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Gedächtnisschrift für
HILDE KAUFMANN
herausgegeben von
Helmut Marquardt
wDE
G_
1986
©
Copyright 1986 by Walter de Gruyter 8c Co., 1000 Berlin 30.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der
Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Foto-
kopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt
oder verbreitet werden.
Printed in Germany
Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36
Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61
Vorwort
In diesem Jahr hätte Hilde Kaufmann ihr 66. Lebensjahr vollendet. Sie
starb unerwartet am 11. Januar 1981, nachdem Krankheit und Anfällig-
keiten überwunden schienen. Durch den jähen Tod der Wissenschaft-
lerin, die auch im Ausland hohes Ansehen genoß, hat die Kriminal-
wissenschaft einen großen Verlust erlitten.
Dem ehrenden Gedenken an Hilde Kaufmann widmen Freunde,
Kollegen und Schüler diese Schrift. Auch nach fünf Jahren ist die
Erinnerung an sie unverändert lebendig. Sie ist geprägt von den vielfälti-
gen Tätigkeiten der Verstorbenen als akademischer Forscher und Lehrer
sowie dem ständigen Bemühen, eine Brücke zwischen kriminologischer
Forschung und Strafrechtspflege zu schlagen. Überdies war Hilde Kauf-
mann Mittlerin zwischen der Kriminalwissenschaft des deutschsprachi-
gen Bereichs und der spanischsprachigen Welt. Mutig, entschieden und
selbstlos setzte sie sich vor allem für Kollegen ein, die in Not und
Bedrängnis geraten waren oder wegen politischer Verfolgung ihre Hei-
mat verlassen mußten und an der Kriminologischen Forschungsstelle in
Köln Obdach und Hilfe fanden.
Dem Verlag W. de Gruyter danken wir für die entgegenkommende
verlegerische Betreuung, außerdem Frau Jacqueline Kaspar (Freiburg)
und Herrn Dr. Georg Küpper (Köln) für die Mitwirkung an den
redaktionellen Arbeiten.
H E L M U T MARQUARDT,Bonn:
Hilde Kaufmann. Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen
Werkes 1
CARLOS A . TOZZINI, B u e n o s A i r e s :
Kriminologie: Die unangemessene Kollision von zwei Parallelen 245
WERNER GEISLER, M a n n h e i m :
Prognoseentscheidungen - Ein empirisches und entscheidungstheoreti-
sches Problem 253
H A N S J O A C H I M SCHNEIDER, M ü n s t e r :
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 267
ARTHUR KREUZER, G i e ß e n :
Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur
Diskussion um Frauenkriminalität 291
R O S A DEL O L M O , C a r a c a s :
Drugs in Latin America and the world crisis 309
K O I C H I MIYAZAWA, T o k i o :
Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan 321
WOLFGANG H E I N Z , K o n s t a n z :
Was läßt die vereinheitlichte Juristenausbildung von der Kriminologie
übrig? 329
HEINZ SCHÖCH, G ö t t i n g e n :
Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie -
Rückblick und Ausblick 355
K L A U S SESSAR, H a m b u r g :
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 373
F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN, G ö t t i n g e n :
Zum Funktionswandel des Jugendarrests 393
ELLEN SCHLÜCHTER, K ö l n :
Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 409
IV. Strafrecht
IGOR ANDREJEW, Warschau:
Die integrierende Lehre vom Tatbestand 639
WOLFGANG SCHÖNE, Bonn:
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 649
FRIEDRICH-WILHELM KRAUSE, Würzburg:
Notwehr bei Angriffen Schuldloser und bei Bagatellangriffen 673
JOSE CEREZO MIR, Zaragoza:
Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetz-
buch 689
ROLF DIETRICH HERZBERG, Bochum:
Der Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 709
Buenos Aires:
JAIME MALAMUD G O T I ,
On Punishing And Individual Rights. An Essay on Objective Adminis-
trative Offenses 737
X Inhalt
V. Strafverfahrensrecht
DIETRICH OEHLER, Köln:
Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 847
H A N S JÜRGEN BRUNS, Erlangen:
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im strafprozessualen Ermitt-
lungsverfahren. Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politi-
schen Thema: „Vorverurteilung" und „Vorfreispruch" 863
DIETHART ZIELINKSI, Hannover:
Strafantrag - Strafantragsrecht. Zur Frage der Funktion des Strafantrags
und seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen 875
HEIKE JUNG, Saarbrücken:
Öffentlichkeit-Niedergang eines Verfahrensgrundsatzes? 891
KARL PETERS, Münster:
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 913
CHRISTOS DEDES, Athen:
Grundprobleme des Beweisverfahrens 929
Marburg:
DIETER M E U R E R ,
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 947
FRITZ L O O S ,Göttingen:
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachver-
ständigen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung in der Hauptverhandlung? 961
H E L M U T MARQUARDT
I.
Der Versuch, die Persönlichkeit Hilde Kaufmanns zu kennzeichnen,
stößt zunächst auf die Dominanz von Eigenschaften, die auf den ersten
Blick eher widersprüchlich erscheinen: scharfer, analytischer Verstand,
kritisch-abwägende Distanz zur Umwelt, Rationalität im Handeln,
Klarheit und Festigkeit des Standpunkts, kämpferisch und unbeugsam in
der Verfechtung einer als richtig erkannten Position - all dies verband
sich mit nicht weniger ausgeprägten Wesenszügen wie Warmherzigkeit,
Offenheit, musischer Begabung, gefühlsbetonter Hingabe an Menschen
und Sachen, selbstloser Zuwendung, wo Not und Leid Hilfe forderten.
Das Klischee, hier sei eben eine Frau in einer typisch männlichen
Berufsrolle tätig geworden und habe sich einen Gutteil von deren
Attributen angeeignet, ist ihr oft begegnet und hat sie stets zornig
2 Helmut Marquardt
gemacht. Vor allem die ersten Jahre ihres beruflichen Werdegangs waren
durch die Erfahrung von Vorurteilen und skeptischer Distanz auf Seiten
ihrer Ausbilder und Kollegen geprägt, gaben ihr das Gefühl, sich gerade
als Frau durchsetzen und behaupten zu müssen. Man geht nicht fehl - zu
oft hat sie davon gesprochen - , wenn man annimmt, daß etwas von dem
Kämpferischen ihres Wesens, von der bis an die Grenzen der physischen
Belastbarkeit gehenden Zähigkeit ihres Arbeitens in diesen Erfahrungen
seinen Grund hat. Aber es wäre falsch, dieser Seite ihrer Persönlichkeit
übermäßiges Gewicht beizumessen oder hier eine wesentliche Triebfeder
ihrer Arbeit zu sehen. Zu vielfältig waren die Begabungen, zu weit
gespannt die Interessen, zu groß das Bedürfnis nach Harmonie, zu
bestimmend die Ausrichtung an letztgültigen, das Vergängliche überstei-
genden Werten. Es war die spannungsvolle Verbindung jener - nur dem
flüchtigen Betrachter als widersprüchlich erscheinenden - Eigenschaf-
ten, die die Dynamik der Persönlichkeit Hilde Kaufmanns ausmachte
und die für Leben und Arbeit fruchtbar wurde.
II.
Die Hinwendung Hilde Kaufmanns zur Jurisprudenz und ihre Ent-
scheidung für eine wissenschaftliche Laufbahn folgten nicht einem früh
ausgeprägten, durch Elternhaus und Familie geförderten Interesse;
es waren spätere Begegnungen, die die berufliche Orientierung be-
stimmten.
1920 als erstes von 4 Kindern eines Lehrerehepaars im Münsterland
geboren, hatte sich schon früh eine ausgeprägte Begabung in den mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in der Musik gezeigt.
Nach dem 1939 mit Auszeichnung bestandenen Abitur an der renom-
mierten Annette-v. Droste-Hülshoff-Schule in Münster gewannen die
musischen Neigungen die Oberhand: Ein Studium der Musik sollte sich
anschließen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verhinderte jedoch
zunächst die Aufnahme dieses Studiums. Die Einberufung des Vaters
und die Rückkehr der Mutter in den Lehrerberuf banden Hilde Kauf-
mann an die Familie; sie übernahm die Führung des Haushalts und die
Betreuung der jüngeren Geschwister.
Erst 1943 konnte sie mit dem Studium beginnen, doch war ihre Wahl
inzwischen in eine andere als die ursprünglich ins Auge gefaßte Richtung
gegangen: Sie nahm das Studium der Rechtswissenschaften auf. Diese
Hinwendung zur Jurisprudenz war bestimmt durch die Begegnung mit
ihrem ersten Mann, Wilhelm Vianden. Der angehende Jurist und spätere
Assessor vermittelte ihr die ersten Einblicke in das Fach, er weckte ihr
Interesse und gab den Anstoß zu näherer Beschäftigung mit dem Recht.
Denkweise und Methodik des Juristen, die Logik der Regeln, die
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 3
auf das Recht auftraten; sie war wohl auch eine Quelle dafür, daß sie sich
vor allem in den letzten Jahren immer wieder nachhaltig um das Schick-
sal in Südamerika zu Unrecht verfolgter und in Haft genommener
Wissenschaftler sorgte und für deren Freiheit eintrat.
1956 folgte die Rückkehr an die Universität Bonn als wissenschaftli-
che Assistentin Hellmuth von Webers am Kriminologischen Seminar,
1961 dann die Habilitation und die Erteilung der venia legendi für
„Strafrecht einschließlich Strafprozeßrecht und Kriminologie". Die The-
matik der Habilitationsarbeit - Strafanspruch, Strafklagerecht. Die
Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht1 - folgte noch
ganz der Tradition jener Zeit und wohl auch dem erklärten Anspruch
der Bonner Fakultät: Der Vorrang gehörte der Strafrechtsdogmatik, an
ihr hatte sich der „Wissenschaftler" zu beweisen, der Kriminologie
gebührte zwar Beachtung, aber doch erst in zweiter Linie. So deutet -
blickt man auf die Veröffentlichungen Hilde Kaufmanns bis zur Habili-
tation2 - nichts darauf hin, daß sie in der Kriminologie den Schwerpunkt
ihrer künftigen wissenschaftlichen Arbeit sehen würde. Nicht, daß ihr
die Beschäftigung mit dogmatischen Themen nur lästige Pflicht gewesen
wäre - sie hat deren Bedeutung und Gewicht für Rechtsgleichheit und
Rechtssicherheit nicht gering geachtet. Aber die Zielstrebigkeit, mit der
sie sich unmittelbar nach der Habilitation kriminologischen Fragestel-
lungen zuwandte und die Ausschließlichkeit, mit der sie ihre gesamte
weitere Arbeit auf diese Thematik konzentrierte, läßt doch erkennen,
wie virulent diese Neigung bereits war, ehe sie endgültig aus der
Zurückhaltung heraustrat.
Freilich ist schon an dieser Stelle zu vermerken, daß Hilde Kaufmann
das Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht stets als ein sehr enges
verstand, daß sie wie kaum ein anderer Kriminologe ihrer Generation in
der Strafrechtspflege den entscheidenden Bezugspunkt sah, auf den hin
kriminologische Forschung auszurichten war - jedenfalls soweit sie in
der Kompetenz des Juristen betrieben wurde. Davon wird noch zu
reden sein.
Zunächst drängt sich eine andere Frage auf: Was war es, das Hilde
Kaufmanns Hinwendung zur Kriminologie bestimmte, ihre Neigungen
weckte und ihr vielleicht sogar die ganz spezifische Richtung gab, die ihr
wissenschaftliches Werk widerspiegelt? Gewiß war es der Einfluß ihres
Lehrers von Weber; es war auch die Begegnung mit Max Grünhut, der
(Maschinenschrift); Der Irrtum über Voraussetzungen, die für §240 II StGB beachtlich
sind, Goltdammers Archiv f. Strafrecht 1954, S. 359-364; Verbotsirrtum als Strafausschlie-
ßungsgrund? N J W 1955, S. 1057-1059.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 5
III.
Schon in ihrer Antrittsvorlesung, dem ersten Beitrag, in dem sie sich
mit kriminologischen Fragen befaßt 3 , deutet Hilde Kaufmann program-
matisch ihren wissenschaftlichen Standort an und läßt jene Perspektive
erkennen, der sie in ihrer kriminologischen Arbeit Priorität einräumen
wird. Es geht darum, die' Bedingungen kriminellen Handelns mit Blick
auf die Bedürfnisse des Strafrechts und der Strafrechtspflege zu erfor-
schen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die Ausgestaltung
und die Handhabung der strafrechtlichen Reaktionen fruchtbar zu
machen. Mit dieser Feststellung ist die Position umrissen, von der sie -
wie die Themen ihrer nachfolgenden Arbeiten mit großer Deutlichkeit
zeigen - nicht mehr abgerückt ist und die sie kurz danach 4 und zehn
Jahre später noch einmal5 nachdrücklich präzisiert und bekräftigt hat:
5
Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? JZ 1962, S. 193-199.
4
JZ 1964, S. 696.
5
Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik, JZ 1972, S. 78 f.
6 Helmut Marquardt
' A . a . O . , S.79.
7 Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1971; Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1977.
8 Bd. I, S. 14.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 7
9 A . a . O . , S.79.
10 Vgl. dazu Göppinger, Kriminologie4, 1980, S. 7 ff; Kaiser, Kriminologie 1980, §1
Rdn.45, § 4 Rdn. 15; Eisenberg, Kriminologie2 1985, § 1 Rdn. 15 ff; Schneider, Kriminolo-
gie2 1977, S. 22ff; Herren, Lehrbuch der Kriminologie Bd.I, 1979, S. 12; Mannheim,
Vergleichende Kriminologie Bd.I, 1974, S. 19ff.
11 J Z 1972, S. 81.
12 JZ 1972, S. 80.
8 Helmut Marquardt
IV.
Die Position einer juristischen - oder präziser: einer strafrechtsorien-
tierten - Kriminologie konfrontierte Hilde Kaufmann auch sehr früh mit
der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Kriminologie und
Strafrecht. Sind beide überhaupt in eine fruchtbare Beziehung zu brin-
gen oder erweisen sich die Ausgangspunkte als so gegensätzlich, daß ein
Brückenschlag nicht möglich ist? Schon in der Antrittsvorlesung wird
die Problematik zwar als Frage, aber doch in aller Schärfe thematisiert.
Sie lautet: Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? U n d : Was
läßt das Strafrecht von der Kriminologie übrig? Die Antwort folgt für
Hilde Kaufmann aus der Klärung einer weiteren Frage: der nach dem
Menschenbild, von dem die jeweilige Disziplin ausgeht. Diese Frage
nach dem Menschenbild des Strafrechts und der Kriminologie ist ein
Thema, das Hilde Kaufmann auch später immer wieder beschäftigt hat.
Es ist Gegenstand einer Reihe unveröffentlichter Vorträge und es ist
auch in ihrer letzten Veröffentlichung noch einmal Anlaß des Nachden-
kens, wobei die Antwort sogar die Bedeutung einer die fachlichen
Grenzen übersteigenden allgemeinen Orientierungshilfe für den Studie-
renden gewinnt 13 .
Die Formulierung der möglichen Konsequenzen zeigt zugleich den
Rang, den die Klärung dieser Frage einnimmt. Wenn die Ergebnisse
kriminologischer Forschung zu der Erkenntnis zwingen, daß „der
Mensch nur unter dem naturwissenschaftlichen Kausalgesetz steht, ist
ein Strafrecht im Vollsinne dieses Wortes, ein klassisches Strafrecht im
Sinne des Schuldstrafrechts unvollziehbar" 14 , denn es geht aus von der
möglichen Selbststeuerung des Menschen.
Die umfassende Analyse kriminologischer Erkenntnisse und Aussa-
gen zur Determiniertheit oder Verantwortlichkeit des Menschen macht
deutlich, daß dies nicht so ist. Ihr Ertrag ist die Einsicht, „daß menschli-
ches Handeln und damit auch menschliches Verbrechen nicht die
zwangsläufige Folge von Ursachen ist, die in Anlage und Umwelt zu
13
MschrKrim. 1980, S. 379 ff, 381 ff.
14
JZ 1962, S. 193.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 9
finden sind", sondern, „daß der Mensch ein zur Verantwortung fähiges
und zur Verantwortlichkeit aufgerufenes Wesen ist". Mit dieser Aner-
kennung der Verantwortlichkeit des Menschen „respektiert die Krimi-
nologie auch die Basis eines echten Strafrechts, nämlich die Schuld"15.
Das Verhältnis von Strafrecht und Kriminologie ist damit nicht das eines
unversöhnlichen Gegensatzes, sondern eines sich gegenseitig befruch-
tenden, wenn auch spannungsgeladenen Nebeneinanders.
Diese harmonisierende Sichtweise verschließt sich nicht der Erkennt-
nis, daß beide Disziplinen in ihrem Kern durchaus von unterschiedli-
chen Menschenbildern ausgehen. Aber dies ist - erkennt man nur deren
Modellcharakter - durchaus legitim und für die Zuordnung beider
Disziplinen zueinander fruchtbar 16 . Das Aufdecken von Gesetzmäßig-
keiten, die an der Entstehung kriminellen Verhaltens mitwirken, ermög-
licht zum einen die Begrenzung und Abstufung der Verantwortungs-
größe des einzelnen Menschen, ihre Kenntnis ist aber auch unverzicht-
bar für den Einsatz der Rechtsfolgen und für die Durchführung indivi-
dueller Behandlung. - Damit gewinnt das Programm der „juristischen
Kriminologie" Hilde Kaufmanns auch aus dieser Perspektive schon sehr
früh feste Konturen.
V.
Schon bald nach der Habilitation übernahm Hilde Kaufmann mit der
Emeritierung Hellmuth von Webers die Leitung des Kriminologischen
Seminars. Daß sie 4 weitere Jahre an der Bonner Juristischen Fakultät
lehrte, zunächst als Dozentin und später als außerplanmäßige Professo-
rin, hatte neben den günstigen fachlichen Voraussetzungen auch einen
ganz persönlichen Grund: die Heirat mit Armin Kaufmann und der
Aufbau des gemeinsamen Hauses im nahegelegenen Bad Honnef. Nach
dem frühen Tod des ersten Mannes, der im Krieg gefallen war, war die
Gründung einer Familie die Erfüllung eines tiefgehegten Wunsches. Der
Lebensabschnitt, in den die Bonner Jahre fielen, war auch aus diesem
Grunde eine ausgesprochen glückliche und erfüllte Zeit. Anfragen nach
der Bereitschaft zur Übernahme eines auswärtigen Lehrstuhls stießen
daher zunächst auf entschiedenes Zögern. N u r schwer machte Hilde
Kaufmann sich mit dem Gedanken vertraut, daß sie sich einem Ruf an
eine andere Universität nicht auf Dauer würde entziehen können, wenn
sie langfristig in einem personell und sachlich angemessenen Rahmen
forschen und arbeiten wollte. Als ihr 1966 die Nachfolge auf den
Lehrstuhl Hellmuth Mayers an der Universität Kiel angetragen wurde,
15
JZ 1962, S. 196.
16
MschrKrim. 1980, S.382.
10 Helmut Marquardt
folgte sie dem Ruf nicht leichten Herzens, aber doch in klarer Entschei-
dung für die wissenschaftliche Aufgabe, der sie sich verpflichtet fühlte.
Der wissenschaftliche Ertrag der Bonner Jahre waren wichtige Bei-
träge zu einer Reihe unterschiedlicher Themen, sämtlich eingebettet in
den Kontext der „juristischen Kriminologie":
So die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem durch Gramatica
vertretenen radikalen Flügel der Défense sociale, die als Reformbewe-
gung vor allem im europäischen Ausland zunehmend Einfluß gewann
und in letzter Konsequenz das System eines Schuldstrafrechts in Frage
stellen mußte17. In einer sorgfältigen Analyse der wichtigsten Aussagen
deckt Hilde Kaufmann die Widersprüche und Friktionen im System
Gramaticas auf und macht die Schwächen deutlich, die es als Alternative
zum Schuldstrafrecht unvollziehbar machen. Sie verweist jedoch nicht
weniger nachhaltig auf dogmatisch nicht bewältigte Probleme des gelten-
den Schuldstrafrechts und seiner praktischen Verwirklichung, vor allem
bei der Schuldgrößenbestimmung, die in dieser Analyse erkennbar
werden. Sie zwingen zu einer stärkeren Berücksichtigung spezialpräven-
tiver Aspekte bei der Auswahl der Strafart und bei der Bemessung der
konkreten Strafe, um auf diese Weise „die nachteiligen Wirkungen
etwaiger falscher Schuldgrößenbestimmung aufzufangen"18.
Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung sieht Hilde Kaufmann
im verstärkten Ausbau ambulanter Behandlungsformen, insbesondere in
der Erweiterung der rechtlichen Möglichkeiten und der faktischen Aus-
gestaltung des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser
Frage geht sie in einem gesonderten Beitrag nach: In einem Vergleich mit
der englischen Aussetzungspraxis führt sie den Nachweis, daß eine
derartige Erweiterung ohne Schaden für die Geltungskraft der Straf-
rechtsordnung möglich und praktikabel ist19. Der deutsche Gesetzgeber
ist dieser Forderung immerhin ein Stück weit gefolgt20; daß das Anliegen
nach wie vor aktuell ist, zeigt die Diskussion der Gegenwart21.
17 Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.), Festschrift f.
Hellmuth v. Weber, Bonn 1963, S. 418-444.
18 A.a.O., S.444.
" Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt bleiben auf
Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? in: H.Kaufmann u.a. (Hrsg.), Erinne-
rungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 61-91.
20 Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, BGBl. 1969 I, S.645.
21 Bietz, ZRP 1977, S.62ff; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 143 ff (176ff); Roxin, JA 1980,
S. 545 ff (550 f); Feltes, Strafaussetzung zur Bewährung bei freiheitsentziehenden Strafen
von mehr als einem Jahr, Heidelberg 1982, S. 43 ff; Dünkel, ZStW 95 (1983), S. 1037 ff
(1072ff); ferner: Gesetzentwurf des Landes NRW, BR-Drucksache 533/82, Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD, BT-Drucksache 10/1116; Gesetzesbeschluß des Deutschen
Bundestages vom 5.12.1985, BR-Drucksache 5/86.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 11
Der Wechsel nach Kiel und die Übernahme des ersten Lehrstuhls
markieren zugleich den Beginn der Arbeit an Hilde Kaufmanns eigentli-
chem Lebenswerk: ihrer auf 3 Bände angelegten Kriminologie. Die
Konzeption war lange gereift, forderte jedoch neben dem umfangrei-
chen, Strafrecht und Strafprozeßrecht einschließenden Lehrprogramm
ihre ganze Energie: Die Darstellung der Entstehungszusammenhänge
kriminellen Verhaltens - Thematik des ersten Bandes - sollte nicht nur
eine Sammlung und kritische Würdigung des Forschungsstandes der
deutschen und internationalen Kriminologie beinhalten - schon dies
bedeutete eine immense Arbeit. Hilde Kaufmann war davon überzeugt,
daß sich das Verständnis für die kriminologischen Zusammenhänge nur
demjenigen erschließt, der auch mit den wichtigsten Erkenntnissen der
sog. Grundlagendisziplinen vertraut ist. Und da der Hauptadressat
dieses Lehrbuchs der strafrechtlich orientierte Jurist sein sollte, war es
eines ihrer wichtigsten Anliegen, ihm die Grundzüge jener Disziplinen
zu vermitteln. Dies bedeutete für sie selbst eine intensive Beschäftigung
mit dem Wissensstand und der Methodik der Psychiatrie, der Psycholo-
gie und der Soziologie, deren unterschiedlichen Schulen und divergie-
renden Richtungen. Der Ertrag dieser Arbeit zeigt erneut Hilde Kauf-
manns ungewöhnliche Fähigkeit, sich in einer dem Juristen fremden
Materie zurechtzufinden, komplexe Zusammenhänge durchsichtig zu
machen und die wesentlichen Inhalte des jeweiligen Fachs in konzen-
trierter Form dem Verständnis des interessierten Lesers nahezubringen.
Nicht zuletzt dieser, mehr als die Hälfte umfassende Teil gibt dem
Lehrbuch seinen hohen Wert und sichert ihm seine bleibende Bedeu-
tung. Wieviel Kraft diese Arbeit gekostet hat, mag man unter anderem
daran ermessen, daß ihre Fertigstellung zum Ende hin immer wieder
durch Krankheitsperioden unterbrochen werden mußte; Hilde Kauf-
mann überwand sie durch zähes Aufbäumen und mit eisernem Willen.
1970 folgt Hilde Kaufmann einem Ruf an die Albertus-Magnus
Universität zu Köln. Neue Pläne zu wissenschaftlicher Arbeit finden
ihren institutionellen Rahmen in der Gründung der „Kriminologischen
Forschungsstelle des Kriminalwissenschaftlichen Instituts". In interdis-
ziplinärer Besetzung soll vor allem die Sanktions- und Behandlungsfor-
schung aktiviert werden, die in den 60er Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland weitgehend vernachlässigt wurde. Freilich ging es Hilde
Kaufmann - ganz in der Konsequenz ihres Konzepts einer juristischen
Kriminologie - nicht nur und nicht in erster Linie um Behandlung im
„engeren", medizinischen oder therapeutischen Sinne, sondern ihr Ver-
ständnis von Behandlung umfaßte den verfahrensmäßigen Zugriff auf
den Straftäter ebenso wie den Vorgang der Rechtsfolgenbestimmung.
Die erste monographische Untersuchung der Kölner Forschungsstelle ist
deshalb auch dem Thema „Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren"
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 13
erreicht33. Klar und entschieden stellte sie sich mit dieser Konzeption
auch gegen jene Richtung innerhalb der Vollzugswissenschaft, die eine
Abkehr vom Behandlungsgedanken propagiert und die die Forderung
nach einem weiteren Ausbau des therapeutischen Potentials als Ausfluß
einer imaginären Behandlungsideologie diskreditiert34. Getragen wird
das Konzept auch vom Gedanken einer stärkeren Humanisierung des
Strafvollzugs. Sie ergibt sich als Postulat eines richtig verstandenen
Gerechtigkeitsbegriffs und bildet die unverzichtbare Basis für einen
echten Behandlungsvollzug35.
VI.
Das weit über die wissenschaftliche Beschäftigung hinausgehende
Engagement für die Probleme des Strafvollzugs führte Hilde Kaufmann
in den Kölner Jahren auch zu einer Intensivierung ihrer internationalen
Kontakte. Vortragsreisen führten sie nach Spanien und Polen, eine
besonders tiefe Verbindung entstand zu den Ländern Lateinamerikas.
Auf einer Studienreise durch Venezuela Ende der 60er Jahre hatte sie
erstmals unmittelbar die großen sozialen Probleme eines Entwicklungs-
landes kennengelernt und war bei Gefängnisbesuchen auf bedrückende,
menschenunwürdige Zustände gestoßen. Es zeugt von ihrem ausgepräg-
ten sozialen Verantwortungsgefühl, aber auch von ihrer tiefen Mensch-
lichkeit, daß sie sich sogleich mit Entschiedenheit an die Seite jener
kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern stellte, die sich mit
bescheidenen Mitteln, aber hohem persönlichem Einsatz um Reformen
bemühten. Ihrer Unterstützung und Förderung widmete sie in den
folgenden Jahren einen wesentlichen Teil ihrer Kraft. Sie unterhielt rege
wissenschaftliche Kontakte vor allem zum Centro Internacional de
Investigación Para Las Ciencias Penales in Buenos Aires. Zahlreichen
jungen Wissenschaftlern und Doktoranden verhalf sie zu Studienaufent-
halten in der Bundesrepublik Deutschland, bevorzugt auch an ihrer
Forschungsstelle; sie regte zum Zwecke der Rechtsvergleichung Unter-
suchungen über Strafvollzug und Strafverfahren in Lateinamerika an und
vermittelte den Austausch wissenschaftlicher Werke. In den Jahren 1975
bis 1977 war sie wiederholt zu Vortrags- und Seminarveranstaltungen in
VII.
Eine erschöpfende Würdigung der Person und des Wirkens Hilde
Kaufmanns hätte noch viele Nuancen aufzunehmen: ihre Mitarbeit in
Gutachtergremien, ihr Einsatz als Vertrauensdozentin des Cusanus-
Werkes, ihre Tätigkeit in der Humboldt-Stiftung, ihr Wirken als Deka-
nin der Juristischen Fakultät zu Köln. Sie hätte vor allem das große
Engagement als akademische Lehrerin hervorzuheben, in dem sie mit
durchaus leidenschaftlicher Strenge ihre Hörer zu kritischem Denken
herausforderte und zu persönlicher Leistungsbereitschaft anspornte.
Daß sie dabei stets ein offenes Ohr für die privaten und beruflichen
Sorgen ihrer Studenten hatte und daß sie vielen mit Rat und Unterstüt-
zung weiterhalf, war ihr selbstverständlich; sie hat davon kein Aufheben
gemacht.
Mitarbeiter, Freunde und Kollegen fanden in ihr zu jeder Zeit eine
geduldig zuhörende und anregende Gesprächspartnerin und bei vielen
Einladungen in ihr stets offenes Haus eine liebenswürdige Gastgeberin.
Mit rührender Aufmerksamkeit umsorgte sie ihre zahlreichen Gäste aus
dem Ausland, führte sie zu Sehenswürdigkeiten der Stadt und zeigte
ihnen, meist selbst am Steuer ihres Autos, die Schönheit der Landschaft
ringsum.
In der Musik, im Klavier- und Orgelspiel, in der Beschäftigung mit
kunstgeschichtlichen und theologischen Themen fand sie den Ausgleich
für ihre Arbeit und gewann daraus auch einen Teil ihrer Kraft. Das
tragende Fundament ihres Lebens jedoch war eine tiefe Gläubigkeit. Aus
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 17
ihr schöpfte sie Mut und Zuversicht auch in schweren Stunden, sie gab
ihrer Arbeit Sinn und sie war wohl auch der letzte Grund für ihre
Menschlichkeit und ihre aufopfernde Bereitschaft zur Hingabe an an-
dere.
Hilde Kaufmann war ein Mensch der Tat. Sie hat immer etwas
bewegen wollen, nicht durch kühne, aufsehenerregende Entwürfe, son-
dern durch zähes, geduldiges Arbeiten an den brüchigen Stellen unserer
Strafrechtspflege. Der Bezugspunkt all ihrer Arbeit war der Mensch;
ihm, dem in der Gesellschaft Gescheiterten sollte Gerechtigkeit wider-
fahren. Diesem Bemühen galt ihre wissenschaftliche Verpflichtung. Es
ist das Vermächtnis ihres Lebens und Wirkens.
I.
Kriminalpolitik
und Strafrecntsreform
Implikationen der Normsetzung und
-durchsetzung durch Internationale Organisationen
im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens
von Staatsführungen und ihren Organen
U L R I C H EISENBERG
I. Einleitung
1. Problemstellung
Diesen straf- und strafverfahrensrechtlichen Anregungen entspricht
es, wenn die vergleichende Kriminologie sich innerhalb ihres Rahmens
begrifflich-normativer Anknüpfung mit Fragen der Definition und Kon-
trolle gegenüber Verhalten von Staatsführungen (und ihren Organen) als
mutmaßlichen - und gegebenenfalls terroristischen - Tätergemeinschaf-
ten befaßt. Für solche Tätergemeinschaften sind neben sonstigen Merk-
malsausprägungen 3 insbesondere Formen der in totalitär oder autoritär
verfaßten Staaten auch (verfassungs-)rechtlich begründeten Vereinheitli-
chung der staatlichen Gewalten kennzeichnend, die eine funktionelle
2. Thematische Eingrenzung
In Anbetracht des Umfangs von Rechtsgewährleistungen durch inter-
nationale Vereinbarungen (s. teilweise ü. II. 2.), die mit der Garantie
sowohl politischer Bürgerrechte5 als auch zunehmend wirtschaftlicher
4 S. Eisenberg a.a.O. (Fn.3), 1985, §10.
sEinerseits erscheint bei funktioneller Betrachtung der Phänomene und Zusammen-
hänge staatlich organisierten Terrors die Außerkraftsetzung politischer Bürgerrechte als
seine regelmäßige, wenngleich nicht notwendige Bedingung, nicht aber stellt diese als
solche i. S. herkömmlichen Verständnisses ein „crimen" dar. Andererseits mögen Ein-
schränkungen insbesondere des Schutzes des persönlichen Geheimbereichs der Funktiona-
lisierbarkeit (somit zugänglicher) einschlägiger „Erkenntnisse" zugunsten staatlicher
Repression entsprechen, so daß eine gleichsam systematische Verletzung von Normen
dieses Bereichs der Thematik zugehören würde, soweit internationale Vereinbarungen die
Privatsphäre gegen Eingriffe hoheitlicher Gewalt schützen.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 23
3. Einzelne Normensysteme
Das begrifflich-normative Zugangsproblem der einschlägigen krimi-
nologischen Forschung bleibt, ein Normensystem zugrundezulegen, das
geeignet ist, die in Rede stehenden Erscheinungsformen kriminologisch
relevanten Verhaltens in diesem Bereich zu erfassen. Hierfür bieten sich
Normensysteme Internationaler (einschließlich regional-internationaler)
Organisationen in Form rechtsverbindlicher Vereinbarungen an, deren
formuliertes Normziel der Schutz (auch) höchstpersönlicher Individual-
rechts güter vor kriminologisch relevanten Verletzungshandlungen ist,
die von Staatsführungen (und ihren Organen) oder von Dritten began-
gen und von jenen geduldet werden.
a) Als solche kommen auf internationaler Ebene namentlich in Betracht:
- Der im Jahre 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Natio-
nen (im folgenden: VN) angenommene, am 23. März 1976 in Kraft
getretene Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte''
(im folgenden: „Pakt"), einschließlich des Fakultativprotokolls, mit
dem formell-rechtlich unverbindliche7 Rechtsgarantien der im Jahre
1948 durch die VN proklamierten Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte (im folgenden: AEMR) erstmals in völkerrechtlich ver-
bindliche Form gebracht wurden;
II. Normsetzung
1. Implikationen der Normsetzungsprozesse
" S. Art. 14 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969.
26 Ulrich Eisenberg
Organe der VN als auch das Ministerkomitee als Vertretungsorgan des Europarates.
Gemäß Art.60 i.V.m. Art.55c, 62 Abs.2 der Charta der VN sind die für die
Normsetzung in diesem Bereich zuständigen Organe: Die Generalversammlung des
Wirtschafts- und Sozialrats, dessen Mitglieder, die Generalversammlung selbst (Art. 61
Abs. 1 der Charta der VN) sowie die vom WSR eingesetzte Menschenrechtskommission (s.
Art. 68 der Charta der VN), die jeweils ausschließlich mit Vertretern der Regierungen der
Mitgliedsstaaten der VN besetzt sind (s. auch Tarda, M. E., Human Rights - The
International Petition System, Bd.I, 1979 [Part I, Section I.A.], S.3).
Auf europäischer Ebene oblag unbeschadet der Vorarbeiten durch den Europakongreß
und den internationalen Rechtsausschuß (s. Partsch, Die Entstehung der europäischen
Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1953-54, S. 631 [633]) die Ausarbeitung des Entwurfes
der EMRK entsprechend der Aufgabenverteilung nach Art. 15 Abs. a) i. V. m. Art. 3 der
Satzung des Europarates dem mit den Außenministern der Mitgliedsstaaten oder deren
Beauftragten (Art. 14 der Satzung des Europarates) besetzten Ministerkomitee und dem
von diesem eingesetzten Ausschuß höherer Regierungsbeamter (s. auch Art. 17 der Sat-
zung des Europarates); vgl. Partsch, a.a.O., S.649, unter Hinweis darauf, daß der
Ausschuß der Regierungsvertreter der Konvention „im wesentlichen die Form (gab), in der
sie später angenommen wurde".
Zur Kompetenzverteilung innerhalb der OAU vgl. Art. XII ff, Art. II 1 e), Art. VIII ff
der Charta der OAU (abgedruckt bei Peaslee, A.J., International Governmental Organi-
zation, Constitutional Documents, Bd.I, 3.Auflage, 1974, S. 1161 ff). Inwieweit eine
nach innerstaatlichem Recht etwa gegebene parlamentarische Verantwortlichkeit der Ver-
treter der jeweiligen Staatsführung geeignet ist, eine wirksame Einflußnahme des Parla-
ments insbesondere auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter zu gewährlei-
sten, erscheint als wenig geklärt. Der Wirksamkeit von Erklärungen der Staatenvertreter
im Rahmen von Entscheidungsprozessen der jeweiligen Organisation jedenfalls stehen
derartige Gegebenheiten nicht entgegen (zum Problem der parlamentarischen Kontrolle
der Staatenvertreter allgemein s. Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen
Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 4. Auflage, 1984,
Rdn. 1158 a, 1203 ff).
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 27
verteilung innerhalb der OAS) deren mit der Ausarbeitung der AMRK befaßte Organe:
Die von der OAS-Konferenz in Mexiko-City im Jahre 1945 mit der Ausarbeitung der
AMRK beauftragte Interamerikanische Juristenkommission (Art. 105 ff der Charta der
OAS, abgedruckt bei Peaslee, a.a.O. [Fn.22], S. 1182ff) und die Interamerikanische
Menschenrechtskommission (Art. 112 der Charta der OAS); zur Entstehungsgeschichte s.
auch Kutzner, Die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969,
J I R 1971, S. 274. Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskom-
mission erfolgt durch den aus Regierungsvertretern bestehenden Ständigen Rat der OAS
(Art. 4 a. der Satzung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission [abgedruckt
bei Peaslee, a.a.O. (Fn.22), S. 1207ff] i.V.m. den Art.51c., 68 und 78 der Charta der
OAS) auf der Grundlage der von den Regierungen der Mitgliedsstaaten erstellten Kandida-
tenlisten.
Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Juristenkommission erfolgt durch die
Generalversammlung der OAS (Art. 107 i.V.m. Art. 52 ff der Charta der OAS) auf der
Grundlage der von den Mitgliedsstaaten erstellten Kandidatenlisten (Art. 107 der Charta
der OAS).
24 Dieser wird zugleich größtmögliche fachliche Autonomie eingeräumt.
25 Lediglich Art. 71 der Charta der VN sieht fakultativ „Abmachungen zwecks Konsul-
tation mit nicht-staatlichen Organisationen" durch den WSR vor, „die sich mit Angelegen-
heiten seiner Zuständigkeit" befassen (s. hierzu auch Seidl-Hohenveldern, a. a. O. [Fn. 22],
Rdn. 1230 a). - Für die USA wird allerdings berichtet, daß internationale nicht-staatliche
Organisationen generell einer direkten Zusammenarbeit mit formell an der Normsetzung
Beteiligten aus Furcht, für bestimmte außenpolitische Interessen der jeweiligen Regierung
vereinnahmt zu werden, eher abgeneigt seien (s. Weissbrodt, The Influence of Interest
Groups on the Development of United States Human Rights Policies, in: Kaufmann
Hevener a.a.O. [Fn.7] S.229 [246]). Soweit nationale nicht-staatliche Organisationen
hier eine Vermittlerrolle übernähmen, seien sie in der Regel weniger konfliktfähig und
effektiv, da sie nur einen geringen Teil der Wählerschaft repräsentierten und es ihnen
zuweilen auch an Sachkenntnis fehle (s. Weissbrodt, a. a. O., S. 245 f). Die Organe der VN
setzen zuweilen ad hoc-Arbeitsgruppen mit bestimmten Ermittlungsaufträgen ein, ohne
jedoch hierzu verpflichtet zu sein (s. etwa den Bericht der ad hoc-Arbeitsgruppe zu den
Situationen in Südafrika, Namibia, Südrhodesien und den Gebieten unter portugiesischer
Verwaltung aus Anlaß der Vorarbeit zur „Anti-Apartheid-Konvention", in: UN-Year-
book 27 [1973], S. 530 f). Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit diesen
Arbeitsgruppen s. etwa AI, a.a.O. (Fn. 16), S.20f sowie S.233; vgl. auch AI, Jahresbe-
richt 1981, S. 29 f.
Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit den Organen regional-internatio-
naler Organisationen s. AI, a.a.O. (1982) (Fn. 16), S. 141, 329f; a.a.O. (1981), S.31
(32-35).
28 Ulrich Eisenberg
nen oder einzelne ihrer Berichte bestimmt werden, nicht der Offenle-
gung bzw. Begründung 26 . - Die unmittelbar oder mittelbar an der
Normsetzung beteiligten potentiellen Normadressaten trifft weder eine
Pflicht zur Wahrheitsermittlung und Beweisführung hinsichtlich der
Geeignetheit der geplanten Regelungen gemessen am Normziel, noch
obliegt ihnen eine BegründungspiXicht27. Es besteht z . B . auch keine
Verpflichtung, Behauptungen einzelner Staatenvertreter hinsichtlich
einer etwaigen Unverträglichkeit geplanter Regelungen mit kulturellen
Normensystemen28 innerhalb der von ihnen vertretenen Staaten, die einer
Implementation vor allem materiell-rechtlicher Einzelregelungen entge-
genstehen könnten, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen; dies
erscheint insbesondere deshalb inadäquat, weil sich nicht ausschließen
läßt, daß im Falle rechtlicher oder auch nur tatsächlicher Gewaltenver-
einheitlichung archaische kulturelle Normensysteme reaktiviert und im
Sinne staatlicher Repression (erneut) funktionalisiert werden.
Als maßgebliches Kriterium für die Auswahl von Regelungsproble-
men, die Ausgestaltung materieller Rechtsgarantien und der Kontroll-
verfahren erscheint die Konsensfähigkeit bezogen auf die Vertreter der
Staatsführungen der Mitgliedsstaaten der Organisationen, in der sich
deren überwiegende, von der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzel-
staaten offenbar unabhängige Interessenkongruenz hinsichtlich der Sta-
fend die Bundesregierung vgl. etwa BT-Dr. 10/2778, S.3: „Für ihre eigenen Zwecke nutzt
sie (die Bundesregierung, d. Verf.) die ihr jeweils zur Verfügung stehenden Informations-
quellen".
Auch die Regelung des Art. 109 der Charta der OAS enthält keine entsprechenden
Auswahlkriterien.
27 So wurde etwa der vom Ministerkomitee des Europarats festgestellte Entwurf der
DuR 1978, S. 267 mit dem Hinweis auf die für den tatsächlich gewährten Menschenrechts-
schutz entscheidende Maßgeblichkeit der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzelstaa-
ten; s. auch Bartsch a. a. O. (Fn. 11), S. 1759 zur Position der Bundesregierung gegenüber
den Plänen der Institutionalisierung einer Kontrollkommission im Rahmen der Vorarbei-
ten zur europäischen „Anti-Folter-Konvention"; s. insbesondere auch die Art.27ff der
Afrikanischen Charta, in denen in gleichsam generalklauselartiger Form staatsbürgerliche
Pflichten u. a. mit Bezug auf die Staatssicherheit (Art. 29 Abs. 3 der Afrikanischen Charta)
normiert sind (kritisch auch Mbaya, a.a.O. [Fn. 15]); zur herrschaftsstabilisierenden
Funktion einer „Pflichtenakzentuierung (,Verpflichtung') der Freiheitsrechte" (S. 547)
aufgrund wertsystematischer Interpretation allgemein s. Denninger, Freiheitsordnung —
Wertordnung - Pflichtordnung, JZ 1975, S. 545.
30 Wolski a. a. O. (Fn. 20), S. 8.
31 Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung (BT-Dr. 10/2948) betr. Rüstungsexporte
nach Peru: Bei der Entscheidung über die Erteilung einer Rüstungsexportgenehmigung
berücksichtige die Bundesregierung auch „die Gesamtheit ihrer außen- und sicherheitspo-
litischen Interessen einschließlich ihrer Bündnisinteressen" (S. 3).
32 S. hierzu auch Gössner, a.a.O. (Fn.29), S.266 (268); unzulässig ist die Erklärung
von Vorbehalten nur in den Grenzen des Art. 19 (a)-(c) der Wiener Konvention über das
Recht der Verträge, insbesondere, wenn der Vorbehalt mit dem Gegenstand und Zweck
des Vertrages nicht vereinbar ist. S. auch Kühner, Vorbehalte und auslegende Erklärungen
zur Europäischen Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1982, S. 58 (75 ff).
30 Ulrich Eisenberg
53 So haben etwa die U S A bislang keine der oben genannten Vereinbarungen der V N
weite dieser Voraussetzungen ergibt sich nicht zuletzt gemäß der Ausge-
staltung des nationalen Rechts. Während Art. 2 Abs. 2 EMRK eine
Enumeration der zum Teil weitreichenden 36 Rechtfertigungsgründe ent-
hält, erklären der „Pakt" (Art. 6 Abs. 1 S.3), die AMRK (Art. 4 Abs. 1
S. 3) sowie die Afrikanische Charta (Art. 4 S. 3) in Form einer General-
klausel die „willkürliche" Tötung für unvereinbar mit der Rechtsgaran-
tie. In Anbetracht der Unbestimmtheit des Begriffs könnte bezweifelt
werden, ob mit dieser Formulierung eine Regelung getroffen worden ist,
die von Staatsführungen und ihren Organen begangene oder von diesen
geduldete Tötungshandlungen erfaßt37.
Die „Anti-Apartheid-Konvention" (Art.IIa [i]) sowie die „Anti-Völ-
kermord-Konvention " (Art. II a) kriminalisieren Tötungshandlungen,
die sich zum Zwecke systematischer Unterdrückung gegen Angehörige
rassischer Gruppen oder, in der Absicht, nationale, ethnische, rassische
oder religiöse Gruppen zu vernichten, gegen Angehörige dieser Bevöl-
kerungsgruppen richten. Schwierigkeiten mag hier im Einzelfall der
Nachweis einer entsprechenden Systematik der Verfolgung bzw. des
Vorhandenseins einer gegen Bevölkerungsgruppen gerichteten Vernich-
tungsabsicht bereiten.
Keine der ursprünglichen Fassungen der genannten Vertragswerke
enthält eine Erklärung zur Abschaffung der Todesstrafe 38 . Eine Ande-
36
S. hierzu Amnesty International, Die Todesstrafe, 1979, S. 33 f.
37
Der Vorschlag, eine Enumeration der Rechtfertigungsgründe in die Regelung aufzu-
nehmen (so etwa ein Antrag der Niederlande [UN, Official Records of the General
Assembly, Twelfth Session [1957], Annexes [agenda item 33] - Doc. A/3764, S. 10f]),
konnte sich während der Vorarbeiten zum „Pakt" nicht durchsetzen. Mit der Generalklau-
sel sollte der „Eindruck" vermieden werden, es komme der Ausnahme größeres Gewicht
zu als der Regel (s. UN, Official Records of the General Assembly, Tenth Session [1955],
Annexes [agenda item 28] - Doc. A/2929, S.29f). Andererseits wurde eine Enumeration
für „notwendigerweise unvollständig" gehalten (Doc. A/2929, a. a. O.). Dem entspricht es,
daß der Sachverständigenausschuß des Europarats in einer vergleichenden Studie (Sachver-
ständigenbericht - Probleme, die sich aus der Koexistenz der VN-Pakte über Menschen-
rechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, BT-Dr. 7/660, S. 43 ff)
die Auffassung vertritt, „die Ausnahmen, die in (Art. 2 Abs. 2 der EMRK, d. Verf.)
erwähnt werden, seien auch im Text des Pakts enthalten, da keine von ihnen als unberech-
tigt angesehen werden könnte" (Sachverständigenbericht, a. a. O., S. 52).
38
Die Vereinbarungen gehen vielmehr - zum Teil stillschweigend (Art. 4 der Afrikani-
schen C h a r t a . . . ) - von der Verhängung und Vollstreckung dieser Sanktion nach nationa-
lem Recht aus. Art. 6 Abs. 2-6 des „Pakts"; Art. 4 Abs. 2-6 AMRK; s. aber auch Art. 6
Abs. 6 des „Pakts" sowie Art. 4 Abs. 3 AMRK. Während nach dem Wortlaut des „Pakts"
die Frage der Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Todesstrafe in den Beitrittsländern
offen und daher verschiedenen Auslegungen zugänglich ist (dagegen: AI, a. a. O . [Fn. 36],
S.20; a.A. Sachverständigenbericht, a . a . O . [Fn.37], S.42ff, 53), verbietet die auch
insoweit am weitesten gehende Regelung der AMRK die Wiedereinführung der Todes-
strafe in Staaten, die sie abgeschafft haben.
32 Ulrich Eisenberg
rung hat sich inzwischen allein für den europäischen Bereich durch das
sechste Zusatzprotokoll zur EMRK ergeben39. Der „Pakt" und die
AMRK enthalten lediglich bestimmte formelle Sicherheitsklauseln hin-
sichtlich der Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen40. Ob die
in beiden Vertragswerken normierte materielle Voraussetzung der
besonderen Schwere der einer Verurteilung zugrundeliegenden Tat41 die
Verhängungspraxis bei Todesurteilen tatsächlich zu beeinflussen ver-
mag, mag in Anbetracht des unbestimmten, normativen Charakters
dieses Rechtsbegriffs zweifelhaft erscheinen42; zumindest scheint sich
gerade hier - im Sinne der oben gemachten Ausführungen (s. II. l . a )
erwartungsgemäß - das Argument einer Gefährdung der Konsensfähig-
keit gegenüber der Möglichkeit der Initiierung sozialen Wandels im
Bereich des nationalen Rechts durch entsprechende Bestimmungen in
den internationalen Vereinbarungen durchgesetzt zu haben.
NJW 1983, 473, 480. - Art. 2 Abs. 1 S.2 EMRK enthielt ursprünglich lediglich eine
generelle Bezugnahme auf das nationale Recht.
40 Art.6 Abs.2-5 des „Pakts"; Art.4 Abs.2-6 AMRK; s. Bartsch, a.a.O. (Fn.39), zu
den Bestrebungen auf der Ebene der VN, die Abschaffung der Todesstrafe in einem
zweiten Fakultativprotokoll zu regeln.
41 Zur Bandbreite der je nach den innenpolitischen Verhältnissen der einzelnen Staaten
43 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikani-
zone" betreffend die Verursachung solcher Schmerzen oder Leiden, deren Schweregrad
den der Folter nicht erreicht, s. UN, Economic and Social Council, Commission on
Human Rights, Forty-Second Session, agenda item 10 (a), Doc. E/CN. 4/1986/15, S. 11.
34 Ulrich Eisenberg
48 Vgl. dagegen etwa Art. 1 und 2 des Entwurfs eines „Gesetzes zum Verbot unmensch-
licher Haftbedingungen" der Fraktion Die Grünen, BT-Dr. 10/2819. Nach diesem Ent-
wurf ist eine unmenschliche Behandlung „insbesondere die Zufügung von physischen und
psychischen Schmerzen, soweit diese nicht aus der haftbedingten Einschränkung der
körperlichen Bewegungsfreiheit herrühren".
49 S. auch die Begründung zu dem Entwurf eines „Gesetzes zum Verbot unmenschli-
chen den der generalklauselartigen Einschränkung des Rechts auf Leben zugrundeliegen-
den Beweggründen ( U N - D o c . A/2929, a.a.O. [Fn.37], S.35; vgl. auch die entsprechende
Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. [Fn. 37], S. 54).
Für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß die einfachgesetzlichen
Rechtsgrundlagen nach der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte einerseits an den inhaltlichen Anforderungen des Willkürverbots insofern gemessen
werden, als sie hinreichend bestimmt, die Eingriffe mithin vorhersehbar sein müssen.
Andererseits muß es sich nicht um Gesetze im formellen Sinne handeln. Begründet wird
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 35
nissen ü b e r t y p i s c h e einschlägige E r s c h e i n u n g s f o r m e n 5 2 k r i m i n o l o g i s c h
relevanten V e r h a l t e n s erscheinen diese R e g e l u n g e n in m e h r f a c h e r H i n -
sicht als für deren tatbestandliche E r f a s s u n g unzulänglich.
ß) D i e R e g e l u n g des R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d e s d e r U n t e r s u c h u n g s h a f t in
A r t . 5 A b s . 1 B u c h s t , c ) EMRK bleibt n a c h i h r e m W o r t l a u t , der als
L e g i t i m a t i o n für die H a f t allein den h i n r e i c h e n d e n T a t v e r d a c h t g e n ü g e n
läßt, w e i t hinter den A n f o r d e r u n g e n z u r ü c k , die verschiedentlich n a c h
n a t i o n a l e m R e c h t an die R e c h t m ä ß i g k e i t der A n o r d n u n g der U n t e r s u -
c h u n g s h a f t gestellt werden 5 6 .
dies zum einen unter Bezugnahme auf die „common-law"-Tradition des angelsächsischen
Rechts, zum anderen unter Hinweis darauf, daß es nicht Aufgabe der Konventionsorgane
sei, die Einhaltung des innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens zu überprüfen (s. hierzu
Trechsel, Die Garantie der persönlichen Freiheit (Art. 5 EMRK) in der Straßburger
Rechtsprechung, EuGRZ 1980, S.514, 518, 519 m.w.Nachw.).
52 S. Eisenberg, 1985 (Fn.3), §44 Rdn.20, 23 f; den., 1980 (Fn. 3), S.222, 224 ff jeweils
m. w. N.
53 Art. 6 der Afrikanischen Charta enthält insoweit keine besonderen verfahrensrechtli-
chen Bestimmungen.
54 S. auch die Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. (Fn. 37), S. 54.
55 S. schon Nachw. bei Eisenberg, a.a.O. 1980 (Fn.3), S.224f.
56 Kritisch auch Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.524f unter Hinweis darauf, daß trotz der
keine A n w e n d u n g im H a f t p r ü f u n g s v e r f a h r e n ( A r t . 5 A b s . 4 E M R K ) sowie im V e r f a h r e n
über die bedingte Strafaussetzung (s. die N a c h w . bei Vogler, a. a. O . [Fn. 56], S. 764 f).
58 S. Trechsel, a . a . O . ( F n . 5 1 ) , S . 5 2 1 , der darauf hinweist, daß auch hinsichtlich der
übrigen Rechtfertigungsgründe mit A u s n a h m e des A r t . 5 A b s . 1 Buchst, e) (Inhaftierung
wegen Geisteskrankheit, A l k o h o l i s m u s pp.) w e d e r eine U b e r p r ü f u n g der formellen und
materiellen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung durch die Konventionsorgane in
Betracht k o m m t , noch in den genannten Fällen eine gerichtliche H a f t k o n t r o l l e nach A r t . 5
A b s . 4 E M R K f ü r erforderlich gehalten w i r d , w e n n bereits die A n o r d n u n g der Inhaftie-
rung durch ein G e r i c h t v e r f ü g t w u r d e (s. Trechsel, a. a. O . , S. 529).
59 Vgl. die nach ihrem W o r t l a u t in den Einzelheiten nicht deckungsgleichen A r t . 1 0
a So die Formulierung in Art. 10 Abs.3 des „Pakts"; s. auch Art.5 Abs.6 AMRK:
„Punishment consisting of deprivation of liberty shall have as an essential aim the reform
and social readaptation of the prisoners".
63 S. zum europäischen Bereich Kaiser, Zweckstrafrecht und Menschenrechte, SJZ
1984, S. 329; s. aber auch Trechsel, a. a. O. (Fn. 51), S. 527: Außer in Extremfällen...
würden die Straßburger Instanzen sich kaum die Kompetenz anmaßen, in einem derart
kontroversen Gebiet eine Verletzung der Menschenrechte festzustellen..." Dieser
zurückhaltenden Position entspricht es, daß zwar die Prügelstrafe als Verletzung des Art. 3
EMRK beurteilt wird (s. EuGRZ 1977, 486), bei der Frage der Konventionsverletzung
durch den Vollzug strenger Einzelhaft aber in bestimmten Fällen Sicherheitsbelange
Vorrang genießen, soweit die Haft nicht eine totale Sinnesisolation bewirkt („Isolierhaft"),
die nachweislich schwere Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Konstitu-
tion zur Folge hat (s. EKMR EuGRZ 1981, S.91 einerseits, EKMR EuGRZ 1978, S.314
andererseits; zum Begriff der „Isolierhaft" s. EKMR EuGRZ 1976, S.22; 1975, S.455;
1974, S. 107).
64 S. auch Art. 7 der Afrikanischen Charta...
Die Garantie des gesetzlichen Richters, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der
Gerichte (Art. 14 Abs. 1 S.2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 1 AMRK, Art. 6 Abs.l EMRK,
Art. 7 Abs. 1 d) der Afrikanischen Charta...), die Öffentlichkeit der Verhandlung (Art. 14
Abs.l des „Pakts", Art.8 Abs.5 AMRK, Art.6 Abs.l EMRK s. hierzu Vogler, a.a.O.
38 Ulrich Eisenberg
e) Notstandsrecht
Mit Ausnahme des Rückwirkungsverbots 66 ist keine der formellen und
verfahrensrechtlichen Garantien „notstandsfest" 67 ; entsprechendes gilt
für das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. In Anbetracht
dieses Umstandes, demzufolge die grundlegenden rechtsstaatlichen Ver-
fahrensgarantien gerade dann außer Kraft gesetzt werden können, wenn
im besonderen Maße Rechtsgutverletzungen durch Staatsführungen und
ihre Organe infolge (auch formeller) Machtkonzentration zu besorgen
sind, erscheint die Effektivität der nach den Vereinbarungen von einer
Suspensionsmöglichkeit ausgenommenen materiellen Rechtsgarantien in
hohem Maße gefährdet. Dies gilt unter dem Gesichtspunkt der reduzier-
ten Entdeckungswahrscheinlichkeit illegaler Praktiken, insbesondere im
anstaltsinternen Bereich, die von Staatsführungen und ihren Organen
veranlaßt oder zumindest geduldet werden, vor allem auch hinsichtlich
der im Notstandsfalle ermöglichten Einschränkung oder Aufhebung
[Fn. 56], S. 771 ff), die Unschuldsvermutung (Art. 14 Abs. 2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 2
AMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 7 Abs. 1 b) der Afrikanischen C h a r t a . . . ) , verschiedene
Ausprägungen des Rechts auf rechtliches Gehör sowie des Grundsatzes der Waffengleich-
heit im Strafprozeß, die freie Verteidigerwahl (zur Spruchpraxis der Europäischen Men-
schenrechtskommission, nach der es sich hierbei nicht um ein absolutes Recht handle,
sondern der Verteidigerausschluß im Ermessen des Staates stehe, s. Vogler, a. a. O .
[Fn. 56], S. 777) sowie erforderlichenfalls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Art. 14
Abs. 3 a, b, d-g, des „Pakts", Art. 8 A b s . 2 a - g AMRK, Art. 6 Abs. 3 EMRK, der
allerdings voraussetzt, daß die Beiordnung „im Interesse der Rechtspflege" erforderlich
sei; vgl. Vogler, a . a . O . [Fn. 56], S. 777 m . w . N a c h w . ; s. auch A r t . 7 Abs. 1 c) der
Afrikanischen C h a r t a . . . ) , das Appellationsrecht (Art. 14 Abs. 5 des „Pakts", s. hierzu den
Vorbehalt der Bundesrepublik, in: Multilateral Treaties, a . a . O . [Fn. 33], S. 129; Art. 8
A b s . 2 h AMRK), das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 14 Abs. 7 des „Pakts"; Art. 8
Abs.4 AMRK), das Beschleunigungsprinzip (Art. 14 Abs.3c) des „Pakts"; A r t . 6 Abs. 1
AMRK, Art. 5 Abs. 3 E M R K ; kritisch zur restriktiven Anwendung dieses Grundsatzes
durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Trechsel, a. a. O . [Fn. 52],
S.523; s. auch A r t . 7 A b s . l d ) der Afrikanischen Charta) und schließlich das Rückwir-
kungsverbot (Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK, Art. 7 Abs. 2 der Afrika-
nischen C h a r t a . . . ) . Art.2 Abs.3 des „Pakts", Art.25 AMRK, Art. 13 EMRK (s. auch
Art. 7 Abs. 1 a) sowie Art. 26 der Afrikanischen C h a r t a . . . ) verpflichten die Beitrittslän-
der, effektiven innerstaatlichen Rechtsschutz hinsichtlich der in den Konventionen garan-
tierten Rechte zu gewährleisten.
66
S. Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK.
67
A r t . 4 Abs.2 des „Pakts" (s. hierzu UN-Doc. A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.23f, aus
dem hervorgeht, daß im Rahmen der Vorarbeiten zu dieser Regelung weitergehende
Vorschläge, die eine Einbeziehung auch der Verfahrensgarantien zum Gegenstand hatten,
durchaus zur Diskussion standen), Art. 27 Abs. 2 AMRK, Art. 15 EMRK.
Die Afrikanische C h a r t a . . . enthält keine ausdrückliche Regelung zur Suspension von
Rechtsgarantien im Falle des nationalen Notstandes (s. hierzu Mbaya, a . a . O . [Fn. 15],
S. 135).
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 39
III. Normdurchsetzung
1. Kontrolle von Normverletzungen
" Es könnte daher zweifelhaft sein, ob diese Problematik hinreichend dadurch erfaßt
wird, daß in rein formeller Betrachtung lediglich die (zeitweilige) Außerkraftsetzung
einschlägiger Verfahrensrechte zu einer Bedrohung elementarer Existenzrechte ins Ver-
hältnis gesetzt wird (s. etwa BVerfGE 49, 24 [55 ff, 59]; vgl. zur Problematik aber auch
Amelung, Nochmals: § 34 StGB als öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm? NJW 1978, 623 f).
Vgl. UN-Doc. E/CN.4/1986/Ii, a.a.O. (Fn.47), S.3, 26f, demzufolge die vollständige
„Kontaktsperre" im Notstandsfalle allgemein Rahmenbedingung der Anwendung von
Folterpraktiken sei.
69 S. Art. 2 des „Pakts", Art. 2 AMRK, Art. 2 der „Anti-Rassendiskriminierungs-
Aufgabe der Vertragsstaaten angesehen (s. etwa die Nachw. bei Nowak, Die Durchsetzung
des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, EuGRZ 1980, S. 532
[541]). Soweit zur Begründung dieser Auffassung auf den Grundsatz der Staatensouveräni-
tät verwiesen wird, erscheint dieser wegen der für die (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften
typischen Merkmalsausprägungen ambivalent, da er neben seinem (unter außenpolitischen
Gesichtspunkten eher freiheitlichen) anti-interventionistischen Gehalt innenpolitisch eine
die repressive Funktionsausübung unterstützende Wirkung haben kann. Allerdings wird in
der neueren (sozialistischen) Literatur {Graefrath/Mohr, Völkerrechtliche und strafrechtli-
che Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen, in: Staat und Recht, 1986, S. 29ff)
unter Bezugnahme auf die sogenannten „Nürnberger Prinzipien" differenziert zwischen
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Personen und der völkerrechtlichen Verant-
wortlichkeit von Staaten. Während die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit
von Personen für von ihnen in ihrer Funktion als Organe der Staatsführung begangene
internationale Verbrechen nicht mit einer „Berufung auf staatliche Souveränität und daraus
fließender Immunität abgewendet werden kann" {Graefrath/Mohr, a.a.O., S. 31; s. auch
UN-Doc. EtCN.4/1986/15, a.a.O. [Fn.47], S.9 m.w.N.), könnten - ebenso wie bei
völkerrechtlichen Delikten, die nicht als internationale Verbrechen definiert sind - Rechts-
folgen wegen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates nur unter Berücksichti-
40 Ulrich Eisenberg
gung der Staatensouveränität verhängt werden (zur Anwendung des nationalen Selbstbe-
stimmungsrechts auf koloniale Situationen s. Hinz, a. a. O . [Fn. 7], S. 75 ff).
71
S. Art. VI der „Anti-Völkermord-Konvention", Art. V der „Anti-Apartheid-Kon-
vention"; s. hierzu auch Gössner, a . a . O . (Fn.29), S.269.
Die früheren Bestrebungen, zur Implementation der im „Pakt" garantierten Rechte
einen Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte zu institutionalisieren, vermochten
sich wegen ihres den hergebrachten völkerrechtlichen Grundsätzen der Souveränität und
Unabhängigkeit der Staaten widersprechenden Gehalts nicht durchzusetzen (vgl. UN-Doc.
A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.3).
72
Zu den Vorbehalten Algeriens, Burmas, Marokkos, der Philippinen und Venezuelas
gegenüber der in der „Anti-Völkermord-Konvention" vorgesehenen internationalen Straf-
gerichtsbarkeit s. Multilateral Treaties, a. a. O . (Fn. 33), S. 92, 94, 95.
73
Eine Sonderstellung nimmt insoweit die „Anti-Folter-Konvention" ein, die das
Mitteilungssystem verbindet mit der Einführung des Weltrechtsprinzips allerdings nur
betreffend Folterhandlungen (s. Art.4ff der „Anti-Folter-Konvention"; krit. Marx, R.,
Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschli-
che oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, ZRP 1986, S. 81, 82, 83; s. auch Fn. 47)
sowie in Anlehnung an das Verfahren nach Resolution 1503 des WSR bei Vorliegen
zuverlässiger Informationen über systematische Folterungen die Möglichkeit vertraulicher
Untersuchungen vorsieht (Art. 20 der „Anti-Folter-Konvention"). Allerdings regelt
Art. 28 der Konvention zugleich ausdrücklich die Zulässigkeit von Vorbehalten speziell zu
dieser Bestimmung (s. hierzu auch Maier, I., a . a . O . [Fn.46], S.2). '
74
S. im Text I l . l . a .
75
S. etwa UN-Doc. AI6546 (General Assembly / Twenty-first session / agenda item 62,
Report of the Third Committee), S. 53: " . . . I t was fully recognized, . . . , that a proper
balance should be struck between the requirement of a minimum effectiveness of imple-
mentation procedure, on the one hand, and the need for securing the widest possible
acceptance of the Covenant by Member States, on the other h a n d . . . " ; s. auch Bartsch,
a . a . O . (Fn.21), S. 115, unter Hinweis darauf, daß die Durchsetzbarkeit der Rechtser-
kenntnisse der Konventionsorgane „allzu starke Abweichungen von dem kollektiv akzep-
tierten Standard und Rechtsschöpfungen" ausschließe. S. auch Fn. 92.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 41
Versammlung der Vertragsstaaten (Art. 30 Abs. 4 des „Pakts") aufgrund einer von den
Vertragsstaaten erstellten Kandidatenliste (Art. 29 Abs. 1 des „Pakts"). Die Regelungen der
„Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entspre-
chen denen des „Pakts". - Eine Sonderstellung nimmt der in der „Anti-Apartheid-
Konvention" vorgesehene Ausschuß ein, der regelmäßig aus drei Mitgliedern der VN-
Menschenrechtskommission bestehen soll; s. Art. IX der Konvention.
Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ebenso
wie die der Mitglieder des Interamerikanischen Gerichtshofs erfolgt durch die Generalver-
sammlung der OAS auf der Grundlage der von den Regierungen (Art. 36 Abs. 1 AMRK)
bzw. den Mitgliedsstaaten (Art. 53 AMRK) erstellten Kandidatenlisten. Zur Inkompatibi-
litätsregelung des Art. 71 AMRK s. Kokott, Der Interamerikanische Gerichtshof für
Menschenrechte und seine bisherige Praxis, ZfaöR 1984, S. 806 (809 f).
Die Wahl der Mitglieder der Afrikanischen Menschenrechtskommission soll erfolgen
durch die Versammlung der Staats- und Regierungschefs aufgrund einer von den Vertrags-
staaten erstellten Kandidatenliste (Art.33 der Afrikanischen Charta...); s. hierzu Bartsch,
a.a.O. (Fn.39), S.473; zu ihren Kompetenzen s. Bartsch, a.a.O. (Fn. 14), S.479f); vgl.
auch Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: NJW
1981, S. 489 zum Scheitern der Einigungsbemühungen hinsichtlich einer Inkompatibilitäts-
regelung betreffend die Mitgliedschaft in der Kommission und der Innehabung eines
Regierungsamtes.
Die Wahl der Mitglieder der Europäischen Menschenrechtskommission erfolgt durch
das Ministerkomitee aufgrund einer vom Büro der Beratenden Versammlung erstellten
Kandidatenliste (Art. 21 EMRK).
42 Ulrich Eisenberg
81 Die Wahl der Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erfolgt
durch die Beratende Versammlung aufgrund einer von den Mitgliedsstaaten des Europara-
tes erstellten Kandidatenliste (Art. 39 EMRK).
82 Art. 28 Abs. 3 des „Pakts"; die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der
niens, Chiles, Uruguays, Paraguays und Boliviens erfolgten Änderungen der Gerichtspra-
xis der Interamerikanischen Menschenrechtskommission; s. auch im Text III. 2. a.
84 Art. 45 des „Pakts", Art. 6 des Fakultativprotokolls, Art. 24 der „Anti-Folter-
86 Art.41 Abs. 1 e)-h), 40 Abs.4, 42, 47, 45 des „Pakts"; die Regelungen der „Anti-
88 Art. 48 EMRK, Art. 61 Abs. 1 AMRK. S. aber zur Verbesserung der Position des
den Geltungsbereich der EMRK vgl. Murswiek, Die Individualbeschwerde vor den
Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention - Zulässigkeitsvoraussetzungen,
in: JuS 1986, S.8.
Zu der Funktion des Vorverfahrens und der Frage der Wirksamkeit einer Verzichtser-
kiärung des betreffenden Staates im Falle einer „Selbstanklage" (s. IAGMR EuGRZ 1984,
S. 189) s. Kokott, a. a. O. (Fn. 80), S. 813 ff.
90 Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, b), c) AMRK.
drücklich auch nur für spezielle Fälle zu. Diese Möglichkeit mag nicht zuletzt Legitima-
tionsbelangen der Staatsführungen insofern entgegenkommen, als sie es diesen gestattet,
auf der Grundlage von Erwägungen politischer Opportunität nur solche Fälle der Kon-
trolle durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, in denen eine Bestätigung ihrer Praxis
zu erwarten ist.
Im Geltungsbereich der EMRK stand die Regelung des Art. 46 bislang vor allem in
Angelegenheiten der Staatenbeschwerde einer Befassung des Gerichtshofs entgegen
(s. auch Lindemann, Die Zulässigkeitsentscheidung der Europäischen Menschenrechts-
kommission im Fall der Staatenbeschwerde Frankreichs, Norwegens, Dänemarks,
Schwedens und der Niederlande gegen die Türkei vom 6. Dezember 1983, ZfaöR 1984,
346, 349).
95 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes...
NJW 1980, S.494: Das Komitee sei „als politisches Organ ein Fremdkörper in dem
44 Ulrich Eisenberg
v o n d e r K o m m i s s i o n a n g e n o m m e n e n , v o n dieser o d e r d e m betreffenden
Staat j e d o c h n i c h t d e m G e r i c h t s h o f z u r E n t s c h e i d u n g v o r g e l e g t e n Fällen
m i t Z w e i - D r i t t e l - M e h r h e i t ü b e r das V o r l i e g e n einer K o n v e n t i o n s v e r l e t -
zung entscheidet.
O b die b e z e i c h n e t e j u s t i z f ö r m i g e A u s g e s t a l t u n g d e r V e r f a h r e n insbe-
s o n d e r e bei I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e n für den B e s c h w e r d e f ü h r e r „günsti-
ger" 9 6 ist, e r s c h e i n t in A n b e t r a c h t dieser Fülle v o n Z u g a n g s s c h r a n k e n
zweifelhaft 9 7 . V i e l m e h r m ö g e n sich diese als z u s ä t z l i c h l e g i t i m a t i o n s f ö r -
dernd auswirken, s o w e i t sie ihre G r u n d l a g e in s o l c h e n Umständen
h a b e n , die die E n t d e c k u n g s w a h r s c h e i n l i c h k e i t illegaler P r a k t i k e n der
(mutmaßlichen) Tätergemeinschaften im R a h m e n der ihnen eigenen
F u n k t i o n s a u s ü b u n g a u c h i m innerstaatlichen B e r e i c h r e d u z i e r t e r s c h e i -
n e n lassen.
G e m e i n s a m ist den R e g e l u n g e n der K o n t r o l l v e r f a h r e n , daß, s o w e i t
den O r g a n e n Befugnisse zu eigenen Ermittlungen e i n g e r ä u m t sind, sie
diese vertraulich98 f ü h r e n , w o b e i sie jeweils auf die Mitwirkung des
betreffenden Staates angewiesen sind 9 9 . Mit Ausnahme der (i. e. S.)
r e c h t s p r e c h e n d e n I n s t i t u t i o n e n tagen die K o n t r o l l o r g a n e g r u n d s ä t z l i c h
Auch für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß von
dieser Beschwerdemöglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch gemacht
wird113. - Allgemein wird die Wirksamkeit derartiger Verfahren im
regional-internationalen Bereich zusätzlich dadurch in Frage gestellt,
daß gewisse, mit dem hier vorgesehenen justizförmigen Verfahren ver-
bundene, (auch generalpräventive) Wirkungen dann nicht erzielt werden
können, wenn sich nicht auch der Beschwerdegegner der Gerichtsbar-
keit des jeweiligen Gerichtshofs unterworfen hat114.
113 Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 118; zum Umfang der Darlegungslast für die Zulässig-
keit der Staatenbeschwerde s. Lindemann, a. a. O. (Fn. 94), S. 346, unter Hinweis darauf,
daß ein prima-facie-Beweis der Konventionsverletzung nicht erforderlich ist, jedoch
insbesondere bei Behauptung einer konventionsverletzenden Verwaltungspraxis für die
Nichtanwendung des Art. 26 EMRK ein substantiierter Sachvortrag vorausgesetzt wird.
114 S. im Text III. 1. a. ß).
12J
Nowak, a. a. O. (Fn. 70), m. w. Nachw.
124
S. etwa Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.520f m. w.Nachw.
125
S. Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.525 zur Spruchpraxis der Europäischen Menschen-
rechtskommission zum „hinreichenden Tatverdacht" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst, c)
EMRK.
126
Zu Problematik und Funktion von Aktenrealität s. Eisenberg, a.a.O. 1985 (Fn. 3),
§13 Rdn.16, §40 Rdn.3.
50 Ulrich Eisenberg
127 S. Bartsch, a.a.O. (Fn. 80), S. 493 f. (Fn. 14), S.484 zur Einflußnahme einiger
Mitgliedstaaten der O A S auf die Fassung der Jahresberichte der Interamerikanischen
Menschenrechtskommission; s. auch Fn. 83.
Demgegenüber besteht die ausführliche Berichtspraxis des VN-Menschenrechts-Aus-
schusses fort. Die Fassung der Sachentscheidungen nähert sich feststellenden Urteilen an,
ohne daß diese allerdings - im Unterschied zu den Entscheidungen des jeweils im regional-
internationalen Bereich institutionalisierten Gerichtshofs - vollstreckbar wären (s. im
einzelnen Bartsch, a. a. O. [Fn. 11], S. 1755).
128 Zur Vollstreckung s. Art. 68 AMRK, Art. 54 EMRK; gemäß der zuletzt genannten
Bestimmung obliegt die Überwachung der Durchführung dem Ministerkomitee (s. auch
Fn. 95).
129 S. hierzu Vogler, a.a.O. (Fn. 56), S. 779, der die Auffassung vertritt, daß die
a.a.O. (Fn. 11), S. 1752, betreffend den mehrfach geforderten Ausschluß der Türkei aus
dem Europarat.
Kriminalprävention und Sozialkritik
im Werk Cesare Beccarias
„Über Verbrechen und Strafen" (1764)
GERHARD DEIMLING
1 Hilde Kaufmann, Repression oder Vorbeugung? In: Hilde Kaufmann (Hrsg.), Die
Kriminalität Jugendlicher und wir. Repression oder Vorbeugung durch Erziehung, 1974,
S. 15.
52 Gerhard Deimling
2 Die folgenden Beccaria-Zitate sind der von Wilhelm A l f f aus dem Italienischen
übersetzten und herausgegebenen Ausgabe „Verbrechen und Strafen", erschienen im Insel-
Verlag Frankfurt a. M. 1966, entnommen (zitiert: Alff). Zum Textvergleich wurden außer
der von Marcello Maestro in der Reihe Feltrinelli Economica StA Milano 1977, herausgege-
benen italienischen Fassung, die von Philip Jacob Flathe ebenfalls aus dem Italienischen
übersetzte und von Karl Ferdinand Hommel 1778 (zit.: Hommel) sowie die aus dem
Italienischen übersetzte und mit Anmerkungen Denis Diderots versehene zweibändige
Ausgabe von Johann Adam Bergk, 1798 (zit.: Bergk) benutzt. Hilfreich ist auch das von
Karl Esselborn nach der 1812 in Mailand erschienenen Folio-Ausgabe übersetzte und 1905
in Leipzig herausgegebene Werk Beccarias (zit.: Esselborn). Auf weitere deutschsprachige
Übersetzungen braucht im Rahmen dieser Abhandlungen wegen der relativ wenigen
sinnverändernden Textabweichungen nicht eingegangen zu werden.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 53
aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter"
(Alff 51). Das im vorvertraglichen Zustand der Gesellschaft herrschende
Gesetz der Selbsthilfe und der Macht des Stärkeren sowie die aus diesem
Zustand hervorgehenden Verbrechen und Strafen müssen deshalb auch
qualitativ von denen verschieden sein, die in einer Gesellschaft auftreten
können, in der die Gesetze„Verträge freier Menschen" sind ( A l f f 48).
Der Gedanke, daß sich in der Art der Verbrechen und Strafen der
gesellschaftliche und politische Zustand einer Nation widerspiegeln,
wurde bereits von Montesquieu (1689-1755) in seinem Werk „De
l'Esprit des Lois" (1748) ausgesprochen. Im neunten Kapitel des sech-
sten Buches heißt es: „Härte der Strafen ist der despotischen Regierung,
deren Prinzip der Terror ist, eher gemäß als der Monarchie und der
Republik, deren Triebkraft Ehre bzw. Tugend ist" 3 . Montesquieu war es
auch, der den Vorbeugungsgedanken unmittelbar mit der Gesetzgebung
„maßvoller Staaten" in Verbindung brachte: „In diesen Staaten läßt es
sich ein guter Gesetzgeber nicht so sehr angelegen sein, Verbrechen zu
bestrafen als vielmehr ihnen zuvorzukommen. Er wird sich mehr für die
Schaffung von Sitten einsetzen als für die Verhängung von Todes-
strafen" 4 .
Wenn es bei Beccaria weiter heißt, daß es der Zweck einer jeden guten
Gesetzgebung sei, „die Menschen zum größtmöglichen Glück oder zum
geringstmöglichen Unglück zu führen" {Alff 148 f) - in der „Einleitung"
heißt es: „Das größte Glück verteilt auf die größte Zahl von Menschen"
(Alff 48) - dann muß noch eines anderen Schriftstellers gedacht werden,
dem Beccaria diese für die Soziallehre der Aufklärungszeit bedeutsame
Formel verdankt, nämlich Francis Hutcheson (1694-1746). Von ihm
stammt die leicht einprägbare Formulierung „vom größten Glück für die
größte Zahl". So wie bei Beccaria taucht sie in vielen anderen zeitgenös-
sischen Schriften der europäischen Philosophie und Nationalökonomie
auf und erfährt im Verlaufe nur weniger Jahrzehnte manche eigentümli-
chen Abwandlungen, die sowohl Ausdruck einer unverkennbaren Resi-
gnation angesichts des Ausbleibens der erhofften Verbesserungen als
auch eines wiedergewonnenen realistischeren Denkens sind.
Verbrechensvorbeugung ist für Beccaria ein zweckrationales Mittel in
der Hand des aufgeklärten Gesetzgebers innerhalb eines von Despotis-
mus freien Staates freier Bürger zur Verwirklichung des größtmöglichen
Glücks für die größtmögliche Zahl. Nur ein auf Gewaltenteilung beru-
hender republikanischer Rechtsstaat, den sich die Aufklärer erhofften,
kann es sich leisten, der Kriminalprävention den Vorzug vor der Verbre-
3
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1974, S. 172.
4
Montesquieu, a . a . O . S. 172. Uber die Auseinandersetzung Beccarias mit Montes-
quieu siehe Esselborn, S. 5 ff.
54 Gerhard Deimling
5
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Kant
Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, 1968, S.239.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 55
6 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Uber die Erziehung, in neuer deutscher Fassung
besorgt von Josef Esterhues, zweite Auflage, 1962, S. 208.
7 Hommel, S . X X I f ; siehe auch J.A. Bergks Kommentar Bd. 1, S.312.
56 Gerhard Deimling
Gesetzen. Nach Beccarias Ansicht hat der gute Gesetzgeber die Pflicht,
die Bürger des Staates anzuhalten, sich aktiv für die allgemeine Anerken-
nung des Gesetzes einzusetzen. Dadurch identifizieren sie sich leichter
mit „ihrem" Staat und geben ihrer gegenseitigen Verbundenheit durch
Steigerung des Verbindlichkeitsgrades ihrer Rechtsordnung Ausdruck.
Die Gesetze sind um so verbindlicher, je mehr sie jedem einzelnen
Bürger wegen ihrer Einfachheit und Klarheit als gerecht erscheinen. Sie
besitzen eigene Würde und Legitimität; ihre Verletzung m u ß jedem
Bürger als Frevel gelten. Indem der Einzelne erkennt, daß es moralisch
wertvoll ist, rechtlich korrekt zu handeln, wächst seine Bereitschaft, die
Gesetze nicht nur zu respektieren, sondern auch zu verteidigen. Die
Verteidigung der Gesetze durch die Bürger ist für Beccaria ein wirksa-
mes Prophylaktikum gegen deren latente Neigung, Verbrechen zu bege-
hen. An die Adresse des Souveräns gerichtet fordert er daher: „Ihr wollt
den Verbrechen vorbeugen? Dann sorget dafür, daß die Gesetze klar
und einfach sind, die ganze Macht der Nation sich auf ihre Verteidigung
konzentriert und kein Teil auf ihre Zerstörung verwendet wird" ( A l f f
149 f).
8
Montesquieu, a. a. O . S. 255.
9
Emile Durkheim, Der Selbstmord. Mit einer Einleitung von Klaus Dörner und einem
Nachwort von René König, 1973, S. 100-123.
10
Das seinem Buch vorangestellte Motto stammt von Francis Bacon und lautet über-
setzt: „Gerade bei den schwierigsten Unternehmungen darf man nicht erwarten, daß einer
zugleich säe und ernte, sondern es bedarf der Vorbereitung, damit sie allmählich heran-
reifen".
58 Gerhard Deimling
nur die gehörige Achtung (die innere kann ihr kein Sterblicher verwei-
gern) und trete tugendhafte Männer nicht zu Staub, dann wird schon die
Tugend triumphieren" (Bergk 322). Hommel dagegen stimmt Beccaria
ohne Einschränkung zu und führt als Beleg für die Richtigkeit seiner
Auffassung ein allerdings weit hergeholtes Beispiel13 für die Belohnung
der Keuschheit an, die nachhaltigere Wirkungen hervorgebracht habe als
die infamierenden „Hurenstrafen" seiner Zeit. Bedauernd bemerkt er
jedoch: „Belohnungen würden mehr ausrichten, aber sie kosten Geld"
(Hommel 230).
10. Das sicherste, aber zugleich auch schwierigste Mittel der Verbre-
chensvorbeugung ist nach Beccarias Ansicht schließlich die Vervoll-
kommnung der Erziehung. Ebenso wie innerhalb eines Staates zwischen
der Art der Strafen und der Art der Regierung eine nahe Verwandtschaft
besteht, so besteht eine solche auch zwischen der Erziehung und der
„Natur der Regierung" ( A l f f 155). Die wechselseitige Abhängigkeit von
Politik und Erziehung, von Politik und Strafrechtspflege sowie von
Strafrechtspflege und Erziehung liegt für Beccaria auf der Hand. Er steht
auch hinsichtlich seiner hohen Einschätzung des erzieherischen Einflus-
ses auf den gesellschaftlichen und staatlichen Zustand in der geistesge-
schichtlichen Tradition Montesquieus, der im IV. Buch „Vom Geist der
Gesetze" 14 die unterschiedlichen Erziehungsprinzipien behandelt, die
der Despotie, der Monarchie und der Republik zugrundeliegen. Eine
despotische Regierung kommt - um sich selbst zu erhalten - nicht
umhin, zu blindem Gehorsam zu erziehen: sie muß die Unwissenheit
der Gehorchenden erhalten und weiß ihre Untertanen nur mittels Ter-
rors zu bändigen. Die Monarchie legt Wert auf die Erziehung des
„honnete homme", dem Galanterie, Ränke und List, Augendienerei,
Höflichkeit, Hochmut und Erlesenheit des Geschmacks als Zeichen
seiner Anpassung an die höfischen Sitten dienen. Der Entzug der Ehre
als dem höchsten Wert ist ihre spezifische Sanktion; der Verlust der Ehre
wird mehr gefürchtet als der Verlust des Lebens. Die Republik schließ-
lich erzieht ihre Bürger zur „politischen Tugend", sie fordert die „Liebe
zu den Gesetzen und zum Vaterland"15 und verhängt im äußersten Fall,
wenn präventive Mittel nicht mehr ausreichen, nur solche Strafen, die
auf Gesetzen beruhen und dem Schweregrad des Verbrechens entspre-
chen. Strafen dieser Art sind für Beccaria „politische Hemmungen"
13 Es bezieht sich auf das Rosenfest des französischen Bischofs Medardus von Noyon
(gestorben vor 561), auf dem alljährlich ein Mädchen mit tadellosem Lebenswandel geehrt
und mit einer ansehnlichen Aussteuer bedacht wurde.
14
Montesquieu, a.a.O., S. 130-137.
15
Montesquieu, a.a.O., S. 136.
62 Gerhard Deimling
{Alff 61), die die zerstörerischen Kräfte des Menschen zügeln und in eine
Richtung lenken sollen, die der Gesellschaft nützlich ist.
Beccaria führt diesen Gedanken Montesquieus über die wechselseitige
Bedingtheit und Abhängigkeit von Politik und Erziehung in seinem
Werk - wohl aus Furcht vor der Zensur-und vor Repressalien16 - nicht
weiter aus, sondern begnügt sich mit Andeutungen, die keinen Zweifel
daran lassen, welcher Regierungsform und welcher Art von Erziehung
er den Vorzug gibt. Ungenannt bleibt auch der Name des „großen
Mannes", „welcher die Menschheit aufklärt, die ihn verfolgt"17. Zweifel-
los hatte Beccaria Jean Jacques Rousseau im Sinn, dessen Werk „Emile,
ou de l'éducation" (1762) unmittelbar nach seinem Erscheinen vom
Obersten Gerichtshof in Frankreich und vom Erzbischof von Paris
sowie am 6. Oktober 1763 in Rom verurteilt und auf den Index librorum
prohibitorum gesetzt worden war. Beccaria erhoffte sich von der Ver-
breitung und Anwendung der Rousseau 'sehen Pädagogik eine kriminal-
präventive Wirkung auf die heranwachsende Jugend, indem sie sie „auf
dem leichten Wege des Gefühls zur Tugend zu ermuntern und auf dem
nicht zu verfehlenden Wege der Einsicht in die Notwendigkeit und die
unangenehmen Folgen vom Bösen abzulenken" vermag ( A l f f 156).
Das Hauptmittel der von Beccaria so gepriesenen „wahrhaft nützli-
chen Erziehung" ist der Unterricht, wie ihn Rousseau am Beispiel der
Erziehung und des Unterrichts Emils vorstellt: der Heranwachsende soll
eigene Erfahrungen im Umgang mit der Welt machen und keinen
anderen Lehrer als die Natur in ihrer unverfälschten Ursprünglichkeit
haben18. Er soll „die Wissenschaft nicht lernen, sondern selbst finden" 1 '.
Bei seinen Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit muß er sich von
seinen Sinnen leiten lassen; „kein anderes Buch als die Welt und kein
anderer Unterricht als der durch die Tatsachen"20 kann ihn wirklich
bilden: „Die Sachen! Die Sachen! Ich kann es nicht genug wiederholen,
daß wir den Worten zu viel Bedeutung beimessen. Mit unserer schwatz-
haften Erziehungsmethode erziehen wir nur Schwätzer"21. Der neue
Mensch, wie ihn Rousseau und Beccaria als tugendhaften Bürger einer
künftigen republikanischen Gesellschaft sehen, hat sich von den Irrtü-
mern und Vorurteilen der Überlieferung befreit: „Er ist nicht durch die
Menschen, sondern durch die Natur gebildet"22, er hat die „Nachah-
mungen durch die Urbilder sowohl der moralischen als auch der Natur-
erscheinungen" 23 ( A l f f 155) ersetzt. Er handelt aus Freiheit in Uberein-
stimmung mit den Gesetzen und bedarf zu seiner rechtlich korrekten
Lebensführung nicht mehr der Strafdrohung des Staates. Beccaria plä-
diert in kriminalpräventiver Absicht für eine Art „Curriculum-Reform":
„Der Unterricht hat weniger in einer unfruchtbaren Menge von Gegen-
ständen zu bestehen als in der Auswahl und Genauigkeit derselben"
(Alff 155). Seine Empfehlungen zur Verbrechensprophylaxe durch
Erziehung und Unterricht zielen primär auf das Erlernen antikrimineller
Verhaltensmuster (E.H. Sutherland) durch den unbescholtenen Bürger
ab. Sie können jedoch sekundär auch als Maxime der „Erziehung des
Rechtsbrechers" durch organisierten Gefängnisunterricht als Mittel der
Rückfallprophylaxe verstanden werden25.
22
Rousseau, a. a. O., S. 284.
25
Siehe hierzu: Thomas Würtenberger, Cesare Beccaria (1738-1794) und sein Buch
„Verbrechen und Strafen" (1764) in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1964, S. 127-134.
64 Gerhard Deimling
deren Fall hält Beccaria auch die Todesstrafe als den „rechten und
einzigen Zügel" für zulässig, „um die anderen von der Begehung des
Verbrechens abzuhalten" ( A l f f 111). Im übrigen jedoch soll der Bürger
wissen, „daß er alles tun kann, was dem Gesetz nicht entgegen ist, ohne
eine andere Mißhelligkeit zu befürchten als die aus der Handlung selber
möglicherweise hervorgehende; dieses Wissen ist der politische Lehr-
satz, auf den die Völker sich stützen und der von den höchsten Behörden
unter untadeliger Wahrung des Gesetzes verkündigt werden sollte: ein
unantastbarer Lehrsatz, ohne den es keine legitime Gesellschaft geben
kann" {Alff 67)24.
Beccarias Vorstellungen über Verbrechen und Strafen beruhen ebenso
wie seine Auffassungen zur Verbrechensvorbeugung auf seiner politi-
schen Philosophie von Staat und Gesellschaft und sind daher nur mittel-
bar von kriminologischer Relevanz. Seine erst in Ansätzen erkennbare
Verbrechenstheorie ist faktisch eine verschlüsselte Kritik der Macht- und
Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit. Sein weitreichendes Programm der
politischen und gesellschaftlichen Reform erscheint aus Gründen der
Umgehung der Zensur im weniger anstößigen Gewand der „menschen-
freundlichen" Verbrechensvorbeugung, gegen das auch seine schärfsten
Kritiker keine Argumente vorzubringen wissen. Dabei hat er nicht den
Straftäter, sondern den Inhaber der staatlichen Macht, nicht das vor
Straffälligkeit zu bewahrende Individuum, sondern den zur Verwirkli-
chung des „größten Glücks für die größte Zahl" verantwortlichen
Gesetzgeber im Visier. Verbrechen sind ein im Prinzip vermeidbares
Unglück sowohl für den Täter als auch für das Opfer und für die
Allgemeinheit. Beccaria sieht die Ursachen für dieses Unglück erstens in
einer schlechten, d.h. unvernünftigen, unaufgeklärten Gesetzgebung,
die die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie
zu vermindern, die widersprüchliche, unklare und unzuverlässige
Gesetze produziert, die die unveräußerlichen Rechte des Individuums
mißachtet und die Furcht zwischen den Menschen steigert. Eine weitere
Ursache dieses Unglücks ist die korrupte Rechtsprechung, die Unkon-
trollierbarkeit der Gerichtsverfahren, das Denunziantentum bei gehei-
men Anklagen und die Käuflichkeit der Richter. Die dritte Quelle des
Unglücks ist schließlich das völlige Fehlen oder die unentschuldbare
Vernachlässigung der Aufklärung aller Bürger durch Erziehung, Unter-
richt und Wissenschaft. Der Staat, dessen Souverän die Quellen des
Verbrechens nicht verstopft, ist daher selbst Urheber des Verbrechens;
man kann niemanden als ihn selbst für dieses Unglück verantwortlich
24 Beccaria folgt auch hier der Auffassung Rousseaus, daß eine Strafe immer als
„natürliche Folge böser Handlungen" empfunden werden muß. Siehe hierzu Rousseau,
a . a . O . , S.90.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 65
25 Schon in der ersten deutschen Rezension seines 1764 in „Monaco" (Livorno) anonym
erschienenen Werks wird auf diesen Sachverhalt hingewiesen: „Der Verfasser ist ein
scharfsinniger Mann, der den Vortrag und die Sprache in seiner Macht hat" (Göttingische
Anzeigen von gelehrten Sachen, viertes Stück, 9. Januar 1766, S.22). Ein anderer Rezen-
sent hebt 16 Jahre später ebenfalls die „feyerliche Sprache" und den „feyerlichen Perioden-
gang" des „rhapsodischen Werkchens" hervor (Johann Heinrich Christian von Selchow,
Juristische Bibliothek, Göttingen 1780, S. 633 f).
66 Gerhard Deimling
Staat nur noch als allerletztes Mittel eine Berechtigung, das sich eines
Tages von selbst überflüssig macht. Er hat mit seiner Abhandlung eine
der großen, zu immer neuen Spekulationen anregenden Utopien ent-
worfen, deren Realisierung aber trotz immer neuer Anläufe bis heute
noch aussteht und vermutlich immer wieder an der „ärgerlichen Tatsa-
che" scheitern wird, daß der Mensch nicht nur ein vernunftgeleitetes
Wesen ist, das sich aus Einsicht in die Notwendigkeit selbst den gelten-
den Gesetzen der Vernunft unterwirft.
In einer Laienpredigt „Über das Gesetz" hat Hilde Kaufmann eine
ganz andere Dimension des Rechts aufgezeigt, die Beccaria nicht oder
nicht mehr erkennen konnte, weil ihm durch das menschenverachtende
Handeln der damaligen Amtskirche im absolutistischen Staat der Blick
dafür verstellt war: „Erst die Liebe macht den eigentlichen Kern der
Gesetze aus, so sehr, daß nach manchen Stellen des Neuen Testaments
das Gesetz als überflüssig erscheint, nicht, weil es außer Kraft gesetzt
wäre, sondern weil es durch die Liebe in einer viel tieferen, volleren
Weise erfüllt werden soll und weil man auf die einzelnen gesetzlichen
Formulierungen verzichten könnte. Das aber ist der Sinn des paulini-
schen Satzes, daß alle Gesetze zusammengefaßt seien in dem einen
Gebot der Liebe"26.
Die Reform des Strafvollzugs ist in den vergangenen Jahrhunderten
manche verschlungenen und dunklen Wege gegangen: zweifellos haben
unbestechliche Beobachter und Analytiker des bestehenden Strafsystems
vom Schlage Beccarias einen entscheidenden Anteil an der Humanisie-
rung des Strafrechts und an der schrittweisen Substitution der Strafe
durch präventive Maßnahmen im Vorfeld der Kriminalität gehabt, aber
die unmittelbare Hilfe für den Rechtsbrecher in seiner konkreten Not-
lage ging stets von solchen Menschen aus, die das christliche Liebesgebot
allen anderen Gesetzen überordneten und sich anschickten, die „Utopie
der Liebe" unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu verwirklichen. So
verhielt es sich bei Bischof Ridley, als er 1551 nach einer Predigt in
Westminster bei Edward VI. von England für eine Milderung der
grausamen Bestrafung von Straftätern und für deren Erziehung in Bride-
well eintrat27, als sich Friedrich von Spee als Seelsorger der zum Tode
Verurteilten mit seiner Cautio Criminalis von 1631 gegen Hexenwahn
und Hexenprozesse wandte, als John Howard die englischen und kon-
Hilde Kaufmann,
26 Predigten eines Laien, 1974, S. 86.
Grafton's
27 Chronicle; Or, History of England to which is added his table of the
Bailiffs, Sheriffs and Mayors, of the City of London. From the year 1189, to 1558,
inclusive. In two volumes, Vol. 1-2, London 1809, S. 529 ff.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 67
28 Zitiert nach: Albert Krebs, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit
29
Hilde Kaufmann, a.a.O., S.29.
Kriminalpolitik und Strafrecht
I.
Die ganze Entwicklung des Problems der Strafe und die Diskussion
darüber wird innerhalb der Lehre zwischen zwei extremen Positionen
erörtert: dem Utilitarismus der Straftheorien, d.h. der General- und
Spezialprävention, und der mangelnden Zweckmäßigkeit, also den soge-
nannten absoluten Theorien. Die einen sind nur an der Effektivität
interessiert, die anderen allein an der Gerechtigkeit. Eine kriminalpoliti-
sche Definition hat aber notwendigerweise die Spannung zu berücksich-
tigen, die zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es wäre jedoch
verkehrt, eine eklektische Position einzunehmen, denn wenn auch die
positiven Aspekte bestimmter Theorien aufgegriffen würden, so würden
doch auch die negativen Aspekte miteinbezogen, was letztendlich zu der
Errichtung eines in sich selbst widersprüchlichen Systems führen
würde 1 . Auch der Versuch, einer bestimmten Position (positive General-
prävention, demokratische Spezialprävention) Grenzen zu setzen,
scheint keine Lösung zu sein, denn dadurch würden die negativen
Auswirkungen nur eingeschränkt, aber nicht beseitigt; deshalb verletzen
die General- wie die Spezialprävention immer das Prinzip der Verant-
wortlichkeit für die begangene Tat 2 .
Eine kritische Revision der Straftheorien hat daher notwendigerweise
die Überwindung derselben anzustreben. Ausgangspunkt einer solchen
Revision muß die Untersuchung sein, was die Strafe innerhalb des
Sozialsystems war und ist, und dabei ist jegliche ideologische Verschleie-
rung auszuschließen. Aus dieser Sicht dienten sowohl die absoluten wie
die relativen Theorien der Verschleierung; erstere verwandelten die
Realität der Strafe in eine Metapher (berühmtes Beispiel dafür ist die
Auffassung Hegels, daß die Strafe die Negation der Negation des
Rechts sei), letztere lenkten die Realität der Strafe auf die Grundlage
1 Siehe Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: Strafrechtliche Grundlagenpro-
bleme, Berlin 1973, S . l l .
2 Siehe Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin 1983, S. 17ff; Barbero Santos, La
reforma penal española en la transición a la democracia, in: Revue Internationale de Droit
Pénal, 1977, S. 61 ff.
70 Juan Bustos Ramirez
7
Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 40; Roxin, a. a. O., S. 17ff, 24 ff.
72 Juan Bustos Ramirez
II.
Eine Verbrechenstheorie muß also vom materiell betrachteten Rechts-
gut ausgehen. Grundlage der Verbrechenstheorie ist nicht die Hand-
lungslehre 8 ; zum einen, weil es neben ihr eine Unterlassungslehre gibt,
und insbesondere, weil die Handlungslehre auf dem Rechtsgut basiert,
insofern sie nur eine Form des Kommunikationsprozesses innerhalb der
Sozialbeziehung ist. Auch die Kausalität kann nicht als Begründung des
Verbrechens dienen, da es ihr an sich an Bedeutung mangelt, um
irgendeinen Aspekt des Verbrechens zu bestimmen'. Sie ist weder für die
Unterlassungstheorie noch für die Handlungslehre dienlich, denn diese
werden hinsichtlich des Kommunikationsprozesses durch ihren Sinn
bestimmt. Wenn man also der Kausalität innerhalb der Verbrechens-
theorie eine Bedeutung geben wollte, so wurde tatsächlich ihre Benen-
nung nur metaphorisch verwendet, wie dies im Falle der adäquaten
Kausalität geschah, die eigentlich eine Frage rechtlicher Bewertung ist.
Aus eben diesem Grund ist die Kausalität auch unbrauchbar, um den
Erfolg mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten zu verknüpfen, denn
nicht der natürlich betrachtete Erfolg interessiert, sondern der Erfolg als
schädliche Einwirkung auf ein Rechtsgut (Verletzung oder Gefährdung
des Rechtsgutes). Daher handelt es sich um ein valoratives Problem, das
heißt, es geht um die objektive Zurechnung, um die Möglichkeit, ob ein
Erfolg einem tatbestandsmäßigen Verhalten zuzurechnen ist10.
Weder die überlieferte Handlungslehre noch die Kausalitätstheorie
dienen letztendlich als Grundlage des Verbrechens, allein das Rechtsgut
kann seine Grundlage sein.
Auf der Basis des Rechtsgutes werden die beiden die Verbrechens-
theorie bildenden Kategorien, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrig-
keit, bestimmt.
Bei der Tatbestandsmäßigkeit handelt es sich um nichts weiter als um
die Beschreibung einer bestimmten Situation, in der eine soziale Bezie-
hung stattfindet, sie bezeichnet deren Umgebung. Folglich ist es nicht
die Beschreibung einer Handlung und kann dies auch niemals sein. So
bedeutet Tötung, daß einer einen anderen tötet. Was also beschrieben
wird, ist ein situatives Umfeld. Es ist auch nicht die Beschreibung einer
Unterlassung, was begrifflich unmöglich wäre, deshalb wird auch ein
situatives Umfeld beschrieben: „Wer einer anderen Person nicht hilft,
die schutzlos ist und sich in offensichtlicher und ernster Gefahr befindet,
obwohl er dies ohne Gefahr für das eigene oder das Leben Dritter
machen könnte" (Art. 489 bis span. StGB). Es handelt sich also nicht um
die Beschreibung einer Handlung oder Unterlassung, sondern um die
Zuordnung eines bestimmten Kommunikationsprozesses innerhalb
eines situativen Umfeldes, und deshalb ist es im konkreten Fall der
Richter, der zu entscheiden hat, ob eine solche Zuordnung möglich ist.
Es handelt sich also nicht um ein Kausalitäts- oder Finalitätsproblem,
sondern um die sinngemäße Zuordnung, die eine Kommunikation
innerhalb eines bestimmten situativen Umfeldes hat, das eine soziale
Beziehung ausdrückt. Daher kann der Selbstmord nicht typifiziert wer-
den, da er niemals das situative Umfeld einer sozialen Beziehung aus-
drücken könnte, und aus dem gleichen Grund kann auch der Rauschmit-
telkonsum nicht typifiziert werden; solche Typifizierungen könnten sich
nicht auf das Rechtsgut stützen. Das Rechtsgut schließt solche Typifizie-
rungen aus, es zwingt, wie schon anfangs gesagt, der Strafe eine Grenze
als Selbstbestätigung des Staates auf.
Vom Rechtsgut ausgehend wird also auch der der Tatbestandsmäßig-
keit innewohnende Unwert bestimmt, der nicht einfach ein Handlungs-
unwert, sondern der Unwert eines situativen Umfeldes ist, in dem der
Handlungsunwert sicherlich der wichtigere ist, weil er den entsprechen-
den Kommunikationsprozeß bestimmt, jedoch ist er nicht der einzige
(so gibt es bei der unterlassenen Hilfeleistung eine Bewertung hinsicht-
lich der Schutzlosigkeit und der offensichtlichen, ernsten Gefahr, bei
den Amtsdelikten hinsichtlich der Eigenschaft des Beamten, hinsichtlich
der Gewalt bei einer Reihe von Delikten, etc.).
Eben dieser Sachverhalt, daß jegliche Typifizierung vom Rechtsgut
und nicht von der Handlung aus bestimmt wird, bringt es mit sich, daß
die Erweiterung der Tatbestände auf den untauglichen Versuch nicht aus
der Sicht des Verhaltens begriffen werden kann (Mittel zu sich nehmen,
um abzutreiben), da ein solches Verhalten nicht dem situativen Umfeld
zugeordnet werden kann, welches das Abtreibungsdelikt beschreibt. Die
Typifizierung wird nicht von der ethischen Subjektivität der Handlung
her bestimmt, sondern von der Objektivität der sozialen Beziehung her,
die das Rechtsgut darstellt. Der Handlungsunwert entsteht aus dem
Rechtsgut und nicht aus einer subjektiv ethischen Auffassung in Zusam-
menhang mit der Handlung. D a nun aber die Beschreibung des situati-
ven Umfeldes eine soziale Beziehung zur Grundlage hat, bedeutet das,
daß sie mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist. Deshalb sind die
Probleme des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit und besondere subjektive
Merkmale eigentliche Fragen der Tatbestandsmäßigkeit, und dies nicht
wegen eines ontologischen Grundes, sondern weil die Tatbestandsmä-
ßigkeit auf dem Rechtsgut basiert. Dieses aber wird durch eine
bestimmte soziale Beziehung gebildet, die einen Kommunikationspro-
zeß umfaßt und folglich mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist.
III.
Das Rechtsgut erschöpft sich mit seinem Inhalt aber nicht in der
Tatbestandsmäßigkeit, sondern legt das ganze Verbrechen fest und somit
auch die zweite Begriffskategorie des Delikts, nämlich die Rechtswidrig-
keit. Als materielle Grundlage stattet das Rechtsgut die Rechtswidrigkeit
auch mit einem materiellen Inhalt aus. So, wie man formal sagen kann,
daß die Tatbestandsmäßigkeit Normwidrigkeit ist, so kann auch formal
gesagt werden, daß die Rechtswidrigkeit der Gegensatz des tatbestands-
mäßigen Verhaltens zur gesamten Rechtsordnung ist. Die Strafrechts-
normen (Verbote und Gebote) erscheinen unzweifelhaft als Anerken-
nung des Handlungsunwertes 11 , der aus dem Rechtsgut entsteht und so
zum grundlegenden kommunikativen Kern wird, den das situative
Umfeld, das den Tatbestand beschreibt, in sich schließt. N u r durch
IV.
Nachdem Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit festgelegt sind,
haben wir es nun mit dem Unrecht als Teil eines Delikts zu tun. Die
Tatbestandsmäßigkeit ist nur ein Indiz für die Rechtswidrigkeit und
folglich nur Indiz für ein Delikt, da der Inhalt der grundlegenden
Unwertigkeit, die der Handlungsunwert bedeutet, sich ausschließlich
auf den Gegenstand des eigentlichen Schutzes durch das Strafrecht
bezieht, und das ist das Rechtsgut. Die übrigen Bewertungen und
Unwertigkeiten, die sich auf dieser Ebene ergeben, sind untergeordnet
und begrenzen nur den Handlungsunwert (so der Hinweis auf gute
Sitten, Gewalt, Neugeborene, Schutzlosigkeit etc., der in den gesetzli-
chen Tatbeständen enthalten ist). Die so begriffene Tatbestandsmäßig-
keit ist ein dem Strafrecht eigener Begriff, wie es auch das Rechtsgut ist;
aber eine für die Rechtsordnung so schwerwiegende Tatsache wie das
Delikt kann nicht nur ausschließlich und absolut aus der Sicht des
Strafrechts beurteilt werden, sondern muß auch von der Rechtsordnung
als Ganzer her betrachtet werden, da es ihre Transzendenz für die
gesamte rechtlich-soziale Ordnung ist, was letztendlich interessiert. Es
handelt sich darum, das Eingreifen des Staates zu rechtfertigen und zu
begrenzen, und dies kann nicht nur von der Tatbestandsmäßigkeit aus
erfolgen. Von der Notwendigkeit des Begriffs der Rechtswidrigkeit her
kann ein so schwerwiegendes Eingreifen des Staates nur in dem Maße
Kriminalpolitik und Strafrecht 79
Die Irrtumslehre kann nicht allein mit den zwischen subjektivem und
objektivem Aspekt bestehenden Beziehungen der Tatbestandsmäßigkeit
verknüpft werden, da dies nicht ausreichend wäre, sondern sie muß auch
die zwischen dem subjektiven und objektivem Aspekt bestehenden
Beziehungen der Rechtswidrigkeit mit einbeziehen. Die vorsätzliche
oder fahrlässige Tatbestandsmäßigkeit ist ausschließlich ein Indiz der
Rechtswidrigkeit und folglich des Delikts; damit ein vorsätzliches oder
fahrlässiges Delikt vorliegt, muß aber außerdem der subjektive Aspekt
berücksichtigt werden, der in der Rechtswidrigkeit und in ihrer Bezie-
hung zum objektiven Aspekt basieren kann. Dies ist der Fall, wenn
Rechtfertigungsgründe auftreten. Das gültige spanische Strafgesetzbuch
unterscheidet daher zu Recht zwischen den vom Gesetz bestraften
vorsätzlichen oder fahrlässigen Handlungen und Unterlassungen (Art. 1,
Abs. 1) und dem böswilligen Delikt (Art. 565, Abs. 1). Der Vorsatz
bezieht sich nur auf die Tatbestandsmäßigkeit, er ist ein Indiz für die
Böswilligkeit; die Böswilligkeit bezieht sich auf das Unrecht oder das
Delikt. Die Böswilligkeit umfaßt also sowohl das subjektive Merkmal
der Tatbestandsmäßigkeit mit Bezug auf ihren objektiven Aspekt (Vor-
satz) als auch die möglichen rein subjektiven Merkmale ohne Bezug auf
einen objektiven Aspekt und außerdem das subjektive Merkmal des
Rechtfertigungsgrundes hinsichtlich des objektiven Aspekts wie auch die
möglichen rein subjektiven Merkmale. Deshalb hat sich die Irrtumslehre
nicht ausschließlich auf den Vorsatz zu beziehen, sondern auf die
Böswilligkeit, wofür der Vorsatz nur ein Indiz ist. Die Irrtumslehre muß
sich daher auf alle subjektiven Merkmale des Unrechts beziehen, die in
bezug zu den objektiven Aspekten desselben stehen, gleichgültig, ob es
sich dabei um Elemente der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswi-
drigkeit handelt. Deshalb schließt ein unvermeidbarer Irrtum über ein
wesentliches Merkmal - sei es der Tatbestandsmäßigkeit oder der
Rechtswidrigkeit, welches in letzterem Falle die tatsächlichen Vorausset-
zungen eines Rechtfertigungsgrundes wären - , das Unrecht, das Delikt
vollkommen aus. Hingegen kann beim vermeidbaren Irrtum über ein
wesentliches Merkmal die Fahrlässigkeit sowohl in bezug auf das tatbe-
standsmäßige Verhalten als auch auf das rechtswidrige, tatbestandsmä-
ßige Verhalten fortbestehen, denn wichtig ist nicht das Indiz für das
rechtswidrige vorsätzliche Verhalten, sondern das vorsätzliche (böswil-
lige) oder fahrlässige Unrecht, und dieses liegt nur vor, wenn auch die
Rechtswidrigkeit hinsichtlich des Verhaltens festgestellt wurde. Das
spanische Strafgesetzbuch unterscheidet zu Recht zwischen Vorsatz und
Böswilligkeit, aber nicht hinsichtlich der Fahrlässigkeit, da diese im
wesentlichen ein normativer Begriff ist und nicht mit finalen subjektiven
oder Tendenzmerkmalen zu vereinbaren ist. Die traditionelle Schuld-
lehre hinsichtlich des Irrtums vollzieht diesbezüglich einen logischen
Kriminalpolitik und Strafrecht 81
Sprung, denn ein Problem aktueller Kenntnis und des Bereiches der
Rechtswidrigkeit, wie es die Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzun-
gen der Rechtfertigungsgründe ist, geht sie bei der Behandlung der Frage
des Verbotsirrtums so an, als ob es ein Problem inaktueller Kenntnis
wäre15. Es liegt andererseits kein logischer Widerspruch vor, wenn
darauf hingewiesen wird, daß es ein vorsätzliches (böswilliges) oder
fahrlässiges Unrecht gibt, und folglich bezieht sich die Irrtumslehre
nicht auf die Tatbestandsmäßigkeit oder gar die Rechtswidrigkeit, son-
dern auf das Unrecht in seiner Gesamtheit, und demzufolge erscheint es
nicht unlogisch, daß, auch wenn ein Indiz für ein vorsätzliches Unrecht
aufgrund einer tatbestandsmäßigen vorsätzlichen Tat vorliegt, dieses
Indiz jedoch letztendlich nur ein fahrlässiges Unrecht oder sogar über-
haupt kein Unrecht bedeutet.
Eine Analyse der Irrtumslehre aus kriminalpolitischer Sicht und folg-
lich vom Rechtsgut als Begründung und Grenze für das staatliche
Eingreifen ausgehend führt dazu, sie nicht einfach als eine Frage der
tatbestandsmäßigen Handlung anzusehen - letzten Endes mit einem
individualistischen und streng subjektiven Charakter - , sondern vom
Schutz der Rechtsgüter aus und folglich mit Hinblick auf das Unrecht in
seiner Gesamtheit. Was die Irrtumslehre in Frage stellt und diskutiert,
ist, bis zu welchem Punkt in den Fällen des Irrtums der Strafschutz der
Rechtsgüter gerechtfertigt ist, wenn gerade der Sinn und die Bedeutung
des Schutzes an sich verfälscht werden.
V.
Mit der Feststellung der Existenz eines Delikts ist die Untersuchung
der Voraussetzungen für die Strafe aber noch nicht abgeschlossen.
Neben der Verbrechenslehre gibt es die Lehre von der verantwortlichen
Person. Lange Zeit hindurch erschien diese Lehre durch ein vermeintli-
ches drittes Element des Delikts, der Schuld, subsumiert und geschmä-
lert zu werden. Auf diese Weise versachlichte man die Betrachtung der
verantwortlichen Person, und gleichzeitig vermied man, alle Konse-
quenzen zu ziehen, die dem Prinzip der Menschenwürde, der materiel-
len Grundlage in bezug auf die verantwortliche Person, innewohnen.
Die Beurteilung der Person darf nicht mit der Beurteilung der Tat
verwechselt werden, wie auch das Prinzip des Rechtsgüterschutzes nicht
mit dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde verwechselt werden
darf. Die Lehre von der verantwortlichen Person beinhaltet nicht einen
direkten Bezug zum Schutz der Rechtsgüter, der sich in der Tatbe-
standsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und im Unrecht erschöpft, son-
dern zu der Achtung der Menschenwürde, und aus diesem Grund
15
Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 299 f.
82 Juan Bustos Ramirez
anza Deviante, 1971; David Cooper, Psiquiatría y antipsiquiatría, Buenos Aires, 1971;
G.Jervis, Manuale critico di psiquiatría, Milano, 1978; Albert Cohen, A general theory of
subculture, in: The socioloy of subcultures, 1970.
Kriminalpolitik und Strafrecht 83
hier, was die Ausschließung des Unrechts anbelangt, nicht mehr um das
Problem des Irrtums, was ein Problem der Kenntnisse ist und nicht der
Wertewahrnehmung, die immer einen komplexen sozialen und kulturel-
len Prozeß und nicht bloß Kenntnisse impliziert. Es handelt sich hier
also nicht um die Irrtumslehre, sondern um die Betrachtung eines
anderen Wertebewußtseins (so wie Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB von
einem „irrtümlichen Glauben" spricht und nicht von einem „Irrtum" im
Sinne von Abs. 1 und 2). Die traditionelle Lehre verwechselte die der
Irrtumslehre eigenen Probleme mit denen des Wertebewußtseins, das
sich von der Zumutbarkeit unterscheidet; indem sie darüber hinweg-
ging, daß Gegenstand, Voraussetzung und Folgen in jedem Fall ver-
schieden waren, faßte sie alles unter der Irrtumslehre zusammen.
Die Unvermeidbarkeit eines Unrechtsbewußtseins, das sich vom
Zumutbaren unterscheidet, muß den Ausschluß der kriminellen Verant-
wortlichkeit beinhalten (Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB), da anderenfalls
der Mensch gerade für etwas Nichtzumutbares verantwortlich gemacht
würde. Das Strafrechtssystem würde den Grundsatz der Menschen-
würde verletzen, wenn es den Menschen trotz des Fehlens des Unrechts-
bewußtseins aufgrund eines anderen Wertebewußtseins strafrechtlich
verantwortlich macht. Folglich handelt es sich darum, die Unzumutbar-
keit des vom System geforderten Unrechtsbewußtseins zu erklären.
Diese Unzumutbarkeit kann allerdings nicht total sein, d.h. daß
Umstände vorliegen, aufgrund derer die Person das geforderte Bewußt-
sein haben konnte. In diesem Falle kann ein Fehlen der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit nicht ausgesprochen werden, sondern diese kann nur
gemindert werden, wie Art. 66 span. StGB aufzeigt, auf den sich Art. 6
bis a) Abs. 3 span. StGB bezieht: „Die Tat ist nicht völlig entschuldbar,
wenn nicht alle erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, um die krimi-
nelle Verantwortlichkeit auszuschließen..."
Die Irrtumslehre und die Lehre von der Unzumutbarkeit des
Unrechtsbewußtseins dürfen also nicht verwechselt werden, da sie auf
völlig verschiedenen Ebenen einwirken und weil sie verschiedene krimi-
nalpolitische und begriffliche Grundlagen haben. Folglich sind auch die
Konsequenzen verschieden. Die Unvermeidbarkeit des Irrtums schließt
das Unrecht aus, die Unvermeidbarkeit der Unzumutbarkeit des
Bewußtseins schließt nur die kriminelle Verantwortlichkeit des Men-
schen aus; beim vermeidbaren Irrtum kann das fahrlässige Unrecht
weiter vorliegen, die Vermeidbarkeit der Zumutbarkeit des Unrechtsbe-
wußtseins kann nur die Verantwortlichkeit der Person mindern (das
entsprechende Unrecht bleibt das gleiche, gleichgültig, ob es sich um ein
vorsätzliches oder fahrlässiges handelt). De lege ferenda könnte natür-
lich gefordert werden, und zwar nicht vom Grundsatz der Menschen-
würde aus und folglich im Verhältnis zur strafrechtlichen Verantwort-
Kriminalpolitik und Strafrecht 85
lichkeit, sondern von der Strafnotwendigkeit und daher von der Strafan-
wendung aus, daß die Gerichte in den Fällen der vermeidbaren Unzu-
mutbarkeit des Unrechtsbewußtseins nicht nur die Strafe mindern,
sondern die Strafanwendung ausschließen können, sei es aufgrund der
geringen Verantwortlichkeit oder der Art oder Geringfügigkeit des
Unrechts, auf das sich diese Vermeidbarkeit bezieht.
Schließlich muß hinsichtlich der Verantwortlichkeit berücksichtigt
werden, ob die vom System geforderte Verhaltensweise im konkreten
Fall des Tuns für die Person zumutbar war. Es handelt sich also nicht
darum, abstrakt die Handlungsfähigkeit der Person noch die Sittlichkeit
ihrer Handlungen zu analysieren, sondern darum, vom Unrecht ausge-
hend zu untersuchen, ob die Person in der Lage war, auf ein bestimmtes
gefordertes Verhalten zu reagieren. Das System kann vom Menschen
nicht etwas verlangen, was bei seinem konkreten Tun über die Grenzen
seiner Betrachtung als sozial Handelnder hinausgeht, und was letztend-
lich bedeuten würde, die Menschenwürde nicht zu achten und den
Menschen nur als ein Rädchen des Systems anzusehen, der nach Belie-
ben manipuliert werden kann, indem die Person als solche im Moment
des Handelns außer Betracht gelassen wird. Und in diesem Sinne muß
das System den Menschen also als solchen mit seinen Ängsten, seiner
Müdigkeit, seinen fundamentalen Bedürfnissen, etc. betrachten. Wenn
diese den Personen bei ihrem konkreten Verhalten eigenen Wesensmerk-
male nicht berücksichtigt werden, so hieße dies, die Achtung der
Menschenwürde nicht anzuerkennen und folglich wäre die einer Person
unter solchen Bedingungen auferlegte Strafe in einem sozialen und
demokratischen Rechtsstaat unrechtmäßig. Wenn also die Verhaltens-
weise nicht zumutbar ist, so muß die strafrechtliche Verantwortlichkeit
ausgeschlossen werden, und wenn nicht alle für die Erklärung der
Unzumutbarkeit notwendigen Voraussetzungen vorliegen, dann muß
die Verantwortlichkeit gemindert werden. Es handelt sich also nicht um
eine Gnadenbezeugung des Systems, sondern um eine direkte Konse-
quenz des Grundsatzes der Achtung der Menschenwürde, ohne den der
Staat keine Strafe verhängen kann. Das bedeutet: nicht nur im Rechtsgut
liegt die Begründung und Begrenzung für das strafende Eingreifen des
Staates, vielmehr gilt das gleiche auch für die Menschenwürde.
Schließlich steht neben der Verbrechenslehre und der Lehre von der
verantwortlichen Person die Lehre von der Strafanwendung, die sich im
wesentlichen nach dem Prinzip der Strafnotwendigkeit richtet. Das
heißt, auch wenn die Strafe verdient ist, weil es ein Delikt und eine
verantwortliche Person gibt, kann aus kriminalpolitischer Sicht die
Strafanwendung als nicht notwendig erscheinen, oder die Strafe ist auf
andere Art oder in geringerem Maße oder mit anderen Bedingungen
anzuwenden. Das gültige Strafrecht hat also anzuerkennen, daß es
86 Juan Bustos Ramirez
innerhalb des Systems nicht nur eine einzige Lehre gibt, sondern meh-
rere, die in dynamischer und dialektischer Weise untereinander verbun-
den sind, und daß es immer darum geht, das kriminelle Problem als ein
sozialpolitisches Problem anzusehen und daß darum immer die Beteili-
gung der Rechtsgenossen und das Angebot von Möglichkeiten zur
Lösung von sozialen Konflikten vorliegen muß.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik
H A N S - D I E T E R SCHWIND
1 Kaufmann, H.: Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik?, in: J Z 1972, 79.
2 Kaufmann, H. a . a . O . (Fn. 1).
5 Schwind, H.-D.: Zur kriminalpolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland,
in: Schwind, H.-D. / Berckhauer, F. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Präventive Kriminalpolitik,
Heidelberg 1980, S.3—26; so inzwischen z.B. auch Burkhard, W. / Herold, H. / Hama-
cher, H. W. / Schreiber, M. / Stümper, A. / Vorbeck, A.: Kriminalistik-Lexikon, Heidel-
berg 1984, S. 116.
88 Hans-Dieter Schwind
1. Zur Kriminalitätslage
Die Grundlage dieser Informationen bildet die Polizeiliche Kriminal-
statistik (PKS), die das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden in
jedem Frühjahr für das abgelaufene Kalenderjahr herausgibt.
a) Für 1983 enthält die PKS (,,//e///e/i/-Kriminalität") u.a. folgende
Angaben:
- registriert wurden insgesamt 4,345 Millionen Straftaten (absolute Zahl). Zum Ver-
gleich: 1973 waren es erst 2 , 5 5 9 Millionen Delikte; die Steigerungsraten schwankten
pro Jahr zwischen 1 , 2 % und 8 , 0 % ;
- die Häufigkeitszahl ( H Z = Zahl der bekannt gewordenen Fälle pro 100 0 0 0 E i n w o h -
ner) ist von 4 1 3 , 0 (1973) auf 7074,3 (1983) gestiegen. Das heißt (pauschal rechne-
risch), daß 1983 für rund 7 % der Bevölkerung eine Straftat registriert worden ist;
- die Zahl der Tatverdächtigen hat sich von 1,023 Millionen (1973) auf 1,611 Millionen
( 1 9 8 2 ; 1983 in der P K S nicht ausgedruckt) erhöht; dementsprechend stieg die
Kriminalitätsbelastungszahl ( K B Z = Zahl der ermittelten Tatverdächtigen pro
1 0 0 0 0 0 Einwohner) auf 2 8 3 0 , 2 (1982; 1983 wiederum nicht ausgedruckt); besonders
bemerkenswert ist der Anstieg der Jugendkriminalität (Steigerung von 1974 bis 1982
um 64,3 % bei den männlichen Tatverdächtigen und um 89,6 % bei den weiblichen
Tatverdächtigen).
Daß die Fallzahlen 1984 (um 4,9 %) gesunken sind, hat u. a. mit
folgenden Ursachen zu tun: erstens mit technisch bedingten Minderer-
fassungen von Straftaten (in Baden-Württemberg) und der Nichtberück-
sichtigung von Uberhangdelikten aus dem Vorjahr (in Bremen); zwei-
tens mit dem Verzicht der Versicherungen auf die Anzeigepflicht in
bestimmten Fällen; und drittens wahrscheinlich mit den ersten Folgen
des „Pillenknicks" (geburtenschwache Jahrgänge).
Auf die dritte Ursache dürfte z.T. auch die 1984 beobachtete Verrin-
gerung der Tatverdächtigenzahlen (Abnahme gegenüber 1983 um rund
350000) zurückzuführen sein. Diese Abnahme hat jedoch noch eine
weitere erhebliche Ursache, nämlich die „Bereinigung der Tatverdächti-
genzahlen": Danach werden ab 1.1.1984 Tatverdächtige, denen im
Erfassungszeitraum mehrere Straftaten zur Last gelegt werden, nur noch
einmal gezählt; die Zahlen verringern sich dadurch um etwa 20 %\ 1985
nahm die Zahl der registrierten Straftaten wieder von 4,132 Millionen
(1984) auf 4,215 Millionen ( + 2 , 0 % ) zu (PKS für Bund und Länder
1986, 2).
b) Jeder, der sich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) einmal
näher befaßt hat, weiß allerdings, daß diese nur einen Bruchteil der
Kriminalität registriert: Denn in der PKS können naturgemäß nur jene
Delikte gezählt werden, die angezeigt oder auf anderem Wege den
5 Darunter wird die Summe jener Delikte beschrieben, die den Strafverfolgungsbehör-
den nicht bekannt werden und deshalb in der Kriminalstatistik auch gar nicht erscheinen
{Schwind, H.-D. / Ahlhorn, W. / Eger, H.J. et al.: Dunkelfeldforschung in Göttingen,
Wiesbaden 1975, S. 16).
' Quetelet, A.: Physique sociale ou Essai sur le développement des facultés de
l'homme, Bd. 2, 1869, S. 251.
7 Hellmer, J.: Kriminalgeographie und Verbrechensbekämpfung, in: Kriminalist 1974,
103.
8 Dazu Heinz, W.: Das System der Strafrechtspflegestatistiken, in: Allgemeines Stati-
stisches Archiv 1975, 97.
90 Hans-Dieter Schwind
2. Zur Kriminalitätsprognose
Nicht zuletzt die ungelöste Dunkelfeldfrage erschwert auch die Pro-
gnose der künftigen Kriminalitätsentwicklung, die als Grundlage krimi-
nalpolitischer Entscheidungen Bedeutung besitzt. Seit Juni 1982 machte
sich über diese Frage auch ein Prognosegremium „Entwicklung der
Kriminalität" Gedanken, das der Präsident des Bundeskriminalamts
entsprechend dem Auftrag aus § 2 Abs. 1 Ziff. 5 des BKA-Gesetzes
(„Beobachtung und Analyse der Kriminalitätsentwicklung") eingesetzt
hat12 (Ende 1985 wieder aufgelöst).
Zu den Methoden der Kriminalitätsprognose, die inzwischen am
häufigsten diskutiert und auch praktiziert werden, gehören:
- die „einfache Zeitreihenverlängerung",
- quantitative Ansätze zur Modellbildung,
- Expertenbefragungen sowie die Mischform des
- Szenario-Ansatzes.
II. Kriminalpolitik
Kriminalitätsprognosen sind jedoch fast immer noch so unsicher wie
der Wetterbericht, d.h. sie können der Kriminalpolitik grundsätzlich
kaum verwertbare (sichere) Grundlagen bieten. Deshalb sollte sich der
Kriminalpolitiker (und zwar im Interesse der Sicherheit der Bürger des
Staats) an der pessimistischen Variante möglicher Zukunftsaussichten
orientieren; jedenfalls dann, wenn diese nicht ganz unwahrscheinlich
erscheint. Für diese Auffassung dürfte insbesondere sprechen, daß kri-
minalpolitische Maßnahmen (zur Kriminalitätsvorbeugung und zur
Rückfallverhütung) nicht verspätet einsetzen dürfen, wenn sie Erfolg
haben sollen.
25
v. Liszt, F.: Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge,
Bd. 1, Berlin 1905, S.202.
26
Kerner, H.-J.: Die Stellung der Prävention in der Kriminologie, in: Bundeskriminal-
amt (Hrsg.): Polizei und Prävention, Wiesbaden 1976, S. 19.
27 The Effectiveness of Correctional Treatment, New York 1975.
28
Köberer, W.: Läßt sich Generalprävention messen?, in: MschrKrim. 1982, S.200.
29 Vgl. dazu Andenaes, ].: General Prevention Revisited, in: Journal of Criminal Law
and Criminology 66/1975, S. 338-365.
30
Kaiser, G.: Kriminologie, Heidelberg 1980, S.287.
31 Zusammenfassend dazu Ott, H.-J.: Generalprävention und externe Verhaltenskon-
trolle, Freiburg 1982.
96 Hans-Dieter Schwind
S.939.
35 Kaiser, G. a . a . O . (Fn.30), S.283.
1974, S. 301-315.
39 Vgl. dazu die zusammenfassenden Hinweise bei Störzer, H. U.: Staatskriminologie -
- 1976 verpflichtet das Strafvollzugsgesetz (in § 166) die Länder zum Aufbau „Krimi-
nologischer Dienste" im Strafvollzug;
- 1979 wird im Niedersächsischen Ministerium der Justiz in Hannover die Referats-
gruppe „Planung und Forschung" (heute: „Planung, Forschung, Soziale Dienste" =
PFS) errichtet;
- ebenfalls 1979 folgt der Aufbau der „Kriminologischen Forschungsgruppe der Baye-
rischen Polizei" beim Landeskriminalamt in München;
- ebenfalls 1979 wird in Hannover das „Kriminologische Forschungsinstitut Nieder-
sachsen" (KFN) gegründet (als e.V.);
- 1981 beschließt die Justizministerkonferenz (JuMiKo) in Celle den Aufbau einer
„Kriminologischen Zentralstelle" als Bund-Länder-Einrichtung (am 13. Juni 1986
offiziell mit der Arbeit begonnen).
D i e s e E n t w i c k l u n g k ö n n t e m i t d a z u beitragen, a u c h die P o e n o l o g i e
v o r a n z u t r e i b e n u n d d e r K r i m i n a l p o l i t i k , die m i t sozialpolitischen M i t -
teln v o r b e u g e n will, e n t s p r e c h e n d e F o r s c h u n g s i n f o r m a t i o n e n z u r V e r -
f ü g u n g z u stellen, w a s allerdings n u r v e r t r e t b a r erscheint, w e n n die
U n a b h ä n g i g k e i t der b e h ö r d e n i n t e r n e n F o r s c h u n g gewährleistet ist 43 .
Schließlich bleibt n o c h das P r o b l e m der T r a n s m i s s i o n ü b r i g : W i e
e r f ä h r t d e r K r i m i n a l p o l i t i k e r eigentlich e t w a s ü b e r die E r g e b n i s s e der
k r i m i n o l o g i s c h e n F o r s c h u n g 4 4 ? L e i d e r k o n n t e a u c h diese F r a g e bisher
n o c h n i c h t zufriedenstellend gelöst w e r d e n .
gebung, in: ZStW 92 (1980), S. 19-72; Schwind, H.-D.: Kriminologie in der Praxis,
Heidelberg 1986.
Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen
K A Z I M I E R Z BUCHALA
I.
