden be­
reits akzeptiert worden sind. Warenverbilligungen, Qualitäts­
verbesserungen und Propaganda, all das sind Maßnahmen, die
das Budget dauernd belasten. Innerhalb der Extensivwirtschaft
war es ohneweiters möglich - und England ist dafür das Beispiel
par excellence - mit einem überalterten Maschinenpark die
Produktion konservativ weiterzuführen. Warenverbilligungen
hingegen können bloß, sollen sie sich nicht ruinös auswirken,
mit einer ganz modernen Fabriksequipierung durchgeführt
werden, und jede der im raschesten Tempo aufeinanderfolgen­
den technischen Neuerungen, durch welche weitere Warenver­
billigungen zu erzielen sind, aber auch schon jede neue Ver­
kaufssaison mit ihrem Zwang zu Qualitätsumstellungen
erheischt frische Investierungen. Rechnet die Extensivwirt­
schaft mit Amortisationszeiten von Dezennien, so sind diese zu
ganz wenigen Jahren, fast möchte man sagen Monaten gekürzt
worden, und zu der maßlos erhöhten Amortisationsquote tre-
tendie früher unbekannten Propagandaspesen. Es ist keinem Un­
ternehmer zu verargen, daß er unter diesen Umständen jeden
Gedanken an eine Erhöhung der Lohnquote von sich abweist.
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Aber selbst wenn er wüßte, daß eine Steigerung des Lohnni­
veaus den Absatzmarkt generell verbessern würde, er ver­
möchte nicht viel damit anzufangen. Die Intensivwirtschaft
wird unter dem Druck von Absatzkrisen geboren, und unum­
stößlich krisenbegleitet bleibt sie auf ihrem weiteren Lebens­
weg. Das Extensivsystem war im großen und ganzen bloß von
den »urtümlichen« Krisenursachen, nämlich Krieg, Mißernte
und Pestilenz affiziert (die einzigen, die auch dem Kommunis­
mus dank seiner Extensitivität etwas anhaben können), denen
sich schließlich auch der - bereits der Antike bekannte - Wäh­
rungsverfall durch Goldfunde zugesellte. Dem Extensivsystem
war es Vorbehalten, die sogenannt kapitalistischen Krisen zur
Blüte zu bringen. Man hat vielerlei Ursachen für diese chroni­
sche Krankheit des Kapitalismus festgestellt, so die anarchi­
schen Uberindustrialisierungen in einzelnen Erzeugungszwei­
gen, die Lagerüberfüllungen bei Preissteigerungen, die
unvermeidliche, immer nur schockweis ausgleichbare Diskre­
panz zwischen Geldbedarf und Bankrate, etc. etc. Doch mehr
und mehr wird es deutlich, wie dies alles von einem verursa­
chenden Grundübel überschattet wird, nämlich dem der un-
amortisierbaren Investitionen, die der Intensivwirtschaft von
der unzügelbar fortwuchernden Technik auferlegt werden. Und
daß die Spesen, die einem Unternehmer oder sonst einem
Wirtschaftssegment aus Amortisationsbelastungen erwachsen,
nicht bloße Buchhaltungs-Chimären sind, zeigt sich, wenn der
Grenzfall einer sofortigen Veraltung von Investierungen ein-
tritt, so daß diese eigentlich vom Investitions- aufs Spesenkonto
übertragen werden müßten; gewiß, alles Menschendasein ver­
ursacht Spesen, notwendige wie überflüssige, und alles in der
Wirtschaft ist spesenumwittert, doch ein Spesenaufwand, der
die im Augenblick vorhandene Leistungsfähigkeit übersteigt,
ist eine Anleihe an künftige Leistungen und wird zumeist durch
künftige Entbehrungen bezahlt werden müssen; das Nieder­
brennen von Häusern bei Heranrücken des Feindes gehört zu
den notwendigen Kriegsspesen, doch hinterher müssen sie wie­
der aufgebaut werden. Je mehr sich die Wirtschaft im Laufe ih­
rer nun hundertjährigen Technisierung intensivierte, desto
mehr Kapitalien mußte sie aufs Spesenkonto schreiben, und
desto schärfer wurden die Aufholungsschocks; sie haben mit
den Eisenbahnkrisen des 19. Jahrhunderts begonnen, und sie
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haben in Tempo und Volumen zuletzt das Ausmaß eines wirt­
schaftlichen Weltunterganges angenommen. Die »künstliche«
Frontier-Vorrückung, die der Mensch mit seiner Technik
inauguriert hat, ist für ihn zu einer Katastrophe schier naturhaf­
ten Aussehens geworden, und daß er sich da getrieben fühlt,
dieser die Gegen-Naturkraft der Revolution entgegenzuwer­
fen, ist nicht verwunderlich. Die Wirtschaftsintensivierung hat
ja selber den Katastrophenzustand hervorgebracht, und wenn
auch ihre letzte Bedingung, d. h. die einer generellen Erhöhung
des Lohnniveaus nur unzureichend erfüllt ist, es ist ein Heilmit­
tel, an dessen Wirkungsstärke sich bereits zweifeln läßt. Kei­
nesfalls kann es von der Einzelunternehmung angewandt wer­
den; sie mag zwar manchmal imstande sein, sich während einer
Krise vermittels Lohnkürzungen über Wasser zu halten, sicher­
lich aber nicht vermittels Lohnsteigerungen.
Es ist klar, daß die Einzelunternehmung den Gefahren, die aus
der neuen, der technischen Frontiervorrückung entsprungen
sind, nicht gewachsen ist. Auch der Einzelsettler war im allge­
meinen den Gefahren der geographischen Frontier, an deren
Vorrückung er teilnahm, nicht gewachsen; er mußte durch die
kolonisierende Staatsmacht gedeckt werden. Der Einzelunter­
nehmung ist es schon schwierig, die Last der kaum amortisier­
baren technischen Erneuerungen und Umstellungen zu tragen
(und außerdem noch Marktpropaganda zu treiben), und noch
viel schwieriger, ja unmöglich ist es ihr, Erfindungen aufzukau­
fen, sie zu erproben, zu entwickeln - oder aber auch niederzu­
schlagen-wie dies zur Bestehung des Konkurrenzkampfes und
gar in Krisenzeiten unerläßlich wäre. Nur Mammutbetriebe
sind hiefür kapitalistisch stark genug, und so ist an die Stelle
des imperialistischen Staatenwettbewerbes um koloniale Na­
turschätze ein betriebs-imperialistischer getreten, in dem
Großkonzerne, Trusts und Kartelle einander den Rang im Er­
werb und Besitz technischer Vervollkommnungen abzulaufen
trachten, um solcherart mit Patenten und Erzeugungsmethoden
den Markt zu beherrschen. Doch kann hiedurch wirklich - und
das ist ja der idyllische Wunschtraum darin - der alte Kolonial­
monopolismus mit seiner krisenfreien Extensivität wiederher­
gestellt werden?
Es ist der Traum von der unbeschränkten Maximalproduktion
in Massengütern mit gesichertem Absatz, ein Traum, der bloß
333

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dann in einem Binnengebiet zu verwirklichen ist, wenn dieses,
gleich Rußland, an Unterindustrialisierung leidet. Und eben an
den Krisen ist es sichtbar, daß der Traum sich nicht hatte ver­
wirklichen lassen. M. a. W., in einem hochindustrialisierten
Binnengebiet gibt es kaum einen einzigen Artikel, dessen Ab­
satz nicht schließlich seine absolute Saturierungsgrenze er­
reicht, genau so wie die Lebensmittelproduktion ihre absolute
Grenze in der physiologischen Aufnahmegrenze, in der Kapa­
zität der menschlichen Magen hat. Und hier setzt die Regel der
Qualitätsvervielfältigung ein. Eine Autofabrik z. B., die im Ex­
tensivsystem jährlich 10.000 Volkswagen ä $ 800,- zu liefern
imstande wäre, aber sie nicht anzubringen vermag, würde nach
Umstellung auf Intensivität bloß die Hälfte hievon erzeugen,
diese jedoch durch 1000 Luxuswagen ä $ 2000,- und 500 ä $
4000,- ergänzen, also zur gleichen Umsatzziffer, vielleicht so­
gar mit erhöhtem Profit gelangen, obwohl die Lohnquote in­
folge Einstellung hochqualifizierter Spezialisten wahrscheinlich
steigen würde. Das ist ein übersimplifiziertes Beispiel, doch im
Prinzip wird wohl überall ähnliches vonstatten gehen, wo Mit­
tel- und Fertigfabrikate, sei es in Metall, Glas, Leder, Textilien,
Plastics oder sonstwie, erzeugt werden. Denn Intensivwirt­
schaft kann bloß bestehen, wenn Massen- und Luxusfabrika­
tion, die im Extensiven wenig miteinander zu tun hatten, zur
Annäherung gebracht werden und sich gegenseitig unterstüt­
zen. Im Gegensatz zur Umstellung auf kommunistische Wirt­
schaft, welche ungeachtet des schweren Initialschockes, den sie
dem Gesamtwohlstand während der Revolution zu versetzen
bemüßigt ist, alles Gewicht auf die extensive Massenproduktion
legt und durchaus bereit ist, die Luxusgüter samt und sonders
beiseite zu schieben, kommt hier die alte Theorie von der wohl­
standshebenden Befruchtungsfunktion des Reichtums wieder
zur Geltung; Intensivwirtschaft übernimmt die bestehenden
Einkommensstaffelungen, um sie für den Gesamtwohlstand
fruchtbar zu machen. Freilich werden hiedurch an den Einzel­
betrieb Forderungen gestellt, um die er sich im Extensiven nie­
mals gekümmert hätte: er hat seine optimalen Erzeugungs­
kombinationen zu kennen, und das ist nicht nur eine technische,
sondern auch eine kommerzielle Aufgabe, da sie vom Fabriks­
standort, den Regionalbedürfnissen, der Frachtlage und vielen
anderen Imponderabilien abhängt, er muß stets gewärtig, willig
334

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und fähig sein, die Fabriksorganisation auf andere Erzeugungs­
kombinationen umzustellen, wenn solche der Marktlage besser
entsprechen, kurzum, er hat sich deren Dynamik mit nicht ge­
ringerer dynamischer Elastizität wachsam anzuschmiegen. Ge­
lingt dies alles, so wird nicht nur für den Einzelbetrieb, sondern
eben auch für die Gesamtwirtschaft eine Optimalproduktion
erreicht, und diese ist es, die im Intensiven an die Stelle der ex­
tensiven Maximalproduktion zu treten hat.
Es ist insbesondere die krisengeborene, krisenbekämpfende
»New Deal«-Schule, die diesen Weg zur intensivistischen Opti­
malproduktion zu beschreiten sucht, und das nämliche gilt von
den englischen Labour-Bestrebungen, wie sie von Beveridge9
vertreten werden. Die einen wie die anderen werden dafür als
Kommunisten betrachtet, obwohl ihre Theorien nur im Privat­
wirtschaftlichen zu verwirklichen sind. Allerdings bedarf es
hiezu - und das ist eben das rote Tuch für allen Anti-Sozialis­
mus-gewisser Staatseingriffe in die Wirtschaft. Es ist durchaus
bezeichnend, daß nahezu gleichzeitig mit dem Einsetzen der
Intensivwirtschaft ihr auch schon die Anti-Trust-Gesetzgebung
hatte auferlegt werden müssen. Und in ihr bereits werden die
Grundzüge der weiteren Entwicklung einschließlich des »New
Deal« ersichtlich: Trusts entstehen aus der Tendenz zur Rück­
kehr in den Extensivkapitalismus, und da sie damit den Kreis
der Wirtschaftsangehörigen wieder zu verkleinern trachten,
bedeuten sie Krisengefahr; mit ihrer Niederhaltung beginnt die
Reihe jener Bestrebungen, die - nicht etwa zum Schutz des
»Menschen« durch die »Gesellschaft«, wie es im Kommunis­
mus geschieht, sondern hier im Rahmen der »reinen Wirt­
schaft«, also zum Schutz des Konsumenten und seiner Kauf­
kraft-den Kreis der Wirtschaftsangehörigen ständig erweitern
will, so daß in ihm Beschäftigung für jedermann (jobs for all)
geschaffen werden kann. Mit der hiedurch der extensivistischen
Maximalproduktion entgegengestellten Optimalproduktion
drängt das Prinzip des »Gesamtwohlstandes« zur Verwirkli­
chung, und weil es das der »reinen Wirtschaft« ist, bleibt die
privatwirtschaftliche Struktur erhalten, unbeschadet der staat­
lichen Regulierungen, denen sie sich in zunehmendem Maße zu
unterwerfen haben wird.
Der Staat ist seit Jahrhunderten Teilhaber der kapitalistischen
Wirtschaft, u. z. sowohl als Konsument wie als Produzent, der
335

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mancherlei Dienste (so Postbeförderungen) und in vielen Län­
dern auch Waren (Salzmonopol, Tabakmonopol) verkauft, au­
ßerdem aber Geldeigentümer, Geldbesitzer, Geldverleiher ist.
Im Frühkapitalismus hat die Privatwirtschaft den Unterneh­
mer-Staat gewissermaßen kollegial behandelt, weil sie [den]
Konkurrenzkampf überhaupt vernachlässigte, doch späterhin
mußte er seine Position —der Kampf Jacksons10 ist eines der
sinnfälligsten Beispiele hiefür - Schritt um Schritt erobern. Daß
es niemals Vollsiege waren, daß der Staat auf den von ihm er­
rungenen Positionen hinterher von der angeblich geschlagenen
Kapitalsmacht wieder ausgenützt wurde, versteht sich nur von
selber; Halbsiege sind trotzdem besser als gar keine, und in der
Wirtschaft ist es wie in der Natur: es wird trotz allen Aufwandes
immer nur das strikt Notwendige erreicht. Mit ebensolcher
Notwendigkeit, wennzwar auch unter geringeren Kämpfen, hat
der Staat seit jeher die schwerst oder überhaupt nicht verzins-
und amortisierbaren Investitionen der Gemeinschaft, angefan­
gen von den Gerichtsgebäuden und Gefängnissen bis zur
Kriegsausrüstung und Kriegsführung auf sich zu nehmen ge­
habt, und nicht zuletzt darum hat er in Zeiten von »Amortisa­
tionskrisen« - die freilich unterbrechungslos geworden sind -
die Wirtschaftsführung zu übernehmen: der (außerkommuni­
stische) Staat ist zwar mit der Wirtschaft nicht identisch, wohl
aber ist er berufen, sie zu repräsentieren und in Evidenz zu hal­
ten; ist also auch berufen, jene schweramortisierbaren Not­
standsarbeiten auszuwählen, deren sozusagen unsichtbare
Rentabilität (wie die von Straßen) der weiterwährenden Wirt­
schaft zugute kommen, zugleich aber den Arbeitslosenstoß der
jeweiligen Krise aufzufangen haben.
Und damit gleitet auch das für die Intensivwirtschaft so wich­
tige Problem der Lohnniveau-Erhöhung, zu dem das Einzelun­
ternehmen überhaupt keinen Zugang hat, in die Hände des
Staates. An und für sich würde es auch am natürlichsten er­
scheinen, wenn der Lohnindex - nicht anders wie die Bankrate
- von einer nationalen Zentralstelle unter Staatspatronanz re­
guliert und bestimmt werden würde. Doch das ist eine Maß­
nahme, die nicht nur bei Unternehmer- sondern auch bei der
Arbeiterschaft scharfen Widerwillen und mißtrauensgenährten
Widerstand zu erwarten hätte, da beide ihre Freiheit zu direkter
Unterhandlung, zu Aussperrung und Streik eifersüchtig hoch­
336

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halten und außerdem geneigt sind, den Staat als Anwalt der
Gegenseite zu beargwöhnen. Zumeist bloß zögernd, ja gera­
dezu verstohlen über den Umweg von Sozialgesetzen, deren
Gutheißung aus anderen (gesellschaftlichen) Gefühlsschichten
herrührt, vermag sich der Staat an das Problem heranzutasten,
obwohl ihm die Behandlungsbefugnis hiezu ganz unzweideutig
zusteht ; nicht einmal der Minimallohn, obwohl oder weil er das
Sprungbrett für die künftige Ordnung des Gesamtkomplexes
sein könnte, ließ sich in Amerika bisher durchsetzen. Gewiß,
England wird, so lange es von Labour regiert wird, in dieser
Frage vorangehen. Zu einer Weltregelung aber wird es wohl
erst kommen, bis unter dem Druck der nächsten oder über­
nächsten scharfen Depression und Arbeitslosigkeit Amerika
zum »New-Deal«-Kurs zurückgefunden und seiner kraft der
Notstandsarbeiten wieder zum größten Arbeitgeber des Landes
gewordenen Regierung aufs neue die Unterstützung zu einem
entscheidenden Vorstoß gegeben haben wird.
Zwischen dem Extensivkapitalismus und dem Extensivkom­
munismus, zwischen diesen beiden Produzentenwirtschaften
liegt engpaßgleich das schmale Gebiet der Intensivwirtschaft
und könnte jenes sein, auf dem die Wirtschaft selber den Men­
schen vor Versklavung schützt: in dem Maße, in dem Sklaverei
ein reines Wirtschaftsphänomen ist - und in einem weiten Maße
ist sie es - hat eine Konsumentenwirtschaft keinen Platz für
Sklaverei; ein umworbener Kunde ist kein Sklave. Und die Kri­
senfurcht, die zur Entstehung und Entwicklung der intensiv­
wirtschaftlichen Form geführt hat, enthält nicht nur eine imme-
diate, sondern wahrscheinlich auch sehr haltbare Sklavenbe­
freiung, haltbarer vielleicht sogar als eine, die auf der
Deklaration ökonomischer Menschenrechte basiert ist und da­
her warten muß, bis aus solchem Wort auch wirklich die Tat
werde.

1 476: Ende Westroms.


2 Dies Committee: benannt nach Martin Dies, Jr. (geb. 1901), amerikanischer
Kongreßabgeordneter, erster Chairman (1938-1945) des House Committee
on Un-American Activities (Dies Committee). Das Dies Committee be­
hauptete u. a., daß das New Deal Programm kommunistischer Provenienz sei.

337

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3 Jalta-Konferenz (4.-11. 2. 1945) zwischen Stalin, Roosevelt und Churchill.
4 Gemeint ist die »Iron Curtain«-Rede, die Churchill am 5. 3. 1946 im West-
minster College, Fulton/Missouri (USA) hielt, und die mit den Anstoß zur
Gründung der NATO und des Europa-Rates gab. Vgl. W in sto n S. C hurchill.
H is C o m p lete Speeches 1 8 9 7 -1 9 6 3 . V ol. V II 1 9 4 3 -1 9 4 9 , edited by Robert
Rhodes James (New York, London, 1974), »The Sinews of Peace«, S. 7285
bis 7293.
5 Im Zweiten Weltkrieg wurden 1940 um Dünkirchen (Frankreich) die bri­
tisch-französischen Nordarmeen nach dem deutschen Durchbruch bei Abbe-
ville abgeschnitten.
6 George Marshall (1880-1959) versuchte 1945-1946 als amerikanischer Son­
derbotschafter in China zwischen Tschiang Kai-Schek und den Kommunisten
zu vermitteln.
7 Britisch-chinesischer »Opiumkrieg« von 1840-1842.
8 Matthew C. Perry (1794-1858), amerikanischer Seeoffizier. Er erreichte als
Commodore eines Geschwaders im Vertrag von Kanagawa (31. 3. 1854) die
Zulassung amerikanischer Schiffe in den Häfen Simoda und Hakodate, wo­
durch die »Öffnung« Japans für den westlichen Handel nach zwei Jahrhun­
derten der Isolierung eingeleitet wurde.
9 William H. Beveridge (1879-1963), britischer Nationalökonom und Statisti­
ker. Im amtlichen Auftrag arbeitete er 1942 eine Denkschrift über Sozialver­
sicherung und verwandte Gebiete aus (Report on Social Insurance and Allied
Services = Beveridge Plan). Auf ihr fußt die Sozialpolitik Großbritanniens
(British National Health Service). Vgl. sein Buch F ull E m p lo y m e n t in a Free
Society. (1944).
10 Andrew Jackson (1767-1845), siebter Präsident der USA (1828-1836). Er
verfolgte eine gegen die Finanzmacht der Bank of the United States gerichtete
Politik (Entzug der Regierungsdepositen, Währungsverordnung von 1836).

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Strategischer Imperialismus

1. Der Aufbau des europäischen Gleichgewichtes

Die neuen Vernichtungsinstrumente des Menschen sind durch­


aus geeignet, die bisherigen Staatsstrukturen von Grund auf zu
ändern. Das kann über Nacht geschehen, und man mag sich so­
gar wundern, daß es noch nicht geschehen ist.
Andererseits freilich haben menschliche Institutionen und
unter ihnen wahrlich nicht zuletzt die des Staates ein schier er­
staunliches Beharrungsvermögen: schon daß der Staat seine ei­
gentlich recht dürftige, eigentlich urzeitliche Machtideologie
fast entwicklungslos durch [die] ganze Geschichte hindurch
beibehalten hat, ist erstaunlich genug.
Die Machtideologie wird aus verschiedenen Quellen gespeist,
und wenn auch die ökonomischen die am leichtesten verfolgba­
ren sind, sie sind nicht immer die stärksten. Wenn heute Kapi­
talismus und Kommunismus in eine kriegerische Auseinander­
setzung gerieten, die Ursache wäre nur zum geringsten die Gier
nach ökonomischen Vorteilen; die Ursache wäre vor allem
Furcht, nackte Furcht und nichts weiter.
Der staatlich-militärische Ausdruck für Furcht heißt Anstre­
bung ideal-strategischer Grenzen. Der Staat muß oder »will«
sich so weit ausdehnen, bis er seine idealen strategischen Gren­
zen erreicht, und wo diese nicht durch »natürliche« Barrieren
gegeben sind, da müssen sie so weit vorgetrieben werden, bis
sie das Herrschaftsgebiet eines jeden potentiellen Gegners um­
fassen; die »ideale« Grenze soll das Sicherheitsgefühl maxima­
ler Unangreifbarkeit verschaffen. Hätten die Vereinigten Staa­
ten nicht in rechtzeitiger Voraussicht ihre strategische
Abrundung besorgt, d. h. sich bis zum Golf von Mexico ausge­
dehnt, um solcherart die südliche Landgrenze aufs äußerste zu
verkürzen, sie wären strategisch unsaturiert geblieben und hät­
ten alle Beunruhigungen und alle Lasten einer solchen Lage zu
tragen gehabt. Und was in einem Kontinentalgroßraum nach
Art der Vereinigten Staaten gilt, das gilt erst recht in einem
Kleingebiet wie es Europa ist. Hier fällt der »natürliche« stra­
tegische Raum einfach mit Europa zusammen, zumindest mit
Zentraleuropa einschließlich des Mittelmeerbeckens. Nur den
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Römern ist es bisher gelungen, diese Gesamteinigung zustande
zu bringen, nur in der pax romana hat das europäische Sicher­
heitsbedürfnis bisher eine länger anhaltende Befriedigung ge­
funden, und immer wieder war es demzufolge das Bild eines
wiedererrichteten römischen Imperiums, das seit dem Mittelal­
ter den mannigfachen (aber im Grunde durchwegs strategi­
schen) Expansionsbestrebungen der kontinental-europäischen
Großstaaten vorschwebte, ja im letzten vorschweben mußte;
die imperialistische Staats-Tradition Kontinental-Europas
stammt vom römischen Imperium und ist gleich diesem strate­
gisch begründet.
Mag also auch der Glanz, der für die europäische Christenheit
von Rom und Byzanz ausstrahlte, selbst heute noch unver-
löschlich sein, mag er selbst heute noch - über alles Museale
hinaus - die kontinental-europäischen Staatstraditionen ent­
scheidend bestimmen, seine Weiterwirkung muß nicht unbe­
dingt auf ein mystisches Generationengedächtnis zurückge­
führt werden: seit 2000 Jahren bis zum heutigen Tag (allerdings
vielleicht nicht mehr bis zum morgigen) war der einstige rö­
mische Imperiumsraum der Inbegriff maximaler strategischer
Sicherheit für jeden europäischen Kontinentalstaat, und seit
mehr als 1000 Jahren bis zum heutigen Tag (und leider wohl
auch noch weit über den morgigen hinaus) war und ist die Wie­
dererrichtung des Imperiums das Um und Auf der politischen
Geschichte Europas.
Westrom bildete das politische Grundkonzept Karls des Gro­
ßen; das Heilige römische Reich, damals noch nicht deutscher
Nation, sondern übernational-europäisch, ebenso übernational
wie die katholische Kirche, das war der Friede, die wiederer­
richtete pax romana christiana, die alles Land von Gibraltar bis
zur Elbe aufs neu umfassen sollte. Es blieb das große europä­
ische Konzept für ein volles Jahrtausend und hatte trotzdem
unverwirklicht .zu bleiben, nachdem es durch die verhängnis­
volle Verduner Reichsteilung1zum Objekt der Zwietracht zwi­
schen den deutschen und französischen Ansprüchen, also zum
eigentlichen Anlaß ihrer fortab weltbestimmenden Feindschaft
gemacht worden war. Das »Heilige römische Reich deutscher
Nation« war ein Rumpfgebilde, auf dem unablässig die Geg­
nerschaft Frankreichs lastete, und das infolge dieser Ur­
sprungsbehinderung niemals - selbst nicht unter so günstigen
340

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Konstellationen wie sie zu Zeiten der Staufer und besonders
Karls V. bestanden batten - seine europäische Mission zu erfül­
len vermochte; es mußte zu der machtlosen Formalstaatlichkeit
herabsinken, als die es schließlich versandete.
Ostrom hingegen wurde das Konzept der russischen Herr­
scher, vor allem Peters des Großen, der ja überhaupt, ungeach­
tet der neunhundertjährigen Zeitdifferenz, mancherlei Ähn­
lichkeit mit dem westlichen Reichsgründer in Charakter,
politischer Haltung und politischer Zielsetzung besaß. Aber zu
der von ihm erträumten Zarenkrönung in Byzanz, dem Gegen­
stück zu den deutschen Kaiserkrönungen in Rom, ist es weder
für ihn noch für seine Erben je gekommen; die Kaiserfahrt zum
Goldenen Horn blieb ein Traum, und die Hagia Sophia ist heute
noch Moschee.
Vielleicht, ja sogar wahrscheinlich wären die russischen Ost­
rom-Pläne geglückt, wenn sich das Westreich tatsächlich noch
hätte so konsolidieren können, wie es eine Zeitlang unter
KarlV. den Anschein gehabt hatte: zwei Weltreiche, in denen
beiden die Sonne nicht untergeht, wären entstanden, ein katho­
lisches Westrom und ein orthodoxes Ostrom, sie beide zu Welt­
dimensionen erweitert, und wie in ihrer antiken Ursprungsform
hätten sie - vermutlich - friedlich nebeneinander bestehen
können. Aber am Widerstand Franz I.2, dem Frankreich seine
Selbstbehauptung verdankt, scheiterte die Abrundung des
Westreiches, und nicht viel später begann seine innere Auflö­
sung: die Protestantisierung des deutschen Nordens wirkte wie
eine zweite Reichsteilung, eine womöglich noch verhängnisvol­
lere als es die erste zu Verdun gewesen ist, denn ein Heilig Rö­
misch Reich mit breiten protestantischen Gebietsteilen wider­
sprach seiner eigenen Wesenheit. Wollten die Habsburger als
deutsche Kaiser am Reichsgedanken festhalten, so konnten sie
das nur im Wege der Gegenreformation tun, und als sie damit
scheiterten, u. z. wiederum am Widerstand des katholischen
Frankreichs, das einerseits die protestantischen Fürsten, ande­
rerseits den türkischen Großherrn unterstützte, blieb ihnen
nach dem Westfälischen Frieden nichts anderes übrig als das
Reich seinem Schicksal zu überlassen, sich selber aber auf die
österreichischen Erblande zurückzuziehen und diese als eige­
nen Staat außerhalb des Reiches zu organisieren: die Abrun­
dung und Festigung des Reiches war aufgegeben, und statt des­
341

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sen begann - besiegelt durch die von Karl VI. 1713 erlassene
Pragmatische Sanktion3- die Festigung und Abrundung Öster­
reichs, eine Abrundung, die nach den siegreichen Defensiv­
kriegen gegen die Türken sich nun notwendigerweise offensiv
gegen den Osten zu entwickeln hatte. Ungarn samt Siebenbür­
gen war den Türken abgenommen, Belgrad war erobert: Öster­
reich wurde in der Anwartschaft auf die oströmische Herrschaft
ein ernsthafter Konkurrent Rußlands; der Antagonismus zwi­
schen den beiden Ländern wurde ein recht getreues Gegen­
stück zu dem deutsch-französischen hinsichtlich der weströmi­
schen Herrschaft.
Das war die Situation nach dem Spanischen Erbfolgekrieg,
und obwohl sie die größte Machtentfaltung Österreichs bedeu­
tete, sie war ein Triumph der Diplomatie Ludwigs XIV. und Ri-
chelieus: mochte auch der Friede von Utrecht4 dem Hause
Österreich die Niederlande und fast ganz Oberitalien zuge­
sprochen haben (während die italienischen Erwerbungen
Frankreichs gering blieben), mochte auch der von Passarowitz5
Österreich seinen ungeheueren Ost-Zuwachs verschafft haben,
die Ost-Orientierung der Macht, ihr Desinteressement an dem
definit zersplitterten Deutschland war dieser Preis wohl wert,
war es umsomehr als dafür auch die spanische Krone von den
Habsburgern an einen Bourbonenprinzen übergeben worden
war. Es waren alle Vorbereitungen getroffen: Frankreich durfte
damit rechnen, bald seine Ansprüche auf die weströmische
Herrschaft anzumelden. Aber es dauerte noch nahezu hundert
Jahre, ehe dies geschehen konnte.
Es war Napoleon, der den Anspruch anmeldete. 1806 ent­
sagte Franz I.6 der deutschen Kaiserkrone, während Napoleon
[1804] die päpstliche Salbung als »Kaiser der Franzosen« in
Rom empfing: mit Ausnahme Spaniens und Siziliens hatte er
das gesamte Gebiet Westroms unterworfen, und hätte das Haus
Österreich, mit dem er sich zu diesem Zweck verschwägert
hatte, sich eindeutiger seinen Plänen gefügt, d. h. hätte es nicht
österreichischer Tradition gemäß - diesmal unter Metternich­
scher Leitung - auf zweifache Gewinnstchance gespielt, es hätte
nunmehr unter dem Schutz des napoleonischen Angriffes auf
Rußland die seit Karl VI. ruhende Offensive gegen die Türkei
wiederaufnehmen können, wiederaufnehmen müssen, um sol­
cherart neben dem französischen Westrom das österreichische
342

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Ostrom erstehen zu lassen, auf daß der bonapartisch-habsbur-
gische Sprößling7, der nicht umsonst schon in der Wiege den Ti­
tel eines »Königs von Rom« empfangen hatte, nach Wieder­
vereinigung der beiden Reichshälften als erster Kaiser nach
Konstantin dem Großen über das neugeborene Gesamtrom
herrsche.
Napoleon erhielt in Mussolini zwar keinen Nachfolger, wohl
aber einen Imitator, nämlich einen, dessen Imperiumspläne
bloße Phantasien waren, und der daher weit mehr dem römi­
schen Vorläufer Rienzi8 als dem napoleonischen Vorbild äh­
nelte. Aber Mussolini wurde von Hitler abgelöst, oder richtiger
verdrängt, und obwohl der selber ein ebenso romantisierender
und darüber hinaus sogar wilhelmisierender Volkstribun war,
es bedeutete die Ausstellung der Reichsinsignien am ersten
Nürnberger Parteitag keineswegs nur eine dekorative Opern­
farce: mit der Wiedererrichtung des Heiligen römischen Rei­
ches, das der deutschen Nation im 17. und 18. Jahrhundert ver­
loren gegangen war, sollte ernst gemacht werden. Gewiß, es
wäre eine Heiligkeit der Unheiligkeit und der Heidnischkeit
geworden, und der Papst hätte sich auf einen Existenzkampf
gefaßt machen müssen, gegen den die mittelalterlichen Zwi­
stigkeiten mit den Kaisern heitere Scharmützel gewesen wären;
indes, so lange Zepter und Reichsapfel und Krone mit dem
Kreuz geziert blieben, so lange bestand für die Kurie noch die
Aussicht auf Aufrechthaltung der päpstlichen Autorität im
Reich, zudem in einem Reich, das - wie von der Kirche seit ei­
nem Jahrtausend erhofft - wieder ganz Ostrom mitsamt der
ganzen Ost-Christenheit umfassen wollte, und so wurden die
Beziehungen zwischen Nazi-Regierung und Kurie fürs erste
noch von beiden Seiten aufrechtgehalten. Zu diesem erhofften
Vorstoß ins oströmische Gebiet kam es allerdings nicht mehr;
auch während seiner größten Herrschaftsausdehnung 1941/44
gelangte Hitler gleich Napoleon (und vorher Karl der Große)
nicht über das weströmische Gebiet hinaus.
Es läßt sich nicht abschätzen, wie viele Anhänger die Nazi
durch ihr Versprechen zur Widererrichtung des Heiligen römi­
schen Reiches deutscher Nation sich gewonnen hatten, doch
unzweifelhaft haben sie damit sehr tiefe Gefühlsschichten der
Deutschen getroffen und aufgewühlt, Schichten von Genera­
tionengedächtnis, von Gefühlsgedächtnis, die nach wie vor vom
343

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Glanz des Imperiums durchtränkt waren und wohl noch immer
es sind: wer als Herrscher den Fuß nach Rom gesetzt hat, nimmt
an dem mystischen Glanz der ewigen Stadt teil; er wird selber
zur Legendengestalt. So war es mit Karl dem Großen, so war
es mit Otto I. und Otto II., mit Friedrich Barbarossa, mit Hein­
rich VI., mit Karl V. und schließlich desgleichen mit Napoleon.
Und es ist grotesk zu denken, daß Deutschland solchen Le­
gendenglanz einst auch um einen Hitler weben könnte. Aber es
ist durchaus möglich.
Anders jedoch ist es um England bestellt. Von all den auf rö­
mischem Boden entstandenen Nachfolgestaaten ist das peri­
pher gelegene England am wenigsten von der römischen
Staatstradition des gesamteuropäischen Imperialismus beein­
flußt, vor allem weil es infolge seiner Insularität sowohl defensiv
wie offensiv eine strategische Sonderstellung innehatte: wäh­
rend Sicherheit für den Kontinentalstaat immer wieder Expan­
sion hieß, u. z. Expansion auf dem Wege des schwersten Wider­
standes, nämlich in der Überwältigung des Nachbarn, hatte
England die Expansionswahl und durfte infolgedessen den Weg
des geringsten Widerstandes gehen, d. h. den kolonialen, den
fernkolonialen und war nicht auf den über den Kanal hin ange­
wiesen, dessen Barriere zwar segensreichsten Schutz gegen
Einfälle bot, dafür aber auch Ausfälle erschwerte. Entgegen
dem Kontinentalimperialismus der römischen Staatstradition
entwickelte sich für England der fernkoloniale, ein Imperialis­
mus, der in seiner Handelsstruktur (wenn auch nicht herkunft­
mäßig) sich immerhin als ein karthagischer bezeichnen ließe.
Für Karthago wurde das Aufkommen der römischen Groß­
macht zum Verhängnis. Wollte England sich vor ähnlichem Los
bewahren, so mußte es das Wiederentstehen des römischen Im­
periums vereiteln. Ein ungeeinter Kontinent, dessen Kräfte
durch die gegenseitige Wachsamkeit der Staaten gebunden
sind, stellte einen verhältnismäßig ungefährlichen Nachbarn
dar, ein geeinter Kontinent hingegen, ja auch nur ein von
Deutschland unbedrohtes Frankreich hätte die Sicherheit der
englischen Insel herabgemindert und damit die Politik der
Meeresfreiheit, der Flottenstützpunkte und der Häfenzugäng­
lichkeit, kurzum die Eigenexistenz Englands in Frage gestellt.
In natürlicher Konsequenz ergab sich aus alldem das englische
Prinzip von der Hilfeleistung an die jeweils »zweitstärkste«
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Macht oder Mächtegruppe auf dem Kontinent, denn nur auf
diese Weise ließ sich daselbst das Werden einer einheitstiften­
den Hegemonie nachdrücklich verhüten. M. a. W., England
durfte keine Veränderung des jeweiligen Status quo Europas
zulassen, mußte ihn im Fall von Störungen tunlichst wiederher­
stellen und dabei das in ihm verkörperte Kräftegleichgewicht -
dessen Störbarkeit ja stets von seiner dauernden Imperfektheit
herrührt - womöglich verbessern.
Es versteht sich, daß diese heilsame Politik der freiwilligen
Selbstausschaltung aus dem inner-europäischen Imperialismus
- eine Beherrschung Europas kraft Unbeteiligtheit - keines­
wegs weise Vorausplanung gewesen ist. Anfänglich hat Eng­
land genau so wie alle andern europäischen Staaten nichts an­
deres als kontinentalen Landbesitz angestrebt. Wäre das Haus
Anjou-Plantagenet9 mit seinen Ansprüchen auf die französi­
sche Königskrone durchgedrungen, so wäre (nach der Welt­
kriegformel) schon damals die englische Grenze am Rhein eta­
bliert worden, und England hätte sich wohl oder übel
bequemen müssen, die Sache des Heiligen römischen Reiches
zu der seinen zu machen.
Aber da unter und nach Heinrich VI. die englischen Besitz­
stücke und Lehen in Frankreich eins nach dem andern verloren
gingen, war die Notwendigkeit zu einer Neuorientierung der
Außenpolitik eingetreten. Es dauerte ein halbes Jahrhundert,
bis das geschlagene und durch die Adelskriege verwüstete Land
sich an diese Aufgaben heranwagen konnte. Noch was Hein­
rich VIII. außenpolitisch unternahm, war höchstens als eine
Reihe tastender Vorversuche zu werten, obwohl in ihnen das
künftige Prinzip von der Unterstützung des jeweils Zweitstärk­
sten - hier abwechselnd Franz I. und Karl V. - bereits recht
deutlich sichtbar wird. Erst unter Elisabeth fand das Land sei­
nen richtigen Kurs, den Kurs des Kolonial-Imperialismus, und
erst von da an wurde das machiavellistische Prinzip gegenüber
dem Kontinent wirklich und mit aller Tatkraft zur Anwendung
gebracht: nicht nur daß Philipp II., der den Krieg Karls V. gegen
Frankreich weiterführt, plötzlich die englische Hilfe entzogen
wird, er wird stattdessen vehement im Wege des niederländi­
schen Aufstandes angegriffen, vielleicht sogar zu nachhaltig
und erfolgreich, denn England entledigte sich damit zwar selber
seines maritim-kolonialen Konkurrenten, befreite aber auch
345

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Frankreich für lange Zeit hinaus von der spanischen Bedro­
hung, beförderte also selber das Wachsen der europäischen
Übermacht Ludwigs XIV. Zur WiederherstellungdesGleichge­
wichtes hätten in dem daraufhin ausbrechenden Dreißigjähri­
gen Krieg die Stuarts ihre Hilfe dem Kaiser angedeihen lassen
müssen, waren hiezu offenbar auch bereit, wurden aber (abge­
sehen von den Intriguen der französischen Diplomatie und de­
ren Agenten) vom protestantisch fanatisierten englischen Volk
daran gehindert, und Cromwell war sicherlich nicht in der Lage,
die daraus entstandene Lähmung und Schwächung der engli­
schen Außenposition zu überkommen; sie hielt bis zum Spani­
schen Erbfolgekrieg an. In diesem allerdings konnte England
die unterbrochene Linie wieder aufnehmen; der Lohn war die
Löwenbeute Gibraltars und Kanadas, eingebracht durch die
rücksichtslose Anwendung des machiavellistischen Prinzipes
und der von ihm geforderten Taktik rücksichtslos raschen
Frontwechsels. Von da ab wurde das Prinzip nicht mehr verlas­
sen, und es hat sich immer wieder bewährt, sowohl im Sieben­
jährigen Krieg, wie gegen die Napoleonischen Pläne, wie in der
Ära des Berliner Kongresses, wie in der Entente-Politik Edu­
ards VII. Selbst Hitler durfte noch an diesem Prinzip der Un­
terstützung des Zweitstärksten nutznießen, nur daß es hier
seine jahrhundertealte Bewährungskraft - zum schwersten
Schaden Englands - bereits eingebüßt hatte.
In den eigenen Augen war England der Tugendwächter Euro­
pas, der hilfreiche Freund aller Schwachen und Bedrückten,
bestellt zu solch undankbarem Amt, um die mit dem jeweiligen
friedlichen Status quo durchaus einverstandenen Völker vor
kriegs- und hegemonie-lüsternen Usurpatoren zu schützen und
die Welt aus der Misere der niemals endenwollenden Hegemo­
niekämpfe zu retten. In den Augen derjenigen aber, die alles
Heil von der politischen Einigung des Kontinents erhofften und
erhoffen-allerdings gehörten auch Napoleon und Hitler zu ih­
nen -, war England niemals berechtigt, jenen Tugendanspruch
zu erheben; sie haben in ihm immer nur den heuchlerischen
Erzfeind Gesamteuropas gesehen, den Gegner des Heiligen
Reiches, der sich der neuen pax romana widersetzt, weil ihm die
Zwietracht bessern Gewinn verspricht und der den Zweitstärk­
sten bloß darum unterstützt, weil allein von diesem Bezahlung
für geleistete Hilfe sich erlangen läßt, während der Stärkste
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üblicherweise stets zahlungsunwillig, der Schwächste aber zah­
lungsunfähig und infolgedessen auch hilfsunwürdig ist, also
bloß geschützt zu werden braucht, wenn damit - englischer Ge­
pflogenheit gemäß - einer politischen Aktion ein moralisches
Mäntelchen umgehängt werden soll, ansonsten jedoch mitsamt
all den ihm auferlegten Bedrückungen, Mißhandlungen und
Knebelungen ein Teil des heiliggesprochenen Status quo bildet.
Und beides, sowohl der englische wie antienglische Stand­
punkt, ist berechtigt, beides unberechtigt. Denn beides ist aus
historischen Notwendigkeiten hervorgegangen.
Status quo vs. Heiliges römisches Reich, das waren die beiden
großen Traditionsströme, welche (wenn auch simplifiziert,
doch nicht allzuarg simplifiziert ausgedrückt) die europäische
Mächtepolitik während der letzten dreihundert Jahre bestimmt
haben. Status quo bedeutet nüchterne Hinnahme der gegebe­
nen, sozusagen natürlich gewachsenen Verhältnisse, bedeutet
unmittelbaren Frieden - selbst das geschmähte England
wünscht nicht die fortdauernden Kontinentalkriege, sondern
bloß die Ausbalancierung und damit die innere gegenseitige
Bindung der ihm sonst gefährlich werdenden Aggressions­
kräfte -, bedeutet die unmittelbare Möglichkeit zur Etablie­
rung von Humanität, und gerade hiefür liefert England, zumin­
dest in seiner Innenpolitik, ein ausreichendes Beispiel. Das
Heilige [römische] Reich hingegen bedeutet nicht bloßen
Kräfteausgleich, nein, es bedeutet künftigen Dauerfrieden, be­
deutet die Wiederinstallierung der pax romana, freilich erst
wenn eine Zentralgewalt alle Einzelwünsche und Einzelan­
sprüche zum Schweigen und die dazugehörigen Hegemonie­
kämpfe irgendwie, blutig oder unblutig, zur Austragung ge­
bracht haben wird. Und so leitet der status-quo-Gedanke im
letzten zur föderalistischen Völkerbund- und UN-Konstruk-
tion, dahingegen der des Heiligen Reiches zum Konzept eines
Weltstaates und zu dem einer mehr oder minder zentralisti­
schen Weltregierung. Fast ließe sich sagen, daß da, neben man­
chem andern, zwei polare Denktypen gegeneinanderstehen,
nämlich konkretes und abstraktes Denken.
Konkretes Denken - der besonders von den Angelsachsen
ausgebildete Denktypus - ist jeglicher Verwüstung feind, wird
also, unbeschadet seiner (sehr häufigen) Fortschrittlichkeit, fast
immer konservative oder zumindest konservierende Tenden­
347

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zen aufweisen und daher, wo immer tunlich, der Aufrechter­
haltung des Status quo und den von ihm gebotenen unmittel­
bar-konkreten, konkret-humanen Vorteilen zugeneigt sein,
umsomehr als die Politik des Kräftegleichgewichtes, die noch
am ehesten zu solchem Ziel zu führen vermag, ja sogar dabei
einen gewissen demokratischen Anstrich besitzt, den ungemein
konkreten Vorteil hat, die Staaten in gegenseitiger Furcht zu
halten, so daß sie durch handfeste Furchtrealität und nicht
durch papierene Verträge zur Einhaltung ihrer Interessenab­
grenzungen gezwungen werden. Dieses Vertrauen zum politi­
schen Kräftegleichgewicht und seiner humanen Funktion ist
nicht unähnlich jenem, das alles Heil der Wirtschaft vom freien
Spiel ihrer Kräfte erwartet und keinerlei Eingriff in den Mecha­
nismus von konkretem Anbot und konkreter Nachfrage zuzu­
lassen wünscht. Da wie dort, im Politischen wie im Wirtschaftli­
chen, entscheidet sich das konkrete Denken für ad-hoc-Impro-
visationen, da wie dort will es sich den vom Weltgeschehen
jeweils gelieferten Tatsachen mutig stellen, hat es den Humor
des improvisierenden Mutes, den Humor der mutigen Improvi­
sation.
Abstraktes Denken weiß nichts von Improvisation und will
von ihr nichts wissen; es ist nicht humorvoll, sondern fanatisch;
es hat kein Vertrauen zur natürlichen Evolution, ja nicht einmal
zur Natur als solcher, am allerwenigsten aber zu einem natürli­
chen Wachstum im Bereich menschlicher Angelegenheiten,
sondern will diese, da bloß das Logische und Systematische
wirkliches Vertrauen verdient, sowohl politisch wie wirtschaft­
lich mit äußerster Genauigkeit ein für allemal geplant sehen.
Die Abstraktheit selber wird da fanatisiert, und wer so denkt
- sei es ein Torquemada10, sei es ein Robespierre, sei es ein Le­
nin, sei es ihrer aller Affe, nämlich Hitler -, der verachtet, auch
wenn er die pax romana anstrebt, ja sogar dann erst recht, jeden
unmittelbar-konkreten und nicht zuletzt jeden konkret-huma­
nen Vorteil; sein Denken ist ausschließlich auf ein ideales Zu­
kunftsbild, auf das abstrakte Zielideal gerichtet, und um das zu
erreichen, glaubt er in der Gegenwart, die ihm nichts gilt, jegli­
ches Opfer von sich und seinen Mitmenschen fordern zu müs­
sen, fordern zu dürfen.
Das Kräftegleichgewicht, vermöge welchem jedes organische
System, also auch jeder politische oder wirtschaftliche Status
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quo - vom konkreten Denken angestrebt, vom abstrakten ver­
achtet - sich am Leben erhält, ist allüberall in der Natur ein
überaus komplizierter, ja in seiner Kompliziertheit ein fast irra­
tionaler Mechanismus, an dem vor allem erstaunlich ist, daß er
überhaupt funktioniert. Gleichgewichtsstörungen, Krankhei­
ten, Krisen sind unvermeidlich, und oft, nur allzuoft tritt ein
Zustand ein, gegen den mit »natürlichen« Improvisationen
nichts mehr auszurichten ist. Geschieht derartiges (wie z. B. seit
etlichen Dezennien in der gesamten Weltwirtschaft), so ist die
evolutionistische Entwicklung unterbrochen, und es vollzieht
sich ein bedeutsamer Wechsel im Konkretheitsanspruch, in der
Konkretheitsgeltung: denn gerade das ist der Augenblick, auf
den das abstrakte Denken gewartet hat, der Augenblick, in dem
die Abstraktheit ihren utopischen Charakter abzustreifen ver­
mag und selber konkret wird; das abstrakte Denken wird zur
konkreten Revolution und leitet eine neue Realitätsperiode
ein, die Periode eines neuen Kräftegleichgewichtes.

2. Die Störung des europäischen Gleichgewichtes

Das 19. Jahrhundert war die letzte Periode des politischen


Gleichgewichtes in Europa und demgemäß auch im ganzen Sy­
stem der Weltpolitik; ihr Status quo wurde mit allem Aufwand
einer - eigentlich sehr bewundernswerten - diplomatischen
Kunst, zu deren besten Vertretern damals nicht zuletzt die eng­
lischen zählten, ziemlich intakt aufrechtgehalten, und weil das
gelang, wurde es zu einer Periode der Humanität, wurde es so
sehr, daß ein neuerlicher Humanitätsverlust einfach unvorstell­
bar schien. Die strategische Sonderstellung Englands bildete
das Rückgrat dieses Gleichgewichtes; durch sie wurde der auf
dem Kontinent latent weiterschwelende Hegemoniekampf in
Schach gehalten und ständig gehemmt.
Dieses - glückliche - Gleichgewicht fand ein jähes Ende.
Denn als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Flugzeug und Unter­
seeboot erfunden und militärisch brauchbar gemacht wurden,
hatte England, sozusagen über Nacht, seine insulare Unan­
greifbarkeit verloren und wird sie auch, wie immer sich die
Kriegstechnik weiterentwickeln mag, niemals wiederfinden;
sein strategischer Rang ist heute, infolge Unverteidigbarkeit
gegen Raketen- und Atomangriffe, nicht höher als der eines
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mittleren Kontinentalstaates. Europas strategische Gesamtsi­
tuation ist hiedurch mit einem einzigen Schlag von Grund aus
erschüttert worden, die Hemmung für das Wiederausbrechen
des kontinentalen Hegemoniekampfes war plötzlich weggefal­
len: das römische Gesamtimperium hatte wieder eine Verwirk­
lichungsmöglichkeit.
Der deutsche Generalstab hatte die Einmaligkeit des Augen­
blicks richtig erfaßt, hielt sich für militärisch verpflichtet ihn
auszunützen, hat ihn aber dabei - wohl um ihn nicht zu versäu­
men, vielleicht aber auch getrieben von der ungeduldigen Cä­
sareneitelkeit der beiden obersten Kriegsherren Wilhelm II.
und Hitler - zweimal hintereinander zu früh angesetzt: 1914
hatte man mit einer rascheren Entwicklung der Flugzeug- und
Unterseeboottechnik gerechnet (außerdem die Zeppelinwir­
kung überschätzt), und 1939 verrechnete man sich in gleicher
Weise mit der Fertigstellung der Raketen- und Atomwaffen.
Ohne diesen grundlegenden Fehler falscher Zeitbestimmung
wäre das neue Heilige römische Reich deutscher Nation wahr­
scheinlich schon beim ersten Anlauf, sicherlich jedoch beim
zweiten ersiegt und wiedereingerichtet worden.
Heute zeichnet sich ein Heiliges römisches Reich russischer
Nation am Horizont ab, u. z. mit unmißverständlicher Deut­
lichkeit.
Von all den einstigen Anwärtern auf das römische Erbe ist als
reale Macht allein Rußland übriggeblieben, und die Ausdrück­
lichkeit, mit der es seinen Erbanspruch bereits angemeldet hat,
konnte und kann von niemandem überhört werden. Gewiß ste­
hen diesem Anspruch die Abmachungen von Teheran und Jalta
entgegen, doch unzweifelhaft ist deren fiktiver und platonischer
Charakter den Konferenzteilnehmern und nicht zuletzt Chur­
chill selber, wenigstens in Jalta, mehr oder minder klar gewe­
sen. Rußland wußte damals bereits mit Sicherheit, daß es als der
einzige wirkliche Sieger aus dem Krieg hervorgehen würde; die
europäische Hegemonie war ihm bereits gewiß, und es durfte
daher ohne Selbstgefährdung sich die Höflichkeit gestatten, auf
das offizielle Konferenzspiel einzugehen, das so tat, als ob Eng­
land nach wie vor im Vollbesitz seiner Macht sei und wie einst­
mals jede Hegemonie auf dem Kontinent verhüten könne. Die
Tatsachen waren unhöflicher.
Denn die Demarkationslinie Stettin-Mukden, oder richtiger
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Hamburg-Port Arthur, in ihrer fast grotesken Länge, der läng­
sten, die sich auf dem Festland dieses Planeten ziehen läßt, ist
nichts anderes als eine Aufmarschlinie für die Rote Armee, und
selbst bei deren Reduzierung auf Friedenskontingentierung
würde sie längs solch ungeheurer Grenze eine strategische
Übermacht darstellen, die durch kein noch so starkes Expedi­
tionskorps der Westmächte zu brechen wäre. Und ebenso ist es
für die Westmächte von vorneherein aussichtslos gewesen, hier
nochmals das alte englische Prinzip von der Unterstützung des
Zweitstärksten auf nehmen zu wollen; es konnte und kann nicht
gelingen - und der Zusammenbruch des chinesischen Unter­
nehmens11 hat es bereits bewiesen -, aus all den Völkern süd­
lich jener Grenzlinie, angefangen von denen Westeuropas bis
zu den mandschurischen und koreanischen Stämmen hin, ein
ausreichendes Gegengewicht zur russischen Macht aufzu­
bauen: nicht nur daß einzeln keine dieser Nationen militärisch
oder politisch in der Lage ist, die Rolle des Zweitstärksten zu
übernehmen, und nicht nur, daß jede Art von Koalition, und
sei sie selbst nur ein Ansatz hiezu, von Rußland unweigerlich
unterminiert werden würde, sie sind auch allesamt (nicht zuletzt
infolge der in ihnen wirksamen kommunistischen Strömungen)
keineswegs gewillt sich zu derartigem herzugeben. Es gibt in
Eurasien nur noch einen Starken, und das ist Rußland; aber es
gibt keinen Zweitstärksten mehr.
Der russische Anspruch, einstmals auf das oströmische Gebiet
beschränkt, umfaßt nunmehr Gesamtrom, u. z. nicht nur wie es
tatsächlich bestanden, sondern wie es sich selber als Idealbild
seiner selbst erträumt hatte, denn weder hatte das Reich, wie
es die Alexander-Erbschaft gefordert hätte, sich am Indus fest­
setzen können, noch war das an der Elbe möglich gewesen.
Kurzum, das neue römische Reich würde sich über nahezu die
ganze Alte Welt, über den ganzen eurasischen Kontinent ein­
schließlich der nordafrikanischen Besitzungen der europä­
ischen Staaten, also über das ganze arabische und halbarabische
Riesengebiet hinerstrecken und hätte demnach bloß eine ein­
zige Landgrenze, nämlich quer durch das äquatoriale Afrika.
Und so phantastisch dieses Bild - es ist aufs Haar mit Hitlers
Imperiumsphantasie identisch - jedem »vernünftig« Denken­
den auch erscheinen mag, so überraschend schnell kann es zur
Wahrheit werden. Schon allein eine kommunistische, oder ge­
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nauer gesagt sowjetische Majorität in der französischen Kam­
mer könnte den entscheidenden Umschwung herbeiführen.
Und wenn der eintritt und als einigermaßen stabilisiert gelten
kann, dann ist die Tür zu allem weiteren geöffnet. Zwar wird
Rußland dann noch nicht sofort die unbedingte Majorität in der
UN besitzen, wohl aber wird es die Westmächte in eine so be­
drängte Position bugsiert haben, daß sie zu deren Behauptung,
in Umkehrung der bisherigen Verhältnisse, immer häufiger ihr
Veto-Recht werden benützen müssen, und am Ende wird es in
Rußlands Belieben stehen, ob es die UN als Machtinstrument
verwenden oder lieber ganz auflösen will.
Bei alldem wird Rußland mit einer gewissen innern Überzeu­
gung behaupten, ja behaupten können, daß es nicht »imperia­
listisch« sei, und es wird hiezu auf den strengen Isolationismus
hinweisen, den es bisher geübt hat, weiter üben will, und der
sich mit Imperialismus kaum in Einklang bringen läßt. Dahin­
gegen braucht es - und hiefür werden die russischen Geopoliti-
ker gute Gründe produzieren - zu solch selbstgenügsamem,
non-aggressivem Isolationismus eine entsprechende strategi­
sche Sicherheit, umsomehr als bloß innerhalb eines strategisch
vollkommen gesicherten Großraumes den darin wohnhaften
Völkern der ihnen gebührende Autonomie-Status zu gewähr­
leisten ist: gemeinsame strategische Sicherheit darf eben nicht
mit Kolonial-Imperialismus verwechselt werden. Und eben
darauf dürfen sich die russischen Ansprüche berufen. Denn bei
dem heutigen Stand der Waffentechnik kann es nur noch trans­
ozeanische und keine interkontinentalen Gegner mehr geben;
strategische Sicherheit heißt daher radikale Hintanhaltung
transozeanischer Kriege, und das läßt sich nur dann bewerk­
stelligen, wenn erstens die präsumptiven Gegner tatsächlich
durch die Ozeane voneinander getrennt sind, also keinerlei
Brückenköpfe auf dem Gebiet des andern innehaben, und
zweitens wenn diese Gebiete so immense Flächen bedecken,
daß selbst durch die Atombombe keine völlige Vernichtung der
beidseitigen militärischen und industriellen Kapazitäten mög­
lich ist. M. a. W., zwischen der Alten Welt und der Neuen hat
- darauf läuft es nämlich hinaus - das vollkommenste Kräfte­
gleichgewicht hergestellt zu werden. Unter diesem Gesichts­
punkt müßte eine Beschränkung der russischen Ansprüche auf
Nordafrika geradezu als Zugeständnis bewertet werden, sogar
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als ein besonders großmütiges, da es einen Verzicht auf die rei­
chen mittel- und südafrikanischen Bodenschätze bedeutet,
dennoch ein Zugeständnis und ein Verzicht, dessen die Angel­
sachsen nicht rückhaltlos froh werden könnten: seine Aufkün­
digung wäre wohl unvermeidbar, wenn die äquatoriale Kongo­
linie ihre derzeitige Schwerpassierbarkeit (die immerhin ein
gewisses Äquivalent zur ozeanischen Trennung darstellt) nicht
beibehalten sollte.
Nicht nur die Stalinisten aller Länder mögen einer solchen
Entwicklung zustimmen, auch viele antistalinistische Kommu­
nisten würden, wenn auch aus andern Gründen, eine ähnliche
Haltung dazu einnehmen: sie rechnen damit, daß die freiheits­
gewohnten Völker Westeuropas sich mit einer durch Rußland
gebrachten und vorgeschriebenen Kommunisierung nicht be­
gnügen, sondern sie zum echt sozialistischen Freiheitsideal um­
wandeln würden, ja daß daraufhin Rußland, besonders nach
seiner strategischen Saturierung, sich alter Tradition gemäß
wieder einmal dem westlichen Einfluß öffnen möge und - viel­
leicht sogar um den Preis einer zweiten Revolution - zu der so
notwendigen Liberalisierung des Sowjetsystems gelangen wird.
Für die Sowjets freilich hat die Zustimmung des außerrussi­
schen Kommunismus nur soweit Interesse, als sich daraus un­
mittelbare politische Vorteile ziehen lassen, und wichtiger ist
ihnen die Haltung der gegnerischen Mächte, also vor allem
Amerikas, zu ihren strategischen Zielen und zu ihrem Groß-
Isolationismus. Und da könnte es tatsächlich sein, daß dieser
beim alten amerikanischen Isolationismus gewissen Anklang
fände. Denn Isolationismus gegen Isolationismus zweier gleich-
gewichtiger Mächteblocks, die voneinander scharf ge­
trennt sind, keinerlei Eroberungsanreize für einander bieten,
hingegen bei Provokation gegenseitige Vernichtung ohne jede
Siegeschancen fürchten müssen, haben zwischen sich einen
Frieden installiert, der dem zwischen zwei Planeten im Ster-
nenraum gleicht, also auch wie dieser zu seiner Aufrecht­
haltung keinerlei papierenen Vertrages bedarf. Alte Welt und
Neue Welt isolationistisch einander gegenübergestellt, das ist
freilich auf jeder Seite nur eine halbe Welt, aber ein Amerika,
das neben dem eigenen Riesengebiet auch Südafrika, Austra­
lien und den ganzen asiatischen Archipel von Sumatra bis Japan
beherrscht, ist eine Welthälfte, mit der viele Amerikaner sich
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werden begnügen wollen. Ein vertragsloser, schier unstörbarer
Dauerfriede mit Rußland wird ihnen als ein besterreichbarer,
ja als irdischer Idealzustand erscheinen, als einer, um dessent-
willen man das englische Mutterland (das vom amerikanischen
Isolationisten ohnehin nicht übermäßig freundlich betrachtet
wird) ruhig der russischen Domination ausliefern darf, viel­
leicht sogar ausliefern muß: wenn das britische Erbe, ob so oder
so, letztlich doch den Vereinigten Staaten zuzufallen hat, so
kann auch seine Gesamtverwaltung in Washington zentralisiert
sein, und es kann die Londoner Nebenzentrale ohneweiters als
störend oder zumindest überflüssig abgestoßen werden. Es ist
eine nüchterne Überlegung; anders läßt Politik sich nicht be­
treiben.
Dies ist das Gespenst, das über England schwebt, das Ge­
spenst einer Preisgabe Englands zugunsten einer Welt-Zwei­
teilung zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten. Kein
Wunder, daß die englische Außenpolitik beinahe ausschließlich
davon beherrscht wird. Die Gefährdung des Mutterlandes ist
es, um die es dabei geht; das Imperium als solches ist, wenn auch
eng damit in Verbindung stehend, zu einem Nebenproblem ge­
worden. Und jene Gefährdung kann bloß verhütet werden,
wenn Rußland die in Teheran und Jalta getroffenen Abma­
chungen als einen Status quo anerkennt, an dem genug gerüttelt
worden ist, und an dem nicht weiter gerüttelt werden darf. Des
psychischen Eigenschutzes verlustig, ist England vollständig auf
Vertragsschutz angewiesen, d. h. auf jene Instanzen, von denen
sich noch erhoffen läßt, daß sie mit psychischer Macht und poli­
tischem Druck die Respektierung der Verträge und des dazu­
gehörigen Status quo ständig garantieren werden, und diese
Garanten sind die Vereinigten Staaten sowie die UNO. Doch
auch Garantien sind nicht umsonst zu haben, auch sie müssen
politisch erzwungen werden, und da dem Schwachen hiezu kein
anderes Mittel als die Selbstmorddrohung zur Verfügung steht,
droht England - und es ist eine ernst zu nehmende Drohung -,
daß es sich den russischen Anschlägen nicht kampflos
unterwerfen würde: Wer von Gespenstern gejagt wird, schickt
Gespenster aus, und Englands Schicksalsentscheidung, der Mut
zum nationalen Selbstmord, beschwört das Gespenst
des dritten Weltkrieges herauf; soll er vermieden werden,
so soll Rußland von seinen Hegemonieplänen abstehen,
354