In dem im September 1979 vor der Polnischen Akademie der Wissen-
schaften in Krakow gehaltenen Vortrag über „Anthropologische Kon-
zeptionen in Strafrecht und Kriminologie" hat Hilde Kaufmann u.a.
gesagt: „Uberall dort, wo das Strafrecht oder ihm verwandte Sanktions-
systeme das Stadium des magischen Denkens überwunden haben, ist der
einzige Bezugspunkt der Mensch. Damit kann ein Strafrechtssystem
nicht umhin, Vorstellungen von eben diesen Menschen zugrunde zu
legen, seien sie reflektiert oder nicht" 1 . Und an anderer Stelle: „Straf-
recht ist bekanntlich ein soziales Steuerungs- und Kontrollinstrument
der Gesellschaft zum Schutze gewisser elementarer und nicht preisgeb-
barer Rechtsgüter. N u r wenn dem Menschen freie Selbstbestimmung
zugesprochen wird, kann sinnvollerweise eine Gesellschaft an eben diese
Selbstbestimmung appellieren, die jeweils gültigen Normen zu befol-
gen" 2 . Zugleich gestattet dieses Menschenbild in denjenigen Fällen, da
die Mitglieder dieser Gesellschaft diesem Appell nicht folgen, sie „zur
Rede" zu stellen, von ihnen „Antwort" in bezug auf dieses Nichtbefol-
gen zu verlangen und ihnen in diesem Dialog als Antwort der Gesell-
schaft eine Sanktion zu geben. Anders gesagt: Das Menschenbild des
sich selbst frei steuernden Menschen ist die Grundlage der Kategorie der
„Verantwortlichkeit", die wir dem Menschen zusprechen. Und ohne
diese Kategorie ist das Leben einer Gesellschaft schlicht unmöglich" 3 .
Wenn, so schreibt zu Recht G. Kaiser, die Gemeinschaft ihre Ziele,
das heißt die Sicherung der Existenz und der Entwicklung, erreichen
will, so muß sie eine soziale Kontrolle über das Verhalten ihrer Mitglie-
der ausüben. In der heutigen Wissenschaft liegt also das Problem nicht
darin, ob diese Kontrolle auszuüben ist, sondern wie sie auszuüben ist4.
1
H.Kaufmann: Anthropologische Konzeptionen in Strafrecht und Kriminologie,
Manuskript eines Vortrages, gehalten im September 1979 vor der Akademie der Wissen-
schaften in Krakow, S. 1.
2
Ibidem, S. 12.
5
Ibidem, S. 12.
4
G.Kaiser: Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1972, S. 1.
102 Kazimierz Buchala
Anstoß gaben8, aber auch mit dem Einfluß der amerikanischen Soziolo-
gie und anderer Rechtswissenschaften verbunden. Nicht ohne Bedeu-
tung scheint dabei auch die relative Leichtigkeit bei der wissenschaftli-
chen Verifikation der Effizienz der Individualprävention zu sein, insbe-
sondere bei der Freiheitsstrafe, was von der Generalprävention (sowohl
in ihrer negativen als auch der positiven Funktion) nicht gesagt werden
kann'. Es ist kaum von Politikern zu erwarten, daß sie sich für die
Resozialisierung von Straftätern einsetzen werden, wenn die Wissen-
schaft ihnen Argumente dafür liefert, daß die Resozialisierung eine sehr
schwer lösbare Aufgabe ist, und gleichzeitig den Steuerzahler viel mehr
Geld kostet als andere Formen der Verbrechensvorbeugung. Die Strate-
gie der Generalprävention, besonders ihrer negativen Form, ruft jedoch
bei vielen Kriminologen und Juristen heftigen Widerstand hervor, und
zwar wegen der Möglichkeit einer Kollision mit dem Prinzip der Men-
schenwürde10 und auch der Unmöglichkeit der Uberprüfung ihrer Wirk-
samkeit. Der Glaube an ihre Wirksamkeit beruht auf Intuition, unter-
stützt von Erfahrungen aus der Sphäre der Beziehungen in der Familie
und, in gewissem Maße, in der Schule, sowie der in ihrem Rahmen
angewandten Maßnahmen der sozialen Kontrolle11.
II.
Die Strafpolitik in Polen zeigt jedoch ein anderes Bild als in der
Bundesrepublik Deutschland. Schon in den dreißiger Jahren stützte sich
die Strafpolitik auf die Strategie der individuellen Prävention. Das
drückte auch das polnische StGB von 1932 aus, das unter anderem in der
Strafzumessung der individuellen Prävention eine dominierende Rolle
einräumte12, außerdem gegenüber Rückfalltätern, Berufstätern und
Gewohnheitstätern besondere Maßnahmen, die nach der Verbüßung der
Freiheitsstrafe angewandt wurden, einführte, ebenso wie die liberal
abgefaßten Institutionen der Verurteilung auf Bewährung und der Frei-
lassung auf Bewährung (die nach einer Verbüßung von 2A der Freiheits-
strafe möglich war). Es sah auch eine breite Spannweite der Strafrahmen
8
I. Atilantilla: Neue Tendenzen der Kriminalpolitik in Skandinavien, ZStW 95 (1983),
S. 739ff; A.Hirsch: Gegenwärtige Tendenzen in der Amerikanischen Strafzumessungs-
lehre, ZStW 94 (1982), S. 1048 ff.
' Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 37.
10 Vgl. W.Naucke: Generalprävention und Grundrechte der Person, in: Hauptpro-
bleme der Generalprävention (Anm. 5), S. 13 ff, vgl. weiter K. Lüdensen: Die generalprä-
ventive Funktion des Deliktssystems, in: Hauptprobleme der Generalprävention, S. 54 ff.
" Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 49 ff.
12 Näher K.Buchala: Direktiven der richterlichen Strafzumessung, 1961, S. 18 ff
(Dyrektywy s^dowego wymiaru kary).
104 Kazimierz Buchala
15
D. h. 1 Woche Arreststrafe und 6 Monate Gefängnisstrafe.
14
B. Wröblewski / W. Swida: Die richterliche Strafzumessung, W i h o 1939, S. 107 ff
(S^dziowski wymiar kary).
15
Mit Ausnahme der Institution der vorläufigen Entlassung und der Geldstrafe.
" Im Jahre 1952 betrug die Zahl der bedingt Verurteilten 31,0 % , 1954: 46,0 % , 1956:
30,7%, 1958: 54,4%, 1960: 49,2%.
17
Wenn der Sachschaden nicht größer als 500 Zloty war.
18
Im Jahre 1962: 53,5%, 1965: 54,7%, 1968: 58,4%.
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 105
" Im Jahre 1973 betrug die Zahl der Verurteilten zur Bewährung 34,1 % , 1976: 32,6 % ,
1979: 2 8 , 3 % . Die Zahl der eingestellten Strafverfahren betrug in entsprechenden Jahren
20,5%, 12,6%, 19,9%.
20 U n d zwar im Jahre 1 9 7 3 : 2 9 , 9 % , 1976: 2 5 , 8 % , 1979: 2 4 , 9 % .
21 Im Jahre 1981 betrug die Zahl der zur Bewährung ausgesetzten Strafen 6 3 , 8 % und
III.
Die erwähnte Äquivalenz der Strategie der Verbrechensverhütung in
der Kriminalpolitik der Volksrepublik Polen hat ihre philosophische
Grundlage und eine normative im geltenden polnischen StGB. Die
philosophische ist mit dem Menschenbild des sich selbst frei steuernden
Menschen verbunden. Die normative liegt in den Sanktionen und dem
Maßnahmen-System, sowie manchen Institutionen und Regeln der
Strafzumessung. Das geltende polnische StGB operiert in vielen Fällen
mit verhältnismäßig hohen Sanktionsuntergrenzen, besonders bei fahr-
lässigen Straftaten, Verbrechen gegen das Eigentum sowie bei Gewaltde-
likten. H o h e Strafen drohen auch für Straftaten bei mehrfachem Rück-
fall, was dem Prinzip der Generalprävention entspricht 22 . Gleichzeitig
aber sind bei Rückfalltätern besondere Maßnahmen vorgesehen, wie
Schutzaufsicht oder Unterbringung in einem „Zentrum für soziale
Anpassung". Das polnische StGB sieht breite Möglichkeiten der beding-
ten Einstellung des Verfahrens sowie der bedingten Aussetzung zur
Bewährung vor, sowie auch eine Strafe mit eindeutiger Resozialisie-
rungstendenz, nämlich die Strafe der Freiheitsbegrenzung. Im Bereich
der Strafzumessung sieht es vor, daß das Gericht bei der Einschätzung
der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat die allgemeine und die
individuelle Prävention berücksichtigen sollte, was ein großer Teil der
Wissenschaft im Sinne der Vereinigungstheorie versteht, bei gleichzeiti-
gem Gleichgewicht beider Formen der Prävention 23 . Der gesellschaftli-
chen Gefährlichkeit der Tat kommt in diesem Kontext die Funktion des
Legitimierens und Limitierens der Strafbestimmung zu 24 . Nach dieser
Meinung ist der Grad der gesellschaftlichen Gefährlichkeit nicht nur ein
IV.
Die Aussagen der polnischen Strafrechtswissenschaft zur General-
prävention sind, schon wegen der Aktualität dieses Themas für die
Gerichtspraxis, zahlreich. Bevor das polnische StGB von 1969, das die
Strategie der Generalprävention in die Kriminalpolitik und die gerichtli-
che Anwendung eindeutig einführte, in Kraft trat, unterschied die
Wissenschaft drei Versionen der generalpräventiven Einwirkung der
Strafen (Normen), und zwar: (1) erzieherische Einwirkung auf den
Adressaten, was im allgemeinen der in der Wissenschaft der Bundesre-
publik Deutschland bekannten Funktion der Stabilisierung der Normen
entspricht, (2) Gestaltung eines zusätzlichen Motivelements in den
Kategorien „Summe der aus der Straftat hervorgehenden Vorteile", was
der in der Bundesrepublik Deutschland bekannten Theorie der „quasi-
ökonomischen Kalkulation" entspricht, sowie (3) Abschreckung, die
ursprüngliche Funktion der Generalprävention28. In der polnischen Wis-
senschaft hat die erste Funktion der Generalprävention die meisten
Anhänger, die wenigstens die Funktion mit ökonomischer Schattierung.
Diese Einstellung fand ihren Ausdruck auch in Art. 50 § 1 des polnischen
StGB von 1969, in dem bewußt die Bezeichnung „gesellschaftliche
Einwirkung der Strafe" für die Kennzeichnung der Strategie der Gene-
ralprävention angewandt wurde, um zu unterstreichen, daß es sich hier
prinzipiell nicht um die Abschreckung künftiger Straftäter handelt,
sondern um andere Mechanismen der Motivierung der Adressaten der
generalpräventiven Strafe29, wie zum Beispiel: Warnung der Unschlüssi-
gen, Festigen der gesetzmäßigen Haltung, Weckung von Gefühlen der
Mißbilligung einer gegebenen Straftat, Stärkung des Gefühls der Sicher-
heit und des Vertrauens zum Rechtssystem und der es anwendenden
Organe30.
Die Kritiker der Abschreckungsfunktion heben in Polen, ähnlich wie
in der Bundesrepublik Deutschland, hervor, daß der Kreis der Adressa-
ten einer Strafeinwirkung unbestimmt ist. Man weiß nichts über ihre
Haltung und Persönlichkeit oder ihre Reaktion auf die Verhängung
scharfer Strafen gegen andere Täter. Ferner ist zu beachten, daß das
Problem, ob Informationen über generalpräventive Faktoren der ausge-
sprochenen Strafen an die eigentlichen Adressaten treffen, außerhalb des
Einflusses des Gerichtes liegt31. Denn heute sind die Gerichtssäle leer
und die Massenmedien können naturgemäß selektiv berichten, was
wahrscheinlich den Eindruck hervorruft, daß ein außergewöhnliches
Urteil publiziert wurde und „normale" Urteile andersartig sind32. Die
präventive Einwirkung der Urteile kommt aber auf Grund vieler ähnli-
cher Strafverhängungen zustande, die eine ständige Tendenz der Straf-
politik kundtun, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Es
wird auch hervorgehoben, daß die Motivierung der Adressaten von
ihrem gesellschaftlichen Milieu und der in ihm funktionierenden gesell-
schaftlichen N o r m abhängig ist. Man kann es so ausdrücken: J e negati-
ver das Milieu die begangene Straftat einschätzt und seine Mißbilligung
gegenüber dem Täter durch gesellschaftliche Sanktionen zum Ausdruck
bringt, desto stärker ist die präventive Einwirkung des gegebenen
Urteils, und umgekehrt. Im Zusammenhang damit muß hervorgehoben
werden, daß in einer Situation, in der im gegebenen Milieu die gesell-
schaftlichen Normen eine große Motivierungskraft für den Täter haben,
verschärfte Strafen nicht nötig sind33. Es ist zu unterstreichen, daß in
einem solchen Milieu der Täter wenig Chancen hat, sich nach der
Strafverbüßung in die Gesellschaft einzugliedern, was ihn natürlich
stigmatisiert und die Ziele der speziellen Prävention durchkreuzt. Es
wird auch argumentiert, daß die Kalkulation von Gewinn und Verlust,
wenn sie überhaupt durchgeführt wird, sehr selten die einzelnen Katego-
rien der Straftaten, zum Beispiel Rauschgifthandel, betrifft. Aus dieser
Kalkulation ist a priori ein breiter Kreis von Straftaten ausgeschlossen,
wie zum Beispiel fahrlässige Taten oder solche aus emotionellen oder
politischen Gründen.
Im Zusammenhang mit der positiven Generalprävention werden unter
anderem folgende Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit hervorgehoben:
Die allgemeine Bedingung (die auch die negative Prävention betrifft) ist
die einer hohen Wahrscheinlichkeit der Ermittlung und Bestrafung des
Täters sowie die Schnelligkeit der Strafverhängung und -Vollziehung. In
diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß häufige Amnestien, die
kriminelle Straftaten einbeziehen, die Stabilisierungsfunktionen der
N o r m beeinträchtigen. Bekannt ist die Tatsache, daß das Risiko einer
31 M.Szerer: Das Strafen und der Humanismus, Warszawa 1964, S. 146 ff (Karanie a
humanizm, s. 162 i n.), K. Buchala: Materielles Strafrecht, S. 487 ff, A. Podgorecki: Rechts-
soziologie, Warszawa 1962, S. 105 ff (Socjologia prawa, s. 105 i n.), L. Gardocki: Metho-
den der generalpräventiven Einwirkung des Strafrechts, Wissenschaftliche Hefte des
Instituts für Gerichtsrechtsforschung, 1978, Bd. 8, S. 151 ff (Metody ogölnoprewencyj-
nego oddzialywania prawa karnego, Zeszyty Naukowe Instytutu Badnia Prawa S»do-
wego, 1978, nr.8, s. 151 i n.).
32 Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 44 ff.
33 L. Gardocki: Methoden, S. 153.
110 Kazimierz Buchala
V.
Der Anstieg der Kriminalität in den Jahren 1981-1984 rief in der
Gesellschaft Beunruhigung und Verringerung des Sicherheitsgefühls
hervor, besonders im Bereich der Spekulation und bei Diebstahl privaten
Eigentums. In diesem Zusammenhang mehren sich auch kritische
Anmerkungen zur Rechtsprechung. Man wirft ihr Verhängung von zu
milden Strafen, zu breite Anwendung der Aussetzung zur Bewährung
und Langwierigkeit des Verfahrens vor und fordert, besonders im
Arbeitermilieu, Verschärfung der Kriminalpolitik und eine wirksamere
Abschreckung von der Begehung von Straftaten. Die Regierung berück-
sichtigte diese Forderungen und legte dem polnischen Parlament, dem
Sejm, zwei Gesetzesentwürfe vor, die am 10. Mai verabschiedet wurden.
Das erste Gesetz ändert einige Vorschriften des geltenden polnischen
StGB, wie die Erhöhung der Geldstrafe, was mit der Senkung des
Geldwertes verbunden ist, die Verschärfung zusätzlicher Strafen, die
Möglichkeit der Verurteilung zu Schadensersatz, sowie die Verschärfung
der Verantwortlichkeit für Übertretungen und die Einführung neuer
Tatbestände in das Gesetzbuch für Übertretungen. Das zweite trägt den
Charakter eines zeitlich begrenzten Gesetzes, das vom 1. Juli 1985 bis
1. Juli 1988 gelten soll und einen eindeutig generalpräventiven Charakter
hat. Dieses Gesetz führt neue Tatbestände für Diebstahl im Transport
ein und verschärft die Freiheitsstrafe in der unteren und der oberen
Grenze in bezug auf die bisher drohenden Strafen. Das Gesetz verbietet
die Anwendung der bedingten Aussetzung zur Bewährung bei schweren
Delikten gegen Volkseigentum, Gesundheit, bei Vergewaltigung, Beste-
chung, bei Verkehrsunfällen mit Todesfolge und bei im Alkoholrausch
begangenen Taten. Ausnahmen gelten in bezug auf minderjährige Täter
oder Täter, denen die Fürsorge für Kranke und Minderjährige obliegt,
unter der Bedingung der Wiedergutmachung. Dieses Gesetz verbietet
auch die Anwendung der außergewöhnlichen Strafmilderung bei den
genannten Delikten. Weiterhin führt es die Vorschrift zur Verhängung
von Geldstrafen in bestimmter Höhe ein, d. h. des Wertes des gestohle-
nen Gutes oder vernichteten Eigentums, bei Spekulation des zweifachen
Wertes des Spekulationsgutes usw. Es erweitert auch den Bereich der
Beschlagnahme des Eigentums. Die generalpräventive Wirkung soll
diesem Gesetz nach auch durch ein beschleunigtes Verfahren gegenüber
dem „auf frischer Tat" ertappten Täter erreicht werden, wobei zum
Beispiel auf Anklage verzichtet wird und gegenüber Tätern schwerer
Verbrechen obligatorisch Arrest ausgesprochen wird. Es wird auch eine
Vereinfachung des Verfahrens für kleinere Delikte vorgeschlagen.
Alle diese Änderungen entsprechen der Strategie der negativen Gene-
ralprävention. O b sie erfolgreich sein werden, läßt sich noch nicht
abschätzen.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte
JUAN CARLOS GARDELLA
' Der Vollständigkeit halber sei hierbei ausdrücklich auf die Trennung zwischen
rechtsphilosophischen Forschungslinien und jedem theologischen Wissen hingewiesen.
Argumentationen theologischer Art bei der naturrechtlichen Diskussion und der Philoso-
phie überhaupt wurden schon im Mittelalter manchmal für fehl am Platz gehalten. Die
christliche Offenbarung bedeute eine Unterstützung der „ratio", aber keinen Ersatz für
sie. Immer eindeutiger wurde diese Idee in der Neuzeit; sie spiegelte sich etwa in einer
wohl bekannten Erkläning von Hugo Grotius (De iure belli ac pacis, 1625, Proleg. § 11)
wider und wurde Gemeingut der Aufklärung.
114 Juan Carlos Gardella
denn sie beantworten die Frage, wie man zu Leitsätzen mit Wertprädi-
katen kommt, also Leitsätze, welche besagen, daß eine Handlung gut
oder schlecht, gerecht oder ungerecht, billig oder unbillig usw. ist. Beide
Thesen sind jedoch auch ontologischer Art, denn sie sagen etwas über
die Handlungen aus, d.h. sie behaupten bzw. verneinen, daß eine
Handlung als solche - unabhängig von der Erkenntnis und dem Willen -
gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht usw. ist. Wenden wir uns im
folgenden dem Kern beider Thesen zu2:
muß man einige Begriffe, die bei ihrer Behandlung benutzt werden, auf die allgemein-
philosophische Bedeutung zurückführen. Das ist angebracht gerade im Fall der Diskussion
zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Es ist deshalb daran zu erinnern, daß die
Erkenntnistheorie die Erkenntnis im allgemeinen als eine so gestaltete Relation zwischen
Subjekt und Gegenstand versteht, daß das Subjekt die Beschaffenheiten des Gegenstandes
mit den Wahrnehmungen und Begriffen erfassen kann. So verstanden eröffnen sich bei der
philosophischen Interpretation des Erkenntnisphänomens zwei Alternativen. Entweder ist
die Erkenntnis ein Nachbilden des Gegenstandes, oder sie stellt ein Erzeugen von ihm dar.
Die erstgenannte Möglichkeit nennt man Objektivismus oder auch Realismus, die zweite
Subjektivismus und auch Idealismus. Die objektivistische These und „e contrario" auch die
des Subjektivismus wurde einmal von Nicolai Hartmann mit den folgenden Worten
charakterisiert: Die Erkenntnis ist „nicht ein Erschaffen von etwas, das auch vor aller
Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist". (Grundzüge einer Metaphysik der
Erkenntnis, Berlin 1949 S. 1).
3 De iure belli ac pacis I, cap I 10.
116 Juan Carlos Gardella
Vitoria, Luis Molina, Gabriel Väsquez und die gesamte spanische Spätscholastik. Die
Theorie von Francisco Suarez - selbst wenn vielleicht gegen seine Absichten - ist m. E.
grundsätzlich nicht anders als Objektivismus zu deuten.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 117
übertragen. Nach Hobbes ist eine Handlung als solche, d. h. ihrer Natur
nach, „indifferent, ein Adiapheron; ihren Wertcharakter erhält sie allein
durch den Befehl (mandatum) eines Ubergeordneten"7. Gerecht oder
ungerecht ist nur das, was als solches vom Staat bestimmt wird, denn -
so steht es in Hobbes Leviathan8 - „auctoritas, non veritas facit legem".
b) Epistemologisch drückt sich der Subjektivismus in einer weit verbrei-
teten Auffassung der Werturteile aus: Da ihnen kein Wahrheitswert
zukomme, seien sie keine echten Urteile, sondern nur ein maskierter
Ausdruck der entsprechenden Bewertungen volitiv-gefühlsmäßiger und
nicht kognitiver Art. Mit anderen Worten: Ausdrücke, die auf den
ersten Blick Werturteile zu sein scheinen, bildeten eigentlich nur die
Rationalisierung von Willen und Gefühl eines bewertenden Subjekts und
somit letzten Endes der Interessen, die dahinter stehen und sich auf diese
Art gegen andere Interessen zu behaupten versuchen. Dies führt zu einer
Konzeption des Werturteils als Stellungnahme von bestimmten Subjek-
ten, eine Stellungnahme übrigens, die als solche eine Tatsache ist und
keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Im Zusammenhang mit
dieser Theorie, die das „sogenannte" Werturteil auf existierende Bewer-
tungen reduziert, wird selbstverständlich die Möglichkeit eines Wirk-
lichkeitsurteiles nicht ausgeschlossen, „mit dem die Beziehung eines
Objektes zu dem darauf gerichteten Wunsch oder Willen eines oder auch
vieler Menschen festgestellt wird"9.
7
H.Welzel, a . a . O . S. 117.
8
Th. Hobbes, Leviathan, 26. Kapitel.
' S. H.Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, S.20. Kelsen erklärt, daß ein solches
Urteil „nur die Beziehung zwischen zwei Seins-Tatsachen" feststellt, so daß es „nur ein
besonderes Wirklichkeitsurteil" ist.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 119
acht lassen, daß der Subjektivismus sich nicht auf diese oder andere
Versionen beschränkt, und ebensowenig vergessen, daß die grundsätzli-
che Anerkennung von „allen und jedem" in der heutigen Menschen-
rechtskonzeption mehr der subjektivistischen als der objektivistischen
These entspricht. Außerdem sollte man nicht aus den Augen verlieren,
daß sogar in der Theorie Hobbes ein wichtiger Grundsatz der heutigen
Menschenrechtskonzeption - das Ausschließen rückwirkender Gesetze
- gerade in der subjektivistischen These eine Begründung fand.
rer Probleme der Normen und Werturteile s. J.C. Gardella, Interioridad de la moral y
exterioridad del derecho, en Enciclopedia Iuridica Omeba, Buenos Aires 1963, B d . X V I
S. 449—462, und ders.: La responsabilidad por la violación de los derechos humanos y la
problemática de la culpabilidad penal, en: R. Bergaiii y ]. Bustos (directores y compilado-
res), El poder penal del estado-Homenaje a Hilde Kaufmann, Buenos Aires 1985,
pp. 347-364, II.
11 A.N. Whitehead, bezieht sich auf die „fallacy of misplaced concretness", d.h. die
fälschliche Zuschreibung konkreter Realität" (s. E. Buhser, in: Josef Speck, Hrsg., Grund-
probleme der großen Philosophen, Philosophie der Gegenwart I, 1972, S. 274.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 121
20
Ch.Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967, S.28.
128 Juan Carlos Gardella
wie Kelsen dies präzis formulierte - eine Rechtsordnung kann „mit dem
einen Maßstab gemessen als gerecht gerechtfertigt, mit dem anderen aber
als ungerecht verurteilt werden" 21 , was von der Rechtsphilosophie eine
neutrale Betrachtungsweise bei der Definition des Rechts verlangt. Dies
bedeutet, daß man das positive Recht mit Kriterien definiert, die von der
einen oder der anderen Gerechtigkeitsauffassung unabhängig sind. Eine
derartige neutrale Haltung verfällt nicht in Nihilismus, Defätismus oder
Autoritarismus, wenn sie - wie es oft geschieht - das Problem der
Definition des Rechts und das Gehorsamsproblem trennt: Die Bestim-
mung einer Ordnung als Rechtsordnung bedeutet nicht, daß man ihr
deshalb gehorchen soll. Die Antwort auf die Gehorsamsfrage hängt
nämlich von der Gerechtigkeitskonzeption ab, welche der Adressat
dieser Ordnung für richtig hält.
c) Die Entwicklung der Rechtsphilosophie zeigt eindeutig, wie mühsam
sich diese neutrale Haltung einen Weg bahnen konnte: Eine andere
Hauptrichtung versucht nämlich, als positives Recht Ordnungen zu
definieren, die einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung entsprechen,
d. h. derjenigen, die von dieser Denkrichtung übernommen und in Form
einer Theorie der Gerechtigkeit präsentiert wird. Rechtsverbindlichkeit
könne man nur diesen Ordnungen zuschreiben, denn - das bildet die
Voraussetzung solcher Denkrichtung - das Gehorsamsproblem und das
Problem der Definition des Rechts ließen sich nicht trennen.
d) Oft sagt man, daß die Wahl zwischen der neutralen und der nicht-
neutralen Betrachtungsweise begrifflich irrelevant sei und nur ein termi-
nologisches Problem darstelle: Man könne entweder alle Ordnungen als
Rechtsordnungen bezeichnen und dann nur einen Teil von ihnen -
diejenigen, die mit einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung in Ein-
klang stehen - für rechtsverbindlich halten; oder man könne nur einen
Teil der Ordnungen für Rechtsordnungen halten und ihnen Rechtsver-
bindlichkeit deshalb zusprechen, weil sie der „richtigen" Gerechtigkeits-
auffassung entsprechen. So oder so komme man zu demselben Ergebnis.
Meines Erachtens zeigt sich jedoch, daß bei dieser Kontroverse der
terminologische Streit nicht nur „bloß terminologisch" ist, sondern daß
er wichtige Folgen praktischer und methodologischer Art hat:
e) Auf die praktischen Folgen beider Betrachtungsweisen bezieht sich
H. L. A. Hart, und zwar wie folgt: Die Idee, „daß es etwas außerhalb des
offiziellen Systems gibt, durch bezug worauf das Individuum in letzter
Instanz sein Gehorsamsproblem lösen kann, läßt sich sicherlich unter
solchen Menschen lebendiger erhalten, die daran gewöhnt sind, zu
21
H.Kelsen, Reine Rechtslehre, i960, S.404.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 129
denken, daß Rechtsregeln ungerecht sein können, als unter solchen, die
denken, daß nichts Ungerechtes jemals Rechtsstatus genießen kann" 22 .
f ) Auf die methodologischen Folgen der neutralen und nicht-neutralen
Betrachtungsweisen des Rechtsbegriffs möchten wir hier kurz hinwei-
sen. Eine neutrale Haltung legt naturgemäß dem Rechtstheoretiker
nahe, das Gebiet der positiv-rechtlichen Erfahrung - Normensysteme,
Praxis, Gerechtigkeitskonzeptionen usw. - so weit und so gründlich wie
möglich zu erforschen, und dies nicht nur, bevor er eine dieser Gerech-
tigkeitskonzeptionen in Form einer Theorie als die „richtige" darstellt,
sondern auch nachher. Denn auch nachdem eine derartige Gerechtig-
keitstheorie aufgestellt wird, verschließt er sich nicht mit der These, „das
(was mit der gewählten Gerechtigkeitskonzeption nicht übereinstimmt)
ist doch keine Rechtsordnung", den nötigen ständigen Zugang zu der
rechtlichen Erfahrung. Die neutrale Haltung bei der Definition des
positiven Rechts entspricht dem empiristischen Postulat.
Dagegen führt die These „das Ungerechte kann nie Rechtsstatus
haben" öfter als die entgegengesetzte dazu, - erstens - die Beschreibung
und Erklärung von anderen Gerechtigkeitskonzeptionen zu vernachläs-
sigen und - zweitens - die Gerechtigkeit vor allem als Sache der
proklamierten Grundsätze und nicht des konkreten Funktionierens
einer Rechtsordnung zu betrachten. Die nicht-neutrale Haltung bei der
Definition des positiven Rechts entspricht dem Glauben an Wahrheiten
apriorischer Art.
22 H.L.A. Hart, Der Begriff des Rechts (The Concept of Law, Oxford 1961, ins
Deutsche übersetzt von A. von Bayer, 1973), S. 290. Über die Gehorsamsproblematik s.
auch E. Diaz, Legitimidad democrática: Libertad y criterio de las mayorías, in: Sociologia
del diritto n. 1 1984 p. 109-120; ders. La justificación de la democracia, in: Rev. Sistema
Nr. 66 (Mayo 1985), p. 3-23.
130 Juan Carlos Gardella
25 S. dazu K. Vasak, A 30-year Struggle, in Unesco Courier, Nov. 1977 p. 29; ders.
Human Rights: As a Legal Reality, in: K. Vasak (General Editor), The International
Dimension of Human Rights, Westport, Connecticut 1982, Vol. I p. 3-9; s. auch K. de
Wey Mestdagh, The Rights of Development: From Evolving Principle to "legal" Right: in
Search of its Substance, in: International Commission of Jurists (editor), Development,
Human Rights and the Rule of Law, 1981, p. 143 foll. (s. insbesondere p. 148).
24 Sie beziehen sich aber indirekt auf methodische Aspekte. So z. B. die Artikel 19 und
21 der UN-Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und 19 und 25 des UN-Pakts über
bürgerliche und politische Rechte.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 131
Fassade der Rechtfertigung zu benutzen. Wie dem auch sei: ihre Identi-
fizierung und - wenn nötig - ihre Umwandlung in Grundsätze bilden
eine sehr wichtige Aufgabe der Rechtsphilosophie von heute.
die lautet: „Jeder Mensch hat das Recht a u f . . . " , und die mit dem
gewöhnlichen Sinn der „Dürfen"-Sprache nicht identisch ist. In ihr
drückt sich die Idee des Vorrangs des Einzelnen vor allen Organisatio-
nen und Kulturwerken aus.
b) An sich drücken die Menschenrechtsmaßstäbe ein Sollen aus. Außer-
dem werden sie vom menschlichen Bewußtsein als Sollen erfaßt. Dabei
ist das Wort „Bewußtsein" im weiten Sinne zu verstehen, in einem
Sinne, für den die Bezeichnung „ethisch" vorbehalten ist. Das „ethische
Bewußtsein" umfaßt nämlich das rechtliche sowie das moralische
Bewußtsein. Es ist das Ergebnis des Internalisierungsprozesses von
sozialen Normen und vor allem von ihren Grundsätzen und Werten,
welche je nach dem Grad der Internalisierung rechtlich oder moralisch
genannt werden.
26
Dies ist die empiristische Erklärung eines solchen Phänomens, die m. E. die richtige
ist. Die Formulierung des Apriorismus würde dagegen folgendermaßen lauten: „Anläßlich
von ihnen entdeckt man Gerechtigkeitsgrundsätze".
Bilanz der Strafrechtsreform
HANS JOACHIM HIRSCH
I.
Es ist jetzt mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit die im Mittelpunkt
der bundesdeutschen Strafrechtsreform stehende Neuregelung des All-
gemeinen Teils in Kraft getreten ist, und auch die meisten Teilreformen
des Besonderen Teils liegen inzwischen über zehn Jahre zurück. Dieser
zeitliche Abstand erlaubt es, nunmehr eine Bilanz der Strafrechtsreform
zu ziehen. Dabei geht es insbesondere darum, wie sie sich in praktischer
Anwendung und theoretischer Sicht bewährt hat.
Wenn man von der bisherigen Strafrechtsreform spricht, so handelt es
sich vor allem um die zwischen 1969 und 1975 in Kraft getretenen fünf
Strafrechtsreformgesetze (1. bis 5.StrRG) und die durch das neue Ein-
führungsgesetz (EGStGB 1974) vorgenommenen Gesetzesänderungen.
Die Betrachtung der Reform hat darüber hinaus die im Jahre 1976 durch
das l . W i K G eingeführten Wirtschaftsstrafbestimmungen sowie das
1980 durch das 18.StÄG geschaffene neue Umweltstrafrecht und die in
den zurückliegenden Jahren ergangenen sonstigen Strafrechtsänderungs-
gesetze einzubeziehen. Außerdem sind im Zusammenhang mit der
Reform des StGB das Strafvollzugsgesetz von 1976 und die Erweiterung
der Einstellung wegen Geringfügigkeit in § 153 a StPO zu nennen.
Die nur schrittweise Änderung des Besonderen Teils entsprach
bekanntlich nicht der ursprünglichen Planung. Auch nach dem Scheitern
des eine umfassende Neukodifizierung vorsehenden E1962 ging man,
wie erinnerlich, zunächst davon aus, daß eine Gesamtreform möglich
sein würde. Aus diesem Grunde wurde das den neuen Allgemeinen Teil
enthaltende 2.StrRG zwar bereits Mitte 1969 im Bundesgesetzblatt
verkündet, als Termin des Inkrafttretens jedoch erst der 1.10.1973, das
Ende der nächsten Legislaturperiode, bestimmt. Bis dahin sollte schritt-
weise die Reform des Besonderen Teils erfolgen 1 . Als sich dieser Termin
als unrealistisch erwies, wurde eine weitere Verschiebung auf den
1.1.1975 vorgenommen. Auch sie vermochte indes nichts daran zu
ändern, daß die bundesdeutsche Strafrechtsreform - im Unterschied
1
Vgl. den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsre-
f o r m , BT-Drucks. V/4094.
134 Hans Joachim Hirsch
etwa zur österreichischen - ein Torso blieb, bestehend aus einer in das
alte StGB eingeführten Neufassung des Allgemeinen Teils und einigen
schrittweisen Teilreformen des Besonderen Teils. Nach 1975 ist dann
auch für die noch mit dem Ziel der Gesamtreform betriebene abschnitt-
weise Änderung des Besonderen Teils alsbald der Elan verlorenge-
gangen2.
5 Dazu Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1984, Vor § 3 2
Rdn.170.
Bilanz der Strafrechtsreform 135
5
" Näher darüber Grünwald, ZStW 80 (1968), 89.
6
Vgl. Kaiser, Kriminologie, 7. Aufl. 1985, S. 173. Der Anteil der Geldstrafen betrug
1965 noch 63 %.
136 Hans Joachim Hirsch
7 Auch Hilde Kaufmann, in: Grünhut-Erinnerungsgabe, 1965, S.65, hat darauf hinge-
wiesen, daß die Geldstrafe nicht in beliebigem Maße vermehrt werden kann und ihr zudem
die erzieherische Wirkung oft fehlt.
8 Näher dazu Cross, The English Sentencing System, 1975, S. 15 ff; King, Community
Service, 1982; B. Huber, J Z 1980, 638; Fuchs, Der Community Service als Alternative zur
Freiheitsstrafe, 1985.
' Vgl. die Angaben bei Jescheck, ZStW 91 (1979), 1057f m . w . N . ; kritisch kürzlich
auch Weigend, JZ 1986, 260, 267.
10 Für eine Erweiterung der Strafaussetzungsmöglichkeit auf Freiheitsstrafen bis zu
2 Jahren hatte sich bereits im Jahre 1965 Hilde Kaufmann (Fn. 7), S. 90 ausgesprochen.
Bilanz der Strafrechtsreform 137
teilungen angewandt worden14. Der Grund liegt einmal darin, daß der
Gesetzgeber ihr nur Ausnahmecharakter zugebilligt hat15. Zum anderen
hängt die geringe Bedeutung mit der starken Erweiterung der prozessua-
len Einstellungsmöglichkeiten zusammen. Diese haben dazu geführt,
daß bei Straftaten von geringem Gewicht eine Einstellung des Strafver-
fahrens bei gleichzeitiger Bußgeldauflage bevorzugt wird16. Die Strafver-
folgungsorgane empfinden eine solche Verfahrensweise als justizökono-
mischer.
Durch die Fassung als Ausnahmeregelung und die Bevorzugung des
§ 153 a StPO ist auch verhindert worden, daß der §59 StGB bei der
Geldstrafe die Funktion übernehmen konnte, die bei der Freiheitsstrafe
die Strafaussetzung zur Bewährung hat. Das ist mißlich, weil sonst die
seit der Reform ganz im Vordergrund stehende Geldstrafe durch ein
flankierendes spezialpräventives Element sinnvoller und tätergerechter
hätte gehandhabt werden können.
14 Vgl. Horn, N J W 1980, 106; Heinz, ZStW 94 (1982), 663 f; kritisch zur „Denaturie-
rung" dieses Rechtsinstituts Baumann, JZ 1980, 464.
15 Vgl. § 5 9 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dazu BT-Drucks. V/4095, S.24f.
16 Auch Rieß, ZRP 1983, 93, konstatiert, daß die prozessuale Einstellungsmöglichkeit
Sicherungsverwahrung ( § 6 6 StGB) durch das 1. StrRG. Mit der Neufassung wurden die
Voraussetzungen der Anordnung wesentlich verschärft, um nicht weiterhin - wie zuvor -
überwiegend Täter aus dem Bereich der geringen oder mittleren Vermögensdelinquenz zu
erfassen; vgl. BT-Drucks. V/4094, S. 18 ff. Im Jahre 1968 war Sicherungsverwahrung in
268 Fällen angeordnet worden; vgl. Jescheck (Fn. 2), S.23. Seit 1970 sind die Zahlen
ständig zurückgegangen. 1984 waren noch 36 Täter betroffen; vgl. Statistisches Bundes-
amt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1984, S.32.
" Vgl. O L G Karlsruhe N J W 1975, 1571; Hanack, in: Leipziger Kommentar zum
StGB, 10. Aufl. 1978, § 6 7 Rdn.31 m . w . N .
Bilanz der Strafrechtsreform 139
lungsmöglichkeit des § 3 5 BtmG von 1982. Danach kann die Vollstreckungsbehörde, aber
auch nur mit Zustimmung des erstinstanzlichen Gerichts, die Vollstreckung zurückstellen,
wenn sich der Verurteilte in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet
oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Im
Drogenbereich war diese Vorschrift erforderlich, da viele Drogenabhängige in den Straf-
vollzug und nicht in Therapie kamen, weil ihre Strafen mangels günstiger Sozialprognose
nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnten.
20 Näher zu den genannten Einrichtungen Hilde Kaufmann, Kriminologie III, 1977,
S. 160 ff.
21 BR-Drucks. 110/83, S. 18; Schwind, NStZ 1981, 122.
140 Hans Joachim Hirsch
22
Vgl. Schock, ZRP 1982, 208.
23
Zu den Erfahrungen vgl. die Berichte in: MSchrKrim. 1979, 322, 338, 348, 357; siehe
auch Schüler-Springorum, in: Barbero Santos u.a., La Reforma Penal, Madrid 1982,
S. 119; Kaiser, SchwZStR 103 (1986), 1, 9ff.
Bilanz der Strafrechtsreform 141
der § 153 a StPO eingeführt. Man erweiterte also, und zwar noch
akzentuiert für die Eigentums- und Vermögensdelinquenz, die Möglich-
keit der Einstellung wegen Geringfügigkeit in der Weise, daß die Staats-
anwaltschaft oder im Hauptverfahren der Richter unter der Bedingung,
daß der Beschuldigte bestimmte Auflagen - zumeist eine Geldbuße -
erfüllt, das Verfahren einstellen kann.
Diese durch die Beseitigung der Ubertretungskategorie verursachte
verfahrensrechtliche Lösung wurde gleichzeitig zum allgemeinen Kon-
zept für die Erfassung der Bagatellkriminalität ausgestaltet.
Die Regelung hat nach anfänglicher Zurückhaltung erhebliche prakti-
sche Bedeutung erlangt24. Die in der Wissenschaft geäußerte Befürch-
tung, daß die Eröffnung der Möglichkeit, sich von der Anklage durch
Zahlung einer Geldbuße gewissermaßen freizukaufen, zu ungleicher
Behandlung von begüterten und finanziell schwachen Beschuldigten
führen könnte25, ist durch die tatsächliche Entwicklung nicht widerlegt
worden. Vor allem aber besteht das Bedenken fort, daß Beschuldigte
hier von den Strafverfolgungsbehörden vielfach nur auf bloßen Tatver-
dacht hin, also ohne Nachweis der Tat, zur Zahlung einer Geldbuße
genötigt werden. Auch scheint in Hauptverfahren die Versuchung zuzu-
nehmen, strafprozessual gebotene Freisprüche dadurch zu umgehen,
daß dem Angeklagten die Zahlung einer Geldbuße bei gleichzeitiger
Einstellung nach § 153 a StPO aufgezwungen wird. Dabei handelt es sich
vor allem um Fälle, in denen die Tat nicht nachweisbar ist, aber auch die
Unschuld des Täters nicht feststeht. Hier drängt es offenbar manche
Richter und Staatsanwälte zur Erteilung eines „Denkzettels" in Form
einer Geldbuße. Außerdem erspart die Anwendung des § 1 5 3 a StPO
dem Richter die Abfassung des freisprechenden Urteils. Auch soll die
Bereitschaft zur Anwendung der Vorschrift in Hauptverhandlungen, die
sich in den späten Nachmittag oder den Freitagnachmittag auszudehnen
drohen, noch größer als sonst sein.
Man wird diesen Teil der Reform kaum als vorbildlich bezeichnen
können. Er geht nicht auf Vorschläge der Wissenschaft zurück, sondern
ist im Bundesjustizministerium erdacht worden, als man dort das
E G S t G B 1974 vorbereitete. Die prozessuale Regelung hat bewirkt, daß
ein Dunkelfeld der Strafverfolgung entstanden ist, in dem die entschei-
denden Strafverfolgungsorgane genügender verfahrensmäßiger Kontrolle
entzogen sind. Hinzu kommt, daß sich die Regelung im Vorverfahren
24 Vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1986, § 1 5 3 a Rdn.22, der für 1983
die Anzahl der Einstellungen auf etwa 200000 Fälle schätzt. Im Jahre 1977 waren es noch
rund 9 0 0 0 0 Einstellungen; siehe Rieß, ZRP 1983, 94. Empirische Daten auch bei Mein-
berg, Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen, 1985.
25 In diesem Sinne Hanack, in: Gallas-Festschrift, 1973, S. 358; Schmidhausen J Z 1973,
535; Hirsch, ZStW 92 (1980), 229.
142 Hans Joachim Hirsch
26 Vgl. Hirsch (Fn. 25), S.231; so auch AE-Novelle zur StPO, 1980, S.6.
27 Zu den betreffenden ausländischen Verfahrensrechten näher Weigend, Anklage-
pflicht und Ermessen, 1978, S. 167 f.
Bilanz der Strafrechtsreform 143
nach der Schuldtheorie und die Vorsatzlösung bei irriger Annahme des
entschuldigenden Notstands. Das Gesetz folgt damit einer Dogmatik,
die weder objektivistisch noch subjektivistisch ist, sondern eine Aus-
balancierung von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten vor-
nimmt28. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß sich in der
Wissenschaft die personale Unrechtslehre mit Inkrafttreten des neuen
Allgemeinen Teils durchgesetzt hat.
Der Reformgesetzgeber war sich bewußt, daß die gesetzliche Fest-
schreibung von dogmatischen Lösungen voreilig sein und die weitere
wissenschaftliche Entwicklung blockieren könnte2'. Daß sich die Dog-
matik des Allgemeinen Teils in Deutschland während der vorhergehen-
den 100 Jahre so fruchtbar entwickelt hat, war zu einem erheblichen Teil
durch die Zurückhaltung der alten Fassung des StGB begünstigt wor-
den. Mit Recht hat man deshalb im neuen Allgemeinen Teil einige
Festlegungen vermieden, so etwa bezüglich der Definition von Vorsatz
und Fahrlässigkeit oder bei den Garantenstellungen. Im Rückblick
erweist es sich auch als vorteilhaft, daß es entgegen §§20, 39 Abs. 2
E1962 und § 19 Abs. 1 AE nicht zu einer Regelung des Irrtums über
einen rechtfertigenden Sachverhalt gekommen ist. Die Entwicklung ist
hier weiterhin in Fluß, wie die Hinwendung der eingeschränkten
Schuldtheorie vom Vorsatzausschluß zur Verneinung der spezifischen
Vorsatzschuld einer vorsätzlichen Tat zeigt30.
Trotz der für den dogmatischen Bereich der Reform charakteristi-
schen Perfektion zeigen sich inzwischen auch einige Schwächen. So war
es sachlich verfehlt, die alte Regelung der Akzessorietätsfrage bei qualifi-
zierenden und privilegierenden besonderen persönlichen Merkmalen
beizubehalten (jetzt §28 Abs. 2 StGB). Diese aus dem Altbestand des
StGB stammende Vorschrift paßt logisch nicht mit der im Jahre 1968
eingeführten Regelung zusammen, die jetzt in §28 Abs. 1 StGB steht.
Denn wenn im Falle des Absatzes 2 nur Bestrafung wegen Beteiligung
am Grundtatbestand möglich sein soll, dann ergibt sich als logische
Konsequenz für strafbegründende besondere persönliche Merkmale,
daß der Extraneus dort entgegen Absatz 1 überhaupt nicht bestraft
werden dürfte. Will man ein derart sachwidriges Ergebnis vermeiden, so
müßte auch für die Fälle des Absatzes 2 die Regelung lauten, daß der
schen System näher Hirsch, ZStW 94 (1982), 240 ff, 261 f, 266 ff, 271.
29 Vgl. BT-Drucks. V/4095, S.7f.
definieren, da sie hier eine andere Bedeutung als in § 2 8 StGB haben; vgl. Lenckner
(Fn. 30), § 1 4 Rdn. 8 m . w . N .
32 Vgl .Jakobs, ZStW 97 (1985), 763 f, und die Diskussion auf der Strafrechtslehrerta-
gung 1985, vgl. den Tagungsbericht von Gropp, ZStW 97 (1985), 919 ff.
Bilanz der Strafrechtsreform 145
39 Näher dazu Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 6 ff mit Nachw. zum Streitstand.
40 Vgl. die Nachw. bei Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 8 u. 17.
41 Hirsch (Fn. 5), §34 Rdn. 17.
Bilanz der Strafrechtsreform 147
42 Siehe dazu die öffentliche Anhörung auf der 4. und 5. Sitzung des Sonderausschusses
Übel droht. Um eine Reform der Reform des §113 StGB wird der
Gesetzgeber auf die Dauer nicht herumkommen44.
c) Eine Einschränkung der Strafbarkeit hatte weiterhin die 1973 erfolgte
Reform des Sexualstrafrechts (4. StrRG) zum Ziel. Positiv war an ihr
zum einen, daß sie die antiquiert wirkende Abschnittsüberschrift „Ver-
gehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit" durch die Formulierung
„Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" ersetzte und den ver-
staubten Begriff „Unzucht" beseitigte. Außerdem entsprach die Ein-
schränkung insbesondere der Strafbestimmungen des Mißbrauchs von
Abhängigen, der Prostitution und der Verbreitung pornographischer
Schriften sowie das rigorose Zusammenstreichen des Kuppeleitatbe-
stands dem die sexuelle „Selbstverwirklichung" betonenden Zeitgeist.
Die anfangs nicht auf ungeteilten Beifall stoßende Reform dürfte
heute zunächst einmal im wesentlichen akzeptiert sein - von Einzel-
punkten abgesehen, wie etwa einem äußerst fragwürdigen Erzieherprivi-
leg bei der Strafbestimmung der Förderung sexueller Handlungen Min-
derjähriger (§180 Abs. 1 S.2 StGB). Die Reform des Sexualstrafrechts
stellt im großen und ganzen eine Anpassung strafrechtlicher Vorschrif-
ten an die gewandelte gesellschaftliche Auffassung dar. Andererseits
zeigt sich hier aber auch die Schnelligkeit, mit der sich solche Auffassun-
gen wieder wandeln. Denn heute werden Teile der Liberalisierung des
Sexualstrafrechts, etwa im Bereich der Pornographie, von der weiblichen
Emanzipationsbewegung kritisiert.
46 BVerfGE 39, 1.
Bilanz der Strafrechtsreform 149
(1985), 1043. Eine für das deutsche Recht sich jetzt stellende Frage ist, ob es nicht für die
bereits selbständig lebensfähige Leibesfrucht einer qualifizierenden Strafdrohung bedarf;
vgl. dazu Hirsch, JR 1985, 340 unter Hinweis auf „child destruction" im englischen
Strafrecht.
150 Hans Joachim Hirsch
Durch die Eingriffe des E G S t G B 1974 ist zudem die Homogenität des
StGB nicht unerheblich beeinträchtigt worden. So nahm man - einen
Gedanken des E1962 aufgreifend - die sog. unechten Amtsdelikte aus
dem Abschnitt „Straftaten im Amte" heraus und regelte sie, soweit sie
beibehalten wurden, im Anschluß an die Grundtatbestände. Den Tatbe-
stand der Körperverletzung im Amt ließ man jedoch an seinem bisheri-
gen Platz (§ 340 StGB) zurück. Auch änderte man teilweise die erfolgs-
qualifizierten Tatbestände, indem man bei einigen über § 18 StGB
hinausgehend Leichtfertigkeit bezüglich der schweren Folge anordnete.
Wieso jedoch bei den übrigen Tatbeständen Fahrlässigkeit weiterhin
genügen, bei den geänderten dagegen Leichtfertigkeit erforderlich sein
soll, scheint mehr vom gesetzgeberischen Zufall als von sachlichen
Differenzierungsüberlegungen beeinflußt zu sein51. Insgesamt macht ein
nicht unerheblicher Teil des E G S t G B 1974 den Eindruck des Uberhaste-
ten. Man wollte - unter dem Druck der Politiker - zusammen mit dem
neuen Allgemeinen Teil möglichst viel von der Strafrechtsreform über
die Bühne bringen und übersah darüber die Unausgereiftheit mancher
Änderungen und die Flickschusterei, auf die einige von ihnen hinaus-
liefen.
vordringlichen - Änderungen hat wohl auch verhindert, daß man die Beseitigung der vor
allem im Gefolge der Novellengesetzgebung mehr und mehr entstandenen Ungleichheit
der Regelung der tätigen Reue bei vollendeten Unternehmens- und Gefährdungsdelikten
(z. B. § 229 und §§ 311 a, 311 c StGB) mit in das „technische" Reformpaket des EGStGB
1974 aufgenommen hat. Auf diese Weise hängt nach dem Gesetzestext und der auf ihn
abstellenden Praxis die Beachtlichkeit der tätigen Reue hier weiterhin davon ab, wann eine
Strafbestimmung ins Gesetz aufgenommen worden ist. Zur Notwendigkeit der Rechtsana-
logie de lege lata Eser, in: Schönke/Schröder, 22. Aufl. 1985, § 2 4 Rdn. 116; Hirsch, in:
Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1981, § 2 2 9 Rdn. 22 m . w . N .
Bilanz der Strafrechtsreform 151
GVG) eingerichtet.
53 Man kann sich dafür auch nicht auf §265 StGB berufen, da dieser - wie sein
subjektiver Tatbestand zeigt - nach Art eines Unternehmensdelikts konzipiert ist. Zudem
ist die Bezeichnung „Versicherungsbetrug" erst durch das EGStGB 1974 in das Gesetz
aufgenommen worden.
54 Erst recht ließe sich nicht von Betrug sprechen, wenn man - wie das unzutreffend
teilweise geschieht - das geschützte Rechtsgut des § 264 StGB nicht im Vermögen, sondern
in der staatlichen Planungs- und Dispositionsfreiheit sieht. Denn Betrug i.S. des StGB
setzt jedenfalls ein Vermögensdelikt voraus.
55 Zur Kritik näher Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, 1982,
S. 122 ff.
152 Hans Joachim Hirsch
in einer Reihe von Fällen, in denen nach Auffassung der Strafjustiz der
Mordtatbestand gegeben ist, als unangemessen hohe Strafe erscheint.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich deshalb bekanntlich für die ver-
fassungsrechtliche Notwendigkeit der restriktiven Auslegung ausgespro-
chen, insbesondere bei den Merkmalen der Heimtücke und der Absicht
der Verdeckung einer Straftat66. Der B G H hat sich jedoch nicht zu einer
einschränkenden Interpretation dieser Tatbestandsmerkmale entschlie-
ßen können, sondern hat einen übergesetzlichen Strafmilderungsgrund
aufgestellt, mit Hilfe dessen der Strafrahmen im kritischen Bereich des
Merkmals Heimtücke relativiert werden soll67. Diese Rechtsfolgenlö-
sung ist im Schrifttum überwiegend auf berechtigte Kritik gestoßen68. Sie
überschreitet nicht nur die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfort-
bildung, sondern bewirkt, weil sie nicht in einer einschränkenden Neu-
definition der fraglichen Tatbestandsmerkmale, sondern in einer vom
Gesetzeswortlaut gelösten Milderungsklausel besteht, einen Schwund an
Rechtssicherheit. Darüber hinaus beläßt es jene Konstruktion einerseits
dabei, daß die Täter doch jedenfalls tatbestandlich einen Mord begangen
haben, andererseits führt sie zu einer Strafuntergrenze von nur 3 Jahren,
wodurch sogar die Mindeststrafe des Totschlags unterschritten wird.
Ohne Eingreifen des Gesetzgebers ist dieser exponierte Bereich des
Besonderen Teils daher wohl nicht wieder ins Lot zu bringen. Anderer-
seits besteht nicht der Eindruck, daß der Gesetzgeber dazu schon im
gegenwärtigen Zeitpunkt in der Lage wäre. Ein Lösungsmodell, das auf
breitere Zustimmung rechnen könnte, ist bisher nicht in Sicht. Auch der
Deutsche Juristen tag, der sich 1980 mit dem Thema befaßte, konnte sich
lediglich auf allgemein gehaltene Leitlinien für die Reform der Tötungs-
delikte verständigen69. Zu dem Fehlen eines konsensfähigen Lösungs-
konzepts tritt möglicherweise beim Gesetzgeber die Sorge hinzu, es
könne eine neue Diskussion über die beim Mord als absolute Strafe
angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe entbrennen.
b) Hinzu kommt, daß eine Reform der Tötungsstrafbestimmungen
auch das Thema Sterbehilfe berühren würde. Uber sie wird seit Mitte der
siebziger Jahre mehr oder weniger lebhaft in der Öffentlichkeit disku-
tiert. Beim Aufkommen dieser Diskussion trafen zwei Faktoren zusam-
men: Erstens der Fortschritt der Medizin, der es ermöglicht, daß das
68 Siehe etwa Bruns, J R 1981, 358; den., in: Kleinknecht-Festschrift, 1985, S.49;
Günther, N J W 1982, 353; Jescheck, SchwZStR 100 (1983), 27; Dreher/Tröndle (Fn.65),
§211 Rdn. 17 m. w. N .
" Vgl. die Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 53. Deutschen Juristentages, 1980,
M 163 ff.
156 Hans Joachim Hirsch
70 Zur Straflosigkeit der bloßen Teilnahme an der Selbsttötung, der passiven Euthanasie
sowie der indirekten aktiven Euthanasie, vgl. Geilen, FamRZ 1968, 125 f; Engisch, in:
Eser, Suizid und Euthanasie, 1976, S. 315 ff; Eser, in: Eid, Euthanasie, 1975, S.59;
Hanack, in: Hiersche, Euthanasie, 1975, S. 163; Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum
StGB, 10. Aufl. 1980, Vor §211 Rdn. 11 ff m. w. N.
71 Näher Hirsch, in: Welzel-Festschrift, 1974, S. 787ff.
vgl. F A Z vom 4 . 3 . 1 9 8 6 . Mit den betreffenden Fragen befaßt sich auch eine Enquete-
Kommission; zu deren Aufgaben siehe den Bericht von Benda, N J W 1985, 1730.
Bilanz der Strafrechtsreform 157
74 Zum Ganzen siehe Arthur Kaufmann, in: Oehler-Festschrift, 1985, S.649; Mersson,
Fortpflanzungstechnologien und Strafrecht, 1984.
75 So bereits H. Mayer, Mat. I 267ff; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969,
S- 327; Hirsch, ZStW 74 (1962), 122 ff; neuerdings insbesondere Callies, N J W 1985, 1506.
76 Kritisch schon Lenckner, in: Tübinger Festschrift, 1977, S.239, 253 ff; Naucke,
Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S. 50 ff.
77 Vgl. §§ 184, 203, 284 StGB.
158 Hans Joachim Hirsch
78 Der parlamentarischen Beratung des Allgemeinen Teils lag der in der amtl. Großen
gen und die Zufälligkeit bei der Einordnung als besonders schwerer Fall
oder Qualifizierung bis hin zu der uneinheitlichen Plazierung der Amts-
delikte.
Als weiterer Mangel kommt hinzu, daß die Bereitschaft der politi-
schen Parteien gewachsen ist, Strafgesetznovellen auch mit knapper
Mehrheit zu verabschieden, selbst auf die Gefahr hin, daß bei veränder-
ten Mehrheitsverhältnissen die betreffenden Vorschriften erneut geän-
dert werden. Auf solche Weise wird nicht nur die Wichtigkeit verkannt, die
dem Gesichtspunkt der Kontinuität gerade bei Reformen des Strafrechts
zukommt, sondern auch die Autorität des Gesetzgebers untergraben79.
Der neue Allgemeine Teil wird dagegen als zusammenfassendes
Ergebnis einer bis an den Anfang des Jahrhunderts zurückreichenden
Reformdiskussion mit Recht von Wissenschaft und Praxis als beeindruk-
kende gesetzgeberische Leistung betrachtet. Allerdings läßt sich die
Reform von 1975 für sich allein gesehen der Bedeutung nach kaum in
eine Reihe stellen mit Marksteinen der Entwicklung bildenden Gesetzes-
werken früherer Jahrhunderte. Wie sich im vorhergehenden zeigte,
enthält der neue Allgemeine Teil weniger prinzipiell Neues als vielmehr
überwiegend einen Ausbau des bereits Vorhandenen. Das heißt natür-
lich nicht, daß es bei der Grundkonzeption, die das StGB bei seinem
Inkrafttreten 1871 verfolgte, im wesentlichen geblieben wäre. Man muß
jedoch beachten, daß das StGB schon in den zurückliegenden Jahrzehn-
ten fortlaufend an den gesicherten Stand der wissenschaftlichen For-
schung durch Gesetzesnovellen angepaßt worden ist. Es läßt sich des-
halb sagen, daß wir bereits seit Jahrzehnten eine permanente Strafrechts-
reform haben, also gewissermaßen eine Strafrechtsreform in Raten. Das
aber heißt, daß die drei bedeutendsten Reformen des Allgemeinen Teils
des StGB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen worden
sind: nämlich als wichtigstes Ergebnis einer jahrzehntelangen Reform-
diskussion die Einführung von Maßregeln der Besserung und Sicherung
am Anfang der dreißiger Jahre, die Abschaffung der Todesstrafe 1949
und die Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung 1953. Der neue
Allgemeine Teil hat daher eher den Charakter eines Ausbaues des durch
jene grundsätzlichen Weichenstellungen bereits eröffneten Weges.
2. Sieht man sich die Zielsetzungen der Reform des Allgemeinen Teils
und der übrigen bis 1975 ergangenen Reformgesetze an, so ging es in den
parlamentarischen Beratungen um drei Gesichtspunkte: Resozialisie-
rung, Entkriminalisierung und Humanisierung 80 .
" Zur Kritik vgl. Baumann, ZRP 1972, 275. Der Rückzug des Eigentumsschutzes wird
zudem dadurch bestätigt, daß in mehreren Bundesländern pauschalierende Richtlinien der
Justizverwaltung bestehen, bei Diebstählen bis 50 oder 100 DM Schadenshöhe das
Verfahren einzustellen; vgl. z . B . die nieders. „Richtlinien für die Behandlung der Klein-
kriminalität", Nds.Rpfl. 1976, 48, und den nordrh.-westf. Ministerialerlaß von 1986;
krit. hierzu FAZ vom 2 6 . 2 . 1 9 8 6 und der Bundesjustizminister Engelhard, bei Weck,
N J W 1986, X X V .
14 Zur Entwicklung des Privatklageverfahrens Döring, Beleidigung und Privatklage,
1971; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage, 1974; Hirsch, in: Lange-Fest-
schrift, 1976, S. 815.
85 Dadurch, daß die Staatsanwaltschaften einen gewissen - von ihnen großzügig
gehandhabten - Entscheidungsspielraum erhalten haben, werden sie jetzt auch häufiger in
politische Auseinandersetzungen verwickelt, in denen der Vorwurf erhoben wird, bei
bestimmten Anklagen und Einstellungen seien politische Erwägungen in die Entscheidung
eingeflossen. Da im Rahmen des Opportunitätsprinzips Weisungsmöglichkeiten politi-
scher Instanzen bestehen, erhöht sich die Neigung, solche Mutmaßungen zu äußern.
162 Hans Joachim Hirsch
c) Eine dritte, sich mit den beiden vorgenannten Zielen teilweise über-
schneidende Zielsetzung ist die Humanisierung des Strafrechts. Insbe-
sondere spiegelt sich diese Tendenz heute in der Zurückdrängung der
Freiheitsstrafe wider. Auf Freiheitsstrafe lauten heute nur noch 19 %
aller Verurteilungen. Da von diesen 65 % zur Bewährung ausgesetzt
werden, liegt der Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen unter Einbe-
ziehung der widerrufenen Aussetzungen jetzt bei 10 % aller Verur-
teilten86.
Angesichts der schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Aus-
wirkungen, die das Abbüßen einer mehr als kurzzeitigen Freiheitsstrafe
für den einzelnen und seine Umgebung hat, ist sie nur dann angebracht,
wenn das Gewicht der Tat sie unbedingt erforderlich macht. Auch hat
sich gezeigt, daß verschärfte Geldstrafen das Strafbedürfnis vielfach
durchaus befriedigen können. Andererseits wurde im vorhergehenden
schon darauf hingewiesen, daß die Geldstrafe keineswegs immer die
geeignete Alternative zur Freiheitsstrafe darstellt. Abgesehen davon, daß
sie entsprechende finanzielle Voraussetzungen beim Verurteilten erfor-
dert, wird durch sie derjenige Täter, für den die Freiheitsstrafe unange-
messen wäre, aber die Geldstrafe eine nur unzureichende Ansprache
bietet, nicht ausreichend erfaßt. Die Versuche ausländischer Rechte, die
Lücke zu schließen, etwa durch die Verurteilung zu community Service,
wurden noch nicht beachtet87. Auch die differenzierte Rechtsfolgenrege-
lung des Jugendstrafrechts empfand man nicht als Anregung. Es ist
daher zu registrieren, daß neben der mißlungenen Lösung der Bagatell-
kriminalitätsfrage eine gewisse Phantasielosigkeit bei den Rechtsfolgen
einen weiteren Mangel der deutschen Strafrechtsreform darstellt88. Die-
ser Punkt wird dadurch verschärft, daß man die kurze Freiheitsstrafe
generell abgeschafft hat.
" Siehe die Angaben bei Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 642. Diese Ent-
wicklung ist bis heute kaum rückläufig; vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminal-
statistik 1984, S. 77, 101.
50 Vgl.Jescheck, ZStW 91 (1979), 1046.
164 Hans Joachim Hirsch
" Dies würde erst recht für eine objektivistische Konzeption gelten, die - jedenfalls bei
bestimmten Delikten - den Schuldgrundsatz durchbricht, also eine strafrechtliche Gefähr-
dungshaftung einführt. Sie findet sich im amerikanischen Strafrecht als Doktrin der „strict
criminal liability"; näher dazu Bahr, Strafbarkeit ohne Verschulden (strict liability) im
Strafrecht der USA, 1974; Burkhardt, GA 1976, 337f. Bei uns ist dagegen das Schuldprin-
zip als elementarer strafrechtlicher Grundsatz, der keine Einschränkungen duldet, verfas-
sungsrechtlich garantiert; vgl. oben Fn. 4.
Bilanz der Strafrechtsreform 165
geworden. Die Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer und der Gesamt-
heit ist dagegen zurückgetreten. Eine dadurch begünstigte und durch die
Medien noch zusätzlich vermittelte Brutalisierung des Zusammenlebens
kommt hinzu. Auch dürfen die Folgen der modernen Urbanisierung
und die kriminalitätsfördernde Jugendarbeitslosigkeit nicht unerwähnt
bleiben92.
Die an der Kriminalitätseindämmung interessierte Öffentlichkeit hat
ihre Kritik daher weniger an die Strafgesetzgebung zu adressieren, als
vielmehr ihr Augenmerk in erster Linie auf die Gesellschaftspolitik zu
richten. Auch die Kriminalpolitiker sollten sich endlich von der Illusion
frei machen, daß die Strafgesetzgebung der entscheidende oder sogar
alleinige Hebel der Kriminalpolitik sei, und ihre Aufmerksamkeit und
Aktivität mehr der Verminderung der Ursachen zuwenden93.
4. Als Bilanz der bundesdeutschen Strafrechtsreform läßt sich nach
alledem feststellen: Die im Mittelpunkt stehende Reform des Allgemei-
nen Teils hat sich trotz einer Reihe von Punkten, die sich inzwischen als
Mangel erwiesen und durchaus negativ ausgewirkt haben, doch überwie-
gend bewährt und ist insgesamt betrachtet eine ausgewogene und daher
dauerhafte gesetzgeberische Leistung. Sie markiert den Abschluß der
Reformbemühungen, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts begonnen
und deren wichtigste Ergebnisse bereits im Laufe der Zeit durch Geset-
zesnovellen ins StGB aufgenommen wurden. Die bisherige Reform des
Besonderen Teils wird man dagegen hinsichtlich ihrer Qualität zurück-
haltend beurteilen müssen. Hier spielen Tagespolitik, ideologische Ziele,
punktuelle Sichtweisen und gesetzestechnische Schwächen eine nicht
unerhebliche Rolle. Diesem Teil der Reformgesetzgebung fehlt die
große und einheitliche Linie.
92 Zu den genannten Faktoren auch Jescheck, ZStW 91 (1979), 1043 ff. In Teilbereichen
scheint überdies das Verhalten politisch Verantwortlicher für ein zeitweiliges örtliches
Ansteigen bestimmter krimineller Verhaltensweisen mitursächlich zu sein. Manche Aus-
breitung und Steigerung solcher Kriminalität wäre wohl frühzeitig gestoppt worden, wenn
man dem sogleich entschlossen genug entgegengetreten wäre oder die Anfänge nicht sogar
mit Sympathie verfolgt hätte.
" Hilde Kaufmann, J Z 1972, 79, hat es als „selbstverständlich" bezeichnet, daß der
gesamte Bereich der Politik irgendwie auch zugleich Kriminalpolitik ist; als Beispiele nennt
sie Wirtschaftspolitik, Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrs-
politik, ja selbst die Außenpolitik.
Die sozialtherapeutischen Anstalten -
ein kriminalpolitisches Lehrstück?
H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM
I.
Seit eh und je kennt der Strafvollzug eine Gruppe von Gefangenen,
die in einer durchschnittlichen Strafanstalt alle Beteiligten ratlos lassen.
Sie erscheinen weder persönlich beeinflußbar noch durch die Verbüßung
einer Freiheitsstrafe nachhaltig beeindruckbar. Ihre „abnormale" Per-
sönlichkeitsstruktur läßt fragen, ob sie vielleicht in einem psychiatri-
schen Krankenhaus besser aufgehoben wären; dies um so mehr, als das
Strafgericht ihnen nicht selten verminderte Schuldfähigkeit attestierte.
Jedoch sagen uns die Arzte im psychiatrischen Krankenhaus, daß auch
sie mit den dort untergebrachten Straftätern oft nicht zurechtkommen;
denn eigentlich „krank" seien sie wiederum auch nicht. Berücksichtigt
man ferner, daß gerade diese Kategorie von Delinquenten häufig eine
besonders schlechte Rückfallprognose hat, so verwundert es nicht, daß
sie letztlich in der einen oder anderen Form von sichernder Verwahrung
landen. Es handelt sich um die Problemgruppe von Persönlichkeiten auf
der Grenzlinie zwischen „bad" und „mad".
Nach Kriegsende 1945 kamen in der Bundesrepublik Deutschland die
Bemühungen um eine Strafrechtsreform wieder in Fluß. In diesem
Zusammenhang wollte man auch den soeben skizzierten Personen besser
gerecht werden als bisher. Im Gespräch waren „Bewahrungsanstalten"
für Erwachsene und „Verwahrungsanstalten" für „Jungtäter" (E 1958,
1960, 1962). Als der Anlauf zu einer „großen" Strafrechtsreform in den
60er Jahren dann steckenblieb, kamen die sog. Alternativ-Professoren
auf den Einfall der „sozialtherapeutischen Anstalt" (AE-StGB A T 1966).
Dieser Begriff war so neu, daß ihn niemand recht definieren konnte.
Inhaltlich richtete er sich eher negativ gegen bloße Bewahrung oder
Verwahrung. Natürlich zielte „Therapie" auf irgendeine Art von
„Behandlung", dies aber nicht im Sinne einer Krankenhaustherapie,
sondern eben einer sozialen Therapie. Die Methoden, die den Delin-
quenten zu einem andere Personen künftig nicht viktimisierenden Ver-
halten befähigen sollten, waren jedoch völlig offen.
168 Horst Schüler-Springorum
§ 65 StGB sah vor, daß der erkennende Richter über die Einweisung in
die sthA entscheiden soll. Die Unterbringung dort sollte eine Maßregel
der Besserung und Sicherung sein, wodurch sie automatisch zeitlich
relativ unbestimmt wurde, mit einer maximalen Aufenthaltsdauer von
5 Jahren. Schließlich sollten die sthAen unter ärztlicher Leitung stehen.
Diese Konzeption einer neuen Rechtsfolge partizipierte aber nicht am
Inkrafttreten der 1969 beschlossenen Strafrechtsreform bis spätestens
1975. §65 StGB sollte vielmehr ab 1973 gelten. Das Datum wurde später
aber zunächst auf 1978, dann abermals auf 1985 verschoben. Den Grund
für die jeweiligen „Verschiebegesetze" hatten die Erfinder der Institu-
tion selbst gelegt. Schon 1967 war nämlich geschätzt worden, daß
ungefähr 2000 bis 4000 der Strafgefangenen für die sthAen in Frage
kommen würden (Jescheck 1968, 81; vgl. auch ebenda S. 134; von einem
Bedarf von 5000 Plätzen ging Kürzel 1975 aus). Legt man eine Anstalts-
größe von maximal 200 Plätzen zugrunde, bedeutete dies die Notwen-
digkeit, 20 bis 30 neue Gefängnisse zu bauen. Sicher verwundert es
keinen, daß „die Praxis" dies für unmöglich erklärte und bis heute für
unmöglich erklärt; im Herbst 1981 beschlossen die Vollzugsadministra-
tionen der Bundesländer sogar darauf hinzuwirken, den § 65 durch den
Bundestag wieder aus dem StGB streichen zu lassen.
Damit scheint das Thema eigentlich erschöpft. Daß dem nicht so ist,
liegt daran, daß seit einem runden Jahrzehnt trotz alledem einige sthAen
existieren. Hierfür gibt es zwei Gründe. Zunächst hatte man unter dem
Eindruck der verabschiedeten Strafrechtsreform mit §65 StGB wenig-
stens ein bißchen Ernst gemacht; dies in dem Sinne, daß im ganzen
Bundesgebiet Anstalten eingerichtet wurden, in welchen die Chancen
einer sozialtherapeutischen Behandlung erprobt werden sollten. Diese
Anstalten werden dementsprechend auch Modell- oder Experimentier-
anstalten genannt. Ferner war 1977 ein Gesetz in Kraft getreten, welches
erstmalig den Strafvollzug selbst regelte, und zwar sowohl unter dem
Aspekt der Rechte und Pflichten der Gefangenen als auch unter dem
Aspekt der Organisation des Vollzugs. Dieses Gesetz war natürlich in
der Erwartung ausgearbeitet worden, daß §65 StGB alsbald geltendes
Recht werden würde, und enthielt dementsprechend einen eigenen
Abschnitt über sthAen (§§123-128 StVollzG). Auch wurde u.a.
bestimmt, daß eine solche Anstalt nicht mehr als 200 Plätze haben sollte
(§143 Abs. 3 StVollzG).
Das neue Strafvollzugsgesetz sah ferner vor, daß auch unabhängig
vom Schicksal des §65 StGB Gefangene in eine sthA verlegt werden
können (§9 StVollzG). Dies ist eine wichtige Modalität, weil sie den
Aufenthalt in einer sthA von §65 StGB in entscheidenden Punkten
unabhängig macht: Nicht der Richter, sondern „der Vollzug" selbst
entscheidet über die Aufnahme in eine solche Anstalt. Das bedeutet
170 Horst Schüler-Springorum
zugleich, daß die Insassen einer solchen Anstalt in aller Regel nicht
sofort nach dem Urteil, sondern erst nach Verbüßung von Freiheitsstrafe
im Regelvollzug in die sthA kommen, wenn die Entlassung bereits in
(nicht allzu ferner) Sicht ist.
II.
Die bisherigen Erfahrungen mit Sozialtherapie im Justizvollzug basie-
ren also auf einem doppelten rechtlichen Hintergrund. Auf der einen
Seite steht die Idee, im Zuge der Strafrechtsreform eine neue Maßregel
der Besserung und Sicherung zu schaffen. Auf der anderen Seite hat die
Tatsache, daß jene Idee bisher nicht verwirklicht werden konnte, dazu
geführt, daß lediglich die vom Strafvollzugsgesetz gebotenen Möglich-
keiten die Praxis der vorhandenen sthAen prägen.
3. Der „doppelte rechtliche Hintergrund" ist seit dem 1.1.1985 auf nur
mehr einen reduziert: Durch Bundesgesetz vom 20. Dez. 1984 w u r d e -
eben noch rechtzeitig vor dem Stichtag 1. Jan. 1985 - die sozialtherapeu-
tische Anstalt als (nie in Kraft getretene) Maßregel aus dem StGB wieder
eliminiert. Ganz kampflos war das freilich nicht vonstatten gegangen.
Namentlich die Alternativ-Professoren sprachen sich noch 1982 für eine
„Rettung" der Institution auf der Maßregelspur aus (Schöcb), nachdem
eine entsprechende Resolution von 1979 (Wider den kriminalpolitischen
Rückschritt, MschrKrim. 1979, 379 f) dem damaligen Bundesjustizmini-
ster Dr. Vogel im Januar 1980 persönlich überreicht worden war. Aus
einer Arbeitsgemeinschaft von Praktikern und Theoretikern, die seit
1976 zu regelmäßigem Austausch von Erfahrungen und Standpunkten
zusammenkam, erwuchs 1980 eine Forschungsgruppe, die 1984 ein
„Modell" vorlegte (Driebold u. a.), welches vom künftigen Schicksal des
§ 65 StGB möglichst unabhängig sein sollte. Demgegenüber setzte man
im Fachausschuß „Sozialtherapie und sozialtherapeutische Anstalten"
des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe die Hoffnung eher
auf eine festere Verankerung und den Ausbau der Institution im Straf-
vollzugsgesetz („Vollzugslösung" statt „Maßregellösung", vgl. Bundes-
zusammenschluß 1981).
Seit August 1983 lag allerdings ein Gesetzentwurf des Bundesrates
(BT-Drucksache 10/309) vor, der ganz dem Wunsch der Bundesländer
entsprach, die sozialtherapeutische Anstalt als ein Stück Strafrechtsre-
form endgültig aufzugeben (das 1969 „verabschiedete" Gesetz insoweit
also endgültig zu „verabschieden") und im Rahmen des StVollzG es bei
einer Minimalregelung bewenden zu lassen. Es gehörte zum guten Ton,
diesen Entwurf zum Gegenstand einer öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Bundestages zu machen; sie fand am 19. Sept.
1984 statt. Etwa ein Dutzend „Anhörpersonen" kamen zu Wort, hälftig
Sozialtherapeutische Anstalten 171
Sieges der Exekutive. Jedenfalls wurde, je näher der l.Jan. 1985 rückte,
immer klarer, daß gerade vom Gesetzgeber keine substantielle „Ret-
tung" mehr zu erwarten war. Der in das erwähnte Hearing eingebrachte
bemerkenswerte Vorschlag des Psychiaters F. Specht zum Beispiel, unter
Verzicht auf die Maßregellösung richterliche Entscheidungen über den
Vollzug in einer sozialtherapeutischen Anstalt in den Rechtsfolgenab-
schnitt des StGB (etwa zwischen dem 4. und 5. Titel) einzustellen
(Protokoll S. 77 f), löste in der nachfolgenden Diskussion des Ausschus-
ses nicht eine einzige interessierte Rückfrage aus.
Schließlich könnte man die existierenden sozialtherapeutischen
Modellanstalten ins Zentrum der kriminalpolitischen Reflexion rücken;
denn sie scheinen ja doch die These vom Mißbrauch des Gesetzgebers
Lügen zu strafen, wie denn durch den Gesetzentwurf des Bundesrats
vom August 1983 „der Gedanke der Sozialtherapie innerhalb des Straf-
vollzugs betont und gefördert" werden sollte, weil die entsprechende
Praxis es verdiene, „weiter fortentwickelt zu werden" (Begründung
S. 10). Daß es ohne den Gesetzgebungsakt von 1969 jene Modellanstal-
ten nicht gäbe, läßt sich in der Tat kaum bestreiten. Auch gab es in deren
„Gründerzeit" durchaus so etwas wie einen föderalistischen Wettbewerb
unter den Bundesländern, in den sich freilich mitunter (und mit der Zeit
zunehmend) „Alibifunktionen" mischten. Die nunmehr vollzogene
Absage an die Maßregellösung ist jedoch zugleich die Absage an eine
bestimmte Konzeption von Sozialtherapie, womit auch die konzeptuelle
Diskussion neu eröffnet erscheint. Hilde Kaufmann hatte schon 1977
erkannt, „der Aufschub des Inkrafttretens des §65 StGB birgt das
Risiko, daß er nie in Geltung treten könne", aber gemeint, „es gibt keine
Alternative zur Sozialtherapie" (S. 201, 202); zu welchermuß heute die
Frage lauten, und sie wird später aufzugreifen sein.
4. Zwischen Lübeck und Erlangen gibt es zur Zeit zehn Anstalten dieser
Art. Sie verteilen sich einigermaßen gleichmäßig auf die (größeren)
Bundesländer und wurden in der ganz überwiegenden Mehrzahl zwi-
schen 1970 und 1975 eröffnet. Die Anstalten sind insgesamt sehr klein
(20-60 Plätze, mit Ausnahme von Berlin, worauf noch zurückzukom-
men ist). Zumeist handelt es sich um echte kleine Gefängnisse, d. h. um
selbständige Institutionen und nicht um Abteilungen größerer Anstal-
ten. Andererseits sind es auch keine Neubauten von Miniaturgefängnis-
sen, vielmehr hat man vorhandene Gebäude, zum Teil nach Umbauten
im Innern, entsprechend genutzt.
Auch eine sehr kleine Anstalt braucht prinzipiell die Ausstattung einer
großen, z. B. was Arbeitsmöglichkeiten, Küche, Aufsicht, Personal
usw. betrifft. Mit Personal sind die sthAen sogar ungewöhnlich gut
ausgestattet; zählt man die Fachdienste zum Aufsichtsdienst hinzu,
Sozialtherapeutische Anstalten 173
kommt man auf ein Verhältnis von rund 1 :1 von Personal zu Gefange-
nen. Die Fachdienste sind überwiegend Psychologen und Sozialpädago-
gen, nicht jede Anstalt hat einen eigenen Arzt und die wenigsten stehen
unter ärztlicher, einige unter juristischer, einige unter psychologischer
Leitung.
Die Insassen dieser Einrichtungen, die zumeist „Klienten" genannt
werden (und nicht etwa Patienten!), sind „freiwillig" dort. In der Regel
muß man sich als Gefangener im Normalvollzug um die Aufnahme in
die sthA bewerben. Dabei folgen die einzelnen Anstalten einem höchst
unterschiedlichen Set von Kriterien, nach welchen über Aufnahme oder
deren Ablehnung entschieden wird. Diese Kriterien orientieren sich nur
teilweise an den Vorstellungen des §65 StGB. Daß Sexualtäter, aggres-
sive Delinquenten, Drogenabhängige, Uberzeugungstäter, Betrüger
oder psychisch Kranke nach den Aufnahmerichtlinien einzelner Anstal-
ten ausgeschlossen werden, deutet schon darauf hin, daß die Population
dieser Anstalten im Durchschnitt weniger riskant erscheint als die, für
welche § 65 StGB formuliert wurde.
Die praktischen Erfahrungen und Probleme, die sich für den Vollzug
in einer sthA bisher ergeben haben, lassen sich am besten darstellen,
wenn man vom Personal ausgeht. Denn die kleinen Modellanstalten
unterschieden sich vom Regelvollzug von Anfang an dadurch, daß neben
dem Aufsichtsdienst ausgebildete Fachleute verschiedener Professionen
sich um die Klienten kümmern sollten. Sehr früh hatte man vorausge-
sagt, daß diese „Fachdienste" mit dem „Aufsichtsdienst" Konflikte
haben würden. Das zu erwarten lag schon deshalb nahe, weil die
Interessen des Aufsichtsdienstes an Ruhe, Disziplin und Ordnung mit
den Interessen der Fachdienste an individualisierender Behandlung not-
wendig in einen Zielkonflikt geraten mußten. Man kann diesen Zielkon-
flikt auch so beschreiben, daß dem traditionellen Bemühen um einen
Ausschluß jedes Risikos das therapeutische Bemühen um ein Eingehen
kalkulierter Risiken gegenübersteht. Die prognostizierten Konflikte
haben sich in der Tat wohl in jeder sthA verwirklicht. Man kann sich gut
vorstellen, welche Schwierigkeiten solche Konflikte für den Leiter der
Anstalt (besonders, wenn dies ein Jurist ist) und die übergeordneten
Behörden auslösten.
Eher überraschende Probleme traten jedoch auch innerhalb der Fach-
dienste auf. Dies lag daran, daß niemand von ihnen einschlägige Erfah-
rungen von irgendwoher mitbringen konnte. Da eine sozialtherapeuti-
sche Behandlung ohne eine Vorstellung von dem, worin sie bestehen
soll, aber nicht gut möglich ist, prallten hier alsbald die unterschiedlich-
sten Zielvorstellungen aufeinander. Psychiater wollten „heilen", Sozial-
pädagogen ihre Klienten an die gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen,
Psychologen sie „konfliktfähig" machen usw., - wobei dies natürlich
174 Horst Schüler-Springorum
sich eine Art therapeutischer Jargon, den der Klient der Sozialtherapie
zumindest jenen gegenüber beherrscht, die ihn gern hören wollen, also
den Sozialtherapeuten. Ein Insasse drückte dies einmal so aus, daß die
beste Garantie zum Überleben darin bestehe, entweder ein großer
Schauspieler zu werden oder aber ein kleiner Psychiater.
Von hier zu anderen Aspekten der Subkultur ist nur ein Schritt. Hat
man erst einmal gelernt, mit verschiedenen Zungen zu reden, lassen sich
die Mitarbeiter einer sthA eher noch leichter gegeneinander ausspielen
als die Aufsichtsbeamten eines Normalgefängnisses. Da die Mitarbeiter
dies freilich auch wissen, sind die sthAen trotz alledem keineswegs zum
Spielball ihrer Insassen geworden; das Wissen, daß es das Phänomen
einer Subkultur auch hier gibt, hat die Palette der Behandlungsschritte
vielmehr eher bereichert.
6. Trotz alledem bleibt für manche Klienten allerdings das oft erstmalige
Erleben entscheidend, daß man sich hier überhaupt um sie als Einzelper-
son kümmert. Zwar wird das aus dem bisherigen Leben mitgebrachte
tiefwurzelnde Mißtrauen nur langsam überwunden. Dann aber bezeu-
gen doch viele, wie einschneidend für sie das Erlebnis war, erstmals über
sich selbst haben reden zu können, und dies nicht nur seit Jahren, son-
dern seit Jahrzehnten, - Zeiten der sogenannten Freiheit eingerechnet.
Indessen bedarf keiner Begründung, daß mit der Vermittlung solcher
Erlebnisse noch nicht genug geschehen ist. Der Test auf die Behandlung
in der sthA kann immer erst nach der Entlassung gemacht werden. In
Wirklichkeit kommt es jedoch schon vorher häufig zu einem Test ganz
anderer Art. Der Gefangene kann aus der sthA in den Regelvollzug
„zurückverlegt werden, wenn mit ihren Mitteln und Hilfen kein Erfolg
erzielt werden kann" (§ 9 StVollzG). Das bedeutet, daß ein Abbruch der
Behandlung vor der Entlassung zugleich das Ende der Sozialtherapie im
Einzelfall bewirkt. Obwohl die Entscheidung über eine solche Rückver-
legung die Anstalt trifft, steckt hier natürlich auch ein Stück „Freiheit"
für den Gefangenen selbst: Er kann durch sein Verhalten (z. B. Verwei-
gerung) die Rückverlegung gezielt auslösen. Tatsächlich ist die Quote
der rückverlegten Klienten erheblich und beträgt in manchen Anstalten
bis über 5 0 % (vgl. jetzt den Überblick bei Lösel u.a., 1985; auch
Dünkel u.a., 1986). Manche dieser Rückverlegungen kommen früh
alsbald nach der Aufnahme und noch während einer Probezeit vor,
andere später bis zu Zeitpunkten mehr oder weniger kurz vor der
Entlassung auf Bewährung. Auf diese Weise setzt sich der Aufnahme-
prozeß, aufgrund dessen der Klient in die sthA kam, dort dann ständig
fort. Kritiker der sthA machen geltend, daß auf diese Weise auch einem
Mißerfolg der Behandlung kontinuierlich vorgebeugt werde.
178 Horst Schüler-Springorum
III.
Damit steht die Frage nach dem „Erfolg" der Institution zur Debatte.
In der 2. Hälfte der 70er Jahre konnten die ersten Forschungsergebnisse
vorgelegt werden. Die Untersuchungen selbst bestanden zum Teil in
einem Vergleich der subjektiven Einstellung der Klienten vor und nach
dem Aufenthalt in der sthA; positive Ergebnisse (z. B. Egg) müssen sich
den Einwand gefallen lassen, daß die Einstellung zur Zeit der Entlassung
noch nichts darüber sagt, wie die betreffenden Personen sich draußen im
Ernstfall verhalten. Andere Forschungen galten Fragen der Organisa-
tion, Struktur usw. (z. B. Sagebiel). Vordergründig am interessantesten
erscheinen natürlich die Untersuchungen zum Rückfall bei Kontroll-
gruppen. Hierzu berichten z.B. Dünkel und Rehn Ergebnisse, die
zwischen 5 % und 20 % besser als die Rückfallsätze nach Regelvollzug
waren (vgl. jetzt auch Lösel u.a. 1985, S.403ff, der S.414 zu einem
Über-alles-Befund von 8 - 1 4 % kommt).
Speziell die auf das Kriterium der Legalbewährung abstellenden For-
schungen haben nun ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Verfechter der
sthAen in Wissenschaft und Praxis beriefen sich auf sie, um nach dem
Experiment der Modellanstalten nun endlich auf die Konzeption des § 65
StGB loszusteuern (z.B. Baumann). Für Gegner dieser Anstalten in
Wissenschaft und Praxis sind die Ergebnisse von Dünkel und Rehn nur
Zielscheibe von Kritik und Zweifel. In methodischer Hinsicht beanstan-
det man die Vergleichbarkeit der Untersuchungs- und Kontrollgruppen;
auch wirft man der Auswahlpraxis vor, von vornherein eine erfolgs-
trächtige, risikoarme Population zusammenzustellen und diese durch die
Rückverlegungen ständig noch zu bereinigen (z.B. Albrecht/Lamott,
1980; Schwind, 1981).
Den Kritikern ist sicher zuzugeben, daß die sthAen ihre Praxis an
vollzuglichen anstatt an Behandlungsaspekten weitaus mehr orientieren,
als dies der ursprünglichen Konzeption nach sein dürfte. De facto ist
Sozialtherapie eben eher eine Frage von „Klienten für die Anstalt" als
von einer „Anstalt für die Klienten" (vgl. Lösel u.a. 1985, S.277).
Verwunderlich ist dies freilich nicht, sondern eher eine erwartbare Folge
der Experimentiersituation, in der diese Anstalten sich befinden. Der
Erfolgszwang, unter dem sie stehen, produziert leicht Forschungser-
folge, die dann als Ergebnisse von allzu schlichter Erfolgsforschung
kritisierbar sind.
Andererseits ließen sich insbesondere die Ermittlungen der günstige-
ren Rückfallprozentsätze auch gegen solche Kritik verteidigen, - etwa
mit dem Argument, daß die Forscher, welche jene Prozentsätze ermit-
telten, ihrerseits den Anstalten nicht angehörten, sondern sich neutral
um einen wissenschaftlich möglichst „sauberen" Kontrollgruppenver-
gleich bemühten. Die ganze Auseinandersetzung, die hier nicht weiter
Sozialtherapeutische Anstalten 179
8. Aus allen diesen Gründen sind die heutigen sthAen eine Institution
ohne Bestandsgarantie. Kein Gesetzesbefehl soll sie erhalten, kein Rich-
terspruch sie erzwingen können. In dieser Perspektive erweist sich der
Streit um ihren Erfolg oder Nichterfolg abermals fast als Scheingefecht:
Soweit ihre Bewährung bisher nicht bewiesen ist, so ihre Nichtbewäh-
rung auch nicht. Bewiesen sind lediglich die Kosten. Abermals sehen wir
uns deshalb vor das Problem der schlichten kriminalpolitischen Ent-
scheidung gestellt. Da auch kriminalpolitisches Wollen aber vernunftge-
leitet sein sollte, seien abschließend noch einige Argumente zusammen-
gestellt, die für eine vernünftige kriminalpolitische Entscheidung über
die Zukunft der sthAen bedeutsam sein könnten.
IV.
Ganz so wenig hat nämlich das letzte Jahrzehnt zu unserer Frage
schließlich doch nicht erbracht. Zwar ist „Sozialtherapie" bis heute eher
ein Programm als eine umrissene Konzeption. Das Wort steht zugleich
aber auch für eine praktizierte Alternative zum bloßen Verwahrvollzug
und zur psychiatrischen Verwahrung. Eben deshalb vereint der Begriff
182 Horst Schüler-Springorum
V.
Wenn ich am Ende eine persönliche Prognose zur Zukunft der
Sozialtherapie anbiete, so versteht sich deren Inhalt schon fast von
selbst. Was immer an noch zu publizierenden Ideen kommt und was
immer als „Trend" aus Nordamerika zu uns herüberweht, - Sozialthera-
pie ist selbst durch die kurze bisherige Geschichte der kleinen Anstalten
schon so verankert, daß sie nicht mehr so leicht und jedenfalls nicht von
heute auf morgen wird auf Null reduziert werden können. Was immer
von ihr bleibt, wird sich aber zugleich auf den breitgespannten Polen
zwischen bloßer Verwahrung und geschlossener Psychiatrie, zwischen
geschlossenem und offenem Vollzug bewegen.
Die sthAen befinden sich heute also genau auf dem Grat zwischen
Modell und Institution. Das vielgescholtene Experimentier- und Model-
lierstadium, in welchem wir noch immer stehen, hat der Idee einer
ernsthaft auf Resozialisierung abzielenden Vollzugsform nicht gescha-
det, sondern eher genützt. Die von den Verfechtern der Sozialtherapie
so vehement angestrebte Institutionalisierung mit festgelegten Definitio-
nen und Strukturen könnte der Idee der Sozialtherapie möglicherweise
sogar abträglich sein. Denn solange sie Experiment ist und sich „Modell"
nennt, bleibt sie das schlechte Gewissen unseres immer noch viel zu
schlechten Strafvollzugs.
9. Das Schlußpostskript: Alsbald nach dem Madrider Referat legte die
vorerwähnte Forschungsgruppe ihre Ergebnisse und Anregungen vor:
„Die sozialtherapeutische Anstalt" von Driebold u. a. (1984) mit dem
Untertitel „Modell und Empfehlungen für den Justizvollzug"; ein Jahr
früher schon war „Strafvollzug - Erfahrungen, Modelle, Alternativen"
erschienen (Driebold, Hg., 1983), worin insbesondere S. Quensel seine
Vorstellungen über eine mögliche Entwicklung von Strafvollzug und
Sozialtherapie entwickelte (S. 55 ff). In stark verkürzter Fassung laufen
die Vorschläge insgesamt darauf hinaus, die sthA der Zukunft über einen
Verbund von „Zentralanstalt" (ca. 45 Plätze, ca. 45 Mitarbeiter; nicht
allzu „geschlossen", Aufenthalt ca. 6 Monate) und „Tochtereinrichtun-
gen" (5-15 Plätze, 5-7 Mitarbeiter; eher „offen"; Aufenthalt ca. 12
Monate) eng zu verflechten mit der örtlichen Gemeinde, der der ca. 150
Plätze umfassende sozialtherapeutische Gesamtverbund angehört. In
einem solchen mit den kommunalen Angeboten und Leistungen „ver-
184 Horst Schüler-Springorum
Literatur
P.-A. Albrecht & F. Lamott, Wer braucht wen? - Sozialtherapie in der Erprobung, in:
MschrKrim. 1980, 263 ff.
U. Baulitz u. a., Integrative Sozialtherapie - Innovation im Justizvollzug, Bad Ganders-
heim 1980.
]. Baumann, Die Sozialtherapie hat sich bewährt!, in: MschrKrim. 1979, 317ff.
J. Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, Tübingen 1973.
A.Böhm, Zur Sozialtherapie, in: NJW 1985, 1813ff.
K.Böhme u.a., Sozialtherapie für Frauen, in: MschrKrim. 1978, 180ff.
L. Böllinger, Psychoanalyse und die Behandlung von Delinquenten, Heidelberg/Karlsruhe
1979.
Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe, Sozialtherapie als kriminalpolitische Auf-
gabe, Bad Godesberg 1981.
H. Cornel, Rehabilitationshilfen für Delinquenten auf der Basis psychoanalytischer
Erkenntnisse und Methoden, in: MschrKrim. 1985, 88 ff.
R.Driehold, Sozialtherapie im Strafvollzug, Weinheim/Basel 1981.
R.Driebold, Hg., Strafvollzug - Erfahrungen, Modelle, Alternativen, Göttingen 1983.
R. Driebold u. a., Die sozialtherapeutische Anstalt - Modell und Empfehlungen für den
Justizvollzug, Göttingen 1984.
F. Dünkel, Sozialtherapeutische Behandlung und Rückfälligkeit in Berlin-Tegel, in:
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F. Dünkel u. a., Organisationsstruktur, Behandlungsmaßnahmen und Veränderungen bei
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A. Hustinx, Soziotherapie für Delinquenten - Möglichkeiten und Grenzen, in: Psyche
1976, 571 ff.
H.Jäger, Sozialtherapie auf psychoanalytischer Grundlage, in: MschrKrim. 1977, 205 ff.
Sozialtherapeutische Anstalten 187
I.
Hilde Kaufmann ist mit ihrem Werk „Kriminologie III - Strafvollzug
und Sozialtherapie" eine nahezu enzyklopädische Bestandsaufnahme der
stationären sozialtherapeutischen Praxis der siebziger Jahre gelungen.
Ihr Werk hat klassischen Rang, nicht nur wegen der Reife und Abgewo-
genheit der Darstellung, sondern auch deshalb, weil es das Ende oder
doch die Abenddämmerung einer pönologischen Epoche signalisiert, in
der Wissenschaft und Praxis ihr Hauptaugenmerk auf die (Re-)Soziali-
sierung der Straffälligen im Rahmen des überkommenen, wenn auch
vielfach gelockerten Freiheitsentzuges richteten. Dabei verbanden sich
kriminalpädagogischer Idealismus mit einem um empirische Absiche-
rung bemühten sozialtherapeutischen Engagement, ohne daß indessen
bei uns von einer Behandlungseuphorie die Rede sein konnte.
1. Zwar floriert die „Gefängniswissenschaft" auch heute noch auf
hohem Niveau. Die Publikationsflut reißt nicht ab1. Deutsche und vor
allem niederländische Evaluationsstudien aus sozialtherapeutischen
Modellanstalten haben den Befürwortern intramuraler Sozialtherapie bei
bestimmten Tätergruppen sogar wichtige Argumentationshilfen gelie-
fert2. Aber im Grunde scheint das Öffentlichkeit und Politiker nicht
mehr sonderlich zu interessieren. § 65 StGB ist vom Gesetzgeber gestri-
chen worden. Die sozialtherapeutischen Modellanstalten fristen mittels
der „Vollzugslösung" (§9 StVollzGes.) zwar noch ihr Dasein; von einer
„angereicherten" Vollzugslösung3 ist aber kaum noch die Rede. Die
Strafvollzugswissenschaft stagniert. Die organisationssoziologischen
Forschungsergebnisse aus den sechziger und siebziger Jahren über die
Justizvollzugsanstalten als totale Institutionen und über die Gefangenen-
1
Müller-Dietz, ZStW 97 (1985), 331 ff, spricht von dem „Phänomen einer nahezu
atemberaubenden wissenschaftlichen Produktion, die kaum noch Zeit für Durch- und
Nachdenken läßt".
2 Zuletzt Gabriele Dolde, ZStVO 1985, 148ff m . w . N . ; Romkopf, ebenda, 156ff.
3
Schwind, NStZ 1981, 121; zusammenfassend jetzt Baumann/Weber, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 1985, 723 m.N.
190 Günter Blau
navian Criminal Policy and Criminology 1980-1985; ferner Hessischer Landtag, Drucks.
11/1443 v. 6 . 9 . 1 9 8 4 , S. 38—40 (Anhörung zur Situation des Strafvollzuges in Hessen).
Ähnlich argumentiert Feltes, ZStVO 1985, 195 ff.
6 Kaiser/KernerlSchock, Strafvollzug, ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1982, 80;Jescheck, ZStW
91, (1979), 1037 ff. Die frühere Staatssekretärin. Hélène Dorlhac bemerkte im Juni 1985
auf einem internationalen Colloquium in Reims : „La crise pénitentiaire est g r a v e . . . Ce
n'est pas une question de droite ou de gauche mais un phénomène de société. La prison a
atteint un point de non retour. L'institution n'est plus adaptée" (Le Monde v. 4 . 6 . 1 9 8 5 ,
P-10).
7 Das wird sogar von der Société internationale de Défense Sociale eingeräumt. Vgl.
9 Vgl. für die USA insbes. Th. Weigand, ZStW 94 (1982), 801 ff und Herrmann, JZ
1985, 602 ff; für Skandinavien den o. Fn.5 erwähnten von N. Bishop hrsgg. Band; ferner
Antilla, New Trends in Criminal Policy, in: International Penal and Penitentiary Founda-
tion, Bonn 1984, 11 ff.
10 Vgl. die Auswertung von Heinz, ZStW, 94. Bd., 1982, 632 ff. Kennzeichnend für den
statistisch nachweisbaren Wandel des Sanktionsstiles ist auch der starke Anstieg der
Weisungen gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden und die Abnahme des Jugend-
arrestes. Nachweise bei Walter, MSchrKrim. 1985, 69 ff, 83.
11 Selbst auf der VII. Konferenz der Leiter der Strafvollzugsverwaltungen von 19
sich in: Das andere Transparent Nr. 12 / Sept. 1985. S. ferner Maelicke in: O.Sievering
(Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, Frankfurt/M. 1982, 15 ff.
Auf einem anderen Blatt steht die vom 7. United Nations Congress on the Prevention
of Crime and the Treatment of Offenders im Sept. 1985 in Mailand auch von mir gebilligte
These, daß bei leichterer Jugenddelinquenz „in many cases non-intervention... the best
response" sei (A/Conf. 121 - L 17 Add. 1, page 17).
15 So Janssen in H.J. Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe?, Heidelberg 1983, 15 ff,
54.
14 Vgl. außer den in Fn. 11 Genannten noch Blau/Franke und Herrmann in ZStW 96
(1984), Heft 2, sowie Blau in H. Kury (Hrsg.), Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologi-
schen Forschung, Band 10, Köln u.a. 1975, 311 ff.
15 Naucke, Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, Stuttgart
1985.
16 Vgl. u.a. Hassemer in: Hassemer/Lüderssen/Naucke, Fortschritte im Strafrecht
durch die Sozialwissenschaften? Heidelberg 1983, 39 ff.
Gemeinnützige Arbeit 193
17 Vgl. etwa Rössner, Bewährungshilfe 1985, 105 ff; Schädler, ZRP 1985, 185 ff.
" Rössner o. Fn. 17. Zur insoweit in der Tat unbefriedigenden Lage beim Freiheitsent-
zug s. Müller-Dietz, Strafvollzug - Tatopfer und Strafzwecke, G A 1985, 147. Gesichts-
punkte eines Täter-Opfer-Ausgleichs erörtern Rössner und Wulf (Hrsg. und Verf.) in
„Opferbezogene Strafrechtspflege", Bonn 1984, 125 ff.
" Viktimologie als kriminologische Methode ist sicherlich legitim. Es ist auch unbe-
streitbar, daß das herkömmliche Täterstrafrecht erhebliche „viktimologische" Defizite im
Bereich der Tatbestands-, Unrechts- und Strafzumessungslehre, der Opferentschädigung
und der Stellung des Opfers im Strafprozeß aufzuarbeiten hatte (vgl. hierzu u. a. Achen-
bach, Vermögensrechtlicher Opferschutz im strafprozessualen Vorverfahren, in: Fest-
schrift für Günter Blau, Berlin u.a. 1985, 7ff; Arzt, Viktimologie und Strafrecht,
MSchrKrim. 1984, 105 ff, sowie den Sammelband von Janssen/Kerner, Verbrechensopfer,
Sozialarbeit und Justiz, Bonn-Bad Godesberg 1985).
Sozialpsychologisch auffällig ist aber die weit verbreitete Bereitschaft, sich mit dem
Opfer (über-) zu identifizieren. Schien doch bisher die Identifizierung mit dem Täter die
psychologische Regel zu sein als Projektion eigener Wünsche („Es gibt kein Verbrechen,
das ich nicht in meiner Phantasie begehen könnte!"). Auch die Faszination von Kriminal-
romanen und -filmen dürfte auf solchen Projektionen mit beruhen (vgl. H.]. Schneider,
Artikel „Kriminalroman", in: Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., 2. Bd., Berlin
1967). Es mag sein, daß der gegenwärtige Viktimologie-Boom, der das Täter-Opfer-
Versöhnungskonzept als Alternative zur Vergeltungsstrafe in hohem Maße begünstigt hat,
Ausdruck einer sich ausbreitenden Opfermentalität einer Generation ist, die sich immer
wieder als Opfer undurchschaubarer Sachzwänge, „struktureller Gewalt", der Politik der
Supermächte usw. fühlt.
194 Günter Blau
174 f.
23 „Freiheitsentzug stellt nun einmal im Verhältnis zur bloßen Freiheitsbeschränkung
sowohl von der Eingriffsintensität als auch von den Auswirkungen her ein aliud dar. Dies
gilt selbst dann, wenn man in Rechnung stellt, daß bestimmte Formen des Freiheitsentzu-
ges wie etwa der Freigängervollzug sich in ihren praktischen Konsequenzen Freiheitsbe-
schränkungen annähern können." (Müller-Dietz, Grundfragen, [Fn. 8], 59).
Gemeinnützige Arbeit 195
II.
Der erstaunliche Siegeszug der „gemeinnützigen Arbeit" als Sank-
tionsalternative während der letzten drei Jahre, - unbekümmert um
etwaige strafrechtsdogmatische, prozessuale und rechtsstaatliche Beden-
ken, aber auch kaum berührt von den ungünstigen Rahmenbedingungen
des Arbeitsmarktes, - ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den
epochalen, paradigmatischen Charakter der Interessenverlagerung von
kustodialen zu ambulanten Sanktionen. Anhand dieses Beispiels soll
daher die behauptete Entwicklung verdeutlicht werden.
1. Auffällig ist vor allem, daß eine Sanktion, die in Gestalt des § 2 6 b
StGB a. F. seit langem, freilich nur theoretisch, zum sanktionspoliti-
schen Repertoire gehörte24, sich in so kurzer Zeit von absoluter Bedeu-
tungslosigkeit zu einer Sanktion von Gewicht, wenn auch bisher nur als
Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe bei uneinbringlichen Geldstrafen,
gewandelt hat.
Die Gründe für das Schattendasein des im Jahre 1924 in das StGB
aufgenommenen § 28 b können als bekannt vorausgesetzt werden25. Es
fehlten die Ausführungsbestimmungen der obersten Landesbehörden
(wenn man von einer thüringischen Ausnahme absieht). Die Argumente
für diese bewußte Abstinenz waren u. a. schon in der Begründung zum
Vorentwurf 1909 aufgelistet26. In der NS-Zeit wurde die gemeinnützige
Arbeit „im Dienste der Volksgemeinschaft" dann naturgemäß weiter
diskreditiert. Sie pervertierte in den Lagern zur Zwangsarbeit und in den
Vollzugsanstalten zum möglichst harten Strafschärfungs- und Diszipli-
nierungsmittel.
Nach einigen örtlichen Nachkriegsversuchen, dem § 28 b StGB wieder
Leben einzuhauchen, die sämtlich scheiterten27, wurde die Vorschrift
wieder obsolet. In der Begründung mit E 6 2 heißt es lakonisch:
„Die Möglichkeit der Tilgung einer Geldstrafe durch freie Arbeit, die das geltende
Recht in § 28 b StGB vorsieht, hat der Entwurf nicht aufgenommen. Sie hat in der
Vergangenheit nur ganz geringe praktische Bedeutung erlangt. Ihre Schwierigkeiten
sind wesentlich größer als ihre Vorzüge. Ihre Wiederbelebung ist auch bei Aufrechter-
haltung des geltenden Rechts nicht zu erwarten 2 '."
Sanktion, Berlin 1983; siehe auch Grebing in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe
im deutschen und ausländischen Recht, Baden-Baden 1978, S. 57 f.
25 Näheres bei Pfohl (Fn.24), 29 ff, 35 f, sowie ders. in Bewährungshilfe 1985, 112 ff.
die sich damals gegen freie Arbeit aussprachen, bei Pfohl a. a. O., S. 34 Anm. 71. Gewich-
tige Befürworter waren dagegen Würtenberger, ZStW 64 (1952), 17ff, 28 f und Zip/ZStW
77 (1965), 526ff, 448ff. Weitere Nw. bei Baumann, MonSchrKrim. 1979, 290f.
196 Günter Blau
J2 Schädler, ZRP 1983, 5 ff; 1985, 185 ff; Zimmermann, Bewährungshilfe, 1982, 113 ff;
Krieg u.a., MSchrKrim. 1984, 25ff; Best in Steinhilper (Hrsg.), Soziale Dienste in der
Strafrechtspflege, Heidelberg 1984, 209 ff. Wichtige Impulse gingen auch von einer Tagung
der evangelischen Akademie Hofgeismar im März 1984 aus, auf der ein Erfahrungsaus-
tausch der jeweiligen Fachvertreter der Bundesländer stattfand.
33 Vgl.J. Baumann, insbes. in MSchrKrim. 1979, 290 ff.
34 Vgl.yescheck und Grebing in Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen
und ausländischen Recht, Baden-Baden 1978, die freilich einer deutschen Regelung eher
zurückhaltend und skeptisch gegenüberstehen; ferner Huber, J Z 1980, 638 ff; Roxin, J A
1980, 221 und 545 ff; Kreuzer, Soziale Arbeit 1985, 490 ff; s. auch Schädler, ZRP 1983,
S. 6, dort die Anm. 5 - 9 . - Wichtige Beiträge ohne diese rechtsvergleichende Dimension
stammen von Bemmann, Festschrift für Schaffstein, 1975, 211 ff; Rolinski, MSchrKrim.
1981, 52 ff [61] und vor allem Schall, NStZ 1985, 104 ff.
35 J A 1980, 545 ff [550],
sicht bei Krieg u.a. MSchrKrim. 1984, 25ff und Schall, (Fn.34).
43 Vgl. etwa Voss bei der öffentlichen Anhörung zur Situation des Strafvollzugs in
Hessen vom 7 . 9 . 1 9 8 4 , Hessischer Landtag, Drucksache 11/1443, S. 17, 18; ders. KrimJ
1984, 244 sowie H.Janssen in: Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe?, Heidelberg 1983.
Der detaillierteste Überblick über die Ländermodelle findet sich bei Claus Fuchs,
Der Community Service als Alternative zur Freiheitsstrafe, Pfaffenweiler 1985, 318-356.
44 Hess. GVB1. I 1981, 293 (VO v. 20.8.1981).
45 Insbes. von Schädler und Zimmermann, oben Fn. 32. - S. auch die Antwort des
Mdjustiz auf eine große Anfrage der SPD im Hessischen Landtag, Hess. JMB1. 1985,
565-573.
Gemeinnützige Arbeit 199
Als weiterer Erfolg wird ferner ein durch positive Erfahrungen mit
Art. 293 EGStGB bewirkter Wandel des Sanktionsstiles der Richter und
Staatsanwälte bei Einstellungen nach § 153 a StPO, bei Arbeitsauflagen
nach § 56 b Abs. 2 Nr. 3 StGB und nach Verwarnung mit Strafvorbehalt
(§§59, 59a i.V. mit § 5 6 b Abs.2 Nr.3 StGB) gewertet. Daß diese
Fernwirkung des Art. 293 auch Gefahren birgt, daß nämlich der in
anderem Zusammenhang viel diskutierte Widening-the-net-Effekt ein-
treten kann, wird z. B. von Schädler ausdrücklich eingeräumt.
Sowohl in Hessen wie auch in Niedersachsen werden diese Erfolge auf
die weitgehende Beteiligung von zur Zeit 1250 gemeinnützigen Organi-
sationen und auf die Einschaltung von Gerichtshelfern bei der Vermitt-
lung eines Beschäftigungsverhältnisses, aber, wie erwähnt, auch beim
Zustandekommen von Ratenzahlungsvereinbarungen, zurückgeführt.
Das Spektrum der Einsatzstellen reicht von Altenpflege und Behinder-
teneinrichtungen, Kindergärten und Jugendzentren bis zu Tierheimen,
Forstämtern, Museen und Feuerwehren. Dabei wird streng darauf
geachtet, daß der Arbeitsmarkt nicht weiter belastet wird und nur solche
Arbeiten zugeteilt werden, „die zwar nützlich und aus sozialer Sicht
erforderlich sind, aber ansonsten nicht erledigt würden"4'.
6. Die Perspektive, die sich aus den bisherigen erfolgreichen Versuchen
mit der gemeinnützigen Arbeit als Surrogat der Ersatzfreiheitsstrafe
ergibt, ist die des AE: Gemeinnützige Arbeit als im StGB zu veran-
kernde Primärsanktion50, und zwar zur Disposition des Angeklagten
wahlweise neben Geldstrafe, da auf die Zustimmung des Betroffenen
nicht verzichtet werden kann51. Zumindest muß aber eine bundesweite
Surrogatlösung als kriminalpolitisch überfällige und zugleich reanimie-
rende Bereicherung unseres strafrechtlichen Sanktionensystems in das
StGB integriert werden, da die von Land zu Land divergierenden
Umrechnungskurse und die in einzelnen Ländern nur partielle (auf
einige Landgerichtsbezirke beschränkte) Anwendung rechtsstaatlich
unerträglich ist.
III.
Es erscheint ratsam, vor abschließenden Bemerkungen zu dem Für
und Wider dieser Entwicklungstendenzen und Reformvorschläge noch
einige vergleichbare europäische Modelle in die Betrachtung einzubezie-
hen; nicht nur weil die Rechtsvergleichung das Problembewußtsein
stimulieren und den „Lösungsvorrat" erweitern kann, - eine mittler-
weile schon triviale Feststellung! - , sondern weil der erstaunliche Auf-
schwung der Sanktionsalternative „gemeinnützige Arbeit", von dem hier
die Rede ist, ohne ein bestimmtes ausländisches Vorbild, den britischen
Community Service, kaum verständlich ist.
1. Die offenkundige Praktikabilität dieser im Jahre 1972 zunächst expe-
rimentell, ab 1974 in ganz England und Wales eingeführten Sanktionsal-
ternative52 - trotz einer im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland
noch größeren Arbeitslosigkeit in ihrem Anwendungsbereich - hat die
Befürworter der g. A. zweifellos ermutigt und mit Argumenten ver-
sehen.
49 So Schall, (Fn. 34).
50 Ebenso Albrecht, MSchrKrim. 1981, 265 ff (271); Kreuzer, o. Fn.34; einschränkend
Schall, oben Fn. 34, S. 111; eher skeptisch auch G. Kaiser in Brüsten u. a. (Hrsg.),
Entkriminalisierung, Opladen 1985, 177 ff.
51 So überzeugend Schall, (Fn.34); a.M. Pfohl, (Fn.24).
52 Criminal Justice Act, 1972 und Powers of Criminal Courts Act, 1974. Ausführliche
deutschsprachige Beschreibung und Wertung bei Barbara Huber JZ 1980, 638 ff; Grebing
in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht,
Baden-Baden 1978, 1227; Jescheck in Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre
Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Baden-Baden 1984, 2124 ff; Pfohl,
(Fn. 24), S. 122 ff; Klaus Fuchs, Der Community Service als Alternative zur Freiheitsstrafe,
Pfaffenweiler 1985; auch Schädler ZRP 1985, 6, bezeichnet den c.s. als Vorbild.
Gemeinnützige Arbeit 201
" Vgl. zu allem Vorhergehenden insbesondere Huber, (Fn. 52) und Pfohl, (Fn.24),
122-148.
202 Günter Blau
S. 7; ferner Le Matin vom 3.6.1985 und Le Monde vom 27.7.1985 S. 8, dort auch J. M.
Angelini, „Et si on choisissait l'éducation?"
62 Näheres bei Grebing, Landesbericht Frankreich in: Jescheck/Grebing (Hrsg.),
(Fn. 52), S. 435 ff.
204 Günter Blau
63
Pinatel, (Fn.59), 472 f; ebenso Kramer, (Fn.60) S.66.
M
Vérin, (Fn. 60) in Archives . . . , S. 184 f.
65 Vergleiche sein Plädoyer für TIG in Le Monde Diplomatique, (Fn. 60).
Gemeinnützige Arbeit 205
Weisung nach § 1 0 Nr. 3 J G G auch Schaffstein, Jugendstrafrecht, 8. Aufl., S. 73, weil das
Grundrecht der freien Berufswahl angetastet werde; ebenso Eisenberg, J G G , 1982,
Rdn. 19 zu § 10; Brunner, J G G , 7. Aufl., 1984, Rdn. 3, 6, 9, 10 zu § 10.
70 In: Festschrift für Hans Heinrich Jescheck, Berlin 1985, 952. S. auch 7. U . N . -
Kongreß, (Fn. 12), p. 17: „Any diversion involving referral to appropriate community or
other services shall require the consent of the juvenile, or her or his parents or guar-
dian . . . " Im Kommentar hierzu heißt es: „Diversion to community service without such
consent would contradict the Abolition of Forced Labour Convention".
71 BMJ - 4212/2-7-3-25, 762/83 vom 18.11.1983, Art. 1 Nr. 4.
Gemeinnützige Arbeit 207
72 Amtliche Begründung S.20f. Vgl. für die derzeitigen „Brücke"-Projekte, durch die
76 Schönke/Schröder a. a. O. Rdn. 15 zu § 56 b.
77 Näheres bei Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Berlin - New York 1983, 96.
78 Krey, Parallelitäten und Divergenzen zwischem strafrechtlichem und öffentlich-
rechtlichem Gesetzesvorbehalt, in: Festschrift für G.Blau, 1985, 123ff (132).
Gemeinnützige Arbeit 209
79 J R 1970, 457.
80 Vgl. Naucke oben Fn. 15 und in Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Fortschritte
im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften?, Heidelberg 1983, 1 ff.
II.
Kriminologie
und Jugendstrafrecht
Grundlagen, Beiträge und mögliche Entwicklungs-
linien einer Kriminologie der Befreiung
LOLITA ANIYAR DE C A S T R O *
Zum einen stützt sich die politische Gesellschaft auf die zivile Gesell-
schaft. Damit ist weniger als die instrumenteile und voluntaristische
Staatsauffassung im ursprünglichen marxistischen Sinn gemeint, d. h. die
Konzeption von der zivilen Gesellschaft als Basis von materiellen Ver-
hältnissen einer historisch determinierten Staatsform, in der diese jene
bestimmt (und nicht umgekehrt, wie dies von der naturrechtlichen Lehre
behauptet wird). Wir gehen eher von einer Erkenntnis aus, die zwar die
Klassenherrschaft (die der Legitimation oder erhaltender Mechanismen
bedarf) und die gesellschaftlichen Widersprüche als Realitäten sieht, aber
auch die Unmöglichkeit anerkannt, Macht gegenwärtig so schematisch
und linear auszuüben, daß nur die Interessen einer einzigen Klasse
formal oder inhaltlich geschützt werden.
Zum anderen finden wir den offensichtlichen Dualismus von bour-
geoisen juristischen und ideologischen Konzepten einerseits, die das
Interesse der gesamten Gesellschaft zu schützen vorgeben (obwohl
selbst dies oftmals fraglich ist, wie die empirischen und normativen
Untersuchungen über Straftaten der Machthaber gezeigt haben), und
einer Wirklichkeit andererseits vor, in der diese Konzepte über den Rang
uneingelöster Versprechen nicht hinauskommen.
Dieser Dualismus ist gleichzeitig Teil des Vorgangs der Legitimation
selbst: einer Gesetzgebung und Rechtsdoktrin, insbesondere im öffentli-
chen Recht, die bloße Programm- und Symbolfunktion haben. Beispiel-
haft sind die Venezuelanische Verfassung und auch die internationalen
Verträge über Menschenrechte, denen Venezuela beigetreten ist. Letz-
tere werden zwar im Grunde nur als individuelle Rechte definiert, aber
nicht einmal der Schutz der Menschenrechte des einzelnen wird in der
Praxis gesichert oder verwirklicht.
Zweifellos gibt es auch symbolische (normativ-programmatische)
Zugeständnisse einiger sozialer Grundrechte wie den Verbraucher-
schutz, und auch konkrete Zugeständnisse wie das Streikrecht. Diese
sind jedoch in Wahrheit Errungenschaften des Klassenkampfs.
Auf diese Weise wird im normativen Rahmen - bzw. dem der
politischen Gesellschaft - eine erste Stufe der Legitimation der bestehen-
den Ordnung erreicht.
Die zweite Stufe bildet die Tätigkeit der zivilen Gesellschaft. Alle
hinsichtlich Handlungen und Wertvorstellungen konformistischen
Hilfsgruppen (Familie, Schule, Kirche, humanistische, wissenschaftliche
und technische Intelligenz) werden für eine Aufgabe herangezogen, die
in Selbstkontrolle besteht.
Wie Foucault sagt, muß der Staat bei der Verwaltung (nicht der
Ausübung) der Macht ökonomisch vorgehen. Deswegen teilt er sie
mittels seiner Agenten, die sich der politischen Rolle, die sie erfüllen,
meist nicht bewußt sind, fein auf.
Kriminologie der Befreiung 215
4
Siehe Pavarini, Control y Dominación. Teorías Criminológicas burguesas y proyecto
hegemónico. México 1983.
5
Ebd.
218 Lolita Aniyar de Castro
10
Baratta, Criminologia Critica e Critica del Diritto Penale. Bologna 1982, 173 ff.
11
Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M. 1973, 161.
220 Lolita Aniyar de Castro
z. B. das auf Leben, Gesundheit, Erziehung, Wohnung, Umwelt, Erholung und Kultur.
Kriminologie der Befreiung 221
ROBERTO BERGALLI
Introducción
Lo que se denomina como Latinoamérica constituye un vasto conglo-
merado de países que, por distintas razones históricas, culturales, políti-
cas, económicas y particularmente geoestratégicas ha despertado - a lo
largo de su desarrollo pero especialmente en los últimos tiempos - una
especial atención. Con una expresión al uso, podría decirse que Latino-
américan está de moda.
Claro que esta moda nada tiene que ver con gustos estéticos o
prácticas cotidianas. Muy lamentablemente se relaciona con la situación
a la que buena mayoría de esos países ha llegado después de un proceso
de marcado condicionamiento de sus estructuras económico-sociales.
H o y puede calificarse esa situación como trágica o dramática a la luz de
los regímenes de injusticia social que no sólo han generado una desigual
distribución de la riqueza; ellos también han provocado, como lo
demuestran sus realidades actuales, un estado de cosas en que la sistemá-
tica violación de los derechos humanos más fundamentales es una
constante de la vida que sobrellevan vasta franjas sociales.
En esta perspectiva, claro está, otros sectores, grupos minoritarios
calificados como oligarquías vernáculas, han contraído una importante
cuota de responsabilidad que se remonta a varias generaciones. En
algunos casos los beneficios que esas minorías han percibido - prove-
nientes de la posesión de dilatadas superficies de tierra, en casos más
restringidos de la extracción de frutos y minerales o, más últimamente,
226 Roberto Bergaiii
1
Sobre la DSN mucho se ha escrito en este último tiempo y ello se ha hecho en disintos
campos en los cuales se ha analizado la particular conformación del sistema de relaciones
entre Estado y sociedad civil, ocurrida en aquellos países donde las burocracias autoritarias
constituyeron los nuevos sistemas de dominación política. Un trabajo que debe distin-
guirse de entre el rico y valioso material producido es del de E. García Méndez (1985, esp.
Erster Teil, Kapitel IV: Die Doktrin der inneren Sicherheit (DIS),83-103). N o obstante,
esta ocasión es oportuna para citar aquí uno de los últimos trabajos de Alfonso Reyes
Echandía, querido amigo y compañero, ejemplar tipo de jurista crítico y comprometido
con la realidad de su país y de Latinoamérica, quien junto a su discípulo - también otro
modelo de joven empeñado con el trabajo por la paz y la justicia social - Emiro Sandoval
Huertas, quizá el más válido crítico de los sistemas penales latinoamericanos, fueron
bárbaramente asesinados durante los hechos acaecidos en el Palacio de Justicia de Bogotá
Teoría criminológica Latinoamericana 227
(6-7 de noviembre de 1985). El trabajo de Reyes Echandta (1984) fue precisamente leído
durante un Seminario en que se discutía el tema del control social en América latina; el
mismo quedó inédito pero de su contenido es posible extraer las causas por las cuales no
casualmente parecen haber caído Reyes y Sandoval (en cuyo trabajo de 1985 también se
revelan dichas causas). En efecto, si bien la investigación de los hechos del Palacio de
Justicia, en Bogotá no parece en el plano eficial llegar a un esclarecimiento - más bien se
mantiene la confusión - , es en los ámbitos periodísticos y de la propia opinión pública que
existe el convencimiento acerca de una responsabilidad compartida entre el Ejército, la
Policía y la propia clase política (encabezada por el mismo Presidente de la República) con
relación a las decisiones tomadas para producir el ataque militar contra los ocupantes del
Palacio y haber impedido el cese del fuego, pese a los ruegos de Reyes Echandía, Presidente
de la Corte Suprema de Justicia que junto a otras víctimas inocentes eran rehenes del grupo
guerrillero. Lo sucedido es una prueba más - junto a otras múltiples víctimas producidas en
los círculos de unas disciplinas jurídica y criminológica críticas de hasta qué punto es
peligroso en Latinoamérica la denuncia del sistema de dominación ejercido a través de la
DSN. Pero, asimismo, constituye una legitimación del discurso crítico y reflexivo en torno
al control social y particularmente respecto del sistema penal.
228 Roberto Bergalli
II
Es de toda evidencia que interpretar la cuestión criminal en América
latina desde la perspectiva crítica, en la cual son primordiales los análisis
económico-estructurales y político-sociales, no constituye la única
manera de hacerlo. Antes bien, conviene resaltar que tal interpretación
234 Roberto Bergaiii
Este es el sentido de teoría que cabe atribuir a los análisis que critica
Birkbeck (por lo menos a los de Aniyar de Castro, del Olmo y quien aquí
escribe) y aunque por razones de espacio es imposible prolongar esta
explicación, semejante sentido permite descartar la concepción de una
disciplina criminológica aferrada a la definición del delito dada única-
mente por la ley penal, tal como la que ha guiado a Birkbeck en su
crítica.
Asimismo, vale la pena aquí recordar, la propuesta de construir una
teoría del control social en América latina (la cual, justo es reconocerlo,
nace casi contemporáneamente en la época en que Birkbeck termina el
examen de la literatura para formular sus observaciones) descarta de
hecho el concepto de criminología al que parece adherir nuestro crítico
quien, dicho sea de paso, al no ser explícito en este punto, parece quedar
vinculado a la tradicional perspectiva positivista.
B. Pasando ahora al núcleo de cuestiones que encierran los puntos b., c.
y e. de las observaciones de Birkbeck, se observa que el eje de ellas se
asienta sobre el concepto de «América latina», al que los autores por él
señalados parecemos referirnos por algo distintivo, lo cual no aparece -
según afirma - nunca claramente establecido.
En el sentido que se indica, es verdad que no existe homogeneidad en
quienes nos hemos ocupado del tema y que, incluso, esa heterogeneidad
y supuesta obscuridad conceptual permiten extraer las conclusiones a las
que ha llegado Birkbeck, en cuanto América latina resulta ser un término
tomado del discurso cotidiano y no del discurso teórico, que su conte-
nido es impreciso y depende del criterio de definición que se adopte. Por
ello, como clase de países, «América latina» no se presenta en nuestros
estudios como correspondiendo necesariamente a las clasificaciones de
dominios que impliquen las teorías criminológicas.
Para Birkbeck, esa falta de correspondencia que supone una tentativa
de forjar (y forzar) las teorías criminológicas en boga en el molde
«latinoamericano» puede distorsionar la relación entre teoría y referentes
empíricos. De tal modo, en vez de utilizar la categoría «América latina»
a priori, para orientar todo el discurso criminológico, Birkbeck afirma
que es mucho más aconsejable construir los dominios teóricos en tema
de investigación.
Por la distinta procedencia de enfoques, de formación y orientación
epistemológica de los autores que Birkbeck encierra en las mismas
observaciones (Canestri, Drapkin, Rico y quien escribe), cabe un análisis
separado de ellos por lo cual aquí únicamente han de asumirse las que
atañen.
a) Es posible que - como dice Birkbeck - la adopción de un criterio
geográfico, agrupando (aunque admitiendo cierto nivel de heterogenei-
Teoria criminológica Latinoamericana 239
dad) a todos los países que ocupan una porción de hemisferio - como se
hizo en un trabajo ya muy antiguo (cfr. Bergalli 1972, 17-24) - , pueda
provocar que esa clasificación no aparezca respondiendo a las propieda-
des (criminológicas) que se deseen estudiar, provocando una distorsión
en la lógica de la clasificación que según el empirismo lógico debería
primar en las definiciones. O sea, que una teoría criminológica «latino-
americana» requeriría que el dominio contrastable y/o verificado de la
misma debe coincidir con lo que se considere «América latina».
Ahora bien, ocurre que el dominio contrastable y/o verificado a que se
refiere Birkbeck (en la terminología del empirismo lógico) coincide
efectivamente con el objeto de conocimiento criminológico en el que él
piensa, o sea: delito definido tradicionalmente por la ley penal incuestio-
nada, y en el que pensaba quien subscribe el presente trabajo, influido
como estaba por los resabios de una formación positivista - tal como ha
sido reconocido expresamente (v. Bergalli op. cit. 1982, Introducción
esp. IX) - en la época de emitir aquella clasificación. Pero no el objeto de
conocimiento en el que ahora piensa quien aquí reflexiona. Por lo tanto,
la crítica al criterio geográfico elegido para determinar el espacio latino-
americano ya no es más válido, por lo menos hasta que no se cuestione
también la concepción de la disciplina que se ha venido sosteniendo
(v., sobre todo, supra - I - 4.).
Por lo demás, siendo sin embargo muy claro que hasta cierto
momento ha existido una dificultad para tratar los distintos países
latinoamericanos como parte de una unidad interna regional y en clara
diferenciación del resto del mundo, actualmente y desde hace un tiempo
esto no se produce más.
Como bien acaba de sostener Ana Pizarro: «América latina es un
concepto que ha sido - que aún a veces hoy lo es - controvertido y que
constituye de hecho una noción histórica en evolución» (v. 1985, 1.
Introducción, 13). Entrando ya en su tema, la autora dice que: «El
interrogante sobre qué es la literatura latinoamericana está directamente
ligado a la noción misma de América latina como concepto. Esta noción,
como sabemos, surge en la segunda mitad del siglo pasado, en la voz del
colombiano José María Torres Caicedo. Con una proyección integradora
y diferenciadora, así reflexiona (éste) en 1875: <hay América anglosajona,
dinamarquesa, holandesa, etc.; la hay española, francesa, portuguesa, y a
este grupo ¿qué denominación científica aplicarle sino el de latina?>. La
noción de América latina surge como oposición a la noción de América
sajona, tal como lo afirma José Martí en el mismo período, quien las
opone y delimita con la noción de nuestra América, que es la América en
que nació Juárez y de la cual hace un análisis comparable al que han
desarrollado las ciencias sociales latinoamericanas a mediados de este
siglo» (Pizarro op. loe. cit., 15).
240 Roberto Bergaiii
Zusammenfassung
In einer kurzen Einleitung werden die Gründe, weshalb heute Latein-
amerika ein reich erörtertes Thema ist, untersucht. Diese Gründe und
deren unheilvolle Konsequenzen haben eine enge Beziehung zu den
durch die Abhängigkeit gekennzeichneten sozio-ökonomischen Struk-
turen der lateinamerikanischen Länder. Die Situation hat sich in den
letzten zwei Jahrzehnten aufgrund des Einflusses zweier wichtiger Fak-
toren verschlimmert: die entscheidende Rolle des Militärs und die
zunehmende Intervention der imperialistischen Politik der Vereinigten
Staaten von Nordamerika in die inneren Angelegenheiten der lateiname-
rikanischen Länder.
Diese Gründe erklären die besondere Entwicklung des kriminologi-
schen Denkens Lateinamerikas, das im Zentrum des kapitalistischen
Produktionssystems offenbar eine Vertiefung erfahren hat. Diese Ent-
wicklung - eine struktur-ökonomische Perspektive, die durch eine
kritische Reflexion orientiert ist - widerspricht der traditionellen Ent-
wicklung der kriminologischen Disziplin, da diese auf einer juristischen
Definition des Verbrechens beruht, in der Fortschritte der sozialpoliti-
schen Wissenschaften noch nicht aufgenommen worden sind.
Dieses lateinamerikanische Denken hat in den letzten zehn Jahren die
positivistische Tradition, welche die Kriminologie seit ihrer Entstehung
im Kreise der juristischen Kultur am Ende des 19.Jahrhunderts
beherrscht hatte, in Frage gestellt.
Die kritische Reflexion ist in Lateinamerika mehrmals angegriffen
worden. Zwei Autoren sind in diesem Zusammenhang besonders erwäh-
nenswert: der erste (Tozzini) wirft der Sozialkategorie der Kriminologie,
da sie die Methode der Sozialwissenschaften anwende, vor, eine Rich-
tung gewählt zu haben, die zu direkten oder indirekten sozialpolitischen
Erklärungen des abweichenden Verhaltens führt; dies soll eine große
methodologische Undeutlichkeit herbeigeführt haben (siehe Fn. 2). Der
242 Roberto Bergaiii
zweite Autor (Birkbeck) bezieht sich nur auf Lateinamerika und auf die
Autoren, die zur Gründung und Förderung einer eigenen kriminologi-
schen Theorie beigetragen haben sollen, einschließlich einiger, die nicht
zu der Gruppe gehören, die kritisch genannt werden kann. Gegen diese
Autoren werden fünf Einwände erhoben mit der Absicht, von einem
wissenschaftstheoretischen Ansatz aus die sogenannte kriminologische
Theorie zu „demontieren". Allein die zweite Fragestellung wird in dem
vorliegenden Beitrag analysiert und beantwortet.
Den Einwänden sind zwei Positionen entgegenzuhalten, die zu einer
kritischen sozialwissenschaftlichen Kultur Lateinamerikas gehören.
Beide stammen aus derselben Orientierung der Befreiung. Die erste
Position greift das Resultat einer zehnjährigen empirischen Erfahrung
auf ( G r u p o de Criminologia Comparada en America latina, koordiniert
vom Instituto de Criminologia der Universität Zulia, Maracaibo/Vene-
zuela), und strebt den Aufbau einer kritischen Theorie der Sozialkon-
trolle an (Aniyar de Castro, Bergaiii). Die zweite Position betrachtet die
strafrechtliche Kontrolle als das reduzierte und formalisierte Arbeitsfeld
(typus) des gesamten Sozialkontrollsystems (genus); hier wird die kriti-
sche Analyse der Verbrechenstheorie und der Straftheorie übernommen.
Beide Theorien weichen von dem neutralen Diskurs, den die juristische
Kultur Lateinamerikas beherrscht hat, ab.
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Kriminologie: Die unangemessene Kollision
von zwei Parallelen
C A R L O S A . TOZZINI
Meines Erachtens ist es sehr schwierig, a priori eine Basis zur krimi-
nologischen Untersuchung, die Präexistenz eines einzigen, disziplinaren
Begriffs und Grundes festzusetzen, - so wie ein Thema der Einladung
zur Mitarbeit an der verdienten Huldigung zum Andenken an die
vortreffliche Freundin, die Hilde Kaufmann war, es zu denken gibt - das
heißt, als ob es sich um schon festgelegte und endgültig gesicherte
Fragen handeln würde. Soweit ich es verstehe, handelt es sich im
Gegensatz um Probleme, die theoretisch noch gären auf Grund von
bedenklichen Antinomien, die im strikt rationalem Felde durch reduk-
tionistische Konzeptionen einerseits naturalistischer und andererseits
sozio-politischer Art aufgestellt werden, so daß heute nur die „durch
den Glauben Aufgeklärten" feststehen und sich in diesen Gebieten
dogmatisch ausdrücken können.
Die Kriminologie soll das ganze Problem des Menschen erörtern,
doch - je nach Einstellung - sich spezifisch auf das verbrecherische oder
abweichende Verhalten beschränken. Ihre Untersuchungen sollen - um
nur einige Bezirke unseres Interesse zu nennen - an die des Strafrechts,
der Kriminalpolitik, des Strafvollzuges und sogar der Soziologie
anschließen. Wie es Hilde Kaufmann sagte (1981, 20), die wissenschaft-
liche Erkenntnis ist „so etwas wie ein Scheinwerfer, der um das Objekt
kreist und immer ein anderes Gesicht bescheint... Von hier aus
erscheint die Wissenschaft nicht mehr als ein integrales Aufnehmen der
Wirklichkeit, sondern als eine ausgelesene und nicht verschmelzbare
Summe von einzelnen Perspektiven".
Gerade an dieser Kreuzung von Gebieten und Vergleichung von
Erkenntnissen, scheint die Kriminologie durch verschiedene Einstellun-
gen und ihre scheinbar auseinandersetzende wissenschaftliche Schlüsse
zergliedert zu sein. Meiner Ansicht nach knüpfen sich die Schwierigkei-
ten, die von der Konfusion zwischen allgemeinen und besonderen - dem
Objekt der Kriminologie zugehörenden Kategorien (die ich auch später
genauer betrachten werde) herkommen, an die Unmäßigkeit der autori-
246 Carlos A. Tozzini
1 Zum Beispiel bestimmt das Strafgesetzbuch Cubas von 1979 (in „Straflehre", 1980,
385—476), Art. 76, daß der „gefährliche Zustand" darin besteht, daß man „die Normen der
sozialistischen Moral" durch Akte bestreitet, die - nach Art. 77 - einen mehr oder weniger
üblichen Katalog des Verhaltens ausmachen, das pre- und post delictum Sicherheitsmaß-
nahmen verdient (Trunkenheit, Narkomanie, Kupplerwesen, Prostitution, Strabanzerei,
usw.), und die so lange dauern, bis das Subjekt heilt und sich an „die Normen der
sozialistischen Moral„ wieder anpaßt (Art. 80 f).
248 Carlos A. Tozzini
2 N u r auf diesem Gebiet, und ohne soziologistische Reduktionismen, ist die Definition
der Kriminologie nach Bustos gültig: „die Untersuchung und Kontrolle der Kriminalität als
ein einziger sozialer Prozeß, der den Mechanismen der politischen und juristischen
Definition einer bestimmten sozialen Organisation entsprungen ist" (1983, 23).
3 Angesichts eines sehr gewöhnlichen Irrtums muß ich erklären, daß diese beiden
Wissenschaften eine sehr verschiedene Genesis und Gehalt haben, weil die erste von den
Naturwissenschaften herkommt, die Wurzeln der Psychologie aber in die Philosophie
eingreifen (Brett, 1963, und Misiak, 1964). D e r Irrtum war, den Anfang der Psychologie in
der Experimentalpsychologie von Wundt und der Leipziger Schule zu sehen. In gleicher
Weise könnte man sie von der Physik abstammen lassen, falls man die Beiträge Webers,
Fechners und einiger Gestaltisten in Betracht ziehen würde.
250 Carlos A. Tozzini
heißt, eine Form, nicht ein Inhalt. Und in der Wissenschaftstheorie kann
eine wissenschaftliche Frage nur an der selben Ebene, in der sie gestellt
wurde, beantwortet werden {Kaufmann, 1981, 20). Der Gegensatz stellt
das Problem des „ökologischen (?) Fehlschlusses oder des unrichtigen
Niveaus", das eben darin besteht, daß man Verhältnisse zwischen ver-
schiedenen Niveaus einsetzt und Schlüsse, die nur in dem Gebiet
bedeutend sind, in dem sie erreicht wurden, auf ein anderes überträgt
{Galtung, 1971, 46). Dieser Art des Fehlschlusses kann man die schon
erwähnte Verallgemeinerung über „politische Gefangene" zusetzen, und
obwohl er einige nur in einer repressiven Gesellschaft als Verbrechen
erachtete Tatsachen erklären kann, ist er doch nicht geeignet, manches
individuelle Verhalten, das die mehr oder weniger allgemein beschützten
Güter anbelangt, zu verstehen.
Zusammengefaßt: Es ist ebenso falsch, soziale Verhältnisse aus den
individual-menschlichen Verhalten zu interpretieren, wie - im Gegen-
satz - das Verhalten mit sozialen Verhältnissen zu verwechseln und für
es sozial-politische Gesetze anzuwenden.
Der Fehlschluß, die Erfindungen der sozialen Schichten mit denen des
Verhaltens zu verwechseln, und umgekehrt, erzeugt Spaltung und
gegenseitiges Isolieren der Kategorien, die - wenn man sie auf ihren
Gebieten richtig gebraucht - die wissenschaftliche Systematisierung,
welche die Kriminologie heute noch immer entbehrt, zulassen würde.
Wenn man, durch Abhängigkeit an einem geschlossenen juristischen
Dogmatismus, die Untersuchungen am verbrecherischen Verhalten von
inkriminierenden Normen her zentralisiert, indem man in jeden Fall alle
Möglichkeit des Entdeckens, wer - Gesellschaft, Machtgruppe oder
Individuum - in Wahrheit das analysierte Verhältnis verursachte, ver-
neint (das gelegentlich so etwas wie eine Verneinung des kriminologi-
schen Wertes der Untersuchung der Umstände, unter denen die Verur-
teilung von Sokrates und Jesus überkam, wäre), oder indem man nur rein
sozio-politische Wege als einzige Beobachtungsposten des menschlichen
Verhaltens annimmt, schließt man hermetisch die Türen zu in Bezug auf
die Integration der kriminologischen Erkenntnis ebenso wie in Bezug
auf die Mitarbeit mit den anderen Strafdisziplinen {Kaufmann, 1963,
235-250), sobald man die Brücken mit mehrfachem Verkehr - die die
Theorie des Handelns mit der Zumutung, der Verschuldigung, der
Strafe und ihrem Vollzug unter anderen Institutionen, vereinen, und die
wesentlich werden zum richtigen Schaffen und zur Anwendung gesetzli-
cher Instrumente individueller und kollektiver Notwendigkeiten des
Menschen - abschneidet.
Kriminologie als Kollision von zwei Parallelen 251
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Prognoseentscheidungen - ein empirisches
und entscheidungstheoretisches Problem
WERNER GEISLER
StGB: „keine Straftaten mehr begehen wird" - zur Höhe des verant-
wortbaren Risikos 1 noch zu denkbaren Differenzierungsmöglichkeiten
des Risikos nach Tatschwere oder Art der gefährdeten Rechtsgüter,
noch zu Gütekriterien für die Prognose 2 ein Maßstab angelegt.
I.
Aus diesem Problemaufriß kann hier nur ein Teilbereich behandelt
werden, den ich in Erinnerung an Hilde Kaufmann in der Prognosegüte
wähle, einem Gebiet, für das es Erkenntnisse aus verschiedenen seins-
wissenschaftlichen Disziplinen in die juristischen Entscheidungszusam-
menhänge zu übertragen und dafür weiter zu entwickeln gilt. Die
Prognosegüte hängt - soweit noch weitgehend anerkannt - von der
zuverlässigen Feststellung des relevanten Prognosesachverhalts und,
anders ließe sich schon die Relevanz einzelner Gesichtspunkte nicht
feststellen, der Kenntnis gesicherter Erfahrungssätze ab. Letztere gene-
relle Regeln ermöglichen in unserem Beispielsfall erst die Vorhersage
künftigen Legalverhaltens aus dem Prognosesachverhalt.
Zunächst ist als Ausgangspunkt festzuhalten, daß die Prognosegüte
nicht an Maßstäben eines deterministischen Verhaltensmodells gemessen
werden kann. Zur Begründung dieser Festlegung bedarf es nicht einmal
einer Stellungnahme im Determinismus-/Indeterminismusstreit, obwohl
jedenfalls der überwiegende Teil der europäischen, täterorientiert for-
schenden Kriminologen zutreffend nicht annimmt, es könnten „Ursa-
chen" menschlichen Handelns im Sinne von notwendigen und ausrei-
chenden Bedingungen erkannt werden3. Jedenfalls entsteht nach dem
heutigen Forschungsstand die Tat aus einem komplexen, in vielen
Einzelheiten noch unerforschten Geflecht von Variablen, für das die
Verstorbene plastisch den Begriff „Entstehungszusammenhänge" ver-
wandt hat3. Auch bei einer extremen Häufung von mit Rückfall im
Zusammenhang stehenden Daten des Täters in seinen sozialen Bezügen
oder deren vollständigen Fehlen läßt sich keine hundert Prozent sichere
Prognose stellen. Kriterien für die Prognosegüte müssen daher notwen-
digerweise nur bescheideneren Anforderungen genügen, solange
zukünftige soziale Wirklichkeit und das menschliche Verhalten in dieser
bei juristischen Entscheidungen Berücksichtigung finden sollen.
1 Dazu Frisch, W., Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, bes. S. 88 ff, 142 ff,
II.
Seit dem Aufkommen der Entscheidungs- und Prognoseforschung im
Zusammenhang mit den amerikanischen P<zro/e-Entscheidungen in den
20er Jahren diesen Jahrhunderts war das Interesse darauf gerichtet,
Persönlichkeitsmerkmale und soziale Daten des Individuums oder mit
Bezug auf dieses zu erkennen, mittels deren Straftäter und Rückfalltäter
von Nichtkriminellen und Einmaltätern im Sinne formeller Sozialkon-
trolle für die Zwecke der Sozialkontrolle, der Urteils-, Entlassungs- und
Behandlungsprognose unterschieden werden können. Die intuitive Pro-
gnose kann, trotz ihrer großen Bedeutung in der praktischen Rechtsan-
wendung4, hier außer Betracht bleiben, denn sie ist nicht nur kein
wissenschaftliches Verfahren, sondern sie weist auch eine zu hohe
Fehlerquote auf5.
Wissenschaftliche Prognoseverfahren sind zunächst über Jahrzehnte
entlang zweier Denkmodelle entwickelt worden, deren Ergebnisse die
statistische und die klinische Prognose bilden.
Beiden Modellen gemeinsam ist die Vorstellung, daß nur aus einer
Kombination einer größeren Zahl von Einzelinformationen über den
Probanden und seinen Sozialbereich eine Diagnose vergangenen und
Prognose künftigen Legalverhaltens gewonnen werden kann. Sie stehen
in der über lange Zeit die kriminologische Diskussion dominierenden
Kontroverse zwischen „multifaktoriellem Ansatz" versus „eindimensio-
nalem Ansatz" auf der Seite der multifaktoriellen Ansätze. Nur
beschreibt der Begriff „multifaktoriell" das methodologische Paradigma
der klinischen Prognosen unzutreffend, weil es bei diesen nicht zunächst
um Isolierung einzelner Faktoren oder Variablen und anschließend
deren Zusammenfügung geht, sondern eine differentialdiagnostische
Exploration des Probanden, deren Befunde mit kriminologischem
Bezugswissen verknüpft werden, unmittelbar in die Prognose mündet.
Terminologisch wird dies adäquater durch den Begriff „Entstehungs-
zusammenhänge" erfaßt.
4 Nach Fenn, Rudolf, Kriminalprognose bei jungen Straffälligen, 1981, S. 91 gaben nur
III.
Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Modellen der statisti-
schen und der klinischen Methode liegt in der Aggregation der Einzelbe-
funde, wobei dieser Unterschied, jedenfalls bisher, auf die Erhebung des
Prognosesachverhaltes durchschlägt. Für die statistische Methode sind
Prognosetafeln oder -tabellen charakteristisch. In ihnen werden auf dem
Boden des multifaktoriellen Ansatzes in Vergleichsgruppen-Untersu-
chungen ermittelte Faktoren, also isolierte Gesichtspunkte, physischer,
psychischer und sozialer Art zusammengefaßt, die geeignet scheinen,
zwischen rechtskonformem Verhalten und Rückfälligkeit zu differenzie-
ren. In den Tabellen werden die Prognosefaktoren teils gleich bewertet
und addiert, teils nach ihrer Bedeutung gewichtet und addiert. Bei den
klinischen Methoden wird jeder quantifizierende Ansatz vermieden, an
dessen Stelle die in der Person des Forschers liegende, allenfalls quali-
tative Aggregation von Erfahrungswissen tritt. Dieses Erfahrungswissen
wird durch „pragmatisch ausgerichtete Einzelfallstudien" mit vorwie-
6
Sutherland, E . H . , Critique of a Theory, in: Sutherland, Edwin H., On Analysing
Crime, ed. K.Schuessler 1973. The Sutherland Papers ed. Albert Cohen et al.
7 Solche Anforderungen werden heute auch im Ansatz für die Grundlagen der klini-
IV,
24 Schultz, P., Zum Problem der Prognose in der Bewährungshilfe. Phil. Diss. Köln
28 Für eine methodische Aufarbeitung dieses Ansatzes s. Bock, M., Kriminologie als
Verfahren ist zwar noch nicht an einer neuen Stichprobe validiert, aber
wohl an in Göppingen eigenem Institut durchgeführten Begutachtungen
neuer Fälle bewährt. Die empirische Datengrundlage berücksichtigt
über die kriminovalenten Konstellationen, Relevanzbezüge und Wert-
orientierung Sanktionswirkungen und in gewissem Umfang auch die
Nachentlassungssituation. Jedoch ist die Datengrundlage aus der Ver-
gleichsuntersuchung notwendigerweise einem Alterungsprozeß ausge-
setzt.
V.
Die beiden neueren Modelle stellen, mißt man sie an den Erkenntnis-
sen der Entscheidungsforschung, eine Verbesserung gegenüber der
intuitiven Prognose dar, die Richter heute in der Praxis überwiegend
verwenden (müssen). Komplexe Informationsgefüge, die dazu noch mit
Unsicherheit behaftet sind, können auf rein intuitiver Basis nicht ratio-
nal verarbeitet werden. Es ist wiederholt nachgewiesen worden, daß
Menschen nur eine begrenzte Anzahl von Informationen gleichzeitig
verarbeiten können, bei komplexen Sachverhalten Urteilsstrategien ein-
setzen, die zwar geeignet sind, Komplexität zu reduzieren, dabei aber
gleichzeitig zu spezifischen Urteilsverzerrungen führen können, z.B.
durch selektive Uberbetonung prägnanter Informationen, Ignorierung
oder Umbewertung von Informationen, die dissonant sind, Vernachläs-
sigung sogenannter „Base-Rate-Informationen", unrealistische Vorstel-
lungen von der Komplexität ihrer eigenen Beurteilungsprozesse haben
und mit zunehmender Informationsvielfalt bezüglich ihres Urteils
zunehmend sicherer werden, während die Häufigkeit korrekter Beurtei-
lungen mit zunehmender Informationsmenge abfällt29.
In der normativen Entscheidungstheorie, seit einigen Jahren auch der
„Künstliche-Intelligenz"-Forschung, sind Ansätze entwickelt worden,
die derartige Verzerrungen intuitiver Urteilsprozesse vermeiden sollen.
Da sie auf eine rationale Aufarbeitung des subjektiven Entscheidungsfin-
dungsprozesses gerichtet sind, kann mit ihnen gleichzeitig die Mobilisie-
rung des subjektiven Wissens, der Erfahrungen der Entscheider als
Experten zur Vervollständigung und Uberprüfung der empirischen
Datengrundlage angestrebt werden. Diese Ansätze zeichnen sich durch
2 ' Für Zusammenfassungen derartiger Befunde Nisbet, R., Ross, L., Human Interfe-
rence, Strategies and Shortcomings of Social Judgement, Englewood Cliffs, N.J., 1980;
Frey, D., Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, 1981;
Kahneman, D., Slovic, P., Twersky, A., Judgement under Uncertainty Heuristics and
Biases, New York, N. Y., speziell für richterliche Entscheidungen Rolinkski, K., Die
Prägnanztendenz im Strafurteil, 1969; Haisch, J., Urteilsperseveranz in simulierten Straf-
verfahren, MschrKrim., Bd.62, 1979, S. 157ff.
Prognoseentscheidungen 263
VI.
Möglichkeiten für die Verbesserung prognostischer Entscheidungen
sind beim gegenwärtigen Entwicklungsstand durch eine Verbesserung
der Aggregation (Rekomponierung) der Einzelbeurteilungen und der
Nutzung subjektiven Wissens der betreffenden Experten zu erwarten.
Die Aggregation der Einzelbeurteilungen kann über ein formalisiertes
Modell vorgenommen werden, das sich auf theoretische Vorstellungen
über kognitive Prozesse beim Menschen oder auf normative Konzepte
rationalen Verhaltens stützt. Die Anwendung des Bayes-Theorems ist
für Entscheidungshilfeverfahren auf dem Boden normativer Konzepte
die bislang verbreitetste Formalisierung. Es schreibt vor, in welcher
Weise unsichere (probabilistische) Informationen zu verarbeiten sind,
wenn formalen Rationalitätskriterien genügt werden soll, die auf ele-
mentaren Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie beruhen30. Bisher ist
die Anwendbarkeit des Bayes-Theorems für Diagnoseverfahren in der
Medizin demonstriert worden", wobei der erforderliche Algorithmus
auf einem Computer programmiert wurde. Über ein Anwendungsbei-
spiel, das der Rückfallprognose sehr ähnlich ist, berichtet Gustafsori11.
Er entwickelte ein Prognosesystem, das Suizidgefährdung aufgrund von
Prädiktoren wie: Häufigkeit von Suizidgedanken, Entwicklung konkre-
ter Suizidpläne, Wahrnehmung, daß keine Chancen mehr bestehen,
persönliche Probleme zu bewältigen, vorhersagen sollte. Ein Vergleich
der Vorhersagegenauigkeit des Computers mit der von Psychiatern und
niedergelassenen Ärzten erbrachte folgende Werte:
Trefferquoten:
Computer Psychiater niedergel. Ärzte
Suizidversuch 68 % 40 % 34 %
kein Suizidversuch 94 % 86 % 87 %
30 Boreberding, Anm. 11, S. 141 ff; Aufsattler, W., Simple Modelle für komplexe Pro-
bleme? Zur Robustheit probabilistischer Prognoseverfahren gegenüber vereinfachenden
Modellannahmen. Diss. Phil. Mannheim 1985.
31 Mai, N., Hachmann, E., Anwendung des Bayes-Theorems in der medizinischen
Diagnostik, Metamed 1977, S. 161 ff; Wardle, A., Wardle, L., Computer-aided Diagnosis,
A Review of Research, Methodik der Information in der Medizin 17, 1978, S. 15 ff; Rogers,
W. et al., Computer-aided medical Diagnosis, Literature Review. Internat. J. Biomed.
Comp. 10, 1979, S. 267 ff.
32 Gustaf son, D. H., Greist, J. H. et al., A Probabilistic System for Identifying Suicide
35
Aufsattler/Geisler et al„ Anm.20 (1983).
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug
H A N S J O A C H I M SCHNEIDER
rolle haben, prägt entscheidend das Selbstbild der Frau und des Mäd-
chens, das ihr Verhalten steuert. Die eigene weibliche Rolle wird im
lebenslangen sozialen Prozeß symbolischer Interaktion gelernt. In die-
sem Wechselwirkungsprozeß wird auf das Verhalten des Partners nicht
nur reagiert, sondern das Verhalten und der Partner selbst werden auch
interpretiert und definiert. In diese Interpretationen gehen soziale Ste-
reotype über Geschlechtsrollenerwartungen ein. Die Interaktionspart-
ner haben Vorstellungen von dem, was weiblicher Lebensform ent-
spricht. Maßstab für weibliches Verhalten ist hierbei die Annahme, die
Mädchen und Frauen von den Geschlechtsrollenerwartungen ihrer
Interaktionspartner haben.
Der nordamerikanische Soziologe Talcott Parsons hatte 1947 schon
durchaus den richtigen Grundgedanken, als er herausarbeitete, daß den
Mädchen die Identifikation mit der Mutter als Rollenmodell leichter
gelinge, weil sie die Mutter und ihr Verhalten im Elternhaus viel häufiger
tagtäglich vor Augen hätten, als dies bei Jungen mit ihrem Vater der Fall
sei. Das Mädchen lernt auf diese Weise ihre Hausfrauen- und Mutter-
rolle. D e m Jungen wird es nicht so leicht gemacht. Er hat seinen Vater
meist nicht vor sich, dessen Arbeit und Beruf häufig kompliziert und
weniger sozial sichtbar sind. Das Mädchen hat eine bessere Chance,
gefühlsmäßig zu reifen. Aus einem „männlichen Protest" gegen eine
vorwiegend weibliche Erziehung erwächst beim Jungen - nach Parsons -
Delinquenz. Mädchen können sich demgegenüber nicht mit Diebstahl
und Vandalismus „beweisen". Denn die Rollenerwartung der Gesell-
schaft besteht für Frauen und Mädchen trotz des Wandels, in dem sich
die Frauenrolle befindet, immer noch vorwiegend darin, mit dem männ-
lichen Geschlecht gegenseitig zufriedenstellende Beziehungen anzu-
knüpfen und aufrechtzuerhalten (Albert K. Cohen 1955, 141/142). Ihrer
Position in der Gesellschaft entsprechend, erlernen Mädchen ihre weib-
liche Rolle, indem sie durch soziale Interaktion, insbesondere mit ihren
Eltern, die Rollenerwartungen, die die Gesellschaft an ein Mädchen
stellt, kennenlernen und sie in Interaktionsprozessen mit Hilfe von
Lerntechniken annehmen und erfüllen. Parsons' Rollenmodell gilt auch
für Töchter berufstätiger Mütter. Denn auch sie erfüllen meist neben
ihrer Berufsrolle ihre Hausfrauen- und Mutterrolle. Die Vaterrolle
besteht demgegenüber viel einseitiger in einer die Familie beschützenden
und erhaltenden Berufsrolle. Die weibliche Rollenerwartung orientiert
sich in unserer gegenwärtigen entwickelten Industriegesellschaft immer
noch an der traditionellen hegenden und pflegenden Rolle der Frau. Die
vorwiegende oder gar ausschließliche Berufsrolle der Frau stellt im
gesellschaftlichen Bewußtsein immer noch eine Ausnahme dar. Es ist für
die geringere Kriminalitätsbelastung der Frau entscheidend, daß Töchter
berufstätiger Mütter dieses soziale Stereotyp erlernen.
274 Hans Joachim Schneider
ginnen Freda Adler und Rita James Simon haben 1975 diese Entwicklung
auf die Emanzipation der Frau zurückgeführt. Ihre These lautet: In dem
Maße, in dem Frauen Zugang zu Berufen und wirtschaftlichen Positio-
nen bekommen, sind sie auch den Verantwortlichkeiten, Versuchungen,
Druckphänomenen und Entsagungen ausgesetzt, denen bisher nur Män-
ner unterworfen gewesen sind. Es trifft zwar zu, daß die rechtliche und
berufliche Gleichstellung der Frau immer größere Fortschritte macht. Es
mag aber bezweifelt werden, ob diese rechtliche und berufliche Emanzi-
pation eine Gleichheit in der tatsächlichen Teilhabe an gesellschaftlichen
Prozessen zur Folge gehabt hat. Die Berufstätigkeit der Frau ist in den
USA von 1960 bis 1970 von 34,8% auf 4 2 , 6 % gestiegen. Ähnliche
Entwicklungen zeigen sich in anderen Industrieländern, auch in der
Bundesrepublik Deutschland. Die Berufstätigkeit der Frau in Polen, die
mit 46 % einen sehr hohen Prozentsatz in den Industrieländern erreicht
hat, führte zwar zu einer Beteiligung der Frauen an der Berufs- und
Wirtschaftskriminalität von über 58 % . Ein ähnlicher Ablauf wird aus
Indien berichtet ( M . L . Bhanot, Surat Misra 1981). Der wesentlich
geringere Anteil der Frauen an der traditionellen Kriminalität, z. B. an
der Gewalt- und Sexualkriminalität, hat sich demgegenüber nicht grund-
legend geändert. Die polnische Kriminologin Danuta Berger Plenska hat
1981 diesen Umstand damit begründet, daß die rechtliche, berufliche
und ökonomische Gleichstellung der Frau in Polen keineswegs in glei-
chem Umfang für eine Umgestaltung ihres Lebensstils, ihres sozialen
und psychischen Selbstbildes, ihrer sozialen Rolle und ihrer weiblichen
Rollenerwartungen bestimmend gewesen ist. Obgleich eine sehr große
Anzahl von Frauen berufstätig ist, hat sich ihre Hausfrauen- und
Kindererziehungsrolle nicht wesentlich geändert. Das rührt einmal
daher, daß die weibliche Berufstätigkeit oft lediglich eine Erweiterung
ihrer traditionellen Geschlechtsrolle darstellt. Das ist zum anderen auch
darauf zurückzuführen, daß Frauen oft nur deshalb berufstätig sind,
weil sie die materielle Lebensqualität ihrer Familie verbessern wollen.
Die Doppelbelastung der Frau in Beruf und Haushalt läßt ihr nur wenig
Zeit zur Begehung von Kriminalität. Das ist ein Grund dafür, warum
sich die Änderung der Frauenkriminalität in Höhe und Struktur trotz
der sich im Wandel befindlichen Frauenrolle in engen Grenzen hält.
Eine weitere Ursache besteht darin, daß Ehe und Familie für die Frau
und das Mädchen immer noch Erfolg, gesellschaftliche Position und
Ansehen bedeuten. 87 % der jungen Mädchen räumen auch heute noch
ihrer Ehe und ihrer Familie höchsten Rang ein (Jocelynne A. Scutt 1976,
28).
Ökonomische, politische, medizinische und technologische Fort-
schritte haben Frauen zwar von ungewollten Schwangerschaften, von
Küchenpflichten und Kleinkinderpflege befreit, sie mit Berufsmöglich-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 277
keiten ausgestattet, die nur Männern vorbehalten waren, und sie mit
Körperkräften versehen, die früher nur Männer besaßen. Die weibliche
Rolle in der Gesellschaft hat dennoch ihre traditionelle Bedeutung und
ihren hohen Wert behalten. J e mehr sich das weibliche Rollenverhalten
freilich dem männlichen annähert, desto mehr wird sich auch die weibli-
che Kriminalität der männlichen angleichen. J e mehr sich die Rollen
ähneln, desto mehr wird sich der weibliche Kriminalitätsanteil vermeh-
ren und der männliche Kriminalitätsanteil vermindern (Darreil J. Stef-
fensmeier 1981 a, 52). Es ist im Rahmen der Aufgaben- und Arbeitstei-
lung innerhalb der Gesellschaft durchaus möglich, daß viele Männer
hegende und pflegende Rollen übernehmen, die traditionell mehr Frauen
vorbehalten waren. Die weitgehende rechtliche Gleichstellung der Frau
und ihr Einrücken in das Erwerbsleben haben aber weder zu ihrer vollen
sozialen Emanzipation noch zu einer weitgehenden Rollenangleichung
noch zu einer Gleichheit der Frauen- und Männerkriminalität geführt.
Frauen sind in deliktsriskante Handlungräume eingedrungen, die
früher Männern reserviert waren. Das hat sich in einem höheren Anteil
der Frauen an der Berufs- und Wirtschaftskriminalität ausgewirkt. Die
traditionelle Kriminalität der Frauen hat sich aber nur wenig verändert.
Zwar ist diese Kriminalität während der beiden Weltkriege in den
kriegführenden Staaten erheblich angestiegen. Diese Zunahme beruht
indessen nicht allein darauf, daß die Frauen die Männer in Beruf und
sozialer Stellung ersetzten, sondern vor allem darauf, daß die Frauen
durch den Krieg enormen psychischen, sozialen und ökonomischen
Anstrengungen und Belastungen ausgesetzt waren. Der Umstand, daß
sie während der Kriegsjahre in der Heimat männliche Rollen übernom-
men hatten, bewirkte keine grundsätzliche Umgestaltung der weiblichen
Rollenerwartungen in der Gesellschaft.
In den Nachkriegszeiten pendelte sich deshalb die Frauenkriminalität
in H ö h e und Struktur wieder auf den Vorkriegsstand ein. Die Rolle, die
die Frau in einer Gesellschaft spielt, hängt nicht nur von ihrer Rechts-
stellung und ihren Beschäftigungsbedingungen ab. Durch die Kinderer-
ziehung und durch ihren Einfluß auf ihren Mann und ihre Söhne kann
sie in der Gesellschaft eine große, freilich sozial weitgehend unsichtbare
Macht in mittelbarer Weise ausüben. Die japanische Kriminologin
Kinko Saito Sato hat 1981 erklärt, daß die stark strukturierte, kriminali-
tätsarme japanische Gesellschaftsordnung auf einer starken Mutter-
Sohn-Beziehung beruht. Die japanische Frau betrachtet ihren Ehemann
als ihren „großen Sohn". Weise läßt sie ihm die Illusion, daß er die
Entscheidungen allein fällt. In Wirklichkeit liegt eine der wesentlichsten
Ursachen dafür, daß Japan die entwickelte Industrienation mit der
geringsten Kriminalität ist, darin, daß Frauen ihren kriminalitätskon-
trollierenden Einfluß in mittelbarer Weise wirksam ausüben.
278 Hans Joachim Schneider
ten Gesellschaft zugewiesen werde und die sie als unbefriedigend emp-
finde. Eine moderne feministische Ansicht führt die Kriminalität der
Frauen und Mädchen auf eine doppelte Unterdrückung der Frauen
durch kapitalistische und patriarchalische Strukturen zurück (Elsbeth
Brökling 1980; Dietlinde Gipser 1980, 1981; Dorie Klein 1973; Dorie
Klein, June Kress 1976). Sie verbindet diese ökonomische Kriminalitäts-
theorie mit dem Etikettierungsansatz: Um die männliche Machthierar-
chie aufrechtzuerhalten, definierten Männer, die den staatlichen Sank-
tionsapparat beherrschten, Frauen und Mädchen als kriminell (Marie-
Andrée Bertrand 1979). Die so definierten Frauen, die ihre ihnen von
Männern zugewiesene „unterwürfige" Rolle nicht annähmen, fühlten
sich deshalb nicht als Personen, sondern als „Dinge", „Spielzeuge" und
„Instrumente", was die Entstehung ihrer Kriminalität begünstige
{Marie-Andrée Bertrand 1969). Diese feministische Auffassung kann
nicht den geringen Frauenanteil an der Kriminalität erklären. Sie steht
auch zu empirischen Forschungsergebnissen in Widerspruch, die gezeigt
haben, daß sich kriminelle Frauen weder als kapitalistisch und patriar-
chalisch unterdrückt noch als „objektiviert" empfinden und daß sie eine
ganz traditionelle Sicht von ihrer weiblichen Rolle haben (Ngaire Naffin
1981). Schließlich hat sich die Theorie der unterschiedlichen Zugangs-
chancen der Frauen auch nicht empirisch nachweisen lassen (Marguerite
Q. Warren 1982, 182; vgl. aber Susan K. Datesman, Frank R.Scarpitti,
Richard M. Stephenson 1975). Diese Theorie behauptete, Frauen und
Mädchen würden um so eher kriminell, je diskriminierter sie ihre soziale
Stellung und je eingeschränkter sie ihre sozialen Handlungskompeten-
zen als Frauen wahrnähmen. Die besonders hohe Arbeitslosigkeit der
Frau soll in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen (Joseph G. Weis
1976). Da die Frau auch heute noch dem Mann gegenüber benachteiligt
ist, kann die Theorie der unterschiedlichen Zugangschancen die Tatsache
nicht erklären, daß die Frauenkriminalität niedriger als die Männerkri-
minalität ist (vgl. aber Josefina Figueira-McDonald, Elaine Selo 1980).
Die Psychoanalytikerin Gisela Konopka hat 1966 erstmalig mit Recht
auf die besondere emotionale Empfindlichkeit des Mädchens hingewie-
sen, das unter gestörten Familienbeziehungen sehr stark leidet. Eine
Familie mit großen Spannungen unter ihren Mitgliedern kann dem
Mädchen kaum positive Modelle zum Erlernen jener Fähigkeiten bieten,
die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung stabiler und befriedigen-
der mitmenschlicher Beziehungen notwendig sind. Unter delinquenten
Mädchen sind deshalb übertriebene Einsamkeit, geringes Selbstwertge-
fühl, Entfremdung von Erwachsenen und die Unfähigkeit weit verbrei-
tet, Freundschaften mit Altersgenossen zu schließen (Mary Gray Riege
1972). Kriminelle Frauen haben oft ihre Mutter entbehren müssen; sie
haben offene oder versteckte elterliche Zurückweisung erfahren; sie sind
280 Hans Joachim Schneider
ren Personen, z.B. an Kindern, aus. Sie bleibt bei der Tötung keines-
wegs nur im Hintergrund. Oft tritt eine Überreaktion ein. Die Frau
tötet mit zehn, fünfzehn Schlägen, obgleich zwei oder drei für den
Eintritt des Todes ihres Opfers ausgereicht hätten. Eine einfache undif-
ferenzierte Persönlichkeit kommt in eine kriminogene, kriminalitätsver-
ursachende Überbelastungssituation, der sie nicht gewachsen ist. Eine
kontaktgestörte Frau, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hat und die
zu Impulsivität neigt, hat z . B . für eine hilflose, geistig oder körperlich
behinderte Person zu sorgen, obgleich sie ohnehin schon mit Arbeit
überbelastet ist. Diese Personensorge, die schwer auf ihr lastet, überfor-
dert sie, und sie entwickelt Feindseligkeitsgefühle ihrem Opfer gegen-
über. Sie entledigt sich schließlich dieser Person durch Tötung.
man 1971; Richard Quinney 1970, 1974, 1977; Austin T.Turk 1969)
argumentiert, daß die wirtschaftliche Macht des Tatverdächtigen oder
des Angeklagten ein wichtiger Faktor bei der kriminalpolizeilichen oder
richterlichen Uberzeugungsbildung ist: Je machtloser der Tatverdächtige
oder der Angeklagte ist, desto ungünstiger wird die Entscheidung der
Kriminalpolizei und der Strafgerichte ausfallen. Da Frauen in unserer
Gesellschaft machtloser als Männer sind, müßten die kriminalpolizeili-
chen und gerichtlichen Entscheidungen für Frauen nachteiliger als für
Männer sein. Das ist jedoch nicht der Fall.
- Die Ritterlichkeitstheorie knüpft an Otto Pollak 1950 an und
behauptet, die männlichen Kriminalpolizisten und Richter nähmen den
delinquenten Mädchen und kriminellen Frauen gegenüber eine väterlich-
beschützende Haltung ein, weil sie die Frauen als unmündige Kinder
beurteilten, die Hilfe, Rat und Anleitung benötigten. Denn sie seien
schwach, macht- und hilflos und „zu ihrem eigenen Schutz" auf Füh-
rung angewiesen (Elisabeth F. Moulds 1980). Diese Theorie verkennt die
Selbständigkeit und Tüchtigkeit der meisten Frauen, die den Männern
beruflich ernstlich Konkurrenz zu machen in der Lage sind.
- Die „Böse-Frau"-These nimmt an, daß Mädchen und Frauen nicht
nur wegen ihrer Straftaten härter bestraft werden, sondern auch deshalb,
weil sie Geschlechtsrollenstereotype verletzt hätten, die es Frauen ver-
biete, kriminell zu werden. Nach der „Bösen-Frau"-These werden
kriminelle Frauen als widernatürlich, als Hexen verurteilt, die der
Höflichkeit und des Schutzes nicht mehr würdig sind, die Männer
normalerweise Frauen entgegenbringen (Christine Rasche 1975, 15). Da
kriminelle Frauen von Kriminalpolizei und Gerichten nicht schlechter
behandelt werden als kriminelle Männer, ist die „Böse-Frau"-These
gegenstandslos.
- Mitunter wird die Ritterlichkeitstheorie zusammen mit der „Bösen-
Frau"-These vertreten: Kriminelle Frauen werden von männlichen Kri-
minalpolizisten und Richtern nur so lange bevorzugt behandelt, wie sie
in ihrem Verhalten den weiblichen Rollenerwartungen innerhalb der
Gesellschaft entsprechen (Christy A. Visher 1983). Frauen, die sich z.B.
reuig zeigen und weinen, werden milde behandelt. Haben sie allerdings
schwere, gefährliche („männliche") Straftaten begangen und benehmen
sie sich feindselig und aggressiv gegenüber der Kriminalpolizei und den
Gerichten, geht man mit unnachsichtiger Härte gegen sie vor (Ilene
H.Nagel, John Hagan 1983, 135, 136; Marlene Stein-Hilbers 1978).
Bisher fehlt es an ausreichenden empirischen Beweisen, daß Frauen und
Mädchen von Kriminalpolizei und Gerichten nur so lange milde beur-
teilt werden, wie sie sich weiblich verhalten, und daß sie ungünstige
Entscheidungen zu erwarten haben, wenn sie aus ihrer weiblichen Rolle
fallen.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 283
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290 Hans Joachim Schneider
A R T H U R KREUZER*
I. Einführung
Hilde Kaufmann hat mit dem Titel ihrer Studie von 1967 „Das Bild
der Frau im älteren kriminologischen Schrifttum" 1 bereits auf etwas
Grundsätzliches in der ebenso alten wie aktuellen Diskussion um Frau-
enkriminalität hingewiesen: In dieser geht es vorrangig nicht so sehr um
bestimmte Kriminalität und deren Erklärung als vielmehr um eine
Auseinandersetzung über das Bild von der Frau selbst. Ahnlich dient ja
seit alters Kriminalität überhaupt zugleich dazu, sich mit dem Bild vom
Menschen auseinandersetzen zu können - man denke etwa an Kains
Brudermord, die antiken Tragödien oder Dostojewskis Romane.
Das Bild der Frau ist seit eh und je mit einer Reihe von Attributen
positiver oder - meist - negativer Art verbunden; es schillert; es ist
widersprüchlich, ambivalent; es wandelt sich ständig. Solche Attribute,
Stereotypen, ja Vorurteile gehen - das darf wohl angenommen werden -
wesentlich auf Erfahrungen, Einstellungen und Wertungen von Män-
nern zurück. Sie weisen der Frau hier das Schöne, das Gute, Bildung
und Wärme zu, dort dagegen das Böse, die Falschheit, Schwäche und
mangelnde Intelligenz. Die Schöpfungsgeschichte läßt bei Moses - ver-
mittelt durch die List der Schlange und Eva - Adam sündig werden, ein
Verbot übertreten, aber auch zur Erkenntnis gelangen. In Goethes Faust
zieht uns - die Männer - das Ewig-Weibliche hinan; in Nietzsches
Jenseits von Gut und Böse zieht es uns hinab.
Womöglich noch deutlicher negativ war lange Zeit das Bild der Frau
in der Kriminalität, Kriminalitätskontrolle und Kriminologie getönt.
Das „Cherchez la femme!" im Roman „Les Mohicans de Paris" von
Dumas aus dem Jahr 1854 drückt ja nicht lediglich eine vermeintliche
Volks- bzw. Mannesweisheit aus, wonach sich hinter Bosheit und
Falschheit oft eine Frau verberge, vielmehr zugleich eine kriminalistische
scheint, als sei das Thema Frauen vorbehalten, zum anderen, weil sich
schon so viele auf diesem Feld bemüht haben und bemühen, ohne
nenneswerte neue Arbeitserträge vorweisen zu können. Zum ersten fällt
die Rechtfertigung weniger schwer: Ein partnerschaftliches Verständnis
von Mann und Frau verbietet es, bestimmte Berufe oder auch nur
bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen dem einen oder anderen
Geschlecht zuzuweisen oder vorzubehalten. Vielleicht können männli-
che Kriminologen, die sich dem Thema widmen, zugleich ein neueres
Vorurteil entkräften, man habe sich ihm nicht genügend gewidmet aus
Verachtung, „weil Frauen ja eigentlich noch nicht einmal richtig krimi-
nell sein können und deshalb die Beschäftigung mit diesem Problem
überflüssig sei" 5 . Zum zweiten fällt eine Rechtfertigung schwerer: Wenn
eine schier inflationäre Literatur zu dem Thema so wenig ertragreich
erscheint, warum dann ein weiterer Beitrag, obwohl dieser keine neuen
Erkenntnisse versprechen kann? Uberhaupt ist Skepsis angebracht,
wenn man es als kriminologischen Erkenntniszuwachs wertet, alte Vor-
urteile in der Beurteilung der Frau in Kriminalität und Kriminalitätskon-
trolle entlarvt zu haben; ist es nicht weit eher ein allgemeiner Wandel des
Bildes von der Frau, dem sich auch Kriminologen nicht haben verschlie-
ßen können?
In der Tat geht es in diesem Beitrag lediglich um den Versuch, die
theoretische Diskussion wieder mit fast banaler Wirklichkeit - soweit sie
meßbar erscheint - zu konfrontieren und dabei zu verhindern, daß an
die Stelle überholter neue Vorurteile treten. So werden im II. Teil zwei
Teilaspekte - die Geschlechterverteilung im Dunkel- und im Hellfeld -
aufgrund kleinerer empirischer Untersuchungen erörtert, um bekannte,
aber immer wieder angefochtene frühere Befunde gegen neuerliche
Kritik abzusichern; und im III. Teil sollen einige Konsequenzen für die
Theoriedebatte angedeutet werden.
ten Kriminalität steht außer Streit. Die offene Frage lautet: Ist die Frau
auch im Dunkelfeld, d. h. in der tatsächlichen Kriminalität - unabhängig
von deren Bekannt- und Verfolgt-Werden erheblich geringer belastet?
In Frühzeiten wissenschaftlichen kriminologischen Bemühens wurde
die Meinung von einer deutlichen Ungleichverteilung, einer geringen
Kriminalitätsbelastung der Frau vertreten. Freilich gab es noch keine
Dunkelfeldforschung, so daß man die Ungleichverteilung im Hellfeld
der im Dunkelfeld weitgehend gleichsetzte, wenn man sich der Möglich-
keit einer solchen Unterscheidung überhaupt bewußt war.
Doch war gelegentlich auch schon von einer Gleichverteilung zu
lesen. Namentlich Lombroso/Ferrero vermuteten ein neuerdings wieder
behauptetes spezifisch weibliches Dunkelfeld. Besonders stelle die weib-
liche Prostitution ein Verhalten dar, welches das größere Ausmaß ver-
folgter männlicher Kriminalität kompensiere. Und dieses Verhalten
entspreche der weiblichen Anlage. Allein eine solche Erklärung läßt sich
aus heutiger Sicht als ein Mythos unter zahlreichen Mythen um die
Frauenkriminalität und Kriminalität schlechthin entlarven. Der so ange-
stellte wägende Vergleich von Deliktstypen hinkt in vielerlei Hinsicht.
Zum einen ist Prostitution nicht überall als Straftat definiert und gewich-
tet, also qualitativ durchaus von männertypischer Kriminalität, zumal
Gewaltkriminalität, zu unterscheiden. Zum zweiten müßte der Ver-
gleich konsequent Verhaltensweisen wie männliche Prostitution und
Homosexualität in die Abwägung einbeziehen. Will man Prostitution
überhaupt wägen, sie quantitativ und qualitativ so außerordentlich
gewichten wie Lombroso/Ferrero, dann darf man zum dritten männliche
Verhaltensweisen im Zusammenhang mit weiblicher Prostitution nicht
außeracht lassen, ohne sich dem Vorwurf männlicher intellektueller
Unredlichkeit auszusetzen. Zu diesen Personen und Verhaltensweisen
gehören aber: die entsprechenden Kunden oder „Freier", ferner die in
ihrer sozialen Gefährlichkeit oftmals unterschätzten „Beschützer" oder
„Zuhälter", die Betreiber von Bordellen, die Hintermänner von organi-
siertem Nachtleben und Vergnügungsgewerbe. Gerade in diesem
Bereich tendiert jedoch das Dunkelfeld noch weit näher zum Ausmaß
von 100 % als bei Prostitution, selbst dort, wo sie als Straftat gilt.
Unter Berufung namentlich auf die Studie von Waller stein/Wyle
(1947) griffen 1950 vor allem Pollakb und neuerdings hierzulande Leder1
' Vgl. z.B. F. I. Nye/J.F. Short/V.J. Olson, Socioeconomic Status and Delinquent
Behavior, American Journal of Sociology 1958 S. 381 ff.
' Dies wurde schon zu recht von L.Keupp (MschrKrim 1983 S. 176 f) moniert; die
Kritik muß nach der neueren Literaturstudie von Leder wiederholt werden. Ebenso hatte
bereits weit früher H. Mannheim (Vergleichende Kriminologie 1965, deutsch Stuttgart
1974 S. 834) auf die mangelnde empirische Plausibilität der Gleichverteilungsthese von
Pollak hingewiesen.
296 Arthur Kreuzer
Übersieht 1
Geschlechterverteilung nach Häufigkeit und Schwere erfragter Delinquenz
Befragung bei Studienanfängern der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in
Gießen im WS 1984/85 und 1985/86
?\
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1 00 1 1 0 1 20 1 30 1 10 150 160 170 180 190 2 0 0 300 400 500 600 700 800 884
Delinquenzbelastungspunkte
1. 1 1 , 4 % der männlichen, 34,1 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 0 - 1 2 Delinquenzbelastungspunkte (DBP) = „schwache Delin-
quenzbelastung".
2. 58,5 % der männlichen, 57,0 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 12,5-76,5 D B P = „mäßige Delinquenzbelastung".
3. 30,1 % der männlichen, 8 , 9 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 77-884 D B P = „starke Delinquenzbelastung".
Cherchez la femme? 299
15 Zu Methodenfragen A.Kreuzer (oben Fn. 12) insb. 1975a und b, 1978, 1980; dort
jeweils weitere Nachweise.
14 A.Kreuzer (oben Fn. 12) 1975a.
300 Arthur Kreuzer
16 Vgl. insb. A. Kreuzer (oben Fn. 12) 1975 a und 1980 (S. 385 ff, 388 ff), jeweils mit
Schrifttumsnachweisen.
17 Die Umstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik auf eine „bereinigte Tatverdächti-
genzählung" 1983 wirkt sich allerdings rein optisch zuungunsten der Frauen aus: Da
männliche Tatverdächtige häufiger mehrmals wegen gleicher Delikte im selben Jahr
auffallen, jedoch jetzt nur noch einmal gezählt werden, fallen zwangsläufig Frauenanteile
höher aus: Vor der Umstellung 1982 lagen sie bei 19,9% aller Tatverdächtigen, 1984
dagegen bei 2 3 , 6 % . Auch diese statistische Täuschung belegt indes, daß Männer bei
wachsender Häufigkeit stärker vertreten sind. In die gleiche Richtung weisen etwa
kriminalstatistische Befunde über sog. „Mehrfachtäter" (mindestens zweimal im Jahr und
302 Arthur Kreuzer
Soweit erkennbar, weicht eine einzige Dunkelfeldstudie von diesem Befund ab. Gipser
befragte 112 der Polizei aufgefallene Mädchen nach tatsächlicher Delinquenz und
verglich die Ergebnisse mit denen einer Kontrollgruppe von 125 polizeilich nicht
aufgefallenen. Zwar lagen die angegebenen Delinquenzraten durchweg in der Auffälli-
gengruppe höher, doch wurden die Unterschiede als nicht signifikant bezeichnet. Aus
den Ergebnissen wurde gefolgert, Mädchen aus der Mittelschicht seien gleichermaßen
delinquenzbelastet wie Mädchen aus der Unterschicht - und „wahrscheinlich nicht viel
weniger delinquenzbelastet als Jungen" - , jedoch würden „Mädchen aus der Unter-
schicht mit größerer Wahrscheinlichkeit von offiziellen Sanktionsinstanzen registriert".
Gipser hält neuerdings an dieser Interpretation fest trotz aller entgegenstehenden
Befunde der sonstigen Dunkelfeldforschung und der gegen die Studie vorgetragenen
grundlegenden methodischen Bedenken". Die Befunde stehen - wie geschildert - in der
Dunkelfeldforschung allein. Methodische Bedenken sind früher schon eingehend dar-
Pattern of Convictions? In: Home Office Research Bulletin 1984 S. 39 ff; für Canada: I. A.
Gomme et al. (oben F. 11).
" D. Gipser, (oben Fn. 7) insb. S. 127; jetzt dies., Kriminalität der Frauen und Mäd-
chen, in: H.-J. Schneider (Hrsg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten, Weinheim/
Basel 1983 Bd. 1 S. 427 ff, 438 f.
Cherchez la femme? 303
Übersicht 2
Delinquenzbelastung und Polizeiauffälligkeit
Befragung bei Studienanfängern der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in
Gießen im WS 1984/85 und 1985/86
n Polizeiauf- Delinquenzbe-
fälligkeit lastung stark
6 227 38.3
Delinquenzbe-
lastung stark
9 53 18.9
<J 86 4.7
Delinquenzbe-
lastung schwach
9 203 3.4
empirische Bestätigung des „labeling approach" vgl. A.Kreuzer (oben Fn. 12) 1980
S. 385 ff, 388 ff mit Nachw.
23 Vgl. z.B. das einzige kriminologische Lehrbuch der DDR von ]. Lekschas / H. Harr-
land/ R. Hartmann IG. Lehmann, Kriminologie, Berlin 1983, welches die Frauenfrage
überhaupt nicht berührt.
24 Auch bei F. Sack (z. B. Selektion und Kriminalität, Kritische Justiz 1971 S. 384 ff und
Probleme der Kriminalsoziologie, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozial-
forschung Bd. 12, 2. Aufl. Stuttgart 1978 S. 192 ff, sucht man vergeblich nach einer
Thematisierung.
25 F.Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 4.Aufl.
Stuttgart 1892, in: K. Marx / F.Engels, Ausgewählte Werke, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1972
S. 88 f. Dies wird in neuerer Frauenliteratur gern übernommen: Vgl. z.B. S.Firestone,
Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a.M. 1981.
Cherchez la femme? 305
26 Nachweise bei S.Box, Power, Crime and Mystification, London, New York 1983
S. 165 ff, 169 f.
27 A. Schwarzer, Männerjustiz, in: dies., Mit Leidenschaft, Texte 1968 bis 1982, Rein-
bek 1982 S. 208 ff, 208.
306 Arthur Kreuzer
Viele haben sich der These angeschlossen29. Aber wohl wenige haben
sie - in deutscher Gründlichkeit - so auf die Spitze getrieben wie Dürkop
und Hardtmann und zwar unter Berufung auf eine marxistische Sicht,
nämlich die Annahme doppelter gesellschaftlicher Unterdrückung von
Frauen:
„Es ist sicherlich richtig, daß häufig Richter ritterliches Verhalten zeigen. In Wirklich-
keit ist diese Ritterlichkeit jedoch eine versteckte Form von Frauenfeindlichkeit, die
sich in Etiketten und Ritualen erschöpft, statt für eine echte Emanzipation der Frauen
einzutreten. Daß sich männlicher Chauvinismus in Gegenwart von Frauen in Ritter-
lichkeit umkehrt, wurde ebenso festgestellt wie ein Zusammenhang von ritterlichen
Einstellungen der Männer mit autoritären, ethnozentrischen und faschistischen Syn-
dromen30."
quent sind, ferner in erster Linie Häufigkeit und Schwere der Delikte für
Art und Ausmaß der Strafverfolgung den Ausschlag geben, nicht frauen-
spezifische Verfolgungsstrategien. Ebenso darf man empirische Unter-
suchungen erwähnen, welche eindeutige geschlechterspezifische Straf-
verfolgungstendenzen nicht haben belegen können31.
Erscheinen pauschale Behauptungen frauenfeindlicher Strafverfol-
gung - im Zusammenhang bald mit rigiderer, bald mit bewußt nachsich-
tiger Selektions- und Sanktionspraxis - unhaltbar und eher dazu geschaf-
fen, eine Theorie aufrechtzuerhalten, so bleibt dennoch die Frage beste-
hen, ob es geschlechterspezifische Verfolgungsstrategien gibt. Wie bei
nahezu allen kriminologischen Erklärungen enthalten ja noch so einsei-
tige Modelle durchaus tragfähige Elemente. Und wie allenthalben ist ein
einziger theoretischer Ansatz nicht imstande, umfassende Erklärungen
zu bieten. Selbst wenn also Häufigkeit und Schwere der Straftaten
wichtigste Kriterien für Verfolgungswahrscheinlichkeit und Sanktions-
strenge bilden, bleibt Raum für zusätzliche Einflußfaktoren. Unter
diesen könnten auch geschlechterspezifische Strategien bedeutsam sein.
Ein derartiger Erklärungsansatz müßte freilich sehr differenziert sein.
Ohne hier ein ausdifferenziertes Erklärungsmodell anbieten zu wollen
oder gar empirisch überprüfen zu können, seien wenigstens einige
Erklärungsdimensionen aufgezeigt:
- Geschlechterspezifische Verfolgungsstrategien können ambivalent
sein, je nach dem Geschlecht von Verfolgern und Verfolgten. Daher
ist zuerst zu unterscheiden, ob Männer (als Polizisten, Staatsanwälte,
Richter) Frauen verfolgen oder Frauen männliche Beschuldigte oder
Frauen weibliche Beschuldigte oder Männer männliche Beschuldigte.
Denkbar ist ja zum Beispiel, daß Frauen härter über Frauen urteilen
als Männer und umgekehrt32. Aber auch das Gegenteil ist möglich:
Mehr Verständnis von urteilenden Frauen über Beschuldigte ihres
Geschlechts33. Statistisch läuft dies - wie so oft — auf die Schwierigkeit
hinaus, daß sich beide Tendenzen „aufheben" könnten, also bei
Anwendung üblicher messender Methoden nicht nachweisbar wären.
Um die Differenzierung weiterzutreiben: Denkbar ist weiterhin, daß
31 Vgl. z . B . D.A. Curran, Judicial Discretion and Defendant's Sex, Criminology 1983
S.41 ff; C.A. Visher, Gender, Police Arrest Decisions, and Notions of Chivalry, Crimino-
logy 1983 S. 5 ff; E. Blankenburg / K. Sessar/W. Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß
strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1978 S. 193 ff.
32 Vgl. z . B . S.Box/C.Hale, Liberation/Emancipation, Economic Marginalization, or
Tätern will z.B. L. Crites (Women offenders: Myth vs. Reality, in: dies, (ed.) The Female
Offender, Lexington 1976 S. 33 ff) nachweisen. In die gleiche Richtung weisen M.D.
Krohn et al„ Is Chivalry Dead?, Criminology 1983 S.417ff.
Drugs in Latin America and the World Crisis
- Initial Considerations -
ROSA DEL O L M O
A. Introduction
Generally, when one discusses drugs, the immediate association is
with substances capable of disturbing the psychic - and even physical
condition of human beings. But not all substances with such qualities are
classified in this way. An additional necessary condition for considering
them drugs is their illegality. Thus, drugs belong to the field of the
uncontrollable, often unknown and mysterious, object of irrational
fears. Furthermore, the existence of abundant literature saturated with
moral prejudices, false and sensational revelations which distort reality,
etc., has encouraged us to smother the real problems with an aura of
phantasy and mystery. This situation stimulates drug use (and abuse)
while maintaining discussions at a pre-scientific level, dominated mainly
by fear.
1. Different Official Approaches to the subject
The analysis of drug literature published in the last forty years shows
interesting changes in the way the subject is approached.
In the fifties, the "drug world" was limited to marginal individuals. In
the United States for instance, it was considered characteristic of ghetto'
inhabitants, jazz musicians, etc. In Venezuela, it was thought typical of
"barrio" people and specially of criminals. In other words, drugs were
used by society's "outsiders".
In the sixties, the situation changed. The subject began to be presented
as a fight of epic proportions between good and evil. Drugs and evil
became synonimous and had to be fought in order to preserve the "good
society". Essential, however, was the fight itself. At that moment, the
moral aspect of the problem was considered of central importance.
In the seventies, drugs and the fight against them were no longer so
important. Attention turned to "the individual who used drugs" in order
to find out why he did so and try to prevent him from doing it again.
There were too many well-to-do young people involved in it, specially
in US society. Venezuela experienced the same situation although less
intensely. It became fashionable to distinguish two types of people: the
310 Rosa del Olmo
1 See my book La Sociopolitica de las Drogas, Caracas, FACES, UCV, 1975 (second
edition, 1985).
2 For more details see my book mentioned above.
3 Many books exist on this. For example, Alfred W. McCoy, The Politics of Heroin in
Southeast Asia, New York, Harper, 1972, or Catherine Lamour and Michael Lamherth,
La Nueva Guerra del Opio, Barcelona, Barral, 1973. More recently, Sebastian Scheerer,
"The Popularity of the Poppy", V. Conference of the European Group for the Study of
Deviance and Social Control, Barcelona, Spain, 1977.
Drugs in Latin America 311
4
Basuco comes from coca base paste. It is produced in a very primitive fashion and
instead of ether, kerosene or oil is used as a solvent which increases its toxic effect. It is
smoked rather than inhaled and much cheaper than cocaine.
312 Rosa del Olmo
of pills produced in great scale in the big labs of the developed countries,
but used each day more in greater quantities in Third World countries5.
The drug traffic is no longer directed only to the developed countries.
There is now a two-way process since what is important is the creation
of new markets on a world scale. That explains in part the substitution of
one drug for another as well as variations in users' demands. Also
another aspect closely connected with the problem is what happens in
drug producing regions. Since we are dealing with illegal merchandise, it
is easier that at a particular moment one or another drug be withdrawn
from the market. Many examples illustrate this fact; among them the
occasion when the Mexican Government decided to stop marihuana
cultivation in 1976 as a result of US pressure. While this was happening,
there were marked oscillations in offer and demand until a new region
for production was developed: in this case, the Colombian Guajira
region.
5
See in this sense, "Rise of the Third World Junkies", SOUTH, The Third World
Magazine, London, February, 1984, p. 12.
Drugs in Latin America 313
6
Sergio Aranda and Fernando Porta, "Crisis Mundial y transformaciones en América
Latina", Cuadernos del CENDES No. 1, 2a época, septiembre-diciembre, 1982, Caracas,
p.10.
7
José Cervantes Angulo, La Noche de las Luciérnagas, Bogotá, Plaza & Janes, 1980,
p.21.
314 Rosa del Olmo
8 Ibid., p. 23.
' Benjamin Losada Posada, Economía subterránea o el imperio del contraderecho en
Colombia, Bogotá, s/f., p. 9.
Drugs in Latin America 315
capitalist world system, one lords of the world economy, the other lords
of its territories10."
This statement applied to a transnational corporation dealing with an
illegal merchandise such as marihuana could provoke the objection that
the Nation-State's ruling elites don't have to be aware of this type of
activity. Moreover, the tendency is to refer to it as an "underground
economy" or a "State within the State". However, it is worthwhile
recalling the words of a dope industry's quality control expert, pub-
lished in the American Journal High Times", "You don't grow a field
with a million pounds unless you know you've got pretty good protec-
tion from the government and you've got a perfect way to sell it12."
Also, it is important to remember the words of a Colombian author,
Jose Cervantes Angulo when writing about the situation in Colombia's
Guajira region: "From Puerto Lopez to Puerto Estrella, I saw at least
two hundred secret landing strips which the Colombian Air Force knew
about", and later on he adds: " H o w is it possible that the Colombian
authorities didn't notice the building of these airports? Or was it that
they didn't take the necessary repressive steps at the time 13 ?"
It is a complex subject to study, but it seems that the transnational
corporation has the last word even when dealing with illegal merchan-
dise. Again we want to quote Marlene Dixon, when she says: "All
bourgeois states need the transnational, but the transnationals do not
need all bourgeois states... The bourgeois nation-state must survive as
best it can and it may prosper or not depending upon its relation to the
world economy and its accomodation to the demands of the transna-
tional with enterprises located within its borders 14 ."
The recent history of marihuana seems to fit the case particularly well
if we examine Jamaica as a nation-state which at present depends for its
survival to a great extent on its marihuana production; or the more
recently known case of the Nation-state of Belize with a marihuana
production estimated in 100 million dollars and one of its former
Cabinet Ministers arrested recently in Miami by Drug Enforcement
10
Marlene Dixon, "Dual Power: The rise of the Transnational Corporation and the
Nation State", Contemporary Marxism, San Francisco N o . 5, 1982, p. 139.
11 Here it is important to remember that this journal is part of what we have been
talking about. It was founded in 1974 dedicated to promote drugs and has a monthly
production of 400,000 issues. It belongs to a Trust which sets the line and is in charge of
the economic aspect. It is sold free of restrictions at any stand in the US.
12 "The Dope Taster", Interview, The Best of High Times, Vol. Ill, 1978-79, p. 91.
15
Jose Cervantes Angulo, La Noche de las Luciernagas, ob. cit., pp. 103-104.
14
Marlene Dixon, op. cit., p. 139.
316 Rosa del Olmo
15
D. Frazier, "La marihuana desplazó al azúcar en Belice", El Nacional, Caracas, April
10,1985. Also UPI, "Former Belize Official charged with plot to smuggle marijuana", The
Daily Journal, Caracas, April 9, 1985.
" Grádela Chichilnisky & Richard Falk, "United States and Latin America: Conflict
and Conflict Resolution in a Changing Economy Environment", Seminario Internacional
"Impacto de la Crisis económica mundial sobre la paz y la seguridad de América Latina",
Caracas, March, 1985.
17
Sergio Aranda & Fernando Porta, op.cit., p. 17.
Drugs in Latin America 317
18 "Mind-Benders: new menace", SOUTH, The Third World Magazine, London, Feb.
1984, p. 12.
" Ted Cordova Claudet, "Washington contra la droga", El National, Sept. 30, 1984.
20 It's interesting to point out here how drugs also have their stock market. The Journal
High Times for example, publishes each month a section called TRANS-HIGH MARKET
QUOTATIONS where it offers detailed prices of each drug in different countries next to a
column called "Trans-high market analysis". When the Journal's ten year anniversary in
June 1984, it published a section comparing prices with 1974 and complaining about the
increase in prices!
21 The price fall is also observed up drug-production countries. For example, in 1981, a
kilo of basic paste to elaborate cocaine was sold in Bolivia at $5,000 while in 1983, it was
worth only $700.
318 Rosa del Olmo
Chart 1
Value in Dollars per Kilo of Cocaine
City Year
1983 1984
22 American tax officials estimate that each year they lose 9 billion dollar in money
laundrying of illegal sources. Cocaine seems to be one of the main causes of this situation.
Payments are made with cocaine and it seems that it substitutes gold in certain transactions.
We already hear of coca bank deposits as we used to hear previously of gold deposits. This
great flow of cocadollars goes to the tertiary sector of the economy and does not contribute
to national productive investment. That is, money is invested in hotels, luxurious cars,
Miami mansions, in buying bank shares, etc.
Drugs in Latin America 319
23
Rafael Cartay, "Geopolitica de la Cocaina", Mérida, Universidad de los Andes, s/f.,
p.21.
Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan*
KOICHI MIYAZAWA
* Der vorliegende Text enthält die mit Fußnoten versehene Wiedergabe eines Referats,
das der Verfasser am 22.8.1985 auf der Viktimologentagung in Zagreb in verkürzter Form
vorgetragen hat. Die Vortragsform wurde beigehalten.
1 Vgl. dazu Lopez-Key, The Victim of Crime, präsentiert auf der interregionalen
vorbereitenden Tagung für den UNO-Kongreß über die Verhütung von Verbrechen und
die Behandlung der Straffälligen, Ottawa, 9.-13.Juli 1984, und den Report of the
Interregional Preparatory Meeting for the Seventh United Nations Congress on the
Prevention of Crime and the Treatment of Offenders on Topic III: „Victims of Crime",
Ottawa 9-13 July 1984. United Nations General Assembly, A / C O N F . 121/IPM/4. 10
September 1984, §§68, 69.
2 Im Laufe der Zeit wurden dabei immer mehr Bereiche der Viktimisierung erfaßt. Bis
zum Jahre 1967 liegen Daten über erlittene Schadenshöhe und Art bei Vermögensdelikten
(Raub, Erpressung, Diebstahl, Betrug und Unterschlagung) vor, vom Jahre 1968 an
kommen Daten über die Anzahl der Opfer von Delikten gegen die Person hinzu (Körper-
verletzung, vorsätzliche und fahrlässige Tötung). Seit 1972 sind Angaben über Alter,
Geschlecht und Beruf der Opfer in verschiedenen Deliktskategorien vertreten. Sehr ins
Detail gehende Daten, wie z. B. provozierendes Verhalten des Opfers bei Delikten gegen
die Person bzw. Art der Beziehung zwischen Täter und Opfer in einigen Deliktsarten sind
vom Jahre 1979 an vermerkt.
5 In Japan gibt es z. Zt. zwei in englischer Sprache herausgegebene Berichte über
Kriminalität und ihre Bekämpfung. Seit 1963 wird von der japanischen Regierung das
„Summary of the White Paper on Crime" veröffentlicht, in dem leider keine Angaben über
Opfer enthalten sind, während die National Police Agency seit 1982 das „White Paper on
Police (Excerpt)" herausgibt, das jedoch außer kurzen Angaben über das Entschädigungs-
system für Verbrechensopfer ebenfalls keine Opferdaten enthält.
322 Koichi Miyazawa
Bei der Darstellung dieser Daten muß ich mich jedoch aus Raumgrün-
den auf die Aufzählung einiger Hauptpunkte der japanischen Kriminal-
statistik, die viktimologisch relevant sind, beschränken. Diese sind:
1. Klassifizierung weggenommener Gegenstände nach Vermögensde-
likten4,
2. Schadenshöhe bei Diebstählen je nach Begehungsart 5 ,
3. Schadenshöhe bei Vermögensdelikten außer Diebstählen,
4. Klassifizierung der Opfer von Delikten gegen den Einzelnen ein-
schließlich erfolgsqualifizierter Delikte nach Geschlecht, Alter,
Beruf,
5. Verhalten bei der Straftat7 und Beziehung zum Täter 8 .
Mit Hilfe dieser Angaben lassen sich Tendenzen der Opferwerdung,
Täter-Opfer-Beziehungen und Viktimisierungsprozesse genauer er-
fassen.
Im folgenden möchte ich insbesondere auf die Opfer von Straßenver-
kehrsdelikten in Japan sowie deren Viktimisierung näher eingehen.
Die einschlägigen Daten stammen aus der Sonderstatistik „Statistik
des Straßenverkehrs", die vom Verkehrsdezernat des Polizeipräsidiums
herausgegeben wird 9 .
Die Ausgabe von 1985 enthält folgende Abschnitte:
1. Entwicklung und gegenwärtige Situation des Straßenverkehrs,
2. Entwicklung und gegenwärtige Situation der Verkehrsdelikte;
3. Verkehrsunfälle im Jahre 1984,
4. Kontrolle von Verkehrsverstößen ( z . B . Geschwindigkeitskon-
trollen),
5. Verkehrsregelung,
4 Es handelt sich hier um Deliktsarten wie Raub, Erpressung, Diebstahl, Betrug und
typus wird wieder in verschiedenen Kategorien unterteilt, wie z. B. Einbruch bei Abwe-
senheit bzw. Anwesenheit der Bewohner, in Hotels, in Behördengebäuden, Schulen und
verschiedenen Anstalten. Der andere Typus umfaßt Diebstähle an und aus Fahrzeugen und
andere Nicht-Einbruchsdelikte.
6 Umfaßt Delikte wie z . B . vorsätzliche und fahrlässige Tötung, Raub, Notzucht,
1. Fußgänger
Die Opferrate der verschiedenen Verkehrsteilnehmer ist im interna-
tionalen Vergleich recht unterschiedlich. Es dürfte z. B. kennzeichnend
für die Verkehrssituation in den verschiedenen Ländern sein, in welchem
Maße Fußgänger der Gefahr einer Viktimisierung ausgesetzt sind. Dies
läßt sich anhand der einschlägigen Vergleichsmaterialien aufzeigen. (Vgl.
hierzu Tabelle 1.
(1980-1984) beträgt: sonntags 123; montags 113; dienstags 107; mittwochs 97; donnerstags
101; freitags 116; samstags 139.
326 Koichi Miyazawa
3. Schlußbemerkung
Der von mir gegebene kurze Uberblick über die Viktimisierung im
Straßenverkehr in Japan, wie sie sich in der Statistik darstellt, berechtigt
12
Aus den Daten über Verkehrstote und -verletzte kann man etwa ersehen, wieweit die
Entwicklung der betreffenden Industrie- bzw. Satellitengebiete durch Industrialisierung
und Urbanisierung vorangeschritten ist. Wie im Text erwähnt, verkehren auf schmalen
Straßen schwere Lastwagen und Zugmaschinen. In Neubaugebieten werden Einrichtungen
für Fußgänger wie z. B. Fußgängerzonen, Fußgängerbrücken und Geländer zum Schutz
von Fußgängern zuletzt, also erst nach beendigter Urbanisierung des gesamten Gebiets,
eingerichtet bzw. erstellt.
Viktimisierung im Straßenverkehr 327
2, 284 ff.
6 Vgl. A. Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung. Ihre Bedeutung für Wissenschaft
und Unterricht. Tübingen 1914.
330 Wolfgang Heinz
Fortschritten der Wissenschaft nicht durchweg gefolgt sein dürfte"7. Die strafrechtli-
chen Fachvertreter beurteilten dies noch skeptischer. 1950 stellte W. Sauer fest: „Es ist
unbegreiflich, daß die Juristen bisher so wenig die Bedeutung kriminologischer Arbei-
ten und Erkenntnisse für die Strafjustiz eingesehen haben... Auch ein theoretischer
Ausbau beider Teile des Strafrechts . . . sollte künftig mehr im Hinblick auf kriminolo-
gische Ziele erfolgen..., soll die Strafrechtswissenschaft nicht in wertlose logische
Konstruktionen oder unfruchtbare historische Rückblicke ausarten... Künftig ist das
gesamte Strafrecht, Gesetzgebung, Rechtsprechung, besonders Strafbemessung und
Vollzug, nicht zuletzt der Rechtsunterricht, kriminologisch anzulegen8." In seiner
Freiburger Antrittsvorlesung von 1955 forderte Th. Würtenberger die Strafrechtsdog-
matiker auf, „den ,Durchbruch zur Wirklichkeit' (zu) wagen"'. Er konstatierte:
„Allzulange hat sich die deutsche Strafrechtswissenschaft mit dogmatisch oft recht
unfruchtbaren Problemen, ja oft mit Spitzfindigkeiten aufgehalten, statt sich stärker
von den Impulsen zur Kriminalpolitik auf der gesicherten Grundlage kriminologischer
Forschung leiten zu lassen... Die offenkundige Unsicherheit im Methodischen sowie
die Brüchigkeit im Systematischen sind dafür mitverantwortlich, daß die Kriminologie
noch nicht in dem notwendigen Umfang zur festen Grundlage der modernen Straf-
rechtspflege und zur eigentlichen Domäne der Strafrechtswissenschaft geworden ist10."
(BGBl. I S. 1557).
Juristenausbildung und Kriminologie 331
fungsstoffes in d e n landesrechtlichen A u s b i l d u n g s - u n d P r ü f u n g s o r d -
n u n g e n . N e b e n die traditionelle G r u n d f o r m der zweistufigen A u s b i l -
dung trat - zeitlich befristet 1 5 - die einstufige Ausbildung, d u r c h die
Reformerfahrungen für eine spätere bundeseinheitliche Uberprüfung
a u c h d e r z w e i s t u f i g e n J u r i s t e n a u s b i l d u n g g e w o n n e n w e r d e n sollten.
U n a b h ä n g i g v o n dieser auf einer Ä n d e r u n g des B u n d e s r e c h t s - E i n f ü -
g u n g d e r s o g . E x p e r i m e n t i e r k l a u s e l ( § 5 b A b s . 1 a. F . D R i G ) - b e r u h e n -
den R e f o r m w u r d e parallel h i e r z u d u r c h landesrechtliche R e g e l u n g e n
a u c h die zweistufige Ausbildung neu strukturiert m i t d e m Ziel, die
A u s b i l d u n g z u intensivieren, T h e o r i e u n d P r a x i s z u integrieren, andere
W i s s e n s c h a f t e n in das r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e S t u d i u m einzubeziehen
s o w i e d e n L e h r s t o f f n e u aufzuteilen. N a m e n t l i c h d u r c h die Differenzie-
rung des Lehr- und Prüfungsstoffes in Pflicht-, Wahl- und Grundlagen-
fächer w u r d e v e r s u c h t , das S t u d i u m d u r c h S t o f f a b s c h i c h t u n g z u entla-
sten, z u einer e x e m p l a r i s c h e n wissenschaftlichen V e r t i e f u n g z u f ü h r e n ,
die h i s t o r i s c h e n , p h i l o s o p h i s c h e n u n d sozialwissenschaftlichen Grund-
lagen des R e c h t s s t ä r k e r z u r G e l t u n g z u bringen s o w i e eine gewisse
fachliche Spezialisierung i m H i n b l i c k auf berufliche Interessen z u er-
möglichen16.
Diese Neustrukturierung ging zurück auf Empfehlungen für die Neuordnungen der
Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, die der Reformausschuß der Landesjustizver-
waltungen gemeinsam mit Vertretern der Innenministerkonferenz im Anschluß an die
Vorschläge des Juristischen Fakultätentages von 1968 (Münchener Beschlüsse) und
1969 (Mainzer Beschlüsse) erarbeitet hatte. Die Ländergesetzgeber übernahmen in den
neuen, nach 1970 erlassenen und im wesentlichen bis 1984 gültigen Ausbildungs- und
Prüfungsordnungen weitgehend diesen differenzierten Katalog17.
15 Die ursprünglich bis 15.9.1981 befristete Experimentierphase (vgl. Art. III §2 des
Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 10.9.1971 [BGBl. I S. 1557])
wurde bis 15.9.1984 verlängert (vgl. Art. I Nr. 2 b des Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Deutschen Richtergesetzes vom 16.8.1980 [BGB1.I S. 1451]).
16 Vgl. V.Lohse, Die Teilreform der Juristenausbildung. In: JuS 13, 1973, 123 ff;
A.Rinken, Einführung in das juristische Studium. München 1977, 10.
17 Rechtsgrundlagen der Juristenausbildung, insbesondere im Wahlfach „Kriminologie,
dungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) in der Bekanntmachung vom 8. Dezem-
ber 1982 (GVB1. S. 1033).
Berlin: Gesetz über die juristische Ausbildung (JAG) vom 29.4.1966 (GVB1. S. 735) in
der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die juristische Ausbil-
dung vom 8.6.1971 (GVB1. S.994), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.7.1982 (GVB1.
S. 1097) und Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die juristische Ausbil-
dung vom 1.10.1982 (GVB1. S. 1893). Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen
QAO) vom 9.6.1972 (GVB1. S. 1004), zuletzt in der Fassung vom 11.10.1982 (GVB1.
S. 1897).
Bremen: Die einstufige Juristenausbildung in Bremen kennt die Unterscheidung zwi-
schen Pflicht- und Wahlfach nicht. Die einstufige Juristenausbildung wurde eingeführt
durch Bremisches Juristenausbildungsgesetz (BremJAG) vom 3.7.1973 (GBl. S. 177),
zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Bremischen Juristenausbildungsgeset-
zes vom 5.7.1976 (GBl. S. 155).
Hamburg: Juristenausbildungsordnung vom 10.7.1972 (GVB1. S. 133, 148, 151),
zuletzt geändert am 16.12.1982 (GVB1. S.386).
Hessen: Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz - JAG)
i.d.F. vom 12.3.1974 (GVB1.I S. 157) i.d.F. vom 20.1.1982 (GVB1.I S.34). Juristische
Ausbildungsordnung vom 10.9.1965 (GVB1.I S. 193) i.d.F. vom 14.9.1982 (GVB1.I
S. 196, 202).
Niedersachsen: Niedersächsische Ausbildungsordnung für Juristen vom 22.1.1971
(GVB1. S. 21) i. d. F. vom 21.1.1982 (GVB1. S. 18).
Nordrhein-Westfalen: 3. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die juristischen
Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz -
JAG) vom 16.6.1970 (GVB1. S.508) i.d.F. der Bekanntmachung vom 6.7.1972 (GVB1.
S. 200) und i. d. F. der Bekanntmachung vom 15.10.1982 (GVB1. S. 702). Verordnung zur
Durchführung des Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen
Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsordnung - JAO) i.d.F. der Bekanntmachung
vom 6.7.1972 (GVBl. S.206) und i.d.F. der Bekanntmachung vom 15.10.1982 (GVB1.
S. 708).
Rheinland-Pfalz: Landesgesetz über die juristische Ausbildung vom 15.7.1970 (GVBl.
S. 229), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.12.1981 (GVBl. S.331). Landesverordnung
zur Durchführung des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (Juristische Ausbil-
dungs- und Prüfungsordnung - JAPO) vom 21.12.1972 (GVBl. 1973 S.2), zuletzt
geändert durch Verordnung vom 30.12.1981 (GVBl. 1982 S. 27).
Saarland: Gesetz Nr. 703 über die Befähigung zum Richteramt und zum höheren
Verwaltungsdienst vom 9.2.1960 (Amtsbl. S. 209). Ausbildungs- und Prüfungsordnung
zur Erlangung der Befähigung zum Richteramt und zum höheren Verwaltungsdienst
(Ausbildungsordnung für Juristen - JAO) vom 28.3.1960 (Amtsbl. S.241) i.d.F. der
Bekanntmachung vom 22.9.1972 (Amtsbl. S.692) und i.d.F. der Bekanntmachung vom
22.1.1982 (Amtsbl. S. 109).
Schleswig-Holstein: Landesverordnung über die Ausbildung der Juristen (JÄO) vom
30.12.1970 (GVBl. 1971 S.21), zuletzt gfeändert durch die Landesverordnung vom
22.12.1981 (GVBl. 1982 S. 7).
Juristenausbildung und Kriminologie 333
logisches Bulletin 10, 1984, 16ff; G.Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg,
Karlsruhe 1980, 65 f; G. Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung. In: Festschrift für
R.Wassermann. Neuwied 1985, 596f; H.U. Störzer, Kriminologisch-kriminalistische
Ausbildung an der Universität. Eine phänomenologische Bestandsaufnahme. In: E. Kube;
H . U . Störzer; S.Brugger (Hrsg.): Wissenschaftliche Kriminalistik. Grundlagen und
Perspektiven. Teilband 2. Theorie, Lehre und Weiterentwicklung. BKA-Forschungsreihe,
Bd. 16, Wiesbaden 1984, 360 ff mit jeweils weiteren Nachweisen.
22 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 530.
Juristenausbildung und Kriminologie 335
gesetzes vom 10.9.1971 (BGBl. I S. 1557) i. d. F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Deutschen Richtergesetzes vom 16. 8.1980 (BGBl. I S. 1451).
25 Baden-Württemberg (Konstanz seit 1974), Bayern (Augsburg seit 1971, Bayreuth
seit 1977), Bremen (seit 1971), Hamburg (seit 1974), Niedersachsen (Hannover seit 1974),
Nordrhein-Westfalen (Bielefeld seit 1973) und Rheinland-Pfalz (Trier seit 1975). Vgl.
hierzu die Einzeldarstellung in: Bundesregierung: Bericht über die Juristenausbildung in
den Ländern. BT-Drs. 7/3604, 4 ff; ferner die Ubersicht in der Begründung zum Entwurf
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes (BR-Drs. 311/82)
vom 27.8.1982, S.9.
336 Wolfgang Heinz
gen. In: Kriminologisches Bulletin 10, 1984, 21 ff; A.Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs
„Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" im juristischen Studium und Referendarex-
amen. In: JuS 19, 1979,-527.
27 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 529; F. Streng,
Anmerkungen zur Situation und Perspektive der kriminologischen Juristenausbildung. In:
Kriminologisches Journal 11, 1979, 144.
28 P.Schlosser, Wahlfachgruppen auf der Abschußliste? In: Jura 3, 1981, 335.
Juristenausbildung und Kriminologie 337
33 Vgl. H. Seiter; R. Stürner, Zum Stand der Diskussion um die Reform der Juristenaus-
Landes und der Hochschullehrer für Kriminologie wurde dieser Entwurf abgemildert. In
der JAPO 1984 war in der Wahlfachgruppe jedenfalls Rechtsvergleichung nicht mehr
enthalten. Ferner wurden die Zulassungsvoraussetzungen dahingehend modifiziert, daß
nicht jedes beliebige Seminar, sondern nur ein Seminar mit dem Schwerpunkt in der
Wahlfachgruppe genügt. Schließlich wurde in die Begründung aufgenommen, daß zu den
Allgemeinen Lehren des Strafrechts auch kriminologische Grundlagen gehören.
36 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung im Hinblick sowohl auf die Berücksichti-
gung von Kriminologie als auch hinsichtlich der Gliederung des Ausbildungsganges bei
W.Heinz, Ausbildung und Einsatzmöglichkeit von Kriminologen. In: Kriminologisches
Bulletin 10, 1984, 27 ff.
37 Vgl. hierzu die abgewogene Darstellung und Würdigung bei H. Seiter; R. Stürner,
Zum Stand der Diskussion um die Reform der Juristenausbildung. In: JuS 22,1982, 310 ff;
Juristenausbildung und Kriminologie 339
ten zwar die Festlegung von Details der Ausbildungsinhalte, der Fächer-
zuschnitte und der Prüfungsinhalte dem Landesrecht überlassen, aber
dennoch enthielten sie einige wichtige Direktiven, die über das bisherige
Bundesrecht hinausgingen. Diese betrafen nicht nur die Ausbildungsin-
halte38, sondern vor allem die Entscheidung über den Weg, auf dem die
allseits gewünschte wissenschaftliche Vertiefung erreicht werden sollte.
Der von der sozial-liberalen Koalition getragene Regierungsentwurf von 1982 glie-
derte „aufgrund der positiven Erfahrungen mit einstufigen Ausbildungsgängen"" die
Ausbildung in eine Grundausbildung und eine Schwerpunktausbildung. Das Wahlfach-
gruppensystem wurde abgelehnt: „Nach allgemeiner Auffassung ist dieser Versuch
einer Schwerpunktausbildung nicht gelungen. Gründe sind das Ausscheiden von
Grundlagenfächern aus dem Pflichtstoff, der zu enge Zuschnitt der Wahlfachgruppen,
die fehlende Beziehung zur Praxis und die geringe - in den Ländern zudem unterschied-
liche - Bedeutung der Wahlfachgruppen für das erste Examen40."
Der von den CDU/CSU-regierten Ländern eingebrachte Entwurf des Bundesrates
von 1983 behielt dagegen die „bewährte Gliederung der Ausbildung"41 bei. Vorrang
sollte eine „breite rechtswissenschaftliche Ausbildung" haben. Eine „zusätzliche wis-
senschaftliche Vertiefung" sollte jedoch für alle angehenden Juristen verbindlich sein.
Sie sollte als „integrierte Vertiefung"42 im Rahmen eines Wahlfachsystems während des
Studiums und in der Wahlstation der Referendare erfolgen.
Dieser Gedanke wurde von dem von der CDU/CSU und FDP getragenen Regie-
rungsentwurf von 1984 weitergeführt. In der Begründung wurde zunächst hervorgeho-
ben, „dem Ziel des Einheitsjuristen (müsse) die Breite der Ausbildung in Studium und
Vorbereitungsdienst entsprechen"43. Betont wurde allerdings auch: „Ein wesentliches
Ziel der Bemühungen um eine Neuordnung der Juristenausbildung ist die wissenschaft-
liche Vertiefung44." „Dem Gedanken der Vertiefung wird in Studium und Vorberei-
tungsdienst Rechnung getragen: Im Studium hat sich der Student Wahlfächern zu
widmen, die der Ergänzung des Studiums und der Vertiefung der mit ihnen zusammen-
hängenden Pflichtfächer dienen. Innerhalb des Vorbereitungsdienstes haben vor allem
die Wahlstationen, die zu Schwerpunktbereichen zusammenzufassen sind, die Aufgabe
der Vertiefung45."
H. Seiter; R. Stürner, Die Reform der Juristenausbildung nach dem Entwurf des Bundesju-
stizministeriums und dem CDU/CSU-Entwurf. In: JuS 22, 1982, 545 ff.
31 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 27. 8.1982 formulierte zum Ausbil-
dungsinhalt: „Die Ausbildung erstreckt sich auch auf die philosophischen und geschichtli-
chen Grundlagen sowie auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen des
Rechts" (vgl. §5 II S. 3 [BR-Drs. 311/82]). Der schließlich Gesetz gewordene Entwurf der
Bundesregierung vom 12.3.1984 formulierte zurückhaltender, Gegenstand des Studiums
seien die Kernfächer „einschließlich der rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren
philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen" (vgl. §5 a l l S. 1 [BT-
Drs. 10/1108]).
39 BR-Drs. 311/82, S . l .
41 BT-Drs. 9/2376, S. 1.
45 BT-Drs. 10/1108, S. 1 f.
340 Wolfgang Heinz
Die bundesrechtliche Vorgabe, daß Gegenstand des Studiums die „Kernfächer Bür-
gerliches Recht, Strafrecht, Öffentliches Recht und Verfahrensrecht einschließlich der
rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren philosophischen, geschichtlichen und
gesellschaftlichen Grundlagen" ( § 5 a l l S. 1 DRiG) sein müssen, hat im Bereich des
Kern- bzw. Pflichtfachs „Strafrecht" unterschiedlichen Ausdruck gefunden. Die
Spannweite reicht von „Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuches" (Hessen, Niedersach-
sen) über den „Allgemeinen Teil des Strafrechts" (Bayern, Hamburg, Saarland und
Schleswig-Holstein) bis zu den „Allgemeinen Lehren des Strafrechts" (Baden-Würt-
temberg 4 ', Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz). Hier wird die
Zukunft zeigen müssen, ob und inwieweit (vor allem) die Fachvertreter des Strafrechts
bzw. die Juristen-Kriminologen diese Möglichkeit nutzen, Kriminologie in die straf-
rechtliche Vorlesung zu integrieren 50 . Die Befunde der Untersuchung von H. Giehring
und F. Schumann51 erlauben jedenfalls insoweit eine günstige Prognose.
Erhebliche Unterschiede bestehen ferner hinsichtlich der bei den Kernfächern zu
berücksichtigenden „gesellschaftlichen Grundlagen". Die vergleichbare „Bezüge"-
Klausel der alten Ausbildungsordnungen hatte allerdings, soweit ersichtlich, keine
große praktische Bedeutung erlangt. Vom Strafrecht her gesehen, wäre dies dennoch
eine wichtige Möglichkeit, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in die Lehre und
Prüfung des Straf- und des Strafverfahrensrechts einzubeziehen. Dem steht nicht
entgegen, daß in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen als eigenständige
Pflichtfächer „Grundlagen" 52 bzw. „Methoden und Grundlagen des Rechts" 53 ausge-
49
In der Begründung zur J A P r O 1984 heißt es hierzu, es „wird davon ausgegangen,
daß zu den Allgemeinen Lehren des Strafrechts auch kriminologische Grundlagen gehö-
ren, weshalb diese nicht besonders erwähnt sind" (Begründung, S. 14). Dementsprechend
hat z. B. die Juristische Fakultät der Universität Konstanz in ihren neuen Studienplan vom
Mai 1984 als strafrechtliches Pflichtfach eine 2stündige Vorlesung „Sanktionen und krimi-
nologische Grundlagen" aufgenommen.
50
Daß die in § 4 Abs. 2 BadWürttJAPrO enthaltene Rahmenvorgabe, „die Methoden
und Erkenntnisse benachbarter Wissenschaften einzubeziehen", gültig ist und insbeson-
dere keinen Verstoß gegen die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 G G verbürgte Wissenschaftsfreiheit
darstellt, hat der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof unlängst in einem
Normenkontrollverfahren festgestellt (vgl. Beschluß vom 3.4.1985, veröffentlicht in:
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 4, 1985, 667). Dem Lehrenden stehe insoweit
allerdings die „Kompetenz-Kompetenz" zu.
51
H. Giehring; F. Schumann, Kurzbericht über Ergebnisse einer Befragung der Profes-
soren/innen für Strafrecht und/oder Kriminologie an den rechtswissenschaftlichen Fakul-
täten der Bundesrepublik Deutschland zur Einbeziehung sozialwissenschaftlicher
Erkenntnisse und Theorien in die universitäre Ausbildung im Strafrecht und Strafverfah-
rensrecht. Unveröff. Mskr., Mai 1985, S. 17: „...lassen die Ergebnisse doch den Schluß
zu, daß die Einbeziehung erfahrungswissenschaftlicher Inhalte in die universitäre Vermitt-
lung des Straf- und Strafverfahrensrechts für einen erheblichen Teil der Hochschullehrer
ein wichtiges Anliegen ist und daß dafür auch ein gewisser Umfang der Unterrichtszeit
reserviert wird".
52
In Baden-Württemberg umfaßt z. B. das Pflichtfach „Grundlagen": „Grundzüge der
Rechts- und Verfassungsgeschichte, Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Rechtsso-
ziologie, Allgemeine Staatslehre, Wirtschaftswissenschaft für Juristen" (vgl. § 5 III N r . 4
JAPrO). Zulassungsvoraussetzung zum ersten juristischen Staatsexamen ist die erfolgrei-
che Teilnahme an „zwei Lehrveranstaltungen in Rechts- und Verfassungsgeschichte,
Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie oder Allgemeiner Staatslehre" (§ 8 II N r . 1 a JAPrO).
In der schriftlichen Prüfung können sich die Aufgaben auch auf die „Grundlagen"
erstrecken (§ 12 III S. 2 JAPrO).
Juristenausbildung und Kriminologie 343
wiesen wurden, denen namentlich die Rechtssoziologie bzw. deren Grundzüge zuge-
ordnet wurden. Ebenfalls als Teil der Pflichtfächer ausgewiesen wurde die „Rechtsso-
ziologie" in Berlin54 sowie die „Grundzüge der Rechtssoziologie" in Hessen 55 und in
Niedersachsen 5 '. Ansonsten wird jedoch Rechtssoziologie als sog. Grundlagenfach, das
neben den Pflicht- und Wahlfächern besteht 57 , oder als Teil einer besonderen Wahlfach-
gruppe 58 ausgewiesen. Denn auch im Zusammenhang mit der Rechtssoziologie, insbe-
sondere aber mit der in Nordrhein-Westfalen ausgewiesenen Rechtstatsachenforschung
ergeben sich vielfältige Ansätze zur Vermittlung kriminologischer Befunde.
Erhebliche Änderungen hat der Wahlfachgruppen-Katalog gegenüber dem Stand der
70er Jahre erfahren. Die Zahl der Wahlfachgruppen wurde teils verringert, teils
erweitert.
Anzahl der Wahlfachgruppen J A P r O a. F. JAPrO n.F.
Baden-Württemberg 8 45'
Bayern 7 7
Berlin 9 11
Bremen 5
Hamburg 11 15
Hessen 9 10
Niedersachsen 9 10
Nordrhein-Westfalen 7 6
Rheinland-Pfalz 10 8
Saarland 7 9
Schleswig-Holstein 8 12
53
In Nordrhein-Westfalen werden zu diesem Pflichtfach gezählt: „die Grundzüge der
Rechtstheorie, der Rechtssoziologie, der Rechtstatsachenforschung sowie der Rechtsphi-
losophie und der Rechts- und Verfassungsgeschichte" (vgl. § 3 II Nr. 6 JAG). In Nord-
rhein-Westfalen setzt die Zulassung zur Prüfung u. a. voraus, daß der Bewerber „an einer
dafür geeigneten Lehrveranstaltung - insbesondere an einem Seminar - teilgenommen hat,
in der geschichtliche, philosophische oder gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen des
Rechts und die Methodik seiner Anwendung exemplarisch behandelt worden sind, und
darüber einen Leistungsnachweis, der mindestens eine schriftliche Leistung umfassen muß,
erbracht hat" (§81 Nr. 5 JAG). Uber diese Zulassungsvoraussetzungen können auch die
Grundzüge der Kriminologie relevant werden, weil, so das Beschlußprotokoll des Justiz-
ausschusses des Landtages von Nordrhein-Westfalen, „die Rechtstatsachenforschung, die
als neuer Ausbildungsgegenstand in den Katalog aufgenommen wurde, auch die Krimino-
logie umfaßt" (Beschlußempfehlung und Bericht des Justizausschusses NRW, LT-Drs. 9/
4081, S. 28).
54
§5 Nr. 1 JAO.
55
§ 7 II Nr. 1 JAG.
54
§8 N r . 2 N J A O .
57
In Rheinland-Pfalz ist Rechtssoziologie Bestandteil eines von zwei Grundlagenfä-
chern (§ 1 IV Nr. 2 JAPO). Zulassungsvoraussetzung zur ersten juristischen Staatsprüfung
ist die erfolgreiche Teilnahme an einem Seminar oder einer gleichwertigen Lehrveranstal-
tung in einem Grundlagenfach (§2 1 Nr. 3 c JAPO). In der schriftlichen Prüfung findet
keine selbständige Prüfung der Grundlagenfächer statt. In der mündlichen Prüfung ist die
Prüfung der Grundlagenfächer Teil der Prüfung der Pflicht- und Wahlfächer ( § 5 1 JAPO).
58
Rechtssoziologie ist Teil eines Wahlfaches in Bayern (§ 5 III Nr. 1 JAPO), Hamburg
(§5 III N r . 14 JAG), im Saarland (§11 III Nr. 2 JAO) und in Schleswig-Holstein (§3 III
Nr. 12 JAO).
59
Die Wahlfachgruppen 3 a und 3 b wurden als jeweils selbständiges Wahlfach gezählt.
344 Wolfgang Heinz
fachgruppe.
" „Zu den Wahlfachgruppen gehören 1. die der jeweiligen Gruppe sachlich zuzuord-
nenden Pflichtfächer; 2. folgende weitere Rechtsgebiete . . . b) in der Wahlfachgruppe
Strafrechtspflege . . . Kriminologie . . . " ( § 3 IV JAG).
62 §5 III Nr. 8 JAG.
63 Die Auflistung der Pflichtfächer muß aus Raumgründen auf das materielle Strafrecht
beschränkt werden.
Juristenausbildung und Kriminologie 345
Verordnung über die Schwerpunkte in der Juristenausbildung und der ersten juristischen
Staatsprüfung (SpVO) vorbehalten.
65 Eine Ausnahme gilt für den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Osna-
brück. Dort tritt an die Stelle dieser Wahlfachgruppe gem. §60 IV Nr. 6 NJAO die
Wahlfachgruppe „Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminologie". Vgl. H.Achen-
bach, Wirtschaftsstrafrechtliches Wahlfachstudium an der Universität Osnabrück. In: JuS
24, 1984, 728 ff.
346 Wolfgang Heinz
" Der Verf. dankt allen Kollegen, die hier namentlich nicht aufgeführt werden können,
für die ihm erteilten Auskünfte.
67 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 528.
Juristenausbildung und Kriminologie 347
Wie bereits früher, so wird auch künftig das Wahlfach Gegenstand der
mündlichen Prüfung sein, Baden-Württemberg erneut ausgenommen. In
einigen Ländern, wie etwa Niedersachsen, wo bisher das kriminologi-
sche Wahlfach nur zusammen mit dem Strafrecht geprüft wurde, wird
künftig das Wahlfach selbständig mit einem eigenen Notenanteil geprüft
werden.
68 Der Entwurf will der Spezialisierung der Juristen entgegenwirken und dem Zivilrecht
wieder das frühere Gewicht einräumen. In der Begründung liest man deshalb: „Die
Wahlstoffgebiete werden nicht geprüft. Diese Regelung ermöglicht es dem Studenten, sich
bei der Prüfungsvorbereitung auf die Rechtsgebiete zu konzentrieren, die für die Ausbil-
dung zum Volljuristen essentiell sind. Das ermöglicht eine frühzeitige Teilnahme an der
Prüfung" (Begründung 1984, S.9).
348 Wolfgang Heinz
" Zu den „weiteren Pflichtfächern" zählen aus dem Bereich von Kriminalwissenschaf-
ten/Strafrecht „Grundzüge des Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsrechts".
70 Vgl. S U II J A G , der mehrere Kombinationsmöglichkeiten vorsieht, z . B . Pflicht-
in den Pflichtstoffgebieten . . . widmen" werden, ist die in der Begründung zur JAPrO
1983 noch ausgesprochene Erwartung (vgl. Begründung 1983, S. 8).
73 Die Juristische Fakultät der Universität Mannheim hat in ihr Studienprogramm eine
76 Vgl. § 8 I Nr. 4 c J A G . Danach ist Voraussetzung für die Zulassung zur Prüfung, daß
78 § 26 II JAPO Rheinland-Pfalz bestimmt als Ziel der allgemeinen Ausbildung bei einer
fung. In: C. Dästner; W. Patett; R. Wassermann (Hrsg.): Die soziale Wirklichkeit in der
Rechtsanwendung. Heidelberg, Karlsruhe 1980, 297 ff.
80 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S. 12.
K
Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Juristenausbildung
(Drucksache 11/3997, S. 19).
Juristenausbildung und Kriminologie 353
83
Vgl. hierzu zuletzt einige der möglichen Positionen bei H. Christ, Die Kriminologie
im Studium der Rechtswissenschaft. In: MschrKrim 63, 1980, 330 ff; H. Giehring, Krimi-
nologie in der restaurierten Juristenausbildung. In: Kriminologisches Journal 17, 1985,
309ff; G.Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung. In: Festschrift für R.Wasser-
mann. Neuwied 1985, 592 ff.
84
H. Kaufmann, Die kriminologische Lehrveranstaltung als allgemeine Orientierungs-
hilfe für Studierende? In: MschrKrim 63, 1980, 379ff.
Die gesellschaftliche Organisation
der deutschsprachigen Kriminologie
- Rückblick und Ausblick -
H E I N Z SCHÖCH
I.
Als ich Hilde Kaufmann im Jahre 1975 bei der Freiburger Tagung der
Gesellschaft für die gesamte Kriminologie zum erstenmal persönlich
begegnete, sprach sie hoffnungsvoll von den neuen Perspektiven dieser
Gesellschaft für die Weiterentwicklung der Kriminologie. Obwohl die
damalige Tagung unter dem Leitthema „Kriminologie und Strafverfah-
ren"1 nicht zentral ihre eigenen kriminologischen Schwerpunkte betraf2,
war sie doch beeindruckt von dem Ausmaß, in dem es gelungen war,
Kriminologen aller Richtungen und Herkunftsdisziplinen bei dieser
Tagung zusammenzuführen. Sie würdigte die Sachlichkeit und streitbare
Toleranz in den Referaten und Diskussionen und trug selbst mit brillan-
ten Diskussionsbemerkungen hierzu bei. Hinzu kam die Hoffnung, daß
die Vereinigung der beiden großen deutschsprachigen kriminologischen
Gesellschaften unmittelbar bevorzustehen schien, nachdem G.Kaiser
und H. Ehrhardt für diese Gesellschaft und A. Mergen und F. Petersohn
für die Deutsche Kriminologische Gesellschaft die Verhandlungen erfolg-
reich abgeschlossen hatten.
1. Zehn Jahre danach muß man leider feststellen, daß die hohen Erwar-
tungen, welche die Freiburger Tagung geweckt hat, nicht in Erfüllung
gegangen sind. Zwar vereinigte die 1977 unter dem Vorsitz von H. Wal-
der in Bern veranstaltete Tagung über „Wirtschaftskriminalität und
Beurteilung der Schuldfähigkeit" noch einmal ein beachtliches Spektrum
von Referenten und Tagungsteilnehmern, aber die folgenden Tagungen
in Köln (1979), Saarbrücken (1981), Bern (1983) und Salzburg (1985)
trugen zu deutlich die Handschrift einer klassisch psychiatrisch-krimi-
3 Insbesondere Göppinger und Breuer, die in den letzten Jahren den maßgeblichen
Einfluß in der Gesellschaft hatten (s.u. II, 1).
4 Von einigen Kollegen habe ich erfahren, daß ihre Angebote zur Mitwirkung vom
7
Schwind/Steinbilper, Einführung, in: Umweltschutz und Umweltkriminalität, Krimi-
nologische Studien, Bd. 91, 1986, S. 1.
8 Bisher hatte m. W. noch kein amtierender deutscher Minister die Medaille erhalten;
die neuen Tatbestände des Umweltstrafrechts (§§ 324 ff StGB) waren längst in Kraft (seit
1980), bevor Zimmermann Innenminister wurde.
' So Schwind am 31.10.1985 in einem Interview im heute-journal.
10 KrimJ 1969, Nr. 1, S. 1.
358 Heinz Schöch
11 Vgl. auch Rundschreiben des neuen Vorsitzenden H.-J. Kerner vom 12.2.1986.
12 Vgl. Kerner, wie Fn. 11.
13 Den Beispielen liegt keine systematische Suche zugrunde, sondern persönliche
Erfahrung; mangels eigener Kenntnis fehlt deshalb etwa die „Gesellschaft für vorbeugende
Verbrechensbekämpfung"; vgl. aber z.B. G.Nass (Hrsg.), Kriminalität - vorbeugen und
behandeln, 1978.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 359
verlängert wurde14. Hier sind unter den Gutachtern Vertreter aus allen
wichtigen Bezugsdisziplinen vertreten, Strafrechtswissenschaft, Soziolo-
gie, Psychologie und - bis 1978 - auch Psychiatrie, ebenso bei den
Antragstellern. Die alljährlich stattfindenden Sitzungen der Prüfungs-
gruppe sowie einige besondere Forschungscolloquien15 zeigen, daß eine
konstruktive Zusammenarbeit der Bezugswissenschaftler über Fächer-
und Schulengrenzen hinweg möglich ist.
b) In dem 1985 in 2. Auflage erschienenen Kleinen Kriminologischen
Wörterbuch16 haben sich Juristen, Psychologen, Psychiater und Soziolo-
gen aus allen kriminologischen Richtungen zusammengefunden und in
92 Stichwörtern zentrale Probleme der Kriminologie behandelt, wobei
sich die teilweise unterschiedliche Sichtweise durchaus als belebend und
weiterführend erweist.
c) Seit 1969 treffen sich jährlich etwa 30-40 Juristen, Psychiater und
Psychologen und behandeln in interdisziplinären Symposien17 Probleme
der forensischen Psychiatrie und Psychologie, aber auch wichtige krimi-
nologische Fragen wie Prognosen, Sanktionen, Straf- und Maßregel-
vollzug.
d) Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshil-
fen e. V. (DVJJ), die 1917 als Zusammenschluß sachkundiger Persönlich-
keiten der Jugendgerichtsbarkeit gegründet wurde, hat unter den lang-
jährigen Vorsitzenden Kohlrausch, Sieverts und Schüler-Springorum
nicht nur Praktiker und Wissenschaftler aus allen einschlägigen
Fachrichtungen (einschließlich Pädagogik und Sozialpädagogik) zusam-
mengeführt, sondern auch beachtliches wissenschaftliches Profil entwik-
kelt. Sie hat derzeit über 1000 Mitglieder, veranstaltet alle drei Jahre den
Jugendgerichtstag mit einem überaus reichhaltigen Programm18 und
bietet, verstärkt durch die in fast allen Bundesländern gegründeten
Regionalgruppen, viele Fortbildungstagungen an, bei denen Praktikern
aus dem Bereich der Jugendgerichtsbarkeit, der Polizei, der Bewäh-
rungshilfe, des Jugendvollzugs und der Heimerziehung auch kriminolo-
14 Vgl. dazu Albrecht, MschrKrim 60 (1977), S. 185 ff; Kaiser, MschrKrim 60 (1977),
S. 41 ff; Antragsteller 1985 waren Brüsten, Schumann und Heinz, Kerner.
15 Vgl. Albrecht, MschrKrim 63 (1981), S. 383 ff; Pieplow, MschrKrim 67 (1985),
S. 43 ff.
16 Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch,
2. Aufl. 1985.
17 Vgl. z . B . MschrKrim 66 (1983), S.325ff; Teilnehmer a . a . O . S.367.
gische Erkenntnisse vermittelt werden. Die DVJJ hat auf dem Gebiet der
Jugendkriminalität bereits weitgehend das erreicht, was für eine gesamt-
kriminologische Gesellschaft wünschenswert wäre.
e) Die Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 1904 von
dem Psychiater Gustav Aschaffenburg gegründet und seit 1969 von
Schüler-Springorum, Quensel und Remschmidt herausgegeben, ist zu
einem Forum geworden, in dem alle kriminologischen Richtungen zu
Wort kommen und in dem auch viele neue Forschungsergebnisse darge-
stellt werden.
f ) Seit 1964 werden bei den südwestdeutschen kriminologischen Collo-
quien19 jährlich im Wechsel Forschungen der kriminologischen Institute
und Lehrstühle aus Freiburg, Heidelberg und Tübingen, seit einigen
Jahren auch aus Saarbrücken, Mannheim und Konstanz vorgestellt und
mit erfrischender Offenheit diskutiert, wobei überwiegend jüngere Mit-
arbeiter zu Wort kommen.
g) Das 1980 gegründete Kriminologische Forschungsinstitut Niedersach-
sen e. V. vereint als außeruniversitäre Forschungseinrichtung unter den
Mitgliedern des Trägervereins, im wissenschaftlichen Fachbeirat und
unter den angestellten Forschern alle Fachrichtungen. Es hat in jährlich
stattfindenden Colloquien Kriminologen aller Schulen aus dem In- und
Ausland zusammengeführt 20 . Hier wurde auch die eindrucksvolle und
ein breites Forschungsspektrum umfassende dreibändige Dokumenta-
tion „Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Krimina-
litätskontrolle" aus Anlaß des IX. Internationalen Kongresses für Krimi-
nologie in Wien (1983) betreut und koordiniert21.
h) In der Schweiz sind insbesondere die jährlich stattfindenden dreitägi-
gen Seminare oder Colloquien hervorzuheben, die von der Schweizeri-
schen Arbeitsgruppe für Kriminologie (des Schweizerischen Nationalko-
mitees für Geistige Gesundheit) veranstaltet und von ihrem Präsidenten
W. T. Haesler21* organisiert werden. Bei diesen Tagungen referieren
deutsche, österreichische und schweizerische Wissenschaftler und Prak-
tiker aus allen in Betracht kommenden Fachgebieten und Richtungen zu
22 Die Referate werden regelmäßig veröffentlicht (im Verlag Rüegger, CH-7001 Chur)
II.
Um die Frage zu beantworten, weshalb angesichts einer solchen
Vielfalt fach-, richtungs- und länderübergreifender Initiativen noch kein
gemeinsames gesellschaftliches Dach für die deutschsprachige Krimino-
logie gefunden werden konnte, ist es erforderlich, sich etwas genauer mit
der Geschichte und Struktur der drei größeren Vereinigungen zu be-
fassen.
1. Die Gesellschaft für die gesamte Kriminologie, die 1927 als Kriminal-
biologische Gesellschaft gegründet wurde, gab sich ihren neuen Namen
erst bei der 40. Wiederkehr des Gründungstages im Jahre 1967, „um
Mißverständnissen vorzubeugen, aber auch um einer gewissen Erweite-
rung der Aufgaben Ausdruck zu verleihen"26. Gegründet wurde sie am
6. Juni 1927 in Wien nach Einrichtung der ersten kriminalbiologischen
Dienste in einigen Strafanstalten27 mit dem Ziel, den Erfahrungsaus-
tausch zwischen den kriminalbiologischen Untersuchungsstellen und
der medizinischen und psychologischen Grundlagenwissenschaft zu för-
dern und - „wegen der zentralen Stellung der Persönlichkeit des Täters
im Strafrecht"28 - , der „Erfassung der kriminellen Persönlichkeit in der
Gesetzgebung, der Strafrechtspflege, dem Strafvollzug sowie in der
wissenschaftlichen Lehre" 2 ' stärkeres Gewicht zu verleihen. In der
Gründungssatzung, die bis 1967 gültig war30, heißt es in Artikel I: „Die
Gesellschaft hat den Zweck, die biologische Betrachtung des Verbre-
chens sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Forschung zu fördern
wie ihre Einführung in die Praxis der Strafrechtspflege in die Wege zu
leiten und auszubauen; sie führt die Bezeichnung ,Kriminalbiologische
Gesellschaft'31." In einer von der ersten Mitgliederversammlung verfaß-
ten Resolution wird deutlicher, was mit der biologischen Betrachtung
des Verbrechens gemeint ist, nämlich „die verschiedenen wissenschaftli-
chen Methoden zur Aufschließung der Persönlichkeit, die sich in der
Psychiatrie, in der Erbbiologie und in der naturwissenschaftlich und
philosophisch orientierten Psychologie bewährt haben"32.
Deutlich ist also bei der Beschreibung der Ziele und Methoden die
Handschrift des Gründungsinitiators und ersten Präsidenten der Gesell-
schaft erkennbar, des Hofrats und Professors Adolf Lenz, Nachfolger
von H. Gross auf dem Grazer Strafrechtslehrstuhl und Vorsteher des
Kriminologischen Universitätsinstituts Graz. Er hatte seine Gedanken
im gleichen Jahr in dem „Grundriß der Kriminalbiologie" veröffent-
licht33. Obwohl spätestens seit F. v. Liszt die Kriminologie als Synthese
von Kriminalbiologie und Kriminalsoziologie (Kriminalstatistik i. w. S.)
verstanden wurde34, erwähnt die neue Gesellschaft die Kriminalsoziolo-
gie mit keinem Wort. Zwar leugnet auch Lenz soziale Verbrechensursa-
chen nicht ganz, aber „eine lebensvolle Erforschung der inneren Ursa-
chen des Verbrechens" müsse „betonen, daß auch im Gelegenheitsver-
brecher zur Zeit der Tat vorgegebene Dispositionen bestanden, die ihn
unter dem Einflüsse mächtiger Anreize aus der Umwelt zur kriminoge-
nen Einstellung führten"35.
Gemeinsam mit seinem Schüler, dem damaligen Privatdozenten
E. Seelig, und den Medizinern v. Neureiter (Riga), Fetscher (Dresden)
und Viernstein (Straubing), die nach dem Vorbild des Belgiers Verwaeck
kriminalbiologische Untersuchungsstellen eingerichtet hatten, bildete
Lenz den Vorstand der neuen Gesellschaft. Er blieb bis zur letzten der
fünf Vorkriegstagungen36 deren Präsident, Seelig wurde Schriftführer
und hatte diese Funktion bis zu seinem Tod Mitte der 50er Jahre inne.
Bei ihrer Gründung hatte die Gesellschaft 92 Mitglieder, bei der
Tagung in Hamburg (1933) bereits 15937. Es handelte sich überwiegend
um Juristen und Mediziner, etwa zur Hälfte aus Wissenschaft und
Praxis, jedoch finden sich auch einige Psychologen und Pädagogen unter
den Mitgliedern. Im Mittelpunkt der Tagungen stand bei den ersten
Tagungen der Erfahrungsaustausch über Ergebnisse und Methoden der
kriminalbiologischen Untersuchungsstellen. Zunehmend wurden erb-
biologische Aspekte betont, seit 1933 verbunden mit kriminalpolitischen
Konsequenzen wie Kastration, Sterilisation und anderen Sicherungs-
maßnahmen. Programmatische Erklärungen zur Aussonderung der
Asozialen, Erforschung der erbhygienischen Gesundheit und rassen-
wertlichen Tüchtigkeit mit dem Ziel einer Unterstützung der „Bevölke-
- Der Erste Vorsitzende kann nur noch für zwei Jahre gewählt
werden. Wiederwahl ist nur nach Ablauf einer Frist von 6 Jahren
möglich, dagegen werden der Schriftführer und der Schatzmeister
auf unbestimmte Zeit gewählt. Das Amt des Schriftführers kann mit
dem des Schatzmeisters verbunden werden (§ 12 Abs. 1-3).
- Die Aufnahme eines neuen Mitgliedes muß von zwei Mitgliedern
der Gesellschaft vorgeschlagen werden (früher von einem); eine
Ablehnung durch den Vorstand bedarf keiner Begründung und ist
unanfechtbar (§ 5 Abs. 2).
- Als weiteres Organ neben Vorstand und Mitgliederversammlung
sieht die Satzung einen Beirat vor, der sich je aus mindestens einem
Vertreter der Kriminologie, der Kriminalistik und der einzelnen
kriminologischen Bezugswissenschaften zusammensetzen soll, ins-
besondere aus der forensischen Psychiatrie, der gerichtlichen Medi-
zin, der Psychologie, der Soziologie, dem Straf- und Strafprozeß-
recht, dem Strafvollzug und der Bewährungshilfe (§ 13 Abs. 1
i . V . m . §9).
- Die Sektion Kriminalistik wird als Kooperation ordentliches Mit-
glied der Gesellschaft; ihre Mitglieder können auch die persönliche
Mitgliedschaft erwerben.
Die Aufnahme der Sektion Kriminalistik dürfte sich bewährt haben,
auch wenn diese nur unregelmäßig mit eigenen Tagungsbeiträgen vertre-
40 Im Gegensatz zu früher und später wird in den Tagungsbänden aus den Jahren 1963
und 1965 nichts über Veränderungen im Vorstand mitgeteilt (vgl. KrimGgfr Heft 6 und 7),
weshalb insoweit nur Rückschlüsse möglich sind.
41 § 2 Abs. 1 der Satzung vom 1 . 5 . 1 9 6 8 : „Aufgabe der Gesellschaft ist die erfahrungs-
wissenschaftliche Erforschung aller Umstände, die mit dem Zustandekommen, der Bege-
hung, der Aufklärung und der Bekämpfung des Verbrechens sowie der Behandlung des
Verbrechers zusammenhängen."
366 Heinz Schöch
ten war (1967, 1969, 1973, 1979). Entscheidend ist die Zusammenarbeit
beider Disziplinen.
Die hervorragende Idee eines Beirates wurde leider nie in die Praxis
umgesetzt. Er existiert m. W. nicht oder allenfalls in rudimentärer Form.
Die höhere Hürde bei der Aufnahme neuer Mitglieder hat sich m. E.
nicht bewährt. Sie ist bei gemeinnützigen Vereinen ganz ungewöhnlich
und schreckt potentielle Bewerber um die Mitgliedschaft eher ab.
Die kurze Amtszeit des Vorsitzenden in Verbindung mit einer unbe-
grenzten Amtszeit des Schriftführers, der zugleich Schatzmeister ist und
die Geschäftsstelle leitet, hat den Schriftführer zur eigentlich bestim-
menden Gestalt der Gesellschaft werden lassen. Nach der Übernahme
dieses Amtes durch Göppinger wurde folgerichtig auch der Sitz der
Gesellschaft nach Tübingen verlegt (§ 1 Abs. 2 der Satzung). Die Konti-
nuität bei der Führung der laufenden Geschäfte hat sicher manche
Vorteile. Sie birgt jedoch die Gefahr, daß der Vorstand und insbeson-
dere der Erste Vorsitzende in seiner Gestaltungs- und Handlungsfreiheit
beeinträchtigt wird und daß die Gesellschaft nicht genügend neue
Impulse erhält. Man kommt leider nicht umhin festzustellen, daß sich in
der fast 20jährigen Amtszeit Göppingen (1966-1983) 42 diese Gefahr
zunehmend realisiert hat.
Seine Sorge vor einer Unterwanderung der Gesellschaft durch „falsche
Lehren" war offenbar so groß, daß er diese Entwicklung nicht sehen
konnte oder wollte45. In den ersten Jahren war dies noch nicht so spürbar
bzw. wurde durch standhafte Vorsitzende, die auch Spannungen in Kauf
nahmen, ausgeglichen. Die folgenden Tagungen können deshalb noch
als relativ offen und lebendig bezeichnet werden:
42 Die Leitung der Geschäftsstelle und das Amt des Schatzmeisters behielt er bis Ende
1985.
45 Spätestens seit 1975 habe ich deshalb mehrere Gespräche mit ihm geführt und ihm in
den 80er Jahren auch Briefe geschrieben; alle Vermittlungsversuche waren leider fruchtlos.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 367
der Deutschen kriminologischen Gesellschaft und dem 50. Geburtstag ihres Präsidenten
Prof. Dr. Dr. Armand Mergen, Hamburg 1969.
48 S. oben Fn. 41.
49 Vgl. Kaiser, Kriminologie, Lehrbuch, 1980, S. 3 ff m.w.N.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 369
1986 der 91. Band erschien. Über ihre sonstigen Aktivitäten in den
ersten 10 Jahren informiert der Band „Aktuelle Kriminologie"50. Danach
wurden jährlich drei große eintägige Veranstaltungen durchgeführt: die
Generalversammlung mit einem wissenschaftlichen Vortrag und Diskus-
sion, seit 1967 Arbeitstagungen mit mehreren Vorträgen und Diskussio-
nen und seit 1964 Akademische Feierstunden, in denen die Beccaria-
Medaillen in Gold und Silber verliehen wurden. Diese Medaille wird zur
Erinnerung an den italienischen Juristen und Kriminalpolitiker der
Aufklärung, Cesare Beccaria (1738-1794), der häufig als Begründer der
Kriminologie genannt wird, verliehen. Kriterien für die Verleihung (in
Gold) sind: hervorragende Leistungen in Forschung und Lehre auf dem
Gesamtgebiet der Kriminologie, besonders erfolgreiche Tätigkeit bei der
Verbrechensverhütung, Verbrechensbekämpfung oder im neuzeitlichen
Strafvollzug, oder sonstige ungewöhnliche Verdienste um die Krimino-
logie51. In den ersten Jahren wurde die Medaille in Gold an bis zu 5
Personen verliehen, später nur noch an eine oder zwei. Preisträger waren
bisher u. a. Sh. u. E. Glueck, F. Gramatica, H. v. Hentig, Th. Sellin,
M. Lopez-Rey, H. Mannheim, H. Bürger-Prinz, R. König, O. Prokop,
K. Lorenz, A. Portmann, K. Peters52. Vor dem Hintergrund dieser inter-
national bekannten Wissenschaftler muß die Verleihung an den derzeiti-
gen Bundesinnenminister noch unverständlicher erscheinen als sie nach
den Statuten ohnehin ist.
Möglicherweise kann diese bisher einmalige politische Aktion als
Zeichen einer Identitätskrise der Deutschen Kriminologischen Gesell-
schaft verstanden werden. In den letzten Jahren wurden die drei Veran-
staltungstypen offenbar etwas reduziert und gestrafft53. Die Mitglieder-
zahl scheint rückläufig zu sein. Während es beim 10jährigen Jubiläum
noch 197 ordentliche Mitglieder waren54, darunter 14 % Ausländer,
waren es Ende 1985 nach Angaben von Mergen55 noch etwa 150, davon
schätzungsweise 50 % Juristen, 25 % Mediziner, 25 % Psychologen und
Soziologen. Der etwas höhere Anteil an Psychologen und Soziologen in
dieser Gesellschaft verwundert angesichts der Entstehungsgeschichte
und ihres satzungsmäßigen Niederschlages nicht. Der Anteil der Prakti-
ker dürfte deutlich höher liegen als in der anderen Gesellschaft.
50
Wie Fn. 47.
51
An. III des Statuts der Beccaria-Medaille, in: Aktuelle Kriminologie (Fn. 47),
S.XXII.
52
Laudationes und Reden der Preisträger in der Reihe „Kriminologische Aktualität"
(seit 1964), zuletzt teilweise in den „Kriminologischen Studien".
53
Soweit dies anhand der mir zugänglichen Publikationen feststellbar ist.
54
Wie Fn. 57, S. XXXIII ff; zusätzlich 21 Ehrenmitglieder (Preisträger und Grün-
dungsmitglieder).
55
Mergen, in Brief an Verf. vom 19.11.1985.
370 Heinz Schöch
56
Derzeit 18. Jahrgang (1986).
57
KrimJ 1969, N r . 1, S. 1.
58
KrimJ 1969, N r . 1, S. 1.
59
Vgl. z.B. Sack, KrimJ 1972, S.3ff; Opp, KrimJ 1972, S.32ff; sowie die anschließen-
den Diskussionsbemerkungen KrimJ 1972, S. 53 ff; eingehend Rüther, Abweichendes
Verhalten und „labeling approach", Köln u.a. 1975.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 371
III.
Insgesamt ist in allen drei Vereinigungen eine Bewegung erkennbar,
die darauf hinausläuft, die Spaltung zu überwinden und alle kriminolo-
gisch Interessierten in einer einheitlichen Gesellschaft zu vereinen. Die
60 Vgl. dazu Kaiser, Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie"? in:
62
Die aufgrund der Verleihung der Beccaria-Medaille an den Bundesinnenminister
entstandene Gegenströmung sollte mit einigem Zeitabstand überwunden werden, nachdem
die Gesellschaft für die gesamte Kriminologie ihre Distanzierung im Oktober 1985 dadurch
dokumentiert hat, daß sie die Wahl von Schwind in den Vorstand zurückgestellt hat; auch
der AJK hat seine Haltung deutlich zum Ausdruck gebracht (vgl. Brüsten, KrimJ 1985,
S. 161 ff).
65
Ahnlich wie die Sektion „Kriminalistik" in der Gesellschaft für die gesamte Krimino-
logie.
64
Auch hierfür bietet die Satzung der ASC wertvolle Anregungen.
65
Modell könnte etwa der „Geschäftsführende Ausschuß" in der DVJJ (Fn. 18) sein.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht
KLAUS SESSAR
Als im Jahre 1971 der erste Teil des auf drei Bände angelegten
Lehrwerkes zur Kriminologie von Hilde Kaufmann erschien1, hatte die
Diskussion um ein kriminologisches Gegenmodell - Untersuchung der
definitorischen Bedingungen statt der ätiologischen Bedingungen von
Kriminalität - ihre ersten Höhepunkte hinter sich2. In diesem den
traditionellen Bedingungen oder „Entstehungszusammenhängen des
Verbrechens" gewidmeten Band ist von ihm nichts zu spüren, vermutet
wurde die Aufnahme des Definitionsansatzes oder „labeling approach"
in den nicht mehr erschienenen zweiten Band über Kriminalitätstheo-
rien3. Kaufmann hat aber in ihrem Vorwort zur Dissertation von Rüther
dem Ansatz attestiert, neue Fragestellungen aufgeworfen zu haben, die
zu klären zwingen, welche empirischen Ansätze „der einmal als ,alte'
Kriminologie bezeichneten Forschungen unverändert weitergeführt
werden können, welche von ihnen einer methodischen Erweiterung
bedürfen, um den labeling-Aspekt einzubeziehen, und welche gar
unhaltbar geworden sind"4.
Die mitschwingende Skepsis galt vor allem dem Ausschließlichkeits-
anspruch, mit dem der labeling approach eine Zeitlang, zumindest in der
Bundesrepublik Deutschland, auftrat und der in scharfem Kontrast zu
seiner Theorielosigkeit im Sinne empirischer Uberprüfbarkeit stand5.
Inzwischen ist es still(er) um ihn geworden. Unter den vielen Gründen
war es auch seine innere Widersprüchlichkeit, die seine Weiterentwick-
lung und damit die Konsolidierung der Kriminologie als einer vom
Strafrecht abgenabelten Wissenschaft hinderte. Sie lag u. a. darin, daß
in: Meier, R.F. (Ed.): Theoretical Methods in Criminology. Beverly Hills u.a. 1985,
S. 23-50 (S. 34 ff).
374 Klaus Sessar
wenn man von der Annahme, auf der er gründet, abläßt7. Benötigt hätte
man mit anderen Worten eigene Kriterien der Zuschreibung (an irgend
etwas muß sich Kontrolle orientieren, schließlich wird nicht jeder
Mensch kraft seiner Schichtzugehörigkeit verfolgt oder nicht verfolgt),
die man nicht hatte, so daß man nicht umhin konnte, sie dem Strafrecht
zu entnehmen, womit freilich der Ansatz Gewicht verlor: interessant
wurden „nurmehr" unterschiedliche Bedeutungszuweisungen aufgrund
unterschiedlicher Bewertungen strafbaren Verhaltens 8 . Zwar gehörte
zum Thema auch der Komplex einer schichtspezifisch gemeinten oder
sich schichtspezifisch auswirkenden Normsetzung (Anatole France: „In
seiner majestätischen Gleichheit untersagt das Gesetz sowohl den Rei-
chen wie den Armen, unter Brücken zu nächtigen, in den Straßen zu
betteln und Brot zu stehlen"), doch galt das zentrale Interesse den
Normdurchsetzungsprozessen. Die Normgenese als Forschungsthema
wird eigentlich erst seit kurzem entdeckt.
Erst der Bedeutungsaspekt brachte den eigentlichen empirischen
Zugang zur Normdurchsetzung. Es wurde jetzt nämlich möglich, auf
der Mikroebene die Entscheidungsprozesse von Polizei, Staatsanwalt-
schaft, Gericht oder Sozialarbeit entweder statistisch, durch einen input-
output-Vergleich (und durch die Analyse der „black box"), durch
teilnehmende Beobachtung von Interaktionsprozessen oder durch Ein-
stellungsmessungen herauszuarbeiten. Der theoretische Rahmen, soweit
man von einem solchen noch sprechen konnte, postulierte die Diskre-
wo es nicht um ihr Ob, sondern um ihr Wie geht, also z. B. um die Art der Deliktsbege-
hung. Dies ist dort mehr als reine Dogmatik, wo hiervon unterschiedlich schwere
Strafen abhängen (z. B. bei Raub statt Diebstahl). Eine besondere Bedeutung hat vor allem
der Vorsatzbegriff, mit dem z.B. darüber entschieden wird, ob jemand wegen einer
Körperverletzung oder einer (versuchten) Tötung bestraft wird. Solange der Vorsatz als
eine (innere) Tatsache angesehen wird, bestehen zwar außerordentlich große Schwierigkei-
ten der Beweisführung, doch ist, wenn diese fehlschlägt, „nur" eine falsche Subsumption
vorgekommen; der Richter hat sich geirrt. Verneint man den Tatsachencharakter des
Vorsatzes und „rechnet man ihn als Geistiges zu" (Hruschka), fehlt also die Anbindung an
die psychologischen Komponenten von Verhalten, ist eine falsche Subsumption nur noch
schwer vorstellbar, einfach weil es keine Subsumption, sondern jetzt eine Definition, also
Konstruktion ist; der Richter hat sich nicht geirrt, sondern allenfalls eine intersubjektiv
unzugängliche Entscheidung getroffen. Hierzu Sessar, K.: Rechtliche und soziale Prozesse
einer Definition der Tötungskriminalität. Freiburg i.Br. 1981, S. 18 ff, 80 ff; Hruschka, ].:
Uber Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes, in: Festschrift für Theodor Klein-
knecht. München 1985, S. 191-202.
376 Klaus Sessar
' MacNaughton-Smith, P.: Der zweite Code. Auf dem Wege zu einer (oder hinweg
von einer) empirisch begründeten Theorie über Verbrechen und Kriminalität, in: Lüders-
sen, K., Sack, F. (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche
Reaktion auf Kriminalität 1. Frankfurt am Main 1975, S. 197-212.
10 Kerner, H.-J.: Straftaten, Straftäter und Strafverfolgung. Bemerkungen zu offenen
Fragen einer kritischen Kriminologie, in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.):
Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven. München 1974,
S. 190-210.
11 Schur, E. M.: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. Etikettierung und
gesellschaftliche Reaktionen. Frankfurt am Main 1974, S. 19.
12 Swigert, V.L., Farrell, R.A.: Murder, Inequality, and the Law. Lexington, Mass.
1976, S. 4 f; vgl. Sessar (Anm.8), S. 14.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 377
13 Vgl. Lüderssen, K., Sack, F. (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissen-
schaften für das Strafrecht. 2 Teilbände. Frankfurt am Main 1980. Auch Steinert konsta-
tiert, daß man sich allzu sehr die Fragen von den Juristen habe vorgeben lassen - Steinert,
H.: Zur Aktualität der Etikettierungs-Theorie, in: Kriminologisches Journal 1985,
S. 29-43 (S. 39).
14 Quensel, S.: Zur Double-bind-Situation von Fritz Sack: Versuch einer Rezension, in:
gen einsetze. Manchmal wird gar nicht bestritten, daß über die Strafbar-
keit bestimmter Verhaltensweisen sozialer Konsens besteht, doch reiche
er weiter als die durch die Strafnorm tatsächlich erreichten Personen-
kreise; es wird also der gekürzte Strafanspruch, die Nichtkriminalisie-
rung, für den Nachweis der Ideologienatur des Strafrechts herangezo-
gen". Ein unbefangener Betrachter mag auf Grund solcher Argumenta-
tion den Anwendungsbereich des Strafrechts erweitern wollen, trifft nun
aber auf einen zweiten Aspekt, dessen Vereinbarkeit mit dem ersten
nicht immer deutlich wird: es wird nunmehr bestritten, daß Verhalten,
das regelungsbedürftige Probleme aufgibt, nur strafrechtlich geregelt
werden könne. Eine der zentralen Fragen der kritischen Kriminologie
sei daher nach Schumann die Suche nach den Bedingungen, die dafür
maßgeblich sind, „daß bestimmte Konfliktsituationen durch das Straf-
recht und nicht durch alternative Konfliktregelungsformen behandelt
werden und vice versa"20.
Damit wird eine Beziehung zum aktuellen Abolitionismus hergestellt,
der allerdings nicht minder facettenreich und auch noch keine Theorie
ist21. In seiner Grundhaltung zielt er auf den Abbau von Strafen, z. B.
der Freiheitsstrafe über die Forderung nach Abschaffung der Gefäng-
nisse (dies ist freilich Kriminalpolitik und benötigt keinen neuen
Begriff), oder aber von Strafrecht. Der Abolitionismus tritt nun also aus
dem Rahmen vorgegebener strafrechtlicher Strukturen heraus, einstwei-
len zögernd und tastend und noch ängstlich gegenüber dem überwälti-
genden Anspruch einer Disziplin, deren Argumente, weil sie mit (staatli-
cher) Macht vorgetragen werden, den Anschein von Schlüssigkeit für
sich haben. Entsprechend reagieren Strafrechtler auf sozialwissenschaft-
liche Anliegen häufig mit einer Analyse der Konsequenzen für das
Strafrecht und das Strafjustizsystem, würde man ihnen folgen, um zu
dem Ergebnis zu gelangen, daß deren Etablierung nur noch Korrekturen
verträgt22. Die Analyse muß sich aber die Funktion des Strafrechts unter
Gesichtspunkten vornehmen, die nichts mehr mit ihm selbst zu tun
gegenwärtig aber weniger beachteten Tradition, sich auf die Kritik an diesem Apparat zu
beschränken. Die Gründe für diese Kritik sind aus der Sozialphilosophie besser zu
gewinnen, als aus jedem anderen Reservoir; die Sozialwissenschaften können diese Gründe
besser stützen, nicht ersetzen".