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sollen Amerika und die UN die Garantie hiefür übernehmen.
Genau das und nichts anderes ist in Churchills berüchtigter
Fulton-Rede12- von liberalistischer Kurzsichtigkeit allerwärts
als Tory-Provozierung Rußlands gebrandmarkt - zum Aus­
druck gebracht. England in seiner tief tragischen Situation kann
nur noch va banque spielen, und nicht nur daß es mit der In-
transingenz des Vabanquespielers sich gegen jede, manchmal
sogar harmlose außenpolitische Aktion Rußlands zur Wehr
setzt, und nicht nur daß es alles aufbietet, um den so überaus
schmal und brüchig gewordenen cordon sanitaire gegen das
russische Vordringen zu befestigen, die Vabanque-Intransin-
genz fordert auch ein derart starres Festhalten an den gesteck­
ten Zielen, daß keinerlei andere Erwägungen, am allerwenig­
sten solche der politischen Moral (so in der palästinensischen
Frage) daneben noch Raum haben. Denn jeder weitere Expan­
sionsschritt Rußlands, und gar wenn er von Amerika in Hin­
blick auf die isolationistische Welt-Zweiteilung gutgeheißen
wird, bedeutet einen neuen Schritt zur Vernichtung des engli­
schen Mutterlandes. Die nicht-englische Öffentlichkeit hat sich
oft über die starrköpfige Beharrlichkeit gewundert, mit der Be-
vin13 - überdies von seiner Partei gedeckt - im Churchill-Kurs
vorwärtssteuert und sich durch nichts davon abbringen läßt. Die
englische Öffentlichkeit beurteilt das anders: sie weiß nur allzu
genau, in welch gespenstischer Situation das Land sich befindet,
und daß es sich daher kaum einen anderen Kurs erlauben darf ;
vermutlich würde nicht einmal ein Kommunist als britischer
Außenminister einen andern einschlagen können.
Und doch, so notwendig solch zähe Intransingenz für das
hochgefährdete England auch ist, ja so sehr sie beigetragen hat
und beiträgt, Amerika an der englischen Seite zu halten, es
hätte dieser Effekt sich bloß unter wesentlich größeren Schwie­
rigkeiten oder vielleicht überhaupt nicht erzielen lassen, wenn
die Welt-Zweiteilung, zu der Rußland, ob nun mit oder gegen
seinen Willen, getrieben wird, für Amerika akzeptabler sein
könnte als sie es ist. Sie ist nicht akzeptabel. Und das hält die
Vereinigten Staaten an Englands Seite. Auch das weiß Eng­
land; nur darf es sich nicht merken lassen, daß es darum weiß
und daran glaubt.
Die Welt-Zweiteilung ist für die Vereinigten Staaten, selbst
wenn sie keinerlei Rücksicht auf Englands Existenz zu nehmen
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wünschten, nicht akzeptabel, ja sie könnte ihnen infolge gewis­
ser, ihr anhaftender Konstruktionsmängel geradezu zum
Kriegsanlaß werden. Dabei ist der amerikanische Isolationis­
mus, der ja die Zweiteilungs-Idee nicht so leicht auf gibt, sicher­
lich geneigt und sogar berechtigt, einen Teil dieser Mängel als
irrelevant beiseite zu schieben. So könnte z. B. einer Welt-
Zweiteilung, in welcher dem angelsächsischen Teil bloß ein
Drittel der bewohnten Erde und bloß ein Viertel ihrer Gesamt­
bevölkerung zugesprochen wird - dies nämlich wäre beiläufig
der Endzustand - offenbar vorgeworfen werden, daß sie kein
genügend fundiertes Gleichgewicht für die Verbürgung des
Dauerfriedens abgebe, und dennoch ist es ein irrelevanter Vor­
wurf, d. h. einer, der sich auf einen irrelevanten Mangel bezieht,
denn die Friedensbürgschaft der Welt-Zweiteilung liegt weit
mehr in der ozeanischen Separierung der präsumptiven Gegner
als in den von ihnen beherrschten Flächenmassen und Bevölke­
rungszahlen, vorausgesetzt natürlich, daß diese - und das wäre
in der Teilung Alte Welt vs. Neue Welt beidseits vollauf erfüllt
-groß genug sind, um einerseits die für das Rüstungsgleichge­
wicht allein ausschlaggebende industrielle Intensiv-Entwick-
lung zu gewährleisten, andererseits aber, um mit deren Hilfe ei­
nen autarken Friedenswohlstand zu schaffen, der sich, tut es
not, auch ohne Güteraustausch mit der andern Welthälfte zu
behaupten vermag. Und ebenso wäre das Öl-Gleichgewicht,
selbst bei einer so empfindlichen Störung wie es die Besitzer­
greifung der arabischen und persischen Gruben durch Rußland
wäre, kein unbedingter Kriegsanlaß, denn Ölquellen, in wel­
cher Hand immer sie sich befänden, können verhältnismäßig
leicht vermittels der Atombombe zerstört werden, und ihre
strategische Bedeutung wird daher mehr und mehr auf die syn­
thetische Öl-Erzeugung übergehen, überdies jedoch in gemes­
sener Zeit gänzlich verschwinden, sobald nämlich das Atom
selber zur Energiequelle geworden sein wird. Es ist also nicht
das Bedürfnis nach Landstrichen und Bevölkerungszahlen,
nach Naturprodukten und Absatzmärkten, das im letzten den
Plan der Welt-Zweiteilung vereitelt: er hat einen tieferen Kon­
struktionsmangel, um dessentwillen die Westmächte, also vor
allem die Vereinigten Staaten den Status quo mit allen und so­
gar, falls nicht anders möglich, mit kriegerischen Mitteln zu be­
wahren gewillt sind.
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Dieser Konstruktionsmangel ist die jeden Teilungsplan stö­
rende Sonderstellung Südamerikas.
Die Alte Welt bildet eine kompakte Landmasse; sie ist eine
geopolitische Einheit, die - und eben das macht interkonti­
nentale Kriege in ihr unmöglich - wenigstens bis etwa zum
äquatorialen Afrika hin von einer scharf militarisierten Vor­
macht, also entsprechend dem Plan des deutschen Generalsta­
bes nun von Rußland in Schach gehalten werden kann. Die
Neue Welt hingegen ist alles andere denn eine geopolitische
Einheit; sie besteht aus Inseln, aus Inselkontinenten - Gebil­
den, zwischen denen (dem Prinzip nach) transozeanische
Kriege möglich sind -, und es ist offenkundig, daß da Nord- und
Südamerika als zwei nahezu paritätische Einheiten einander
gegenüberstehen. Eine Vollbeherrschung der eurasischen und
afrikanischen Kontinentalmasse durch die Sowjets würde nicht
eine Zwei-, sondern eine Dreiteilung der Welt bedeuten.
Gewiß, es lassen sich bloß sehr wenige vernünftige Streit­
punkte zwischen dem Nord- und Südkontinent Amerikas aus­
denken (- es sei denn, daß man z. B. das mittelamerikanische
Öl als [einen] solchen bezeichnen wollte -) und sicherlich
könnte derzeit keinerlei Koalition der Lateinstaaten einen
Krieg gegen die Übermacht des Nordens wagen. Aber erstens
hat zur Kriegsentfesselung seit jeher die unvernünftige Ver­
nunft der Furcht ausgereicht, und zweitens könnte gerade das
nordamerikanische Übergewicht zu einem solchen Anlaß wer­
den, denn bei den tiefgreifenden ethnischen und politischen
Differenzen zwischen den beiden Kontinenten mag noch der
Tag kommen, an dem der Süden infolge der in ihm angesam­
melten Angst vor Yankee-Domination sich zum Losschlagen
bereit findet. Vielerlei kann hiezu führen, nicht zuletzt die vor­
aussichtlich kommende Änderung des Kräfteverhältnisses, und
das hängt von dem Tempo ab, mit dem Südamerika seine
Bodenschätze erschließen, seine Industrie aufbauen, seine
Atomtechnik entwickeln und - von Rußland bewaffnet wer­
den wird.
In Hitlers oder des Deutschen Generalstabs Kombinationen
- und sie waren der Verwirklichung wahrlich genügend nahe -
spielte der Aufbau eines gegen die Vereinigten Staaten, sie pa­
ralysierenden Lateinblocks eine bedeutende Rolle. Alimentiert
von den Industrien der drei westeuropäischen Lateinländer
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hätte Südamerika zueinem nicht unbeträchtlichen Kriegspoten­
tial werden können, und hätte sich auch noch die Industrie des
besiegten (und in seiner Ernährung ohnehin weitgehend von
Argentinien abhängigen) Englands hinzufügen lassen, so hätte
sich verhältnismäßig rasch ein volles Gegengewicht zur nord­
amerikanischen Macht herstellen lassen, besonders wenn das
arabisch-persische Öl nicht mehr ihr, sondern Südamerika zu­
gute gekommen wäre. Zu alldem brauchte Hitler ein gesicher­
tes Mittelmeer, brauchte er Nordafrika, brauchte er die west­
afrikanischen Besitzungen Frankreichs samt Dakar, den
Brückenkopf für die Verbindung mit Südamerika. Der russi­
sche Generalstab wird an dem Konzept seines deutschen Vor­
gängers, ob es sich nun um Südamerika, Westeuropa oder Eng­
land handelt, nur wenig zu ändern haben.
Eingeklemmt zwischen der vernichtungsbereiten Feindschaft
Rußland und der erbschaftsbereiten Freundschaft der Verei­
nigten Staaten ist England sicherlich geneigt, seine Position ge­
genüber beiden zu stärken und ihnen wie sich selber kraft akti­
ver Politik vor Augen zu führen, daß es ein wirkliches, nicht nur
ein papierenes Siegerland ist, indem es durch Förderung eines
anglophilen Lateinblocks die drohende Bildung eines russophi-
len zu vereiteln trachtet; die traditionelle Freundschaft mit
Spanien, Portugal und Argentinien, eine Freundschaft, in der
England seit jeher seine Anti-Yankee-Gefühle lukrativ zu ver­
werten wußte, gibt ihm ein gewisses historisches Anrecht hiezu.
Das Verhalten zu Perön und Franco liegt in dieser Richtung.
Denn in der Außenpolitik ist eine fascistisch-demokratische
Bettgenossenschaft genau so gut und so schlecht wie eine so-
wjetisch-fascistische oder eine demokratisch-sowjetische. Nur
kommt es auf die jeweiligen strategischen Umstände an. Und
ebendarum dürfte das englische Außenamt sich nicht allzuviel
Illusionen über die Tragweite seiner Bemühungen machen: es
weiß, daß die Latein-Patronanz eines seiner Machtstellung be­
raubten Englands nicht mehr die nämliche wie einstens sein
kann, und daß es damit eigentlich nur noch als Agent der - von
Hoover eingeleiteten und von Roosevelt zielbewußt weiterge­
führten und intensivierten - panamerikanischen good neigh-
bour policy arbeitet.
Die good neighbour policy ist die dringendste Aufgabe der
Vereinigten Staaten, wenn sie die Bildung eines feindlichen La­
358

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teinblocks hintanhalten wollen; sie haben das Vertrauen der
Lateinvölker, für die sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein
politisches Vorbild gewesen waren, durch die (freilich kaum
vermeidbar gewesene) westindisch-ostasiatische Strategie
Theodore Roosevelts gründlich verloren und müssen es wie­
derfinden. Doch ohne strategische Grundlage gibt es überhaupt
keine Staatenpolitik, und wenn man einen neighbour, der zwar
vielleicht anti-sowjetisch, jedenfalls aber höchst anti-yankee-
istisch ist, gewinnen will, so hat man vor allem darauf zu achten,
daß ihm die Sowjets nicht gleichfalls zum unmittelbaren good
neighbour werden; m. a. W., die Unantastbarkeit der glückli­
cherweise noch bestehenden geographischen Barriere zwischen
Rußland und Südamerika wird zur primären strategischen For­
derung, und das ist wiederum nichts anderes als Unantastbar­
keit des Status quo.
Damit schließt sich der Kreis: nicht England zuliebe, nein, um
ihrer selbst und ihrer eigenen strategischen Lage willen müssen
die Vereinigten Staaten für die Erhaltung des Status quo, d. h.
für die Respektierung der Teheran- und Jalta-Verträge eintre-
ten. Die Teilung in Alte und Neue Welt würde für sie, trotz der
ihnen zufallenden englischen Erbschaft, eine existenzgefähr­
dende strategische Niederlage darstellen.
Die erste Runde im Kampf um den Status quo haben die West­
mächte bereits verloren; die chinesische Niederlage ist offenbar
und kaum mehr aufzuholen. Gemeinsam mit China wäre viel­
leicht einmal - und vielleicht sogar ohne Atom-Vorbereitung
(denn auch dies gehört zum Status quo) - eine Offensive gegen
Rußland zu führen gewesen, während es jetzt, soferne man
nicht sofort mit Atom-Aktionen Vorgehen will, nur noch De­
fensive gibt. Demgemäß geht es jetzt um die politischen, diplo­
matischen, militärischen Positionen in Westeuropa (das hiezu
tunlichst zu einer Wirtschaftseinheit zusammengefaßt werden
soll), geht es um die Positionen am Balkan, in Palästina, in Ara­
bien, in Persien, in Indien, in Indochina, in Korea. Keines dieser
Gebiete ist Selbstzweck, nicht einmal ein kapitalistischer; sie
bilden vielmehr nun nach dem chinesischen Zusammenbruch
die zweite Verteidigungslinie in der strategischen Ganzheit, die
das eigentliche Kampfobjekt ist, eine unzweifelhaft schon er­
schreckend lebenswichtige Verteidigungslinie, und eben diese
Lebenswichtigkeit ist es, die das amerikanische Staatsamt mit
359

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seiner sogenannten Truman-Doktrin14zum Ausdruck hat brin­
gen wollen.
Freilich gäbe es noch eine dritte, allerdings letzte Verteidi­
gungslinie: nach Preisgabe des Status quo, nach Preisgabe Eu­
ropas und des englischen Mutterlandes, nach Preisgabe der
Mittelmeerländer und damit des Mittelmeers als solchem, je­
doch unter unbedingter Verteidigung Französisch-Westafrikas
und Britisch-Ostafrikas könnte ein letzter Stand längs einer Li­
nie gemacht werden, die vom Atlas ausgehend am Südrand der
Sahara verliefe und nördlich von Kenya den Stillen Ozean er­
reichte. Rein militärisch betrachtet hätte eine solche Linie im­
merhin den Vorteil, nicht einmal halb so lang wie die grotesk
ausgedehnte, nur den Russen günstige Demarkation von
Deutschland bis Korea zu sein, und wenn sie auch doppelt so
lang wie die äquatoriale Kongolinie und auch nicht so unpas­
sierbar wie diese wäre, sie würde ihr doch in der Verteidigbar-
keit ähneln, da sie ebenfalls den beiden Gegnern annähernd die
gleichen Verteidigungsschwierigkeiten böte, so daß also wenig­
stens hier eine Art echtes Kräftegleichgewicht herrschen
würde. Es wäre die letzte Verteidigungslinie für den Bestand
Gesamtamerikas; würde auch sie fallen, und müßte auf die
Kongolinie zurückgegangen werden, so wäre die Aufspaltung
der Neuen Welt in zwei einander fremde, ja feindliche Blocks,
die dann beide vom eurasischen Machtzentrum abhängig wä­
ren, wohl unvermeidlich.
Die Russen treiben konkreteste Realpolitik, und sie sind um
so weniger geneigt davon abzulassen, als sie meinen, damit die
Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung zu be­
weisen. Sie werden daher jeden Vorteil, der sich ihnen bietet,
rücksichtslos ausnützen, bis aufs äußerste ausnützen, und da ih­
nen im Augenblick das Schicksal alle möglichen Trümpfe, ins­
besondere fast alle strategischen, in die Hand gespielt hat, ist
offensichtlicherweise die gegenwärtige strategische Lage nicht
nur für England, sondern sogar auch für die auf der Höhe ihrer
Macht stehenden Vereinigten Staaten schlechterdings erbärm­
lich, und sie hat mancherlei Aussichten, mit jedem Jahr er­
bärmlicher zu werden. Der Rückzug aus China, für viele eine
fast unbemerkte, sozusagen koloniale Nebenangelegenheit,
könnte als der Positionsverlust großen Stiles, der er in Wahrheit
ist, der Auftakt zur endgültigen Niederlage sein, also wirklich
360

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noch bis zum Kongo führen, und man mag daher recht wohl
jene Militärs verstehen, welche argumentieren, daß unausnütz-
bare Macht ebenso wertlos sei wie unschürfbares Gold, und daß
man daher den Vorsprung in der Atombewaffnung nicht müßig
verstreichen lassen dürfe, vielmehr mit Hilfe eines Präventiv­
krieges den katastrophenschwangeren Rückzug zum Stillstand
zu bringen habe. Denn der Bewaffnungsvorsprung der Bombe
ist der einzige Vorteil, den die Westmächte dem strategischen
Rußlands entgegenzusetzen imstande sind, einen vorüberge­
hend dynamischen gegen einen solid statischen Vorteil.
Der Kampf um strategische Positionen, der allenthalben in der
heutigen Welt vonstatten geht, ist ein friedlicher. Es wird zwar
allenthalben geschossen, aber die Menschen gehen bloß an
Einzelwunden, an Hunger, an Verknechtung und Folterung zu­
grunde, und das ist Frieden, immer noch Frieden, nämlich ein
Staaten-Frieden. Erst wenn die Großausrottungen beginnen
werden, wird man es Krieg nennen dürfen, nämlich einen Staa-
ten-Krieg. Zwischen solchem Frieden und solchem Krieg läßt
sich, wenigstens in der Struktur, kaum mehr unterscheiden, und
angesichts solch geringen Unterschiedes wäre sogar ein Prä­
ventivkrieg zulässig, falls er die Sowjets und ihr angeblich so
konkretes Denken tatsächlich dazu brächte, nach dem ersten
Bombenabwurf, an den sie bisher nicht glaubten, von fernem
Expansions- und Hegemonieplänen abzustehen. Aber dürfen
die Westmächte sich wirklich eine Wiederholung des Hiro­
shima-Grauens hier gestatten? Kann es, alle moralischen Er­
wägungen beiseite, wiederholt werden, wenn der Gegner nicht
wie Japan ein bereits geschlagener, sondern ein hochaufgerü-
steter Staat voller Siegesgefühl ist? Wird da sein Real-Denken
nicht ganz anders reagieren als von ihm erwartet wird?
Gewiß, die Russen betreiben Realpolitik in einem geradezu
hypertrophischen Maße, und sie zwingen die anderen, ihnen auf
solchem Weg zu folgen; ihr Wille zur äußersten Ausnützung der
»Vorteile«, die in ihrer strategischen Position liegen, mobili­
siert die Atom-Bombe, den »Vorteil« der anderen. Aber Vor­
teil wofür? Vorteile für Hegemonie, Vorteile für den Status
quo? Und doch läuft es gerade darauf hinaus, und das haben
nicht erst die Sowjets erfunden, das war seit jeher da. Denn die
Realpolitik, um die es da geht, entspringt keinem Real-Den­
ken; sie entspringt Staats-Denken, also einem, das außerhalb
361

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der Staatssicherheit so viel wie nichts zu sehen fähig ist, dafür
aber sich anmaßt, jedes Opfer für des Staates strategische Si­
cherheit zu fordern, und das ist Krieg, immer wieder Krieg. Da­
bei »wollen« weder Rußland noch die Westmächte, geschweige
denn die russischen und westlichen Völker einen neuen Krieg.
Dabei wissen ihre Regierungen, daß sie mit alldem den Fortbe­
stand der Menschheit oder zumindest der menschlichen Zivili­
sation tödlich gefährden. Und trotzdem: es ist der Automatis­
mus der Staatsmechanik, und sooft dieser Automatismus durch
eine Gleichgewichtsstörung - wie eben durch den Ausfall des
englischen Widerstandspotentials jetzt bewirkt - in Bewegung
gesetzt wird, da kann die Staatsmechanik nur so und nicht an­
ders funktionieren, da wird sie stärker als jede Regierung, stär­
ker als jedes Volk.

1 Im »Vertrag von Verdun« (843) teilten die Söhne König Ludwigs des From­
men das Fränkische Reich: Karl der Kahle erhielt den Westen, Lothar das
Mittelreich und die Kaiserwürde, Ludwig der Deutsche den Osten.
2 Franz I. (1494-1547), seit 1515 König von Frankreich.
3 Die »Pragmatische Sanktion« setzte die Unteilbarkeit der Habsburgischen
Lande fest und regelte die Erbfolge nach dem Erstgeburtsrecht im männli­
chen und weiblichen Stamm.
4 Der »Friede von Utrecht« (1713) beendete, zusammen mit den Friedensver­
trägen von Baden und Rastatt (1714), den Spanischen Erbfolgekrieg; die
Bourbonen erhielten den spanischen Thron; die spanischen Nebenländer
(Mailand, Sardinien, Neapel, die südlichen Niederlande) kamen zu Öster­
reich.
5 Der »Friede von Passarowitz« (1718) zwischen Österreich, Venedig und der
Türkei verstärkte die Stellung Österreichs in Südost-Europa.
6 Franz II. (1768-1835), regierte seit 1792 als Kaiser des Heiligen römischen
Reiches deutscher Nation, seit 1804 als Franz I. Kaiser von Österreich, legte
1806 die deutsche Kaiserkrone nieder.
7 Napoleon, Herzog von Reichstadt (1811-1832), Sohn Napoleons I. und Ma­
rie Louises, der Tochter des österreichischen Kaisers Franz I. Seit seiner Ge­
burt führte Napoleon II. den Titel »König von Rom«.
8 Cola di Rienzi (1313-1354), italienischer Volkstribun; vertrieb 1347 die Sena­
toren aus Rom und versuchte eine Republik altrömischer Prägung zu errich­
ten. Bei einem Aufstand wurde er erschlagen.
9 Englisches Königshaus, das 1154-1399, mit seinen Nebenlinien Lancaster
und York bis 1485, regierte.
10 Thomas de Torquemada (1420-1498), spanischer Dominikaner, Beichtvater
Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragonien, seit 1483 Großinqui­
sitor.

362

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11 Anfang 1946 versuchten die USA durch General George Marshall zwischen
den Kommunisten und den Nationalisten in China zur Verhinderung eines
Krieges zu vermitteln. Diese Friedensmission scheiterte bereits Mitte 1946.
Der folgende Bürgerkrieg endete 1949 mit dem Sieg Mao Tse Tungs.
12 Vgl. Fußnote 4 im Aufsatz »Die Zweiteilung der Welt«.
13 Ernest Bevin (1881-1951), britischer Staatsmann und Labour-Politiker; von
1945-1951 Außenminister.
14 »The Truman Doctrine« vom 12. 3. 1947 besagte, daß die USA finanzielle
und militärische Hilfe jenen Staaten leisten, die von totalitären Regimen be­
droht würden. Als ersten Ländern wurde seinerzeit diese Unterstützung
Griechenland und der Türkei zuteil.

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Trotzdem: Humane Politik
Verwirklichung einer Utopie

Vom Absoluten in der Staatsstruktur

Macht, welche innerhalb einer sozialen Gemeinschaft ausgeübt


wird und nicht nur auf brutaler Gewalt beruhen soll, sondern
eine dauernde, das heißt von der Gemeinschaft hingenom­
mene, ja sogar von ihr bestellte sein will, muß eine den Ge­
meinschaftsmitgliedern einleuchtende, ihnen »natürliche« Le­
gitimation besitzen. Das mag unter Umständen wie eine
»freie«, einfach auf Vernunft gegründete Übereinkunft aus­
schauen, doch selbst noch in der banalsten Übereinkunft wirkt
eine bestimmte Vertragsmoral: wenn die Vertragspartner keine
sie gemeinsam bindende, »absolute« Moral besitzen, wenn sie
nicht »eidfähig« sind, gibt es keinen contratsocial, gibt es weder
eine haltbare soziale Gemeinschaft noch irgendeine verläßliche
Funktion in ihr. Wäre dem nicht so, der Eid wäre niemals als
»heilig« erklärt und unter schwersten Strafschutz gestellt wor­
den. Eid, Macht und Machtübertragung berufen sich letztlich
auf ein »Absolutes«.
Je mehr eine Gemeinschaft auf Dauer (oder gar für die
»Ewigkeit«) berechnet ist, desto mehr bedarf sie solcher
Fundierung im Absoluten, und desto mehr ist sie bemüßigt,
diese ins Über-Irdische zu verlegen, denn im Irdischen scheint
sich ja alles fortwährend zu ändern, so daß sich da nichts Abso­
lutes auffinden läßt. Aus diesem Bedürfnis nach überirdischer
Absolutheit entstand die Vergottung der orientalischen und rö­
mischen Monarchen, entstand im Mittelalter die Theorie des
Gottesgnadentums. Aber auch die Theorie der modernen De­
mokratie stammt aus dieser Quelle, da der von Rousseau ver­
kündete Glaube an die volonte generale1 und an deren unbe­
dingte Vernunft nichts anderes als eine Übertragung des
Gottesgnadentums (und damit der göttlichen Vernunft) auf die
zum Machtträger gewordene Volksgemeinschaft darstellt, zu
deren Repräsentanten später die Volksmajorität gemacht
wurde: die mittelalterliche Staatsmystik hat eine göttliche Se­
lektion in der Verleihung des Herrscheramtes angenommen,
die moderne zieht die Wahrscheinlichkeitsrechnung heran und
364

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nimmt an, daß die Ebenbildhaftigkeit, kraft der die Menschen
allesamt zur »Freiheit« und »Gleichheit« geboren werden, sich
am deutlichsten in der großen Zahl ausdrückt, und daß daher
diese, und zwar als Majorität, mit dem göttlichen Recht der
Machtausübung betraut werden muß.

Der Unterschied zwischen Totalitarismus und


Nicht-Totalitarismus

Vom Absoluten, an das die Mitglieder eines Gemeinwesens


glauben, hängt die zwischen ihnen gültige Moral ab, und derje­
nige Teil dieser Moral, der sich unmittelbar auf die Führung der
Gemeinschaft bezieht, bildet den Komplex ihrer »regulativen
Grundprinzipien«. Zu den regulativen Grundprinzipien des
Feudalstaates gehört neben dem unbedingten katholischen
Glauben die Annahme der hierarchischen Gesellschaftsord­
nung als Spiegel der Himmelshierarchie, während für die De­
mokratie die Freiheit und Gleichheit der Menschen (ein­
schließlich des dazugehörigen Rechts auf pursuit of happiness)
als regulative Grundprinzipien gelten.
Sind die regulativen Grundprinzipien Allgemeingut des Vol­
kes, so daß sie in stillschweigender Selbstverständlichkeit von
jedermann anerkannt und eingehalten werden, so hat der Staat
keinen Anlaß zum Totalitarismus. Wo aber die Prinzipien bloß
von einer herrschenden Gruppe vertreten werden, sei es weil
das Gesamtvolk mit ihnen noch nicht bekannt oder gar ihnen
wieder abtrünnig geworden ist, so daß die Herrschergruppe
Bekehrung oder Wiederbekehrung vorzunehmen hat, da tritt
Totalitarismus ein, nämlich ein Zustand, in dem der Staat die
Einhaltung seiner Grundprinzipien strafrechtlich erzwingt.
Mit anderen Worten: im nicht-totalitären Staat ist das »Abso­
lute«, auf dem seine regulativen Grundprinzipien sich gründen,
Gegenstand eines »natürlichen«, also traditionsgetragenen
Glaubens, während der Totalitärstaat diesen Glauben zu er­
zwingen bemüßigt ist. Solch staatliche Zwangsbekehrungen
(die also mit rein religiösem Missionseifer nichts zu tun haben)
hat Karl der Große gegenüber den Sachsen geübt, ebenso wur­
den sie als mehr oder minder inquisitorische Wieder-Gleich-
schaltungen in den katholischen Staaten der Spätrenaissance
von den Jesuiten vorgenommen, und nicht anders verhält es
365

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sich mit den modernen Totalitarismen, mit dem marxistischen
Glauben in Rußland, mit dem rassistischen in Nazi-Deutsch­
land, mit dem fast abstrakten Staatsglauben der lateinischen
Fascismen, die im Gegensatz zu den andern alles Metaphysi­
sche dem kirchlichen Alliierten überlassen und für sich bloß die
nackte Staatsautorität in Anspruch nehmen: ob so oder so,
überall werden die jeweiligen regulativen Prinzipien mithilfe
des Einparteien-Systems dem Volke zwangsmäßig auferlegt.

Vom Anti-Totalitarismus der Demokratie

In Auflehnung gegen die (teilweise sogar totalitäroide) Monar­


chie entstanden, glaubte die Demokratie, daß ihr revolutionä­
res Feuer niemals erlöschen könne und glaubt dies, merkwürdi­
gerweise, auch heute noch. Daß jedermann rückhaltlos für
Freiheit und Gleichheit eintreten werde, schien eine Selbstver­
ständlichkeit; wenn es davon Ausnahmen gab, so konnten das
(abgesehen von den Tyrannen selber und ihren aristokratischen
Anhängern) bloß Narren sein, und da außerhalb von Irrenan­
stalten Narren-Majoritäten kaum zu finden sind, bedurften die
regulativen Prinzipien der Demokratie offenbar keines weitern
Schutzes, am allerwenigsten eines totalitären.
Trotzdem blieb das revolutionäre Mißtrauen gegen jegliche
Regierungsgewalt wach: hinter jeder witterte die Demokratie
die Neigung zum Cäsarenwahn, das Streben zur Wiedererrich­
tung des einstigen Tyrannentums, und um das zu verhüten,
wurde der Staat nicht nur auf die Basis einer »Konstitution« ge­
stellt - das eigentliche Novum der modernen Demokratie -,
sondern es wurden diesen Konstitutionen (die an sich keine
sonstigen Schutzklauseln für die Grundprinzipien enthalten)
sozusagen äußer-konstitutionelle Präambeln, die »Bill of
Rights«, die »Declaration des Droits de l’Homme« und der­
gleichen vorausgeschickt, welche den tyrannischen Absichten
der Regierungen einen Riegel vorschieben sollten.
In Wahrheit ist das Gegenteil eingetreten: in Wahrheit hätten
die Volksmajoritäten weit mehr Mißtrauen als die demokrati­
schen Regierungen verdient, denn diese haben oft genug - und
dafür ist das deutsche Geschehen ein Musterbeispiel - infolge
ihrer Bindung an die Konstitution und an die Vorschriften der
Menschenrechte, von denen das der unbedingten freien Mei­
366

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nungsäußerung sich als das gefährlichste erwiesen hat, der wü­
stesten antidemokratischen Propaganda freien Lauf lassen
müssen.

Von den Auflösungstendenzen innerhalb der Demokratie

In mancher Beziehung ein Kind des Kapitalismus - wenn auch,


wie die schweizerische Ur-Demokratie zeigt, keineswegs im­
mer solchen Ursprungs -, hat die Demokratie an den kapitali­
stischen Mängeln, an Ausbeutung, Imperialismus, Kolonialis­
mus mitzutragen; nicht nur die soziale, nein, auch die politische
Gerechtigkeit, diese spezifisch demokratische Tugend ist hie­
durch vielfach depraviert worden.
Eine derartige Depravierung wäre jedoch kaum möglich ge­
wesen, wenn die Demokratie nicht in die Epoche des schwin­
denden Gottesglaubens geraten wäre: der Ebenbildhaftigkeit
beraubt, scheinen die Menschenrechte ihren innersten Gehalt
verloren zu haben; auch das Naturrecht, auf das man sie neu hat
gründen wollen, genügt allein nicht, sondern braucht den Hin­
tergrund der göttlichen Ratio, um - es gibt da keinen anderen
Weg - als Vernunftrecht zur Sichtbarkeit und Existenz zu ge­
langen. Die ebenhiefür von der französischen Revolution ein­
gesetzte Göttin der Vernunft war zwar eine Farce, trotzdem
eine logisch bedingte, denn ohne Berufung auf ein Absolutes
hängen die Menschenrechte in der Luft, und die Idee der De­
mokratie tut es dann erst recht.
Der Verlust des Gottesglaubens hat die Menschen in einem
Augenblick getroffen, in dem ihnen die Fixierung an einen
Zentralwert am notwendigsten gewesen wäre. Die explosions­
artige Industrialisierung hatte die jahrhundertealten traditio­
nellen Lebensformen über den Haufen geworfen und einen
kalt-technischen Dschungel undurchsichtiger Großgewalten
erzeugt, in dem der Mensch jeden seelischen und materiellen
Halt verlor. Und da die Demokratie selber religionsabhängig
war und keinerlei Möglichkeit besaß, einen Religionsersatz zu
bieten, mußten aus ihr die Totalitarismen erwachsen, die politi­
schen Pseudo-Religionen, die den neuen Zentralwert verspra­
chen.

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Von der Überzeugungskraft des Marxismus

Marx und Engels, den romantischen Glanz der amerikanischen


und der französischen Revolution vor Augen, wollten durch
eine zweite, die soziale Revolution, das demokratische Ideal,
das Ideal der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und der Men­
schenrechte zur vollen Verwirklichung bringen. Sie gingen wis­
senschaftlich vor, aber ihrem Gefühl nach waren sie Pazifisten
und Gerechtigkeitsapostel, und daß die Weltrevolution der­
einst in Gestalt von Weltkriegen vonstatten gehen könnte, kam
ihnen nicht in den Sinn.
Lenin verwarf den demokratischen Hintergrund des Marx-
schen Gedankengebäudes, und er mußte daher auch den (im
letzten deistischen) Absolutheitshintergrund Hegels, wie er
noch bei Marx sichtbar ist, ein für allemal verwerfen. Anstelle
des Marxschen Pazifismus und Evolutionismus wurde die Iden­
tität von Weltkrieg und Weltrevolution, beides in totalitärem
Sinn, voll anerkannt. Mit dem Sowjetismus hat Lenins poli­
tisches Genie eine Totalitätsidee in wissenschaftlicher Fassung
als sein ureigenstes Produkt in die Welt gesetzt, und ihre ag­
gressive Dynamik läßt sich hinsichtlich der ihr innewohnenden
massensuggestiven Wirkung etwa folgendermaßen zusammen­
fassen:
a) der Sowjetismus ist seiner marxistischen Grundlage gemäß
eine revolutionäre Bewegung, die sich an alle »Ausgebeuteten«
wendet, also einerseits an die unter-privilegierten Klassen des
ganzen Erdkreises, andererseits an all die Völker, welche mit
beleidigtem Nationalstolz bisher die wehrlosen Objekte des
europäischen Kolonialsystems gewesen sind;
b) dieser Aufruf zur sozialen und nationalen Revolution segelt
-offenbar mit aller Berechtigung - unter der Flagge der »Ge­
rechtigkeit«, also unter einem absoluten moralischen An­
spruch;
c) wenn auch Revolutionen sich vor allem gegen die bestehen­
den Einrichtungen richten, weil eben diese, der Staat an ihrer
Spitze, als »ungerecht«, als bedrückend und daher als abände­
rungsbedürftig empfunden werden, es verlangt der Revolu­
tionsmechanismus außerdem nach Sündenböcken und nach
deren »Bestrafung« -, ein Bedürfnis, dem der Marxismus ent­
gegenkommt, indem er mit zwar unerlaubter, dennoch notwen-
368

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diger Über-Simplifikation »die« Kapitalisten und Bourgeois
für sämtliche Weltschäden verantwortlich macht;
d) die »Befreiung vom Kapitalismus« ist nicht gleichbedeu­
tend mit individueller Freiheit, vielmehr wird an die Stelle der
kapitalistischen Willkür die sozialistische Disziplin gesetzt, und
wenn auch als deren letztes Kampfziel das alte Freiheitsideal zu
gelten hat, so wird es doch nicht dem einzelnen (für den es eine
viel zu schwere Last ist) unmittelbar aufgebürdet;
e) eben diese straffe Disziplin gibt dem sowjetischen Marxis­
mus die Würde eines Dogmas, dessen totale Geltung (unter
Strafandrohung) von niemandem mehr angezweifelt werden
darf und daher als neuer Zentralwert durchaus geeignet ist, an
die Stelle der alten entschwindenden Glaubenshaltungen zu
treten;
f) die Glaubensgrundlage zeigt sich hier als die spezifisch mo­
derne der Wissenschaftlichkeit, da der Marxismus behauptet,
daß er die einzig gültige, wissenschaftlich »fundierte« und dem­
gemäß von allem Mystizismus gereinigte Geschichtsauslegung
sei und infolgedessen auch allein die Fähigkeit besitzt, wissen­
schaftliche Aussagen über den Kausalgang künftiger Ge­
schichtsereignisse zu machen;
g) auf Grund solch wissenschaftlicher Prophetie wird verspro­
chen, daß in einer voll-sozialisierten Welt eine maximale Gü­
tererzeugung in optimaler Verteilung den maximal-optimalen
Wohlstand für »alle« hervorbringen werde, und daß damit die
Vorbedingung für das Verschwinden sämtlicher freiheitsein­
schränkender Einrichtungen einschließlich derjenigen des
Staates geschaffen werden würde.
Hinter diesen Maximen steht das an Marx angelehnte makel­
lose Theoriensystem, und so erfüllen sie einen dreifachen
Zweck: sie stacheln den Rebellionswillen des Malkontenten an,
sie geben dem in Unsicherheit geworfenen Menschen einen
Zentralwert, dessen wissenschaftliche Unterbauung anschei­
nend allen Anfechtungen standhält, und sie befriedigen damit
das menschliche Bedürfnis nach dem Absoluten, das Bedürfnis
nach einer allumspannenden absoluten Einsichtigkeit. Und
ebendarum sind dies auch die Waffen, mit denen die Sowjets
ihren stärksten Stoßtrupp für den kommenden Weltrevolu­
tionskrieg ausgerüstet haben, den Stoßtrupp der >Fünften Ko­
lonnen^
369

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Von den Fascismen

Die Fascismen, gleichgültig ob deutscher oder lateinischer Ob­


servanz, haben ihren Totalitarismus von Lenin bezogen, ebenso
einen großen Teil ihrer Methoden, wie zum Beispiel die Ein­
richtung der politischen Organisation, das Zellensystem der
Verschwörungen, die Aufstellung von Fünften Kolonnen und
anderes. Sie unterscheiden sich vom Sowjetismus durch den
Mangel an Ideologie und Theorie; die rassische Geschichtsauf­
fassung, die Hitler dem historischen Materialismus entgegen­
setzen wollte, ist im Vergleich mit diesem ein primitives und
kindisches »Ich auch«, nebenbei freilich auch ein politischer
Propaganda-Trick ersten Ranges. Ansonsten jedoch ist der
Fascismus nichts als leere Macht-Technik, ist nichts als relati­
vistischer Machiavellismus, da - und das ist immerhin eine ge­
wisse zynische Ehrlichkeit - jede absolute Bindung als abgetan
gilt und bloß der unmittelbare Vorteil anerkannt wird: alles ist
erlaubt, was den Zwecken der Machterweiterung, des Terrors
oder auch nur der Triebbefriedigung für die Massen dienen
kann, und wenn sich dies auch weitgehend mit der sowjetischen
Revolutionsmoral deckt, so nimmt diese doch, zumindest als
Utopie, die Wiedereinsetzung der Menschenrechte für die
ferne Zukunft der klassenlosen Gesellschaft in Aussicht, wäh­
rend der Fascismus einfach nihilistisch ins Leere hinein steuert.
Ob der Sowjetismus infolge seines totalitären Wesens nicht
gleichfalls einst dieser Gefahr erliegen wird, ist angesichts sei­
nes Totalitärapparates noch keineswegs ausgemacht; für die
Demokratie besteht sie, wie es sich an Deutschland und Italien
bewies, und sie wird unzweifelhaft weiter wachsen, soferne
nicht die Menschenrechte sowohl theoretisch als auch praktisch
eine neue Festigung erfahren.

Vom Einfluß der Spekulation auf die Geschichte

Verliert der Mensch sein gläubiges Gottgefühl, weil er sich ket­


zerischen Spekulationen hingegeben hat, oder gibt er sich den
Spekulationen hin, weil er sein Gottgefühl verloren hat? Ist das
irrationale Erleben oder die rationale Spekulation das Primäre?
Wo ist die Ursache, wo die Wirkung?
Mag man auch geneigt sein, dem irrationalen Erleben stets
370

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den Vorrang zu geben, so ist das Gewebe der Ursachen und
Wirkungen doch viel zu dicht und zu verkreuzt, als daß es in ir­
gend einer Weise eindeutig aufgelöst werden könnte; aus dem
Irrationalen wächst die rationale Überlegung, die wieder aufs
irrationale Erleben zurückwirkt, und der zunehmend kompli­
zierter werdende Prozeß hat kein Ende. Trotzdem läßt sich sa­
gen, daß die eigentlich geschichtsbildende Kraft in der Speku­
lation liegt; das Tier spekuliert nicht und ist demnach
geschichtslos.
Gewiß, das Rationale ist im Irrationalen vorgebildet; das wird
von den an sich stets »logischen« Instinkt- und Reflexreaktio­
nen der Tiere dargetan. Aber während die tierische Logik eine
rein improvisatorische ist, das heißt eine Logik, die über die je­
weilige reale Situation und deren inhaltliche Impulse nicht hin­
ausreicht, also auch in ihrem Ablauftempo sich mit dem der äu­
ßern Geschehnisse deckt, vermag sich das menschliche Denken
in jedem Augenblick von der impuls-gebenden äußeren Reali­
tät abzulösen, um zu einem im Tempo schier unbeschränkten,
»autonomen« Spekulieren zu werden: lassen sich die Resultate
der Spekulation in die Realität zurückprojizieren, so bilden sie
hier das »Neue«, das »Vorher-noch-nicht-Dagewesene«, ohne
dessen Auftreten es keine Geschichte gäbe.
In der Rückprojizierbarkeit zeigt sich zwar die geschichtsbil­
dende Kraft des Spekulierens, das vermöge seiner »logischen
Richtigkeit« das »Neue« in der Realität hervorbringt, aber es
besteht die Geschichte dennoch aus »Irrtümern«, d. h. aus Si­
tuationen, welche von der Spekulation - fern von deren »Veri­
fizierung« - zu äußerster Verwirrung gebracht worden sind, so
daß man da recht wohl von »Fehlprojektionen« sprechen darf,
deren Sammelort die Geschichte ist. Logische Richtigkeit näm­
lich ist etwas Formales; bei vollkommener Inhaltsleere wie in
der Mathematik wird sie eindeutig verläßlich, doch wo mit In­
halten operiert wird, da wird sie trotz anscheinend richtiger
Ableitung dubios und liefert bloß hypothetische Resultate. So
sind zum Beispiel die theologischen Spekulationen über die
Existenz des Teufels und der Hexen einwandfrei »richtig«, und
trotzdem hat ihre Rückprojektion in die Realität den fürchter­
lichen Massenwahn der Hexenverbrennungen hervorgebracht.
Kurzum, das »Inhaltliche«, die »inhaltliche Spekulation« führt
zu »Fehlsituationen«, für die man nicht einfach die »Mangel­
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haftigkeit des menschlichen Verstandes« - in der Mathematik
gibt es ungeachtet der gleichen Mangelhaftigkeit kaum solche
Fehlsituationen - verantwortlich machen kann. Und so gelangt
man zu der allerdings sehr vereinfachten Faustformel: Das
»Neue« in der Geschichte erweist sich dann und nur dann als
»Fortschritt« und nicht als Fehlsituation, wenn es stets aufs
neue den Impuls zu neuen und wiederum neu projizierbaren
Spekulationen zu geben fähig ist; so geschieht es im unendli­
chen Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis, während der
Hexenglaube nach seinem Erlöschen keinerlei Konsequenzen
mehr nach sich gezogen hat.

Vom Einfluß des Rechts und der Rechtsspekulation


auf die Geschichte

Zu den die Geschichte durchsetzenden, ihre Fehlsituationen


erzeugenden Irrtümern gehören auch die der Rechtsauffassung
- das Hexenrecht ist offenbar einer von ihnen - , und gleich je­
nen sind auch diese inhaltlich bedingt. Außerhalb der Mathe­
matik gibt es eben keine Inhaltlosigkeit, gibt es keine eindeutige
Deduktion, und wenn das Recht meint, sich in seinen letzten
Grundlagen als >reines<, inhaltsentblößtes Abstraktum konsti­
tuieren zu können, als ein »Recht an sich«, das in seiner »In­
halts-Neutralität« eine geradezu logisch-mathematische Abso­
lutheit der Form beanspruchen dürfe, so ist das gleichfalls schon
ein Rechtsirrtum und sogar ein recht folgenschwerer.
Gewiß, das abstrakte formale Recht ist ein System, das durch
rein logische Deduktionen zu durchaus inhaltsneutralen
Rechtssätzen gelangt, etwa zu den folgenden:
»Die Gesetze werden gegen Übertretungen durch Strafsank­
tionen geschützt«, oder
»Vor dem Gesetz sind alle gleich«, oder
»Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe«, oder
»Je schwerer die Gesetzesübertretung, desto schwerer die
Strafe«, und dergleichen. Und gewiß sind das inhalts-neutrale
Sätze, also solche Sätze, welche sich weder um die Inhalte der
Gesetze noch der Strafen kümmern; sie gelten ebensowohl für
eine milde wie für eine drakonische Gesetzgebung.
Trotzdem ist diese radikale Absolutheit der Form bloß
scheinbar, und damit fällt auch ihr radikaler Inhalts-Relativis­
372

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mus. Denn selbst wenn alle in dem System noch enthaltenen
Spuren des göttlichen Rechts, das - entsprechend den Zehn
Geboten - ein inhaltlich absolutes Recht ist, ausgetilgt werden
könnten, so bleibt das Recht noch immer auf den Menschen be­
zogen: ohne Kenntnis der physischen und psychischen Lei­
stungsfähigkeit des Menschen können an ihn keine sinnvollen
Gesetzesforderungen gestellt werden, und ohne Kenntnis sei­
ner Furcht-Komplexe lassen sich keine wirksamen Strafandro­
hungen an ihn richten; der Mensch ist für das Recht »irdische
Absolutheit« und damit stete inhaltliche Bedingung.
Das wird insbesondere an der Struktur der Strafe klar. Denn
wie immer Skalen der Strafe aufgebaut werden, sie gipfeln in
der (einfachen oder verschärften) Todesstrafe, also einem »ir­
dischen Absolutum « kat’ exochen, und wie immer sie auf gebaut
werden, ja selbst wenn sie die Todesstrafe ausschließen, so ist
jede einzelne Strafe in der Skala doch ein Symbol der Todes­
strafe. Bei den Körperstrafen ist das evident, aber auch bei den
anderen Strafen ist es durchsichtig genug, denn Einkerkerung
und Zwangsarbeit »versklaven« den Menschen, das heißt sie
»versachlichen« ihn und machen ihn zum lebenden Leichnam.
Durch die Bindung des Rechts an die »irdische Absolutheit«
des Menschen wird sowohl die ungebundene Rechtsspekula­
tion wie vor allem ihre Inhalts-Neutralität erheblich einge­
schränkt, also jener geradezu verruchte Inhalts-Relativismus,
der dem jeweiligen Gesetzgeber, »alles erlaubt«, soferne nur
der Gesetzgebungsakt keine formalen Fehler aufweist: die Pro­
jizierung dieser verwerflichen Gesetzes-Auffassung in die
Wirklichkeit hat nicht wenig zur heutigen Barbarei beigetragen,
denn sie ist die Handhabe zur scheinbar legitimen Aufhebung
der Menschenrechte.

Von der Neubegründung der Menschenrechte

Kein formaler Rechts-Relativismus ist im Laufe der Jahrtau­


sende imstande gewesen, ein inhaltliches menschenrechtliches
Gebot wie das »Du sollst nicht töten« zu entkräften, und wie
immer die Entkräftung begründet wäre, das naive Rechtsgefühl
spürt, daß sich dahinter eine Antinomie verbirgt. Aber zur Be­
seitigung dieser Antinomie braucht man das Absolute, die »ir­
dische Absolutheit«, an die das Recht formal gebunden ist.
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Menschenrecht ist nicht - wie bisher merkwürdigerweise an­
genommen worden ist - eine Forderung an die Regierungen,
sondern eine an die Gesetzgeber, und ebendaran wird es zu ei­
ner spezifisch politischen Forderung: das Menschenrecht ist die
Meta-Politik schlechthin, und es verlangt im Grunde nichts an­
deres als daß der Grundsatz »Du sollst nicht töten« auch für die
Gesetzgebung gelte. Noch vor dreißig Jahren wäre das eine ba­
nale Forderung gewesen; heute ist sie keineswegs mehr banal,
und sie ist es umsoweniger als die Menschenrechte in ihrer klas­
sischen Gestalt immer das gemeint hatten: sie wollten verhüten,
daß der Bürger, der sich gegen kein Gesetz seines Landes ver­
gangen hat, den Versklavungsabsichten einer wiedererwachten
Tyrannis verfalle und dadurch in einen straf-ähnlichen, also die
Todesstrafe symbolisierenden Zustand versetzt werde. Und
eben das ist heute unter dem Terror der Diktaturen zur Wirk­
lichkeit geworden.
Tyrannis wie Terror arbeiten mit der »Unvermeidlichkeit«
des strafähnlichen Zustandes; wer für ihn bestimmt ist, muß ihn
über sich ergehen lassen, und kein noch so wohlgesittetes, kein
noch so tyrannen-treues Betragen kann ihn davor retten. Wenn
aber das Recht meint, daß es durch seine »Inhalts-Neutralität«
gezwungen sei, sich zum Sachwalter solcher Vorgänge zu ma­
chen, so gerät es ebenso unvermeidlich in Widersprüche, ins
Antinomische, und zwar aus verschiedenen Gründen. Daß ein
jeder, der unschuldig eine Strafe und gar die Todesstrafe erlei­
den soll, formal sozusagen »verbrechensbefugt« wird, mag hie­
bei noch am wenigsten ins Gewicht fallen, nicht etwa deswegen,
weil er praktisch an der ihm >zustehenden< Begehung eines
Verbrechens verhindert werden kann - auch die Sklavenkrimi­
nalität, für die ähnliches gilt, war erstaunlich gering -, sondern
deswegen, weil schon bei der »normalen« Todesstrafe derartige
Antinomien auftreten, nämlich als Problem der Straf-Maxima-
lität (einer alten Verlegenheit der praktischen Justiz), derzu-
folge der einfache Mörder ebensogut Massenmorde hätte be­
gehen dürfen. Schwerwiegender dagegen ist die Antinomie der
»rechtlich legitimierten Rechtsunsicherheit«, wie sie vom Ter­
ror-Staat stets angestrebt wird, und zu der ihm die Inhalts-Neu­
tralität des Rechtes verhilft. Und am schwerwiegendsten wohl
ist die in alldem steckende Rechts-Tautologie, deren Schema
sich beiläufig folgendermaßen formulieren läßt:
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»Es ist verboten, das fünfzigste Lebensjahr zu überschreiten,
und wer dagegen handelt, wird mit dem Tode bestraft.«
Klingt das zu absurd? Nun, bis zum Jahre 1863 hieß es, wenn
auch unter einigen anderen gesetzlichen Verkappungen, im
gesamten amerikanischen Süden:
»Es ist verboten, mit einer schwarzen Haut geboren zu wer­
den, und wer dagegen handelt, wird mit lebenslänglicher
Zwangsarbeit bestraft.«
Und nicht anders waren die »Gesetze« beschaffen, durch wel­
che die deutschen Juden-Morde dekretiert worden sind; sie
sind samt und sonders Tautologien, denn das ist die formale
Grundlage des Terrors.
Nur dort, wo absolute Inhaltslosigkeit herrscht, also in der
Mathematik, ist die Tautologie legitim; ein Rechtsaufbau, der
sich inhaltsfrei wie die Mathematik wähnt, also auch die Tauto­
logie gestatten will, wird mörderisch. Aber er wird auch wider­
spruchsvoll. Denn wie soll sich der Begriff »Gesetz« von dem
der »Strafe« unterscheiden, wenn beide das nämliche meinen
dürfen? Und eben darum läßt sich aus dem formalen Rechtsbe­
griff selber ein Satz ableiten, der dem ganzen Spuk ein Ende be­
reitet:
»Gesetzesbestimmungen dürfen mit den für ihre Übertretung
festgesetzten Strafen nie identisch sein.«
Zu dieser formalen Bestimmung muß aber - eben wegen des
inhaltlichen Charakters des Rechts - noch eine inhaltliche tre­
ten, und diese ist aus der Definition der Strafe als »Versachli­
chung« zu gewinnen, so daß sich der Satz folgendermaßen er­
weitert:
»Gesetze dürfen dem Bürger keinen straf-ähnlichen Zustand
auferlegen, das heißt ihn seiner spezifisch menschlichen Attri­
bute der Freiheit, Gleichheit und des Rechts auf Streben nach
Glück berauben, vielmehr ist eine solche Versachlichung des
Menschen ausschließlich der Strafe bei Gesetzes»Übertretungen
Vorbehalten.« Von Ausnahmefällen wie dem Krieg kann hier
abgesehen werden.
Daß das Formalrecht solcherart imstande ist, den Menschen­
rechten eine systematische Begründung zu geben, hat eine poli­
tische Bedeutung, die nicht unterschätzt werden darf, denn es
bietet ein Kriterium zur Unterscheidung von legitimer und ille­
gitimer oder verbrecherischer Politik.
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Vom irdisch Absoluten

Die Menschenrechte sind moralische Forderung, sind morali­


sches Gebot und sollen politisches werden, und wie hinter je­
dem moralischen Gebot steht auch hier die Form »Du sollst
nicht.« Das heißt, sie richten sich gegen das radikal Böse, und
als solches enthüllt sich die »Versklavung«, die »Versachli­
chung« des Menschen. Das ist das »irdisch Absolute«, an dem
die Menschenrechte sich fundieren und definieren: es ist eine
Wendung vom Über-Irdischen (der Ebenbildhaftigkeit) zum
Irdischen (des Konzentrationslager-Grauens), eine Wendung
von der bloß logischen Spekulation zum inhaltlichen, dennoch
nicht minder absoluten Faktum, und die Notwendigkeit dieser
Wendung hat sich aus der Erfahrung der totalitären Schreck­
nisse ergeben.
Aber die totalitären Systeme sind bloß ein äußerer Anlaß. In
Wahrheit ist die gesamte Erkenntnis in solch radikaler, man
darf wohl sagen kopernikanischer Wendung begriffen. Insbe­
sondere die Physik hat gezeigt, daß die sogenannten »logischen
Notwendigkeiten«, mit denen man bisher absolute Aussagen
über die Natur und ihre Strukturen (Räumlichkeit, Äther, Teil­
barkeit) gemacht hat, allesamt Fehl-Feststellungen ergeben
haben, und daß sie durch empirische, also »irdische« Absolut­
heiten (wie zum Beispiel durch die mit dem Licht gegebene
Höchstgeschwindigkeit) ersetzt werden müssen: die logische
Spekulation ist für die menschliche Erkenntnis zwar das »abso­
lut« unerläßliche Vehikel, aber was sie inhaltlich zutage fördert,
ist verdächtig, ist trotz »richtiger« Deduktion noch keineswegs
absolut, muß vielmehr unaufhörlich vom Empirischen her
überprüft und eingeschränkt werden.
Die Fehl-Aussagen in den Naturwissenschaften und die
»Fehl-Situationen« in der Geschichte weisen solcherart eine
gewisse Verwandtschaft miteinander auf; beide sind Produkte
der spekulativen »oberen« Absolutheit, welche in die Wirk­
lichkeit projiziert worden ist, und beide können nur durch Auf­
deckung der jeweiligen »unteren«, der irdischen Absolutheit
berichtigt werden. Im Gebiet der Geschichte aber bedeutet
diese Berichtigung nichts anderes als »richtige« Politik.