21 So gibt es eine Rechtsprechung, die bei trunkenheitsbedingten Unfallfolgen im
Straßenverkehr die Verteidigung der Rechtsordnung bemüht und die Vollstreckung der
Freiheitsstrafe verlangt, anders die Rechtstreue der Bevölkerung nachlassen würde (vgl.
Maiwald, M.: Die Verteidigung der Rechtsordnung - Analyse eines Begriffs, in: Goltdam-
mer's Archiv für Strafrecht 1983, S.29-72 (S.57f). Es geht also nicht darum, daß die
Bevölkerung beunruhigt wäre, würde die Freiheitsstrafe nicht vollstreckt werden, sondern
nicht beunruhigt ist, so daß man für Unruhe glaubt sorgen zu müssen, der man dann
abhilft. (Oder meinte man, was dann falsche Rechtsanwendung gewesen wäre, die
Abschreckung?)
24 Steinen, H.: Kleine Ermutigung für den kritischen Strafrechtler, sich vom „Strafbe-
dürfnis der Bevölkerung" (und seinen Produzenten) nicht einschüchtern zu lassen, in:
Liiderssen, K., Sack, F. (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten IV: Kriminalpolitik
und Strafrecht. Frankfurt am Main 1980, S. 302-357 (S.329).
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 381
der Hobbes'schen Frage: „Warum gehorchen die Menschen nicht den Regeln der Gesell-
schaft?" in: „Warum gehorchen die Menschen den Regeln der Gesellschaft?" (Wrong,
D. H.: The Oversozialized Conception of Men in Modern Sociology, in: American Socio-
logical Review 1961, S. 183-193) in den vorliegenden Kontext gehört. Denn die erste Frage
"is bad because it assumes that something clearly variable is in fact constant. In their
attempts to get out of this difficulty, sociologists are forced to pose the opposite question,
which leads to the 'interminable dialogue'" (Hirschi, T.: Causes of Delinquency. Berkely
u.a. 1969, S.4; hierzu Otto, H.-J.: Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle.
Wandel vom soziologischen zum ökonomischen Paradigma in der nordamerikanischen
Kriminologie? Freiburg im Breisgau 1982, S.49ff).
26 Näher hierzu Cohen, St.: Visions of Social Control. Crime, Punishment and
Classification. Cambridge 1985, S. 167ff, der Parallelen zu lllichs iatrogenetischem Modell
zieht: Die Verursachung von Krankheit durch eine expandierende Medizin. Die Krimino-
logie steht vor der einzigartigen Chance, die Hypothese der Abhängigkeit definierter
Kriminalität von eigennutzorientierter Strafrechtspflege quasi-experimentell zu überprü-
fen: durch den dramatischen Geburtenrückgang der letzten zwanzig Jahre bedingt bleiben
allmählich die existenzsichernden Zuwachsraten aus. Auf die ab jetzt zu erwartende stete
Abnahme zunächst der Kinder- und Jugendkriminalität, später der Erwachsenenkriminali-
tät sind (unter Berücksichtigung eines gewissen Normalisierungsbedarfs) zwei Reaktionen
vorstellbar: die Anpassung im Sinne drastischer Reduzierung von Mitteln und Kräften an
weniger Kriminalität oder umgekehrt die Anpassung der Kriminalität samt ihrer Kontrolle
an die vorhandenen Mittel und Kräfte. Erste empirische Uberprüfungen in Großbritannien
deuten eher auf die zweite Reaktion hin, vgl. Pratt,].: Delinquency as a Scarce Resource,
in: The Howard Journal 1985, S. 93-107 (S. 102f).
382 Klaus Sessar
27
Vgl. Sessar, K., Beurskens, A., Boers, K.: Wiedergutmachung als Konfliktregelungs-
paradigma?, in: Kriminologisches Journal 1986, S. 86-104 (88).
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 383
angegeben hatten, beantworteten danach nicht die weiteren Fragen zu deren Folge. Eine
Verweigererstudie ergab eine signifikante Beziehung zwischen der Antwortbereitschaft
und der - hier von uns definierten - Schwere des Delikts, wonach also bei leichten Taten
die weiteren Fragen eher unbeantwortet blieben. Vermutlich würden solche Opfer eben-
falls keine große Strafneigung an den Tag legen.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 385
Anzeige
- Versicherung 49,9 42,3 12,5 43,7
- Schadensersatz 21,3 16,5 22,9 20,6
- Bestrafung 16,9 27,8 33,3 20,4
- normale Reaktion 8,3 7,2 12,5 8,5
- sonstige Gründe 5,5 6,2 18,8 6,8
Nichtanzeige
- Probleme mit Polizei und 50,2 (3) 34,5 45,6
Justiz
- Geringfügigkeit der Tat 36,1 (3) 25,0 33,1
- private Angelegenheit, 7,5 (1) 26,2 12,8
Regelung
- Angst vor dem Täter 1,4 (1) 9,5 3,9
- sonstige Gründe 4,7 - 4,8 4,6
chung zu den situativen Bedingungen, Motiven und Zielen privater Strafanzeigen, in:
Kerner, H.-J., Kury, H., Sessar, K. (Hrsg.): Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsent-
stehung und Kriminalitätskontrolle. 3 Bände. Band 2. Köln u. a. 1983, S. 798-822
(S.810f); Hanak, G.: Kriminelle Situationen. Zur Ethnographie der Anzeigeerstattung,
in: Kriminologisches Journal 1984, S. 161-180 (S. 174ff); Hough/Mayhew (Anm.31),
S. 19 f.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 387
Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag. Berlin 1985, S. 1 1 3 7 - 1 1 5 7 (S. 1150 ff).
388 Klaus Sessar
a) Der Richter hat einen Diebstahl abzuurteilen. Er möchte, daß der Täter eine Geldstrafe
von 1000 D M zahlt (die in die Staatskasse fließt). Er sieht aber, daß das Opfer mit seinem
Schaden, der auch annähernd 1000 DM beträgt, leer ausgehen würde, denn der Täter
könnte nicht beides zahlen. Nehmen wir an, der Richter könnte zwischen folgenden
Möglichkeiten wählen. Zu welcher würden Sie ihm raten?
Tabelle 3 (Fortsetzung)
b) Der Richter hat einen Einbruchsdiebstahl abzuurteilen. Üblicherweise hat ein Täter bei
dieser Sachlage dafür 18 Monate abzusitzen. Der Richter sieht aber, daß dieser dann seinen
Arbeitsplatz verlieren würde. Das Opfer würde mit seinem Schaden von 6000 D M leer
ausgehen. Was würden Sie dem Richter raten?
Tabelle 3 (Fortsetzung)
c) Stellen Sie sich vor, ein Bekannter von Ihnen ist bestohlen worden. Er hat von einem
Gericht bereits Schadensersatz in voller Höhe zugesprochen bekommen. Der Täter hat
bereits gezahlt. Nun überlegt Ihr Bekannter, ob er sich weiterhin bemühen soll, daß der
Täter angeklagt wird.
Nicht- Opfer Summe
opfer
Was raten Sie ihm? Eigen- Woh- Gewalt-
tums- nungs- delikte
delikte einbruch
o/
/o % 0/
lo o/
/o o/
/o
- der Täter sollte auf jeden Fall 17,6 21,3 20,2 17,7 19,4
noch angeklagt werden
- es genügt, daß der Täter den 82,4 78,7 79,8 82,3 80,6
Schaden bezahlt hat
d) Nehmen Sie einmal an, in Ihrem Fall hätte es einen Richter gegeben, der Ihnen in der
Gerichtsverhandlung folgenden Vorschlag gemacht hätte. Der Täter soll sich verpflichten,
bei Ihnen den Schaden wiedergutzumachen. Wenn er dies tut, wird die sonst vorgesehene
Strafe - je nach d e r S c h w e r e der Straftat - ganz oder teilweise erlassen.
V. Schlußbemerkung
Die Kriminologie ist auf dem Weg zu weiteren Ufern. Nach einer eher
systeminternen Problematisierung der Kontrollstile des Strafrechts und
der Strafjustiz werden allmählich deren Grundlagen selbst überdacht
und mit der Forderung verknüpft, sie einem empirischen Prüfverfahren
zu unterwerfen. Im vorliegenden Zusammenhang ging es dabei um die
Legitimation von Strafe angesichts einer hierdurch, wie zu vermuten ist,
aufrechterhaltenen sozialen Friedlosigkeit, die sich in verbleibenden
Ohnmachts- und Frustrationsgefühlen der unmittelbar Betroffenen, der
Opfer also, und in einer gewissen generellen Ratlosigkeit auszudrücken
scheint, wie man auf Strafe aus sein kann, ohne sich um die akute
Problemlösung zu kümmern. Zumindest in der Bevölkerung existieren
sichtlich andere Prioritäten. Natürlich brachten die vorgestellten Resul-
tate, die Teil gesicherter internationaler Forschungen sind, noch nicht
den Abgesang auf das Strafrecht, vielmehr raten sie einstweilen zu
Vorsicht und Zurückhaltung bei der Geltendmachung allgemeiner Straf-
ansprüche, die sich weitaus eher als solche des Strafrechts oder der
Strafjustiz herausstellen könnten. Langfristig könnten sich die krimino-
logischen Bemühungen dann aber der Frage zuwenden, welche Verbin-
dungen das Strafrecht überhaupt noch zu sozialen Realitäten sucht, ob es
an ihrer Gestaltung im Sinne gesellschaftlicher Bedürfnisse und Ansprü-
che mitzuwirken bereit ist, was möglicherweise eine nur noch beschei-
dene Rolle bedeutete, oder ob es kraft der Eigendynamik von Profes-
sion, Organisation und Ideologie nicht längst zu einem bedarfsunabhän-
gigen Macht- und Ordnungsanspruch gefunden hat, nicht ungefährlich
angesichts des hochdifferenzierten Instrumentariums repressiver Sank-
tionen, das ihm zur Verfügung steht.
Zum Funktionswandel des Jugendarrests
F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN
dauer damals einen Tag betrug, durch einen nicht als Kriminalstrafe ausgestatteten
Jugendarrest unter Hinweis auf Försters Vorschlag durch den Sozialpädagogen und Psy-
chologen Curt Bondy, bis 1932 Leiter des thüringischen Jugendgefängnisses in Eisenach
nahegebracht worden. E r hat ihn dann auch nach Bondys Emigration in den Jahren vor
dem 2. Weltkrieg in der kriminalpolitischen Diskussion und insbesondere in der Jugend-
rechtskommission der damaligen Akademie für Deutsches Recht, vertreten. Als Dauerar-
rest schwebte mir ursprünglich ein längerer Freiheitsentzug nach dem Vorbild der engli-
schen preventiv detention vor. - Das Vorbild für den Freizeitarrest war für mich die von
dem Göttinger Vormundschafts- und Jugendrichter Fehler geübte Praxis, bei Jugendlichen
eine nach Tagen bemessene Freiheitsstrafe am Wochenende im örtlichen Gerichtsgefängnis
verbüßen zu lassen, eine Praxis, die sich damals bewährt hatte und wohl auch von manchen
anderen Jugendrichtern geübt wurde, um den Arbeitsplatz des Jugendlichen nicht zu
gefährden, andererseits aber auch den kurzen Freiheitsentzug für den Jugendlichen fühlbar
zu gestalten.
Funktionswandel des Jugendarrests 395
4 Böhm, (Fn. 1), S. 162, weist mit Recht darauf hin, daß selbst die DDR, die 1952 den
Jugendarrest als „nazistische Erfindung" abgeschafft hatte, 1968 mit dem Namen „Jugend-
haft" eine kurze Freiheitsentziehung (von 1 Woche bis zu 3 Monaten) als Disziplinierungs-
mittel bei weniger schweren Straftaten (u. a. „Rowdytum") wieder eingeführt hat (§ 74
StGB DDR). Vgl. auch Böhms Hinweis auf das gleichen Zielen dienende Niederländische
Trainingslager „De Corridor".
5 Vgl. dazu zutreffend Jung (Fn. 1), 621 ff.
396 Friedrich Schaffstein
Dauer- und Freizeitarreste. Erst seither ist unter dem Einfluß einer zwar
gelegentlich übertriebenen, doch in wesentlichen Punkten zutreffenden
Kritik am Jugendarrest' dessen inflationäre Anwendung zurückgegangen
und die Art seines Vollzuges gelockert worden.
Die Kritik kam, wie ebenfalls bekannt ist und hier nur andeutungs-
weise wiederholt zu werden braucht, von durchaus verschiedenen Seiten
und mit unterschiedlichen Argumenten7. Soweit diese Argumente vor-
nehmlich ideologisch bestimmt sind und auf der „antiautoritären Päd-
agogik" der frühen siebziger Jahre aufbauen, ist eine sinnvolle Auseinan-
dersetzung mit ihnen kaum möglich. So mag hier die Feststellung
genügen, daß m. E. Repression und Prävention sich nicht gegenseitig
ausschließen müssen und daß auch Strafe ein sinnvolles Erziehungsmittel
sein kann. Mag auch der Ausspruch „Zuchtmittel" uns heute als veraltet
erscheinen, so gilt das doch nicht von der Formulierungen des § 12 J G G ,
daß es im Jugendstrafrecht Mittel der Ahndung geben muß, um dem
Jugendlichen seine Verantwortung für das von ihm begangene Unrecht
und die Notwendigkeit seines Einstehens dafür eindringlich zum
Bewußtsein zu bringen.
Aber wer auch diesen unseren grundsätzlichen Standpunkt teilt, wird
in der geäußerten Kritik am Jugendarrest oder doch an dessen Handha-
bung in der jugendgerichtlichen Praxis manchen durchaus berechtigten
Ansatzpunkt finden. Dies gilt zunächst einmal von dem bereits seit
langem erhobenen Einwand, daß allzu oft „Arrestungeeignete", nämlich
solche, die nach einem bereits verbüßten Arrest rückfällig geworden
sind, ferner FE-Zöglinge oder bereits allzu schwer Verwahrloste zu
Jugendarrest verurteilt wurden, wobei dann gerade diese „Ungeeigne-
ten" die Rückfallstatistik des Jugendarrests erheblich verschlechterten. -
Besonders von sozialpädagogischer Seite wurde ferner eingewendet, daß
die kurze Dauer des Arrests und die Art seines Vollzuges eine pädagogi-
sche Behandlung, die noch dazu ursprünglich auf einige Gespräche des
Jugendrichters als Vollzugsleiter mit dem Arrestanten beschränkt sein
sollte, von vornherein ausschließen, und gerade diese Vollzugsweise den
6 Vgl. besonders Eisenhardt, Die Wirkungen der kurzen Haft auf Jugendliche, 1977;
Jung (Fn.l); Plewig, MschrKrim. 1980, 20ff; Pfeiffer (Fn. 1), 28ff. Ferner die Referate
von Plewig/Hinrichs, Bericht über die Verhandlungen des 17. Dt. Jugendgerichtstages in
Saarbrücken, 387 ff und von Feltes/Möller, Bericht über die Verhandlungen des 18. Dt.
Jugendgerichtstages in Göttingen, 311 ff.
7 Von den Kommentatoren des JGG hält Brunner, 7. Aufl. §16, Rdn. 5-7 trotz
Anerkennung mancher erhobenen Bedenken am Jugendarrest nachdrücklich fest, während
ihn Eisenberg, §13 Rdn. 9 für erzieherisch ungeeignet hält und daher ablehnt. Eine sehr
abgewogene Stellungnahme im Anschluß an die Reformvorschläge Eisenhardts findet sich
bei Jung (Fn. 1) und bei Böhm (Fn. 1) S. 161, 167 f.
Funktionswandel des Jugendarrests 397
8
Eisenhardt (Fn. 6).
9
So auch die Beobachtungen von Feltes (Fn. 6) S. 290 ff. Kürzliche Erkundigungen des
Verf. in einzelnen Anstalten bestätigen dies Ergebnis auch noch für das Jahr 1985.
10
In der Jugendarrestanstalt Königslutter wurde dem Verf. mitgeteilt, daß aufgrund
telefonischer Verständigung zwischen Jugendrichter und Jugendarrestanstalt ein sofortiger
Arrestvollzug immerhin in besonders dringenden Fällen erfolge.
398 Friedrich Schaffstein
11 D a die Kriminalstatistik die A r t der Weisungen nicht ausweist, sind hier nur
Vermutungen möglich. Auch ist zu beachten, daß Weisungen neben anderen Rechtsfolgen
(z. B. Betreuungsweisungen neben Jugendarrest) angeordnet werden können. Gleichwohl
zeigt das von Jahr zu Jahr steigende Vordringen der Weisungen, in 25 Jahren auf das
Viereinhalbfache, sehr eindrucksvoll die Wandlungen in der Rechtsfolgen-Praxis der
Jugendgerichte zugunsten ambulanter erzieherischer Maßnahmen, eine Entwicklung, die
durch die aus der Verurteiltenstatistik jedenfalls nicht ersichtliche Zunahme der Diversio-
nen noch wesentlich verstärkt wird.
400 Friedrich Schaffstein
stanten jetzt nur noch vorwiegend aus solchen Jugendlichen und Heran-
wachsenden bestehen, die nach Tat und Persönlichkeit in den oberen
Bereich sozialer Gefährdung, gleichsam an die Grenze zu den „schädli-
chen Neigungen", einzuordnen sind. Eben diese Vermutung wird durch
die einzige und deshalb dringend kontroll- und ergänzungsbedürftige
empirische Untersuchung bestätigt, die es über heutige Dauerarrestanten
gibt12. Pfeiffer hat alle Arrestanten, die in dem Jahre 1979 Jugendarrest in
den Arrestanstalten München, Hamburg und Kaufungen verbüßt haben,
auch daraufhin untersucht, wieviele von 9 sog. „Gefährdungsmerkma-
len" bei ihnen vorlagen. Hier kann es nicht darauf ankommen, des
Näheren über die Untersuchung Pfeiffers zu berichten oder gar eine
vielleicht in einigen Punkten mögliche Kritik an ihr zu üben. Vielmehr
scheint es uns in unserem Zusammenhang nur wichtig zu sein, daß
Pfeiffer auch auf der Grundlage seines groben Rasters zu dem von uns
eigentlich schon erwarteten Ergebnis kommt, daß von seinen 1563
Probanden nur etwa ein Viertel völlig unbelastet war, dagegen 40,3 %
zwei oder mehr „Gefährdungsmerkmale" aufwies und damit - so Pfeif-
fer - „nach offizieller Terminologie" mit großer Wahrscheinlichkeit
nicht mehr den „Gutgearteten" zugerechnet werden könne..
Ob man sie deshalb, wie Pfeiffer es tut, sämtlich als „arrestungeeig-
net" bezeichnen muß, ist eine andere Frage, die hier zunächst nicht
weiter diskutiert werden soll. Worauf es uns ankommt, ist allein die sich
durch Pfeiffers Zahlen bestätigende Feststellung, daß mit der Zunahme
informeller Verfahrensformen (Diversion) und der gleichfalls zuneh-
menden Bereitstellung ambulanter Alternativen die Klientel des Jugend-
arrests sich wesentlich verändert hat. Hält man an der Terminologie der
Richtlinien fest, so wird man feststellen dürfen, daß die sog. „Gutgearte-
ten" in ihm allenfalls nur noch die Hälfte der Insassen ausmachen,
während die andere Hälfte bereits als erheblich gefährdet angesehen
werden muß. Richtiger aber ist wohl, daß es überhaupt keine eindeutig
bestimmbare Grenze zwischen „Gutgearteten" und „Gefährdeten" gibt,
sondern zwischen diesen Gruppen nur fließende Übergänge bestehen,
innerhalb deren sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte dank einer
veränderten Jugendgerichtspraxis bei den Jugendarrestanten das Schwer-
gewicht auf die letzteren verlagert hat. Aber wie dem auch sei: jedenfalls
bedarf es der Klärung, welche kriminalpolitischen Konsequenzen aus
diesen Feststellungen zu ziehen sind.
Zunächst fragt es sich, ob überhaupt die Beibehaltung des Jugendar-
rests noch sinnvoll ist, wenn er für die Gruppe, für die er eigentlich
12 Pfeiffer (Fn. 1) S. 28 ff. Vgl. auch die eindrückliche Beschreibung der Motivationen,
die heute der jugendrichterlichen Anordnung des Jugendarrests zugrundeliegen, bei Möller
(Fn. 6) S. 115.
13 Pfeiffer (Fn. 1) S. 36 ff.
Funktionswandel des Jugendarrests 401
15 So mit Recht auch Pfeiffer (Fn. 1), S. 48. Doch bedarf es um eine Fehleinschätzung zu
Jugendgerichte dem Jugendarrest, so hat das immerhin vielleicht auch den Vorteil einer
20
H. Hauser, Der Jugendrichter, Ideal und Wirklichkeit, Krim. Stud. H e f t 31 (1980).
Funktionswandel des Jugendarrests 407
21Böhm ( F n . l ) S. 163 f.
22Pfeiffer ( F n . l ) S. 50. Auch Berkhauer, ZRP 1982, 145 ff, hält den Freizeitarrest für
„eigentlich überflüssig".
408 Friedrich Schaffstein
1 Vgl. Hilde Kaufmann u.a., Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren, 1975.
2 Eine Ubersicht zu den Reformvorhaben findet sich etwa bei Jung, Die jugendrichter-
lichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, ZRP 1981, 36 ff (Generalreferat auf
dem 18. Jugendgerichtstag).
3 Vgl. statt vieler etwa Schaffstein, Jugendstrafrecht. Eine systematische Darstellung,
8. Aufl., 1983, 34.
4 1974, 897 ff.
18. November 1983 zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes; dazu Eisenberg, Bestrebun-
gen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft
zu Berlin, Heft 84, 1984.
' Vgl. dazu etwa die Beiträge DVJJ (Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen -
Anspruch und Wirklichkeit, 1981.
7 Aus der reichen Literatur seien etwa genannt Kury/Lerchenmüller (Hrsg.), Diver-
sion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 1 und 2, 1981; Pomper/Walter,
Möglichkeiten der ambulanten Behandlung karrieregefährdeter junger Straftäter, 1980.
'Jung (o. Fn. 2); Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, Jugend-
richterliches Handeln vor dem Hintergrund des Brücke-Projekts, 1983, 119 ff passim.
410 Ellen Schlüchter
man einen anderen Zweck als bisher zu verfolgen hätte (dazu sogleich
II. 1.) und/oder der angestrebte Zweck noch nicht verwirklicht (unten
II. 2.), wohl aber realisierbar (vgl. II. 3.) wäre.
' Vgl. etwa Weinberger, Zur Theorie der Gesetzgebung, in: Mokre/Weinberger
(Hrsg.), Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. Überlegungen zu den Grundlagen der
modernen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung, 1976, 173 ff, 190.
10 Dazu etwa Baumann/Weber, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 9. Aufl., 1985, 12 ff
m. w. N.
11 Instruktiv Bruns, Das Recht der Strafzumessung. Eine systematische Darstellung für
Täter, in: Schaffstein/Miehe (Hrsg.), Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1968, 1 ff.
15 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 375, Anlage Nr. 5171, 8.
18 Vgl. schon die Diskussion auf den Jugendgerichtstagen 1953 in München („Neue
Wege zur Bekämpfung der Jugendkriminalität") sowie 1965 in Marburg („Die Rechtsbrü-
che der 18- bis 21jährigen Heranwachsenden, ihre Kriminologie und ihre Behandlung").
" Dazu neuerdings Miehe, Die neuere Entwicklung der Altersgruppenfrage im Straf-
recht und Strafprozeßrecht, ZblJugR 1982, 82 ff.
20 Aufschlußreich Müller-Dietz, Jugendstrafrechtliche Sanktionen. Ihr Anteil und ihre
Bedeutung für die Kriminalprophylaxe, in: Kury!Lerchenmüller (Hrsg.), Diversion.
Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 1, 25 ff, 52 ff.
21 Vgl. etwa Müller-Dietz (o. Fn.20).
22 Instruktiv Kaiser, Möglichkeiten der Entkriminalisierung nach dem Jugendgerichts-
gesetz im Vergleich zum Ausland, in: Zeitschrift für Pädagogik 29 (1983), 32; Walter,
Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität. Zur kriminologischen, kriminalpolitischen
und insbesondere dogmatischen Bedeutung von Diversion, ZStW 95 (1983), 32 ff.
23 Dazu Kury, Diversion - Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel amerikanischer
1983.
41 Dazu o. Fn. 15.
414 Ellen Schlüchter
22 ff passim.
45 (O. Fn. 42).
46 (O. Fn. 42), 44 ff, 48 ff.
47 Informativ Nothacker, (o. Fn. 42), 40.
48 (O. Fn. 42), 61 ff.
4' In diesem Sinne etwa Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 2. Aufl.,
1985, §5 Rdn.4.
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 415
2. Unzureichende Verwirklichung
In der Rechtswirklichkeit wird dem Vorrang des Erziehungsgedan-
kens nicht widersprochen, wohl aber zuwidergehandelt. Dieses Mißver-
hältnis von Anspruch und Wirklichkeit 54 hat Hilde Kaufmann55 als eine
der ersten aufgedeckt. Schon sie hat nachgewiesen, daß in der Praxis
Reaktionen des Jugendstrafrechts häufig wie Sanktionen im Erwachse-
nenstrafrecht zuerkannt worden sind. Läßt sich doch etwa die Auflage
im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 3 J G G wie die Geldstrafe im Erwachsenen-
strafrecht verhängen. Entsprechendes gilt für den Jugendarrest nach § 16
J G G , der wie eine kurzfristige Freiheitsstrafe eingesetzt worden ist.
Dieses Umfunktionieren von speziell jugendstrafrechtlichen Reaktionen
in Denkschemata des Erwachsenenstrafrechts bildet nur ein Beispiel
dafür, wie der Vorrang des Täterbezuges verloren gegangen ist. Dazu
findet sich gerade in neuerer Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen56.
Eine Besserung zeichnet sich zwar dank der „Brücke-Modelle" 57 ab.
Wo sie ins Werk gesetzt worden sind58, erleichtern sie den sinnvollen
Ausspruch von Arbeits- und Betreuungsweisungen. Dies ist als segens-
reich und verdienstlich anzuerkennen. Andererseits scheint sich der
Blick jetzt teilweise auf die Reaktionsform der Weisungen zu fixieren.
Immer noch wird das weite Spektrum der jugendstrafrechtlichen
Rechtsfolgen nicht ausgeschöpft. Besonders eine Reaktionslücke zwi-
schen den Weisungen und der schärfsten Form der Zurechtweisung -
der Jugendstrafe - wäre verhängnisvoll. Deshalb ist in die negative
Beurteilung des Jugendarrests im Schrifttum 5 ' durchaus nicht vorbehalt-
los einzustimmen. Zu folgen hat man ihr freilich für unerhebliche
Verfehlungen, die auf einen episodalen Charakter hindeuten. Hier wird
man nicht selten von einer Reaktion sogar absehen können60. Auch mag
sich leichten Erziehungsdefiziten mit Weisungen begegnen lassen. Dage-
gen wird man mit ihnen allein nicht auskommen bei erheblich geschädig-
ten Jugendlichen, deren Taten sich als Symptom für eine kriminelle
Entwicklung darstellen. Dann gilt es, die vom J G G bereitgehaltenen
56 Genannt sei statt vieler der Einführungsvortrag Heinz, gehalten auf der Jahrestagung
67 Dazu etwa v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissen-
schaft, in: Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf-
grund ihrer Schriften, 1959, 72 ff, 98; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter
besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., 1967, 461 passim.
68 Zum Unterschied „zwischen der gestaltenden und der kodifizierenden Gesetzge-
73
Leider ist zu diesem Projekt noch nichts veröffentlicht, sondern der positive Ausgang
der Verf. nur bei einem Besuch der Anstalt bekannt geworden.
74
Vgl. Schulz, Das Projekt „Remscheid" (in Vorbereitung).
422 Ellen Schlüchter
A R T H U R KAUFMANN
diesem Ziel alle Straftheorien einig. Was sie unterscheidet, ist die Auffas-
sung darüber, worin die „Richtigkeit", die „Gerechtigkeit" der Strafe
liegt-
Jede ernsthafte Gerechtigkeitstheorie muß von Aristoteles ihren Aus-
gang nehmen, mag sie sich dann auch mehr oder weniger weit von ihm
entfernen. Da es mir in dieser kleinen Studie aber nur darum geht, den
Blick auf diesen Ausgangspunkt hinzulenken, werde ich im wesentlichen
nur die aristotelische Gerechtigkeitslehre berücksichtigen. Aber noch
einmal: Ich bin nicht der törichten Meinung, daß Aristoteles alle unsere
Probleme schon gelöst hätte. Ich bin indessen sehr wohl der Meinung,
daß er uns helfen kann, wieder Klarheit zu gewinnen.
Aristoteles hat seine Lehre von der Gerechtigkeit hauptsächlich im
5. Buch der Nikomachischen Ethik entwickelt. Hier findet sich auch die
klassische Einteilung in „ausgleichende Gerechtigkeit" (iustitia commu-
tativa) und „austeilende Gerechtigkeit" (iustitia distributiva). Später ist
dieses Schema durch mannigfache Hinzufügungen und auch Abände-
rungen ergänzt und abgewandelt (vielfach auch verunklart) worden.
Darauf gehe ich hier nicht ein. Berücksichtigt sei jedoch noch eine dritte
Art der Gerechtigkeit, die „legale Gerechtigkeit" (iustitia legalis), mit
der Thomas von Aquin das aristotelische Modell vervollständigt hat1;
diese Berücksichtigung ist angemessen, weil der Aristoteliker Thomas
nur ins volle Licht gerückt hat, was bei Aristoteles schon implizit
angelegt war.
Zum Einstieg betrachte man das nebenstehende Schaubild.
Dazu im einzelnen. Die ausgleichende Gerechtigkeit (Aristoteles nennt
sie „berichtigend": öixaiov öiOQfkimxov) bedeutet die absolute Gleich-
heit unter den von Natur Ungleichen, aber vom Gesetz Gleichgestellten
(„alle Mörder", so unterschiedlich sie auch sind, erhalten lebensläng-
lich). Den „absoluten Straftheorien" geht es ausnahmslos um die Ver-
wirklichung dieser einen Art von Gerechtigkeit: um die Herstellung des
„Gleichgewichts" zwischen Schuld und Strafe, sei es nun eines ethischen
Gleichgewichts (Kant), eines logisch-dialektischen Gleichgewichts
(Hegel), eines ästhetischen Gleichgewichts (Herbart), eines religiösen
Gleichgewichts (Stahl), eines psychologischen Gleichgewichts (Merkel)
oder eines rechtlichen Gleichgewichts (Binding). Die durch das Verbre-
chen aus dem Lot geratene Ordnung muß wiederhergestellt werden, und
das muß sie auch dann, wenn das für keinen Menschen einen positiven
„Zweck" hat. In Kants berühmtem Inselbeispiel2 wird dieser ethische
Rigorismus besonders deutlich.
1
Thomas von Aquin, Summa theologica II, II, 57 ff.
2
Kant, Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, S.333.
Über die gerechte Strafe 427
Gerechtigkeit
Ü
-a
c
Absolute Straftheorien Relative Straftheorien
(punitur quia peccatum est) 3 (punitur ne peccetur)
<
Rechtsgüterschutz
trische, relationale 5 . Das Gleiche ist eine Mitte, sagt er, eine Mitte
zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Da aber das Gleiche ein
Mittleres ist, so ist auch das Recht ein Mittleres und demnach etwas
Proportionales.
Für Aristoteles ist daher die maßgebende Weise der Gerechtigkeit die
austeilende Gerechtigkeit als die verhältnismäßige Gleichheit in der
Behandlung einer Mehrzahl von Personen: die Zuteilung (öixaiov
öiavE|xr|Tixov) von Rechten und Pflichten nach Maßgabe von Würdig-
keit, Fähigkeit, Bedürftigkeit... Die distributive Gerechtigkeit ist mit
anderen Worten das später namentlich von Cicero so genannte Prinzip
des Suum-cuique-tribuere. Sie ist die U r f o r m der Gerechtigkeit, da die
ausgleichende Gerechtigkeit voraussetzt, daß die von N a t u r Ungleichen
erst durch einen öffentlichen Akt der austeilenden Gerechtigkeit gleich-
gesetzt werden („alle Kinder", „alle Minderjährigen", „alle Kaufleute",
„alle Mörder" . . . ) .
Folgt man Aristoteles, daß es für das Recht wesentlich auf die austei-
lende Gerechtigkeit und also auf proportionale Gleichheit ankommt
(und dafür sprechen gewichtige Gründe 6 ), dann ist Hauptzweck der
Strafe die Spezialprävention und dabei in erster Linie die Resozialisie-
rung. D e m Täter wird „das Seine" zugeteilt, das, was er nötig hat, um
künftig unauffällig in der Rechtsgemeinschaft leben zu können. Es ist
interessant, daß Thomas von Aquin, der den metaphysischen Sinn der
Strafe sehr wohl in der Vergeltung sieht, von der weltlichen Strafe aber
sagt, sie habe in erster Linie Heilscharakter („poena medicinalis") 7 . Das
für die „Heilung" des Täters, also für seine Resozialisierung Nötige
kann indessen gerade auch ein Verzicht auf Strafe sein, jedenfalls auf
ihren Vollzug, ein Verzicht, der unter dem Aspekt der ausgleichenden
Gerechtigkeit (der Vergeltung) als unmöglich, weil ungerecht, erschei-
nen muß. Kant hat das ja mit allem Nachdruck betont. Dabei hätte Kant
von seinem Autonomiegedanken aus eigentlich eher zur Spezialpräven-
tion kommen müssen, denn nur unter ihrer Rücksicht wird der Täter als
Zweck an sich selbst anerkannt und nicht als Mittel für fremde Zwecke
(Wiederherstellung der O r d n u n g , Abschreckung der Allgemeinheit,
Stabilisierung der Gesellschaft) dienstbar gemacht.
5
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131 äff.
6
Sie müssen im Rahmen einer Relationenlogik und Relationenontologie diskutiert
werden, was hier aber nicht möglich ist. Siehe dazu Arthur Kaufmann, Vorüberlegungen
zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen, in: RTh 17 (1986).
7
Thomas von Aquin, Summa theologica II, II, 108, 3.
Über die gerechte Strafe 429
9 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip (1961), 2. Aufl. 1976, bes. S. 201 ff.
10 Das kann man hauptsächlich in meinen Büchern: Schuld und Strafe, 2. Aufl. 1983,
sowie: Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, nachlesen.
11 Daß die Strafe die Schuld nicht stets ausschöpfen muß, habe schließlich auch ich
schon in jener frühen Zeit nicht angezweifelt; Das Schuldprinzip (Fn. 9), S.205.
Über die gerechte Strafe 431
das kann nicht das alleinige Prinzip sein, denn der Täter steht nicht
isoliert da, sondern ist stets Glied einer Gemeinschaft. Darum muß die
Strafe auch berücksichtigen, was der Gemeinschaft nottut (legale
Gerechtigkeit), und das, was ihr nottut, nämlich zur Erhaltung und
Stabilisierung ihrer Rechtstreue, ist in allererster Linie die Gewißheit,
daß auf die schuldhafte Tat die „gehörige" Strafe folgt (kommutative
Gerechtigkeit). Der Gemeinschaft tut, mit Kants Worten gesagt, not,
daß „jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind"12. Dabei
möchte ich das, was von der „positiven Generalprävention" zur legalen
Gerechtigkeit gehört, lieber „soziale Wiedergutmachung" nennen, weil
dadurch besser zum Ausdruck kommt, daß der Täter dies der Mitwelt
schuldet. Soweit die „positive Generalprävention" aber ein Akt der
ausgleichenden Gerechtigkeit ist, sehe ich keinen Grund, dafür nicht den
angestammten Ausdruck „Vergeltung" zu verwenden.
Hauptzweck der Strafe also ist die Spezialprävention, vornehmlich die
Resozialisierung. Zu ihm treten die anderen Strafzwecke: Vergeltung
(Schuldausgleich) und soziale Wiedergutmachung grenzengebend und
modifizierend hinzu (um Abschreckung braucht man sich bekanntlich
nicht zu sorgen). Der Rechtsgüter schütz schließlich, um den es bei der
staatlichen Strafe ja immer wesentlich geht, ist kein Strafzweck neben
den drei anderen, kein Teilaspekt der Strafe, er ist vielmehr das Resultat
einer optimalen Verbindung der drei Strafzwecke.
Mir scheint, daß dies eine taugliche Ausgangsbasis ist, um von da aus
die verschiedenen Einzelfragen zu diskutieren. So wird, um nur ein
Beispiel zu nennen, auf der Grundlage der hier eingenommenen Position
für die lebenslange Freiheitsstrafe deutlich, daß deren Problem darin
liegt, ob eine solche Strafe, die unter spezialpräventiven Gesichtspunk-
ten niemals zu rechtfertigen ist, doch unter dem Aspekt der Gesell-
schaftsstabilisierung als noch vertretbar angesehen werden kann. Viel-
leicht wird man das rebus sie stantibus bejahen müssen, d.h. für die
heute gegebenen Verhältnisse. Eines Tages wird es aber gewiß dahin
kommen, daß die Gesellschaft nicht mehr aus dem Gleichgewicht gerät,
wenn man auf Mord nicht mit lebenslanger Haft reagiert. Auch die
„gerechte Strafe" ist eine geschichtliche Größe. Sie muß immer wieder
aufs neue bestimmt werden. Ohne einen Orientierungspunkt gerät man
dabei aber leicht ins Ephemere und Unverbindliche. Dem vorzubeugen,
ist der Sinn der vorliegenden Studie.
A.
zug und Sozialtherapie hat für unsere Zeit besonders deutlich Eberhard
Schmidt beschrieben:
„Es ist ja so seltsam, wie im Bereiche des Vollzugs, wo es nicht mehr um die Frage geht,
welche straftheoretischen Gesichtspunkte für die Bestimmung der strafrechtlichen
Unrechtsfolgen entscheidend sein sollen, wo vielmehr der bestrafte Mensch mit seinem
Schicksal und seinem Sein in nun doch eben vor allem auch menschlichen Beziehungen
zu den leitenden Organen des Strafvollzuges tritt-, wie da der straftheoretische Streit
wesenlos wird und die alles beherrschende Frage sich einstellt: wie ist die Behandlung
des Gefangenen und die Arbeit an ihm so zu gestalten, daß der Vollzug mit allem, was
er ist und mit sich bringt, erstens sittlich verantwortet werden kann, zweitens den
Gefangenen vor einer Entpersönlichung und vor einer sittlichen Depravierung durch
die üblen Elemente bewahrt, drittens das Verantwortungsbewußtsein des Gefangenen
gegenüber seiner Schuld und seiner weiteren Lebensgestaltung wachruft und stärkt,
viertens das mit dem Gefangenen und seiner Welt gegebene soziale Problem in der
Richtung löst, daß er tunlichst nicht wieder rückfällig wird?
Für einen Strafvollzug, der in der positiven Lösung dieser vier Probleme seinen Sinn
sieht, wähle ich den Ausdruck „Resozialisierungsvollzug". Ich weiß genau, daß diese
Vokabel - um mehr handelt es sich nicht - eine Bezeichnung a potiori ist. Es gibt
Verbrecher, denen im Hinblick auf die Schwere ihrer Tat und die in ihr dokumentierte
„Schuld" unabweislich eine lange Freiheitsstrafe auferlegt werden muß, bei deren
Zumessung seitens des Richters der Gedanke an eine Resozialisierung des Täters ganz
zurücktritt, ja vielleicht deswegen gar nicht erwogen wird . . . Aber bei allen Gefange-
nen besteht die Sorge: wie werden sie in die Freiheit zurückkehren? . .
durch Vergleich mit dem, was kontextuell als gegeben hingenommen werden muß. Erst
das, was sich dann noch abhebt, ist spezifisch. Das mag anhand einer seinerzeit spektakulä-
ren Fehldiagnose demonstriert werden: In den 60er Jahren hat ein bekannter Gerichtsme-
diziner dem „Sozialanwalt" Dr. W. eine manifeste Schizophrenie des paranoischen For-
menkreises attestiert. Dieses Gutachten war Grundlage der stationären Untersuchung nach
§ 126 a StPO, die die Diagnose nicht bestätigte. Die Falschdiagnose war vermeidbar: Dr.
W. hatte über viele Monate öffentlich, insbesondere durch Flugblätter, höchsten Chargen
in Verwaltung und Gesellschaft der Stadt M. Mord, nächtliche Leichenexhumierungen
usw. vorgeworfen. Die dadurch ausgelösten Reaktionen führten u. a. zu dem Strafverfah-
ren, das nach Scheitern der Flucht zu Dr. W.'s zunächst ambulanter Untersuchung geführt
hat. Machte man sich die Ausgangslage klar: Auf der Flucht vor der Strafverfolgung unter
Festhalten an der Moritat mußten die Erlebnisreaktionen alle inhaltlichen Merkmale eines
schizophrenen Verfolgungswahnes umfassen mit der entscheidenden Ausnahme: mangels
Konsistenz und Resistenz im Explorationsgespräch fehlte über das Motivierte hinaus
gerade alles Zwanghafte eines Wahnsystems. Diagnose: Normale Reaktion auf selbstpro-
duzierte abnorme Erlebnisse.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 435
B.
Jede historische Beschreibung, die nicht eine totale Diskontinuität
zum Gegenstand hat, ist hinsichtlich des zeitlichen Beginns begrün-
dungspflichtig. Ich beginne mit „Des (Berliner) Cammer-Gerichts aller-
unterthänigstem Bericht, die Unterbringung der aus den Vestungen und
Zuchthäusern entlassenen betreffend" vom 6. Juni 1791 im wesentlichen
aus folgenden Gründen:
1. Dieser Bericht hat nachweislich unmittelbare Wirkung gehabt3.
2. Es spricht eine starke Vermutung für Auswirkungen auf das Preuß.
ALR, insbesondere 20 II §§5 und 1160.
3. Die Inhalte der unmittelbar ausgelösten Wirkungen werden weiter
diskutiert.
4. Die Materialien zu 1. sind von Ernst Ferdinand Klein mit einer
Einleitung versehen veröffentlicht, also ohne Archivarbeit zugäng-
lich\
3 Ich folge hier der Anordnung von E.F. Klein in seinen Annalen Bd. X I (1793):
I.
Die in Anm. 3 nachgewiesenen Schriftstücke füllen mehr Seiten, als
für diesen Beitrag bereitstehen. Deshalb ist äußerste Straffung unter
Verzicht auf viele interessante Details geboten.
Unmittelbarer Anlaß der Denkschrift des Cammergerichts v.
6. VI. 1791 ist ein konkreter Untersuchungsfall:
„Der Inquisit wurde nach ausgestandener Strafe mit zerfleischtem Rücken, arm und
abgerissen aus dem Zuchthause entlassen. Kein Gastwirth wollte ihn aufnehmen, von
der Obrigkeit, bey der er sich meldete, erhielt er ein Privat*Almosen, keine Unterstüt-
zung, keine Anweisung für die Zukunft, auch die letzte erbettelte Herberge sollte ihm
versagt werden, seine Noth stieg nach der Natur der Sache mit seinen Bedürfnissen, er
brach ein, stahl und ward methodisch von neuem ein Dieb.
Dies ist die Geschichte sehr vieler Verbrecher, was sind davon die Ursachen? 5 "
5 A . a . O . S. 126.
6 A . a . O . S. 126, 127.
7 A . a . O . S. 127.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 437
11 A . a . O . S. 128.
12 A . a . O . S. 129.
13 A . a . O . S. 129ff.
" A . a . O . S. 130.
15 Der auf Anordnung - offenbar des Cammergerichts - erstattete Bericht nebst Bilanz
17 A . a . O . S. 133.
18 S. in A n m . 3 .
19 A . a . O . S. 147.
20 A . a . O . S. 152f.
21 A . a . O . S. 154.
22 A . a . O . S. 155.
440 Reinhard von Hippel
II.
Die außerordentlich interessanten Details gerade in der letzten Phase
können hier unbeschrieben bleiben: sie spiegeln u. a. die Schwierigkeiten
der Schaffung eines Territorialstaates, der Ablösung alter Rechte wie
Zuständigkeiten (Grundgerichtsbarkeit!), die ohne korrespondierende
Einführung neuer Grundlagen der Finanzierung staatlicher Aufgaben
nicht möglich ist usw.
Auch für den Kriminalisten sind die Materialien alles andere als
uninteressant. Wir können sie dennoch ausklammern, weil die ganze
Angelegenheit zunächst einmal gesetzgeberisch im Preußischen Allge-
meinen Landrecht aufgeht. Die Dokumentation endet im Juli 1793, das
Publikations-Patent des ALR datiert v. 5. Februar 1794. Dazwischen
blieb nur noch Zeit zu vorwiegend redaktionellen Änderungen. Im ALR
finden wir in 20 II § 5 die Sicherungs- und in 20 II § 1160 die Besserungs-
detention, die sowohl zu einem Grundlagenstreit in der Theorie wie zu
zahlreichen Rescripten für die Praxis führen, bei denen es nicht zuletzt
um die Frage der Zuordnung der Detention zum Strafrecht oder dem
Polizeirecht und die damit verknüpften Zuständigkeiten nebst Kosten-
tragung (negativer Kompetenzkonflikt) geht. Zunächst der Wortlaut:
„ § . 5 . Diebe und andere Verbrecher, welche ihrer verdorbenen Neigungen wegen dem
gemeinen Wesen gefährlich werden könnten, sollen, auch nach ausgestandener Strafe,
des Verhafts nicht eher entlassen werden, als bis sie ausgewiesen haben, wie sie sich auf
eine ehrliche A r t zu ernähren im Stande sind."
„§. 1160. Macht er sich dieses Verbrechens (Diebstahl), nach zweimaliger Verurthei-
lung, zum drittenmale schuldig: so soll er nach ausgestandener Strafe, in einem
Arbeitshause so lange verwahrt, und zur Arbeit angehalten werden, bis er sich bessert,
und hinlänglich nachweiset, wie er künftig seinen ehrlichen Unterhalt werde verdienen
können."
25
Vgl. z.B. die Neue Ausgabe von 1817.
25>
Abgedr. bei Rabe, Sammlung Preuß. Gesetze und Verordnungen etc. IV (1817),
65 ff.
25b
Rabe, V (1817) 330 ff.
26
Vgl. dazu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechts-
pflege, 3. Aufl. 1965, §242.
27
Die Jahre 1799 bis 1801 sind auch in der wissenschaftlichen Diskussion ein D r e h - u n d
Angelpunkt: Feuerbach, Grolmann und Klein - in alphabetischer Reihenfolge - tragen
erneut und gestrafft ihre Positionen vor:
1800 - die von Feuerbach „Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen
Beleidigungen des Verbrechers. Nebst einer näheren Prüfung der Kleinischen Strafrechts-
theorie. Als Anhang zu der Revision des peinlichen Rechts" (1800) und Grolmann's
Abhandlung. „Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? Einige
Bemerkungen zur Beantwortung dieser Frage": Erschienen im ersten Band des von
Grolmann herausgegebenen „Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und
der Gesetzgebung" (1800), S. 241-264. 1801 veröffentlichte Klein die wohl knappste
Darstellung seiner Position (Annalen XXI [1801] 291-299). Literarisch ist alles vorbereitet:
Zweispurigkeit (Klein), Spezialprävention (Grolmann) und Generalprävention (Feuer-
bach).
2
» Rabe VI, 460 ff, dazu der Bericht von v. Goldbeck v. 24. II. 1801 ebenda. S. 4 6 2 ^ 6 4 ;
dazu Klein, Annalen XXI, 291-299 (298), ferner Eb. Schmidt, Geschichte, 3. Aufl. §243;
der einmalige (s. Kriegsmann, Gefängniskunde, 1912, S. 56 N : 4) Versuch scheiterte an der
UnZuverlässigkeit der Russischen Behörden: Ein Teil der Deportierten erschien in Ost-
preußen als organisierte Räuberbande. 1825 wünschen die Stände der Provinz Sachsen auf
ihrem ersten Provinzial-Landtage: „daß es Sr. Majestät dem Könige gefallen möge, gleich
der Großherzoglich Mecklenburg^Schwerinschen Regierung, mit der Brasilianischen
Regierung Unterhandlungen wegen Deportation der in Strafanstalten detinirten (!) Verbre-
cher und Heimathsloser dem Gemeindewesen gefährlicher Personen nach Brasilien, inso-
fern dieselben sich freiwillig dazu sich entschließen, anzuknüpfen", Rumpf, Landtags*
Verhandlungen der ProvinziaUStände in der Preußischen Monarchie, Zweite Folge 1828,
S. 135, dazu der Landtags^Abschied (Friedrich Wilhelm III.) v. 17. Mai 1827, Rumpf
3 a. O . S. 159: „In wie weit es zulässig sein werde, dem von Unserm getreuen Ständen
geäußerten Wunsche: die in den Strafe Anstalten detinirten Verbrecher und Heimathslosen
nach Brasilien zu deportieren, statt zu geben, wird sich erst nach Beendigung der jetzt im
Werke seienden Revision der Gesetzgebung und nach weitern Erfahrungen über die
442 Reinhard von Hippel
„an s ä m m l i c h e P r o v i n z i a l - L a n d e s - C o l l e g i a . . . w e g e n E i n s e n d u n g der
L i s t e n v o n den e n t w i s c h t e n V e r b r e c h e r n " , die V O v. 9. V I I I . 1 8 0 4 ,
„betr. die E i n r i c h t u n g einer Z w a n g s - A r b e i t s a n s t a l t für das H e r z o g t h u m
Magdeburg, Graffschaft Mansfeld und Fürstenthum Halberstadt"30,
das P a t e n t v. 8. Sept. 1 8 0 4 , „ w e g e n n ä h e r e r B e s t i m m u n g der G r u n d s ä t z e
ü b e r die V e r p f l i c h t u n g z u r V e r p f l e g u n g der O r t s a r m e n in der C h u r -
m a r k , N e u m a r k u n d P o m m e r n " 3 1 , das R e s c r i p t des J u s t i z m i n i s t e r i u m s
v. 8. Sept. 1 8 0 4 „an das Stadtgericht z u Berlin . . . betr. die G e l d s t r a f e n
bei u n b e m i t t e l t e n P e r s o n e n " 3 1 8 , u n d der „ G e n e r a l - P l a n z u r allgemeinen
E i n f ü h r u n g einer bessern C r i m i n a l - G e r i c h t s - V e r f a s s u n g u n d z u r V e r -
b e s s e r u n g d e r G e f ä n g n i ß - u n d S t r a f - A n s t a l t e n " v o m 16. Sept. 1804 3 2 .
D e r G r u n d g e d a n k e d e r E r n e u e r u n g der Strafrechtspflege ist für P r e u ß e n
o f f e n b a r in einer K a b i n e t t s - O r d r e v o m 2 8 . F e b r u a r 1801 3 3 n i e d e r g e l e g t :
„Das beste Strafgesetz wird indessen den Zweck immer nur sehr unvollkommen
erreichen, wenn nicht durch zweckmäßige Anstalten für die Besserung solcher Verbre-
cher, die dazu noch Hoffnung geben, und deren Separation von den incorrigiblen
Bösewichtern, auch dafür gesorgt wird, daß die aus den Gefängnissen zu entlassenden
Verbrecher Gelegenheit und Mittel erhalten, sich ihren Unterhalt auf eine redliche
Weise zu erwerben."
anderwärts mit dieser Maaßregel (!) gemachten Versuche bestimmen lassen"; dazu z.B.
Robert (v.) Mohl: Englische Strafcolonieen. In: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft
und Gesetzgebung des Auslandes X I (1839) 345 ff und Mittermaier: Die neuesten Ver-
handlungen in England über den Zustand der Transportation und die Nothwendigkeit der
Aufhebung dieser Strafart, ebenda. Bd. XIII (1841), 401 ff. - Generell ist anzumerken, daß
die heute gerne beklagte geringe Zahl an Strafarten eine Folge der Abschaffung einer
großen Zahl von Scheußlichkeiten ist. Vgl. z. B. die Verordnung des General-Gouverneurs
Justus Grunerv. 19./31.May 1814 für die Rheinlande, „wodurch einige Bestimmungen des
Strafgesetzbuches gemildert werden"; abgedr. in: Sammlung von Gesetzen und Verord-
nungen f. d. Königl. Preuß. Rhein=Provinzen. Bd. I, Koblenz, 1827, S. l f ; in der
Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 werden Strafen ausgeschlossen, Art. 10: „Der
bürgerliche Tod und die Strafe der Vermögenseinziehung finden nicht statt". Zu den
Strafarten z . B . : Mittermaier, in: v. Rotteck/Welcker (Hrsg.): Staats-Lexikon oder Ency-
klopädie der Staatswissenschaften usw. Bd. XV, 1843, S. 184-215.
29 Rabe VIII. (1818), 19-22.
ner Probanden in den §§ 1-9 unter der Uberschrift „Ueber den (!) Zweck und die (!)
Absicht der Zwangs^ Arbeitsanstalt, im gleichen über die Aufnahme in solche", die von
„bettelnden Invaliden" (§3) über „bettelnde Weiber und Kinder der dienstthuenden
Soldaten" (§ 4) und „Strafanstalt für geringe Verbrechen" (§ 8) bis zur „Besserungs- und
Erhaltungsanstalt für bestrafte Verbrecher" (§ 9) reicht.
31 Rabe VIII., 165 ff.
32 Abdrucke in: Mathis Allg. Jur. Mo. Sehr. f. d. Preuß. Staaten I (1805), 155-177;
Rabe XIII. (1825), 593-608; Klein's Annalen XXIII, 213-237. Zum Inhalt s. Eb. Schmidt,
Geschichte, 3. Aufl. §243.
33 Diese K O ist mir nicht zugänglich, ich zitiere nach Eb. Schmidt, Geschichte, usw.
§243, S. 255.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 443
III.
Mit dieser Kabinetts-Ordre sind wir gedanklich einerseits zu den
ebenso menschlichen wie gewissenhaften Ansätzen in den Denkschriften
des Cammergerichts (v. Kircheisen) und vor die Detention des A L R
zurückgeführt, andererseits wird der tatsächlichen Entwicklung einer
sowohl kategorial wie institutionell differenzierten Armen-, Irren- und
Kriminalrechtspflege vorgegriffen. Für beide Seiten kommt es bei der
Zuwendung zu Problemen des Vollzuges bei klarer Gedankenführung
schon 1801 auf eine Stellungnahme im Grundlagenstreit, der durch die
Namen Feuerbach, Grolmann und Klein exemplifiziert wurde, entspre-
chend wenig an, wie in dem Zitat von Eberhard Schmidt von 195734.
Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man weiß, daß für den
vermeintlich reinlichen Generalpräventionsideologen Feuerbach zwar
die Detention ebenso unerträglich sein mußte wie für v. Kircheisen, aber
für den Vollzug fest zugemessener Strafen gelten für ihn die Postulate
eines jeden realistischen Poenologen. Die Belege entnehme ich wegen
des systematischen Zusammenhangs seinem Lehrbuch in der Ausgabe
letzter Hand 35 , obwohl sich die Zitate aus vielen Schriften häufen ließen.
Ich wähle aus dem Lehrbuch § 1 8 mit seiner strikten Absage an die
Spezialprävention:
„Die bürgerliche Strafe als solche hat daher nicht zum Zweck und Rechtsgrund 1)
Prävention gegen die künftigen Uebertretungen eines einzelnen Beleidigers . . . Wenn
man dem System des Vfs. vorwirft, dasselbe begründe einen Terrorismus auf Kosten der
Menschlichkeit und anderer Staatszwecke; so vergißt man, daß, wie dem Vf. wohl
bekannt, grausame Strafen gerade das Entgegengesetzte der Abschreckung bewirken,
und daß es lediglich Sache der gesetzgebenden Staatsweisheit (d. Criminal-Politik) ist,
die Frage zu erörtern: welche Strafen zu bestimmen u. wie dieselben in der Ausführung
einzurichten seyen, um nicht blos dem Zwecke aller Strafen zu entsprechen, sondern
auch nebenbei, so viel möglich, andere menschliche und bürgerliche Zwecke zu fördern.
Die wohlverstandene Abschreckungstheorie und Benthams Princip des allgemeinen
Nutzens vertragen sich sehr gut miteinander"".
„Daß sittliche Anstalten (Erziehung, Unterricht, Religion) nicht ausgeschlossen
sind, sogar die letzte Grundlage aller Zwangsanstalten bilden und deren Wirksamkeit
bedingen, ist wohl unbezweifelt. Sed de his non est hic locus"37.
Feuerbach gilt zwar aus gutem Grund als einer der Begründer des
Rechtsstaates, aber er ist alles andere als ein straftheoretischer Fanatiker:
was den Filter des nullum crimen sine lege poenale nicht passiert hat,
IV.
Doch zurück zum Generalplan von 1804: Er hat mit Sicherheit eine
empirische Grundlage, denn ihm ging eine Kabinetts-Ordre v. 25. Juni
1799 voraus, mit der Friedrich Wilhelm III. anordnete, „daß über den
Zustand sämtlicher Strafanstalten bis zu den kleinsten Patrimonialge-
fängnissen, Bericht erstattet würde" 39 . Dieser Generalplan hat zum
vorrangigen Gegenstand die Differenzierung im Vollzug, schließt aber
die Detention (korrektioneile Nachhaft) auf der Basis des ALR und der
inzwischen eingerichteten Anstalten40 ein. So ist der nächste Schritt in
der Gesetzgebung nicht das von Friedrich Wilhelm III. im Landtags-
Abschied v. 17. Mai 1827 angekündigte neue Materielle Strafrecht, son-
dern die Criminal=Ordnung v. 11. XII. 1805. Damit verlagern sich die
inhaltlich gleichen Probleme zu Fragen wie: „Kann bei dem Eintritt
einer außerordentlichen Strafe auch auf Einsperrung bis zur Besserung
oder Begnadigung erkannt werden? 41 "
Der Schwerpunkt der nicht zum Ausgleich kommenden Probleme
liegt nunmehr wegen der spezialpräventiven Detention des ALR bei den
die Entlassung regelnden §§ 569-571 der CrO. Dies ist für die heutige
Strafrechtswissenschaft insofern ein Glücksfall, als die zwischen dem
Gesetzestext (ALR, CrO) und Justiz angesiedelten Instrumente der
Rescripte und Kabinetts-Ordre immer wieder gerade auch zur abstrak-
„Da diese Detentionen nach ausgestandener Strafe eigentlich nichts weiter als eine
Polizeimaßregel (!) sind, gleichwohl in den meisten Fällen alle Nachtheile der wirkli-
chen Bestrafung mit sich führen . .
E n t s p r e c h e n d n i m m t „die C r i m . D e p u t . des S t . G . z u B e r l i n , w e l c h e r
der O B . A p p . Sen. des K . G . (in d e m U r t e l v. 13. J u l i 1 8 2 7 ) beitritt, . . .
an, d a ß die D e t e n t i o n bis zur Besserung keine Strafe, s o n d e r n eine reine
P o l i z e i - M a a ß r e g e l sei, w e l c h e a u c h bei a u ß e r o r d e n t l i c h e n Strafen eintre-
ten m ü s s e ; dagegen statuirt die g e n a n n t e C r i m . D e p u t . E i n s p e r r u n g bis
zur Begnadigung n i c h t als p o e n a extraordinaria, weil eine s o l c h e E i n -
s p e r r u n g eigentlich eine lebenswierige F r e i h e i t s b e r a u b u n g enthalte, die
n a c h § 4 0 8 der C r O bei der a u ß e r o r d e n t l i c h e n Strafe n i c h t zulässig sei" 4 4 .
Besonders erhellend ist das n i c h t n ä h e r klassifizierte Schreiben des
J u s t i z m i n i s t e r s an den O b e r = A p p e l a t i o n s - S e n a t des C a m m e r g e r i c h t s v.
20. Juni 1823:45
„Die Einsperrungen bis zur Besserung, und resp. bis zur Begnadigung müssen, wenn
dabei auch zum Theil polizeiliche Zwecke zum Grunde liegen, nach der Verordnung
vom 26. Febr. 1799, doch als wahre Strafen angesehen werden. Diesen Charakter haben
sie auch dadurch nicht verloren, daß nach einer späteren Verfügung ein Zeitraum
bestimmt werden soll, vor Ablauf dessen die Entlassung des Verurtheilten und resp. der
Antrag auf dessen Begnadigung nicht erfolgen soll, indem die Absicht dieser Verfügung
nur dahin gegangen ist, die Dauer der Freiheitsentziehung mit dem begangenen
Verbrechen in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen, ohne zwischen der Einsperrung
während dieses Zeitraums und derjenigen, nach demselben einen wesentlichen Unter-
schied einführen zu wollen. Die Einsperrung bis zur Besserung und bis zur Begnadi-
gung ist also für alle damit bedrohete Verbrechen die ordentliche Strafe, welchen einen
vollständigen Beweis der Thäterschaft des Angeschuldigten voraussetzt. In Ermange-
lung dieses Beweises wird auf die gedroheten Strafen nicht erkannt werden können,
vielmehr wird die zu erkennende außerordentliche Strafe nur auf die Festsetzung eines
44 Etwas sehr Ähnliches hat Hans v. Dohnanyi 1936 in seiner Kommentierung des
Gesetzes v. 24. Nov. 1933 im Nachtrag zum Frankschen Kommentar unternommen.
47 Daß dieses Gesetz von der Militärregierung 1945 nicht aufgehoben worden ist, liegt
daran, daß es zwar für das NS-Regime ein willkommenes Hilfsmittel war, das aber
ansatzweise schon im ALR vorkam und in seiner modernen Ausprägung den durch die
IKV gerade international gestellten Forderungen der soziologischen Strafrechtsschule
entsprach, die auch das Instrumentarium im wesentlichen bereitgestellt hat. Für die
Amerikaner gab es entsprechende und z. T. sogar weitergehende Gesetze u. a. in Califor-
nien (seit 1917), die zu der Zeit noch in gutem Ansehen standen. Das Verdikt der
Verfassungswidrigkeit, gemessen an den Verfassungen der USA und des Staates California
hat der Supreme Court of California erst am 22. Juni 1976 gesprochen: People v. Olivas,
abgedr. in West's California Reporter Vol. 131 (1976) p. 55-69.
Wie räum- und zeitübergreifend diese Problemzusammenhänge sind, mag folgende
Gegenüberstellung zeigen: Nach Robert Waelder: Psychiatry and the Problem of Criminal
Responsability, 1952 (zitiert nach der Übersetzung in der dt. Ausg. v. Karl M enninger:
Strafe - ein Verbrechen? 1970, S. 265) ergibt sich folgender Teil einer umfassenden
Kombinatorik:
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 447
In der Zeit bis zum neuen Strafgesetzbuch von 1851 dominiert neben
den immer wieder auftauchenden prozessualen Problemen und dem
Versuch, durch negative Kompetenzkonflikte sich die ungeliebte Deten-
tion vom Halse zu schaffen, das Bemühen um sinnvolle Unterbringung
von Armen, Irren, Delinquenten in separaten und brauchbaren Anstal-
ten. Insbesondere galt das Bemühen auch einer Differenzierung im
Strafvollzug. Diese Entwicklung war durch den wirtschaftlich lange
nachwirkenden Zusammenbruch Preußens 1806 äußerst mühsam und in
vielem dürftig, u.a. weil auf ungeeignete Bausubstanz, insbesondere
säkularisierter Klöster, zurückgegriffen werden mußte. Hinzu kam als
Behinderung die dem Staate nicht mehr entsprechende verzettelte
Gerichtsorganisation, die bis hin zu den Kosten Auswirkungen hatte48.
Angesichts der Armut und der Schwierigkeiten bei der Bildung eines
modernen Territorialstaates ist es zu einer grundlegenden Neuordnung
des Gerichtsverfassungswesens vor den Reichsjustizgesetzen nicht mehr
gekommen. Damit war die Entwicklung in Preußen wieder beim Aus-
gang angekommen, allerdings belastet mit der Detention des A L R , mit
der man sich auf die unterschiedlichste Weise zu arrangieren verstand.
Unbezweifelbar bleibt, daß das realistisch Mögliche in der Verbesserung
der Strafrechtspüegt durch Verbesserung des Strafvollzuges zu suchen
Danach ist alleiniger Rechtsgrund der Behandlung und damit Freiheitsentziehung die -
von wem immer behauptete - Behandlungsfähigkeit.
Die Gegenposition: Robert v. Mohl: System der Präventiv-Justiz oder Rechts=Polizei,
zugleich Bd. 3 von: Die Polizei* Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates,
2. umgearb. Aufl. 1845, S . 2 5 f , nebst Anm. 8:
„Freiheitsstrafe ist die Vollziehung eines Unheiles der wiederherstellenden Rechts-
pflege; sie ist wegen ihrer eigenen Nothwendigkeit und Rechtlichkeit zu vollziehen, nicht
weil sie etwa bessern kann. Denn hieraus würde folgen, daß ein Verurtheilter, welcher
erklärt, daß er sich nicht bessern werde, ganz frei zu lassen wäre, sobald man nur von der
Wahrheit dieser seiner Erklärung überzeugt wäre; es würde ferner folgen, daß keine Strafe
mehr ein bestimmtes Maaß haben könnte, sondern je nach der Besserungsfähigkeit des
Einzelnen abzukürzen oder zu verlängern wäre, usw. Allerdings soll der Staat die
Gelegenheit, auf sittlich und rechtlich verdorbene Menschen günstig einzuwürken, nicht
vorübergehen lassen. Sittengesetz und Klugheit fordern dieß gleichmäßig. Allein die Strafe
wird deshalb kein Mittel für die Präventiv^Justiz, sondern nur eine der unzähligen
Ursachen, warum Rechtsverletzungen nicht begangen werden". (Aus Anm. 8, S.26).
48 Zu den tatsächlichen Schwierigkeiten beim Aufbau der Anstalten sehr aufschlußreich
die Vorstellung der Provinzial-Landstände (Plural) und der Landtagsabschiede, beides bei
Rumpf a . a . O . ab 1825 (Erscheinungsjahr), ab 15. Folge (1841) fortgeführt von Nitschke.
448 Reinhard von Hippel
c.
Nimmt man Mittermaiers Beschreibung als Programm, dann ist es ein
Programm des Alltags, angewiesen auf die Tugend der Constantia, bar
jeden Glanzes eitler Spekulationen. Dafür sind die normativen Vorgaben
realisierbar und in unserem Staate weitestgehend verwirklicht51, und die
Ausgestaltung des Vollzuges ist sowohl ausdifferenziert als auch der
Erfahrung gegenüber offen. Wie im Maßregelrecht durch eine Strategie
der Normativierung und damit empirischer Entleerung der Prognose-
problematik der Täter verloren gehen kann, habe ich an anderer Stelle52
zu beschreiben versucht. Die möglichen praktischen Folgen deckt das
unfreiwillige Experiment im sog. Baxstrom-Fall auf: „Im Jahre 1966
mußten aus verfahrensrechtlichen Gründen 967 Personen, die als gefähr-
lich angesehen und in einer Anstalt für psychisch Auffällige Rechtsbre-
cher untergebracht worden war, aus dieser geschlossenen Anstalt entlas-
sen und in allgemeine Krankenhäuser überführt werden, wo sie wie
gewöhnliche Patienten behandelt, z.T. auch ganz entlassen wurden.
Von ihnen mußten in den folgenden vier Jahren nur 3 °/o von neuem in
eine Anstalt für gefährliche, psychisch auffällige Rechtsbrecher einge-
wiesen werden; auch der Anteil der wegen neuer rechtswidriger Taten
zu Strafe Verurteilten war gering"53. Das zugrundeliegende Prinzip hat
bereits Ludwig Wittgenstein klargestellt:
w Die Frage der Eingliederung nach der Entlassung lag schon damals außerhalb der
Strafrechtspflege.
50 Art. Besserungsanstalten in v. Rotteck/Welcker (Hrsg.): Staats-Lexikon oder Ency-
klopädie der Staatswissenschaften, Bd. II, 1835, S. 504 ff (511).
51 Grundsätzlich fest zugemessene Strafen, volle Geltung des Schuldprinzips, vgl.
insbes. §§ 18, 29 StGB, aber auch die immer mehr verfeinerte Strafzumessung selbst.
52 FS für Ernst Wolf, 1985, S. 181.
„Jeder Erfahrungssatz kann als Regel dienen, wenn man ihn - wie ein
Maschinenteil - feststellt, unbeweglich macht, so daß sich nun alle
Darstellung um ihn dreht und er zu einem Teil des Koordinationsystems
wird und unabhängig von den Tatsachen"54.
Die offene Erfassung der prinzipiell immer wieder neuen Wirklichkeit
des Strafvollzuges, aber auch die zum Verzicht auf tödliche Feststellung
von Menschen mittels eines Koordinatensystems nötige Bescheidenheit,
gehören unübersehbar zum Paradigma des Lebens von Hilde Kaufmann.
54 Schriften Band 6: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, rev. u. erw.
im Strafvollzug, das 3. Kap. (S. 134 ff) mit der psychotherapeutischen Hilfe für den
Straftäter, namentlich der Sozialtherapie (S. 152 ff).
' Vgl. G. Radbruch: Elegantiae Juris Criminalis. Vierzehn Studien zur Geschichte des
Strafrechts. 2. Aufl. Basel 1950; ders., Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben.
2. Aufl., hrsg. von Erik Wolf, Göttingen 1957.
10 F. Lieber, Bruchstücke über Gegenstände der Strafkunde besonders über das Eremi-
verbindet". Radbruch merkt hier an, Lieber sei „unter den späteren
Strafvollzugsreformern" „zu Unrecht fast vergessen"; er wäre es, „auch
abgesehen von diesen besonderen Verdiensten, wert", „daß man neben
Karl Schurz auch seiner öfters gedächte als eines jener bedeutenden
Männer, die Deutschland in den Zeiten der Reaktion an Amerika
verloren hat"12. Radbruch verweist darauf, daß Lieber es war, „der für
die empirische Wissenschaft vom Verbrechen und von der Strafe das
Wort,Pönologie' geprägt hat"13.
Schon dieser Umstand, der freilich für die deutsche Strafvollzugsfor-
schung weitgehend folgenlos blieb, sollte die wissenschaftliche Auf-
merksamkeit auf jenes ungewöhnliche Lebenswerk lenken. Freilich hat
der Vorstoß Radbruchs nicht verhindern können, daß Lieber als Pöno-
loge vielfach unbekannt (und ungenannt) geblieben ist. Immerhin haben
einschlägige Publikationen aus neuerer Zeit auf diesen Aspekt seines
Werkes, insbesondere auf seine Forderung hingewiesen, „Lehrstühle der
Strafkunde oder Poenologie zu errichten, d. h. des Zweiges, der sich mit
der Strafe selbst und den Sträflingen beschäftigt"14, um eine wissen-
schaftliche Behandlung des Gefängniswesens im Interesse einer qualifi-
zierten Ausbildung zu ermöglichen und zu gewährleisten15; Günther
Kaiser hebt in diesem Kontext mit Recht hervor, daß ein solches
Konzept „in modifizierter Form heutzutage vor allem in den pönologi-
schen Werken des anglo-amerikanischen Schrifttums" akzentuiert
werde16.
Freilich hat dies Lieber auch in der amerikanischen Pönologie nicht zu
größerer Resonanz verhelfen können. Soweit ersichtlich, hat lediglich
Negley K. Teeters an jenen, von Kaiser hervorgehobenen Sachverhalt,
namentlich daran erinnert, daß Lieber in einem Brief an Alexis de
Tocqueville „penology" als „einen Zweig der Kriminalwissenschaft, der
sich mit der Bestrafung des Verbrechers befaßt", definiert habe17. Teeters
New York/Toronto 1974, S.495. Vgl. auch Teeters/Shearer (Fn.18), S.202f, 232;
McKelvey (Fn.18), S.26.
21 Lieber, Essay on Subjects of Penal Law and on Uninterrupted Solitary Confinement
Monographien dargestellt. Bd.I. Erlangen 1855, S.531, 573. Bd. III. Erlangen 1858,
S.357, 784; Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswis-
senschaft. Dritte Abt. Zweiter Halbbd. Text. München und Berlin 1910, S.667f; Merle
Curti, Das amerikanische Geistesleben. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
1947, S. 324, 417f, 525, 594, 615, 619, 628 f, 639; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im
neunzehnten Jahrhundert. 3.Bd.: Erfahrungswissenschaften und Technik. 3. Aufl. Frei-
burg i. Br. 1954, S. 360; Hans Maier, Politikwissenschaft. In: Staat und Politik. Hrsg. von
Emst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher. Frankfurt a. M. 1964, S. 260-270 (268).
23 Vgl. etwa Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden.
15. Aufl. 11.Bd. Leipzig 1932, S. 410; Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden.
17. Aufl. 11. Bd. Wiesbaden 1970, S.448; Encyclopaedia Britannica. Vol. 14. Chicago/
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 455
Discourse Delivered before the Historical Society of Pennsylvania, January 13, 1873. In:
Reminiscences, Addresses, and Essays by Francis Lieber. Vol. I of his Miscellaneous
Writings, Philadelphia 1881, S. 15-44; Lewis R.Harley, Francis Lieber. His Life and
Political Philosophy. New York 1899 (Reprint 1970); Elihu Root, Francis Lieber, Ameri-
can Journal of International Law V (1911), S. 84-117, 355-393, VII (1913), S. 453^69;
Joseph Dorfman and Rexford Guy Tugwell, Francis Lieber: German Scholar in America,
Columbia University Quarterly 30 (1938) 159-190, 267-293; B.E. Brown, American
Conservatives. The Political Thought of Francis Lieber and J. W. Burgess. New York
1951; Frank L.Freidel, Francis Lieber. Ein Vorkämpfer des nationalen Denkens und des
internationalen Rechts, 1957. Vgl. auch Fn.31.
456 Heinz Müller-Dietz
29 Die fraglos wichtigsten einschlägigen Werke Liebers bilden: Legal and Political
Hermeneutics; or, Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics.
Boston 1837, third Ed. 1880; Manual of Political Ethics. 2 Vols. Boston 1838, third Ed. by
T.D. Woolsey, Philadelphia 1875.
30 Vgl. Curti (Fn.22), S. 639; ders., Francis Lieber and Nationalism. In: The Hunting-
betätigen41. Vor allem den Bemühungen Niebuhrs, der sich nach wie vor
für das Schicksal seines jungen Protege interessierte, war es zu danken,
daß Lieber am 6.4.1825 freigelassen wurde42. Der Verdacht revolutionä-
rer Bestrebungen blieb freilich bestehen; die Situation äußeren Drucks
hielt aufgrund der fortdauernden polizeilichen Untersuchung an. Die
Schwierigkeiten, eine seinen Fähigkeiten angemessene Stellung in Preu-
ßen zu finden, ließen in Lieber schließlich den Gedanken reifen auszu-
wandern. Dieser Entschluß fiel ihm keineswegs leicht; aber er sah ohne
Anstellung angesichts der politischen Bedrückungen in seiner Lage
keinen anderen Ausweg. Mit Hilfe englischer Studien bereitete er sich
darauf vor; seinen Plan hielt er der Polizei wegen vor jedermann
geheim43. Am 17.5.1926 verließ er Berlin, am 27.5.1826 traf er in
London ein44.
41 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 60. Daraus ging die unter dem Pseudonym Arnold
Franz veröffentlichte Schrift „Vierzehn Wein- und Wonnelieder" (Berlin 1826) hervor. Die
literarischen Interessen sollten sich, wenngleich sie belletristisch keinen besonderen Aus-
druck fanden, auch später immer wieder äußern. Bemerkenswert erscheint etwa die
sprachkritische Notiz im Tagebuch vom 2 7 . 6 . 1 8 3 6 , die stilistischen Tadel an Jean Paul
mit der Forderung verbindet: „Wir Deutsche brauchten eine gerade, glatte Prosa mehr als
irgend eine andre Nation. Lessing, Goethe und Herder haben viel dafür gethan, aber bei
unsrer Neigung, im Abstrakten zu schweben, haben wir stets eine große Vorliebe für
Bilder. . . . Es ist so unendlich viel leichter, in hochfliegender Sprache zu schreiben und
Bilder zu gebrauchen, als eine gesunde, einfache, strenge, korrekte, präzise, durchdrin-
gende und dauerhafte Sprache anzuwenden" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 108).
42 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.59.
45 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.68. Einmal mehr hatte sich Niebuhr für ihn verwen-
det, wie er in einem Brief an Richter Thayer (vgl. Fn. 28) am 16.1.1868 schrieb (Denkwür-
digkeiten, Fn.31, S.276).
46 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 76.
51 Seine spätere Frau hatte Lieber bereits während seines Englandaufenthaltes kennen-
ste. In einem Brief vom Februar 1854 an George S. Hillard heißt es: „Der Süden vergißt,
daß die ganze Richtung der Geschichte gegen die Sklaverei ist" (Denkwürdigkeiten,
Fn. 31, S. 224). Noch deutlicher wurde er später, im Brief vom 5.9.1858, in dem er „den
afrikanische(n) Sklavenhandel" als „ein • gottloses, unchristliches Verbrechen" und
„Schandfleck für unsre Rasse" brandmarkte (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.248).
55 Im April 1854 gab er Hillard in einem Brief zu verstehen, daß es die Gelegenheit, hier
seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war, die ihn im ungeliebten Süden hielt. Doch
änderte das nichts an seinem Urteil: „Bald sind es zwanzig Jahre, die ich in dieser Gegend
zugebracht habe; es wäre Thorheit, etwas andres davon zu sagen, es war ein vergeudetes
Leben" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.228).
56 Außer den in Fn. 10 und 29 zit. Werken erschienen in jener Zeit etwa: Essays on
Labour and Property. New York 1841, third Ed. 1856; Ueber die Unabhängigkeit der
Justiz oder die Freiheit des Rechtes, in einem Briefe aus Amerika. Heidelberg 1848; On
Civil Liberty and Self-Government. 2 Vols. Philadelphia 1853, third Ed. by T. D. Woolsey
1874. Nicht minder groß als die Arbeitskraft Liebers muß auch seine Arbeitslast damals
gewesen sein. Das zeigt sein geradezu modern anmutender Stoßseufzer in dem Brief an
Mrs. George Tickner vom 17.4.1853: „wir leben in einer solchen Hast und müssen über
460 Heinz Müller-Dietz
solche Berge von Büchern, die täglich erwachsen, und die Geschichte, wie sie über uns
forteilt, nimmt unsre Aufmerksamkeit so unausgesetzt und verschiedenartig in Anspruch,
daß die Fähigkeit zu rezipieren und jede Stelle in einem Buche mit Thatsachen und
Ereignissen zu verbinden, die noch frisch in der Seele des Publikums sind, sich täglich
verringert" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S.219).
57 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.238f, 243.
Tagebuchnotiz etwas anders an: „Es ist doch sonderbar, daß die Auflage meiner .Politi-
schen Ethik' nahezu verkauft ist" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 129).
5 ' Vgl. Fn. 19.
62 Lieber, Remarks on the Relation between Education and Crime, in a Letter to the
Right Rev. William White. Philadelphia 1835. White war damals Präsident der „Philadel-
phia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons" (deren Mitglied Lieber war).
63 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.209f.
Gedanken, die von meinem Geiste Besitz ergriffen haben, und mich
beherrschen werden, bis ich sie bemeistert habe. Der ganze Gegenstand
in seiner elementaren, legalen, psychologischen, materiellen und histori-
schen Beziehung ist klar in mir, ganz und gar, und ich werde nicht
ruhen, bis ich das Werk vollendet habe. . . . Ich hoffe zu beweisen, daß
es die Pflicht des Staates ist, den Verbrecher zu bessern; auf alle Fälle
muß es sein Bestreben sein, denselben nicht zu verschlechtern. In dieser
Beziehung weiche ich von Feuerbach und allen andern Publizisten ab.
Andererseits bin ich weit entfernt von den krankhaften, religiösen und
sentimentalen Ansichten65. Ich habe selten einen guten Erfolg darin
gesehen, daß die Gefühle eines Gefangenen in religiösen Dingen erregt
wurden, aber dadurch freilich ist viel Gutes gestiftet, daß einer zur
Selbsterkenntnis seiner Beziehung zum Schöpfer gebracht wird. Die
Erfahrung der Gefängnisdirektoren bestätigt mich in dieser Ansicht."
Die Studie, die dann 1845 ihre deutschsprachige Nachfolge in Gestalt
der „Bruchstücke" fand, erschien 183866. Sie stellte gleichzeitig ein
Plädoyer für das pennsylvanische Einzelhaftsystem dar, das Lieber auch
bei anderen Gelegenheiten - etwa in seiner Korrespondenz und in
Gesprächen - vehement verteidigte. Die Pönologie bildete zugleich jenes
Thema (seines Lebens), in dem sich persönliche Erfahrung und wissen-
schaftliches Interesse begegneten. Noch einmal holte ihn seine politische
Vergangenheit ein. Von der allgemeinen Begnadigung für politische
Vergehen, die Friedrich Wilhelm IV. anläßlich seiner Krönung ausge-
sprochen hatte, war Lieber ausgeschlossen geblieben - was ihn sehr
schmerzte; erst auf ein Bittgesuch vom 10.11.1841 begnadigte ihn der
König und erlaubte ihm, nach Preußen zurückzukehren67. Wenige Jahre
später, im Frühjahr 1844, konnte Lieber den Plan einer Europareise, die
ihn nach England, Frankreich (zu Tocqueville), Belgien, Holland und
schließlich nach Preußen führte, verwirklichen.
In Berlin hatte er eine lange, denkwürdige Unterredung mit dem
König68. In deren Verlauf gab der König seinem Bedauern über den
Weggang Liebers und dessen ungerechte Behandlung durch den preußi-
65 Dazu paßt recht gut Liebers Urteil über Charles Dickens' Gefängnisdarstellung im
" Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 168. Bereits 1835 hatte Lieber v.Kamptz vorgeschla-
gen, „ein Gefängnis mit Einzelhaft bei Bonn einzurichten, als eine moralische Klinik für
die Studien der Kriminalisten und Verwaltungsbeamten im allgemeinen" (Denkwürdigkei-
ten, Fn. 31, S. 100).
70 Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 161 f.
hatte er vorher schon Material gesammelt. Vgl. den Brief vom 12.7.1842 an Hillard
(Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 146). 1844 erschien in den Heidelberger Jahrbüchern ein
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 463
Beitrag aus Liebers Feder „Ueber Hinrichtungen auf offenem Felde oder über Extramu-
rane und Intramurane Hinrichtungen". „Extramuran-Hinrichtungen sind ein Skandal und
gefährlich, unmoralisch" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 168).
73 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 165.
heit in allen die bürgerliche Freiheit betreffenden Dingen ist unbegreiflich" (Denkwürdig-
keiten, Fn.31, S. 190). In einem weiteren Brief vom 5.1.1851 an Hillard heißt es: „Das
Mandarinentum der deutschen Regierungen hat das deutsche Volk unfähig gemacht zu
handeln. . . . die Deutschen unternehmen keine Aenderung, ohne zuvörderst auf die ersten
prinzipiellen und metaphysischen Grundlagen derselben zurückzugreifen, ohne zuvor die
kleinlichsten Details im Geiste zu systematisieren, und wenn sie endlich all ihre Betrach-
tungen auszuführen gedenken, ist die Gelegenheit - mit dem breiten und schnellen Flug
der Möve - vorbei. Eine Theorie ist bedeutungsvoller für sie, als ein Prinzip. Betrachten
Sie ihre Juristen. Wie gelehrt, und doch wie arm an allem, was wichtig ist für die Praxis"
(Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.212f). Hillard gegenüber kam er in einem Brief vom
23.4.1854 erneut darauf zu sprechen, „welche erbärmliche Rolle Deutschland wieder in
der gegenwärtigen Konjunktur spielt". Es sei „kein Wunder, daß die Deutschen eine
melancholische Nation genannt werden" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.230).
464 Heinz Müller-Dietz
78
Vgl. Curti (Fn. 22), S.615, 619.
79
Vgl. z.B. Harley (Fn.28), S. 141-154; Root (Fn.28).
80
Charles Sumner gegenüber bemerkte er in einem Brief vom 14.12.1861: „Nichts ist
für moderne bürgerliche Freiheit gefährlicher, als eine große demokratische Armee;
. . . Das Schwert ist stets anmaßend. Ein Soldat schreibt dies" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31,
S. 257).
81
Vgl. Fn. 29 und 56.
82
Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 301 ff.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 465
85
Bluntscbli gegenüber kritisierte er in einem Brief vom 2.6.1866 die „Inhumanität,
teilweise bestrafte Verbrecher zu expatriieren... Ueber diese Sache herrschen in Europa
sonderbare Begriffe. Kürzlich erhielt die Gefängnis-Gesellschaft zu New York von einer
ähnlichen Gesellschaft in Liverpool einen Brief, in welchem man fragte, ob wir etwas
dawider hätten, daß Verbrecher, die sich gut aufgeführt, mit Empfehlungsbriefen zu uns
geschickt würden. New York ist voll von englischen Beutelschneidern und Dieben, von
polizeilich beaufsichtigten Personen. Ein Teil der Strafe wird ihnen erlassen unter der
Bedingung, daß sie nach Amerika auswandern, und die Kirchspiele, zu denen die Verbre-
cher gehören, sind gleich bereit, die Kosten der Transportation zu tragen" (Denkwürdig-
keiten, Fn. 31, S. 268 f).
8< In einem Brief vom 10.4.1872 an den Ehrenpräsidenten des internationalen Komi-
tees in Genf, General Dufour, sprach sich Lieber - im Interesse „internationaler Versöh-
nung und Vergleichung" - zwar für „die Rückkehr zu der Gepflogenheit des Mittelalters
und die Wahl von Rechts-Fakultäten berühmter Universitäten zu internationalen Schieds-
gerichten" aus; von der „Idee eines permanenten hohen Gerichtshofes von Nationen, von
dem alle internationalen Mißverständnisse entschieden werden sollten", hielt er jedoch -
wie schon früher - nichts (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 309 f).
85 Brief vom 22.9.1872 an v. Holtzendorff (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 316).
86
Perry in: Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.317.
17
Thayer (Fn. 28), S.34.
466 Heinz Müller-Dietz
s
» Vgl. Fn. 19 und 69.
85
Vgl. den Hinweis in Lieber, Contributions to Political Science (Fn. 25), S. 470.
Vgl. Fn. 21.
91
Vgl. Fn. 10.
92
Lieber (Fn. 10), S.5.
93
Lieber (Fn. 10), S. 13.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 467
54 Lieber (Fn. 10), S. 16 f. Gerechtigkeit i.S. der Gleichmäßigkeit des Strafens bildet
freilich ein Problem, „wenn jeder Verbrecher einen eigenen Bestrafungsfall bildet" (S. 45).
95 Lieber (Fn. 10), S. 15. „Ueber die Unabhängigkeit der Justiz" äußerte er sich im
gleichen Jahr (vgl. Fn. 56). Er sprach sich in dieser Schrift nicht nur für die strenge
Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung und die ausschließliche Bindung des
Richters an Gesetz und Recht, sondern auch für den Anklage- und den Geschworenenpro-
zeß aus.
96 Lieber (Fn. 10), S. 17.
" Lieber (Fn. 10), S. 6. Freilich hatte er in seiner Schrift über „Education and Crime"
(Fn. 62) mangelhafte Erziehung und (berufliche) Ausbildung als eine der gewichtigsten
Verbrechensursachen bezeichnet (S. 13).
99 Lieber (Fn. 10), S. 18.
101 Lieber (Fn. 10), S. 12. Dabei stand die Uberzeugung von der grundsätzlichen
Besserungsfähigkeit des Rechtsbrechers Pate (vgl. S. 8).
102 Lieber (Fn. 10), S. 8. Vgl. auch Fn. 70.
103 Lieber (Fn. 10), S. 9. Er nannte es „das Gesetz der sittlichen Reduplikation". „Bringt
man Verbrecher in enge Berührung, so müssen sie schlechter werden. Es ist nicht Sache des
Zufalls, sondern moralische Notwendigkeit" (S. 10; vgl. auch S.23).
104 Lieber (Fn. 10), S. 14.
115 Lieber (Fn. 10), S. 38 ff. Daß er insoweit mit detaillierten Vorschlägen aufwartet,
während seine Darstellung im übrigen eher skizzenhaft ausgefallen ist, mag auch auf
persönliche Hafterfahrungen zurückzuführen sein.
116 Lieber (Fn. 10), S.37.
117 Lieber (Fn. 10), S.36.
Lieber (Fn. 10), S. 12.
470 Heinz Müller-Dietz
124 „Natürlich ist das Gefangenhalten selbst eine Sache der Mechanik" (Lieber, Fn. 10,
S. 46).
125 Lieber (Fn. 10), S.22.
127 Lieber (Fn. 10), S. 28 f. Relativ ausführlich setzte sich Lieber mit dem Bedenken
auseinander, „daß das Eremitensystem nicht für Deutsche passen würde, und daß es
namentlich bei ihrem ernsteren Charakter häufig Wahnsinn hervorbringen würde" (S. 29).
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 471
Er räumte zwar ein, daß die Einzelhaft Deutsche psychisch zu Beginn stärker belaste als
Gefangene anderer Nationalität; „denn der Deutsche ist von Natur trübe, sucht mögliche
Schwierigkeiten auf, vergrößert sie und malt sich die Zukunft schwarz; er hat viel
Ausdauer, aber wenig Energie" (S. 30 f); indessen hätten sich gleichwohl negative Befürch-
tungen nicht bewahrheitet (S.31). Leicht wird man geneigt sein, solche Überlegungen als
völkerpsychologische Spekulationen ins kulturhistorische Museum zu verweisen; doch
welche Zeit wäre denn davor schon gefeit?
128
Lieber (Fn. 10), S. 46 ff.
129 Dabei spielt freilich eine Rolle, daß Lieber ungeachtet seines fortdauernden Interes-
Strafbemessung auch solche wie etwa die folgende: „ich habe nie ein lebhafteres Gerechtig-
keitsgefühl, in Hinsicht von Strafen, bei andern als Verbrechern gefunden. Die, die gegen
Leben und Eigenthum Anderer freveln, werden durch ungerechte Strafen, ob sie gegen
sich selbst oder Andere gerichtet sind, aufs tiefste empört" (5 f).
133 Vgl. Müller-Dietz (Fn. 15), S. 5 ff.
472 Heinz Müller-Dietz
134
Lieber (Fn. 10), S.33.
135
Lieber (Fn. 10), S.34.
136
Lieber (Fn. 10), S. 34. Diese Überlegungen erinnern an Franz von Liszts - spätere -
Forderung, den Inhalt, d. h. die Ausgestaltung der Freiheitsstrafe(n) (reichs-)gesetzlich zu
regeln. Dazu Müller-Dietz, Das Marburger Programm aus der Sicht des Strafvollzugs.
ZStW 94 (1982), S. 599-618 (611).
137
Lieber (Fn. 10), S.35.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 473
138
Lieber (Fn. 10), S. 33 f. „Für den Staatsmann von Profession hat das Strafwesen
keine Lockung; es ist nicht glänzend, es bietet keine Carrieren. Stellt man also keine
höheren Beamten und Leute von Nachdenken und Würde bei diesem Fache an, so bleibt es
in den Händen untergeordneter Leute, die, was herkömmlich ist, ehrlich fortzupflanzen
fähig sind, aber nichts weiter, während die höheren Beamten, unter die das Strafwesen als
ein Nebenzweig gestellt sein mag, nur die formellste Geschäfts-Controlle darüber zu
führen im Stande sind" (S. 33).
1)9
Lieber (Fn. 10), S.34.
140Zu dieser Problematik etwa Müller-Dietz, Strafvollzug und Strafvollzugsdienst
heute. MSchrKrim. 50 (1967), S. 281-297 (281 f).
Denkweisen von „Poenologen"1 über die
Einzelhaft" um die Mitte des X I X . Jahrhunderts2
ALBERT KREBS
I.
Von der Entwicklung des Gefängniswesens seit 1777
bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts
Der Meinungsstreit um die Durchführung des Freiheitsentzuges in
Einzelhaft, Gemeinschaftshaft mit Schweigegebot oder einer Synthese
beider Formen, erreichte in der Geschichte der Kulturnationen gelegent-
lich des Ersten internationalen Kongresses für Gefängniswesen einen
Höhepunkt, der auch noch bei den Debatten gelegentlich des Zweiten
Kongresses spürbar wurde.
Im September 1846 tagte in Frankfurt am Main die erste internationale
„Versammlung für Gefängnisreform". Der im Druck veröffentlichte
Wortlaut der Verhandlungen ermöglichte allen Interessierten einen Ein-
blick in die damaligen Probleme, die Mentalität der Zeitgenossen und die
Durchführung des Freiheitsentzuges durch die jeweils in ihren Staaten
Verantwortlichen kennenzulernen und in der Theorie nachzuvollzie-
' Max Grünhut, Penal Reform, Oxford 1948, p. 60. Harry E. Bames, The evolution of
Penology in Pennsylvania, Indianapolis 1927, p. 174. Hans Jürgen Kerner, Pönologie, in:
Günther Kaiser, Hans-Jürgen Kerner/Fritz Sack/Hartmut Schellhoss (Hrsg.) Kleines Kri-
minologisches Wörterbuch, 2. Aufl., Heidelberg 1985, S.338.
2 Hilde Kaufmann, Die geschichtliche Entwicklung des Freiheitsstrafenvollzuges, in:
Kriminologie, Bd. III, Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977,
S. 209-216.
3 Karl Theodor Welcker, in: Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisre-
form zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main
1847. Abgekürzt: Frankfurt a.M. 1846, S.109.
476 Albert Krebs
Penal Treatment, in: New Horizons in Criminology, 2nd Ed., New York 1952,
p. 399-418.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts 477
II.
Einzelheiten aus den Verhandlungen in Frankfurt am Main
und in Brüssel 1846 und 1847
Der Personenkreis, der an beiden Orten beteiligt war, gehörte zu der
Schicht europäischer Bildungsbürger, die sich für eine Erneuerung der
Gefangenenbehandlung einsetzte. Der Gedanke, Vertreter dieser
Schicht erstmals nach Frankfurt am Main zu einer Aussprache über
Gefängnisreform einzuladen, ging von dem Frankfurter Arzt Dr. med.
Georg Varrentrapp (1808-1886) aus. Durch medizinische Studien wäh-
rend seiner ausgedehnten Reisen in Belgien, Holland und England, auch
mit dem Problem des Freiheitsentzuges und seiner gesundheitlichen
Auswirkungen konfrontiert, erwachte sein Interesse an diesem Fachge-
biet. In der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main war er als Mitglied der
Gesetzgebenden Versammlung bald auch treibende Kraft zur Erneue-
rung des freistädtischen Gefängniswesens. Bei seiner Mitwirkung an der
Herausgabe der „Jahrbücher für Gefängniskunde . . . , " dem damals
führenden deutschen Fachorgan, vertiefte er seine Fachkenntnisse und
erweiterte auch seinen Freundes- und Bekanntenkreis, der auf diesem
Fachgebiet tätig wurde. — Als Liberaler, der sich an der gesamten
politischen Entwicklung beteiligte, erwirkte er mit Gleichgesonnenen
die Einberufung zu dem Fachkongreß nach Frankfurt am Main11.
Das Einladungsschreiben zu diesen Verhandlungen an die Fachwelt
aller Kulturnationen trug die Unterschrift von siebzehn für die Sache der
Poenitentiarreform übernational bekannten Fachkräfte. Die Bedeutend-
sten unter ihnen waren: der Belgier Ducpetiaux (1804—1868), Generalin-
spektor der Gefängnisse und Wohlfahrtsanstalten; der Hamburger Arzt
Dr. Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862)12, genannt der „deutsche
Howard"; der Präsident des Badischen Abgeordnetenhauses Prof. Dr.
Joseph Anton Mittermaier (1797-1867)", Rechtslehrer in Heidelberg;
der Franzose Moreau-Christophe (1799-1867), Generalinspektor der
Gefängnisse; der Generaldirektor der Gefängnisse in Großbritannien
Withworth Russell (1790(?)-1847); der „Holländische Howard" William
Advokaten 6 3 9
Ärzte 6 - 6
Baumeister 1 2 3
Gefängnisdirektoren 6 1 7
Mitglieder von
Gefängnisgesellschaften 1 5 6
Geistliche 5 4 9
Rechtslehrer 8 3 11
Richter 3 6 9
Ministerialbeamte 9 8 17
14 Prof. Dr. jur. Karl Theodor Welcker, in: Heinz Müller-Dietz, Das Leben des
Rechtslehrers und Politikers K.Th. Welcker, Freiburg i.Br. 1968.
15 Frankfurt a.M. 1846, S.8f.
16 Bruxelles 1847, p. 5.
von diesem Augenblick an gehorsam wie ein Kind und einer der
ordentlichsten Gefangenen". Ein zweites, noch stärkeres Beispiel wurde
ebenfalls gegeben. Gelegentlich eines Brandes in der Nachbarschaft der
Strafanstalt München ließ Obermaier die Inhaftierten eine Wassereimer-
kette zur nächstgelegenen Wasserstelle bilden und ordnete an: „so,
Kinder, löscht!". Die Gefangenen führten seine Weisung aus und kehr-
ten danach in die Anstalt vollzählig zurück22. - Trotz dieses Achtungs-
erfolges machte das System Obermaier nicht „Schule".
Die Aussprachen nahmen auf beiden Kongressen einen breiten Raum
ein und es herrschte unbegrenzte Redefreiheit. Die besonders interes-
sierten Poenologen wiederholten die Argumente, die für die Einführung
der Einzelhaft sprachen. Einwendungen wurden kaum erhoben. Bereits
am Ende der zweiten Sitzung der Frankfurter Versammlung faßten die
Teilnehmer folgenden Beschluß: „die Einzelhaft findet bei den Verur-
teilten im Allgemeinen ihre Anwendung mit all den Schärfungen und
Milderungen, welche durch die Art der Vergehen und der Verurteilun-
gen, durch die Individualität und Aufführung der Gefangenen bedingt
sind, - so daß jeder Gefangene mit nützlicher Arbeit beschäftigt werde,
jeden Tag in freier Luft sich Bewegung mache, religiösen, moralischen
und Schulunterricht erhalte, am Gottesdienst teilnehme, Besuche des
Geistlichen seines Glaubens, des Gefängnisvorstehers, des Arztes und
der Mitglieder der Aufsichtskommissionen und Schutzvereine, erhalte,
außer den anderen Besuchen, welche ihm durch die Hausordnung
gewährt werden können". Aus einem Vermerk geht hervor, die
Beschlüsse 1-3 und 5-8 sind teils einstimmig, teils fast einstimmig,
Beschluß 4 mit großer Mehrheit angenommen worden23. Welche Gegen-
stimmen oder Stimmenthaltungen zum 2. Beschluß erfolgten, ließ sich
nicht ermitteln.
Die noch folgenden 6 Beschlüsse befaßten sich mit Einzelfragen zum
Generalthema: Einzelhaft. Der 6. Beschluß warf besonders schwierige,
architektonische Probleme auf24.
III.
Die theoretischen Forderungen an die Durchführung der Einzelhaft im
Anstaltsalltag bedingten eine Denkweise, die zum Teil zu völlig wirk-
lichkeitsfremden Vorschlägen führte
Der fast einstimmig gefaßte 6. Beschluß lautete: „Die Zellengefäng-
nisse werden so erbaut werden, daß jeder Gefangene dem Gottesdienste
seines Glaubens beiwohnen, den Geistlichen, welcher den Gottesdienst
verrichtet, sehen und hören und von ihm gesehen werden kann, alles
jedoch, ohne dem Grundprinzip der Trennung der Gefangenen vonein-
ander Eintrag zu tun". In der dem Beschluß vorangegangenen Ausspra-
che, und trotz ernster Zweifel an einer befriedigenden Lösung, wurde
die Entscheidung gefällt: das Prinzip der Einzelhaft müsse auch für die
Teilnahme am Gottesdienst verbürgt bleiben25. Diese Forderung führte
zwangsläufig zu wirklichkeitsfremden Denkweisen.
Die „Ruhezeit" als architektonische Aufgabe im Sinne der Einzelhaft
zu gestalten, war problemlos. Die Ausgestaltung der Schlafzellen, auch
zu Arbeitszellen, schränkte freilich die Auswahl der Arbeit, und damit
die Produktion von Wirtschaftsgütern ein. - Die Probleme mehrten sich
bei der vorgesehenen täglichen Bewegung der Gefangenen in „frischer
Luft" unter Beibehaltung der absoluten Trennung untereinander. Die
Frage, wie sollte diese Trennung bei Unterricht und beim Gottesdienst
unter den gestellten Bedingungen verwirklicht werden, barg kaum lös-
bare Probleme in sich. Ein Tagungsteilnehmer bemerkte nüchtern: „je
mehr wir die Einzelheiten der Fragen behandeln, desto mehr Schwierig-
keiten werden uns begegnen"26. Uber einige bei den Verhandlungen
angedeuteten Lösungsversuche sei kurz berichtet. Dabei hat, wie bereits
betont, der Historiker des Gefängniswesens ausschließlich die Aufgabe,
die Ergebnisse seiner Forschungen darzulegen, Zusammenhänge aufzu-
weisen, nicht aber Werturteile zu fällen.
Als Mittel zur Aufrechterhaltung absoluter Trennung beim Aufent-
halt außerhalb der Einzelzelle sahen die Experten die „Gesichtsmaske"
an. Diese Maske war eine Kopfbedeckung, die „vorne geschlossen und
nur für die Augen zwei Öffnungen hatte"27. Wohl in Anknüpfung an
diese Methode verwies der Kongreßteilnehmer Advokat von Baumhauer
aus Utrecht auf die Schrift von von Froriep über die „Isolierung der
Sinne" hin, in welcher künstliche Mittel angegeben werden, um alle
Sinne „zu stopfen oder auszuschließen"28. Von Baumhauer führte dazu
aus: „wir alle bezwecken nur ein System, ein sittliches, religiöses,
unterrichtendes," . . . bei Trennung der Gefangenen untereinander anzu-
wenden, und „dass eigentlich eine Meinungsverschiedenheit nur in
28 D. Ludwig Friedrich von Froriep, Über die Isolierung der Sinne als Basis eines neuen
Systems der Isolierung der Strafgefangenen. In der Königl. Pr. Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt am 5. März 1846 vorgetragen von D. Ludwig Friedrich v.
Froriep, des Ordens der K. Württembergischen Krone und des Großherzogl. S. Ordens
des weißen Falkens Ritter, Großh. S. Obermedizinalrat zu Weimar und der K. Pr.
Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Direktor (24 S.m.vier Tafeln)
Weimar, Druck und Verlag des Landes-Industrie-Comptoirs, 1846.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 483
Betreff der Art und der Anwendung der Absonderung besteht. Einige
bedienen sich des Stillschweigens, um die Gefangenen voneinander zu
trennen, andere der Mauern. Der Unterschied liegt also nicht im System,
sondern in der Methode. Die Ersten, um ihren Zweck zu erreichen,
verboten dem Gefangenen zu sprechen, sie beraubten den Menschen
seines edelsten Kleinods, der Sprache. Dem Gefangenen ward durch das
Stillschweigen eine Strafe auferlegt, die der Folter von Tantalus ähnelt.
Die Verteidiger des Schweigsystems wurden übrigens bald das Fehler-
hafte ihres eigenen Systems gewahr, die Gefangenen verstanden sich und
verkehrten schweigend miteinander durch Zeichen. Um das Schweigsy-
stem (nichts anderes als Isolierung durch die Sinne) zum höchsten Grad
der Vollkommenheit zu bringen, müßte man erst jede sinnliche Wahr-
nehmung, jede Mitteilung, mittelst der Sinne beseitigt haben. Daß eine
konsequente Durchführung dieses Systems dazu führen müßte, beweist
eine neulich erschienene Schrift des Herrn von Froriep, über die Isolie-
rung der Sinne, in welcher in vollem Ernste künstliche Mittel angegeben
werden, um alle Sinne zu stopfen oder abzuschließen. Ich brauche nicht
auf das Unpraktische dieser Absperrungstheorie weiter hinzuweisen,
man stelle sich nur die Stunden der Mahlzeit, des Gottesdienstes, des
Unterrichts, jeden Augenblick des Tages vor, wo der Gebrauch des
einen oder des anderen Sinnes unentbehrlich ist"29.
Ohne zu den Ausführungen des Advokaten von Baumhauer oder des
Herrn von Froriep Stellung zu nehmen, sei darauf hingewiesen, daß von
Froriep bemerkt: er sei bemüht gewesen, „diese Ideen über Sinnisolie-
rungen und deren Benutzung zur Isolierung von Strafgefangenen, an die
Regierungen mehrerer größerer Staaten gelangen zu lassen, mit der
Bitte, sie als Disziplinarstrafen einer Prüfung in Zucht- und Besserungs-
häuser unterwerfen zu lassen." Von Froriep fügte hinzu, er veröffentli-
che diesen Vortrag, „um durch ihn für meine Vorschläge öffentlich eine
unparteiische praktische Prüfung zu erbitten"30. Ob und mit welchen
Ergebnissen diese Prüfung erfolgte, war nicht zu ermitteln. - Im Ver-
handlungsbericht der ersten Versammlung für Gefängnisreform wird die
Methode der Isolierung der Sinne als Mittel der Durchführung der
Trennung bei Aufenthalten des Gefangenen außerhalb der Einzelzelle
weder kommentiert, noch nochmals erwähnt.
Die Suche nach praktischen Möglichkeiten der Aufrechterhaltung des
Trennungsprinzips nach Verlassen der Zelle bewegte die Fachleute in
dem infrage stehenden Zeitabschnitt in ungewöhnlichem Maße. Es
wurde auch auf verschiedene Weise versucht, eine Lösung für die
Trennung der Gefangenen bei Bewegungen an frischer Luft zu finden.
In dem ersten, nach dem Prinzip der Trennung erbauten Eastern Peni-
tentiary in Philadelphia, erdachten die Architekten folgende Möglich-
keit: Im Anschluß an jede Wohnzelle wurde, nur von ihr aus betretbar,
ein von Mauern in Höhe der Zellenwände umgrenzter kleiner Spazierhof
angebaut31.
Eine andere Form von „Erholungshöfen" in den Zellengefängnissen
mit streng durchgeführtem Isolierungssystem waren die im Freien lie-
genden radförmigen Räume, speichenartig voneinander getrennt, in der
jeweils ein Gefangener sich zu ergehen hatte. Der Berichterstatter, ein
Gegner dieses Prinzips, fährt fort, „trotzdem sich dieser Modus der
Bewegung bei vollständiger Isolierung nur schwer durch einen anderen
wird ersetzen lassen, so gibt er doch zu Bedenken Anlaß, daß der in
einem engen Räume wie ein wildes Tier in dem Käfig einer Menagerie
auf- und abwandelnde Gefangene seine Erholung nur in verkümmerter
Weise genießen werde" 32 .
Weitere Anforderungen an die Architekten stellten die Vollzugsprak-
tiker; sie wünschten bauliche Einrichtungen, bei denen während des
Unterrichts und während des Gottesdienstes das Prinzip der Trennung
der Gefangenen gewahrt blieb.
Die Aussprache hierüber in Frankfurt ward lebhaft und zum Teil
leidenschaftlich geführt, sie fand einen Abschluß in dem bereits erwähn-
ten 6. Beschluß. Besonders lebhaft setzten sich hierfür die französischen
Teilnehmer ein, wobei der Generalinspektor Moreau-Christopbe mit
brillanter Beredsamkeit die geistigen Grundlagen der architektonischen
Lösungen aufzeigte und daraus Folgerungen für deren Gestaltung zog.
Die erste Möglichkeit der Teilnahme am Gottesdienst, bei Wahrung der
Trennung, wurde wiederum im Eastern Penitentiary in Philadelphia
erprobt. Dort „wohnten die Sträflinge dem Gottesdienst und der Predigt
bei, ohne ihre Zellen zu verlassen und zwar vermittelst der halbgeöffne-
ten Türen und eines in der Mitte des Gefängnisses angebrachten Altars
und einer Kanzel. Diese Art des Gottesdienstes war in jeder Hinsicht die
einfachste, aber es fragt sich, ob sie auch in religiöser Beziehung die
beste ist? Für die Quäker in Pennsylvanien mag sie genügen", meinte
Moreau-Christophe, „für den katholischen Kultus ist sie unzureichend.
Der Quäker trägt seinen Tempel in sich selbst, der Katholik dagegen,
vielleicht weil er weniger religiös ist, legt Wert auf den Glanz äußerer
Zeremonien. N u r durch Vermittlung der Sinne wird die Religion seinem
31
H.E. Barnes/N.K. Teeters, (s. Anm.7), p.403 m. Abb. Eastern State Penitentiary.
The exercise yards, p. 404.
32
Prof. Kim, Sonstige Gefängnishygiene und die Krankenpflege, in: Franz v. Holtzen-
dorff/Eugen v. Jagemann (Hrsg.), Handbuch des Gefängniswesens, Bd. II, Hamburg
1888, S. 197 f.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 485
IV.
Einige Denkweisen über die Auswirkungen der Einzelhaft in bezug auf
die Gefangenen und die Bediensteten in den Strafanstalten
In dem Programm für die Verhandlungen über Poenitentiarreform in
Frankfurt 1846 wurde das Thema: „Ist die getrennte Haft auch auf die
Weiber, Kinder und die angeklagten oder verurteilten Militärgefange-
nen" anzuwenden und in welchem Maße und mit welchen Milderungen
zur Aussprache gestellt. Weiter waren Verhandlungen über Schutzver-
eine und Rettungsanstalten für jugendliche Gefangene vorgesehen42.
Während der Frankfurter Versammlung wurde das Thema jugendliche
Gefangene aufgegriffen und beschlossen, die Verhandlungen zu diesem
Thema bis zum nächsten Jahre auszusetzen. „Ich bin der Ansicht, daß
die Frage in Betreff der unerwachsenen Missetäter, deren Besserung, die
Quellen vieler Verbrechen und der Uberfüllung unserer Strafhäuser
40
Frankfurt a.M. 1846, S. 19.
41
Frankfurt a.M. 1846, S. 123.
42
Frankfurt a.M. 1846, S. 7.
488 Albert Krebs
51
H. E. Barnes, (s. Anm. 1), p. 84, 125, 129. - Gustav Radbruch, Die Einzelhaft kann
ihre religiöse, gleichviel ob quäkerische oder katholische Konzeption nicht verleugnen,
auch ihrer säkularisierten Gestalt innewohnt immer noch ein verborgenes Depot religiöser
Heilskräfte, in: Die Psychologie der Gefangenschaft. (Erste Veröffentlichung, in:
ZStGW.1911 (32) S. 339/354. - Abgedruckt in: ZStrVollz. 1952 (3) S. 143).
52
S. Kap. III. vorliegender Abhandlung.
55
Bruxelles 1847, p. 185.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts 491
lungsthema die Behandlung der Frage vor: „Quelles sont les causes
principales de la criminalité et de l'augmentation du nombre des offenses
et des récidives? A quels remèdes convient-il de recourir pour prévenir
celles-ci, ou, du moins, pour en diminuer le nombre57?
V.
Zur Weiterentwicklung der Probleme des Freiheitsentzuges
Die Voraussage Mittermaiers bei seiner Frankfurter Schlußansprache:
„die Zeit ist ernst und wird immer ernster, der Opfer werden viele
gefordert werden" erwies sich als richtig.
Vor allem bedingt durch die deutsche Revolution 1848/49 konnte die
auf der Brüsseler Tagung für 1848 vorgesehene dritte Zusammenkunft
der Poenologen erst 10 Jahre später zur Fortsetzung der Erörterung über
„Einzelhaft" und andere Haftfragen einberufen werden58.
Die Berichterstattung über die Beratungen der dritten Sektion „Con-
grès international de bienfaisance de Francfort-sur-le-Mein. Session de
1857" über „réforme pénitentiaire" läßt schon in der Bezeichnung des
Kongresses den Wandel seiner Zielsetzung gegenüber den beiden voran-
gegangenen Versammlungen in Frankfurt am Main 1846 und Brüssel
1847 erkennen. - Eine Berichterstattung über seinen Verlauf und vor
allem seine Bedeutung, der Denkweisen zum Problem der Einzelhaft
und anderen Fragen des Freiheitsentzuges würden den Rahmen der
vorliegenden Abhandlung sprengen. Eine besondere Studie hierüber
wird zu gegebener Zeit vorgelegt59.
MICHAEL WALTER
I.
Mit dem Verhältnis der Kriminologie zum Strafrecht hat sich Hilde
Kaufmann wiederholt beschäftigt. Diesem Thema widmete sie insbeson-
dere ihre vielbeachtete Bonner Antrittsvorlesung1, bei der sie folgende
Position bezog:
Gemeinsamer Ausgangspunkt für Kriminologie und Strafrecht sei der
verantwortlich handelnde Mensch. Kriminologische Forschung untersu-
che Anlagen und Umwelt des Täters, mithin die verschiedenen krimino-
genen Faktoren. Doch erhebe sie nicht den Anspruch, damit schon alle
Bedingungen einer Tat zu erfassen. Vielmehr werde die grundsätzliche
Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln, von der das Straf-
recht ausgehe, seitens der Kriminologie anerkannt. Die kriminologische
Behandlungsforschung ziele gerade darauf ab, die Fähigkeit zur verant-
wortlichen Selbstbestimmung zu entwickeln und zu festigen.
Diese Sicht dürfte zwar das inzwischen wesentlich weitere Spektrum
kriminologischer Forschung, zu dem Konstitutions- und Kontrollpro-
zesse von Kriminalität ebenso hinzugehören wie viktimologische
Aspekte, nicht mehr vollständig wiedergeben. Im Hinblick auf die
Grenzziehung zum Strafrecht erscheint die Position Hilde Kaufmanns
indessen unverändert gültig: Während die Annahme individueller Ver-
antwortlichkeit für ein Strafrecht eine notwendige Voraussetzung dar-
stellt, vermag kriminologische Forschung sie zu relativieren, ohne des-
wegen jedoch im Ausgangspunkt abzuweichen. Die Grenzlinie beider
1 Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: J Z 1962, S. 193 f; zur Vor- und
II.
1. Wie eine Musterung des Schrifttums deutlich macht4, spielt bisher der
Begriff der kriminellen Energie im Rahmen von Tatschulderwägungen
eine ganz erhebliche Rolle. Mit dem Hinweis auf unterschiedliche
Ausmaße krimineller Energie hat zunächst das Bundesverfassungsgericht
zwei problematische Regelungen des materiellen Strafrechts für verfas-
sungskonform erklärt, nämlich die generelle Heraufsetzung der Min-
deststrafe auf 6 Monate bei einem Rückfall gemäß § 48 Abs. 1 StGB 5
2 Vgl. Hilde Kaufmann, (Fn. 1), S. 196, die insoweit allerdings noch weitergehend eine
„Harmonie" zwischen Strafrecht und Kriminologie behauptet.
3 Läßt sich der Handlungsunwert an der aufgewendeten „kriminellen Energie" ermes-
sowie die Regelung der §§211, 21 StGB, die die Verhängung der
lebenslangen Freiheitsstrafe auch im Falle erheblich verminderter
Schuldfähigkeit zuläßt6. Die betreffenden Argumentationen spiegeln
zwar in allererster Linie den strafrechtswissenschaftlichen Stand, doch
ist weder die indirekt erteilte verfassungsrechtliche Unbedenklichkeits-
bescheinigung zu leugnen noch der darüber hinausweisende Umstand,
daß gerade der Gesichtspunkt der kriminellen Energie auserkoren
wurde, die Verfassungsmäßigkeit zu stützen.
Tat, s. LK-G.Hirsch, 10. Aufl. 1985, § 4 6 Rdn.45, oder zur Einschätzung des Verhaltens
nach der Tat, s. Hertz, Das Verhalten des Täters nach der Tat, 1973, S. 65 u. S. 107.
11 S. etwa die Berichte von Mösl in der NStZ, z . B . 1981, S. 132 u. 133; 1983, S. 164;
III.
1. Soll es aber darum gehen, die Eigenbegrifflicbkeit des Strafrechts
hochzuhalten, erweist sich dann nicht gerade die kriminologische Absti-
nenz als unerheblich oder gar als wünschenswert? Die Antwort lautet
nein, weil Eigenbegrifflichkeit nicht als antiempirische Gegenwirklich-
keit mißverstanden werden darf. Soweit das Strafrecht auf empirisch
zugängliche Realitäten bezug nimmt, werden zwar die betreffenden
Begriffe wegen des normativen Verwendungszusammenhangs mit korre-
spondierenden Begriffen aus empirischen Theorien kaum identisch sein,
müssen sich jedoch an dem Erfahrbaren, das sie gestalten wollen,
ausrichten. Unter voller Anerkennung des normativen Regelungsbedarfs
sind als erstes die Notwendigkeiten zu klären, eine bestimmte Rekon-
struktion der Wirklichkeit vorzunehmen. Erst danach brauchen die
empirische Tuchfühlung und eine empirisch vertretbare Façon gesucht
zu werden. Im Hinblick auf unseren Gegenstand fragt sich daher
498 Michael Walter
24 S. OLG Frankfurt in: NJW 1972, S. 1524f; hinsichtlich ähnlich gelagerter Fälle, die
1957, S. 528.
27 S. SK-Horn, 3. Aufl. 1985, §46 Rdn. 73.
500 Michael Walter
indem man als Ausländer die spätere Ausweisung riskiere, sei ein
Ausdruck erhöhter verbrecherischer Energie 28 .
c) Vor allem wird angenommen, daß sich kriminelle Energie in einer
unerwünschten oder ausbleibenden Verarbeitung kriminalrechtlich ein-
schlägiger und eigentlich auch weniger einschlägiger Vorerfahrungen
äußere. Die inzwischen obsolete Rückfallvorschrift des § 48 StGB29 ist
nur die Spitze eines Eisberges, der Berg wird bleiben 30 . Ein früheres
Verfahren, das mit einem Freispruch endete 31 , unschuldig erlittene
Untersuchungshaft 3 2 , ein vorheriges Fahrlässigkeitsdelikt 33 wie natürlich
vorausgegangene vorsätzliche Delikte 34 werden allesamt als potentielle
Warnsignale verstanden, deren Überhören oder -sehen eine Willensstei-
gerung und damit eine Tatschulderhöhung im Sinne der allgemeinen
Zumessungsvorschrift des §46 StGB beinhalte. Bemerkenswert
erscheint das Gefälle, das hier zwischen der Theorie und der praktischen
Rechtsanwendung besteht. Es läßt sich aus der Kommentierung der im
Schrifttum oft erörterten Rückfallvorschrift des früheren §48 StGB
ersehen. Vom Ansatz her wurde regelmäßig auf den Wortlaut verwiesen
(„und ist ihm . . . vorzuwerfen, daß er sich die früheren Verurteilungen
nicht hat zur Warnung dienen lassen..."), der jede schematische Straf-
schärfung verbot 35 . Ging es aber schließlich um die Schwierigkeit, wie
denn der Richter die gesetzlichen Merkmale feststellen soll, las man
hilfreiche Hinweise wie den, daß beim Fehlen entgegenstehender
Umstände f ü r gleichartige Delikte von einer Vorwarnung auszugehen
sei36. Im übrigen hatte man eventuelle Probleme, die aus Fragen nach der
Realität der Warneffekte erwachsen könnten 37 , im Wege der Interpreta-
tion ausgeräumt. Vorausgesetzt wurde lediglich, daß der Täter die
Möglichkeit besessen habe, das vorherige Geschehen als Warnung zu
begreifen und sich in diesem Sinne motivieren zu lassen38. Damit stand
28
S. B G H bei Mösl in: NStZ 1981, S. 133, vgl. ferner Bruns, (Fn. 18), S.201 u. 202 u.
Schönke/Schröder/Stree, (Fn. 8), §46 Rdn.36.
29
S. 23.StrÄndG vom 13. April 1986, Art. 1, Ziff. 1 (in Kraft seit l . M a i 1986).
30
Abgetragen würde er am ehesten dadurch, daß man die bei § 48 vorgetragene Kritik
auf die Interpretation des §46 bezöge.
31
S. Bruns, (Fn. 18), S.227 u. S.285 u. 286 mit Hinw. auf die BGH-Rechtsprechung.
32
S. B G H bei Holtz in: M D R 1979, S.635.
33
S. Jagusch, (Fn. 9), B IV 7 b ff.
34
S. Lackner, Strafgesetzbuch, 16. Aufl. 1985, §46 A n m . 4 b) aa); B G H in: NStZ 1982,
S. 326.
35
S. insbes. BVerfGE 50, S. 125 f (137).
36
S. z.B. Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 42.Aufl. 1985, §48 Rdn. 10; LK-
G. Hirsch, (Fn. 10), §48 Rdn.36 Jescheck, Lb., 3. Aufl. 1978, S.718.
37
S. schon Stratenwertb, Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 17.
38
S. etwa Lackner, (Fn. 34), §48 Anm. 3 b) aa); eine weitere Ausdehnung ergäbe sich,
falls man mit einem sozialen Schuldbegriff eine mehr generalisierende Betrachtungsweise
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 501
IV.
Eine Musterung der einzelnen Fallgestaltungen unter Tatschuldge-
sichtspunkten führt teils zu Ubereinstimmungen und teils zu Divergen-
zen mit den vorgetragenen Ergebnissen.
1. Für die erste Fallgruppe, die Verführungsfälle, leuchtet die Annahme
einer geminderten Tatschuld ein. Versteht man unter Tatschuld die von
der Warte eines sozialen Wertesystems aus gesehen vorwerfbare Bildung
eines Tatentschlusses, hängt die Begründung und ebenso das Ausmaß
der Tatschuld von der individuellen Entscheidungsfreiheit ab. Sie wird,
worauf schon der Wortlaut des Gesetzes verweist, durch ein bestimmtes
Minimum an Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bedingt, s. §§ 20 StGB
und 3 J G G . Sozialpsychologisch verständliche Verhaltensanreize, Ver-
führungs- und Drucksituationen beeinträchtigen zumindest die Autono-
mie der Verhaltenssteuerung. Unter der Voraussetzung, daß dieses real
erfaßbare Phänomen im Rahmen einer normativ-wertenden Beurteilung
als strafrechtserheblich angesehen wird, ergibt sich dann eine vermin-
derte Tatschuld, ohne daß dabei die Notwendigkeit entsteht, den Begriff
der kriminellen Energie zu bemühen. Um insoweit alle erwähnten
Fallgestalten einzubeziehen, muß man allerdings auch ungezielte und
unbewußte Angriffe auf die Steuerungsautonomie anerkennen, also
deren Beeinträchtigung durch unbewußte verführerische Handlungen
und objektive Arrangements für möglich halten. Das aber ist zwanglos
durchführbar, weil umgekehrt nicht einzusehen wäre, warum es für die
Handlungsfreiheit des Verführten darauf ankommen soll, inwieweit
andere einen solchen Effekt in ihre Vorstellungen und Absichten einbe-
zogen haben.
2. Aus der Perspektive dieses Ansatzes würden die vorne unter III. 3.
zusammengefaßten Fallgruppen eher durch das Gegenteil einer Beein-
noch nie auf die Idee gekommen, die Strafe zu schärfen. Im Gegenteil wird hier inzwischen
überwiegend die Auffassung vertreten, daß die Strafe wegen der beruflich-disziplinari-
schen Nachteile zu mildern (!) sei, s. Bruns, (Fn. 18), S.254 mit weit. Hinw.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 505
des Begriffs der kriminellen Energie erfolgen. Wer handelt oder wer
weiterhandelt, nutzt seine Handlungsfreiheit im Vergleich zur Unterlas-
sungsvariante umfassender, weil er über das Geschehenlassen und eine
eventuelle Resignation hinaus in ein Geschehen steuernd eingreift. Mit
dem stärkeren Mißbrauch der Handlungsfreiheit ist zugleich ein höheres
Maß an Schuld verbunden. Im Rahmen der Tatschuld muß mithin nur
neben dem eingangs thematisierten Ausmaß der Entscheidungsfreiheit
das Ausmaß der Nutzung der Handlungsfreiheit berücksichtigt werden.
Die Einbeziehung des Nachtatverhaltens in das Schuldurteil über
Indizkonstruktionen erscheint zumindest soweit bedenklich, wie bela-
stende Momente zeitlich rückverlagert werden, ohne daß dafür ein
stringenter Nachweis geführt wird. Die Annahme, der Täter sei, weil er
später Vorteile gesichert und Spuren beseitigt habe, von vornherein mit
besonderem Kalkül zu Werke gegangen, unterstellt eine Geradlinigkeit
des Verhaltens, die keineswegs gegeben zu sein braucht. Der Anteil, der
dem Begriff der kriminellen Energie an dieser fragwürdigen Konstruk-
tion zukommt, ist der einer Vereigenschaftung situativer Momente,
wodurch sich eine gewisse Dauerhaftigkeit trotz des Fehlens eines
ausreichenden empirischen Belegs leicht behaupten läßt. Im übrigen
betreffen umsichtige Planungen im Stadium der Tatbegehung ebenso wie
solche vor der Tatbegehung bereits den Handlungsunwert63. Ein geson-
dertes Schuldmoment könnte außerdem wiederum aus dem Gesichts-
punkt abgeleitet werden, daß ein berechnendes Vorgehen eine umfassen-
dere und somit in diesem Kontext vorwerfbarere Nutzung der Hand-
lungsfreiheit beinhaltet.
Die Berücksichtigung des Tatleugnens und sogar des prozeßtakti-
schen Geständnisses zeigt erneut die verdeckte Präsenz präventiver
Erwägungen an. Wer Schwierigkeiten macht, sich unzugänglich zeigt
oder als besonders raffiniert erscheint, bereitet Sorgen bezüglich seines
künftigen Legalverhaltens. Aber abgesehen von der Tatschuldferne sol-
cher Gedankengänge entstehen zusätzliche rechtsstaatliche Bedenken.
Die nachteilige Berücksichtigung eines Geständnisses, weil es nur aus
prozeßtaktischen Gründen abgegeben worden sei, würde, denkt man
diesen Ansatz weiter, letztlich auch dazu führen, daß die Wahl eines
Verteidigers als straferhöhend in Betracht käme.
Was schließlich die Variante extensiver Tatbegehung und den Ent-
schluß dazu anbelangt, kann auf das Vorstehende verwiesen werden.
Details nur der Deliktsorganisation sind unerheblich, es ist beispiels-
weise gleichgültig, ob die Beute in einer Fuhre abtransportiert wird oder
wegen der begrenzten Ladekapazität des Wagens in mehreren Etappen.
Unterschiedliche Qualitäten der Rechtsgutsgefährdung werden bereits
63
S. Fn. 60.
508 Michael Walter
über den Handlungsunwert erfaßt. Soweit noch Raum für eine eigen-
ständige Tatschuldbestimmung verbleibt, wäre wiederum an die ver-
stärkte negative N u t z u n g der Handlungsfreiheit anzuknüpfen.
V.
1. Ziehen wir Bilanz, ergibt sich, daß der Begriff der kriminellen
Energie für die Bestimmung der Tatschuld nicht benötigt wird. In den
Fällen, in denen mit diesem Terminus Variationen der Tatschuld aufge-
spürt werden sollen, geht es entweder gar nicht um die Tatschuld,
sondern um präventive Aspekte, oder die Tatschuld ist sachgerecht in
anderer Weise erfaßbar. Abgestellt werden kann dabei - abgesehen von
der Entscheidung zu unterschiedlich pflichtwidrigem Verhalten - auf das
Ausmaß der Entscheidungsfreiheit und das Ausmaß der N u t z u n g der
Handlungsfreiheit. Der in §46 Abs. 2 StGB genannte „bei der Tat
aufgewendete Wille" ist geringer, wenn die Entscheidungsfreiheit herab-
gesetzt war, er ist stärker, wenn der Täter seine Handlungsfreiheit im
Vergleich zu anderen Fallgestaltungen umfassender genutzt hat.
2. Als problematische Funktionen des Begriffs der kriminellen Energie
haben sich folgende herausgestellt: die Ermöglichung beliebiger negati-
ver Zuschreibungen, die Vereigenschaftung situativer Momente und
insbesondere die Einfassung präventiver Erwägungen in Schuldkatego-
rien. Dieser letztgenannte Vorgang bedarf noch der weiteren Analyse,
damit die Leistungsfähigkeit des Begriffs in ihrer Gesamtheit deutlich
wird.
VI.
1. Die Notwendigkeit, Tatschuldmerkmale und präventive Überlegun-
gen zu entflechten und auseinanderzuhalten, ist heute weitgehend aner-
kannt 64 . Sie besteht insbesondere, wenn man das Strafrecht von der
Tatschuldseite her begrenzen und andererseits an präventiven Erforder-
nissen ausrichten will65. Je mehr der Schuldbegriff präventiv eingefärbt
wird, desto weniger vermag er die Begrenzungsfunktion zu erfüllen.
Umgekehrt erleichtert ein Konglomerat aus Schuld- und Präventions-
momenten auch nicht gerade eine empirische Kontrolle der besonderen
Präventionserwägungen. Beides nun, eine Aushöhlung der Begren-
zungsfunktion der Tatschuld wie eine empirische Ignoranz, ja sogar
Sperre, sind aber die Früchte des Argumentierens mit krimineller
Energie.
64
Eine Ausnahme bildet freilich Jakobs' Ansatz, der gerade auf der gegenteiligen
Annahme basiert, daß Schuld (general)präventiv zu bestimmen sei, s. Jakobs, Schuld und
Prävention, 1976, S.32 u. Lb. S.397.
65
S. Stratenwerth, (Fn. 37), S. 37.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 509
VII.
1. Befürchtungen einer unsystematischen und der rationalen Kontrolle
letztlich entzogenen Ausuferung strafrechtlicher Eingriffe erweisen sich
damit als begründet.
Die Gefahr, daß mit dem Begriff der kriminellen Energie praktisch
aus dem Nichts heraus über eine scheinbar kriminologische Begründung
eine gegenüber empirischer Kritik immunisierte Strafschärfung hergelei-
tet werden kann, läßt sich zusammenfassend in folgendem Stufen-
Modell darstellen:
a) Ein nahezu beliebig ausgewähltes Sachverhaltsmoment wird als
Ausdruck krimineller Energie angesehen. (Beispiel: Begehung der
Tat am „lichten Tage")
b) Es erfolgt eine negative Etikettierung/Zuschreibung. (Beispiel:
dreistes, skrupelloses Verhalten)
c) Das Verhalten wird vereigenschaftet. (Beispiel: In der Tat haben
latente Dreistigkeit und Skrupellosigkeit Ausdruck gefunden.)
d) Es wird ein Gefahrurteil abgeleitet. (Beispiel: Dreistigkeit und
Skrupellosigkeit - das Energiepotential - machen/macht künftige
Normbrüche wahrscheinlich.)
e) Es erfolgt eine Strafschärfung aus präventiven Beweggründen.
f) Für d) und e): Die Parallelität von Schuld- und Gefahrurteil
(„komplexe Würdigung") bedingt eine empirische Immunisierung:
Das Gefahrurteil und die aus dem Gefahrurteil hergeleitete Straf-
schärfung werden wegen der Verquickung mit dem Schuldurteil
erfahrungswissenschaftlich abgeschottet.
2. In der gegenwärtigen strafrechtlichen Grundlagendiskussion wird die
Vermischung von Schuld- und Präventionsaspekten, also ein wesentli-
ches Charakteristikum des bisherigen Verständnisses von krimineller
Energie, abgelehnt, aber weiter mit diesem Topos gearbeitet. Seine
Bedeutung soll nur außerhalb des Tatschuldbereichs liegen71. Während
mit diesem Begriff bislang überwiegend individualpräventive Anliegen
wie die künftige Abschreckung und Abschirmung des Delinquenten
assoziiert wurden, geht es Schünemann nunmehr in Fortführung des
Roxinschen Konzepts um generalpräventive Gesichtspunkte. Er recht-
fertigt die Existenz und Anwendung des Strafrechts damit, daß straf-
rechtliche Sanktionen die Geltung der sanktionsbewehrten Normen
bestärkten. Zur Steuerung dieser Integrationsprävention komme es dar-
auf an, die durch Taten jeweils ausgelösten Erschütterungen des N o r m -
71
S. Stratenwerth, (Fn.37), S. 18; B. Schünemann i. Grundfragen des modernen Straf-
rechtssystems, 1984, S. 188 f.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 511
72
S. Schünemann (Fn. 71), S. 191 f.
75
S. Schünemann, (Fn.71), S. 193.
Strafzumessung und ihre Auswirkung
auf den Vollzug"'
JÜRGEN BAUMANN
I. Einleitung
Es ist heute wie früher schwer, über Probleme der Strafzumessung zu
referieren. Früher war es schwer, weil die wissenschaftliche Durchdrin-
gung dieses Gebietes zu wünschen übrig ließ: Strafzumessungsrecht als
terra incógnita. So beklagte noch von Weber in seiner Arbeit „Die
richterliche Strafzumessung", 1956, daß die Strafzumessung zumeist ein
„Glückspiel" sei. Sarstedt berichtete auf dem 41. Deutschen Juristentag
1955 in Berlin von den 2 Kammern eines Landgerichts, von denen die
eine jeweils eine vierfach höhere Strafe verhängte, als die andere Kam-
mer, wohlgemerkt bei gleichem oder ähnlichem Sachverhalt. - Heute ist
es schwer, über Strafzumessung zu referieren, weil die wissenschaftliche
Bearbeitung ihrer Probleme nahezu unübersehbar geworden ist. Nicht
nur die herausragenden Arbeiten des Erlanger Kollegen Bruns haben
diesen Umschwung herbeigeführt. Eine große Zahl wichtiger Monogra-
phien1 und eine ungeheure Zahl von Abhandlungen und Aufsätzen hat
zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Strafzumessung beigetragen.
Daß die Praxis der Gerichte nach wie vor zu wünschen übrig läßt, sei
jedoch nicht verschwiegen.
Versuchen wir gleichwohl, trotz dieser Schwierigkeiten, einen Blick
auf die Strafzumessungsproblematik zu werfen, der auch für den nicht-
deutschen Juristen interessant sein könnte.
II. Bedeutung der Rechtsfolge im Strafrecht
1. Gerade eine auf das subtilste verfeinerte Strafrechtsdogmatik, insbe-
sondere im Bereich der allgemeinen Strafrechtslehren, ist oft in der
Gefahr, die Bedeutung der Rechtsfolgebestimmung zu unterschätzen.
Während den Rechts Voraussetzungen höchste Aufmerksamkeit
geschenkt wird und auch wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich
äußerster Akribie das größte Interesse erwecken, scheint bei den Rechts-
2 Näher dazu mein Beitrag „Die Situation des deutschen Strafprozesses" in: Festschrift
III. Strafgerechtigkeit
1. Nach dem zuvor Ausgeführten müßten eigentlich sowohl im Bereich
des materiellen Strafrechts, wie im Bereich des Strafprozeßrechts alle
Bemühungen um das Problem der Strafgerechtigkeit kreisen. Aber
schon bei der Verwertung dieses terminus entsteht sofort die bange
Frage, was denn nun „Strafgerechtigkeit" überhaupt sei. Die Frage nach
der Strafgerechtigkeit zu stellen, ist fast noch boshafter, als zu fragen:
„Was ist Gerechtigkeit". Hier wie dort gibt es viele wortreiche aber
zumeist nicht völlig überzeugende Erklärungen.
Wissen wir nicht sicher, was „Gerechtigkeit" ist, wie können wir
dann wissen, was „Strafgerechtigkeit" sein soll! Hinzu kommt beson-
ders im Strafrecht der alte Theorienstreit um Sinn oder Zweck der Strafe.
Wie heißt es doch bei Senneca: „nam ut Plato ait, nemo prudens punit,
quia peccatum est, sed ne peccetur". Philosophen haben also schon
immer über den Begriff der „Strafgerechtigkeit" und nicht nur über den
allgemeinen der „Gerechtigkeit" gegrübelt. Rekapitulieren wir kurz die
Bedeutung der Straftheorien für die jeweils dazu passende Strzizumes-
sungsxhtont:
a) Wer mit Kant und Hegel, um nur die bedeutendsten unserer Philoso-
phen zu nennen, eine absolute Straftheorie vertritt, nicht nach einem
Zweck des Strafrechts fragt, sondern jeden Täter nach dem bestrafen
will, „was seine Taten wert sind", der hat es bei der Strafzumessung
scheinbar leicht. Scheinbar leicht, weil er mit der Strafe keine Zwecke
verfolgen muß und die Ausrichtung der Strafe nach der Tatschuld einen
gewissen Automatismus zu verbürgen scheint: Tat mit Tatschwere 19
ergibt Strafschwere 19.
Scheinbar leicht, weil wir nicht einmal genau wissen, wann eine Tat
schwer und wann sie leicht ist. Kommt es dabei auf den Erfolg der Tat
an, oder auf die Art des Täterangriffs, oder auf den Grad der Verunsi-
cherung der Rechtsgemeinschaft, um nur ein paar mögliche Kriterien zu
nennen? Interessiert hauptsächlich das Maß der Rechtsgwtverletzung
oder das der Rechtsß/Zzc&tverletzung? In moderne Kategorien übersetzt:
interessiert das Maß des Erfolgsunwertes oder das des Aktunwertes?
Oder eine Kombination von Akt- und Erfolgsunwert, und wenn dies,
welche Kombination in welchem Gewichtsverhältnis?
Strafzumessung und Vollzug 517
Schließlich ist zu bedenken, daß auch bei der absoluten Theorie also
bei einer Bestrafung nach dem Maß des vom Täter schuldhaft angerichte-
ten Unrechts, doch das Schuldprinzip zu beachten ist: nulla poena sine
culpa. Schuld im Sinne individueller Verantwortlichkeit verweist aber
wieder auf die Struktur der Täterpersönlichkeit. Daraus folgt notwen-
dig, daß sogar bei der absoluten Straftheorie und bei einem reinen
Tkistrafrecht Strafzumessung ohne Berücksichtigung der Täterpersön-
lichkeit nicht erfolgen darf. Zumessungsgerechtigkeit ist also auch auf
der Grundlage dieser beiden scheinbar die Arbeit erleichternden Prämis-
sen nicht durch einfaches Ablesen auf einer Skala der Rechtsgütervalen-
zen möglich, Strafzumessungsgerechtigkeit steht also auch hier auf
schwankendem Boden.
b) Noch schlimmer wird es bei der Einführung des Strafzweckes der
Generalprävention. Klar ist, daß, wenn dabei am Schuldstrafrecht fest-
gehalten werden soll, Strafrecht also nicht zu einem präventivpolizeili-
chen Mittel entarten soll, alle soeben erörterten Schwierigkeiten beste-
hen bleiben. Auch ein generalpräventives Schuldstrafrecht kann von der
individuellen Schuld der Täterpersönlichkeit nicht absehen.
Hinzu kommt die völlige Ungewißheit, wie Bestrafungen bei ganz
bestimmten Delikten auf ganz bestimmte potentielle Tätergruppen wir-
ken würden. Wie soll sich bei dieser Unsicherheit generalpräventiv
begründete Strafzumessungsgerechtigkeit herstellen lassen?
Zum Glück hat sich bei uns in Literatur und Rechtsprechung der
Grundsatz durchgesetzt, daß das schuldangemessene Maß der Strafe aus
generalpräventiven Gründen nicht überschritten werden darf (während
§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB hier recht unklar formuliert). Aber dieses Verbot
der Überschreitung der schuldangemessenen Strafe ist nicht viel wert,
wenn die Schuldangemessenheit selbst nicht klar erkennbar ist, mit der
Folge, daß die h. M. eine „Punktstrafe" der Schuldangemessenheit nicht
anerkennt (Konsequenz der sog. „Vereinigungstheorie" bei den Straf-
zwecken ist daher die „Spielraumtheorie" bei der Strafzumessung im
Einzelfall). Die Unsicherheit des Einflusses generalpräventiver Überle-
gungen bei der Strafzumessung wird also durch das Gebot der Schuldan-
gemessenheit keineswegs verringert. Sie wird vergrößert durch Vermeh-
rung der unsicheren Maßstäbe um den selbst wieder höchst unsicheren
weiteren Maßstab generalpräventiver Zwecksetzung.
c) Schon nach diesen Ausführungen ist offenkundig, daß die allergrößte
Verunsicherung im Bereich der Strafzumessungsgerechtigkeit eintreten
muß, wenn man eine schuldangemessene Strafe unter spezialpräventiver
Zwecksetzung verhängen will. Steigerbar ist diese Unsicherheit lediglich
dadurch, daß man vielleicht gleichzeitig noch generalpräventive Zwecke
verfolgen will. Und genau das ist bei uns h. M. und Rechtsprechung:
518 Jürgen Baumann
5
Bruns, H.-J.: Strafzumessungsrecht. 2.Auflage, Köln u.a. 1974, S.309.
Strafzumessung und Vollzug 519
Obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, daß ein Strafrecht soziale
Zwecke verfolgen muß, will man es sozial-rechtlich und nicht bloß
metaphysisch-sittlich rechtfertigen - obwohl ich deshalb nach wie vor
meine, daß Strafzumessung ein Maximierungsproblem beider Straf-
zwecke sein müsse ( = möglichst viel Spezialprävention bei gleichzeitig
möglichst viel Androhungsgeneralprävention) - glaube ich doch, daß für
die praktische Arbeit der Strafzumessung die Notlösung des AE vorzu-
ziehen sei. Denn wer kann schon die Verfolgung ganz unterschiedlicher
Strafzwecke so ausbalancieren und die Zweckerreichung nach beiden
Richtungen hin so maximieren oder optimieren, wenn unsere Tatsachen-
grundlage so schwankend und unsere Diagnose- und Prognosemöglich-
keiten so unvollkommen sind! Strafgerechtigkeit also nur eine Wunsch-
vorstellung? Kaum je erreichbar und in der Praxis wohl stets anzustre-
ben, aber wohl immer auf ein notwendig vergröberndes Instrumenta-
rium angewiesen?
ung für das Tatopfer angeht)! Die Geldstrafe, die das erkennende
Gericht verhängt, kann also später zu etwas völlig anderem werden, als
sich der strafzumessende Richter vorgestellt hat.
Noch stärker springt das ins Auge bei der vollstreckten (also nicht zur
Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe. Freiheitsstrafe ist nach § 10 des
seit dem 1.1.1977 geltenden Strafvollzugsgesetzes grundsätzlich und
soweit möglich und verantwortbar im offenen Vollzug durchzuführen.
Geschlossener Vollzug, also ständige Einsperrung, soll die Ausnahme
sein für Gefangene, bei denen Fluchtgefahr oder Mißbrauchsgefahr
besteht. Der offene Vollzug unterscheidet sich vom geschlossenen fast
stärker, als sich offener Vollzug von Nichtbestrafung oder Strafausset-
zung zur Bewährung unterscheidet. In seiner „offensten Form" wird der
offene Vollzug im sog. „Freigang" vollzogen (§11 Abs. 1 N r . 1
StVollzG), d. h., der Gefangene ist nur abends in der Anstalt. Tagsüber
ist er ohne Aufsicht bei irgendeiner Firma, oft sogar bei der bisherigen,
tätig. Auf dem Weg von der Arbeit in die Anstalt läßt man ihn oft auch
noch bei seiner Familie vorbeigehen, damit auch diese Kontakte erhalten
bleiben. Vergleichbar vielleicht der semidetenzione im neuen italieni-
schen Strafrecht, also der Halbgefangenschaft nach Art. 53 ff des italieni-
schen StGB in der Fassung von 1981.
Freiheitsstrafe, auch vollstreckte, ist also nicht gleich Freiheitsstrafe.
Die Realität der Freiheitsstrafe zeigt sich erst im Vollzuge, auf den der
verurteilende und strafzumessende Richter keinen Einfluß hat. Muß
aber nicht die Realität der Strafe berücksichtigt werden, wenn wir von
Strafgerechtigkeit sprechen?
2. Zwei grundverschiedene Überlegungen lassen sich hier anstellen:
a) Immer wieder begegnen Versuche, auch im Vollzug der Freiheits-
strafe Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die mit der Tatschuld des
Verurteilten in Zusammenhang stehen. So ist mancher geneigt, offenen
Vollzug dann nicht vorzunehmen, wenn der Täter schwere Schuld auf
sich geladen hat. Das ist aber nicht der Standpunkt des Strafvollzugsge-
setzes, wenngleich in diesem Gesetz einzelne Hinwendungen zu diesem
Prinzip begegnen. Zu erinnern ist hier etwa an § 13 Abs. 3 StVollzG,
nach welchem Urlaub aus der Haft bei Verurteilung zu lebenslanger
Freiheitsstrafe erst nach 10 Jahren Vollzug der Freiheitsentziehung
erfolgen darf. Zu erinnern ist auch an die bundeseinheitlichen Verwal-
tungsvorschriften der Länder zum StVollzG. Wenn in diesen Verwal-
tungsvorschriften etwa zu § 13 (Urlaub aus der Haft) in N r . 3 bestimmte
Verurteilte vom Urlaub ganz ausgeschlossen werden (also auch dann,
wenn eine gute Prognose bezüglich Rückkehr und Mißbrauchsausschluß
besteht), oder, wenn in Nr. 4 Gefangene, die noch mehr als 18 Monate
zu verbüßen haben, als ungeeignet für den Urlaub bezeichnet werden.
522 Jürgen Baumann
KLAUS ROLINSKI
I.
Der Sanktionsnotstand, der im folgenden erörtert wird, besteht darin,
daß in den Fällen, in denen neben einer Freiheitsstrafe beim Verurteilten
1 Kaufmann, Hilde, Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? J Z 1962,
S. 193-199 (197).
2 Kaufmann, Hilde, a.a.O. (Anm. 1), S. 196.
3 Kaufmann, Hilde, Kriminologie I, Entstehungszusammenhänge des Verbrechens,
Stuttgart 1971, S. 14.
4 Kaufmann, Hilde, a.a.O. (Anm. 3), S. 14.
5 Kaufmann, Hilde, Kriminologie III, Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart 1977,
S. 202.
526 Klaus Rolinski
eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach §63 StGB oder §64
StGB (§§ i. f. sind solche des StGB) angeordnet und diese vor der Strafe
vollzogen worden ist, auch dann die Entlassung nicht vor Verbüßung
der Hälfte der Freiheitsstrafe verfügt werden darf, wenn die Behandlung
des Straftäters vorher erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Der
Grund liegt in der restriktiven Auslegung des § 67 Abs. 5 durch die
Oberlandesgerichte6. Sie deuten Satz 1 - „Wird die Maßregel vor der
Strafe vollzogen, kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes auch
dann nach § 57 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei
Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung erledigt sind" -
dahin, daß der Gesetzgeber nur die Frist des §57 Abs. 1, nicht aber die
des Absatzes 2 erfassen wollte, der die Voraussetzungen regelt, bei deren
Vorliegen ein Strafrest ausnahmsweise schon nach Verbüßung der Hälfte
der Freiheitsstrafe ausgesetzt werden darf.
Gegen diese Auslegung und für die Befreiung der Aussetzung des
Strafrestes von jeder Mindestverbüßung haben Hanack7 und Marquardt
gute Gründe geltend gemacht. Zum gleichen Ergebnis kommen Lack-
nerTröndlew und Lencknernicht aber Horn12 und Stree". Der
Bundesrat glaubt nun den Streit mit einer nackten Gesetzesänderung,
d. h. einer solchen ohne zureichende Begründung, beenden zu können.
Er schlägt folgende Gesetzesänderung vor:
„Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des
Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung
aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist."
Die Begründung lautet:
„§ 67 Abs. 5 Satz 1 StGB-Entw. klärt die Streitfrage, ob eine Aussetzung des Strafrestes
auch dann zulässig ist, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe durch Anrechnung
erledigt ist (vgl. Stree in Schönke-Schröder, StGB, 21. Aufl., § 6 7 Rdn.4). Die vom
Entwurf vorgeschlagene Lösung beruht auf der Erwägung, daß die breite Palette der
Strafzwecke auch in dem hier in Frage stehenden Bereich nicht völlig zugunsten des
Rehabilitationsgedankens aufgegeben werden darf. Ebenso dürfte der Gleichbehand-
lungsgrundsatz eine noch weitergehende Privilegierung des Untergebrachten ver-
bieten" 1 4 .
II.
Die folgende Erörterung versucht das zu verbinden, was Hilde Kauf-
mann offenbar methodologisch schon vorgeschwebt hatte, nämlich die
„Einzelfallanalyse methodisch auszubauen"16 und der juristischen Argu-
mentation als notwendig vorgelagerte, empirisch gesicherte Kenntnis
dienstbar zu machen. Für den Verfasser (Verf.) bedeutet dieser Weg
nicht zugleich auch die Übernahme der theoretischen Implikationen der
Phänomenologie im Sinne Husserls, der solche „Sichtbarmachung" im
übrigen zuzuordnen ist, und schon gar nicht die Abkehr vom For-
schungsparadigma des kritischen Rationalismus mit den insbesondere
aus der Psychologie und Soziologie übernommenen statistischen Verfah-
ren. Der Einzelfall soll lediglich das Charakteristische einer Fallgruppe
plakativ belegen, wobei einzuräumen ist, daß bei hinreichend weiter
Differenzierung kein Fall wie der andere ist und daß man nie sicher sein
kann, den adäquaten Fall stellvertretend erfaßt zu haben. Nur: Jedes
korrigierende statistische Verfahren ebnet zugleich die einmalige Farbig-
keit des Einzelfalles ein. Der Verf. will sie hier; er muß daher das Risiko
eines Fehlgriffs akzeptieren.
III.
Der Fall erscheint zunächst banal. Die angeklagte Probandin (Prob.)
entwendete im Zeitraum von November bis Januar 1983 in neun Fällen
Handtaschen, die von Kundinnen während des Einkaufens in Waren-
häusern für einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen waren. Sie ent-
nahm ihnen Bargeld, Schecks und Scheckkarte und warf das Übrige in
Papierkörbe. Von den 61 erbeuteten Schecks benutzte sie 20 zum
Einkaufen und fälschte dabei die Unterschrift. Der Schaden - eingelöste
Schecks und Bargeld - betrug circa 8 350,- DM. Auch zur Jahreswende
sium bis zum Alter von 16 Jahren. D a sich ihre Leistungen nun
verschlechterten, wechselte sie zur Mittelschule über, machte dort aber
die mittlere Reife. Der Leistungseinbruch ist wahrscheinlich auf ein
traumatisches Ereignis zurückzuführen, das sie bis heute nicht verarbei-
tet hat. Im Alter von 15 Jahren erklärte ihr eine Nachbarin auf der
Straße, offenbar mit dem Unterton der Gehässigkeit, daß sie ein Adop-
tivkind sei. Diese Nachricht traf die völlig unvorbereitete Prob, nachhal-
tig, wurde von ihr als existenzvernichtend empfunden, wohl insbeson-
dere deshalb, weil die Pflegeeltern ihrem Kind in der Wohnsiedlung
einfacher Arbeiter und kleiner Angestellter die Sonderrolle, etwas Besse-
res zu sein, zudiktiert hatten. Es wurde verhätschelt und verwöhnt und
vor allem von den Nachbarkindern isoliert (Spielverbot, weißes Kleid-
chen). Die Prob., die diese Selbsteinschätzung internalisiert hatte,
dachte an Selbstmord, wurde aber von einer verständigen Lehrerin, der
sie sich anvertraut hatte, davon abgebracht.
Nach der mittleren Reife arbeitete die Prob, als kaufmännische Ange-
stellte. Bereits im Alter von 18 Jahren heiratete sie einen Mann aus der
Nachbarschaft und lebte mit ihm im Haus der Adoptiveltern. In dieser
Zeit war die Adoptivmutter die Tonangebende im Haus. Sie starb nach
2/2 Jahren, der Adoptivvater heiratete erneut und zog aus. Von der
Familie ihres Mannes wurde die Prob, wie eine „Tochter" aufgenom-
men. Die gemeinsamen Wochenendaktivitäten endeten aber im Verlauf
der Jahre, weil sich die Prob, zurückzog, insbesondere als ihre Schwie-
germutter krank und pflegebedürftig wurde.
Als im vierten Ehejahr ein Sohn geboren wurde, gab die Prob, ihre
Arbeit auf und widmete sich nur noch der Familie. Ein Jahr später
wurde eine Tochter geboren.
N o c h etwa fünf Jahre nach der Geburt ihrer Kinder lebte die Prob, ein
vergleichsweise unauffälliges Leben. Danach begann ein Prozeß der Per-
sönlichkeitsspaltung - nicht im psychotischen Sinne - , der im nachhin-
ein fast dem Phänomen des double conscience nahekommt. Die Prob,
fühlte sich von ihrem Mann und ihren Kindern zunehmend ausgeschlos-
sen, nicht zu ihnen gehörig. Sie artikulierte diesen Zustand einmal mit
den Worten: „die drei und ich". Zugleich verband sich mit dem Gefühl
des Ausgeschlossenseins das Gefühl der Minderwertigkeit, das sich
zunehmend steigerte und heute Grundlage ihrer geradezu devoten Hal-
tung ist: „Mein Mann ist so klug; er kann alles, repariert alles im H a u s " .
„Ich kann nichts und bin nichts". N u r die Diebstähle scheint sie wirklich
und aktiv gelebt zu haben.
Die Ursachen für diese Isolierung ließen sich nicht eindeutig aufhel-
len. Sicher dürfte das Bedürfnis der Prob, nach Zuwendung und Zärt-
lichkeit von ihrem Ehemann nicht befriedigt worden sein. Auch die
sexuellen Kontakte vollzogen sich nach ihrem Empfinden als zu nüch-
530 Klaus Rolinski
tern. Zwar kam ihr Mann drei- bis viermal in der Woche in ihr Bett, war
aber nach zwei bis drei Minuten „fertig". Im 13. Ehejahr, die Prob, war
jetzt 31 Jahre alt, rissen die sexuellen Beziehungen zwischen den Eheleu-
ten ganz ab, der Ehemann zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus,
wohnte seitdem im Erdgeschoß und wurde verdächtigt, eine Freundin zu
haben, ein Verdacht, den die Prob, heute als Irrtum hinstellt. Sie selbst
dagegen freundete sich mit einem finanziell verschuldeten Nachbarn,
einem Gymnasiallehrer, an. Daraus entstand nach etwa einem Jahr ein
festes Verhältnis mit regelmäßigen sexuellen Kontakten. Außergewöhn-
lich an diesem Verhältnis war, daß die Prob, ihren Freund kontinuierlich
mit Geld (ihr Mann mußte ihr das gemeinsame Konto sperren) und
Waren aus den Diebstählen versorgte - ein Strafverfahren wegen Hehle-
rei mußte eingestellt werden, weil der Vorsatz nicht nachweisbar war -
und daß sie in die Rolle einer Dienerin gedrängt wurde mit möglicher-
weise sado-masochistischer Färbung. Daß sie seinen Garten umgrub,
während er im Haus die Zeitung las, kann noch als rollenspezifische
Profilierung interpretiert werden. Abnorm dagegen war, daß er beim
Kauf zweier Stühle von einem die Füße verkürzen ließ, damit sie
niedriger am Tisch sitzen und die Hände nach Art braver Schulmädchen
auflegen konnte. Später räumte die Prob, auch ein, daß sie geschlagen
worden war. Noch während der Exploration sprach sie mit einer
Mischung aus Angst und Hochachtung von einem „so gebildeten
Herrn" und wunderte sich eigentlich immer noch, daß „er sich ihr
überhaupt zugewandt hatte". Im Prozeß hat sie ihn aus Angst vor seiner
Macht voll gedeckt und entlastet. Dieses Verhältnis, in dem sie immer-
hin auch Zärtlichkeit (Streicheln) erfahren hatte, bestand bis kurz vor
der letzten Verurteilung, also etwa sechs Jahre lang. Während dieser Zeit
versorgte sie zwei Haushalte, den ihrer Familie und den ihres Freundes.
Den ersten ernsthaften Selbstmord versuchte sie kurz vor ihrer dritten
Verurteilung. Sie fuhr mit einem Pkw frontal gegen einen entgegenkom-
menden Tanklastwagen und überlebte ohne bleibende Verletzungen.
Danach kam sie in ambulante psychotherapeutische Behandlung, die mit
Unterbrechungen etwa vier Jahre lang durchgeführt wurde. Nach ihrer
großen Diebstahlsserie von Handtaschen machte sie einen zweiten
Selbstmordversuch mit Schlaftabletten und wurde zur stationären
Behandlung in eine psychiatrische Klinik auf die Dauer von vier Wochen
eingewiesen.
17
Floru, L., Der Begriff des pathologischen Stehlens, in: Monatsschrift für Kriminolo-
gie und Strafrechtsreform 1957, S. 72-88; Schumann, Hans-Joachim von, Entschuldbare
Eigentumsdelikte, Hamburg 1975, S. 64 ff; Dietrich, Heinz, Manie - Manomanie - Sozio-
pathie und Verbrechen, Stuttgart 1968, S. 43 ff.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 533
IV.
Nach dem Gesetz hat der Richter zunächst wegen des Schuldaus-
gleichs auf eine Strafe zu erkennen. Das Landgericht hat daher die Prob,
zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von insgesamt 25 Monaten verurteilt und
eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt. Da eine bloße Freiheits-
strafe aber den Sanktionsbedürfnissen des Falles nicht gerecht wurde
und die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit gemäß §21
vorlagen, hat es zugleich die Unterbringung der Prob, in einem psychia-
trischen Krankenhaus gemäß § 63 angeordnet und vorsorglich - wegen
Suizidgefahr - die sofortige Einweisung verfügt.
Als Kernfrage bleibt, ob § 63 geeignet ist, den Sanktionsnotstand, der
in diesem und in vergleichbaren Fällen auftritt, zu beseitigen. Die Frage
stellt sich insbesondere aus zwei Gründen. Einmal ist die Maßregel der
sozialtherapeutischen Anstalt (§65) nun endgültig dem Sparen am fal-
schen Platz mit der Folge zum Opfer gefallen, daß der Richter bei den
therapiebedürftigen Fällen der verminderten Schuldfähigkeit - mit Aus-
nahme der Suchtfälle nach § 64 - auf die Maßregel des § 63 beschränkt
ist. Zum anderen kann die Maßregel der Einweisung in ein psychiatri-
sches Krankenhaus,wie oben dargelegt, wegen der restriktiven Recht-
sprechung der Oberlandesgerichte erst dann beendet werden, wenn sie
mindestens bis zur Hälfte der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe
vollzogen ist. Das aber bedeutet das Wegsperren dieser Fallgruppe im
psychiatrischen Krankenhaus, und zwar nach erfolgreicher Therapie.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 535
Auf den Wortlaut des § 67 Abs. 5 stellt Horn20 ab. Er meint, weil nur
eine Befreiung von § 57 Abs. 1 StGB formuliert sei, habe § 57 Abs. 2
Gültigkeit, andernfalls - so unausgesprochen - hätte der Gesetzgeber
auch § 57 Abs. 2 ausdrücklich ausschließen müssen. Die Voraussetzun-
gen für dieses argumentum e contrario liegen aber nicht vor. Wie Klug21
nachgewiesen hat, ist diese Form des Schließens nur erlaubt, „wenn die
betreffenden Rechtsvoraussetzungen die jeweiligen Rechtsfolgen inten-
siv oder gegenseitig implizieren"22. Wir können auch formulieren, wenn
der Gesetzgeber die Rechtsfolge „Strafrestaussetzung" n u r an die
Rechtsvoraussetzung „Verbüßung von weniger als % der Strafe"
geknüpft hätte, ist der Umkehrschluß erlaubt, keine Aussetzung, wenn
'/2 der Strafe noch nicht verbüßt ist. Aus dem Gesetz läßt sich gerade
diese Einschränkung nicht entnehmen. Die Formulierung „ a u c h d a n n
nach § 57 Abs. 1 aussetzen" spricht für eine kumulative Erweiterung und
gegen die Annahme einer „notwendigen Voraussetzung" für die Rechts-
folge. Wie offen die Formulierung ist, zeigt das Vorhandensein weiterer
Rechtsvoraussetzungen, denn die Reststrafenaussetzung ist auch
erlaubt, wenn 2A der Strafe, aber noch nicht die gesamte, verbüßt ist. Ob
der Gesetzgeber also die Strafrestaussetzung „nur" an die Rechtsvoraus-
setzung des § 57 Abs. 1 knüpfen wollte, ist mithin im Streit und Gegen-
stand der Auslegung. Wer mit dem argumentum e contrario den Beweis
führt, versucht in Wahrheit, mit der erwünschten Rechtsfolge die
Rechtsvoraussetzungen für diese Rechtsfolge zu belegen23. Das O L G
Celle24 hat daher zurecht ausgeführt, daß der Wortlaut des § 67 Abs. 5
beide Deutungen - nur Befreiung von der %-Grenze und Befreiung
auch von der '/^-Grenze - zuließe.
Den Willen des historischen Gesetzgebers zieht insbesondere das
O L G Celle25 heran, und zwar die Protokolle des Sonderausschusses für
die Strafrechtsreform. In diesem Gremium war die Frage kontrovers, ob
die Strafe nach Erledigung der Maßregel, d. h. nach erfolgreicher psy-
chotherapeutischer Behandlung, auszusetzen sei oder ob der Therapierte
wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung in die Strafanstalt zu
verlegen sei, damit er nicht besser davonkomme im Vergleich zu dem
allein zu Freiheitsstrafe Verurteilten. Freilich würde diese Lösung
bedeuten, daß mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit der Therapieer-
folg im Anschlußvollzug wieder verlorenginge. Abgeordnete der SPD-
„Nach Ansicht des Ausschusses ist nicht einzusehen, warum der Verurteilte, obwohl
der Maßregelzweck erreicht ist, in solchen Fällen anschließend noch stets im Vollzug
zurückbehalten werden soll, bis zu % der Strafe verbüßt sind" 31 .
Es leuchtet daher ein, daß Lenckner meint, der Gesetzgeber habe sich
im letzten Augenblick für die Beseitigung der Grenzen des § 57 Abs. 1
und 2 StGB entschieden 32 . Dennoch: Sicher wird man sagen können, der
Wille des historischen Gesetzgebers kommt in den Materialien nicht klar
zum Ausdruck. Dann reicht er aber zur Auslegung eines Gesetzes nicht
aus.
Eine vergleichsweise sichere Auslegung folgt m. E. aus der ratio legis
des § 67 Abs. 5 (teleologische Auslegung) und aus der systematischen
Stellung der betroffenen Vorschriften. § 67 soll den Konflikt regeln, der
dann entsteht, wenn die Maßregel erfolgreich vor der Strafe vollzogen
worden, die gleichzeitig verhängte Strafe aber noch nicht durch Anrech-
nung erledigt ist. Die wiederholt ausgesprochene Zielsetzung besteht
darin, die Erhaltung der mit der Maßregel erreichten Besserung nicht
aufs Spiel zu setzen 33 . N u r deshalb wurde eine weitere Verbüßung von
Freiheitsstrafe ausschließlich für den Fall vorgesehen, daß „Umstände in
der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen" (§67 Abs. 5,
Satz 2); niemals z.B. aus Gründen der Generalprävention 34 . Die Ausle-
gung, nach der die Hälfte der Freiheitsstrafe verbüßt werden muß (§ 57
Abs. 2), gerät mit dieser Zielsetzung in unauflösbaren Widerspruch. Die
Verlegung des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung
der Freiheitsstrafe ist wegen der Beschränkung gemäß § 67 Abs. 5 Satz 2
grundsätzlich verwehrt. U n d die nur noch verbleibende Möglichkeit des
Aufenthaltes im psychiatrischen Krankenhaus verstößt gegen den
Grundsatz, eine Maßregel aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht ist
( § 6 7 d Abs. 2). Diese Aporie vermeidet die Strafrestaussetzung, die auch
von der Begrenzung der Vi-Verbüßung absieht.
Die weitere systematische Auslegung stützt dieses Ergebnis. §57
Abs. 1 regelt den Grundfall der Strafrestaussetzung. H a t der Verurteilte
ein Mindestmaß der Strafe (2A) verbüßt, besteht eine positive Prognose
und willigt er ein, so hat das Gericht den Strafrest zwingend auszuset-
zen. Abs. 2 stellt zu dieser Grundsituation einen Ausnahmefall dar, weil
er zusätzliche Merkmale erfordert und weil er lediglich als Kann-
Vorschrift formuliert ist. Auch § 67 Abs. 5 Satz 1 stellt eine Ausnahme-
31
2. Schriftlicher Bericht zum 2. Strafrechtsreformgesetz, BT-Drucksache V/4095,
5. Wahlperiode, S. 32.
32
Lenckner, Theodor, a.a.O. (Anm. 11), S. 232.
" Hanack, Ernst-Walter, a.a.O. (Anm.39), Rdn. 18 zu §67; Marquardt, a.a.O.
(Anm. 8), S. 105.
54
2. Schriftlicher Bericht, a.a.O. (Anm. 31), S.32.
540 Klaus Rolinski
nis, bzw. zwischen vier und zehn Jahren Zuchthaus (= 3 Fälle von 78)
verurteilt37. Diese Daten korrespondieren mit dem vorliegenden „typi-
schen" Fall. Berücksichtigt man die durchschnittliche Therapiedauer,
die gegenwärtig für neurotische Störungen auf durchschnittlich 10-12
Monate geschätzt wird - die durchschnittliche Behandlungsdauer der im
übrigen nach §63 eingewiesenen Straftäter beträgt 4—5 Jahre38 - , wird
deutlich, daß der Streit um eine ideologische Position geführt wird. Im
Regelfall wird ja ohnehin die Hälfte der Strafzeit durch die notwendige
Therapiezeit verbraucht. Die hohen Zuchthausstrafen betreffen grund-
sätzlich psychotische Straftäter, bei denen eine Psychotherapie - wenn
überhaupt - nur sehr begrenzt möglich ist, so daß diese Täter aus
Sicherheitsgründen zu verwahren sind. Auch im vorliegenden Fall ist die
Psychotherapie bereits so erfolgreich gewesen, daß die Prob, schon
einen längeren Urlaub in ihrer Familie verbringen konnte, so daß es sehr
unwahrscheinlich ist, daß die gesamte „zu verbüßende" Therapiezeit
auch benötigt wird. Das Problem der vorzeitigen Entlassung würde
dann auch hier resozialisierungshemmend auftreten.
Zu entscheiden ist also darüber, ob es besser ist, in einem Teil der
therapiegeeigneten Fälle eine Psychotherapie rechtzeitig zu beenden und
damit ihren Erfolg zu sichern oder ob in einigen wenigen Fällen das
Vergeltungsbedürfnis so schwer wiegt, daß die Verhinderung einer
drohenden Ungleichbehandlung nicht einmal dem Richter über eine
gesetzliche Kann-Regelung anvertraut werden darf. Die Entscheidung
dieser Frage hängt sicherlich vom ideologischen Standpunkt ab. Für
mich ist die Unterschreitung einer schuldangemessenen Strafe — und
darauf liefe ja eine vorzeitige Reststrafaussetzung hinaus - schon deshalb
vertretbar, weil die ausgeworfenen Strafhöhen wegen der Irrationalität
der Strafzumessung innerhalb einer ziemlich offenen Bandbreite ohne-
hin nicht vergleichbar sind. Wer in X vor die Kammer Y kam - in
Anwaltskreisen als „Jüngstes Gericht" apostrophiert, im Gegensatz zur
„Herz-Jesu-Kammer" - , erhielt für seinen Einbruch schon wegen des
spiritus loci ein Jahr Freiheitsstrafe mehr zudiktiert. Darüberhinaus
wirkt in erster Linie der Schuldspruch, d.h. die öffentliche Verurtei-
lung, als Reaktion auf eine Regelverletzung normstabilisierend und
damit generalpräventiv. Die Rechtsadressaten nehmen eine Reduzierung
der Strafverbüßung zugunsten einer Resozialisierung nur wahr, wenn sie
zum Regelfall wird. So assoziiert der Bürger mit lebenslanger Freiheits-
strafe etwa 20 Jahre, aber nicht den Tod des Verurteilten in der Strafan-
39
Hanack, Emst-Walter, a.a.O. (Anm.7), S.402.
40
Horn, Eckhard, a.a.O. (Anm. 12), Rdn. 7 zu §67.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 543
41
Noll, Peter, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 86 ff.
Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?
ECKHARD H O R N
Man ist sich heute im wesentlichen darüber einig: Zulässig ist der
Widerruf der Strafvollstreckungs-Aussetzung zwar auch noch nach
Ablauf der Bewährungszeit, aber nicht zeitlich unbeschränkt. Maßge-
bend für die Bestimmung dieses Zeitpunktes ist insbesondere der
Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes1.
Das von dem Vertrauensschutz-Aspekt abgezogene Maß hat in der
Praxis freilich zu den unterschiedlichsten Ergebnissen geführt. Damit
gerät die Leistungsfähigkeit dieses Gesichtspunktes als eines generellen
Maßstabs erst einmal in Zweifel. Ferner wird sich jeder, der das "Wort
„Vertrauensschutz" nicht nur als Floskel gebraucht, sondern sich auch
etwas dabei denkt, fragen einmal, ob die jeweils gemeinte Einstellung
des Delinquenten mit dem Wort „Vertrauen" eigentlich korrekt
umschrieben ist, zum andern, wieso diese Einstellung - wäre sie denn
tatsächlich „Vertrauen" - des Schutzes teilhaftig werden muß - durch
Ablehnung des Aussetzungswiderrufes trotz Vorhandenseins sämtlicher
Widerrufsvoraussetzungen im übrigen.
2. Als Begründung für die Ablehnung des Widerrufs wird in der Rspr.
fast durchgehend angegeben, der Widerruf sei „ungebührlich lange
hinausgezögert" worden. Die „Ungebühr" wird entweder schon im
Ablauf einer (mehr oder weniger) langen Zeitspanne 6 gesehen oder aber
mit Versäumnissen der Justiz begründet. So war beispielsweise ein
Verurteilter nahezu VA Jahre nach seiner Stellungnahme zum Wider-
rufsantrag der Staatsanwaltschaft 7 „aus vom Senat nicht zu erkennenden
Gründen" „trotz zahlreicher Erinnerungen nicht beschieden" worden.
Das OLG Hamm8 meint, das Vertrauen des Verurteilten, es werde jetzt
nicht mehr widerrufen, sei „durch das Verhalten der Gerichte gestützt"
worden: „Nachdem dem Verurteilten am 31.12.1982 vom A G zum
ersten Mal mitgeteilt worden war, daß die StA den Widerruf der
Strafaussetzung beantragt habe, hörte er zunächst über ein Jahr lang
nichts mehr von dem Widerrufs verfahren. Erst mit Schreiben der Straf-
vollstreckungskammer vom 12.1.1984, also nach der letzten neuen
Verurteilung, wurde ihm mitgeteilt, daß gegenwärtig die Frage des
Widerrufs geprüft werde. Danach hörte der Verurteilte bis zum
17.10.1984, also mehr als 9 Monate, wiederum nichts mehr über den
angekündigten Widerruf". Auch das OLG Celle9 beschränkt seine
Argumentation dafür, daß der Widerruf jetzt unzulässig sei, nicht allein
auf den Zeitablauf. Vielmehr wird sorgfältig geprüft, dargelegt und
begründet, warum eine Entscheidung „innerhalb von drei Monaten nach
Eintritt der Rechtskraft" hätte geschehen können.
3. Interessant ist aber auch, mit welcher Begründung die Rspr. einen
Widerruf zugelassen hat. So hindert nach dem OLG Hamm10 auch ein
Zeitraum von 3 Jahren seit dem Ablauf der Bewährungszeit den Wider-
ruf nicht, weil die Strafvollstreckungskammer „den rechtskräftigen
Abschluß des neuen Strafverfahrens abwarten" durfte, der späte Eintritt
Der vorstehende Uberblick über die Rspr. läßt erkennen, daß das
Argument „Vertrauensschutz" eigentlich zwei Aspekte hat, die freilich
meist ineinander hineinspielen: Einmal wird die Situation des Verurteil-
ten ins Auge gefaßt, wenn die Unzulässigkeit des Aussetzungswiderrufs
damit begründet wird, daß der Betroffene mit dem Widerruf jetzt nicht
mehr zu rechnen brauche, daß er „Vertrauensschutz" genieße. Zum
andern wird der Akzent eher darauf gesetzt, daß die Widerrufsentschei-
dung ungebührlich lange hinausgezögert worden sei; hier richtet sich der
Blick in erster Linie auf Behörden und Gerichte, die mit der (Vorberei-
tung der) Widerrufsentscheidung befaßt sind.
1. Was die Einstellung des Verurteilten angeht, so läßt sich sehr schnell
erkennen, daß sie mit dem Wort „Vertrauen" fehlerhaft und irreführend
beschrieben ist. Denn die Fälle, in denen sonst im öffentlichen Recht
von Vertrauensschutz die Rede ist, liegen immer so, daß der Bürger auf
die Bestandskraft oder das Fortwirken eines staatlichen Aktes oder einer
behördlichen Äußerung vertraut. An einem staatlichen Akt oder dem
Ausspruch eines Amtsträgers, an einem Beziehungsgegenstand für Ver-
trauen fehlt es aber hier gerade: Die Bewährungszeit läuft ab, der
Widerruf bleibt aus, es geschieht gar nichts. Was sich in der Psyche des
Verurteilten abspielt, wenn er einige oder gar eine lange Zeit nach Ablauf
der Bewährungszeit und nach seiner Verurteilung wegen der neuen
Straftat „von der Justiz" nichts mehr hört, läßt sich allenfalls beschreiben
als „hoffen" (vermuten, wünschen, erwarten), daß der Widerruf der
Aussetzung der Strafe wegen der alten Tat in Vergessenheit gerät16.
2. Nun liegt aber der Akzent, der von der Rspr. mit dem Wort
Vertrauensschutz verbunden wird, offenbar mehr auf dem Schutz: Es
geht nicht so sehr darum, daß der Delinquent mit dem Widerruf nicht
mehr rechnet, sondern, daß (und von wann ab) er nicht mehr mit ihm zu
rechnen braucht, sich also nicht mehr sagen muß, „daß sich lediglich die
justizförmige Abwicklung des . . . Widerrufsverfahrens - aus welchen
Gründen auch immer - verzögert" 17 .
Die Antwort der Gerichte auf die Frage, von welchen Kriterien dieser
Schutz getragen wird, ist allerdings durchgängig merkwürdig inhalts-
leer18. Meistens bleibt es bei schlichten Behauptungen: „Nach Ablauf
von nahezu l'A Jahren seit seiner Stellungnahme konnte und mußte der
Verurteilte, der diese Verzögerung nicht zu vertreten hat, nicht mehr mit
einem Widerruf rechnen"". Oder: Nach mehreren, zeitlich weit ausein-
ander liegenden Mitteilungen darüber, daß die StA den Widerruf bean-
tragt habe und gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde, und
einem Zeitraum von weiteren 9 Monaten „konnte der Verurteilte mit
einiger Berechtigung darauf vertrauen, daß auch die dritte Verurteilung
. . . jetzt nicht mehr zu einem Widerruf führen würde" 20 . Oder: Dem
Verurteilten konnte sich „der Gedanke ohne weiteres aufdrängen, in
seinem Fall werde ein Widerruf unterbleiben. Je länger die Entscheidung
nach Eintritt der Rechtskraft der neuen Verurteilung unterblieb, desto
begründeter mußte eine solche Annahme für den Beschwerdeführer
werden" 21 .
3. Es gibt aber auch Begründungsansätze dafür, daß der Staat schon vor
Ablauf der Vollstreckungsverjährungsfrist (§§79, 79 a StGB) seinen
Vollstreckungsanspruch vollständig verlieren soll. Dabei stellen die
Gerichte mit Vorliebe auf - allerdings niemals des weiteren explizierte -
„Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit" ab: So soll es „mit den Grundsät-
zen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar" sein, den Verurteilten „zu lange
in Ungewißheit über die Entscheidung der Widerrufsfrage zu be-
lassen" 22 .
Dieser Ansatz bedarf der Vertiefung. Dabei verbietet sich jedoch ein
„direkter Durchgriff" zum Grundgesetz. Vielmehr ist - solange es an
einer gesetzlichen Regelung für die Behandlung von Fällen mit überlan-
ger Verfahrensdauer fehlt - zunächst einmal durch Auslegung des Straf-
und Strafverfahrensrechts dafür zu sorgen, daß aus einer „rechtsstaats-
widrigen Verletzung des Beschleunigungsgebots" die „verfassungsrecht-
lich gebotenen Konsequenzen" gezogen werden 23 .
24
Horn SK, §56f Rdn. 13.
.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 551
25 S.'dazu a. u. IV.
26 Vgl. O L G Karlsruhe Justiz 1976, 436: Die weitere Entwicklung des Täters zeigt
„neue und günstige . . . Aspekte auf, die nicht unberücksichtigt bleiben können."
27
Horn SK, § 5 6 f Rdn.30.
552 Eckhard H o r n
c) Der Fall liegt jedoch anders, wenn dem zuständigen Richter das
Vorhandensein sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen bekannt ist: Er
kann nicht nur, sondern er muß unverzüglich widerrufen. Tut er es
nicht, läßt er die Sache liegen, überzieht er deutlich", so ist der gesetzli-
che Widerrufszeitpunkt „verpaßt". D a „trotz bestehender Widerrufs-
möglichkeit" nicht unverzüglich widerrufen worden ist, ist jetzt Strafer-
laß geboten.
28 Ähnl. K G J R 1967, 307: spätestens, „wenn keine begründete Aussicht besteht, daß
2. Für die Lösung dieser Problemfälle lassen sich die Darlegungen des
BVerfG32 zu den Kriterien einer rechtsstaatswidrigen Verletzung des
Beschleunigungsverbots im Erkenntnisverfahren fruchtbar machen.
Danach soll von Bedeutung sein nicht nur die Gesamtdauer des
Verfahrens, sondern auch „der durch die Verzögerung der Justizorgane
verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung" 33 . Die Frage der
„Verzögerung der Justizorgane" hat sich zwar zu orientieren an
„Umfang und Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes"; aber dieser
Gesichtspunkt spielt für die Widerrufsentscheidung im Vollstreckungs-
verfahren jedenfalls nach der rechtskräftigen Aburteilung des Bewäh-
rungsbruchs - die immer abgewartet werden darf! - kaum noch eine
Rolle.
50 S. bereits o. III. 1.
" Vgl. O L G Karlsruhe Die Justiz 1976, 436.
52N J W 1984, 967.
33D e r Aspekt des Rechtsstaats erlaubt mithin die Verwendung von Fakten, die unter
dem Aspekt des StGB (o. I I I . 2 . b) als unzulässig erkannt worden sind!
554 Eckhard Horn
V. Ergebnisse
2. Straferlaß ist zulässig nur und erst - dann aber auch unverzüglich
geboten - , wenn das Fehlen einer der Widerrufsvoraussetzungen zur
Uberzeugung des zuständigen Gerichts feststeht. Daraus folgt:
I.
Jeder Gesetzgeber steht vor der Alternative: „freies Ermessen inner-
halb enger Strafrahmen oder weite Strafrahmen mit konkreten Richtli-
nien zur Ausübung des rechtlich gebundenen Ermessens" 1 . In der
Bundesrepublik Deutschland gab es vor der Reform von 1969 Stimmen,
die eine radikale Verengung der Strafrahmen verlangten 2 , während in
Spanien, wo der Gesetzgeber 1848 die Freiheit der Richter im Bereich
der Strafzumessung stark beschränken wollte, verlangt wird, daß der
Richter mehr Freiheit haben sollte. Der deutsche Gesetzgeber von 1969
ist jenen Stimmen nicht gefolgt; der spanische Entwurf eines StGB von
1980 will auch an dem traditionellen System von 1848 festhalten. Die
Erkenntnis dieser Situation rechtfertigt eine rechtsvergleichende Unter-
suchung der tatsächlichen Unterschiede beider legislatorischen Systeme:
dies soll Gegenstand meines Aufsatzes sein.
II.
Das legislatorische System der Strafzumessung ist ein Punkt, in dem
die iberoamerikanische und die spanische Gesetzgebung voneinander
abweichen. Seit 1921, als das geltende argentinische StGB in Kraft trat,
orientieren sich die iberoamerikanischen Länder an schweizerischen und
deutschen Modellen, zu deren Einführung die spanische Rechtsge-
schichte viele Anregungen gab3. In der Familie der spanischsprachigen
Rechtsordnungen wirken also zwei legislatorische Strafzumessungssy-
steme nebeneinander, eine Situation, die wahrscheinlich auch die
Zukunft kennzeichnen wird; allerdings wird das alte spanische System
von 1848 im Laufe der Zeit zur Ausnahme werden.
1
Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 75.
2
Sarstedt, ZStW 69 (Sonderheft 1957), S. 133 ff.
5
Vgl. Lardizabal, „Discuso sobre las penas", Hrg. Francisco Bueno Arüs, 1976.
Bacigalupo, ZStW 91 (1980), S. 747 ff.
558 Enrique Bacigalupo
4 Vgl. Juan del Rosal, „La personalidad del delincuente en la técnica penal", 2. Aufl.
1953.
5 Vgl. Bruns, a. a. O., S. 196 ff, 357.
6 Vgl. Mir Puig, „Introducción a las bases del Derecho Penal", 1976, S. 100ff; J.R.
Casabó Ruiz, in „Comentarios al Código Penal", II, 1973, S. 16.
560 Enrique Bacigalupo
bisher eine solche Beziehung nie für sinnvoll gehalten hat, bedarf hier
keiner besonderen Begründung. Aufgrund der Strafzwecklehre hat es
keinen Sinn, die Spezialprävention davon abhängig zu machen, ob der
Täter sich maskiert hat oder nicht, um die Straftat zu begehen, ob also
ein strafschärfender Grund des Art. 10 zu berücksichtigen ist. Niemand
hat bisher diese Meinung vertreten. Das spricht für das richtige Ver-
ständnis von Lehre und Praxis; aber das Gesetz hindert eine solche
Unterscheidung nicht.
Die Unvereinbarkeit des Gesetzeswortlauts mit einer sinnvollen kri-
minalpolitischen Begründung sowie die Uberzeugung, daß die Einfüh-
rung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungstatsache ein Feh-
ler des Gesetzgebers war, hat in der Theorie zu einer berichtigenden
Auslegung des Gesetzes geführt 7 . Auf der anderen Seite neigt die Praxis
zu Lösungen, die eine gewisse Unabhängigkeit dem Gesetz gegenüber
zu begründen versuchen 8 . Die Ablehnung der heutigen Situation ist
übrigens bemerkenswert 9 und nicht neu10.
Die dogmatische Aufgabe, die diese Problematik stellt, besteht darin,
den Text des Gesetzes mit einer kriminalpolitischen Erklärung, die die
Wissenschaft für plausibel hält, zu versehen.
Ein Teil der Lehre hat versucht, diese dogmatische Aufgabe zu lösen,
indem sie auf die Analogie verwies (z. B. Rodríguez Devesa). Sie will die
ohne strafschärfende bzw. -mildernde Umstände begangenen Taten auch
aufgrund der Schwere der Tat und der Persönlichkeit des Täters bewer-
ten. Aber auf diese Weise kann man nur einen Aspekt des Problems
lösen, denn die Analogie ist im spanischen Strafrecht nur in „bonam
partem" zulässig". Wie sollte in den Fällen der mit strafschärfenden oder
-mildernden Gründen begangenen Handlungen entschieden werden,
wenn die Betrachtung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungs-
tatsache zu einer schärferen Strafe führt? Außerdem erheben sich auch
logische Bedenken gegen diese Lösung, da die Analogie hier in zwei
verschiedenen Richtungen wirken könnte: Man kann die Fälle der mit
schärfenden oder mildernden Gründen begangenen Straftaten aufgrund
der spezialpräventiven Klausel des Art. 61,4 entscheiden wie auch
umgekehrt, also kann die sowohl auf die Vergeltung wie auf die General-
prävention abstellende Klausel des Art. 61, 7 auch auf die Fälle, die ohne
strafschärfende oder -mildernde Umstände begangen worden sind, ange-
wandt werden. In der Tat handelt es sich hier nicht um die Anwendung
der Analogie, sondern um die einfache Eliminierung einer Regel ohne
weitere Begründung. Man bevorzugt eine bestimmte Straflehre und
macht diese Auffassung zur Gesetzesauffassung. Gleich berechtigt wäre
es aber, das Gegenteil zu behaupten. Analogie setzt voraus, daß das
Gesetz nur einen Teil der möglichen Fälle geregelt hat, während ähnliche
Fälle nicht geregelt wurden. Die Möglichkeit der Analogie fällt aber
weg, wenn das Gesetz ähnliche Fälle aufgrund verschiedener Kriterien
geregelt hat. Mit der Analogie kann ein Prinzip ausgedehnt werderj,; was
man mit der Analogie nicht kann, ist ein Prinzip auslöschen.
Dagegen könnte man argumentieren, daß diese Problematik nichts
anderes als ein Einzelfall der Antinomie der Strafzwecke ist, die jede
Vereinigungstheorie kennzeichnet 12 . Hierum handelt es sich jedoch
nicht. Will man von einer Vereinigungstheorie ausgehen, dann wird die
Frage der Antinomie der Strafzwecke in beiden Systemen der Strafzu-
messung des vorsätzlichen Verbrechens auftauchen. Die Problematik
der spanischen Strafzumessung bezieht sich auf die schwer zu begrün-
dende zweifache Auffassung von der Strafe, nicht auf die Antinomie der
Strafzwecke.
Eine andere Möglichkeit wäre die folgende: Man kann eine Auffas-
sung von der Strafe als vorgesetzliche Theorie der Strafe verstehen,
nämlich eine Theorie, die nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes induziert
worden ist. Die strafschärfenden und -mildernden Umstände werden
dann aufgrund eines einzigen Kriteriums erklärt. Diese Ansicht könnte
damit begründet werden, daß das Gesetz weder über die Vergeltung
noch über die Prävention ein Wort gesagt hat. Neigen wir z. B. zur
spezialpräventiven Auffassung von der Strafe, dann wären die strafschär-
fenden und -mildernden Gründe Symptome eines bestimmten Ausma-
ßes an Asozialität in der Persönlichkeit des Täters. Aber durch diese
Methode läßt sich nicht erklären, warum das Ermessen des Richters
unterschiedliche Grenzen hat, wenn strafschärfende oder -mildernde
Umstände gegeben sind oder diese nicht eingreifen. Anders gesagt:
Wenn die Interpretation von einer einzigen Auffassung über die Strafe
ausginge, dann bliebe das zweifache System ohne Erklärung.
Zusammenfassend: Weder die Analogie noch eine einzige Straflehre
ermöglichen es, die oben beschriebene dogmatische Aufgabe zu erfüllen.
Das System ist mit einer sinnvollen kriminalpolitischen Auffassung nicht
vereinbar.
12
Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1978, S. 103 ff.
562 Enrique Bacigalupo
III.
Das spanische System der Strafzumessung wurde aber in der Zeit der
Kodifizierung (1848) nicht wegen seiner kriminalpolitischen Plausibilität
in das Gesetz aufgenommen, sondern weil man glaubte, auf diese Weise
das Ermessen des Richters zugunsten der Rechtssicherheit wesentlich
begrenzen zu können. Stehen wir nicht vor einem Fall, in dem kriminal-
politische Gesichtspunkte vor Bedürfnissen der Rechtsstaatlichkeit wei-
chen müssen? Um die tatsächliche Weite des Richterermessens im
spanischen System untersuchen zu können, müssen wir von der logi-
schen Struktur des richterlichen Strafzumessungsakts ausgehen. Ist die
Strafzumessung auch eine Form der Rechtsanwendung, dann sollten die
intellektuellen Operationen des Richters in den Rahmen eines kontrol-
lierbaren Systems eingegliedert werden. Dabei hat die moderne deutsche
Dogmatik die Strafzumessungslehre als eine mehrschichtige Problematik
gekennzeichnet. Solche Mehrschichtigkeit ist nicht nur ein Charakteri-
stikum des deutschen Gesetzes; sie kennzeichnet die Tätigkeit des
Richters bei der Strafzumessung unabhängig vom anzuwendenden Ge-
setz.
Diese verschiedenen Schichten, in denen sich diese Problematik ent-
faltet, sind folgende:
1. die Bestimmung des Strafzwecks: es handelt sich um die Entscheidung
zugunsten der Vergeltung, der General- bzw. der Spezialprävention
oder einer konkreten Strukturierung aller dieser Zwecke innerhalb einer
Vereinigungstheorie. O b die Generalprävention angesichts der spani-
schen Verfassungsbestimmungen in der Strafzumessung eine legitime
Rolle spielen kann, soll hier dahingestellt bleiben. Auch das Problem der
Kriterien gehört hierher, nach denen die Vereinigungstheorien die Anti-
nomie der Zwecke entscheiden;
2. aus dem Strafzweck lassen sich die Strafzumessungsfaktoren oder
-tatsachen ableiten. Von diesen, auch reale Gründe der Strafzumessung
genannt, müssen sich die Tatbestände der strafschärfenden und -mil-
dernden Umstände, die das spanische StGB ausdrücklich in einem
ausführlichen Katalog aufstellt, unterscheiden;
3. die Bestimmung der Bewertungsrichtung, nach der die Strafzumes-
sungstatsachen zu bewerten sind;
4. die Umwertung dieser Bewertung der Strafzumessungsfaktoren in die
Quantität der Strafe, also in Gefängnisjahre, Betrag der Geldstrafe usw.
Versuchen wir jetzt zu prüfen, ob das spanische System die Weite des
richterlichen Ermessens mehr als andere Systeme reduzieren kann.
a) Der erste Vorgang, die Definition der Strafzwecke, besteht darin: der
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 563
13
Vgl. Gimbernat Ordeig, in „Doctrina Penal" 7 - 1979, S.581.
564 Enrique Bacigalupo
14
Vgl. Bruns, a . a . O . , S.618.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 565
Täters, seine Beweggründe und die Art der Begehung der Tat, sind also
nichts anderes als Teile des Tatbestands. N u r der Rückfall hat wohl eine
eigene Bedeutung, die hier aber nicht zu untersuchen ist.
Unterscheiden sich nun die Strafschärfungsgründe von den Strafzu-
messungsfaktoren nicht, dann dürfte das Verbot der Doppelverwertung
nicht gelten, weil die Bestimmung der Strafe innerhalb des Strafrahmens
wieder aufgrund einer Verwertung der Strafschärfungsgründe erfolgen
soll, die bereits vorher den Strafrahmen bestimmt haben. Das Verbot der
Doppelverwertung gilt aber im spanischen S t G B , wo es in Art. 59
ausdrücklich formuliert ist. Mit anderen Worten: Die Strafzumessungs-
faktoren sollten mit den Strafschärfungs- und Milderungsgründen nicht
verwechselt werden, die nur die Funktion haben, den Strafrahmen zu
bestimmen, wie es im spanischen und italienischen Recht geschieht. Bei
diesen Systemen gehören die Strafschärfungsgründe sowie die Milde-
rungsgründe nämlich eher in die gesetzliche Strafzumessung als in die
richterliche Strafzumessung 15 .
IV.
" Gimbernat Ordeig, in: Festschrift für Henkel, 1974, S. 151 ff; Luzón Peña, „Medi-
ción de la Pena y sustitutivos penales", 1979.
" Vgl. Sax, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Handbuch der Grundrechte, III, 2,
S. 909 ff.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 569
man: „Allen Verbrechen mit der äußersten Strafe zu begegnen und damit
von der Ungleichheit der von ihnen herbeigeführten sozialen Erschütte-
rung - die schwerer wiegt, je wertvoller das verletzte Rechtsgut ist, und
bei gleichen Rechtsgütern, je nachdem, ob es sich um ein vorsätzliches
oder fahrlässiges Verhalten handelt - abzusehen, ist unannehmbar, weil
es in der Natur der Sache liegt, daß die Strafe nicht verschwenderisch,
sondern nur behutsam angewandt werden kann; denn sonst würde man
Verwirrung in die menschlichen Kontrollmechanismen bringen, was zur
Folge hätte, daß die Auswirkung der Strafe auf die soziale Verhaltens-
steuerung verlorenginge" 1 ' 1 . Hier stehen wir wiederum vor einer empiri-
schen Aussage, die aber nicht zu verifizieren bzw. bisher nicht verifiziert
worden ist. Jedenfalls scheint sie mir als bloße Vermutung unrichtig;
gleich strenge Strafen für alle Verbrechen bringen keine Verwirrung in
den Kontrollmechanismus des Menschen. Die Anpassung der Kontroll-
mechanismen hängt nicht von der Differenzierung der Härte der Strafen,
sondern nur von der Androhung bzw. der Verhängung der Rechtsfolgen
ab. Auch wenn ein „gesichertes Wissen" über die Strafe und andere
Kriminalsanktionen gering ist20, erlaubt uns die einfache Beobachtung,
hier zu sagen, daß die Abschreckungswirkung einer angedrohten bzw.
verhängten Strafe mit ihrer Gerechtigkeit nicht zusammenfällt. Und
wenn man nur auf die menschlichen Kontrollmechanismen abstellt,
dürfte die Definition der Generalprävention nur auf der Abschreckung
basieren. Was dagegen von einer Differenzierung der Strenge abhängig
sein könnte, ist die Erziehung des Gerechtigkeitsgefühls der Bürger.
Aber eine solche Begründung der Generalprävention durch eine Erzie-
hungsfunktion des Strafrechts wurde bisher in Spanien nicht postuliert.
Sie kann auch nicht implizit in dem hier kritisierten Gesichtspunkt
stecken, weil sie die Relevanz der Schuld für die Generalprävention
ablehnt.
Andererseits haben die Autoren, die die Schuld als Rechtfertigung der
Strafe verfechten, die Folgerungen des Schuldprinzips für die Strafzu-
messung nicht gezogen. Vielmehr werden solche Konsequenzen in die
Auseinandersetzung mit der Auffassung einer letztlich auf die General-
prävention gerichteten Straftheorie nicht einbezogen 21 . Die Diskussion
beschränkt sich vielmehr auf die dogmatischen Aufgaben der Schuld im
Bereich der Strafvoraussetzungen, so daß die Frage einer äußeren
Limitierung der Prävention durch die Schuld noch außerhalb der Dis-
kussion der Strafrechtsreform bleibt: Eine Klausel also, wie sie sich im
deutschen StGB (n. F.) in § 46 findet, nach der die Schuld des Täters
Grundlage für die Zumessung der Strafe ist, wird in das zukünftige
spanische StGB wahrscheinlich nicht eingeführt werden, wenn es erlaubt
ist, aus dem Stand der strafrechtlichen Diskussion über diese Frage die
entsprechende Voraussage zu wagen.
Es bleibt noch die verfassungsrechtliche Frage kurz zu erörtern, ob
die 1978 in Kraft getretene Verfassung die Schuld als Rechtfertigung der
Strafe bestimmt. Die Verfassung erklärt die Würde des Menschen für
unantastbar und dies für die Grundlage der politischen Ordnung und des
sozialen Friedens (Art. 10). Nach Art. 9 garantiert die Verfassung auch
die Rechtssicherheit. Obwohl die Verhältnismäßigkeit der Strafe zur
Straftat nicht erwähnt wird, kann sie aus dem Schutz der Würde des
Menschen abgeleitet werden. Jedenfalls erfordert der Schutz der Men-
schenwürde nicht zwangsläufig, daß sich die Strafe nach dem Schuldmaß
richtet. Wenn begrifflich die Schuld durch ihre allgemein anerkannte
unsichere Bestimmbarkeit und ihren höchst kontroversen Inhalt gekenn-
zeichnet ist22, dürfte es kein Gebot der Rechtssicherheit sein, die Ver-
hältnismäßigkeit auf ihr aufzubauen. Die unsichere Bestimmung der
Präventionsbedürfnisse wird durch die unsichere Grenze der Schuld
nicht geringer.
Trotzdem schließt die Verfassung eine Begründung der Strafe aus der
Schuld nicht aus. Art. 25.2 der Verfassung spricht in erster Linie nur
über den Vollzug von Strafen und Maßnahmen, die die Wiedererziehung
und Resozialisierung des Verurteilten zum Ziel haben. Diese Bestim-
mung ist mit einer Vereinigungslehre vollkommen vereinbar.
Dieses Verständnis entspricht nicht der üblichen Interpretation der
gleichlautenden Klausel der deutschen Verfassung (GG Art. 1), was aber
nicht bedeuten soll, daß es sich um gegensätzliche Auslegungen dersel-
ben Bestimmung handelt. In der Auslegung der Verfassungen spielen
auch die nationalen Traditionen eine Rolle, die zu berücksichtigen sind.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Idee der Würde des Men-
schen von der Tradition des deutschen Idealismus so sehr geprägt, daß
Menschenwürde und Prävention nur unter bestimmten Voraussetzun-
gen vereinbar sind (z.B. Spielraumtheorie oder Stellenwerttheorie). Das
ist aber in Spanien nicht der Fall, wo sich eine Philosophie durchgesetzt
hat, die die Zwecklosigkeit der Strafe als Verletzung der Menschen-
würde versteht.
22
Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6.
La libertad religiosa como derecho fundamental de
los internos en instituciones penitenciarias
A N T O N I O BERISTAIN
2 Erich Fromm, ¿Tener o ser?, Trad. de Carlos Valdés, Ed. Fondo de Cultura
Económica, México-Madrid, 1980, p. 135.
5 Julio Caro Baroja, Emilio Temprano, Disquisiciones antropológicas, Madrid, 1985,
p. 192.
4 Gustav Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit, Ed. Vandenhoeck Sí Ruprecht,
Góttingen, 1963, pp. 86 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 573
Cfr. Ana M' Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). Un modelo de análisis
sociológico de la práctica pictórica contemporánea. Ed. Akal, Madrid, 1985, pp. 210 ss.
K.Brunner, sub voce «Religión», en Staatslexikon T. 6, Freiburg, 1961, columnas 820 ss.
574 Antonio Beristain
8 Hilde Kaufmann, „Schuld" und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, en Theolo-
gische Quartalschrift, München, 1980, pp. 177ss.
9 Dietrich Riischemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 y ss.
10 En sentido parecido (no idéntico), también podían citarse algunas investigaciones
Bélgica 5,9
Dinamarca 4,5
España 6,4
Francia 4,7
Reino Unido 5,7
Holanda 5,3
Irlanda 8,0
Italia 7,0
R. F. de Alemania 5,7
Otros países
EE UU 8,2
Canadá 7,4
Finlandia 6,2
Suecia 4,0
Noruega 5,3
Tab.2: Proporción, en tanto por ciento, de diversas actitudes entre los católicos, protes-
tantes y los sin religión
11 Jean Stoetzel, ¿Qué pensamos los Europeos?. Encuesta sobre los valores morales,
sociales, políticos, educativos y religiosos, en: Alemania Federal, Bélgica, Dinamarca,
España, Francia, Gran Bretaña, Holanda, Irlanda e Italia. Prólogo de Juan J . Linz.
[Colaboran Elizabeth Noelle-Neumann, del Institut für Demoskopie, Allensbach, Repú-
blica Federal Alemana; Juan J.Linz, de Data, Madrid; Helene Riffault, de Faits et
Opinions, París; y Gordon Heald, de Social Surveys, Gallup, Londres]. Madrid, Mapfre,
1982.
L a libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 577
IR
977
E.
516
IT.
4 64
B
H 361
349
R.FA.
304
GB
202
F
157
0
85
(Este gráfico, si se compara con los datos del informe norte americano, vemos que coincide
casi en su totalidad).
Tab. 3: Carácter político o religioso dominante en los grupos paradójicos (Extremistas de izquierda
religiosos, extremistas de derecha irreligiosos)
Extremistas Extremistas
Término de izquierda Término de derecha
Extremistas Extremistas medio religiosos Extremistas Extremistas medio irreligiosos
políticos en cuanto a 0 ) + (2) políticos en cuanto a (l) + (2)
de la importancia Carácter de la importancia Carácter
izquierda de Dios 2 Datos dominante derecha de Dios 2 Datos dominante
o) (2) (3) (4) (5) m (7) (8) « (10)
Asiduidad
religiosa 122 570 346 388 R 501 66 284 26 RR
Creen en un
Dios personal 18 54 36 57 RR 50 10 30 9 RR
Rezan o meditan 41 86 64 81 R 70 25 48 30 R
578 Antonio Beristain
derechos fundamentales del otro, su subjetiva idea de caridad en beneficio del otro (contra
la justa voluntad de éste). Cfr. Antoine Garapon, L'âne portant des reliques. Essai sur le
rituel judiciaire, Le Centurion, Paris, 1985, pp. 197 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 581
14 Amnistia Internacional, Informe 1984, Madrid, 1984, pp. 211 ss. y pp. 326 ss. Amnis-
21
Carlos Garría Valdes, Informe General 1979, Dirección General de Instituciones
Penitenciarias, Alcalá de Henares (Madrid), 1979, p. 175.
22
Dirección General de Instituciones Penitenciarías, Informe General 1982, Madrid,
1984, pp.223ss. En diciembre de 1985 aparece el Informe General, publicado por la
Dirección General de Instituciones Penitenciarias, correspondiente a los años 1983-1984.
Los datos relativos a la asistencia religiosa, pp.599ss., son prácticamente parecidos a los
que se citan en el texto; en concreto, en el año 1983 se celebraron 16 Bautismos Católicos y
uno por la Iglesia Evangélica, en 1984, 7 Bautismos Católicos, el año 1983, 17 matrimo-
nios, y el año 1984, 19 matrimonios por el rito Católico.
Tab. 5: Internos católicos, no católicos y que no profesan religión alguna en los
Establecimientos Penitenciarios
Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of Europe, London,
1981, pp. 2 y ss.
31 Aumônerie générale catholique des prisons, Prison, Ma Paroisse, Fayard, Paris,
1984.
32 François Villon, Prisons, en Pro Mundi Vita: Dossiers, revista trimestral, Bruselas,
Contribution to Penal Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of
Europe, Londres, 1981, pp. 6ss.
36 Evaristo Martín Nieto, en Vida Nueva, n° 1502, 1985, pp.23ss.
592 Antonio Beristain
109 ss. Miguel Pelay Orozco, Oteiza. Su vida, su obra, su pensamiento, su palabra, La
Gran Enciclopedia Vasca, Bilbao, 1978, pp. 79 y ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 593
40
Ana M" Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). U n modelo de análisis
sociológico de la práctica pictórica contemporánea, Ed. Akal, Madrid, 1985, p.208.
41
»Comme en certains pays européens, des sanctions plus orientées vers la réparation
des dommages causés aux victimes, par trop oubliées, que vers le châtiment«. Commission
Sociale de l'Episcopat, »Communautés chrétiennes et prisonniers«, en La Documentation
Catholique, N°37, Paris 1981.
594 Antonio Beristain
Nos moralizan desde la cárcel no sólo las palabras y los escritos de los
presos, también sus hechos cotidianos y sus hechos no cotidianos. Aquí
recordaré un dato reciente. Me refiero al ofrecimiento de Maximiliano
Kolbe para morir en sustitución de su compañero de cautiverio, que
ocurrió el día 14 de agosto de 1941, hacia las dos de la tarde, en
Auschwitz 46 .
Alguién puede objetar que todo lo anteriormente indicado se refiere a
presos políticos, no a presos comunes. A tal objeción respondemos:
I o . También los presos políticos son presos. Y su número total supera
cifras que nos debían abochornar, como lo muestran los informes
anuales de Amnesty Internacional, de otras asociaciones nacionales e
internacionales, privadas, eclesiásticas, etc.
2 o . También los presos comunes brindan acciones y mensajes (orales
y escritos) parecidos a los de sus colegas políticos, aunque quizá menos
llamativos y menos «ilustrados» y, desde luego, menos difundidos. En
este punto los capellanes y los ex-prisioneros pueden hablar más y mejor
que yo carente de esta cercanía a los «hechos» y a los protagonistas.
Quizás sus lecciones hablan un lenguaje tan elevado que no llegamos a
captarlo. Con frecuencia se constata en los oprimidos y en los margina-
dos una mayor sensibilidad a la nueva evangélica que pide respetar al
distinto, amar al enemigo, reconocer sus derechos, pensar en el otro más
que en sí mismo, también invitarles a levantar su cabeza y su dignidad47.
Cuando se ha perdido todo (o se ha dado todo), cuando alguien se
siente profundamente destrozado, arruinado, sólo queda una de estas
dos salidas: o se repliega sobre sí mismo, se cierra a los demás, se agria,
se desespera, se suicida . . . o, al contrario, se abre de par en par
totalmente al perdón, al consuelo 48 , a la comprensión intuitiva y apasio-
nada de toda la finitud y desolación de los otros y, así, se autorrealiza en
el nivel más alto y noble de lo humano, de lo amoroso gratuito. Como
escribió Welzel: las situaciones límite (muerte-delito-cárcel) despiertan
energías insospechadas en la víctima.
Quien aprecie el mensaje y el ejemplo de Jesús de Nazaret tiene que
asombrarse continuamente si reflexiona sobre el programa que formula
para el juicio definitivo, para el juicio sobre el amor. Según Jesús, ama de
sótano del hambre en Auschwitz, Segunda edición, 1975, Elizondo (Navarra), pp. 196 ss.
47 Jean-Yves Calvez, »Faut-il vraiment associer foi et justice?«, en Christus, N°127,
julio 1985, pp. 281 ss. Michael Anquetil, »La prison comme communauté de vie«, en Le
Supplément. Intervenir en prison, n° 151 (diciembre 1984) pp. 112ss.
„Befreiung von dem Knüppel des Schuldbegriffes, . . . den Zuspruch." Hilde Kauf-
mann, „Schuld" und „Sünde", Eine Anfrage an die Theologie, en Theologische Quartal-
schrift, München, 1980, pp. 183 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 597
verdad quien visita y acoge a los presos. La frase evangélica formula con
una claridad rotunda la identificación de Jesús con los presos. Ante la
extrañeza de los justos que le preguntan ¿Cuándo te vimos y te visitamos
en la cárcel?, Jesús les responde: «cuando visitaste a un preso me visitaste
a mí»49.
Si la religión pretende la integración social que aboca en el encuentro
con Dios 50 , uno de los mejores caminos de lograrlo (en la cosmovisión
evangélica) es la cercanía - identificación agápica - con los presos.
Amplia y seriamente argumenta Karl Rahney51 que donde mejor se
encuentra a Cristo es en el preso (am besten) y lo explica especialmente
en un párrafo (pp.455s.) en el que repite media docena de veces la
palabra vacío (Leere) y casi otras tantas la palabra morir (Sterben) y
nuestra nada (Nichts) . . . Reconoce esa negación radical como el mejor
camino para encontrar a Cristo y dar el salto (del vacío) a la totalidad del
encuentro (en comunidad, en «ecclesia») con Dios, todos en Dios.
Zusammenfassung
4 ' Evangelio según Mateo, Cap. 25, versículos 37ss. «Entonces los justos le replicarán:
I.
Nach Theorie und Praxis heutiger Verbrechenskontrolle wird dem
Strafvollzug als Vollziehung freiheitsentziehender Kriminalsanktionen
noch immer eine wichtige Aufgabe zugewiesen. Dies gilt für das In- und
Ausland. Alle kritischen Einwände oder gar Forderungen nach Abschaf-
fung haben an der Existenz des Strafvollzugs substantiell nichts zu
ändern vermocht. Hat sich diese Institution auch behauptet, so ist sie
doch unverändert problematisch. Dies kann gar nicht anders sein, wenn
und soweit in ein so wichtiges Rechtsgut wie die Freiheit eingegriffen
wird. Wieviel durch die Erneuerung des Strafvollzugs inzwischen
erreicht sein mag, die bestehenden oder wieder aufgebrochenen Mängel
verdeutlichen die fortdauernde Problemlage, das labile Gleichgewicht
und die Notwendigkeit zur wissenschaftlichen Beobachtung.
Dieser Forschungsaufgabe und damit der „Verwissenschaftlichung der
Strafvollzugslehre, die stets in Gefahr ist, zur Vollzugskunde abzusin-
ken, oder ideologisches Residuum zu werden", fühlte sich Hilde Kauf-
mann verpflichtet1; dazu hat sie vor allem mit dem dritten Band ihres
kriminologischen Lehrwerks „Strafvollzug und Sozialtherapie" über-
zeugend beigetragen2. Die Erfahrung, daß „mißlingende Reformen...
regelmäßig in Rückschritte umzuschlagen" pflegen3, veranlaßte die
Autorin zur unnachsichtigen Kritik an realitätsfernen Auffassungen 4 und
zu einem behutsamen schrittweisen Vorgehen. Sie wandte sich aber
nicht weniger deutlich gegen die „unbekümmerte Verwendung des
Strafbegriffs und herkömmlicher Strafpraxen, die weithin aus den Augen
verloren hatten, daß Objekt des Strafens immer Menschen mit ihrer
jeweiligen Lebens- und Problemgeschichte sind" 5 . In Grundfragen
ebenso entschieden wie engagiert der Hilfe am straffälligen Menschen
6
Kaufmann, H.: Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt
bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? In: Erinnerungsgabe für Max
Grünhut. Stuttgart 1965, 61-91.
7 Dazu schon Müller-Dietz, H.: Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems.
Heidelberg u.a. 1979, 248, 251 f; zum Handicap der Rechtsvergleichung..., das darin
begründet ist, daß von den Anregungen am meisten die Länder profitieren (könnten), die
international am weitesten hinten liegen, und daß Anregungen dort fehlen, wo ähnliche
Regelungen „vorliegen"; Walter, M.: Stellung und Bedeutung der Freiheitsstrafe aus
rechtsvergleichender Sicht. ZfStrVo. 34 (1985), 325 ff (327).
8 Vgl. dazu Dünkel, F., Spieß, G. (Hrsg.): Alternativen zur Freiheitsstrafe - Strafaus-
setzung zur Bewährung im internationalen Vergleich. Freiburg i. Br. 1983; Heinz, W.:
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik
Deutschland. In: Festschrift für H.-H. Jescheck. Berlin 1985, 955 ff; Walter, M.: Ambu-
lante Behandlung im Kriminalrecht. In: Festschrift für D.Oehler. Köln u.a. 1985, 693ff;
Jescheck, H.-H.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstel-
lung. In: Jescheck (Hrsg.): Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und
ausländischen Recht. Baden-Baden 1984, 1939-2163.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 601
' Jescheck, H.-H.: Die Krise der Kriminalpolitik. ZStW 91 (1979), 1037ff; dazu
Schultz, H.: Krise der Kriminalpolitik? In: Festschrift für H.-H. Jescheck (Fn. 8), 791 ff
(810), mit dem Hinweis, daß eine Krise der Kriminalpolitik erst eintrete, wenn sich die
zweihundertjährige Tendenz umkehren würde.
10 Vgl. Müller-Dietz, H.: Probleme der Strafvollzugsvergleichung. In: Festschrift für
Günter Blau. Berlin u. a. 1985, 515-535 (531 ff).
11 Blau, G. (Hrsg.): Die Reform des Strafvollzugs im Lichte internationaler Reformten-
II.
Der Strafvollzug beruht international verbreitet auf einer gesetzlichen
Grundlage. Obwohl in neuerer Zeit in vielen Staaten spezielle Vollzugs-
gesetze entstanden sind (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland, der
DDR, Italien, den Niederlanden, Osterreich und Ungarn; in Spanien
wurde sogar eine Regelung in die neue Verfassung aufgenommen),
herrschen im ganzen noch Strafprozeß- und vollstreckungsrechtliche
Lösungen (z. B. Frankreich und Skandinavien sowie in den sozialisti-
schen Staaten) vor. Aber auch die Regelung der grundsätzlichen Fragen
des Strafvollzugs im materiellen Strafrecht (z. B. in der Schweiz) ist nicht
ungewöhnlich. Gegenüber dem überall sichtbaren Prozeß der Verrecht-
lichung des Strafvollzugs tritt die formale Zuordnung zu den einzelnen
Rechtsgebieten zurück.
Auf das einzelstaatliche Handeln im Strafvollzug hat sich vor allem die am 4 . 1 1 . 1 9 5 0 in
R o m unterzeichnete europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten ausgewirkt. Sie gilt nach entsprechenden Ratifikationen der Unter-
zeichnerstaaten als nationales Recht. Allerdings haben die europäischen Staaten das
Recht auf Individualbeschwerde ihrer Bürger und die Zuständigkeit der Europäischen
Menschenrechtskommission erst allmählich und zum Teil sehr zögernd anerkannt 13 .
Ferner hat die Europäische Menschenrechtskommission in den ersten fünfzehn Jahren
ihrer Tätigkeit nur wenige Individualbeschwerden für zulässig befunden. Immerhin hat
sich die Sachlage im Laufe der siebziger Jahre insofern gewandelt, als nunmehr die
überwiegende Zahl der Individualbeschwerden von Gefangenen gegen Großbritannien
und nicht mehr gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben wird. Auffällig wenig
Individualbeschwerden werden von Bürgern skandinavischer Staaten vorgebracht,
relativ viele von Bürgern der Schweiz. E t w a 10 Prozent dieser Beschwerden wurden für
zulässig erklärt.
12 Zur Rechtslage bis Anfang der achtziger Jahre Kaiser, G.: Strafvollzug im europäi-
schen Vergleich. Darmstadt 1982, 208 ff.
13 Nachweise bei Mikaelsen, L.: European Protection of H u m a n Rights. Alphen aan
den Rijn / Germantown / Md. 1980, 20 f; ferner Kaiser, G.: Zweckstrafe und Menschen-
rechte. SJZ 80 (1984), 3 2 8 - 3 4 2 .
Strafvollzug im internationalen Vergleich 603
einen der vorderen Plätze ein. Darin mögen Stärke und Schwäche
zugleich liegen, wie es bereits die alte Kontroverse zwischen Freudenthal
und v. Liszt zur Rechtsstaatlichkeit und Resozialisierung vor mehr als 70
Jahren erkennen läßt18. Ist der Prozeß der Verrechtlichung auch im
Bereich des Strafvollzugs weitgehend geboten, jedenfalls aber unaufhalt-
sam, so bedeutet dies gleichzeitig die Einschränkung des Spielraums für
kriminalpädagogische und -therapeutische Interventionen sowie für die
Experimentierfreudigkeit und schöpferische Phantasie. Diese Spannung
besteht unverändert fort. Schon der neuere Streit über Ziel und Aufga-
ben des Strafvollzugs läßt dies erkennen.
III.
Unter dem Einfluß der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen
und der neuen Sozialverteidigung, teilweise auch aufgrund psycho- und
verhaltenstherapeutischer Fortschritte, herrschte bis in die jüngste Zeit
international die Resozialisierung als Vollzugsziel ungebrochen vor19.
Diese Zielsetzung wurde 1978 sogar in die neue spanische Verfassung
übernommen. Die Niederlande, Dänemark und Schweden galten vor
allem als Schrittmacher einer derartigen Bewegung. Nachhaltig hat sich
diese Richtung besonders im Strafvollzug der sozialistischen Staaten
niedergeschlagen, aber auch im Vollzugsrecht Österreichs, der Schweiz
und der Bundesrepublik Deutschland, ferner abgeschwächt in England
und Frankreich.
Seit den siebziger Jahren hat bekanntlich in Skandinavien, England und den USA die
Abkehr von der sogenannten Behandlungsideologie eingesetzt20. Dieser Auffassungs-
wandel setzte sich am radikalsten in den USA durch. Dort heißt es zu den bisherigen
Resozialisierungsbemühungen lapidar: „nothing works".
18 Dazu Kaiser, G. / Kerner, H.-J. / Schöch, H.: Strafvollzug. 3. Aufl. Heidelberg 1982,
53.
" Böhm, A.: Zum Einfluß von Vollzugstheorien auf internationale Vereinbarungen zur
Behandlung Gefangener. In: Festgabe für W.Preiser, Baden-Baden 1983, 183ff (194ff).
20 Dazu Kaiser, G.: Resozialisierung und Zeitgeist. In: Festschrift für Th. Würtenber-
V e r s e l b s t ä n d i g u n g s o l c h e r A u f g a b e n z u H a u p t z i e l e n des Strafvollzugs
erscheint f r a g w ü r d i g . Sollte n ä m l i c h darin d e r H a u p t z w e c k des Straf-
vollzugs liegen, so w ä r e es einfacher, ökonomischer und humaner,
ü b e r h a u p t auf d e n s t a t i o n ä r e n Strafvollzug z u v e r z i c h t e n . V o r n e h m l i c h
die F r e i h e i t z u entziehen, um Haftschäden zu vermeiden und zur
E n t l a s s u n g v o r z u b e r e i t e n , erschiene widersinnig.
K a n n dies a b e r p r i m ä r nicht gewollt sein, d a n n stellt sich die F r a g e
n a c h d e m ü b e r g e o r d n e t e n Z w e c k , d e m d e r Strafvollzug letztlich dient.
In d e r n e u e r e n T h e o r i e d i s k u s s i o n w e r d e n neoklassische Ziele, insbeson-
dere G e n e r a l p r ä v e n t i o n u n d V e r g e l t u n g , häufiger g e n a n n t . Derartige
R ü c k g r i f f e u n d ihre B e g r ü n d u n g e n bleiben j e d o c h unbefriedigend.
Die sogenannte Renaissance der Strafe, also das Postulat, wonach die Freiheitsstrafe als
ein Übel erlebt werden soll, vermittelt allein noch keine zureichende, eindeutig
konkretisierbare und widerspruchsfreie Zielsetzung für den Strafvollzug, ganz abgese-
hen von einem gestaltenden Einfluß auf die Vollzugsrealität. Denn trotz der neoklassi-
schen Ausrichtung in mancher Theorie (vor allem in den USA), möchte kaum jemand
ernsthaft den Weg zurückgehen.
Vor allem liefert die Generalprävention keine Begründung dafür, warum gerade
kurze Freiheitsstrafen mit einem hohen Grad an Vollzugslockerungen und einer
geringen Gefangenenzahl abschrecken oder zur Rechtstreue motivieren sollen.
Auch die Vergeltung vermag eine derartige Vollzugspraxis (geringe Gefangenenzahl,
kurze Freiheitsstrafen, zahlreiche Vollzugslockerungen) nicht zu rechtfertigen. Ein
genau abgestuftes System von Strafen und Rechtspositionen (Vergünstigungen) im
Strafvollzug würde dem unterschiedlichen Schweregrad des Unrechts weit besser
entsprechen. Aber gerade diese folgerichtigen Konsequenzen sind offenbar nicht
gewollt oder werden kaum für belangvoll erachtet22.
Die Sicherung oder Unschädlichmachung („incapacitation") wird zwar neuerdings
überwiegend im englischsprachigen Schrifttum propagiert, gleichwohl unabhängig
davon trotz vielfältiger Kritik weithin mitberücksichtigt und angewandt. Die ver-
gleichsweise hohen Gefangenenzahlen in den sozialistischen Staaten und der Anstieg
langer Freiheitsstrafen in Osteuropa belegen dies, obschon der ausdrückliche Rückgriff
auf die Unschädlichmachung selten ist. Soweit dieser unumgänglich ist wie z. B. bei der
Sicherungsverwahrung, sucht man verschämt davon abzurücken.
Allerdings wird dieser Auffassungswandel mehr deklaratorisch bekundet oder ver-
bal geäußert. Denn die alte Vollzugspraxis dauert nahezu unverändert fort. Teilweise
weist wie in Dänemark und Schweden sogar das Behandlungsvokabular verräterisch
darauf hin. Deshalb erscheint selbst die verbale Abkehr als äußerst zweifelhaft25.
Gleichwohl trifft zu, daß die Behandlung als Strategie der Verbrechenskontrolle
(„treatment against crime") ihre Bedeutung verloren, jedoch innerhalb des Strafvollzugs
und - wie man hinzufügen muß - auch in einem weiten Bereich der ambulanten
22 Vgl. etwa Naucke, W.: Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbe-
griff. Stuttgart 1985, 40, mit dem Vorschlag, „wirkliche Verbrechen und vergeltende
Strafen in einem Strafgesetzbuch, abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle in einem
Interventionsgesetzbuch zu sammeln".
23 Kritisch Christie, N.: Limits to Pain. Oxford 1981, 14; neuerdings Löfmarck, M.:
Neo-Klassizismus in der nordischen Strafrechtslehre und -praxis: Bedeutung und Auswir-
kungen. Vortrag anläßlich des Deutsch-skandinavischen Strafrechts-Kolloquiums im Max-
Planck-Institut Freiburg i. Br., Mai 1985, 10.
606 Günther Kaiser
IV.
Obwohl anerkannte Gestaltungsgrundsätze im Vollzugswesen wie
Differenzierung, Klassifikation und Vermeidung von Haftschäden
inzwischen zum festen Bestand internationalen Vollzugswissens zählen
24 Dazu jedoch kritisch Schultz (Fn. 9) und Schwind, H.-D.: Unsichere Grundlagen der
25 Van der Linden, B.: Enquiry Concerning the Cost of Prisons. In: Prison Information
V.
Uberall in Europa, ja in der ganzen Welt, bildet die Arbeit den
zentralen Vollzugsinhalt. So besteht denn auch in vielen Ländern
Arbeitspflicht (neben der Bundesrepublik Deutschland z.B. in Öster-
reich, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden). Dies gilt selbst
dann, wenn für sie keine gesetzliche Programmvorgabe besteht. Sie
macht vor allem einen beachtlichen Teil der Vollzugswirklichkeit aus
und hilft, den Alltag zu bewältigen. Die Bedeutung der Arbeit wird
namentlich dort erkennbar, wo die Gefangenen arbeits- und beschäfti-
gungslos sind. Ein Beispiel hierfür ist Frankreich, wo oft erhebliche
Strafvollzug im internationalen Vergleich 609
VI.
Mittel zur Stützung der Gefangenen und zur Hilfe der Entlassenen
gelten überall als bedeutsam. Dennoch halten sich die entsprechenden
Anstrengungen allgemein in engen Grenzen. Am weitesten reicht die
soziale Unterstützung in Skandinavien und den Niederlanden. Dort sind
die Strafgefangenen und -entlassenen den Sozialhilfebedürftigen im
wesentlichen gleichgestellt. Hingegen kennt z . B . Japan keinerlei soziale
Hilfe durch Sozialarbeiter. Hier verläßt man sich offenbar auf die
Stützung durch informelle Gruppen. Geringe Straffälligkeit und Gefan-
genenzahl zeigen, daß dieser Weg in der japanischen Gesellschaft gang-
bar und sinnvoll erscheint, während westliche Gesellschaften in diesem
Bereich durch gemeindliche Initiativen oder ehrenamtliche Helfer tätig
werden müssen.
Die Behandlung im Sinne der Anwendung therapeutischer Mittel ist,
soweit überhaupt vorhanden, überall selten. Selbst in den Niederlanden
wird nur ein kleiner Prozentsatz der Gefangenen von Therapieprogram-
men erfaßt, in der Bundesrepublik Deutschland noch weniger. Auch in
26
Osterr. Bundesregierung: Sicherheitsbericht 1983. Wien 1984.
27
Ancel, M. / Chemithe, P.: Les systèmes pénitentiaires en Europe occidentale. Paris
1981, 144, 147; siehe ferner Schölten, H.-J.: Niederlande. In: Eser/Huber (Fn. 16), 489 f.
610 Günther Kaiser
nen Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Bern 1985, 243 ff; die Einführung einer
sozialtherapeutischen Anstalt als Einrichtung des Maßnahmenvollzugs vorgeschlagen
werden.
29 Cornils, K.: Schweden. In: Eser/Huber (Fn. 16), 663ff (673).
30 Vgl. Maurer, M.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Spanien. In: Jescheck
selten (z.B. in der Schweiz) als ein Thema, dem hohe Priorität zuer-
kannt wird.
VII.
Die Strafvollzugssysteme, insbesondere jene Westeuropas, weisen
nach alledem beachtliche Übereinstimmung, aber auch erhebliche Diver-
genzen auf. Gemeinsamkeiten in der Behandlung der Gefangenen, in der
Struktur des Vollzugsstabs sowie in der Organisation und Verwaltung
des Vollzugs beruhen entweder auf Tradition oder Angleichungsprozes-
sen, die wiederum durch die sogenannten Mindestgrundsätze und die
Europäische Menschenrechtskonvention ausgelöst und getragen wer-
den. Unabhängig davon kennt fast jedes der nationalen Systeme heraus-
ragende Vollzugsleistungen und weiterführende Experimente, aber auch
Schwächen. Wir begegnen also verschiedenen Vollzugsmodellen mit
unterschiedlichen Kriterien und Schwerpunkten.
Die Gefangenenrate liefert dafür fraglos einen wichtigen Anhaltspunkt. Sie kann aber
nicht als alleiniger Maßstab gelten. Andernfalls nähmen Griechenland, Island oder
Zypern und nicht die Niederlande oder Schweden eine Spitzenstellung ein. Würde man
hingegen lediglich auf die geringe Verurteilungsrate zu Freiheitsstrafen abstellen, so
rückte international Japan an die Spitze; legte man schließlich den Grad der Verrechtli-
chung als entscheidend zugrunde, hätte die Bundesrepublik Deutschland gute Chan-
cen, einen der oberen Ränge einzunehmen.
32 Vgl. Heinz (Fn.8), 976; Kerner, H.-J. (Hrsg.): Diversion statt Strafe? Heidelberg
1983.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 613
33 Vgl. Tournier, P.: Statistics Concerning Prison Populations in the Member States of
the Council of Europe. In: Prison Information Bulletin No. 5/1985, 16ff; speziell zur
Schweiz Riklin, F.: Zur Diskussion über die kurzen Freiheitsstrafen und die Alternativen
im europäischen Ausland. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 1985, 122 ff.
34 Ministry of Justice Netherlands (Ed.): Society and Crime. A Policy Plan for the
Netherlands. The Hague 1985, 4, 15 ff.
35 Government ofJapan, Research and Training Institute, Ministry of Justice: Summary
of the White Paper on Crime 1984, 109.
614 Günther Kaiser
VIII.
Bei alledem geht es nicht nur um Sicherheit und Generalprävention,
sondern auch um Grundeinstellungen zu Schuld und Strafverbüßung
sowie um die Gewährleistung von Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit.
Notwendigkeit und Bedeutung derartiger Ziele werden jedoch interna-
tional unterschiedlich eingeschätzt. Solche Divergenzen beeinflussen
auch Art und Inhalt der Strafe sowie Umfang und Struktur des Strafvoll-
zugs. Erwartungsgemäß werden dazu verschiedene Meinungen vertre-
ten. Keinesfalls aber kann man, wie gelegentlich gefordert40, Strafrechts-
pflege und Strafvollzug von Bewegung und Belastung der Kriminalität
völlig „abkoppeln" in der Annahme, daß es auf die Anstrengungen der
Strafrechtspflege gar nicht ankomme. Bezüglich der sogenannten Kon-
trolldelikte, die also von der Verfolgungsintensität stark abhängig sind,
wäre eine solche Hypothese ohnehin fehlerhaft.
Für den Vergleich der Strafvollzugssysteme ist ferner das Potential an
Sozialisation und Humanisierung zu beachten. Bedeutsam ist hierfür das
weltweit verbreitete Bekenntnis zu den Mindestgrundsätzen in der
Behandlung der Strafgefangenen. Die Anerkennung eines Mindeststan-
dards im Strafvollzug wird sicherlich nicht nur verbal geäußert, sondern
auch in der Praxis, obschon regional unterschiedlich, zu verwirklichen
gesucht. Als Beispiel dafür, was Humanisierung leisten kann, könnte auf
Italien verwiesen werden: Dort soll das neue Strafvollzugsgesetz erst-
mals eine „Bresche in die Mauer jahrhundertelanger Abgeschlossenheit
geschlagen" haben41. In der Durchsetzung der Mindestgrundsätze
scheint der stärkste Motor für die weitere Humanisierung sowie Verein-
heitlichung des Strafvollzugs zu liegen, und zwar über die politische
Spaltung Europas oder anderer Regionen hinaus.
Gleichwohl bleibt die Strafvollzugsphilosophie, oder genauer das
konkret anzustrebende Vollzugsziel problematisch. Wenn, wie in Skan-
dinavien, England und einigen anderen Staaten das Ziel des Strafvollzugs
hauptsächlich darin bestehen soll, zur Entlassung vorzubereiten, dann
drängt sich sogleich die Frage auf, wozu man den Straftäter überhaupt in
den Strafvollzug schickt. Denn ließe man ihn in Freiheit, könnte man
sich die Entlassungsvorbereitung sparen. Die Angleichung des Vollzugs
an die Außenwelt oder die Vermeidung von Haftschäden würde dann
entbehrlich. Diese paradox erscheinende Situation ist bislang nicht über-
zeugend bewältigt. Doch so grundsätzlich und tiefgreifend dieser theore-
tische Streit auch sein mag, in der Praxis ist man sich über den Vollzug
und über seine Reformrichtung weitgehend einig.
Plädiert etwa Schweden für die Öffnung der Strafanstalten und die Ausweitung der
Kontakte des Gefangenen mit der Außenwelt einschließlich Hafturlaub, so verspricht
es sich davon einen ebenso wichtigen wie normalen Beitrag zur Verbesserung der
Haftbedingungen und für die Humanisierung der Gefängnisse42. Hingegen begreift die
Gefängniskommission der Beneluxländer den Hafturlaub als Teil individueller Behand-
lung, indem er als ein Mittel die erwünschten Kontakte mit der Außenwelt ermöglicht.
Demgemäß schlägt man vor, daß die Behandlung auch den Kontakt mit der Außenwelt
einschließen und zu diesem Zweck Hafturlaub soweit wie möglich als ein Teil der
Behandlung verstanden werden soll43. Sachlich also besteht selbst in den Reformvorstel-
lungen, wie dieses Beispiel veranschaulicht, kein Unterschied; nur die Bezeichnung ist
verschieden. Was die einen als „Behandlung" zu nennen pflegen, möchten die anderen
lieber als „Humanisierung" bezeichnet wissen.
IX.
In der vergleichenden Längsschnittbetrachtung erscheint als eines der
Problemschwerpunkte die langfristige Inhaftierung. Zum Beispiel in
Osterreich haben die Strafen von über einem Jahr überdurchschnittlich
zugenommen. Auch die Mehrzahl der in Italien verhängten Freiheits-
strafen liegt zwischen 1 bis bzw. über 5 Jahren 47 . In Schweden dagegen
liegen nur wenige Strafen über einem Jahr und fast keine über 4 Jahre 48 .
Weitere Problemschwerpunkte bilden die sichere Unterbringung gefähr-
licher Straftäter, intensivere Durchsetzung der Mindestgrundsätze und
49 Conrad, C. P.: Crime and its Correction. An International Survey of Attitudes and
Practices. Berkeley 1965, 146 f.
50 Dazu Dünkel, F. / Rosner, A.: Die Entwicklung des Strafvollzuges in der Bundesre-
51 Lammich, S.: Die Freiheitsstrafe und deren Vollzug in den sozialistischen Ländern
unter besonderer Berücksichtigung Polens. In: 8. Strafverteidigertag v. 1 8 . - 2 0 . Mai 1984.
München 1985, 184 ff.
52 Vgl. Levinson, R.B.: Privatization in Corrections: The Issues. The Prison Journal,
Juli 1 9 8 6 ; National Institute ofJustice ( E d . ) : The Privatization of Corrections. Washington
/ D . C . 1985.
53 National Institute of Justice ( E d . ) : The Private Sector and Prison Industries.
W a s h i n g t o n / D . C . 1985, 6.
620 Günther Kaiser
X.
In der Gegenwart werden nicht nur hierzulande wieder mehr Strafen
verhängt und häufiger lange Freiheitsstrafen ausgesprochen als vor
einem Jahrzehnt. So zählt man heute fast wieder ebensoviele Strafgefan-
gene wie Mitte der sechziger Jahre. In England wurden 1981, als ein
Spitzenwert von 45 500 Inhaftierten erreicht war, sogar zwei Behelfsge-
fängnisse eröffnet. Wiederum sind Justizvollzugsanstalten überbelegt
und Strafgefangene teilweise unwürdig untergebracht.
Für Frankreich werden besonders die baulichen Mängel hervorgehoben. Aber auch
Italien und Spanien sind hier zu nennen. Für Spanien wird der Gedanke an eine
erfolgreiche Resozialisierung unter den zum Teil katastrophalen Vollzugsbedingungen
als geradezu grotesk bezeichnet. Die USA kennen ähnliche Probleme: Der 112. Kon-
greß der American Correctional Association hat sich 1982 unter dem Leitmotiv
„Managing Overcrowding with Limited Resources" mit der Situation befaßt. Allein
10000 Petitionen betreffen die Haftsituation in den amerikanischen Gefängnissen56.
54 Austin, J. / Krisberg, B.: Incarceration in the United States: The Extent and Future of
the Problem. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences
No. 478 / March 1985, 15 ff.
55 Schölten (Fn.27), 489 ff.
56 Vgl. Evans, D. C.: Managing Overcrowding with Limited Resources. In: American
57 Heijder, A.: Can we Cope with Alternatives? Crime and Delinquency 26 (1980), 1 ff.
58 Kaufmann (Fn.2), 202.
Aufgaben und Arbeitsweise
der Justizvollzugsämter
im Lande Nordrhein-Westfalen
KARL PETER ROTTHAUS
' Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, VI. Band: Chudoba, Zur Frage der
Organisation des Strafvollzugs, S. 22-36; Ruprecht, Organisation der Strafvollzugsverwal-
tung, S. 37—47; XII. Band: Müller-Dietz (Berichterstatter), Vollzugsgemeinschaften und
Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten, S. 103-122; Bund der Strafvollzugsbediensteten
Deutschlands, Stellungnahme zu Fragen der Neuorganisation des Strafvollzuges, 1968;
Derselbe, Denkschrift über die Neuorganisation des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfa-
len, Hövelhof o . J .
2 Gesetz vom 24.2.1970 G V N W S. 168.
nung zur Durchführung des Niedersächs. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfas-
sungsgesetzes ( A G G V G Ns).
624 Karl Peter Rotthaus
Deutschland und die Organisation ihrer Verwaltung, S. 38 ff, in: Bumke (Hrsg.), Deut-
sches Gefängniswesen, Berlin 1928.
5 Anm. 1 Chudoba S. 25 ff.
6 Preußisches Gesetz v. 1 . 8 . 1 9 3 3 GS S.293.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 625
1970 1985
27 Höherer Vollzugs- und Verwaltungsdienst 55
8 Psychologen 49
22 Pädagogen 59
30 Sozialarbeiter 104
1002 Allgemeiner Vollzugsdienst 2530
49 Werkdienst 188
Landes N R W .
628 Karl Peter Rotthaus
die Vorteile darin, daß die Ämter ihren Bezirk leichter überblicken, daß
sie weniger zur Unfehlbarkeit verpflichtet sind als ein Ministerium und
deshalb experimentieren und auch Fehler machen können. Im Verhältnis
zum Anstaltsleiter ist der Präsident des Justizvollzugsamts eher ein
älterer Kollege, so daß ein unbefangenes Gespräch möglich ist. Die
Vollzugsämter stehen zudem auch weniger im Blickpunkt der Politik
und sind weniger als Ministerien dem Druck politischer Strömungen
ausgesetzt. Das erleichtert eine beständige und gleichmäßige Arbeit.
29 Anm.l.
50 Anm. 26, Kap. 5 Organisation S. 74 ff.
31 a.a.O. S. 99 Nr. 573.
32 a.a.O. S. 92 ff.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 635
Ausblick
Die vorstehenden Überlegungen sind zwangsläufig fragmentarisch,
weil es an Vorarbeiten fehlt. Die Regelung der Dienstaufsicht im Justiz-
vollzug ist aber keine bedeutungslose Randerscheinung, sie verdient die
Aufmerksamkeit empirischer Untersuchung und kritische Würdigung.
Zum einen ist die bestmögliche Nutzung der beschränkten personellen
und sachlichen Mittel im Vollzug von einer planmäßigen überörtlichen
Steuerung abhängig. Zum anderen hat die Aufsichtsbehörde den gesetz-
lichen Auftrag, die Respektierung der Rechte der Gefangenen zu ge-
währleisten.
33
Kerner, in: Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug, 3. Aufl., Heidelberg 1982, §8
R d n . 5 , §12 Rdn.10.
IV.
Strafrecht
Die integrierende Lehre vom Tatbestand
I G O R ANDREJEW
I.
Karl Peters hat einmal darauf verwiesen, daß die Lehre vom materiel-
len Strafrecht sich immer mehr von den Prozeßfragen entfernt1. Dies
bezieht sich vorab auf die deutsche Wissenschaft. Aber es betrifft
ebenfalls die Theorie des Strafrechts in allen Ländern Osteuropas, wo
sich der Einfluß der deutschen Doktrin geltend machte, darunter auch in
Polen, wo ich diese Gedanken niederschreibe2. Die Zersplitterung der
Lehre vom Strafrecht in zwei Disziplinen (und sogar in drei, wenn der
Strafvollzug hinzukommt) tritt durch die Gründung getrennter Lehr-
stühle mit Fachkundigen, die wenig Interesse daran finden, was in
Nachbardisziplinen vor sich geht, immer mehr in Erscheinung. Zwi-
schen der Lehre vom materiellen Recht und der Lehre vom Prozeß kam
es zur Spaltung, die die Grenzen einer vernünftigen Spezialisierung bei
weitem überschreitet.
Es sei daran erinnert, daß viele strafrechtliche Probleme nicht gehörig
beleuchtet werden können, falls ihren sowohl prozessualen als auch
materiellen Aspekten nicht gebührende Beachtung geschenkt wird.
Zahlreiche Beispiele liefert die Fachliteratur aus verschiedenen Ländern.
Es fällt aber auch nicht schwer, Beispiele für die integrierende Erfassung
vieler Institutionen zu finden. Ein hervorragendes Vorbild eines solchen
Herangehens an die Institution des Strafrechts liefert das Schaffen von
Hilde Kaufmann, und ganz besonders ihre Monographie „Strafanspruch
- Strafklagrecht", herausgegeben 1968 in Göttingen.
In letzter Zeit trat ein weitergehendes Phänomen zutage, nämlich das
integrierende Herangehen nicht nur an die einzelnen Institutionen,
sondern auch an die allgemeinen Hauptbegriffe des Strafrechts wie
Verbrechen, Handlung, Schuld, Strafe. Man kann die Feststellung
wagen, daß es bereits Anzeichen einer Wende in der strafrechtlichen
1
K.Peters: Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, 1963 („Recht und
Staat").
2
Das Problem der Desintegration der Lehre vom materiellen und prozessualen Straf-
recht habe ich in einem Aufsatz unter diesem Titel in der poln. Monatsschrift „Staat und
Recht" 12/1984 behandelt.
640 Igor Andrejew
Denkweise sind3. Wir lassen uns nicht mehr mit der Behandlung des
Strafrechts als einer Gesamtheit von Gedanken- oder Seinsstrukturen
zufriedenstellen. Wir wollen wissen, wie Bestimmungen und Institutio-
nen dieses Rechts funktionieren, wie und mit welchem Erfolg sie
angewendet werden. Ein solches Herangehen ließe sich als dynamisch
bzw. dialektisch bezeichnen, unter Berücksichtigung dessen, daß es mit
der prozessualen Praxis eine Bindung nicht nur im Sinne des Inhalts von
rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, sondern auch im Sinne des
Weges, den die Entscheidung im Strafverfahren durchläuft, bevor sie
rechtskräftig wird, aufweist. Ein Beispiel für ein solches Herangehen ist
die Theorie des gesetzlichen Straftatbestands, die die Aspekte des mate-
riellen und des prozessualen Rechts integriert, kurzum - die integrie-
rende Theorie des Straftatbestands. Die Grundthese dieser Theorie
lautet: Der gesetzliche Tatbestand bestimmt, worin der Deliktstypus
dieser oder jener Art besteht; somit bestimmt er, welche Sachverhalte im
Strafverfahren zu beweisen sind, sollte die Verurteilung wegen eines
solchen Delikts erfolgen. Dieser Beweisaspekt der Tatbestandsmerkmale
ist in Betracht zu ziehen, sowohl dann, wenn es um die Formulierung
des Begriffs des gesetzlichen Tatbestands geht, als auch dann, wenn die
Gesetzgebungspraxis untersucht wird, die in der Formulierung der
gesetzlichen Tatbestandsmerkmale besteht, und letztlich auch dann,
wenn die Anwendung der Strafrechtsvorschriften in der Praxis der
Verfolgungs- und Justizorgane unter die Lupe genommen wird4.
II.
Auf der erwähnten Grundthese fußend, gelangt man zur Stellung-
nahme zu zahlreichen, in der Vergangenheit des öfteren umstrittenen
Fragen. Es fällt z.B. der Begriff des allgemeinen Tatbestands ab, der
noch im XIX. Jahrhundert so lebhaft erörtert wurde. Heute wird nur
vom besonderen Tatbestand gesprochen, d. h. von den nach der gesetzli-
chen Bestimmung der erkennbaren Straftat zu beweisenden Sachverhal-
ten. Dieser Begriff ist nötig sowohl in der Rechtssetzung wie auch in der
Rechtsanwendung. Sein Hauptanliegen ist eine derartige Sensibilisierung
des Gesetzgebers auf die Formulierung des von ihm zu verabschieden-
den Gesetzes, daß diese auf den Umfang der Designate nach Möglichkeit
eindeutig hinweist. Der gesetzliche Tatbestand ist für denjenigen ver-
bindlich, der ihn im konkreten Tatgeschehen erkennt. Wichtig ist für
beide, sich im klaren zu sein über den Unterschied zwischen den im
Sinne des Gesetzes feststellbaren Wirklichkeitsmerkmalen und anderen
Tatsachen, die womöglich ebenfalls sehr bedeutend, aber im Gesetz
nicht bestimmt sind.
Aus der Grundthese ergibt sich, daß Rechtswidrigkeit und Schuld
zum Tatbestand nicht gehören. Rechtswidrigkeit und Schuld werden
indirekt festgestellt, indem der gesetzliche Tatbestand festgestellt wird,
falls zugleich Umstände, die die Rechtswidrigkeit (z. B. Notwehr) oder
Schuld (z. B. Befehl des Vorgesetzten) ausschließen, nicht nachzuweisen
sind.
In diesem Zusammenhang sei die Konzeption der sog. negativen
Tatbestandsmerkmale erwähnt, die in der Fachliteratur zu Recht kriti-
siert wird 5 . Die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließenden Gründe
werden nur in bestimmten Fällen erkannt, die Tatbestandsmerkmale -
immer.
Die Bewußtmachung des Situationsunterschiedes, wann die gesetzli-
chen Tatbestandsmerkmale zu beweisen sind und wann die Umstände,
die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließen, verweist auf die Unver-
hältnismäßigkeit zwischen der praktischen Bedeutung des Tatbestandes
und diesen Sonderumständen. Diese UnVerhältnismäßigkeit wird spür-
bar, wenn man bestrebt ist, in der verbreiteten deutschen Triade Tatbe-
stand - Rechtswidrigkeit - Schuld die aufeinander folgenden Phasen der
Verbrechenserkennung zu sehen. Meistens nämlich kommt der Nach-
weis der Verwirklichung des Tatbestandes der Feststellung der Tat-
rechtswidrigkeit und Täterschuld gleich. In der Praxis erfolgt der
5 Vgl. die wissenschaftliche Kritik an dieser Konzeption in der Monographie von H.J.
6
In dieser Wahrnehmung dürfte man eine Art Anlehnung an die verklungene psycho-
logische Schuldtheorie sehen. Dies wäre allerdings nur scheinbar. Der Verfasser des
vorliegenden Aufsatzes ist für das prozessuale Verständnis der Schuld als Vorwerfbarkeit
der Tat, die die gesetzlichen einer konkreten Person zugerechneten Tatbestandsmerkmale
verwirklicht. Gemeinsam mit sog. die Schuld ausschließenden Umständen entfällt die
Vorwerfbarkeit der zugerechneten Tat.
Integrierende Lehre v o m Tatbestand 643
III.
Die Verbindung des Tatbestands mit der Praxis umfaßt sowohl die
Gesetzgebungspraxis als auch die Strafverfolgungs- und Justizpraxis. In
der Gesetzgebungspraxis macht sich dieser Zusammenhang bei der
Typisierung der Straftat, d. h. bei der Wahl der Tatbestandsmerkmale
zur Beschreibung der Straftat bemerkbar. In der Strafverfolgungs- und
Justizpraxis erfolgt die Erkennung des gesetzlichen Tatbestandes im
konkreten Ereignis. Diese Erkennung beruht auf der Subsumtion der
Tat unter die Vorschrift des Strafgesetzes, oder - wird der Fall nicht von
der Seite des Gesetzes, sondern des konkreten Tatgeschehens her
betrachtet - auch auf der Zuordnung der Tat zum Tatbestand. Die
Subsumtion oder eine solche Zuordnung wird auch in anderen Sprachen
die juridische Qualifizierung der Tat genannt7. Um Mißverständnisse zu
vermeiden, werde ich die Termini Typisierung und Subsumtion gebrau-
chen.
Die Fragen der Typisierung sind recht unterschiedlich. An Beispielen
der Gesetzgebung in verschiedenen Ländern könnte man Wahrnehmun-
gen sammeln, welche Argumente verwendet werden, um diese oder jene
Erfassung der Deliktstypisierung zu verwenden, z . B . bei Totschlag,
Körperverletzung, Diebstahl, Betrug, Erschleichung einer Leistung und
ähnliches mehr. Im vorliegenden Aufsatz gibt es allerdings keinen Platz
für solche allgemeinen Bemerkungen 8 .
Indessen halte ich es für angebracht, zwei wesentliche Voraussetzun-
gen für eine gute Typisierung hervorzuheben: zum ersten - die Typisie-
rung hat darauf zu verweisen, worin das Verbrechen besteht; und zum
anderen - die Straftat soll so bestimmt werden, daß die Beweisführung in
einem redlich durchgeführten Strafverfahren möglich ist.
IV.
Die Klarheit über die Zusammenhänge zwischen Straftattypizität und
der Erkennungspraxis der Tatbestandsmerkmale, die durch die Tatzu-
ordnung zur Gesetzesvorschrift gekrönt wird, läßt eine nüchternere
Einsicht in das Funktionieren dieser Typizität und der sie bildenden
Merkmale zu. Heute begnügen wir uns nicht mehr mit der Feststellung,
daß die Subsumtion sich auf den Syllogismus zurückführen läßt. Wir
interessieren uns für den Subsumtionsmechanismus, d. h. für die kom-
plizierten Denktätigkeiten, die letzten Endes darauf schließen lassen,
daß eine bestimmte Straftat begangen worden ist. Und in diesem Denk-
operationenablauf kompliziert ist sowohl die Wahl der Vorschrift wie
auch die Klarstellung des Sachverhalts, wobei, ähnlich wie die Vor-
schriftswahl mit der fortschreitenden Erkenntnis des Sachverhalts
erfolgt, es zur Präzisierung des Sachverhalts kommt, oder mit anderen
646 Igor Andrej ew
10 Die Vorschrift, auf die die Qualifizierung gewöhnlich „abgleitet", hat in der deut-
V.
Die Lehre vom Tatbestand konzentriert sich folglich nicht nur auf den
Begriff der Tatbestandsmerkmale selbst, auf deren Umfang und Arten,
sondern sie dehnt sich ebenfalls auf den umfangreichen Fragenkreis der
gesetzlichen Typisierung der Straftat als Gesamtheit intellektueller
Tätigkeiten und als deren Ergebnis aus; sie umfaßt ferner die Anpas-
sungspraxis der die Straftat bestimmenden Vorschriften an die konkrete
Wirklichkeit. Von einer solchen Lehre darf gesagt werden, daß sie die
rechtsmateriellen und prozessualen Aspekte des gesetzlichen Tatbe-
stands integriert.
12 Daher ist die Formulierung „die Parallelwertung in der Laiensphäre" der Wirklich-
keit nicht adäquat, denn sie bezieht sich auf die bei weitem allgemeineren Vorgänge.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz
WOLFGANG SCHÖNE
I.
Auf dem Prüfstand steht eine Konzeption der Fahrlässigkeitsverbre-
chen, deren dogmatischer Gehalt sich erst aus ihren normentheoreti-
schen Grundlagen 5 voll erschließt.
a) Will die Rechtsordnung ihre Güter davor schützen, von Menschen
beeinträchtigt zu werden, so darf sie nicht nur den Eintritt einer
Verletzung oder Gefährdung mißbilligen; vielmehr muß sie den Einfluß
des Menschen auf die Ereignisse steuern: sein Verhalten. Die Mittel zur
Steuerung menschlichen Verhaltens sind an dessen Natur gebunden.
Folglich bestehen sie in Sollsätzen, die allen oder bestimmten Menschen
aufgeben, entweder eine finale Handlung vorzunehmen oder von einer
solchen abzusehen: „allgemeine" oder „besondere" (Bestimmungs-)
Normen jeweils in der Form eines Gebotes oder Verbotes. Aliud non
datur.
Die Rechtssätze, die die Struktur von Geboten oder Verboten aufwei-
sen, unterscheiden sich untereinander nur durch den Inhalt der Finalität,
die verwirklicht werden oder unterbleiben soll. Immer dann, wenn -
gemessen an diesem Kriterium - eine andere finale Handlung anbefohlen
2
ZStW 91, S. 857 ff.
3
ZStW 94, S. 68 ff.
4
Hilde Kaufmann, Die ungewollte Straftat, Rundfunkvortrag RIAS, März 1975
(ungedrucktes Manuskript).
5
Vgl. zum Folgenden Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 30 ff, 37 f;
Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 3 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 651
6 So ist weder die „einfache" vorsätzliche Beschädigung noch die vorsätzliche Gefähr-
lung seiner Existenz feindlich oder seiner Erhaltung förderlich ist, gibt es
auch eine entsprechende Bestimmungsnorm.
Die Feststellung, welche Verbote und Gebote existieren, ist schwie-
rig, weil das Gesetz die Bestimmungsnormen nur selten so formuliert,
wie dies ihrem Wesen entspricht. Zwar gibt es Beispiele dafür, daß
verbotene oder gebotene Handlungen beschrieben werden7. In aller
Regel wird aber nicht die Norm selbst, sondern eine Norm Verletzung
angegeben und mit einer Rechtsfolge verknüpft. Aus einem solchen
klassischen Vollstrafgesetz - „wer die Handlung a vornimmt, wird mit x
bestraft" - muß also auf die Verhaltensnorm zurückgeschlossen werden:
„Du sollst die Handlung a unterlassen (vornehmen)!". Dieser Rück-
schluß ist einfach, wenn das Strafgesetz ein Verhalten beschreibt; er ist
schwer bis unmöglich, wenn es dafür lediglich Indizien gibt.
Daß der Gesetzestext lediglich Hinweise auf die gemeinten Handlun-
gen enthält, gilt nicht nur8, wohl aber insbesondere dort, wo „das Gesetz
fahrlässiges Handeln... mit Strafe bedroht" (§ 15 StGB). Bei Vorschrif-
ten, die immerhin diejenigen finalen Handlungen beschreiben, aus denen
die fahrlässige Verursachung der Rechtsgutsbeeinträchtigung hervorge-
gangen sein muß9, mag das nicht ganz so deutlich sein; bei Strafgesetzen
wie §222 StGB, die lediglich eine Rechtsgutsbeeinträchtigung, die Kau-
salität und das Fahrlässigkeitserfordernis nennen, ist das unübersehbar.
Ein Rückgriff auf §276 B G B hilft da nicht weiter. Die Definition
fahrlässigen Handelns als „Außerachtlassen der im Verkehr erforderli-
chen Sorgfalt" leidet unter dem Widerspruch, daß eine Handlung nicht
ihr Gegenteil - die Unterlassung der Anwendung von Sorgfalt - sein
kann. Eine Interpretation, daß fahrlässig handelt, wer bei einer Hand-
lung Sorgfalt außer acht läßt, liefe auf denselben Widerspruch hinaus:
Handeln strictu sensu kann nicht Handlung plus Unterlassung sein. Soll
die Normlogik gewahrt bleiben, so müßte der Gesetzestext schon so
gelesen werden, daß fahrlässig handelt, wer eine Handlung vornimmt,
die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt; aber damit
wird die Frage, welche finalen Handlungen diese Eigenschaft aufweisen
und Gegenstand eines Verbotes sind, noch nicht beantwortet.
Das verlockt, den Widerspruch im Text des §276 B G B nach der
anderen Seite hin aufzulösen. Wird die Aussage darüber, wann jemand
fahrlässig „handelt", nicht auf ein Handeln im Sinne des Handlungsbe-
griffs, sondern untechnisch auf fahrlässiges „Verhalten" bezogen,
scheint es möglich, die gesuchten Verhaltensbeschreibungen normlo-
gisch bruchlos in der Unterlassung von Sorgfalt zu sehen.
7 Vgl. z.B. § 6 Arzneimittelgesetz.
8 Vgl. z.B. §185 StGB.
9 Vgl. z.B. §315 StGB: fahrlässige Verursachung einer Gefahr durch Führen eines
12 Vgl. auch Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982,
S. 147.
13 Vgl. z.B. Welzel, Strafrecht, S. 131 ff; Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik,
S. 132 ff.
14 Dazu näher Schöne, Cuadernos de Politica Criminal (Madrid) 1977, S. 63 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 655
15
Strafrecht, S. 131 ff.
656 Wolfgang Schöne
II.
Aber eben nicht unter die Strafgesetze. Muß dann nicht Art. 103
Abs. 2 G G die Bestrafung von Fahrlässigkeitstaten wenigstens in aller
Regel unmöglich machen?
" Vgl. Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht,
1965, S. 10 f; dazu richtig Bohnert, ZStW 94, S. 70 f.
658 Wolfgang Schöne
21
Vgl. Bohnert, ZStW 94, S. 77: „Das Irrtumsmoment ist der Fahrlässigkeit wesent-
lich«.
660 Wolfgang Schöne
abhängt. Dazu gehört selbstverständlich auch für Bohnert mehr als nur
die Verwirklichung des Erfolgssachverhalts: erst die Sorgfaltswidrigkeit
und „andere tatbestandliche Prüfungsgegenstände (objektive Zurech-
nung, erlaubtes Risiko, Erfolgseintritt auch bei rechtmäßigem Alterna-
tiwerhalten und dergleichen)"24 entscheiden darüber, ob die Erfolgsver-
ursachung Gegenstand eines Vorwurfs sein kann. Die Zugehörigkeit
dieser Merkmale zu den einzelnen Aufbaustufen des Verbrechens mag
streitig und ihre Ausklammerung aus einem engen Tatbestand(sbegriff)
durchaus möglich sein; wenn es sich einmal um „Schwachstellen" han-
delt, so bewirken Verlagerungen innerhalb des Verbrechensaufbaus qua
Gesetzesbestimmtheit der Strafbarkeit nichts. Und um Schwachstellen
geht es - nicht nur bei der Sorgfaltswidrigkeit! Das Gesetz sagt nichts zu
der normativen Frage, wann eine Verknüpfung von Handlung und
Erfolg als Zufall zu behandeln (!) ist oder wann die Grenze vom
erlaubten zum verbotenen Risiko überschritten wird25.
Dennoch ist ein gewisser, freilich gedämpfter26 Optimismus zu beob-
achten, den einschlägigen Vorschriften auf dem skizzierten Weg zur
Verfassungskonformität verhelfen zu können. Dabei wirkt die Vorstel-
lung mit, die Fahrlässigkeitsbestimmungen seien an Klarheit nicht zu
übertreffen, weil sie jede Erfolgsverursachung einbezögen; wenn den-
noch stets geprüft werden müsse, ob die strafrechtliche Haftung an
weiteren normativen Hürden scheitert, so handele es sich um Ausnah-
men, die zu Gunsten des Täters wirkten und deshalb ihrerseits nicht
gesetzlich bestimmt zu sein brauchten27. Allerdings: O b die Strafbar-
keitsgrenzen unmittelbar und positiv - gewissermaßen vom Punkt
„Null" aus - beschrieben werden oder indirekt und negativ - durch
partielle Zurücknahme weitergehender Aussagen, deren Vorläufigkeit
und Korrekturbedürftigkeit von vornherein feststeht - , ist eine Frage der
Regelungsiec/?«z&. Wenn das Ergebnis auf beiden Wegen zu gewinnen
ist, so kann es keinen Unterschied machen, welcher Weg gewählt wird;
anderenfalls ließe sich die Verfassungskonformität des Ergebnisses durch
die bloße Wahl des einen oder des anderen Weges beliebig manipulieren.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Das Problem, ob die Strafbar-
keit fahrlässigen Verhaltens so geregelt ist, daß sie das Prädikat „gesetz-
lich bestimmt" verdient, ist mit der Reduktion des Tatbestands der
Fahrlässigkeitsverbrechen auf die Erfolgsverursachung nicht gelöst, mag
diese noch so präzis umschrieben sein. Auf den Nachweis, daß Vorsatz-
und Fahrlässigkeitsverbrechen entsprechend eng definierte Tatbestände
24 ZStW 94, S. 68 f.
25 Eben deshalb lassen sich diese Fragestellungen auch nicht einfach aus der Betrachtung
ausklammern; so aber Bohnert, ZStW 94, S.77.
26 Bohnert, ZStW 94, S. 80.
27 A. a. O.
662 Wolfgang Schöne
28
ZStW 94, S. 74.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 663
spielt, daß der Täter den Erfolg herbeiführen wolle und über die
Gefährlichkeit seines Verhaltens nicht unterrichtet werden müsse32.
Die Analyse dieses Ansatzes wird durch einen gewissen Widerspruch
in den Äußerungen über die Sorgfaltspflicht erschwert. Einerseits wird
dieses Element als die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und
Erfolg" definiert. Andererseits soll der „Inhalt des Verstoßes gegen die
Sorgfaltspflicht" darin liegen, „trotz (sc. einer) erkennbaren Gefahr
gehandelt zu haben". Beide Formulierungen werfen Fragen auf: Wie
kann die Sorgialtspflicht in einer vorhersehbaren Beziehung von Hand-
lung und Erfolg bestehen, wenn doch sonst von Pflichten immer nur im
Zusammenhang mit einem Verhalten gesprochen wird? Wie ist das
Verhältnis der Pflichtverstöße, wenn ihr Inhalt einmal in der Erfolgsver-
ursachung und einmal darin besteht, trotz einer erkennbaren Gefahr
gehandelt zu haben? Die Beantwortung dürfte auf sich beruhen, wenn es
nur um terminologische Unschärfen ginge. Doch das ist nicht so.
Um unter Vernachlässigung der Bezeichnung als „Pflicht" zunächst
auf die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und Erfolg" einzuge-
hen, so soll es sich um ein objektives, von den Tätervorstellungen
unabhängiges Merkmal handeln, nämlich die „objektive Gefährlichkeit
des Verhaltens für den Erfolg". Das bedeutet: Der Tatbestand erfaßt
nicht mehr alle Erfolgsverursachungen, sondern nur noch, und zwar
von vornherein nur noch, einen Teil. Dabei wird dieser Ausschnitt nicht
an unmittelbar subsumtionsfähigen Seinskriterien festgemacht, wie dies
bei der Kausalität i. S. der Bedingungstheorie geschieht, sondern an
durch und durch normativen Vorgaben hinsichtlich der Bedingungen
der Prognoseentscheidung; das wird am ersten derjenige bestätigen, der
mit der Einbeziehung der sog. objektiven Vorhersehbarkeit in den
Tatbestand aus einem auch im eigenen Selbstverständnis juristischen
„sozialen" Handlungsbegriff4 (etwa i. S. von Eberhard SchmidtJ5 oder
Engisch16) die systematischen Konsequenzen für den Verbrechensaufbau
zieht.
32 ZStW 94, S. 78. Gewisse, meist nicht bemerkte Überlagerungen von Vorsatz- und
Fahrlässigkeitstatbeständen gibt es in der Tat. Sie kommen aber nicht dadurch zur
Entstehung, daß in beiden Fällen zwingend eine Sorgfaltspflicht existiert und verletzt wird,
sondern dadurch, daß im Einzelfall - zufällig - in einem Sachverhalt mehrere Gesetzesver-
letzungen zusammentreffen. Wer einen anderen vorsätzlich erschießt, verletzt nicht nur
das Tötungsverbot hinter §212 StGB, sondern u.U. auch vorher schon ein Verbot hinter
§ 222 StGB, mit einer geladenen Waffe auf einen Menschen anzulegen.
35
Bohnert, ZStW 94, S. 78.
34 Vgl. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau?, 1973,
S. 37 ff, 69 ff, 74 ff; Bloy, ZStW 90, S. 609 ff.
35 Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 75 f, 78.
57 Vgl. Armin Kaufmann, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S.251 ff.
38 Bohnert, ZStW 94, S. 78.
39 Bohnert, a . a . O .
40 A.a.O.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 667
41
Vgl. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 91 f.
42
Bohnert, ZStW 94, S.71.
668 Wolfgang Schöne
III.
Als Beispiel dafür ein skizzenhafter Hinweis auf die Frage, inwieweit
die allgemeinen Irrtumsregelungen der §§16, 17 StGB auch bei den
Fahrlässigkeitsverbrechen anwendbar sind.
a) Für die Auffassung, die das Rückgrat eines fahrlässigen Verbrechens
in einer finalen Handlung sieht, liegt die Antwort auf der Hand. Ebenso
wie in bezug auf die sorgfaltswidrige ( = tatbestandsmäßige) finale
Handlung andere dogmatische Kategorien wie z.B. Versuch/Vollen-
dung auszumachen sind, gilt dies auch für die Irrtumsfälle. Das kommt
deshalb wenig zu Bewußtsein, weil die Bemühungen um die Fahrlässig-
keit sich in der Praxis auf die Ermittlung von Sorgfaltswidrigkeit im
Einzelfall konzentrieren und das Ergebnis weniger unter dem Gesichts-
punkt einer tatbestandlichen Typenbildung gesehen wird. Denkt man
sich aber das unsorgfältige Verhalten als in der üblichen Gesetzes- oder
Leitsatztechnik beschrieben, läßt sich zwischen der Unkenntnis der
Merkmale, die zum objektiven Teil des so „geschlossenen" Tatbestandes
gehören, und dem Fehlen der Einsicht, durch das Verhalten Unrecht zu
tun, ebenso leicht oder schwer unterscheiden wie bei einer Vorsatztat.
Gesetzt, die „Schließung" des §222 StGB ergebe u.a., daß tatbe-
standsmäßig handelt, wer einen trunkenen Radfahrer mit einem Seiten-
abstand von weniger als 2 m überholt. Dann erfüllt der Fahrer, der um
alle Umstände bis auf die Trunkenheit des späteren Unfallopfers (und
natürlich die weitere Entwicklung des Geschehens bis zu dessen Tod)
weiß, mit einem Uberholen im Abstand von 1,5 m den objektiven Teil
dieses Tatbestandes, nicht aber den subjektiven - eine unmittelbare
Parallele zu §16 Abs. 1 Satz 1 StGB43. Kennt der Fahrer die Trunken-
heit, so erfüllt er den Tatbestand und es kommt nur noch ein Verbotsirr-
tum in Betracht, wenn nämlich die Einsicht fehlt, daß dieses Uberhol-
manöver Unrecht ist. Das mag daran liegen, daß F sich über das
Verbotensein seines Verhaltens keine Vorstellungen macht oder daß er
der Leitsätze der Rechtsprechung zum „normalen" Uberholen einge-
denk den von ihm eingehaltenen Seitenabstand auch beim Überholen
Trunkener für rechtlich unbedenklich hält. Worauf auch immer der
Mangel an Unrechtseinsicht beruht, über den Vorwurf des Verhaltens
entscheidet nunmehr nur die Fähigkeit des Täters, in der konkreten
Situation zu der richtigen Einsicht zu gelangen und sich danach auch zu
richten (§17 StGB).