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Die Menschenrechte im Aufbau
eines demokratischen Theoriensystems

Wäre Demokratie lediglich, wie Churchill sie definierte, Ab­


gabe des Stimmzettels am Wahltag, so wäre sie bestenfalls In­
teressenvertretung. Doch sie ist mehr: sie ist - und das naive
Rechtsempfinden bezeugt dies - noch immer wie von Anfang
an eine an den Menschenrechten orientierte Politik.
Der pursuit of happiness, das Streben nach Glück, bedeutet
letztlich Überwindung des Menschenleides. Das Leid ist wi­
der-vernünftig, aber die Geschichte mit ihren Fehl-Situationen
besteht aus Leid. Augustinus hat darin den Läuterungsprozeß
zur Erreichung der Civitas Dei gesehen; für Hegel war es der
schmerzliche Prozeß der Selbstbewußtwerdung des Weltgei­
stes, und für Marx war damit die Aufforderung zur Erlösung
vom materiellen Leid des Hungers verbunden. Betrachtet man
jedoch bloß das Wider-Vernünftige des Leids, seine »Abnor­
mität« und sein Entstehen aus Abnormalität, so zeigen sich in
den Entwicklungen der verschiedenen Menschengruppen ge­
wisse Pendelbewegungen, deren Ausschläge - cum grano salis
genommen - sich als zwei verschiedene »Abnormalitätsperio­
den« darstellen, während die Mittellage das Bild einer Art
»Normalität« ergibt, freilich sehr oft bis zur Unmerklichkeit
verwischt, da bei der Unzahl der menschlichen Gruppenkon­
stellationen nur in ganz seltenen Fällen die Schwingungsphasen
übereinstimmen, und sich daher fortwährend Konfliktsituatio­
nen einstellen, welche zur »Abnormität« beitragen. Entsteht
aber trotzdem irgendwo eine Normalitätsperiode der Leidbe­
freiung, so enthält sie auch annäherungsweise eine Verwirkli­
chung der Menschenrechte, und das hat die Demokratie schier
instinktiv begriffen.
Der Marxismus, zumindest der sowjetische, hat die Verwirkli­
chung der Menschenrechte, allerdings eine hundertprozentige,
bis zur Vollsozialisierung der Welt verschoben, und da dies,
dem Dogma gemäß, bloß revolutionär und ja nicht evolutioni-
stisch, also ausschließlich durch Ausrottung ganzer Bevölke­
rungsschichten und überdies durch Krieg angestrebt werden
darf, so hat sich die Menschheit vorderhand mit einer ständigen
Zunahme ihrer Leiden abzufinden. Die Demokratie dagegen,
weniger dogmatisch, dafür aber, zumindest der Idee nach, den
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Menschenrechten ehrlicher hingegeben, rechnet nicht mit de­
ren hundertprozentiger Verwirklichung; sie wünscht bloß, daß
in jedem Weltaugenblick, also nicht erst in legendärer Zukunft,
sondern sofort, ein Maximum von pursuit of happiness »für
alle« sich verwirkliche oder - vorsichtiger ausgedrückt -, daß
in jedem Weltaugenblick das Menschenleid auf ein Minimum
reduziert werde.
Ein Theoriensystem der Demokratie, von den Menschen­
rechten ausgehend, kann demnach bloß eines des Pazifismus
und des Evolutionismus sein. Und da nicht mit einem definiti­
ven Heilszustand gerechnet wird, sind das bescheidenere Ziele
als die des Marxismus. Gewiß hat auch eine Theorie der Demo­
kratie die Geschichte zu analysieren, um aus ihr die politischen
(oder metapolitischen) Anweisungen zu ihrer Lenkung zu ge­
winnen, aber im Gegensatz zum Marxismus geht es hier vor al­
lem ums Präventive, das heißt um die Verhütung des Abnor­
malen, um die Verhütung von Massenwahn-Ausbrüchen, nicht
um deren Hervorrufung zugunsten eines Dogmas. Nur so kann
an der pazifistisch-evolutionären Linie festgehalten werden,
und mag man das auch eine psychiatrisch-medizinische Haltung
nennen - sie ist trotzdem oder ebendarum eine, die sich, wenn
es nottut, gegen Massenwahn-Ausbrüche auch mit Gewalt zur
Wehr zu setzen hat. Kurzum, demokratische Metapolitik hat
eine Präventivaufgabe, die Prävention der »Fehl-Situationen«
im sozialen Leben.

» Totalitäre Humanität«

Kriegerische und totalitäre Maßnahmen sind miteinander ver-


schwistert, und da die Theorie der Demokratie, trotz Pazifis­
mus, jene gestattet, darf sie - für den Alt-Demokraten noch wi­
dersinniger - auch diese gestatten: der moderne Mensch in
seiner Unsicherheit braucht das Totalitäre, und da dieses die
Menschenrechte gefährdet, hat die Demokratie sie mit totalitä­
ren Mitteln zu schützen.
Denn die Fascismen entstanden, als der Mensch dem Neben­
menschen, der Bürger dem Nebenbürger die Achtung zu versa­
gen begann, als er in ihm nicht mehr die Menschenwürde
achtete, als er ihn nicht mehr als Gottes Ebenbild zu sehen ver­
mochte, als er den Bourgeois, den Juden, den Farbigen zum
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Untermenschen erklärte. Nicht die Regierung, wie man bei
Gründung der Demokratien befürchtet hatte, bedrohte die
Menschenrechte, nein, die Bürger taten es und taten es gründ­
lich.
Die totalitären Staaten schützen die Einhaltung ihrer regulati­
ven Grundprinzipien durch schärfste strafrechtliche Bestim­
mungen. Die Menschenrechte als die regulativen Grundprinzi­
pien der Demokratie bedürfen heute des gleichen Schutzes. Mit
anderen Worten: es genügt nicht mehr, die Regierungen durch
eine »Bill of Rights« auf die Menschenrechte festzulegen, es
muß jeder einzelne Bürger dazu angehalten werden, auf daß er
- der Ur-Wähler und Ur-Gesetzgeber in der Demokratie, der
eigentliche Träger ihrer Politik - die Menschenrechte, die
Menschenfreiheit, die Menschenwürde des Nebenbürgers un­
verbrüchlich achte. Hiezu gehört eine »Bill of Duties«, ein Ver­
zeichnis der Pflichten als Ergänzung und zugleich als Ein­
schränkung der »Bill of Rights«. Beispielsweise zeigt sich dies
an der freien Meinungsäußerung, da jede >Meinung<, welche zu
Haß und Verachtung gegenüber bestimmten Bevölkerungs­
gruppen auffordert, unter Strafe gestellt zu werden hätte.
Kurzum, es ergibt sich ein Strafkodex mit einem »Gesetz zum
Schutze der Menschenwürde« als Mittelpunkt.
Aus dem Königtum ist als seine Antithesis die revolutionäre
Republik hervorgegangen, und dort, wo, durchaus im Hegel-
schen Sinn, sodann die konstitutionelle Monarchie als ihrer
beider Synthese entstanden ist, war es nicht die schlechteste
Lösung. Für die »totalitäre Demokratie« könnte ähnliches gel­
ten. Gewiß würde sich hiebei die heutige demokratische Struk­
tur mannigfach ändern, und deshalb scheint es richtiger zu sein,
von einer »totalitären Humanität« zu reden.

Wirtschaft gegen »totalitäre Humanität«

Doppelte Einwendung ist zu erwarten. Die Marxisten werden


in der »totalitären Humanität« selbstverständlich nichts ande­
res als eine Fortsetzung der Klassengesellschaft und ihrer
Scheinfreiheit sehen, während für den Liberalen und insbeson­
dere für den Wirtschaftsliberalen jede an Totalitarismus ge­
mahnende Maßnahme schlechthin >Kommunismus< bedeutet.
Und da sie einander - beide mit einiger Berechtigung - Ver­
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sklavungstendenzen vorwerfen, mag dieser Vorwurf von bei­
den Seiten auch auf die »totalitäre Humanität« übertragen
werden.
Und da beide Parteien offenbar recht haben, haben sie offen­
bar auch beide unrecht. Wenn Adam Smith glaubte, daß der
Eigennutz des Individuums schließlich auch für die Gesamtheit
den größten Nutzen und die größte Freiheit hervorbringen
müsse - die Sklavenwirtschaft seiner amerikanischen Zeitge­
nossen war ihm eine unbeachtliche Nebenerscheinung so
irrte er damit, aber nicht weniger irrte Marx, der das nämliche
Glück vom Sozialismus erwartete. Sie mußten beide irren, da
sie beide Wirtschafts-Mystiker waren, überwältigt von der
neuen technischen Entwicklung, beide pan-ökonomisch glau­
bend, daß die Wirtschaft den Menschen und nicht der Mensch
die Wirtschaft mache: hier begann jener Wirtschafts-Totalita­
rismus, der im Kapitalismus versteckt, aber doch mit zuneh­
mender Schärfe, ja stets fascistisch ausbruchsbereit unter der
Oberfläche schwelt, dagegen im Sowjetismus zur anerkannten
Institution geworden ist.
Die nächstverwandten Sekten sind stets die feindlichsten Wi­
dersacher, und ebenso verhält es sich mit Wirtschafts-Libera­
lismus und Marxismus, sie beide Kinder des ökonomischen Fa­
talismus, der bei jenem die gläubig-passive Form »Laß nur die
Wirtschaft walten« angenommen hat, bei diesem hingegen un­
ter der aktivistischen Devise »Was fallen soll, muß gestoßen
werden« seinen Weg nimmt. Die »totalitäre Humanität« ist si­
cherlich nicht in der Lage, die Wirtschafts-Versklavung kurzer­
hand aus der Welt zu schaffen, denn der Mensch muß essen,
aber als außer-wirtschaftlicher Standpunkt kann sie verhin­
dern, daß das Abstrakt-Ökonomische zum einzigen Wert-
Maßstab der Welt gemacht werde. Und insbesondere mag es
möglich werden, von hieraus die Tatbestände nüchterner zu
betrachten:
1. Wirtschaft ist nicht Sache von »Überzeugungen«, sondern
eine technische Angelegenheit, ist weitgehend technokratisch
aufzufassen; auch über die Art einer Betonkonstruktion ent­
scheidet man nicht mit Überzeugungen;
2. Die technische Auffassung von der Wirtschaft ist keine fa­
talistische, sondern eine sozusagen opportunistische; wenn vom
Marxismus eingewendet wird, daß auch technokratische Maß­
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nahmen, soferne sie antikapitalistisch sind, bloß revolutionär
erzwungen werden können, so darf auf England verwiesen wer­
den, das als gut funktionierende Demokratie seine Sozialisie­
rungen (mag man ihnen zustimmen oder nicht) in aller Ruhe
und mit traditioneller fairness abwickelt;
3. die sogenannten ökonomischen Gesetze sind nämlich psy­
chologische, sie sagen etwas über das psychische Gehaben des
Menschen aus, das er unter bestimmten ökonomischen Ver­
hältnissen einnimmt oder einnehmen soll; doch bloß für den
Wirtschaftsmystiker ist das Psychologische ausschließlich
ökonomisch bedingt, nur er will nicht sehen, daß es seine Ei­
gengesetzlichkeiten besitzt (von denen die des ökonomischen
Verhaltens nur ein Ausschnitt sind), und daß es demnach um­
gekehrt - sogar schon beim Tier ist dies feststellbar - auch sehr
vielen äußer-ökonomischen Bedingungen folgt;
4. die sogenannten ökonomischen Überzeugungen - die
marxistische sowohl wie die liberalistische, jene freilich die ve­
hementere - sind demnach Scheinüberzeugungen, nicht nur
weil es eigentlich nur eine einzige, nämlich die ethische Über­
zeugung gibt, sondern noch mehr darum, weil sie beide, trotz
logischer »Richtigkeit« ihrer Spekulationen (oder gerade des­
wegen) den Gesamtsachverhalt in unerlaubter Weise vereinfa­
chen und verengen und ebenhiedurch in der Realität »Fehl-Si­
tuationen« erzeugen, also das Menschenleid, gerade in der
Form von »Versklavungen«, unendlich vergrößert haben und
weiter vergrößern.
Die »totalitäre Humanität« ist kraft ihrer Begründung auf die
Menschenrechte eine Haltung ethischen Anspruches (darf also
sogar wirklich »Überzeugung« sein), während ihre Beziehung
zur äußeren Realität vom Psychologischen her geregelt wird.
Und wissend, daß die Wirtschaftsformen nicht vom Ethischen
her bedingt sind, daß sie aber trotz solcher Autonomie sich
ethisch regulieren lassen - die Bibel tut dies sogar hinsichtlich
der Sklaverei -, kann und muß die »totalitäre Humanität« auf
eigene ökonomische Zielsetzungen verzichten. Vielmehr sucht
sie bloß eine psychologische Situation zu schaffen, in der es un­
erlaubt und »unnatürlich« wird, daß die jeweilige Wirtschafts­
form die Menschenrechte verletzte.

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Das Zeitalter der Versklavung

Der Mensch hat sich der Wirtschaft als solcher versklavt und hat
sie zu einem zwar abstrakten, aber ebendarum besonders har­
ten absoluten Herrn über sich gesetzt. Damit ist eine »Absolu­
tierung« einer Teileinstellung (eben der ökonomischen) vorge­
nommen worden, und überall wo derartige Teileinstellungen
empirischen Ursprunges die Führung des menschlichen Lebens
beanspruchen, überall wo sie ihre Teilwerte zum Zentrum des
ganzen menschlichen Wertsystems machen wollen oder gar
machen, da entsteht Versklavung. Denn ein Teilsystem, das
nach .T//em-Herrschaft strebt, muß alle anderen unterjochen,
die das nämliche anstreben, das heißt es geht auf die totalitäre
Unterjochung des Menschen, auf daß er keinen andern Herrn
sich wähle.
So sind die Mächte, denen der moderne Mensch sich ausgelie­
fert fühlt, nicht nur übergroß, sondern auch überzahlreich. Ihre
auf den Menschen gerichteten Versklavungstendenzen über­
kreuzen sich allenthalben, und je komplizierter die Konfliktsi­
tuation wird, desto mehr müssen jene sich verschärfen.
Die Staatsmacht als solche, infolge ihrer Ursprungs-Struktur
und ihrer Tradition vielfach aus strategischen Gründen han­
delnd, die manchmal, aber keineswegs immer den ökonomi­
schen Interessen entsprechen, oftmals sogar ihnen zuwiderlau­
fen, setzt gleich diesen Interessen den Menschen andauernd
unter einen von tausend Hebeln (wie dem der Presse) ausgeüb­
ten ideologischen Druck, und solche beinahe unbemerkbare
ideologische Versklavung muß unausweichlich in volle poli­
tische Versklavung Umschlägen, wenn - wie es jetzt geschieht
- die Gefahr eines die Staatsexistenz bedrohenden Krieges her­
anrückt.2
Es ließe sich sagen, daß der Mensch all diese Versklavungen,
die ökonomische, die politische, die ideologische und so viele
andere, unter deren gemeinsamem Druck er steht, nicht spürt;
von seiner Unsicherheit getrieben, hat er sich auf seiner Flucht
vor der Freiheit ins Totalitäre und in die Sklaverei führen las­
sen, und er erträgt sie. In Wahrheit jedoch hat er die Unsicher­
heit gegen die nicht minder komplexe des Terrors und demge­
mäß gegen Stumpfheit eingetauscht. Er tut, was man ihm
jeweils vorschreibt, und er denkt, was man ihm jeweils vor-
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schreibt, und daß es Konzentrationslager gibt, in denen sein
Bruder zu Tode gefoltert wird, ist aus seinem Bewußtsein aus­
gelöscht, obwohl und weil er weiß, daß jede Nacht die Polizei
an seine eigne Tür klopfen kann, um ihn dem gleichen Lose zu
überantworten. Solange der Mensch noch Freiheits-Furcht
empfindet, die fürchterliche Unsicherheit, in der er zwischen
den auf ihn einstürmenden Teil-Wertsystemen zu entscheiden
hat, gibt es für ihn noch das ethische »Was soll ich tun?«, doch
wenn er eines von ihnen zum absolut-totalitären Herrn ernennt,
bleibt ihm nur noch die Sklaven-Stumpfheit übrig, die Gleich­
gültigkeit des Nicht-Ethos, des Wider-Ethos, die vollkommene
Gleichgültigkeit gegen den Nebenmenschen und schließlich
gegen das eigene Menschentum.
Das ist der Weltzustand, der sich, deutlich genug, allüberall
abzeichnet, und ob bolschewistisch oder kapitalistisch, es ist das
Teil-Wertsystem des Pan-Ökonomismus, das - allerdings un­
terstützt von den Staatstraditionen - ihn eingeleitet und ins
Anti-Ethische entwickelt hat. Einstens war es Aufgabe der Re­
ligionen, die einzelnen partiellen Wertsysteme in ethischer Ba­
lance zu halten: daß dies heute wenigstens ansatzweise durch
die auf den Menschenrechten basierte »totalitäre Humanität«
geleistet werden könnte, ist ein Hoffnungsschimmer, der ihre
Aufstellung legitimiert.

Die »totalitäre Humanität« im heutigen Weltkonflikt

Die Gegenspieler im heutigen Weltkonflikt sind Rußland und


die Westmächte, nicht Bolschewismus und Kapitalismus.
Rußland hat sich seit jeher als der Nachfolger von Byzanz, ja
als das eigentliche neue Rom gefühlt, es hat seit jeher den Aus­
gang zum »warmen Meer« in den Dardanellen, in Persien, in
Afghanistan gesucht, und es hat, obwohl ökonomisch noch un­
entwickelt, sich als die künftige asiatische Vormacht betrachtet,
der die chinesischen und indischen Märkte als natürliches Ab­
satzgebiet zustehen. Die heutige strategische Lage würde Ruß­
land den Versuch zur militärischen Erreichung dieser Ziele ge­
statten, ja sie würde ihm, da keinerlei interkontinentale Grenze
einen befriedigenden Schutz gegen Vernichtungsbomben ge­
währt, geradezu vorschreiben, eine unumschränkte Beherr­
schung ganz Eurasiens einschließlich Nordafrikas anzustreben:
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an die Stelle der militärisch ohnehin unpraktikablen Jalta-Linie
Hamburg-Mukden (jetzt Hamburg-Hongkong), der längsten,
die auf dem festen Lande des Erdballs zu ziehen ist, würde eine
der kürzesten treten, nämlich quer durch das unwegsame äqua­
toriale Afrika, und solcherart aufs äußerste separiert, könnten
die beiden Weltblöcke in Frieden ihren beiderseitigen Isolatio­
nismus pflegen.
Amerika hat alle Tendenzen zum Isolationismus, und es ist
keineswegs die Sorge um die preiszugebenden Alt-Kulturen
West-Europas, die es von der Annahme eines solchen Welttei-
lungs-Planes zurückhält. Doch Dakar unter russischer Kon­
trolle würde eine unmittelbare Gefährdung der Vereinigten
Staaten bedeuten, umsomehr, als der panamerikanische Block
durchaus nicht festgefügt ist, und so müßte die Äquator-Linie
durch eine wesentlich längere und daher militärisch ungünsti­
gere Sahara-Linie ersetzt werden. Und sogar dann wäre die
Teilung unannehmbar: Eurasien beherbergt mehr als zwei
Drittel der gesamten Erdbevölkerung, und damit wäre die ba-
lance of power nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch
völlig aufgehoben. Demzufolge stellt trotz ihrer Länge die
Balkan-Kaukasus-Himalaya-Linie die letzte Rückzugslinie für
Amerika und die Westmächte dar: sie muß gehalten werden,
selbst wenn späterhin die technische Verwertbarkeit der
Atom-Energie das asiatische Öl militärisch entbehrlich machen
sollte.
Indes, so unüberbrückbar der Gegensatz zu sein scheint, und
so sehr beiderseits für den Krieg gerüstet werden muß, - es ist
der groteske Fall eingetreten, daß beide Parteien den Sieg zu
fürchten haben; wäre es ein rascher Sieg, so wäre er noch er­
träglich, doch da er sich voraussichtlich bloß langsam auf einer
ganzen Reihe von Kriegsschauplätzen herauskristallisieren
würde, wird er von einer Weltverelendung begleitet sein, wel­
che die Siegermacht, das heißt die von ihr einzurichtende Welt­
regierung vor schlechterdings unlösbare Aufgaben stellen
würde. Die Arbeiterschaft eines geschlagenen und daher kom-
munisierten Amerikas hätte noch immer den höchsten Lebens­
standard der Welt, und wenn sie diesen auf Geheiß der Mos­
kauer Zentralregierung zugunsten der anderen Länder
reduzieren müßte, käme eine Rebellionsbewegung in Gang, die
nur durch dauernde fremde Besetzung niedergehalten werden
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könnte. Umgekehrt würde eine von Washington installierte de­
mokratische Weltregierung dem Elends-Kommunismus der
Welt schier machtlos gegenüberstehen, denn weder ließe sich
(ausgenommen vielleicht beim kleinbäuerlichen Besitz in Ost-
Europa) eine praktikable Rück-Kapitalisierung der kollekti­
vierten Industrien vornehmen (am allerwenigsten durch die
Übergabe an amerikanische Konzerne), noch sind die Mittel für
einen neuen Marshall-Plan aufzubringen, noch ist eine anti­
kommunistische Dauer-Überwachung des gesamten Erdkrei­
ses möglich.
Der »kalte Krieg« ist daher für beide Parteien die vorderhand
noch günstigste Lösung.
Solcherart ergibt sich - womöglich noch grotesker als die
Furcht vor dem Sieg! —das erstaunliche Faktum eines poli­
tisch-imperialistischen Widerstreites, der ungeachtet seiner
Schärfe und der bereitgestellten militärischen Mittel fast aus­
schließlich als Ideenkrieg geführt wird, wobei beide Parteien
unentwegt an der sogenannten »Weltanschauungs-Differenz«
hängen. Alles, was sich Moskau nicht bedingungslos fügt, ist
kapitalistisch, ja mehr noch: der kapitalistische Feind wird ge­
radezu gebraucht, nur soll er tunlichst krisendurchschüttelt sein
und sich in steigender Verarmung befinden; das sozialistische
England wurde zum verkappten Plutokratismus umgelogen,
und der gleiche Vorwurf würde gegen ein plötzlich kommuni­
stisch gewordenes Amerika erhoben werden. Umgekehrt (und
sogar ohne derart grobe Entstellungen) liefert der Bolschewis­
mus die beste Folie für jede anti-russische Propaganda. Und
eben auf Propaganda und Antipropaganda kommt es im »kal­
ten Krieg« an. Denn die russische Aggression wie die westliche
Verteidigung vollziehen sich nun als ein Ringen um die von den
Sowjets politisch noch nicht erfaßten Gebiete, als ein Werben
um ihre öffentliche Meinung. Die Vorteile der Sowjets sind
hiebei offenkundig. Nicht nur, daß sie ihr eigenes Gebiet mittels
des Eisernen Vorhangs von vorneherein störungsfrei gemacht
haben, und nicht nur, daß sie überhaupt die Vorteile des An­
greifers genießen, - sie führen den Angriff mit den bestausge-
bildeten Truppen aus, mit der Elite ihrer ideologisch überzeug­
ten Fünften Kolonnen, revolutionsmutigen, bürgerkriegs-willi-
gen Soldaten, den Leitern der kommunistischen Parteien in den
verschiedenen Ländern. Was hat der Westen dem entgegenzu­
385

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setzen? durch welche Parteischule sind seine Agenten gegan­
gen? Nichts von alldem existiert; es gibt bloß den durch die
amerikanische Finanzkapazität kurz limitierten Marshall-Plan
- und Rußland hat Zeit, ihn abzuwarten aber es gibt keine
Ideologie, und der Idealismus der kleinen Schar von Abenteu­
rer-Spionen reicht sicherlich nicht aus, um eine so überdimen­
sionierte Weltaufgabe zu bewältigen: wenn es nicht gelingt,
dem ideologischen Angriff des Kommunismus mithilfe einer
ebenso festgefügten Ideologie zu begegnen, muß er letztlich
unaufhaltsam werden; die Gegenwaffe mag so oder so beschaf­
fen sein, sicher ist, daß sie in der Konstruktion der »totalitären
Humanität« ziemlich ähnlich sehen wird.

Die »totalitäre Humanität« eine internationale Partei?

Daß es überhaupt internationale Parteien abendländischer


Prägung geben soll, bezeugt eine ziemliche Überheblichkeit des
weißen Mannes. Ist er, weil er das Unheil der Technik erfunden
hat, auch zum Heilsverkünder für alle Völker berufen? Hat
nicht Asien seine eigenen besseren Gemeinschaftstraditionen?
Und doch hat der kommunistische Gedanke in ganz Asien ge­
zündet. Denn auch in ihm noch sind die Menschenrechte, mag
er noch so sehr in der Praxis gegen sie verstoßen, als Gerechtig­
keits-Idee in ihrer Absolutheit enthalten: das Absolute wäre
nicht absolut, wenn es nicht allenthalben gälte.
Die Westmächte hatten während des Krieges ein weitaus grö­
ßeres Prestige als Rußland bei den Völkern, nicht zuletzt den
asiatischen erworben; sie verdankten dies vor allem Roosevelt.
Die Bereitschaft zum Eintritt in ein west-demokratisches Com­
monwealth war überall vorhanden; was man erwartete, war ein
striktes, auf der (inzwischen vergessenen) Atlantic Charter ge­
gründetes Programm und unmittelbare Schritte der West­
mächte zu seiner Erfüllung. Nichts dergleichen geschah. Gewiß
gab es vielerlei Gründe hiefür, und sie lagen nicht zuletzt bei
Rußland, das seine eurasischen Pläne eigentlich schon offen
enthüllt hatte: Der alte Anspruch auf Korea und Port Arthur
war angemeldet; die kommunistische Armee Nord-Chinas
wurde offen von den Sowjets unterstützt; die russische Infiltra­
tion in Nord-Iran war vorhanden; das spanische Volk erinnerte
sich nach wie vor dankbar der russischen Hilfe gegen die
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Franco-Usurpation (die, nicht zuletzt wegen des amerikani­
schen Waffen-Embargos, doch gelungen war); der französische
und italienische Widerstand gegen die Nazis hatte zu einem
großen Teil unter kommunistischer Führung gestanden; der
Balkan war durch das Hochkommen Titos für den Westen ver­
loren; und das Baltikum sowie Polen samt Schlesien hatte den
Sowjets ausgeliefert werden müssen. Unter solchem Druck
wagte man kaum Experimente anzustellen; es war ja auch
nichts hief ür vorbereitet, und man war daher zu raschen Impro­
visationen gezwungen. So kamen auf der ganzen Linie die son­
derbaren und unwürdigen Bündnisse mit suspekten und viel­
fach sogar unfähigen Diktatoren und politischen Intriganten
zustande, eine weitgehend unaufrichtige, schwankende Sta-
tus-quo-Politik, an der man auch im Kolonialen - hier aller­
dings die überfällig gewordene Befreiung Indiens ausgenom­
men - unbedingt festhalten wollte. Das Resultat war der
Verlust des demokratischen Prestiges: es war eben das Prestige
eines einzelnen Mannes gewesen, nicht das eines Programms.
Und so versteht es sich, daß statt dessen das russische Prestige
stieg. Das war der Preis, mit dem man hatte rechnen müssen,
nicht zuletzt in Südasien. Insbesondere für Holland, aber bis zu
einem gewissen Grad auch für Frankreich, wäre der Verlust des
Kolonial-Imperiums ein Verarmungsfaktor, und da ein solcher
immer auch die Gefahr des Kommunismus enthält, schien es
richtiger, diese Gefahr im eigenen Land zu vermeiden und sie
dafür in den Kolonien, wo ihr leichter mit Waffengewalt begeg­
net werden kann, auf sich zu nehmen. Zudem heißt es ja ohne­
hin, Südasien zu einem der künftigen militärischen Hauptstütz­
punkte auszugestalten. Umgekehrt muß eben dies von den
Sowjets womöglich verhindert werden, und so sind sie nicht nur
geradezu gezwungen, sondern auch durch ihren Prestigewinn
auf äußerste begünstigt, den Haß gegen die Kolonialmächte zu
schüren und deren Pläne mittels Einrichtung und Unterstüt­
zung nationalistischer Lokalparteien (die fürs erste nicht einmal
kommunistisch zu sein brauchen) empfindlich zu stören.
Historisch gesehen, gibt es vier Haupttypen von Partei-Ent­
stehungen: erstens das langsame Heranwachsen aus der Tradi­
tion, wie es bei den beiden alten Parteien im englischen Parla­
ment stattgefunden hat; zweitens reine Interessenvertretungen
verhältnismäßig kleiner Gruppen, die etwa nach Art der land-
387

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wirtschaftlichen beruflich zusammengebunden sind; drittens
die Organisierung großer Volksteile, halb vom Interessen-,
halb von einem ideologischen Standpunkt aus, wofür die
Sozialdemokratie und späterhin, ihrem Muster folgend, die ka­
tholischen Parteien als Beispiele anzuführen wären; schließlich
die Parteibildungen, die von einem bestehenden Machtapparat
aus inauguriert werden, kurzum die totalitären Parteien jeder
Färbung. Ob wirkliche Massenbewegungen ohne Mithilfe eines
solchen Machtapparates heute überhaupt noch zu bewerkstel­
ligen sind, ist fast fraglich geworden. Doch ob so oder so, wenn
einer totalitären Weltpartei, wie sie die kommunistische heute
ist, eine neue allgemeine Volksbewegung entgegengesetzt wer­
den soll, so kann das gleichfalls nur - alles andere wäre Dilet­
tantismus-von einem Machtapparat größten Stiles aus gesche­
hen und müßte demnach gleichfalls zur totalitären Weltpartei
führen, allerdings einer anti-totalitären, denn sonst wäre sie ja
kein Gegensatz, sondern eine Nachahmung (wie sie von den
Fascismen versucht worden ist), und diese contradictio in ad-
jecto bedarf zu ihrer Auflösung einer Konstruktion nach Art
der »totalitären Humanität«.
Ohne eine solche Konstruktion ist der fascistischen Schande,
die den antikommunistischen Block belastet, überhaupt nicht
Herr zu werden. Wie ist gegen Rußland ein Propaganda-Feld­
zug zu führen, solange es ein Terror-Spanien mit den gleichen
Konzentrationslagern wie den russischen gibt? Wer soll
Deutschland für die West-Demokratie gewinnen, wenn die Al­
liierten, wahllos in ihren Bundesgenossen, sich zu antikommu­
nistischen Zwecken (gleich den Russen, die es zu antidemokra­
tischen tun) der diensteifrigen Nazis bedienen? Gewiß, Francos
überaus geschicktes Doppelspiel hat ihn heute für die West­
mächte unentbehrlich gemacht; trotzdem wäre es ihnen ein
Leichtes, ihn zu einer Humanisierung seines Systems zu zwin­
gen. Und würden sie der gelähmten und zersplitterten deut­
schen Demokratie ein einigendes Programm liefern, mit dem
sie sowohl gegen Nazismus wie gegen Kommunismus auftreten
und eine wahrhafte Wiedererziehung des (nun durch die Besat­
zung doppelt verwirrten) Landes aufnehmen könnten - nichts
ist in dieser Nach-Hitlerperiode so dringend nötig wie ein »Ge­
setz zum Schutze der Menschenwürde« -, es würde allen Betei­
ligten zum Segen gereichen.
388

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Und eben weil die »totalitäre Humanität« an keine bestimmte
Staats- und Regierungsform gebunden, sondern weit eher eine
»Gesinnung« ist, die bei aller Unnachgiebigkeit im Gesin­
nungsmäßigen sich gegenüber den Formallösungen elastisch
verhält, vermöchte sie die Grundlage für eine Welt-Partei ab­
zugeben; man würde sie mit Fug als eine Welt-Partei der An­
ständigkeit bezeichnen können.

Von den Schwierigkeiten und Widerständen

Der Kommunismus hat die Welt an das Schlagwort »Expropri­


iert die Expropriateure!« gewöhnt, hat also seiner Partei von
allem Anfang an einen klar bezeichneten »Feind« gegeben, hat
für die Massen ein konkretes Teufelsbild kreiert, das sie be­
kämpfen dürfen, bekämpfen müssen. Die Verarmung der »Ka­
pitalisten« ist ihnen fast wichtiger als die eigene Bereicherung.
Und Hitler hat die für alle Weltübel verantwortliche Teufelsge­
stalt auf »All-Juda« übertragen, wissend, daß man Massen eine
gemeinsame Gegnerschaft geben muß, wenn man sie Zusam­
menhalten und aktionsfähig und dirigierbar machen will. Nichts
dergleichen kann eine auf »totalitäre Humanität« gegründete
Partei bieten; sie hat evolutionär und pazifistisch zu sein, und
sie kennt keine generellen »Feinde«, am allerwenigsten »die
Russen«. Wie also soll eine Partei ohne ökonomische, ohne na­
tionale, ohne rassische Aggression die Phantasie der Massen
erregen? was bedeutet ihnen die nüchterne Auffassung der
Ökonomie als eines evolutionistisch-technischen Problems?
was sollen die asiatischen Kolonialvölker mit einer »Vernunft«
und »Anständigkeit« anfangen, mit deren Hilfe offenbar die
alte Plantagenwirtschaft vertreten werden soll? Kurzum, wie
können die Westmächte mit der Propagierung einer derartigen
Ideologie ihr so gründlich verlorenes Prestige wiederherstellen
und dem Kommunismus standhalten?
Nur eine eindrucksvoll-konkrete Aktion wäre imstande, über
dieses Dilemma hinwegzuhelfen. Und wahrscheinlich hätte sich
das in dem so strittigen Gebiet der Staatssouveränität abzuspie­
len. Denn selbst vorausgesetzt, daß die von einer »Bill of Du-
ties« gestützte »totalitäre Humanität« durch eine Welt-Partei
oder durch die UN zu internationaler Geltung gelangt wäre, wie
dies mit der internationalen »Bill of Rights« geschehen ist, - sie
389

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wäre trotzdem gleich dieser nicht viel anderes als eine platoni­
sche Geste. Die UN hat heute noch keine Exekutive, welche
gegen einen Menschenrechte verletzenden Staat vorzugehen
vermöchte, ja sogar im Fall von Genocidium3 (Völkermord) ist
nichts hiefür vorgesehen. Doch welche Sanktionen auch immer
gegen einen schuldigen Staat vorgesehen werden könnten, es
muß Krieg gegen ihn geführt werden, und das bedeutet im letz­
ten wiederum Weltkrieg, also ein ungeheueres Risiko, vor dem
schon der Völkerbund zurückgescheut ist, als er seine so klaren
Verpflichtungen im Fall der Vergewaltigung Abessiniens hätte
erfüllen sollen. Prinzipiell wäre dies bei einer Annahme der
»Bill of Duties« auch nicht anders; nichtsdestoweniger würde
sie präzisere internationale Einrichtungen als jene Sanktionen
erlauben, bei denen die Entscheidung sofort um Krieg und
Frieden geht. Denn da wäre ein Pflichtenkodex gegeben, der
Individuen und nicht Staaten zur Respektierung der Men­
schenrechte verpflichtet, und er tut dies mit strafgerichtlichen
Bestimmungen, so daß der internationale Schutz hier in einem
für derartige Fälle zuständigen, außerstaatlichen, etwa der UN
angegliederten Gericht liegen würde, zu dem der Instanzenzug
hinzuführen hätte, das aber auch befugt sein müßte, durch eine
internationale Staatsanwaltschaft Anklagen zu erheben und die
Beschuldigten unmittelbar vorzuladen. Mit anderen Worten:
die Staaten, welche sich zur Propagierung der »totalitären Hu­
manität« zusammenschließen, haben ihre souveräne Gerichts­
barkeit hinsichtlich aller die Menschenrechte berührenden
Fälle aufzugeben und sich einem internationalen Gerichtshof
unterzuordnen. (Nebenbei: es wäre dies auch der Weg zur Ab­
strafung, zur legalen Abstrafung von Kriegsverbrechen.)
Rußland ist heute der unbedingteste Verfechter der Staats­
souveränität, und solchen Standpunkt wird es am allerwenig­
sten zugunsten der Menschenrechte und ihrer Behandlung än­
dern. Das hindert aber sicherlich nicht, daß andere Staaten
gerade diesen Teil ihrer Souveränitätsrechte Zusammenlegen.
Ob das innerhalb oder außerhalb der UN geschieht, ist ziemlich
gleichgültig; wichtig allein ist eine vollkommen ehrliche Durch­
führung: nur durch einen derart konkreten Schritt läßt sich die
russische Haltung entkräften, nur hiedurch ist die Ideologie der
»totalitären Humanität« als eine der kommunistischen gleich­
wertige zu propagieren, und nur hiedurch mag es den West­
390

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machten möglich werden, das Vertrauen der Völker wiederzu­
gewinnen, nicht zuletzt wohl deswegen, weil jedes Aufgeben
von Souveränitäten, und möge es in noch so begrenztem Maße
geschehen, eine Vorskizze für das Funktionieren einer auf die
Menschenrechte gegründeten Weltregierung gibt.
Das ist sozusagen ein Minimalprogramm, aber darum noch
keines mit baldigen Erfolgsaussichten. Eine Reglementierung
der Menschenrechte durch das Strafgesetz kann der englischen
öffentlichen Meinung, die ihre (allerdings aufs Innenpolitische
eingeschränkte) Fairness ausschließlich aus der Tradition be­
zieht und infolgedessen sogar die Bindung durch eine Verfas­
sung als zu starr empfindet, nur wider den Strich gehen. Und
welche Aufnahme eine »totalitäre Humanität« bei den Senato­
ren und Kongreßmännern des amerikanischen Südens finden
würde, läßt sich immerhin ausdenken. Ohne stärkste außenpo­
litische Dringlichkeit sind diese sozusagen demokratischen Wi­
derstände, deren Reihe sich beliebig fortsetzen läßt, kaum zu
überwinden; die Drohung jener Dringlichkeit ist allerdings
schon recht nahe gerückt.

Weltregierung und UN

Man mag mit dem gut-, jedoch nicht klargesinnten Einwand


rechnen, daß die Westmächte bloß rückhaltlos für eine Weltre­
gierung einzutreten brauchten, um ihr Prestige, besser als durch
irgend ein anderes Mittel, im ganzen Erdenrund wiederherzu­
stellen; eine demokratische Weltkonstitution wäre, gemäß die­
sem Einwand, das wirkungsvollste Propagandamittel. Daß der
russischen Gegenpropaganda damit die schönsten Anhalts­
punkte gegeben werden, wird sonderbarerweise hiebei nicht
berücksichtigt. Die Russen haben - mit Erfolg - den Marshall-
Plan als Ansatz zu einer Wall-Street-Kolonisierung Europas
denunziert, und sie werden - mit womöglich noch besserem Er­
folg - eine Weltregierung, die auf einer Art erweiterter ameri­
kanischer Konstitution den Völkern angeboten werden sollte,
als Beweis für die kapitalistischen Weltdominierungspläne an­
nageln. Indes, würde der Westen anders reagieren, wenn die
Sowjets einen Weltstaat-Plan nach dem Muster ihrer »Volks-
Demokratien« produzierten?
Realpolitisch steht heute der Weltstaat außer jeder Diskus­
391

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sion zwischen Ost und West. Er ist eine Phantasie, zwar eine
»vernünftige Phantasie«, aber nicht nur, daß sich nichts so
schwer verwirklichen läßt als das Vernünftige, es wäre der
Weltstaat, käme er heute wider alles Erwarten plötzlich zu­
stande, schon im ersten Augenblick seines Bestandes von der
Gefahr bedroht, zersprengt zu werden. Allzugroß sind die zen­
trifugalen Kräfte. Auf die Zügelung dieser Zentrifugalkräfte
kommt es heute an, auf ihre Bindung im Rahmen einer haltba­
ren Vertragsgemeinschaft, und Kräfte lassen sich bloß dann
binden, wenn sie im Gleichgewicht stehen. Kurzum, es geht fürs
erste um die Herstellung einer Welt-Vertragsgemeinschaft, und
eben dies hat Roosevelt erkannt, als er zur Gründung der UN
drängte: gewiß, ohne Kräftegleichgewicht gibt es keine Ver­
tragshaltbarkeit, doch ist diese Vorbedingung halbwegs ge­
schaffen, so ist ein Welt-Plenum, wie es die UN ist, das weitaus
geeignetste Instrument, um zu den dann notwendigen vertrag­
lichen Kompromissen zu gelangen. Ein Weltstaat wäre kein In­
strument; er wäre das letzte Ziel der Vertragsgemeinschaft und
vielleicht sogar - wenn sie tatsächlich klaglos funktionierte - ein
überflüssiges.
Vieles, was noch vor wenigen Jahren vollkommen utopisch
ausgesehen hat, ist es heute nicht mehr. Glückt es den Demo­
kratien, einen sowohl militärisch wie ideologisch festgefügten
Westblock zustandezubringen, so hat das Weltgleichgewicht
und mit ihm auch die diplomatische Weltsituation eine unge­
heuere Vereinfachung erfahren. Zwei große Konzerne vermö­
gen sich leichter zu verständigen als einige Dutzend Einzelfir­
men, nur müssen die beiden Hauptpartner (oder Gegner)
hiebei wirklich gleichstark sein und Disziplin unter ihren Teil­
habern und deren Separatwünschen halten können, und das ist
für die Weststaaten schwieriger als für Rußland. Gewiß sind es
nicht moralische Gründe, welche die beiden zur Verständigung
bewegen, vielmehr geschieht das aus jenen »Vernunftgrün­
den«, die - fern von einer gemeinsamen Anerkennung allge­
mein gültiger regulativer Grundprinzipien - in Wahrheit von
wechselseitiger Bedrohung und Furcht bedingt sind. Von einer
»Welt-Anständigkeit«, auf die auch der Schwächere sich ver­
lassen darf, kann da noch keine Rede sein. Dagegen mag sie
wohl angebahnt werden, wenn sie im Bereich des Westblocks
mithilfe der »totalitären Humanität« fest und dauernd etabliert
392

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wird. Denn da der Marxismus sich letztlich gleichfalls auf die
Menschenrechte stützt, wäre es immerhin möglich, ihn zu über­
zeugen, daß ihre Verwirklichung nicht bis zum utopischen Zeit­
punkt der Weltrevolution hinausgeschoben zu werden braucht:
hat Rußland an der Stärke der westlichen Kriegsvorbereitung
gelernt, daß ein Versuch zur Durchbrechung der Balkan-Kau-
kasus-Himalaya-Linie zu riskant werden würde, so wird vor­
aussichtlich eine Abrüstungs-Verständigung (unter UN-Kon-
trolle) erzielbar sein, und ist einmal dem Rüstungs-Irrsinn ein
Ende bereitet, der umso ärger ist, als um der Abrüstung willen
erst aufgerüstet werden muß, so gibt es auch wohlbegründete
Aussicht auf Lockerung der sowjetischen Diktatorialmetho-
den. Dem rigorosen Kapitalismus wäre das freilich nicht so
überaus erwünscht; eine tatsächlich nicht aggressive Sowjet-
Union, die neben der Hebung des Lebensstandards ihrer Völ­
ker ihnen auch wahrhafte Freiheit gewährte, würde nämlich -
ganz ohne fifth columns - eine weit einschneidendere Massen­
beeinflussung als jetzt in den Westländern ausüben und hier das
soziale Entwicklungstempo entscheidend beschleunigen.
Dies ist der sozusagen optimistischste Prospekt, und um sei­
netwillen ist die UN mit allen Mitteln zu stärken; sie ist nicht
Zweck an sich, aber das immerhin noch geeignetste Instrument
für solchen Optimismus. Ob er recht behalten wird, ist freilich
eine andere Frage; allzuviel unbekannte Imponderabilien kön­
nen ihn zunichte machen.

»Totale Humanität« und Religion

Etwas paradox ausgedrückt, handelt es sich bei alldem um die


Wiedergewinnung politischer Moral durch realpolitische Mit­
tel. Das mag dem Realpolitikerwider den Strich gehen (einfach
weil er nicht weit genug denkt), doch noch unangenehmer
dürfte wohl der wahrhaft Gläubige davon berührt werden: das
»irdisch Absolute«, auf dem hier die Menschenrechte und da­
mit die Prinzipien der Metapolitik basiert sind, ist ihm kurzer­
hand »Ersatz«, und so nahe ihm jede Rückkehr zur Moralität
ist, für ihn gibt es bloß einen einzigen Zugang hiezu, nämlich
durch eine allgemeine Wiedererweckung der Religiosität; alles
andere ist ihm ein überflüssiger und komplizierter Umweg.
Viele Christen denken so und merken nichts von der dabei
393

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mitschwingenden Blasphemie. Glaube, der aus dem »ignora-
mus« entspringt, ist billig; der echte erfordert, um legitim zu
werden (selbst für die Einfalt) ein Maximum an »scimus«. Und
billig ist desgleichen einer, der als politisches faute de mieux
entsteht: ein Glaubenswille, der sich zur Rettung der sonst an
ihren politischen Sünden zugrundegehenden Welt einstellt, ist
blasphemisch; solches Weltenlos kann durch Hinzufügung ei­
ner allgemeinen Glaubenssünde, wie eben die Erniedrigung des
Glaubens zur politischen Rettungsaktion, nur besiegelt werden.
Beten, das von der Not gelehrt wird, führt —der katholische
Austro-Fascismus mitsamt seinen »guten« anti-hitlerischen
Absichten war ein Beispiel hiefür - zumeist zu noch größerer
Not. Die Kirche aber in ihrer grundsätzlichen Gleichgültigkeit
gegenüber den weltlichen Dingen hat sich politisch teils miß­
brauchen lassen, teils hat sie mit (freilich oft unzureichendem)
Abscheu die politischen Weltsünden und die aus ihnen erwach­
senen »Fehlsituationen« einfach hingenommen, und alles üb­
rige hat sie dem göttlichen Richter überlassen. Wie also wäre,
ob mit oder ohne Blasphemie, heute mehr von ihr zu erwarten?
Gnade wird nicht auf Bestellung geliefert. Der Mensch kann
bloß auf sie hoffen und bleibt ansonsten auf sich selbst angewie­
sen. Aber indem er das auf sich nimmt und das Irdische, die ir­
dische Absolutheit, welche die seiner spezifisch menschlichen
Eigenstruktur ist, voll akzeptiert, schafft er sich jenes »scimus«,
das die Vorbedingung für jede künftige religiöse Erfahrung bil­
det. Ohne irdische Frömmigkeit gibt es keine himmlische, und
ohne das irdisch Absolute gibt es nicht das metaphysische, nach
dem der Mensch sich sehnt. Religion ist höchste Einsichtigkeit,
und sie schwindet dahin - das ist das Wesen jeder Aufklärung -,
sooft ihre Überzeugungskraft fadenscheinig wird; zu ihrer Wie­
derbelebung genügt nicht einfach Umformung, also Sektenbil­
dung, vielmehr bedarf es hiezu der Aufdeckung einer neuen
Realitätsschicht. Denn wenn auch die Massen in ihrem unbe­
wußten, gefühlsmäßigen Handeln sehr leicht falschen Prophe­
ten folgen, die Erleuchtung, die immer wieder über sie kommt,
ihr dem echten Propheten zugekehrtes Lauschen ist ein Mit­
spüren der von ihm entdeckten neuen Realität. Das Christen­
tum überflügelte all die vielen Sekten seiner Zeit und wurde zur
Weltreligion nicht zuletzt deswegen, weil die Predigt, von der
es weitergetragen wurde, geradezu bewußt die mystische Auf-
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peitschung vermied, eine Absage an alles Zungenreden war,
dafür aber - im paulinischen Sinne - mit aller Stärke die neue
Plausibilität, die irdische Realität der Seele und ihrer Fähigkeit,
die große irdische Entdeckung des Gottessohnes hervorhob.
Die moderne Überzeugungskraft ist »wissenschaftlich«, und
- sonderbar genug - anders könnte sie nicht zu den breiten
Massen sprechen, obwohl diese nicht aus Wissenschaftlern zu­
sammengesetzt sind. Der Marxismus durfte dank seiner von
den Massen erspürten Wissenschaftlichkeit, mit der er dem
Menschen (und seinen Rechten) das goldene Zeitalter ver­
spricht, sich als Religionsersatz empfehlen. Trotzdem ist er da­
mit, selbst wenn er noch plausibler wäre als er ist, über seine
materialistischen Befugnisse hinausgegangen. Denn Überzeu­
gungskraft allein ist noch nicht Religion, und noch weniger ist
eine partielle Einsichtigkeit - und die Wissenschaft besteht aus
solchen - hiezu fähig. Gewiß, die Marxsche Entdeckung von
der materialistisch funktionierenden Seelenstruktur wird kaum
mehr beiseitegestellt werden können, doch das nämliche gilt
auch für alle andern Aussagen, welche mit mehr oder minder
wissenschaftlicher Sicherheit über die Struktur des Menschen
und seine Erkenntnis gemacht worden sind und noch zu machen
sein werden, sie allesamt Annäherungen an jenen Bezugs­
punkt, von dem aus der Mensch das Universum erfaßt und ihm
den Stempel seiner intelligiblen Existenz aufdrückt; das Uni­
versum ist Ganzheit und Einheit, weil und nur weil es von der
irdischen Absolutheit des Menschen her erfaßt wird. Das ist das
»scimus«, zu dem der Mensch, bewußt als einzelner, unbewußt
als Masse vordringt, und es wird ihm umsomehr zu eigen, je
mehr seine sozialen Einrichtungen - nicht zuletzt also die des
Rechtes - von diesem absoluten Bezugspunkt her sich werden
formen lassen. Und darum ist eben auch hiefür die »totalitäre
Humanität« notwendig, wissenschaftlich als Theorie, aber als
überzeugende Formel den Massen zugekehrt.
Freilich, Überzeugungskraft ist noch nicht Religion, und der
Wissenschaftler ist kein Glaubensprophet; bestenfalls ist er ein
Heiliger. Doch zur Wiederbelebung von Religiosität bedarf es
des Erleuchteten. Wann der kommen wird, ob er überhaupt
kommen wird, vermag die Wissenschaft nicht vorauszusagen;
sie hat sich damit zu begnügen, ihm den Weg zu bereiten, indem
sie nüchtern ihre nüchterne Wahrheitsaufgabe erfüllt und dem
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Menschen das irdisch Absolute vor Augen führt, auf daß er in
Erwartung des Kommenden gleich ihr das irdische Haus mit
Anstand bestelle.

1 Vgl. Jean Jacques Rousseau, D u contrat so cia l ou P rincipes d u d ro it p o litiq u e


(1762), besonders II/3.
2 Broch rechnete damals (Ende 1949) offenbar mit einer kriegerischen Ausein­
andersetzung zwischen den USA und der UdSSR.
3 1951 - zwei Jahre, nachdem dieser Aufsatz verfaßt wurde - erließ die UNO
eine Konvention über die Ächtung und Bestrafung des Völkermordes.

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Praxis und Utopie
Zur Aufgabe des Intellektuellen

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Politische Tätigkeit der >American Guild for German
Cultural Freedom<1

Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, über die Richtlinien zu


handeln, welche für eine Politik des deutschen Exils zur Dis­
kussion zu stellen wären. Es muß genügen, jene Punkte hervor­
zuheben, welche die Frage nach dem Fortbestand der Guild als
politischer Organisation berühren.

1. Praktische oder ideologische Politik

Man kann von der Richtigkeit irgendwelcher praktischer Maß­


nahmen, z. B. der Sozialisierung, überzeugt sein, doch dies ist
noch keine »Ideologie«, sondern bloß eine Vertrauenskundge­
bung zu einem bestimmten ökonomischen Verfahren. Der
Nimbus »heiliger Überzeugungen« treibt im Politischen ein
recht bösartiges Unwesen, u. z. weil Politik naturgemäß auf die
Allgemeinheit, also auf ein ethisches Gebilde gerichtet ist, so
daß sämtliche praktische Maßnahmen eine pseudoethische
Färbung erhalten. Man sollte sich jedoch darüber klar sein, daß
es nur eine wirkliche Überzeugung gibt, nämlich die »ethische
an sich«, denn es gibt nur eine einzige Ethik, und das ist die,
welche sich bemüht, im Absoluten eine Fundierung zu finden.
Der »geistige Arbeiter«, der seinem Namen gerecht werden
will, hat seine politische Wichtigkeit, über deren Notwendigkeit
eingangs gesprochen worden ist, mehr denn jeder andere und
heute mehr denn jemals vorher als ideologische, d. h. als rein
ethische Tätigkeit zu betrachten und zur Ausführung zu brin­
gen.
Politik ist jedoch eine praktische Angelegenheit, und sie ist
eine Machtfrage. Macht als solche schafft noch keine Ideologie;
sie muß erst an die Macht herangetragen werden. Es läßt sich
mit Fug behaupten, daß die politische Genietat Marxens in der
Herantragung der Gerechtigkeitsethik an die von ihm ent­
deckte und geformte Macht des Proletariats gelegen war.
Die heutige Weltkonstellation hat die Westmächte - beinahe
gegen ihren Willen - in die ethische Position gedrängt. Aufgabe
des geistigen Arbeiters ist es heute, dieser ethischen Position
jene Formulierungen (- u. z. zum Großteil sogar praktische
399

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Formulierungen -) zu liefern, welche für den künftigen Wie­
deraufbau der Humanität notwendig sein werden.