43 § 1 6 Abs. 1 Satz 2 StGB ist dann so zu lesen, daß dieses Subsumtionsergebnis nicht
daran hindert, das Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt anderer (Sorgfalts-)Tatbe-
stände zu prüfen.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 669
44
Strafrechtsdogmatik, S. 146 f.
45
ZStW 91, S. 857 ff, 884.
46
Vgl. z.B. BGHSt. 4, S.236ff.
670 Wolfgang Schöne
gegen das Unrecht fallen kann, so unrichtig ist der Schluß von dem
Fehlen der Unrechtseinsicht auf deren Unmöglichkeit. Weil das Gericht
aber dennoch - also nach der eigenen Prämisse trotz Unfähigkeit zur
Entscheidung strafen will 4 " tritt praktisch an die Stelle des vermeidba-
ren Verbotsirrtums der verschuldete, und aus der Frage, ob der Täter auf
dem Wege der Gewissensanspannung oder Erkundigung zur Unrechts-
einsicht gelangen konnte, wird die andere, ob er in vorwerföarer Weise
die Gewissensanspannung oder Erkundigung unterlassen hat. Obwohl
die Wortwahl des § 17 StGB dieser Entwicklung entgegensteuern sollte,
muß sich in der Praxis noch der Gedanke durchsetzen, daß der einzige
„Maßstab" im Zusammenhang mit der Behandlung eines Verbotsirrtums
die Fähigkeit des Täters ist, zur richtigen Einsicht zu gelangen. Das ist -
noch dazu im Zusammenhang mit dem Grundsatz „in dubio pro reo" -
eine viel schärfere Bremse für überzogene Strafbarkeitsgrenzen als eine
Zurechnung von Rechtsirrtümern nach einem Fahrlässigkeitsmaßstab.
50
ZStW 91, S. 870.
672 Wolfgang Schöne
1 Die Kriminalität Jugendlicher und wir; Repression oder Vorbeugung durch Erzie-
5 Spendet, a. a. O.
postuliert wird, eine Strafbarkeit, die doch offenbar aus dem Wortlaut
des Gesetzes nicht zu entnehmen ist7.
Es allein der Rechtsprechung im Einzelfall zu überlassen, ob sie eine
Verteidigung - noch - als Notwehr anerkennt oder bereits als unzulässig
ansieht, ist wenig hilfreich, würde in Grenzfällen die Ausführung der
Notwehr zu einem Lotteriespiel machen. Der Bürger jedoch muß
wissen, was strafbar ist und was nicht.
So sind namentlich in neuerer Zeit viele Überlegungen angestellt
worden, Kriterien für eine vernünftige Einschränkung der Notwehr zu
finden, sei es mit Hilfe der Gedanken des Rechtsmißbrauchs, der
Güterabwägung, der Verhältnismäßigkeit oder der Zumutbarkeit 8 .
Hierauf sei an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Die folgenden
Ausführungen sollen sich vielmehr auf einen Teilausschnitt beschrän-
ken, wobei von bestimmten Prämissen ausgegangen wird, die freilich
ihrerseits heftig umstritten sind und von deren näherer Begründung an
dieser Stelle ebenfalls abgesehen werden soll.
Zum einen: Entsprechend ihrer historischen Entwicklung sieht man in
der Notwehr einmal das Recht des einzelnen auf Selbstschutz, bzw. in
der Variante der Nothilfe das Recht, dem rechtswidrig Angegriffenen
mit dessen wirklichem oder zumindest mutmaßlichem Willen zu Hilfe
zu kommen. Schon bei den Digestenjuristen seit Hadrian dürfte der Satz
anerkannt gewesen sein „nam adversus periculum naturalis ratio permit-
tit se defendere'". Später wird dann die bekannte Formel entwickelt
„vim vi repellere licet" 10 . Es wäre lebensfremd, dieses quasi Urrecht des
Menschen, sich in Notwehr verteidigen zu dürfen, antasten zu wollen
angesichts der Tatsache, daß die Polizei als Repräsentant der Staatsge-
walt nicht allgegenwärtig sein kann (wie schrecklich auch, wenn sie es
wäre!). Der Satz, daß „als .Kampfmittel der Allgemeinheit gegen das
Unrecht' (H. Mayer) . . . § 53 StGB (§ 32 heutiger Zählung) in einer
Gesellschaft, deren Zivilisation auf der Errichtung eines staatlichen
Gewaltmonopols beruht, ein sozialer Atavismus" sei", begegnet erhebli-
7 Anders Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT (3.), 1978, S. 276, weitere Nachweise
bei Suppert, Studien zur „notwehrähnlichen Lage", 1973, S. 56 Anm. 75. S. hierzu Hirsch,
Festschrift für Dreher, 1977, S. 216, ders., L K (10.) vor § 32 Rdn. 35, Spendel, a. a. O., § 32
Rdn.308 mit Nachweisen und F. W. Krause, GA 1979, 330.
' Zur Fülle der Literatur s. die Nachweise bei Spendel, a. a. O., Rdn. 254 ff.
' S. Pernice, Labeo, Römisches Privatrecht im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit,
Neudr. Aalen 1963, II 1 (2.) S. 75. Gai. 1. 7 ad ed. prov. = D 9, 2, 4 pr.; s. auch D 9, 2, 45,
4; D 43, 16, 3, 9.
10 D 1, 1, 3; D 9, 2, 45, 4; D 43, 16, 1, 27. Zum ganzen s. F. W. Krause, Festschrift für
Bruns, 1978, S. 71 f.
11 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S.373.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 675
chen Bedenken. Das kriminalpolitische Ziel ist weder eine dem Verbre-
chen gegenüber permissive oder gar resignierende, noch eine einer
„wahren Totschlagsmoral"12 huldigende Gesellschaft13, sondern ein
erträgliches Leben unter der Werteordnung des Grundgesetzes.
Darüber hinaus dient die Notwehr der Bewährung der Rechtsord-
nung. Das wird zwar teilweise bestritten, kann aber, wie mir scheint,
nicht fraglich sein. Es kommt nicht darauf an, ob bei der Notwehr der
Angegriffene subjektiv den Kampf des Rechts gegen das Unrecht führt14,
ob er sich dessen bewußt oder ob es ihm völlig gleichgültig ist, sondern
entscheidend ist allein die Existenz des Instituts der Notwehr: Das Recht
braucht dem Unrecht nicht zu weichen, der Verbrecher soll wissen, daß
ihm erheblicher, unter Umständen gefährlicher Widerstand entgegenge-
setzt werden kann, und er weiß es auch! Damit erfüllt schon die bloße
Existenz des Notwehrrechts eine unerläßliche kriminalpolitische Funk-
tion. Wo beides zusammentrifft, Selbstschutz plus Bewährung der
Rechtsordnung, sollte die uneingeschränkte Notwehrbefugnis nicht ange-
tastet werden. Im Interesse der Rechtssicherheit sind ihre Voraussetzun-
gen jedoch tunlichst exakt zu normieren, einer Aufweichung und Verun-
sicherung des Notwehrrechts ist entgegenzutreten15.
Wie aber ist die Forderung, das Notwehrrecht in den Fällen „völlig
maßloser" Verteidigung einzuschränken, in Einklang zu bringen mit
dem Postulat, eine Verunsicherung des Notwehrrechts zu vermeiden?
Sicherlich kann bei einer Einschränkung in derart extremen Fällen von
einer Aufweichung des Notwehrrechts kaum die Rede sein. Doch
enthält selbst die Formel von der „ganz ungewöhnlichen" Unverhältnis-
mäßigkeit der kollidierenden Güter16 einen Unsicherheitsfaktor, der eine
verschiedenartige subjektive Auslegung zuläßt.
Da sich eine umfassende, an objektiven Kriterien orientierte Formel
zur Einschränkung der Notwehr schwerlich finden läßt, generalklausel-
artige Formulierungen letztlich doch immer unbefriedigend bleiben, soll
der Versuch unternommen werden zu prüfen, ob sich nicht jedenfalls in
bestimmten Teilbereichen solche zu einer sinnvollen Einschränkung
tauglichen Kriterien aufzeigen lassen. Das kann geschehen durch eine
spezifische, auf die Bedürfnisse der Notwehr im System unserer Rechts-
12 Geyer, Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. von v. Holtzendorff, 4. Bd. 1877,
S. 94.
13 Man denke an den amerikanischen Spielfilm Death Wish („Ein Mann sieht rot") mit
Charles Bronson.
14 Was Frank, StGB (18.), § 5 3 A n m . I 2 (S. 161) für eine weltfremde Auffassung hält.
15 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.308.
hierzu Hirsch, Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, in: Fest-
schrift für Dreher, S. 211 ff.
18 Hellmuth Mayer, Strafrecht, AT, 1967, S.96.
19 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, S.214.
20 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.39ff.
22 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.40.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 677
gen tausend Mark einbringende Ernte? Hier ist nicht willkürlich von
einem Rechtsbrecher Schaden verursacht worden, sondern es handelt
sich um ein unglückliches Ereignis, das durch zivilrechtliche Möglich-
keiten z . B . der §§833 BGB, 29 f BJagdG befriedigend ausgeglichen
werden kann. Ist demgegenüber die Situation nicht eine ganz andere,
wenn etwa, um ein weiteres von Spendel in diesem Zusammenhang
verwendetes Beispiel aufzugreifen, Rocker mit ihren Motorrädern mut-
willig das Feld des Landwirts verwüsten wollen? Liegt hier nicht ein
Angriff vor, bei dem sich für ihre Taten verantwortliche Täter bewußt
über das Recht hinwegsetzen?
Auch der Hinweis, daß §228 B G B nur zum Zuge komme, wenn die
Gefahr von fremden Sachen drohe, nicht jedoch von herrenlosen, ist
nicht zwingend. Soweit nicht Sonderregelungen des Jagdrechts entge-
genstehen - die für die hier interessierenden Fragen ohnehin kaum von
Belang sein dürften - , wird in der zivilrechtlichen Literatur doch offen-
bar einhellig angenommen, daß §228 B G B zumindest analog in bezug
auf herrenlose, dem Jagdrecht unterliegende Tiere23 oder solche Tiere,
deren Aneignung verboten ist24, gilt. Und es wäre auch kein Grund
ersichtlich, weshalb das nicht so sein sollte. Theoretisch wäre sogar der
Fall denkbar, daß § 228 B G B - entsprechend - zur Verteidigung gegen
eigene Sachen in Betracht käme, von denen eine Gefahr droht, wenn
diese Sachen dem Pfand-, Nutzungs- oder Nießbrauchsrecht eines Drit-
ten unterliegen. Erst recht muß das gelten etwa bei der Tötung eines
angreifenden herrenlosen, nicht dem Jagdrecht unterliegenden Tieres.
Die Tötung eines solchen Tieres an sich enthält ohnehin keine Rechts-
gutverletzung, und es ist nicht einzusehen, weshalb in derartigen Fällen
eine Güterabwägung nach §228 B G B unangebracht sein soll. Möglicher-
weise in Betracht kommende Verletzungen von Tier- oder Naturschutz-
bestimmungen oder dgl. können gegebenenfalls unter dem Gesichts-
punkt des § 34 StGB gerechtfertigt sein.
Zum Argument schließlich, es sei wenig einleuchtend, wieso man zum
Schutz des eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des
Nachbarn niederschießen dürfe, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht
aber, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen anfalle: Das
Problem liegt hier doch offensichtlich in der Wertung. Der Schaden darf
bei §228 B G B nicht „außer Verhältnis" zur Gefahr stehen. Der angrei-
fende Hund darf zwar getötet werden, wenn er zumindest ebenso
wertvoll oder auch wertvoller, in der Regel aber nicht „unverhältnismä-
ßig" wertvoller ist als der angegriffene. Und weiter, bei §228 B G B kann
das Affektionsinteresse sehr wohl mit berücksichtigt werden25, und das
läßt vernünftige Ergebnisse zu26. Der Fall müßte sonach schon ganz
extrem liegen, wenn der angreifende Hund des Nachbarn nicht unter
Notstandsgesichtspunkten zum Schutz des eigenen Hundes getötet wer-
den könnte.
Es dürfte daher, wie mir scheint, keine Notwendigkeit bestehen, von
der überwiegenden Auffassung abzugehen, daß es der Notwehrregelung
zur Verteidigung gegen Tierangriffe nicht bedarf - hier führen die
Notstandsregelungen mit ihrer jeweiligen Güterabwägung zu angemes-
senen Ergebnissen - , daß Notwehr immer einen von Menschen ausge-
henden Angriff voraussetzt.
25 Palandt/Danckelmann (36.), §228 Rdn.2; Jauernig u.a. (3.), §228 Rdn.2; Soergel/
Fahse (11)., §228 Rdn. 18 mit weiteren Nachweisen.
26 Vgl. das Beispiel bei Soergel/Fahse (11.), §228 Rdn. 19: „Läuft ein fremdes Reitpferd
über meinen Hof und droht meinen Rassehund zu zertrampeln, so bin ich zur Tötung des
Pferdes berechtigt, weil der Wert des Rassehundes nicht außer Verhältnis steht zum Wert
des Pferdes..." Man bedenke, daß man heute normalerweise den Wert eines Reitpferdes
zwischen 2000 bis 100000 DM, den eines Rassehundes zwischen 250 und 2500 DM
ansetzen kann!
27 Als Beispiel einer das Rechtsgefühl wenig befriedigenden Entscheidung sei B G H
braucht nicht näher eingegangen zu werden, es handelt sich dann um Angriffe Schuldloser
(s. dazu den folgenden Text).
29 Vgl. die bei Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 63 Anm. 125 zitierten Autoren; ferner Bertel,
ZStW 84 (1972), S. 11; Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 234 ff., 356; Jakobs,
Strafrecht AT, 1983, S.316 Rdn. 16; Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 140 ff.
30 Vgl. etwa Spendet, § 3 2 Rdn. 63.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 679
lasse, diesem den Charakter des Rechtswidrigen nehme34 oder sich dies
bereits aus der Gebotenheit der Verteidigung ergebe. Die Rechtsdogma-
tik jedoch darf die Frage der Zuordnung der Einschränkung nicht offen
lassen. Sie ist im übrigen auch keineswegs ohne Bedeutung im Hinblick
auf Artikel 103 Abs. 2 GG.
Scheidet man - folgt man der hier vertretenen Auffassung - die
Rauschtat nach § 323 a StGB aus, verbleiben nach allgemeinen Regeln als
schuldlos Handelnde im wesentlichen die Kinder, § 19 StGB, die
Jugendlichen, denen die Reife gemäß § 3 JGG fehlt, die gemäß § 20 StGB
Schuldunfähigen, die im entschuldigenden Verbotsirrtum, § 17 StGB, im
entschuldigenden Notstand, §35 StGB, oder unter den Voraussetzun-
gen des § 33 StGB in Notwehrüberschreitung Handelnden 35 .
Die Frage ist, ob gegenüber Angriffen Schuldloser die oben angestell-
ten Erwägungen bezüglich des „Selbstschutzes plus Bewährung der
Rechtsordnung" einer Einschränkung der Notwehrbefugnis entgegen-
stehen.
Sicherlich hat der Angegriffene einen solchen Angriff nicht schutzlos
hinzunehmen, mangelnde Schuld kann kein Freibrief für den Angreifer
sein. Das Recht auf Selbstschutz steht außer Zweifel. Aber der Geistes-
kranke, das Kind oder der schuldlos Irrende stellt mit seinem Angriff die
Rechtsordnung nicht in Frage, weil er sie entweder nicht erfassen kann
oder weil er, ohne daß man ihm einen Vorwurf daraus machen kann,
nicht erkennt, daß sein Tun objektiv gegen das Recht gerichtet ist.
Gegenüber ihrem Tun bedarf es nicht der „Bewährung" der Rechtsord-
nung36. So wird denn auch von einer Mindermeinung im Schrifttum die
Auffassung vertreten, daß ihnen gegenüber das „schneidige" Notwehr-
recht nicht vonnöten sei37, die Notstandsbestimmungen einen zureichen-
den Schutz böten und die Fälle, in denen der Verteidiger die Schuldlosig-
keit des Angreifers nicht erkenne, über die Irrtumsregelungen angemes-
sen zu lösen seien.
Dieser Weg hätte unbezweifelbar den Vorteil, auf der einen Seite den
Gedanken der Bewährung der Rechtsordnung zu unterstreichen, auf der
anderen Seite böte er eine wünschenswerte Einschränkung der Notwehr:
38 Der Angriffene hatte schuldhaft den Eindruck erweckt, er stehle in seinem Betrieb,
und wehrte sich heftig, als ein von der Geschäftsleitung Beauftragter ihn am Verlassen des
Werksgeländes hindern wollte, bevor nicht der Kofferraum seines Wegens durchsucht
worden war. Das O L G Hamm hat hier die Ausübung des Notwehrrechts als rechtsmiß-
bräuchlich angesehen.
35 S. hierzu eingehend Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn.93 und Sch.-Schr.-Lenckner (21.),
§ 34 Rdn. 6 am Ende. Anderer Ansicht Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu
anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S.64f.
40 Vgl. Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn. 72.
42
Sch.-Schr.-Lenckner (21.), §34 Rdn.23.
43
Grundsätzlich zu diesem Fragenkreis Hirsch, LK (10.) vor §32 Rdn. 200 ff.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 683
zuläßt, wie sie sinnvoll in § 228 B G B vorgesehen ist, nämlich nur, soweit
der Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht. Damit wäre, da es
hier einer Bewährung der Rechtsordnung nicht bedarf, dem Schutzbe-
dürfnis des einzelnen in zureichender Weise Rechnung getragen; soweit
er Einschränkungen erleidet, wären diese zumutbar: Das Kind dürfte
nicht aus dem Kirschbaum geschossen werden, und wenn zivilrechtlich
kein Ersatz für das gestohlene Obst zu erlangen wäre, müßte der
Schaden hingenommen werden. Der geisteskranke Amokläufer dürfte in
dem angeführten Beispiel erschossen werden, denn anders als bei §34
StGB wäre jetzt nicht abzuwägen, ob das geschützte Interesse das
verletzte wesentlich überwiegt, eine Abwägung, die, wie ausgeführt,
nicht zulässig wäre, wenn Menschenleben gegen Menschenleben steht,
sondern es wäre jetzt nur zu prüfen, ob der Schaden (Tod des Amokläu-
fers) außer Verhältnis zur Gefahr steht (Tod weiterer Dritter). Und eine
solche Frage wäre eindeutig zu beantworten. Auch der der erwähnten
Entscheidung des O L G Hamm (NJW 77, 590 = J Z 77, 195) zugrunde
liegende Fall könnte auf diese Weise befriedigend gelöst werden: Der in
vermeintlicher Notwehr handelnde schuldlos Irrende dürfte nicht durch
mit Körperverletzungen verbundener Gewalt daran gehindert werden,
den Kofferraum des Wagens zu öffnen, um kontrollieren zu können, ob
hier im Betrieb gestohlenes Gut versteckt ist: Verletzung der Körperin-
tegrität steht außer Verhältnis zur Verletzung der in §240 StGB
geschützten Freiheit der Willensentschließung (nämlich den Kofferraum
zu öffnen).
Im allgemeinen wird dem sich Verteidigenden die fehlende Schuld des
Angreifers erkennbar sein. Weder vergibt er sich dann etwas, wenn er
seine Verteidigung an der Güterabwägung orientiert, noch nimmt das
allgemeine Rechtsbewußtsein Schaden, wenn in derartigen Fällen das
Notwehrrecht nicht in seiner Härte und Schneidigkeit, sondern nur
abgewogen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwen-
dung kommt. Irrtumsfälle könnten in entsprechender Anwendung der
Regelungen der §§ 16 und 17 StGB angemessen gelöst werden.
44 Dieses Problem nimmt in der Literatur seit langem einen breiten Raum ein. Verwie-
sen sei auf Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 307-320 und die dort Zitierten.
45 Spendel, a. a. O., § 32 Rdn. 319 unter Hinweis auf M. E. Mayer und Schmidhäuser.
46 A . a . O . , § 3 2 Rdn.320; anders neuerdings Frister, GA 1985, 553ff.
49 A. a. O., S. 204.
686 Friedrich-Wilhelm Krause
50
Roxin, Strafverfahrensrecht (18.), 1983, S.67; s. auch Montenbruck, JR 1985, 117.
51
Vgl. F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 86 f.
52
LR-Meyer-Goßner (23.), § 153 Rdn. 37 u. 38 mit weiteren Nachweisen.
53
S. Meyer-Goßner, LR (23.), § 153 Rdn. 38 sowie die dort § 153 vor Rdn. 1 Zitierten
sowie Warda, Dogmtische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962,
S.96 und Bloy, Zur Systematik der Einstellungsgründe von Strafverfahren, GA 1980,
S. 161 ff., 172.
N o t w e h r bei Angriffen Schuldloser 687
54 KMR-Müller (7.), § 1 5 3 R d n . 5 .
55 D e r Verfasser hatte früher einmal vorgeschlagen, im Bereich der Bagatellangriffe die
Notwehrbefugnis entsprechend den Kriterien des § 3 4 StGB einzuschränken (Festschrift
für Bruns, S. 87 f.). Diese Auffassung wird aufgegeben, weil sie die Verteidigungsbefugnis
zu sehr einschränkt.
688 Friedrich-Wilhelm Krause
Hilfe dieses den Angreifer unter Umständen hart treffenden Rechts nicht
gegenüber Angriffen Schuldloser, zu denen die Betrunkenen nicht zäh-
len. Um aber auch in diesem Bereich - bei Bagatellangriffen und
Angriffen Schuldloser - den Umfang der Verteidigungsbefugnis nicht
zufälliger Interpretation zu überlassen, wird vorgeschlagen, hier den
Umfang der Verteidigung nach den Kriterien des §228 B G B zu
beschränken. Als Bagatellangriff wäre ein Angriff anzusehen, der nach
den Gesamtumständen ein solcher von geringer Schuld im Sinne des
§153 StPO ist. Ein Irrtum des Angriffenen oder ihm zu Hilfe Eilenden
über den Bagatellcharakter des Angriffs oder über die mangelnde Schuld
des Angreifers kann durch die entsprechende Anwendung der §§16 und
17 StGB angemessen berücksichtigt werden.
Grundlage und Rechtsnatur des Notstands
im spanischen Strafgesetzbuch*
JOSÉ CEREZO M I R
Es ist für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch ein tiefes inneres
Bedürfnis, Hilde Kaufmann durch die Mitwirkung an dieser Gedächt-
nisschrift zu danken. Ich lernte sie Ende der fünfziger Jahre an der
Universität Bonn kennen, und mich verband mit ihr seither eine enge
kollegiale Freundschaft. Ihr großes wissenschaftliches Können verei-
nigte sich mit außergewöhnlichen menschlichen Qualitäten. Als Beitrag
zu der Gedächtnisschrift widme ich ihr einen Ausschnitt des noch
unveröffentlichten Kapitels über den Notstand meines „Curso de
Derecho penal español. Parte General". Der Text wurde hierzu an
einigen Stellen etwas gekürzt.
Die Regelung des Notstands im spanischen Recht ist völlig anders als
die des deutschen Rechts. Unser Zivilgesetzbuch enthält keine Bestim-
mungen über den Notstand, und das Strafgesetzbuch kennt nur den
Ausschließungsgrund + der Ziff. 7 des § 8. Diesem zufolge ist von
strafrechtlicher Verantwortung befreit: „Wer, veranlaßt durch einen
Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechts-
gut eines anderen verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausge-
setzt daß folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens. Das zugefügte
Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Zweitens. Die
Notstandslage darf nicht absichtlich durch den Täter herausgefordert
worden sein. Drittens. Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines
Berufs oder Amts die Verpflichtung haben, sich zu opfern."
Bis zu der anläßlich der Teilreform des Strafgesetzbuchs von 1944 in
§ 8, Ziff. 7 erfolgten Einbeziehung der Fälle, in denen das zugefügte
Übel gleich groß wie das zu vermeidende ist, sah die herrschende
Meinung den Notstand als einen Rechtfertigungsgrund an, der in dem
Prinzip des überwiegenden Interesses begründet war1. Bis dahin war für
die Annahme dieses Ausschließungsgrundes erforderlich, daß das zuge-
fügte Übel kleiner als das zu vermeidende war. Mit der Einbeziehung
der Fälle einer Kollision gleichgewichtiger Interessen in denselben Aus-
schließungsgrund glaubten Antón Oneca und Rodríguez Muñoz, sich
vor der Alternative zu befinden, die Gesamtheit des Ausschließungs-
grunds entweder als einen einfachen Schuldausschließungsgrund zu
begreifen oder anzunehmen, daß die Vorschrift trotz der formalen
Einheit einen Rechtfertigungsgrund und einen Schuldausschließungs-
grund beinhaltet2. Die Möglichkeit, die Gesamtheit des Ausschließungs-
grunds als einfachen Schuldausschließungsgrund anzusehen, lehnten
Antón Oneca und Rodríguez Muñoz ab. „Es widerstrebt uns jedoch zu
glauben", sagte Antón Oneca, „daß jedes Notstandsdelikt bloß schuldlos
ist: Wenn wir uns eines fremden Boots bemächtigen, um jemanden, der
zu ertrinken droht, zu retten, oder einen halb Erstickten, um ihn
wiederzubeleben, auf der Suche nach Wärme und Kleidung gegen den
Willen des Eigentümers in ein fremdes Haus bringen, darf man keine
Notwehr gegen unser wohltätiges Tun zulassen3." Antón Oneca und
Rodríguez Muñoz kamen deswegen zu der Ansicht, daß der Notstand
im Fall einer Kollision ungleichgewichtiger Interessen, bei dem das
zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, einen auf dem Prinzip
des überwiegenden Interesses fußenden Rechtfertigungsgrund darstellte,
während der Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger Interes-
sen ein bloßer Schuldausschließungsgrund wäre4. Diese Beurteilung fand
starken Anklang und bildet noch heute die herrschende Meinung in
unserem Land5. Der Grund der Schuldausschließung in den Fällen einer
und Rodríguez Muñoz, Bemerkungen zu seiner Ubers, des Tratado de Derecho Penal von
Ed. Mezger, I, Madrid, 1955, S. 450 f.
3 Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266.
de Granada, 1963, S. 122 ff und Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, Ley penal.
El delito, Barcelona, 1982, S. 377 ff und III, Culpabilidad, Punibilidad, Formas de
aparición, Barcelona, 1985, S. 106 f; ]. Bustos, Manual de Derecho Penal Español, Parte
General, Barcelona, 1984, S.246f und 405 f; und die Urteile des Obersten Gerichtshofs
(Tribunal Supremo) vom 29. September 1965 (A.4018), 15. Juni 1971 (A.2877), 6. Juli
1971 (A. 3443), 5. Februar 1974 (A. 380), 24. September 1974 (A.3404), 5. Oktober 1974
(A. 3910), 26. November 1975 (A.4591), 26. Oktober 1979 (A.3753), 21. Juni 1982
(A. 3564), 22. April 1983 (A.2300) und 11. Oktober 1983 (A.4733).
6 Siehe in diesem Sinn Ferrer Sama, Comentarios al Código Penal, I, S. 202; Cuello
Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 414; und Jiménez de Asúa,
Tratado de Derecho Penal, IV, S. 395 ff.
7 Siehe Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 272, dessen Kriterium Cuello
Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 415 und Díaz Palos, Estado
de necesidad, S.55f beipflichten.
8 Siehe in diesem Sinn Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266; Jiménez de
Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 374 f; Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 69 ff;
und Sáinz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, S. 378.
' Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, in
Estudios de Derecho Penal, 2. Aufl., Madrid, 1981, S. 155 ff und besonders S. 162 ff
(Gimbernat veröffentlichte diese Arbeit zuerst in deutscher Sprache in der Festschrift für
692 José Cerezo Mir
H.Welzel zum 70. Geburtstag, 1974, S. 485 ff), Introducción a la Parte General del
Derecho penal español, Universidad Complutense, Madrid, 1979, S.62f, und Vorwort
zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho penal, Madrid, 1984,
S. 13ff. Beigetreten sind dieser These Gimbernats seine Schüler D.M. Luzón Peña,
Aspectos esenciales de la legítima defensa. Barcelona, 1978, S. 243 ff und A. Cuerda Riezu,
La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 288, 299 ff und besonders 311 ff.
10 Die spanische Differenzierungstheorie über die Rechtsnatur des Notstands deckt sich
nicht mit der deutschen Theorie gleichen Namens. Im deutschen Recht weist man dem
§228 BGB die Natur eines Rechtfertigungsgrunds zu, obwohl das zugefügte Übel größer
als das zu vermeidende sein kann. Im entschuldigenden Notstand des § 35 des deutschen
Strafgesetzbuchs kann das verursachte Übel größer als das abzuwendende sein. Zur
Verhinderung einer Körperverletzung z.B. ist es möglich, eine andere Person des Lebens
zu berauben; siehe in dieser Hinsicht Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch,
21. Aufl., 1982, §35 Nr. 38, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat,
3. Aufl., 1981, S. 181 und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl.,
§35 Nr. 62 f.
11 Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 162 ff.
12 Abgesehen davon, daß, worauf Küper hinweist, das Verbot aller von Rechtferti-
13 Uber die erhebliche Verminderung und gegebenenfalls den Ausschluß der Hem-
mungswirkung der Strafe in den vom entschuldigenden Notstand umfaßten Fällen, siehe
Küper a. a. O., S. 93 f.
14 Siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes
en Derecho Penal, S. 23, Anmerkung 26.
15 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamen-
tales del Derecho Penal, Madrid, 1982, S. 183 f und die dort angeführten Autoren.
16 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamen-
tales del Derecho Penal, S. 182 f und die dort angeführten Autoren.
17 Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 168 ff.
Luzón Peña schlägt hingegen de lege ferenda die Schaffung des defensiven Notstands vor,
der die Verursachung eines etwas größeren Übels als das zu vermeidende erlauben soll,
694 José Cerezo Mir
richtig, denn mit der Ansicht, die Handlungen beider seien rechtmäßig,
würde sich das Recht selbst enthalten, den Konflikt zu lösen, und die
Lösung desselben würde dem Recht des Stärkeren übertragen18. Die von
Gimbernat vorgeschlagene Lösung schließt außerdem die Möglichkeit
ein, sich auf Notstand gegenüber einem durch einen Rechtfertigungs-
grund gedeckt Handelnden zu berufen. Danach wäre es möglich, den
Notstand zum Beispiel gegenüber einem Notwehrtäter anzuführen.
Gimbernat versucht, diese Schwierigkeit zu vermeiden, indem er aus-
führt, daß alle anderen Rechtfertigungsgründe (Notwehr, Handlungen
in Erfüllung einer Pflicht oder in rechtmäßiger Ausübung eines Rechts,
Berufs oder Amts, etc.) eine positive Bewertung der von ihnen erfaßten
Verhaltensweisen mit sich brächten, während der Notstand im Fall eines
Konfliktes gleichwertiger Rechtsgüter keine positive Verhaltensbewer-
tung einschließe. Diese Notstandshandlung sei erlaubt und befinde sich
in Ubereinstimmung mit dem Recht, aber sie werde von der Rechtsord-
nung nicht positiv bewertet19. Positive Wertschätzung erfahre hingegen
wenn die Notstandshandlung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht. Wie
Luzón Peña sagt, „würde es sich um die Verallgemeinerung des Gedankens handeln, der
dem §228 des deutschen B G B für den konkreten Fall der durch Tiere oder Sachen
verursachten Gefahren zugrunde liegt"; siehe Luzón Peña, Aspectos esentiales de la
legítima defensa, S. 249 f Anm. 438. In seiner neuen Arbeit „Legítima defensa y estado de
necesidad defensivo" in Comentarios a la legislación penal, V, vol. I o , Madrid, 1985,
S. 269 f schlägt Luzón sogar schon die Anwendung eines übergesetzlichen Rechtfertigungs-
grunds des defensiven Notstands durch Analogie zu den Rechtfertigungsgründen der
Notwehr und des Notstands vor. Einmal abgesehen von der Frage der Zweckmäßigkeit
der Einführung dieser neuen Notstandsfigur in unserem Recht (siehe in dieser Hinsicht
Anmerkung 63) bekundet der Vorschlag Luzóns deutlich die Unzulänglichkeit der
Lösung, die die Möglichkeit der Notwehr gegenüber der Handlung des Notstandstäters im
Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Interessen ablehnt, oder anders gesagt, die Unzuläs-
sigkeit der Einschränkung, die in diesem Fall das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit bei
der Reaktion auf die Notstandshandlung aufstellt, d. h. daß das verursachte Übel nicht
größer als das zu vermeidende sei.
18 Siehe auch in diesem Sinn Küper, a.a.O., S.94f. Der Einwand ist auch gegenüber
der These von Carboneil gültig, nach welchem der Notstand im Fall eines Konflikts
gleichwertiger Interessen nur dann ein Rechtfertigungsgrund ist, wenn keine Aufteilung
der Güter vorausgegangen ist, die durch die Notstandshandlung geändert werden könnte;
er führt das Beispiel der Planke des Carneades an, wenn die zwei Schiffbrüchigen sie
gleichzeitig ergreifen; siehe / . C. Carbonell Mateu, La justificación penal, Madrid, 1982,
S. 60.
19 Dies ist nach Gimbernat der wahre Inhalt der Neutralitätstheorie, die er ablehnt.
Nach ihr sind die Tathandlungen im Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger
Rechtsgüter weder rechtmäßig noch rechtswidrig, sondern rechtlich neutral, gleichgültig
oder bloß unverboten. In der Bundesrepublik Deutschland vertritt sie zur Zeit H. Mayer,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 189ff und Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1967, S.92f
und 133 und Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entschei-
dung, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 327ff. Siehe Gimbernat, El estado de necesidad:
un problema de antijuridicidad, S. 166 ff. Gegen die Theorie der Neutralität oder vom
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 695
rechtsfreien Raum siehe insbesondere Hirsch, Strafrecht und rechtsfreier Raum, Festschrift
für P. Bockelmann zum 70. Geburtstag, 1979, S. 89 ff und bei uns A. Cuerda Riezu, La
colisión de deberes en Derecho Penal, S. 158 ff.
20
Siehe mein Curso de Derecho Penal Español, Parte General, I, Introducción. Teoría
jurídica del delito/1, 3. Aufl., Madrid, 1985, S.403.
21
Der Versuch Cuerda Riezus, die besagte Möglichkeit gangbar zu machen, vermag
auch nicht zu überzeugen. Nach Cuerda Riezu erteilt das Recht beim Notstand im Fall
eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter dem Täter eine Befugnis (oder eine Pflicht) zur
Verletzung des Rechtsguts einer anderen Person; aber besagter Befugnis (oder Pflicht)
entspricht keine Duldungspflicht seitens der Person, die die Notstandshandlung trifft, die
sich auch auf die gleiche Befugnis berufen kann; siehe Cuerda Riezu, La colisión de
deberes en Derecho Penal, S. 311 ff. Wenn der Notstand im Fall einer Kollision gleichge-
wichtiger Güter ein Rechtfertigungsgrund wäre, würde das Verhalten rechtmäßig sein und
die Verletzung des Rechtsguts der von der Notstandshandlung betroffenen Person wäre
kein Übel, denn der Begriff des Übels ist ein normatives Element des Ausschließungs-
grunds des Notstands, das einen Bezug auf die Wertungen des Rechts mit sich bringt.
22
Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 160.
23
Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 161 f
und 165 f.
696 José Cerezo Mir
24 Wie Gimbernat (a. a. O.) und Roldan Barbero, Estado de necesidad y colisión de
intereses, Cuadernos de Política Criminal, Nr. 20, 1983, S. 545 annehmen.
25 Siehe dazu Küper, a. a. O., S. 94. Für den Schuldausschluß in den Fallen der auf
einem unvermeidbaren Irrtum beruhenden Annahme des Vorliegens von einen Schuldaus-
schließungsgrund begründenden Umständen ist es meiner Meinung nach ebenso wie beim
tatsächlichen Vorliegen eines Schuldausschließungsgrundes unbeachtlich, daß der Täter in
einigen Fällen in irgendeinem Maß noch fähig wäre, sich durch die Norm motivieren zu
lassen. Wenn die Fähigkeit zur Motivierung durch die Norm oder zu rechtskonformem
Handeln erheblich beeinträchtigt ist, kann die Rechtsordnung keinen Vorwurf machen.
Anderseits würde dem Schuldausschluß in den Fällen des vermeidbaren Irrtums die
Grundlage genauso wie beim vermeidbaren Verbotsirrtum fehlen. Die Erwiderung Gim-
bernats auf die Einwände Küpers erscheint mir deshalb in diesem Punkt nicht überzeu-
gend; siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes
en Derecho penal, S. 24 ff.
26 Siehe in diesem Sinn Küper, a. a. O. S. 94.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 697
27 In seiner Arbeit „Estado de necesidad y colisión de intereses" (S. 525) meint Roldan
sogar, daß die Idee der Unzumutbarkeit normadäquaten Verhaltens verbunden ist mit der
Vorstellung vom Notstand als Konflikt von Rechtsgütern und nicht von Interessen.
28 Siehe H. Roldan Barbero, La naturaleza jurídica del estado de necesidad en el Código
veranlaßt durch eine unüberwindliche Angst vor einem gleich großen oder größeren Übel
handelt."
31 Siehe Mir Puig, Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte
General, von Jescheck, I, Barcelona, 1981, S. 505 ff, Problemas de estado de necesidad en
el art. 8, 7°, C. P., in Estudios Jurídicos en honor del profesor Octavio Pérez-Vitoria, I,
Barcelona, 1983, S. 505 ff und Derecho Penal, Parte General, Barcelona P.P.U., 1984,
698 José Cerezo Mir
von Jescheck, I, S. 505 f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 und
Derecho Penal, Parte General, S. 389.
53 Siehe Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General,
von Jescheck, I, S.507f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 ff
und 515 ff und Derecho Penal, Parte General, S. 389 f und 401 f.
34 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 69, der
die von Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 21. Aufl., 1982, § 3 4 Nr. 22 und
Nr. 40, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 113f, 123 ff und G. Jakobs, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 351 vertretene Gegen-
meinung zurückweist.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 699
Wenn das verursachte Übel kleiner als das abzuwendende ist, stimmt das
Verhalten mit den Zielen der Rechtsordnung überein. Eine Störung der
Rechtsordnung ist nur dann anzunehmen, wenn das zugefügte Übel
gegenüber dem zu vermeidenden größer oder gleich groß ist, und im
letzteren Fall wird der Eingriff in die Rechtsordnung ausgeglichen durch
den Schutz, den sie durch die Abwendung des gleich großen Übels
erfährt". Andererseits darf man bei der Interessenabwägung nicht nur
den Wert der Rechtsgüter und den anomalen Eingriff in die Sphäre des
Verletzten berücksichtigen, sondern auch, ob die Rechtsgüter verletzt
oder nur gefährdet wurden, die Schwere der Verletzung oder der
Gefahr, ob die Verletzung wiedergutzumachen ist oder nicht, sowie
gegebenenfalls den Handlungsunwert. Im Ergebnis hält Mir Puig den
Notstand für einen Rechtfertigungsgrund, wenn das zugefügte Übel
kleiner als das zu vermeidende ist und wenn beide Übel gleich groß sind.
Ist das verursachte Übel größer als das abzuwendende, wird das Verhal-
ten von dem Ausschließungsgrund des § 8, Ziff. 7 nicht erfaßt, aber man
wird es auch nicht, wie Mir Puig vorschlägt, als unüberwindbare Angst
i. S. d. Ziff. 10 desselben Paragraphen verstehen können, denn danach ist
nur derjenige entschuldigt, der auf Veranlassung einer unüberwindlichen
Angst vor einem gleich großen oder größeren Übel handelt. N a c h der
herrschenden Meinung erfolgt die Bewertung der Übel beim Ausschlie-
ßungsgrund der unüberwindbaren Angst wie bei dem des Notstands
nach objektiven, von der Wertung des Handelnden unabhängigen Krite-
rien3'. Auch Mir Puig ist der Ansicht, daß die Bewertung nach objekti-
ven Kriterien zu erfolgen hat, aber er hält eine Unterscheidung für
möglich: „Während man sich im rechtfertigenden Notstand fragen muß,
ob das Übel aus der Sicht eines Durchschnittsbürgers, der den kollidie-
renden Rechtsgütern unparteiisch gegenübersteht, gleich groß oder grö-
ßer ist, ist diese Frage bei der unüberwindlichen Angst aus der Sicht
eines Durchschnittsbürgers in der Situation des Täters zu beantworten.
Hier ist zu fragen: Welches Übel würde ein Durchschnittsbürger, der
sich der gleichen Bedrohung ausgesetzt sieht wie der Täter, für größer
erachten? Während zwischen Leben und körperlicher Unversehrtheit
der unparteiische Durchschnittsbürger ersterem höheren Wert beimes-
sen muß, kann er den Verlust einer Extremität als schwerwiegender für
ihn ansehen als das Übel, das die Tötung eines anderen Menschen auch
für ihn darstellen muß." „Damit der angenommene Durchschnittsbürger
55
Siehe in diesem Sinn J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español, Parte
General, S.250.
36
Siehe, was den Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst betrifft, meinen
Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamentales del Derecho
Penal, Madrid, 1982, S. 193.
700 José Cerezo Mir
37 Siehe seine Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte
General, von Jescheck, I, S. 507, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P.,
S. 508 f und Derecho Penal, Parte General, S. 529 und 531 f.
38 Siehe in diesem Sinn auch Cobo del Rosal-Vives Antón, Derecho Penal, Parte
General, Universidad de Valencia, 1984, S.579.
39 Siehe in diesem Sinn auch J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español,
Parte General, S. 246 und A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal,
S. 251 (Anmerkung 11).
40 Cobo de Rosal-Vives Antón fordern, damit das Verhalten rechtmäßig ist, daß die
Tathandlung geeignet ist, das höherrangige Interesse zu retten: siehe Derecho Penal, Parte
General, S . 4 3 3 f und 572. Das zugunsten ihrer These angeführte Argument, daß beim
Versuch das Unrecht „außer dem verbrecherischen Entschluß die Geeignetheit der Aus-
führungshandlung fordert", entbehrt der Grundlage in unserem Strafgesetzbuch, wo im
2. Absatz vom § 5 2 der untaugliche Versuch bestraft wird. Andererseits ist es keine
Notstandshandlung, wenn das Verhalten ungeeignet zur Abwendung des Übels ist, und
der Notstand als Grundvoraussetzung des Ausschließungsgrunds dürfte schon deshalb
fehlen.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 701
41 Wenn der Chirurg, der die Niere entnimmt, derselbe wäre, der die Transplantation
bei seinem Patienten durchführen sollte, ständen wir vor einer Pflichtenkollision: der
Pflicht, den Patienten zu heilen und der von der Vornahme einer verbotenen Handlung,
der Herbeiführung der Körperverletzung, Abstand zu nehmen. Nach meinem Urteil ist
die Pflichtenkollision im spanischen Strafgesetzbuch nicht vom Ausschließungsgrund des
Notstands, sondern von §8, Ziff. 11 erfaßt: „Wer in Erfüllung einer Pflicht oder in
rechtmäßiger Ausübung eines Rechts, Berufs oder Amts handelt." Siehe meinen Aufsatz
„Noción del estado de necesidad, como requisito básico de la eximente del n° 7 del art. 8o
del Código penal español. Estado de necesidad y colisión de deberes", der demnächst in
der neuen Festschrift für Luis Jiménez de Asúa anläßlich seines 15. Todestages erscheinen
wird.
" Es würde sich um die absichtliche Verstümmelung eines Hauptorgans, die vom §419
mit Zuchthaus von 12 Jahren und 1 Tag bis 20 Jahren (reclusión menor) bestraft wird,
handeln.
43 Ein Nötigungsdelikt des 1. Absatz des §496, mit Haftstrafe von 1 Monat und 1 Tag
bis 6 Monaten (arresto mayor) und Geldstrafe von 30 000 bis 300 000 pesetas bestraft, das
von dem Körperverletzungsdelikt konsumiert würde.
44 Siehe in diesem Sinn Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en tensión
(¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en contra de la
voluntad del paciente?), in Poder Judicial, N° 13, Dicbre. 1984.
45 Ein Fall der Pflichtenkollision ist meiner Meinung nach der berühmte Fall, der durch
Beschluß des 2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 14. März 1979 entschieden wurde,
und in dem ein Richter einen Arzt zur Vornahme einer Bluttransfusion ermächtigte, der
diese zur Rettung des Lebens einer Patientin für notwendig erachtete, an der man einen
chirurgischen Eingriff vorgenommen hatte und die sich der Transfusion wegen ihrer
religiösen Uberzeugungen als Mitglied der Vereinigung der Zeugen Jehovas widersetzte. In
Konflikt traten die Pflicht, einer hilflosen, sich in offenkundiger und schwerer Gefahr
befindlichen Person (§489 bis) Hilfe zu leisten, gepaart mit einer Garantenpflicht, und die
Pflicht, ein Delikt gegen die religiöse Freiheit nach §205 zu unterlassen. Das Verhalten des
Richters könnte erst von dem Ausschließungsgrund des § 8 Ziff. 11 als Handlung in
Erfüllung einer Pflicht umfaßt werden. Siehe zu dem besagten Beschluß des Obersten
Gerichtshofs die aufschlußreiche Anmerkung von Miguel Bajo Fernández, La intervención
médica contra la voluntad del paciente, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales,
1979, fase. 2°, S.491 ff. Siehe auch Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en
tensión (¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en
contra la voluntad del paciente?), a.a.O., über den Beschluß der zweiten Abteilung des
1. Senats des Verfassungsgerichts vom 20. Juni 1984, der eine gegen die Beschlüsse des
702 José Cerezo Mir
2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 einge-
legte Verfassungsbeschwerde ablehnte, die die Zurückweisung der gegen einen Richter
wegen der Delikte der Nötigung, gegen die religiöse Freiheit und der groben Fahrlässigkeit
mit tödlichem Ausgang erhobene Klage betraf. Der Richter hatte eine Bluttransfusion „zur
Lösung verschiedener Blutungsprobleme aufgrund vorangegangener Niederkunft" gegen
den Willen der Patientin und ihres Mannes, beide Zeugen Jehovas, genehmigt. In den
Beschlüssen vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 verneinte der Oberste Gerichts-
hof, daß in dem Verhalten des Richters die Tatbestandselemente der Delikte, derer man ihn
beschuldigte, vorlagen, während er in dem Beschluß vom 14. März 1979 das Vorliegen des
Notstands aus dem § 8, Ziff. 7 anerkannte.
46 In der deutschen Strafrechtswissenschaft lehnt der größte Teil der Strafrechtler
heranziehend sagt: „Denn der Mitmensch darf niemals bloß als Sache, sondern muß stets
auch als Selbstzweck betrachtet werden."
48 Siehe in diesem Sinn auch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl.,
1973, S. 26 ff, Rodrigues Devesa-Serrano Gómez, Derecho Penal Español, Parte General,
9. Aufl., Madrid, 1985, S. 579 und G. Rodríguez Mourullo, Consideraciones generales
sobre la exclusión de la antijuridicidad, in Estudios Penales, Libro Homenaje al Prof. J.
Antón Oneca, Ediciones Universidad de Salamanca, 1982, S. 513.
49 So Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 33 ff und besonders
Nr. 47, Der rechtfertigende Notstand, S. 111 ff, Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 703
Kommentar, 10. Aufl., §34 Nr. 53 ff und besonders Nr. 68 und 79 ff, Carboneil, La
justificación penal, S. 54, Cobo-Vives, Derecho Penal, Parte General, S. 432 Anmerkung
22 und S.433 und Mir Puig, Bemerkungen zur Übersetzung des Tratado de Derecho
Penal, Parte General, von Jescheck, I, S. 508, Problemas de estado de necesidad en el art. 8,
T, C.P., S. 516 f und Derecho Penal, Parte General, S.402.
50 Siehe meinen Curso de Derecho Penal Español, Parte General, Introducción, Teoría
Jurídica del delito/1, S. 19 f und die dort aufgeführte Literatur, insbesondere Welzel, Vom
irrenden Gewissen, 1949, S.28, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962,
S. 239 f und Derecho natural y positivismo jurídico, in Más allá del Derecho natural y del
positivismo jurídico (trad. y notas de Ernesto Garzón Valdés), Cordoba, Argentina, 1962,
S. 41 ff.
51 Siehe in dieser Hinsicht Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStrW
die sogenannte Zwecktheorie („ein richtiges Mittel für einen richtigen Zweck", d.h. in
Übereinstimmung mit dem Recht) gegenüber dem Prinzip der Güterabwägung aufstellte
zur Begründung eines rechtfertigenden Notstands (damals übergesetzlich). Siehe in dieser
Hinsicht Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 288.
704 José Cerezo Mir
5< Siehe Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 291 f. Eine unabhän-
gige Bedeutung der Voraussetzung der Angemessenheit erkennen auch an z . B . Straten-
werth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 144, Gallas, Der dogmatische Teil
des Alternativ-Entwurfs, a . a . O . , S.26ff, Mauracb-Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1,
6. Aufl., 1983, S. 364 ff und Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl., 1982, S. 74 ff.
55 Siehe Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 46 f, Der rechtferti-
gende Notstand, S. 70 f, 111 ff und 128 ff. Das Erfordernis der Angemessenheit sehen
ebenfalls als überflüssig an z. B. Baumann/Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl.,
1985, S. 351 und Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 1966, S. 51.
56 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 79 ff.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 705
gen Person die Rolle des Schiedsrichters bei der Konfliktlösung einge-
räumt würde. Ihre Handlung wäre rechtmäßig, und ihr gegenüber wäre
weder für die Notwehr noch für den Notstand Raum. Aber es ist auch
nicht möglich, wie die herrschende Meinung anzunehmen, daß die
Handlung in jenen Fällen immer schuldlos sei57. Notwendig ist vielmehr
eine einschränkende Auslegung des Ausschließungsgrunds des Not-
stands im Fall eines Konflikts gleichwertiger Interessen vorzunehmen.
Vor allem ist zu berücksichtigen, daß bei der Kollision gleichwertiger
Interessen das Unrecht schon vermindert ist. Auf jeden Fall gilt dies für
den Handlungsunwert, denn der Täter begeht die tatbestandsmäßige
Handlung zur Wahrung anderer, rechtlich geschützter Interessen von
gleicher Bedeutung, und wenn es ihm gelingt, diese Interessen zu
bewahren, dürfte der Erfolgsunwert ebenfalls geringer sein58. Um einen
Schuldausschließungsgrund anzuerkennen, ist es notwendig, daß sich
mit der Verminderung des Unrechts - was schon eine Verringerung der
Schuld bedeutet, denn diese besteht in der persönlichen Vorwerfbarkeit
des rechtswidrigen Verhaltens - ein Ausschluß oder eine erhebliche
Verminderung der Fähigkeit des Täters, in Ubereinstimmung mit den
Normen zu handeln, verbindet. Nur wenn diese Fähigkeit erheblich
verringert ist, wird man von ihm keinen Gehorsam gegenüber dem
Recht fordern können und seine Handlung deshalb entschuldigt sein59.
57
Bacigalupo ist der Ansicht, daß beim Notstand im Fall eines Konflikts gleichgewich-
tiger Interessen oder, wenn das gerettete Interesse nicht wesentlich höher als das verletzte
ist, die Zurechenbarkeit (Jiménez de Asúa) oder die Tatverantwortung (Maurach), ein
mittleres Element zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgeschlossen wird; siehe
E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Español, II, El hecho punible, S. 89 ff und 93.
58
In der modernen deutschen Strafrechtswissenschaft wurde herausgestellt, daß beim
entschuldigenden Notstand (heute geregelt im § 35) auch eine Verringerung des Unrechts
liege, und zwar sowohl des Handlungsunwerts von dem Moment an, in dem der Täter die
tatbestandsmäßige Handlung zur Rettung eines eigenen oder fremden Rechtsguts (Leben,
körperliche Unversehrtheit oder Freiheit) verwirklicht, als auch des Erfolgsunwerts; siehe
in diesem Sinn Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 156 ff,
Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178 f, Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts,
Allgemeiner Teil, S.388, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat,
S. 178 f, Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vor §32 Nr. 111 und §35 Nr. 5,
Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., Vor §32 Nr. 183 und §35
Nr. 4, 53 und Rudolphi, in Rudolphi, Horn, Samson, Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch, 1, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 1983, §35 N r . 1 ff.
59
Der größte Teil der deutschen Strafrechtler unterscheidet zwischen Schuldausschlie-
ßungsgründen, die wirklich die Schuld ausschließen, und Entschuldigungsgründen, bei
denen eigentlich das Recht eine vorhandene, aber wenig schwere Schuld entschuldigt. Zur
ersten Gruppe würden die Unzurechnungsfähigkeit und der unvermeidbare Verbotsirrtum
gehören, während in der zweiten Gruppe der Notstand und alle übrigen, auf dem
Grundsatz der Unzumutbarkeit fußenden Schuldausschließungsgründe (die ihrerseits eine
Verminderung des Unrechts in sich tragen) umfaßt sind; siehe Armin Kaufmann, Die
Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 151 ff, Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 178f,
706 José Cerezo Mir
Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 385 ff, Lenckner, in Schönke-
Schröder, Strafgesetzbuch, Vor zu §32, Nr. 108 und §35 Nr. 5 und Wessels, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, S.98f. Diese Unterscheidung scheint mir eigentlich unnötig zu sein,
denn wenn die Schuld von sehr geringer Schwere ist, kann man annehmen, daß sie das
Niveau der strafrechtlichen Schuld nicht erreicht; siehe in dieser Hinsicht Stratenwerth,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 179 und 180 ff und Hirsch, in Strafgesetz-
buch, Leipziger Kommentar, Vor zu §32 Nr. 182.
60 Siehe in diesem Sinn schon Antön Oneca und die in Anmerkung 7 zitierten Autoren.
61 Ein normatives Kriterium entsprechend dem Vorschlag von Eb. Schmidt: Verhalten
des „loyalen Staatsbürgers"; siehe dazu H. Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als
regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für Ed. Mezger zum 70. Geburtstag, 1954, S.307.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 707
Wenn die Tathandlung im Notstand nur schuldlos ist, ist ihr gegen-
über die Notwehr möglich, und das Verhalten der Teilnehmer wird
strafbar62, letzteres allerdings nur, wenn auch bei ihnen nicht ein Aus-
schluß oder eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit zu normgemä-
ßem Handeln festzustellen ist.
De lege ferenda wäre es meiner Meinung nach empfehlenswert, den
Notstand als Rechtfertigungsgrund und als Schuldausschließungsgrund
getrennt zu regeln in der Weise, daß man die Nothilfe ohne irgendeine
Einschränkung im ersten Fall annimmt und im zweiten nur, wenn das
Übel ein Rechtsgut bedroht, dessen Träger ein Verwandter, Freund oder
eine nahestehende Person des Täters ist. Zweckmäßig wäre auch, den
Notstand als Schuldausschließungsgrund auf jene Fälle zu beschränken,
in denen sich ein Rechtsgut persönlicher Art oder ein Vermögensgut von
solchem Wert derart in Gefahr befindet, daß man von dem Täter nicht
verlangen kann, sich der Gefahr auszusetzen oder vom Eingriff bei der
Nothilfe Abstand zu nehmen. Das zugefügte Übel dürfte beim schuld-
ausschließenden anders als beim rechtfertigenden Notstand größer als
das zu vermeidende sein, es sei denn, es steht ganz außer Verhältnis63,64.
62 Siehe in diesem Sinn Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 369 und
Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 34.
63 Mir erscheint der Vorschlag von Luzón Peña nicht überzeugend, einen neuen
Ausschließungsgrund des defensiven Notstands zu schaffen, der die Herbeiführung eines
etwas größeren Übels als des zu vermeidenden erlauben würde, wenn die Notstandshand-
lung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht; siehe Anmerkung 17; ein
Vorschlag, dem Silva Sánchez beipflichtet für die aus Angriffen von Tieren oder Sachen
hervorgegangenen Gefahren, aber nicht für die, die von Menschen herrühren, aber nicht
die Voraussetzungen einer Handlung erfüllen; siehe Sobre el estado de necesidad en
Derecho Penal español, S. 672 ff. Wenn das verursachte Übel größer als das zu vermei-
dende ist, steht das Verhalten nicht im Einklang mit den Zielen der Rechtsordnung und
darf deshalb nicht als rechtmäßig angesehen werden.
64 In dem vom spanischen Justizministerium unterbreiteten Vorschlag des Vorentwurfs
eines neuen Strafgesetzbuchs von 1983 (§22 Nr. 6) wird dennoch die Fassung des Aus-
schließungsgrunds des Notstands praktisch unverändert beibehalten: „Wer veranlaßt
durch einen Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechtsgut
verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausgesetzt, daß folgende Voraussetzungen
vorliegen: Erstens. - Das zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein.
Zweitens. - Die Notstandslage darf nicht absichtlich vom Täter herausgefordert worden
sein. Drittens. - Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines Berufs oder Amts die
Verpflichtung haben, sich zu opfern."
Der Rücktritt mit Delikts vorbehält
ROLF DIETRICH HERZBERG
2 BGHSt. 33, 147. - Natürlich kann v o m L G hier nur gemeint sein, daß die
sexuelle Nötigung ausscheide, soweit A sie (freiwillig) unterlassen hat; nach der Sachver-
haltsschilderung erfüllt bereits das, was A auf der Toilette realisiert hat (Entblößung,
Ziehen des Kopfes „in Richtung seines Unterleibs"), den § 178 StGB.
5 Vgl. Festschrift für Gallas, 1973, S. 303 f.
nimmt, ist in solchen Fällen für die Verneinung eines rechtlich relevan-
ten Rücktritts gar nicht entscheidend8. Die Plausibilität der Lösung ist
darum dogmatisch eher eine Gefahr als ein Argument: Sie suggeriert die
Maßgeblichkeit eines Erfordernisses, das dann an Beispielen, für die es
sich erst bewähren könnte, nicht mehr genügend überprüft wird. Wer
die Wahrheit sucht, sollte also ganz bewußt immer von Fällen ausgehen,
in denen die Freiwilligkeit des Aufschubs außer Zweifel steht, deutlicher
noch als im BGH-Fall. Ein aufschlußreicher Sachverhalt wäre etwa der
einer versuchten Tötung auf Verlangen, die der Täter hinausschiebt, weil
er es im Augenblick „einfach nicht übers Herz bringt". Er zieht bei
seiner unheilbar kranken Frau die tödliche Injektionsspritze in letzter
Sekunde zurück, bleibt aber fest entschlossen, die Tat auszuführen,
sobald er mehr Kraft hat. Später kommt es dann nicht mehr zur Tat, weil
die Kranke sich unbemerkt selbst den Tod gibt. Hier käme es wirklich
allein darauf an, ob das Entschlossenbleiben des Versuchstäters seinem
Aufhören die Qualität eines „Aufgebens der weiteren Ausführung der
Tat" i.S. von §24 StGB nimmt.
Es mag sich freilich herausstellen, daß es manchmal leichter ist, die
strafbefreiende Wirkung des Innehaltens wegen des Deliktsvorbehaltes
zu verneinen als wegen der Unfreiwilligkeit des Unterbrechungsent-
schlusses. So vielleicht im bekannten Fall BGHSt. 7, 296. Der Täter
brach den auf Vergewaltigung gerichteten Angriff ab, weil die Überfal-
lene ihm widerstandslose Hingabe nach kurzem Ausruhen in Aussicht
stellte, blieb aber (möglicherweise) mißtrauisch entschlossen, nötigen-
falls doch noch gewaltsam sein Begehren zu stillen; als Spaziergänger
auftauchten, mußte er fliehen. Der Streit um die Freiwilligkeit des vom
Täter geübten vorläufigen Verzichts ist hier so schwer zu entscheiden',
daß es ökonomischer sein könnte, ihn auf sich beruhen zu lassen und auf
die (logisch ohnehin vorrangige) Frage, ob überhaupt ein Aufgeben der
weiteren Tatausführung vorliegt, eine vielleicht allgemein überzeugende
Antwort zu suchen.
8 Das entwertet für unser Problem auch den von den meisten als Beispiel herangezoge-
nen Fall RGSt. 72, 349: Das Opfer bemerkte den schlechten Geschmack des zyankaliver-
gifteten Kaffees. Daß es ihn dennoch trinken würde, schien noch nicht ausgeschlossen,
doch mußte die Täterin fürchten, mit ihrem Anschlag gescheitert zu sein und belangt zu
werden. Deshalb goß sie den Kaffee aus. Daß sie „nach wie vor bestrebt" war, „denselben
Erfolg auf anderem Wege zu erreichen" (RGSt. 72, 351), ist unerheblich; auch bei
endgültigem Verzicht wäre der Mordversuch unfreiwillig aufgegeben oder gar als fehlge-
schlagen anzusehen und deshalb strafbar; vgl. hierzu auch Bottke (Fn. 6), S. 394 f.
9 Vgl. einerseits das Urteil, andererseits Roxin, in: Festschrift für Heinitz, 1972,
S. 258 ff. Hier wie dort beruhen die Erwägungen zur Freiwilligkeit auf der Annahme, daß
dem Täter der Vorbehalt, wieder Gewalt zu üben, nicht nachzuweisen sei; vgl. BGHSt. 7,
297 und Roxin a. a. O., Fn. 30.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 713
13 AT, 14. Aufl. (1985), § 14 IV 4. - Eingehende Erörterung des Problems anhand eines
Druck, nur weil er sich schämt, aus einem Betrugsversuch aussteigt und
im Hinblick auf den nunmehr geplanten Raub die Schwelle zum Versuch
noch nicht überschritten hat, ist zunächst einmal freiwillig in den
straffreien Bereich zurückgekehrt. Die Lösung von Streng und Wessels
ist eine getarnte Bestrafung des bösen Willens.
Die Kluft zwischen Theorie und sachrichtiger Beurteilung eines kon-
kreten Verhaltens wird vielleicht noch größer und deutlicher im zweiten
Fall. Ihn müßte, wer eine „Rückkehr in die Legalität" oder „hinrei-
chende Normbefolgungsbereitschaft" fordert, folgerichtig gleichfalls
i. S. einer Bestrafung nach §§263, 22 StGB entscheiden. Denn das
strafbefreiende Aufgeben der Betrugstat kann nur im Fallenlassen eines
aktuell vorhandenen Täuschungsentschlusses, d.h. hier im Ubergang
zum Raubentschluß liegen. Wer den Willen zur Unrechtssteigerung
„bestraft", indem er dem Rücktritt die Wirksamkeit abspricht, schneidet
sich nun selbst den Rückweg ab. Er kann, wenn später der Raub
freiwillig und ohne Deliktsvorbehalt aufgegeben wird, die stehengelas-
sene Betrugsstrafbarkeit nicht mehr wegkonstruieren und muß bestra-
fen, obwohl der Täter aus Scham und Besinnung schrittweise, aber
vollständig zur Legalität zurückgekehrt ist. Natürlich sind solche Fehl-
beurteilungen nicht ernsthaft zu befürchten. Aber verräterische Konse-
quenzen verschwinden nicht dadurch, daß man sie nicht zieht oder den
Fall verschweigt, der sie ans Licht brächte.
Man kann sich solche Steigerungsentschlüsse noch schrecklicher vor-
stellen: Jemand will seinem Feind schaden und setzt zur Zerstörung von
dessen Mobiliar an. Ihm tut es aber um die schönen Sachen leid, und er
beschließt, doch lieber die Heimkehr des Eigentümers abzuwarten und
dann ihn selbst totzuschlagen. Wird der Mord tatsächlich begangen oder
versucht, so ist allein nach §211 StGB zu strafen, scheitert der Plan
schon vorher oder kommt es zum freiwilligen Rücktritt, entfällt Strafe
ganz. Denn wer aus Achtung vor dem Vermögenswert fremder Sachen
von ihrer Zerstörung absteht, gibt autonom und rechtzeitig seinen
realisierbaren Zerstörungsversuch auf und muß deshalb insoweit nach
dem klaren Wortlaut des § 24 StGB straffrei werden. Alles andere ist eine
Frage seines zukünftigen Handelns, das vielleicht in Sekundenschnelle
eine neue, andere Versuchsstrafbarkeit begründen wird, aber in jedem
Fall abzuwarten bleibt. Wer zweifelt, führe sich nur einmal die Gegenlö-
sung vor Augen: Sie ignoriert einfach, daß unsere Täter die Deliktsvoll-
endung aus Scham bzw. aus Achtung vor wirtschaftlichen Werten
unterlassen haben, und tut, als seien ihre Versuche fehlgeschlagen oder
unfreiwillig abgebrochen worden.
Für die Rücktrittslehren haben die Fälle des frei beschlossenen
Umstiegs auf ein anderes, vielleicht schwereres Delikt etwas bitter
Enttäuschendes. Von einem „Ausdruck des Willens zur Rückkehr in die
716 Rolf Dietrich Herzberg
14
Roxin, ZStW 80, 708.
15 Walter (Fn. 7), S. 23 f. Walters eher beiläufige Beurteilung des für seine Gesamtkon-
zeption gefährlichen Falles ist aufschlußreich. Der Einbrecher, der „vor Ort" das Werk-
zeug wieder einpackt, weil ihm eine Kränkung nachgeht und er „nun doch erst einmal
seinen Widersacher verprügeln möchte", lasse „keine hinreichende Normbefolgungsbe-
reitschaft erkennen" (S. 78, 79). Das ist ein halbherzig gebildetes Beispiel. Anscheinend
scheut "Walter die Zuspitzung, daß der Täter um der vorrangigen Rache willen sich von
seinem nur heute durchführbaren Diebstahlsprojekt endgültig verabschiedet. So verändert
hätte der Fall den Widerspruch zwischen dem Gesetz und der eigenen Theorie offen
hervortreten lassen: Der Verzicht ist autonom beschlossen und unbestreitbar „freiwillig",
hat aber den ausschließlichen Sinn unverzüglicher Deliktsbegehung.
16
Roxin, in: Festschrift für Heinitz (Fn. 9), S.266.
17
Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum StGB (SK),
Bd. 1, AT, Stand Sept. 1984, § 2 4 Rdn. 18.
18 Mein eigener Deutungsversuch erscheint 1987 als Aufsatz unter dem Titel „Grund
und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch - von der Strafzwecklehre
zur Schulderfüllungstheorie."
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 717
2. Tatbestandsinterne Entschlußumstellung
Wer unsere Gründe für die Anerkennung eines wirksamen Rücktritts
überzeugend findet, wird schon bemerkt haben, daß sie nicht dort
liegen, wo der B G H sie sieht: Die Beachtlichkeit auch eines Verzichtes
mit Deliktsvorbehalt erklärt sich nicht daraus und ist nicht darauf
beschränkt, daß die versuchte Tat und das neu beschlossene Delikt
verschiedenen Straftatbeständen unterfallen. Der Ablauf: Versuch -
freiwillige Aufgabe mit gleichzeitiger Rückkehr in die straflose Vorbe-
reitung - neuer Versuch oder vorheriges Scheitern, ist genausogut in der
Form denkbar, daß beide Deliktsentschlüsse sich auf denselben Straftat-
bestand beziehen. Ein Beispiel: Verbittert wegen ihrer Kündigung,
ergreift Putzfrau P bei der Arbeit im Schlafzimmer ein Schmuckstück,
um es zu stehlen. Als ihr Gewissen sie mahnt, etwas so Persönliches der
Hausherrin nicht zu entwenden, legt sie es zurück, beschließt aber
zugleich, sich für ihre Anständigkeit zu belohnen und im Laufe des
Tages bei günstiger Gelegenheit ein paar Geldscheine aus der Kassette im
Schreibtisch wegzunehmen. Auch hier muß man auf der Hut sein, sich
durch Hypothesen zum Grundgedanken des §24 StGB, die es ja gerade
zu überprüfen gilt, das Urteil vorschreiben zu lassen. Wer das beachtet,
kann an der Lösung eigentlich kaum zweifeln. Die Skrupel beim ersten
Ansetzen zum Diebstahl haben P freiwillig in den straffreien Bereich
bloßer Tatentschlossenheit und damit auch (zwar nicht der Gesinnung,
wohl aber) dem äußeren Verhalten nach „in die Legalität" zurückkehren
lassen. Was immer nun geschieht, es kann allenfalls eine neue Strafbar-
keit begründen. Dies müßte man, wie vorgreifend festgestellt sei, selbst
dann so sehen, wenn Schmuck- und Geldwegnahme ggf. eine Hand-
lungseinheit bilden würden; denn diese Rechtsfigur löst nicht die nach
Kategorien der Versuchslehre zu beantwortende Frage, ob der Täter
nach einem Einzelakt sofort neu ansetzt oder ein Stadium bloßer Pla-
nung und Vorbereitung durchschreitet.
Die Richtigkeit unserer Lösung beweisen auch hier die Ergebnisse.
Findet sich die erhoffte „günstige Gelegenheit" nicht, scheitert P also,
ohne ihren Entschluß zur Geldwegnahme auch nur ansatzweise zur Tat
gemacht zu haben, dann müßte, wer P wegen des Vorbehaltes auf ihren
Versuch festnageln will, vor der Tatsache des vom Gewissen motivierten
Verzichtes die Augen schließen und die P behandeln, als ob sie erwischt
und an der Vollendung gehindert worden wäre. Man könnte dagegen-
halten, wer einen Versuch erst einmal strafbar begangen habe, dürfe sich
nicht wundern, daß er ihn nicht schon durch Ubergang in erneute
(gedankliche) Deliktsvorbereitung tilge; er müsse vielmehr die Delikts-
entschlossenheit überhaupt aufgeben. Aber das heißt doch im Grunde
nichts anderes, als daß unter dem Deckmantel der Bestrafung eines
vergangenen Versuchs ein übriggebliebener böser Wille bestraft wird,
der sich in keiner Handlung manifestiert hat. Kommt es dagegen tatsäch-
lich zum zweiten Versuch oder gar zum vollendeten Gelddiebstahl, so
würde die „natürliche Handlungseinheit" oder der „Fortsetzungszusam-
menhang" die Ungereimtheiten vermutlich verwischen. Folgerichtig
wäre es aber für die Gegenansicht, bei der Gewichtung der Gesamttat
beide Objekte in Ansatz zu bringen, d. h. die P so zu bestrafen, als habe
sie Geld und Schmuck gestohlen oder zu stehlen versucht - eine offen-
kundig falsche Basis für die Strafzumessung.
Vgl. etwa Baumann-Weber, AT, 9. Aufl. (1985), S.504; Geilen, AT, 5. Aufl. (1980),
S. 177; Welzel, AT, 11. Aufl. (1969), S. 198.
20b Vgl. etwa Jescheck, AT, 3. Aufl. (1978), S.439; Lackner, StGB, 16. Aufl. (1985), §24
Anm. 3 a, aa; Schmidbauer, AT (Studienbuch), 2. Aufl. (1984), 11/82.
720 Rolf Dietrich Herzberg
gefaßt hat" 25 . Die Differenz der Standpunkte kann man wohl dahin
beschreiben, daß Küper den von Lenckner ausdrücklich verworfenen
„Fortsetzungszusammenhang" als zweiten einheitsstiftenden Gesichts-
punkt anerkennt, um die Diskrepanz mit dem eigenen Verständnis der
ratio legis abzuschwächen26. Denn schon Lenckner selbst hatte ange-
sichts der Konsequenzen seiner Lehre („strafbefreiender Rücktritt,
wenn der Täter den Tötungsversuch abbricht, um dem Opfer noch eine
letzte Schonfrist bis zum nächsten Tag zu geben") ein Mißbehagen nicht
unterdrücken können und sie für §24 Abs. 1 StGB als vielleicht „weni-
ger einleuchtend" bezeichnet27.
Den Standardfall zur Veranschaulichung liefert der Dieb, der die Tat
abbricht und aufschiebt: A ist in ein urlaubsleeres Haus eingestiegen und
beschließt angesichts der reichen Beute großherzig, seinen Freund B zu
holen und partizipieren zu lassen. Ohne schon etwas mitzunehmen, geht
er wieder hinaus. Will er in wenigen Minuten zurück sein, weil er B in
einer nahen Kneipe weiß, würden wohl beide Ansichten den wirksamen
Rücktritt verneinen. Anders, wenn A das Unternehmen in die nächste
Nacht verschiebt; dann würde der Rücktritt nach Lenckner zählen,
während er nach Küper unbeachtlich bliebe.
2. Kritik
Hier kann es nicht um die Entscheidung für die eine oder andere
Ansicht gehen; fragwürdig ist vielmehr schon ihr gemeinsamer Ansatz.
Das wertende Zusammenfassen zeitlich getrennter Einzelakte zu juristi-
schen Handlungseinheiten und die sie bezeichnenden dogmatischen
Begriffe haben, jedenfalls primär und von Hause aus, den Sinn, realgetä-
tigte Einzelakte zu einer Handlung zu verschmelzen; also etwa den Sinn
der Vermeidung von Tatmehrheit (§53 StGB), wenn ein zunächst
gescheiterter Versuch alsbald - erfolglos oder erfolgreich - wiederholt
worden ist oder im Beispiel A und B Stück für Stück ihre Beute
hinausgetragen haben. Man blickt sozusagen in die Vergangenheit und
sieht einzelne Akte, die sich in ihr realisiert haben. Diese ihnen gemein-
25 So Ebert (Fn. 6), S. 112, deutlich im Anschluß an Küper, J Z 1979,780; ähnlich Vogler,
in: Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), StGB, Leipziger Kommentar (LK), 10. Aufl. (1983),
§ 2 4 Rdn.79; Scbönke/Schröder/Eser (Fn.6), § 2 4 Rdn.40.
26 Vgl. Küper, J Z 1979, 780: Der die Durchführung nur vertagende Versuchstäter
„manifestiert in seinem Verhalten... deutlich den Willen, nicht in die Legalität zurückzu-
kehren, und bleibt für die Rechtsordnung weiterhin aktuell gefährlich"; daß er zur
Eingrenzung der Sache nach die Figur des Fortsetzungszusammenhangs heranzieht, deutet
Küper freilich nur an (in Fn. 48).
27 A . a . O . (Fn.3), S.305.
722 Rolf Dietrich Herzberg
28 Mag man für diese auch die Bildung eines die Unterlassungstendenz nur überwiegen-
den Handlungswillens genügen lassen (wie es Roxin, in: Gedächtnisschrift für H . S c h r ö -
der, 1978, S. 159 f, einleuchtend fordert).
29 U n d damit, wenn es denn darauf ankommen soll, im entscheidenden Sinne auch „in
die Legalität". Küpers entgegengesetzte Wertung (oben Fn. 26) übersieht, daß jemand, der
sich vom aktuellen Versuch in den Bereich bloßer Vorbereitung wieder zurückzieht, nur
noch in legaler Weise Böses plant.
724 Rolf Dietrich Herzberg
33
Ich verweise auf meine in Fn. 18 angekündigte Studie.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 727
Der Satz, es komme für die Strafbefreiung darauf an, ob das freiwillige
Abbrechen den Täter aus der Versuchssituation wieder herausführe,
bedarf aber noch klarstellender Ergänzung. Die nahtlose Fortführung
des strafbaren Versuchs nach einem freiwilligen Handlungsverzicht
bedeutet nicht, daß der Verzicht schlechthin unbeachtlich wäre. Genau-
genommen hat jede freiwillige Preisgabe einer konkreten Handlung, die
den Versuchstatbestand erfüllt, strafbefreiende Wirkung, nämlich inso-
fern, als jedenfalls sie die Versuchsstrafe nicht mehr tragen und bei der
Bemessung der Strafe für das sogleich weiterversuchte bzw. vollendete
Delikt nicht mehr zählen kann. Denn natürlich muß es einen Unter-
schied machen, ob im Beispiel der Einbrecher sich umbesinnt, weil es
ihm um die schöne Scheibe leid tut oder weil er das Fenster vergittert
vorfindet. Selbst wenn der Diebstahlsversuch nicht unterbrochen wird,
tritt der Täter im ersten Fall von ihm insoweit wirksam zurück, als der
Versuch im Bemühen liegt, durch das Fenster ins Haus zu gelangen".
Zum Ausgangsfall zurückkehrend, können wir also nach allem sagen,
daß der B G H recht hat mit der Annahme, der Angeklagte habe durch
den freiwilligen Verzicht auf den Oralverkehr seine Strafbarkeit nach
§§ 178, 22 StGB nicht getilgt. Der Maßstab der Handlungseinheit (zwi-
schen aufgegebenem und geplantem Handeln) ist zwar der falsche, aber
er führt hier zufällig zum richtigen Ergebnis, weil A entschlossen und
mit permanenter Gewaltanwendung auch tätig bemüht blieb, sich an P
geschlechtlich zu befriedigen; der Versuch zur sexuellen Nötigung lief
also ununterbrochen weiter und wurde in der gesteigerten Form der
Vergewaltigung sogar zur Vollendung geführt. Fehlerhaft ist aber der
Schluß, daß ein Rücktritt, der gegebene Versuchsstrafbarkeit nicht
aufhebe, deshalb schlicht unbeachtlich und gänzlich unwirksam sei.
Wenn das Aufgeben des Versuchs, der P den Mundverkehr aufzuzwin-
gen, freiwillig war (was beide Gerichte annahmen), dann hat das Land-
gericht die richtige Konsequenz gezogen: Dieses Teilgeschehen mußte
bei der Strafzumessung „als den Angeklagten aus Rechtsgründen nicht
belastend ausgeschieden" werden.
35 Vgl. auch Streng, N S t Z 1985, 3 6 0 f, der in solchen Fällen von einem „untechnischen
Rücktritt" spricht; das ist aber eine unnötige Abschwächung, die die unmittelbare
Anwendbarkeit des § 2 4 StGB verdunkelt. Ganz übersehen wird diese bei Bottke (Fn. 6),
S. 381 ff. E r betrachtet einseitig die Fälle „zweckdienlichen" Änderns der Vorgehensweise
und sieht deshalb mit Verneinung des „Aufgebens der weiteren Tatausführung" die
Sachfrage beantwortet. Wie aber, wenn der Umstieg zweckwidrig ist und der Schonung
des Opfers dienen soll?
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 729
39 A . a . O . (Fn.6), S.395ff.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 731
dann als freiwillig bewerten, wenn er nur tut, was zu tun er sowieso
verpflichtet war40!
derlich sei, besteht kein Anlaß, denn eine Rechtswirkung schreibt §24
StGB ja nur demfreiwilligen Rücktritt zu. Entschieden werden muß hier
also erst, wenn P einen Verzicht übt, der als freiwilliger Rücktritt zu
bewerten sein könnte. Er ist im Beispiel darin zu sehen, daß P beim
zweiten Mal die begonnene Wegnahme doch noch unterläßt. Dieser
Verzicht tilgt sicher die unmittelbar voraufgegangene Versuchshand-
lung, aber möglicherweise auch die erste und deren Strafbarkeit.
So ansetzend erkennt man leicht, daß P's Rückkehr in die Vorberei-
tungssituation nach dem unfreiwilligen Abbruch nicht die Bedeutung
haben kann, die sie nach freiwilligem Verzicht gehabt hätte. Der erste
und der spätere Versuchsakt liegen nun nicht auf den getrennten Ebenen
des Aktuellen und des Potentiellen (vgl. oben IV 2), sie sind vielmehr
beide real geworden und lassen sich dank dieser Gemeinsamkeit zu einer
wirklichen Handlungseinheit zusammenfügen42 - in den Grenzen natür-
lich, die die Lehre von den Konkurrenzen zieht. Die Berechtigung und
Reichweite der dort angebotenen Figuren stehen hier nicht zur Debatte.
Geht man für das Beispiel davon aus, daß die beiden Versuchsakte
zusammen einen einheitlichen Versuch bilden, dann bietet sich natürlich
die Lösung an, den zweiten freiwilligen Rücktritt vom Versuch des
Gelddiebstahls auf den Gesamtversuch zu erstrecken, weil dieser sich ja
auf nicht mehr richtete, als P zuletzt freiwillig hat liegenlassen: einen
Hundertmarkschein; Gesamtversuch und endlicher Verzicht decken sich
nach Gegenstand und Umfang43.
b) Diese rücktrittsfreundliche Lösung wird auch vom B G H und im
Schrifttum vertreten44; Gegenstimmen gibt es, soweit ersichtlich, nicht.
Das ist erstaunlich, denn wer weiter nachdenkt, stößt auf einen gewich-
tigen Zweifel. Man denke sich, P nähme, weniger kaltblütig, beim
Eintreten der Hausfrau vor Angst und Schreck von ihrem Vorhaben
endgültigen Abstand. Dann bliebe es bei dem einen Versuchsakt und bei
dem einen, zweifellos unfreiwilligen, Rücktritt. P wäre nach §§242, 22
StGB zu bestrafen. Soll sie der Strafe dadurch entgehen können, daß sie,
42 Während man sich oben mit der konditionalen Feststellung begnügen mußte, daß sie
den letzten Teilakt eines Versuchskomplexes auch dann auf die voraufgegangenen Ein-
zelakte zurückwirkt, wenn der Täter mit diesen bereits den Wendepunkt des beendeten
Versuchs erreicht hatte (Verzicht auf den letztmöglichen Schuß nach mehreren Fehlschüs-
sen); eingehend dazu Herzberg, in: Festschrift für Blau, 1985, S. 97ff.
44 Vgl. vor allem BGHSt. 21, 319: Der Täter hatte den Versuch eines Einbruchsdieb-
2. Folgerungen
a) Rücktritt nur bei neuer Versuchssituation
Aus den genannten Grundsätzen kann man Weiteres ableiten.
Zunächst ergibt sich die harte, aber wohl unverzichtbare Rücktrittsein-
schränkung, daß nach unfreiwilligem Abbruch auch der zur Wiederho-
lung gewillte Täter sich die Strafbefreiung nur verschaffen kann, indem
er in einer (handlungseinheitlichen) neuen Versuchssituation freiwillig
zurücktritt. Daß P ihren zunächst gefaßten Entschluß, den Diebstahl
später doch noch auszuführen, irgendwann schlicht fallen läßt, genügt
nicht. Sie muß ihn schon aufgeben, nachdem sie zuvor neu angesetzt hat.
Das scheint die kriminalpolitische Logik auf den Kopf zu stellen, ist aber
in Wahrheit gerade aus praktischen Gründen schlechterdings zwingend.
Denn „da könnte ja jeder kommen" und behaupten, daß er nach seinem
strafbaren Versuch und unfreiwilligen Rückzug anfangs zu einem neuen
Anlauf fest entschlossen gewesen sei, sich jedoch später eines Besseren
besonnen habe. Der Wille, nach einem Fiasko es neu zu versuchen, ist
immer schwankend und anfällig. Wahrheit und Lüge einer solchen
Verteidigung sind nicht aufklärbar. Wäre etwa der Angeklagte im Fall
BGHSt. 21, 319 beim gescheiterten Einbruchsversuch beobachtet und in
der Wirtschaft, wo er einen Mittäter suchte, gestellt worden, so wäre die
45
Zu anderen Streitpunkten und der dortigen Verwendung des Arguments Herzberg,
in: Festschrift für Blau (Fn.43), S. 113, 116 f.
734 Rolf Dietrich Herzberg
44 A . a . O . (Fn.6), S.403.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 735
IX. Ergebnisse
Die hauptsächlichen Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt um-
reißen:
1. Der freiwillige Rücktritt wirkt auch bei fortdauernder Deliktsent-
schlossenheit strafbefreiend, wenn er die Versuchssituation aufhebt. Zu
beurteilen ist das allein nach dem neuen, veränderten Vorhaben des
Täters. Wenn und solange er die nunmehr konkret gewollte Deliktsbe-
gehung noch nicht i. S. des „unmittelbaren Ansetzens" begonnen hat,
sondern sie nur plant oder vorbereitet, ist er straffrei. Das gilt auch,
wenn die geplante Tat im Fall ihrer Ausführung mit dem abgebrochenen
Versuch eine Handlungseinheit bilden würde.
2. Fehlschlag des Versuchs oder unfreiwilliger Rücktritt lassen die Straf-
barkeit des Versuchstäters unberührt. Ihre Aufhebung durch einen
späteren freiwilligen Rücktritt ist aber nicht schlechthin ausgeschlossen.
War der erste Versuch noch unbeendet, bildet er mit dem zweiten eine
Handlungseinheit und entspricht der nun freiwillig geleistete Verzicht
im Umfang dem ursprünglichen Erstrebten, dann wirkt der Rücktritt
hinsichtlich der gesamten Versuchstat strafbefreiend.
On Punishing and Individual Rights
JAIME MALAMUD GOTI"'
* I am thankful to Professor Carlos Nino for discussing this paper with praiseworthy
patience; I also profited from Carlos Rosenkrantz who has usefully contributed to this
work.
1 This criterion has been chosen by the Argentinian Supreme Court to define a punitive
sanction (see "Fallos", vol.184 p. 162; vol.185, p. 188; vol.200, p . 4 9 5 ; vol.202, p . 2 9 3 ;
vol.205, p. 173, etc.).
738 Jaime Malamud Goti
faults and criminal offenses. This has not much to do with the subject
with which I deal here. What I intend to demonstrate is that although the
agent must have done something in particular - and with a certain state
of mind - to justify the deprivation of certain "goods", other "goods" do
not require that such circumstances are present. Some sanctions might
consist in restraints that do not demand the same justification. The
distinction between both types of sanctions depends on two topics: first,
if there is an - irrestricted - right to property or to freedom. Second, if
by rights we refer to entities that have always the same weight in a
political scheme.
1 propose to clarify three questions that seem decisive to me: (a) If
there is a right to freedom; (b) If it is possible to draw a clear distinction
between moral and legal rights; (c) If some constitutional clauses that
protect property and basic liberties as the ones concerning cults, expres-
sion and association, have some special status in a legal system.
3. Conservatives tend to think, in the first place, that property rights
possess the quality of providing a platform on which individual freedom
is possible. They also claim that there is a right to freedom, in general.
As a corolary, property rights should be almost unlimited; any act that
imposes restraints upon said rights requires of a strong justifying
reason2. Dworkin has given excellent grounds for maintaining that there
is no such an unrestricted right to freedom3. His argument is, in essence,
the following: citizens, who prize their rights highly will surely chal-
lenge any attempt to suppress their freedom to express themselves or to
worship a god. None of these citizens would be ready to impugn rules
imposed by city authorities to restrict automobile access to some areas
confined only to pedestrians, or regulations placing time limits on
banking activity.
The reason to repel the first class of prohibitions and not the second
does not depend - as many have thought - on the amount of liberty
involved. It is visible that people must refrain more often from things
they want to do because of traffic regulations than for legal restraints on
the things they wish to say in public, or publish their political points of
view. If we were to determine what kind of rules impose more stringent
limits upon our actions it will be obvious that liberty is far more
restrained by rules that hardly anyone would think of challenging.
To begin with, very few people will find in their interest to do
something that is prohibited by the first class of norms as those related to
publishing rebelious ideas or practice a religion considered by the state as
2 The best known thesis in this sense is that of Nozick's (Anarchy, State & Utopia,
Oxford, 1974).
3 Taking Rights Seriously, Harvard University Press, 1977.
On Punishing and Individual Rights 739
4 Scheffler, Natural Rights, Equality and the Minimal State, in Reading Nozick, Essays
on Anarchy, State & Utopia, edited by Jeffrey Paul, Basil Blackwell, Oxford, 1981, p. 148.
5 Mill, On Liberty, in Utilitarianism, etc., edited by Mary Warnock, Massachussets,
1974, p. 126.
6 For an example see Scanlon, Nozick on Rights, Liberty and Property, in Philosophy
For those who reject the existence of objective moral rules, valid to
judge any positive system, the distinction I made is fictitious. Ethical
relativists for example, will claim that there is no more to morality than
the generalized beliefs of members of a community and that no system of
rules escapes this narrow relationship with a particular society 7 .1 cannot
here tackle this complicated subject; it may be suggested, however, that
we are often critical towards the law imposed by Khomeini for consider-
ing it abhorrent. This type of attitude is a consequence of an assumption
that there are normative standards by which any conduct or social
arrangement could be validly assessed, including positive legal systems.
Moral rights are, thus, intimately related to the subject of a right to
freedom dealt with in the previous para-graph. There is a moral right to
certain liberties that constitute a cluster of interests whose satisfaction
provide sense to our existence according to each one's conception of the
meaning of life.
5. It is worthy of consideration, within the constraints of this brief
essay, the status of constitutional individual rights and liberties. I shall
start by pointing out that it does not seem reasonable to suppose that
members of any religious congregation are entitled to invoke their
freedom of cult against a legal prohibition of performing loud musical
sessions in residential quarters after midnight. The validity of this
retraint could hold against such claims, not only because of the possibil-
ity that third parties' rights could be affected if the music went on until
late, but also because it makes sense to assert that such regulation does
not stand in the way of anybody's willingness to worship a god. One can
easily distinguish the time limiting rule from others that prescribe that
certain cults be practiced in a way such that would alter the very sense
that worshipers attach to that practice.
There is a critical difference, in my view, between being entitled to do
something by a rule that places limits upon a prohibitive norm (such as
assaulting someone during a rugby match) and challenging a legal rule
because it places restraints upon constitutional rights as would be the
case of somebody being discriminated because of his race or religion.
The first case shows the way in which different rules place limits to
one another. When worshipers of a cult invoke a right the Constitution
grants them, they are in fact challenging certain norms for reasons based
on principle. What provides grounds for such claim is that due respect
and consideration are deemed violated by the statute.
7 Against this position see Bustos Ramires, in Doctrins Penal, Buenos Aires, 1984,
p. 405, in "Bases Críticas de un N u e v o Derecho Penal" Respuesta a algunos "equívocos" of
Jaime Malamud Goti; see also Buchanan, The Marxian Critique of Justice an Rights,
Canadian Journal of Philosophy, Supplementary Volume VII, 1981, p. 269.
On Punishing and Individual Rights 741
' See, Is there a Right to Disobey the Law on Moral Grounds?, Jaime Malamud Goti,
in Rechtstheorie (in press).
' Dworkin, Liberalism, in Public and Private Morality, edited by Stuart Hampshire,
1980, p. 113.
10 Hart, Punishment and Responsibility, Oxford 1968; Nino, A Consensual Theory of
Punishment, in Philosophy & Public Affairs, Fall 1983, Volume 12, Number 4.
742 Jaime Malamud Goti
morally impugn the governmental decision to shift its financial aid from
one sector to another if it is done on welfare basis.
It may be argued against the expounded stand that sometimes we
would be dealing with vested rights, and that punishment should require
more to affect these rights. This could be true even if vested legal rights
that sanctions restrain are not moral ones. If the bearer of a vested right
has been duly warned that he might jeopardize it if a certain result is not
averted, there seem to be enough reasons to cancel this right should the
transgression be commited 14 .
7. If the "good" upon which the sanction is applied is a legal property
right its justifiability will vary with our political stand. If a conservative
point of view is endorsed, then any restraint upon property is also one
that affects (moral) rights, as Nozick has claimed15. O n such basis,
Nozick has gone as far as to maintain that the government should confine
its activity to protect the life and limb of individuals and enable parties to
a contract to enforce it. Any other function vested upon the state would
transgress the Kantian principle of inviolability of persons, that pros-
cribes to utilize an individual in the furtherance of anybody else's
interest.
Although there is much more to Nozick's Anarchy than I intend to
deal with here, it is interesting to notice how some important distinc-
tions are overlooked. The following hypotheses might show the point:
(a) There is a critical difference between stripping somebody of those
things that constitute a part of his or her goals in life - or of means
for the furtherance of such goals - or things contingent to such
aims - or their promotion. In fact the law often provides control
over resources that are neither enjoyed nor utilized by their
owner.
(b) It is essential to distinguish between that ownership that is
imaginable in a state of nature and the ownership that consists in
entitlements that spring from formal legal extension of the former
kind (once again, it is necessary to see the difference between
moral and legal rights). It is necessary to delineate the boundry
between the right we have over commodities that constitute a
relevant part of our lives and other things on which the state might
bestow a right on the grounds of an institution such as inheri-
tance. In this last case one could only conceive an additional
welfare to the beneficiary that would not originate claims against
the government if it chose to disregard such arrangement.
14
It could be also argued that rights are vested under several conditions. The concres-
sion. Ex post fact rules should always be ruled out.
15
See Footnote 2, above.
744 Jaime Malamud Goti
I.
1 Unter Staatsschutz wird hier in erster Linie der Schutz von Bestand und Sicherheit des
Staates verstanden, wie es auch in der Uberschrift zum ersten Abschnitt des Besonderen
Teils des S t G B zum Ausdruck kommt. Eine scharfe Trennung zum Schutz der Verfassung
hin ist nicht möglich, weil der Staat sich meist auch dort schützt, wo er die Verfassung zu
schützen vorgibt (zum Beispiel schon in § 80 StGB), wie er denn überhaupt den Begriff
„Verfassungsschutz" gern dort anwendet, wo es um reinen Staatsschutz geht, zum Beispiel
bei den „Verfassungsschutzämtern", die nicht etwa die Aufgabe haben, über die Einhal-
tung der Grundrechte durch den Staat zu wachen, sondern im Gegenteil reines Instrument
zur Überwachung der Bürger sind.
748 Joachim Hellmer
2 Zur historischen Entwicklung in den letzten 100 Jahren Eduard Kern, Der Strafschutz
des Staates und seine Problematik, Tübingen 1963; Zur Entwicklung insbesondere seit
1945 u. a. F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970; ders.,
Das Strafrecht zum Schutz von Verfassung und Staat, in „Verfassungsschutz und Rechts-
staat", hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Köln usw. 1981, S. 219 ff.
5 Kritisch allerdings z. B. Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art,
1967 und Grünwald, Meinungsfreiheit und Strafrecht, kritische Justiz 1979, S. 291 ff.
Grundsätzliche Kritik wird vor allem von politischer Seite geübt, nicht von strafrechtli-
cher, s. z. B. S. Cobler, Die Gefahr geht von den Menschen aus (der vorverlegte Staats-
schutz), Berlin (Rotbuch-Verlag) 1976.
4 Th. Basten, Von der Reform des politischen Strafrechts bis zu den Antiterrorgesetzen,
5 Ein Vergleich des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik mit dem in anderen
westlichen Staaten ist kaum möglich, weil der historische Hintergrund, vor dem jede
gesetzliche Regelung zu sehen ist, von Land zu Land verschieden ist. Diese Abhandlung
hätte ich nicht geschrieben, wenn sich nicht gerade unser Staat mehrmals zu einer den
Bürger erdrückenden und alles Leben bedrohenden Macht aufgeschwungen hätte. Im
übrigen ist aber festzustellen, daß sich der Staat auch in westlichen Demokratien mit einem
viel zu starken strafrechtlichen Schutz versehen hat, z.B. in Italien und in Frankreich
(anders in England), vgl. Jescheck/Mattes (Hrsg.), Die strafrechtlichen Staatsschutzbestim-
mungen des Auslandes, 2. Aufl., Bonn 1968, S. 105 ff, 161 ff, 405 ff. In diesen Ländern
stellen aber die althergebrachten Bürgertraditionen ein genügendes Gegengewicht dar, und
es ist in ihnen bisher zu keinen solchen Exzessen des Staates gegen den Einzelnen
gekommen wie bei uns.
6 Hilde Kaufmann, JZ 1972, S. 78 ff.
750 Joachim Hellmer
II.
In politischen Kreisen herrscht offenbar weitgehend Unkenntnis dar-
über, was eigentlich Strafrecht ist, insbesondere was man mit ihm
„anfangen" kann und was nicht. Hierzu einige Bemerkungen, wofür wir
zur Verdeutlichung die Identitätstheorie heranziehen, die wir in langjäh-
riger Forschungsarbeit entwickelt haben. Die Identitätstheorie besagt:
Jeder Mensch ist hinsichtlich seiner Rechtsposition in der Gesellschaft
mit jedem anderen Menschen identisch 7 . Die Verletzung eines anderen
ist also eine Identitätsverletzung, verursacht durch einen Mangel an
Identitätsbewußtsein, der im allgemeinen mit abnehmendem zwischen-
menschlichen Vertrautheitsgrad wächst, weshalb in kleinen Gemein-
schaften die Kriminalität im Prinzip gering, in großen und größer
werdenden Gesellschaften dagegen umfangreich ist und wachsende Ten-
denz hat8. Diese Erkenntnis legt auch dem Strafrecht und seinem
Gebrauch gewisse inhaltliche Verpflichtungen auf. Wenn das Strafrecht
nämlich Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität sein will - und das ist
unbestritten der Fall - muß es auch zur Bewußtmachung der Identität
beitragen, darf jedenfalls nicht dem bereits weit verbreiteten Mangel an
Identitätsbewußtsein weiter Vorschub leisten. Unter diesem Aspekt sind
besonders bedenkenswert:
Die ständige Änderung der Gesetze,
Die besondere Situation des Staatsschutzes und seine Vorverlegung in
strafrechtsfreie Gebiete,
Die freie Verantwortung und Kommunikationsfähigkeit des Bürgers.
1. Was sich die Politiker bei der ständigen Änderung der Gesetze, hier
vor allem der Strafgesetze, denken, ist unerfindlich'. Wahrscheinlich
gehen sie von der Annahme aus, daß nicht mehr oder nur noch seltener
getan wird, was sie verbieten. Diese Annahme hat aber gewisse Voraus-
setzungen, die mindestens seit Anselm v. Feuerbach fester Bestandteil
jeder Kriminalpolitik sind, nämlich daß das Gesetz für jedermann klar
und verständlich ist, daß es feste Grenzen zwischen Erlaubtem und
Verbotenem zieht und daß es allgemein bekannt ist. Daran fehlt es heute
ganz und gar, vor allem durch die ständigen Gesetzesänderungen. Sind
schon die meisten Tatbestände des politischen Strafrechts, zum Beispiel
ein so wichtiger Tatbestand wie Landfriedensbruch (§125 StGB) so
verklausuliert abgefaßt, daß sie kaum einem Juristen ständig gegenwärtig
sind, vor allem nicht im entscheidenden Augenblick der Handlung,
geschweige denn einem juristischen Laien (wie anders zum Beispiel bei
Diebstahl oder Sachbeschädigung!), so wird die rechtliche Situation
noch undurchsichtiger, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale neu hinzu-
kommen oder bisher geltende Tatbestandsmerkmale ablösen oder wenn
die gleichen Tatbestandsmerkmale abwechselnd gelockert und wieder
verschärft werden, wobei sich die Diskussionen allein auf den Ebenen
der Parteijuristen abspielen und es zum Schluß nicht mehr deutlich
genug ist, ob nun eine Änderung erfolgt ist und wenn ja, welche. In
welcher Weise gerade im strafrechtlichen Staatsschutz die Paragraphen
dauernd hin- und hergeschoben, neu eingeführt, wieder gestrichen,
geändert, erweitert und wieder eingeschränkt worden sind, ist geradezu
unbeschreiblich10.
Es gibt einige neue Literatur über Gesetzgebungslehre, die Frage der
ständigen Änderung von Gesetzen und ihrer Voraussetzungen ist aber
stark vernachlässigt". Meines Erachtens muß man zwei Arten von
Gesetzesänderungen unterscheiden: eine wird durch grundlegende
Wandlung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich, die andere ist
einfach durch Änderung der herrschenden politischen Richtung bedingt.
Um Letztere handelt es sich in den meisten Fällen, auch zum Beispiel bei
§ 125 StGB. Hinzu kommt noch die Änderung oder Erweiterung der
Rechtsprechung aufgrund ein und desselben Tatbestandes. Hier handelt
es sich m. E. nicht nur um ein Ubersehen der notwendigen Vorausset-
zungen wirksamer Abschreckung, sondern auch um einen Verstoß
gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn bisher straffreie Verhaltensweisen
plötzlich als kriminelles Unrecht angesehen werden, wie zum Beispiel
bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt" in §240 StGB 12 .
Zur Diskussion über das Verbot der Rückwirkung vgl. auch Nancke, Die Mißachtung des
strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933-1945, in: N.Horn (Hrsg.), Europäisches
752 Joachim Hellmer
Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Coing, Band I, 1982, S. 225 ff
und Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, passim.
13 Vgl. Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht (Recht und
wie bei Hegel14 und manchen, die sich heute noch auf ihn berufen15,
sondern er hat diese Auffassung durch sein eigenes Verhalten längst
widerlegt und muß sich heute in jedem Akt neu beweisen, er muß mit
jedem seiner Akte nachweisen, daß er notwendig ist, und notwendig ist
er eben nur, soweit er den einzelnen Bürger schützt. Wir wollen und
können hier keine staatsrechtliche Diskussion führen, nur muß auf die
Voranstellung der Grundrechte in unserer Verfassung und auf Art. 20
Abs. 2 Satz 1 G G hingewiesen werden, aus denen diese Konzeption klar
hervorgeht 16 . Insofern drängt die Identitätstheorie zu einer Durchset-
zung des demokratischen Gedankens auch im Strafrecht: Die Politiker
müssen sich heute bei jedem neuen Gesetz, das sie machen, überlegen,
ob dieses unbedingt notwendig ist, den Bürger zu schützen, sie müssen
sich an die Souveränität des Bürgers halten, und sie müssen deshalb, weil
sich das Gesetz zugleich an die Bürger richtet, dieses auch so abfassen,
daß es den Bürgern jederzeit gegenwärtig sein kann.
Dem widerspricht der heutige strafrechtliche Staatsschutz nicht nur
durch seinen Umfang und seine Position an erster Stelle im Besonderen
Teil des StGB (er belegt dort gleich die ersten sieben Abschnitte),
sondern auch durch die Verletzung allgemeiner dogmatischer Grund-
sätze, zum Beispiel des Grundsatzes, daß eine Tat - wenn schon nicht
vollendet, so doch mindestens - versucht sein muß, um strafrechtliche
Folgen zu zeitigen. Dieser Grundsatz gilt ja auch hinsichtlich des
Schutzes des Individuums. Der strafrechtliche Staatsschutz ist aber voll
von Strafdrohungen schon für Versuche des Versuchs (§§ 80 a, 83,
89-90 b, 98, 99) und sogar schon für Vorbereitungen auf den Versuch
des Versuchs (§§ 84-86 a, 87 Nr. 1-6, 88, 100, 129, 129 a)17. Eine solche
Vorverlegung des Staatsschutzes in an sich strafrechtsfreies Gebiet
bedeutet einen eindeutigen Bruch mit strafrechtlichen und rechtsstaatli-
chen Traditionen und darüber hinaus eine Bevorzugung des strafrechtli-
chen Staatsschutzes gegenüber dem strafrechtlichen Individualschutz,
die das Bemühen um Identifizierung des Bürgers mit der Rechtsposition
des Staates noch weiter erschwert18. Der Gesetzgeber der letzten Jahr-
zehnte läßt mit solchen Übertreibungen die Erfordernisse der Bildung
von Identitätsbewußtsein, die gerade heute in der Massengesellschaft
strengstens beachtet werden sollten, nicht nur außer acht, sondern er
stellt sich sogar schroff gegen sie, d.h. er erweist sich als schlechter
Kriminalpolitiker, der das Gegenteil von dem schafft, was er erreichen
will19: Mißtrauen und Entfremdung statt wachsendes Vertrauen; Angst,
in eine Falle zu treten, statt sich auf sicherem (erlaubtem oder unerlaub-
tem) Boden zu bewegen.
18 Dafür sprechen übrigens auch die Zahlen. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik
III.
Der beste Staatsschutz ist die Verfassungstreue der Bürger, wie ich
meine. „Halt, so einfach ist das nicht!" werden manche Politiker sagen:
„Was hilft die Verfassungstreue der Bürger, wenn ein paar unbelehrbare
und zu allem entschlossene Staatsfeinde das System umstürzen wollen?"
Diese Fragestellung ist aber irreführend. Jeder unserer Politiker weiß,
daß die überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung hinter dem Staat
steht, wie er in unserem Grundgesetz von 1949 konzipiert ist. Das
21 Einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die hier für die Rechtsprechung entstehen,
vermitteln Träger! Mayer/Krauth, Das neue Staatsschutzstrafrecht in der Praxis, in: „25
Jahre Bundesgerichtshof" ("Hrsg. Krüger-Nieland), München 1975, S. 227 ff (242 ff).
22 Grünwald, a.a.O., S.295.
23 Vgl. „Die Zeit" Nr. 38 vom 13.9.1985.
756 Joachim Hellmer
24 Kennzeichnend ist auch, daß unsere Politiker das Widerstandsrecht des Art. 20
Abs.4 GG nur als Staatsnotstandsrecht auslegen, d.h. als Recht, allenfalls für die
Regierung Widerstand zu leisten, nicht gegen sie. Näher G. F. Rühe, Widerstand gegen die
Staatsgewalt?, Berlin 1958, S. 80; v. Münch, Widerstand als Verfassungsproblem, in:
„Widerstand in der Demokratie", Landesverband für politische Bildung, Hamburg 1983,
S. 21 ff.
25 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen, insbesondere Kap. VIII und IX (Reclam-Ausgabe, S. 114 ff).
Unmittelbar nach 1945 waren diese Dinge auch erheblich bekannter als heute, vgl. z.B.
H. Rauschning, Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, in: „Bericht über die
Tagung der Hochschule für Politische Wissenschaften München und der Evangelischen
Akademie Tutzing, Berlin 1956.
Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 757
26 Vor allem bei der Jugend, vgl. Baumann, a. a. O., S. 247 ff (249).
27 Zuletzt sogar bei Mord, wo der Strafrahmen bekanntlich nach unten durchbrochen
worden ist, vgl. BGHSt. 30, 105.
28 Bezeichnenderweise ist die ausdehnende Rechtsprechung zum Gewaltbegriff in § 240
StGB überwiegend anhand von Fällen entwickelt worden, in denen es sich nicht um eine
Verletzung des zwischenmenschlichen Verhältnisses, sondern der „öffentlichen Ordnung"
handelte (vgl. NJW 1969, 63, 1127, 1543, 1776; BGHSt. 8,102; 23, 46). S. auch Baumann,
a.a.O., S.253.
758 Joachim Hellmer
29
Th. Basten, a.a.O., S. 337 ff.
Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB)
beim „Kampf um das gemeinsame Kind"
Überlegungen de lege lata und de lege ferenda
KLAUS G E P P E R T
' In: Arzt-Weber, Strafrecht Besonderer Teil: Lehrheft 1 (Delikte gegen die Person),
2. Aufl. 1981, S. 195.
2 Urteil vom 29.2.1916 - V 17/16: Leipz. Zeitschrift 1916, 693.
3 Siehe statt vieler: SchönkeJSchröder/Eser, StGB Kommentar, 22. Aufl. 1985, Rdn. 14,
LK-Vogler, StGB, 10. Aufl. (August 1979), Rdn. 26, SK-Horn, StGB II, 3. Aufl. (Septem-
ber 1981), Rdn. 10, Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, Rdn. 3 und Lackner, StGB,
16. Aufl. 1985, Anm.2 - jeweils zu §235.
760 Klaus Geppert
Man findet im Schrifttum freilich auch Bemerkungen wie die, daß die
Strafvorschrift des §235 StGB 4 bisher keine besondere Bedeutung
erlangt habe5 und „kaum ein Komplex in der Praxis eine geringere Rolle
spiele"6. Wieder andere stellen sogar fest, bei Neuregelung der Entfüh-
rungstatbestände durch das Erste Strafrechtsreformgesetz des Jahres
1969 sei „bedauerlicherweise versäumt worden, sich die Frage nach der
kriminalpolitischen Berechtigung... grundsätzlich neu" zu stellen7.
In dieser Situation scheint die Frage nicht ganz abwegig zu sein, ob
§235 StGB zwischenzeitlich nicht in eine Dimension hineingewachsen
ist, die dem Gesetzgeber des vergangenen Jahrhunderts so vielleicht doch
nicht vorgeschwebt hat und angesichts deren der Gesetzgeber von heute
korrigierend eingreifen sollte.
I.
4 Die Vorschrift ist zusammen mit den § § 2 3 6 bis 238 StGB durch das l . S t r R G vom
2 5 . 6 . 1 9 6 9 (BGBl. 1/645) geändert und neugefaßt worden - was unser Thema angeht,
freilich nur in geringfügiger Weise: die angedrohten Strafen haben sich geändert, das
Schutzalter wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt und das Vergehen zu einem Antragsde-
likt (§238 I StGB) umgestaltet. Einschlägige Gesetzesmaterialien: vor allem Protokolle des
Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Band V, S. 2375 ff
sowie Bundestagsdrucksache V/4094, S. 34 ff; weitere Nachweise bei LK-Vogler, zu §235
oder bei Dreher/Tröndle, § 2 3 5 Rdn. 1.
5 LK-Vogler, zu §235.
6 So, freilich bezogen auf die Entführungstatbestände insgesamt, wörtlich Eberhard
Schwarz, Entwicklung und Reform der Entführungsdelikte (§§235-238 StGB), 1972,
S. 129.
7 So beispielsweise Eser (Scb/Schr, Vorb. zu §§235 bis 238).
8 Ein suchender Blick in die kriminologische und kriminalistische Lehr- und Hand-
buchliteratur läßt den Verf. freilich auch nicht fündig werden: kriminalphänomenologisch
scheint - soweit mir ersichtlich - unser Thema noch nicht behandelt.
' Mit statistischem Material bis zum Stand des l.StrRG (1969) siehe vor allem
Eberhard Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 116 ff. Danach ergeben sich keine
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 761
wesentlich anderen Aburteilungsziffern, als sie nachfolgend im Text für die Jahre 1980 bis
1983 aufgeschlüsselt werden.
10 Protokolle Band V, S.2379.
13 Vgl. insofern RG, GA 53 (1906), 287 und RGSt. 29, 199 sowie BGHSt. 1, 364 und
15 Siehe insofern schon früher RGSt. 18, 273 (Urt. v. 30.11.1888) sowie BGH, MDR
1968, 728. - Keine obergerichtliche Judikatur fand sich übrigens, das sei am Rande
vermerkt, zum Stichwort Jugendsekten" und „Jugendsektenunwesen", wo Vogler (LK,
zu §235) künftig die besondere kriminalpolitische Bedeutung dieser Strafvorschrift ver-
mutet.
16 Siehe diesbezüglich schon RG, DR 1940, 2060 sowie insbesondere BGHSt. 1, 199,
BGHSt. 16, 58 und BGHSt. 32, 183. Siehe darüber hinaus auch BGH, MDR 1962, 750 (4
StR 21/62), NJW 1963,1412 (1 StR 90/63), MDR 1968, 728 (5 StR 164/68), J R 1971,511 (2
StR 247/71) sowie NJW 1981, 2015 (1 StR 487/80); siehe insofern auch drei unveröffent-
lichte Entscheidungen des Bundesgerichtshofes: 21.11.1958 - 5 StR 501/58; 20.12.1960 -
1 StR 553/60; 1.12.1970 - 5 StR 516/70. Siehe schließlich O L G Hamm, JMB1. NRW
1966, 236 (5.4.1966 - 3 Ss 32/66) sowie O L G Hamm (25.5.1978 - 5 Ws 50/78).
17 Aus der Judikatur schon des Reichsgerichts siehe RGSt. 17, 90 (27.1.1888), RGSt.
22, 166 (15.10.1891), RGSt. 48, 325 (22.5.1914), RGSt. 48, 427 (27.10.1914), RG
(29.2.1916), Leipz. Zeitschrift 1916, 693 sowie RGSt. 66, 254 (30.5.1932).
Der Bundesgerichtshof hat - soweit ersichtlich - zu dieser Fallgruppe expressis verbis
nur in zwei Entscheidungen Stellung bezogen: vgl. die umstrittene Entscheidung BGHSt.
10, 376 (13.9.1957 - 1 StR 269/57) sowie zuvor schon B G H (21.5.1951 - 3 StR 196/51) =
LM Nr. 1 zu §235 StGB.
Aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte vgl. in zeitlicher Reihenfolge:
(1) O L G Stuttgart (13.3.1968 - 1 Ss 95/68) NJW 1968, 1341.
(2) O L G Hamm (Beschl. v. 20.1.1970 - 3 Ss 1188/69) NJW 1970, 578.
(3) O L G Schleswig (22.7.1980 - 1 Ws 237/80) MDR 1980, 1042.
(4) O L G Düsseldorf (29.10.1980 - 2 Ss 393/80) J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke S. 387)
= NStZ 1981, 103.
(5) O L G Hamm (7.5.1981 - 1 Ws 221/82) MDR 1982, 1040 = J R 1983, 513 (mit
Anm. Oehler S.514).
764 Klaus Geppert
18 Zitiert nach dem Sonderheft 348 (6/84) des Statistischen Landesamtes Berlin:
„Rechtskräftig abgeurteilte Personen in Berlin (West) 1983, S. 20.
181 Mit diesen Erfahrungen decken sich übrigens auch jene Zahlen, von denen wir in
auch zahlenmäßig gewichtiger ist, als die nackten v4&urteilungs- oder gar
Verurteilungsziffern dies vermuten lassen. Wir können zugleich aber
auch erkennen, daß das Strafrecht diesbezüglich offenbar nur einen
„Nebenkriegsschauplatz" darstellt. U m bei diesem martialischen Bild
(das freilich angesichts der schlimmen Wunden, die in diesem Bereich
letztlich allen Beteiligten zugefügt werden, nicht fehl am Platze ist) zu
bleiben: der „Hauptkriegsschauplatz" liegt bei den Familiengerichten,
wo die Eltern scheiternder/gescheiterter Ehen den Kampf um das Recht
der „elterlichen Sorge" (§ 1626 Abs. 1 B G B ) bezüglich ihres Kindes in
erster Linie auszutragen haben.
Die Eltern haben die elterliche Sorge - das Gesetz spricht seit der
Sorgerechtsnovelle des Jahres 1979 nicht mehr von „elterlicher Gewalt",
um mit dem neuen Begriff mehr als bisher den Gedanken der Elternver-
antwortung und den Pflichtcharakter der elterlichen Rechtsstellung zum
Ausdruck zu bringen" - grundsätzlich „in eigener Verantwortung und
in gegenseitigem Einvernehmen" auszuüben (§ 1627 Satz 1 BGB). Die
Personensorge umfaßt insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht
(§ 1631 Abs. 1 Satz 1 BGB), in das bei Kindesentziehungen typischer-
weise eingegriffen wird. Nach § 1 6 3 2 Abs. 1 B G B erwächst hieraus das
„Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es den
Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält". Kommt es zur
Scheidung oder zum Getrenntleben der Eltern, so ist die Situation der
Personensorge folgende:
(1) Bei Scheidung der Eltern bestimmt das Familiengericht zugleich, „welchem Eltern-
teil die elterliche Sorge für ein gemeinschaftliches Kind zustehen soll" (§ 1671 Abs. 1
BGB). Bei Anfechtung lediglich der Sorgerechtsentscheidung ist Beschwerde möglich
(§§629a Abs. 2 Satz 1, 621 e Abs. 1 ZPO); sofern das O L G die weitere Beschwerde
zugelassen hat, ist auch diese zulässig (§621 e Abs. 2 ZPO). Die Gestaltungswirkung
der Sorgerechtsentscheidung tritt erst nach formeller Rechtskraft ein, frühestens nach
Rechtskraft auch des Scheidungsausspruchs (§ 629 d ZPO).
Demgemäß kommt vorläufigen Regelungen der Personensorge besondere Bedeu-
tung zu. Nach Maßgabe von § 620 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 ZPO kann das Gericht - auf
Antrag oder ggf. von Amts wegen - über das elterliche Sorgerecht eine einstweilige
Anordnung treffen. Erging dieser Beschluß auf Grund mündlicher Verhandlung, ist
gegen ihn sofortige Beschwerde zulässig (§ 620 c ZPO); sofern die von einem Elternteil
beanstandete Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erging, eröffnet ihm § 620 b
Abs. 2 ZPO die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung (wichtig: und mit ihr die
Möglichkeit einer sofortigen Beschwerde) herbeizuführen. Nach Verstreichenlassen der
zweiwöchigen Notfrist (§ 577 Abs. 2 ZPO) bzw. mit der Beschwerdeentscheidung des
O L G ist die einstweilige Anordnung formell rechtskräftig, d.h. das Personensorge-
recht ist - das kann natürlich auch für § 235 StGB besonders bedeutsam werden (siehe
insofern die Konstellation von RGSt. 48, 325) - für die Dauer der einstweiligen
Anordnung wirksam dem einen oder dem anderen Elternteil übertragen. Nach § 620 f
" Mit weiteren Nachweisen, auch zur Entstehungsgeschichte, vgl. diesbezüglich vor
allem M K - H w , Ergänzung zu § 1626 BGB, Rdn. 1 ff.
766 Klaus Geppert
Abs. 1 ZPO verlieren einstweilige Anordnungen ihre Wirksamkeit erst „beim Wirk-
samwerden einer anderweitigen Regelung".
(2) Bei dauerndem Getrenntleben20 gilt nach Maßgabe von § 1672 Satz 1 B G B materiell-
rechtlich Entsprechendes; auch verfahrensrechtlich ergeben sich keine Besonderheiten.
Freilich ergeht eine familiengerichtliche Sorgerechtsentscheidung in aller Regel nur auf
Antrag eines Elternteils; nur wenn „andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre",
entscheidet das Gericht von Amts wegen (§ 1672 Satz 2 BGB).
20 Die Legaldefinition des § 1567 Abs. 1 B G B legt die Voraussetzungen des Begriffs
„Getrenntleben" nunmehr einheitlich für den Bereich des gesamten Familienrechts fest
(vgl. MK-Hinz, Ergänzung zu §1672 B G B , Rdn.3).
21 Zu diesem Begriff siehe - jeweils mit weiterführenden (Literatur- und vor allem
Von dieser Aussage her, die man wohl als Trend unserer Familienge-
richte verallgemeinern darf26 und der an sich auch gar nicht widerspro-
chen werden soll, gewinnen natürlich alle vorläufigen Regelungen des
Sorgerechts ihren besonderen Stellenwert. Die Familiengerichte können
nicht nachdrücklich genug immer wieder darauf hingewiesen werden, im
Gesundheit, Band 133, Stuttgart 1983). Zu diesem Streit und den dabei ausgetauschten
Zahlen siehe mit weiterführenden Nachweisen neuerdings Luthin, FamRZ 1984, 115.
24 Weiterführend zu beiden Prinzipien: MK-Hinz, Ergänzung zu § 1671 Rdn.23 bis 26
Eheverfehlungen seien allenfalls dort - mit gebotener Vorsicht! - auch bei der Sorgerechts-
entscheidung zu berücksichtigen, wo sich aus der Eheverfehlung ein Hinweis für zukünftig
(!) fehlende Eignung zur Erziehung herleiten lasse.
30 Beschluß vom 16.12.1983 - 1 WF 336/83 = FamRZ 1984, 194 (195): unter Hinweis
auf die einschlägige Grundsatzentscheidung BGHZ 78, 293 (29.10.1980 - IVb ZB 586/80)
= NJW 1981, 520 = MDR 1981, 215 = FamRZ 1981, 135.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 769
c) Auf dieser Linie liegt auch eine Entwicklung, die bei Kindesentfüh-
rung mit Auslandsberührung - meist bei Scheitern gemischt-nationaler
Ehen, indem gemeinsame minderjährige Kinder entweder vom In- ins
Ausland oder umgekehrt entführt {aktive Entführungen) oder anläßlich
eines Besuches im In- bzw. Ausland dem sorgeberechtigten Elternteil
nicht zurückgegeben werden (passive Entführungen) - zu erheblicher
praktischer Relevanz und Komplikationen vielfacher Art und im übrigen
zu besonderer rechtlicher Brisanz mit umfangreicher (international-
privatrechtlicher) Judikatur geführt hat31. So versuchen Eltern verschie-
dener Staatsangehörigkeit nicht zuletzt deshalb, mit dem Kind in den
Anwendungsbereich des eigenen Rechts zu kommen, weil sie nach aller
praktischer Erfahrung darauf bauen können, daß der Richter ein Kind
lieber dem eigenen Recht unterwirft als einem fremden. In diesem
Zusammenhang nun gewinnt das „Haager Abkommen über die Zustän-
digkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des
Schutzes von Minderjährigen" (im folgenden: MSA) vom 5.10.1961,
das für die Bundesrepublik Deutschland am 17.9.1971 in Kraft getreten
ist32 und in seinem Anwendungsbereich die allgemeinen Regeln des
internationalen Privat- und Verfahrensrechtes verdrängt33, besondere
Bedeutung. Denn nach Art. 1 MSA sind für Sorgerechts- und andere
dem Schutz des Kindes dienende Regelungen die Gerichte/Verwaltungs-
behörden desjenigen Staates zuständig, in dem der Minderjährige seinen
„gewöhnlichen Aufenthalt" hat, wobei die Gerichte nach dem sog.
Grundsatz des Gleichlaufs bei dieser Entscheidung dann ihr eigenes
Recht anzuwenden haben (Art. 2 MSA). Ein „gewöhnlicher Aufenthalt"
in diesem Sinn ist nach anerkannter Rechtsprechung dann zu bejahen,
wenn der Minderjährige eine gewisse Zeit an einem Ort verweilt und
sozial integriert ist; als Faustregel nimmt die Rechtsprechung an, daß
hierfür eine Dauer von sechs Monaten in der Regel ausreicht. Ein
„gewöhnlicher Aufenthalt" sei ferner dann vorhanden, wenn ein länge-
res Verweilen an einem Ort zwar noch nicht vorliegt, jedoch beabsich-
tigt ist und diese Absicht durch entsprechende Handlungen verdeutlicht
wird34.
O b diese Grundsätze auch im Fall vorangegangener Entführung
gelten, war in Literatur und Rechtsprechung lange Zeit heftig umstrit-
ten. Noch vor einigen Jahren ging die wohl überwiegende Ansicht
dahin, eine Änderung des „gewöhnlichen Aufenthaltes" in solchen
Fällen mit der Begründung abzulehnen, daß Kindesentführung und
Rechtsbruch nicht sanktioniert werden dürfen35. Seit der Entscheidung
des Bundesgerichtshofes vom 29. Oktober 198036 ist diesbezüglich frei-
lich eine deutliche Kehrtwende zu erkennen. Unter Hinweis auf Sinn
und Zweck des Haager Minderjährigen-Schutzabkommens, das „auf den
Schutz des Minderjährigen und nicht in erster Linie auf die Wahrung der
Elternrechte ausgerichtet" sei, wird jetzt auch in den Entführungsfällen
ganz überwiegend ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt' im Aufnahme-
staat dann angenommen, „wenn es zu einer sozialen Einbindung des
Minderjährigen in die Lebensverhältnisse am neuen Aufenthaltsort und
damit zu einer tatsächlichen Verlegung des Daseinsmittelpunktes
gekommen ist". Der entführende Elternteil hat es zwar nicht in der
Hand, gegen den Willen des anderen sorgeberechtigten/mitsorgeberech-
tigten Elternteils einen sofortigen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthal-
tes' zu bewirken, wohl aber nach einer Dauer von in aller Regel schon
sechs Monaten. Damit können Entführungen nach relativ kurzer Zeit
zum gerichtlich bestätigten „legal kidnapping" werden, wobei sich — mit
dieser hier ganz wertfrei zu verstehenden Feststellung sei die kleine
Bestandsaufnahme sozialer Wirklichkeit heutiger Kindesentziehung
abgeschlossen - Entführung für den entführenden Elternteil wiederum
meist „gelohnt" haben dürfte 37 .
(579); vgl. im Schrifttum vor allem Wuppermann, FamRZ 1972, 247 und 1974, 416 sowie
Schlosshauer-Selbach, FamRZ 1981, 536 ff. Weitere Nachweise für diese Rechtsansicht bei
B G H , FamRZ 1981, 135 (136) und bei Oberloskamp (Fn.32), Art. 1 MSA Rdn. 131.
36 IVb ZB 586/80 = B G H Z 78, 293 (Fn. 30): eben hier und bei Oberloskamp (Fn. 32),
Art. 1 MSA Rdn. 130 und 133 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Judikatur und
Schrifttum. Aus jüngster Zeit siehe insofern noch B G H ( 1 3 . 7 . 1 9 8 3 - IVb ZB 31/83)
FamRZ 1983,1008 = N J W 1 9 8 3 , 2 7 7 5 sowie O L G Düsseldorf ( 1 6 . 1 2 . 1 9 8 3 - 1 W F 336/83)
FamRZ 1984, 194.
37 Wörtlich denn auch der B G H in seiner Grundsatzentscheidung (FamRZ 1981,
135, 138): „Dem Umstand, daß die Mutter mit dem Kind gegen den Willen des (mit-)
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 771
II.
1. Beginnen wir unseren Gang durch das geltende Recht mit der Klä-
rung des geschützten Rechtsgutes, hängt davon doch der tatbestandliche
Anwendungsbereich strafbarer Kindesentziehung maßgebend ab:
Entgegen anerkanntermaßen verfehlten systematischen Standorts
wird Kindesentziehung (§235 StGB) heute38 nicht mehr als Freiheitsde-
likt, sondern als Angriff auf die sog. „muntgewalt" verstanden. Als
geschütztes Rechtsgut sieht man nicht (mehr) die Freiheit des Minder-
jährigen, sondern eben die „munt", d.h. das familienrechtliche Sorge-
recht, wie es in § 1626 B G B den Eltern bzw. in § 1705 B G B der Mutter
eines nichtehelichen Kindes, gemäß §§1773, 1793 und 1800 B G B dem
„Vormund" und nach Maßgabe der §§1909 ff B G B einem „Pfleger"
gesetzlich zusteht 39 . Die literarische Kontroverse, ob § 2 3 5 S t G B dane-
ben „auch" 40 oder sogar „mittelbar" 41 den Schutz des Minderjährigen
bezweckt, scheint mir mehr ein Streit um Worte denn in der Sache
berechtigter Gegensatz zu sein. Denn man ist sich allenthalben einig,
daß jedenfalls die Einwilligung des Minderjährigen die Tatbestandsmä-
ßigkeit der Kindesentziehung nicht beseitigen kann 42 . Ansonsten will der
Hinweis, §235 S t G B habe „auch" oder „mittelbar" den Schutz des
Minderjährigen im Auge, nichts anderes zum Ausdruck bringen, als
schon der Gesetzgeber der Sorgerechtsnovelle mit dem Verzicht auf den
Begriff ,elterliche Gewalt' und dem neuen Terminus ,elterliche Sorge*
zum Ausdruck bringen wollte - nämlich deutlich machen, daß das
elterliche Sorgerecht nicht im Interesse der Eltern und nicht um seiner
Wolfgang Regel, „Entziehen" und „Entführen" Minderjähriger. Zur Auslegung der §§ 235,
236 StGB. Diss. jur. Münster 1975, S.7ff.
39 Siehe insofern statt vieler: Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 1, LK-Vogler, Rdn. 1, Dre-
her/Tröndle, Rdn. 2, SK-Horn, Rdn. 2, Lackner, Anm. 1 - jeweils zu § 235, Maurach/
Schroeder, Strafrecht Besonderer Teil: Teilband 1, 6. Aufl. 1977, S. 119, Blei, Strafrecht II,
12. Aufl. 1983, S. 81, Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.330, Otto,
Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S.313 und Haft, Strafrecht
Besonderer Teil, 2. Aufl. 1985, S. 119.
40 So beispielsweise Otto, GK II (Fn.39), S.313, Blei, StR II (Fn.39), S.81 und
43 NJW 1968, 1341 (1342). Dazu weitestgehende Zustimmung in der Literatur: vgl.
50 Nach dieser durch die Sorgerechtsnovelle 1979 neu eingefügten Vorschrift gewinnt
der Kindeswille dann besondere Bedeutung, wenn das über 14jährige Kind einen vom
elterlichen (gemeinsamen) Vorschlag abweichenden Vorschlag macht. Siehe M K - H i n z ,
Ergänzung zu § 1 6 7 1 B G B Rdn. 54 ff.
774 Klaus Geppert
insoweit auch §131 Abs. 1 Alternativ-Entwurf eines StGB: Besonderer Teil, Straftaten
gegen die Person / erster Halbband (1970) vor.
52 Ausführlich und mit entsprechenden Nachweisen dazu Schwarz, Entführungsdelikte
(Fn.6), S. 150 ff; vgl. auch Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 180 ff.
53 Nach §1755 Abs. 1 Satz 1 BGB erlischt für die abgebenden Eltern das rechtliche
Verwandtschaftsverhältnis - mit der Folge, daß die abgebenden Eltern auch den Schutz des
§ 2 3 5 StGB verlieren: vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, § 2 3 5 Rdn. 13.
54 Urt. v. 2 9 . 1 0 . 1 9 8 0 - 2 Ss 393/80 = J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke a . a . O . S.387ff)
O L G Düsseldorf, J R 1981, 386 (387); vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 13 und LK-
Vogler, Rdn. 8 und 17 - je zu § 2 3 5 StGB und mit weiteren Nachweisen.
57 Beschl. v. 2 8 . 6 . 1 9 8 2 - 1 Ws 221/82 = MDR 1982, 1040 = Amtsvormund 1982, 926
58 Siehe insofern Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, Fn. 6 auf
S. 828. Freilich hat Gernhuber nicht recht, wenn er a. a. O. im nächsten Satz bemerkt, die
für die Gegenansicht in Anspruch genommene Entscheidung BGH NJW 1957, 1642
( = BGHSt. 10, 376) betreffe einen „erziehungsberechtigten Elternteil". Das stimmt nicht;
die genannte Entscheidung betrifft exakt den uns beschäftigenden Fall, daß Opfer ein Vater
ist, dem nur das Besuchsrecht (und nicht mehr das Personensorgerecht) zusteht.
Unklar, jedenfalls ohne überzeugende Begründung insoweit Maurach/Schroeder, B T 2,
S. 89: „Jedoch kann die bloße Vorenthaltung des persönlichen Verkehrs zwischen dem
Kinde und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil nicht nach §235 StGB beurteilt werden;
anders bei ,Vereitelung', d. h. bei positiver Entziehung des bereits eingeräumten Verkehrs
(RGSt. 66, 254; BGHSt. 10, 376)."
59 BGHSt. 10, 376 = NJW 1957, 1642. Aus neuerer Judikatur ferner O L G Bremen, J R
läßt sich nicht zuletzt für die „Befugnis zum persönlichen Umgang mit
dem Kind", wie sie § 1634 Abs. 1 Satz 1 B G B n. F. auch dem Elternteil
zugesteht, „dem die Personensorge nicht zusteht" (!), weder mit der
Überlegung, dieses Recht sei Ausfluß oder jedenfalls Restbestandteil der
Personensorge61, noch dadurch halten, daß man darauf abstellt, das
Sorgerecht umfasse auch die Befugnis zum persönlichen Verkehr, also
sei auch diese Befugnis allein als quasi 7e*7personensorgerecht durch
§235 StGB mitgeschützt62. Die Ansicht läßt sich auch nicht mit den
Überlegungen stützen, wie wir sie noch in BGHSt. 10, 376 (378) finden
können. Dort nämlich hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, auch das
Besuchs- und Verkehrsrecht des «zcÄfsorgeberechtigten Elternteils ent-
halte, eben weil die Befugnis zum persönlichen Verkehr aus dem Sorge-
recht folge, ein Erziehungsrecht, und mit dem weiteren Hinweis, daß es
„gerade der Zweck des §235 StGB (sei), dieses Erziehungsrecht zu
schützen", den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB von hier
aus auch auf das bloße Besuchs- und Verkehrsrecht erstreckt.
Alles dies stimmte m. E. schon vor der Personensorge-Novelle des
Jahres 1979 nicht, und es ist vor allem und jedenfalls nach Inkrafttreten
des neuen Personensorgerechts (1. Januar 1980) schon familienrechtlich
einfach nicht (mehr) richtig. So geht der Zweck des persönlichen
Umgangsrechtes nach § 1634 B G B alter wie neuer Fassung anerkannter-
maßen nur dahin, „dem Verkehrsberechtigten zu ermöglichen, sich von
dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Ent-
wicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend
zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kinde
aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, aber auch dem
Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen"63. Selbst die Autoren,
die das Recht zum persönlichen Umgang nach wie vor als Restbestand-
teil des Personensorgerechts begreifen, stellen ausdrücklich klar, daß der
verbliebene Rest an Personensorge ausschließlich der Pflege verwandt-
schaftlicher Beziehungen und gegenseitigem Liebesbedürfnis, doch kei-
nesfalls der Erziehung dient und damit weder ein Erziehungsrecht noch
eine Erziehungspflicht beinhaltet64. Im übrigen ist es heute nur noch eine
Minderheit, die auch die ,Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem
Kind' (§1634 B G B n. F.) - wie einst noch das Reichsgericht65 das
61 So vor allem RGSt. 66, 254 ff und BGHSt. 10, 376 ff.
62 In dieser Richtung wohl LK-Vog/er, § 2 3 5 Rdn. 1.
63 So wörtlich schon B G H Z 42, 364 (371). Siehe auch B G H Z 51, 219 (222), B G H N J W
47 (49).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 777
66 So vor allem Gernhuber, Familienrecht, S. 830 und MK-Hinz, § 1634 Rdn. 2 und
Ergänzung zu § 1634 Rdn. 6 - je mit weiteren Nachweisen.
67 Zu diesem (m. E. sehr erhellenden) Einwand siehe Dölle, Familienrecht II, Fn. 1 auf
S. 319.
Siehe insofern vor allem BGHZ 42, 364 (370 ff) und 51, 219 (222) sowie erst jüngst
BGH NJW 1984, 1951 (1952), hier mit weiteren Nachweisen; siehe darüber hinaus vor
allem auch BVerfG 64, 180 (187 ff).
Im familienrechtlichen Schrifttum siehe (mit weiterführenden Nachweisen) vor allem
Soergel-Lange Rdn. 3, Erman-Ronke Rdn. 3; Staudinger-Schwoerer Rdn. 4 - jeweils zu
§1634 sowie Dölle, Familienrecht II, S.319 und Beitzke, Familienrecht (24. Aufl. 1985),
S. 262.
" Ebenso halten den Streit eher für müßig Soergel-Lange Rdn. 3, Palandt-Diederichsen
Anm. 1 a und Staudinger-Schwoerer Rdn. 4 - jeweils zu §1634 BGB. Diesbezüglich
nachdrücklich gegenteiliger Ansicht Gernhuber (Familienrecht S. 828) mit der Bemerkung,
„die Qualität des Rechts bestimmt seine Dichte"; ähnlich MK-Hinz, § 1634 Rdn.2.
70 Nachdrücklich in diesem Sinn, insofern frühere Äußerungen wiederholend (vgl.
BVerfG 31, 194, 206), erst jüngst wieder BVerfG 64, 180 (187/188): „Das Umgangsrecht
des Nichtsorgeberechtigten nach § 1634 Abs. 1 BGB steht ebenso wie die elterliche Sorge
des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Beide Rechtsposi-
tionen erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternver-
antwortung, die auch auf Seiten des nichtsorgeberechtigten Elternteils grundsätzlich
fortbesteht."
778 Klaus Geppert
dung R G Z 64, 47 (49), auf die RGSt. 66, 254 Bezug genommen hat, das
Verkehrsrecht des Nichtsorgeberechtigten aus dem Personensorgerecht
abgeleitet haben und (2) wie in Abhängigkeit dazu die beiden einschlägi-
gen Strafrechtsentscheidungen RGSt. 66, 254 und BGHSt. 10, 376, auf
die man sich heute - manchmal hat man den Eindruck: unbesehen -
stützt, zustandegekommen sind.
Sieht man in §235 StGB - wie ansonsten doch allenthalben anerkannt
und worauf neuerdings OLG Düsseldorf (JR 1981, 386) und OLG
Hamm (MDR 1982, 1040), auch hier unter Billigung des Schrifttums,
eigens hinweisen - das volle Personensorgerecht des § 1626 Abs. 1 BGB
als geschützt an, ist für das Besuchs- und Verkehrsrecht des § 1634 BGB
der Weg zu §235 StGB verbaut. Die bisher herrschende gegenteilige
Ansicht ist nicht nur unvereinbar mit dem Wortlaut des §1634 BGB,
wonach dem Inhaber der dort geregelten Umgangsbefugnis „die Perso-
nensorge" eben gerade „nicht zusteht", sondern auch nicht durch den
besonderen Zweck des § 1634 BGB zu rechtfertigen. Der Schutz des
§235 StGB gilt dem vollen Personensorgerecht und nicht etwa nur
einem Teilrecht davon, wobei es sich - das sei nochmals betont - bei dem
Besuchs- und Verkehrsrecht des § 1634 BGB ja nicht einmal um ein
Teilrecht (wenn man will: um ein quantitatives Minus), sondern um eine
völlig andere Rechtsqualität, eben: um ein qualitatives Aliud handelt. Zu
Recht betont der Familienrechtssenat des Bundesgerichtshofes immer
wieder, daß Personensorgerecht einerseits und Besuchs- und Verkehrs-
recht (§ 1634 BGB) andererseits sich gegenseitig ausschließende selbstän-
dige Rechtspositionen darstellen und das Personensorgerecht „nicht
etwa in dem Umfang (ruht), wie das Verkehrsrecht besteht" 71 .
Abschließend: Ebenso wie hier scheint auch der StGB-Entwurf von
1962 schon im Hinblick auf das geltende Recht davon ausgegangen zu
sein, daß nur das volle „Recht zur Sorge für die Person eines Minderjäh-
rigen" oder - wie in der amtlichen Begründung ebenfalls zu lesen ist72 -
das „ R e c h t . . . der Erziehungsgewalt" dem tatbestandlichen Schutz
strafbaren Muntbruches unterfällt. Sonst wäre es nicht zu verstehen, daß
nach dem Vorschlag des § 196 Abs. 1 E 1962 die dort vorgesehenen
beiden Tathandlungsmöglichkeiten („entführen" einerseits und „mit
Gewalt, D r o h u n g . . . oder List entziehen" andererseits) jeweils „dem
zur Personensorge Berechtigten" (!) gegenüber erfolgen sollten73.
71
Siehe nur B G H Z 42, 364 (372).
72
Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB): E 1962 (mit Begründung) - Bundestagsvor-
lage - ( = Bundestagsdrucksache IV/650), S. 350 f.
73
Die Amtliche Begründung (S. 350 f) hat dies - obgleich sie sonst Änderungen
gegenüber dem bisherigen Rechtszustand als solche zu bezeichnen pflegte! - hier bezeich-
nenderweise gerade nicht getan.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 779
schon das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. noch RGSt. 24, 133, 136 ff und
48, 325, 326).
Im neueren Schrifttum siehe diesbezüglich u.a. Schönke/Schröder/Eser Rdn.6, LK-
Vogler Rdn. 5 und Dreher/Tröndle Rdn. 6 - je zu §235 (mit weiteren Nachweisen).
80 RGSt. 18, 273 ff.
81 Statt vieler: Schönke/Schröder/Eser Rdn. 5 und 8, SK-Horn Rdn. 4 und Lackner
Anm. 3 - je zu §235 sowie Maurach/Schroeder, BT 2, S. 89, Wessels, BT 1, S. 89, Welzel,
Strafrecht (Fn. 39), 330 und Bockelmann, BT 2, S. 95. In seiner Stellungnahme nicht ganz
klar insofern LK-Vogler, §235 Rdn. 4.
82 Vgl. Bockelmann, BT 2, S.95 und Kohlhaas UJ 1958, 324.
85 Vgl. Maurach/Schroeder, BT 2, S. 89.
84 So Dreher/Tröndle, §235 Rdn.6 und vor allem W.Regel, Diss. Münster (Fn.38),
S. 67 ff.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 781
vom Kind) nur in der Weise ferngehalten wird, daß der Berechtigte seine
Personensorge auszuüben nicht mehr in der Lage ist85.
bb) Doch ist es für den uns interessierenden Täter- und Opferkreis nicht
diese räumliche Dimension, die in der praktischen Rechtsanwendung
Schwierigkeiten macht, als vielmehr jenes oben erwähnte normative
Element „wesentlicher" Beeinträchtigung der Ausübungsmöglichkeit
der Personensorge. In diesem Zusammenhang kommt natürlich dem
Element der Dauer eine wichtige Bedeutung zu; doch wäre der mit
diesem normativen Kriterium intendierte Sinn sehr verkürzt und letzt-
lich geradezu verfehlt, wollte man zur Beurteilung des „Entziehungs"-
Erfolges zu sehr auf die zeitliche Dimension oder gar auf bestimmte
Zeiteinheiten abstellen. Es kommt hinzu, daß einzelne höchstrichterli-
che Entscheidungen diesbezüglich mit außerordentlich kurzen Fristen
arbeiten - nach BGHSt. 10, 376 (378) kann schon das Vorenthalten eines
Kindes „auch nur für einige wenige Stunden" eine vollendete Kindesent-
ziehung darstellen86; BGHSt. 16, 58 ff läßt sogar zehn Minuten genügen!
- und nur zu leicht zur Verallgemeinerung drängen. Auch mir erscheint
das Merkmal ,entziehen' gelegentlich „bis zur Unkenntlichkeit erwei-
tert" 87 ; doch ist hier nicht der Platz, sich mit dieser Rechtsprechung
generell kritisch auseinanderzusetzen. Immerhin so viel: Diese nicht
immer unbedenkliche zeitliche Strenge begegnet uns meist in jenen
Fällen von Kindesentziehung mit „Sexualbezug". Hier nun kann ich
mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß nicht selten Beweisnot im
Hinblick auf den Vorsatz eines Sexualdeliktes durch dogmatische Uber-
interpretation im Bereich des objektiven Tatbestandes anderer Delikte,
die an sich einen ganz anderen kriminalphänomenologischen Hinter-
grund haben, überspielt wird88. Ist also diese starre zeitliche Fixierung
im Einzelfall schon bei jener Fallgruppe „Kindesentziehung durch
Außenstehende" immerhin oft nicht unproblematisch89, so ist weiter
fraglich, ob diese Strenge auf die Fallgruppe der Kindesentziehung im
innerfamiliären Bereich übertragen werden darf und ob sie hier über-
haupt sinnvoll ist. Ich möchte beides nachdrücklich verneinen:
85 Dazu vor allem BGHSt. 16, 58 (61 f). - Nebenbei: Dieses Tatbestandserfordernis der
quasi .räumlichen' Dimension liefert uns im übrigen ein weiteres Argument, mit O L G
Stuttgart das Erschleichen des Personensorgerechts durch Falschangaben vor Gericht nicht
in den tatbestandlichen Anwendungsbereich von § 2 3 5 StGB zu ziehen (NJW 1968, 1341).
" In der Entscheidung D R 1940, 2060 ließ auch schon das Reichsgericht diesbezüglich
„einige Stunden" und der Bundesgerichtshof in seiner unveröffentlichten Entscheidung
vom 1.12.1970 (5 StR 516/70) schon „eineinhalb Stunden" genügen.
87 So mit deutlicher Kritik Bohnert, GA 1978, 356.
88 Siehe insofern die berechtigte Kritik und überzeugende Analyse bei Hillenkamp,
Beweisnot und materielles Recht, Festschrift für Rudolf Wassermann (1985), S. 870 ff.
8 ' Deutlich skeptisch insofern auch Martin, LM Nr. 4 zu § 235.
782 Klaus Geppert
b) Zum andern kann man aber auch nicht sagen, daß - auch wenn auf
Negierung fremden Personensorgerechts insgesamt gerichtet - allein
schon die Nichtherausgabe eines Kindes, allein schon ein „widerrechtli-
ches Vorenthalten" des Kindes, wie es nach Maßgabe von § 1632 Abs. 1
B G B einen Herausgabeanspruch begründet, oder auch das bloße Nicht-
befolgen einer gerichtlichen Herausgabeanordnung94 schon zwingend
eine strafbare Kindesentziehung darstellt. In diesem Zusammenhang
zeigt sich nun die besondere Bedeutung der Tatmodalitäten „List, Dro-
hung oder Gewaltvon deren zusätzlicher (!) Verwirklichung der
Gesetzgeber das Vorliegen krimineller Kindesentziehung (§235 StGB)
abhängig gemacht hat. Treffend diesbezüglich schon das Reichsgericht95,
wenn es nachdrücklich der Ansicht widerspricht,
„daß schon durch die bloße Nichtbefolgung dieser gerichtlichen Anordnung... zur
Herausgabe der Kinder das Vergehen gegen §235 StGB begangen worden sei. Denn die
Vereitelung des Erziehungs- oder Aufsichtsrechtes der Eltern, welches das Gesetz mit
.Entziehen' bezeichnet, ist nur strafbar, sofern sie durch List, Drohung oder Gewalt
geschieht."
%
Siehe diesbezüglich SK-Horn, §235 R d n . 9 und Bohnert, G A 1978, 362 f.
97
Siehe insofern - je zu § 235 und mit weiteren Nachweisen - statt vieler: Schönke/
Schröder/Eser Rdn. 12, LK-Vogler Rdn. 12 und Dreher/Tröndle Rdn. 7.
98
Siehe hierzu die kritische Abrechnung durch Bohnert in G A 1978, 353 ff; deutliche
Kritik auch bei SK-Horn, §235 Rdn.9.
99
RGSt. 17, 90 (93): seither in ständiger Rechtsprechung, so auch zuletzt BGHSt. 16,
58 (62) und B G H , M D R 1962, 750 (751).
100
O L G Hamburg HESt. 2, 300 (301).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 785
nachdem dieses hinter dem Rücken des anderen Elternteils in der Schule
/ im Kindergarten abgemeldet wurde und nachdem klammheimlich die
Koffer gepackt wurden, ebenso heimlich die Wohnung verläßt, aus dem
Tatbestand des §235 StGB herausfallen. Freilich gewinnt man bei der
Lektüre einschlägiger Entscheidungen gelegentlich den Eindruck, als
würde die Rechtsprechung bezüglich der Annahme von ,Uberlisten' des
kriminalpolitisch noch Sinnvollen hin und wieder doch zu viel tun101.
Damit meine ich - um dies klarzustellen - aber nicht jene Judika-
tur102, wie sie im Schrifttum weitgehend gebilligt wird103 und derzufolge
strafbare Kindesentziehung im Einzelfall auch durch Unterlassen, näm-
lich durch Verschweigen des Aufenthaltsortes des Kindes möglich ist.
Diesbezüglich sind freilich zwei Dinge streng auseinanderzuhalten, was
in den einschlägigen Entscheidungen häufig nicht getan und was auch in
manchen literarischen Äußerungen vernachlässigt wird. Die Frage nach
der Garantenpflicht im Hinblick auf die Abwendung des tatbestandli-
chen Erfolges ist nämlich strikt zu trennen von der völlig andersgearte-
ten Frage nach spezifisch „listigem" Vorgehen104. Wie bei jedem erfolgs-
bezogenen Delikt geht auch beim Erfolgsdelikt des § 235 StGB die erste
Frage dahin, ob jemand nach den anerkannten Regeln des unechten
Unterlassungsdeliktes als Garant für den Bestand des in §235 StGB
geschützten Rechtsgutes in Frage kommt. Eine solche Garantenpflicht -
sei es zur Abwendung eines erst drohenden „Entziehungs"-Erfolges
oder aber zur Aufhebung einer bereits eingetretenen räumlichen (!)
Entfernung - wird meist nur bei (sozialinadäquater, rechtswidriger!)
Ingerenz oder auf Grund gesetzlicher Vorschriften wie beispielsweise
der Herausgabeverpflichtung nach Maßgabe von § 1632 BGB bejaht
werden können105.
101 Zweifelhaft insofern OLG Hamm, JMB1NRW 1966, 236 (237). Andererseits halte
ich es aber auch für einen Fehlschluß, aus der Ablehnung eines „Täuschungs"-Erfordernis-
ses nun bei ganz plumpen und leicht durchschaubaren Lügen auch „List" verneinen zu
wollen; so aber RG JW 1924, 305 und OLG Bremen JR 1961, 107 (108). Auch Bohnert als
engagiertester Verfechter eines engeren „List"-Begriffes verlangt durchaus keine erfolgrei-
che Täuschung (GA 1978, 364).
102 Siehe schon RGSt. 24, 133, RGSt. 37, 162 (165) und RG HRR 1942 Nr. 131 sowie
BGH MDR 1968, 728 sowie BGH (unveröffentlicht: 14.7.1981 - 1 StR 385/81). Vgl. auch
OLG Hamburg HESt. 2, 300 (301) und OLG Bremen JR 1961, 107 (108).
103 Siehe Dreher/Tröndle Rdn. 6, Schönke/Schröder/Eser Rdn.5, Lackner Anm. 3,
Kohlrausch-Lange, StGB (43. Aufl. 1961) Anm. IV - je zu §235 und Kohlhaas UJ 1958,
324; ausführlich dazu auch W.Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 131 ff. Deutlich restriktiv
hingegen und eher ablehnend insofern SK-Horn Rdn. 9, LK- Vogler Rdn. 11 und Bohnert,
GA 1978, 359 f.
104 Methodisch korrekt insoweit vor allem SK-Horn Rdn. 12 ff und LK-Vogler
104
Siehe insofern sowohl RGSt. 37, 162 (166) wie B G H , M D R 1968, 728.
107
So richtig gesehen von SK-Horn, §235 Rdn. 13.
108
Expressis verbis anderer Ansicht insofern aber LK-Vogler, §235 Rdn. 11 (unter
Hinweis auf O L G Bremen, JR 1961, 107).
109
Siehe in diesem Sinn schon das Reichsgericht (Recht 14, 1792 und 16, 1653); vgl.
auch LK-Vogler Rdn. 24 und Dreher/Tröndle Rdn. 8 - je zu §235.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 787
III.
Mit Blick auf die soziale Wirklichkeit heutigen „Muntbruchs" und auf
dem Hintergrund des geltenden Rechts, wie es für § 235 StGB in seinen
für unser Thema zentralen Stellen im Vorangegangenen erläutert wurde,
erscheint mir nach alledem de lege ferenda ein Eingreifen des Gesetzge-
bers im Hinblick auf den uns beschäftigenden Täter- und Opferkreis110
nicht zwingend geboten. Abschließend in aller Kürze:
(1) Der Ruf nach dem Gesetzgeber unterbleibt - das sei vorweg noch-
mals betont - nur auf der Basis der restriktiven Auslegung, wie ich sie im
Vorangegangenen für Kindesentziehungen durch Mitsorgeberechtigte /
ehemals Sorgeberechtigte gegenüber dem sorgeberechtigten Elternteil
insbesondere für das Merkmal „entziehen" schon de lege lata vertreten
und begründet habe. Rein innerfamiliärer Streit um die Ausübung der
Personensorge fällt schon nach geltendem Recht nicht in den tatbestand-
lichen Schutzbereich des §235 StGB.
(2) Das Besuchs- und Verkehrsrecht des nicht-sorgeberechtigten Eltern-
teils fällt nach hier vertretener Ansicht ebenfalls bereits de lege lata nicht
110 Insoweit eher am Rande: Eindeutig änderungsbedürftig ist §235 StGB allenfalls im
Hinblick auf den häufig zitierten reinen „Diebstahl" eines Säuglings ( = nach geltendem
§235 in der Tat nicht strafbar, sofern keine „List" gegenüber einer Aufsichtsperson
konstruiert werden kann). Für diesen Fall - der freilich mehr akademischer Schulfall (vgl.
denn auch Bohnert, JuS 1977, 746: „Der entwendete Säugling") denn reale Verbrechens-
wirklichkeit ist - hat der StGB-Entwurf 1962 in § 196 Abs. 1 eine weitere Tatmodalität
(„entführt") vorgesehen (vgl. auch Amtliche Begründung S.351).
788 Klaus Geppert
111 Von dieser Erfahrung geht auch BVerfG 64, 180 (189) aus; vgl. auch Diederichsen,
N J W 1980, 9.
1,2 Damit sei der Wert und die Notwendigkeit solchen Besuchsrecht für Elternteil und
Kind keineswegs geringgeachtet, sondern diesbezüglich nur - insofern anders als beim
Personensorgerecht - die Sfra/würdigkeit einer entsprechenden Beeinträchtigung verneint.
Hier reichen eben auch andere Sanktionsmodelle.
113 So Amtliche Begründung zu §196 Abs. 1 E 1962 ( a . a . O . S.350).
diese (zuvor nicht erkennbar umstrittene) Tatbestandseinschränkung dann doch nicht die
Mehrheit im Ausschuß gefunden hat. Siehe dazu Eberh. Schwarz, Entführungsdelikte
(Fn.6), S. 150 ff.
118 Bezeichnenderweise wird auch im familienrechtlichen Schrifttum bei Entführung
eines Kindes ins Ausland „als erstes die Erstattung einer Strafanzeige wegen des Verdachts
der Kindesentziehung" empfohlen (so wörtlich Ingeborg Christian, Amtsvormund 1983,
696) und auf die Bedeutung des Strafantrages als taktischer Waffe beim Kampf um die
Rückführung eines entführten Kindes hingewiesen (vgl. DIV-Gutachten vom 21.9.1983 -
Az. J 2.124, veröffentlicht im Amtsvormund 1984, 565, 567).
Vorbereitet werden insbesondere Gesetzentwürfe zu zwei internationalen Verträ-
gen, die eine schnelle Rückschaffung entführter Kinder sicherstellen sollen. Es handelt sich
um das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von
Sorgerechtsentscheidungen und das Haager Ubereinkommen über die zivilrechtlichen
Aspekte von Kindesentführungen. Näheres dazu in „Recht. Informationen des Bundesmi-
nisters der Justiz" 1985, 68 f.
Nötigung durch Gewalt
G Ü N T H E R JAKOBS
Ein früher Aufsatz von Hilde Kaufmann beschäftigt sich mit Irrtums-
problemen bei §240 Abs. 2 StGB 1 . In diesem Absatz der Vorschrift
vermutete man seinerzeit den Sitz der Probleme des Nötigungsdelikts,
bei deren Lösung sich die Strafrechtsdogmatik zu bewähren habe. Diese
Lokalisierung ist mittlerweile passé. Die Konfusionen zur Verwerflich-
keitsklausel haben sich längst mit den - inzwischen nicht geringeren -
Konfusionen zum Gewaltbegriff zu einem Knäuel verwirrt. Die nachfol-
genden Bemühungen gelten dem Versuch, §240 Abs. 1 StGB so zu
interpretieren, daß sich eine Verlegenheitslösung nach Art des Absatzes
2 der Vorschrift erübrigt. Im Mittelpunkt steht die strafrechtsdogmati-
sche Entwicklung des Begriffs der Gewalt, die vielleicht auf ein breiteres
Interesse stößt, weil auch in der Kriminologie der Gewaltbegriff nicht
als sonderlich gesichert gilt2.
I.
1. Die Nötigung, §240 StGB , hat unterschiedliche Wurzeln4. Dieser
3
Mangel an Homogenität ist der Grund dafür, daß die Interpretation der
Gewalt Schwierigkeiten bereitet, seitdem es das Delikt einer Gewaltnöti-
gung gibt. Eine der Wurzeln ist die Entwicklung der allgemeinen
persönlichen Verhaltensfreiheit als Schutzgut, die - nach dem Vorgang
des ALR in II 20 § 1077 - um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
erfolgte5. Es handelt sich um einen strafrechtstheoretischen oder, wie zu
seiner Zeit formuliert wurde, philosophischen Ansatz6. Bei der Durch-
3 Wörtlicher Vorläufer des Tatbestands des §240 StGB a. F. ist §240 Strafgesetzbuch
für den Norddeutschen Bund; Nachweise der landesrechtlichen Vorläufer bei Hälschner,
System des Preußischen Strafrechts, 2. Theil, 1868, S. 178 Fn.4.
4 Hälschner (Fn. 3), S. 177f; Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrecht, Bd.2, hrsg.
von Th. Geßler, 1858, S.417ff; v. Liszt/Schmidt, Strafgesetzbuch, 25. Aufl., 1927, §99.
5 Grolman, Grundsätze der Kriminalrechts-Wissenschaft, 1797, §§ 230 f (zu Grolmans
Lehre siehe Schaff stein, Lange-Festschrift, 1976, S. 983 ff, 997); Tittmann, Beiträge zu der
Lehre von den Verbrechen gegen die Freiheit, insbesondere von dem Menschenraube und
der Entführung, 1806, S. 1-6.
6 Tittmann (Fn. 5), Vorrede.
792 Günther Jakobs
7
Glaser, Abhandlungen aus dem Oesterreichischen Strafrecht, 1858, erkennt, daß die
Hinderung von „Launen" und „Willkür" ein forensisch nicht demonstrierbarer Erfolg ist,
weil er „fast jedem überwachenden Auge sich entzieht" (S. 169); seine Lösung, auch
deshalb müsse es um die Kränkung eines „concreten Rechts" (S. 170, passim) gehen, hilft
freilich nur vordergründig weiter; denn der durch Beeinträchtigung des- „konkreten
Rechts" entstehende Verlust besteht ja auch darin, nicht mehr mittels des Rechts nach
„Laune" und „Willkür" verfahren zu können.
Nötigung durch Gewalt 793
8 Eingehend Wächter, NArch 11 S. 635 ff; den., NArch 12 S. 341 ff, 13 S.44ff, siehe
insbesondere die Kataloge NArch 13 S . 4 4 f und 209 f.
9 Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, Neudruck 1955, S. 652 ff, 655; Mayer-Maly,
Artikel vis, in: Pauly/Wissowa, Realenzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft,
2. Reihe, 17. Halbband, 1961, Sp.310ff, 332 ff; siehe auch die F n . 4 Genannten.
10 NArch 13 S. 44 ff, 209 f; siehe auch Mommsen (Fn.9), S.657f, 662 ff.
11 Der Unterschied zwischen der vis publica und der vis privata ist umstritten, jedenfalls
aber unabhängig von der Unterscheidung zwischen dem Schutz öffentlicher und privater
Interessen; so für das römische Recht Mommsen (Fn.9), S.655; Mayer-Maly (Fn.9),
Sp. 334; für das gemeine Recht Schaffstein (Fn. 5), S. 983 ff, 989 mit Nachweisen.
12 Grundlegend Wächter, NArch 11 S. 635 ff, 640, 647 und ders., NArch 12 S. 341 ff, 13
S. 1 ff, 195 ff, 226, 374 ff: Erfaßt sein soll das Bestimmen wider den Willen jdurch
„unmittelbar physische oder compulsive Gewalt gegen die Person" oder ein Vorgehen,
aufgrund dessen die „Absicht, etwaigen Widerstand durch solche persönliche Gewalt
auszuschließen, unzweifelhaft ist"; dagegen („psychischen Zwang" ausklammernd und
ansonsten das crimen vis nicht für verallgemeinerungsfähig haltend) John, Arch n. F. 1854
S. 60 ff, 71 f, 89 ff. - Zur früheren Entwicklung im gemeinen Recht eingehend Schaffstein
(Fn. 5), S. 983 ff, 985 ff, 998.
13 Siehe die Kritik an Wächter bei Köstlin (Fn.4), S.419; Hälschner (Fn.3), S. 174.
794 Günther Jakobs
Weise des Vorgehens, und zwar „falsch" nicht im Blick auf die Erforder-
nisse eines Freiheitsschutzes, sondern „falsch" für die öffentliche Sicher-
heit und Ordnung. Hälschner14 konstatierte zum gemeinen Recht:
„ . . .selbst da, wo das crimen vis sich lediglich gegen die Persönlichkeit
richtet, (erscheint) dennoch die Beschränkung der Willensfreiheit kei-
neswegs in allen Fällen als das alleinige, oder auch nur vorwiegende und
das Verbrechen besonders charakterisierende M o m e n t . . . Das wesentli-
che des crimen vis . . . bleibt die Form der Rechtsverletzung, die
Gewaltthätigkeit, während das Objekt der Rechtsverletzung unbe-
stimmt bleibt."
3. a) Gewalt, soweit sie sich vom crimen vis herleitet (das freilich auch
Ordnungsstörungen durch abstrakte Gefährdungen umfaßte), ist sicht-
bare Friedensstörung, also Kampf oder durch Taten verdeutlichte
Kampfansage. Die Auswirkungen dieses Ansatzes werden dort beson-
ders anschaulich, wo es um das Problem geht, ob zur Gewalt eine
Kraftentfaltung und eine Körperwirkung gehören. Was die Kraftentfal-
tung angeht, so hat das Reichsgericht Einsperren stets als Gewalt
behandelt, auch wenn es ohne besondere Kraft durch Schließen eines
Schlosses geschieht 15 . Hingegen soll die heimliche Eingabe eines Narko-
semittels nach dem Reichsgericht keine Gewalt sein16. Der Grund liegt in
der Art und Weise des Vorgehens: Einschließung ist wie jede Gefangen-
nahme als Kampfhandlung oder als Selbsthilfe („Privatkerker") geläufig;
aber heimliches Narkotisieren gehört jedenfalls zur Zeit des gemeinen
Rechts und der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht zu den
Tricks, die man der Kriegskunst zuordnet. Das Reichsgericht argumen-
tiert zur Frage, ob ein heimliches Narkotisieren zum Zweck einer
Sachwegnahme Raub ist, wie folgt: „Ein Kampf um die Sache soll
vermieden, nicht aber durch offene Uberwindung des Gegners durchge-
führt werden 17 ." Dabei ist „offene" Uberwindung als sichtbar unange-
messene Uberwindung zu verstehen; auch der hinterrücks und überra-
schend erfolgende Schlag ist Gewalt 18 . Heimliche Schläge sind noch
sichtbar kriegsähnlich, heimliche Gabe von Narkosemitteln hingegen
nicht.
Entsprechende Probleme zeigen sich bei der Frage, ob eine Gewalt-
wirkung notwendig Körperwirkung sein muß. Beim Einsperren hat sich
14 (Fn. 3) S. 174 f; der Sache nach unstreitig; siehe heute Schaffstein (Fn. 5), S. 983 ff,
988.
15 Schon R G 13 S. 49 ff; das war nicht stets außer Streit; Tittmann (Fn.5), S. 6 will
„bloß todte Kraft, wie z . B . bei der Gefangenhaltung", nicht hinreichen lassen.
16 R G 56 S. 87 ff.
18 Nicht stets unstreitig; Wächter, NArch 13 S. 7 sieht heimliche Tötung nicht als
Gewalt an.
Nötigung durch Gewalt 795
wickeln; denn beim crimen vis hatte dieser Gewaltbegriff seine Kontu-
ren erhalten. Wenn das Reichsgericht21 in einer Entscheidung formuliert,
„das deutsche Recht" habe „in seiner geschichtlichen Entwicklung von
den ältesten Bestimmungen an bis zur Gegenwart" unter Gewalt immer
dasselbe verstanden, nämlich Einsatz von „Körperkraft" gegen einen
„Widerstand", so ist dies weder richtig22 noch erheblich; denn die älteren
Bestimmungen stehen in einem anderen Interpretationszusammenhang
als diejenigen der Gegenwart (um einen allgemeinen Nötigungstatbe-
stand geht es überhaupt erstmals im ALR).
Es mutet fast wie eine Kuriosität an, daß sich der Bundesgerichtshof
in seinen beiden viel gescholtenen Urteilen, die den extensiven Gewalt-
begriff entwickeln, auf die Tradition vor der Schaffung eines generellen
Nötigungstatbestands hätte berufen dürfen. Er hätte die in Aussicht
genommene Gewalt der einen Generalstreik planenden FDJ-Sekretäre 23
oder die Gewalt der Straßenbahnschienen massenhaft besetzenden Stu-
denten und Schüler24 nicht allein auf die Zwangswirkung des Verhaltens
stützen, sondern auch das generell Unangemessene und die öffentliche
Ordnung Störende der Vorgehensweise berücksichtigen können. Gene-
ralstreik und Straßenblockade sind ja von den Taten, um die es beim
crimen vis ging, nicht weit entfernt, jedenfalls weniger weit als manche
Nötigungen, die sich als Kraftentfaltung mit Körperwirkung erfassen
lassen. Wer sich gegen die genannten Urteile auf einen „alten" oder gar
„klassischen" Gewaltbegriff beruft, sollte also erläutern, welches Alter
er meint und wieso die teleologische Aspekte vernachlässigende Begriffs-
jurisprudenz des frühen Reichsgerichts eher klassisch sein soll als das
gemeine Recht.
II.
1. Daß der Gewaltbegriff bei der Nötigung nach und nach zerfallen
mußte, heißt nicht, mit dem übriggebliebenen Trümmerstück, nämlich
mit dem Begriff der Zwangswirkung, habe man ein Zaubermittel in der
Hand. Der Begriff leistet nichts, solange man ihn - einer verbreiteten
Interpretation entsprechend - nur psychologisierend oder nach den
Regeln der Physik deutet. Zwangswirkungen gibt es bei diesem Ver-
ständnis beispielsweise als Effekt der Triebe des Menschen, als Angst vor
21 RG 56 S. 87 ff, 88.
22 Der vom crimen vis abgeleitete Gewaltbegriff hatte immer auch einen anderen Inhalt;
ansonsten war zumindest der Einsatz von Pseudokraft streitig, und auch unabhängig vom
Widerstand einer Person stattfindende Gewalt gegen Sachen ist immer diskutiert worden;
siehe ferner oben I 3 a zum Einsperren und Wegeversperren.
23 B G H 8 S. 102 ff.
24 B G H 23 S. 47 ff.
Nötigung durch Gewalt 797
Gefahren wie als Verlockungen des Glücks, als Hindernisse und als
Fehlen der Mittel, um Hindernisse zu überwinden, als Folgen physi-
scher und psychischer Bande, und letztere können insbesondere dann
zwingen, wenn man sie umgangssprachlich als zart bezeichnet. Ein so
ubiquitär vorkommendes Ereignis, wie es eine solche Zwangswirkung
ist, kann nicht das Unrecht eines Tatbestands begründen25.
2. Bei der Suche nach einer tauglichen Begründung des Unrechts lassen
sich Verwirrungen vermeiden, wenn die zwei folgenden Problemkreise
getrennt werden, die in der Tradition des crimen vis immer wieder
vermengt worden sind und heute innerhalb der - bei exakter Interpreta-
tion von Nötigungsgewalt und Nötigungserfolg restlos überflüssigen -
Verwerflichkeitsklausel häufig vermengt werden. Erstens geht es darum,
welches erzwungene Verhalten überhaupt tatbestandsmäßiger Erfolg
eines Nötigungsdelikts ist, zweitens muß bestimmt werden, wie der
Zwang zum Verhalten gestaltet sein muß, um von Gewalt (oder Dro-
hung) sprechen zu können. Beim ersten Problemkreis geht es nicht um
den Gewaltbegriff, sondern um das abgenötigte Verhalten; aber es
entlastet die Diskussion um den Gewaltbegriff, wenn präzise bestimmt
wird, was für ein Verhalten nicht erzwungen werden darf.
Was den ersten Problemkreis angeht, so ist die simple Erkenntnis
hilfreich, daß das Recht, ohne sich selbst zu widersprechen, nicht
zugleich die Freiheit zu einem bestimmten Verhalten anerkennen und
eine Pflicht zu einem gegenteiligen Verhalten aufstellen kann. Wenn die
Nötigung Verhaltensfreiheit schützt, kann dies nur solche Freiheit sein,
die dem Opfer auch rechtlich zusteht, die also nicht vom Recht an
anderer Stelle dem Opfer genommen wurde. Nur der Verlust rechtlich
anerkannter Freiheit (genauer: rechtlich allgemein anerkannter Freiheit;
in besonderen Zusammenhängen - Rechtfertigungslagen — mag die
Freiheit verlorengehen) kann Erfolg der Nötigung sein26.
Zuordnungen (etwa Eigentum). Man darf den zuordnenden Normenkomplex nicht mit
dem die Zuordnung schützenden konfundieren. - Weiterhin heißt es, sehe man nur
rechtlich anerkannte Freiheit als Gut an, so werde bei der Nötigung die Tatbestandsmäßig-
keit mit der Rechtfertigung vermengt: Ein Rechtfertigungsgrund zugunsten des Nötigen-
den lasse beim „Opfer" schon das Gut entfallen (S. 34). Ob nicht für die Behandlung von
Tatbestand und Rechtfertigung auf einer Ebene beim Schutz der Verhaltensfreiheit gute
Gründe sprechen, mag dahinstehen; denn die Lösung läßt sich auch mit einer Trennung
von Tatbestand und Rechtfertigung vereinbaren. So wie Leben allgemein ein rechtlich
anerkanntes Gut ist, aber im besonderen Zusammenhang einer Rechtfertigungslage, etwa
einer Notwehrlage, den Schutz verlieren kann, so auch die Freiheit. Insoweit heißt die
rechtliche Anerkennung eines Guts also: allgemein, abgesehen von besonderen Zusam-
menhängen, rechtlich anerkannt. Bei der Freiheit besteht freilich die Eigenheit, daß in
besonderen Zusammenhängen auch Freiheiten zu rechtlich geschütztem Verhalten entste-
hen können, eben die Freiheiten zu gerechtfertigtem Verhalten. Auch diese Freiheiten
genießen Schutz. Der Tatbestand der Nötigung ist also bei Verletzung sowohl der
allgemeinen als auch der in besonderen Zusammenhängen entstehenden Freiheiten ver-
letzt. Beispiel: Ein Angegriffener wird von einem Dritten bei dem Versuch gehindert, sich
im Rahmen der Notwehr durch Wegstoßen des Angreifers zu wehren; - der Angegriffene
versucht, den Angreifer zu nötigen (abgesehen von besonderen Rechtfertigungslagen ist
jedermann garantiert, nicht weggestoßen zu werden), aber gerechtfertigt; der Dritte nötigt
den Angegriffenen rechtswidrig.
Nötigung durch Gewalt 799
sen. - Wer seinen säumigen Schuldner durch Prügel zur Zahlung zwingt,
begeht zwar Körperverletzung, aber keine Nötigung (jedenfalls was die
Zahlung als abgenötigtes Verhalten angeht), da das Recht dem Schuldner
kein Recht zur Nichtzahlung einräumt. Gewiß mag man in diesem Fall
ein Unrecht darin sehen, daß der Gläubiger das zugehörige Verfahren
umgeht, aber dies ist kein Unrecht eines Delikts gegen die Verhaltens-
freiheit.
b) Der Umfang der Gewalt wäre aber immer noch viel zu weit:
Schlechthin jede Pflicht wäre per Nötigung strafrechtlich für den Fall
abgesichert, daß sich der durch die Pflicht Begünstigte auf die Erfüllung
einstellt. Ein solches Ergebnis, also eine kaum noch steigerbare Straf-
rechtshypertrophie, versuchen die Vertreter des extensiven Gewaltbe-
griffs entweder über die Verwerflichkeitsklausel oder dadurch zu korri-
gieren, daß besondere Anforderungen an die Intensität der Zwangswir-
Gewaltbegriff.
800 Günther Jakobs
nur vor, wenn sich das Opfer ungern, innerlich widerstrebend oder sich-genötigt-fühlend
auf die Situation einlasse. Das ist ein psychologistisches Mißverständnis. Es kommt
vielmehr darauf an, ob das Opfer sein Verhalten an der Gewalt ausrichtet, weil es das muß.
Das kann auch der Fall sein, wenn es nach seinen Wertungen - die ohne Gewalt freilich
nicht verhaltensbestimmend wären - die Konsequenzen der Gewalt erfreulich findet.
Hierbei ist weniger an Masochisten zu denken, als an Personen, die das verhinderte
Verhalten nur ungern vollzogen hätten, aber keinen hinreichenden Grund fanden, es nicht
zu vollziehen. Beispiel: Wenn die Soldaten einer blockierten Kaserne froh sind, nicht
ausrücken zu müssen, so sind sie dennoch genötigt, wenn sie aufgrund der Blockade in der
Kaserne bleiben (a.A. Schroeder, NJW 1985 S.2392f). Dies gilt nicht nur bei offen
fremdbestimmter Tätigkeit. Beispiel: Auch wenn dem Marathonläufer eine Straßensperre
ein willkommener Grund zum Abbruch der Selbstquälerei ist, bleibt der Abbruch abgenö-
tigt, falls der Läufer nur aufgrund der Sperre aufhört. Zwang ist normativ zu bestimmen,
nicht per Innerlichkeit. - Irrelevant ist nicht nur das empfundene Maß an Zwang, sondern
auch, ob das Geschehen „als nicht nur seelischer, sondern auch körperlicher Zwang
empfunden" wird (BGH 23 S. 126 ff, 127). Es geht nicht um ein Delikt, dessen Erfolg oder
Mittel sich adäquat durch Empfindungen beschreiben ließen, schon gar nicht durch die im
Zitat genannte diffuse Empfindung (wenn nicht gar: Empfindungstäuschung). Schlagender
als jede Widerlegung der Empfindungslehre wirken die Versuche, sie anzuwenden; siehe
OLG Köln StV 1985 S. 171 ff (insbesondere S. 372 rechte Sp., wo das Gericht in seiner Not
„als körperlich" gegen „wie körperlich" vertauscht; ebenso OLG Köln StV 1985 S.457
rechte Sp.); wie die Polizei Blockaden zu seelischem Zwang sublimieren kann (diese
Verwechslung von Ruhe und Ordnung mit Zwanglosigkeit bringt eine die sogenannte
Vergeistigung des Gewaltbegriffs konterkarierende Vergeistigung der Zwangswirkung
durch die Exekutive), zeigen OLG Köln NJW 1983 S.2206f; LG Münster StV 1985
S.417f.
12 Daß Gewalt verübt, wer eine Person gegen ihren Willen an eine abgelegene Stelle
fährt und dort auch noch verhindert oder zumindest erheblich erschwert, daß die Person
Nötigung durch Gewalt 801
das Fahrzeug verläßt, sollte nicht in Frage gestellt werden. Wenn der Bundesgerichtshof in
einer Entscheidung zu § 177 StGB (BGH NJW 1981 S. 2204 ff, 2205 f) anders formuliert,
so hat dies - soweit ersichtlich - einen besonderen Grund: Das Landgericht hatte offenbar
die Frage, ob das abgenötigte Verhalten auf der Gewalt beruhte, mit wenig überzeugenden
Gründen (wenn überhaupt mit Gründen) bejaht. Zur Skepsis war Anlaß geboten, weil
einiges dafür sprach, daß schon die Autorität des Täters, der Lehrherr des Opfers war, das
Opfer zur Duldung gebracht haben konnte. Die Kritik an der Uberzeugungsbildung der
Tatrichter hat der Bundesgerichtshof in das - freilich unpassende - Gewand einer Ein-
schränkung des Gewaltbegriffs gesteckt. Auch die nachgeschickte Presseerklärung des
Bundesgerichtshofs vermengt den Gewaltbegriff mit der Kausalität von Gewalt (a.a.O.
S.2206).
53 Die Unterscheidung von absoluter und compulsiver Gewalt ist wenig ertragreich.
Phänotypisch kann man zwischen zwei Fallgruppen unterscheiden: (a) Ein Bereich des
freien Verhaltens ist definitiv verloren (vom Opfer nicht variierbare Gewaltwirkung).
Beispiel: Ein Auto wird zerstört, und deshalb kann eine Fahrt nicht stattfinden, (b) Ein
Bereich freien Verhaltens ist definitiv verloren, wenn das Opfer den Verlust nicht in einen
anderen Bereich umschichtet (vom Opfer variierbare Gewaltwirkung). Beispiel: wie zu a,
aber das Opfer kann durch Aufwendung von Zeit und Geld ein Ersatzfahrzeug beschaffen
oder sich zu Fuß zum Zielort begeben. Auch in dieser Fallgruppe ist Freiheit definitiv
verloren, nur hängt noch von der Umschichtung durch das Opfer ab, welche Freiheit das
sein wird. - Beide Fallgruppen können zusammentreffen. Beispiel: Von der Vorgehens-
weise, insbesondere vom Aufwand beim Löschen hängt es ab, wieviel und was von einer
brennenden Wohnung erhalten werden kann (aber jedenfalls nicht alles).
34 Köhler, Leferenz-Festschrift, 1983, S. 511 ff, 516 ff verneint Nötigung bei allen
Zwangsmitteln, die nicht (auch) Drohung sind, selbst wenn sie sich gegen Leben, Leib und
Freiheit richten; Köhler sieht den „Erfolgsunwert" des Zwangs einzig „darin, daß die aus
autonomer Vernünftigkeit an sich freie Selbstbestimmung des Subjekts instrumentalisiert
802 Günther Jakobs
Leben, Leib und Freiheit gebunden. Einer Person stehen in aller Regel
auch andere Organisationsmittel als die soeben genannten aktuell zur
Verfügung, etwa soziale Kontakte, Eigentum (insbesondere Werkzeuge
und sonstige Arbeitsmittel), Hausrecht, Recht zum Gemeingebrauch
u. a. m. Der enge Gewaltbegriff, der sich an die Bedrohung oder Verlet-
zung von Leben, Leib und Freiheit anhängt, verkürzt die Person auf ein
biologisch bestimmtes Minimum. Person ist aber nicht nur Leib. Es gibt
eine Fallgruppe, an der man die Verkürzung der Person auf ihre biologi-
sche Existenz ad absurdum führen kann. Es handelt sich um Fälle der
Wegnahme und der Zerstörung von Körperersatzteilen, also Brillen,
Hörgeräten, Prothesen, Krücken u. a. m. O b man einen Menschen
lahmschlägt oder die Krücken eines lahmen Menschen zerbricht, führt
nicht nur zu einer äquivalenten Zwangswirkung (was, allein genommen,
nichts besagt), sondern auch auf äquivalente Weise, nämlich durch
Eingriff in die Organisationsmittel der Person. Was aber für den Lah-
men seine Krücken sind, ist für den Handelsvertreter sein Automobil,
für den Fischer sein Schiff etc.; Differenzierungen wären hier ganz
willkürlich. Es ist eben falsch, sich bei der Bestimmung der Gewalt das
Opfer nur als beseelten Leib in einer ihm ansonsten nicht gehörenden
Umwelt vorzustellen; das Opfer ist Person und deshalb ein Subjekt, zu
dem auch Außerleibliches gehören kann und - vom Neugeborenen
abgesehen - praktisch auch immer gehört.
und gegen sich selbst . . . gerichtet wird" (S. 517). Das wäre richtig, wenn es um die
Beurteilung des Genötigten ginge: Nachgeben ist im Gegensatz zum Nicht-Können
unheroisch. Ansonsten freilich kann fremde Freiheit nicht nur aufheben, wer sie instru-
mentalisiert, sondern auch, wer ihre Bedingungen zerstört. Es geht nicht um die Pervertie-
rung aktuell stattfindender Motivationsprozesse, sondern um einen Eingriff in zustehende
Freiheitsbedingungeh. Wie Köhler wohl auch Marxen, KG 1984 S. 54 ff, 57. - Zur
Darstellung des Stands der Rechtsprechung und Literatur siehe Bergmann (Fn.26),
S. 65 ff, 81 ff; ders., Jura 1985 S.457ff; Wolter, NStZ 1985 S. 193 ff, 245ff; zu Bergmanns
eigener Lösung siehe Jakobs, ZStW 95 S. 690 ff, 694 f. Zu Calliess, Der Begriff der Gewalt
im Systemzusammenhang der Straftatbestände, 1974, und Keller, Strafrechtlicher Gewalt-
begriff und Staatsgewalt, 1982 (siehe auch Brink und Keller, Fn. 25, S. 107 ff; ders., JuS
1984 S. 109 ff), siehe Jakobs, ZStW 91 S. 657 ff und 95 S. 684 ff. - Nach den Bemühungen
von Calliess und Keller, auch eine besondere Qualität der Beeinträchtigung von Leben,
Leib und Freiheit auszumachen (was freilich auf den hier kritisierten naturalistischen
Personbegriff hinausläuft; siehe zur Kritik auch Giehring Fn. 25, S. 525), faßt Wolter,
a.a.O. S. 196f, die Beeinträchtigung nunmehr eher quantitativ: „Die Gewaltanwendung
als Typisierung eines schwerwiegenden Angriffs auf das Rechtsgut Freiheit zielt auf primär
körperliche Einwirkungen gegenüber dem Tatopfer" (S. 196). Es ist dann von einer
„besonderen .Tabuzone'" des Bereichs der Körperintegrität sowie von erhöhter Gefähr-
dung der Existenz die Rede. Aber weshalb dies nicht schon beim Hausfrieden oder erst
beim Leben so ist, weshalb also der Schnitt gerade zwischen Körper und Nicht-Körper
verläuft (Eigentum wird ja auch nicht nur gegen Raub geschützt etc.), bleibt ebenso offen
wie die Frage, ob die Bedingungen der Freiheit überhaupt in direkter Relation zu den
Bedingungen der physischen Existenz (und nur zu diesen) stehen.
Nötigung durch Gewalt 803
35 Verhaltensfreiheit ist ein Recht, dessen Ausübung faktische Grundlagen hat; sie ist
aber nicht voll im Faktischen auflösbar. Inhalt des Rechts ist die Garantie ungestörter
Organisation. Jede Person kann genötigt werden, die ein Recht auf Organisation haben
und - selbst oder durch andere - ausüben kann, also auch eine juristische Person. Beispiel:
Wer den Geschäftsführer einer GmbH einsperrt, damit er ein bestimmtes Geschäft für die
GmbH nicht tätigen kann, nötigt nicht nur die natürliche Person, sondern auch die
Gesellschaft (wenn der Geschäftsführer deren Geschäfte effektiv zu führen begonnen hat,
siehe dazu Fn. 39). Das ist insbesondere für die Bestimmung des Unrechtsquantums
bedeutsam: Dessen Hauptmasse kann bei der juristischen Person (oder bei einer natürli-
chen Person, deren Geschäfte besorgt werden sollen) liegen und nicht bei demjenigen, der
ihre Geschäfte besorgen wollte; so verhält es sich etwa, wenn im Beispielsfall das
Einsperren nur Minuten dauert, der GmbH aber ein Millionengeschäft verlorengeht. Im
Fall B G H 23 S. 46 ff wäre also auch darauf abzustellen gewesen, daß neben den Straßen-
bahnfahrern und den Mitgliedern des Rats der Stadt jedenfalls die Stadt selbst in ihrer
Freiheit betroffen war, Verkehrsbetriebe durchzuführen (a. A. wohl die ganz überwie-
gende Ansicht; siehe auch Fn.31).
36 Das Problem der Gewalt gegen Dritte brachte keine Schwierigkeiten, solange die
Gewalt noch im Blick auf das crimen vis bestimmt wurde: Sie war das jedenfalls
unangemessene und deshalb unrechtsbegründende Mittel (RG 17 S. 82 ff, 83). So wie das
Mittel hinter den Nötigungseffekt zurücktrat, wurde diese Lösung problematisch, und
man versuchte, eine Zwangswirkung per „Sympathie" mit dem Dritten (also dem Gewalt-
opfer) zu konstruieren (schon besser B G H 8 S. 102 ff, 104: nicht Sympathie, sondern
Pflicht; etwas kurios BGH 23 S.47ff, 50: der „räumliche Abstand" soll neben anderem
relevant sein). Die Fälle einer Sorgepflicht sollten außer Streit sein (Eltern - Kinder;
Ehegatten; Regierung - Bevölkerung etc.). Aber eine Pflicht ist keine notwendige Bedin-
gung; denn der Täter muß es gelten lassen, wenn andere Personen ihre Organisationskreise
vereinigen, solange die stattfindenden Vereinigungen, möglicherweise auch als Ad-hoc-
Maßnahmen, vom Recht gebilligt werden. Für die praktisch relevanten Fälle heißt das:
Soweit das Recht die Leistung, die zugunsten des Dritten erfolgt, gemäß den Regeln der
Geschäftsführung ohne Auftrag als vernünftig anerkennt, sind die Güterhaushalte des
Dritten und des Leistenden rechtmäßig vereinigt. Die garantierten Rechte des Dritten sind
insoweit auch diejenigen des Leistenden. In der Terminologie von § 239 a StGB: Es kommt
804 Günther Jakobs
nicht darauf an, o b sich der Leistende sorgt, sondern ob er sich so verhält, daß dies
Gesch'ihsbesorgung ist. - Wird zugunsten des Dritten mehr geleistet, als nach rechtlichen
Maximen angebracht ist, so wird immerhin auch das Angebrachte geleistet; also ist zwar
die Leistung des Uberschusses nicht abgenötigt, wohl aber die Basisleistung. - D e r
Nötigende selbst kann durch die Geschäftsbesorgung begünstigt werden: Gewiß kann
niemand gegen sich selbst ein garantiertes Recht verletzen, aber soweit ein anderer seinen
Güterhaushalt mit demjenigen des Täters wirksam verbinden kann, richtet sich eine
Obliegenheitsverletzung nicht mehr nur gegen den Täter selbst. Beispiel: Blockiert jemand
die Ausfahrt eines Lastwagens unter Umständen, bei denen es per N o t w e h r gerechtfertigt
wäre, ihn zu überfahren, so besorgt, wer nicht N o t w e h r übt (also auf die Ausfahrt
verzichtet), ein Geschäft des Blockierenden, wird also genötigt. - Die üblichen Blockade-
fälle bieten weniger Probleme: Abgesehen davon, ob der Blockierte überhaupt faktisch
„durchkommen" kann, scheitert N o t w e h r regelmäßig an der Übernahme der Abwehr
durch die Polizei (siehe Jakobs, A T , 1983, 12/45).
Nötigung durch Gewalt 805
er in das Eigentum ein, und dem Eigentümer ist garantiert, daß dies
unterbleibt; deshalb sind dem Täter dann auch die Nötigungsfolgen
zuzurechnen, mit anderen Worten, dieser Eingriff ist Gewalt.
Freilich ist unverkennbar, daß diese Differenzierungen an den Gren-
zen der absoluten Rechte material nicht mehr zu legitimieren sind. Das
muß aber auch so sein: Da es keine Person im Recht losgelöst von den
Gestalten und den Techniken des Rechts gibt, müssen die Nötigung und
damit auch die Gewalt akzessorisch gebildet werden, was heißt, daß die
Grenzfälle der Freiheit gestaltenden Rechtsgebiete auch zu Grenzfällen
des strafrechtlichen Freiheitsschutzes werden37.
Es gibt zum absoluten Recht funktionale Äquivalente, und auch diese
führen zu einer garantierten Position beim Inhaber des Rechts. Einige
Äquivalente sollen genannt werden. Offenbar äquivalent sind die
Rechte, die als Kehrseite der Garantenpflichten beim begehungsgleichen
Unterlassungsdelikt entstehen. Die Funktion dieser Garantenpflichten
liegt gerade darin, daß dem Begünstigten eine Leistung normativ so
sicher zugeordnet wird, als könnte er sie selbst erbringen, das heißt, als
könnte er eigene Organisationsmittel einsetzen. Deshalb ist die Verlet-
zung dieser Garantenpflichten gleichfalls Gewalt. Beispiel: Wer auf
einen Polizisten mit einem Kraftwagen zufährt, um diesen zum Beiseite-
springen zu bewegen, nötigt ihn mit Gewalt, gleich ob er aktiv handelnd
Gas gibt oder garantenpflichtwidrig nicht bremst.
Ein weiteres funktionales Äquivalent sind Eingriffsrechte, also
Rechtspositionen bei Rechtfertigungsgründen. Durch einen Rechtferti-
gungsgrund wird dem Begünstigten die Befugnis erteilt, seine Organisa-
tionen bis in einen fremden Organisationskreis hinein auszudehnen; die
Verhinderung solcher Organisationen ist deshalb wie die Verhinderung
der Nutzung eigener Organisationsmittel zu behandeln.
Ein nahezu von jedermann alltäglich benötigtes Äquivalent der abso-
luten Rechte ist das Recht auf Gemeingebrauch. Die funktionale Äqui-
valenz wird deutlich, wenn man statt des Gemeingebrauchs ein Mitei-
gentum aller Bürger denkt. Dieses Recht ist ein Anspruch, aber mit der
Besonderheit, daß ihn jedermann jederzeit im Rahmen des rechtlich
Zulässigen selbst realisieren darf. Wer das Selbst-Realisieren verhindert,
haftet demgemäß wie bei einem Eingriff in fremde Organisationsmittel.
Als Beispiel sei auf das viel behandelte rechtswidrige Versperren eines
öffentlichen Wegs verwiesen. Zwar ist niemandem garantiert, daß er eine
Straße frei von denjenigen Beschränkungen nutzen kann, die ein recht-
mäßiges Verhalten anderer Benutzer nun einmal mit sich bringt. Eine
37 Die Ergebnisse werden bei den Eigentumsdelikten partiell über die Rechtswidrigkeit
der Zueignung korrigiert und bei der Nötigung dadurch, daß ein Verhalten, zu dem der
Gezwungene verpflichtet ist, kein tatbestandsmäßiger Nötigungserfolg ist, siehe oben II 2.
806 Günther Jakobs
e) Die Verletzung von Rechten, die nicht so stark wie garantierte Rechte
sind40, ist keine Gewalt, weil diese Rechte nicht den eigenen Organisa-
solchermaßen lebenswichtig, daß ein Äquivalent für das Fehlen der Garantie bestehen
muß. Abgesehen von der Möglichkeit, Schadensersatz zu verlangen, ist das wichtigste
Nötigung durch Gewalt 807
garantierte Rechte angegriffen werden können (darauf beruht die Möglichkeit von Erpres-
sung und Betrug; zur List als Gewalt unten 115). Ferner kann die Inhaberschaft eines
Anspruchs als absolutes Recht behandelt werden (dies erfolgt etwa beim Mißbrauchstatbe-
stand der Untreue).
42 So Däubler in Baumann u.a. (Hrsg.), Studien zum Wirtschaftsstrafrecht, 1972,
5. 91 ff, 99, der im übrigen die Ambivalenz nicht verkennt, S. 119.
808 Günther Jakobs
5. Mit der Deutung der Gewalt als Verletzung garantierter Rechte klärt
sich auch das intrikate Verhältnis von Gewalt und List. Üblicherweise
entnimmt man der Formulierung des Gesetzes, bei Freiheitsberaubung
sei jedes Mittel, auch List, tatbestandsmäßig, bei Nötigung scheide List
hingegen aus. Letzteres wird freilich meist partiell zurückgenommen:
Nicht allein die nur vorgeblich ernsthafte Drohung - also die listige
Vorspiegelung einer ernsthaften Drohung - soll bei Nötigung hinrei-
chen, sondern zur Nötigungsgewalt rechnet man den Einsatz von Pseu-
dokraft mit der Vorspiegelung, Widerstand sei zwecklos. Noch mehr
verwickelt sich das Verhältnis von Gewalt und List, wenn man darauf
schaut, daß Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit Gewalt sein sollen,
obgleich diese Eingriffe jedenfalls bei der Freiheitsberaubung nach §239
StGB auch durch List erfolgen können, und zwar nicht nur mit List
beginnend und zur Gewalt übergehend (listiges Locken in einen Raum,
der dann abgesperrt wird), sondern auch durchgehend listig (Fesseln ans
Haus durch die Lüge, um das Haus herum schwebe eine Giftgaswolke).
Die Gründe für die Verwirrungen liegen nicht nur beim Gewaltbe-
griff, sondern auch bei einer zu sorglosen Ausdehnung der List. Setzt
man List mit jeder Täuschung und jeder Lüge gleich, so ergeben sich
zahlreiche Fälle, in denen nicht ersichtlich ist, weshalb der listig Vorge-
hende für das Ergebnis als Garant zuständig sein soll; denn daß jemand
lügt oder sonstwie täuscht, heißt nicht schon, der Adressat habe ein
Recht auf Wahrheit. In denjenigen Bereichen, in denen es keine Garantie
der Wahrheit gibt, kann List überhaupt keine Tatmittel sein, auch nicht
bei Freiheitsberaubung. Beispielhaft gesprochen: Wer im Hausflur sei-
nen Wohnungsnachbarn, der soeben zu einem Spaziergang aufbrechen,
will, belügt, es herrsche besonders übles Wetter oder wegen einer
Demonstration komme man nirgends durch, hindert den Adressaten
listig daran, das Haus zu verlassen. Dies ist freilich ebensowenig Nöti-
gung, wie es Freiheitsberaubung ist; denn im Bereich der alltäglichen
Gelegenheitsgespräche besteht kein Recht auf Wahrheit, da der Sinn
solcher Kontakte so diffus ist, daß sich Haftung im Fall mangelnder
Korrektheit damit nicht verträgt. Also bleibt der Adressat für die
Nötigung durch Gewalt 809
III.
Das gewonnene Ergebnis - Gewalt als Verletzung garantierter Rechte
- kann nicht ohne Auswirkungen auf die Interpretation der nötigenden
Drohung44 bleiben. Wenn Gewalt nur die Beeinträchtigung der garan-
Wirkung (oben Fn. 33). Auch wenn der Drohende nur vorgeblich in der Lage oder willens
ist, die angedrohte Verletzung garantierter Rechte durchzuführen, handelt es sich um
aktuelle Gewalt, denn schon der Bedrohungseffekt ist ein Einbruch in dem Opfer
garantierte Rechte (siehe §241 StGB); mit anderen Worten, eine Drohung nimmt der
810 Günther Jakobs
erfüllen, falls der Gläubiger mehr als den vereinbarten Preis zahlt, so ist
dies ein Vertragsbruch, aber weder Nötigung noch Erpressung, es sei
denn, der Schuldner wäre Garant dafür geworden, daß die Leistung
erbracht wird.
IV.
Die bisherigen Ausführungen betreffen die Frage, wie (der Nöti-
gungserfolg und) die Nötigungsmittel zu interpretieren sind. Damit ist
freilich nicht auch entschieden, ob es immer dann, wenn mit einem
Nötigungsmittel ein Nötigungserfolg herbeigeführt wird, erforderlich
ist, zu strafen. Die Verhaltensfreiheit ist über zahlreiche strafbewehrte
Rechtsgüter, von denen sie verdinglicht wird, abgesichert, hauptsächlich
über die Organisationsmittel Leben, Leib, Fortbewegungsfreiheit und
Eigentum. Die Ausgestaltung der Nötigung hat von den Schutzbedin-
gungen dieser Verdinglichungen abzusehen und sich an den Bedingun-
gen der Verhaltensfreiheit selbst zu orientieren; eine so orientierte
Ausgestaltung wurde hier für den objektiven Tatbestand entworfen. Für
den subjektiven Tatbestand ist damit nur präjudiziert, worauf sich der
Vorsatz mindestens beziehen muß. Was die Vorsatzform betrifft, so
spricht wegen des starken Schutzes der Verdinglichungen einiges dafür,
daß eine Pönalisierung derjenigen Beeinträchtigungen garantierter Frei-
heiten, die als Nebeniolge eines Angriffs auf Verdinglichungen eintreten,
verzichtbar ist. Aber auch über weitere Spezifizierungen des Vorsatzge-
genstandes ist noch zu befinden, insbesondere über eine Beschränkung
der Absicht dahin, die Freiheit nicht nur zu zerstören, sondern das
Defizit zu nutzen („Freiheitsverschiebung"). Ein gesonderter Schutz der
Verhaltensfreiheit mag sogar noch weiter reduziert werden, wenn der
Schutz der Verdinglichungen komplettiert wird und der Freiheitsverlust
bei der Strafzumessung für Angriffe auf die Verdinglichungen berück-
sichtigt werden kann.
Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach
griechischem Recht aus der Sicht des Mediziners
N I K O L A O S S. FOTAKIS
' Siehe Iliopoulos, T.: System des griechischen Strafrechts. Athen 1927, 4. Aufl., Bd. A,
S.453, Choraphas, N.: a) Griechisches Strafrecht. Allgemeiner Teil. Athen 1943, Bd. A,
S. 74 und b) Strafrecht. Allgemeine Grundsätze. Athen 1966, 8. Aufl., Bd.A, S.227,
Katsantonis, A.: Die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht. Athen 1972, Bd.A,
S. 158 u. 201, Bouropolos, A.: Kommentar zum StGB. Allg. Teil. Athen 1959, Bd. A, S. 54,
Karanikas, D.: Grundriß des Strafrechts, Allg. Teil. Thessaloniki-Athen 1960, Ausg. B,
Bd.A, S.84, Sissiadis, / . : Strafrecht. Allg. Teil. Thessaloniki-Athen 1971, Bd.A, S.257
und Tsarpalas, A.B.: Die strafrechtliche Bewertung der therapeutischen Eingriffe. Athen
1976, S. 301 u. 303 ff.
2
Philippides, T. G.: Strafrecht. Sonderteil. Sakkoula 1981, Bd.b, S. 185.
3
Philippides, T. G.: Die Einwilligung des Verletzten. Habilitationsschrift. Thessaloniki
1951, S. 150.
814 Nikolaos S. Fotakis
11
Philippides, T. G.: Die Einwilligung des Verletzten. S. 186 A n m . 2 u. S. 150 Anm.3.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 817
Arztes (seine Kenntnis und sein Wille) nicht auf die Hervorrufung einer
Körperverletzung oder des Todes gerichtet ist, sondern im Gegenteil auf
die Vermeidung bzw. Abwendung der negativen Folgen. Noch wird der
Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung erfüllt, da der therapeuti-
sche Eingriff, lege artis vorgenommen, nicht die im Verkehr erforderli-
che Sorgfaltspflicht verletzt." Und an anderer Stelle betont er, daß nur
wenn der Arzt diese Regeln verletzt, d. h. die Vorschriften der ärztlichen
Wissenschaft und Kunst nicht eingehalten hat und nicht mit Einwilli-
gung des Patienten und dem Ziel, ihn zu heilen, gehandelt hat, entweder
vorsätzlich oder fahrlässig, sich die Frage seiner Verantwortung ergibt.
Die Einwilligung des Kranken hebt nach dem Gesetz (Art. 308, Par. 2
griech. StGB) die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung auf, allerdings
nur, wenn es sich um eine „einfache" Körperverletzung handelt, nicht
im Falle der „gefährlichen", der „schweren" und derjenigen „mit Todes-
folge". Wenn aber die Einwilligung das Unrecht nur der einfachen
Körperverletzung aufhebt, es ihr also an Gewicht gegenüber der gefähr-
lichen und schweren fehlt, ergibt sich von selbst, daß die schweren
Gesundheitsschäden selbst gegen den Willen des Kranken abgewandt
werden können und müssen. Denn die eventuelle Verweigerung der
Einwilligung zum Eingriff käme ganz einfach einer rechtlich unbedeu-
tenden Einwilligung zur Schädigung der Gesundheit durch Unterlassen
gleich. Dennoch, wenn die Entscheidung zum Eingriff die Akzeptanz
des wahrscheinlichen Todes oder schwerer Schädigung der Gesundheit
in sich birgt, versteht sich von selbst, daß niemandem verziehen wird,
der diese Entscheidung für einen anderen trifft. Die Wahrheit dieses
Satzes bestätigt sich ebenfalls bei der Betrachtung des umgekehrten
Falles. Wenn der Arzt es unterläßt, eine Operation der hier besproche-
nen Art vorzunehmen, ist er nicht verantwortlich zu machen für eine
Tötung oder Körperverletzung wegen unterlassener Hilfeleistung, weil
die mit dem Eingriff verbundene Wahrscheinlichkeit des Todes oder der
schweren Körperverletzung aus dem Sachverhalt heraus und angesichts
des Prinzips „in dubio pro reo" die Annahme ausschließt, daß der
Unterlassende das Ergebnis „nicht abgewandt" hat. Bemerkenswert ist
auch, daß je größer das Risiko, um so intensiver und klarer auch die
Einwilligung des Patienten sein muß. Bei einem hochgradigen Risiko
muß die Einwilligung sich den Grenzen des „ernstlichen und dringenden
Verlangens" gem. Art. 300 griech. StGB („Tötung auf Verlangen")
nähern 12 . Es gibt ebenfalls die Auslegung13, da der gesamte Komplex der
Einwilligung des Patienten in den Rahmen der persönlichen Freiheit und
Selbstbestimmung gestellt wird, und wenn wir akzeptieren, daß der
12
Androulakis, N.K.: a . a . O . , S. 119 A n m . 4 3 u. S. 121.
13
Psarouda-Benaki, A.: a . a . O . , S.643 A n m . 2 .
818 Nikolaos S. Fotakis
22
Androulakis, N.K.: a.a.O., S. 118-119.
25
Psarouda-Benaki, A.: a.a.O., S.643, Anm.2.
24
Sissiadis, /.: a.a.O., S.259.
25
Areopag 541/1958. Nomikon Vima 7 (1959), S. 61-62.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 821
möglich ist, den Patienten aufzuklären, sei es weil dieser nicht in der
Lage ist, die Vorgänge klar zu begreifen, sei es weil die Aufklärung ihm
wegen seines Zustandes schaden würde, handelt der Arzt therapeutisch,
indem er annimmt, „daß der Kranke sicher seine Einwilligung gäbe,
wenn er den Stand der Dinge kennen würde". Folglich, so schließt der
Autor, müssen obige Fälle beurteilt werden, als wäre die Einwilligung
tatsächlich vom Kranken gegeben worden, und die Rechtswidrigkeit der
Handlung muß ausgeschlossen werden. Dies gilt natürlich nur, wenn
durch die Maßnahme des Arztes dem Wohle des Kranken gedient wird
und nicht dessen ausdrücklich ausgesprochener gegenteiliger Wille vor-
liegt. Nach Tsarpalas liegt das Hauptanwendungsgebiet der Theorie
über die mutmaßliche Einwilligung bei den therapeutischen Eingriffen.
Der Arzt muß allerdings jeweils vermuten, welcher der Wille des
konkreten Patienten ist und sich danach richten; er darf nicht handeln
aufgrund dessen, was ein beliebiger Kranker generell „wollen müßte" 32 .
O b es möglich ist, daß der Arzt dieser letzten Forderung in der Praxis
immer entspricht, ist zumindest zweifelhaft.
Die Betrachtung der obigen Ausführungen veranlaßt den Mediziner
zu verschiedenen Kommentaren.
Die Tatsache, daß die therapeutischen Eingriffe als Körperverletzung
angesehen werden, deren Rechtswidrigkeit in der Folge auf dem einen
oder anderen juristischen Wege abgewandt werden muß, ist für den Arzt
unbegreiflich. Die Medizin hat das Wohl und nicht den Schaden des
Kranken zum Ziel.
Der therapeutische Eingriff darf nicht nach seinem Ergebnis beurteilt
werden, weil dieses zwar einerseits abhängig ist von der ärztlichen
Maßnahme, andererseits aber von verschiedenen Faktoren, die im
Zusammenhang stehen mit den Besonderheiten der Krankheit und dem
Organismus des Kranken und nicht immer vom Arzt beeinflußbar sind.
Die richtige Abwägung und Auswahl der indizierten Heilbehandlung,
die Sorgfalt und die Durchführung lege artis, so daß die Therapie dem
gültigen Stand der Wissenschaft und den speziellen Bedürfnissen des
jeweiligen Falles entspricht, müßten die einzigen Kriterien für die recht-
liche Bewertung des Verhaltens und der Verantwortlichkeit des Arztes
sein, natürlich unter Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen er
gehandelt hat und der Möglichkeiten, die ihm im gegebenen Fall zur
Verfügung standen.
Es stellt sich außerdem die Frage, ob jede oder nur die grobe Fahrläs-
sigkeit strafrechtlich zu verurteilen ist. Der Verfasser plädiert für die
zweite Auffassung.
gesetzliche Überwachung des Arztes, die ihn zwingt, ständig die straf-
rechtlichen Folgen seiner Handlungen abzuwägen, seine Aktivität und
Handlungsfreiheit eingeschränkt werden; sie behindert ihn in seiner
Bereitschaft, die Behandlung an die Erfordernisse des jeweiligen Falles
anzupassen, weil ihre Individualisierung Abweichungen von standardi-
sierten Methoden und Änderungen von Therapieschemata mit sich
führen kann, die medizinisch zwar sinnvoll, juristisch jedoch möglicher-
weise riskant wären, und wirkt sich schließlich zu Lasten desjenigen aus,
um dessen Schutz das Gesetz bemüht ist, nämlich des Kranken.
El fenómeno de la droga en España
A s p e c t o s penales
I.
E l f e n ó m e n o d e la d r o g a c o n s t i t u y e en la a c t u a l i d a d u n p r o b l e m a
g r a v e . S o n e n o r m e s sus c o s t o s s o c i a l e s , en m e n o s c a b o d e la s a l u d física o
mental, internamientos hospitalarios, absentismo laboral, r e d u c c i ó n de
productividad, accidentes de trabajo, d o m é s t i c o s o de tráfico, mayor
c o m i s i ó n d e d e l i t o s , a u m e n t o d e la d e s v e r t e b r a c i ó n c o m u n i t a r i a , a nivel
familiar o c o l e c t i v o , e, i n c l u s o , en p é r d i d a s d e vidas h u m a n a s 1 . E n algún
E s t a d o es tal la m a g n i t u d d e sus e f e c t o s s o b r e la e c o n o m í a d e la n a c i ó n ,
sus v i n c u l a c i o n e s con el p o d e r p o l í t i c o y su e l e v a d o c o n s u m o que
a d q u i e r e el c a r á c t e r d e p r o b l e m a n a c i o n a l 2 . E l r e c i e n t e C o n g r e s o d e las
N a c i o n e s U n i d a s p a r a la P r e v e n c i ó n del d e l i t o y el T r a t a m i e n t o del
d e l i n c u e n t e , q u e a c a b a d e c e l e b r a r s e en M i l á n , h a m o s t r a d o q u e , p o r su
d i f u s i ó n e n la g e n e r a l i d a d d e los paises, el f e n ó m e n o h a c o b r a d o u n a
p r e o c u p a n t e d i m e n s i ó n universal 3 .
1 Barbero Santos: Los marginados ante la ley penal (La Ley de Peligrosidad y
Rehabilitación Social de lege ferenda) en «Libro Homenaje al profesor José Antón Oneca»,
Salamanca, 1982, p. 77 y ss.
2 Hurtado Pozo: Terrorismo y tráfico de drogas, en «La droga en la sociedad actual»,
San Sebastian, 1985, p. 172.
3 Le trafic de drogues - con palabras de Gerhard O. W. Mueller- a pris de proportions
si gigantesques dans le monde entier qu'il constitue une veritable dimension nouvelle de la
criminalité. La producción de drogas, añade, echape quasiment au contrôler ( . . . ) Ce
problème concerne ( . . . ) la stabilité du monde, puisqu'il cause la déstabilisation de
gouvernements, la corruption des administrations, une criminalité importante et la misère
et l'incapacité sociale de millions de gens (Rapport Général de la Association Internationale
de Droit Pénal, en «New Dimensions of Criminality and Crime Prévention in the Context
of development: Challenges for the future», Documents submitted to the Saint-Vincent
Congress, 1965 (A/CONF. 121 / N G O 3), p. 28. Tan solo en E E U U el valor de las drogas
consumidas ¡legalmente se estima en 80 mil millones de dólares. Según el Libro blanco
sobre la droga (publicado por Alianza Popular, Madrid, 1986, p. 19) la droga mueve en
España aproximadamente 127 mil millones de pesetas al año.
El rapport de la Comisión sobre narcóticos de las Naciones Unidas de 6 de enero de
1984 estima que en Italia hay 30 000 adictos a la heroína, en la República Federal Alemana
13300; en Gran Bretaña, 3000 etc. De interés la Relazione di base de Pino Arlacchi al 1°
tema del VII Congreso de las Naciones Unidas Prevenzione del Delito y el Tratamiento del
Delincuente, Milán, 1985, en «Quaderni della Giustizia» (49), 1985, p. 3 y ss.
826 Marino Barbero Santos
4
Hutyra de Paula, Marie Madeleine: Funcoes sociais dos farmacos, «Justitia», Sao
Paulo, 1981 (vol 115), p , 1 8 y s s .
5 Florio: Réaction au phenoméne de la drogue, en «Etudes relatives a la rechérche
8
Aranguren: El problema de las drogodependencias en el momento actual, desde una
perspectiva ética, en Beristain-De La Cuesta «La droga en la sociedad actual», San
Sebastian 1985, p.24 y ss.
828 Marino Barbero Santos
11
Por la no coincidencia entre las diferentes encuestas, las cifras son fundamentalmene
indicadoras de la gravedad de la situación.
12
En la Cart Pastoral El oscuro mundo de la droga juvenil, citada, los obispos estiman
qué en la Comunidad Autonoma Vasca son ya 11000 los heroinómanos, y 1000 en
Navarra. Mientras ascienden a 150000 el número de consumidores de hachís en el Pais
Vasco y a 14 000 en Navarra.
830 Marino Barbero Santos
16
Por ello, el Tribunal Supremo, en jurisprudencia constante, había negado la posibili-
dad de que el anterior texto del art. 344, que sólo sancionaba de modo expreso el tráfico de
estupefacientes, se aplicase a los productos psicotrópicos (Sentencias de 11-10-1974,
3-5-1980, 2-5-1981).
El fenòmeno de la droga en España 833
que probadamente posea efectos más deletéreos que los de otros que se
incluyen. H a de subrayarse, en este sentido, que las listas citadas no son
cerradas, sino abiertas, lo que a veces se olvida. El art. 3,3° de la
Convención Unica de 1961 sobre estupefacientes citado establece, v. gr.,
que «Si la Organización Mundial de la Salud comprueba que dicha
sustancia (es decir, una nueva sustancia) se presta a uso indebido o puede
producir efectos nocivos parecidos a los de los estupefacientes de las
listas I o II, o que puede ser transformada en un producto que se preste a
uso indebido similar o que pueda producir efectos nocivos semejantes
comunicará su dictamen a la Comisión, la cual podrá, de conformidad
con la recomendación de la Organización Mundial de la Salud, decidir
que se incluya dicha sustancia en la Lista I o en la Lista II16*.
El término droga suele emplearse, no sólo en castellano, como expre-
sión común a las sustancias (drogas) tóxicas, estupefacientes o psicótro-
pas. Y así se hace, junto a múltiples ejemplos, en el volumen «Aspects
pénaux de l'abus des drogues» (Estrasburgo, 1974), que contiene los
estudios y deliberaciones del Comité de expertos nombrado por el
Comité de Ministros del Consejo de Europa, en 1969, para investigar en
particular el fenómeno del abuso de drogas en diversos Estados miem-
bros del Consejo. Para estos fines la palabra droga se utilizó para
denominar a una sustancia (excluidos el café y el tabaco) que, a causa de
sus propiedades psico-activas u otras, puede arrastrar (est de nature á
entrainer) a un uso abusivo y, a veces, a la dependencia17.
De forma más circunstanciada son drogas sustancias naturales o
sintéticas que alteran las sensaciones, la actividad mental, la conciencia o
la conducta, y producen sea dependencia psíquica (necesidad imperiosa
de seguir consumiéndola con el fin de obtener sensaciones placenteras o
de disipar una situación de malestar); sea dependencia física (necesidad
fisiológica de la droga, sin la cual se origina un grave trastorno orgánico
o la muerte; síndrome de abstinencia, por alterarse el quilibrio bioquí-
mico del organismo del sujeto). Estos estados pueden acompañarse o no
de tolerancia, o exigencia de aumentar las dosis para conseguir el efecto
inicial. Tolerancia que tampoco acompaña siempre a la drogodependen-
cia, que consiste en un estado psíquico, y a veces también físico,
resultado de la interacción entre un organismo vivo y una droga que se
caracteriza por modificaciones del comportamiento u otras reacciones
161 Véase, Consulta num. 12/1985, del Fiscal General del Estado, en «Memoria elevado
al Gobierno de S.M. . . . por el Fiscal General del Estado», Madrid, 1986, p.521 y ss.
17 Conforme a la Resolución (73) 6 del Consejo de Europa sobre «Los aspectos penales
del abuso de drogas», Véase: Conseil de l'Europe Comité Européen pour les problèmes
criminels: Aspects pénaux de l'abus des drogues, Estrasburgo, 1974.
834 Marino Barbero Santos
(29 enero 1983, 17 marzo 1984); a la cocaina (11 noviembre 1983, 23 marzo 1984), a las
sustancias psicotrópicas (5 octubre 1983, 7 mayo 1984), etc.
El fenómeno de la droga en España 835
Barbero Santos y otros: «La reforma penal», Madrid, 1982, p. 67. Por lo demás, sus efectos
sobre el entorno son distintos. El adicto siempre busca compartir y en quienes reflejarse.
Los alcohólicos y fumadores de tabaco no necesariamente (Neumann: La sociedad de la
droga, Buenos Aires, 1979, p. 79).
22 De interés el estudio en policopia del Prof. Hulsman - a quien agradezco habérmelo
25
Barbero Santos - Morenilla Rodríguez: La Ley de Peligrosidad y Rehabilitación
social: su reforma, en Barbero Santos: «Marginación social y Derecho represivo», Barce-
lona, 1980, pp. 155 y ss.
26
Florio: Réactions au phenomene de la drogue, en «Etudes relatives a la recherche
criminologique» Conseil de l'Europe, Estrasburgo, 1975, p.41.
27 Ha entrado en vigor el 1 de enero de 1982. Véase, Hirsch: Die strafrechtliche
Behandlung der Betäubungsmitteldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland vor dem
Hintergrund der gegenwärtigen Drogensituation, en «The Hokkaigakanen Law Journal»
(XX), 1985, p. 592 y ss.
838 Marino Barbero Santos
31
Memoria, citada en nota 29, p. 338.
32
Véanse las notas 18 y 20.
33
Y que viola las Convenciones internacionales signadas por España. Así el art. 33 del
Convenio de 1961 establece, v. gr., que «Las Partes sólo permitirán la posesión de
840 Marino Barbero Santos
E l legislador español p a r e c e h a b e r o l v i d a d o q u e el p r o b l e m a d e la
d r o g a n o es, c o m o en los años sesenta, u n p r o b l e m a de c o n q u i s t a de la
libertad, sino, c o n palabras de E n r i c o B e r l i n g u e r , d e caida «en efectiva
tiranía y esclavitud» 3 4 o , c o n e x p r e s i ó n de Julián M a r í a s , de desprestigio
d e la r a z ó n .
E s de e s p e r a r que en la p r e p a r a c i ó n del n u e v o C ó d i g o penal se tenga
c o n c i e n c i a de la m a g n i t u d y c o m p l e j i d a d del f e n ó m e n o de la d r o g a y se
t o m e n en c u e n t a las experiencias de o t r o s paises y las e n s e ñ a n z a s del
Derecho comparado.
estupefacientes con autorización legal». Por supuesto, los Estados pueden definir, perse-
guir y castigar los delitos previstos en el Convenido «de conformidad con su legislación
nacional» (art. 36.4). Pero lo que no pueden es no definirlos o no sancionarlos, con
independencia de que se admita la suspensión del fallo o de la ejecución de la pena en
determinadas circunstancias.
34 Berlinguer: Per cambiare la vita. La droga deve esser combattuta e sconfita, discurso
de julio de 1984, p. 2.
37 Arroyo Zapatero: Aspectos penales del tráfico de drogas, en «Poder Judicial», 1984
tenencia del art. 344 y el tráfico del art. 1' de la Ley de Contrabando.
19 Circular del Fiscal General del Estado, de 1 de diciembre de 1983, véase: «Memoria
elevada al Gobierno de S. M. Presentada al inicio del año judicial por el Fiscal General del
Estado, Madrid, 1985, p . 3 3 4 y ss.
842 Marino Barbero Santos
43
Barbero Santos - Morenilla Rodríguez, art. cit. en nota 25, p. 171.
44
Koemer: Bekämpfung von Drogensucht und internationalem Drogenhandel, en
«Zeitschrift für Rechtspolitik», 1980, Heft 3, p.59.
45
Luzon Peña, art. cit., p. 69.
46 Véase UNSDRI: Combating abuse and related crime, Roma, 1984, pags. 164-165.
Hanack: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, en «Strafgesetzbuch, Leipziger Kom-
mentar», Berlin-Nueva York, 1978, ed. 6 Lieferung.
47
Hirsch, art. cit. p. 577. Hacker: Drogen verhüten statt behandeln, behandeln statt
strafen. Viena-Munich-Zurich-Nueva York, 1981. UNSDRI: Combating drug abuse and
related crime, Roma, 1984. Travaux de la Commission interministerielle de stupéfiants: La
drogue (Revue française des Affaires sociales, 1981, avril). Entre les multiples Recomenda-
ciones del Consejo de Europa en este sentido, citaremos la n° (82) 5, Sur la prévention de la
toxicomanie et le rôle particulier de l'éducation pour la santé, y la n° (82) 6, Concernent le
traitement et la resocialisation des toxicomanies.
844 Marino Barbero Santos
Zusammenfassung
Das Drogenphänomen in Spanien. Strafrechtliche Aspekte
Der Autor untersucht das Drogenphänomen in Spanien, das im
Gegensatz zur Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern oder
in Nordamerika (USA) gekennzeichnet ist durch den Ubergang vom
fehlenden Drogenkonsum zum Massenkonsum, fast ohne daß das Sta-
dium eines begrenzten Verbrauches durchlaufen wurde. Zudem erlangte
die Jugendbewegung der Hippies in den sechziger Jahren mit ihrer
Gegenkultur in Spanien keine Bedeutung, die in dem jugendlichen
Drogenkonsumenten einen seine Freiheit suchenden Progressiven sah,
der - allerdings von einem Standort innerhalb des Systems - gegen das
gesamte Establishment aufbegehrte.
Heute sind die Drogenkonsumenten in Spanien hauptsächlich arbeits-
lose Jugendliche, die außerhalb des Systems stehen und sozial entwurzelt
sind, eine ökonomische Randgruppe bilden, kulturell verarmt sind, für
die die Droge in keiner Weise ein Freiheitssymbol bedeutet.
Die heutige Situation ist gekennzeichnet durch das immer geringere
Einstiegsalter (nach verschiedenen Untersuchungen hatten 60 % ihren
ersten Kontakt mit der Droge vor Vollendung des 17. Lebensjahres); den
Einstieg in die Rauschgiftsucht bei 9 % der Jugendlichen mittels intrave-
nösen Spritzens von Heroin; die hohe Prozentzahl von Drogensüchti-
gen, welche sich einer ernsthaften Entziehungskur ohne Erfolg unterzie-
hen; die beträchtliche Zunahme der Drogenabhängigen.
Angesichts dieser alarmierenden Situation kritisiert der Autor die
Unzulänglichkeiten der im Jahre 1983 in diesem Bereich des Strafgesetz-
buches durchgeführten Reform. Gleiches gilt für den Vorschlag eines
Vorentwurfs für ein neues Strafgesetzbuch durch das Justizministerium
im Jahre 1983, und der Autor rät an, daß das neue Strafgesetzbuch die
spanischen Gegebenheiten, die Erfahrungen anderer Länder und die aus
der Rechtsvergleichung gewonnenen Erkenntnisse beachten sollte.
Schließlich wird aus dogmatischer Sicht die Regelung der Drogende-
likte im Strafgesetzbuch, im Schmuggelgesetz und dem Gesetz über
soziale Gefährlichkeit und Rehabilitation untersucht.
V.
Strafverfahrensrecht
Zur Entstehung des strafrechtlichen
Inquisitionsprozesses
DIETRICH OEHLER
Deutschland vom 13. bis 16. Jahrhundert, Festschrift der Leipziger Juristischen Fakultät
für H.Siber, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien 124 (1940).
2 Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, zuletzt in 3. Auflage.
3 Trusen, Winfried, Strafprozeß und Rezeption, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezep-
tion, Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, hrsg.
von Peter Landau und Friedrich-Christian Schroeder, S. 29 ff. Juristische Abhandlungen,
Bd. X I X , 1984.
4 In: Recht und Geschichte, Bd. 1, 1962, 7.
5 Gedächtnisschrift für H.Conrad, 1979, S.367.
7
P.Fiorelli, L a tortura giudiziaria nel diritto commune, I., J u s nostrum I, 1953, p. 67,
71.
' C . j . c . C a p . 1 X 5, 14 (für Zweikampf), cap. 8 X 5, 34 (Kaltwasserprobe), cap. 1-3 X
5, 35 (allgemein).
' A. Malinveri, Lineamenti di storia del processo penale, Ed. Giappichelli, Torino
1972, p. 27 ff, 31 f.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 849
Darstellung zeigt vor allem, daß ohne jede sichtbare unmittelbare Vor-
bereitung, aber durch die kirchlichen Verhältnisse bedingt, dieses Pro-
zeßverfahren entstanden ist.
Innozenz III., der juristisch gebildet war, schreibt10 im Jahre 1199 an
den Erzbischof in Sens (Frankreich) anläßlich der Entscheidung eines
Rechtsfalles durch diesen: „... so wollen wir doch nicht tadeln, daß Du,
obwohl kein bestimmter Ankläger gegen ihn [sc. den Geistlichen]
aufgetreten ist, dennoch aus seinem Amt gesetzt hast, weil sich ein
öffentliches Gerücht erhoben hatte, und daß Du die Wahrheit genau
untersucht (inquirere) hast. [Es folgt jetzt die Weisung, daß dem
Beschuldigten der Reinigungseid nebst 14 Mitvereidigten nicht hätte
verweigert werden dürfen. Er sei nachzuholen.] Wir verweisen ihn an
Dich zurück, damit er sich dort reinige, wo er das Verbrechen begangen
hat."
Der Geistliche war zwar der Verbindung mit Ketzern angeklagt, es
handelt es sich aber nicht um einen Ketzerprozeß, sondern um einen
normalen Strafprozeß, wie auch aus dem weiteren hervorgeht.
Im selben Jahr gibt Innozenz eine weitere Weisung für ein Strafver-
fahren gegen den Abt von Pomposa (bei Ravenna)11: „... ein Prälat muß
umso eifriger die Delikte verfolgen, als es unkorrekter wäre, den Scha-
den der Verbrechen ungerügt zu lassen. Gegen solche Personen - zu den
notorischen Verbrechen soll hier geschwiegen werden - ist dreifach
vorzugehen, nämlich entweder durch Anklage (per accusationem),
durch Anzeige (per denunciationem) oder durch Inquisition der Betref-
fenden. Es muß jedoch für die Verfahren die Kautele beachtet werden,
daß der Ankläger sich der inscriptio [d. h. der Anklageschrift, in der die
Beweise genannt sind, und bei Fehlgehen der Anklage sich der Ankläger
verpflichtet, sich der auf das Delikt stehenden Strafe zu unterwerfen12]
unterwerfen muß, daß der Anzeige (denunciatio) eine hilfreiche Unter-
10 Aufgenommen in: Corpus juris canonici, in: Liber Extra Decretalium Gregor I X . :
cap. 10 X (Liber extra), 5 (über), 34 (tit.) unter dem Jahr ca. 1214. In Zukunft zitiere ich,
wie meist üblich, kurz in dieser Reihenfolge. Diese Zitierweise ist einsichtiger als diejenige
von der größten Einheit zur kleinsten.
11 Cap. 31 X 5, 3 unter dem Jahr 1213 aufgenommen.
12 Diese inscriptio kommt aus dem römischen Recht, D 48, 16, 1, 1, C 9, 1, 1 (3) und C
9, 2, 13 (16, 17). Die letzte Stelle (17) sagt ausdrücklich, daß diese Regelung von alters her
besteht. Übrigens weist das Kirchenrecht nirgends auf die Herkunft aus dem römischen
Recht hin. Zu der Frage der inscriptio auch Hübner, Heinz, Zur injuria in der Gesetzge-
bung Friedrich II. von Hohenstaufen in Satura Roberto, Feenstra, Sexag. Quintum annum
aetatis complenti etc., hrsg. von Ankum, Spruit, Wobbe, Universitätsverlag Freiburg/
Schweiz, 1985, p. 322. Vgl. dazu Cap. 16 X 5, 1 und zeitlich etwas später Tancred, in
Pillius, Tancredus, Gratia, Libri de judiciorum ordine, hrsg. von Friedrich Christian
Bergmann, Neudruck der Ausgabe Göttingen 1842, 1965 (Scientia-Verlag, Aalen) Tan-
credi Bononiensis, Ordo judiciarius, P. 2, Tit. 7, § 5.
850 Dietrich Oehler
13
Cap. 24 X 5, 1.
852 Dietrich Oehler
soll, damit nicht durch Einsturz der Säulen das Haus einfällt. Eine
behutsame Bestimmung muß dafür sorgen, daß nicht falsche und bös-
willige Verdächtigungen Eingang finden. Selbstverständlich wollten sie
[die heiligen Väter], daß die Prälaten nur vor ungerechten Inkriminatio-
nen geschützt werden, daß sie sich selbst jedoch vor schweren Zuwider-
handlungen vorsehen. Gegen beiderlei Arten von Anklagen gaben sie ein
entsprechendes Mittel: eine offensichtlich auf Todesstrafe - wir nennen
das Degradation - zielende strafrechtliche Anklage ist nur bei rechtmäßi-
ger inscriptio [siehe oben, Anm. 12] zulässig. Aber wenn jemand wegen
seiner Untaten so bezichtigt wird, daß schon ein Geschrei (clamor)
entstanden ist, welches ohne Skandal nicht mehr länger unbeachtet
bleiben oder ohne Gefahr nicht weiter geduldet werden kann, so muß
ohne weitere Zweifel zur Untersuchung (inquirendum) und zur Bestra-
fung geschritten werden, was aber nicht aus Zorn, sondern aus Antrieb
christlicher Liebe geschehen soll. Handelt es sich um ein schweres
Verbrechen, so ist der Täter zwar nicht seiner geistlichen Weihen, aber
der Verwaltung seines geistlichen Amtes für immer zu entsetzen. Das
entspricht dem Satz des Evangeliums, daß der Verwalter, der nicht
ordnungsgemäß Rechnung legen kann, entlassen werden kann. Derje-
nige, gegen den die Untersuchung (inquisitio) durchgeführt werden soll,
muß, wenn er sich nicht böswillig abgesetzt hat, gegenwärtig sein, und
es sind ihm alle jene Punkte, über die er befragt werden soll, auseinan-
derzusetzen, so daß er die Möglichkeit sich zu verteidigen hat. U n d
nicht allein die Aussagen, sondern auch die Namen der Zeugen sind ihm,
damit er weiß, wer und von wem ausgesagt worden ist, bekanntzugeben.
Es sind auch die rechtmäßigen Einreden und Erwiderungen (exceptiones
et replicationes legitimae) zuzulassen, damit es nicht aussieht, als ob
jemand mit Hilfe der Unterdrückung der Namen den anderen diffamie-
ren dürfe oder durch Ausschluß der Einreden zu falscher Aussage
veranlaßt worden sei. Der Prälat muß sehr sorgfältig auf die Verbrechen
seiner Untergebenen achten, damit er sie verfolgen kann, um so schädli-
cher wäre es, die Delikte unverfolgt zu lassen. Gegen sie - zu den
notorischen Delikten sagen wir nichts - kann er auf dreifache Weise
vorgehen, durch Anklage offensichtlich, durch Denunziation und durch
Inquisition derselben. In allen diesen Fällen muß sorgfältig vorgegangen
werden, damit nicht durch leichtfertige Kürze ein großer Nachteil
entsteht. Es muß der rechten Anklage die inscriptio [s. o. Anm. 12], der
Denunziation die liebevolle Ermahnung und der Inquisition ein allge-
mein verbreitetes Gerücht vorangehen. Gemäß jener Weisung habe der
Richter entsprechend den gegebenen Umständen die Entscheidung der
Form des Verfahrens anzupassen. Diese Ordnung soll nicht auf Ordens-
mitglieder angewendet werden, weil sie, wenn es nötig ist, leichter und
formloser von ihren Amtern entbunden werden können."
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 853
14 S. o. Anm. 12, vor allem p. 5. In dieser Ausgabe - auch die Einleitung dieser Ausgabe
ist lateinisch geschrieben - wird die Beschlußfassung für die juristischen Bestimmungen in
die Zeit vom 11.-30. November 1215 (Anm. 10) gelegt, so daß sie Tancred von da ab zur
Verfügung hatte. Die Publikation der Beschlüsse des Laterankonzils erfolgte über eine
Zwischenkompilation anscheinend erst 1229.
15 P 2 , T l , §1.
" Oben, Anm. 12 und zugehöriger Text.
17 §3.
854 Dietrich Oehler
stellen, die Schuldigen abzuurteilen, die nur Berüchtigten, denen die Tat
nicht nachzuweisen ist, zu verweisen, usw. Uber eine Spezialinquisition
finden sich vorsichtige wenige Anweisungen.
Dem Gesetzgeber der Konstitutionen war das römische Recht und das
langobardische Recht gegenwärtig. Er meinte häufig mit dem Wort des
ius commune beide, manchmal nur das römische Recht21. Inwieweit die
Dekretalen des Laterankonzils auf die Einführung der Inquisition einge-
wirkt haben, ist nicht einfach zu beantworten22. Bei einem Vergleich der
in Frage kommenden Stellen ist ohne weiteres nichts Ahnliches in der
Ausdrucksweise zu finden. Selbst die Anzeige wird durch verschiedene
lateinische Worte ausgedrückt. Die Systematisierung in den Dekretalen
findet keinen Widerspiegel in den Konstitutionen. Die Generalinquisi-
tion der Konstitutionen, die hier den wesentlichen Teil der Inquisition
ausmacht, ist in dieser Art in den Dekretalen kaum vorgezeichnet. Das
in den Dekretalen erkannte Problem der Vereinigung von Richter und
Ankläger in einer Person wird in den Konstitutionen nicht angespro-
chen, obwohl diese öfters der Gerechtigkeit ausdrücklich den Vorrang
vor der Zweckmäßigkeit geben. Gerade weil dem Verfasser der Konsti-
tutionen die Dekretalen bekannt waren, wird man annehmen müssen,
daß sie für die ausführlichen Regelungen der Generalinquisition des
Justitiars aus zusätzlichen weiteren Quellen - und zwar germanischer
Art - geschöpft haben als den Dekretalen23. Offensichtlich hatte der
Akkusationsprozeß zu dieser Zeit - vor allem durch Wegfall der Orda-
lien - so einseitig und beschränkt sich erwiesen, daß der Inquisitionspro-
zeß gleichsam als notwendige Ergänzung erschien. Jedenfalls war die
Inquisition in den früheren normannischen Assisen nicht vorgebildet
gewesen24. Wir verfolgen diese Frage für die Konstitutionen hier nicht
weiter.
Roffredus von Benevent - von Kaiser Friedrich II. schon 1224 als
hervorragender Rechtsgelehrter für das ius civile gepriesen25 - beschäftigt
21 Dilcher, Hermann, Normannische Assisen und römisches Recht im sizilianischen
Stauferreich, in: Aktuelle Fragen aus modernem Recht und Rechtsgeschichte, Gedächtnis-
schrift für Rudolf Schmidt, 1966, S. 474 f. Auch Hühner, a. a. O. (vor Anm.), S. 629 f; 633,
Conrad in: Die Konstitutionen etc., a . a . O . , S.L. Dilcher in: Die sizilianische Gesetzge-
bung Kaiser Friedrichs II., Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrichs II., Band III,
1975, S.37ff, zeigt besonders die normannischen und langobardischen Vorbilder auf.
22 Dilcher sieht für die Generalinquisition langobardische und normannische, aber auch
kanonistische Vorbilder, in: Die Bedeutung der Laterankonzilien für das Recht im
normannisch-staufischen Sizilien, Z. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt.
87, 1970, S.247ff. Auch Hühner a . a . O . (Anm.20), S.632, meint, daß die Gesetzgebung
insoweit nicht eigenständig sei.
23 So wohl auch Kantorowicz, ob. Anm. 18, S. 98.
24 Dilcher, Normannische Assisen etc. (ob. Anm. 21), S. 471.
25 Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit, hrsg. u. übersetzt von
sich 1234 mit der Herkunft des Inquisitionsprozesses, aber sehr allge-
mein. Er verweist für die Entstehung auf das ius civile, das römische
Recht und das italienische Gewohnheitsrecht und spricht den Kanoni-
sten die Ehre der Erfindung des Inquisitionsprozesses ab. Die Ausgestal-
tung des Prozesses komme allerdings aus dem kanonischen Recht26. Die
Stellen lauten: „.. .Und wenn irgendjemand aus der Familie als getötet
bezeichnet wird, . . . soll zur Inquisition geschritten werden. Wenn aber
jemand durch Gift oder ohne Gewalt getötet sein soll, soll keine
Inquisition stattfinden nach dem senatus consultum fillanianum. Jedoch
findet nach dem Gesetzgeber [eine Ulpianstelle mit SC wird angeführt]
doch auch wieder eine Inquisition statt... An diesen und anderen
Fällen... ist evidenter zu zeigen, daß die Inquisition im iure civili
erfunden worden ist... Erfolglos dagegen behaupten die Gelehrten des
kanonischen Rechts, daß in deren Recht die Inquisition erfunden wor-
den sei. Ich gestehe, daß der Modus, die Form der Inquisition, wie und
wann durch diese vorgegangen werden kann, im kanonischen Recht
erfunden worden ist, jedenfalls ist das evidenter dort festzustellen als im
iure civili." Roffredus gehörte übrigens auch zu dem Hofgericht Kaiser
Friedrichs II.
Wilhelmus Durands schrieb als Kanonist um 1271 ein umfangreiches
Speculum iudiciale27 und dabei ungewöhnlich ausführlich über den
Inquisitionsprozeß. Auf S. 30 unter § 2 verknüpft er diesen so eng mit
dem römischen Recht, daß man daraus entnehmen kann, er führte die
Inquisitionsmaxime auf das römische Recht zurück, obwohl er es wohl
nirgends ausdrücklich sagt.
Dagegen verweist Gandinus 1299 - er war lange Richter in Perugia -
in seinem umfangreichen Tractatus de maleficiis28 (1. Fassung 1287) auf
weitere Quellen. Ich gebe die Stellen wieder. In dem Kapitel, wie man
über Strafsachen durch Inquisition erkennt, wird zunächst der Ort der
Befragung auseinandergesetzt. Dann heißt es weiter29 „der Richter kann
und darf auch nicht über jedes Verbrechen inquirieren, weil geschrieben
steht, daß ohne Ankläger die gerichtliche Untersuchung nicht und nicht
einmal deren Einleitung durchgeführt wird [Digestenstelle]. So ist es
sowohl nach kanonischem Recht wie nach ius civile. Welches aber die
Fälle sind, in denen nach ius civile inquiriert werden kann, wurde oben
26 Roffredus von Benevent, Libelli super iure pontificio, 1234, ed. Lugduni 1561,
angeheftet sein Tractatus aureus ordinis iudicarii, p. 6 6 7 (pars sept., De inquisitionibus).
" Wilhelmus Durantis, Speculum iudiciale, 2 tomi, tomus 2, pars III et IV, Neudruck
Ausgabe Basel 1574, Aalen 1975.
28 T e x t : Albertus Gandinus etc. von Hermann Kantorowicz 2. Band etc., Kritische
Ausgabe des Tractatus de maleficiis, 1926.
29 A . a. O . , S. 37, Z. 27.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 857
30 Es ist die Stelle L 2 , 52, 15, Monumenta Germaniae Historica, Legum, Tomus III,
Hanoverae 1868, p.633, 516 (Pip. 8, Leges Pippini regis), (s. unten im Text). Schon in
Quid sit accusatio führt Gandinus denselben Satz aus, p.5.
31 A . a . O . , S.39.
32 Der Kaiser befand sich im Oktober nur 1220 in Bologna, Kaiser Friedrich II. etc.
weil dann nur absque parte, teilweise, etwas anders übersetzt werden müßte, um doch
wieder den obigen Sinn zu ergeben, Was gemeint ist, ist klar.
34 Die Quelle des Gandinus für das Interview des Kaisers ist nicht zu finden. Vorausge-
setzt, der Kaiser habe so geantwortet - Petrus von Vinea hatte in Bologna studiert, die
differenzierte Antwort ist sicherlich von kaiserlichen Räten vorformuliert worden - so
ergibt sich daraus, daß der Inquisitionsprozeß durch die Beschlüsse auf dem Laterankonzil
als modern und neuartig galt, jedoch nicht gänzlich ohne ähnliche weltliche Erscheinungen
entstanden ist, sonst hätte die Frage an den Kaiser keinen rechten Sinn. Diese setzt gerade
voraus, daß der aus dem kirchlichen Recht stammende Inquisitionsprozeß auch schon im
weltlichen Recht benutzt wurde, aber noch Zweifeln unterlag. Geschrieben hatte über den
Prozeß schon der oben genannte Kanonist Tancred, die normannischen Assisen gaben
dazu für Kaiser Friedrich II. nichts her (ob. Anm. 24). In Bologna war selbstverständlich
die Lombarda (weiter unten beschrieben, im Text) bekannt. Da der Kaiser diese rechtli-
chen Zusammenhänge kaum gekannt hat - er war 26 Jahre erst alt - müssen seine
Rechtsberater ein Interesse an der Einführung des Inquisitionsprozesses in das weltliche
858 Dietrich Oehler
Zur Erklärung des Bezugs auf die ca. von 1100 stammende Lombarda,
die in den Liber Papiensis die karolingische Inquisition aufgenommen
hatte, will ich zunächst den angezogenen Text in deutsch wiedergeben:
„Jeder einzelne Richter lasse in der Gemeinde (civitas) bei Gott christli-
che Menschen, bei denen er sich im voraus umschauen muß, und die
draußen in den Höfen und Orten wohnen, schwören, wie weit ihnen
Morde, Diebstähle, Ehebrüche und etwas über verbotene Vereinigungen
bekannt sei, damit sie niemand verhehle. Wir ordnen an, daß, wenn
jemand sich an das Gericht bezüglich irgendeines Menschen wendet, den
er des Totschlages, Diebstahls oder Raubes bezichtigt, und dieser leug-
net, jener, wenn er kann, das beweisen solle, und wenn er es gar nicht
beweisen kann und der Betroffene selbst geleugnet hat, daß er oder seine
Leute das Übel begangen haben, und eine Einrede erhoben wird und er
gesagt hat: ,Nenne mir meine Leute, welche Dir das Übel antaten, und
ich gebe Dir Gerechtigkeit', jener Anzeiger die Namen jener Menschen
aber nicht weiß, noch sie dartun kann, (daß) der Richter, der sich an dem
Ort befindet, diejenigen, die sie kennen, aber nicht aussagen, und wenn
der Anzeigende ausruft: ,jener Mensch weiß die Wahrheit', (jene Men-
schen) schwören lasse, seien es Franken oder Langobarden, welche er
benennt, daß sie nunmehr die Wahrheit sagen sollen; und wenn sie
Christen sind, sollen sie es in die Hand des Grafen tun. Und wenn die
Räubereien oder Diebstähle oder Plündereien aufgedeckt sind, soll in
gleicher Weise, wie das Gesetz es sagt, demgegenüber das Übel began-
gen ist, dieses ausgeglichen werden. Der Richter soll an dem Ort, an
dem er ist, über Räuber und Diebe Erkundigungen einziehen, damit das
Volk, das dort wohnt oder hinkommt, in Frieden leben könne35."
Recht gehabt haben, und zwar unter Anschluß an bestehende Rechtstatsachen. Sind Frage
und kaiserliche Antwort erfunden, muß Gandinus oder sein Gewährsmann bereits ein
Interesse daran gehabt haben, dem Inquisitionsprozeß eine möglichst frühe, hoheitliche
Bestätigung für den weltlichen Bereich zu geben. Dabei muß die Lombarda, die kurz
vorher im Text von Gandinus erwähnt wird, ein willkommener Anknüpfungspunkt
gewesen sein.
35 Unter der lateinischen Anmerkung zu der Ausgabe (oben, Anm. 30) heißt es, es
handele sich um ein Kapitular Lothars. Der letzte Satz sei aus einem Kapitular Pippins. Ein
Kapitular Wides' und Karls würden dasselbe besagen. Dazu Dilcher, Die Bedeutung der
Laterankonzilien etc., S. 249.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 859
36 Die Herkunft des Inquisitionsprozesses, 1902, in: Festschrift etc. für Großherzog
Friedrich, Freiburg.
37 Dagegen Salvioli, Note per la storia del processo penale (estratto dagli Atti della R
Academia di Napoli, vol. XLV, 1,1918) p. 1 ff, auch in Rev. di Storia del diritto ital., 1925,
vol. III, p. II, p. 360 e seg., der zu beweisen sucht, daß keinerlei germanischer Einfluß
vorliege. Die Meinung ist heute nicht mehr haltbar.
38 Ob. Anm.18, S.97ff.
39
Kolmer, Lothar, Ad capiendas Vulpes, Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens,
Pariser Historische Studien, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut in Paris, Band 19,
1982, p. 113.
40 Ob. Anm. 21.
860 Dietrich Oehler
41
Trusen, ob. Anm. 3, geht ausdrücklich in seiner ganzen Arbeit davon aus. Kolmer,
a . a . O . , S. 113f.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 861
41a Foucault, M. (deutsche Übersetzung), Überwachen und Strafen. Die Geburt des
Gefängnisses. Frankfurt/M. 1977, 289, auch in dieser Richtung.
42 Trusen, a.a.O., S.43f.
43 Eberhard Schmidt, die maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und
Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Strafrechtspflege, 1949, S. 52
44 A . a . O . , S.43f.
45 Trusen, a. a. O., S. 57.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung
im strafprozessualen Ermittlungsverfahren
Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politischen Thema:
„Vorverurteilung" und „Vorfreispruch"
HANS-JÜRGEN BRUNS
1 Auch Dabs spricht in N J W 1985, 1113 von einem Bedeutungswandel des Vorverfah-
4 So Felix, M D R 1985, 458, der von einer politischen Eruption spricht und dessen
Ausführungen für eine bestimmte Art der Auseinandersetzung typisch sind. Vgl. auch
Ulsenheimer, N J W 1985, 1929: Überforderung der Strafjustiz?!
5 Vgl. die fortlaufenden Berichte im Spiegel, im Stern und in anderen Illustrierten.
' Dabei ging es auch um die unzulässige Veröffentlichung von Strafakten (§ 353 d Nr. 3
StGB).
7 So der Titel des Spiegelgesprächs 1984, Heft 27, S. 28 mit Hassemer.
' Es scheint so, als hätte die Presse zuerst, aber aus triftigen Gründen, die betreffenden
Vorgänge ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 865
' Belege dafür dürften sich erübrigen. Es gab noch schlimmere Entgleisungen.
10 Vgl. N J W 1985, 2465 und 1945 sowie die Beratungen im Kölner und Münchener
Forschungsinstitut.
11 Ebenso Hassemer a. a. O. zum Vorfreispruch.
12 Das gilt vor allem für die Einwendungen, die Finanzverwaltung habe weitgehend die
heute beanstandete Praxis lange Zeit gebilligt und viele Beschuldigte seien „gutgläubig"
gewesen.
15 Also nicht die Finanzgerichte eingeschaltet werden (vgl. BVerfG N J W 1985, 1950).
866 Hans-Jürgen Bruns
sich auf prognostische Erwägungen und begnügt sich mit einer deutlich
herabgesetzten Wahrscheinlichkeit (Möglichkeit) der späteren Verurtei-
lung des Beschuldigten. Alle Verdachtsgründe unterscheiden sich ein-
deutig von der „Uberzeugung" des Gerichts i. S. des §261 StPO, die für
die abschließende gerichtliche Beweiswürdigung ein nach der Lebenser-
fahrung ausreichendes Maß an „Sicherheit" voraussetzt, demgegenüber
vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Die Bejahung eines bloßen
Verdachts durch die Staatsanwaltschaft orientiert sich nicht an jenen
gesteigerten Voraussetzungen des §261 StPO und kann deshalb nur
schwer, meist gar nicht, erfolgreich beanstandet werden.
2. Das Merkmal „Tatverdacht" umfaßt aber auch eine rechtliche Kom-
ponente: Der Verdacht muß sich nämlich auf eine (Straf-)Tat beziehen,
d. h. auf eine Handlung, die unter ein Strafgesetz fällt und eine spätere
Verurteilung ermöglicht. Zu dieser „Rechtsfrage" gehört primär die
Tatbestandsmäßigkeit in objektiver und subjektiver Hinsicht, die u. U.
auch eine Heranziehung von Rechtfertigungs- oder Schuldausschlie-
ßungsgründen notwendig macht", also eine (rechtliche) Schlüssigkeits-
prüfung, deren Ergebnis im Gegensatz zum bloßen Verdacht an „Sicher-
heit" der Uberzeugung nichts zu wünschen übrig lassen darf. Ein bloßer
(vermuteter) „Schlüssigkeitsv erdacht" genügt also nicht! Im Gegenteil,
die zu treffende Beurteilung der Rechts-, insbesondere der Tatbestands-
frage erscheint dem Gericht so wichtig, daß in dem sog. Anklagesatz der
Staatsanwaltschaft die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzu-
wendenden Strafvorschriften zu bezeichnen sind (§200 StPO). Aber das
Gericht ist - ebenso wie bei der Beweiswürdigung — nicht an die
rechtliche Beurteilung der Staatsanwaltschaft gebunden (§206 StPO). Es
hat vor dem Erlaß des Eröffnungsbeschlusses beides, insbesondere die
Tatbestandsfrage, zu überprüfen, kann sie auch abweichend von ihrer
Qualifizierung in der Anklageschrift fixieren (§ 207 StPO) und muß im
Nichteröffnungsbeschluß angeben, ob er auf tatsächlichen oder auf
Rechtsgründen beruht (§204 StPO). In dem Gesetzesmerkmal „Tatver-
dacht" sind also zwei verschiedene Gesichtspunkte sprachlich miteinan-
der verwoben: Der „Verdacht" auf der Ebene der tatsächlichen Feststel-
lungen und die Tat i. S. der Verwirklichung eines Tatbestandes, der
Klärung einer Rechtsfrage. Die Entscheidung beider Fragen hat nach
unterschiedlichen Maßstäben zu erfolgen. Die Schlüssigkeitsprüfung
betrifft die Rechtsfrage und ist an strengere Voraussetzungen gebunden
als die Tatfrage, die hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen (zurei-
chende Anhaltspunkte) bloßen Verdacht, wenn auch in sich abgestuft,
genügen läßt. Ein rechtlicher „Schlüssigkeitsverdacht" reicht dagegen
nicht aus.
21 Im Fall BGH 32, 314 auf die nicht zweifelhafte Strafbarkeit nach dem BtMG im
24 A.a.O., S.56ff.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 871
erscheinen, obwohl schon aus Gründen der Fürsorgepflicht die für den
Beschuldigten günstigere Erledigungsart vorgehen muß, denn die Ein-
stellung nach §153 I StPO stellt den Beschuldigten „nicht makelfrei".
Auch das öffentliche Verfolgungsinteresse kann grundsätzlich nicht mit
dem Justizinteresse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entschei-
dung aus reinen Rechtsgründen gerechtfertigt werden. Was soll also
geschehen, wenn die Tatbestandsfrage unklar und zweifelhaft ist, sie nur
bei grobem über-den-Daumen-peilen bejaht werden kann? Hat dann der
Beschuldigte in dieser non-liquet-Situation nicht einen Anspruch auf
Einstellung des Verfahrens nach § 170 II StPO, der eine Einstellung nach
§153 StPO ausschließt?
Nach den Erläuterungen jener Bestimmungen setzt ihre Anwendung
nicht voraus, daß die Schuld nachgewiesen ist. Es soll genügen, daß für
sie eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, jedenfalls die Unwahr-
scheinlichkeit eines Freispruchs, falls das Verfahren fortgeführt würde.
Das aber läuft auf einen bloßen Schlüssigkeitsverdacht hinaus, dessen
Bedenklichkeit kaum durch die notwendige Zustimmung des Gerichts
gemildert wird, weil auch das Gericht in solchen Fällen - im Hinblick
auf die bekannte Zielsetzung der einschlägigen Normen - es mit einer
dezidierten Tatbestandsprüfung nicht sonderlich ernst nimmt und die
Zustimmung des Angeschuldigten nur im Rahmen des § 153 II StPO
erforderlich ist.
3. Ähnlich herabgemilderte Voraussetzungen hinsichtlich der Schlüssig-
keitsprüfung gelten für die Einstellung nach § 153 a StPO, die zwar nur
mit Zustimmung des Beschuldigten möglich ist, aber eigentlich auch eine
Schlüssigkeitsprüfung des „Vergehens" voraussetzt. Sie läßt sich aber bei
diesem „zweckmäßigen vereinfachten Erledigungsverfahren" noch
weniger durchführen. Der Sache nach handelt es sich um einen Freikauf
vom Strafverfolgungsrisiko. In dem Erfordernis des Tatverdachts geht
der Nachweis der Tatbestandsmerkmale weitgehend unter, obwohl dem
Beschuldigten nur dann die freiwillige Übernahme besonderer Pflichten
zugemutet werden kann, mit der sich ja doch er als tatbestandsmäßig
schuldig bekennt. Näher auf sorgfältige rechtliche Erwägungen einzuge-
hen, lohnt sich hier nicht mehr25. Die Gerichtspraxis geht ihre eigenen
Wege reiner Zweckmäßigkeit, sie hat den Rahmen des §153a StPO
längst ins Unermeßliche gesprengt, bei (noch nicht nachgewiesenen)
25 Es handelt sich um einen viel erörterten Fragenbereich. Vgl. zuletzt die Besprechung
der Habilitationsschrift von Kunz durch Baumann, NJW 1985, 1948, wo von „Täuschung
der Öffentlichkeit durch Aufrechterhaltung der Fassade materiellrechtlicher Strafbarkeit"
die Rede ist und ein „förmlicher Schuldnachweis", freilich in einem vereinfachten Verfah-
ren gefordert wird; vgl. ferner Rieß, ZRP 1985, 212.
872 Hans-Jürgen Bruns
IV. Ergebnis
Der ungewöhnlich heftige Streit um die Strafbarkeit steuerhinterzie-
hender Parteispenden läßt sich also durch die Vorverlegung der Ent-
scheidung in das staatsanwaltschaftliche Vorverfahren nicht abschließend
entscheiden; dazu fehlt es an einer hinreichenden gesetzlichen Grund-
lage, an einem geeigneten Instrumentarium. Die Voraussetzungen für
eine Einstellung oder für die Fortführung des Prozesses kreisen zwar um
das Merkmal des Tatverdachts und der Schlüssigkeit in tatbestandsmäßi-
ger Hinsicht, aber deren Konturen bleiben notgedrungen in der Praxis
so vage, daß sie als Ansatzpunkte für eine Kritik in der einen oder
anderen Richtung nicht geeignet sind, deshalb die Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft auch nicht wesentlich beeinflussen können. Gegen
die Annahme oder Ablehnung eines bloßen Verdachtes, daß der
Beschuldigte einschlägige Handlungen vorgenommen habe, ist ohnehin
kein juristisches Kraut gewachsen. Die Bemühungen einflußreicher
Kreise, auf die Entschließungen der Staatsanwaltschaft einzuwirken,
müssen sich deshalb auf die Rechtsfrage, in erster Linie die Tatbestands-
mäßigkeit konzentrieren. Aber die an sich gebotene Schlüssigkeitsprü-
fung wird im Vorverfahren, namentlich bei Einstellungen, nur in groben
2t Man hört von Geldauflagen von mehreren hunderttausend DM, sogar in Millionen-
höhe.
27 Mit Recht rügt Kleinknecht/Meyer zu § 153 a StPO Nr. 6, daß auf diese Weise die
Möglichkeit des „Freikaufs" von der Strafverfolgung unter Mißachtung des Gleichheits-
grundsatzes vor allem zahlungskräftigen Wirtschaftsstraftätern zur Verfügung gestellt
wird.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 873
DIETHART ZIELINSKI
I.
11 A . a . O . (Anm.3), S.204.
14 A . a . O . (Anm.3), S.222f.
878 Diethart Zielinski
15
A . a . O . (Anm.3), S.204f.
16
A. a. O. (Anm. 3), S. 225.
17
Vgl. Coing, vom Sinngehalt des Rechts, in: Die ontologische Begründung des
Rechts, 1965, S.43.
18
Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 36 m. w. N .
" A . a . O . (Anm.2), S.36.
20
Vgl. Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 42 ff m. w. N .
Strafantrag - Strafantragsrecht 879
Gericht lediglich das Vorliegen dieser Erklärung zu prüfen hat oder aber
auch deren inhaltliche Richtigkeit21, kann hier außer Betracht bleiben.
Die Prozeßvoraussetzung des besonderen öffentlichen Interesses ist
insoweit funktionales Äquivalent zum Strafantrag: als Bestrafungsvor-
aussetzung sind beide Rechtsinstitute in Funktion und Wirkung gleich-
wertig. - Diesen Schluß zieht Maria-Katharina Meyer nicht ausdrück-
lich, er dient ihrer Argumentation jedoch als Bezugsrahmen. Sie inter-
pretiert die materiale Legitimation der Antragsdelikte von der Paralleli-
tät zu dem von der Staatsanwaltschaft zu erklärenden besonderen öffent-
lichen Verfolgungsinteresse her22. Da der Strafzweck staatlicher Strafe es
verbiete, sich privaten Rache- und Genugtuungsbedürfnissen verfügbar
zu machen23, müsse durch den Strafantrag des Verletzten in gleicher
Weise die Notwendigkeit der „Befriedung" des Gemeinschaftslebens
durch strafende Reaktion manifestiert werden wie durch die Feststellung
des besonderen Strafverfolgungsinteresses seitens der Staatsanwalt-
schaft24. Damit das private Strafverlangen aber friedenssichernde Ein-
griffe rechtfertigen kann, wird es mittels des schon von Volk bemühten
normativen Begriffs der Friedensstörung uminterpretiert in die Manifes-
tation einer „(individualisierten) Rechtsfriedensstörung der Allgemein-
heit", über die sich freilich die angeblich gestörte Allgemeinheit so lange
nicht zu beunruhigen hat, wie der individuell Verletzte dieselbe für nicht
strafwürdig hält. Das Gesetz werte die so manifestierte Individualfrie-
densstörung zugleich als eine Friedensstörung der Gemeinschaft und
mache sie zum Anlaß zu friedenssichernden Maßnahmen25. Wenn man
diese normative Wortakrobatik26 mitmacht und somit das reale Rechts-
phänomen „privates Strafverlangen" umwertet in ein Strafbedürfnis der
Allgemeinheit, d. h. in ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung,
ist das Ergebnis - der Strafantrag ist Prozeßvoraussetzung27 - zwingend.
Nur - hier wird keine „Rechtsnatur" erkannt, sondern fingiert.
II.
1. Die Praxis und weitgehend auch die Kommentarliteratur zeigen sich
von dem aufwendigen monographischen Theorienstreit um die Rechts-
24 A . a . O . (Anm.2), S.44f.
25 A . a . O . (Anm.2), S.47.
Begriffe bezeichnen, wenn der verletzte einzelne eine Friedensstörung der Allgemeinheit
manifestiere, diese aber eine individualisierte sein soll.
27 A. a. O. (Anm. 2), S. 48.
880 Diethart Zielinski
2! RGSt. 66, 53; 75, 306; BGHSt. 1, 231; 7, 261; 13, 268.
29 Wohl h.M., vgl. Schönke/Schröder/Stree, StGB, 22. Aufl. 1985, §77 Rdn.8; Lack-
ner, StGB, 16. Aufl. 1985, §77 Anm.lb; Dreher/Tröndle, StGB, 41. Aufl. 1983, Rdn.2
vor § 77; Jescbeck, Lehrbuch, 3. Aufl. 1978, S. 722; Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 10/12.
30 Vgl. RGSt. 70, 193; BGHSt. 13, 272 ; 20, 333; OLG Celle NJW 1968, 2119; OLG
ist auch dann, wenn die Verurteilung nur deshalb nicht möglich ist, weil
- trotz Unrechts und Schuld - der Konkurs nicht eröffnet wurde (§ 283
Abs. 6)40, der Täter Verwandter des Begünstigten ist (§ 258 Abs. 6)41, weil
der Angestiftete die Haupttat nicht versucht hat (§ 26), weil ein eindeuti-
ger Beweis nicht verwertet werden darf (§§ 136 a, 252 StPO) 42 , weil der
Täter vom Versuch zurückgetreten ist (§24), weil die Vermeidbarkeit
des fahrlässig verursachten Erfolges nicht sicher nachgewiesen werden
kann43, wenn in all diesen Fällen „Befriedung der Gemeinschaftsstö-
rung" durch Freispruch (wohl nur „normativ") bewirkt wird, dann gibt
es keine überzeugenden Gründe, wieso diese „Befriedung" nicht auch
veranlaßt und möglich sein soll, wenn der Strafantrag fehlt, Verjährung
eingetreten ist, der Täter schuldunfähig i. S. §19 ist (bei §20 ist Frei-
spruch zwingend!)44, die Tat unter eine Amnestie fällt.
Für keine der genannten schuldunabhängigen Bestrafungsvorausset-
zungen gibt es einen aus der „Rechtsnatur" des jeweiligen Merkmals
herleitbaren zwingenden Grund, auf sein Fehlen mit Freispruch oder
mit Einstellung zu reagieren. Es kann insoweit kein Zweifel bestehen,
daß durch einen Federstrich des Gesetzgebers alle „Bibliotheken" über
die Unterscheidung materiell-rechtlicher objektiver Bedingungen der
Strafbarkeit von - unechten (weil lediglich eine Verurteilung hindern-
den) - Prozeßvoraussetzungen45 zu Makulatur würden. Aber schon de
lege lata besteht keine Notwendigkeit für diese Unterscheidung, wie die
Praxis der Austauschbarkeit von Freispruch und Verfahrenseinstellung
zeigt. Die rechtliche Notwendigkeit einer Verfahrenseinstellung redu-
ziert sich - wegen der Rechtskraftwirkung eines Freispruchs - auf
III.
Hat die theoretisch viel untersuchte Frage nach der „Rechtsnatur" des
Strafantrags für die Praxis - wie gezeigt - keine Konsequenzen, hängt
von der in der Theorie vernachlässigten Frage nach der Wirksamkeit des
Strafantrags für den Angeklagten alles ab: Verurteilung oder Freispruch
(bzw. Einstellung).
1. Die Verfolgung von Straftaten durch den Staat geschieht zur Wah-
rung des Rechts, im Interesse der Allgemeinheit (im öffentlichen Inter-
esse), und zwar auch dann, wenn die einzelne Straftat Individualrechts-
güter verletzt. Die rechtsstaatlich monopolisierte Strafgewalt in der
Hand des Staates unterliegt deshalb notwendig dem Legalitätsprinzip
und der Offizialmaxime. Die Durchbrechung beider Prinzipien bei den
Antragsdelikten zugunsten weitreichender Einflußnahme des Straftatbe-
troffenen auf die Geltendmachung des staatlichen Strafanspruchs legiti-
miert sich aus einer höchstpersönlichen Beziehung zwischen Opfer und
Täter, - sei es wegen der Personengebundenheit des verletzten Rechts-
guts (§§123, 182, 183, 194, 205, 232, 238), sei es wegen der personalen
Bindung zwischen beiden (§§247, 294), - aus der prinzipiellen Staats-
freiheit der Persönlichkeitssphäre, in der die Durchsetzung des Rechts
gegen den Willen des Berechtigten eher Schaden stiften könnte als zur
Wahrung bzw. Wiederherstellung des Rechtsfriedens beitragen. Man-
gels Betroffenheit der Allgemeinheit oder Dritter soll es deshalb dem
Opfer überlassen bleiben, wie es den Konflikt mit dem Täter aufarbeitet:
durch Versöhnung in personaler Interaktion, durch Genugtuung in pri-
vatrechtlicher Interaktion oder durch justizförmige Sozialisierung des
Konflikts 47 ; ebenso soll es dem Opfer mit Rücksicht auf andere persönli-
che Interessen freistehen, auf eine Aufarbeitung des Konflikts zu ver-
zichten48.
46 Vgl. die seltene Fallkonstellation in BGHSt. 32, 1, 10; ähnliches ist auch denkbar für
49 So schon Binding, Handbuch des Strafrechts Bd.I, 1985, S.660; Naucke, H.Mayer-
Festschrift S. 579 f.
50 Vgl. hierzu A E eines Gesetzes zur Regelung des Ladendiebstahls, 1974; A E eines
- Es ist weder aus dem Gesetz noch sonst sichtbar, wodurch sich das
„besondere öffentliche Interesse" vom „normalen" öffentlichen
Strafverfolgungsinteresse unterscheiden soll53.
- Die Rechtsprechung weigert sich konstant - wohl auch aus dem
eben genannten Grund - und mit Billigung des Bundesverfassungs-
gerichts, die Erklärung der Staatsanwaltschaft über das besondere
öffentliche Interesse inhaltlich zu prüfen54.
Mangels Justiziabilität des „besonderen öffentlichen Interesses" sind
die insoweit „bedingten Antragsdelikte"55 faktisch Offizialdelikte, für
die der Strafantrag tatsächlich und rechtlich nicht weiterreicht als jede
Strafanzeige sonst auch: die Staatsanwaltschaft verfolgt bei Bejahung des
öffentlichen Interesses, andernfalls stellt sie nach §§ 153, 153 a StPO ein
bzw. verweist auf den Privatklageweg56. Der staatliche Strafanspruch ist
bei diesen Antragsdelikten durch das Antragsrecht des Verletzten nicht
eingeschränkt; man sollte sie deshalb unechte Antragsdelikte nennen.
IV.
1. Verurteilungsvoraussetzung ist der Strafantrag nur bei den echten
Antragsdelikten, bei denen die Befugnis, das Strafverfahren in Gang zu
setzen, ausschließlich beim Verletzten liegt. Der Staat hat hier zwar
nicht sein Monopol der Strafgewalt aufgegeben, wohl aber die Entschei-
dungsmacht über das O b des Einsatzes der Strafgewalt „privatisiert".
Für diese Privatisierung des staatlichen Strafanspruchs gibt es vielfältige
und hinlänglich bekannte Gründe57. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß
der vom Antragsberechtigten geltend gemachte Strafanspruch ein staatli-
cher Anspruch auf Rechtsbewährung, auf Wiederherstellung des Rechts-
inedens ist, und der so eingeleitete Strafprozeß niemals nur der Austra-
gung privater Streitigkeiten oder gar nur der Befriedigung privater
Rachebedürfnisse dienen darf58. Die staatliche Strafgewalt kann deshalb
nicht allein abhängig sein von der formalen Stellung eines fristgerechten
Strafantrages, sondern der Strafantrag muß sich darstellen als die Gel-
53 Die Hinweise in Nr. 234, 243 Abs. 3 RiStBV geben keine überprüfbaren oder gar in
59 Dieser Gedanke liegt wohl auch den Lehren von der sogenannten Doppelnatur des
Strafantrags zugrunde, vgl. H. Mayer (Anm. 58), S. 167; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1980,
S. 10; Schmidhausen Strafrecht AT (Anm. 58), 13/10, 12.
60 Vgl. hierzu insbesondere Maiwald, GA 1970, 35 f mit Hinweisen auf ein formalisier-
tes Prinzip der Verzeihung bzw. Versöhnung im preußischen ALR und preußischen StGB.
61 Vgl. Volk, a. a. O. (Anm. 3), S. 204.
gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl., S. 477) und Binding (a. a. O. [Anm. 49] S. 662) waren
dieser Auffassung. Aus neuerer Zeit vgl. Hellmer, H.Mayer-Festschrift S.671 ff, 680;
Hirsch, Engisch-Festschrift S.318, 325; Stall, Verhandlungen des 51.DJT (1976), II/N
S. 32, 35; ähnlich schon 45. DJT (1968) I / C S. 155ff; Köndgen, Haftpflichtfunktionen und
Immaterialschaden, 1976, S.62, 99; Deutsch, Haftungsrecht Bd. 1, 1976, S.473; ders. JuS
1969, 197.
63 Vgl. Grossfeld, Die Privatstrafe, 1961, S. 123; BGHZ 18, 149; auch BGHZ 75, 230
die Zivilrechtsprechung bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die für die Geldstrafen-
zumessung geltenden Maßstäbe zugrunde, vgl. B G H Z 18, 149; bzw. rechnet die Genugtu-
ung durch Kriminalstrafe auf den Schmerzensgeldanspruch an, vgl. O L G Düsseldorf N J W
1974, 1289.
65 Vgl. Hirsch, Engisch-Festschrift S.327; Köndgen, a . a . O . (Anm.62), S.99, 119f;
Jescheck, Lehrbuch (Anm.29), S.611.
66 Schon Binding verlangte deshalb ihre Abschaffung ( a . a . O . [Anm.49] S.603
Anm. 5); vgl. auch Henkel, ZStW 56 (1937), S. 234f.
67 So aber Bamstorf, NStZ 1985, 68.
68 Vgl. BVerfGE 21, 391; 27, 184; 43, 101, 105.
" Für eine solche Rechtskontrolle plädieren Naucke, H. Mayer-Festschrift S. 581, 583;
Maiwald, GA 1970, 40.