2. Deutsche oder internationale Politik

Der Anti-Nazismus hat durch die Einsetzung des Londoner


Regierungs-Committees2 eine Art offizieller Vertretung ge­
funden. Diesem Committee werden bei einem siegreichen
Friedensschluß zweifelsohne wichtigste Aufgaben zufallen.
Dieses Regierungs-Committee ist von »oben« eingesetzt wor­
den, d. h. es ist nicht aus einer politischen Organisierung des
Exils (die übrigens technisch nicht bewerkstelligbar wäre) her­
vorgegangen. Und das ist gut so. Denn die Emigration ist zum
überwiegenden Teile jüdisch, und so wie die Dinge heute in
Deutschland liegen, wäre eine Gegenregierung, die aus einem
jüdischen Untergrund stammte, stark diskreditiert. Die Emi­
gration hat Leistungen hervorzubringen, aber keine deutsche
Regierung zu bestellen. Aus ebendemselben Grunde wird das
Londoner Committee wenig Neigung zeigen, seine Handlungen
von politischen Bestrebungen der Emigration beeinflussen zu
lassen.
Dazu kommt noch eines: nicht nur, daß der Durchschnitts­
mensch im Exil jedwedes politische Interesse an Deutschland
verloren hat, es sei denn, daß man seine Rachephantasien gegen
Hitler und seinen Wunsch nach Wiedererlangung seiner ent-
eigneten Vermögenswerte als politisches Interesse wertet, und
nicht nur, daß er einzig und allein von dem begreiflichen Drang
besessen ist, sich in der neuen Heimat wieder eine Existenz auf­
zubauen, er ist auch vielfach formal nicht mehr legitimiert, die
deutschen Belange als seine eigenen zu behandeln, denn er
strebt ja zumeist eine neue Staatsbürgerschaft an, ja, er hat sich
z. B. in Amerika durch die Entgegennahme der first papers3 so­
gar hiefür schon entschieden.
Dies sind Einschränkungen, die nicht unterschätzt werden
dürfen; indes, sie sind zugleich Erweiterungen, denn sie brin­
gen, sozusagen von außen her, die »Emigrationspolitik« auf die
richtige Linie, d. h. in eine übernationale Sphäre und in eine
ethische Konstruktivität, welche die deutschen Belange in sich
einschließt.
M. a. W., es wird um die Gestaltung des Friedens gehen, und
400

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dieser Friede ist nicht nur das Schicksal Deutschlands und einer
künftigen deutschen Machtposition von größerem oder ge­
ringerem Umfang, sondern es ist das Schicksal der Welt
schlechthin. Wilson wollte 1918 einen derartigen übernationa­
len, konstruktiv humanen Frieden den Völkern bringen, und
vielleicht wäre es ihm gelungen, diese pax americana zu errei­
chen, wenn Amerika nicht in den Krieg hineingezogen worden
wäre. Auch heute geht es um diese pax americana, nur sind die
Verhältnisse ungleich komplizierter geworden, ebensowohl
äußerlich, d. h. in der amerikanischen Neutralitätssituation, wie
innerlich, d. h. in der politischen Systematik, da diese nicht
mehr nach der einfachen Alternative Demokratie - Nicht-De­
mokratie aufzulösen ist. Daraus ergibt sich die erste Aufgabe
für eine politische Betätigung der geistigen Emigration, und im
besondernder in Amerika befindlichen: mitzuhelfen, daß dies­
mal wirklich die pax americana der Welt gebracht werde, also
im Praktischen ein wirklicher Völkerbund, wie er Wilson vor­
geschwebt hat, und nicht nur ein Zerrbild, wie er ihm in Ver­
sailles aufgezwungen worden ist. Die Erinnerung an das Wil-
sonsche Fiasco sitzt im amerikanischen Volke heute noch so
tief, daß noch niemand gewagt hat, von den »Kriegszielen«
oder richtiger »Neutralitätszielen« der Vereinigten Staaten öf­
fentlich zu sprechen, obwohl sie diesmal für Amerika wesent­
lich dringlicher und lebenswichtiger sind, als sie es damals ge­
wesen waren: es wird aber davon gesprochen werden müssen,
es wird zwangsläufig dazu kommen, und in dieser Diskussion
wird das Exil-Deutschland einzugreifen haben.
Desgleichen wird sich von solcher Plattform aus die notwen­
dige Verbindung zum Londoner Committee hersteilen lassen.

3. Der Aufgabenkreis

Aufgabe I:
Mit dem Worte »Völkerbund« ist zwar der äußerste Rahmen
für das Zielbild einer »ethischen« Politik gesteckt, doch es ist
ein Rahmen, den es auszufüllen gilt. Und eines darf hiebei gel­
ten: ein Völkerbund kann bloß bestehen, wenn die ihm ange­
schlossenen Staaten sich zum nämlichen Ethos bekennen, u. z.
sowohl nach innen, wie nach außen hin, denn ohne gemeinsa­
mes Ethos gibt es keine Paktfähigkeit. Wilson glaubte noch, daß
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die Demokratisierung der Welt auch schon deren allgemein
gültiges gemeinsames Ethos darstelle, er glaubte, daß ein Zu­
sammenschluß von Staaten mit demokratischen Parlaments­
maschinerien auch schon similare ethische Staatsstrukturen im
Innern erzeuge, so daß deren Zusammenschluß zu einem welt­
tragenden Humanitätsinstrument werden müsse: die Entwick­
lung hat gezeigt, daß dies eine Täuschung gewesen ist, daß die
Demokratien starke Elemente zur Selbstzersprengung enthal­
ten, daß sie nicht unbedingt als Hüterinnen der Humanität und
menschlichen Würde und Freiheit funktionieren, und so muß
vor allem eine Kollektivsicherheit für eben diese menschli­
che Würde und Freiheit sich aus dem neuen Völkerbund erge­
ben -, ein Staat, welcher dem neuen Völkerbund angehören will,
muß auf einen Teil seiner Autonomie in der innern Gesetzge­
bung verzichten.
Die ethische Forderung nach physischer und psychischer Inte­
grität des Einzelmenschen, nach dem Schutze seiner menschli­
chen Freiheit und Würde steht aber offenkundig mit der
ökonomischen Entwicklung im Widerstreit. Die ökonomische
Entwicklung drängt zweifelsohne zu einer Sozialisierung der
Produktionsmittel, sie gibt damit den Marxschen Annahmen
recht, wenn auch nicht immer den Marxschen Begründungen,
hingegen scheint die Marxsche Annahme einer zunehmenden
Humanität mit zunehmender Überwindung der kapitalistischen
Produktionsweise sich nicht zu bestätigen: in den heute noch
rein kapitalistischen Staaten leidet das Proletariat unter einem
zunehmenden Kapitalsterror, in den sozialistischen oder halb-
sozialistisch-fascistischen unter dem Staatsterror, und die
ökonomischen Wurzeln scheinen in beiden Fällen die nämli­
chen zu sein. Wenn nicht alles trügt, treibt die Entwicklung zu
einer neuen Sklavenwirtschaft, also zu einer neuen Klassenbil­
dung, aus der ein »Unterproletariat« hervorgehen wird (- die
Marxsche Klassenmechanik war allzu simpel gewesen -), und
die apokalyptischen Ereignisse, deren Zeuge wir sind, wirken
beinahe wie eine unbewußt-dumpfe, noch lange nicht bewußte
Reaktion gegen diese Drohung des historischen Ablaufes und
seiner Notwendigkeiten: »Verknechte, damit du nicht ver-
knechtet werdest.«
Gewiß, die Unfähigkeit der Wirtschaft (auch in Rußland) und
insbesondere die Unfähigkeit der Ur- und Grobindustrien, ei­
402

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nen halbwegs humanen Lebensstandard des Arbeiters zu ge­
währleisten, ist »irdische« Mangelhaftigkeit, ist ein techno­
ökonomisches Problem einer vorderhand noch mangelhaften
Güterverteilung, und die drohende Versklavung breiter Volks­
schichten oder ganzer Völker könnte vielleicht von heute auf
morgen aufgehoben werden, sobald dieses Problem, das im
Grunde ein wissenschaftliches und kein politisches ist, gelöst
sein wird; der wissenschaftliche Heilsbringer, der Problemloser
könnte zum Weltenerlöser werden. Vorderhand aber ist er
noch nicht erschienen, und wer politisch denken will, muß sich
mit den Tatsachen abfinden, muß sie allerdings aber auch rich­
tig zu erkennen suchen: mit einem ökonomischen Fatalismus ist
es allein nicht getan.
Die Totalitärstaaten sind mit weit größerer Klarsichtigkeit
vorgegangen: sie haben die Versklavung des Menschen mit al­
ler Bewußtheit auf sich genommen, aber sie haben ihm dafür
etwas geboten, das gerade im gegenwärtigen Augenblick be­
sonders wichtig ist, nämlich seelische Sicherheit und seelische
Führung. Denn umgeben von Gefahren und Unsicherheiten,
wie sie sich in erster Linie aus der ökonomischen Weltlage, aber
auch aus andern Quellen ergeben haben, ist der Mensch, ohne
daß er es wußte, ohne daß er es weiß, immer mehr in einen Zu­
stand seelischer Panik geraten, und Panik vermag mit Freiheit
nichts mehr anzufangen, mehr noch, sie will sie abschütteln, sie
muß sie abschütteln, da sie Führung braucht. Außerdem hat der
totalitäre Staat-auch dies mit machiavellistischer Klarsichtig­
keit - stets Ersatzbefriedigungen triebhafter und aggressiver
Natur bereit, mit denen die Volksmassen über den Freiheits­
verlust hinwegzutäuschen sind.
Etwas simplifiziert ausgedrückt, verläuft heute die Kriegsfront
zwischen demokratischem Kapitalismus (- dessen humane
Freiheit der Exilierte übrigens wie eine ihm zukommende
Selbstverständlichkeit genießt! -) einerseits und einem dikta­
torischen Sozialismus oder Halbsozialismus andererseits. Dies
ist keine für Humanität günstige Trennungslinie; ihr ideologi­
scher Propagandafeldzug gegen den diktatorischen Terror wird
mit einer wahrscheinlich wirksameren Gegenpropaganda, wel­
che den »kapitalistischen Krieg« denunziert, beantwortet, und
die Volksmassen werden dieser Gegenpropaganda zugänglich
sein, nicht nur weil sie überhaupt den Totalitärschlagworten
403

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(wenn sie nur halbwegs getarnt sind) sich als zugänglich erwei­
sen, sondern auch weil der sogenannte »Ideologievorrat«, der
sie einen Augenblick lang stutzig gemacht hat, sehr bald ver­
gessen sein wird, u. z. mit Recht, denn man kann wohl eine ethi­
sche Ideologie »verraten«, nicht aber Geschäftsprinzipien, de­
ren Auswechslung nach dem Bedarf der Stunde durchaus
legitim ist, besonders wenn sich diese Legitimation am Erfolg
erweist. Sonderbarerweise sehen wir nun aber plötzlich Lüge
gegen Lüge gestellt: der humane oder halbhumane Kapitalis­
mus verschweigt die Versklavung, die von der Ökonomie her
dem Menschen auferlegt wird, er verschweigt die ökonomische
und seelische Unsicherheit, in die der Mensch gestürzt ist, und
er möchte ihm mit einer Freiheit, die nicht in genügender Menge
zur Verfügung steht, über den verschwiegenen Sachverhalt hin­
wegtäuschen, während die sozialistischen und halbsozialisti­
schen Diktaturen zwar diese Unfreiheit mit aller Offenheit be­
jahen und sie aus machtpolitischen Gründen sogar noch
verschärfen, aber nicht die Ökonomie als solche dafür verant­
wortlich machen, sondern die demokratische Humanität in ih­
rer augenblicklichen Verschwisterung mit dem kapitalistischen
System, also einen bewußt verlogenen Verleumdungsfeldzug
gegen diese demokratische Humanität führen.

Aufgabe II:
Ethische Politik darf aber keine Lüge dulden, weder von links
noch von rechts, zu ihren Aufgaben gehört die edukatorische
Bewußtmachung gegebener Tatbestände, also auch jener
ökonomischer Natur, und diese Bewußtmachungspflicht bildet
die zweite große Aufgabe, welche sie zu erfüllen hat. Dies ist
kein ökonomischer Fatalismus, welcher die Sachverhalte, sohin
auch den der Versklavung, ohneweiters hinzunehmen bereit ist
und sich begnügt, ihn zu erkennen: nicht nur, daß mit der Er­
kenntnis eines Problems sich die Unsicherheitspanik, die von
seiner Unzugänglichkeit ausgeht, zu lösen beginnt, es wird auch
diese Unzugänglichkeit aufgelöst, denn jeglicher Problemlö­
sung muß Problemerkenntnis vorausgehen, ja, sie ist eigentlich
prinzipiell schon die Lösung.

404

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Aufgabe HI:
Daraus ergibt sich nun die dritte, die Hauptaufgabe ethischer
Politik, die Aufgabe der konstruktiven Demokratieerneuerung,
m. a. W.: die Totalitärformen haben sich in vieler Beziehung als
»zeitgerechter« denn die Demokratien erwiesen, sie sind aus
der demokratischen Selbstzersprengung hervorgegangen, de­
ren Keim in jedem demokratischen Apparat verborgen liegt,
und sie haben ebensowohl staatstechnische, wie ökonomische,
wie massenpsychische Probleme zur Entwicklung gebracht,
welche in der Richtung der Zeit liegen, jedoch von den Demo­
kratien nicht bewältigt werden konnten - , ist es möglich, diese
zeitgerechten, also »gesunden« Tendenzen auch in das System
der Demokratien einzubauen? ist es möglich, der Humanität
damit die nämliche Stoßkraft zu geben, welche im Augenblick
nur die Anti-Humanität besitzt? ist es möglich, dem Prozeß der
Weltzersplitterung heute noch - in zwölfter Stunde - Einhalt
zu gebieten und der Welt den ethischen Wertmittelpunkt, den
sie verloren hat, wiederzugeben? seltsamerweise lassen sich
diese Fragen, wenn auch mit aller gebotenen Skepsis, heute
noch mit Ja beantworten, vielleicht sogar heute unter dem Ein­
druck des ausgebrochenen Krieges eher als unter der Spannung
der ständigen Kriegsdrohung.
Denn bei aller ökonomischen und psychischen Unsicherheit,
die den Menschen überkommen hat, es besteht in den großen
Demokratien noch immer ein seelischer Sicherheitsfaktor, und
das ist der der Tradition und überdies eben der einer Freiheits­
tradition. Und Traditionshaltungen können panikverhütend
wirken. Gewiß, der Mensch ist im Grunde ein unpolitisches
Wesen, er ist, werden ihm ökonomische und seelische Sicher­
heiten nur bis zu einem Grade gewährt, politisch sehr genüg­
sam, und er hält auch seine politischen Errungenschaften nicht
sonderlich hoch in Ehren - lauter Eigenschaften, welche von
den Diktaturen in weitgehendstem Maße ausgenützt worden
sind -, doch während die Diktaturen Politik um ihrer selbst
treiben wollen und treiben müssen, Politik mit Politik als Ziel,
ist das Ziel einer ethischen Politik im wesentlichen unpolitisch,
weil Ethik als solche keine politische, sondern eine humane
Haltung ist, und ebendeswegen ist gerade sie berufen, weit eher
als die Diktaturen, die Entpolitisierung der Massen vorzuneh­
men: genau so wie alle triebhaften und aggressiven Tendenzen
405

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im Menschen zu erwecken sind, genau so kann seine Sehnsucht
nach schlichter Anständigkeit und nach einem moralischen Le­
ben erweckt werden, und es kann dies umso leichter geschehen,
wenn damit an Traditionshaltungen angeknüpft wird. Daß hier
ein Versäumnis, ein edukatorisches Versäumnis der Demokra­
tien vorliegt, ist klar, aber dieses Versäumnis kann noch nach­
geholt werden, u. z. gerade jetzt, da die Massen zu erkennen
beginnen, daß ihre Traditionshaltungen gefährdet werden. So
paradox es klingt: zwecks Erziehung zur Freiheit, muß die Frei­
heit gezügelt werden, und hat die amerikanische Tradition ihre
Wurzeln in der Unabhängigkeitserklärung, welche als regulati­
ves Prinzip alle Gesetzgebung dieses Landes durchziehen soll,
so muß zum Schutze der Unabhängigkeitserklärung und der
von ihr ausgesprochenen Humanität, zum Schutze der Frei­
heitstradition, sich die Gesetzgebung innerhalb gewisser Gren­
zen bewegen; die Gesetzgebung darf nicht uneingeschränkt frei
sein. Das Ziel des wahrhaft demokratischen Staates muß eine
totalitäre Humanität werden, d. h. eine Humanität, welche zur
Richtlinie jedweden Handelns für den Bürger wird. Und es ist
anzunehmen, daß ein solcher Totalismus der Humanität in der
Lage sein wird, den der Inhumanität aufzufangen: denn er ist
im Besitze der wahren Ideologie.
Es werde nicht eingewendet, daß eine derartige Synthese zwi­
schen Freiheit und Staatstotalität, oder richtiger Humantotali­
tät, ein faules Kompromiß sei: alles soziale Leben ist Freiheit
innerhalb sozialer Gebundenheit, und gerade die synthetischen
Lösungen, anscheinend sogar paradoxen Lösungen wie etwa
die der monarchischen Demokratie Englands, haben sich bisher
noch immer als die haltbarsten erwiesen. Der amerikanische
Bürgerkrieg war ein Konkurrenzkampf zwischen Industrie­
wirtschaft und Plantagenwirtschaft, aber der Ideologe Lincoln
hat ihm - mit durchaus bewußter synthetischer Konstruktivität
- eine Traditionskraft verliehen, die zu einer politischen und
psychischen Realität ersten Ranges geworden ist, und deren
Wirkung heute noch anhält.
Niemand kann sagen, ob der Sieg der Industriewirtschaft nicht
auch ohne Lincoln errungen worden wäre, niemand kann sa­
gen, ob dieser Sieg, wäre er ohne Lincoln ausgefochten worden,
zu anderen Konsequenzen geführt hätte, doch vieles spricht da­
für, daß ethische Ideologie, wird sie an der richtigen Machtstelle
406

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eingesetzt, zu geschichtsbildender Realstärke anwachsen kann.
Und fast ist es zu prophezeien: wird heute nicht diese ethische
Ideologie in die große Weltauseinandersetzung hineingetragen,
dann mag der Krieg so oder so enden, er wird auf jeden Fall ei­
nen katastrophalen Verlust menschlicher Freiheit bedeuten, u.
z. nicht nur für Europa, sondern auch für Amerika. Wird aber
dieser Krieg zum Anlaß genommen, um den Fortschritt der
Weltgestaltung vorzubereiten - und es gibt bloß einen wirkli­
chen Fortschritt, nämlich den zu zunehmender Humanität
wird also das Ziel eines Völkerbundes wahrhaft freiheitsge­
tragener Humanitätsstaaten errichtet und hiezu die Demokra­
tie im Sinne ihres Ursprunges und ihrer Tradition entsprechend
ausgestaltet, dann werden die europäischen Völker wissen, wo­
für sie kämpfen, dann wird das amerikanische Volk auch wis­
sen, wofür es beim Friedensschluß mitzuwirken haben wird,
m. e. W., es wird eine zielgerichtete Neutralität betreiben kön­
nen, und es wird mit dieser Ausgestaltung der pax americana
das erreicht werden, was Wilson vergeblich zu erreichen ge­
sucht hatte, den konstruktiven Frieden.

4. Die Organisation

Ein derartiges Programm kann bloß von einer Machtposition


aus, u. z. sicherlich bloß Schritt für Schritt, verwirklicht werden.
Wir wissen nicht, ob die englische oder die amerikanische Re­
gierung sich heute mit derartigen Tendenzen trägt; ist dies der
Fall - und fast wäre anzunehmen, daß dem so sei -, dann wird
es nötig sein, diese Bestrebungen mit aller Kraft zu unterstüt­
zen, sind jedoch die Regierungen mit der Formulierung ihrer
eigentlichen Kriegsziele noch nicht so weit gelangt - und auch
hiefür spräche manches -, dann muß das Programm ethischer
Politik eben an sie herangetragen werden. Und für beide Fälle,
sowohl für die Unterstützung wie für die Herantragung bedarf
es einer Organisation, die einen kollektiven Willen verkörpert.
Es stehen hiezu nur zwei prinzipielle Wege offen:
a) die Bildung einer ausschließlich deutschen Organisation,
welche ihre Wünsche an das Londoner Committee heranträgt,
um solcherart auf dieses, sowie auf seine Konnexion mit der
englischen Regierung Einfluß zu nehmen. Es wäre nun einiger­
maßen verlockend, das Exil-Deutschtum, das - soweit es über­
407

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haupt noch politisch denkt - seine Parteizerrissenheit aus der
Heimat mitgenommen hat, politisch unter einen Hut zu brin­
gen, und das entwickelte Programm schiene die Möglichkeit zu
bieten; wenn man jedoch den in Betracht kommenden Perso­
nenkreis auch nur halbwegs kennt, so muß man mit einiger
Scham eingestehen, daß dies ein vergebliches Beginnen wäre.
Außerdem gibt es noch Nebengründe, welche dawiderspre­
chen, so die bereits erwähnte Staatsbürgerfrage der Exilierten
und schließlich auch die Frage der Finanzierung.
b) Die Bildung einer »Organisation für ethische Politik«
schlechthin, die also die politische Organisation der geistigen
Arbeit schlechthin, nicht nur der deutschen, zu bedeuten hätte.
Aus vielerlei Anzeichen - von denen einige in diesen Ausfüh­
rungen angedeutet worden sind - ließe sich schließen, daß eine
derartige Organisation alle Aussichten hätte, in ziemlich breite
Schichten zu dringen und sie zu erfassen, u. z. nicht nur in Ame­
rika, sondern auch in England. Daß dann in der Leitung eines
solchen Unternehmens sich die deutsche Vertretung auf wenige
auserlesene Namen zu beschränken hätte, während die Haupt­
leitung in amerikanischen Händen liegen müßte, versteht sich
von selbst, doch wäre für die heute so wichtigen deutschen Be­
lange unbedingt ein deutscher Ausschuß zu bilden.
Die Vorlage eines detaillierten Aktionsprogramms für eine
solche Organisation erübrigt sich hier. Es gilt ja bloß, die ver­
schiedenen Möglichkeiten gegeneinander abzuschätzen. Und
unter dieser kursorischen Betrachtung läßt sich mit einer im­
merhin recht beträchtlichen Sicherheit sagen: die politische
Aktivierung der emigrierten deutschen Geistigkeit ist notwen­
dig, wenn sie auf die künftige Gestaltung des Friedens, d. h. auf
die künftige Gestaltung der Welt und damit eben auch
Deutschlands Einfluß nehmen will; die Richtung dieser Betäti­
gung muß in der einer »ethischen Politik« liegen - wobei der
ökonomischen Zwangsläufigkeit vollauf Rechnung zu tragen
ist -, und zur Ermöglichung einer solchen geistig-politischen
Bewegung, zu ihrer Verbreiterung auf möglichst große Kreise
und damit zu ihrer praktischen Wirksamkeit wäre die Schaffung
einer entsprechenden Organisation überaus begrüßenswert,
freilich nicht bloß einer Organisation, welche lediglich die
deutsche Exil-Geistigkeit umfaßt, sondern einer, welche von
allem Anfang an auf eine möglichst breite anglo-amerikanische
408

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Basis gestellt wird. Denn die Belange, um die es hier geht, rei­
chen über die deutschen Probleme hinaus, und die Größe des
Problems verlangt auch nach einer entsprechend breit fundier­
ten Aktion; man darf nur etwas beginnen, das in all seinen Tei­
len sinnvoll und vertretbar ist, umsomehr als ja hiefür auch die
nötigen Mittel aufgetrieben werden müssen, und dies bloß dann
mit Verantwortung geschehen (- aber auch dann nur glücken -)
kann, wenn das Projekt auf wahrhaft gesunden Beinen steht.

5. Schlußfolgerungen für die Guild

Diese Ausführungen sind fast zu einem politischen Credo an­


gewachsen. Doch dies war notwendig. Denn es mußte gezeigt
werden, daß die politische Betätigung des emigrierten geistigen
Arbeiters, welcher nach wie vor Deutschland dienen will, recht
eindeutig bestimmt und an Aufgaben von recht bedeutenden
Dimensionen herangeführt worden ist. Demgemäß steht auch
jede Institution der exilierten geistigen Arbeit vor diesen Auf­
gaben. Es wäre völlig zwecklos, diesen Aufgabenkreis irgend­
wie einzuschränken; der kürzlich auf getauchte Plan, die
»Guild« zu einem Propagandainstrument für das »andere
Deutschland« zu machen, für das antihitlerische geheime
Deutschland, gegen das der Krieg sich nicht richten darf, dieser
Plan bedeutet bloß einen Bruchteil der wirklich zu erfüllenden
politischen Aktion.
Hätte die Guild sich nicht auf ihre - so überaus verdienstliche
- Fürsorgetätigkeit beschränkt, sondern hätte sie von Anbeginn
an die ihr zugedachte politische Linie eingehalten, so wäre sie
wahrscheinlich automatisch in die neue Aufgabengröße hinein­
gewachsen. Heute müßte sie sowohl organisatorisch wie perso­
nell hiefür vollkommen umgebaut werden, denn es kann von
dem derzeitigen Direktorium nicht verlangt werden, daß es
plötzlich sich zu politischen Zielen bekenne und politische Ar­
beit leiste.
Wir stehen also zweifelsohne vor dem Faktum, daß der poli­
tische Aufgabenkreis, welcher zu bewältigen wäre, für die
Guild in ihrer heutigen Form zu groß, hingegen der caritative
Aufgabenkreis ihr zu klein geworden ist. Ob sich eine Umbil­
dung der Institution für diese Zwecke verlohnen würde, ent­
zieht sich meiner Beurteilung, doch fast scheint mir die Auflö­
409

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sung der alten Organisation, um dann eine neue aufbauen zu
können, der technisch einfachere Weg zu sein.

1 Die »American Guild for German Cultural Freedom« wurde 1935 von Huber­
tus Prinz zu Löwenstein gegründet; ihr Sekretär war Volkmar von Zühlsdorff.
Bei der »Guild«, deren Sitz in New York City war, handelte es sich um eine
Hilfsorganisation für die aus Deutschland geflüchteten Schriftsteller. Ihre Mit­
tel brachte sie aus privaten Spenden auf. Sie vergab kleine Arbeitsstipendien
(Broch z. B. erhielt zwischen März und Mai 1939 eine Hilfe von fünfzig Dollar
pro Monat), vermittelte Visen und Arbeitsgenehmigungen, schrieb Empfeh­
lungen, Zeugnisse und Gutachten für Universitäten, Verlage und Zeitungen.
Oft konnte sie auch mittelbar helfen über die großen Flüchtlingsorganisationen
wie das »Emergency Rescue Committee«. Durch den Eintritt der USA in den
Krieg kam die Tätigkeit der »Guild« zum Erliegen. Ihre letzte Aktion war,
nach der Besetzung Frankreichs bei der Visenbeschaffung für Emigranten aus
Europa zu helfen. Broch war ein reger Mitarbeiter der »Guild«. Das belegt
auch der Nachlaß der »Guild« in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am
Main. Auch in der »Deutschen Akademie der Künste und Wissenschaften im
Exil«, die sich 1937 aus der »Guild« heraus entwickelte und dann mit ihr eng
zusammenarbeitete, war Broch aktives Mitglied. Den hier vorliegenden Auf­
satz verfaßte Broch 1939, als sich nach der Abreise Hubertus Prinz zu Löwen­
steins nach England die »Guild« in einer Krise befand. Vgl. Hubertus Prinz zu
Löwenstein, O n B o rro w e d P eace (New York 1942), S. 181 ff. und Volkmar
von Zühlsdorff, »Von der Gefährdung literarischen Lebens. Die deutsche
Akademie im Exil als Beispiel für einen Versuch, deutsche Literatur zu bewah­
ren«, in: D ie Z e it , Nr. 43 (23. 10. 1959), S. 7.
2 Wahrscheinlich ist das im Juli 1938 geschaffene »Intergovernmental Commit­
tee for Refugees« (ICR) gemeint, eine Abteilung des Völkerbundes, die 1939
ihren Sitz nach London verlegte und deren Vorsitzender damals Sir Herbert
Emerson wurde. Vgl. Werner Röder, D ie d eu tsch en sozialistischen E x ilg ru p p e n
in G ro ß b rita n n ien 1 9 4 0 -1 9 4 5 (Hannover 1968), S. 126ff.
3 Bis zum 24. 12. 1952, als ein neues Gesetz über die Erwerbung der US-Staats-
bürgerschaft in Kraft trat, mußte jeder Ausländer, der amerikanischer Bürger
werden wollte, eine schriftliche Absichtserklärung darüber vorlegen (»Decla­
ration of Intention to Become a Citizen of the United States of America«).
Diese Absichtserklärung wurde auch kurz »first paper« genannt.

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Ethische Pflicht

Die englischen intellektuellen Kreise stehen unzweifelhaft in


wesentlich engerer Beziehung zum politischen Leben ihres
Landes als deren amerikanischer Widerpart. So ist die Auf­
rechterhaltung der englischen Tradition, auf die sich die Demo­
kratie in England mangels einer verfassungsmäßigen Veranke­
rung vornehmlich stützt, zu einem nicht unwesentlichen Teil
dem Einfluß auf die führenden Schichten des Landes eben je­
nen Intellektuellen zu verdanken: es ist dies ein Einfluß wahr­
haft humanitären Charakters, der seinen wirksamsten Aus­
druck in den englischen Kirchen und Universitäten und in deren
ethischer Bereitschaft zu einer wirklichen politischen Verant­
wortung für Freiheit und Gerechtigkeit findet. In scharfem Ge­
gensatz hiezu gleichen die amerikanischen Universitäten ein­
sam vereinzelten Inseln im Sozialgefüge des Landes, und die
Äußerungen der Sprecher des amerikanischen Klerus können
gleichzeitig alles und nichts bedeuten.
Zwei der Hauptgründe für diese auffallende Unterschiedlich­
keit finden sich bereits obig erwähnt: England hat keine schrift­
lich festgehaltene Verfassung, während Amerika eine solche
besitzt; England besitzt eine klar umrissene Führungsschicht,
während Amerika einer solchen ermangelt. England gleicht
den Mangel einer Verfassung durch die Flexibilität seiner Tra­
dition aus, während in Amerika, ebenso wie auf dem europä­
ischen Kontinent, die schriftlich festgehaltene Verfassung des
öfteren zu einer gewissen Erstarrung der Tradition und damit
auch zusehends zu einer Erlahmung des politischen Willens der
Nation geführt hat, so daß von diesem letzten Endes nichts an­
dres übrig bleibt als ein eher verschwommenes Pflichtgefühl,
die verfassungsmäßig verbürgten Rechte verteidigen zu müs­
sen. Der Verfassungserklärung wird derart eine fast magische
Kraft beigemessen, nämlich jene einer Läuterung und Frei­
sprechung von allen etwaigen zukünftigen politischen Sünden,
einer Läuterung für alle Zeiten, die alle nachfolgenden Gene­
rationen jeglicher politischer Verantwortung entlöst und diese
auf die Berufspolitiker abwälzt. Statt einer Führungsschicht, die
von einer persönlichen Verantwortung getragen wird, hat
Amerika die Parteimaschine entwickelt, welche verantwor­
411

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tungsentblößten Einflüssen ausgesetzt ist und für die Zielset­
zungen idealistisch denkender Intellektueller nur sehr wenig
Raum bietet. In England genießt der gewählte Politiker das
Vertrauen seiner Wählerschaft; in Amerika ist er deren dau­
erndem Mißtrauen ausgesetzt.
Der erste Schritt in Richtung der Demokratie bestand in der
Entdeckung des Christentums, daß vor Gott alle Menschen
gleich sind; der zweite Schritt wurde im Zeitalter der Aufklä­
rung vollbracht, als die Gleichberechtigung aller Menschen vor
dem Gesetz ausgesprochen wurde. Als dritten Schritt versucht
der Sozialismus durch die Erzielung wirtschaftlicher Gleichheit
der Menschen die horizontalen Gesellschaftsschichten, die Un­
terschiede zwischen Regierenden und Regierten, zwischen
Ausbeutern und Ausgebeuteten aufzuheben, um derart eine
zumindest annähernd klassenlose Welt zu schaffen. Denn hin­
ter allen politischen Idealen steht stets das Ziel der civitas dei
als Verkörperung des Friedens, der Freiheit und der Gerechtig­
keit für alle. In der Feudalhierarchie des Mittelalters war es der
Priester, der als Vertreter der civitas dei galt; in der heutigen
Welt und seiner kapitalistischen Hierarchie ist es der Intellek­
tuelle, der als dessen Laiennachfolger diese Rolle zu überneh­
men hatte, und es ist bezeichnend, daß die Sozialfunktion dieser
beiden Gruppen gleicherweise einem »klassenlosen und verti­
kalen Stratum« angehört, das sich mit allen horizontalen Ge­
sellschaftsschichten überschneidet: sicherlich gab es und gibt es
andere Möglichkeiten für einen vertikalen Aufstieg aus der
Klasse der Untergeordneten zu jener der Spitze - der militäri­
sche Beruf ist dafür ein Beispiel -, aber nur der Priester und der
Intellektuelle sind den Geboten der führenden Schicht entho­
ben, ja sie fordern sogar ganz im Gegenteil, daß diese oberen
Gesellschaftsklassen sich jenem Geiste zu beugen haben, der
alle Klassen eint. Soziales Gleichgewicht, d. h. also die gewalt­
lose Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, ist nur unter Leitung
eines solchen einenden Geistes denkbar, und in dessen Erlan­
gung ist eben den intellektuellen Kreisen, wie dies Englands
Beispiel schlagend beweist, eine führende Rolle zuzuschreiben.
Nur zu oft aber hat der Intellektuelle unserer Zeit vergessen,
daß er das Erbe des mittelalterlichen Priesters anzutreten hat,
und er hat dies umsomehr vergessen, als die kapitalistische
Denkweise jenem Armutsgelöbnis widerspricht, das zumindest
412

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annäherungsweise Teil dieses Erbgutes zu sein hätte, wenn der
Intellektuelle seine Sonderstellung gegenüber den anderen
Gesellschaftsschichten zu behaupten gedenkt. Im kontinenta­
len Europa und insbesondere in Deutschland hat der Intellek­
tuelle üblicherweise seinen gesellschaftlichen Aufstieg fast aus­
schließlich für seine Assimilation in die führenden Schichten
ausgenützt, und weil er derart seine wahren geistigen und poli­
tischen Pflichten vernachlässigt hat, so trägt er zu einem großen
Teil mit Schuld an dem Emporkommen der europäischen Dik­
tatoren. Der amerikanische Intellektuelle konnte es sich bislang
vielleicht leisten, in seinem Elfenbeinturm zu verharren, nun
aber, da die Demokratie selber aufs schwerste bedroht scheint,
bedarf er mehr denn je jener geistigen Einsatzbereitschaft, die
alle Klassen überbrückt: die gleichsam schwebende Auslese­
hierarchie, jenes hohe Ziel der Demokratie bei der Erlangung
einer ausgewogenen Sozialordnung, steht in unmittelbarer Ge­
fahr, und daher ist jedem Intellektuellen das Gebot seiner ethi­
schen Pflicht in dringlichster Unmittelbarkeit auferlegt.

(Aus dem Englischen übersetzt


von H. F. Broch de Rothermann.)

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Bemerkungen zum Projekt einer
»International University«,
ihrer Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten

In den USA bestehen eine Reihe »europäisch orientierter« wis­


senschaftlicher und wissenschaftlich-politischer Institutionen.
Sie verdanken der anti-fascistischen Immigration ihr Dasein,
und sie haben bisher drei Hauptzwecken gedient, nämlich
erstens den aus Europa vertriebenen Wissenschaftlern ein Wir­
kungsfeld und damit Lebensmöglichkeit zu bieten,
zweitens die amerikanische Wissenschaft mit dem europäischen
Denken, [seinen] Methoden etc. vertraut zu machen,
drittens ebenhiedurch eine geistige Grundlage für den prakti­
schen Kampf gegen den Fascismus zu schaffen.
Institutionen wie die New School19resp. die Ecole Libre2 oder
aber das Institute for Advanced Study3 erfüllten vornehmlich
die beiden ersten dieser Zwecke, während der dritte sich in
Gründungen wie Free World4 aber auch in manchen Unterab­
teilungen der New School, so in der des »Ibero-American-Cen-
ters« und der »World Affairs« weitgehend erfüllte.
Mit Kriegsschluß werden diese spezifischen Zwecke mehr
oder minder ephemer werden; denn
die ausländischen Wissenschaftler haben sich inzwischen viel­
fach amerikanisiert, sind auch zum Teil vom amerikanischen
Wissenschaftsbetrieb aufgenommen worden, und soweit sie
sich nicht amerikanisiert haben - wie dies vor allem bei den
Franzosen der Fall ist - werden sie in ihre Heimat zurückkeh­
ren;
der Wideraufbau des Wissenschaftsbetriebes im devastierten
Zentral-Europa wird nur sehr langsam - und außerdem nur mit
amerikanischer Hilfe - erfolgen, wird also in keiner Weise mit
der europäischen Vorkriegs-Wissenschaft vergleichbar sein,
braucht also auch keinen Exponenten im amerikanischen Wis­
senschaftsbetrieb ;
der Kampf gegen den Fascismus wird sich nicht mehr gegen die
europäischen Diktatoren richten, sondern wird höchstens ein
innerpolitischer sein, für den eine europäisierte geistige
Grundlage völlig überflüssig ist.
Der europäisierende Charakter der obengenannten Institu­
414

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tionen wird also sicherlich keinen Zweck mehr zu erfüllen ha­
ben. Gewiß können die Institutionen trotzdem weiter bestehen,
vorausgesetzt daß sie hiefür genügend finanzkräftig sind, doch
wahrscheinlich wird dieser Fortbestand - soferne sie nicht einen
neuen spezifischen Sinn erhalten - bloß in amerikanisierter
Form möglich sein. M. a. W., sie werden zu amerikanischen
Anstalten neben anderen amerikanischen Anstalten werden;
ob hiefür ein Bedarf vorhanden ist, oder ob es eine Konkurrenz
bedeutet, kann erst die Zukunft lehren.
Die Aussichten für [den] Fortbestand der jetzigen europäisch
orientierten Institutionen wären aber jedenfalls wesentlich ge­
sicherter, wenn sie sich in ihrer eigenen spezifischen Linie wei­
terentwickeln und damit eine Ausnahmsstellung in der ameri­
kanischen Wissenschaft einnehmen könnten. Diese Linie
deutet in die Richtung einer »International University«.

A. Notwendigkeit einer solchen Institution

Wie überall spielen für eine solche Notwendigkeit ebensowohl


äußere wie innere Gründe mit, und wie überall sind die inneren
und äußeren Gründe aufs engste miteinander verbunden; die
äußeren Gründe sind politischer Natur, die inneren ergeben
sich aus der Wissenschaftssituation selber.
1. Politische Gründe
Ob als Völkerbund, ob in irgend einer andern Form, es wird der
Friedensschluß eine internationale politische Organisation
bringen.
Soll die neue Organisation nicht wie der alte Völkerbund eine
brüchige Improvisation werden, so wird sie eine viel straffere
Struktur als jener haben müssen. Eine solche aber ist - allen
Nur-Politikern zutrotz - ohne gründlichen theoretischen Un­
terbau nicht zu schaffen.
Damit ist nicht nur - obwohl auch dies eines der allerwichtig­
sten der künftigen Probleme ist - der völkerrechtliche und son­
stige juristische Unterbau gemeint, sondern ein viel umfassen­
derer: ein Friedensinstrument kann bloß dann wirksam werden,
wenn es sowohl in seiner Konstruktion wie in seiner Handha­
bung ein Ausdruck des »Weltgeistes« ist, d. h. seinen Erforder­
nissen entspricht. Daß die Wissenschaft in ihrer Ganzheit aber
der klarste Exponent dieses Weltgeistes ist, kann kaum bezwei-
415

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feit werden. Und eben in dieser Ganzheit - und nicht nur in
einzelnen Zweigen - wird die Wissenschaft dem Frieden
und seiner Organisierung dienstbar gemacht werden müs­
sen.
Es war z. B. für jedermann völlig eingängig und natürlich, daß
der Völkerbund eine ökonomisch-wissenschaftliche Sektion -
wenn auch nur für unmittelbar praktische Fragen - eingerichtet
hat, um darin eine Richtlinie für seine Handlungen zu finden.
Daß historische, ja sogar geschichtsphilosophische Untersu­
chungen nicht weniger wichtig für eine wirksame Friedenspoli­
tik sind, ist schon weit weniger eingängig. Das nämliche gilt für
psychologische Forschungsresultate, und doch hätte gerade das
Hochkommen der Fascismen und Diktaturen zeigen können,
daß in der Führung der Politik psychologische Momente von
ausschlaggebendem Gewicht sind, Momente, die von den Fas­
cismen fast genial ausgenützt, hingegen von den Demokratien
nahezu gänzlich vernachlässigt worden sind.
Das wissenschaftliche Material, dessen sich die künftige Frie­
densorganisation zu bedienen hätte, umfaßt also das Gesamt­
gebiet der Geisteswissenschaften (ja greift sogar noch darüber
hinaus), es reicht von der Anthropologie bis zur Philosophie,
und dies ist eine Spannweite, die ohne systematische Gliede­
rung und Durcharbeitung nicht einheitlich zu erfassen, also
auch nicht einheitlich in den Dienst der Humanitäts-Politik ge­
stellt werden kann, wie es die Friedensorganisation erforderte.
Vielmehr würde hiezu ein eigenes Forschungsinstitut auf brei­
tester Basis benötigt werden. Diese Basis entspricht aber der
einer Voll-Universität (mögen auch die medizinischen und
technischen Fächer ausgeschlossen sein), und ebendarum ist
auch wahrscheinlich die Universitäts-Form als solche vorzuzie­
hen, denn einerseits ist die Universitäts-Arbeit im allgemeinen
lebendiger als die eines reinen Forschungsinstitutes, und ande­
rerseits gilt es, eine neue Generation zur Mitarbeit am Welt­
friedenswerk heranzubilden.
Schon der alte Völkerbund hat - allerdings unklar - gefühlt,
daß etwas derartiges nötig ist und hat deshalb die - allerdings
sehr rudimentäre - »Sektion für geistige Zusammenarbeit«5
eingerichtet. Für die künftige Friedensorganisation ist die »In­
ternationale Universität« kaum weniger wichtig als eine Inter­
nationale Bank.
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2. Innerwissenschaftliche Gründe
Man kann technischen Wissenschaften gewisse Aufgaben stel­
len, aber man kann die Wissenschaftsganzheit nicht irgend ei­
nem bestimmten Zweck - und sei er noch so edel - unterord­
nen. Solche nazihaften Gleichschaltungs-Operationen können
für kurze Zeit standhalten, heben sich aber bald von selber auf,
weil der Wissenschafts-Fortschritt sich letztlich als autonom er­
weist. Die Verbindung von Humanitäts-Politik und Wissen­
schaft kann also nur fruchtbar sein, wenn der autonome Wis­
senschaftsfortschritt in eben dieser Richtung liegt. Dies jedoch
kann behauptet werden.
Die Wissenschaft hat »versagt«. D. h. sie hat die Weltkata­
strophe nicht verhindern können, ja kann teilweise mit zu ihren
Ursachen gerechnet werden; daß sie sich in den fascistischen
Ländern hat »gleichschalten« lassen, daß dies möglich war, ge­
hört mit zu den Symptomen jenes »Versagens«. M. a. W., der
autonome Wissenschaftsfortschritt hat mit dem »Weltgeist«,
dessen Teil und Exponent er ist, selber zur Katastrophe hinge­
steuert. Dieses höchst bemerkenswerte Phänomen dürfte sich
auf zwei Hauptursachen zurückführen lassen,
a) auf eine extensive, da die Wissenschaften sich infolge ihrer
stürmischen Entwicklung (auf dem Gebiet der Naturbeherr­
schung) während des 19. Jahrhunderts in einer Weise speziali­
siert hatten, daß jede innere Verbindung zwischen den ver­
schiedenen Fächern aufgelöst wurde, geschweige denn, daß der
einzelne Mensch je eine Gesamtübersicht über sie alle hätte ge­
winnen können,
b) eine intensive, da - und dies ist eine der besten Früchte des
Verschwindens einer allgemein-verbindlichen Wahrheits­
grundlage - die Hauptdisziplinen sich genötigt sahen, bis zu ih­
ren eigenen Grundlagen vorzustoßen und hiebei (sogar auch
die Mathematik) entdeckten, daß hier keineswegs alles so gesi­
chert ist, wie noch im 19. Jahrhundert angenommen war, und
daß vielfach ein völliger Neuaufbau vorgenommen werden
müsse, eine Entdeckung, die den einzelnen oft genug in die
Bahn eines schieren Relativismus in all seinen Anschauungen,
nicht zuletzt den ethischen geworfen hat.
Beide Ursachengruppen, die extensive wie die intensive, spie­
geln sich in der philosophischen Literatur. Sie haben nicht nur
eine in ihren letzten Konsequenzen absurde Wissenschaftsme­
417

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thodologie gezeitigt (insbesondere hinsichtlich des Verhältnis­
ses zwischen Geistes- und Naturwissenschaften), sondern ha­
ben auch das Eindringen isolierter naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse in ein halbphilosophisches Denken gefördert, das
dann mithin - wie u. a. das Beispiel Spenglers zeigt - den un­
heilvollsten Einfluß auf die Weltgestaltung ausgeübt hat.
All diese Fakten zusammengenommen scheinen aber inner­
halb der Wissenschaft nun die Reaktion vorzubereiten. Gerade
die allenthalben eingetretene Besinnung auf die Disziplins-
Grundlagen hat die Einsicht einer Grundlagengemeinsamkeit
gefördert, eine Einsicht, zu der die neue abstrakte Logik und
Wissenschaftslehre nicht wenig beigetragen hat. M. a. W., aus
innerer autonomer Notwendigkeit - ja vielfach für den einzel­
nen Mitarbeiter an dieser Bewegung durchaus unbewußt -
scheint die Wissenschaft auf dem Wege zu sein, der babyloni­
schen Verwirrung, in die sie, insbesondere in ihrem geisteswis­
senschaftlichen Teil, geraten ist, ein Ende zu bereiten. Ein stei­
gendes Unbehagen ist allenthalben zu bemerken, die
Forderung nach einer inneren Verständigung im Gebiet der
Geisteswissenschaften wird immer lauter; es werden Kongresse
zu diesem Behuf abgehalten, und die Bestrebungen zu einer
Unterrichtsform, wie sie sich u. a. beispielsweise an der Univer­
sität Chicago zeigen, dürfen als wichtige Symptome hiefür ge­
wertet werden.
Wohin sollen aber diese Synthetisierungs-Bestrebungen
(denn um solche handelt es sich) führen? Wie kann, wie soll das
neue Wissenschafts-Organon, das ja am Ende der Synthetisie­
rungs-Bestrebungen stehen muß, eigentlich aussehen? Da alle
Erkenntnis in der Bewußtseinsstruktur verankert ist, darf mit
Fug angenommen werden, daß in erster Linie erkenntniskri­
tische, logische und wissenschaftsmethodologische Mittel (de­
ren Grundzüge ja schon überall sichtbar sind) am Aufbau des
Wissenschafts-Organons beteiligt sein werden. Doch daneben,
bei aller Abstraktheit der Bewußtseinsstruktur, darf niemals
vergessen werden, daß es menschliches Bewußtsein ist, das da
untersucht wird, daß es also letztlich um den Menschen, um die
»Gestalt des Menschen an sich« geht. Hiedurch wird - notge­
drungen-das »Humane schlechthin« zum Wissenschaftskern,
vor allem zu dem der Geisteswissenschaften (wenn auch die
Naturwissenschaften hievon keineswegs ausgeschlossen wer­
418

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den können). Das »Humane schlechthin« aber ist im Ethischen
zentriert, und sohin ist zu erwarten, daß sich das Wissen­
schafts-Organon letztlich als eine allgemeine, kritisch begrün­
dete, normative Wertlehre konstituieren wird. Und es kann
auch gar nicht anders sein, denn Wissenschaft strebt nach
»Wahrheit«, und diese ist nicht nur eine erkenntniskritische,
sondern auch eine ethische Kategorie.
Die Dinge sind heute viel zu sehr noch im Fluß, als daß sich
darüber mehr aussagen ließe (zumindest nicht im Rahmen der
vorliegenden Skizze), doch die Richtung darf wohl als festste­
hend betrachtet werden. Und eben darum läßt sich auch sagen,
daß das im Werden befindliche, neue Wissenschafts-Organon
als allgemeine normative Wertlehre jene soziologisch-poli­
tische Ethik in sich begreift, ohne die keinerlei gültige Frie­
densorganisation zu etablieren ist. Gewiß, das Wissenschafts­
material, das die Friedensorganisation zu verlangen hat, ist
keineswegs aufs Ethische beschränkt, sondern besteht zum
überwiegenden Teil aus konkreten Tatsachen, und es wäre da­
her auch falsch zu glauben, daß die Neu-Systemisierung der
Wissenschaft einfach auf das ethische Ziel ausgerichtet werden
müsse. Aber es kann vertreten werden, daß die Wissenschaft
niemals zu dieser Systemisierung gelangen würde, ja nicht ein­
mal fähig wäre, das benötigte konkrete Material zu liefern
(denn dazu braucht es eben Systematik), wenn sie in ihrem Or­
ganon nicht inhärent bereits die ethische Orientierung in sich
trüge.

B. Organisierungs-Probleme

Im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Institution, welche der


künftigen Friedensorganisation der Welt dienen will, steht -
wie bereits erwähnt - das eigentliche Forschungsinstitut, dane­
ben die dazugehörige universitäre Lehranstalt, und schließlich
muß noch auf eine Art »Außendienst« Bedacht genommen
werden, denn eine ethisch orientierte Wissenschaft ist nicht nur
Handlangerin der Politik, sondern hat auch ihre eigenen politi­
schen Aufgaben, d. h. sie muß mit ihren wissenschaftlichen Re­
sultaten selber und unmittelbar aufklärend wirken, um den Ge­
danken einer »Human-Politik« in der Öffentlichkeit zu
festigen.
419

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Unter diesen Gesichtspunkten läßt sich beiläufig folgendes
Organisierungsprogramm umreißen:
1. Forschungsinstitut
Gemäß dem Gesagten hätte das Forschungsinstitut etwa die
nachstehenden Arbeitsgebiete zu umfassen:
a) Logik,
b) Grundlagenforschung
(I) der Mathematik und Naturwissenschaften,
(II) der Geisteswissenschaften,
c) Erkenntniskritische Wissenschaftsmethodologie,
d) Allgemeine Wertlehre als Basis einer Synthetisierung der
Geisteswissenschaften, und zwar unter den besonderen Aspek­
ten der
(I) erkenntniskritischen Grundlegung,
(II) historischen Entwicklung des Bewußtseins,
(III) Untersuchung der menschlichen Wert-Normungen
und deren Mechanik; woraus sich ergibt
e) die spezielle Wertlehre einer soziologisch gefaßten, politi­
schen Ethik, umfassend
(I) geschichtstheoretische Grundlegung,
(II) anthropologische Grundlegung,
(III) psychologische Grundlegung unter besonderer Be­
rücksichtigung der massenpsychischen Phänomene,
(IV) empirische Kontrolle und Sammlung des hiefür nöti­
gen statistischen Materials.
Im allgemeinen werden sich die Arbeitsgebiete (a-e) jedes für
sich nach ihren eigenen autonomen Methoden fortzuentwik-
keln haben; man darf sich nicht vorstellen, daß die Synthetisie­
rungsarbeit der Gruppe (d) irgendwie »leitend« in die Arbeit
der anderen Gruppen eingreifen werde. Die Synthetisierungs­
arbeit ist in erster Linie eine analysierende und systematisie­
rende, und von hier aus hat sie zu ihren eigenen Resultaten vor­
zudringen. Eine Beeinflussung kann höchstens durch konkrete
Fragen und Problemstellungen sich ergeben, und fast ist vor­
auszusagen, daß sich solche Fragen der Synthetisierung an die
anderen Arbeitsgebiete häufen werden, je mehr sich die Syn­
thetisierung ihrem Ziel eines Wissenschafts-Organons nähern
wird.
Gewiß ließe sich die Gruppe (d) oder auch (e) je separat als
eigenes Forschungsinstitut installieren. Aber vielerlei prak-
420

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tische Gründe, nicht zuletzt solche finanzieller Natur, befür­
worten die Eingliederung in ein bestehendes Institut.
Das Institute for Advanced Study in Princeton wäre der gege­
bene Platz zur Einrichtung der Gruppen (d) und (e), und zwar
vor allem weil die Gruppen (a, b, c) hier in einer Weise wie nir­
gendwo anders in der Welt vertreten sind.
Andererseits könnte angenommen werden, daß dem »Insti­
tute« eine solche Ergänzung seines Arbeitsplanes willkommen
sein müßte. Es sei hiezu nochmals auf das eingangs Gesagte
verwiesen: das »Institute« hat eine Reihe der größten europä­
ischen Wissenschaftler unter seinem Dach versammelt, hat ih­
nen einerseits die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Arbeit ge­
boten und andererseits hiedurch die Resultate dieser Arbeit der
amerikanischen Wissenschaft präsentiert, doch dies sind im
Grunde durchaus isolierte Aktionen gewesen; das Institut ist
bloß eine lokale, keine systematische Einheit, und durch Auf­
nahme der ergänzenden Gruppen (d, e) könnte es zu einer sy­
stematischen Einheit werden, also auch ein - von den jeweili­
gen Institutsmitgliedern unabhängiges - einheitliches und auf
die Dauer bestimmtes Institutsprogramm verfolgen.
2. Universitätsbetrieb
Es ist keineswegs gedacht, die »Internationale Universität« zu
einem bloßen Annex eines ihr übergeordneten Forschungsin­
stitutes zu machen.
Wenn sich die New School aus den eingangs angeführten
Gründen in eine »International University« verwandeln wollte
- und fast wäre es angezeigt, daß sie sich dann auch offiziell so
nennen würde -, so stünde sie mit dem Forschungsinstitut zwar
in einem kooperativen Verhältnis, insbesondere hinsichtlich ei­
ner Lehrtätigkeit der Institutsmitglieder oder aber hinsichtlich
der universitären Unterstützung ihrer Forschungsarbeit, doch
daneben hätte sie ihre eigenen wissenschaftlichen Aufgaben zu
verfolgen.
Denn die Arbeit des Forschungsinstitutes - sei es im Rahmen
des Institute for Advanced Study oder woanders errichtet - ist
eine rein abstrakte und theoretische, hat also mit »Internatio­
nalität« nur so weit etwas zu tun, als Wissenschaft überhaupt
international ist. Eine wissenschaftliche Institution jedoch,
welche ein Instrument des Friedens werden will, muß auch den
materialen Inhalt des Begriffes »Internationalität« erfüllen.
421

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Und gerade dies ist der Aufgabenkreis für eine »International
University«.
Die New School ist in der glücklichen Lage, mit ihren soziolo­
gischen und politischen Sektionen den Forderungen der Inter­
nationalität bereits weitgehend gerecht zu werden. Als »Inter­
national University« hätte sie in diesen Abteilungen vielleicht
nur den Schwerpunkt ein wenig zu verrücken, kann dies aber
leicht und ohne irgendwelche Mehrspesen - also auch ohne
Vergrößerung ihres Personalstandes - tun.
Auf anderer Seite hingegen würde wohl eine Erweiterung
der Fachgebiete nötig werden: vor allem müßte Historie viel
stärker vertreten sein, weiters Geographie, Anthropologie
etc.
Schließlich ist eine »International University« nicht ohne In­
ternationales Recht, Völkerrecht, Völkerbundrecht, etc. denk­
bar. Ob eine solche juristische Lehrtätigkeit ohne den Hinter­
grund einer ausgebildeten law school ausübbar ist, kann nicht
ohneweiters als gesichert angenommen werden, denn man kann
z. B. schwer über internationales Arbeitsrecht tradieren, ohne
mit dem Arbeitsrecht des Heimatlandes vertraut zu sein.
Ebenso müssen grundlegende Kenntnisse über Zivil- und
Strafrecht, ja vielleicht sogar auch über historische Rechtsfor­
men, wie das römische Recht etc., hiezu vorausgesetzt werden.
Wahrscheinlich müßte aber doch der Versuch gemacht werden,
ohne vorausgebaute juristische Fakultät das Auslangen zu fin­
den.
Es versteht sich, daß die New School auch als »International
University« ihre jetzigen mathematischen und naturwissen­
schaftlichen Vorlesungen nicht aufzugeben hätte.
3. Wirkung in der Öffentlichkeit
Es wurde bereits erwähnt, daß es zu den Pflichten einer »Inter­
nationalen Universität« gehören würde, mit ihren wissen­
schaftlichen Resultaten und Ansichten sich direkt an die Öf­
fentlichkeit zu wenden, nämlich insoweit als sich hiedurch eine
Festigung des Friedensgedankens und >die Verwirklichung< ei­
ner Human-Politik erzielen läßt.
Hiefür können einesteils Einrichtungen wie das »Institute for
World Affairs« und das »Ibero-American Center« der New
School, andernteils Publikationen dienlich sein. Schließlich
sind hiefür allgemein zugängliche Veranstaltungen, Radiovor­
422

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träge, lecture tours etc., kurzum ein ausgebildeter Außendienst
in Betracht zu ziehen.
Die jetzige Hauptpublikation der New School, nämlich Social
Research6, wäre daher nicht nur fortzusetzen, sondern auch
auszubauen, um den Bedürfnissen der »International Univer-
sity« gerecht zu werden. Doch vermutlich wäre es angezeigt,
daneben auch noch eine zweite Zeitschrift herauszugeben, wel­
che nicht, wie Social Research, rein wissenschaftlich gehalten ist
und sich an ein weiteres Publikum zu wenden vermag. Oder
noch besser wäre es, eine bereits bestehende Zeitschrift mit ge­
nügend großer Zirkulation zu gewinnen.
Eine solche Zeitschrift ist nun tatsächlich vorhanden und
dürfte vermutlich gewinnbar sein: es ist die eingangs erwähnte
Free World, und ebenso wurde bereits erwähnt, daß Free
World vor ähnlichen Nachkriegsproblemen wie die New
School steht, so daß eine Parallelisierung der Problemlösungen
einen wahrscheinlich gangbaren Weg ergeben könnte.
Sollte eine derartige Parallelisierung tatsächlich zustande
kommen, so würde es fast natürlich erscheinen, den gesamten
Publikations- und Außendienst, den die »International Uni-
versity« einzurichten hätte, an die Free World zu übertragen.
Denn nicht nur, daß die »International University« für ihren
Außendienst eine eigene Leitung bestellen müßte, einfach weil
der wissenschaftliche Arbeiter nicht zwei Herren zugleich die­
nen kann, ohne einen der beiden Dienste zu vernachlässigen,
es hat auch gerade Free World während der wenigen Jahre ihres
Bestandes sich sowohl in ihrer Zeitschrift wie in ihren übri­
gen Aktionen als so ausgezeichnet geleitet erwiesen, daß es
voraussichtlich von größtem Gewinn wäre, wenn sie den
gesamten »Außendienst« der »International University« über­
nähme.
Oder um es zu spezifizieren: wenn die hier gedachte Ar­
beitsteilung vorgenommen werden würde, so würde Free
World die gesamte wissenschaftliche und nicht-wissenschaftli­
che Zeitschriften-Redaktion und Administration zufallen, wei­
ters alle nach außen gerichtete politische Aktivität, die Veran­
staltung von round tables und anderen Diskussionen, die
Radio-Propaganda wissenschaftlichen und nicht-wissenschaft­
lichen Inhaltes etc. etc.
Die wirksame Bearbeitung dieser Abteilung ist um so wichti­
423

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ger, als von ihr zu einem großen Teil die Einbringung laufender
Einkünfte für das Gesamtunternehmen abhängt.

C. Praktische Probleme

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der hier vorgetragene Plan


tatkräftiges Interesse bei irgendeiner der großen Foundations
fände, oder daß irgendeine Finanzierung hiefür gefunden wer­
den könnte.
Geschieht dies, so könnte der Plan - zumindest teilweise, z. B.
bloß als »Institut zur Wissenschafts-Synthetisierung« - ohne
Rücksicht auf irgendeine der bestehenden Institutionen durch­
geführt werden, oder es könnte eine einzelne von ihnen, sei es
die New School, sei es das Institute for Advanced Study, sei es
Free World, die Durchführung ohne Rücksicht auf die anderen
übernehmen. All dies sind gangbare Möglichkeiten.
Wenn hier trotzdem einer gemeinsamen Aktion das Wort ge­
redet wird, so sprechen hiefür folgende Gründe:
a) eine Gesamtverwirklichung ist einer teilweisen jedenfalls
vorzuziehen; die wissenschaftliche Stützung der künftigen
Friedensorganisation ist nicht minder wichtig als die Bestre­
bungen zur Synthetisierung der Geisteswissenschaften;
b) selbst eine Teilverwirklichung, geschweige also die ge­
samte, erfordert einen bedeutenden wissenschaftlichen Appa­
rat, und es spricht daher alles dafür, mit dem Projekt an jene
Stelle zu gehen, wo - wie eben beim »Institute« oder bei der
New School - dieser Apparat bereits vorhanden ist;
c) ob Gesamt- oder Teilverwirklichung, die Kosten der Grün­
dung sind jedenfalls beträchtlich, und sie können ganz bedeu­
tend vermindert werden, wenn der Anschluß an eine bereits
bestehende Institution vorgenommen wird, also erst gar, wenn
mehrere von diesen zusammentreten.
Aus all diesen Gründen will es scheinen, als ob die gedachte
Kooperation von Institute for Advanced Study, New School und
Free World eine ideale Lösung sei.
Freilich ist bei der gedachten Kooperation7zu bedenken, daß
es sich hier um drei selbständige Unternehmungen handelt,
welche ihre Selbständigkeit nicht ohne weiters aufgeben
können; eine Foundation z. B., wie es das Institute for Advanced
Study ist, läßt sich in keinerlei Fusionierungen hineinführen,
424

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weil es hiefür seine Gründungs-Statuten ändern müßte.
Es geht aber um gar keine Fusionierung, sondern um eine freie
Kooperation, und hiezu sind die drei hier genannten Institutio­
nen unzweifelhaft fähig und berechtigt. Natürlich ist innerhalb
des Kooperationsfeldes eine gemeinsame, einheitliche Leitung
wichtig und notwendig, aber eine solche ist auch leicht herstell­
bar, einerseits durch Schaffung eines speziellen Direktoriums
für die gemeinsamen Angelegenheiten, andererseits durch ge­
wisse Personalunionen in den leitenden Posten.
Ebenso müßte es leicht möglich sein, das Problem der Finanz­
gebarung für gemeinsame Auslagen einerseits, für gegenseitige
Verrechnungen andererseits, komplikationsfrei zu lösen. Dies
sind bloße Buchhaltungsangelegenheiten.
Der Kooperationsgedanke hat bloß einen wirklichen Nach­
teil: es ist schwierig genug, ein Projekt als solches zu verwirkli­
chen, es ist schwieriger, hiefür zwei Partner unter einen Hut zu
bringen, und wird noch schwieriger und langwieriger, wenn dies
mit drei Partnern geschehen soll. Und gerade Langwierigkeit
sollte vermieden werden. Denn die hier vorgetragenen Ideen
sind nicht originell, sondern liegen in der Luft, und soferne die
gedachte Kombination tatsächlich - wie eigentlich behauptet
werden dürfte - als ideale Lösung angesprochen werden kann,
so wäre es schade, wenn statt dessen eine minder ideale an­
derswo zur Verwirklichung gelangte.8

1 Die »New School for Social Research«, New York, wurde 1919 als Fortbil­
dungsstätte gegründet und entwickelte sich zur ersten Universität in den USA,
die sich ausschließlich der Weiterbildung für Erwachsene widmet. 1934 erhielt
sie eine »Graduate Faculty«, und zwar war diese identisch mit der 1933 von
europäischen Emigranten begründeten »University in Exile«. Bis Kriegsende
hatte die »Graduate Faculty« den Untertitel »University in Exile«. Ihr gehör­
ten u. a. Hans Speier, Adolph Lowe, Arnold Brecht und Hans Staudinger an.
1944 wurde der »New School« ein »Senior College« angegliedert. Das
»Ibero-American Center« und das »Institute for World Affairs« waren Pro­
gramme innerhalb der New School. »World Affairs« wurde geleitet von Adolf
Lowe und Hans Staudinger. Das Schwerpunktprogramm der Universität waren
stets die Sozialwissenschaften. Die »New School« wird heute von ca. zehntau­
send Studenten besucht. Broch hatte während seiner Emigrationszeit guten
Kontakt zu verschiedenen Professoren der »New School«, besonders zu dem
seinerzeitigen Direktor Alvin Johnson. Johnson berichtet über die Entwick­
lung der »New School« während der dreißiger und vierziger Jahre in seiner
Autobiographie P io n e e r’s P rogress (New York 1960).

425

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2 Die »Ecole Libre des Hautes Etudes« wurde von französischen und belgischen
Emigranten wie Gustav Cohen, Jacques Maritain und Henri Gregoire gegrün­
det, und zwar parallel zu der von deutschen Emigranten begründeten »Univer-
sity in Exile«. Während letztere Teil der »New School« blieb, entwickelte sich
die »Ecole Libre« bald zu einer selbständigen Institution, wie sie als solche
noch heute in New York City besteht. Von dem nach England emigrierten Ge­
neral Charles de Gaulle wurde die »Ecole Libre« als einzige französische Exil-
Universität anerkannt und Anfang der vierziger Jahre finanziell unterstützt.
3 »The Institute for Advanced Study« in Princeton, New Jersey (USA) wurde
1930 als Forschungsinstitut mit starker naturwissenschaftlicher Ausrichtung
gegründet. Als Broch die Studie verfaßte, war Frank Aydelotte (einer der Mit­
arbeiter der C ity o f M a n ) seit 1939 Direktor des Instituts. Auch Albert Ein­
stein gehörte ihm an. Heute hat das Institut vier Abteilungen, eine mathema­
tische, eine naturwissenschaftliche, eine historische und eine sozialwissen­
schaftliche.
4 Free W orld war eine 1941 begründete, in New York erscheinende US-Mo-
natsschrift, die zunächst den Untertitel »A Monthly Magazine devoted to De-
mocracy and World Affairs« trug, der dann 1946 nach Gründung der UNO
umbenannt wurde in »An International Magazine for the United Nations«.
5 Das »Committee on Intellectual Co-operation« des Völkerbundes wurde im
Mai 1922 begründet. Zu den zwölf Gründungsmitgliedern gehörten Albert
Einstein, Marie Curie, Hendrik Antoon Lorentz, Gilbert Murray und Jagadis
Bose; Präsident des Komitees war Henri Bergson. Das Komitee propagierte
den Friedensgedanken des Völkerbundes und setzte sich u. a. für die Gründung
internationaler Universitäten ein.
6 Social R esearch. A n In tern a tio n a l Q u a rterly o f P olitical a n d Social Science
wurde 1934 als Organ der »New School for Social Research« begründet und
erscheint seitdem ohne Unterbrechung.
7 Was die personelle Seite des Projekts betraf, so dachte Broch an John Marshall
als Leiter und Koordinator. John Marshall (geb. 1903) war seinerzeit Associate
Director for the Humanities in der Rockefeller Foundation, New York. Kurze
Zeit nach Niederschrift der »Bemerkungen« fügte Broch ihnen eine »Persönli­
che (konfidentielle) Vorbemerkung« bei, deren ganzer Wortlaut hier wieder­
gegeben sei:
»Als ich das vorliegende Projekt entwickelte, war noch zu hoffen, daß John
Marshall von der Rockefeller Foundation die Leitung der »New School« über­
nehmen würde. Dies wäre für das Projekt von großem Vorteil gewesen, denn
es war anzunehmen, daß John Marshall sich für die Durchführung in zustim­
mender Weise interessieren würde. Leider hat Mr. Marshall den Posten an der
»New School« nicht annehmen können.
Der Hauptvorschlag des Projektes liegt in der Gründung eines neuen For­
schungsinstitutes, das zwar einen wichtigen Teil der gedachten »International
University« werden soll und hiedurch mit der »New School« in Verbindung
stünde, jedoch nicht bei dieser, sondern beim »Institute for Advanced Study«
in Princeton lokalisiert werden soll. Diese Lokalisierung ist wohl nicht unbe­
dingt nötig, vielmehr könnte dieses Institut auch bei der »New School« oder
überhaupt anderswo als isolierte Unternehmung installiert werden, doch vie­
lerlei Gründe - die in dem Projekt behandelt werden - lassen den Anschluß
an das »Institute for Advanced Study« am vorteilhaftesten erscheinen.
Nach der neuen Sachlage könnte man leicht verleitet sein, von der hier vorge­

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tragenen Gesamtkombination abzusehen und ohne Rücksicht auf andere Insti­
tutionen, also ohne Rücksicht auf die »New School« oder »Free World« das
Projekt in verkleinertem Umfang lediglich dem »Institute for Advanced
Study« anzutragen. Es wäre vielleicht der einfachere Weg.
Dennoch wäre es - so will mir scheinen - um das Gesamtprojekt schade. Auch
mancherlei praktische Erwägungen, die ich in der outline ausgeführt habe,
sprechen gegen die sofortige Auflassung des Gesamtprojektes.
Ich bin daher nach wie vor dafür, das Projekt allen drei gedachten Stellen,
also sowohl dem »Institute for Advanced Study«, wie der »New School«, wie
»Free World« zur womöglichen gemeinsamen Behandlung anzutragen.
Die Frage der künftigen Leitung ist durch das Ausscheiden Mr. Marshalls
umsomehr erschwert, als in dem Projekt gewisse Personalunionen als praktisch
vorgesehen sind. Sicherlich jedoch wird sich für dieses Personalunion-Problem
eine andere Lösung finden lassen.«
8 Die 1974 in Tokioeröffnete »United Nations University« kommt, was Struktur
und Ziele anbelangt, in manchem dem nahe, was Broch in diesem Aufsatz ent­
wirft.

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Bemerkungen zu einem »Appeal«
zugunsten des Deutschen Volkes

(A) Die objektiven Ziele des Appeals

Der Appeal1 wendet sich an keine bestimmte konkrete


Adresse, sondern an das »amerikanische Volk und seine Re­
gierung«, also an die öffentliche Meinung Amerikas und ver­
langt von ihr, daß sie für Einhaltung der Potsdamer Beschlüsse2
eintrete. Denn - so führt er aus - in diesen ist erklärt worden,
daß das deutsche Volk keinerlei Vernichtung oder Aushunge­
rung zu befürchten habe, sondern daß ihm die Möglichkeit ge­
boten werden soll, sich seinen Platz im Kreis der demokrati­
schen Nationen zu erarbeiten; nichts jedoch hat hievon
Verwirklichung gefunden:
(a) die im Zuge befindliche Entindustrialisierung hat das
Wirtschaftsleben des Landes lahmgelegt, und die an sich kata­
strophale Lage wird durch den Zustrom der aus Polen und der
Tschechoslowakei vertriebenen Elendsmassen wesentlich ver­
schärft;
(b) infolge der Industrie-Anarchie fehlt es an Transportmit­
teln, an Baumaterialien, an Heizung, an Glas, an notwendigsten
Gebrauchsgegenständen; die verwüsteten Wohnstätten bleiben
verwüstet, viele völlig unbewohnbar, und an Neubauten zur
Milderung des Behausungselends kann überhaupt nicht ge­
dacht werden;
(c) selbst nach der projektierten3 (noch sehr hypotheti­
schen) Voll-Agrikulturisierung des Landes wird vielleicht keine
komplette Ernährungsautonomie erreichbar sein; umso­
mehr sind heute, da dieser Prozeß noch kaum begonnen hat,
Lebensmittelzuschübe von außen notwendig, und wie
ungenügend sie sind, braucht nicht weiter unterstrichen wer­
den;
(d) das deutsche Volk befindet sich demnach in einem Zu­
stand der Erfrierung und Verhungerung, u. z. werden die Un­
schuldigsten, die Kinder unter zehn Jahren und die alten Leute
über sechzig, am härtesten betroffen werden; für diese Alters­
klassen rechnet man mit grausen Sterblichkeitsziffern, während
die jungen Nazi - teilweise in Lagern und Gefängnissen und da­
428

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her in gesicherter Ernährung - alle Aussicht haben, heil durch­
zukommen.
Der Appeal weist darauf hin, daß solche Verhältnisse frie­
densstörend sind, da sie den europäischen Wiederaufbau hem­
men; bei der Unteilbarkeit der heutigen Welt strahlt jede
Elendszelle in ihr allseits unheilvolle Wirkung aus, und wenn
Deutschland dazu gemacht wird, so wird es überdies niemals
sich zu dem demokratischen Geist bekehren, der zur Aufrecht­
haltung des Weltfriedens nötig ist. Angesichts der gegenwärti­
gen Lage muß dem Deutschen die Hitler-Zeit geradezu para­
diesisch erscheinen; ein Sehnsuchtsbild ist da im Werden
begriffen, dessen legendenhafte Verklärung nur allzubald ein-
treten kann. (Man möge, in diesem Zusammenhang, den sym­
ptomatischen Wert der jüngsten österreichischen Wahlen4
nicht unterschätzen: sie sind weder liberal, noch kommuni­
stisch, sondern reaktionär ausgefallen, und das bedeutet - wie
die Dinge heute liegen - unzweifelhaft ein Weiterwirken nazi­
stischer Ideologien und ihrer Träger, die eben Nazi geblieben
sind.)
Der Protest gegen diese Zustände ist berechtigt und wohl
mehr als berechtigt. Aber der Appeal kann sich auch nicht ver­
hehlen, daß da Übel vorliegen, deren Abstellung im Augen­
blick schier unmöglich ist. Gewiß sollen Zusagen eingehalten
werden, und gewiß wäre es wichtig, gerade dem durch die
Nazi-Unmoral verdorbenen Deutschland zu zeigen, was demo­
kratische Pakttreue heißt. Doch wie soll sich die Potsdamer Er­
nährungszusage einhalten lassen, wenn halb Europa verhungert
und besonders im Südosten die Lage womöglich noch ärger ist
als in Deutschland, das durch Aushungerung eben dieser Ge­
genden sich selber während des Krieges erhalten hat?
Infolgedessen gelangt der Appeal, ungeachtet der Berechti­
gung seiner allgemeinen Beschwerde, nur zu einem einzigen
und dabei recht kargen, praktischen Resultat: er empfiehlt die
behördliche Zulassung caritativer Lebensmittelsendungen
nach Deutschland.

(B) Subjektive Ziele der Zeichner

Unabhängig von der Prekärheit seiner objektiv-praktischen


Ziele ist der Appeal für uns, seine Zeichner, ein subjektives
429

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Credo, und von diesem kann behauptet werden, daß es, in Ge­
gensatz zu jeder Prekärheit, einem wohlfundierten Zweck dient.
Wer wie die meisten von uns in bereits reiferen Jahren - ob
nun freiwillig oder gezwungen - aus Deutschland ausgewandert
ist, der weiß zu viel von diesem Land, als daß es ihm nicht dau­
erndes Problem bliebe.
Mehr als jeder andere hätten wir Grund, den deutschen Men­
schen zu hassen: wir mußten mit schmerzlichem Ekel sehen wie
er die ihm von Hitler gebotenen kleinen Unmittelbar-Vorteile
gierig aufgegriffen hat; wir alle haben Verwandte und nahe
Freunde zu beklagen, die unter seiner Mitwirkung oder Dul­
dungsadistisch gemartert und brutal hingemordet worden sind;
wir alle kennen die sentimental-billige Verlogenheit der natio­
nalen Phrase, mit der er sein schlechtes Gewissen ob solcher
Schmach hat beschwichtigen wollen; und wir alle wissen um die
verbrecherische Gleichgültigkeit gegen fremdes Leid, die den
Menschen - und hier eben den deutschen - solche Untaten be­
gehen läßt.
Doch daneben haben sicherlich wir alle deutsche Menschen
gekannt, die sich durch nichts haben korrumpieren lassen, die
den Verfolgten hilfreich beigestanden, ja für ihre humane
Überzeugung ihr Leben märtyrerhaft geopfert haben: ihre
mutvoll ertragenen Leiden sind größer als die, welche uns die
Emigration auferlegt hat.
Wir fühlen uns also zu keinem Generalhaß berechtigt. Haß ist
eine Kriegssimplifikation, und wenn er nach Unterwerfung
des Gegners aufrechtgehalten wird, wenn in seinem Namen, ob
durch Aushungerung oder sonstwie weiter getötet wird, so ge­
schieht Mord. Und wer Mord duldet, der macht sich eben jener
Gleichgültigkeit gegenüber dem Nebenmenschen und dem
Menschentum als solchem schuldig, die am Anfang jeglichen
Fascismus steht, weil sie seine whole-sale-Unjustiz begünstigt
(während demokratische Justiz bloß individuelle Täter zur
Verantwortung zieht.) Wollten wir uns so fascistisch gebären,
wir müßten uns ebensowohl vor den innerdeutschen Märtyrern
wie vor den echten Demokraten unserer neuen Heimat schä­
men, und ebendarum fühlen wir uns verpflichtet, den Appeal
zu unterzeichnen.
Soweit wir Zeichner Juden sind - und in der Mehrzahl sind wir
es - wissen wir, daß die Nazi unsern Schritt als Heuchelei auf­
430

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fassen werden, weil sie sich nicht vorstellen können, daß wir et­
was anderes als die komplette Vernichtung Deutschlands zu
wünschen fähig wären. Oder sie werden unsern Schritt als eine
Anbiederung auslegen, die uns irgendwelche Vorteile einbrin-
gen soll. Keinesfalls bilden wir uns also etwa ein, daß unser
Schritt einen Beitrag zum Abbau des Antisemitismus liefern
werde, oder daß er die Legende von dem zugunsten Judas ge­
führten Krieg zu zerstören vermöchte. Daß uns jedoch derlei
Erwägungen nicht verhindern dürfen, nicht verhindern werden,
den Appeal zu unterzeichnen, das versteht sich vom jüdischen
Standpunkt aus (- soferne er hier überhaupt in Betracht
kommt —) wahrlich von selbst.
Nichtsdestoweniger: weder ist es für uns Zeichner erfreulich,
noch ist es für den Appeal zuträglich, wenn er als heuchlerisches
Lippenbekenntnis aufgefaßt wird, das wir - unbeschadet unse­
res geheimversteckten Deutschenhasses - uns gestatten, weil
ohnehin keine objektiv-praktischen Resultate zugunsten
Deutschlands davon zu erwarten sind. Wir haben also alles In­
teresse an einer Umgestaltung des Appeals, kraft welcher seine
praktischen Wirkungsaussichten sich verbessern könnten.

(C) Kritik

Der Appeal fußt - wenn auch mit allem Bemühen um korrekt­


behutsame Auslegung-auf den aus Deutschland einlangenden
Grauensberichten; es sind die Berichte über Plünderungen und
Vergewaltigungen, über sinnlose Zerstörung von Produktions­
mitteln und über Nahrungsverwüstungen vor den Augen einer
hungernden und frierenden Bevölkerung, u. z. nicht in einer,
sondern in den verschiedensten Besetzungszonen: in dieser
Übereinstimmung ist leider ein Beweis ihrer Richtigkeit zu se­
hen.
Doch neben diesen Berichten beginnen andere, nicht minder
zuverlässige einzulaufen, aus denen geschlossen werden darf,
daß die Besetzungsbehörden daran sind, nach und nach der
Anarchie Herr zu werden: man hört von Industrieanlagen, ins­
besondere in der amerikanischen und englischen Zone, die
wieder in Betrieb genommen worden sind, und ebenso hört
man, daß die Lebensmittelzufuhren sich - zumindest stellen­
weise - wesentlich gebessert hätten. Und schon auch werden
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Stimmen hörbar, daß diese Wiederbelebungsanzeichen nichts
anderes seien als ein Ausfluß der russo-angelsächsischen Kon­
kurrenz, die sich auf ihre künftige kriegerische Auseinander­
setzung vorbereitet und sich hiefür das deutsche Industriepo­
tential sichern will.
Das sind widersprechende Berichte, und angesichts solchen
Widerspruches wird es unzulässig zu behaupten, daß die Pots­
damer Beschlüsse schlankwegs sabotiert werden oder gar völlig
fallen gelassen wurden.
Damit verliert der Appeal einen großen Teil seiner Substanz:
was bleibt, ist ein allgemeiner Protest, zwar ein berechtigter
Protest, nämlich gegen jene Kreise, welche Deutschland in
Pausch und Bogen verdammen und mit unterscheidungsloser,
kriegsmäßiger Simplifikation nach wie vor im deutschen Volk
nichts anderes als den vernichtungswürdigen Feind sehen, aber
damit nicht weniger vage wie das, wogegen er protestiert; er
verlangt, daß man »für« Deutschland sei, wie eben die andern
»gegen« Deutschland sind, und das sind zwei vage Stimmungs­
konstellationen, die einander die Waage halten. Und so ist es
nur folgerichtig, daß der Appeal sich an niemanden, außer an
die ebenso vage »öffentliche Meinung« zu wenden vermag, und
daß er im Konkreten gezwungen ist, sich aufs Caritative zu be­
schränken.
Solcherart ist es auch kein Zufall, daß neuerdings eine sehr ge­
fährliche Parallelaktion sich dem Appeal zugesellt hat: eine, die
von den Nazi selber inauguriert worden ist. Denn die Nazi die­
ses Landes - ihre Millionenzahl mag heute die ihrer innerdeut­
schen Gesinnungsgenossen übertreffen — haben ihre Ideale
zwar zurückgestellt, aber darum keineswegs aufgegeben; sie
sind mit deren künftiger Wiederverwirklichung beschäftigt, und
hiefür muß eine deutsche Renaissance, freilich im nazischen,
nicht im demokratischen Sinn vorbereitet werden: das kann
vorderhand bloß durch eine allgemein gehaltene Sympathie­
werbung »für« Deutschland bei der amerikanischen »öffentli­
chen Meinung« bewerkstelligt werden5, also durch Hinweise
auf die »Harmlosigkeit«, auf die »Armut« Deutschlands und
seiner unmündigen Kinder, und daraus ergibt sich, genau wie
beim Appeal, als einzige mögliche, konkrete Konsequenz die
Bitte um Zulassung caritativer Lebensmittelsendungen. In
Wahrheit ist die Aktion unzweifelhaft Teil eines komplizierten
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international-politischen Gewebes und soll als Organisations­
kern für die Wiederzusammenfassung der nazistischen Kräfte
dienen.
Es ist zu hoffen, daß die öffentliche Meinung Amerikas die
Hintergründe dieser »Tränenkampagne« durchschauen wird.
Doch wenn das geschieht, dann ist auch der Stab über den Ap­
peal gebrochen. Man kann von niemandem, am allerwenigsten
vom amerikanischen Publikum, das simplifizierte Formen liebt
und braucht, im Ernst verlangen, daß zwei äußerlich völlig
identische Aktionen voneinander geschieden werden, u. z. so,
daß die eine verworfen, die andere unterstützt wird. Besten­
falls, wahrlich bestenfalls wird man sagen, daß die Zeichner des
Appeals selber Opfer der »Tränenkampagne« geworden sind.

(D) Das Prinzip der Gerechtigkeit

Nazi und Anti-Nazi werden von den Besetzungsbehörden


ziemlich unterschiedslos behandelt; oftmals werden jene sogar
bevorzugt. Der Appeal weist auch - allerdings nicht mit genü­
gendem Nachdruck - auf diese Ungerechtigkeit sowie auf die
desaströsen Folgen hin, die sich hieraus für die Errichtung eines
friedvoll-demokratischen Deutschlands ergeben müssen.
Dies aber ist der zentrale Punkt; hier ist anzusetzen, freilich
unter Ausschluß jedweder Vagheit, und das bedeutet Verzicht
auf allgemein-abstrakt formulierte Wünsche, dagegen aber
Konzentrierung auf konkrete Fakta und konkrete Forderun­
gen.
M. a. W.: wenn es sich auch um das Allgemein-Abstraktum
»Deutschland« und um die allgemein-abstrakte »Gerechtig­
keit« handelt, die ihm (nicht zuletzt durch die Einhaltung der
Potsdamer Beschlüsse) zuteil werden soll, und wenn auch eine
solche Rechtskonstituierung - wie eben jede Konstitution -
nicht an die jeweiligen empirischen Zustände gebunden ist,
sondern »zeitlos« sein will und daher »abstrakte« Elemente
enthalten muß, da nur solche »zeitlos« sein und für alle künfti­
gen Generationen gelten können, es hebt die Gerechtigkeit und
mit ihr jede Konstitution immer im Konkreten an und muß sich
stets aufs neue in ihm bewähren, denn ein Abstraktum muß
stets aufs neue aus dem Konkreten »wiedergeboren« werden,
auf daß es »lebendig« bleibe; gerade weil es eine überzeitliche
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»unteilbare Ganzheit« zu sein hat, braucht es die konkrete
Kontinuität: Gerechtigkeit existiert nur dann in der Welt, wenn
sie daselbst niemals und nirgendwo unterbrochen wird.
So theoretisch dies klingt, es enthält ein unmittelbares Be­
dürfnis der menschlichen Seele, und keinem ist das klarer ge­
worden als jenen, die am eigenen Sein, an der eigenen Person,
am eigenen Körper das Terror-Entsetzen erlebt haben. In un­
vergleichlich einfachen und großartigen, geradezu dichteri­
schen Worten ist dies von Rabbiner Leo Baeck6 —einem der
verehrungswürdigsten Männer unserer Zeit —nach seinen The-
resienstädter Lager-Erfahrungen festgehalten worden:
»Wie der Schuldige gesucht werden soll, so soll auch der Un­
schuldige gesucht werden, und wenn er in Not ist, so soll ihm
die Hilfe zuteil werden. Die Hand, welche richtet und straft, soll
die Hand sein, welche hilft; dadurch wird das Recht ein Ganzes.
Die Hand, welche hilft, soll auch die Hand sein, welche richtet
und straft; dadurch erst wird die Hilfe ein Ganzes. Beides zu­
sammen ist die ganze Gerechtigkeit.«7
Es geht um die »ganze Gerechtigkeit« in ihrer ganzen, unteil­
baren Konkretheit; es geht ebensosehr um die helfende wie um
die strafende Tat, ebensosehr um das »Recht« als solches wie
um die Hilfe. Das sind keine whole-sale-Aktionen. Und es ge­
nügt auch nicht, daß man eine Anzahl von Nazi-Verbrechern
in Schauprozessen8aburteilt, es muß desgleichen Gerechtigkeit
»für« die Opfer ihrer Verbrechen gefordert werden.
Erst wenn diese sehr konkrete Gerechtigkeit »für« die Nazi-
Opfer geübt wird, kann sich - dann allerdings fast automatisch
- jene abstrakte »für« Deutschland einstellen, die der Appeal
in seiner jetzigen Form sich zum Hauptziel gesetzt hat, nicht
ahnend, daß er hiedurch das Wiederwerden der Gerechtigkeit
vereitelt: wer einfach »für« das Abstraktum »Deutschland«
eintritt und diesem Gerechtigkeit verschaffen will, der hebt die
Gerechtigkeit auf und wird zum Verbündeten der Nazi (wie das
mit aller wünschenswerten Deutlichkeit und in aller Wirklich­
keit an der nazischen Tränenkampagne und ihren konkreten
politischen Nebenzwecken zu ersehen ist).
Das Eintreten für Deutschland ist also heute den Nazi zu
überlassen. Wir aber, die Zeichner des Appeals, haben für jene
konkreten deutschen Menschen einzutreten, die seit zwölf Jah­
ren in ständigem Kampf gegen das Hitler-Regime, verfolgt von
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seinem Terror, sich ihre menschliche, zivilisationsbewußte Ge­
sinnung bewahrt und sie, wo immer es anging, in die Tat umge­
setzt haben. Sie sind das Deutschland, für das einzutreten un­
sere natürliche Pflicht ist; für sie verlangen wir Gerechtigkeit,
und in ihre Hände wollen wir das Geschick der künftigen deut­
schen Demokratie gelegt wissen, denn sie sind auch die natürli­
chen Träger der demokratischen Gerechtigkeit.
Würde der Appeal sich in seinen Wünschen auf diese konkrete
Gerechtigkeit beschränken, so könnte, so würde er damit einen
Schritt zur »ganzen Gerechtigkeit« hin tun, und nur durch sol­
che Schritte ist das politische Ziel, die Denazifizierung und De­
mokratisierung des deutschen Volkes erreichbar. Denn demo­
kratische Freiheit und demokratische Gerechtigkeit bedingen
sich gegenseitig: ohne Gerechtigkeit ist die Freiheit ein leeres
Schlagwort.

(E) Umsetzung in die Praxis

Die Bevölkerung Deutschlands (und Österreichs) kann - logi­


scherweise - in drei Gruppen geteilt werden, nämlich in
(1) die Gruppe der aktiven und ebenhiedurch unzweifelhaft
kriminellen Nazi,
(2) die überwiegend große Gruppe der gedankenlos passiven
Mitläufer, ohne deren - im Grunde unmenschlichen und daher
bis zu einem gewissen Grad ebenfalls strafwürdigen - Gleich­
gültigkeit das Aufkommen der Nazi sowie ihre Untaten kaum
möglich gewesen wären,
(3) die Gruppe der aktiven Anti-Nazi, also aller jener, die dem
Regime direkten oder indirekten Widerstand entgegensetzten,
seine Maßnahmen sabotierten und seinen Opfern Hilfe leiste­
ten; es versteht sich, daß es sich hiebei um fließende Abgren­
zungen handelt, und daß es oft unentscheidbar wird bleiben
müssen, ob einer ein aktiver oder bloß ein passiver Nazi gewe­
sen ist. Die - manchmal von Haß, doch weit häufiger noch von
Bequemlichkeit geleitete - Tendenz zur unterscheidungslosen
Schuldigsprechung des gesamten deutschen Volkes führt zu­
meist zur Vernachlässigung der beiden Randgruppen, also der
eigentlichen Nazi und der eigentlichen Anti-Nazi: wenn die
große Masse des Volkes schuldig gesprochen wird (- daß
Gleichgültigkeit wirklich ein Schuldfaktum ist, spielt für diese
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Schuldsprecher gemeiniglich keine Rolle -), so hat sie die Härte
der Niederlage als whole-sale-Strafe zu ertragen, und weder
verlohnt es sich, außer in besonders krassen Fällen, die Nazi zu
gerichtlicher Bestrafung auszusondern, noch die angeblich ver­
schwindend kleine Gruppe der Anti-Nazi zwecks Bevorzugung
herauszusuchen. All das ist in den Augen einer Militärverwal­
tung viel zu umständlich; sie hat sich ja auch nur mit Widerstre­
ben bequemt, den »displaced persons«, einschließlich dem
kleinen Restbestand deutscher Juden, eine bevorzugte Be­
handlung angedeihen zu lassen.
Wenn der Appeal sich auf den Standpunkt des sub (D) skiz­
zierten Gerechtigkeitsprinzips stellte, so hätte er das strikte
Gegenteil solcher whole-sale-Behandlung zu verlangen, näm­
lich einerseits eine viel weitergreifende Erfassung und Aburtei­
lung der Nazi-Verbrecher, als es heute vorgesehen ist, und an­
dererseits eine Auslesung der wahrhaft »Unschuldigen«, auf
daß sie der ihnen gebührenden Bevorzugung vor der großen
Masse der Gleichgültigkeit teilhaftig werden.
Auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen und der aus
Deutschland eintreffenden Nachrichten werden die meisten der
»Appeal«-Zeichner annehmen, daß die Anzahl der deutschen
Anti-Nazi von den amerikanischen Behörden und dem ameri­
kanischen Publikum unterschätzt wird. Doch das müßte bewie­
sen, d. h. einigermaßen objektiv festgestellt werden.
Gelingt der Beweis, so sind die hier geforderten Konsequen­
zen zu ziehen. Gelingt er aber nicht und zeigt sich, daß entgegen
der hier vertretenen Annahme die antinazisch demokratischen
Elemente tatsächlich bloß eine verschwindende Minderheit
bilden, dann ist die whole-sale-Schuldigsprechung Deutsch­
lands eine berechtigte Haltung.
Sowohl das positive wie das negative Resultat sind erstrebens­
wert; sie beide würden eine Klärung der Situation bringen: das
läge durchaus im Interesse der amerikanischen Politik, denn ihr
Vorgehen in Deutschland erhielte hiedurch feste, auf vertrau­
enswürdigen Fakten beruhende Richtlinien und wäre nicht
mehr von Stimmungen und Stimmungsmacherei, wie die der
»Tränenkampagne«, abhängig.

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( F ) Ein politischer Census für Deutschland

Es würde sich demnach wohl die Mühe lohnen, einen politi­


schen Census für Deutschland aufzustellen. Der Einwand der
Unverläßlichkeit oder Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens
ist widerlegbar:
(a) Mit dem üblichen Poll-Verfahren ist die politische Schich­
tung einer Nation verhältnismäßig leicht und mit verhältnismä­
ßigsehrgeringen Fehlabweichungen beinahe schon routinehaft
zu konstatieren; für Deutschland müßten die Methoden etwas
geändert werden, doch auch dies ist unzweifelhaft durchführ­
bar.
(b) Die Alliierten besitzen die Mitgliederlisten der National­
sozialistischen Partei, und die sind, allem Vernehmen nach,
noch nicht ausgewertet worden; eine Überprüfung würde un­
schwer ergeben, welche der Mitglieder zur Klasse der aktiv-kri­
minellen Nazi gehören.
(c) Auf der andern Seite können die demokratischen Ele­
mente in sehr simpler Weise durch ein Schneeballsystem erfaßt
werden; fast jeder der »Appeal«-Zeichner kennt eine Reihe
absolut verläßlicher Menschen in Deutschland, und wenn eine
solche Gruppe, mag sie sogar auch klein sein, zum Ausgang des
Schneeballverfahrens genommen wird, so überdeckt dieses, er­
fahrungsgemäß, das ganze Land mit einer geradezu erstaunli­
chen Rapidität.
(d) Als derartige Kerngruppen sind auch - und vermutlich
zum Vorteil der Sache - die deutschen Underground-Organi­
sationen in Betracht zu ziehen.
Wohl mit aller Zuversicht läßt sich behaupten, daß im Zusam­
menhalt dieser vier Annäherungsmöglichkeiten in recht kurzer
Zeit ein Bild von befriedigender Korrektheit zu erreichen sein
wird.

(G) Der deutsche Underground

Die Existenz eines deutschen, antinazischen Undergrounds


wäre aber nicht nur für die Aufstellung des vorgeschlagenen
politischen Census von Wichtigkeit; sie hätte weittragendere
Bedeutung.
Daß ein deutscher Underground existiert oder zumindest exi-
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stiert hat, darf als gesichert gelten; seine Verlustlisten beweisen
es. Die von den »ordentlichen« Gerichten Deutschlands ver­
hängten Todesstrafen mehrten sich von Jahr zu Jahr. Während
1935 allein wurden an die 20 000 Menschen geköpft, und dieser
Rekord wurde in jedem der folgenden Jahre übertroffen. Da­
neben wurden Hunderttausende und Aberhunderttausende in
den Gefängnissen, Konzentrationslagern und sonstwie von der
SA, SS und Gestapo hingemordet. Ohne solch barbarisches
Vorgehen hätte das Regime sich nicht halten können. Denn es
hatte sich eine weitausgebreitete, wohlorganisierte Resistance
gebildet; es war der Geheimbund »der anständigen Leute«, und
er hatte sich zum Ziel gesetzt, nach gewaltsamer Beseitigung
Hitlers ein demokratisches Deutschland unter politisch-finan­
zieller Anlehnung an die Westmächte zu errichten. Der Plan
war angeblich von Benesch9 und den Barthou-Männern10 am
Quai d’Orsay11 begünstigt, wurde aber von Chamberlain abge­
lehnt. Goerdeler12 war in dieser Sache in Amerika, Helmuth
Moltke13 September 1938 in London.
Der Krieg hat u. a. auch zur Brechung dieses innern Wider­
stands gedient. Nach furchtbarer Dezimierung der Mitglieder
konnte erst im Jahr 1943, als die militärische Zersetzung
Deutschlands begonnen hatte, die revolutionäre Tätigkeit wie­
der aufgenommen werden, freilich nun - den veränderten Ver­
hältnissen gemäß - unter vorwiegend militärischer Leitung.
Doch die Märtyrer-Liste nach dem verunglückten Putsch von
194414 bezeugt die Kontinuität zwischen der alten und der
neuen Aktion.
Das Mißlingen des Juli-Putsches 1944 läßt sich heute nur
mehr hypothetisch ergründen; es mag sein, daß er verfrüht,
doch unaufschiebbar gewesen ist, denn er war sicherlich unter
dem Druck der - an und für sich durchaus berechtigten - un-
conditional-surrender-Drohung vorgenommen worden. Wäre
er nämlich geglückt, so hätten die Alliierten, die für ihre Trup­
pen jede Gelegenheit zur Vermeidung von Blutopfern ergriffen
(-ein höchst humanes Grundprinzip in der Strategie des ameri­
kanischen Generalstabs während dieses Krieges -), eine
deutsche Underground-Regierung wahrscheinlich als verhand-
lungs- und friedensfähig erklärt; dagegen mußten sie an dem
gegen die Nazi gerichteten Casablanca-Programm15 streng
festhalten, als diese nach dem fehlgeschlagenen Putsch weiter
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an der Herrschaft blieben, und offenkundig weder der verbis­
sene Kampfwille der deutschen Soldaten, noch seine Loyalität
gegenüber Hitler sich auch nur im geringsten verminderte. Man
hatte den Eindruck, als sei der Putsch ausschließlich eine Ange­
legenheit der höheren Kommanden und damit der Junkerklasse
gewesen, umsomehr als die Zivilbevölkerung, Bürgertum wie
Arbeiterschaft - nicht zuletzt infolge Bombardierungsangst,
Invasionsfurcht und hochverschärftem Terror - in unverbrüch­
licher Apathie verharrte. Die Verwandlung der Deutschen in
eine willenlose Masse, wie sie von Hitler seit jeher angestrebt
worden war, schien ihm im Schatten seines Unterganges voll
geglückt zu sein. Kein Wunder, daß die sporadischen Hilfelei­
stungen, die dann die Alliierten bei ihrem neun Monate später
erfolgten Einzug in Deutschland fanden, mit Mißtrauen be­
trachtet und nicht mehr als legitimer Underground aufgefaßt
wurden; sie hätten ebenso gut von ad hoc-Überläufern, die ihre
Haut retten wollten, ausgehen können: die Zugehörigkeit zur
Arbeiterklasse konnte wahrlich nicht als Beweis für Nicht-Na-
zitum gelten. Zudem muß eine militärische Okkupation, will sie
erfolgreich sein, sich maximaler Vereinfachung befleißigen,
und gar wenn sie mit so komplizierten Verhältnissen wie in dem
niedergebrochenen Deutschland zu rechnen hat; sie kann sich
nicht ohne weiteres mit lokalen revolutionären Zirkeln, die ei­
ner gemeinsamen Vertretung ermangeln, in Verhandlungen
einlassen oder sie als Verbündete anerkennen.
Nichtsdestoweniger läßt sich behaupten, daß trotz aller Dezi­
mierungen und Einschüchterungen sich Reste der alten Resi­
stance-Bewegung in Deutschland erhalten haben, ja daß vor
allem sie am Werke waren als es galt, den alliierten Invasions­
truppen hilfreiche Hand zu bieten. Das wird von fast allen aus
Deutschland einlangenden Briefen bezeugt. Doch wie viele
dieser Menschen noch da sind, ob es ihrer nicht desperat wenige
sind, das wird sich erst aus den geforderten und eben notwendi­
gen Nachforschungen ergeben. Also ist es jetzt, da die erste
Okkupationsphase abgeschlossen erscheint, und die Dinge sich
zu stabilisieren beginnen, zur unabweislichen Pflicht der Beset­
zungsmächte geworden, diese Nachforschungen nach den noch
lebenden Restmitgliedern jener alten heroischen Bewegung
einzuleiten. Auch das ist ein Akt primitivster Gerechtigkeit.

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( H ) Etablierung von Gerechtigkeit

Die Etablierung von Gerechtigkeit ist ein unbequemes Ge­


schäft, und wenn der hier geforderte politische Zensus ein posi­
tives Resultat hinsichtlich der antinazisch-demokratischen Be­
völkerungsteile und der alten deutschen Resistance-Bewegung
ergibt, so sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht
leicht zu verwirklichen. Es ist mit sachlichen Schwierigkeiten
und demgemäß mit allerhand Einwendungen, berechtigten wie
unberechtigten Bedenken und sogar mit Widerständen zu
rechnen.
Selbst die notwendige umfassendere Ergreifung und Aburtei­
lung der Nazi-Verbrecher ist nicht ohneweiters durchführbar,
da dabei eine außerordentliche Überbelastung der Gerichte
und Strafeinrichtungen zu gewärtigen ist. Immerhin, es ist eine
Maßnahme, mit der Publikum und Behörden sich noch am ehe­
sten befreunden werden, besonders da sich zur Abstufung die
- in diesen Fällen geradezu selbstverständliche und überdies
praktisch nützliche - Methode der Arbeitsdienst-Deportation
empfiehlt.
Aber noch wesentlich schwieriger als das Problem der Nazi-
Bestrafung liegt das einer Bevorzugung der Anti-Nazi. Bestra­
fung ist immer einfacher als Bevorzugung, und tatsächlich kön­
nen da die mannigfachsten Komplikationen vorausgesehen
werden, eine ganze Skala von Schwierigkeiten, angefangen von
denen rein technischer Art bis hinauf zu den politisch-psycho­
logischen, die sicherlich zu befürchten sind, wenn eine Bevöl­
kerungsgruppe bevorzugt wird und dadurch den Haß der ande­
ren erregt. Manche werden daher - und fast mit Recht -
einwenden, daß eine solche Bevorzugung nichts anderes als die
Schaffung einer sozusagen »innerdeutschen Liberated Nation«
bedeuten würde, und es da immerhin noch angängiger wäre, das
gesamte deutsche Volk, unter entsprechend milder Behand­
lung, zu den vom Hitlerjoch befreiten Liberated Nations zu
rechnen, wie dies von vielen Germanophilen (und den unter ih­
ren Fittichen versteckten Nazi) angeregt wird.
Das wäre freilich weit übers Ziel geschossen. Die Komplika­
tionen sind nämlich nicht unbewältigbar. Es genügt z. B. voll­
kommen, wenn man den demokratisch-antinazistischen Perso­
nen, sind sie einmal einwandfrei festgestellt, einen ähnlichen
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Status verliehe, den die »Displaced Persons«, also die ehemali­
gen Zwangsarbeiter, die Juden, etc. heute - wenigstens auf dem
Papier - schon haben. Daraus ergäbe sich, zumindest in einem
ersten Ansatz, die geforderte, gerechte Bevorzugung. Die ver­
schiedenen Komplikationen würden sich hiebei etwa folgen­
dermaßen lösen:

(1) Materiale Gerechtigkeit


Die »Displaced Persons« haben gewisse Prärogative in Woh­
nungszuweisungen, in Lebensmittelmarken, etc. Es versteht
sich von selbst, daß das Nämliche für die demokratisch-anti-
nazistischen Gruppen verlangt werden muß.
Hiezu kommt die Frage der caritativen Lebensmittelsendun­
gen: Sowohl der Appeal in seiner jetzigen Form wie die Nazi-
Organisationen wünschen die unlimitierte Zulassung solcher
Sendungen nach Deutschland. Dieser Wunsch braucht nicht
fallengelassen zu werden; im Gegenteil, seine Erfüllung sei
weiter angestrebt, allerdings unter einer zusätzlichen Bedin­
gung: Für jedes Paket, das auf diese Weise nach Deutschland ge­
schickt wird, sind zwei von je dem gleichen Wert wie dieses nach
den außerdeutschen Ländern Europas zu schicken. Damit wäre
eine Gerechtigkeitsforderung aufgestellt, die nicht nur einen
der schwächsten Punkte des jetzigen Appeals beseitigen würde,
sondern auch die amerikanischen Nazi zwänge, die von ihnen
verachteten Minderwertigkeitsrassen in Europa zu bedenken,
sooft sie ihre deutschen Gesinnungsgenossen zu versorgen
wünschen.
Daß eine solche Bedingung die Sendungen nach Deutschland
aufs äußerste vermindern würde, darf mit allem Fug angenom­
men werden; sie müßte also für die bevorzugten Gruppen na­
türlich außer Kraft gesetzt werden, nämlich
(a) für die Antinazi-Gruppen, die demnach Lebensmittelsen­
dungen ohne jede Einschränkung empfangen dürfen,
(b) für Kinder unter 12 Jahren, da diese wohl im wahren
Wortsinn desgleichen zur Gruppe der »Unschuldigen« gehö­
ren,
(c) für Kranke, die jedoch hiezu eine ärztlich-behördliche Ge­
nehmigung vorzuweisen hätten.
Die Zusendung dieser Pakete könnte entweder direkt oder-
wahrscheinlich vorteilhafter - durch Vermittlung lokaler
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Komitees (die von den Besetzungsbehörden zu überwachen
wären) erfolgen. Das sind technische Details, zu denen sich bei
halbwegs gutem Willen immer gangbare Wege finden; das
nämliche gilt für das Problem der Transporte solcher Sendun­
gen. Und angesichts des Unbehagens, mit dem ein großer Teil
der amerikanischen Soldaten - viele Briefe bezeugen dies - die
deutschen Zustände beobachten, die sie als eine Beeinträchti­
gung des amerikanischen Ansehens empfinden, könnte man
des guten Willens der Besatzungsarmee bei der technischen
Durchführung der Lebensmittelsendungen ziemlich gewiß sein.
Eine derartige Lösung der Lebensmittelfrage durch caritative
Sendungen ist das Maximum dessen, was der Appeal anstre­
ben und vielleicht erreichen kann. Alles was darüber hinaus­
geht ist ausschließlich Sache der UNRRA16; doch auch da ist
im Interesse des amerikanischen Ansehens zu hoffen, daß sie
zur Vollfunktion gebracht werde und hiezu ihr Budget von den
United Nations und demnach auch vom Kongreß bewilligt er­
halte.

(2) Politische Gerechtigkeit


Deutschland steht unter einer Militärregierung, und auch wenn
diese Stück um Stück in eine Zivilverwaltung überführt wird,
so kann doch von politischer Voll-Autonomie noch lange nicht
die Rede sein; der Wiederaufbau des deutschen politischen Le­
bens kann nur als Denazifizierungs-Prozeß und als bedächtige
demokratische Erziehungsarbeit vonstatten gehen, und das
braucht wohl ein Dezennium.
Gerade bei dieser politischen Erziehungsarbeit kann man der
demokratischen Elemente des Landes nicht entraten. Ihnen
also ist Wirkungsmöglichkeit zu geben, und deshalb ist in erster
Linie zu verlangen, daß ihnen in allen öffentlichen Stellungen,
so in denen der Lokalverwaltungen, des Unterrichtswesens etc,
etc., aber vielfach auch auf privatwirtschaftlichem Gebiet der
Vorzug eingeräumt werde, vorausgesetzt natürlich ihre persön­
liche Befähigung für das jeweilige Amt. Den antinazistisch-de­
mokratischen Elementen wäre also hier im Postenwettbewerb
eine ähnliche Stellung zuzubilligen wie sie von den Veteranen
in den kriegführenden Ländern oder den Mitgliedern der Resi­
stance-Bewegung in Frankreich eingenommen wird. Und das
weist auch auf die Durchführbarkeit der Maßnahmen hin.
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Daß die Besatzungsbehörden fast nichts dergleichen versucht
haben, ja häufig genug den gegenteiligen Weg gegangen sind,
hat vielfach Erstaunen, nicht selten Empörung ausgelöst. Ge­
wiß, manchmal sprachen praktische Gründe für Belassung von
Nazi in Ämtern, die fachliche Spezialausbildung erfordern,
doch zumeist war und ist kein derartiger Grund ersichtlich - au­
ßer einem einzigen: das Mißtrauen gegen die deutschen Demo­
kraten und vor allem gegen die Leute der Resistance, die man
- soweit sie nicht offenkundig der am Juli-Putsch beteiligten
Militärkaste angehören - samt und sonders als russophile
Kommunisten beargwöhnt. Und so scheint man lieber Dauer­
provisorien einzurichten, d. h. für bleibend Nazi provisorisch
anzustellen.
Auf diese Weise aber läßt Demokratie sich nicht propagieren;
es steht mit ihr nicht in Einklang, einen Menschen, der für sie
gekämpft hat, vom demokratischen Wiederaufbau ausschalten
zu wollen, bloß weil man ihn einer unsympathischen Gesinnung
verdächtigt, die zudem auch noch - gleichgültig ob er sie hat
oder nicht - selber aus keiner ordentlichen Demokratie ausge­
schaltet werden darf. Außerdem handelt es sich heute in
Deutschland nicht um dieses oder jenes Parteiziel, sondern um
eine Erziehung zur Demokratie als solche, also um den Willen
zur Demokratie schlechthin, ohne Rücksicht auf all die ver­
schiedenen Gesinnungen, die einstens in ihr berechtigten Platz
finden werden.
Und eben zu solcher Aufgabe hat die deutsche Resistance-
Bewegung selber die Richtung gewiesen, u. z. mit dem Namen
des »Bundes der anständigen Leute«, unter dem sie, ohne
Rücksicht auf Klassen- und Parteizugehörigkeit ihrer Mitglie­
der, vor zehn Jahren sich gebildet hat und in Aktion getreten
ist: der sehr deutsche Begriff der »Anständigkeit« entspricht
(wenn auch mit etwas anderem Gefühlsinhalt) beiläufig dem
des »Fair play« der Angelsachsen; er ist ein überparteilicher
Begriff, und Aufgabe der Besatzungsbehörden und ihrer Pro­
paganda wäre es, damit einen Organisationskern für die Demo­
kratisierung Deutschlands zu schaffen, d. h. den »Bund der an­
ständigen Leute« wieder ins Leben zu rufen, also sozusagen
wieder eine »alte Garde« (—ein magisches Wort für die Deut­
schen —) aufzustellen, freilich nicht eine der SA, sondern der
noch am Leben befindlichen Freiheitskämpfer.
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So und wahrscheinlich nur so wird sich politische Gerechtig­
keit in Deutschland wieder etablieren lassen.

(I) Psychologische Wirkungen

Gerechtigkeit für die Lebenden, Ehre für die Toten! Wie viele
von der »alten Garde« deutscher Freiheit noch am Leben sind,
muß erst ermittelt werden, und dabei wird sichtbar werden, wie
viele sich im Kampf gegen die Hitler-Raserei geopfert haben.
Den einen wie den andern ist das deutsche Volk Dank schuldig.
Und es wird ihnen danken.
Daß der Deutsche hierarchischen Ideen und Heldenvereh­
rung hold ist, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Wären
es die richtigen Helden, so wäre gegen diese Haltung nicht viel
einzuwenden; sie hat mancherlei praktisch-moralische Vor­
teile. Das deutsche Volk aber ist zur Verehrung von »Kriegs­
helden« erzogen worden, und Hitler ist das - hoffentlich - letzte
Resultat solcher Erziehung. Die Weimarer Regierung, getreu
ihrem wahrlich nicht umsonst gewählten Weimarer Ausgangs­
punkt, hat einen schwächlichen Versuch unternommen, statt
dessen den Typus des »Geisteshelden« in den Vordergrund zu
rücken, und da der ein spezifisch deutscher »Ersatz« ist, mußte
das Vorhaben scheitern. Jetzt ist Gelegenheit gegeben, den
Deutschen ihre wirklichen Helden zu zeigen.
Die Gelegenheit wurde bis nun nicht ausgenützt. Weder die
inner- noch die außerdeutsche Welt hat von der Existenz einer
deutschen Resistance-Bewegung und ihres Heldentums viel er­
fahren; »offiziell« war sie nicht vorhanden. Und selbst zuge­
standen, daß solche Wegeskamotierung eine während der er­
sten Besetzungszeit vielleicht notwendige Vereinfachungs-Ak­
tion gewesen war, sie beginnt heute grotesk zu werden, umso
grotesker als man dafür den Deutschen sowie allen internatio­
nalen Nazi-Freunden neuerdings wieder den Helden Hitler (ob
posthum oder nicht sei dahingestellt) vermittels Veröffentli­
chung seines mit heroischen Klischees angefüllten, politischen
Testaments17 präsentiert hat. Es geschah, obwohl das »Intelli­
gence Service«,18 das die darin steckende propagandistische
Gefahr offenbar erkannt hatte, die Veröffentlichung nicht hatte
zulassen wollen. Soll also das Lügen-Klischee für ewig auf­
rechterhalten werden? Nichts ist notwendiger als daß end­
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lieh die entsprechende Gegenpropaganda der Wahrheit ein­
setze.
Männer wie Gördeler, Helmuth Moltke, Yorck-Warten-
burg19, Albrecht Haushofer20, Hassell21, etc. etc. sind die wah­
ren Vertreter des Deutschtums; sie und mit ihnen jene Hun­
derttausende, die vorderhand noch nicht genannt sind, aber
genannt werden sollen, haben sich wahrhaft für das deutsche
Volk geopfert, und sie sind es, die als Helden in der deutschen
Geschichte weiterzuleben haben. Und einzig und allein in ih­
rem Namen - nicht jedoch mit »Tränenkampagnen« - kann das
Deutschtum mit seinen positiven Entwicklungs- und Zukunfts­
möglichkeiten der außerdeutschen Welt wieder vorgestellt
werden.

(J) Adressierung und Unterstützungsmöglichkeiten

Gemäß diesen Vorschlägen würde der Appeal bestimmte,


wohldefinierte Forderungen formulieren; er bräuchte sich
demnach nicht mehr bloß an die »öffentliche Meinung« zu rich­
ten, sondern kann, ja soll sein Anliegen bei den für die Verwal­
tung Deutschlands verantwortlichen Stellen - also vor allem
beim amerikanischen »State Department« und der MG-Lei-
tung22 - Vorbringen.
Es ließe sich dagegen einwenden, daß die Erfolgschancen
höchst skeptisch betrachtet werden müssen: keine Staats- oder
Militärbehörde auf der ganzen weiten Welt ist geneigt, Vor­
schläge, die ihr von außen zukommen, Gehör zu schenken; sol­
che Vorschläge werden als unliebsame »Störung« empfunden,
teilweise sogar nicht unberechtigterweise, denn oft genug weiß
der Außenstehende wenig oder nichts von den Schwierigkeiten
und Komplikationen, die in der Materie selber liegen, und mit
denen die Ämter, so gut es eben geht, fertig zu werden haben.
Daneben freilich spielt das Beharrungsmoment, das jeder ein­
mal in Gang gebrachten Maschine anhaftet, gleichfalls seine
Rolle. Solcherart erscheint es durchaus möglich, daß auch der
substanzialisierte Appeal keinen größeren praktischen Effekt
haben wird, als wenn er einfach ins Leere hinein, also an die öf­
fentliche Meinung adressiert wird.
Trotzdem ist es ein Unterschied, ob ein Aufruf von vorneher-
ein auf praktische Wirkung verzichtet, also von vorneherein
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wenig sinnvoll ist, oder ob er sich wenigstens die Möglichkeit
zur praktischen Wirkung verschafft hat. Zudem ist es nicht aus­
geschlossen, seine Erfolgschancen zu verbessern, u. z. durch
Erlangung entsprechender Unterstützungen für sein Anliegen.
Denn immer gibt es offizielle und halboffizielle Stellen, wdlche
imstande, berechtigt und verpflichtet sind, auf Staats- und Mili­
tärbehörden Einfluß zu nehmen.
Die Inauguratoren des Appeals haben bei den Zeichnern an­
gefragt, ob man sich auch um amerikanische Unterschriften
(neben denen der Immigration) bemühen soll: gewiß soll das
geschehen, denn nur auf diese Weise kann die notwendige Un­
terstützung des Anliegens erreicht werden.
U. z. kommt in allen Fragen der europäischen Lebensmittel­
versorgung in erster Linie die »Society of Friends«23 in Be­
tracht. Die Quäker bilden eine der stärksten (und legitimsten)
pressure groups; ohne sie wäre die Budgetierung der UNRRA
- und damit die der deutschen Ernährung - wohl noch schlech­
ter ausgefallen als es heute der Fall ist, und da der Appeal sich
der deutschen Ernährung annimmt, liegt es im Bereich des
Möglichen, daß die »Society of Friends« seine Wünsche mit­
vertreten wird. Für seine politischen Wünsche könnte der Ap­
peal die ihm nötige Unterstützung bei all jenen Organisatio­
nen finden, die sich mit der Förderung von Demokratie in der
amerikanischen und nicht-amerikanischen Welt befassen;
hiezu gehört z. B. die »American Association for a Democratic
Germany«.24 Diese Organisationen und Committees sind der
Weg zu einzelnen Senatoren, Kongreßmännern und andern in
einflußreichen Positionen befindlichen Leute, von denen er­
hofft werden kann, daß sie sich für die Sache des Appeals ein-
setzen werden.
Es ist klar, daß die Erfolgschancen jeder solcher Unterneh­
mung auch von der allgemeinen politischen Lage abhängen. In
der nicht wegzuleugnenden russisch-angelsächsischen Konkur­
renz, die auf deutschem Boden vonstatten geht, haben die Rus­
sen, trotz grober, ja unmenschlicher Irrtümer, bisher mehr In­
itiative als die Westmächte in der Werbung um die
Volkssympathie gezeigt, und nach jüngsten Berichten sind sie
jetzt auch bemüht, sowohl politische wie Ernährungsgerechtig­
keit zu etablieren. Daraus könnte geschlossen werden, daß die
Westmächte, die ein womöglich noch größeres Interesse als die
446

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Russen an der Einrichtung demokratischer Verhältnisse in
Deutschland haben, nun geneigt sein könnten, der von dem
Appeal angestrebten Vollgerechtigkeit für ein künftig demo­
kratisches Deutschland zur Wirklichkeit zu verhelfen.

(K) Zusammenfassung

Die Potsdamer Beschlüsse sichern dem deutschen Volk zwar


zu, daß es nicht vernichtet werden soll, enthalten aber auch so
viele (leider notwendige) Härten, daß die Einhaltung dieser
Zusicherung gefährdet ist. Das ist beklagenswert, aber kein
Aufruf zur Einhaltung der Zusicherungen vermag daran etwas
zu ändern; die in Potsdam dekretierten Gebietsverkleinerun­
gen, Bevölkerungsumsiedlungen, Industriebeschränkungen
etc. müssen als unumstößliche Tatsachen hingenommen wer­
den. Wenn es eine Milderung für diese harten Maßnahmen gibt,
so ist sie bloß durch deren maximal zweckmäßige, technisch be­
ste Durchführung - so hinsichtlich des Agrikulturisierung-Pro-
blems - bewerkstellbar. Daß dies den technischen Fachleuten
gelingen möge, ist der einzige Wunsch, der vom Laien geäußert
werden kann.
Hingegen ist es möglich, im Rahmen der Potsdamer Be­
schlüsse gewisse zusätzliche Maßnahmen vorzuschlagen, wel­
che einerseits den augenblicklichen deutschen Notstand lindern
können (ohne dabei die berechtigteren Ansprüche anderer Na­
tionen zu beeinträchtigen), andererseits aber infolge Konkret­
heit die Fähigkeit haben mögen, zur Vorbereitung der er­
wünschten Demokratisierung Deutschlands einen nützlichen
Beitrag zu bringen. Dies wird von dem Appeal in seiner jetzigen
Form, die sehr allgemein und unkonkret einfach »für«
Deutschland eintritt, nicht geleistet.
Der Appeal muß also konkret und »substantiell« gemacht
werden; d. h. er muß bestimmte substantielle Forderungen zu­
gunsten bestimmter konkreter Personen erheben, und er muß
eine gewisse innere Berechtigung besitzen, gerade für diese
Personen einzutreten. Dies ist die Aufgabe, die der Appeal zu
erfüllen hat, wenn wir, seine Zeichner, ihn vor Wirkungslosig­
keit schützen wollen. Und wir sind hiezu umsomehr verpflich­
tet, als es vor allem uns zukommt, den noch in Deutschland be­
findlichen aktiv-antinazistischen und demokratischen Men­
447

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sehen beizustehen; für sie haben wir zu verlangen, daß sie
ausgeforscht werden mögen, und daß ihnen volle politische und
Ernährungsgerechtigkeit zuteil werde.
Kurzum, wir Zeichner des Appeals identifizieren uns weder
positiv noch negativ mit dem Abstraktum »Deutschland«, wohl
aber identifizieren wir uns sehr positiv mit allen deutschen
Anti-Nazi, sowohl mit jenen, die - hoffentlich - in Deutsch­
land noch leben, wie mit jenen, die im Kampf gegen Hitler ge­
fallen sind. Und für sie, die Lebenden wie die Toten, soll unser
Aufruf eintreten, indem er für die Lebenden Unterstützung und
Gerechtigkeit fordert, die Toten aber ehrt. Denn die einen wie
die anderen sind unsere Brüder: wären wir nicht - zu unserem
Glück, im Vergleich mit ihnen, sogar unverdientem Glück - aus
Deutschland ausgetrieben worden, wir stünden heute drüben in
ihren Reihen, zumeist wohl in denen der Toten.

1 Der Physiker und Nobelpreisträger James Franck (1882-1964), seinerzeit


Emigrant und Professor an der University of Chicago, war federführend an
dem »Appeal« zugunsten des deutschen Volkes beteiligt. Er und einige Kol­
legen von der University of Chicago schickten den Appell mit der Bitte um
Unterschrift an prominente Emigranten, u. a. an Broch. Der Appell ist mit
dem Datum 3. Dezember 1945 versehen. Das Begleitschreiben war unter­
zeichnet von Ludwig Bachhofer, James Franck, Hans Gaffron, Matthijs Jol-
les, Friedrich Kessler, Gerhard Meyer, Ulrich Middeldorf, Wilhelm Pauck,
Otto v. Simson, Friedrich Wassermann. Es lautete: »Dear Sir or Madam: En-
closed you will find an >Appeal< which, we hope, you can approve. We re-
spectfully ask you to sign it. It is a humanitarian appeal, as well as an appeal
to reason. We hope it will be published in the newspapers, but it is planned
to do that only if we obtain enough signatures of people who cannot be sus-
pected of harboring hidden sympathies for the Nazis or of intentions of re-
building Germany’s war potential. The text is the result of weeks of exchange
of opinions among people of European and American extraction at the Uni­
versity of Chicago. One simple change in the first line is still contemplated;
namely, to Substitute »of European origin« for »German and Austrian« ori­
gin. This change, however, depends on whether French, Italian, Dutch, Dan-
ish, et cetera signatures can be obtained. With your signature, kindly indicate
also your position or title. - Furthermore, we would like to hear your opinion
about having this appeal endorsed by prominent American-born citizens on
a separate list. - It is important, of course, that you yourself try to augment
the numberof signatures by approaching your acquaintances since we are not
in possession of all pertinent adresses. - Sincerely yours, - P. S. Please reply
at your earliest convenience.«
Der Appell selbst lautete:

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AN APPEAL
We, the undersigned men and women of German and Austrian origin, en-
emies and victims of Naziism and Fascism, who have found refuge and oppor-
tunity in free America, appeal to the American people in a matter of grave
importance.
The crimes of aggression and the effects of total warfare have been brought
home to the German people. Almost total destruction of all large cities, com-
plete paralysis of industry and transportation, and the loss of one-third of
German agricultural land have converted Germany into what the London
E c o n o m is t calls a »vast derelict human slum«.
Many in America regard this Situation as natural and just. They say that the
Germans brought this retribution upon themselves and that their plight de-
serves no sympathy. However, the retribution falls equally heavily on the
guilty and on the innocent, on Nazi criminals or their accomplices, and on
small children and even the unborn. While U. S. Health officials in Berlin,
predicting a definite »age group« elimination of the German people do not
expect children under ten and old people over sixty to survive, the terrorists
of the S.A. and S.S., in jails or internment camps, are at least guaranteed
enough food to keep them alive and healthy. At the same time the former in-
mates of German concentration camps, the families of those who gave their
lives in the hopeless fight against the thoroughly organized spy System of the
Gestapo, and the many Germans who desperately looked forward to the day
of Allied deliverance are left to despair and starvation.
We do not deny the grave responsibility which the German people, as a
whole, have to bear for the crimes committed in their name. We do not pro-
pose a »soft peace«. We realize that the ravages of war and the aftermath of
defeat create situations which are beyond immediate amelioration and that
the nations overrun and despoiled by German aggression have to be given
priority in economic assistance and reconstruction. Undoubtedly the German
people will have to live through many years of hard work until they will
emerge from the desert in which Naziism and war have left them. We believe,
however, that for the good of the whole world community a constructive
long-range policy in Germany is indispensible. For the sake of mankind the
positive energies of hope and Cooperation should be encouraged among the
Germans. For the sake of justice, respect for law and decency should be re-
stored. With the realistic purpose in mind of creating a lasting peace for
America and the world, the Germans should be enabled to contribute to es-
tablishing a free, liberal, and humane European community.
The Potsdam declaration assured the German people that they would be
allowed to work their way back into the family of nations. In practice, how­
ever, no Start is being made toward this goal. The occupational authorities
blow up ammunition factories left intact by aerial bombardment, but appar-
ently have no plan to direct the reconstruction of transportation, housing and
other economic activities which could provide work for millions of German
people. From the agricultural areas of the East - for centuries the bread-bas-
ket of Germany - ten millions of refugees are pouring into Central and West­
ern Germany. This stream is augmented by the millions that are being evicted
from the Sudetenland. The highly industrialized area of Western Germany,
once one of the main production areas of Europe, has no means to sustain
this swelling population other than by intensive industrial production. But in-

449

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dustry is working, even in the American zone, at only five per cent of its
capacity, while homes, bridges, and railway tracks call for reconstruction.
The apparent intention is not to allow industry to be reconstructed, but to
convert what remains of Germany into a predominantly agricultural land.
This means that either the German people will have to be fed and policed by
the Allies, while millions remain unemployed, or that millions will starve to
death.
All this has already been stated by many American observers. The Colmer
report on Post-war Economic Policy of the House of Representatives and the
report of Mr. Byron Price show that the American military authorities in Ger­
many are fully aware of the danger of the Situation. We, who have suffered
under Nazi intolerance and bestiality, and desire fervently that the terrible
plague of Fascism, racism, and militarism be wiped out forever, regard it as
our privilege as American citizens and as our duty to this free country to add
our voice to these warnings. We are afraid that the indifference of American
public opinion and the feeling that »the Germans are only getting a taste of
their own medicine« will permit the creation in the center of Europe of a state
of spiritual and physical degeneration which will endanger the peaceful re­
construction of the world. Can unemployment, hunger, and despair provide
a eure for the poison of Naziism and a way to a peaceful democratic future?
Are not such conditions much more likely to breed demoralization and per­
manent hatred? To allow this to happen would be neither desirable from a
practical point of view, nor would it be in accordance with the moral principles
for which this war was fought and for which thousands of American soldiers
have sacrificed their lives.
2 Vgl. das Potsdamer Abkommen, das am 2. 8. 1945 zwischen Truman, Stalin
und Attlee auf der Potsdamer Konferenz abgeschlossen wurde. Im dritten
Absatz des Abkommens heißt es u. a. »Es ist nicht die Absicht der Alliierten,
das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen
dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein
Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wie­
deraufzubauen.« Vgl. P o tsd a m er A b k o m m e n . A u sg e w ä h lte D o k u m e n te zu r
D eu tsch la ndfrage 1 9 4 3 -1 9 4 9 . Mit einem Vorwort von Stefan Doernberg
(Berlin 1966), S. 59.
3 Vgl. die auf der zweiten Konferenz von Quebec (11.-19. 9. 1944) vom ameri­
kanischen Finanzminister H. Morgenthau Jr. vorgelegte Denkschrift. Sie sah
u. a. eine Reduzierung Deutschlands auf ein Agrarland vor. Roosevelt und
Churchill zogen ihre vorläufige Billigung des Planes bereits am 22. 9. 1944
wieder zurück.
4 Am 25. 11. 1945 fanden die ersten allgemeinen Nachkriegs-Wahlen in ganz
Österreich für den Nationalrat statt. Die ÖVP erhielt 85, die SPÖ 76 und die
KPÖ 4 Mandate.
5 Vgl. dazu u. a. den Artikel »Pity for Germany? A Dangerous Propaganda
Line Repeated«, in: Free W orld, Jg. 10, Nr. 5 (November 1945), S. 63-66.
Broch las damals die Zeitschrift Free W orld.
6 Leo Baeck (1873 in Posen geboren, 1956 in London gestorben), Rabbiner,
seit 1912 Dozent in Berlin, Sachverständiger für jüdische Angelegenheiten
im preußischen Kultusministerium, 1933 Präsident der »Reichsvertretung«
der deutschen Juden, 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt depor­
tiert. Während des NS-Regimes war Leo Baeck geistiges Oberhaupt der

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deutschen Juden. Vgl. seine Arbeiten: D as W esen des Ju d en tu m s (I9606),
D er K u rs der jü d isc h e n G esch ich te (1946).
7 Dieses Zitat konnte nicht eruiert werden. Ähnlich lautet eine Stelle in: Leo
Baeck, D er S in n d e r G esch ich te (Berlin 1946), S. 11.
8 Anspielung auf die Nürnberger Prozesse.
9 Eduard Benesch (1884-1948), tschechoslowakischer Staatsmann, 1935-1938
Staatspräsident, Exil in den USA, 1939 Gastprofessor in Chicago, 1940 Prä­
sident der tschechoslowakischen Exilregierung in London, 1945-1948 erneut
Staatspräsident.
10 Jean Louis Barthou (1862-1934), frz. Staatsmann, 1913 Ministerpräsident,
1934 Außenminister. Goerdeler weilte im August und Dezember 1937 in Pa­
ris und hatte dabei Kontakt zu Mitarbeitern des französischen Außenministe­
riums.
11 Sitz des französischen Außenministeriums in Paris.
12 Carl-Friedrich Goerdeler (1884-1945), Jurist und Politiker. Trat als Gegner
des Nationalsozialismus 1937 von seinem Amt als Bürgermeister Leipzigs zu­
rück. Nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs wurde er der führende Kopf der
deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler. Im Herbst und Spätsommer
1937 weilte Goerdeler während einer Auslandsreise in den USA und traf
u. a. mit Cordell Hüll, Sumner Wells, Edgar Hoover, H. Morgenthau Jr. und
Owen Young zusammen. Nach dem Fehlschlagen des Attentats auf Hitler am
20. Juli 1944 wurde Goerdeler am 2. 2. 1945 in Berlin-Plötzensee hingerich­
tet.
13 Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945), Jurist, gründete als Gegner
des Nationalsozialismus den Kreisauer Kreis. Moltke war öfters in England,
u. a. auch im September 1938. Durch die Vermittlung seines Freundes Lionel
Curtis traf er sich zu Gesprächen mit Lord Halifax, Lord Lothian, Michael
Balfour und Henry Brooke. Im Januar 1944 verhaftet, wurde von Moltke am
23. 1. 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
14 Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.
15 Auf der Konferenz von Casablanca (14.-26. 1. 1943) einigten sich Churchill
und Roosevelt u. a. auf die bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte
als Kriegsziel.
16 UNRRA: »United Nations Relief and Rehabilitation Administration«; am 3.
November 1943 auf Initiative der US-Regierung von vierundvierzig Nationen
unterzeichnetes Abkommen. Der Organisation ging es um die Wiedergutma­
chung von Kriegsschäden in europäischen und asiatischen Ländern. Nach
Kriegsende half sie besonders bei der Rückführung von Kriegsgefangenen
und Vertriebenen in ihre Heimatländer. Die Organisation, die ihren Haupt­
sitz in New York hatte und seit Gründung der UNO mit dieser verflochten
war, wurde am 1. 10. 1948 aufgelöst.
17 Vgl. Hitlers Testament in: J. Noakes und G. Pridham, D o cu m en ts on N azism
1 9 1 9 -1 9 4 5 (New York 1974), S. 677-680.
18 Gemeint ist der amerikanische Geheimdienst, der 1947 in »Central Intelli­
gence Agency« (CIA) umbenannt wurde.
19 Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904-1944), trat 1927 in den Staats­
dienst; mit H. J. von Moltke befreundet, war er Mitbegründer des Kreisauer
Kreises, seit Januar 1944 enger Vertrauter Graf von Stauffenbergs. Als Wi­
derstandskämpfer wurde er am 8. 8. 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
20 Albrecht Haushofer (1903-1945), Professor für politische Geographie, Lyri­

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ker und Dramatiker. Nach dem 20. Juli wurde er wegen seiner Verbindung
zur Widerstandsbewegung verhaftet. Im Gefängnis schrieb er die »Moabiter
Sonette« (aus dem Nachlaß 1946 erschienen). Von der Gestapo wurde er am
23. 4. 1945 in Berlin-Moabit erschossen.
21 Ulrich von Hasseil (1881-1944), Diplomat. Er war seit 1938 in der Wider­
standsbewegung gegen Hitler tätig und als Außenminister in einer Regierung
Goerdeler vorgesehen. Am 8. 9. 1944 wurde er in Berlin-Plötzensee hinge­
richtet.
22 Military Government.
23 Vgl. Fußnote 2 der »Völkerbund-Resolution«.
24 Im Mai 1944 wurde in New York City die »American Association for a De-
mocratic Germany« gegründet. Sie bestand aus demokratisch engagierten
amerikanischen und emigrierten deutschen Intellektuellen. Chairman war
Brochs Freund Christian Gauss, Dekan an der Princeton University. Aus dem
Bekanntenkreis Brochs gehörten ihr ferner Reinhold Niebuhr und Dorothy
Thompson (beide Vizepräsidenten der Organisation), Benno W. Huebsch
(Mitglied des »Executive Committee«) und Bischof G. Bromley Oxnam
(Mitglied des »National Committee«) an. Die Vereinigung ging aus einer be­
reits 1936 in New York City gegründeten Gesellschaft hervor, die sich zwi­
schen 1936 und 1940 »Friends of German Freedom« und zwischen 1940 und
1944 »American Friends of German Freedom« nannte. Ihr Vorsitzender war
Reinhold Niebuhr, und aus dem Bekanntenkreis Brochs gehörten ihr an Do­
rothy Canfield Fisher, Varian M. Fry, Christian Gauss, Max Lerner, James
Loeb, Thomas Mann, Lewis Mumford, William Allan Neilson und Paul Til-
lich. Diese Organisation hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, die illegale Anti-
nazi-Bewegung in Deutschland zu unterstützen und Amerika über die wirkli­
chen Verhältnisse in Hitler-Deutschland zu informieren. Vor allem
unterrichtete sie über die Widerstandsbewegungen. Die Gesellschaft hielt
Verbindung mit illegalen sozialistischen Gruppen, mit Persönlichkeiten der
oppositionellen Kirchenbewegung und anderen Hitler-Gegnern. Sie gab ih­
nen Informationen über die Verhältnisse im Ausland und erhielt von ihnen
Berichte über Vorgänge in Deutschland, die von der Nazi-Presse totge­
schwiegen wurden. Zwischen Februar 1941 und März 1944 publizierten die
»American Friends of German Freedom« die Zeitschrift In R e: G e rm a n y . A
C ritical B ib lio g ra p h y o f B o o k s a n d M a g a zin e A rtic le s o n G e rm a n y P u b lish e d
M o n th ly. Nach 1945 war das Ziel der »American Association for a Democra-
tic Germany«, die amerikanische Öffentlichkeit über die Vorgänge im Nach­
kriegsdeutschland zu informieren und den Prozeß der Demokratisierung der
deutschen politischen Institutionen zu fördern. Zwischen November 1945
und Dezember 1948 publizierte die »Association« elf Nummern ihrer Zeit­
schrift Facts a b o u t O c c u p ied G e rm a n y . 1949, nach Gründung der Bundesre­
publik und der DDR, löste sich die Organisation auf.

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Die Intellektuellen und der Kampf
um die Menschenrechte

Gestatten Sie mir vor allem zu sagen, wie sehr ich es bedaure,
an Ihren Besprechungen1 nicht persönlich teilnehmen zu kön­
nen. Ferner bitte ich Sie um Entschuldigung, wenn ich, eben
wegen dieser Abwesenheit, im Folgenden vielleicht Dinge vor­
bringe, die während der Kongreßsitzungen bereits behandelt
worden sind.
Es ist ein Kongreß geistiger Arbeiter, ein Kongreß von Intel­
lektuellen, oder wie der Praktiker, sofern er höflich ist, sich
ausdrücken würde, ein Kongreß utopisch weltfremder Ideali­
sten, höflichkeitshalber, denn in Wahrheit meint er Dumm­
köpfe.
Nun haben wir ja tatsächlich einen heftigen Hang zum Utopi­
schen. Wir verlangen von der Realität mehr als sie gemeinhin
herzugeben bereit ist; wir sind voller »wishful thinking«. Aber
vergessen wir nicht: »wishful thinking« in billionenhafter Viel­
falt, anonym und kaum artikuliert, erfüllt jeden Weltaugen­
blick, greift in jedem Weltaugenblick die jeweilige Weltrealität
an, trachtet sie zu verändern, und hiedurch, gerade hiedurch
wird das Leben vorwärtsgetragen. Billionen anonymer Klein-
Utopien bilden das Vehikel des Fortschrittes, und ihre Ver­
dichtungsstellen nennen wir Revolution.
Der Intellektuelle ist ein Utopist, weil er der geborene Revo­
lutionär ist. Denn im Gegensatz zu den materiellen Interessen
des Bürgers (auch des proletarischen Bürgers) kennt der
geistige Mensch nur ein einziges Interesse, und das heißt Er­
kenntnis und Menschlichkeit. Alle Revolutionen sind von der
utopischen Menschlichkeit des Intellektuellen entfacht worden,
haben sich unter seiner Führung gegen die Unmenschlichkeit
erstarrter Institutionen gewandt, und jede siegreich gewordene
Revolution hat ihn und die Menschlichkeit letztlich wieder ver­
raten, hat in neuen Interessenvertretungen, in neuen Institutio-
nalismen versanden müssen. So war es immer, so wird es wohl
immer wieder sein, unweigerlich, und darum wird der Intellek­
tuelle immer wieder zu seinem endlosen Kampf aufgerufen
werden, ewig besiegt, trotzdem der ewige Sieger.
Der geistige Arbeiter, an sich der unpolitischste Mensch, ist
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demzufolge dauernd gezwungen, Politik zu wollen und zu be­
treiben, und er, der utopischste aller Menschen, erweist sich am
Ende doch als Realpolitiker par excellence. Die initialen Im-
mediaterfolge seiner politischen und geistigen Revolutionen
sind, ungeachtet fürchterlichster Rückschläge, als Menschlich­
keits-Fortschritt, als Verwirklichung von Menschenrecht in der
Geschichte geblieben. Fortschritt beruht auf unmittelbarer
Verringerung von Menschenleid, und gerade weil dieses zu ei­
ner geradezu unerahnbaren Gräßlichkeit angewachsen ist, muß
aufs neue die Forderung nach Immediataktionen erhoben wer­
den. Mit dem Versprechen einer Verwirklichung von Men­
schenrechten in fünfzig oder zwanzig, ja selbst nur in zwanzig
Jahren ist uns nicht gedient; Wechsel auf lange Sicht sind in der
Politik pure Augenauswischerei: hier gilt nur das hic et nunc,
die sofortige Barzahlung. Unsere Utopien sind immediat und
müssen es sein.
Es gibt Real- und Irrealutopien; wer von einem Zahlungsun­
fähigen Barzahlungen verlangt, befindet sich in einer Irrealuto­
pie. Realutopien dagegen haben die Logik der Dinge zu be­
rücksichtigen; sie sind an Tatsachen gebunden. Wenn wir heute
Verwirklichung von Menschlichkeit suchen, so dürfen wir vor
den Machtfaktoren der heutigen Weltpolitik nicht die Augen
schließen. Und wir müssen uns klar sein, daß jede unserer noch
so bescheidenen Humanitätsforderungen eine Bresche in das
gegenwärtige unmenschliche Machtsystem legt, also im Grunde
höchst unbescheiden ist, dies nicht zu verbergen vermag und
daher mit schärfsten Widerständen zu rechnen haben wird.
Wir könnten z. B. auf eine weltweite Abschaffung der Todes­
strafe dringen, damit die gespenstische Menge der Galgen, die
da in der ganzen Welt errichtet werden, endlich verschwände.
Doch selbst wenn ein solcher Schritt, etwa mit Hilfe der UN,
gelänge, den inoffiziellen und noch schrecklicheren Morden in
den Konzentrationslagern wäre hiedurch kein Einhalt geboten.
Wir können bescheidener sein und bloß verlangen, daß jedes
in der Welt gefällte Todesurteil einem ständigen Begnadi­
gungssenat der UN vorgelegt werde. Doch was soll dann mit
den Begnadigten geschehen, wenn man vermeiden will, daß sie
auf der Flucht erschossen werden? Die UN müßten die Leute so­
fort übernehmen und in eigenen neutralen Anstalten unter­
bringen.
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Wir könnten sogar die ganze Frage der Todesstrafe beiseite­
stellen, dafür aber verlangen, daß die blutige Farce der Hoch­
verrats-, Spionage- und Aufruhrprozesse, die sich allenthalben
seuchenhaft vermehren, dem Einzelstaat - der eben niemals
Ankläger und Richter zugleich in eigener Sache sein dürfte -
entzogen und einem übernationalen Spezialgerichtshof der UN
überantwortet werde. Doch da ist mit dem Einwand zu rechnen,
daß die UN bloß ein Machtinstrument ihrer Majorität sei, und
daß jedes in ihrem Rahmen etablierte internationale Gericht
gleichfalls den Majoritätsinteressen dienen würde.
Wo also ist für unsere Immediat-Forderungen die Grenze
zwischen Real- und Irrealutopie?
Während der letzten Wochen ist in der Ostzone mit zuneh­
mender Dringlichkeit das höchst begrüßenswerte Verlangen
nach Atom-Abrüstung laut geworden. David Rousset2 hinge­
gen verlangt hier eine internationale Kontrolle der Konzentra­
tionslager. Worin besteht der Unterschied? Handelt es sich
nicht in beiden Fällen um Kriegsmaßnahmen und deren Ab­
stellung? Gegen den äußeren Feind braucht der Staat Atom­
bomben und gegen den inneren die Konzentrationslager, und
wenn der gegenwärtige Kriegszustand, ob heiß oder kalt, nicht
bald auf hört, werden desgleichen die Weststaaten sich zu Lager­
errichtungen bequemen müssen. Trotzdem ist ein grundlegen­
der Unterschied vorhanden: so wünschenswert die Atom-Ab­
rüstung wäre (u. a. als ein erstes positives Verhandlungsergeb­
nis der beiden Antagonisten), sie wäre weit weniger ein
Humanitäts- als ein Furchtprodukt, da die Atom- und Hydro­
genbomben auch für den Angreifer ruinös werden könnten.
Und da wir militärische Mentalität immerhin kennengelernt
haben, müssen wir uns fragen, ob nach Ausschaltung dieser Be­
drohung und Selbstbedrohung nicht mit umso größerer Sorg­
losigkeit der Krieg unter Anwendung der restlichen Waffen -
es bleiben deren wahrlich übergenug - entfesselt werden mag,
besonders wenn man das russische Übergewicht an Landtrup­
pen in Betracht zieht. Vergleicht man nun damit den Rousset-
schen Vorschlag, so wird klar, daß mit diesem kein Krieg er­
leichtert wird. Im Gegenteil: wir fürchten den Krieg, weil er
unsere Freiheiten vernichtet und uns dafür mit Konzentra­
tionslagern beschenkt, und wir wollen überall in der Welt die
Konzentrationslager vernichtet wissen, damit durch eine allge­
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mein herrschende Freiheit und Menschlichkeit die Kriegsge­
fahr sich verringere.
Denn hinter alldem steht das Problem der staatlichen Souve­
ränitäten. Die Staatsinstitution ist in erster Linie aus strategi­
schen Schutz-Notwendigkeiten hervorgegangen, und diese
Tradition ist heute noch derart stark, daß von ihr die ganze
staatliche Mechanik bedingt wird. Absolute Autarkie und die
Erreichung optimaler strategischer Grenzen sind die seit Roms
Zeiten unverändert gebliebenen Ziele, und es wird heute der
Bürger umsomehr verpflichtet, sich ihnen bedingungslos unter
Aufopferung seiner Menschenrechte unterzuordnen, als der
Staat zum Machthaber von Waffen geworden ist, die den Cha­
rakter von Naturgewalten gewonnen haben. Kein Wunder also,
daß die Staatsmaschinisten - auch die Staatskunst ist maschinell
geworden - in den äußern und innern Grenzsicherungen (zu
denen eben auch die terrorgelenkte Gesinnungsdisziplin der
Bürger gehört) ihre einzige Aufgabe sehen und sich höchstens
zu gewissen Kriegsregeln, wie etwa zur Ausschaltung bestimm­
ter Waffen, doch sicherlich zu keiner Dauereinschränkung der
Souveränität und der Rüstungshoheit verstehen wollen. In
Rußland hat das Souveränitätsprinzip seinen gegenwärtig
rückhaltslosesten Verfechter gefunden, nicht zuletzt weil es für
den marxistischen Vertreter bloß eine einzige Aufhebung der
Souveränitäten gibt, nämlich die klassenlose Gesellschaft, die
nach erfolgter Weltrevolution die Staatsinstitutionen ersetzen
wird: mit dem bis dahin währenden transitorischen Zustand
und seinem erhöhten Menschenleid, mag dieses noch so schau­
erlich werden, mag es noch so lange andauern, muß man sich
abfinden; es geht um das Glück künftiger Generationen.
Wir aber, die wir auf sofortige Linderung des Menschenleides
dringen, wir dürfen uns nicht daran halten. Und auch wenn wir
darob als bezahlte oder unbezahlte Knechte des Kapitalismus
verschrien werden mögen, wir können und wollen die Galgen
nicht mehr sehen. Wir stehen unter der Pflicht, unser revolutio­
näres Erbe - die antiinstitutionelle, antipolitische Humanpolitik
des geistigen Arbeiters - wiederaufzunehmen und zu erneuern;
wir haben unsere Realutopie zu verfolgen und unseren An­
griff auf die Staatssouveränitäten zu richten. Gewiß, unser ober­
stes Ziel, die Verwandlung der Staaten in bloße Verwaltungs­
körper, ist derzeit unerreichbar; rasend gewordene Maschinen
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lassen sich nicht durch Resolutionen und Deklarationen zum
Stillstand bringen, und selbst wenn wir selber am Schaltbrett
säßen, wir vermöchten einer so ungeheuren Dynamik, wie es
die der in Bewegung geratenen Staatsmechanismen ist, kaum
Einhalt zu gebieten: all das fällt ins Gebiet der Irrealutopie.
Doch wir dürfen uns erinnern, daß Rechtsstaaten, allerdings
nur Rechtsstaaten, gerade aus ihrem Rechtsbegriff heraus eine
gewisse, man möchte sagen, interne Durchbrechung der Staats­
souveränität fördern: überall, wo an der Unabhängigkeit des
Richters festgehalten wird, bildet das Gericht eine außerhalb
des Staatsbereiches lokalisierte autonome Instanz, und die Ge­
rechtigkeit, ja wenn man will die juristische Gerechtigkeit wird
der Staatssouveränität übergeordnet. Hier haben wir anzu­
knüpfen, und genau das kommt auch in den Roussetschen Vor­
schlägen zum Ausdruck. Der Staat darf nicht über dem Recht
stehen, denn jede administrative Jurisdiktion ist gebeugtes
Recht und daher gebeugte Menschenwürde. Ebendarum habe
ich das juristische Anliegen, das der Todesstrafe sowie das der
Spionage- und Hochverratsprozesse3 vorangestellt, um eben
mit diesem Anliegen an alle - der UN angeschlossenen -
Rechtsstaaten heranzutreten, auf daß mit ihrer Zustimmung ein
internationaler Souveränitätsabbau in den juristischen Belan­
gen eingeleitet werde. Ich stelle also den folgenden Antrag:
Der »Kongreß für kulturelle Freiheit« möge bei der UN anre­
gen, daß diese eine Studienkommission bestelle, welche mit
nachstehenden Aufgaben zu betrauen wäre, nämlich
1. Errichtung eines internationalen Begnadigungssenates,
dem sämtliche in den Mitgliedsstaaten - soweit diese einem sol­
chen Abkommen beitreten - erfließenden Todesurteile zwecks
Überprüfung vorgelegt werden sollen,
2. Errichtung eines internationalen Gerichtshofes für alle
Hochverrats- und Spionagedelikte, welche im Hoheitsgebiet
der Mitgliedsstaaten geschehen und gegen welche diese - so­
weit sie einem solchen Abkommen beitreten - Anklage zu er­
heben wünschen,
3. Vorbereitung eines entsprechenden Abkommens, das dem
Plenum der UN vorzulegen wäre, also bei Annahme für sämtli­
che Mitgliedsstaaten bindend zu werden hätte, jedoch bei
Nichtannahme den individuellen freiwilligen Beitritt der Ein­
zelstaaten erlaubt.
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Es ließe sich einwenden, daß eine an die UN gerichtete Ein­
gabe weder ein sehr radikaler noch ein sehr revolutionärer
Schritt sei. Indes, kann ein solcher heute schon geplant werden?
Wir wissen nichts über die Form künftiger Revolutionen; wir
wissen nicht einmal, ob sie wie ihre Vorgänger mit einem Ap­
pell an die Herrschenden beginnen werden. Wird der überra­
schende Putsch einer Elite sie einleiten? Wird eine sorgsame
Durchorganisierung der Massen ihnen den Boden bereiten
müssen? Werden sie angesichts einer Staatsmacht, die mit zu­
nehmend schwerer Bewaffnung sich eine zunehmend härtere
und totalitärere Struktur gibt, überhaupt möglich sein? Oder
werden sie ihren Kampf gegen sie nach Gandhischem Muster im
zivilen Widerstand auf nehmen? Das sind für uns lauter unbeant­
wortbare Fragen; wir können zur künftigen Form der
Revolution bloß eine negative Feststellung beibringen: sofern
es überhaupt noch Revolutionen im bisherigen Sinn geben
wird, so werden sie sich nicht mehr als romantische Barrika­
denkämpfe mit fliegenden Fahnen abspielen.
Nichtsdestoweniger: mag auch, an revolutionären Maßstäben
gemessen, die Wendung zur UN als ein geringfügiger Schritt er­
scheinen, ja darüber hinaus, mag damit fürs erste dort nicht ein­
mal ein unmittelbares positives Resultat zu erzielen sein, er ist
dennoch ein konkreter Schritt, und er liegt in einer Wegrich­
tung, die sehr bald wird begangen werden müssen; er führt zur
Realität hin, und mag er auch nur ein erster Versuch hiezu sein,
er bleibt dennoch wichtig, da nur auf diese Weise das Weltge­
wissen sich aufrütteln läßt: nur sichtbar konkrete Handlungen
können dem Menschen im Erdenrund den Wert und das
Schutzbedürfnis des individuellen Menschenlebens so ein­
dringlich vor Augen führen, daß er aus seiner derzeitigen
Gleichgültigkeit erwache und selber nach Abstellung der Bar­
barei verlangt. Und bedenken Sie, ohne Erfüllung dieser
Grundbedingung gibt es auch keine kulturelle Freiheit.

1 Melvin J. Lasky, der Begründer und damalige Herausgeber der Zeitschrift D er


M onat, war durch den Essay »Trotzdem: Humane Politik« auf Broch auf­
merksam geworden. Er lud Broch ein, eines der politischen Referate auf dem
von ihm organisierten »Kongreß für kulturelle Freiheit«, der vom 26.-30. 6.
1950 in Berlin (West) stattfand, zu halten. Ein ausführlicher Bericht über den
Kongreß findet sich in D er M o n a t, Nr. 22/23 (Juli-August 1950), S. 339-495.

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Der Briefkopf der Kongreßkorrespondenz enthält Brochs Namen als offiziel­
len Delegierten der USA. Aus Zeitgründen konnte Broch am Kongreß nicht
teilnehmen, doch schickte er als Beitrag diese Grußadresse »Die Intellektuel­
len und der Kampf um die Menschenrechte«. Die Hauptreferate auf der Ver­
anstaltung hielten Arthur Koestler, Ignazio Silone, H. R. Trever-Roper, Dolf
Sternberger, Nicolas Nabokov, Karl Jaspers, David Rousset, auf dessen Vor­
schläge Broch in seiner Grußadresse eingeht, und Barbara Ward.
2 David Rousset (geb. 1912), frz. Schriftsteller, veröffentlichte 1947 L es jours
de no tre m o rt, dessen erster Teil »L’univers concentrationnaire« bereits 1946
erschienen war. Es handelt sich um eine teils als Bericht, teils in Romanform
gehaltene Beschreibung des Lebens in deutschen Konzentrationslagern.
3 Wahrscheinlich eine Anspielung auf den damals stattfindenden Prozeß gegen
Ethel und Julius Rosenberg (1918/16-1953), die im April 1951 wegen Hoch­
verrats zum Tode verurteilt wurden. Die Anklage beschuldigte sie, in geheimen
Atom-Angelegenheiten für die Sowjetunion spioniert zu haben. 1953 wurde
das Urteil vollstreckt.

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Der Intellektuelle im Ost-West-Konflikt1

Ein Rundfunk-Interview
Frage: Unsere letzte europäische Begegnung fand vor sechzehn
Jahren in Zürich anläßlich der Uraufführung Ihres Stückes
. ..denn sie wissen nicht, was sie tun2 statt. Ein ahnungsreicher
Titel, genauso ahnungsreich wie der Ihres ersten großen Ro­
mans Die Schlafwandler. Dann haben Sie - nach Verfolgung
und Einkerkerung - Europa verlassen, haben in Amerika, und
hier an der berühmten Yale Universität eine Ihnen gemäße
Umgebung gefunden und haben ihre bedeutungsvolle Ausein­
andersetzung mit dem menschlichen Sterben im Tod des Vergil
niedergelegt. Aber auch dieses Buch beschäftigt sich in seinen
Hintergründen mit dem europäischen, vielleicht sogar mit dem
deutschen Schicksal, und daß Ihre Augen auf Deutschland ge­
richtet geblieben sind, bezeugt der Titel Ihres neuen Romans,
den Sie - wiederum sehr prägnant - Die Schuldlosen nennen.
Und so erscheint es mir nur recht und billig, Ihnen, dem über­
nationalen Menschen mit den langjährigen amerikanischen Er­
fahrungen, Ihnen, dem europa-zugewandten, deutschschrei­
benden Autor jene Frage vorzulegen, die gerade uns deutsche
geistige Arbeiter im Augenblick am meisten bewegt: Welche
Stellung kann, darf, soll der geistige Mensch dieser Zeit zum
gegenwärtigen Weltkonflikt einnehmen.
Antwort: Sie meinen, wenn ich die Bezeichnung geistiger
Mensch auf mich beziehen darf, welche Stellung ich selber ein­
nehme? Anders könnte ich ja die Frage überhaupt nicht beant­
worten.
Frage: Natürlich ist vor allem Ihre eigene Stellungnahme ge­
meint, wenn ich ihr autoritative Bedeutung beimesse.
Antwort: Wenn meine Stellungnahme irgendwelche Bedeu­
tung haben soll, so muß ich sie begründen, und da Sie nach mei­
nen amerikanischen Erfahrungen fragen, möchte ich mit deren
Analyse beginnen.
Frage: Damit kann ich nur einverstanden sein. Denn vieles an
diesem Land ist uns noch unverständlich, ja, je mehr wir mit
Amerikanern in Berührung kommen, desto unverständlicher
wird uns ihre Haltung, die offenkundig eine Mischung von
krassestem Materialismus und einem schier kindlichen Idealis­
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mus ist. Man sagt uns, daß das noch immer Kolonialtradition
sei, also von jenem rücksichtslosen Kampf herrühre, den die
Grenzsiedler gegen die Natur, gegen die Indianer und teilweise
auch untereinander zu bestehen hatten, um sich am Leben zu
erhalten, und den sie sicherlich nicht bestanden hätten, wenn
ihnen in Stunden der Verzweiflung nicht von ihrem Glauben
Hilfe gekommen wäre. Das scheint mir zu stimmen; der Zug der
Mormonen zum Salzsee und das Aufblühen ihrer Siedlung ist
wohl das paradigmatischste Beispiel hiefür.
Antwort: Es stimmt auch, und es stimmt nicht nur für die Mor­
monen. Jedes Siedlerland entwickelt eine den harten Tatsachen
zugekehrte Tradition, es gibt keine Rezepte, um all den Zufäl­
ligkeiten, denen man ausgesetzt ist, zu begegnen, vielmehr muß
man unaufhörlich kampfbereit und improvisationsfähig sein.
Wahrscheinlich hat auch der Seefahrergeist der Angelsachsen,
die da in ein festes Land von meerhaften Dimensionen geraten
sind, zum Teil mitgewirkt: dem Meer, dem Wind, aber auch
dem Land müssen alle Tücken abgelernt werden, und je näher
man sie kennen lernt, desto mehr stellt sich ein liebevolles Ver­
hältnis zu ihnen her, sozusagen das einer mißtrauischen Kame­
radschaftlichkeit, und in genau der gleichen mißtrauischen Ka­
meradschaft steht man zum Nebenmenschen, dem Mit- und
Nebenabenteurer, den man zur gegenseitigen Hilfeleistung
braucht, und der doch jederzeit zum Feind werden kann, ohne
daß es ihm eigentlich übelgenommen wird. Die Anfänge des
amerikanischen Sportsgeistes werden in dieser rauhen Fairness
sichtbar, und ihr Schlagwort »The best man wins« ist zugleich
ein Echo jenes Puritanismus, für den der weltliche Erfolg als
Stigma der göttlichen Gnade gilt, und der gerade damit für die
amerikanische Tradition so überaus wichtig geworden ist.
Frage: Vom Puritanismus ist aber ansonsten im amerikani­
schen Leben, ausgenommen gewisser hochkonservativer
Kreise in Boston, wohl nicht mehr viel zu spüren.
Antwort: Doch, an Radikalität das Luthertum darin weit
übertreffend, hat der Puritanismus dem Menschen tatsächlich
nur das strikte Bibelwort als anerkennbare Autorität belassen.
Jede andere Autorität, ob weltlich oder geistlich, hat er abzu­
lehnen; jedes andere Dogma hat er zu verwerfen. Der Puri­
tanismus wurde zur Lebensform des gläubigen Anarchisten.
Der Siedler, an und für sich ein autoritätsfeindlicher Rebell und
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Einzelgänger, hatte seine Bibel bei sich, und wenn ein anderer
sie ihm auslegen wollte, wurde er mißtrauisch; wenn über­
haupt spekuliert werden sollte, so besorgte er das für sich al­
lein.
Frage: Sie halten das für eine der Wurzeln des amerikanischen
Individualismus.
Antwort: Sicherlich, und es wurzelt noch viel mehr darin.
Denn diese puritanische Abneigung gegen das Spekulative hat
sich mit dem Tatsachensinn des der Natur ausgelieferten Men­
schen gepaart. Wie durch ein Wunder entstand hiedurch ein
Hauptzug des Amerikanismus: die Verweisung der Spekulation
ins Gebiet des Glaubens, also ins Theologische, während ihr in
allen weltlichen und praktischen Dingen möglichst geringes
Gewicht zugemessen wird; m. a. W. als echte Überzeugung wird
bloß die religiöse zugelassen, während all die vielen Dogmen,
mit denen der Mensch sein tägliches Leben, nicht zuletzt in
Wissenschaft und Politik, umstellt, als Nicht-Überzeugungen,
als Schein-Überzeugungen, als bloße Meinungen, die jederzeit
von den Tatsachen rektifiziert werden können, rektifiziert wer­
den müssen, abgetan werden.
Frage: Sie erachten das, wie ich merke, als einen ungeheueren
Vorsprung des amerikanischen Denkens gegenüber dem euro­
päischen. Doch da nach Ihrer Darlegung auch der philoso­
phisch-wissenschaftliche Positivismus in Amerika seine Voll­
blüte erreicht hat, und ich angesichts Ihrer Werke allen Grund
zu der Annahme habe, daß Sie sich über die positivistischen
Unzulänglichkeiten vollkommen im Klaren sind, werden Sie
zugeben, daß in Ihren Ausführungen ein Widerspruch steckt.
Antwort: Nein, das gebe ich nicht zu. Denn die metaphysi­
schen Unzulänglichkeiten des Positivismus werden letztlich
eben doch von theologischen Erwägungen her bestimmt, da es
ohne diese kein Philosophieren gibt. Gewiß ist der kontinentale
Wissenschaftler über [die] Spekulationsfurcht seines amerika­
nischen Kollegen, der womöglich immer nur die Tatsachen und
nichts anderes sehen will, anfänglich erstaunt, aber recht bald
erkennt er die darin steckende höchst gesunde Vorsicht. Natür­
lich wird die Vorsicht manchmal bis ins Über-Extreme getrie­
ben, doch wenn Sie als Gegenstück hiezu einerseits die schola­
stische, andererseits die kommunistische Wissenschaft be­
trachten, jene unter dem Befehl der aristotelischen, diese unter
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dem der marxistischen Spekulation, so zieht man gerne solche
Vorsicht vor.
Frage: Ich sehe, daß wir zu unserem Thema, dem Ost-West-
Konflikt gelangen.
Antwort: Ja, das tun wir. Denn die gleiche Anti-Dogmatik
herrscht im Politischen. Man hat sich oft über die Nicht-Unter­
scheidbarkeit der beiden großen amerikanischen Parteien und
über das zwischen ihnen statthabende Fluktuieren der Wähler­
massen gewundert. Nun, es sind eben [weder] weltanschaulich
noch klassenmäßig bedingte Parteien, umsoweniger als die
amerikanische Klassengrenze, soferne man sie überhaupt zie­
hen kann, zwischen einer im Süden und Südwesten angesiedel­
ten, teils farbigen, teils spanischen, absolut unterproletarischen,
doch zahlenmäßig nicht ausschlaggebenden Minorität und ei­
ner Arbeitermajorität liegt, die sich selber nicht als proletarisch
empfindet und es infolge Einkommen und Besitz auch wirklich
nicht ist. Die Parteien sind lediglich Riesenmechanismen, die
durch die Größe des Landes notwendig geworden sind, um die
Kandidaten vorstellen und anpreisen zu können. Und weil es
lediglich ein Konkurrenzmechanismus ist - »Let the best man
win« - ist mit den beiden Parteien (neben denen sich noch nie­
mals eine dritte hat etablieren lassen) nicht nur das Auslangen
zu finden, sondern sie wären auch in größter Verlegenheit,
wenn sie zu einer 100%igen Majorität gelangten, da dann diese
sich sofort wieder aufspalten müßte. Und daß diese beiden
neuen Teile wiederum nicht weltanschaulich gefärbt wären,
läßt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten.
Frage: Da muß immerhin auf England hingewiesen werden.
Hier vollzieht sich nämlich dasselbe Fluktuieren der Wähler­
massen, obwohl, offenbar weil die Klassengrenze anders ver­
läuft, die beiden Parteien seit alters her weltanschauliche Fär­
bung aufweisen.
Antwort: Das ist kein stichhaltiger Einwand. Die englische
Fairness ist sprichwörtlich, und es ist ihr gemäß, lieber dem
Mann als einer Partei-Plattform zu vertrauen. Weiters ist drü­
ben wie herüben die Lust am Improvisieren am Werk, das im­
provisatorische, siedlerhafte Anpassen an die jeweils sich ein­
stellende Situation, und schließlich werden die Parteien durch
ihre gemeinsame tiefgehend revolutionäre Stellungnahme ge­
gen den Staat geeint. Nehmen Sie als Beispiel die amerikani-
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sehen Lohnkämpfe. Obwohl sie nicht wie die europäischen über
eine Klassengrenze hin geführt werden, vielmehr eine Ausein­
andersetzung zwischen zwei Business-Unternehmungen sind
(denn als solche sind die amerikanischen aufgezäumt) übertref­
fen sie jene um ein Vielfaches an Wildheit, Verbissenheit und
Tricktaktik, doch wenn der Staat mildernd und schiedsrichter­
lich eingreifen will, stößt er bei beiden Partnern auf einmütiges
Mißtrauen und härtesten Widerstand, und plötzlich tritt das
Sportliche der ganzen Veranstaltung zutage: ein Streikvirtuose
wie der alte Bergarbeiterführer John L. Lewis3, rücksichtslos
bis zur Brutalität, nicht zuletzt auch gegen die Öffentlichkeit,
ist bei dieser darob sicherlich nicht beliebt, hat aber den Rang
eines Sport-Stars erster Ordnung, und gelingt es ihm gar, den
Staat und die staatliche Streikgesetzgebung hinters Licht zu
führen, so kann er eines allgemeinen, ehrlich begeisterten Bei­
falls sicher sein. Und nicht anders verhält es sich mit den politi­
schen Parteien; am Schluß gibt es da wie dort, wie eben bei je­
dem Boxkampf, ein großes Händeschütteln.
Frage: Gut, das gilt für Amerika, und ich gestehe zu, daß mit
dieser Art des Business-Sportes eine Maximalbeteiligung der
Arbeiterschaft an dem Reichtum des Landes erzielt worden ist.
Aber wo Armut herrscht oder Verarmung eingetreten ist, läßt
sich, wie ein Blick auf England zeigt, die Mithilfe des Staates
doch nicht ausschalten.
Antwort: Das hat noch niemand geleugnet. Sogar Amerika
hat in seiner Krisenzeit den »New Deal«, also eine Art Rudi­
mentärsozialismus akzeptiert, ganz zu schweigen von dem wäh­
rend der Kriegszeit. Aber das ist noch lange kein Weltanschau­
ungs-Sozialismus und nicht einmal in England ist es einer. Der
angelsächsische Geist, repräsentiert in diesen Wählermassen,
ist viel zu positivistisch, um sich von theoretischen Prinzipien
oder gar von einem erlösungsgläubigen Chiliasmus leiten zu
lassen, vielmehr verlangt er ein vorsichtiges empirisches Expe­
riment, ehe er sich zu einer definitiven Maßnahme entscheidet,
und vor allem verlangt er, daß Politik den hic-et-nunc-Be-
dürfnissen des Menschen diene, seiner augenblicklichen Not
und seinem augenblicklichen Leid, das nach sofortiger Milde­
rung verlangt. In diesem Sinn ist der englische Sozialismus zwar
nicht wissenschaftlich, wohl aber überaus politisch fundiert,
und darum hat er, da der Zeitpunkt dafür gekommen war, die
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Unterstützung jener gefunden, die in einem andern Zeitpunkt
gegen ihn gestimmt hätten.
Frage: Ihre Schilderung entspricht zwar den Tatsachen, aber
ihre Auslegung will mir doch zu wohlmeinend erscheinen. Sie
haben selber vom Hungerproletariat des amerikanischen
Südens gesprochen -, wo bleibt da die der sozialen Gerechtig­
keit zugekehrte angelsächsische hic-et-nunc-Politik? Ich sehe
bloß, daß das Problem immer wieder vertuscht und hinausge­
schoben wird.
Antwort: Das ist freilich eine im wahrsten Wortsinn recht
dunkle, aber zugleich auch höchst lehrreiche Stelle im amerika­
nischen Sozialgefüge, auf die Sie da den Finger legen. Der ame­
rikanische Süden wäre nämlich von rechtswegen revolutions­
reif, denn die Hungermassen haben hier eine kompakte
Majorität: wäre 1864 die Sezession geglückt und hätte der Nor­
den nicht mit der Sklavenbefreiung eine Partialrevolution ge­
setzt, es hätte seitdem sicherlich eine Totalrevolution stattge­
funden, während jetzt im Rahmen des Gesamtstaates, ja sogar
in dem der Gesamtarbeiterschaft das dortige Proletariat zu ei­
ner Minorität geworden ist, die teils durch Aussichtslosigkeit
jeder Auflehnung, teils durch politische Praktiken, teils durch
Terror in Zaum gehalten wird.
Frage: Und was ist an diesem fürchterlichen Bild so lehrreich
wie Sie behaupten?
Antwort: Es ist ein so überaus lehrreiches Bild, weil daran die
amerikanische Staatsfeindlichkeit besonders deutlich sichtbar
wird. Denn gleichwie einstens der Siedler sich mit unerbittlicher
Härte gegen Natur und Mensch hat behaupten müssen und da­
bei noch mit großer Fairness sich des Bedürftigen, des Hilfesu­
chenden und des Gastes angenommen hat, u. a. weil das puri­
tanische Konvenü - allerdings mit einer tüchtigen Dosis
unverhohlener Verachtung für den Erfolglosen - Wohltun for­
dert, hat der American way of life dieses moralische und wohl­
gemerkt gesellschaftliche Konvenü übernommen und hat damit
seinen Kapitalismus gezwungen, bedeutende Besitzteile sozu­
sagen freiwillig für Wohlfahrtszwecke abzugeben. Daß das auch
in sehr umfänglichem Maßstab für die südlichen Notstandsge­
biete geschieht, ist bekannt.
Frage: Nur daß es nicht genügt.
Antwort: Selbstverständlich genügt es nicht. Aber angesichts
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der Reichtümer des Landes tröstet man sich mit dem bekannten
amerikanischen Wirtschaftsoptimismus, also mit jenem bisher
so erfolgreichen wirtschaftsevolutionistischen Glauben, nach
welchem Unternehmergeist und die Erschließung neuer Er­
werbsquellen allüberall hingreifen und auch hier den Wohl­
stand schließlich heben werden. Und da die überproletarische
Arbeiterschaft, wie man sie wohl bezeichnen darf, auf eben die­
sem Wege zu ihrer jetzigen Position gekommen ist und ihre
Autos, Frigidaires und Television-Apparate erworben hat, ist
ihr nicht zuzumuten, daß sie einer Minorität zuliebe ihren
schwer genug erkämpften Lebensstandard gefährde und revo­
lutionäre Aktionen einleite, die unausweichlich von einer
schweren Initialverelendung begleitet wären.
Frage: Sie nennen das ein lehrreiches Bild? Ich kann bloß die
Lehre daraus ziehen, daß die Kommunisten recht haben, wenn
sie derlei als Verrat am Proletariat und als ein Versiegen des
angelsächsischen Revolutionsgeistes bezeichnen. Am Ende
läuft die Hilfe für den Süden auf eine Stützung der Baumwoll-
preise hinaus.
Antwort: Aus vereinzelten Mißständen kann man keinem Sy­
stem einen Strick drehen, weder dem kapitalistischen noch dem
kommunistischen; erst wenn sie typisch werden, wird die Sache
bedenklich. Und ein lediglich quantitativer Mißstand ist nie­
mals typisch; hier z. B. wäre er überhaupt nicht sichtbar, wenn
das Quantum der Notstandsaktionen ausreichend wäre. Nein,
hier ist etwas ganz anderes typisch und ebendeswegen lehrreich,
nämlich der hinter allem schwelende erbitterte Streit zwischen
der rigoros individualistischen amerikanischen Gesellschaft
und ihrem Staat: auch auf dem Gebiet der Notstandsaktionen
soll der Staat ausgeschaltet oder zumindest tunlichst zurückge­
drängt werden, und genauso wie es durchaus unkapitalistisch
gedacht ist, daß Not überhaupt gelindert werden soll, genauso
unkapitalistisch ist es (zumindest in marxistischem Licht), daß
es da gar nicht um die Beherrschung des Staates geht, sondern
letztlich um seine Annihilierung schlechthin. Die kapitalistische
Gesellschaft könnte unter dem Titel von Nothilfen den Griff
nach Steuergeldern unendlich verschärfen, entschlösse sie sich,
einen ihr entsprechenden Wohlfahrtsstaat einzurichten, aber
sie tut es nicht und darf es nicht tun, weil ihre antistaatlich-re­
volutionären Tendenzen übermächtig sind.
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Frage: Es sei denn, daß die politischen Parteien einander den
Zugriff nach den Steuergeldern neiden, fürchtend, daß die,
welche gerade am Ruder ist, die Notstandsaktionen zum Wäh­
lerfang benütze. Ich muß Sie wohl nicht an die Einrichtung der
pressure groups erinnern.
Antwort: Auch das gehört ins Kapitel der Mißstände, soferne
man es unbedingt so auffassen will; schließlich hat auch Labour
seine pressure groups in Washington. Und es ändert nichts an
dem Ur-Impuls des angelsächsischen Revolutionärverhaltens,
ändert nichts an dieser - für den Marxismus unvorstellbaren -
permanenten Auflehnung, die ohne eigentliche ökonomische
Bedrückung anarchisch jeglichen sozialen Zwang und eben vor
allem den des Staates von sich abzuschütteln trachtet, also fast
überlegungslos das nämliche anstrebt, was die sozialistische
Theorie - und vielleicht ist sogar der Londoner Aufenthalt
Marx’ dem Pate gestanden - als Endzustand der Sozialentwick­
lung hinstellt und gefördert haben will: die Überwindung des
Staates durch die Gesellschaft. Während aber der Marxismus,
gemäß seiner deutschen Gründlichkeit restlos dem dialekti­
schen Dogma verhaftet, bloß 100%ige Lösungen zulassen will
und es hiefür auf sich nimmt, den Staat bis zur 100%igen Tota­
lität aufzublähen, auf daß nach erfolgter Weltrevolution die
solcherart über-aufgepumpte Blase dialektisch zerplatze, weiß
die Nüchternheit des Angelsachsentums, daß es auf Erden kei­
nerlei 100%ige Lösungen, sondern immer nur Annäherungen
auf einem für alle Ewigkeit unendlich bleibendem Weg gibt,
und daß man daher - will man das Leid und den Wahnsinn und
die Opfersucht der 100%igkeit vermeiden - die Geduld des
langen Weges auf sich zu nehmen hat, Schritt für Schritt vor­
wärtstastend, doch mit jedem das hic-et-nunc-Leid des Men­
schen lindernd und ihn sukzessive aus den Klammern seiner
staatlichen und sonstweichen Institutionen befreiend. Das und
nur das ist Revolution in Permanenz, und hiezu hat der angel­
sächsische Mensch sich verpflichtet, in England durch seine
Tradition, in Amerika durch seine Konstitution, die eben
schließlich auch nichts anders als eine Traditionsbegründung
ist.
Frage: Was also gemeiniglich und insbesondere auch unter
politischer Freiheit verstanden wird, betrachten Sie als eine
kontinuierliche Kette von Kleinsiegen, die das Individuum ge­
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gen eine ebenso kontinuierliche staatlicher Angriffe erringt?
Antwort: Gewiß, Freiheit ist ein dynamisches Phänomen;
wäre sie ein statisches, sie würde überhaupt nicht bemerkt wer­
den, und tatsächlich wird sie bloß von demjenigen bemerkt, der
temperamentmäßig den kontinuierlichen Sieg über den Staat
braucht. Freiheit ist Befreiungsakt. Niemand weiß das so gut
wie die Diktatoren, und deshalb sind sie unaufhörlich mit Er­
satzbefreiungen beschäftigt; ob sie von drohender Fremdherr­
schaft oder vom Kapitalismus, von den Juden oder von den
Staatssaboteuren, von irgend einer Kunstrichtung oder einer
wissenschaftlichen Theorie befreien, ist dabei gleichgültig, und
fast ist es nun auch gleichgültig, ob sie selber an solche Befrei­
ungstaten glauben oder sie bloß als politisches Manöver auffüh­
ren, doch sicher haben sie nicht die leiseste Absicht, den Men­
schen hic et nunc vom Staatzu befreien. Nur die Demokratie gibt
die Möglichkeit hiezu, und deswegen ist die Freiheit des Ame­
rican way of life etwas so Konkretes, daß das Land, wenn es
nottut, sie wiederum mit der Waffe verteidigen wird.
Frage: Ich schließe daraus, daß Sie sich im Ost-West-Konflikt
rückhaltlos auf die amerikanische Seite stellen und infolgedes­
sen das Nämliche vom geistigen Menschen überhaupt verlan­
gen. Fraglich bleibt dabei allerdings, ob Ihr Urteil nicht durch
Dankbarkeit getrübt wird, denn Amerika hat Ihnen, als Ihr Le­
ben und Werk unmittelbar bedroht waren, nicht nur Zuflucht­
stätte geboten, sondern hat Sie auch, wie es Ihnen gebührt, als
hochgeehrten Mitbürger aufgenommen; derartiges vergißt man
nicht.
Antwort: Diese Dankbarkeit ist mir ebensowohl Pflicht wie
Stolz, aber ich glaube kaum, daß ich darob meinen kritischen
Sinn verloren habe, weder mir selbst gegenüber noch gegen­
über meiner neuen Heimat. Wenn meine Objektivität tatsäch­
lich beeinträchtigt sein sollte, so stünden wesentlich eigennützi­
gere Motive dahinter, denn ich brauche die amerikanische
Freiheit in meiner Eigenschaft als geistiger Arbeiter, der sich
kein Dogma aufzwingen lassen will, nicht einmal ein richtiges,
da es ohne ständigen Zweifel, ohne kritischen Zweifel über­
haupt keine geistige Arbeit gäbe.
Frage: Und worin besteht Ihre Kritik an dem von Ihnen so ge­
priesenen American way of life? Inwieferne wird hiedurch Ihre
Einstellung zum gegenwärtigen Weltkonflikt beeinflußt?
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Antwort: Der American way of life ist bisher einer des Erfol­
ges und des Reichtums gewesen, und ebendarum ist Amerika
so sehr in sich selbst verliebt, daß ihm und erst recht seiner Au­
ßenpolitik jegliche Einfühlung in den Geist anderer Nationen
fehlt, sei es nun in den der russischen oder gar in den der asiati­
schen Welt. Daß es andere Völker geben soll, welche mit der
politischen Freiheit amerikanischen Schlages nichts anzufangen
wissen, weil sie in andern Sozialbindungen leben, nicht zuletzt
in denen ihrer Religion, daß sie daher die angelsächsische Anti­
staatlichkeit sich nur höchst peripher zu eigen machen können,
ist von einer Unvorstellbarkeit, die geradezu als ungehörig
empfunden wird. Könnte die Erde nicht ein Paradies sein, be­
völkert von fröhlichen Produzenten und Konsumenten? Ist
hiefür die amerikanische Ware, der amerikanische Salesman
nicht die glänzendste Progapanda, besonders da ja die günstig­
sten Kreditbedingungen zur Paradieserrichtung angeboten
werden? Hat Gott nicht selber allüberall die schönsten Vorbe­
dingungen für jeglichen Wirtschaftsoptimismus geschaffen?
Statt dessen werfen sich die Völker dem Kommunismus in die
Arme.
Frage: Es erinnert mich an Peguys4 Wort, welches sagt, daß
ein reicher Mann schon ein sehr großes Genie sein müßte, um
sich vorstellen zu können wie jenen zumute ist, die unter den
Brücken schlafen. Und wahrlich nicht zu Unrecht erweckt
Amerika bei den Völkern den Eindruck des reichen Mannes;
es tritt ihnen gegenüber auch als solcher auf, ohne zu ahnen, daß
seine Waren, seine Frigidaires, sein ice cream, seine Autos, ja
seine Armeeausrüstung, selbst wenn er das alles als Geschenk
bringt, in erster Linie neiderweckend wirkt.
Antwort: Nirgends ist das so deutlich geworden wie in China,
in dem, vom sozialen Standpunkt aus, Amerika nichts als eine
etwa dreißigfache Vergrößerung seiner eigenen südlichen Not­
standsgebiete gesehen hat, um es auch entsprechend zu behan­
deln, also mit unzureichender privater Hilfe, hier der des »Uni­
ted China Relief«5 in New York, irgendwie dabei vergessend,
daß man im Ausland und zur Kriegszeit die Staatsscheu immer­
hin beiseite lassen könnte, zudem vergessend, daß man da mit
Hungermassen zu tun hatte, die eine kompakte Majorität und
nicht wie in Amerika bloß eine Minorität innerhalb der Ge­
samtbevölkerung bilden, und schließlich vergessend, daß im
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Süden einstens eine Sklavenbefreiung vorgenommen worden
war, während hier nichts dergleichen vorausgegangen ist. Aber
selbst wenn der American way of life nicht schon bei diesem er­
sten Schritt versagt hätte, d. h. selbst wenn Amerika imstande
gewesen wäre - und nach seinem Sieg in Deutschland hatte es
die Mittel dazu in der Hand -, seine historische Pflicht zur Anti­
sklaverei zu erfüllen und den chinesischen Bauernstand von
dem auf ihm lastenden Pachtdruck, der eigentlich Leibeigen­
schaft war, zu befreien, es hätte nichts genützt: eine psychologi­
sche Erleichterung, wie sie sich aus Sklaven- oder Bauernbe­
freiung ergibt und fürs erste sogar auch den Hunger erträglicher
macht, hält nicht lange vor, und bald wäre Amerika vor dem ge­
waltigen Problem der materiellen statt der psychologischen
Hungerbekämpfung gestanden, also vor dem Problem der
Flußregulierungen und der Verbesserung aller Transportver­
hältnisse, dem Problem neuer Industrien und dem der Ökono­
misierung der bestehenden, dem Problem einer durchgreifen­
den Landwirtschaftsmechanisierung und dem der hiezu nötigen
Hebung des bäuerlichen Genossenschaftswesens, kurzum dem
Problem mammuthafter Investierungen, die zwar dem ameri­
kanischen Markt zugute kämen, vielleicht auch das einzige Mit­
tel wären, um die in dem Land bereits investierten Kapitalien
noch zu retten, und die trotzdem nicht vorgenommen werden
könnten, nicht nur weil hiezu eine korruptionslose, sozialge­
sinnte chinesische Regierung notwendig wäre, also eine, die
mehr sein müßte als eine bloße Anleiheempfängerin, sondern
noch viel mehr, weil eine, die sich als Anleihegarant dem Ame­
rican way of life verschriebe, von vorneherein mit dem Miß­
trauen des Volkes und mit neuen Revolutionsbewegungen zu
rechnen hätte, umsomehr als für diese die Waffen immer bereit
liegen.
Frage: Mit anderen Worten, in China ist bloß eine kommuni­
stische Regierung verläßlich und anleihewürdig.
Antwort: Wenigstens wird im kommunistischen Rahmen die
Bauernbefreiung ihre psychologische Wirkung noch eine Zeit­
lang tun, obwohl die Kriegs- und Revolutionsverelendung mit­
samt ihren neuen Steuern sicherlich die auf die Pacht-Abolie-
rung gesetzten Hoffnungen zunichte machen wird, und daher
(wie beim amerikanischen Neger nach 1864) eher eine Senkung
als eine Hebung des Lebensstandards zu erwarten ist.
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Frage: Alles in allem halten Sie den American way of life nicht
für den Exportartikel, den man aus ihm macht oder machen
will, und Sie halten den Kommunismus für hiezu geeigneter,
stimmt das?
Antwort: Ja, das stimmt.
Frage: Doch daraus wäre zu folgern, daß man sich der Aus­
breitung der kommunistischen Idee weder widersetzen kann
noch darf -, hieße das nicht, daß Amerika seinen way of life
einfach fallen lassen müßte? Denn jede Ausbreitung der kom­
munistischen Idee erhöht die politische und militärische Be­
drohung Amerikas. Sie haben die amerikanische Freiheit als
etwas höchst Konkretes gepriesen, als etwas, zu dessen Vertei­
digung das amerikanische Volk den ganzen Jammer, die ganze
Gräßlichkeit eines neuen Krieges auf sich zu nehmen bereit
wäre -, hieße es nicht, daß dieser Verteidigungswille nutzlos,
sinnlos und überflüssig geworden ist?
Antwort: Ich bin mir der Tragik dieses Dilemmas durchaus
bewußt. Und ich erachte den Sachverhalt für umso tragischer
als zu den Prinzipien der Demokratie das der Nichteinmischung
gehört. Wenn ein Volk - infolge der russischen Propagandatä­
tigkeit, und wie denn auch anders - kommunistisch wird und
sich dem russischen Block anzuschließen wünscht, haben die
Demokratien gebundene Hände, haben es umsomehr als der
Volkswille, selbst wenn er - wie etwa im Fall Deutschlands -
massenwahnartige Züge annimmt, ein naturrechtliches Phäno­
men ist und als solches nach demokratischer Respektierung
verlangt. Gegen diese naturrechtlichen Ansprüche haben die
Demokratien bloß das Formalrecht zu setzen, also im interna­
tionalen Verkehr das Verlangen nach der Einhaltung von Ver­
trägen, kurzum nach Etablierung und Aufrechthaltung des
durch die jeweils in Kraft befindlichen Verträge vorgezeichne­
ten internationalen Zustandes. Nur weil Verträge Vorlagen,
konnte, ja mußte die UN gegen den arabischen Volkswillen den
Staat Israel errichten, und ebenso auf formale Gründe gestützt,
nämlich auf die feierlich besiegelte Friedenscharta, die keiner­
lei militärische Verletzung zuläßt, konnte, durfte und mußte sie
sich zum Eingreifen in Korea6 entschließen. Daß die Völker
solches Formalrecht als sachliches Unrecht empfinden, ist nur
selbstverständlich.
Frage: Ich beginne zu begreifen, warum Demokratien wie die
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amerikanische auch ihre Innenpolitik, ja die ganze Apparatur
ihres Soziallebens unter jenen rigorosen Formalismus gestellt
haben, der den Außenstehenden so überaus seltsam anmutet,
weil er sich letztlich eben doch nicht mit dem Freiheitsbegriff
verträgt.
Antwort: In der Tat kommt da eine Grund-Antinomie der de­
mokratischen Struktur zutage, und Antinomien können für den
von ihm behafteten Organismus lebensgefährlich werden.
Frage: Jedenfalls scheint für den American way of life dieser
Augenblick höchster Gefährdung eingetreten zu sein.
Antwort: Ja und nein, ja, weil jeder Kriegszustand und gar ein
so unlimitiert schwelender, wie er heute auf der Welt lastet, je­
den Staat, auch den freiheitlichsten, zur Totalität anstachelt,
dahingegen nein, weil es überhaupt kein Menschenwerk gibt,
das nicht an Antinomien leidet und auch der Sowjetismus nicht
davon ausgenommen ist. Wenn zwischen den Staatsbedürfnis­
sen und den freiheitlichen Grundtendenzen der Demokratie ein
antinomischer Riß klafft, so ist ähnliches auch im Kommunis­
mus zu konstatieren.
Frage: Zielen Sie auf jenen »Verrat am Sozialismus«, den
Trotzki7 im stalinistischen Staat aufgedeckt hat?
Antwort: Ich möchte nicht so weit gehen, wenigstens hier
nicht, denn sonst würde sich unser Gespräch allzulange hinzie­
hen. Begnügen wir uns also vorderhand mit zwei Fakten: im er­
sten zeigt sich, daß der amerikanische Verteidigungswille auf
dem American way of life beruht und diesen durch die staat­
lich-militärische Macht geschützt haben will, während der rus­
sische Angriffswille vom Staat gelenkt wird, sicherlich ohne erst
viel das Volk zu fragen, wohl aber dessen Russian way of life
als Angriffsinstrument benützend; zweitens jedoch zeigt sich,
daß die Nutzlosigkeit, die Sie mit berechtigtem Schrecken für
den amerikanischen Verteidigungswillen konstatiert haben,
auch für den russischen Angriffswillen besteht. Denn nicht nur,
daß das Wettrüsten schon an und für sich Weltverelendung be­
deutet, es würde diese durch die gigantische, die dem nächsten
Großkrieg folgen würde, unendlich übertroffen werden. Und
da der Sieger die schier unlösbare, bestenfalls in Jahrzehnten
lösbare Aufgabe der Friedensorganisierung in solch voll zerrüt­
teter Welt auf sich nehmen müßte, hätte er unweigerlich mit ei­
ner endlosen Kette von Aufständen sämtlicher Hungermassen
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des Erdkreises zu rechnen, mit einem Weltenaufruhr voraus­
sichtlich scharf-nationalistischen Charakters, kommunistisch
im Fall eines westlichen, anti-sowjetisch in dem eines russischen
Sieges, in beiden Fällen unzügelbar, da man eben nicht den
ganzen Erdkreis zu polizieren vermag.
Frage: In der Tat liegt da ein beidseitiges Risiko vor, und das
würde für die Aufrechthaltung des Friedens sprechen. Nur daß
es auf seiten der Sowjets so viel geringer als auf der westlichen
ist, verändert das Bild beträchtlich. Vor allem gäbe es selbst bei
einem Aufstand gegen die Sowjets keine Rückkehr zum Kapi­
talismus; bei einem solchen Stand der Weltverelendung, wie er
dann einträte, ist nicht anzunehmen, daß die Massen selber sich
eine kapitalistische Wirtschaft einrichteten. Ein gewisses Maß
von Verelendung gehört daher unzweifelhaft zu den Plänen der
Sowjets, zumindest soweit es Amerika angeht, denn genau so
wie es innerhalb des Eigenstaates keine bevorzugten Klassen
mehr geben soll, so soll es auch keine ökonomisch bevorzugten
Nachbarstaaten mehr geben; da wie dort wird eine Nivellierung
auf einer ziemlich tiefliegenden Ebene angestrebt, von der aus
dann der allgemeine Wiederaufbau zu beginnen hätte. Amerika
aber wird dadurch in die unangenehme Lage versetzt, seinen
Reichtum verteidigen zu müssen, so daß der idealistische Ver­
teidigungswille des Landes, dessen Nutzlosigkeit ich vordem
behauptet habe, außerdem zu einer Art negativen Imperialis­
mus depraviert wird. Und als Angreifer hat Rußland es in der
Hand, den Krieg und damit die Kriegsverelendung zu dosieren
und zu limitieren; wenn Amerika nicht allzusehr provoziert
wird, so wird es in seiner nur allzu berechtigten Scheu vor den
ungeheuren Risiken eines Universalkrieges durch eine Reihe
von Halb- und Viertelkriegen schließlich in einen Zustand so
arger psychischer und ökonomischer Erschöpfung geraten, daß
es den Universalkrieg nicht mehr wird wagen können. Die So­
wjets haben eine neue Art Expansionspolitik erfunden, ich
möchte sie Nivellismus statt Imperialismus nennen.
Antwort: Trotzdem sind wir uns wohl darüber einig, daß die­
ser Nivellismus, der eine überaus zutreffende Bezeichnung für
diese Art Anti-Imperialismus darstellt, keineswegs risikolos ist.
Und wenn es auch Risiken sind, die gemäß kommunistischer
Prinzipien eingegangen werden müßten, es würde der russische
Staat, der sie einzugehen hat, sie nicht auf sich nehmen, wenn
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sie nicht seinen eigenen Bewegungsmechanismen entsprächen;
der Staat, der russische so gut wie jeder andere, handelt aus­
schließlich nach seinen eigenen Prinzipien.
Frage: Ich vermute, daß sie die der Geopolitik8 meinen, unge­
achtet der Diskreditierung, unter der sie stehen, seitdem sie zur
Bibel des Nazi-Staates geworden waren.
Antwort: Mißbrauch hat noch niemals eine Theorie entkräf­
tet; wenn sie Wahrheitsgehalt besitzt, so fußt er nicht auf ihrer
Verwendung, sondern auf den von ihr vorgetragenen Fakten.
Und daß der Staat - zumindest seiner Idee nach —ein strategi­
sches Gebilde darstellt, ist ein Faktum. Der antike Stadtstaat
war eine Festung und weiter nichts; der moderne Großstaat ist
es noch immer. Mit vollem Recht hat das römische Imperium,
das Urbild des modernen Staates, den Namen der Stadtburg
beibehalten, aus der es hervorgegangen ist, ihr ungeheueres
Vorfeld, trotzdem immer noch ihr allein zugehörig: Roma.
Denn der Staat als Festung (ursprünglich die Festung als Staat)
ist wesensgemäß zum Dauerschutz der Inwohner bestimmt ; der
Auftrag lautet auf dauernde Behauptung gegen eine feindliche
Außenwelt, und hiefür muß eine Doppelbedingung erfüllt wer­
den: erstens muß der Staat sowohl verteidigungs- wie material­
autark sein (also ein entsprechend bevölkertes, entsprechend
materialreiches, entsprechend fruchtbares Gebiet umfassen,
das ihm nicht nur genügend Verteidigungsmannschaft, sondern
auch deren Ausrüstung und Verpflegung autark liefert), und
zweitens muß er sein Gebiet zu sogenannt »natürlichen« Gren­
zen vorschieben, welche (als Großflüsse, Wüsten, Gebirgs-
wälle, Meeresufer) ihm eine maximal günstige strategische
Verteidigung bieten. Solange ein Staat diese beiden Grundbe­
dingungen nicht wenigstens annäherungsweise erfüllt, empfin­
det er sich als unsaturiert und bleibt prinzipiell kriegerisch.
Frage: Nichtsdestoweniger, auch ohne Berufung auf die ver­
fehlten Nazi-Pläne, ist die Prävalierung des strategischen Mo­
ments anfechtbar. Just das Gegenteil ist im Zeitalter des Impe­
rialismus wahr geworden; die Wirtschaft steht nicht mehr im
Dienst der militärischen Staatssicherheit, sondern hat ihrerseits
das Kommando über den Militärapparat übernommen und be­
nützt ihn, um selber reicher und reicher zu werden, zur Nieder­
werfung und Niederhaltung ausbeutungswürdiger schwächerer,
wehrloser Länder. Mag auch bei zunehmendem Reichtum die
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Kriegslust abnehmen, ja die Neigung zum Neutralismus wach­
sen, es gibt letztlich keinen saturierten Reichtum, und damit
fällt auch Ihre Theorie von der strategischen Saturiertheit und
deren Friedfertigkeit letztlich in sich zusammen.
Antwort: Was Sie da als Imperialismus schildern, ist einfach
Kolonialismus, und ich habe im Grund nichts dagegen, denn die
Sucht nach Vergrößerung des Staatsgebietes zwecks Gewin­
nung idealer Grenzen ist Saturierungszwang, aber nicht Impe­
rialismus, der zumeist nichts anderes als ungeordnete Raffsucht
ist. Daß eine solch geradezu staatswidrige Ungeordnetheit, die
selbst noch heute die ihr von den Konquistadoren und den
Praktiken der Ostindischen Handelskompanie9 aufgedrückten
Züge trägt, sich jahrhundertelang gehalten hat und im 19. Jahr­
hundert sich als Minen- und Plantagenkolonialismus sogar hat
systemisieren und festigen können, würde beinah ans Wunder­
bare grenzen, wenn das ein Definitiv- und nicht nur ein (aller­
dings sehr verlängertes) Primitivstadium gewesen wäre: seit der
Jahrhundertwende wird es immer klarer, daß die Kolonien nur
selten noch richtige Reichtumsquellen für das Mutterland sind,
ja daß sie ihm auch als Markterweiterungen nur geringe Vor­
teile bieten, daß sie aber dafür eine neue Bedeutung gewonnen
haben: die Kolonialreiche haben sich fast unmerklich zu strate­
gischen Autarkie-Blocks gewandelt; das Wirtschafts-Kom­
mando in der Weltpolitik hat sich als verhältnismäßig kurzes
Interregnum erwiesen und ist nun - wie das am Problem der
Öl-Autarkie besonders klar geworden ist - wieder von dem der
Strategie abgelöst worden.
Frage: Sonderbarerweise sind aber die großen Ölvorkommen
fast durchwegs in neutralen Händen oder in denen von undefi­
nierbaren Halbstaaten.
Antwort: Das ist es ja eben. Wer ist neutral? Unsaturierte
Staaten sind es, oder genauer gesagt solche, die keine Möglich­
keit mehr vor sich sehen, die beiden Grundbedingungen der
Saturiertheit, nämlich Autarkie und strategische Idealbegren­
zung, je gleichzeitig zu erfüllen. Miniaturgebilden wie Monaco
sind beide versagt, den anderen bloß eins von den beiden. Die
Schweiz z. B. verdankt ihre nun jahrhundertealte klassisch ge­
wordene Neutralität, die man wohl als »echte« Neutralität an­
sprechen darf, ihrer (für die einstigen Kriegsmittel) strategi­
schen Unzugänglichkeit, und das nämliche gilt für die
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skandinavischen Staaten; hätte die Schweiz eine Gebietserwei­
terung gesucht, um ihre schwindende Wirtschaftsautarkie wie­
derzugewinnen, sie hätte ihre strategische Position verloren,
und so hat sie sich mit dieser begnügt. Umgekehrt besitzen
Staaten vom Neutralitätstypus der Niederlande zwar Autarkie
(zumindest auf dem der Ernährung), müssen sich aber dafür mit
vollkommen ungeschützten Grenzen begnügen, da sich diese
durch keine noch so ausgedehnte Gebietserweiterung strate­
gisch verbessern lassen. Das bedeutet, daß der Grenzschutz ei­
nem mächtigem Nachbarn übergeben werden muß, und eben-
hiedurch entsteht jene von der »echten« scharf unterschiedene
»unechte Neutralität«, da sie mit dem Aufkommen des Kolo­
nialismus aufs engste verschwistert, ja vielleicht sogar für ihn
verantwortlich ist: der Neutralstaat dieses Typus verzichtet
zwar auf Gebietserweiterungen des Mutterlandes, ist aber Teil
wesentlich größerer strategischer Kombinationen geworden,
Teil eines strategischen »Blocks«, und geschützt von diesem
Block wird er zum imperialistischen Zentrum mit kolonialer
Ausbreitung. Statt der limitierten Staatssaturiertheit wird unli­
mitierte Kolonialsaturiertheit angestrebt.
Frage: Entspringt also auch der englische Kolonial-Imperia-
lismus einem Zustand mangelnder Saturiertheit? Ich hatte bis­
her den Eindruck, als zielten Sie mit der Idee der Saturiertheit,
die ja ohne irgendeine Konkretisierung sinnlos in der Luft hän­
gen bliebe, in erster Linie auf England.
Antwort: Die Bezeichnung Saturiertheit muß auf den ganzen
anglo-amerikanischen Block angewandt werden, damit sie Sinn
erhalte. England hat einstmals gleich der Schweiz den Vorzug
einer unangreifbaren strategischen Position genossen, und
gleich der Schweiz hat es infolge Bevölkerungszunahme und
landwirtschaftlichen Rückgangs seine Autarkie eingebüßt,
konnte aber dagegen seine insulare Lage ausnützen, insbeson­
dere vermittels energischen Flottenausbaues, so daß es kolonial
die Autarkie-Einbuße nicht nur wettzumachen vermochte - der
kanadische Weizen spielte hiebei keine geringe Rolle son­
dern zugleich auch alle andern Kolonialmächte weitaus über­
flügelte. Der einzige schwache Punkt im Saturierungs-System
war Kanada, da es auch dem amerikanischen angehörte. Denn
wenn auch die Vereinigten Staaten keine konkurrierende Ko­
lonialmacht waren und ihre Wirtschaftsautarkie am allerwenig­
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sten ein Wald- und Weizenland wie Kanada benötigte, es war
dieses doch eine unerwünschte Enklave im Nordkontinent, der
zwecks Erreichung idealer strategischer Grenzen - ein Ziel, das
seit dem Jahrhundertanfang feststand und nach Wiederkonso­
lidierung der Unions-Einheit 1864 mit doppelter Intensität
verfolgt wurde - zur Gänze einbezogen werden sollte. Der
Wahnsinn einer kriegsbereiten, beidseitigen Befestigung der
riesigen Dominionsgrenze mußte vermieden werden, und er
wurde vermieden: das Flottenabkommen10, mit dem England
sich verpflichtete, die ganze amerikanische Ostküste unter den
Schutz seiner Atlantik-Flotte zu stellen, wurde der Grundstein
des angloamerikanischen Blocks und ermöglichte die Pax Bri-
tannica, den verhältnismäßig ruhigen Zustand des 19. Jahrhun­
derts, in dem die englische Macht als Führer der Kolonial­
mächte und Hüter des europäischen Gleichgewichts wirkte,
während Washington freie Hand zur Abrundung seiner Süd-
und Westgrenze erhielt; der Krieg gegen das von England zu
diesem Behufe preisgegebene Spanien war also, obwohl Über­
rumpelung und Vergewaltigung eines Schwächeren, keines­
wegs in der üblichen Weise als imperialistische Kolonialunter­
nehmung zu werten, vielmehr war er der letzte und definitive
Schritt zur strategischen Saturierung des Nordkontinents, hatte
zur Sicherung des Panamakanals getan werden müssen, um die
amerikanische Flotte zur Lösung der ihr zugefallenen Aufgabe
zu befähigen, nämlich zum Schutz der Westküste und zur Poli-
zierung des Pazifiks, auf daß daselbst die Pax Americana stö­
rungsfrei bleiben möge.
Frage: Unzweifelhaft ein großangelegtes Konzept, dennoch
eines, das den Keim alles künftigen Unheils in sich trug, da es
die Kolonialvölker zu dauernder Ohnmacht verurteilen wollte
und sich außerdem gegen Rußland richtete, also von vorneher-
ein jene Gemeinsamkeit zwischen ihnen statuierte, die heute zu
solcher Bedrohung für den Westen geworden ist.
Antwort: Es richtete sich nicht nur gegen Rußland, nein, es
richtete sich gegen alle unsaturierten Staaten und gegen ihre
stete, eben durch Unsaturiertheit hervorgerufene Kriegsbe­
reitschaft. Rußlands Unsaturiertheit lag in der Sorge um die in
ihrer ungeheueren Ausdehnung (mit Ausnahme des Kauka­
sus-Stückes) strategisch völlig ungeschützte West- und Süd­
grenze, und die Ansprüche auf Grenzverschiebung wurden
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auch als Forderung von Zugängen zu den warmen Meeren, als
Pflicht zur Befreiung der slawischen Brüder, als Recht der
nicht-uniierten Kirche auf das oströmische Erbe deutlich genug
angemeldet, und wenn sie auch zugunsten einer statischen Poli­
tik geduldigen Zuwartens zurückgestellt werden konnten, ei­
nesteils weil dies durch die ohnehin vorhandene Autarkie er­
möglicht war, andernteils weil unter den damaligen Verhältnis­
sen die sibirische Grenze nicht unmittelbar gefährdet erschien,
das Volumen des Reiches allein bildete eine konstante, ja die
Hauptgefahr für den Status quo und seine friedliche Aufrecht­
haltung. Weitaus dynamischer dagegen war die Unsaturiertheit
der beiden weltpolitischen Zuspätkommer Deutschland und
Japan, sie beide überbevölkert und überindustrialisiert, jenes
außerdem wie Rußland mit strategisch unbefriedigenden
Grenzen, dieses nach Kolonial-Autarkie strebend, beide je­
doch in Konkurrenz mit Rußland stehend. Und war auch diese
deutsch-japanische Zange, in der Rußland sich befand, dem
anglo-amerikanischen Block höchst akzeptabel, es war weit
weniger akzeptabel, daß Deutschland seinen Zangenarm bis
Arabien verlängern wollte und Japan mit dem Schlagwort
»Asien den Asiaten« zu operieren begann. All das mußte aus­
balanciert werden, und so wurde Japan 1905 in seinem Angriff
auf Rußland zwar (im Rahmen des britisch-japanischen Bünd­
nisses) unterstützt, aber Deutschland an der Beteiligung gehin­
dert, und der Frieden von Portsmouth11fand die Alliierten ganz
auf der russischen Seite.
Frage: Kurzum, Sie bleiben bei Ihrer Prävalenz des Strategi­
schen, und vor allem sehen Sie Ihre Theorie an der britischen
Weltfriedens-Konstruktion des 19. Jahrhunderts bestätigt.
Antwort: Vergessen Sie nicht, daß auch das anglo-amerikani-
sche Saturierungs-Bündnis strategisch war. Wären die beiden
Länder nicht strategisch, sondern bloß wirtschaftlich aufeinan­
der angewiesen gewesen, sie hätten einander mit all der Hab­
sucht und Raubgier betrachtet, an denen das Verhältnis zwi­
schen nicht-saturierten Staaten krankt. Mit Wirtschaftsbünd­
nissen allein ist eben nichts getan; bloß strategische sind
haltbar, und Staaten, welche potentiell keine gemeinsamen
Gegner haben, sind verurteilt, füreinander potentielle Feinde
zu bleiben, sind zum Wettrüsten verurteilt, da nur gegenseitige
Furcht, also das Gleichgewicht ihrer Kräfte sie zu verhindern
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vermag, übereinander herzufallen. Indem der anglo-amerika-
nische Block die gesamte übrige Welt in Schach zu halten ver­
mochte und ihr Gleichgewicht unter Kontrolle hielt, hat er sie
einigermaßen zur Respektierung des Status quo gezwungen und
ihr damit einen immerhin haltbaren, jedenfalls halbwegs er­
träglichen Frieden auferlegt.
Frage: Eine ziemlich furchtbare Konstatierung. Denn sie be­
sagt, daß Zwang unvermeidlich ist, oder daß die Vernunft erst
dann zu Wort gelangt, wenn alle andern Mittel versagt haben.
Antwort: Das wird wohl stimmen.
Frage: In meinem Dafürhalten aber, um zu unserem Grund­
thema zurückzukommen, hat der Intellektuelle unter allen
Umständen für die Wirksamkeit der Vernunft einzutreten.
Wenn die Herrschaft der Unvernunft in der Politik tatsächlich
so unbrechbar sein sollte, wie Sie es schildern, hat der geistige
Arbeiter kaum eine andere Wahl als sich so rasch als möglich
in seinen Elfenbeinturm zurückzuziehen.
Antwort: Wir wollen, bevor wir solche Entscheidung treffen,
doch noch ein wenig die Situation betrachten. Denn die Sucht
der Staaten nach Saturierung war einstmals vernünftig, und
man hat sie mit Recht Staatsräson genannt; jetzt ist sie unver­
nünftig geworden. Und die Gleichgewichtspolitik war sicherlich
im 19. Jahrhundert vernünftig, aber sie ist schließlch infolge
fortgesetzter Rücksicherungen und Gegengleichgewichte so
kompliziert, ja geradezu antinomisch geworden, daß sie
schließlich ein vollkommen unvernünftiges Aussehen bekam.
Und obwohl die Schaffung einer Friedensorganisation an und
für sich als durchaus vernünftiger Gedanke, ja als Sieg der Ver­
nunft erscheint, sie verkehrt sich zur Unvernunft, wenn man
zugleich damit auch die Prinzipien der Staatsräson, des Saturie-
rungsstrebens und des Kräftegleichgewichtes beibehalten will.
Erinnern Sie sich, daß man in Versailles wieder einmal etwas
geschaffen hatte, das nun unter der Ägide des Völkerbundes für
ewig als Status quo gelten sollte, wobei anstelle des ausgeschal­
teten, allerdings dann doch bald wieder zum Bund aufgerufe­
nen Deutschlands den sogenannten Nachfolgestaaten die
Funktion zugedacht wurde, den Westteil der den russischen
Koloß einschließenden Zange zu bilden. Die Struktur brach zu­
sammen, als das hitlerisierte Deutschland sich loslöste, aus dem
Völkerbund wieder austrat, um aufs neue, und jetzt in deutli-
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eher Übereinstimmung mit Japan, das den Vormarsch in der
Mandschurei angetreten hatte, seine Saturierungsansprüche
vorzubringen. Als Gegenzug wurde die Portsmouth-Situation
wiederhergestellt, nämlich die Einbeziehung Rußlands und
insbesondere seiner nun tatsächlich unmittelbar gefährdeten
sibirischen Grenze in den Status quo, also in den Schutz durch
den Völkerbund, so daß nun in diesen die Russen unter Litwi-
nows Führung triumphal einzogen. Aber das alte Gleichge­
wichtsspiel des Westens ließ sich nun plötzlich nicht mehr fort­
setzen. Weder ließen sich Deutschland und Japan durch die
westliche Bevorzugung Rußlands einschüchtern (umsoweniger
als man die antibolschewistischen Gefühle des Westens
kannte), noch war Rußland gewillt, an dem Spiel teilzunehmen
(umsoweniger als es sich von den hitlergefährdeten Nachfolge­
staaten nicht mehr bedroht fühlte), und so versuchte Chamber-
lain noch einmal das Steuer umzuwerfen und Deutschland auf
die Westseite zu ziehen. Es scheiterte an Hitlers barbarischem
Größenwahn, gab aber Rußland den erwünschten Vorwand,
die Front der Nachfolgestaaten von Finnland her aufzurollen.
Frage: Gut, das ist Historie. Ob Sie damit die Vernunft oder
die Unvernunft der Entwicklung dartun wollten, haben Sie
nicht verraten. Ich sehe darin nur den Nonsens des strategi­
schen Standpunkts. Hätte man in Versailles eine neue Welt
ohne Gleichgewichtsspekulationen, ohne Zangen, ohne Puf­
ferstaaten usw. errichtet, so hätte es keinen Hitler und keinen
zweiten Weltkrieg gegeben. Es ist also Zeit, daß wir heute damit
aufräumen und uns der Vernunft, nicht zuletzt einer wirtschaft­
lichen Vernunft zuwenden. Warum sollen unsere Wünsche von
1945 sich nicht doch noch erfüllen? Damals haben wir uns eine
rüstungslose Welt vorgestellt, dazu einen befriedigenden un­
eingeschränkten Güteraustausch zwischen Ost und West, also
einen sukzessiven Ausgleich des krassen Unterschieds zwischen
den Überfluß- und Mangelwirtschaften, und eben damit wäre
wohl ein ständig zunehmender Weltwohlstand eingeleitet gewe­
sen. Ein großartiges und einmaliges, weltumspannendes Wirt­
schaftsexperiment schien sich vorzubereiten, eine unter Leitung
der UN vorzunehmende und durch keinerlei Staatsvor­
schriften oder -verböte gehemmte freie Untersuchung der
verschiedenen Wirtschaftsregionen aller Länder, nicht zuletzt
hinsichtlich der Anwendbarkeit, der Resultate, der Vor- und
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Nachteile von Kollektivierungen, Sozialisierungen, Kommu-
nisierungen gegenüber einzelwirtschaftlichen Betrieben, so
daß man auf Grund solcher Materialsammlungen im Ver­
gleich der beiden Wirtschaftssysteme schließlich zum Ansatz
einer Weltplanung hätte gelangen können, um die einzelnen
Regionen zu optimalen Lebens- und Produktionsbedingungen
zu bringen.
Antwort: Ja, so ähnlich hat der Traum von 1945 ausgeschaut,
doch wahrscheinlich hat Roosevelt, obwohl er ihn irgendwie
geteilt hat, sich - im Gegensatz zu Wallace12 - nicht vielen Illu­
sionen darüber hingegeben.
Frage: Es ist die Illusion des Kompromisses. Schließlich ist je­
der Friede Kompromiß, ist in dialektischer Ausdrucksweise
Synthesis zwischen Thesis und Antithesis, ja gewinnt gerade
hiedurch seine Fruchtbarkeit, und daraus folgt, daß Friedens­
partner umso kompromißwilliger sein müssen, je kontrastie­
render ihrer beider Standpunkte sind, und hier sind es eben die
zweier Staatenblocks und zweier Wirtschaftssysteme.
Antwort: Roosevelt war ein Meister des Kompromisses, und
die Zugeständnisse an Rußland in Jalta waren sicherlich als
Abschlagszahlungen zur Anbahnung eines Weltkompromisses
gedacht. Zwischen Churchill und Stalin stehend, die beide,
wenn man das so ausdrücken darf, Saturierungspolitiker sind,
dabei selber Vertreter des anglo-amerikanischen Saturierungs-
blocks, mußte er diesen tunlichst intakt erhalten, hatte aber die
Vorstellung, man könnte das durch eine Block-Erweiterung,
also durch die Einbeziehung Rußlands bewerkstelligen: was die
kanadisch-amerikanische Grenze bisher war, nämlich eine un­
geschützte Demarkationslinie, das hätte nun als ähnliches
Freundschaftssinnbild die einstmals so gefährliche russische
Südgrenze werden sollen, die ja ebenhiefür bis zur Linie Ham-
burg-Mukden vorgeschoben wurde, und die zusätzliche
Block-Ausdehnung auf China und Frankreich geschah nicht
nur, weil die beiden sich durch ihre Kriegsleiden ein Anrecht
darauf erworben hatten, sondern noch viel mehr, weil dargetan
werden sollte, daß die Gleichgewichtspolitik des anglo-ameri­
kanischen Blocks, zu deren Objekten einstmals auch diese bei­
den Länder (insbesondere in deren Verhältnis zu Deutschland
und Japan) gehörten, nicht mehr besteht; die big five hätten in­
nerhalb der UN die gleiche Arbiterrolle zu erfüllen gehabt, die
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England (unter amerikanischer Rückendeckung) einstmals für
sich allein beansprucht hatte. Und wäre der erweiterte Block
gleich dem ursprünglichen ein strategischer gewesen, hätte er
gleich jenem einen Gegner gehabt, er hätte wahrscheinlich
gleichfalls funktioniert, doch da potentielle Gegner nur noch
interplanetar zu finden wären, war er nichts als eine bloße Ana­
logie-Konstruktion, und mit Analogien läßt sich keine Politik
betreiben.
Frage: Ob Analogie oder nicht, es stand kaum eine andere
Friedenskonstruktion als die der UN zur Verfügung, und das
Friedensbedürfnis der Welt war, ja ist nach wie vor so groß, daß
man damals hoffen durfte und heute noch hoffen muß, daß es
die innern Zwistigkeiten überwinden wird.
Antwort: Das Friedensbedürfnis der Welt war immer vorhan­
den; es hat noch nie einen Weltaugenblick gegeben, der nicht
vom Friedensbedürfnis erfüllt gewesen wäre, und immer noch
hat dieses dem Saturierungsbedürfnis der Staaten weichen
müssen. Es ist also kaum anzunehmen, daß Rußland gerade
heute, da die Erfüllung seiner Saturierungswünsche sozusagen
auf Griffnähe herangerückt erscheint, von ihnen abstehen wird.
Kein verantwortungsbewußter russischer Staatsmann dürfte
das wagen. Und er darf [es] umsoweniger tun als 1945 die
Menschheit das Geschenk der Atombombe und der Rockets
empfangen hat und daran sichtbar geworden ist, daß kein auf
seine Verteidigung bedachter Staat es sich leisten kann, den
Bestand interkontinentaler Grenzen zu dulden, längs denen,
seine vitalen Zentren bedrohend, die Errichtung feindlicher
Flugplätze zu gewärtigen wären: für Rußland gibt es heute nur
eine einzige Art wirklicher strategischer Saturierung, und das
ist die Kontrolle über ganz Eurasien und das Mittelmeerbecken.
Frage: Das hieße, daß dem anglo-amerikanischen Block bloß
Südafrika und Australien verbliebe, ansonsten sich aber auf den
amerikanischen Kontinent zurückzuziehen hätte. Und es hieße
nicht nur die Auslieferung des englischen Mutterlandes sowie
Skandinaviens an Rußland, sondern auch die Auslieferung des
europäischen Katholizismus an die griechische Kirche; für die
Päpste müßte ein neues Avignon in Kentucky errichtet werden.
Antwort: Vor allem würde der russische Block mehr als zwei
Drittel der gesamten Erdbevölkerung umfassen, und es ist
kaum einzusehen, warum eine solche Übermacht dann just an
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der Sahara-Linie haltmachen soll. Die Waffen- und Flugtech­
nik wird noch weiter vorschreiten, und von Dakar aus ist sowohl
Südafrika wie Südamerika erreichbar, wahrscheinlich sehr zur
Freude der farbigen Hungermassen, die da in den Kaffeeplan­
tagen, dort in den Diamantengruben Sklaven. Doch so sehr die
bisher unterlassene Befreiung dieser Massen eine Versündi­
gung des Westens darstellt, ähnlich seinen Unterlassungssün­
den in Asien, es ist für ihn, vom Standpunkt der Staatsmechanik
aus gesehen, in der erwartbaren rapiden Weitervervollkomm­
nung der Flug-, Bomben- und Waffentechnik eine letzte Hoff­
nung gegeben, nicht etwa weil er diese neuen schönen Dinge zu
einem Angriff auf Rußland wird verwenden können, wohl aber
weil an ihnen der ganze Nonsens der staatlichen Saturierungs-
sucht, oder richtiger und wichtiger, deren Nutzlosigkeit sich er­
weisen wird. Freilich erlischt diese Hoffnung, wenn die Sowjets
das absolute Weltübergewicht erringen, doch gelingt es, ihren
Vormarsch vorher zu verlangsamen, so wird ihnen die neue
Technik voraussichtlich klarmachen, daß die Idee der durch die
Ozeane gebildeten idealen strategischen Grenze bereits über­
holt und veraltet ist, kurz, daß der Krieg transozeanisch vor sich
gehen würde und es weder für den einen noch für den andern
Teil irgendwelche Sicherheit geben [wird]. Das ist die Einsicht,
unter der dann ein Kompromißfrieden zustande kommen mag,
denn eine UN, die von der Saturierungsbelastung befreit wäre,
könnte merkwürdigerweise ein wirklich operables Friedensin­
strument werden.
Frage: Die Chancen hiefür sind leider sehr gering.
Antwort: Sie beruhen auf einem einzigen Faktum: Rußland
scheut genauso wie der Westen den universalen Krieg und
trachtet daher, allerdings nicht aussichtsvoll, mit friedlichen
und halbfriedlichen Mitteln das Auslangen zu finden.
Frage: Und es ist durchaus zu erwarten, daß sie damit das
Auslangen gefunden haben werden, ehe diese oder jene neue
Waffe ihnen die Sinnlosigkeit ihrer Politik vor Augen geführt
haben wird, und weder sie noch die Völker, nein, erst spätere
Zeiten werden erkennen, daß da Nutzloses geschehen ist. Was
aber soll der Westen in diesem Fall tun? Soll er sich mit allem
Schmerz über die Preisgabe Englands in seine ehemalige Isola­
tionshaltung zurückbegeben? Soll er den Engländern und den
kontinentalen Völkern eine Gandhische non-resistance an­
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empfehlen? soll er sich selber darin üben? In einer totalitären
Welt ist ja nicht einmal civil resistance möglich; eine solche läßt
sich terroristisch ohneweiters beseitigen, und ein Hunger-Mär­
tyrer wäre verschwunden, ehe er noch zu hungern begonnen
hat.
Antwort: Sie mögen es ruhig Isolationismus nennen, denn da­
mit ist noch nicht gesagt, daß er jene reaktionäre, fast hitler­
freundliche Färbung haben müsse, die [er] vor 1940 hatte. Im
Gegenteil, es müßte, der amerikanischen Tradition getreu, ein
revolutionärer Isolationismus sein. Ich hatte vorher ausgeführt,
daß die amerikanische Freiheit ein äußerst konkretes Phäno­
men sei, daß sie in ihrer konstanten Auflehnung gegen die
staatliche Institution, in ihrer Bemühung um die Einschränkung
der Staatsmacht geradezu als Revolution in Permanenz be­
zeichnet werden darf —nicht zu verwechseln mit dem Terror in
Permanenz und gerade da wäre anzusetzen: diese seit Lin­
coln leise und kaum merklich gewordene Revolution hat wieder
laut zu werden.
Frage: Ihre Definition der amerikanischen Freiheit als kon­
kretes Phänomen hat mich überzeugt, aber ich sehe nicht, wie
Ihre Forderung nach Intensivierung des mit der Freiheit ver­
bundenen und sie tragenden permanenten Revolutionismus
konkretisiert werden soll. Marxistisch gesprochen gäbe es bloß
eine einzige konkrete Fortsetzung der amerikanischen Revolu­
tion, die soziale.
Antwort: Ich möchte nicht wiederholen, daß für die soziale
Revolution in Amerika die Klassengrenze zu tief gelagert ist,
also das revolutionswillige, revolutionsbedürftige Proletariat
eine zu kleine Minorität bildet; man kann nicht Vizedirektoren
gegen Direktoren revolutionieren. Eher ließe sich sagen, daß
im Vergleich mit dieser spezifisch amerikanischen Sozialein­
heitlichkeit die ganze übrige Welt Proletariatscharakter besitzt,
daß sich also zwischen ihr und Amerika eine Art vertikale Klas­
sengrenze befindet, über die hinweg nun ihr von Rußland ge­
führter antiamerikanischer Aufstand erfolgt. Wenn man also
vom amerikanischen Revolutionismus und seinem permanen­
ten Freiheitskampf spricht, so darf man nicht vergessen, daß in
diesem Volk, so sonderbar das auch marxschen Ohren klingt,
eine moralische Tradition lebt: die Negerbefreiung war, allen
materialistischen Ausdeutungsversuchen zutrotz, die Liquidie-
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rung einer moralisch unhaltbar gewordenen Situation. Um
diese moralische Tradition geht es jetzt, wenn Amerika sich und
seinen American way of life erhalten will. Und das wird auch
gespürt. Truman, ein Durchschnittsmensch und Durchschnitts­
amerikaner - gerade das will er sein, und gerade das ist seine
Stärke - hat mit richtigem Instinkt seinem Programm den Punkt
vorangestellt, auf den es jetzt ankommt, den Punkt der civil
rights.13
Frage: Ich fürchte, daß Sie damit dem südamerikanischen In­
dio, dem mexikanischen Kleinbauern, dem chilenischen Mi­
nenarbeiter, dem brasilianischen Kaffeepflücker wenig helfen
werden, und daß die alle mit gutem Erfolg nach Dakar blicken
werden, wenn einmal die russische Kontrolle so weit ausge­
dehnt sein wird.
Antwort: Sollen die Vereinigten Staaten sich deswegen zu
marxistischen Prinzipien bekennen? Gewiß würde ihnen, täten
sie es, dann Mexiko sofort nachfolgen, ja es wäre vielleicht das
einzige Mittel, um die nordamerikanische Strategie-Saturie-
rung 100%ig bis zum Panamakanal vorzutreiben, doch wir
wollen uns klar sein, daß derartiges den in Südamerika ohnehin
vorhandenen Fascismus zur Weißglut steigern würde; es be­
steht ja die Gefahr, daß jedes Vorrücken der Russen und gar
eines bis Dakar schon eine solche fascisierende Wirkung aus­
üben wird. Wir wollen uns nicht in allzu wüsten Phantasien er­
gehen, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß dann das kommuni­
stische Nordamerika genau mit den gleichen Methoden wie
denen, die Rußland jetzt in Eurasien anwendet, sich des Süd­
kontinents bemächtigen wird, ja mehr noch, daß der Antago­
nismus zwischen dem West- und Ostblock sich womöglich noch
verschärfen könnte, denn wenn schon ein Tito sich die russische
Bevormundung nicht gefallen lassen will, so wird es ein kom­
munistisches Amerika noch viel weniger tun wollen.
Frage: Im Fall Chinas aber haben Sie es der amerikanischen
Politik zur schwersten Versäumnisschuld angerechnet, daß sie
ihrer traditionellen Pflicht zur Sklaven- und Bauernbefreiung
nicht nachgekommen ist und sich statt dessen mit ihrer ebenso
traditionellen privaten Notstandshilfe begnügt hat, die neben­
bei in Südamerika nicht einmal anwendbar wäre. Indem Sie sich
im Fall Südamerika auf die Unmöglichkeit eines Eingreifens
berufen, enthüllen Sie den Standpunkt des bürgerlichen Hu­
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manitärismus, wie er von den Marxisten genannt wird, den
Standpunkt einer Armenfürsorge, der zuliebe zwar Opfer ge­
bracht werden sollen und Opfer gebracht werden, von der man
aber sofort absteht, wenn sie mit der Aufrechthaltung der bür­
gerlichen Wirtschaftsordnung kollidiert.
Antwort: Nein, wenn sie mit der Aufrechthaltung der Freiheit
in einer Weise kollidiert, daß diese, wenn schon nicht für im­
mer, so doch für lange Zeit hinaus völlig von der Erdoberfläche
verschwinden könnte. Wir sprechen von der möglichen, nur all­
zumöglichen Isolierung Amerikas, und das würde nicht nur eine
strategische Isolierung sein: nein, die Vereinigten Staaten wür­
den einer totalitären Welt gegenüberstehen, einer kommunisti­
schen in Eurasien, einer fascistischen in Südamerika, und sie
wären das einzige Land, in dem die Freiheit des Menschen in
ihrer Konkretheit noch erhalten werden könnte, vorausgesetzt,
daß der sie tragende revolutionäre Geist nicht erlahmt.
Frage: Daß diese Freiheit ein Produkt des amerikanischen
Wohlstandes ist, brauche ich nicht zu unterstreichen. Sie ist also
ein Luxus, überdies einer, der eigentlich, wie Sie selber zugege­
ben haben, bloß dem Intellektuellen wirklich zugutekommt. Ist
es da nicht wichtiger, daß solche Freiheit zurückgestellt werde,
damit vorerst jeder Hungernde ein Stück Brot bekomme?
Antwort: Ich glaube, daß Sie Ihre Frage falsch stellen, denn
Totalitärismus, der fascistische ebensowohl wie der kommuni­
stische, bedeuten Terror, und unter dem haben die Massen
nicht weniger als der Intellektuelle zu leiden. Gibt es keinen an­
dern Weg zur Erreichung sozialer Gerechtigkeit als durch die
Aufgebung des Rechtes? Als 1930 die Moskauer Hochverrats­
prozesse in Gang gesetzt wurden, waren die Sympathien, die
Amerika in alter Revolutionsanhänglichkeit den Bolschewiken
entgegengebracht hatte, mit einem Schlage ausgelöscht, so
gründlich ausgelöscht, daß man während des Krieges eine
Reinwaschung des Bundesgenossen vermittels eines eigenen,
die Prozesse umlügenden Propagandafilms (Mission to Mos-
cow)14 hatte versuchen müssen. Totalitarismus, unter welcher
Flagge er auch immer segeln m ag- der Mussolinische war dabei
der noch weitaus gesittetste - bedeutet Menschenschlachtung
durch den tollgewordenen, hypertrophierten Staat, der nicht
nur nach außen, sondern auch nach innen hin ideale strategi­
sche Grenzen braucht, nämlich die Vernichtung jeglichen, auch
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noch nicht einmal begonnenen Widerstandversuches. Es ist der
konstante Präventivkrieg gegen den Untertanen, und sei der
noch [so] ohnmächtig. Und wo immer der Totalitarismus hinzu­
tritt, da erheben sich die Galgen. Soll das so weitergehen? Soll
auch noch Amerika von dieser Seuche ergriffen werden? Wir
haben jetzt schon auch hier die mannigfachsten Hochverrats-,
Spionage- und Meineidsprozesse, die als solche zwar vollkom­
men einwandfrei geführt [werden], aber doch vielfach auf den
leidigen Kongreßbefragungen beruhen, also auf Verfahren au­
ßergerichtlicher Instanzen und daher, sehr zur Beunruhigung
der amerikanischen Öffentlichkeit, als erster, wenn auch noch
sehr leiser Totalitär-Ansatz gewertet werden könnten, denn wo
die Autonomie des Gerichtes auch nur im geringsten angetastet
wird, da kann Terror entstehen, Staatsterror, die Antiposition
zum amerikanischen Revolutionärismus.
Frage: Wie aber können Sie von Revolutionismus sprechen,
wenn Sie den Terror so kategorisch verwerfen? Das Wesen der
Revolution ist Terror; darin ist sie dem Krieg verwandt, und ge­
rade vom Terror aus müßten Sie, der Sie den Krieg bekämpfen,
auch jeglichen Revolutionismus bekämpfen. Sogar die ameri­
kanische Revolution, die weitaus geordnetste und humanste
von allen, weil sie unter Kriegsdisziplin und nach Kriegsregeln
sich vollzog, war von den unvermeidlichen Greueln begleitet.
Antwort: Ich habe die amerikanische Grundhaltung »Revolu­
tion in Permanenz« genannt, und wenn sie bei ihrem Beginn
verhältnismäßig human war, so ist sie es, trotz der siedlerhaften
Wildheitszüge des Gesamtverhaltens, auch heute noch, viel­
leicht, weil sie eigentlich niemals konterrevolutionäre Rück­
schläge erlitten, sondern zumindest diffus, jedenfalls unterbre­
chungslos weiterbestanden hat; die einstige Kriegsdisziplin ist
dabei zur Gesetzes-, oder richtiger Konstitutionstreue gewor­
den. Nein, Revolution braucht nicht immer Mord und Tot­
schlag zu sein, und gerade Gandhi hat uns gelehrt, daß sie zu
ganz neuen, für uns vielleicht noch unvorstellbaren Formen
hinstrebt. Wenn wir dem Marxismus und besonders seiner Le­
ninistischen Form etwas vorzuwerfen haben, so ist es sein Haf­
ten an der von den Jakobinern geprägten terroristischen Revo­
lutionsform, ein Haften, das einerseits nichts als mechanische
Imitation und Vervielfältigung, andererseits aber romantisie­
render Historismus ist, in beidem freilich dem Wesen der Re­
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volution widersprechend, ja sie in ihr Gegenteil verkehrend,
nämlich zum Staatsterrorismus.
Frage: Und dafür machen Sie den Marxismus als solchen ver­
antwortlich?
Antwort: Nein, aber die heutigen Marxisten, vor allem ihre
Dogmengläubigkeit, mag sie auch sehr oft noch so scharfsinnig
sein. Die Marxsche Lehre ist ein Realitätsmodell, in erster Linie
- und das wird fast immer einfach vernachlässigt - ein psycho­
logisches, weil es über bestimmte Verhaltungsweisen des Men­
schen in bestimmten (vornehmlich ökonomischen) Situationen
Aufschluß geben kann, so zutreffenden Aufschluß, wie ihn bloß
das Genie zu geben vermag. Trotzdem ist es bloß ein Modell,
also ein Simplifikations-Spiegel der Wirklichkeit, teils gewollte
Simplifikation, so in der Beschränkung aufs Ökonomische, teils
ungewollte, dennoch notwendige, weil es überhaupt kein voll­
kommenes Modell geben kann, sondern bestenfalls vervoll­
kommnungsfähige, und gerade das hat Marx gemeint, wenn er
seine Lehre als elastische15 bezeichnete. Wie weit läßt sich aber
die Vervollkommnung eines Systems treiben? Kann es tatsäch­
lich universal gemacht werden? Sicherlich nicht. Der Men­
schengeist sucht immerzu nach einem Universalsystem, in dem
er bequem und für alle Zeiten ruhen kann, doch das ist für ewig
versagt. Jedes System hat einen gewissen Sättigungspunkt, und
wenn nun gar versucht wird, wie es eben jetzt vom Marxismus
geschieht, die Wirklichkeit in das System hineinzuzwängen, so
entstehen jene Geschichtssituationen, aus denen man, in Um­
kehrung des Hegelwortes, folgern könnte, daß alles, was ge­
schieht unvernünftig ist.16Ich nenne sie die historischen Fehlsi­
tuationen, Situationen wachsenden Menschenleids, und eine
solche krassesten Ausmaßes haben wir heute vor uns.
Frage: Es würde demnach die Weltkonkretisierung, die der
Marxismus jetzt offenbar erfährt, zugleich seinen Sättigungs­
punkt anzeigen? Oder halten Sie das bloß für ein zufälliges Zu­
sammentreffen?
Antwort: Ich möchte das zweideutig formulieren: die Ge­
schichte besteht aus notwendigen Zufällen. Doch diese meta­
physische Frage beiseite gelassen, glaube ich mit guten Grün­
den annehmen zu können, daß der theoretische Marxismus die
in ihm liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft und seinen Ver­
vollkommnungskreis ausgeschritten hat. Soferne sich die Di­
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stinktion zwischen Geistes- und Naturwissenschaften machen
läßt - im letzten Grund nämlich bilden sie eine methodologi­
sche Einheit-, darf man sagen, daß bloß das naturwissenschaft­
liche System unbeschränkt elastisch ist, also sich unbeschränkt
weiterentwickelt, während jedes geisteswissenschaftliche Sy­
stem, geradezu dem Kunstwerk gleichend, eine in sich ruhende,
abgeschlossene Totalität darstellt, die nach erfolgtem Abschluß
eben keine Entwicklungsfähigkeit mehr hat, sondern durch ein
anderes ersetzt werden kann und wahrscheinlich ersetzt werden
muß; wenn es auch eine Kunstentwicklung gibt, es muß trotz­
dem jedes [Kunstwerk] wieder ab ovo beginnen, und genau das
nämliche findet in den Geisteswissenschaften und in der Philo­
sophie statt: die Weiterentwicklung vollzieht sich in der Auf­
stellung völlig neuer Systeme, von denen jedes, will es gültig
sein, ab ovo also wiederum in der Erkenntnistheorie und Logik
zu beginnen hat, denn hier liegt ihre Plausibilitäts-, ihre De­
duktionsbasis, gleichwie die der exakten Naturwissenschaften
in der Mathematik liegt.
Frage: Sie erwarten also eine vollkommene Revision des
Marxismus, ja sogar seinen vollkommenen Ersatz durch ein an­
deres System, für das wir vorderhand noch nicht einmal einen
Namen haben -, erwarten Sie, daß auch seine sozial-ökonomi­
schen Erkenntnisse solcherart vollkommen erneuert werden?
Antwort: Es wird kaum zu vermeiden sein. Natürlich kann
eine einmal erkannte Wahrheit niemals völlig zum Verschwin­
den gebracht werden; Aristoteles hat nicht Platon, der Kantia-
nismus nicht den scholastischen Aristotelismus entthront, und
Adam Smith lebt trotz Marx weiter. Aber es gibt kein System,
das nicht den Keim zu seiner Rektifikation, ja zu seiner Um­
stülpung in sich trüge, und gar wenn es, was unausweichlich ist,
sich an der empirischen Realität zu bestätigen hat: je dogmati­
scher ein System ist, desto mehr hat es die Konfrontierung mit
der Empirie zu scheuen, desto mehr muß es trachten, die Empi­
rie zu seinem eigenen Ebenbild umzugestalten, um von ihr Be­
stätigung zu erzwingen, und desto unelastischer muß es werden,
so daß am Ende die Konfrontierung mit der Realität unaus­
weichlich eine Konfliktsituation werden muß, eine Sackgasse,
aus der die Menschheit nur um den Preis neuer Katastrophen
und neuer Leiden herausfinden wird können. Wir haben heute
mit einem Sozialismus zu tun, welcher glaubt, mit Feuer und
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Schwert die Übel des Kapitalismus ausrotten zu müssen, und
plötzlich wird sich erweisen, daß das nichts als blutige und
dumme und sinnlose Ungeduld gewesen ist, weil wir zur Bewäl­
tigung unserer neuen ökonomischen Aufgaben ganz neue theo­
retische Einsichten brauchen werden. Schon heute ist deren
Notwendigkeit zu erkennen.
Frage: Sie können aber darum nicht von jedem Intellektuel­
len, von jedem geistigen Arbeiter verlangen, daß er zu einem
neuen Systembauer werde; aus jedem Kärrner einen König
machen zu wollen, wäre geradezu furchtbar.
Antwort: Das Kärrnertum in allen Ehren, und ganz besonders,
wenn es, bewegt vom Menschenleid, sich in heroischer Selbst­
verleugnung ausschließlich diesem und seiner unmittelbaren
Linderung widmet. Wir alle mögen von den jungen kommuni­
stischen Studenten Chinas und Indiens beschämt sein, die in die
Dörfer der Hunger- und Seuchengebiete hinausgezogen sind,
um die Bauern zur Selbsthilfe zu erziehen und zu organisieren;
daneben scheint unsere eigene Jugendzeit verschwendet. Doch
wenn diese gleichen jungen Leute aus Dogmengläubigkeit je­
den Freund, der ihnen nicht genügend parteidiszipliniert er­
scheint, denunzieren und einem sicheren Tod überliefern, mag
einen tiefste Verzweiflung überkommen.
Frage: Trotzdem wäre ihre positive Leistung nicht ohne Dog­
mengläubigkeit möglich.
Antwort: Ja, aber das kann und darf nicht dazu führen, daß
der Intellektuelle sich zu einem bloßen Parteiinstrument er­
niedrigt. Es kann zum Beispiel auch keinem Intellektuellen,
dem die Marxsche Theorie einleuchtend erscheint, [übelge­
nommen werden], sein Bemühen auf deren weitere Ausgestal­
tung und Verfeinerung zu richten. Doch zwischen theoretischer
Dogmengläubigkeit und Untertanenfolgsamkeit - ganz zu
schweigen vom Byzantinismus, zu dem der deutsche Untertan,
guter alter Tradition gemäß, mehr als jeder andere neigt -, be­
steht ein gewaltiger Unterschied. Der geistige Arbeiter, der sich
zu solchem hergibt, ist aus seinem Beruf ausgetreten. Denn zu
diesem Beruf gehört unentwegter Revolutionismus, gehört ein
unentwegter Kampf gegen jedweden menschenversklavenden
Institutionalismus, vor allem gegen den des Staates, oder präzi­
ser, gegen das Streben des Staates nach ständiger Machterwei­
terung.
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Frage: Nur daß das eine Forderung ist, der die Intellektuellen
in den Totalitärstaaten kaum werden nachkommen können.
Weitgeöffnet erwarten sie die Tore der Konzentrationslager,
und allüberall stehen die Galgen für solche Hochverräter be­
reit.
Antwort: Umsomehr sind wir, die wir in einem Land leben,
das der Staatsmythisierung noch nicht anheimgefallen ist, weil
seine revolutionäre, staatsfeindliche Tradition noch nicht erlo­
schen ist, zu ihrer Aufrechterhaltung verpflichtet; wir haben
diese Pflicht zu erfüllen, weil sie uns noch gestattet ist -, doch
wie lange noch? Ein Land unter Kriegsdruck und sogar unter
zunehmender Einkreisung verwandelt sich notgedrungen zum
Staat, ja zum totalitären Staat, weil es darin bessere Verteidi­
gungsmöglichkeiten [sieht], und wenn auch behauptet werden
wird, daß das zur Verteidigung des American way of life und
seiner Demokratie geschieht, es wird einfach Fascismus sein,
ununterscheidbar von dem der europäischen Totalitärstaaten,
infolge solcher Ununterscheidbarkeit ihnen - die ja gleichfalls
Demokratien genannt werden wollen - und ihrer Übermacht
rettungslos ausgeliefert. Nur ein wahrhaft revolutionäres Land
kann sich gegen eine reaktionäre Übermacht behaupten.
Frage: Sie wollen also den amerikanischen Thermopylensieg
vorbereiten, damit nochmals, wie damals, die Freiheit der
abendländischen Welt gerettet werde. Doch da ich weiß, daß
Sie leere Freiheitsdeklamationen hassen, muß ich Sie doch fra­
gen, was zu solchem Ende praktisch geschehen kann, geschehen
soll. Wofür kann und soll der geistige Arbeiter heute eintreten?
Antwort: Verschärfung der Gesetzgebung zum Schutze der
Menschenrechte, deren Definition hiefür zunehmend zu präzi­
sieren wäre. Strafwürdigkeit aller Handlungen, welche die
Menschenrechte verletzen oder ihre Verletzung anstreben,
Aufhebung aller Immunitäten in Ansehung dieser Delikte,
Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit, da der Richter­
stand die einzige wahrhaft staatsunabhängige, also prinzipiell
revolutionäre Körperschaft ist.
Frage: Es ist auffallend, daß diese Wünsche sich durchwegs
aufs Juristische, Jurisdiktionale beziehen.
Antwort: Auch Revolutionen zielen auf die Schaffung einer
neuen Gesetzgebung, auf eine verbesserte Jurisdiktion. Umso­
mehr sind evolutionistische Maßnahmen darauf angewiesen.
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Und ich möchte noch einen Schritt weitergehen, indem ich die
UN, soferne und soweit sie noch weiter existiert, darin einbe­
ziehe: ich möchte, daß die Bestimmungen zum Schutz der Men­
schenrechte als eine »Bill of Duties« von der UN sanktioniert
werden, so daß sie von allen ihr verbleibenden Nationen gleich­
mäßig zum Teil ihrer eigenen Gesetzgebung gemacht werden;
ferner möchte ich, daß sich diese Nationen auf ein gemeinsa­
mes, bei der UN zu errichtendes Obergericht für alle die Men­
schenrechte betreffenden Delikte einigen, und schließlich
möchte ich, daß dieses Obergericht auch als Appellationsin­
stanz für alle in den Einzelstaaten vorkommenden Hochver­
rats-, Landesverrats- und Spionagefälle fungiere, um solcherart
einerseits gerade darin die judizielle Staatssouveränität defini­
tiv zu brechen, andererseits die weitere Errichtung von Galgen
hintanzuhalten, denn gerade darauf kommt es an, nicht zuletzt
um den Völkern des Erdkreises endlich vor Augen zu führen,
was die Wendung zu wahrhaft humaner Politik bedeutet.
Frage: Sie wissen, daß man Sie auf der andern Seite für Ihre
Ansichten bestenfalls als bürgerlichen Humanisten, wahr­
scheinlich aber als etwas viel Schmählicheres bezeichnen wird.
Antwort: Ich werde es als Ehrentitel hinnehmen.

1 Es handelt sich um ein fiktives Rundfunk-Interview, das Broch im Herbst


1950 verfaßte. Sowohl die Fragen als auch die Antworten stammen von
Broch. Anregen dazu ließ er sich durch das Gespräch »Der Schriftsteller in
der gegenwärtigen Situation«, das Broch im Frühjahr 1950 mit Egon Vietta
in New Haven führte. Vgl. Bd. 9/II, S. 249-262 dieser Ausgabe. In einem
Brief an den Verleger Weismann, der seinerzeit Brochs Roman D ie S c h u ld lo ­
sen publizierte, vom 17. 10. 1950 (Bd. 13) erwähnt Broch, daß er das »In­
terview« für eine Sendung im Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg
schreibe. Hier erwähnt er auch den Titel dieser Arbeit »Der Intellektuelle im
Ost-West-Konflikt«. Zu der Sendung des »Interviews« im Rundfunk kam es
nicht, da Broch das Manuskript nicht einschickte.
2 Unter diesem Titel wurde Brochs Drama D ie E n ts ü h n u n g am 15. März 1934
am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt.
3 John L. Lewis (1880-1969), von 1920 bis 1960 Präsident der US-Gewerk-
schaft »United Mine Workers of America«.
4 Charles Peguy (1873-1914), frz. Schriftsteller. Ein entsprechendes Zitat
konnte nicht nachgewiesen werden. Ähnliche Formulierungen finden sich in:
Charles Peguy, B asic Verities (New York: Pantheon Books, 1943), Kapitel
»Misere et Pauvrete«, S. 54ff. (Broch kannte dieses Buch.)
5 Die »Economic Cooperation Administration« (ECA) war eine Parallelorga­
nisation der US-Regierung zur ERP. Innerhalb dieser Organisation wurde
1948 nach Verabschiedung der »China Aid Act« durch den US-Senat das

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»China Aid Program« eingerichtet, das, unter der Aufsicht des US-State De­
partments, von Roger D. Lapham geleitet wurde. Dem »China Aid Program«
standen 400 Millionen US-Dollar für wirtschaftliche Hilfeleistungen in China
zur Verfügung. Geliefert wurden Lebensmittel, Baumwolle, Treibstoff und
Kunstdünger. Bis auf einige Lebensmittel (Reis, Weizen und Mehl) wurden
alle Sendungen über private Firmen der USA abgewickelt. In den Jahrgängen
1948/1949 der US-Zeitschrift Far E astern S u rv e y wurde über diese Maßnah­
men berichtet.
6 Am 25. 6. 1950 überschritten nord-koreanische Truppen die Grenze zu Süd-
Korea. Damit begann der Korea-Krieg, der bis zum Waffenstillstandsabkom­
men vom 27. 7. 1953 dauerte. Am 27. 6. 1950 beschloß der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen, der Nord-Korea als Aggressor verurteilte, die Auf­
stellung einer UN-Streitmacht gegen Nord-Korea.
7 Vgl. das Buch von LeoTrotzkij: V erratene R e v o lu tio n . Was ist die U dSSR und
w o h in treibt sie? (Zürich, Antwerpen, Prag, o.J. [1937]).
8 Vgl. die Arbeiten von Karl Haushofer (1869-1946). Haushofer war der
Hauptvertreter der Geopolitik in Deutschland ; von 1921 bis 1939 war er Pro­
fessor für Geographie in München. Seine Lehre wurde durch den National­
sozialismus aufgegriffen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er wie sein Sohn Al-
brecht von den Nationalsozialisten verhaftet. Im Ausland, das seinen
politischen Einfluß überschätzte, galt Haushofer fälschlich als führender Na­
tionalsozialist. Vgl. die Arbeiten Haushofers: G e o p o litik des P azifischen O ze ­
ans (Berlin 1924) ; G ren zen in ihrer g eographischen u n d politischen B e d e u ­
tu n g (Berlin 1927); G e o p o litik d er P a n -Id e e n (Berlin 1931). Haushofer war
Mitbegründer und Herausgeber der Z e itsc h rift f ü r G eo p o litik (seit 1924).
9 Gemeint ist die 1600 gegründete Englische Ostindische Handelskompagnie.
10 Broch beschreibt hier richtig die De-facto-Situation nach dem Genter Frieden
von 1814, doch hat es ein diesbezügliches Abkommen im Sinne eines juristi­
schen Vertrages zwischen den USA und Großbritannien nicht gegeben.
11 Der Krieg von 1904/1905 zwischen Japan und Rußland wurde 1905 durch
den Frieden von Portsmouth beendet. Durch ihn gewann Japan u. a. die
Oberhoheit über Korea.
12 Henry A. Wallace (1888-1965), US-Politiker, Landwirtschaftsminister unter
den ersten beiden Regierungen Roosevelt, von 1940 bis 1944 Vize-Präsident;
1948 ließ er sich als Präsidentschaftskandidat der dritten Partei »Progressive
Party« aufstellen. Innenpolitisch unterstützte er Roosevelts »New Deal«-
Programm, außenpolitisch strebte er einen Ausgleich mit der Sowjet-Union
an und förderte die Gründung der Vereinten Nationen.
13 Trumans »Civil Rights «-Programm scheiterte weitgehend im Kongreß an den
oppositionellen Südstaatlern.
14 Der Film M issio n to M o sc o w wurde 1943 von Warner Bros, auf den Markt
gebracht. Er wurde unter der Leitung von Michael Curtiz nach dem gleichna­
migen Roman von Joseph E. Davis gedreht. Im selben Jahr erschien auch
Curtiz’ Film C asablanca.
15 Vgl. dazu David McLellan, K arl M a rx (New York 1975), S. 47 f.
16 Vgl. G. W. F. Hegel, V o rlesu n g en ü b er die P h io so p h ie der G eschichte, »Ein­
leitung« I. c.: »Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber
der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche,
daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.«

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Anmerkungen des Herausgebers

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Bibliographischer Nachweis

1. »Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem«, in:


D e r F ried e , Bd. 3, Nr. 64 (11. 4. 1919), S. 269-273.
2. »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demokra­
tie«, uv. ZA (»Bericht«) und YUL.
3. »Theorie der Demokratie (1938-1939)«, in: Hermann Broch,
M a s s e n p s y c h o lo g ie , hrsg. v. Wolfgang Rothe (Zürich: Rhein-Ver­
lag, 1959), S. 52-59. (Wie bei den übrigen Kapiteln aus der M a s ­
s e n p s y c h o lo g ie wurde auch hier das Originaltyposkript zugrunde­
gelegt, da der Herausgeber der M a s s e n p s y c h o lo g ie Eingriffe in
den Text vorgenommen hatte.)
4. »>The City of Man<. Ein Manifest über Welt-Demokratie«, in:
Herbert Agar et alia, T h e C ity o f M a n . A D e c la r a tio n o n W o rld
D e m o c r a c y (New York: Viking Press, 1941), S. 86-93 (aus dem
Englischen ins Deutsche übersetzt).
5. »Nationalökonomische Beiträge zur >City of Man< (1940)«, in:
M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 59-77.
6. »Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung«, in: M a ss e n p s y ­
c h o lo g ie , a.a.O., S. 361-441 (dort unter dem redaktionellen Titel
»Zur politischen Situation unserer Zeit«).
7. »Völkerbund-Resolution«, in: Hermann Broch, V ö lk e r b u n d -R e ­
s o lu tio n hrsg. v. Paul Michael Lützeier (Salzburg: Otto Müller,
1973), S. 35-77.
8. »Völkerbundtheorie (1936-1937)«, in: M a ss e n p s y c h o lo g ie ,
a.a.O., S. 46-51.
9. »Rundfunkansprache an das deutsche Volk«, uv. DLA.
10. »Bemerkungen zur Utopie einer international Bill of Rights and
of Responsibilities<«, uv. YUL.
11. »Die Zweiteilung der Welt«, in: M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S.
313-360 (dort unter dem redaktionellen Titel »Gibt es noch D e­
mokratie?«).
12. »Strategischer Imperialismus«, uv. YUL.
13. »Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie«, in:
N e u e R u n d s c h a u , 61. Jg., Nr. 1 (1950), S. 1-31.
14. »Politische Tätigkeit der »American Guild for German Cultural
Freedom<«, uv. BAK.
15. »Ethische Pflicht«, in: S a tu r d a y R e v ie w o f L ite ra tu re , Jg. 22, Nr.
26 (19. 10. 1940), S. 8 (dort auf Englisch unter dem Titel »Ethical
Duty« erschienen).
16. »Bemerkungen zum Projekt einer »International University<, ihrer
Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten«, in: Hermann Broch,

497

Copyrighted material
hrsg. v. Götz Wienold (Frankfurt/Main:
Z u r U n iv e r s itä ts r e fo r m ,
Suhrkamp, 1969), S. 64-77.
17. »Bemerkungen zu einem >Appeal< zu Gunsten des deutschen V ol­
kes«, uv. TMA.
18. »Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschenrechte«, in:
L ite r a tu r u n d K r itik , Nr. 54/55 (Mai/Juni 1971), S. 193-197.
19. »Der Intellektuelle im Ost-West-Konflikt«, uv. YUL.

Copyrighted material
Textkritische Hinweise

Es wird ein Überblick vermittelt über die Textversionen, ihre Entste-


hungs- und Erscheinungsdaten, ihre Publikationsorte und Aufbewah­
rungsstellen in Archiven und privaten Sammlungen. Die Datierungen
fußen vor allem auf dem Material in den Briefbänden dieser Ausgabe.

1919:
1. »Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem«. Ent­
standen im Frühjahr 1919. 16seitiges Typoskript, YUL.
Erstdruck in:
- D e r F rie d e , Bd. 3, Nr. 64 (11. 4. 1919), S. 269-273.
Ferner in:
- Hermann Broch, G e d a n k e n z u r P o litik , hrsg. v. Dieter Hildebrandt
(Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970), S. 11-23.
- dieser Ausgabe.
[Zur gleichen Zeit schrieb Broch die ökonomische Analyse »Wasser­
kräfte u. Abfallenergien im Wiener Überlandnetz« (uv. YUL, 1 Zeiti­
ges Typoskript), die ursprünglich den Titel »Für eine ökonomische
Energiebewirtschaftung« trug.]

1937:
2. »Völkerbund-Resolution«.
E rste F a ssu n g
Entstanden im Herbst 1936. 1 Zeitiges Typoskript, engzeilig geschrie­
ben, bestehend aus dem »Einladungsbrief« (2 Seiten) und der »Reso­
lution« (Seiten 1-6 und I I /1-3), YUL und BA.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, V ö lk e r b u n d - R e s o lu tio n , a.a.O., S. 21-34.
Z w e ite F a ssu n g
Entstanden im Sommer 1937. 28seitiges Typoskript, engzeilig ge­
schrieben, bestehend aus dem »Kommentar zu der für den Völkerbund
bestimmten Resolution« (3 Seiten) und der »Resolution« (26 Seiten),
YUL, B A, BMT. Daneben ist noch ein textidentisches Typoskript von
25 Seiten vorhanden, bestehend aus dem »Kommentar« (2 Seiten) und
der »Resolution« (22 Seiten), YUL.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, V ö lk e r b u n d - R e s o lu tio n , a.a.O., S. 35-77
Ferner in:
- Hermann Broch, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , herausgegeben
und eingeleitet von Paul Michael Lützeier (Frankfurt/Main: Suhrkamp,
1978), S. 31-73.

499

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- dieser Ausgabe.
(Ein Teilabdruck der Resolution, S. 1-9, findet sich in: HB, G e d a n k e n
z u r P o litik , a.a.O., S. 24-36 unter dem Titel »Aufforderung an einen
nichtexistenten Völkerbund«, einem Titel, den Broch der Resolution
erst später im amerikanischen Exil gab.)

1939:
3. »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demokratie«.
Entstanden im Frühjahr 1939, 67seitiges Typoskript, YUL, bestehend
aus »Vorbemerkung« (1 S.), »Bericht an meine Freunde« (S. 1-8) und
»Erstes Kapitel« [ = »Persönliche Beobachtungen« in YUL] (Frag­
m en ts. 1-58). Broch verschickte diesen ersten Teil seines »politischen
Buches« an verschiedene Freunde, u. a. an Stefan Zweig, in den Mona­
ten zwischen Mai und November 1939. Der »Bericht an meine
Freunde« findet sich im ZA. Ferner liegt der Text in englischer Über­
setzungais »Letter to my friends« vor (öseitiges Typoskript, uv. YUL).
Die vollständige Reinschrift des »Ersten Kapitels« (63 Seiten) ist ver­
lorengegangen. Während von der »Vorbemerkung« und dem »Bericht
an meine Freunde« Reinschriften vorliegen, ist von dem »Ersten Kapi­
tel« nur die Vorlage der Reinschrift, ein Typoskript mit zahlreichen
maschinen- und handschriftlichen Änderungen, erhalten geblieben.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.
(Im Umkreis dieser Studie entstand auch der Aufsatz »Die Aufnahme­
bereitschaft«, 5seitiges Typoskript, uv. YUL u. DLA, geschrieben
Ende 1938 oder Anfang 1939, und die Arbeit »Tatbestand«, 9seitiges,
fragmentarisches Typoskript, uv. YUL, das in der englischen Überset­
zung »Contents. I. The Facts«, 9seitiges Typoskript, uv. vollständig
vorliegt. »Tatbestand« wurde zu Anfang 1940 geschrieben. Beide Ar­
beiten nehmen vorweg bzw. wiederholen Argumente des »Ersten
Kapitels«.)
4. »Politische Tätigkeit der »American Guild for German Cultural
Freedom<«.
E rste F assu n g
Entstanden im September 1 9 3 9 ,9seitiges, fragmentarisches Typoskript
mit dem Titel »Memorandum für die »American Guild<«, engzeilig ge­
schrieben, uv. YUL u. DLA.
Z w e ite F assu n g
Entstanden Anfang Oktober 1939, 15seitiges, engzeilig geschriebenes
Typoskript mit dem Titel »Memo zur Guildkrise«, BAK. Am 7. 10.
1939 schickte Broch dieses Memorandum an Volkmar von Zühlsdorff,
einem Mitarbeiter der American Guild.
Erstdruck in:

500

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- dieser Ausgabe, wobei die ersten fünf Seiten nicht abgedruckt wur­
den, da erst ab Seite 6 die »Politische Tätigkeit der >Guild<« behandelt
wird.
(Im Umkreis dieser Studie entstanden zwei weitere Arbeiten, nämlich
ein »Memo zum Prize Contest der >Guild<«, 4seitiges Typoskript, uv.
YUL, geschrieben Anfang 1939, und »Emigree Loyalty League«, 4sei-
tiges Typoskript, uv. YUL, entstanden im Frühjahr 1940.)

1940:
5. »>The City of Man<. Ein Manifest über Weltdemokratie«.
E r s te F a ssu n g
Entstanden im Spätsommer 1940, 2seitiges, titelloses, engzeilig ge­
schriebenes Typoskript, DLA.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe (als Fußnote 7 zum Aufsatz »The City of Man«).
Ferner in:
- HB, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O. (unter dem Titel »For­
derung nach einer >Bill of Economic Rights<«), S. 74-77.
Z w e ite F a ssu n g
Entstanden im Spätsommer 1940. Die Typoskriptvorlage ist verloren­
gegangen.
Erstdruck in:
- Herbert Agar et al., T h e C ity o f M a n . A D e c la r a tio n o n W o rld D e-
m o c r a c y (New York: Viking Press, 1940), S. 86-93.
Ferner in:
- HB, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O., S. 78-86.
- dieser Ausgabe, aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von
HF Broch de Rothermann.
(Als vorbereitende Arbeiten dazu entstanden im Frühjahr 1940 die
Aufsätze »Preliminary Statement of the sub-committee«, 2seitiges
Typoskript, uv. YUL, »Vorschläge für den >Council for Democracy<«,
6seitigesTyposkript, uv. YUL u. DLA und »Economic slavery?«, 4sei-
tiges Typoskript, uv. YUL.)
6. »Ethische Pflicht«.
Entstanden Ende September 1940. Die Typoskriptvorlage ist verlo­
rengegangen.
Erstdruck in:
- S a tu r d a y R e v ie w o f L ite r a tu r e , Jg. 22, Nr. 26 (19. 10. 1940), S. 8,
auf Englisch unter dem Titel »Ethical Duty«. (Bei diesem Heft der Sa­
tu r d a y R e v ie w o f L ite r a tu r e handelte es sich um eine Ausgabe mit dem
Titel »Exiled Writers Issue«, in der Beiträge von europäischen Emi­
granten wie Jules Romains, Andre Maurois, Albert Einstein, Erich
Kahler und Hermann Broch abgedruckt wurden. Auf S. 8 findet sich

501

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ein von Rudolf von Ripper gezeichnetes Porträt Hermann Brochs.)
Ferner in:
- dieser Ausgabe, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von HF
Broch de Rothermann.

1941:
7. »Völkerbundtheorie (1936-1937)«.
Entstanden Mitte 1941. Teil von Brochs »Autobiographie als Arbeits­
programm«, Typoskript, YUL, BMT, DÖL, S. 12-17.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 46-51.
Ferner in:
- Hermann Broch, V ö lk e r b u n d - R e s o lu tio n , a.a.O., S. 15-20.
- dieser Ausgabe.
8. »Theorie der Demokratie (1938-1939)«.
Entstanden Mitte 1941. Teil von Brochs »Autobiographie als Arbeits­
programm«, YUL, BMT, DÖL, S. 18-27.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 52-59.
Ferner in:
- dieser Ausgabe.
9. »Nationalökonomische Beiträge zur >City of Man< (1940)«.
Entstanden Mitte 1941. Teil von Brochs »Autobiographie als Arbeits­
programm«, YUL, BMT, DÖL, S. 27-50.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 59-77.
Ferner in:
- Hermann Broch, G e d a n k e n z u r P o litik , a.a.O., S. 37-55 unter dem
Titel »Kapitalismus und Sozialismus«. Ausgelassen ist der Einleitungs­
abschnitt von S. 59 der M a s s e n p s y c h o lo g ie .
- dieser Ausgabe.

1944:
10. »Bemerkungen zum Projekt einer »International University<, ihrer
Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten«.
Entstanden 1944. lOseitiges, einzeilig beschriebenes Typoskript, YUL.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, Z u r U n iv e r s itä ts r e fo r m , a.a.O., S. 64-77.
Ferner in:
- dieser Ausgabe, erstmals mit der »Persönlichen (konfidentiellen)
Vorbemerkung«.
(Im Zusammenhang mit dieser Studie entstand auch die kleine Skizze

502

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»Vorschläge für die Gründung einer University Press der New School
for Social Research«, 2seitiges Typoskript, uv. YUL u. DLA.)

1945:
11. »Rundfunkansprache an das deutsche Volk«.
Entstanden im Mai 1945. 4seitiges, titelloses Typoskript, DLA.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.
12. »Bemerkungen zur Utopie einer >International Bill of Rights and
of Responsibilities<«.
E r s te F a ssu n g
Entstanden im Juni 1943, wobei den äußeren Anstoß zu dieser Studie
die Rassenunruhen in Detroit gaben. Titel: »The Twentythird or Thir-
tythird Amendment«, 19seitiges, englisch geschriebenes Typoskript
mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen von Ruth Norden, uv.
YUL, DLA.
Z w e ite F a ssu n g
Entstanden Mitte 1945. Titel: »Forderung nach einem Gesetz zum
Schutz der Menschenwürde«, 19seitiges Typoskript, uv. YUL, zu dem
auch die englische Übersetzung »Proposal for a Law to Protect Human
Dignity«, 15seitiges Typoskript, uv. YUL u. DLA vorliegt.
D r itte F a ssu n g
Entstanden im Herbst 1945. Titel: »Bemerkungen zur Utopie einer
>International Bill of Rights and of Responsibilities<«, 45seitiges Typo­
skript, YUL u. DLA , das auch in der englischen Übersetzung »Bill of
Rights - Bill of Duties. Utopia and Reality«, 35seitiges Typoskript, uv.
YUL, BMT, GF u. DLA vorliegt.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.
Ferner in:
- Hermann Broch, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O., S. 87 bis
129.
(Zu der englischen Version dieser dritten und letzten Fassung existiert
auch eine Zusammenfassung mit dem Titel »Bill of Rights and Duties«,
entstanden Anfang 1946, 12seitiges Typoskript, uv. YUL. Im Zusam­
menhang damit entstand gleichzeitig die kleine Studie »Notes on the
>Report of the Commission on Social Justice and Human Rights<«,
7seitiges Typoskript, uv. YUL, in dem die Thesen der »Bemerkungen«
nochmals wiederholt werden.)

1946:
13. »Bemerkungen zu einem >Appeal< zu Gunsten des deutschen Vol­
kes«.

503

Copyrighted material
Entstanden im Januar 1946. 15seitiges, engzeilig beschriebenes Typo­
skript, TMA u. DLA.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.

1947:
14. »Die Zweiteilung der Welt«.
Entstanden Ende 1947. 10lseitiges Typoskript mit maschinenschriftli­
chen Änderungen, YUL.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 313-360 unter dem
redaktionellen Titel »Gibt es noch Demokratie?« Irrtümlicherweise
betrachtete der Herausgeber von Brochs im Rhein-Verlag erschienener
M a s s e n p s y c h o lo g ie dieses Typoskript als 78seitiges Fragment. Die
restlichen Seiten (79-101) sind ebenfalls in YUL vorhanden.
Ferner in:
- Hermann Broch, G e d a n k e n z u r P o litik , a.a.O., S. 76-115 unter den
Titeln »Demokratie gegen Totalitarismus - Ein Staatenkonflikt?« und
»Demokratie gegen Totalitarismus - Ein Ökonomiekonflikt?«. Es
handelt sich um einen gekürzten Text, S. 313-326 und 336-360 aus der
M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O.
- dieser Ausgabe, erstmals vollständig.
15. »Strategischer Imperialismus«.
Entstanden Ende 1947. 33seitiges Typoskript, bestehend aus den Tei­
len A .II.1-12 und A .III.1-21, YUL.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.

1949:
16. »Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung.« Entstanden A n­
fang 1949. 97seitiges, titelloses Typoskript mit zahlreichen Korrektu­
ren; YUL.
Erstdruck in:
- Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo g ie , a.a.O., S. 361-441 unter dem
redaktionellen Titel »Zur politischen Situation unserer Zeit«.
Ferner in:
- Hermann Broch, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O.,S. 130-231.
- dieser Ausgabe.
[Das Kapitel »Siebenter Teil (Demokratie)« ist abgedruckt in: Her­
mann Broch, G e d a n k e n z u r P o litik , a.a.O., S. 115-131 unter dem Titel
»Für die Radikalität der Mitte«. Unter dem gleichen Titel ist dieses
Kapitel nochmals publiziert in: Dieter Hildebrandt und Siegfried Un-

504

Copyrighted material
seid (Hrsg.), D e u ts c h e s M o s a ik . E in L e s e b u c h f ü r Z eitg e n o sse n
(Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1972), S. 260-275].

1950:
17. »Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie«.
E r s te F a ssu n g
Entstanden im Spätsommer 1949. llseitig es, fragmentarisches Typo­
skript mit zahlreichen maschinenschriftlichen Korrekturen. Titel: »To­
tale Humanität, unbequem aber möglich und notwendig. (Über die
Grundlagen der gegenwärtigen Weltpolitik)«, uv. YUL.
Z w e ite F a ssu n g
Entstanden im Herbst 1949. 28seitiges Typoskript mit zahlreichen
Korrekturen. Titel: »Trotzdem und trotzdem: Humane Politik. Ver­
wirklichungsmöglichkeiten einer Utopie«, uv. YUL.
D r itte F a ssu n g
Entstanden im Winter 1949. 41seitiges Typoskript mit Korrekturen,
YUL u. DLA.
Erstdruck in:
- N e u e R u n d s c h a u , 61. Jg., Nr. 1 (1950), S. 1-31.
Ferner in:
- Hermann Broch, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O.,S. 232-272.
- dieser Ausgabe.

18. »Die Intellektuellen und der Kampf um die Menschenrechte«.


E r s te F a ssu n g
Entstanden im Frühjahr 1950. 4seitiges Typoskript mit dem Titel
»Adresse an den >Kongreß für kulturelle Freiheit^ Sektion Verteidi­
gung von Frieden und Freiheit«:«, uv. YUL.
Z w e ite F a ssu n g
Entstanden im Frühjahr 1950, 7 S., erweiterte Version der ersten Fas­
sung, YUL u. DLA. Die Überschrift der ersten Fassung taucht hier als
Untertitel auf. Diese zweite Fassung liegt auch in hektographierter
Form vor, 5 S., YUL, und enthält zusätzlich zum Haupttitel die Auf­
schrift »Kongreß für kulturelle Freiheit. Congres pour la Liberte de la
Culture. Congress for Cultural Freedom. Kongreß-Referat Nr. 7«.
Erstdruck in:
- L ite r a tu r u n d K r itik , Nr. 54/55 (Mai/Juni 1971), S. 193-197.
Ferner in:
- S u h r k a m p L ite r a tu r Z e itu n g Nr. 6/ 2. Programm (Februar 1976),
Hermann-Broch-Nummer, hrsg. v. Hartmut Steinecke, S. 36-38.
- Hermann Broch, M e n s c h e n r e c h t u n d D e m o k r a tie , a.a.O.,S. 273-280.
- dieser Ausgabe.
19. »Der Intellektuelle im Ost-West-Konflikt«.

505

Copyrighted material
Entstanden im Spätsommer 1950. 45-seitiges, titelloses Typoskript mit
hand- und maschinenschriftlichen Korrekturen, YUL.
Erstdruck in:
- dieser Ausgabe.

Copyrighted material
Auswahlbibliographie zur Sekundärliteratur

Hildebrandt, Dieter. »Hermann Broch«, in: Hans Jürgen Schultz


(Hrsg.), D e r F rie d e u n d d ie U n ru h e stifte r. H e ra u sfo rd e ru n g e n
d e u ts c h s p r a c h ig e r S c h r ifts te lle r im 2 0 . J a h r h u n d e r t (Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1973), S. 109-113.
Kahler, Erich. »Massenpsychologie und Politik«, in: D ie P h ilo so p h ie
v o n H e r m a n n B r o c h (Tübingen: Mohr, 1962), S. 58-76.
Lützeier, Paul Michael. H e r m a n n B r o c h : E th ik u n d P o litik (München:
Winkler, 1973), besonders S. 43-59.
Lützeier, Paul Michael. »Einleitung«, in: HB, M e n sc h e n re c h t u n d D e ­
m o k r a tie (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978), S. 7-30.
Menges, Karl. »>Große Prophetie< und /Totale Demokratie^, in: K r i­
tisc h e S tu d ie n z u r W e r tp h ilo s o p h ie H e r m a n n B ro c h s (Tübingen:
Niemeyer, 1970), S. 157-170.
Rothe, Wolfgang. »Hermann Broch als politischer Denker«, in: Z e it­
s c h r ift f ü r P o litik , N. F. 5 (1958), S. 329-341. Ferner in: Manfred
Durzak (Hrsg.). H e r m a n n B r o c h . P e r s p e k tiv e n d e r F orsch u n g
(München: Fink, 1972), S. 399-416.
Rothe, Wolfgang. »Einleitung«, in: Hermann Broch, M a s s e n p s y c h o lo ­
g ie (Zürich: Rhein-Verlag, 1959), S. 5-34.
Schlant, Ernestine. »Theorie der Politik«, in: D ie P h ilo so p h ie H e r­
m a n n B r o c h s (Bern und München: Francke, 1971), S. 146-178.
Schlant, Ernestine. »Hermann Broch als politischer Utopist zwischen
>Geschichtsgesetz und W illensfreiheit «, in: L ite r a tu r u n d K r itik , Nr.
54/55 (Mai/Juni 1971), S. 207-213.
Strelka, Joseph. »Hermann Broch und das Menschenrecht«, in: M e n ­
s c h e n re c h t, Jg. 11, Nr. 5 (1956), S. 8.
Wienold, Götz. »Nachwort«, in: Hermann Broch, Z u r U n iversitä tsre­
f o r m (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969), S. 115-138.
Wrede-Bouvier, Beatrix. »Hermann Broch zu Nachkriegsdeutsch­
land«, in: L ite r a tu r u n d K r itik , Nr. 54/55 (Mai/Juni 1971),
S. 214-217.

507

Copyrighted material
Verzeichnis der Abkürzungen

a.a.O. aus angeführtem Opus.


BA Brenner-Archiv, Universität Innsbruck.
BAK Bundesarchiv, Koblenz.
BMT Broch-Museum, Teesdorf bei Wien.
DLA Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar.
DÖL Dokumentationsstelle für neuere österreichische Litera­
tur, Wien.
GF John Simon Guggenheim Memorial Foundation, New
York City.
HB Hermann Broch,
hrsg. v. herausgegeben von.
m.a.W. mit anderen Worten,
m.e.W. mit einem Wort.
S. Seite(n).
TMA Thomas Mann Archiv, Eidgenössische Technische Hoch­
schule Zürich,
und
und so weiter,
und so fort,
unveröffentlicht
versus.
Yale University Library, New Haven/Connecticut.
Stefan Zweig Archiv, London.

508

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Personenregister

Adler, Friedrich: 17, 23 Cohen, Gustav: 426


Agar, Herbert: 87, 497, 501 Cole, George Douglas: 80
Arens, Heinrich: 190 Comstock, Ada L.: 87
Aristoteles: 489 Coudenhove-Kalergi, Richard
Atholl, Duchess of: 232 Nikolaus Graf: 232
Attlee, Clement Richard Earl: Cromwell, Oliver: 346
450 Curie, Marie: 426
Augustinus: 377 Curtis, Lionel: 451
Aydelotte, Frank: 87, 426 Curtiz, Michael: 493
Bachhofer, Ludwig: 448
Dies, Martin: 289, 337
Baeck, Leo: 434, 450, 451
Doernberg, Stefan: 450
Balfour, Michael: 451
Don Juan d’Austria: 190
Barker, Ernest: 232
Dostojewski, Fjodor Michailo-
Barthou, Jean Louis: 438, 451
witsch: 289
Bauer, Otto: 13, 19, 23
Benesch, Eduard: 438, 451
Eduard VII: 346
Beveridge, William H.: 335, 338
Einstein, Albert: 232, 426, 501
Bevin, Ernest: 355, 363
Eliot, Thomas Stearns: 131,190
Bismarck, Otto Fürst von: 117,
Elisabeth I., engl. Königin: 345
147
Elliott, William Yandell: 87, 109
Borgese, Guiseppe Antonio: 87,
Engels, Friedrich: 368
88
Erzberger, Matthias: 69
Bose, Jagadis: 426
Brecht, Arnold: 425
Ferdinand von Aragonien: 363
Broch de Rothermann, H. F.: 87,
Fisher, Dorothy Canfield: 87,452
4 1 3 ,5 0 1 ,5 0 2
Fox, George: 232
Brooke, Henry: 451
Franck, James: 448
Brooks, Van Wyck: 87
Franco, Francisco: 136,184,287,
Brunnen, Heinrich: 190
3 5 8 ,3 8 7 ,3 8 8
Byk, S. A.: 190
Franz I., franz. König: 341, 345,
Carnegie, Andrew: 231 362
Cassirer, Ernst: 190 Franz I., österr. Kaiser: 342, 362
Chamberlain, Arthur Neville: 34, Friedrich Barbarossa: 344
6 9 ,4 3 8 ,4 8 0 Fry, Varian M.: 452
Chesterton, Gilbert Keith: 131,
190 Gaffron, Hans: 448
Christus: 142 Gandhi, Mahatma: 483, 487
Churchill, Sir Winston: 277, 284, Gaulle, Charles de: 426
287, 290-294, 337, 350, 355, Gauss, Christian: 87, 277, 452
3 7 7 ,4 5 0 , 4 5 1 ,4 8 1 George, Henry: 80, 88, 109

509

Copyrighted material
Goebbels, Joseph: 240 Jaspers, Karl: 459
Goerdeler, Carl Friedrich: 438, Jäszi, Oscar: 87
4 4 5 ,4 5 1 ,4 5 2 Jefferson, Thomas: 268
Göring, Hermann: 240 Johnson, Alvin: 87, 277, 425
Goethe, Johann Wolf gang: 241, Jolles, Matthijs: 448
242
Gregoire, Henri: 426 Kahler, Erich: 501, 507
Kant, Immanuel: 12 ,2 3 ,1 8 1 ,1 9 1
Halifax, Edward Frederick: 451 Karl der Große: 340, 343, 344,
Hamsun, Knut: 132, 190 365
Hasner, Leopold: 190 Karl der Kahle: 362
Hassell, Ulrich von: 445, 452 Karl V.: 116, 3 4 1 ,3 4 4 , 345
Haushofer, Albrecht: 445, 451 Karl VI.: 342
Haushofer, Karl: 493 Kaufman, Felix: 190
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Kautsky, Karl: 11, 23
38, 150, 368, 377, 379, 488, Kessler, Friedrich: 448
493 Keynes, John Maynard: 109
Heinrich VI., deutscher König: Kirchmann, Julius Hermann von:
344 191
Heinrich VI., englischer König: Koestler, Arthur: 459
345 Köhler, Joseph: 191
Heinrich VIII.: 345 Kohn, Hans: 87
Hildebrandt, Dieter: 499, 505, Konstantin der Große: 343
507 Kraus, Herbert: 80
Hitler, Adolf: 28, 3 6 ,6 9 ,7 0 ,1 1 7 ,
134, 135, 136, 139, 146, 154, Lapham, Roger D.: 492
157, 162, 168, 181, 232, 239 Lasky, Melvin J.: 458
bis 242, 248, 256, 265, 272, Lawrence, Thomas Edward: 131
273, 284, 286, 291, 292, 303, Leibniz, Gottfried Wilhelm: 23
309, 343, 344, 346, 348, 350, Lendis, Benson Y.: 80
351, 357, 358, 370, 388, 389, Lenin, Wladimir Iljitsch: 16, 23,
400, 409, 429, 430, 438-440, 58, 153, 156, 190, 191, 326,
444, 448, 451, 452, 479, 480, 3 2 7 ,3 4 8 ,3 6 8 ,3 7 0
484 Lerner, Max: 80, 452
Holcombe, Arthur Norman: 80 Lewis, John L.: 459, 492
Hoover, Edgar: 451 Lincoln, Abraham: 82, 406,484
Hoover, Herbert Clark: 287, 358 Lindsay, Alexander Dunlop: 80
Huebsch, Benno W.: 452 Listowel, Gräfin: 232
Hüll, Cordell: 451 Litwinow, Maxim Maximowitsch:
Huxley, Aldous: 232 2 6 7 ,2 7 7 ,4 8 0
Loeb, James: 452
Isabella von Kastilien: 363 Löwenstein, Hubertus Prinz zu:
410
Jackson, Andrew: 336, 338 Lowe, Adolf: 425
James, Robert Rhodes: 338 Lorentz, Hendrik Antoon: 426

510

Copyrighted material
Lothar I.: 362 Otto I.: 344
Ludendorff, Erich: 239, 242 Otto II.: 344
Ludwig der Deutsche: 362 Oxnam, G. Bromley: 277, 452
Ludwig der Fromme: 362
Ludwig XIV: 114, 342, 346 Pauck, Wilhelm: 448
Lützeier, Paul Michael: 2, 4 ,4 9 7 , Peguy, Charles: 469, 492
4 9 9 ,5 0 7 Perön, Juan Domingo: 287, 358
Perry, Matthew C.: 310, 338
Mann, Thomas: 8 7 ,2 3 2 ,4 5 2 ,5 0 8 Philipp II.: 345
Mao Tse Tung: 191, 363 Platon: 489
Maritain, Jacques: 232, 426 Pollack, Walter: 191
Marshall, George Catlett: 182, Price, Byron: 450
1 9 1 ,3 3 8 ,3 6 3 ,3 8 5 ,3 9 1
Marshall, John: 426, 427 Quisling, Vidkun: 190
Marx, Karl: 7 8 ,8 1 ,9 2 ,9 4 ,9 8 ,9 9 ,
102, 106, 113, 119, 130, 143, Rathenau, Walther: 69, 327
144, 149, 150, 153, 156, 159, Rauschning, Hermann: 242
168, 234, 309, 310, 313, 320, Richelieu, Armand-Jean du Ples-
321, 326, 368, 369, 377, 380, sis Herzog von: 116, 342
395, 399, 402, 467, 488-490 Rienzi, Cola di: 343, 362
Maurois, Andre: 501 Ripper, Rudolf von: 502
Mazarin, Jules (eigentl. Giulio Robespierre, Maximilien de: 348
Mazarini Herzog von Nevers): Roberts, Richard: 80
116 Röder, Werner: 410
McCarthy, Joseph Raymond: 191 Romains, Jules: 501
McLellan, David: 493 Roosevelt, Anne Eleanor: 276,
Menges, Karl: 507 277
Meyer, Gerhard: 48 Roosevelt, Franklin D.: 133,134,
Middeldorf, Ulrich: 448 243, 248, 249, 276, 277, 284,
Moltke, Helmuth James Graf 287, 337, 358, 392, 450, 451,
von: 438, 445, 451 4 8 1 ,4 9 3
Morgenthau, Henry: 450, 451 Roosevelt, Theodore: 166, 359
Mumford, Lewis: 87, 452 Rosberg, Julius: 459
Murray, Gilbert: 426 Rosenberg, Ethel: 459
Mussolini, Benito: 1 2 9 ,3 0 3 ,3 4 3 , Rothe, Wolfgang: 497, 507
486 Rousseau, Jean-Jacques: 364,
396
Nabokov, Nicolas: 459 Rousset, David: 455, 457, 459
Napoleon I.: 114, 116, 117, 239,
2 4 1 ,3 4 2 ,3 4 3 ,3 4 4 , 346, 362 Salvemini, Gaetano: 87
Napoleon II.: 362 Schlant, Ernestine: 507
Napoleon III.: 147 Schrecker, Paul: 18-20, 22, 23
Neilson, William Allan: 87, 452 Schröder, Wilhelm: 242
Niebuhr, Reinhold: 87, 452 Shaw, George Bernard: 190
Norden, Ruth: 242, 503 Silone, Ignazio: 459

511

Copyrighted material
Simson, Otto von: 448 Truman, Harry S.: 359, 363. 450.
Smith, Adam: 380, 489 4 8 5 .4 9 3
Spengler, Oswald: 418 Tschiang Kai Schek: 338
Speier, Hans: 425
Stalin, Josef W.: 146, 277, 284, Veblen, Thorstein: 81, 88, 109
3 0 4 ,3 3 7 ,4 5 0 ,4 8 1
Wallace, Henry A.: 481, 493
Staudinger, Hans: 425
Ward, Barbara: 459
Stauffenberg, Claus Graf Schenk
Wartenburg, Peter Graf Yorck
von: 451
v o n :445, 451
Steinecke, Hartmut: 505
Washington, George: 82
Sternberger, Dolf: 459
Wassermann, Friedrich: 448
Strachey, John: 109
Weber, Max: 233, 237, 238
Streit, Clarence Kirshman: 234,
Weinstein, Jerome: 80
237
Wells, Sumner: 451
Strelka, Joseph: 507
Wienold, Götz: 497, 507
Wilhelm II., deutscher Kaiser:
Talleyrand, Charles Maurice Her­
239, 240, 242, 350
zog v o n :115
Wilson, Thomas Woodrow: 181,
Tead, Ordway: 80
234, 236, 237, 249, 250, 253,
Thomas von Aquin: 190
2 6 8 .2 6 9 .2 7 7 .4 0 1 .4 0 7
Thompson, Dorothy: 452
Wrede-Bouvier, Beatrix: 507
Tillich, Paul: 452
Tito: M l Yeats, William Butler: 132, 190
Tolstoj, Leo: 128 Young, Owen: 451
Torquemada, Thomas de: 348,
363 Zoepfl, Heinrich Mathias: 191
Trendelenburg, Adolf: 191 Zühlsdorff, Volkmar von: 410,
Trever-Roper, |L R.: 459 500
Trotzki, Leo: 154, 4 7 2 ,4 9 3 Zweig, Stefan: 232, 500, 508

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Editorische Notiz

In diesen Band sind alle abgeschlossenen Arbeiten und alle größeren,


in sich einen Sinnzusammenhang ergebenden Fragmente Brochs zu
Themen der Politik aufgenommen worden. Frühere Fassungen und
Vorstudien, die nur Entwurfscharakter tragen, können im Rahmen
dieser Edition nicht publiziert werden. Sie sind jedoch in den »Textkri­
tischen Hinweisen« im einzelnen genannt, so daß der Interessierte sich
Kopien dieser Arbeiten durch das betreffende Archiv besorgen kann.
Brochs politische Briefe - etwa der an Franz Blei von 1918 (»Die
Straße«) oder der an Bodo Uhse von 1949 - werden in den Briefbänden
dieser Ausgabe publiziert werden. Jene politischen Traktate Brochs,
die Bestandteil des dritten (politischen) Teils seines massenpsychologi­
schen Buches sind - z. B. die Studie »Menschenrecht und Irdisch-Ab­
solutes« - werden im Band M a s s e n w a h n th e o r ie dieser Edition erschei­
nen. Bei den von Broch selbst publizierten Aufsätzen wurde jeweils die
erste Druckfassung zugrunde gelegt, bei bisher unveröffentlichten Tex­
ten die jeweils letzte Fassung. Notwendige Eingriffe in den Text seitens
des Herausgebers - etwa bei Unleserlichkeit oder im Falle einer Wort­
auslassung-wurden als solche mit Einfügungen in eckigen Klammern
gekennzeichnet. Offensichtliche Schreib- und Kommafehler wurden
stillschweigend korrigiert, doch ist, was die Zeichensetzung im allge­
meinen anbetrifft, der Brochsche Usus als Richtschnur anerkannt. Der
Kommentar des Herausgebers beschränkt sich - wie bei dem übrigen
in dieser Ausgabe veröffentlichten essayistischen Werk - auf den
Nachweis von Zitaten, Erscheinungsjahren, Namen und anderen fakti­
schen Daten in den Fußnoten, sowie auf die textkritischen und biblio­
graphischen Hinweise in den »Anmerkungen« am Schluß des Bandes.
Interpretationsfragen werden nicht angeschnitten, da dies als Aufgabe
der Sekundärliteratur zum Werk Hermann Brochs betrachtet wird.
Den Damen und Herren, die als Verwalter von Archiven dem Heraus­
geber Brochiana zur Verfügung stellten - besonders Christa Sammons,
YUL sei an dieser Stelle für ihre Hilfsbereitschaft gedankt.

C o p y r ig h t- A n g a b e n z u d e n b is h e r e rsc h ie n e n e n B ä n d e n

Band 2: D ie U n b e k a n n te G r ö ß e : Berlin: S. Fischer, 1933.


D a s U n b e k a n n te X : Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.
Band 3: D ie V e r z a u b e r u n g : Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.
Band 4: D e r T o d d e s V erg il: New York: Pantheon Books, 1945.
Band 5: D ie S c h u ld lo s e n : Zürich: Rhein-Verlag, 1950.
Band 9/1 + 2: S c h r ifte n z u r L ite r a tu r : Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1975 bis auf folgende Studien:

513

Copyrighted material
- »Hofmannsthal und seine Zeit« (Kapitel I und II); »Hofmannsthals
Prosaschriften« (3. Fassung); »Denkerische und dichterische Er­
kenntnis«; »Einige Bemerkungen zur Philosophie und Technik des
Übersetzens«; »Das Weltbild des Romans«; »Das Böse im Wertsy­
stem der Kunst«; »Einige Bemerkungen zum Problem des Kit­
sches«; »Die mythische Erbschaft der Dichtung«; »Mythos und A l­
tersstil«: Zürich: Rhein-Verlag, 1955.
- »Philistrosität, Realismus, Idealismus der Kunst«; »Notizen zu einer
systematischen Ästhetik«; »Geist und Zeitgeist«; »Neue religiöse
Dichtung?«: Zürich: Rhein-Verlag, 1961.
- »Nachruf auf Georg Heinrich Meyer«: Frankfurt am Main: Buch­
händler-Vereinigung, 1971.
Band 1 0 /1 + 2 : P h ilo s o p h is c h e S c h rifte n : Frankfurt am Main: Suhr-
kamp, 1977 bis auf folgende Studien:
- »Logik einer zerfallenden Welt«: Berlin: Zsolnay, 1931.
- »Erwägungen zum Problem des Kulturtodes«; »Werttheoretische
Bemerkungen zur Psychoanalyse«; »Gedanken zum Problem der
Erkenntnis in der Musik«; »Über syntaktische und kognitive Einhei­
ten«: Zürich: Rhein-Verlag, 1955.
- »Autobiographie als Arbeitsprogramm«: Zürich: Rhein-Verlag,
1959.
- »Leben ohne platonische Idee«; »Zum Begriff der Geisteswissen­
schaften«: Zürich: Rhein-Verlag, 1961.
- »Philosophische Aufgaben einer Internationalen Akademie«:
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.
Band 11: P o litis c h e S c h rifte n : Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978 bis
auf folgende Studien:
- »Theorie der Demokratie (1938-1939)«; »Nationalökonomische
Beiträge zur >City of Man< (1940)«; »Die Demokratie im Zeitalter
der Versklavung«; »Völkerbundtheorie (1936-1937)«; »Die Zwei­
teilung der Welt«: Zürich: Rhein-Verlag, 1959.
- »Bemerkungen zum Projekt einer >International University<, ihrer
Notwendigkeit und ihren Möglichkeiten«: Frankfurt am Main:
Suhrkamp, 1969.
- »Konstitutionelle Diktatur als demokratisches Rätesystem«: Frank­
furt am Main: Suhrkamp, 1970.
- »Völkerbund-Resolution«: Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1973.

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Hermann Broch
Kommentierte Werkausgabe in 13 Bänden
(Leinen und suhrkamp taschenbuch)
Herausgegeben von Paul Michael Lützeier

I . D a s d ic h t e r is c h e W e r k
Band i: Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (s t 4 7 2 )
Band 2: Die Unbekannte Größe. Roman ( s t 3 9 3 )
Band 3: Die Verzauberung. Roman ( s t 3 5 0 )
Band 4: Der Tod des Vergil. Roman ( s t 5 2 2 )
Band 5: Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen ( s t 2 0 9 )
Band 6: Novellen. Prosa. Fragmente ( s t 6 2 1 )
Band 7: Dramen ( s t 5 3 8 )
Band 8: Gedichte ( s t 5 7 2 )

I I . D a s e s s a y is ti s c h e W e r k
Band 9/1: Schriften zur Literatur/Kritik ( s t 2 4 6 )
Band 9/2: Schriften zur Literatur/Theorie ( s t 2 4 7 )
Band 10/1: Philosophische Schriften/Kritik ( s t 3 7 5 )
Band 10/2: Philosophische Schriften/Theorie ( s t 3 7 5 )
Band 11: Politische Schriften ( s t 4 4 5 )
Band 12: Massenwahntheorie ( s t 5 0 2 )

III. B r ie fe
Band 13/1: Briefe 1913-1938 ( s t 710)
Band 13/2: Briefe 1938-1945 ( s t 711)
Band 13/3: Briefe 1945-1951 ( s t 712)

Briefe über Deutschland 1945-1949. Die Korrespondenz mit


Volkmar von Zühlsdorff
Herausgegeben und eingeleitet von Paul Michael Lützeier
L e i n e n und s u h r k a m p ta s c h e n b u c h 1 3 6 9 . 1986

Paul Michael Lützeier, Hermann Broch


Eine Biographie (Mit zahlreichen Abbildungen). 1985

Materialien zu Hermann Brochs >Die Schlafwandler


Herausgegeben von Gisela Brude-Firnau
e d i t i o n s u h r k a m p 5 7 1 . 1972

Copyrighted material
Brochs >Verzauberung<
Herausgegeben von Paul Michael Lützeier
s tm . s u h r k a m p ta s c h e n b u c h 2 0 3 9 . 1983

Hermann Broch. N eu e Studien zum 100. Geburtstag des Dichters


Herausgegeben von Paul Michael Lützeier
s tm . s u h r k a m p ta s c h e n b u c h 2 0 6 5 . 1986

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