70 Wie jüngst geschehen bei §303 StGB, § 109 UrhG.
888 Diethart Zielinski
Verletzten.
76 Vgl. für das Zivilrecht Palandt/Heinrichs, BGB, 45. Aufl. 1986, §242 Anm.4 Ca, b
m. w. N.; für das öffentliche Recht BVerwGE 3, 297; 16, 262; BVerfGE 27, 231, 236; 32,
305, 308 f; 33, 265, 293.
77 So Naucke, H. Mayer-Festschrift S. 574 ff; Roxin, ZStW 75 (1963) 556 ff; Neumann,
V.
Als Ergebnis ist festzuhalten:
1. Der Strafantrag hat praktische Bedeutung nur bei den echten An-
tragsdelikten.
2. Bei den unechten Antragsdelikten ist der Strafantrag nur im Privat-
klageverfahren von Bedeutung. Im übrigen sind diese Delikte man-
gels begrifflicher Kontur und Justiziabilität des „besonderen öffentli-
chen Interesses" normale Offizialdelikte.
3. Die „Rechtsnatur" des Strafantrags ist irrelevant; er ist keine Prozeß-
voraussetzung i. S. einer Sachurteilsvoraussetzung, sondern lediglich
Verurteilungsvoraussetzung.
4. Die Notwendigkeit einer Einstellung bei fehlendem Strafantrag ist
nur begründbar für den Fall der Nachholbarkeit. Im übrigen ist die
„Einstellung des Verfahrens" nach §260 Abs. 3 StPO funktional
äquivalent einem Freispruch und mangels eines „Verfahrenshinder-
nisses" vom Gesetz nicht gefordert.
7» Vgl. B G H N J W 1980 1761; 1981, 1626; Strafverteidiger 1981, 163, 276; 1982, 221;
Bruns, NStZ 1983, 49, 53 ff; Lüdensen, Peters-Festschrift S.349, 353 f; Dencker, Dünne-
bier-Festschrift S. 447 ff, 456, 459.
" So neuestens BGHSt. 32, 345, 350 ff unter äußerster Zurückhaltung gegenüber
einschneidenden Konsequenzen bei rechtswidrigem Verhalten von Strafverfolgungsper-
sonen.
80 Wie Anm. 79.
81 Das dürfte von praktischer Bedeutung sein insbesondere bei provozierten Beleidi-
I. Einführung
Kaum ein Grundsatz des Strafverfahrens zieht derzeit so viel Auf-
merksamkeit auf sich wie der der Öffentlichkeit. Der Deutsche Juristen-
tag hat sich in unmittelbarer Abfolge zweimal damit befaßt1. Die Alter-
nativ-Professoren sind gleichfalls zweimal mit Vorschlägen auf den Plan
getreten, bei denen der Grundsatz der Öffentlichkeit unmittelbar ange-
sprochen ist: nämlich mit dem Alternativ-Entwurf über ein Strafverfah-
ren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung 2 und dem Alternativ-Ent-
wurf zur Reform der Hauptverhandlung 3 . Im Gefolge dieser Ereignisse
haben sich die Stellungnahmen in der Literatur gehäuft 4 . Auf der Ebene
der Gesetzgebung nehmen die Anderungsvorschläge mit der Vorlage
eines Gesetzentwurfs zur Verbesserung der Stellung des Verletzten 5 im
Strafprozeß nunmehr konkrete Gestalt an.
* Der Beitrag knüpft an einen Vortrag an, den der Verf. im Oktober 1985 an den
Universitäten in Kattowitz und Krakau (Polen) gehalten hat. Die Vortragsfassung wird in
polnischer Sprache veröffentlicht.
1 Vgl. die Gutachten von Zipf, Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlich-
keit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung der Rechtsstel-
lung des Beschuldigten weitere nichtöffentliche Verfahrensgänge zu entwickeln?, Ver-
handlungen des 54. DJT, Band I (Gutachten) Teil C, 1982, sowie von Rieß, Die Rechtsstel-
lung des Verletzten im Strafverfahren, Verhandlungen des 55. DJT, Band I (Gutachten)
Teil C, 1984.
2 Baumann u. a., Alternativ-Entwurf. Novelle zur Strafprozeßordnung. Strafverfahren
' Im Zivilprozeß spielt die Frage längst nicht diese Rolle, was damit zusammenhängen
dürfte, daß dort faktisch NichtÖffentlichkeit in dem Sinne herrscht, daß „von der Zugäng-
lichkeit der Verhandlung für beliebige, am Verfahren nicht beteiligte Personen (...) seit
jeher nur äußerst geringer Gebrauch gemacht wird", so Köhl, Die Öffentlichkeit des
Zivilprozesses - eine unzeitgemäße Form, in: Festschrift für Schnorr von Carolsfeld, 1973,
S. 235. Köhl fordert als einer der wenigen aus zivilprozessualer Sicht weitere Einschrän-
kungen zum Schutz der Persönlichkeit.
7 Grdl. dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 35, 202.
8 Vgl. dazu nur Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer, 1982.
' Hassemer, Vorverurteilung durch die Medien?, NJW 1985, 1921, 1925, sieht zutref-
fend das Dilemma „progressiver" Autoren darin, daß beide Ziele, Öffentlichkeit und
Schutz der Intimsphäre, rechtspolitisch positiv bewertet werden.
10 Vgl. zu diesen Zusammenhängen statt vieler Zipf (Fn. 1), S. C21 ff.
Öffentlichkeit 893
" Allg. zu dieser Problematik van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis
und Strafrituale der frühen Neuzeit, 1985; ders., Das Schauspiel des Todes, Hinrichtungs-
894 Heike Jung
rituale in der frühen Neuzeit, in: van Dülmen/Schindler (Hrsg.), Volkskunst. Zur
Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), 1984, S. 203 ff.
12 So Albers, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, 1974,
S. 12; vgl. auch Fügen, Der Kampf um Gerichtsöffentlichkeit, 1974, S.58.
13 Näher dazu Schild, Der „entliche Rechtstag" als Theater des Rechts, in: Landau/
Scbroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, 1984, S. 119 ff; van Dülmen,
Theater des Schreckens (Fn. 11), S. 54 ff.
14 Anschaulich eingefangen in Heinrich Manns Schilderung der Hinrichtung eines
Edelmannes unter Heinrich IV. Vgl. Heinrich Mann, Die Vollendung des Königs Henri
Quatre, rororo 1964 (1975), S. 210 ff.
15 Siebenpfeiffer, Über die Frage unserer Zeit in Beziehung auf die Gerechtigkeits-
pflege, 1823, S. 179 ff.
Öffentlichkeit 895
Verfahren gegen 254 Angeklagte, das mit der bis dahin geltenden
Kriminalordnung nicht zu bewältigen gewesen wäre20.
Bei Schaffung des Gerichtsverfassungsgesetzes galt die Frage als aus-
diskutiert. I m Für und Wider der Argumente war der Grundsatz der
Öffentlichkeit unangefochten hervorgegangen. Man darf jedoch nicht
übersehen, daß die Wegstrecke von der politischen Streitschrift bis zur
umfassenden rechtlichen Geltung relativ lang gewesen ist. Das Ziel
wurde in Etappen erreicht. Die Politisierung, die diese Frage erfahren
hatte, hat dazu beigetragen, daß wir auf einen ausgesprochen reichhalti-
gen literarischen Fundus zurückgreifen können, in dem wir alle promi-
nenten Rechtslehrer, angefangen von Feuerbach2i über Mittermaier22 bis
Welckerwiederfinden.
Manche der damals gegen die Öffentlichkeit vorgebrachten Argu-
mente24 muten heute schon seltsam an, so z. B. Befürchtungen für die
Gesundheit der Richter. Freilich war auch damals schon von der Pran-
gerwirkung die Rede, sah man durchaus die Problematik des Schutzes
der Intimsphäre von Beschuldigten und Zeugen, beklagte man, daß die
öffentliche Hauptverhandlung nichts anderes sei als ein kostenfreies
Schauspiel. Die politische Entscheidung der Zeit fiel dennoch klar und
eindeutig aus. Die Verletzung des Publizitätsgrundsatzes wurde als
absoluter Revisionsgrund ausgestaltet. Nur die Gefährdung der öffentli-
chen Ordnung und der Sittlichkeit rechtfertigt danach den Ausschluß
der Öffentlichkeit. Das Vorverfahren blieb freilich nichtöffentlich.
29 Ebenso Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl., 1985, S.282; vgl. zu den verschiede-
die Einzelfallösung nicht abstrakt vorgegeben ist, sondern daß sie in dem
Parallelogramm divergierender Interessen konkret bestimmt werden
muß. Trotzdem scheint es mir lohnenswert zu sein, nach einem überge-
ordneten Bezugspunkt zu suchen, in dem beide Gesichtspunkte zusam-
menfließen. Hier bietet sich der Begriff des „fairen Verfahrens"36 an.
Denn daraus erwachsen Anforderungen im Umgang mit Beschuldigten
und Zeugen. Im fairen Verfahren finden sich Öffentlichkeit und Persön-
lichkeitsschutz wieder, weil die Öffentlichkeit im Sinne rational gefilter-
ter gesellschaftlicher Interessen eben auch den Schutz der Betroffenen
gegen Eingriffe in ihre Persönlichkeit erwartet, eine Öffentlichkeit um
jeden Preis und in allen Fällen also gar nicht erwünscht ist37.
Damit sind wir in puncto konkreter Interessenabwägung zwar nicht
viel weiter. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, daß die wach-
sende Bedeutung des Persönlichkeitsschutzes keine „Erfindung" der
Juristen, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Entwicklungspro-
zesses ist, der sich allenthalben bemerkbar macht und dessen verfas-
sungsrechtliche Relevanz sich zuletzt im sog. Volkszählungsurteil nie-
dergeschlagen hat, mit dem das Bundesverfassungsgericht das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung statuiert hat38.
Prinzipien verleiten immer wieder zu einer Betrachtung nach Art des
Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Nur darf dies nicht im Sinne eines
gesteigerten Begründungszwangs für die Ausnahme gehandhabt werden.
Vielmehr konkurriert die Öffentlichkeit als eine klar konturierte Rah-
menbedingung staatlicher Konfliktentscheidung im demokratischen
Rechtsstaat mit diffuseren Interessen, vor allem, aber nicht nur, mit
denjenigen des Persönlichkeitsschutzes, Interessen, die freilich in
bestimmten Konstellationen ein Übergewicht erhalten können und die
auch in der Vergangenheit durchaus schon stärker gewichtet worden
sind. Man denke nur daran, daß das schriftliche Strafbefehlsverfahren,
für das vor allem Gründe der Arbeitsökonomie streiten, eine ebenso
lange Tradition hat wie die Konsolidierung des Öffentlichkeitsprinzips.
Auch sei daran erinnert, daß zahlreiche Verfahrensarten - wie z.B. seit
jeher das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder neuerdings das
strafvollzugsrechtliche Rechtsschutzsystem der schnelleren und leichte-
ren Erledigung wegen - keine mündliche Verhandlung kennen und damit
36 Vgl. aus der Diskussion um diesen Grundsatz nur Heuhl, Der „fair-trial" - ein
Grundsatz des Strafverfahrens?, 1981; Dörr, Die Gewährleistung des Rechts auf ein faires
Verfahren im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1983.
37 Zutreffend klassifiziert Kleinknecht, Schutz der Persönlichkeit des Angeklagten
durch Ausschluß der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung, in: Festschrift für Schmidt-
Leichner, 1977, S. 111, 113, das Interesse am Schutz des persönlichen Lebensbereichs als
ein „öffentliches".
38 BVerfG, NJW 1984, 419.
Öffentlichkeit 901
auch dem Gebot des § 169 G V G entzogen sind. Die eigentliche Schwie-
rigkeit bietet die Umsetzungsebene. Sobald wir nämlich auf eine Einzel-
fallentscheidung verwiesen werden, müssen wir Spielräume der Ent-
scheidung eröffnen. Dabei können wir aber nicht sicher sein, daß die
Entscheidungsträger in der Umsetzung den gewünschten Punkt treffen.
Den Richtern, so will mir scheinen - und dies müssen wir bei
reformpolitischen Überlegungen berücksichtigen - , ist der Grundsatz
der Öffentlichkeit derart „heilig", daß sie mit dem Ausschluß eher
zögerlich sind. Entgegen einer verbreiteten Annahme" dürfte diese
Zurückhaltung nicht so sehr der Angst vor dem absoluten Revisions-
grundsatz entspringen als vielmehr einer sehr prinzipiellen Betrach-
tungsweise, vielleicht sogar einem tief empfundenen Bedürfnis, sich der
Öffentlichkeit „stellen" zu müssen. Diese richterliche Zurückhaltung
mag man als Mahnung vor einer allzu großzügigen Beschränkung der
Öffentlichkeit nehmen. Vielleicht spiegelt sich darin eben eine instink-
tive Abwehrreaktion gegen den Vorwurf der „Mauschelei". Man mißt
der Öffentlichkeit insoweit eine Entlastungsfunktion zu und akzeptiert -
wenn auch vielleicht widerwillig - , daß man auf diese Art auf dem
Prüfstand öffentlicher Kritik steht. Dies klingt auch bei Hassemer an,
wenn er davon spricht: „Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ist also
die den besonderen Bedingungen szenischen Verstehens entsprechende
Möglichkeit der Kontrolle für jedermann und die Möglichkeit der
Selbstrechtfertigung für den agierenden Rechtsstab" 40 . Dies bestätigt im
Grunde auch, daß - entgegen der Annahme Scherers - 4 1 der Rückgriff
auf den Gesichtspunkt der „Schaffung von Vertrauen" einerseits und die
demokratietheoretische Fundierung von kontrollierender Gerichtsöf-
fentlichkeit andererseits keine rivalisierenden, einander ausschließenden,
sondern komplementäre Begründungsansätze für den Grundsatz der
Öffentlichkeit darstellen.
Es wird immer wieder darauf verwiesen, daß die Medienöffentlichkeit
uns in puncto Grundsatz der Öffentlichkeit vor eine neue Situation
gestellt hat. Diese Fragestellung reicht weit über unser Thema hinaus42.
39 Etwa auch von Odersky in seinem Referat auf dem 55. DJT; vgl. Verhandlungen des
55. DJT, Bd. II, Teil L, 1984, S. L 2 9 , 35. Wie hier Schöch, in: Verhandlungen des 54. DJT,
Band II (Sitzungsberichte), 1982, S.K 115; vgl. auch den differenzierten Katalog von
Ursachen für den seltenen Ausschluß der Öffentlichkeit aus Gründen des Persönlichkeits-
schutzes bei Rieß, Zeugenschutz durch Änderung des § 338 Nr. 6 ZPO, in: Festschrift für
Wassermann, 1985, 969, 975.
40 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 152 f.
41 Scherer (Fn. 32), S. 66 ff.
nur Kühler (Hrsg.), Medienwirkung und Medienverantwortung, 1975; Franke (Fn. 29);
v.Becker, Straftäter und Massenmedien: Die Frage der Rechtmäßigkeit identifizierender
Kriminalberichte, 1979; Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz,
1982; Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Die Freiheit der Medien und ihre
Verantwortung im System der Grundrechte, 1982; Zillemann, Der Tatverdächtige als
Person der Zeitgeschichte, 1982.
Öffentlichkeit 903
V. Konkrete Gestaltungsvorschläge
1. Wieviel Öffentlichkeit?
Aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit lassen sich keine Bauvorschrif-
ten ableiten, geschweige denn eine konkrete Raumverteilung. Nun ist
sicher das öffentliche Interesse an Verfahren ganz unterschiedlich. Die
Verfahren bergen unterschiedliches Konfliktpotential. Bei einem ratio-
nalen Umgang mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit wird man dem
unterschiedlichen Bedeutungsgehalt für die Öffentlichkeit in gewissem
Umfang auch Rechnung tragen müssen. Nur: Soll man das Verfahren
des großen Andrangs wegen in einem Fußballstadion durchführen
dürfen?
Der psychologische Druck, der von einer allzu großen Menschen-
menge auf den Angeklagten ausgeht, dürfte dies verbieten. Insofern hat
sich das Landgericht Saarbrücken, als es im „Lebach-Prozeß" vom
Gerichtssaal des Landgerichtsgebäudes in eine Kongreßhalle umgezogen
ist, sicher schon der Grenze des Zulässigen genähert49. Sensibel sollten
„falltypischen Gestaltung"; BVerfGE 35, 202, 225; vgl. auch Zipf (Fn. 1), S . C 5 0 f .
48 Kissel, 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, N J W 1979, 1953, 1958.
49 Die Grenzziehung ist freilich schwierig. Auch die prozessuale Anknüpfung für eine
Revision ist in derartigen Fällen nicht einfach zu finden. § 338 Nr. 6 StPO greift sicher
nicht. Unter den absoluten Revisionsgründen käme allenfalls § 338 Nr. 8 StPO - unzuläs-
sige Beschränkung der Verteidigung durch Gerichtsbeschluß - in Betracht. Im „Lebach-
Prozeß" selbst ist die Revision der Angeklagten durch Beschluß verworfen worden, ohne
daß die Stellungnahme des Gerichts zu dieser Frage erkennbar wird.
904 Heike Jung
wir auch reagieren, wenn man meint, den befürchteten Störungen durch
die Auswahl eines möglichst kleinen Saales begegnen zu müssen. Auf
einem anderen Blatt und als solche unbestritten steht die Notwendigkeit
von Sicherheitskontrollen, wenn der konkrete Fall hierzu Veranlassung
gibt. Inakzeptabel wäre freilich, wenn in Verfahren, die als besonders
heikel gelten, Polizisten - sei es auch in Zivil - allein die Öffentlichkeit
darstellten.
Im Kern geht es also darum, eine manipulationsfreie Ableitungskette
zu jedem einzelnen Bürger als potentiellem Zuhörer zu gewährleisten.
Dem Grundsatz der Öffentlichkeit widerstreitet es daher, eine Auswahl
unter den Besuchern zu treffen50. Dies läuft auf ein striktes Prioritäts-
prinzip hinaus. Es gilt selbst dann, wenn eine Schulklasse geschlossen
zum Besuch einer Verhandlung erscheint. Andererseits kann die Schul-
klasse keine bevorzugte Behandlung beanspruchen. Das Gebot der
manipulationsfreien Ableitungskette impliziert auch, daß das Gericht
sich nicht einfach irgendwo anders hin „absetzen" darf. Erweist sich ein
Weiterverhandeln außerhalb des Gerichtssaales als erforderlich, so
genügt es deswegen nicht, wenn dies in öffentlicher Sitzung verkündet
wird; vielmehr ist es erforderlich, im Gerichtsgebäude selbst einen
entsprechenden Hinweis anzubringen, oder durch andere geeignete
Maßnahmen (z.B. Benachrichtigung des Pförtners) sicherzustellen, daß
Neuankömmlinge erfahren, wo die Sitzung fortgesetzt wird51. Ansätze
in der Rechtsprechung52, von diesen Erfordernissen im Ordnungswid-
rigkeitenverfahren Abstriche zu machen, ist Rengiera mit Recht entge-
gengetreten.
Hebt man auf den Gedanken der manipulationsfreien Ableitungskette
ab, wird man andererseits nicht jede objektive Beeinträchtigung der
Öffentlichkeit genügen lassen können, so daß dem Gericht nicht zure-
chenbare Beschränkungen der Öffentlichkeit durchaus aus dem Gel-
tungsbereich des §338 Nr. 6 StPO herausgenommen werden könnten54.
54 Vgl. aus der Rechtsprechung z . B . BGHSt. 21, 72; 22, 297; krit. gegenüber einer
Einschränkung des Grundsatzes der Öffentlichkeit in diese Richtung Kohlmann (Fn. 4),
S. 582 f.
Öffentlichkeit 905
59 Vgl. A E - S t P O - H V (Fn.3), S . 7 4 f .
906 Heike Jung
4171b
(1) Kommen Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozeßbeteiligten,
Zeugen oder durch eine rechtswidrige Tat (§11 Abs. 1 Nr. 5 des Strafgesetzbuches)
Verletzten zur Sprache, so entscheidet das Gericht auf Antrag der Person, deren Lebensbe-
reich betroffen ist, darüber, ob die Öffentlichkeit auszuschließen ist. Es schließt die
Öffentlichkeit aus, wenn die öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen
würde und nicht das Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt.
(2) Unter den Voraussetzungen des Absatz 1 Satz 2 kann die Öffentlichkeit auch ohne
Antrag ausgeschlossen werden.
(3) Die Entscheidungen nach den Absätzen 1 und 2 sind unanfechtbar."
Öffentlichkeit 907
Schreckens" anhaften. Nur sollte man dies nicht noch zusätzlich ver-
stärken.
Die gelegentliche Skepsis der Justiz gegenüber der Gerichtsberichter-
stattung ist nicht unser Thema. Sie ist es nur insoweit, als durch die
Medien das Verfahrensklima vorstrukturiert werden könnte. Die Anteil-
nahme der Presse an Verfahren differiert. Die Presse neigt freilich dazu,
den Standpunkt der Verbrechensbekämpfung zu verabsolutieren70. Dies
gilt wohlgemerkt nicht nur für spektakuläre Verfahren, in deren Zusam-
menhang der Begriff „Vorverurteilung" neuerdings in aller Munde ist.
Konkrete legislatorische Maßnahmen sind hier für die Bundesrepublik
Deutschland freilich nicht angezeigt71. Im Grunde handelt es sich dabei
nur bedingt um ein durch Rechtsnormen steuerbares Phänomen, eher
um eine Frage der politischen Kultur72.
und Pressefreiheit: Vorverurteilung durch die Medien, berichtet von Kohl, 1985, 1945,
1946.
73 So z. B. Siebenpfeiffer (Fn. 15), S. 276 f.
74 Zur damaligen Diskussion Albers (Fn. 12), S. 150.
910 Heike J u n g
keit ließen sich nicht nur von der Überlegung leiten, daß Öffentlichkeit
in diesem Stadium den Untersuchungszweck vereiteln könne, sondern
machten auch geltend, daß die öffentliche Voruntersuchung eine unver-
antwortliche Härte für den Beschuldigten mit sich bringe.
Letztlich blieb es bei dem inquisitorischen geheimen Vorverfahren,
und daran hat sich bis heute nichts geändert. Nun ließe sich dies
natürlich mit dem Argument rechtfertigen, daß der deutsche Strafprozeß
strukturell eben auf die Klärung in der Hauptverhandlung setze, vorher
also für Öffentlichkeit kein Bedarf sei. Nur muß man sich fragen, ob
diese Ausgangsbasis noch zutrifft75. Die Realität geht doch dahin, daß
das Vorverfahren gegenüber der Hauptverhandlung immer mehr an
Bedeutung gewonnen hat. Längst ist anerkannt, daß das Ermittlungsver-
fahren eine die Hauptverhandlung und ihr Ergebnis prägende Kraft76
hat. Um so gewichtiger erscheint danach die Feststellung, daß dem
Zuviel an Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung ein Zuwenig an
Transparenz im Ermittlungsverfahren entspricht. Die unterschiedlichen
Begriffe signalisieren,^daß es nicht darum gehen kann, den Grundsatz
der (Saal-)Öffentlichkeit einfach auf das Ermittlungsverfahren zu
erstrecken. Vertrauen läßt sich auch in anderer Form herstellen, in einer
Form, die den speziellen Bedürfnissen des Ermittlungsverfahrens
gerecht wird. Die Schritte reichen von einer stärker kontradiktorischen
Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens77 bis hin zur Vorlage eines
Jahresberichts durch die Staatsanwaltschaft nach niederländischem Vor-
bild78. Daß die vertrauensbildenden Maßnahmen den strukturellen
Besonderheiten des Teilbereichs der Strafrechtspflege angepaßt werden
müssen, daß auf sie aber nicht verzichtet werden kann, belegt im übrigen
nichts deutlicher als die Diskussion um die „Öffnung" des Strafvollzu-
ges79 und die institutionellen Vorkehrungen, die das Strafvollzugsgesetz
zum Beispiel in Form der Anstaltsbeiräte (§§ 162-165 StVollzG) hierfür
zur Verfügung stellt. Auf die Diskussion um den Grundsatz der Öffent-
lichkeit rückbezogen folgt daraus: Man hat für die Akzeptanz der Justiz
bislang vielleicht zu sehr auf die Öffentlichkeit speziell der Hauptver-
handlung gesetzt. Sie ist sicher ein wichtiger Garant für die Transparenz
der Justiz. Das Vertrauen in die Justiz lebt aber nicht vom öffentlichen
Vollzug der Hauptverhandlung allein.
VI. Ausblick
Am Ende betrachtet man die eigene Bilanz ohne große Begeisterung.
Zu vieles mußte in der Schwebe bleiben, manches konnte nur angedeutet
und nicht entfaltet werden. Wieder anderes blieb gänzlich ausgespart.
Zusammenfassend läßt sich aber immerhin feststellen, daß die Notwen-
digkeit von Persönlichkeitsschutz im Verfahren das Öffentlichkeitsprin-
zip auf seinen sozialpsychologischen Kern zurückführt: Es darf nicht
der Eindruck entstehen, daß Justiz sich im geheimen abspielt, daß man
etwas zu verbergen hat. Strafrechtler neigen dazu, den Grundsatz der
Öffentlichkeit mit generalpräventiven Gesichtspunkten zu unterlegen.
Dabei wird freilich nur allzu leicht übersehen, daß wir es mit einem
Grundsatz zu tun haben, der für alle Verfahrensordnungen gilt und
dessen Rechtfertigung daher nicht primär in der Begriffswelt eines
Rechtsgebietes gegründet werden darf. Freilich läßt sich durchaus eine
Verbindung zwischen dem allgemeineren Gedanken des Vertrauens in
die Rechtspflege und dem Gedanken der Normverdeutlichung - sprich
der positiven Generalprävention - herstellen. Auch liegt auf der Hand,
daß die negativen Begleiterscheinungen eines öffentlichen Verfahrens-
ganges speziell in der Strafrechtspflege am nachhaltigsten spürbar wer-
den. An der Grundanforderung, das Vertrauen in die Justiz zu erhalten,
darf auch der durchaus notwendige Ausbau des Persönlichkeitsschutzes
nicht rütteln. Die Erkenntnis, daß die Mechanismen zur Durchsetzung
des Persönlichkeitsschutzes durchaus vielgestaltig sein können, ver-
pflichtet uns überdies, auch die Alternativen zu einem Ausschluß der
Öffentlichkeit ins Kalkül einzubeziehen. Persönlichkeitsschutz im Ver-
fahren ist nicht nur eine Sache von Öffentlichkeit oder Nichtöffentlich-
keit. Erinnert sei nur an die Zeugnisverweigerungsrechte, den Zeugen-
anwalt und das Abtretenlassen des Angeklagten.
Das Verhältnis der „Medienöffentlichkeit" zur „Saalöffentlichkeit"
spiegelt letztlich nur das Verhältnis des unmittelbaren Erlebens zur
massenmedialen Uberformung des Lebens wider. Beide, Medienöffent-
lichkeit und Saalöffentlichkeit, erfüllen nur in Teilen dieselben, anson-
sten komplementäre Funktionen. Insofern dürfen wir den Grundsatz
der Öffentlichkeit auch nicht allein durch die Brille der Medienöffent-
lichkeit betrachten, weil dadurch eine einseitige Färbung hineinkäme.
Sicher stellt auch das Öffentlichkeitsprinzip nur eine der vertrauens-
bildenden Maßnahmen dar. Die Garantie der Unabhängigkeit der
Gerichte dürfte in diesem Zusammenhang eine viel bedeutsamere Rolle
912 Heike Jung
80 Ähnlich Kleinknecht (Fn. 37), S. 113. Allg. zur richterlichen Unabhängigkeit Herr-
mann, Die Unabhängigkeit des Richters?, DRiZ 1982, 286.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung
im Strafprozeß
K A R L PETERS
I.
Das Wiederaufnahmerecht erfüllt seinen Zweck, die Gerechtigkeit
wiederherzustellen, nur unvollkommen. Selbst sorgfältig begründete
und aussichtsreiche Wiederaufnahmeanträge werden regelmäßig schon
im Zulassungsverfahren verworfen, so daß es zu einer neuen Beweisauf-
nahme und deren Erörterung nicht mehr kommt. Die Praxis hat in einer
dem ursprünglichen Willen des Gesetzes widersprechenden Weise das
Wiederaufnahmeverfahren so weit eingeengt, daß es zur Beseitigung
selbst eindeutiger oder doch wenigstens vermutlicher Fehlurteile nicht
kommt. Vergeblich wird immer wieder das Bundesverfassungsgericht
um Abhilfe ersucht. Mit der Begründung, das Bundesverfassungsgericht
sei kein Superrevisionsgericht, bei der Auslegung der Wiederaufnahme-
bestimmungen handele es sich nur um einfaches Recht und erst bei
Willkür könne das Bundesverfassungsgericht eingreifen, werden Verfas-
sungsbeschwerden nicht angenommen. Der Gedanke, daß es sich im
Strafprozeßrecht weithin um ins einzelne umgesetztes Verfassungsrecht
handelt und die Wiederherstellung von Ehre und Freiheit Ausfluß der
Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts ist, hat nicht die Zustim-
mung des Verfassungsgerichts gefunden. Das Willkürverbot ist wir-
kungslos, weil bei noch so schwerwiegenden Fehlern und unhaltbaren,
subjektiv getragenen Ansichten der Gerichte das Vorliegen von Willkür
verneint wird.
Ebenso unergiebig ist der Versuch, bei noch nicht vollstreckten
Strafen im Gnadengang einen Ausgleich herbeizuführen. Mit dem
durchaus fragwürdigen Hinweis auf die Unabhängigkeit der Gerichte
werden Gnadenanträge zurückgewiesen.
Die nahezu völlige Aussichtslosigkeit, ein Fehlurteil oder doch wenig-
stens seine Folgen zu beseitigen, macht es erforderlich, das Grundver-
fahren stärker abzusichern, als es in der Strafrechtspflege der Fall ist. Es
gibt typische Fehlerquellen aufzuzeigen, die entweder nicht erkannt
oder, selbst wenn sie erkannt werden, nicht genügend beachtet werden.
Die Absicherung vor Fehlurteilen ist nicht nur ein kriminalistisches,
sondern auch ein rechtliches Problem. Sicherlich kommt es darauf an, im
914 Karl Peters
S t r a f p r o z e ß die kriminalistischen E r k e n n t n i s s e u n d E r f a h r u n g e n s o w o h l
auf d e m G e b i e t des Sachbeweises als a u c h des P e r s o n a l b e w e i s e s zu
b e r ü c k s i c h t i g e n . A b e r a u c h die H a n d h a b u n g des G e s e t z e s , v o r allem die
A u s f ü l l u n g v o n F r e i r ä u m e n ' u n d die A u s l e g u n g der gesetzlichen B e s t i m -
mungen2, k ö n n e n die aus den F e h l e r q u e l l e n e n t s t e h e n d e n Gefahren
verstärken oder verringern. Ergibt sich aus den Fehlerquellen eine
B e d r o h u n g d e r G e r e c h t i g k e i t , der R e c h t s s i c h e r h e i t u n d der R e c h t s s t a a t -
lichkeit, so b e d a r f es einer A n w e n d u n g u n d A u s l e g u n g des G e s e t z e s , die
die G e f a h r ausschließt o d e r w e n i g s t e n s v e r m i n d e r t . Z u den üblichen
Auslegungsgesichtspunkten tritt die S i c h e r u n g der Wahrheitsfindung
hinzu.
E s soll an einigen h e r v o r r a g e n d e n Fehlerquellen, v o n denen v o r n e h m -
lich g r ö ß e r e V e r f a h r e n b e t r o f f e n w e r d e n , aufgezeigt w e r d e n , welche
Rechtshandhabung geboten ist, um der Gefahr wirklich Herr zu
werden3.
1 Daß es keine völligen Freiräume in der Anwendung des Rechts gibt, ist das Ergebnis
Reichsstrafprozeßrecht 1928, S. 20; Gerlach, Der deutsche Strafprozeß 1927, S. 26; Hau-
ser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts 1978, S. 20 ff; Henkel, Strafver-
fahrensrecht 1968, S.67; K.Peters, Strafprozeß 4.Aufl. 1985, §14 mit weiteren Schrift-
tumsangaben; aus dem materiell-strafrechtlichen Schrifttum: R. von Hippel, Deutsches
Strafrecht Bd. 2 (1930) §37; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978,
S. 105, 118 ff; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Bd. 1, 5. Aufl. 1977, S. 119 ff.
Weiterhin grundlegend: Sauer, Juristische Methodenlehre 1940, §§35-37.
3 Das deutschsprachige Schrifttum hat sich seit 75 Jahren unter Darstellung äußerst
zahlreicher Einzelfälle mit dem Fehlurteil befaßt. Es liegt daher umfangreiches Anschau-
ungs- und Unterrichtsmaterial vor, das aber offenbar nur wenig Eindruck auf die Praxis
gemacht hat. Es seien in zeitlicher Reihenfolge genannt: Sello, Das Fehlurteil im Strafpro-
zeß 1911; Alsberg, Justizirrtümer und Wiederaufnahme 1913; Hellwig, Justizirrtümer
1914; K.Peters, Zeugenlüge und Prozeßausgang 1939; Hirschberg, Das Fehlurteil im
Strafprozeß 1960; Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, Diss. Münster 1960; K. Peters, Fehler-
quellen im Strafprozeß, 3 Bde. 1970-1974; Suttermeister, Summa iniuria, Ein Pitaval der
Justizirrtümer, Basel 1976; Regine Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren 1980;
K.Peters, Justiz als Schicksal. Ein Plädoyer für die andere Seite 1979; Schöneborn,
Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik. Eine Analyse von Aktenmaterial, insbe-
sondere gescheiterter Wiederaufnahmeverfahren 1980; Heinz, Fehlerquellen forensisch-
psychiatrischer Gutachten 1982; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens
1984, S.361. Häufig werden Einzelfälle auch in den einschlägigen Zeitschriften behandelt.
Zum ausländischen Schrifttum vgl. K.Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß Bd.I, S.33ff;
ferner Jescheck/Meyer, Das Wiederaufnahmeverfahren im deutschen und ausländischen
Recht 1974. Zur Situation in Japan: Nose in der Peters-Festgabe 1984, S. 399.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 915
II.
1. Die „Isolierung der Hauptverhandlung", d.h. die Annahme, die
Hauptverhandlung sei der selbständige, die Entscheidung allein begrün-
dende Abschnitt, führt zu einer Verdrängung der Einheitlichkeit des
Untersuchungsvorgangs vom Beginn der Ermittlungen bis zur richterli-
chen Überprüfung des Sachverhalts im Hauptverfahren. Die Beweisauf-
nahme der Hauptverhandlung beruht zu wesentlichen Teilen auf den
Ermittlungen der Polizei und ihrer Bearbeitung und Bewertung durch
die Staatsanwaltschaft. Das bedeutet, daß Fehler im Ermittlungsverfah-
ren und in der Stoffauswahl durch die Staatsanwaltschaft in der Haupt-
verhandlung fortwirken. Fehler im Ermittlungsverfahren sind in der
formal gebundenen Hauptverhandlung nur schwer korrigierbar4. Das
gilt vor allem dann, wenn die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
autonom durchgeführt wird. Namentlich in umfangreichen, undurch-
sichtigen und strittig durchgeführten Verfahren ist es unumgänglich, auf
das Vorverfahren zurückzugreifen. Es muß geklärt sein, wie es zu den
Anschuldigungen gekommen ist, wie die Zeugen in die Ermittlungen
hineingelangt sind, welche Sachbeweise (Umfang, Auswahl) herangezo-
gen worden sind, wie sich die Zeugenaussagen entwickelt haben, wie die
Grundeinstellung der Sachverständigen ist und auf welchen Unterlagen
und Vorstellungen ihr Gutachten zustande gekommen ist, welche weite-
ren Spuren vorgelegen haben, inwieweit ihnen nachgegangen worden ist
und warum sie ausgeschlossen worden sind. Das Gericht muß in der
Hauptverhandlung wissen, welche Möglichkeiten in Betracht gezogen
worden sind und ob etwa näherliegende Abläufe vorhanden sind. Die
Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung macht ein Einanderabwä-
gen verschiedener Möglichkeiten notwendig.
Sicherlich gilt der Grundsatz des § 261 StPO, daß das Gericht aus dem
Inbegriff der Verhandlung seine Überzeugung gewinnt. Was verwertet
wird, muß zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden.
Der Umfang des Gegenstandes ergibt sich jedoch nicht aus dieser
Vorschrift, sondern aus der Aufklärungspflicht des Gerichts. Diese
gebietet gerade in den umstrittenen Fällen die Einbeziehung aller in der
Entwicklung des Verfahrens sich ergebenden Vorgänge. Sie erfordert
unter Umständen auch eine eingehende Behandlung der Spurenakten. Es
interessieren eben nicht nur die angebliche Schuld des Angeklagten,
sondern auch die von ihm losgelösten, in andere Richtung gehenden
Sachvorgänge.
Daraus ergibt sich auch die Lösung des Problems der Spurenakten.
Spurenakten sind Teil des dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgangs.
O b man sie von den Hauptakten trennt oder nicht, sie müssen dem
Gericht zur Einsichtnahme offengelegt werden und sind von der Vertei-
digung einsehbar.
Die Auffassung, daß die Staatsanwaltschaft über die dem Gericht zur
Verfügung zu stellenden Akten nach pflichtgemäßem Ermessen zu
bestimmen habe, kann im Hinblick auf die umfassende Aufklärungs-
pflicht der Gerichte nicht als richtig anerkannt werden5. Vielmehr hat die
Polizei der Staatsanwaltschaft und diese dem Gericht die etwa vorhande-
nen Spurenakten kenntlich zu machen und zur Verfügung zu stellen.
Auch der Verteidiger muß sich seiner Verpflichtung, sich mit den
Vor- und Nebenakten vertraut zu machen, bewußt sein. Er muß Vorer-
mittlungen durch Beweis- und Beweisermittlungsanträge, durch Hin-
weise auf die das Gericht treffende Aufklärungspflicht zum Gegenstand
der Hauptverhandlung machen. Das gilt für den Pflichtverteidiger6 wie
für den Wahlverteidiger. Etwa dadurch entstehende Spannungen und
Verstimmungen müssen in Kauf genommen werden.
2. „Auflockerungen im gegenseitigen Kontrollsystem" können zu einer
Uberdeckung von Fehlerquellen führen. Die Strafprozeßordnung hat im
Interesse von Rechts- und Wahrheitsfindung ein ausgedehntes Kontroll-
system, durch das fehlerhafte Entwicklungen gehemmt werden sollen,
errichtet. Die Polizei untersteht der Verfahrenskontrolle der Staatsan-
waltschaft, die die Ermittlungen der Polizei überprüft, ergänzt, für die
Anklage für ausreichend oder nicht hinreichend erachtet. Die Staatsan-
waltschaft unterliegt der gerichtlichen Entscheidung im Zwischen- und
Hauptverfahren. Der Richter unterliegt der Kontrolle im Rechtsmittel-
und Rechtsbehelfsverfahren. Das Gutachten des Sachverständigen
bedarf der selbstverantwortlichen Übernahme durch das Gericht. Das
Kontrollsystem dient dem Schutz des Beschuldigten vor falschem
Gebrauch der Strafverfolgungsgewalt. Es funktioniert nur, wenn jedes
Organ an der ihm zugewiesenen Stelle sachgemäß, fremd- und selbstkri-
tisch handelt. Eine Gefährdung des Systems ergibt sich aus der Fronten-
bildung zwischen Verfolgungs- und Abwehrseite, zwischen den zur
Durchsetzung des Strafanspruchs berufenen Organen und dem Beschul-
digten und seinem Verteidiger. Daraus ergibt sich eine Strafverfolgungs-
einheit, d,ie die Gefahr des Uberspringens von Verfolgungsmängeln in
S.231.
6 Die Gefahr der Abhängigkeit des Pflichtverteidigers vom Gericht ist durchaus ernst
zu nehmen. Zu dem Vorschlag, die Bestellung zwar vom Vorsitzenden anordnen, jedoch
von einem Anwaltsgremium durchführen zu lassen, vgl. mein Lehrbuch S.215.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 917
verbundenen Amtsarzt. Dazu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß Bd. II, S. 131 ff, und an
vielen anderen Stellen. Vgl. ferner Heinz, Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gut-
achten 1982.
918 Karl Peters
' Zu beachten ist, daß Aufhebungen von Urteilen aus formellen Gründen in der neuen
Hauptverhandlung zu anderen tatsächlichen Feststellungen führen können. Uber die
Folgen revisionsgerichtlicher Zurückverweisungen in die Tatsacheninstanz auf Grund von
formalen Verletzungen vgl. die instruktive Arbeit von Haddenhorst, Die Einwirkung der
Verfahrensrüge auf die tatsächlichen Feststellungen im Strafverfahren. Eine Untersuchung
anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung eines Jahres 1971. Auf diesem Wege
kommt es zu Freisprüchen, die im Wiederaufnahmeverfahren kaum zu erreichen wären.
10 Vgl. etwa Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung 1923, 3. Aufl.,
S. 72, 74, 76; Exner, Kriminologie 1949, 3. Aufl., S.211; Plaut, Der Zeuge und seine
Aussage im Strafprozeß 1931, S.35, 37, 134 ff; Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S. 463—469.
Von Sauer und von Weber sind zahlreiche Doktorarbeiten zur Erforschung der Meineids-
kriminalität veranlaßt worden. Von besonderem Wert auch heute noch die von Exner
angeregte Arbeit von Teichmann, Meineidige und Meineidssituationen 1925.
920 Karl Peters
2 7 . 1 . 1 9 2 8 , S.2.
13 Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S. 467.
15
N a c h Kloß a . a . O . und Heindel, Berufsverbrecher, kommt auf 100 Meineide eine
Verurteilung. Vgl. Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S.465 Anm. 1.
16
Zur Lüge im Strafprozeß Bahrs, Die Vulgärlüge in der forensischen Praxis; K. Peters,
Zeugenlüge und Prozeßausgang 1939; K.Peters, Strafprozeß 1984, S . 3 8 3 f f ; Plaut, Der
Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß 1931; Seelig, Schuld-Lüge-Sexualität 1933;
Teichmann, Meineidige und Meineidssituationen 1925.
17
Zur Gruppenaussage vgl. mein Buch: Zeugenlüge und Prozeßausgang; ferner meinen
Strafprozeß S.406, 408.
922 Karl Peters
digten von der Sache her festliegt und nicht durch prozessuale Handlun-
gen (Abtrennung, Verbindung) geändert werden kann (materielle
Beschuldigtenstellung), dient dazu, zu verhindern, durch Rollenvertau-
schung einen Beschuldigten zu einem Zeugen zu machen und ihm damit
den Schein eines vom Gesetz als unbeteiligt angenommenen Beobachters
zu verleihen18.
Nicht selten ergeben sich die Hintergründe erst im Laufe des Verfah-
rens. Dabei ist es vor allem die Aufgabe der Verteidigung, die Zusam-
menhänge aufzuklären. Das kann unter Umständen zu Konflikten mit
Gericht und Zeugen führen. Aber die Verteidigung macht es unter
Umständen nötig, daß der Verteidiger die Interessen des Zeugen und
angeblichen Opfers zurückstellt.
Ist der Gruppenzusammenhang dargetan, so wird die Mehrheit der
Aussagen zu einer Einheit. Dieser Umstand ist von äußerster Wichtig-
keit. Ergeben sich bei einem oder gar mehreren zusammengehörigen
Zeugen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aussagen oder werden sie gar
der Unwahrheit überführt, so bricht der Wert der Aussagen der ganzen
Gruppe zusammen. Das sollte eigentlich ganz klar sein. Tatsächlich'
verfahren Gerichte aber anders. Es werden die bedenklich gewordenen
Zeugen einfach ausgeschieden und man stützt sich auf die übrigen, oder
aber man erklärt die Unrichtigkeiten für belanglos, da sie nicht das
Kerngeschehen, sondern nur Randfragen betreffen.
Beide Wege sind nicht gangbar. Das einfache Beiseiteschieben des
einen oder anderen Zeugen der Gruppe übersieht die Zusammengehö-
rigkeit. Die Trennung von Kern- und Randgeschehen ist nicht selten
willkürlich, da es keineswegs eindeutig ist, was zu dem einen oder dem
andern gehört. Im übrigen zeigt die Verfolgung von Meineiden und
bewußt falschen Aussagen, daß der Unwert der Aussage in aller Regel
vom „Rand" aus erkannt wird, da hier nicht selten der Sachverhalt
nachprüfbar ist.
Als ein Beispiel völlig verfehlter Einstellung des Tatrichters (große Strafkammer), des
Bundesgerichtshofs als Revisionsgericht, der Wiederaufnahmerichter und des Bundes-
verfassungsgerichts sei auf folgenden, jüngst abgelaufenen Fall verwiesen: Zwei in
Sozietät arbeitende Rechtsanwälte werden von zwei Ehepaaren und mit ihnen verbun-
denen vorbestraften Randzeugen verschiedener Straftaten bezichtigt. Beide Angeklag-
ten werden verurteilt. Beide legen Revision ein. D e r B G H hebt beide Urteile auf. Das
Verfahren gegen den einen Anwalt bleibt beim ursprünglichen Landgericht, das andere
wird an ein anderes Landgericht verwiesen. Das Landgericht A verurteilt den einen
Anwalt erneut. Es scheidet zwar das hauptbelastende Ehepaar aus. Die Revision gegen
dieses Urteil hat nur im Strafmaß Erfolg. Das Landgericht B spricht den Sozius frei. E s
hält auch nach eingehender Untersuchung das andere Ehepaar für unglaubwürdig. Das
18 Zum Problem der Prozeßstellung des Mitbeschuldigten und dem dazu erschienenen
" Die Warnungen von Bender, Tatsachenforschung vor Gericht 1981, Bd. I im Vor-
wort, und von Döhring, Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß 1964, S . 2 , sollten
nicht ungehört bleiben.
20 Auch für den Strafprozeß wichtige Fragen behandelt Birkle, Richterliche Alltags-
theorien im Bereich des Zivilrechts - mit einer Analyse amtsrichterlicher Urteile in
Zivilsachen zu richterlichen Theorien für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugen-
aussagen 1984 - .
924 Karl Peters
7. Eine falsche Aussage entsteht nicht nur originär bei der aussagenden
Person, sondern kann auch durch „fehlerhafte Vernehmungsmethoden"
verursacht werden. Falsche Geständnisse sind häufig die Folge des
Verhaltens des Vernehmenden. Dabei ist nicht allein an die schwerwie-
genden Mittel des § 136 a S t P O zu denken. Schon der bloße Verfahrens-
druck kann die Aussage fehlleiten. Bemerkungen und Gesten des Ver-
nehmenden können die Richtung der Aussage bestimmen. Falsche
Befragungen, etwa Fangfragen und Suggestivfragen, ironische Bemer-
kungen, am falschen Platz zum Ausdruck gebrachte Zweifel können den
Aussagenden und seine Aussage negativ beeinflussen. Bei derartigen
Verhaltensweisen kommt es beim Beschuldigten zu falschen Geständnis-
sen und bei Zeugen zu unrichtigen Bekundungen. Es wird bald mehr,
bald weniger ausgesagt, als es den Tatsachen entspricht. Es kommt zu
falschen Belastungen, aber auch zu ungenügenden Entlastungen. Ver-
nehmungen können den Beschuldigten und den Zeugen so bedrängen,
daß es zu falschen Aussagen kommt. Der Vernehmende ist sich dessen
vielfach gar nicht bewußt. U m so weitreichender sind die Folgen.
Das Aussageergebnis ist nicht nur eine Folge der Persönlichkeits-
struktur des Aussagenden und des persönlichen Fertigwerdens mit der
Vernehmenssituation, sondern auch der Persönlichkeitsstruktur des
Aussageempfängers und seiner Vernehmungsfähigkeit. Erschwert wird
die Lage auch hier dadurch, daß der zu Vernehmende dem Vernehmen-
den oftmals ein unbekanntes Wesen ist.
22 Zu diesem Fall eingehend Peters, Justiz als Schicksal, 1979, S. 92 ff; Wasserburg,
Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1984, S. 361 ff.
23 Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur freien Beweiswürdi-
III.
Es ist versucht worden, anhand einiger beispielsweise aufgezählter
Fehlerquellen die Notwendigkeit der Beachtung bei der Rechtsanwen-
dung und Rechtsauslegung darzutun. Auch der Gesetzgeber muß bei der
Einführung von Neuerungen bedenken, ob er damit nicht die Gefahr
fehlerhafter Urteile erhöht. Was hier im Hinblick auf die Sachverhalts-
feststellung an Problematik aufgezeigt ist, würde sich an dem Thema:
„Persönlichkeitsfeststellung und Prognoseentscheidung" noch in einem
erhöhten Maß darlegen lassen.
Freilich läßt sich die Frage nicht umgehen, ob zu hohe Anforderungen
an die Beweissicherheit nicht zu einer Lähmung der Strafrechtspflege
führen könnten. Es könnten das Engagement für das Strafrecht und der
Mut zum strafrechtlichen Richten verlorengehen. Man könnte den Weg
zum Urteil durch das Gestrüpp der Fehlermöglichkeiten nicht mehr
finden.
So ernst solche Einwände zu nehmen sind, so sind sie doch nicht
durchschlagend. Es kann nur gut sein, wenn der Strafrichter die Schwie-
rigkeiten seines Amts in vollem Umfang sieht. Es kann nicht schaden,
wenn der Strafrichter das Defizit der strafprozessualen und allgemein
strafrechtlichen Ausbildung spürbar empfindet. Es ist überdies sogar
notwendig, daß die für die Ausbildung Verantwortlichen erkennen, daß
die rein juristische Ausbildung des Strafjuristen nicht genügt; sie erfolgt
in hohem Maße doch auch durch den Repetitor. Die einzelnen Sparten
juristischer Tätigkeit erfordern verschiedene Kenntnisse. So ergibt sich
die Frage nach getrennter Ausbildung im Laufe der Referendarzeit,
allerdings mit dem Abschluß eines für alle Sparten gültigen zweiten
Staatsexamens.
Die Bedenken, die gegen die „übermäßige Betonung" von Fehlent-
scheidungen geltend gemacht werden, schlagen aber auch im Hinblick
auf grundsätzliche Erwägungen zum Strafrecht und zu seiner Wirksam-
keit nicht durch. So sehr wir bei schweren Delikten bemüht sein müssen,
sie aufzuklären und strafrechtlich zu beantworten, so wenig dürfen wir
die Grenzen, die durch die praktischen Aufklärungsmöglichkeiten einer-
seits und die tragenden verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen
Grundsätze (Freiheit der Persönlichkeit, rechtsstaatliches faires Verfah-
ren, ausreichende Verteidigung und Unschuldsvermutung) andererseits
gesetzt sind, nicht übersehen. Das Strafrecht kann nur anhand einwand-
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 927
Vgl. Meurer, Beweis und Beweisregel, FS für Oehler, 1985, S. 357 ff, 374.
4 Gerhard Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 5 spricht von Methoden zur
Sachverhaltsfeststellung, vereinzelt aber auch vom Beweissystem, so auf den Seiten 7, 68,
69. Mir erscheint der Begriff Beweissystem zutreffender zu sein. Dazu Gillieroti, L'évolu-
tion de la preuve pénale, SchweizZStr. 60, S. 198 ff. Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl.,
S. 73, spricht von gesetzlichen Beweisregeln.
5 Dedes, op. cit., S. 267; Gillieron, op. cit., S. 198 ff; Patarin, Le particularisme de la
théorie des preuves en droit pénal, im Band Quelques aspects de l'autonomie du droit
pénal, Paris 1956, S. 7ff, 37, 45, 47.
6 Dazu haben gewiß auch andere Gründe beigetragen.
7 Gillieron, S. 199.
8 Nagel, S. 85; vgl. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 1974, S. 449 ff.
930 Christos Dedes
16 So Art. 427 des französischen Code de procédure pénale. Richtig Meurer, FS für
untersucht worden ist, . . . wird der Strafprozeß in einem weiteren Umfang als sonst in die
Darstellung mit einbezogen. So treffend Grunsky, S.411.
18 Nur prinzipiell, denn es gibt Ausnahmen unter dem Begriff der Beweisverbote etc.
thema mit grundsätzlich jedem Beweismittel bewiesen werden konnte". Deshalb braucht
man nicht den Ausweg beim „Recht auf Beweis" (Walter, S. 302 ff) zu suchen. Es gibt
nämlich keine Aufzählung einzelner Beweismittel, keinen numerus clausus, sondern nur
„typische Beweismittel", Walter, S. 303.
21 Dedes, S.267; Patarin, S.37.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 931
22 Beide Freiheiten gehören zum neuen System (siehe oben 1 b, c), Patarin, S. 51.
23 Dieser Begriff wird im deutschen Raum vorgezogen. G. Walter, Freie Beweiswürdi-
gung, 1979, S.3 spricht vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung und kennzeichnet
seine Arbeit als „allgemein verfahrensrechtlich angelegt". Einen vergleichenden Uberblick
gibt Nagel, S. 72 ff.
24 Dedes, S. 267.
25 So z.B. versteht G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S.323ff, den Begriff der
Beweiswürdigung.
26 Es ist auch bemerkenswert, daß das Gesetz von „freier Überzeugung" und nicht von
„freier Beweiswürdigung" spricht. Obwohl Walter dies auf S. 86 ff richtig betont, baut sein
Gedankengang auf der grammatischen Auslegung des Begriffs „Beweiswürdigung" auf.
27 Nobili, II principio del libero convincimento del giudice, 1974, S.38. S. auch in
Spanien, Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozeß, 1979, S. 133 ff.
28 Patarin, S.51; Meurer, S. 364 ff.
2 ' Meiner Meinung nach ist das Wort „ethisch" besser am Platze. Walter S. 69, spricht
d) Man könnte auch den Begriff der freien Beweisführung und Beweis-
würdigung einführen 33 , der das gesamte Beweisverfahren umfassen
würde. Jedoch dürfte dieser Begriff mancherorts als zu weitgehend
betrachtet werden.
30 Für die Verbindung des Beweissystems mit dem Prinzip der Wahrheitserforschung:
32 Dedes, S.268.
33 Dazu führt die Auffassung von Patarin, S. 51, der von einer zweifachen Regel
spricht, deren Bestandteile die Freiheit der Beweise und die conviction intime sind.
34 In einer älteren Epoche war sie im altgriechischen Recht bekannt. Vidal-Magnol,
Cours de droit criminel II, 1949, S. 886; Gillieron, S.201.
35 Gillieron, S. 198, identifiziert les preuves morales mit der intime conviction.
36 Patarin, S. 37.
37 G. Walter, S. 1 m. w. Nachw.
38 So auch der Inhalt des entsprechenden Artikels des Dekrets von 1791.
40 Über diesen Begriff Levy-Bruhl, La preuve judicidaire, Paris 1964, S.21 ff.
41 Nach Vidal-Magnol II, S. 1043; Patarin, S.37, wird nach dem neuen System die
Zulässigkeit und Würdigung der Beweismittel nicht vorausbestimmt. Vgl. Volkmann-
Schluck S. 136, 146/7.
42 Also alle diejenigen Punkte, die von den Bestimmungen des legalen Beweissystems
geachtet.
44 Von System sprechen: Vidal-Magnol II, S. 1037; Gillieron, S. 198 ff; Patarin, S.51.
45 Dies hat G. Walter, S. 68 ff, übersehen, mit der Folge, daß seine historische Darstel-
47 Über die ursprüngliche Figur und die nachfolgende Entwicklung: Vidal-Magnol II,
S. 1043, Anm. 3; Nagel, S. 72ff.
41 Niese, Zur Frage der freien richterlichen Überzeugung, GA 1954, S. 148 ff.
934 Christos Dedes
3. Die Einschränkungstendenzen
Durch diese Aspekte war die weitere Entwicklung vorausbestimmt.
Lehre und Rechtsprechung haben nach den Regeln gesucht, die die
richterliche Tätigkeit bestimmen sollten. Ergebnis dieser Bemühungen
ist die Einschränkung richterlicher Freiheit und die Errichtung von
Grenzen, die dem allgemeinen Rechtsgefühl nach einem geordneten
Verfahrensablauf besser entsprechen. Es ist auffallend, daß diese Ein-
schränkungen ein Phänomen in all den Ländern darstellen, die das
„neue" System übernommen haben. Dies beweist die Notwendigkeit
solcher Prinzipien49, die das Beweisverfahren - wenn auch elastischer -
regeln sollen50.
Die Einschränkungstendenzen sind zwei Richtungen gefolgt: Einer
gemäßigteren, der französischen, die Einschränkungen in der Erweite-
rung der Begründungsanforderungen gesucht hat51. Einer strengeren,
der deutschen, die jegliche Freiheit im Bereich der Beweisführung
negiert und nur im Bereich der Beweiswürdigung eine Art von Freiheit
akzeptiert, deren Charakter allerdings sehr umstritten ist.
Die freie Uberzeugung als Begriff eines Beweissystems ist kein ein-
deutiger Begriff und läßt viele Deutungen zu52. Zur Untersuchung und
Uberprüfung dieser Auffassungen ist die Analyse des Beweisverfahrens
erforderlich, denn die Unterschiede innerhalb der Auffassungen beruhen
auf Kontroversen über die Gestalt des Beweisverfahrens. Vorher sind
aber einige Ausführungen über den Begriff der freien Beweiswürdigung
selbst angebracht.
4
' Gillieron, S. 208, meint, daß damit zum System der legalen Beweise zurückgekehrt
werde.
50
Die Frage wird auch von Patarin, S. 53 ff, behandelt. Er ist der Meinung, daß gewisse
Bestimmungen der wissenschaftlichen Erkenntnis nützlich sein können.
51
Es ist außerdem darauf hinzuweisen, daß, obwohl Art. 342 des Code d'instruction
criminelle von 1808 inzwischen nicht mehr in Kraft ist, Lehre und Rechtsprechung in
Frankreich dennoch die allgemeine Geltung des Prinzips der conviction intime anerkannt
haben. Vgl. Patarin, S.37; siehe aber auch Art. 427 des Code de Procédure Pénale (seit
1958).
52
Eingehende Darstellung bei C. Walter, S. 68 ff.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 935
gen führen. Das einzige, was von ihm verlangt wurde, war die Bildung
einer conviction intime53.
Dieser Gedanke ist für die Geschworenengerichte angemessen, für die
die Abschaffung ja auch erfolgt ist54. Für die übrigen Gerichte geht sie zu
weit, da die Beweisführung und Beweisaufnahme nicht von sämtlichen
Regeln entbunden werden können55.
Auch die Verpflichtung zu einer eingehenden Urteilsbegründung hat
langsam aber sicher zur Einschränkung der anfänglich zu weit gehenden
richterlichen Freiheit geführt56. Am stärksten vertritt diese Einschrän-
kungstendenzen die deutsche Wissenschaft 57 , die den Begriff der freien
Beweiswürdigung geschaffen hat. Die deutsche Lehre hat, wie bereits
erwähnt worden ist, von Anfang an einen eigenen Weg eingeschlagen.
Obwohl alle Gesetzestexte den Begriff der freien Uberzeugung brau-
chen, hat die Wissenschaft den der freien Beweiswürdigung vorgezogen.
Dies hat mehrere Gründe:
Erstens die anfänglich rein subjektive Auslegung des Begriffs der
Uberzeugung.
Zweitens die Ablehnung der Auffassung, wonach der Begriff der
Uberzeugung das gesamte Beweisverfahren erfaßt.
Arbeiten von Walter und Kässer, S. 57 ff, studiert. Zu den Auffassungen von Peters, Roxin
und Stree vgl. G. Walter, S. 136 ff.
58 Peters, 3. Auflage, S.610; Hahn, Materialien zur StPO I, II (1885/6), S.28, 29, 52 f,
2431, 1900, Fn.5; Köhler, NJW 1979, S.349; Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, §29.
59 Hierin ist meines Erachtens der Grund für die deutsche Auffassung zu finden.
936 Christos Dedes
60 So aber wiederum G. Walter, S. 86 ff, obwohl er selbst auf S. 2 von zwei Polen
spricht, zwischen denen das Prinzip der freien Beweiswürdigung angesiedelt sei.
61 So zutreffend Nagel, S. 79.
62
Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S. 73 spricht zwar nicht von einem System,
betont aber, daß der Grundsatz „im ganzen Verfahren und für alle Organe gilt". G. Walter,
S. 350 f, sagt gegen Ende seiner Arbeit: Das Beweisrecht insgesamt, da sich der Grundsatz
freier Beweiswürdigung nicht isoliert von seiner Umhüllung durch das ganze Beweissy-
stem betrachten läßt; vgl. auch Patarin, S.37.
6J So nach Art. 350, 351 der griechischen StPO.
Tatsachen, b) Würdigung der Beweise, c) Bildung der Überzeugung. Gössel, § 30, spricht
von freier Beweiswürdigung und Überzeugung.
938 Christos Dedes
V. Ergebnis
1. Die Phasen des Beweisverfahrens
und der Begriff der freien Uberzeugung
a) Die Existenz dieser vier Phasen des Beweisverfahrens ist der Grund
dafür, daß der Begriff der freien Uberzeugung von der Wissenschaft zur
Kennzeichnung des Beweisverfahrens nicht akzeptiert wird. Wer einen
komplexen Beweisverfahrensbegriff bejaht, kann mit dem Terminus der
freien Überzeugung hauptsächlich nur die vierte Phase bezeichnen.
Auch wer einen gemäßigteren Weg einschlägt und eine Zweiteilung des
Beweisverfahrens vornimmt, kann hiermit wiederum nur dessen zweiten
Teil kennzeichnen.
Der Begriff der freien Uberzeugung könnte das gesamte Beweisver-
fahren nur dann wiedergeben, wenn dieses einphasig wäre und die freie
Uberzeugung die Rolle eines allgemeinen Prinzips spielte. Dieser
Gedanke war in der Zeit der französischen Revolution das eigentliche
Motiv für die Übernahme des Begriffs, dergestalt, daß die Wahrheit
nicht durch vorgegebene Beweisregeln gefunden und erzielt werden
kann, sondern auf die Verantwortung und das Gewissen der Richter
gestützt werden soll70.
b) Die Erkenntnis der mit dieser Lösung verbundenen Gefahren hat in
kurzer Zeit zu einer Einschränkung der erteilten Befugnisse geführt71.
Die verschiedenen Phasen des Beweisverfahrens zwingen nun dazu, den
Begriff der freien Überzeugung auf seinen eigentlichen Bereich zu
beschränken, d. h. auf den Bereich, in dem die Überzeugung die wich-
tigste Rolle spielt.
c) Die Unmöglichkeit der Erfassung des gesamten Beweisverfahrens
durch den Begriff der freien Überzeugung hat manche Wissenschaftler
zur Schaffung eines ergiebigeren Begriffes veranlaßt. So ist der Begriff
der freien Beweiswürdigung72 entstanden73. Wir werden uns im folgen-
den diesem Begriff zuwenden.
" So ist zu erklären, daß Aufklärung und Würdigung getrennte Fragen darstellen,
obwohl sie beide dem Bereich der freien Beweiswürdigung unterfallen. Ein Rückgriff auf
diesen Grundsatz ist daher nicht immer „fälschlicherweise" gemacht oder sogar fehlerhaft,
wie dies G. Walter, S. 295, meint.
70
Patann, S.37; Gillieron, S. 199 ff.
71 Eine weitere Einschränkung wird in Frankreich von Patarin, S. 53 ff, gefordert. Vgl.
eine zentralere Phase des Beweisverfahrens ab, obwohl sie die Rolle eines allgemeinen
Prinzips nicht so gut erfüllen kann wie die freie Uberzeugung.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 939
3. Schlußbetrachtungen
Dieses Ergebnis setzt voraus, daß ein einheitlicher Begriff eines
Beweissystems noch notwendig ist. Die Differenzierung in vier Phasen
des Beweisverfahrens ermöglicht demgegenüber eine andere Lösung,
und zwar die gegenwärtig im deutschen Schrifttum vertretene, derzu-
folge eine selbständige und differenzierende Antwort für jede einzelne
Phase vorgezogen wird. Diese Lösung entspricht der wissenschaftlichen
82
G. Walter, S. 68 ff; Gössel, §30 C III.
82
" Vgl. Gössel, § 3 0 C .
83
Man kann auch nicht behaupten, daß die Würdigung der Beweise den zentralen oder
wichtigsten Teil des Beweisverfahrens ausmacht, da die sachgerechte Aufklärung einen
ebenso wichtigen Gegenstand des Beweisverfahrens bildet.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 941
beschluß im Zwischenverfahren.
87 G. Walter, S. 7; Lüderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts, Z S t W
85, S. 288 ff und Kässer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 1, betonen die
grundsätzliche Bedeutung des Beweises als Voraussetzung einer richtigen Entscheidung.
88 B V e r f G E 26, 71 = N J W 1969, 1423; B G H S t . 24, 131; X I I . Internationaler Kongreß
92 Art. 180-238 der griech. StPO und Art. 3 5 2 ^ 6 5 (368-482) der griech. ZPO.
auch eigene Initiative ergreifen kann. Dasselbe gilt eigentlich für alle europäischen Gesetz-
gebungen, Nagel, S. 40 ff.
95 Art. 177 der griech. StPO.
% Vgl. Krauss, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, Festschr. für
102 Wessels, JuS 1969, S. 1 ff; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilpro-
zesses, 1976; Engels, Aufklärungspflicht, 1979.
103 Die Aufklärungspflicht wird nur beispielhaft erwähnt. Diese Bemerkung trifft auch
114 Was ähnlich auch für die Bundesrepublik Deutschland gelten soll, Grunsky,
S. 165 ff.
115 F ü r den Strafprozeß: aller, der bedeutendsten und wichtigsten.
116 Derjenigen, die von den Parteien vorgebracht oder durch den Richter angeordnet
worden sind.
117 O b e n C II.
118 Kässer, S. 88, Kirsch, Entscheidungsprozesse, 1970, S . 6 4 , die die vorherige Samm-
lung aller Informationen als Voraussetzung einer richtigen Feststellung betrachten.
946 Christos Dedes
3. Ergebnis
a) Für den Strafprozeß gelten demnach ähnliche Prinzipien wie für den
Zivilprozeß, die man zusammenfassend wie folgt formulieren kann:
- Der Richter soll Beweis über alle rechtserheblichen Tatsachen des
Falles erheben, da ohne Beweisaufnahme keine Tatsachen als wahr
angenommen werden können.
- Der Richter soll gewissenhaft und vollständig123 alle Beweismittel
sammeln, die von Bedeutung sind124.
- Die Beweismittel sollen der Uberprüfung in der Hauptverhandlung
unterzogen werden (Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlich-
keit125 usw.).
- In der Entscheidung dürfen nur diejenigen Beweise berücksichtigt
werden, die in der Verhandlung erhoben worden sind.
b) Von diesen Grundsätzen oder Prinzipien können - wie von allen
Prinzipien - unabhängig davon, ob sie dem gesetzten oder nicht
gesetzten Recht angehören126, selbstverständlich Ausnahmen gemacht
werden127.
Oder nach anderen Beweisgrundsätzen, wie dies für den Zivilprozeß gilt.
120 Wie z. B. der Revisionsgrund der absoluten und relativen Nichtigkeit, Art. 170, 171,
173 der griech. StPO.
121 Vgl. §338 Abs. 6 der deutschen StPO und §551 Abs. 6 der deutschen ZPO.
122 Darüber hinaus kann man sich auf die Revisionsgründe der absoluten und relativen
I.
Beweiserhebung und abschließende Beweiswürdigung sind einander
folgende Stationen auf dem Weg zum Strafurteil. Im Rahmen des
Strengbeweises unterliegen sie nicht austauschbaren Maximen: Die
Beweiserhebung ist gebunden; die Beweiswürdigung ist frei. Das ergibt
sich schon aus dem Gesetz. Gemäß §261 StPO entscheidet das Gericht
über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem
Inbegriff der Verhandlung geschöpften Uberzeugung. Die Vorschrift
besagt nichts über den Gegenstand der Beweisaufnahme. Dieser
bestimmt sich nicht nach freier Uberzeugung, sondern aufgrund der
Anwendung von §§244 Abs. 2, 264 Abs. 1, 243 Abs. 3, 265, 266 StPO.
Auch über den Umfang der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht
nicht nach Uberzeugung, sondern aufgrund seiner Aufklärungspflicht
(§ 244 Abs. 2 StPO) und unter Umständen sogar gegen seine Uberzeu-
gung, wenn nach den gesetzlichen Voraussetzungen ein Beweisantrag
nicht abgelehnt werden kann (§244 Abs. 3-5 StPO) oder die Vorausset-
zungen der §§245, 246 StPO vorliegen. Was endlich das Tatbestands-
merkmal „Inbegriff der Verhandlung" angeht, so ist es in §264 Abs. 1
StPO als „Ergebnis der Verhandlung" enthalten und wird im übrigen
durch die §§226 ff StPO konkretisiert, die als spezielle Normen der
Regelung des §261 StPO insoweit vorgehen.
II.
Dennoch werden in Rechtsprechung und Schrifttum unter Bezug-
nahme auf die Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung" und
„Ergebnis der Beweisaufnahme" prozessuale Zweifelsfragen erörtert, die
auch ohne Rückgriff auf §261 StPO beantwortet werden könnten.
1. Das belegt in aller Deutlichkeit die bislang noch nicht vorfindliche
Durchsicht amtlicher Sammlungen der Entscheidungen des Reichsge-
948 Dieter Meurer
1 Erfolgreiche Revisionen, die in den amtlichen Sammlungen unter §261 StPO ausge-
wiesen werden:
RGSt.: 1, 81 ff (Glaubwürdigkeit eines Geständnisses aufgrund „anderweit ermittelter
Umstände"); 2, 76 ff (Verwertung einer Urkunde, die nicht Gegenstand der Verhandlung
war); 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der Verhandlung
gemacht); 17, 287ff (Vernehmung des Sachverständigen im Beratungszimmer); 20, 321 ff
(Verlesung eines polizeilichen Protokolls); 33, 319 f (Freispruch wegen Beihilfe, weil
Haupttäter freigesprochen wurde); 40, 54 f (Nichtverlesung eines Buches); 57, 264 f
(Ausschluß der Öffentlichkeit ohne Anhörung der Beteiligten); 67, 417ff (Verwertung des
Ergebnisses einer früheren Hauptverhandlung); 71, 326 ff (Privatgespräch des Richters mit
Zeugen); 71, 341 ff (Nicht aufgeklärte Tatumstände);
OGHSt.: 2, 334 f (Urkundenverwertung ohne Verlesung in der Hauptverhandlung);
BGH St.: 2, 99 ff (Verstoß gegen §252 StPO); 2, 163 ff (Kinderaussage; Sachkunde von
Lehrerinnen zweifelhaft); 3, 213ff (Ablehnung eines Beweisantrags); 3, 218ff (Nichtbe-
rücksichtigung des Mitverschuldens bei Strafzumessung); 5, 34 ff (Unzulässige Ablehnung
erbkundlichen Vergleichs); 5, 278 ff (Verwertung eines nichtverlesenen Briefes); 6, 70 ff
(Abweichung von Blutgruppengutachten); 7, 238ff (Keine Würdigung des Gutachtens);
10, 65ff (Vorlage); 12, 311 ff (Verstoß gegen §244 StPO); 13, 1 ff (Verwertung eines
Gutachtens, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war); 13, 73 ff (Einsichtnahme
eines Schöffen in Anklageschrift); 14, 162ff (Widersprüchliche Würdigung); 20, 281 ff
(Verstoß gegen §163 a StPO); 21, 157ff (BÄK 1,3%); 22, 26ff (Vernehmungsprotokoll
nicht Gegenstand der Hauptverhandlung); 22, 113 ff (Verwertung eines Zeugnisverweige-
rungsrechts); 24, 170ff (Keine neue Beratung); 25, 365 ff (Vorlage: Haltereigenschaft); 28,
310 ff (Wahrunterstellung und Beweiswürdigung); 29,18 ff (Beurteilung eines Radarfotos);
29, 109 ff (Verwertung der Aussage eines Zeugen vor der Polizei, der für das Gericht nicht
erreichbar ist); 30, 74ff (Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten); 30, 131,
141 (Nichtbeiziehung von „Spurenakten"); 30, 172, 176 (Anordnung des persönlichen
Erscheinens); 30, 317ff (Aussage nach Vorhalt eines abgehörten Telefongesprächs); 31,
395, 401 (Fehlende Belehrung bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung); 32, 32 ff
(Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung); 32, 140ff (Teilweise Mitwir-
kungsverweigerung eines Zeugen).
2 Erfolglose Revisionen, die unter §261 StPO angeführt sind:
RGSt.: 25, 134ff (Verwertung einer unbeeideten Zeugenaussage); 28, 171 (Gerichts-
kundige Tatsache ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 31, 185 ff
(Allgemeinkundige Tatsachen ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung
gemacht); 33, 303 (Abweichung von rechtskräftigem Urteil zulässig; Gegenstand der
Beweiswürdigung nur Inbegriff der Verhandlung); 36, 371 ff (Verlesung einer amtlichen
Urkundenübersetzung); 39, 62ff (Prüfungskompetenz des Strafgerichts auch für öffent-
lichrechtliche Fragen); 40, 48 ff (Keine Pflicht zur Vornahme von Experimenten); 45, 403 ff
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 949
nur bei Augenscheinseinnahme unzulässig); RGSt. 60, 63, 64 (Keine Teilnahme tauber
Richter); R G J W 1936, 3473; B G H S t . 2, 14 ff (Unzulässigkeit der Teilnahme festschlafen-
der Richter; unerheblich, wenn Richter nur „vorübergehend in ihrer Aufmerksamkeit
durch Ermüdungserscheinungen beeinträchtigt" sind, „nicht sehr lange" schlafen, „einen
Moment einnicken" oder „einen einmaligefn] oder gelegentliche[n] .schnarchenden T o n ' "
von sich geben; RGSt. 60, 63, 64). Vgl. auch B G H NStZ 1982, 41.
4 Vgl. z . B . B G H N J W 1962, 2212 (Unterhaltung zweier Richter und Briefzensur des
239ff (Reliquieneigenschaft des heiligen Rockes in Trier); RGSt. 28, 171 ff (Charakter
einer Zeitung); RGSt. 31, 185 ff (Erregter und lebhafter Nationalcharakter der Polen); R G
J W 1888, 178 (Börsenordnung); R G D J Z 1900, 362 (Offenkundigkeit, daß Luther nicht
durch Selbstmord gestorben ist); R G Recht 1913, Nr. 1547 (Lage und Entfernung von
Örtlichkeiten); R G GA 39, 342 f (Geschichte einer politischen Bewegung; moralische
Verkommenheit einer Person); B G H S t . 6, 292 ff (Offenkundigkeit, daß die FDJ-West mit
den Zielen der S E D übereinstimmt); B G H S t . 26, 56 ff, 59 (Offenkundigkeit der Preis- und
Rabattgestaltung als Geschäftsgeheimnis); O L G Düsseldorf M D R 1980, 869 (Offenkun-
digkeit der wesentlichen Abläufe des Geschehens in Mogadischu 1977).
7 Vgl. z . B . RGSt. 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der
32, 140, 144 (Schweigen zu einer von mehreren Taten in der Hauptverhandlung); B G H
M D R 1971, 18 (Schweigen in der Hauptverhandlung).
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 951
b e r e c h t i g t e n Z e u g e n 9 bei d e r Ü b e r z e u g u n g s b i l d u n g v e r w e r t e t w e r d e n
darf. Diskutiert wird die B e u r t e i l u n g von Sachverhalten, in denen
A n g e k l a g t e o d e r Z e u g e n in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g b e r e c h t i g t s c h w e i -
gen, im V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r gerichtlichen V o r u n t e r s u c h u n g aber
A n g a b e n z u P r o t o k o l l gegeben h a b e n . P r o b l e m e fehlender o d e r u n z u -
länglicher B e l e h r u n g i m V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g ,
d e r V e r l e s u n g r i c h t e r l i c h e r P r o t o k o l l e , des V o r h a l t s aus polizeilichen
Aufzeichnungen und der Verwertung von Privaturkunden werden erör-
tert. A u c h W i r k u n g e n r e c h t s w i d r i g e r B e w e i s e r z w i n g u n g u n d E r m i t t -
lung s o w i e F r a g e n d e r U m g e h u n g des U n m i t t e l b a r k e i t s p r i n z i p s d u r c h
V e r n e h m u n g m i t t e l b a r e r T a t z e u g e n sind G e g e n s t a n d d e r Rechtspre-
c h u n g z u d e m P r o b l e m , w a n n ein p r o z e ß o r d n u n g s w i d r i g gewonnenes
„Ergebnis der Beweisaufnahme" die z u r V e r u r t e i l u n g erforderliche
Ü b e r z e u g u n g ausschließt 1 0 .
2. K o m m e n t a r e d e h n e n den A n w e n d u n g s b e r e i c h des § 2 6 1 S t P O n o c h
w e i t e r aus, b e z i e h e n j e d o c h a u c h die in d e r R e c h t s p r e c h u n g gebildeten
F a l l g r u p p e n in ihre E r l ä u t e r u n g e n ein. Diese w e r d e n - je n a c h K o m m e n -
t i e r u n g s t e c h n i k - v e r s c h i e d e n e n P r o z e ß m a x i m e n w i e den P r i n z i p i e n d e r
U n m i t t e l b a r k e i t 1 1 , Mündlichkeit 1 2 u n d des r e c h t l i c h e n Gehörs 1 3 u n t e r -
9 Z.B. BGHSt. 22, 113f (Zeugnisverweigerung eines Angehörigen); BGHSt. 32, 140,
Erklärung auf Vorhalt, nicht Vorhalt selbst); OLG Köln VRS 21, 444 ff (Notwendigkeit
der Erörterung eines beim „letzten Wort" abgelegten Geständnisses); OLG Stuttgart DAR
1957, 243 (Verwertung ungeprüfter Schutzbehauptungen zu Lasten des Angeklagten);
BGH bei Daliinger MDR 1971, 15, 18 (Schweigen in Ausübung des Aussageverweige-
rungsrechts); O L G Oldenburg MDR 1969, 501 f (Wertung des Schweigens zum Nachteil
des Angeklagten); O L G Hamm JMBlNW 1970, 71 f (Schweigen im Vorverfahren und
„Schutzbehauptung" in der Hauptverhandlung); O L G Hamm JMBlNW 1970, 238 f
(Schweigen eines „forensisch erfahrenen" Angeklagten im Hauptverfahren); BGH GA
1969, 307f (Schweigen bei polizeilicher Erstvernehmung); O L G Braunschweig VRS 30,
300 ff („Widerlegung" von Angeklagteneinlassung durch Hinweis auf Schweigen im Vor-
verfahren); BGH bei Daliinger MDR 1972, 16, 18 („Teilschweigen" des Angeklagten);
O L G Hamm NJW 1970, 821 f (Zeuge vom Hörensagen); BGH GA 1968, 305 ff (Verwer-
tung von Tatortskizzen und Lichtbildern); BayObLGSt. 1958, 84 ff (Verlesung erstin-
stanzlicher Urteile anstelle von Beweisaufnahme); B G H bei Dallinger MDR 1973,190, 192
(Verwertung von Vorstrafakten); O L G Hamm VRS 27, 286f (Vorhalt von Vorstrafen);
O L G Bremen GA 1959, 308 ff (Verwertung eines abgehörten Telefongesprächs ohne
Wissen des Teilnehmers); KG NJW 1966, 605 f (Verwertung berechtigter Zeugnisverwei-
gerung); ferner z.B. noch BGH NStZ 1981, 296 (teilweise Aussageverweigerung von
Angehörigen); BGH StrVert. 1984, 233 (Auskunftsverweigerung eines Zeugen).
11 Z.B. Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, StPO 23.Aufl. 1978, §261 Rdn. 1; Karlsruher
KommentiT-Hürxthal, StPO, 1982, §261 Rdn. 1.
12 Z.B. LR-Gollwitzer, a.a.O.; KK-Hürxthal, a.a.O.; Kleinknecht/Meyer, StPO,
37. Aufl. 1985, §261 Rdn. 1, 7.
13 Vgl. z.B. KMR-Paulus, StPO, 7.Aufl. 1980, §261 Rdn.5; KK-Hürxthal ( F n . l l )
Rdn. 1.
952 Dieter Meurer
stellt, die ihrerseits aus §261 StPO abgeleitet werden. Verwiesen wird
u.a. auf §§24414, 26415, 267 StPO 16 , auf das Revisionsrecht 17 , die Lehre
von den Beweisverboten 18 , auf „forensische Wahrheit" 19 und auf die
Unterscheidung zwischen Strengbeweis und Freibeweis20. Auch einzelne
Beweismittel werden erörtert 21 oder es wird auf entsprechende Ausfüh-
rungen verwiesen22. Darüber hinaus sollen sich aus §261 StPO Erkennt-
nisse über den „Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung" 23 , die
Unterscheidung von Befund- und Zusatztatsachen beim Sachverständi-
genbeweis24, das Problem unerreichbarer Beweismittel25, die Verwen-
dung stenografischer Protokolle, Mitschriften oder Tonbandaufnahmen
bei der Beratung26 sowie zu Spezialproblemen des Indizienbeweises 27
ergeben28.
3. Im monographischen Schrifttum und in der Aufsatzliteratur zum
Prinzip der freien Beweiswürdigung wird die Rechtsprechung, aber auch
Kommentierungen zu den Begriffen „Ergebnis der Beweisaufnahme"
und „Inbegriff der Verhandlung" überwiegend nicht erwähnt 2 '. Umge-
kehrt erörtern Einzelschriften und sonstige Abhandlungen zu den in
Kommentaren und Lehrbüchern angeführten, aus §261 StPO „abgelei-
teten" oder „übergeordneten" Prozeßmaximen zwar die Rechtspre-
14
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6.
15
Kleinknecht/Meyer, a . a . O . Rdn. 7.
16
Z.B. LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn.50.
17
Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 38; LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.51; KK-
Hürxthal (Fn. 11) Rdn. 51 ff; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn. 30 f.
18
LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn. 107; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 13; K K - H ü r x -
thal (Fn. 11) Rdn. 34 ff.
19
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 1.
20
Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.40.
21
Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) R d n . 2 2 f f ; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.24ff.
22
Z.B. LK-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.20.
23
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6.
24
LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 20; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.26.
25
Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 12.
26
Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 10; LR -Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 46.
27
Z.B. KK-Hürxthal (Fn. 11) R d n . 6 4 f f ; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.28.
28
Zur Verwertung der Rechtsprechung vgl. ferner noch Eh. Schmidt, Lehrkommentar,
Teil II, 1957, §261 Rz.2-9, 19-25; Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfah-
ren, 37. Aufl. 1961, §261 Anm.2.
29
Vgl. zunächst die Nachw. in meinen Beiträgen: Beweis und Beweisregel im deut-
schen Strafprozeß, Oehler-Festschr. 1985, S. 357ff sowie: Beweiswürdigung und Strafur-
teil, Kirchner-Festschr. 1985, S. 249 ff sowie schließlich: Denkgesetze und Erfahrungsre-
geln, Ernst Wolf-Festschr. 1985, S. 483 ff. Siehe aber auch Kunert, GA 1979, 401 ff, 413,
der zutreffend ausführt: „Etwas überspitzt könnte man geradezu sagen: Je freier die
Würdigung, desto gebundener muß die Präsentation der Beweismittel sein." Ferner die
vorzüglichen Beiträge von Herdegen, NStZ 1984, 97ff, 200 ff, 337ff und Niemöller,
StrVert. 1984, 431 ff.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 953
III.
Der Wortlaut der Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung"
und „Ergebnis der Beweisaufnahme" des §261 StPO dient also Recht-
sprechung und Kommentierungen als Anknüpfungspunkt der Erörte-
rung unterschiedlichster prozessualer Probleme, deren Zuordnung zu
§261 StPO nicht zwingend ist, weil sie die Beweiserhebung, deren
personelle und sachliche Voraussetzungen, nicht aber Fragen der
Beweiswürdigung betreffen. So werden diese Problemlagen denn auch
im Spezialschrifttum unter dem Gesichtspunkt der jeweils verletzten
Einzelvorschrift oder Verfahrensmaxime erörtert32.
1. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, es sei unerheblich,
unter welchen rechtlichen Oberbegriffen die angeführten Probleme dis-
kutiert werden, sofern dies mit der Systematik des Strafverfahrensrechts
vereinbar ist und eine sachgerechte Beantwortung von Einzelfragen
ermöglicht. Die unterschiedliche Schwerpunktbildung in Rechtspre-
chung und Schrifttum beruht so gesehen möglicherweise nicht auf
grundsätzlichen Gegensätzen, sondern auf einer abweichenden Klassifi-
zierung des gleichen Problemkreises. Das ist der Fall, wenn jede Verlet-
zung einer das Beweisverfahren betreffenden Norm zugleich als Verstoß
sende Schrifttumsangaben enthalten. Vgl. z.B. Lohr, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit
im deutschen Strafprozeßrecht, 1972, S. 73 ff; Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen
Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 112 ff; Dencker, Verwertungsver-
bote im Strafprozeß, 1977, S. 14 ff; Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten aus Schrift-
stücken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, 1977, S. 97 ff; Rogall, Der Beschul-
digte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.34f; Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im
Strafprozeß, 1984; siehe aber auch die vorzügliche Monographie von Geppert, Der
Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979.
31 Vgl. etwa Eb. Schmidt, Anm. zu BGHSt. 13, 73 J R 1961, 31 (Einsichtnahme von
Schöffen in Anklageschrift); Sarstedt, Anm. BGH J R 1958, 350 f, a. a. O. 351 f (Besondere
Fachkunde); Marr, Anm. zu BGH NJW 1962, 2212, a.a.O. 1963, 309f; Sarstedt, Anm.
zu O L G Hamburg J R 1966, 273 f, a . a . O . 274; Swarzenski, Anm. zu BGH JZ 1958, 30 f,
a. a. O. 31 f; Hoffmann, NJW 1959, 1526; Baudisch, NJW 1960, 135 f; Lienen, NJW 1960,
136 f; Seibert, NJW 1965, 2282 ff; Schmidt-Leichner, NJW 1966, 169 ff; Stree, JZ 1966,
593ff; Güldenpfennig, Anm. zu O L G Oldenburg NJW 1969, 806 a.a.O. 1867; Oster-
mayer, Anm. zu O L G Oldenburg a. a. O. S. 1187; Wessels, JuS 1966, 169 ff, vgl. aber auch
z.B. Geppert, Oehler-Festschr. 1985, S.323ff und Geerds, Blau-Festschr. 1985, S.67ff
sowie die Nachw. aus neuerer Zeit in den angeführten Kommentierungen.
32 Vgl. die Nachw. in Fn.30, 31.
954 Dieter Meurer
gegen §261 StPO angesehen werden könnte: Wenn also ein in welcher
Verfahrenslage und aus welchen Gründen auch immer prozeßordnungs-
widrig gewonnenes „Ergebnis der Beweisaufnahme" oder eine verfah-
renswidrig nicht nur „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte
Uberzeugung" stets die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung zur Folge
hätte. Ist dies richtig, so kann die einheitliche Problemzuordnung unter
dem Gesichtspunkt des §261 StPO nicht beanstandet werden. Berech-
tigt wäre dann aber auch, daß das Schrifttum zur freien Beweiswürdi-
gung die hier geschilderten Probleme weitgehend ausklammert, weil
diese Frage unter den spezielleren Aspekten der Unmittelbarkeit, Münd-
lichkeit, des rechtlichen Gehörs", der Unterscheidung von Strengbeweis
und Freibeweis usw. beantwortet wird. Umgekehrt bestünde bei der
Behandlung dieser „Spezialgebiete" im Schrifttum keine Notwendigkeit,
jeweils vertieft auf Probleme der freien Beweiswürdigung einzugehen.
2. Solche und ähnliche Erwägungen mögen neben dem Wortlaut des
§261 StPO zu der dargestellten Problemhäufung geführt haben. Sie sind
indes schon deshalb wenig hilfreich, weil sie den wesentlichen Unter-
schied zwischen gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdi-
gung außer acht lassen, mithin Voraussetzungen und Gegenstand der
Sachverhaltsgewinnung ohne Begründung unter einem Aspekt behan-
deln. Sie führen letztlich zu der Konsequenz, §261 StPO sei als eine Art
Generalermächtigung zur Beweiserhebung und -Würdigung anzusehen,
der gegenüber das gesamte Beweisrecht der Strafprozeßordnung als
mehr oder weniger überflüssig erscheinen muß. Auch lassen sich durch
freie Beweiswürdigung nicht Beweiserhebungsfehler heilen34. Gegen
eine solche Denkweise spricht bereits § 337 StPO, der Zulässigkeit und
Begründetheit der Revision von einem Gesetzesverstoß, auf dem das
Urteil beruht, abhängig macht, nicht aber davon, welche Auswirkungen
Verfahrensfehler auf die Beweiswürdigung gehabt haben. Wissenschaft-
liche Betrachtungsweise hat deshalb danach zu fragen, welche Gründe
zu einer Diskussion im Rahmen der Beweiswürdigungsproblematik
geführt haben.
33
Vgl. z. B. nur Prittwitz (Fn. 29), der den Beweismittelcharakter des Beschuldigten als
Auskunftsperson ablehnt und die Probleme über den Grundsatz des rechtlichen Gehörs
löst (S. 219 ff).
34
Die Heilung von Verfahrensmängeln ist in der StPO nur unvollkommen normiert.
Sie kann z. B. durch Zeitablauf (arg. §§ 16, 25 Abs. 1 StPO) oder Nachholung (arg. § 33 a
Satz 1 StPO) erfolgen. Der Problemkreis ist im Schrifttum nur ausschnittsweise untersucht
worden; vgl. z.B. LR-Hanack, 24. Aufl. 1986, §338 Rdn.3; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12)
§337 Rdn.39. Grundlegend immer noch Scbmid, JZ 1969, 757ff.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 955
IV.
Die Erörterung von Beweiserhebungsproblemen im Rahmen des § 261
StPO hat eine lange Tradition. Sie beruht auf einer gesetzlichen Rege-
lungslücke, die erst 73 Jahre nach Verkündung der Strafprozeßordnung
endgültig geschlossen wurde.
1. In der ursprünglichen Fassung enthielt die Strafprozeßordnung keine
§244 Abs. 2 StPO entsprechende Vorschrift, nach der das Gericht von
Amts wegen alle zur Erforschung der Wahrheit bedeutsamen Umstände
aufzuklären hat35. Auch der Beweiserhebungsanspruch der übrigen Pro-
zeßbeteiligten war nur unvollkommen geregelt. Festgelegt war lediglich,
daß zur Ablehnung von Beweisanträgen ein Gerichtsbeschluß erforder-
lich sei (§ 243 Abs. 2 RStPO), daß das Gericht auf Antrag oder von Amts
wegen die Ladung von Zeugen oder Sachverständigen sowie die Herbei-
schaffung anderer Beweismittel anordnen könne (§243 Abs. 3 RStPO)
und daß eine Beweiserhebung nicht deshalb abgelehnt werden dürfe,
weil das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache zu spät vorge-
bracht worden sei (§245 Abs. 1 RStPO). Vor diesem gesetzlichen Hin-
tergrund entwickelte das Reichsgericht unter Bezugnahme auf die zu
keinem Zeitpunkt abgeänderten §§153 Abs. 2 RStPO (heute §155
Abs. 2 StPO), 260 RStPO (§261 StPO) 36 das später gesetzlich normierte
Beweiserhebungsrecht37. Das oberste Gericht gab zu erkennen, daß die
nicht normierte Wahrheitserforschungspflicht den Umfang der Beweis-
erhebung, umgekehrt aber auch die Ablehnung von Beweisanträgen
bestimme38. Es trat der Vorwegnahme der Beweiswürdigung (Beweisan-
tizipation) nachdrücklich entgegen und legte dar, daß nach der Erfah-
" Gesetz v. 28.6.1935 (RGBl. I, S.44). §244 Abs. 2 RStPO lautete nunmehr: „Das
Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig
ist."
40 Die Emminger-Reform (VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v.
4.1.1924, RGBl. I, S. 11) führte, obwohl der Wortlaut des §244 Abs. 2 RStPO: „In den
Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Laiengerichten in der Berufungsin-
stanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene
Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei
durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein" (Hervorhebungen
vom Verf.) nahezu unverändert in §245 Abs. 2 RStPO übernommen wurde, zu einer
ersten Veränderung. Infolge der Beseitigung der erstinstanzlichen Strafkammern, deren
Zuständigkeit auf die Schöffengerichte überging, und der vergrößerten Zuständigkeit des
Einzelrichters wurde stillschweigend der Bereich erweitert, in dem das Ermessen des
Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte. Nachdem dies durch Gesetz v.
22.12.1925 (RGBl. I, S. 475) wieder rückgängig gemacht worden war, trat das Gesetz v.
27.12.1926 (RGBl. I, S. 529) „Auswüchsen des Parteibestimmungsrechts" durch erstma-
lige Normierung des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppung entgegen.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 957
41 Not-VO v. 14.6.1932 (1. Teil Kap.I Art. 3 §1) (RGBl. I, S.285). Das Gesetz v.
V.
Systematische Betrachtungsweise hat somit danach zu fragen, welcher
Einzelnorm oder Prozeßmaxime die jeweiligen Problemlagen nach heute
geltendem Strafprozeßrecht zuzuordnen sind.
1. Personelle Mängel von Berufsrichtern und Schöffen werden nach
richtiger Ansicht als absoluter Revisionsgrund i. S. des § 338 Nr. 1 StPO
behandelt47. Diese Norm setzt voraus, daß „das erkennende Gericht
nicht vorschriftsmäßig besetzt war". Nun enthalten aber weder die
Strafprozeßordnung noch das Gerichtsverfassungsgesetz Vorschriften
darüber, ob und ggf. welche körperlichen Beeinträchtigungen die Teil-
nahme von Richtern an Verhandlungen ausschließen. Diese Regelungs-
lücke wird zutreffend dadurch geschlossen, daß Rechtsprechung und
Schrifttum problematische Sachverhalte nach abgeleiteten Verfahrens-
maximen beurteilen, die u.a. in §261 StPO zum Ausdruck kommen,
aber auch aus den übrigen Vorschriften der §§226 ff StPO gefolgert
werden können. So verstößt die Teilnahme blinder, tauber und stummer
Richter letztlich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip und die Mündlich-
keitsmaxime, die gebieten, Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu
befragen, anzuhören und zu beobachten, Urkunden zu verlesen sowie
Beweise in Augenschein zu nehmen (z.B. arg. §§238, 240, 243, 249ff,
264 Abs. 1 StPO) 48 . Vorübergehende Erkrankung, Schlaf und Unauf-
merksamkeit sind ebenfalls danach zu beurteilen, inwieweit sie nach der
konkreten Fallgestaltung gegen die angeführten Verfahrensprinzipien
diesem Zusammenhang wurde das Verfahren zur Behandlung von Beweisanträgen auf
Vernehmung von Sachverständigen erstmalig in § 244 Abs. 4 StPO ausdrücklich geregelt.
47 Vgl. dazu z . B . die umfassende Übersicht bei LR-Hanack (Fn.34) Rdn.38ff. Nach
der älteren Rspr. des R G lag der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO nur vor,
wenn Richter an Urteilen mitgewirkt hatten, die nicht in gesetzlicher Weise berufen waren
(RGSt. 22, 106 ff. - Geschworene - ; ferner R G J W 1925, 1007; R G GA 68, 360; R G L Z
1920, 804). Die Änderung der Rspr. setzte mit RGSt. 60, 63 ff (schlafender Schöffe) ein
und wurde bis heute (BGHSt. 4 , 1 9 1 ff - blinder Richter - ) beibehalten (vgl. die Nachw. in
Fn. 3).
48 Einzelheiten bei LR-Hanack, a. a. O.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 959
49 Das kommt bei Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) § 338 Rdn. 14 f sowie bei KMR-Paulus
(Fn. 13) §338 Rdn. 31 ff nicht hinlänglich zum Ausdruck.
so Vgl. die Nachw. in Fn. 1 und 2.
51 N a c h w . in Fn. 1 f sowie 6 f.
960 Dieter Meurer
VI.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß §261 StPO in Rechtsprechung
und Schrifttum als eine Art „Auffangtatbestand" Verwendung findet,
dem die Funktion zugeschrieben wird, Regelungslücken aufzufüllen.
Ein Großteil der in diesem Zusammenhang erörterten Zweifelsfragen
sind vor dem Hintergrund des derzeitigen Gesetzesstandes richtiger
Ansicht nach als Probleme der Beweiserhebung anzusehen und demge-
mäß in diesem Zusammenhang zu untersuchen und zu entscheiden. Das
gilt insbesondere für die gesetzlich normierte Wahrheitserforschungs-
pflicht und für das Recht der Beweiserhebung (§§244 ff StPO), deren
Erörterung im Rahmen des §261 StPO aus systematischen und histori-
schen Gründen abzulehnen ist. Nur so kann dem Eindruck entgegenge-
wirkt werden, daß §261 StPO (wiederum)53 mangels ausdrücklicher
gesetzlicher Regelung stillschweigend oder unbewußt die Funktion
zugeschrieben wird, Beweiserhebungsfehler durch „Beweiswürdigung"
zu heilen. Die strikte Trennung von gebundener Beweiserhebung und
freier Beweiswürdigung in Anerkennung vielfältiger Wechselwirkung ist
eine unverzichtbare Errungenschaft des modernen Strafprozesses.
3
Die Frage, wie ein solches Votum regelgerecht durch den Sachverständigen zu
formulieren wäre (vgl. z.B. Schreiber, Wassermann-Festschrift 1985, S. 1007, 1017ff),
steht hier selbstverständlich nicht an.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 3
4 Vgl. Göppinger, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie II (hgg. von Göppinger
7 Hinsichtlich der Begutachtung der Schuldfähigkeit BGH NJW 1968, 2298, 2299; vgl.
auch B G H 27, 166, 167. Die zur notwendigen Anwesenheit des Sachverständigen während
der gesamten Hauptverhandlung oder doch wesentlicher Teile - übrigens wohl alle auf
Revision des Angeklagten - veröffentlichten Entscheidungen (vgl. etwa RG J W 1927,
2040; BGH 2, 25, 2 7 f ; 19, 367, 368ff; B G H bei Spiegel DAR 1977, S. 175h); B G H bei
Spiegel DAR 1983, S.205 Nr. 15; vgl. auch BGH 23, 1 f) betreffen meist nicht die
Begutachtung der Schuldfähigkeit. Das mag damit zusammenhängen, daß der psychiatri-
sche oder psychologische Sachverständige regelmäßig während der gesamten Hauptver-
handlung anwesend ist oder doch zumindest ab dem Zeitpunkt, zu dem etwa in der
Beweisaufnahme Zweifel hinsichtlich der Schuldfähigkeit aufkommen. So hält etwa auch
LR"-Gollwitzer, §226 Rdn. 16 die ständige Anwesenheit des Sachverständigen für die
Begutachtung der Schuldfähigkeit in der Hauptverhandlung für meist „notwendig oder
doch zweckdienlich", weil es auf die Kenntnis der Vorgänge in der Hauptverhandlung für
die Erstattung des Gutachtens ankomme (nur wenig zurückhaltender Dünhaupt, NdsRpfl.
1969, S. 131, 132).
8 NdsRpfl. 1969, S. 131 f. - J.-E. Meyer, MschrKrim 1981, S.224, 226 plädiert zwar
bar optimistisch Göppinger (Fn. 4), S. 1555; generell skeptisch Barbey (Fn. 5), S. 34, 59 f
(vgl. auch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S.405: „Der Gerichtssaal i s t . . . der ungeeig-
netste Ort, in das geistig-seelische Leben eines Menschen einzudringen." Vgl. aber auch
a.a.O. S.326f.).
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 5
I.
11 Gespräche mit Erna Duhm, Herbert Maisch, Elisabeth Müller-Luckmann und Ulrich
Venzlaff, für deren spontane Außerungsbereitschaft ich herzlich danke, haben mich aber
darin bestärkt, daß meine Vermutungen nicht aus der Luft gegriffen sind. - Natürlich gibt
es in der Psychologie generell Untersuchungen darüber, welchen Einfluß der Beobachter
auf den Probanden hat (sogar bei psychologischen Tests wird die bloße Anwesenheit des
Testleiters als Störvariante vermutet und untersucht; vgl. Hartmann, Psychologische
Diagnostik, 1970, S.56; zur Störvariablen Untersucher beim forensisch-psychiatrischen
Interview Barbey (Fn. 5), S. 70 ff.
u Kleinknecht/Meyer, 37. Aufl. 1985, § 2 2 6 Rdn.6; YM^.7-Paulus, Vorb. § 2 2 6 Rdn.49
(beide mit weiteren Nachweisen).
13 LR"-Gollwitzer, § 2 2 6 Rdn. 16; KK-Treier, §226 Rdn.9. - Weitergehend hält es
Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S.232 („im Hinblick auf § 8 0 " ) sogar bei allen Sachver-
966 Fritz Loos
Unergiebig für unser Problem sind auch die Vorschriften der §§ 246 a
i. V. m. 80 a StPO. § 246 a S. 1 statuiert die Pflicht, in der Hauptverhand-
lung einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn mit der Unterbrin-
gung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, seiner
Einweisung in eine Entziehungsanstalt oder mit der Anordnung der
Sicherungsverwahrung zu rechnen ist; dabei muß sich der Sachverstän-
dige in den Fällen der §§63, 64 StGB auch über die Schuldfähigkeit des
Angeklagten äußern14. § 2 4 6 a S.2 und § 8 0 a StPO, die trotz ihrer
Formulierung als Sollvorschriften allgemein als zwingend angesehen
werden15, bestimmen, daß dem Sachverständigen vor der Hauptverhand-
lung Gelegenheit zu einer Untersuchung des Beschuldigten zu geben ist,
wenn die erwähnten Sanktionen in Betracht kommen. Uber die Art und
Weise, wie dem Sachverständigen die Information über die Anknüp-
fungstatsachen zugänglich gemacht werden kann bzw. soll, geben die
Vorschriften keine Auskunft. Rechtsprechung und Literatur sind denn
auch darin einig, daß sich aus § 246 a keine Notwendigkeit einer dauern-
den Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung er-
gibt16.
Da auch sonst die Strafprozeßordnung eine ausdrückliche Regelung
einer über die Gutachtenerstattung hinausgehenden Anwesenheitspflicht
des psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen in der
Hauptverhandlung nicht enthält, kann schließlich nur die allgemeine
Aufklärungspflicht des Gerichts (§244 II StPO) 17 Ausgangspunkt der
Überlegungen sein. Die Aufklärungspflicht umfaßt auch die Pflicht,
dem Sachverständigen die notwendigen Anknüpfungstatsachen entwe-
ständigen über die Gutachtenerstattung hinaus gegeben sein. Die Art und Weise der
Vermittlung der Anknüpfungstatsachen an den Sachverständigen kann nicht nach § 244 IV
durch den Beweisantragsberechtigten festgelegt werden; vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Der
Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S.92; anders wohl nur zu §81 die h. M. (vgl.
Nachweise bei Alsberg/Nüse/Meyer, a . a . O . S. 100 F n . 6 4 ; dagegen Meyer a . a . O . ) ; wird
einem Antrag auf Beiziehung eines Sachverständigen stattgegeben (jedenfalls beim Sachver-
ständigenbeweis dürfte die Aufklärungspflicht zumindest nicht hinter § 2 4 4 IV StPO
zurückbleiben (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl. 1985, §43 A 4 mit Nachweisen),
so daß das Gericht mit der Durchführung der Begutachtung auch zugleich seine Aufklä-
rungspflicht erfüllt), hat das Gericht die Vermittlung der Anknüpfungstatsachen in der
gleichen Weise zu betreiben, wie wenn der Sachverständige nach § 244 II beigezogen wird.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 7
18 B G H 2, 25, 27; 19, 367, 368 ff; B G H N J W 1968, 2298, 2299; KK-Pelchen, § 8 0
20 So richtig Peters (Fn. 10), S.346 mit dem Hinweis darauf, daß der Sachverständige
kein Strafverfolgungsorgan (d.h. mit eigenen Beteiligungsrechten) ist; vgl. auch Eb.
Schmidt (Fn. 18), § 80 Rdn. 1; zumindest mißverständlich formuliert von Schlächter,
Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 526.3.
21 B G H N J W 1968, 2297 f; Kleinknecht/Meyer, Einl. Rdn. 80 i. V. m. § 81 Rdn. 11; Eb.
Schmidt (Fn. 18), §81 Rdn. 23, 24; Arzt, J Z 1969, 438.
22 Vgl. Gössel (Fn. 13), S. 190.
968 Fritz Loos
II.
Rechtliche Anknüpfungspunkte für die in der Einleitung skizzierten,
vom „Störfaktor Sachverständiger" ausgehenden Beeinträchtigungen
können die Aufklärungspflicht hinsichtlich des Tathergangs und die
Verteidigungsinteressen des Angeklagten sein. Die letzteren sollen näher
beleuchtet werden, weil hier die Beeinträchtigung plastisch erscheint,
aber auch, weil die Gegenargumente sich deutlicher erschließen.
Allerdings bewegt man sich, wenn man die Verletzung eines Rechts
auf sachgemäße Verteidigung durch die Beiziehung eines Sachverständi-
gen annimmt, in einem nicht gut gesicherten Gelände. Das positive
Strafverfahrensrecht enthält keine allgemeine Schutzvorschrift dieses
Inhalts, auch nicht Art. 6 III MRK. Bekanntlich wird zu § 338 Nr. 8
StPO darum gestritten, ob ein solches Recht anzunehmen ist, was dann,
wenn die formale Voraussetzung des §338 Nr. 8 (Gerichtsbeschluß)
erfüllt ist24, im Falle der Verletzung zur Revisibilität führt, oder ob eine
unzulässige Beschränkung der Verteidigung i. S. des § 338 Nr. 8 nur bei
Verstoß gegen spezielle gesetzliche Vorschriften zum Schutze der Ver-
teidigungsinteressen gegeben ist25. Letztlich dürfte aber doch insoweit
Einigkeit bestehen, daß schwerwiegende Eingriffe in die Verteidigung
prozeßrechtswidrig sind, gleichgültig ob man ein Recht auf sachgemäße
Verteidigung annimmt oder ob man sich auf die gerichtliche Fürsorge-
pflicht oder den fair-trial-Grundsatz 26 , eventuell auch den Grundsatz des
rechtlichen Gehörs27 beruft28. Bei der Vagheit sämtlicher hier in Betracht
gezogener Verfahrensprinzipien stellt sich in unserem Zusammenhang
die neuere Diskussion von Baldus, Ehrengabe für Bruno Heusinger, 1968, S. 373 ff
begründet worden; sie scheint neuerdings an Boden zu gewinnen; vgl. die Nachweise bei
Kleinknecht/Meyer (Fn. 12), §338 Rdn. 59 und LK"-Hanack, §338 Rdn. 127 Fn.338.
26 So Roxin (Fn. 17), § 53 E II 2 d.
27 Vgl. Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im
Strafverfahren, 1976, S. 184 ff.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 9
2 ' So auch Baldus (Fn. 25), S.381. Im Revisionsrecht würde sich die Stellung des
Angeklagten bei der Heranziehung der zuletzt genannten Prinzipien insofern verbessern,
als er nicht in der Tatsacheninstanz einen Gerichtsbeschluß nach § 238 II StPO herbeige-
führt haben müßte (insofern aber wohl wieder anders Schlucktet, Fn. 20, Rdn. 742).
29 Vgl. z . B . Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, 2.Aufl. 1964, Rdn.414ff; Baldus
(Fn. 25), S. 379.
30 Vgl. zur Bedeutung von B G H 10, 202 in der Entstehungsgeschichte des § 1 6 9 S.2
GVG LR"-Schäfer, Einl. Kap. 13 Rdn. 101 ff, insbes. Rdn. 103.
31 ZStW Bd. 85 (1973), S. 320 ff, insbes. S. 342 ff.
33 Dagegen z. B. Plewig, Funktion und Rolle des Sachverständigen aus der Sicht des
Strafverteidigers, 1983, S. 63. In der Tendenz offenbar anders neuerdings auch Krauß,
Z S t W B d . 9 7 (1985), S. 81 ff.
970 Fritz Loos
34
Vgl. dazu allgemein Leferenz, in: Kriminalbiologische Gegenwartsfragen, 1962,
S.l, 10 f.
35
Der - m. E. übrigens nicht unproblematische - Fall des professionellen Psychiaters
oder Psychologen in der Rolle des Laienrichters dürfte wohl zu vernachlässigen sein.
36
Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Beobachtung zur Begutach-
tung der Schuldfähigkeit. Soweit es um die Begutachtung der Glaubwürdigkeit des
Angeklagten - zu ihrer generellen Zulässigkeit vgl. die Nachweise bei Schlüchter (Fn. 20),
Rdn. 169, 274 - geht, wären m. E. zumindest erhebliche Modifikationen erforderlich. Vgl.
zur Pflicht des Zeugen, die Begutachtung, aber auch die Anwesenheit des Sachverständigen
in der Hauptverhandlung zu dulden, BGH 23, 1, 2 (insoweit zustimmend auch Peters,
Fn. 10, S. 327); vgl. auch BGH 19, 367.
37
Zur entsprechenden Informationspflicht des Gerichts vgl. BGH 2, 25, 27 f; BGH 27,
166, 167 (in BGH 27, 166 freilich aus §246a StPO hergeleitet). Weitere Nachweise bei
LR *-Meyer, §80 Rdn. 9; LR "-Gollwitzer, §246a Rdn. 8; KK-Pelchen, §80 Rdn. 4.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 1
38 Vgl. Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 8. Aufl. 1980, S. 202; so wohl auch
Peters (Fn. 10), S.327.
39 Damit würde dann gegebenenfalls eine Beanstandung nach § 238 II S t P O provoziert,
die einen Gerichtsbeschluß nach dieser Vorschrift herbeiführte. - Vgl. zu einer parallelen
Problematik B G H 13, 394, 398 und dazu Peters (Fn. 10), S . 3 2 7 sowie ders., Die prozeß-
972 Fritz Loos
Aus den zuletzt aufgeworfenen Fragen erhellt noch einmal, daß hier
nicht die These aufgestellt werden soll, die Zuziehung des Sachverständi-
gen zu dem bezeichneten Zweck führe regelmäßig zu einer Beeinträchti-
gung der Verteidigungsinteressen. Im Falle des Widerspruchs des Ange-
klagten bedarf es aber m. E. guter Gründe, eine wesentliche Beeinträch-
tigung von vornherein auszuschließen. Was daraus für die Daueranwe-
senheit des Sachverständigen folgt, läßt sich erst aus einer Abwägung mit
dem Aufklärungsinteresse hinsichtlich der Schuldfähigkeit herleiten.
III.
Von vornherein ist klar, daß eine „glatte" Lösung des Konflikts
zwischen Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit einerseits
und Verteidigungsinteressen im Zusammenhang mit der Aufklärungs-
pflicht hinsichtlich des Tathergangs andererseits nicht zu finden ist. Die
Strafprozeßordnung hat die Problematik nicht berücksichtigt, aber auch
de lege ferenda hat man sich, soweit ersichtlich, mit ihr nicht befaßt. Es
ist auch zweifelhaft, ob für derartige Konflikte überhaupt generelle
Lösungen gefunden werden können. Für die gerichtliche Entscheidung,
ob nach § 80 der Sachverständige zur gesamten Beweisaufnahme hinzu-
gezogen werden soll oder nicht, lassen sich daher nur Gesichtspunkte
für eine Abwägung der konfligierenden Interessen in bestimmten Fall-
gruppen aufführen41.
1. Die Problematik wird sich in aller Regel nicht stellen, wenn der
Angeklagte in vollem Umfang geständig ist. Jedenfalls dürften dann die
immer noch verbleibenden Verteidigungsinteressen und die Aufklä-
rungsnotwendigkeiten zum Tathergang so weit zurücktreten, daß der
Vorrang der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit und
damit gegebenenfalls der Beobachtung des Angeklagten in der Haupt-
verhandlung eindeutig ist.
2. Bei Hauptverhandlungen dagegen, in denen über den Tathergang
gestritten wird, wird die Schwere des erhobenen Vorwurfs ein nicht zu
übergehendes Kriterium sein. Freilich ist das wohl nur für die Bagatell-
fälle ein nicht-ambivalentes Kriterium. Steht nur eine verhältnismäßig
rechtl. Stellung des psychologischen Gutachters, in: Handbuch der Psychologie, 11. Band
(hgg. von Undeutsch), S. 768, 786.
40 Die Aufklärungspflicht zum Tathergang wird natürlich durch das Einverständnis des
42 Anders offenbar Schmidt-Hieber (Fn. 40), S. 292, der allerdings das Verhältnismäßig-
keitsproblem gar nicht anspricht. Wie hier wohl AE-StPO (Fn. 6), S. 56 f. Vgl. auch
Schüler-Springorum (Fn. 8), S.312f.
43 Selbstverständlich liegt die Beurteilung hier wieder nicht in der Kompetenz des
44 Anders liegt es, wenn der Sachverständige in der Hauptverhandlung zugezogen wird,
L R "-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 1 und Kaatsch, Die Zuziehung des medizinischen Sachver-
ständigen im Strafprozeß bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung, Med. Diss.
Würzburg 1983. Aber auch für die Strafzumessung kann natürlich der Sachverständige
u. U. wesentliche Hinweise geben.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 5
IV.
1. Eine fallweise (höchstens fallgruppenweise) Abwägung der für oder
gegen die Anwesenheit des beobachtenden Sachverständigen sprechen-
den Gesichtspunkte belastet das Strafverfahren mit einer neuen Schwie-
rigkeit. Das Gericht muß sich auf dem schmalen Grat zwischen der
Verletzung der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit
einerseits, der Verletzung der Pflicht zur Tathergangsaufklärung, vor
allem aber der Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeit andererseits
bewegen. Nimmt man eine pflichtwidrige Verletzung in einer der beiden
Richtungen an, eröffnen sich Revisionsmöglichkeiten nach §§337, 338
Nr. 849 StPO. Die Annahme regelmäßig konfligierender Verfahrensprin-
zipien ist natürlich höchst unerwünscht, weil damit das Damokles-
schwert der Urteilsaufhebung - und dazu in meist ohnehin besonders
komplizierten Prozessen - über dem Verfahren schwebt. Eine Abmilde-
rung der Problematik läßt sich nur in der Weise denken, daß die
Revisionsgerichte den Tatgerichten einen genügend breiten Ermessens-
spielraum bei der Abwägung der konfligierenden Grundsätze belassen.
Immerhin muß aber der den Widerspruch des Angeklagten gegen die
Daueranwesenheit des Sachverständigen zurückweisende Beschluß nach
§238 II StPO die Gründe erkennen lassen, warum der Aufklärung der
Schuldfähigkeitsfrage der Vorrang eingeräumt worden ist50.
47 Vgl. oben bei und in Fn. 7.
48 Bei Hauptverhandlungen, die sich über längere Zeit hinziehen, wird die dauernde
Anwesenheitspflicht von Gutachtern mit außerforensischen (haupt)beruflichen Aufgaben
verständlicherweise wenig geschätzt. Zurückhaltung bei der Daueranwesenheitspflicht
könnte also den durchaus erwünschten Nebeneffekt haben, besonders qualifizierten
Gutachtern die Übernahme von Sachverständigenaufgaben zu erleichtern. Ein leichtferti-
ges Sich-Hinwegsetzen über noch bestehende Aufklärungsbedürfnisse wird man gerade bei
ihnen nicht zu befürchten haben. Vgl. dazu auch Meyer (Fn. 8), S. 226.
49 N a c h letzterer Bestimmung, wenn ein entsprechender Gerichtsbeschluß nach § 2 3 8 II
S t P O vorliegt.
50 Vgl. LW-Wetidisch, § 3 4 Rdn. 7 zur Begründung von Ermessensentscheidungen.
976 Fritz Loos
2. Man könnte daran denken, daß eine generelle Lösung durch die
Zweiteilung der Hauptverhandlung, insbesondere nach dem Schema des
Tatinterlokuts 51 erreichbar wäre52. Danach könnte der erste Teil der
Hauptverhandlung bis zum (formellen oder informellen53) Interlokut, in
dem der Angeklagte als Bürger gegen den Staat kämpft, in Abwesenheit
des Sachverständigen durchgeführt werden, während er dann zur Sank-
tionsverhandlung, welche nach dem Tatinterlokut die Schuldfähigkeits-
frage einschließt, herangezogen wird. Von einer Zweiteilung der Haupt-
verhandlung darf man sich freilich auch keine „glatte" Lösung verspre-
chen. Die Rekonstruktion der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt kann,
wie oben54 angesprochen, z . B . bei Affekttaten die Anwesenheit des
Sachverständigen in der Tatverhandlung unter Hintanstellung von
Gegeninteressen gebieten55. Immerhin würde aber die Teilnahme des
Sachverständigen an der gesamten Sanktionsverhandlung, die ja Aufklä-
rung über die Persönlichkeit des Angeklagten bringen soll56, zur Vervoll-
ständigung der Gutachtergrundlagen beitragen, so daß vielfach leichter
auf die Anwesenheit in der Tatverhandlung verzichtet werden könnte.
Die vorstehenden Überlegungen sollten auf ein Problem aufmerksam
machen. Ein Patentrezept zur Lösung scheint mir weder de lege lata
noch de lege ferenda in Sicht. Das kann aber kein Grund dafür sein, dem
Schutz der Verteidigungsinteressen nicht auch in diesem Zusammenhang
die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
51 Vgl. Schöch/Schreiber, ZRP 1978, S. 63, 66; Dölling, Die Zweiteilung der Hauptver-
handlung, 1978, S. 44 ff, 145; AE-StPO (Fn.6), S.5f, 53 ff. Aus psychiatrischer Sicht vgl.
zur Zweiteilung, freilich ohne die hier erörterte Problematik, Haddenbrock, N J W 1981,
S. 1302ff (vgl. auch Fn.6).
52 Vgl. zur Beschränkung der Anwesenheit des Sachverständigen auf die Rechtsfolgen-
verhandlung AE-StPO (Fn.6), S.4, 56; vgl. auch §214 V AE-StPO (S.47). Dazu auch
Meyer (Fn.8), S.226.
53 Vgl. Kleinknecht, StPO, 35. Aufl. 1981, §244 Rdn.22-26.
54 Unter III 3 b).
55 Auch diese Problematik wird in AE-StPO (Fn.6), S.56 nicht angesprochen (vgl.
1
Kleinknecht M D R 1972, 1051.
2
Kleinknecht/Meyer, StPO 37. Aufl., § 2 0 6 a Rdn. 8.
3 Vgl. z . B . L R - R i e ß , StPO 24. Aufl., § 2 0 6 a Rdn.53.
hin Anerkennung gefunden: vgl. z.B. LR-Schäfer Einl. 10 Rdn. 1 a.a.O. (Fn.6); Peters,
Strafprozeß 4.Aufl. §32 I I ; Gössel, §19 B I a.a.O. (Fn.6). Auf den Streit, ob dieser
Begriff nicht weiter zu fassen und z. B. auch auf prozeßrelevante Realakte zu erstrecken ist
- Roxin, Strafverfahrensrecht 19. Aufl. § 22 A II; Kleinknecht/Meyer Einl. Rdn. 95 a. a. O.
(Fn. 2), s. a. KMR-Sax, StPO 7. Aufl. Einl. X Rdn. 1 ff - kommt es hier deshalb nicht an,
weil die Anwendung der Kategorien der Zulässigkeit davon unabhängig ist.
' Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S.394, 428; Eb. Schmidt Rdn. 235,
244 a.a.O. (Fn.4) - die von Eb. Schmidt Rdn.241 für die Bewirkungshandlungen
vorgeschlagene Anwendung der Kategorie der Beachtlichkeit führt zum gleichen Ergebnis
- gegen Eb. Schmidt insoweit KMR-Si** Einl. X Rdn. 3 a. a. O. (Fn. 8).
10 S. o. Fn. 6.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 979
12 Vgl. KMR-Stfx Einl. XIII Rdn. 12, ferner KUR-Paulus § 2 0 6 a Rdn.61 jeweils
a . a . O . (Fn.8).
15 Zum Streitstand s. LR-Rieß, § 2 0 6 a Rdn. 14ff a . a . O . (Fn.3).
15
LK-Schäfer, § 142 GVG Rdn.23 a.a.O. (Fn.6).
16
LR -Wendisch, § 6 Rdn. 4 ff a. a. O. (Fn. 3).
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 983
17
LR-Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3).
18
LR -Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3).
" A . A . LK-Wendisch, §16 Rdn. 10 a.a.O. (Fn.3).
20
BGHSt. 13, 378, 382; Gössel, §16 CIV a.a.O. (Fn.6).
21
Goldschmidt, S.369, 457, 498, 514, a.a.O. (Fn.9).
22
Eb. Schmidt, Rdn. 232, 235, 243-247, a.a.O. (Fn.4).
984 Karl Heinz Gössel
1. Rechtsmittelerklärungen
Als erste Gruppe seien die Erklärungen über Rechtsmittel genannt:
wegen ihrer offensichtlichen Gestaltung der prozessualen Rechtslage
(Einlegung: z. B. Begründung der Zuständigkeit eines höheren Gerichts;
Verzicht: Eintritt der Rechtskraft) werden sie einhellig und unbestritten
als Prozeßhandlungen aufgefaßt; ebenso werden sie allgemein z.B. im
Hinblick auf die Statthaftigkeit des jeweiligen Rechtsmittels und der
Einhaltung der jeweiligen Frist- und Formvorschriften als zulässig oder
unzulässig bewertet.
a) Ebenso allgemein anerkannt sind die Folgen einer zulässigen Rechts-
mittelerklärung: das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel (Nachprüfung
der Sachentscheidung in der höheren Instanz; Beendigung des Verfah-
rens durch Eintritt der Rechtskraft) kann nunmehr erreicht werden,
womit gleichzeitig der Weg zur Verwirklichung eines bestimmten
Inhalts frei wird, natürlich nicht aber die Verwirklichung selbst (z. B.
Freispruch als Sachentscheidung; bei Rechtsmittelrücknahme wird eine
unabhängig von der Rücknahme ergangene vorherige Sachentscheidung
lediglich rechtsbeständig) eintritt, die eine Frage der Begründetheit der
zulässigen Rechtsmittelerklärung ist (s.o. All).
b) Eine unzulässige Rechtsmittelerklärung kann den Weg zur Verwirk-
lichung eines bestimmten Inhalts nicht eröffnen und damit auch nicht
das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel erreichen. Deshalb läßt sich sagen,
23 Goldschmidt, S.457, 498 a.a.O. (Fn.9); Eb. Schmidt Rdn.241, 251 a.a.O. (Fn.4).
24 Eh. Schmidt Rdn. 248 ff a. a. O. (Fn. 4).
25 Goldschmidt, S. 498 f a. a. O. (Fn. 9).
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 985
2. Verhandlungsleitende Anordnungen
In einer zweiten Gruppe sollen die verhandlungsleitenden Anordnun-
gen i. S. des §238 Abs. 2 StPO betrachtet werden. Da es sich hierbei um
Prozeßhandlungen handelt, sind solche Anordnungen nicht mehr in
Abgrenzung zu einer angeblich formellen Verhandlungsleitung durch
ihre angeblich sachleitende Qualität zu bestimmen, sondern mit einer
inzwischen überwiegend vertretenen Meinung danach, ob sie sich ver-
fahrensgestaltend auswirken26.
Daß solche Anordnungen unter der Wertkategorie der Zulässigkeit
beurteilt werden können, wird zwar von Goldschmidt verneint27, jedoch
zu Unrecht. Abgesehen davon, daß das Gesetz eine solche Bewertung in
§238 Abs. 2 StPO selbst vorschreibt28, ist zur Zulässigkeit einer ver-
handlungsleitenden Anordnung z.B. deren Statthaftigkeit zu fordern,
worunter zu verstehen ist, daß sie nach den prozeßrechtlichen Regeln
überhaupt vorgenommen werden darf29, daneben u. U. auch die Einhal-
tung einer bestimmten Form (z.B. Ablehnung eines Beweisantrags
durch Verfügung des Vorsitzenden anstatt gemäß §244 Abs. 6 StPO
durch Gerichtsbeschluß). Die Unzulässigkeit derartiger Maßnahmen
führt entweder zu deren Unterbleiben u.U. auf den Rechtsbehelf des
§238 Abs. 2 StPO hin, sonst zur Berücksichtigung im Rechtsmittel-
wege, u. U. zur Revisibilität unter den Voraussetzungen der §§337, 338
StPO.
26 LK-Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 2 1 a . a . O . ( F n . 3 ) ; s. a. Gössel, § 2 1 A l l a l a . a . O . ( F n . 6 )
jeweils m. w. N a c h w .
27S. 514 a . a . O . ( F n . 9 ) .
21W i e hier schon Eb. Schmidt R d n . 2 4 3 f a . a . O . ( F n . 4 ) ; im Ergebnis ebenso L R -
Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 3 1 a . a . O . ( F n . 3 ) .
29 Gössel, §21 A l l b l a . a . O . (Fn.6).
986 Karl Heinz Gössel
3. Beweisanträge
Als dritte und letzte Gruppe der hier zu behandelnden Prozeßhand-
lungen seien die Beweisanträge erwähnt. Daß auch sie als Erwirkungs-
handlungen unter der Kategorie der Zulässigkeit bewertbar sind, ist
allgemein anerkannt 30 - ein Beweisantrag ist z. B. unzulässig, wird er
nicht von einem antragsberechtigten Verfahrensbeteiligten gestellt31.
Dies gilt entgegen Meyer auch dann, wenn mangels ausreichend genauer
Angabe des Beweisthemas oder des Beweisträgers ein sog. Beweisermitt-
lungsantrag vorliegt 32 : auch in diesem Fall wird eine Sachverhaltsermitt-
lung beantragt, so daß sich das Vorliegen eines Beweisantrags schwerlich
leugnen läßt - dieser aber ist in unzulässiger Form gestellt. Davon ist die
Unzulässigkeit der beantragten Beweiserhebung zu unterscheiden: es ist
möglich, mittels eines zulässigen Beweisantrags die Erhebung eines
Beweises zu verlangen, der z . B . von § 2 5 2 StPO verboten ist: ein der-
artiger Beweisantrag ist als unbegründet abzulehnen 33 .
Die Unzulässigkeit des Beweisantrags selbst wie die der beantragten
Beweiserhebung führt bei richtiger Behandlung zur Antragsablehnung
nach §244 Abs. 6 StPO - im übrigen können Zulässigkeit und Unzuläs-
sigkeit in diesem Zusammenhang wie bei der zweiten hier behandelten
Gruppe der verfahrensleitenden Anordnungen nur im Rechtsmittelwege
berücksichtigt werden, insbesondere zur Revisibilität i.S. der §§337,
338 StPO führen.
(Fn. 9); Eh. Schmidt Rdn. 235 f a. a. O. (Fn. 4); Gössel, § 29 C 1 c a. a. O. (Fn. 6).
31 LR-Gollwitzer wie Fn. 30.
34
L R - G ö W , §359 Rdn.124 a.a.O. (Fn.3).
35
H. Mayer, Die konstruktiven Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens und seine
Reform, GerS 99 (1930), 299, z.B. S.311.
36
H.Mayer, S.311, 302 a.a.O. (Fn.35).
37
LR-Gollwitzer Rdn. 29 vor §296 a. a. O. (Fn. 6).
38
Eb. Schmidt Rdn. 268 a.a.O. (Fn.4); Geppert, Gedanken zur Rechtskraft und zur
Beseitigung strafprozessualer Beschlüsse, GA 1972, 165, 170f.
Ü b e r l e g u n g e n z u r „Zulässigkeit" im Strafverfahren 989
werden; eingehend dazu LR-Go'W, Rdn.30ff, 46ff vor §359 a.a.O. (Fn.3).
44 Eingehend dazu Dünnebier, Die Berechtigten zum Wiederaufnahmeantrag, Festgabe
für Karl Peters zum 80. Geburtstag 1984, S.333.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 991
47
Neumann, System der strafprozessualen Wiederaufnahme 1932, S.49; Wasserburg,
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, Handbuch 1983, S.237.
48 LR-Gösse/, §368 Rdn.5f a.a.O. (Fn.3).
49
Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S.431; Demi, Zur Reform der
Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1979, S.66.
992 Karl Heinz Gössel
1. Der Wiederaufnahmebeschluß
Der Beschluß über die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 3 7 0
Abs. 2 S t P O ist eine Voraussetzung für die Durchführung des neuen
Sachentscheidungsverfahrens, der in seinen Wirkungen dem Eröff-
nungsbeschluß verglichen werden kann. Allerdings entspricht der Wie-
deraufnahmebeschluß diesem schon deshalb nicht völlig, weil wegen der
Zurückversetzung des Verfahrens in den Zustand vor Erlaß der ange-
fochtenen Entscheidung Anklage und Eröffnungsbeschluß des voraufge-
gangenen Verfahrens den Gegenstand auch des wiederaufgenommenen
Verfahrens bestimmen. Im übrigen sind etwa fehlende Sachentschei-
dungsvoraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens ohne Einfluß auf
das wiederaufgenommene Verfahren: wie immer fehlerhaft das Wieder-
aufnahmeverfahren selbst auch durchgeführt worden sein mag, und sei
es auch ohne den Zulassungsbeschluß des § 368 S t P O , ist nach Erlaß des
Wiederaufnahmebeschlusses nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O bedeutungslos ge-
worden.
2. Gerichtliche Zuständigkeit
Die gerichtliche Zuständigkeit zur Durchführung des wiederaufge-
nommenen Verfahrens ist abweichend von der des voraufgegangenen
Verfahrens geregelt: sie liegt nunmehr bei dem nach § 367 S t P O , § 140 a
G V G zuständigen Gericht 57 . Bei fehlender Zuständigkeit ist ebenso zu
verfahren wie bei Zuständigkeitsmängeln im Wiederaufnahmeverfahren
(s.o. 112 d).
3. Verhandlungsfäbigkeit
Bei fehlender Verhandlungsfähigkeit ist das (wiederaufgenommene)
Verfahren nicht etwa einzustellen 58 : wie schon im Wiederaufnahmever-
fahren die entsprechende Anwendung des §361 StPO vorgeschlagen
wurde (o. II 2 c), so hier die entsprechende Anwendung des §371 Abs. 1
StPO 5 '.
I. Selbständige Schriften
Das Verbrechen und Vergehen gegen den Personenstand, Bonn, Jur.
Diss. 1950.
Steigt die Jugendkriminalität wirklich? Bonn 1965.
Strafanspruch, Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom
formellen Strafrecht, Bonner Habil.Schrift, Göttingen 1968.
Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stutt-
gart, Berlin, Köln, Mainz 1971.
Menschsein zwischen Zwang und Schuld, Thematische Gottesdienste,
Regensburg 1973.
Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren (in Zusammenarbeit mit Claus
Hartmann, Klaus Höfer, Helmut Marquardt, Hans Rausch), München
1975.
Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1977.
II. Aufsätze u. a.
Hinweise für die kriminologische Auswertung von Ermittlungs- und
Strafverfahrensakten, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 36 (1953),
S. 180-186.
Der Irrtum über Voraussetzungen, die für § 240 II StGB beachtlich sind,
in: Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1954, S. 359-364.
Verbotsirrtum als Strafausschließungsgrund? in: Neue Juristische
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Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: Juristenzeitung
1962, S. 193-199.
Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.),
Festschrift für Hellmuth v.Weber, Bonn 1963, S. 418-444.
998 Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann
Die ungewollten Straftaten als Probleme des Rechts und der Rechtswis-
senschaft heute, in: Universitas 1975, S. 599-608.
In Memoriam Hans v. Hentig, Reden gehalten anläßlich der Gedenk-
feier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen
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Schiaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann, Köln, Bonn 1976, S. 27-37.
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Eine Antwort, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 61 (1978),
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Die kriminologische Lehrveranstaltung als allgemeine Orientierungs-
hilfe für Studierende? in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 63 (1980),
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I. Selbständige Schriften
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Delincuentes juveniles - diagnosis y juzgamiento. Biblioteca de Ciencias
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1000 Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann