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Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann

Gedächtnisschrift für
HILDE KAUFMANN

herausgegeben von

Hans Joachim Hirsch Günther Kaiser

Helmut Marquardt

wDE

G_
1986

Walter de Gruyter • Berlin • New York


Gedruckt auf säurefreiem Papier
(alterungsbeständig - pH 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek

Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann /


hrsg. von Hans Joachim Hirsch

Berlin ; New York : de Gruyter, 1986.


ISBN 3-11-010463-6
N E : Hirsch, Hans Joachim [Hrsg.]

©
Copyright 1986 by Walter de Gruyter 8c Co., 1000 Berlin 30.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der
Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Foto-
kopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt
oder verbreitet werden.

Printed in Germany
Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36
Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe GmbH, 1000 Berlin 61
Vorwort

In diesem Jahr hätte Hilde Kaufmann ihr 66. Lebensjahr vollendet. Sie
starb unerwartet am 11. Januar 1981, nachdem Krankheit und Anfällig-
keiten überwunden schienen. Durch den jähen Tod der Wissenschaft-
lerin, die auch im Ausland hohes Ansehen genoß, hat die Kriminal-
wissenschaft einen großen Verlust erlitten.
Dem ehrenden Gedenken an Hilde Kaufmann widmen Freunde,
Kollegen und Schüler diese Schrift. Auch nach fünf Jahren ist die
Erinnerung an sie unverändert lebendig. Sie ist geprägt von den vielfälti-
gen Tätigkeiten der Verstorbenen als akademischer Forscher und Lehrer
sowie dem ständigen Bemühen, eine Brücke zwischen kriminologischer
Forschung und Strafrechtspflege zu schlagen. Überdies war Hilde Kauf-
mann Mittlerin zwischen der Kriminalwissenschaft des deutschsprachi-
gen Bereichs und der spanischsprachigen Welt. Mutig, entschieden und
selbstlos setzte sie sich vor allem für Kollegen ein, die in Not und
Bedrängnis geraten waren oder wegen politischer Verfolgung ihre Hei-
mat verlassen mußten und an der Kriminologischen Forschungsstelle in
Köln Obdach und Hilfe fanden.
Dem Verlag W. de Gruyter danken wir für die entgegenkommende
verlegerische Betreuung, außerdem Frau Jacqueline Kaspar (Freiburg)
und Herrn Dr. Georg Küpper (Köln) für die Mitwirkung an den
redaktionellen Arbeiten.

Köln, Freiburg, Bonn, im April 1986 Die Herausgeber


Inhalt

H E L M U T MARQUARDT,Bonn:
Hilde Kaufmann. Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen
Werkes 1

I. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform


Berlin:
U L R I C H EISENBERG,
Implikationen der Normsetzung und -durchsetzung durch internationale
Organisationen im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens von
Staatsführungen und ihren Organen 21
GERHARD DEIMLING, Wuppertal:
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Cesare Beccarias „Uber
Verbrechen und Strafen" (1764) 51
JUAN BUSTOS RAMÍREZ, Barcelona:
Kriminalpolitik und Strafrecht 69
HANS-DIETER SCHWIND, Hannover:
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 87
KAZIMIERZ BUCHALA, Krakau:
Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen 101
JUAN C A R L O S GARDELLA,Köln:
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 113
Köln:
H A N S JOACHIM H I R S C H ,
Bilanz der Strafrechtsreform 133
H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM, München:
Die sozialtherapeutischen Anstalten - ein kriminalpolitisches Lehrstück? 167
GÜNTER BLAU, Frankfurt:
Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen grundlegenden Wandel
des Sanktionenwesens 189

II. Kriminologie und Jugendstrafrecht


LOLITA ANIYAR DE CASTRO, Maracaibo:
Grundlagen, Beiträge und mögliche Entwicklungslinien einer Krimino-
logie der Befreiung 213
ROBERTO BERGALLI, Barcelona:
Fundamentos e impedimentos de una teoría criminológica latino-ameri-
cana 225
VIII Inhalt

CARLOS A . TOZZINI, B u e n o s A i r e s :
Kriminologie: Die unangemessene Kollision von zwei Parallelen 245
WERNER GEISLER, M a n n h e i m :
Prognoseentscheidungen - Ein empirisches und entscheidungstheoreti-
sches Problem 253
H A N S J O A C H I M SCHNEIDER, M ü n s t e r :
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 267
ARTHUR KREUZER, G i e ß e n :
Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur
Diskussion um Frauenkriminalität 291
R O S A DEL O L M O , C a r a c a s :
Drugs in Latin America and the world crisis 309
K O I C H I MIYAZAWA, T o k i o :
Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan 321
WOLFGANG H E I N Z , K o n s t a n z :
Was läßt die vereinheitlichte Juristenausbildung von der Kriminologie
übrig? 329
HEINZ SCHÖCH, G ö t t i n g e n :
Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Kriminologie -
Rückblick und Ausblick 355
K L A U S SESSAR, H a m b u r g :
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 373
F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN, G ö t t i n g e n :
Zum Funktionswandel des Jugendarrests 393
ELLEN SCHLÜCHTER, K ö l n :
Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 409

III. Theorie, Zumessung und Vollzug der Strafe


A R T H U R KAUFMANN, M ü n c h e n :
Uber die gerechte Strafe. Ein rechtsphilosophischer Essay 425
R E I N H A R D VON H I P P E L , M a r b u r g :
Zur Verortung der Spezialprävention/Sozialtherapie: Maßregel oder
Strafvollzug? 433
HEINZ MÜLLER-DIETZ, Saarbrücken:
Franz Huber - ein Theoretiker der „Straf"- und „Gefängniskunde" 451
ALBERT KREBS, O b e r u r s e l :
Denkweisen von „Poenologen" über die „Einzelhaft" um die Mitte des
XIX. Jahrhunderts 475
Inhalt IX

MICHAEL WALTER, Köln:


Die Bestimmung der Tatschuld und Bemessung der Strafe nach der vom
Täter entwickelten „kriminellen Energie" - Ein Beitrag zur Entfernung
pseudo-kriminologischer Begrifflichkeit aus dem Strafrecht 493
JÜRGEN BAUMANN, Tübingen:
Strafzumessung und ihre Auswirkung auf den Vollzug 513
KLAUS ROLINSKI, Regensburg:
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall. Zur Beschränkung der Straf-
restaussetzung durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 67
Abs. 5 StGB 525
ECKHARD H O R N ,Kiel:
„Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 545
Lerida:
E N R I Q U E BACIGALUPO,
Die Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 557
A N T O N I O BERISTAIN,San Sebastian:
La libertad religiosa como derecho fundamental de los internos institutio-
nes penetenciarias 571
GÜNTHER KAISER, Freiburg:
Strafvollzug im internationalen Vergleich 599
KARL-PETER ROTTHAUS, Köln:
Aufgaben und Arbeitsweise der Justizvollzugsämter im Lande Nord-
rhein-Westfalen 623

IV. Strafrecht
IGOR ANDREJEW, Warschau:
Die integrierende Lehre vom Tatbestand 639
WOLFGANG SCHÖNE, Bonn:
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 649
FRIEDRICH-WILHELM KRAUSE, Würzburg:
Notwehr bei Angriffen Schuldloser und bei Bagatellangriffen 673
JOSE CEREZO MIR, Zaragoza:
Grundlage und Rechtsnatur des Notstands im spanischen Strafgesetz-
buch 689
ROLF DIETRICH HERZBERG, Bochum:
Der Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 709
Buenos Aires:
JAIME MALAMUD G O T I ,
On Punishing And Individual Rights. An Essay on Objective Adminis-
trative Offenses 737
X Inhalt

JOACHIM HELLMER, Kiel:


Bemerkungen zum strafrechtlichen Staatsschutz aus der Sicht der Identi-
tätstheorie 747
KLAUS GEPPERT, Berlin:
Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) beim „Kampf um das
gemeinsame Kind". Überlegungen de lege lata und de lege ferenda 759
GÜNTHER JAKOBS, Bonn:
Nötigung durch Gewalt 791
NIKOLAOS S. FOTAKIS, Athen:
Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht
aus der Sicht des Mediziners 813
MARINO BARBERO SANTOS, Madrid:
El fenómeno de la droga en España. Aspectos penales 824

V. Strafverfahrensrecht
DIETRICH OEHLER, Köln:
Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 847
H A N S JÜRGEN BRUNS, Erlangen:
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im strafprozessualen Ermitt-
lungsverfahren. Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politi-
schen Thema: „Vorverurteilung" und „Vorfreispruch" 863
DIETHART ZIELINKSI, Hannover:
Strafantrag - Strafantragsrecht. Zur Frage der Funktion des Strafantrags
und seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen 875
HEIKE JUNG, Saarbrücken:
Öffentlichkeit-Niedergang eines Verfahrensgrundsatzes? 891
KARL PETERS, Münster:
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 913
CHRISTOS DEDES, Athen:
Grundprobleme des Beweisverfahrens 929
Marburg:
DIETER M E U R E R ,
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 947
FRITZ L O O S ,Göttingen:
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachver-
ständigen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung in der Hauptverhandlung? 961

KARL HEINZ GÖSSEL, Erlangen:


Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren, insbesondere im
Stadium der Wiederaufnahme 977

Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann 997


Hilde Kaufmann
Eine Skizze ihres Lebens und ihres wissenschaftlichen Werkes

H E L M U T MARQUARDT

Der Tod, der Hilde Kaufmann mitten aus ihrer wissenschaftlichen


Arbeit riß, kam unerwartet und zu einer Zeit, als alles darauf hindeutete,
daß Krankheit und Anfälligkeit - lästige Begleiter der Jahre zuvor -
überwunden seien. Energie, Optimismus, Freude auf Jahre der Arbeit
und des Forschens, die ihr noch vergönnt sein würden, waren der
prägende Eindruck vieler Gespräche und Begegnungen mit Kollegen
und Freunden in den letzten Wochen vor ihrem Tod. Ein Gehirnschlag
am Abend des 11. Januar 1981 setzte allen Plänen ein jähes Ende.
Der Rückblick auf Leben und Werk Hilde Kaufmanns ist schmerz-
lich, weil er bewußt macht, wieviel sie der Wissenschaft noch hätte
geben können. Er erfüllt aber auch mit Dankbarkeit, weil deutlich wird,
wie vieles von dem, was sie geschaffen hat, bleiben und fortwirken wird.
Wenn im folgenden noch einmal die Stationen ihres Lebens abge-
schritten und die Spuren verfolgt werden, die sie durch ihr Wirken
gezeichnet hat, so geschieht dies in dem Bemühen, das Wesentliche zu
erfassen und das Bleibende sichtbar zu machen. Es geschieht auch in
dem Bewußtsein der Subjektivität und Unvollkommenheit dieses Bemü-
hens.

I.
Der Versuch, die Persönlichkeit Hilde Kaufmanns zu kennzeichnen,
stößt zunächst auf die Dominanz von Eigenschaften, die auf den ersten
Blick eher widersprüchlich erscheinen: scharfer, analytischer Verstand,
kritisch-abwägende Distanz zur Umwelt, Rationalität im Handeln,
Klarheit und Festigkeit des Standpunkts, kämpferisch und unbeugsam in
der Verfechtung einer als richtig erkannten Position - all dies verband
sich mit nicht weniger ausgeprägten Wesenszügen wie Warmherzigkeit,
Offenheit, musischer Begabung, gefühlsbetonter Hingabe an Menschen
und Sachen, selbstloser Zuwendung, wo Not und Leid Hilfe forderten.
Das Klischee, hier sei eben eine Frau in einer typisch männlichen
Berufsrolle tätig geworden und habe sich einen Gutteil von deren
Attributen angeeignet, ist ihr oft begegnet und hat sie stets zornig
2 Helmut Marquardt

gemacht. Vor allem die ersten Jahre ihres beruflichen Werdegangs waren
durch die Erfahrung von Vorurteilen und skeptischer Distanz auf Seiten
ihrer Ausbilder und Kollegen geprägt, gaben ihr das Gefühl, sich gerade
als Frau durchsetzen und behaupten zu müssen. Man geht nicht fehl - zu
oft hat sie davon gesprochen - , wenn man annimmt, daß etwas von dem
Kämpferischen ihres Wesens, von der bis an die Grenzen der physischen
Belastbarkeit gehenden Zähigkeit ihres Arbeitens in diesen Erfahrungen
seinen Grund hat. Aber es wäre falsch, dieser Seite ihrer Persönlichkeit
übermäßiges Gewicht beizumessen oder hier eine wesentliche Triebfeder
ihrer Arbeit zu sehen. Zu vielfältig waren die Begabungen, zu weit
gespannt die Interessen, zu groß das Bedürfnis nach Harmonie, zu
bestimmend die Ausrichtung an letztgültigen, das Vergängliche überstei-
genden Werten. Es war die spannungsvolle Verbindung jener - nur dem
flüchtigen Betrachter als widersprüchlich erscheinenden - Eigenschaf-
ten, die die Dynamik der Persönlichkeit Hilde Kaufmanns ausmachte
und die für Leben und Arbeit fruchtbar wurde.

II.
Die Hinwendung Hilde Kaufmanns zur Jurisprudenz und ihre Ent-
scheidung für eine wissenschaftliche Laufbahn folgten nicht einem früh
ausgeprägten, durch Elternhaus und Familie geförderten Interesse;
es waren spätere Begegnungen, die die berufliche Orientierung be-
stimmten.
1920 als erstes von 4 Kindern eines Lehrerehepaars im Münsterland
geboren, hatte sich schon früh eine ausgeprägte Begabung in den mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in der Musik gezeigt.
Nach dem 1939 mit Auszeichnung bestandenen Abitur an der renom-
mierten Annette-v. Droste-Hülshoff-Schule in Münster gewannen die
musischen Neigungen die Oberhand: Ein Studium der Musik sollte sich
anschließen. Der Ausbruch des 2. Weltkriegs verhinderte jedoch
zunächst die Aufnahme dieses Studiums. Die Einberufung des Vaters
und die Rückkehr der Mutter in den Lehrerberuf banden Hilde Kauf-
mann an die Familie; sie übernahm die Führung des Haushalts und die
Betreuung der jüngeren Geschwister.
Erst 1943 konnte sie mit dem Studium beginnen, doch war ihre Wahl
inzwischen in eine andere als die ursprünglich ins Auge gefaßte Richtung
gegangen: Sie nahm das Studium der Rechtswissenschaften auf. Diese
Hinwendung zur Jurisprudenz war bestimmt durch die Begegnung mit
ihrem ersten Mann, Wilhelm Vianden. Der angehende Jurist und spätere
Assessor vermittelte ihr die ersten Einblicke in das Fach, er weckte ihr
Interesse und gab den Anstoß zu näherer Beschäftigung mit dem Recht.
Denkweise und Methodik des Juristen, die Logik der Regeln, die
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 3

Rationalität der Entscheidungen, aber auch das Bemühen um Gerechtig-


keit sprachen sie an.
N o c h einmal zwangen freilich Kriegsereignisse zur Unterbrechung
des Studiums: Das Dritte Reich mobilisierte die letzten Reserven und
zwang zum Dienst in der Rüstungsindustrie.
Das Ende des Krieges gab dann endgültig den Weg frei für das
Studium, das sie im W . S. 1945/46 in Bonn wieder aufnahm. Es war eine
Zeit des Aufbruchs, des Gefühls, davongekommen zu sein, des Erleb-
nisses einer geistigen Freiheit, die nicht selbstverständlich war, sondern
die man als Geschenk und Aufgabe empfand. In dem kleinen Kreis der
Kriegsheimkehrer wurde intensiv studiert, zu den wenigen Professoren,
die am Wiederaufbau der Universität arbeiteten, bestand enger Kontakt.
In Bonn waren es vor allem Theodor Kipp, Walter Scbmidt-Rimpler,
Ernst Friesenhahn und Hellmuth von Weber, die den juristischen Wer-
degang Hilde Kaufmanns in besonderem Maße prägten. Und Hellmuth
von Weber war es schließlich auch, der die Begabung Hilde Kaufmanns
erkannte, der sie förderte und an die Wissenschaft heranführte. Nach
dem 1948 abgelegten 1. Staatsexamen wurde sie Korrekturassistentin
und danach wissenschaftliche Hilfskraft an dem von ihm gegründeten
Kriminologischen Seminar. Nach der Promotion und dem 1952 abgeleg-
ten 2. Staatsexamen- trat sie, weil eine Assistentenstelle nicht zur Verfü-
gung stand, zunächst in den Justizdienst ein, kam für gut ein Jahr als
Assessorin zur Staatsanwaltschaft in Bonn und wechselte danach in das
Auswärtige Amt, wo sie an der Seite Hellmuth von Webers als Hilfsrefe-
rentin im „Internationalen Gnadenausschuß für Kriegsverbrecher" tätig
war. Die Arbeit in diesem, aus Vertretern der westlichen Siegermächte
und deutschen Mitgliedern zusammengesetzten Ausschuß, dessen Auf-
gabe darin bestand, die von den Alliierten nach dem Ende des 2. Welt-
kriegs durchgeführten Militärgerichtsverfahren zu überprüfen und M ö g -
lichkeiten einer Begnadigung der dort als Kriegsverbrecher verurteilten
Deutschen zu erwägen, hat Hilde Kaufmann tief beeindruckt. Sie
brachte nicht nur den engen fachlichen und persönlichen Kontakt zu
ihrem dem Ausschuß angehörenden Lehrer von Weber. In ihr wurde vor
allem deutlich, wie leicht Macht korrumpieren und wie nachhaltig
Schwäche oder Opportunismus den Menschen in Unrecht verstricken
konnten. Sie zeigte aber auch, wie schnell sich in der Hand des Siegers
das Recht zum Instrument der Rache verformte und wie dann, wenn die
Emotionen abgeklungen sind, die Vernunft zurückkehrt und die Herr-
schaft des Rechts wieder auflebt - nicht von selbst, sondern weil
Menschen sich unerschütterlich und zäh darum bemühen. Die Erfah-
rung dieser mehr als 3 Jahre dauernden Tätigkeit hat Hilde Kaufmann
nicht nur in ihrer politischen Einstellung geprägt, sie hat sie vorsichtig
und empfindsam gemacht, wenn Herrschaftsansprüche unter Berufung
4 Helmut Marquardt

auf das Recht auftraten; sie war wohl auch eine Quelle dafür, daß sie sich
vor allem in den letzten Jahren immer wieder nachhaltig um das Schick-
sal in Südamerika zu Unrecht verfolgter und in Haft genommener
Wissenschaftler sorgte und für deren Freiheit eintrat.
1956 folgte die Rückkehr an die Universität Bonn als wissenschaftli-
che Assistentin Hellmuth von Webers am Kriminologischen Seminar,
1961 dann die Habilitation und die Erteilung der venia legendi für
„Strafrecht einschließlich Strafprozeßrecht und Kriminologie". Die The-
matik der Habilitationsarbeit - Strafanspruch, Strafklagerecht. Die
Abgrenzung des materiellen vom formellen Strafrecht1 - folgte noch
ganz der Tradition jener Zeit und wohl auch dem erklärten Anspruch
der Bonner Fakultät: Der Vorrang gehörte der Strafrechtsdogmatik, an
ihr hatte sich der „Wissenschaftler" zu beweisen, der Kriminologie
gebührte zwar Beachtung, aber doch erst in zweiter Linie. So deutet -
blickt man auf die Veröffentlichungen Hilde Kaufmanns bis zur Habili-
tation2 - nichts darauf hin, daß sie in der Kriminologie den Schwerpunkt
ihrer künftigen wissenschaftlichen Arbeit sehen würde. Nicht, daß ihr
die Beschäftigung mit dogmatischen Themen nur lästige Pflicht gewesen
wäre - sie hat deren Bedeutung und Gewicht für Rechtsgleichheit und
Rechtssicherheit nicht gering geachtet. Aber die Zielstrebigkeit, mit der
sie sich unmittelbar nach der Habilitation kriminologischen Fragestel-
lungen zuwandte und die Ausschließlichkeit, mit der sie ihre gesamte
weitere Arbeit auf diese Thematik konzentrierte, läßt doch erkennen,
wie virulent diese Neigung bereits war, ehe sie endgültig aus der
Zurückhaltung heraustrat.
Freilich ist schon an dieser Stelle zu vermerken, daß Hilde Kaufmann
das Verhältnis von Kriminologie und Strafrecht stets als ein sehr enges
verstand, daß sie wie kaum ein anderer Kriminologe ihrer Generation in
der Strafrechtspflege den entscheidenden Bezugspunkt sah, auf den hin
kriminologische Forschung auszurichten war - jedenfalls soweit sie in
der Kompetenz des Juristen betrieben wurde. Davon wird noch zu
reden sein.
Zunächst drängt sich eine andere Frage auf: Was war es, das Hilde
Kaufmanns Hinwendung zur Kriminologie bestimmte, ihre Neigungen
weckte und ihr vielleicht sogar die ganz spezifische Richtung gab, die ihr
wissenschaftliches Werk widerspiegelt? Gewiß war es der Einfluß ihres
Lehrers von Weber; es war auch die Begegnung mit Max Grünhut, der

1 Strafanspruch, Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom formellen Straf-

recht, Göttingen 1968.


2 Das Verbrechen und Vergehen gegen den Personenstand, Bonn Jur. Diss. 1950

(Maschinenschrift); Der Irrtum über Voraussetzungen, die für §240 II StGB beachtlich
sind, Goltdammers Archiv f. Strafrecht 1954, S. 359-364; Verbotsirrtum als Strafausschlie-
ßungsgrund? N J W 1955, S. 1057-1059.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 5

nach Jahren des Exils in England von 1950 an wieder regelmäßig


kriminologische Seminare in Bonn hielt und dessen Einfluß in der
starken Ausrichtung Hilde Kaufmanns auf Fragen des Vollzugs und der
Behandlung von Straftätern erkennbar wird; und sicher war es auch das
als Verpflichtung empfundene Bedürfnis, die gerade an der Bonner
Fakultät überaus starke kriminologische Tradition fortzusetzen und zu
vertiefen, zu deren Begründern neben von Weber und Grünhut in den
50er Jahren auch Hans von Hentig zählte.
Aber bestimmend konnten all diese Einflüsse letztlich doch nur
deshalb werden, weil sie auf ein fast leidenschaftliches Interesse am
Menschen stießen: Welche Kräfte bestimmten sein Leben und Handeln,
formten seinen Charakter? Wovon hing es ab, ob er in der menschlichen
Gemeinschaft zurecht kam oder vor deren Anforderungen versagte?
Was konnte, was durfte der Staat an Mitteln einsetzen, um die Einhal-
tung von Normen zu gewährleisten? Es waren diese Fragen, die sie
bewegten und die sie von Anfang an in den Mittelpunkt ihres wissen-
schaftlichen Arbeitens stellte. Für die Strafrechtsdogmatik lagen solche
Themen eher am Rande, in der Ausbildung der Juristen hatten sie wenig
Gewicht, die Strafrechtspraxis folgte weithin dem Vergeltungsprinzip
und fragte wenig nach seiner Legitimation und noch weniger nach seiner
Effektivität. Hier die Gewichte zu verschieben, die kriminologischen
Erkenntnisse für Strafrechtswissenschaft und Praxis fruchtbar zu
machen und zu erweitern, hielt sie für eine vordringliche Aufgabe, es
war ein weiteres wesentliches Stimulans für ihre Hinwendung zur
Kriminologie.

III.
Schon in ihrer Antrittsvorlesung, dem ersten Beitrag, in dem sie sich
mit kriminologischen Fragen befaßt 3 , deutet Hilde Kaufmann program-
matisch ihren wissenschaftlichen Standort an und läßt jene Perspektive
erkennen, der sie in ihrer kriminologischen Arbeit Priorität einräumen
wird. Es geht darum, die' Bedingungen kriminellen Handelns mit Blick
auf die Bedürfnisse des Strafrechts und der Strafrechtspflege zu erfor-
schen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die Ausgestaltung
und die Handhabung der strafrechtlichen Reaktionen fruchtbar zu
machen. Mit dieser Feststellung ist die Position umrissen, von der sie -
wie die Themen ihrer nachfolgenden Arbeiten mit großer Deutlichkeit
zeigen - nicht mehr abgerückt ist und die sie kurz danach 4 und zehn
Jahre später noch einmal5 nachdrücklich präzisiert und bekräftigt hat:
5
Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? JZ 1962, S. 193-199.
4
JZ 1964, S. 696.
5
Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik, JZ 1972, S. 78 f.
6 Helmut Marquardt

Nach ihrer Überzeugung kann es „.die* Kriminologie verstanden als


,die' Wissenschaft ,vom Verbrecher und konkreten Verbrechen' (o. ä.)
gar nicht geben". Diese Erkenntnis führt zu der Notwendigkeit, „eine
sachgemäße Aufschlüsselung der Forschung auf die einzelnen Disziplinen
mit den ihnen jeweils verfügbaren speziellen Forschungstechniken vor-
zunehmen" und zu fragen, „welche Art von Kriminologie nun von einer
rechtswissenschaftlichen Disziplin für die Zwecke dieses Fachgebiets
benötigt wird". Die Antwort ist umfassend und bestimmt: Die „juristi-
sche Kriminologie" hat sich auszurichten am Allgemeinen und Besonde-
ren Teil des Strafrechts, sie erfaßt das Strafprozeßrecht, sie schließt das
Nebenstrafrecht ebenso ein wie das Jugendstrafrecht. Oder - in themati-
sche Wendungen gefaßt: „Der kriminologisch interessante Teil des AT
besteht in seinem Rechtsfolgensystem. Zu dessen Konstruktion gehört
e s . . . , die konkrete Gestaltung und Wirkung der einzelnen Rechtsfolgen
und ihres Vollzugs zu untersuchen". Im Besonderen Teil, wo ein
erhebliches Defizit an empirischem Grundlagenwissen besteht, bedarf es
vor allem einer „exakten Kenntnis der Erscheinungsformen der einzel-
nen Verbrechen", und damit einer „Fortführung jener Forschungen, wie
sie Hellmuth von Weber, Hans von Hentig, Exner, Sauer u.a.m.
betrieben haben, immer freilich straff bezogen auf den Besonderen
Teil". Die Notwendigkeit einer empirischen Erforschung des Strafpro-
zesses nennt beispielhaft den Komplex des Wiederaufnahmeverfahrens,
die Praxis der Untersuchungshaft und die Vor- und Nachteile der
derzeitigen Regelungen. Gegenstand der „juristischen Kriminologie" ist
schließlich die Kriminalpolitik, verstanden als Wissenschaft von den
notwendigen Änderungen der Strafrechtspflege. Sie hat speziell die
Umgestaltung der Rechtsfolgen oder die Umformung des Besonderen
Teils durch Pönalisierung noch nicht erfaßten sozialschädlichen Verhal-
tens im Blickfeld und bedarf dazu umfassender Aufhellung der relevan-
ten empirischen Befunde 6 .
Die Ausrichtung der Kriminologie auf die Bedürfnisse von Straf-
rechtswissenschaft und -praxis zieht sich wie ein roter Faden durch das
gesamte Schaffen Hilde Kaufmanns. Sie ist der Leitgedanke auch bei der
Konzeption ihres Hauptwerks, des - leider unvollendet gebliebenen -
dreibändig angelegten Lehrbuchs der Kriminologie7. Es ist - wie im
Vorwort ausdrücklich hervorgehoben8 - „von einem streng juristischen
Standpunkt aus konzipiert" und hat „als Zielpunkt die Frage nach dem

' A . a . O . , S.79.
7 Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1971; Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1977.
8 Bd. I, S. 14.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 7

Reaktionssystem gewählt", denn „die Kenntnis der Entstehungszusam-


menhänge ist die notwendige Voraussetzung für die Frage der Rechtsfol-
gen". Das Wissen um die Wirkungen des Vollzugs, Erkenntnisse über
„Behandlungs- und Resozialisierungsmöglichkeiten samt den zugehöri-
gen Problemen der Persönlichkeitsdiagnostik" werden als weitere
wesentliche Voraussetzungen für eine adäquate Ausgestaltung des
Rechtsfolgensystems genannt und sind damit ebenfalls thematischer
Inhalt einer „juristischen Kriminologie", die - dies wird spätestens hier
deutlich - trotz ihrer begrenzten Zielsetzung die ganze Breite des Faches
in sich aufnimmt.
Die so verstandene juristische Kriminologie bleibt auch eine interdis-
ziplinäre Wissenschaft. Denn mit rein juristischen Mitteln sind die
angesprochenen Themen nicht zu bearbeiten, sie „erfordern vielmehr
jeweils einen bestimmten Ausschnitt einiger bestimmter Wissenschaften
vom Menschen, nämlich der Psychologie, Soziologie und Psychiatrie,
die mit dem juristischen Denken zu integrieren sind zu interdisziplinä-
ren Methoden" 9 .
In der Sache vertritt Hilde Kaufmann nach alledem mit ihrem Kon-
zept der „juristischen Kriminologie" keine extreme Position. Sie setzt
sich freilich in einem wesentlichen Punkt von der in der deutschen
Kriminologie wohl vorherrschenden Auffassung vom Selbstverständnis
des Faches ab: Sie sieht die Kriminologie nicht als eine über den
Einzeldisziplinen stehende selbständige Wissenschaft10, für sie gibt es
„nicht ,die Kriminologie', sondern viele methodenbewußte Zugänge zu
dem ganzen Bereich der Kriminalität"11. Deshalb soll „jede über die
strafrechtsorientierte Kriminologie hinausgehende Beschäftigung mit
dem Verbrechen und den Verbrechern als Teil der jeweils kompetenten
Disziplinen erkannt werden, damit sie nicht mehr einer undurchführba-
ren ,Superdisziplin' namens Kriminologie' zugemutet werden"12.
Diese Anbindung der Kriminologie an einzelne „Grund"-Disziplinen
bedeutet freilich keine Unterwerfung unter einen autoritären Führungs-
anspruch, keine Abhängigkeit von vorgefaßten Strukturen, keine Fixie-
rung an eine positivistische Grundhaltung. Sie geht offen und unvorein-
genommen - und in Methode und Zielsetzung auch durchaus eigenstän-
dig - jenen Fragen nach, die sich aus der Perspektive der jeweiligen
Disziplinen für die Aufhellung des Phänomens Verbrechen und Verbre-

9 A . a . O . , S.79.
10 Vgl. dazu Göppinger, Kriminologie4, 1980, S. 7 ff; Kaiser, Kriminologie 1980, §1
Rdn.45, § 4 Rdn. 15; Eisenberg, Kriminologie2 1985, § 1 Rdn. 15 ff; Schneider, Kriminolo-
gie2 1977, S. 22ff; Herren, Lehrbuch der Kriminologie Bd.I, 1979, S. 12; Mannheim,
Vergleichende Kriminologie Bd.I, 1974, S. 19ff.
11 J Z 1972, S. 81.

12 JZ 1972, S. 80.
8 Helmut Marquardt

eher stellen. Die Befürchtung, das Konzept einer „juristischen Krimino-


logie" diene der Legitimation des geltenden Strafrechts und verfestige die
ihm zugrundeliegenden Herrschaftsstrukturen, findet in der Ausprä-
gung, die Hilde Kaufmann ihm gegeben hat, keine Stütze. Man mag
einem solchen Konzept aus wissenschaftstheoretischen Erwägungen die
Gefolgschaft versagen. Seine Ergiebigkeit für die Orientierung krimino-
logischer Forschung, sein innovatorischer Nutzen für die Konstruktion
von (Strafrechts-)Wirklichkeit aber wird sich kaum bestreiten lassen.

IV.
Die Position einer juristischen - oder präziser: einer strafrechtsorien-
tierten - Kriminologie konfrontierte Hilde Kaufmann auch sehr früh mit
der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Kriminologie und
Strafrecht. Sind beide überhaupt in eine fruchtbare Beziehung zu brin-
gen oder erweisen sich die Ausgangspunkte als so gegensätzlich, daß ein
Brückenschlag nicht möglich ist? Schon in der Antrittsvorlesung wird
die Problematik zwar als Frage, aber doch in aller Schärfe thematisiert.
Sie lautet: Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? U n d : Was
läßt das Strafrecht von der Kriminologie übrig? Die Antwort folgt für
Hilde Kaufmann aus der Klärung einer weiteren Frage: der nach dem
Menschenbild, von dem die jeweilige Disziplin ausgeht. Diese Frage
nach dem Menschenbild des Strafrechts und der Kriminologie ist ein
Thema, das Hilde Kaufmann auch später immer wieder beschäftigt hat.
Es ist Gegenstand einer Reihe unveröffentlichter Vorträge und es ist
auch in ihrer letzten Veröffentlichung noch einmal Anlaß des Nachden-
kens, wobei die Antwort sogar die Bedeutung einer die fachlichen
Grenzen übersteigenden allgemeinen Orientierungshilfe für den Studie-
renden gewinnt 13 .
Die Formulierung der möglichen Konsequenzen zeigt zugleich den
Rang, den die Klärung dieser Frage einnimmt. Wenn die Ergebnisse
kriminologischer Forschung zu der Erkenntnis zwingen, daß „der
Mensch nur unter dem naturwissenschaftlichen Kausalgesetz steht, ist
ein Strafrecht im Vollsinne dieses Wortes, ein klassisches Strafrecht im
Sinne des Schuldstrafrechts unvollziehbar" 14 , denn es geht aus von der
möglichen Selbststeuerung des Menschen.
Die umfassende Analyse kriminologischer Erkenntnisse und Aussa-
gen zur Determiniertheit oder Verantwortlichkeit des Menschen macht
deutlich, daß dies nicht so ist. Ihr Ertrag ist die Einsicht, „daß menschli-
ches Handeln und damit auch menschliches Verbrechen nicht die
zwangsläufige Folge von Ursachen ist, die in Anlage und Umwelt zu
13
MschrKrim. 1980, S. 379 ff, 381 ff.
14
JZ 1962, S. 193.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 9

finden sind", sondern, „daß der Mensch ein zur Verantwortung fähiges
und zur Verantwortlichkeit aufgerufenes Wesen ist". Mit dieser Aner-
kennung der Verantwortlichkeit des Menschen „respektiert die Krimi-
nologie auch die Basis eines echten Strafrechts, nämlich die Schuld"15.
Das Verhältnis von Strafrecht und Kriminologie ist damit nicht das eines
unversöhnlichen Gegensatzes, sondern eines sich gegenseitig befruch-
tenden, wenn auch spannungsgeladenen Nebeneinanders.
Diese harmonisierende Sichtweise verschließt sich nicht der Erkennt-
nis, daß beide Disziplinen in ihrem Kern durchaus von unterschiedli-
chen Menschenbildern ausgehen. Aber dies ist - erkennt man nur deren
Modellcharakter - durchaus legitim und für die Zuordnung beider
Disziplinen zueinander fruchtbar 16 . Das Aufdecken von Gesetzmäßig-
keiten, die an der Entstehung kriminellen Verhaltens mitwirken, ermög-
licht zum einen die Begrenzung und Abstufung der Verantwortungs-
größe des einzelnen Menschen, ihre Kenntnis ist aber auch unverzicht-
bar für den Einsatz der Rechtsfolgen und für die Durchführung indivi-
dueller Behandlung. - Damit gewinnt das Programm der „juristischen
Kriminologie" Hilde Kaufmanns auch aus dieser Perspektive schon sehr
früh feste Konturen.

V.
Schon bald nach der Habilitation übernahm Hilde Kaufmann mit der
Emeritierung Hellmuth von Webers die Leitung des Kriminologischen
Seminars. Daß sie 4 weitere Jahre an der Bonner Juristischen Fakultät
lehrte, zunächst als Dozentin und später als außerplanmäßige Professo-
rin, hatte neben den günstigen fachlichen Voraussetzungen auch einen
ganz persönlichen Grund: die Heirat mit Armin Kaufmann und der
Aufbau des gemeinsamen Hauses im nahegelegenen Bad Honnef. Nach
dem frühen Tod des ersten Mannes, der im Krieg gefallen war, war die
Gründung einer Familie die Erfüllung eines tiefgehegten Wunsches. Der
Lebensabschnitt, in den die Bonner Jahre fielen, war auch aus diesem
Grunde eine ausgesprochen glückliche und erfüllte Zeit. Anfragen nach
der Bereitschaft zur Übernahme eines auswärtigen Lehrstuhls stießen
daher zunächst auf entschiedenes Zögern. N u r schwer machte Hilde
Kaufmann sich mit dem Gedanken vertraut, daß sie sich einem Ruf an
eine andere Universität nicht auf Dauer würde entziehen können, wenn
sie langfristig in einem personell und sachlich angemessenen Rahmen
forschen und arbeiten wollte. Als ihr 1966 die Nachfolge auf den
Lehrstuhl Hellmuth Mayers an der Universität Kiel angetragen wurde,

15
JZ 1962, S. 196.
16
MschrKrim. 1980, S.382.
10 Helmut Marquardt

folgte sie dem Ruf nicht leichten Herzens, aber doch in klarer Entschei-
dung für die wissenschaftliche Aufgabe, der sie sich verpflichtet fühlte.
Der wissenschaftliche Ertrag der Bonner Jahre waren wichtige Bei-
träge zu einer Reihe unterschiedlicher Themen, sämtlich eingebettet in
den Kontext der „juristischen Kriminologie":
So die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem durch Gramatica
vertretenen radikalen Flügel der Défense sociale, die als Reformbewe-
gung vor allem im europäischen Ausland zunehmend Einfluß gewann
und in letzter Konsequenz das System eines Schuldstrafrechts in Frage
stellen mußte17. In einer sorgfältigen Analyse der wichtigsten Aussagen
deckt Hilde Kaufmann die Widersprüche und Friktionen im System
Gramaticas auf und macht die Schwächen deutlich, die es als Alternative
zum Schuldstrafrecht unvollziehbar machen. Sie verweist jedoch nicht
weniger nachhaltig auf dogmatisch nicht bewältigte Probleme des gelten-
den Schuldstrafrechts und seiner praktischen Verwirklichung, vor allem
bei der Schuldgrößenbestimmung, die in dieser Analyse erkennbar
werden. Sie zwingen zu einer stärkeren Berücksichtigung spezialpräven-
tiver Aspekte bei der Auswahl der Strafart und bei der Bemessung der
konkreten Strafe, um auf diese Weise „die nachteiligen Wirkungen
etwaiger falscher Schuldgrößenbestimmung aufzufangen"18.
Einen wesentlichen Schritt in diese Richtung sieht Hilde Kaufmann
im verstärkten Ausbau ambulanter Behandlungsformen, insbesondere in
der Erweiterung der rechtlichen Möglichkeiten und der faktischen Aus-
gestaltung des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser
Frage geht sie in einem gesonderten Beitrag nach: In einem Vergleich mit
der englischen Aussetzungspraxis führt sie den Nachweis, daß eine
derartige Erweiterung ohne Schaden für die Geltungskraft der Straf-
rechtsordnung möglich und praktikabel ist19. Der deutsche Gesetzgeber
ist dieser Forderung immerhin ein Stück weit gefolgt20; daß das Anliegen
nach wie vor aktuell ist, zeigt die Diskussion der Gegenwart21.

17 Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.), Festschrift f.
Hellmuth v. Weber, Bonn 1963, S. 418-444.
18 A.a.O., S.444.

" Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt bleiben auf
Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? in: H.Kaufmann u.a. (Hrsg.), Erinne-
rungsgabe für Max Grünhut, Marburg 1965, S. 61-91.
20 Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, BGBl. 1969 I, S.645.
21 Bietz, ZRP 1977, S.62ff; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 143 ff (176ff); Roxin, JA 1980,

S. 545 ff (550 f); Feltes, Strafaussetzung zur Bewährung bei freiheitsentziehenden Strafen
von mehr als einem Jahr, Heidelberg 1982, S. 43 ff; Dünkel, ZStW 95 (1983), S. 1037 ff
(1072ff); ferner: Gesetzentwurf des Landes NRW, BR-Drucksache 533/82, Gesetzent-
wurf der Fraktion der SPD, BT-Drucksache 10/1116; Gesetzesbeschluß des Deutschen
Bundestages vom 5.12.1985, BR-Drucksache 5/86.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 11

Ein monographischer Beitrag schließlich widmet sich Fragen der


Jugendkriminalität22. Dem statistisch abgeleiteten Bild eines kontinu-
ierlichen Anstiegs stellt Hilde Kaufmann die These gegenüber, es zeige
sich darin möglicherweise eine bloße Vorverlagerung krimineller Aktivi-
täten vom Heranwachsenden in das Jugendalter: Das Gros der Jugendli-
chen absolviere die kriminelle Phase schneller und intensiver und begehe
dafür in den anschließenden Altersstufen weniger Taten. Zumindest im
Bereich der einfachen Vermögensdelikte finden sich für diese These
zahlreiche Anhaltspunkte, so daß die Annahme eines echten Anstiegs
der Jugendkriminalität jedenfalls wissenschaftlich nicht gesichert sei,
Aussagen über Verlauf und Entwicklungstendenzen vielmehr weiterer
Einzeluntersuchungen bedürften, ehe kriminalpolitische Folgerungen
etwa mit dem Ziel einer Verschärfung der Sanktionen gezogen werden
können. Auch wenn die These der Ablaufverschiebung in der Literatur
mit Zurückhaltung aufgenommen wurde und vertiefte Untersuchungen
nicht ausgelöst hat, so zeigen neuere statistische Untersuchungen zur
Jugendkriminalität23, Kohortenstudien24 sowie die breite Erörterung von
Diversionsstrategien25 die anhaltende Aktualität der Fragestellung.
Was darüber hinaus beeindruckt an diesen Untersuchungen - das
akribische Sammeln von Daten, die wägende Besonnenheit, mit der
Interpretationen erfolgen und Schlußfolgerungen gezogen werden - , ist
bezeichnend für die Arbeitsweise Hilde Kaufmanns. Allen extremen
Positionen abhold, allen vorschnellen Festlegungen abgeneigt, kenn-
zeichnet sie sich selbst als einen sog. „konservativen Wissenschaftler",
„weil ich zutiefst davon durchdrungen bin, daß das sorgsame Reflektie-
ren tradierter Wissensbestände in Verbindung mit wohlerwogenen
Schritten zur Weiterentwicklung der schnellste Weg zum Fortschritt
ist"26. An dieser Grundüberzeugung hat sie unbeirrt festgehalten, nie-
mals dem raschen Erfolg oder der gefälligen Geste Raum gebend.
Qualität, nicht Quantität sollte der Ertrag ihrer wissenschaftlichen
Arbeit sein.

22 Steigt die Jugendkriminalität wirklich? Bonn 1965.


23 Albrecht, Jugendkriminalität im Zerrbild der Statistik, München 1979; Kaiser,
Jugendkriminalität, 3. Aufl., Weinheim und Basel 1982, S. 80 ff; Villmow und Stephan,
Jugendkriminalität in einer Gemeinde, Freiburg 1983.
24 Wolfgang et al., Delinquency in a birth cohort, The University of Chicago 1972;

Kaiser, Jugendkriminalität, S. 145 ff; Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen, Jugendkri-


minalität und Jugendgefährdung, Düsseldorf 1982, S. 132 ff.
25 Walter, ZStW 95 (1983), S.32; Herrmann, ZStW 96 (1984), S.455; Blau/Franke,
ZStW 96 (1984), S.485; Schaffstein, in: Festschrift f. fescheck, 2. Halbband, Berlin 1985,
S. 937.
26 MschrKrim. 1978, S.266.
12 Helmut Marquardt

Der Wechsel nach Kiel und die Übernahme des ersten Lehrstuhls
markieren zugleich den Beginn der Arbeit an Hilde Kaufmanns eigentli-
chem Lebenswerk: ihrer auf 3 Bände angelegten Kriminologie. Die
Konzeption war lange gereift, forderte jedoch neben dem umfangrei-
chen, Strafrecht und Strafprozeßrecht einschließenden Lehrprogramm
ihre ganze Energie: Die Darstellung der Entstehungszusammenhänge
kriminellen Verhaltens - Thematik des ersten Bandes - sollte nicht nur
eine Sammlung und kritische Würdigung des Forschungsstandes der
deutschen und internationalen Kriminologie beinhalten - schon dies
bedeutete eine immense Arbeit. Hilde Kaufmann war davon überzeugt,
daß sich das Verständnis für die kriminologischen Zusammenhänge nur
demjenigen erschließt, der auch mit den wichtigsten Erkenntnissen der
sog. Grundlagendisziplinen vertraut ist. Und da der Hauptadressat
dieses Lehrbuchs der strafrechtlich orientierte Jurist sein sollte, war es
eines ihrer wichtigsten Anliegen, ihm die Grundzüge jener Disziplinen
zu vermitteln. Dies bedeutete für sie selbst eine intensive Beschäftigung
mit dem Wissensstand und der Methodik der Psychiatrie, der Psycholo-
gie und der Soziologie, deren unterschiedlichen Schulen und divergie-
renden Richtungen. Der Ertrag dieser Arbeit zeigt erneut Hilde Kauf-
manns ungewöhnliche Fähigkeit, sich in einer dem Juristen fremden
Materie zurechtzufinden, komplexe Zusammenhänge durchsichtig zu
machen und die wesentlichen Inhalte des jeweiligen Fachs in konzen-
trierter Form dem Verständnis des interessierten Lesers nahezubringen.
Nicht zuletzt dieser, mehr als die Hälfte umfassende Teil gibt dem
Lehrbuch seinen hohen Wert und sichert ihm seine bleibende Bedeu-
tung. Wieviel Kraft diese Arbeit gekostet hat, mag man unter anderem
daran ermessen, daß ihre Fertigstellung zum Ende hin immer wieder
durch Krankheitsperioden unterbrochen werden mußte; Hilde Kauf-
mann überwand sie durch zähes Aufbäumen und mit eisernem Willen.
1970 folgt Hilde Kaufmann einem Ruf an die Albertus-Magnus
Universität zu Köln. Neue Pläne zu wissenschaftlicher Arbeit finden
ihren institutionellen Rahmen in der Gründung der „Kriminologischen
Forschungsstelle des Kriminalwissenschaftlichen Instituts". In interdis-
ziplinärer Besetzung soll vor allem die Sanktions- und Behandlungsfor-
schung aktiviert werden, die in den 60er Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland weitgehend vernachlässigt wurde. Freilich ging es Hilde
Kaufmann - ganz in der Konsequenz ihres Konzepts einer juristischen
Kriminologie - nicht nur und nicht in erster Linie um Behandlung im
„engeren", medizinischen oder therapeutischen Sinne, sondern ihr Ver-
ständnis von Behandlung umfaßte den verfahrensmäßigen Zugriff auf
den Straftäter ebenso wie den Vorgang der Rechtsfolgenbestimmung.
Die erste monographische Untersuchung der Kölner Forschungsstelle ist
deshalb auch dem Thema „Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren"
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 13

gewidmet27. In ihr werden Wege aufgezeigt und praktisch erprobt, die


mit relativ geringem und prozeßökonomisch vertretbarem Aufwand zu
einer besseren Diagnostik und darauf aufbauend zu einer wirkungsvolle-
ren Rechtsfolgenbestimmung führen. Und einem ähnlichen Anliegen gilt
eine weitere Untersuchung, die aus der Forschungsstelle hervorgeht: sie
fragt nach Möglichkeiten, wie Richter oder Staatsanwalt in prozeßöko-
nomisch vertretbarer Weise aus der Vielzahl der jugendlichen Täter jene
Problemfälle herausfiltern können, die einer näheren Begutachtung
zugeführt werden sollten. Die Untersuchung belegt, daß dies mit Hilfe
der in statistischen Verfahren entwickelten Prognosetafeln ohne weiteres
gelingt. Sie ermöglichen die Erfassung des stärker belasteten Täterkrei-
ses, für den dann nach einer klinischen Untersuchung mit Hilfe von
Sachverständigen die „richtige" Rechtsfolge (oder auch: die richtige
„Behandlung") wesentlich präziser bestimmt werden kann28.
Deutlich zeigt sich in diesen Arbeiten das Bemühen, wissenschaftliche
Erkenntnisse unmittelbar für die Praxis fruchtbar zu machen, ein Anlie-
gen, das Hilde Kaufmann in den Kölner Jahren noch intensiver verfolgte
als zuvor: Das reformerische Potential kriminologischen Wissens mußte
sich nicht erst auf dem langen Weg von Gesetzesänderungen entfalten;
nicht weniger bedeutsam und auch nicht weniger effektiv war es, in die
Nischen einzudringen und die Spielräume auszufüllen, die das geltende
Recht enthielt. Dazu war die Durchführung von Untersuchungen und
die Publikation ihrer Ergebnisse noch nicht genug. Hilde Kaufmann hat
viel Zeit darauf verwandt, in der unmittelbaren Begegnung mit Staatsan-
wälten, Richtern und - in den letzten Jahren mit besonderer Energie - in
zahllosen Gesprächen und Fortbildungsveranstaltungen mit Bedienste-
ten des Strafvollzugs die gewonnenen Erkenntnisse weiterzugeben und
gezielte Impulse für die praktische Arbeit zu vermitteln. Nicht weniger
wichtig war ihr dabei, in eigener Anschauung die Bedürfnisse der Praxis
kennenzulernen und daraus Anregungen für ihre wissenschaftliche
Arbeit zu gewinnen.
Die enge Verflochtenheit von Wissenschaft und Praxis und der hohe
Stellenwert, den diese Sichtweise in Hilde Kaufmanns Arbeit einnahm,
spiegelt auch die Weiterarbeit an ihrem Lehrbuch wider - der letzten,
drei Jahre vor ihrem Tod erschienenen monographischen Arbeit und
damit wohl der Krönung ihres Lebenswerks. Von der ursprünglichen
Konzeption abweichend widmet sich dieser Band nicht den wissen-
schaftstheoretischen Fragen der Kriminologie, sondern behandelt mit

27Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren, München 1975.


28Jugendstrafrechtsreform de lege lata? in: Stratenwerth u.a. (Hrsg.), Festschrift f.
Hans Welzel, Berlin 1974, S. 897-915.
14 Helmut Marquardt

Strafvollzug und Sozialtherapie29 ein Teilgebiet der Kriminologie, das die


Behandlung des Straffälligen zum Gegenstand hat und sich auch in seiner
thematischen Ausrichtung gezielt an den Bedürfnissen der „an der
Strafrechtspflege beteiligten Personen" orientiert, „die kraft ihrer Aus-
bildung keinen leichten Zugang zu empirischen Disziplinen haben,
jedoch spüren, daß ihre Ausbildung . . . ein Informationsdefizit . . .
hinterlassen hat, das sie füllen möchten und müssen"30. Deshalb auch
verzichtet sie auf eine umfassende Darstellung aller relevanten Problem-
felder des Strafvollzugs, schreibt kein „Lehrbuch des Strafvollzugs" im
traditionellen Sinne, sondern greift Themen auf, die ihr im Blick auf die
genannte Zielgruppe als besonders bedeutsam erscheinen: Unter dem
Leitgedanken der Realisierung eines auf empirische Erkenntnisse
gestützten Behandlungsvollzugs sind dies Fragen der Vollzugsorganisa-
tion, der Persönlichkeitsbeurteilung beim Gefangenen und der Ermögli-
chung therapeutischer Hilfen. Das dazu jeweils vorliegende empirische
Wissen macht die Notwendigkeit legislatorischer Reformen deutlich,
fordert aber auch von den Akteuren des Vollzugs Einstellungs- und
Verhaltensänderungen, die unmittelbare Auswirkungen auf das Voll-
zugsklima haben und so dem Behandlungsgedanken neue Impulse zu
geben vermögen. Diese Akzentuierung des Behandlungsgedankens, der
zweifellos im Zentrum des Vollzugskonzepts Hilde Kaufmanns steht,
bedeutet freilich nicht dessen Verabsolutierung: Er hat weder für alle
Straftäter dieselbe Bedeutung noch macht er andere Anstrengungen zur
Veränderung von - auch gesamtgesellschaftlichen - Bedingungen des
Kriminellwerdens entbehrlich31, er ist auch nicht die Konsequenz eines
Standpunktes, der eine einseitig persönlichkeitsorientierte Kriminalitäts-
theorie favorisiert32. Er ist nicht mehr als die nüchterne und pragmati-
sche Folgerung aus der Einsicht, daß das Gros der Insassen unserer
Vollzugsanstalten im Verlauf des Sozialisationsprozesses eine so gravie-
rende Fülle von Schädigungen erfahren hat, daß das soziale Zusammen-
leben auf der Basis der Einhaltung der elementaren Normen der Gesell-
schaft nicht gelingt. Diesen Probandenkreis hat Hilde Kaufmann im
Blick und für seine Wiedereingliederung sieht sie nur eine wirkliche
Chance: einen Behandlungsvollzug, der anzureichern und weiterzuent-
wickeln ist durch den verstärkten Einsatz spezifisch therapeutischer
Methoden und der für einen gar nicht geringen Teil von Tätern als
sozialtherapeutische Institution seine effektivste Gestaltungsform

29 Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz


1977.
30 S.ll.
" Kriminologie III, S.69, 159.
32 A . a . O . , S. 158f.
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 15

erreicht33. Klar und entschieden stellte sie sich mit dieser Konzeption
auch gegen jene Richtung innerhalb der Vollzugswissenschaft, die eine
Abkehr vom Behandlungsgedanken propagiert und die die Forderung
nach einem weiteren Ausbau des therapeutischen Potentials als Ausfluß
einer imaginären Behandlungsideologie diskreditiert34. Getragen wird
das Konzept auch vom Gedanken einer stärkeren Humanisierung des
Strafvollzugs. Sie ergibt sich als Postulat eines richtig verstandenen
Gerechtigkeitsbegriffs und bildet die unverzichtbare Basis für einen
echten Behandlungsvollzug35.

VI.
Das weit über die wissenschaftliche Beschäftigung hinausgehende
Engagement für die Probleme des Strafvollzugs führte Hilde Kaufmann
in den Kölner Jahren auch zu einer Intensivierung ihrer internationalen
Kontakte. Vortragsreisen führten sie nach Spanien und Polen, eine
besonders tiefe Verbindung entstand zu den Ländern Lateinamerikas.
Auf einer Studienreise durch Venezuela Ende der 60er Jahre hatte sie
erstmals unmittelbar die großen sozialen Probleme eines Entwicklungs-
landes kennengelernt und war bei Gefängnisbesuchen auf bedrückende,
menschenunwürdige Zustände gestoßen. Es zeugt von ihrem ausgepräg-
ten sozialen Verantwortungsgefühl, aber auch von ihrer tiefen Mensch-
lichkeit, daß sie sich sogleich mit Entschiedenheit an die Seite jener
kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern stellte, die sich mit
bescheidenen Mitteln, aber hohem persönlichem Einsatz um Reformen
bemühten. Ihrer Unterstützung und Förderung widmete sie in den
folgenden Jahren einen wesentlichen Teil ihrer Kraft. Sie unterhielt rege
wissenschaftliche Kontakte vor allem zum Centro Internacional de
Investigación Para Las Ciencias Penales in Buenos Aires. Zahlreichen
jungen Wissenschaftlern und Doktoranden verhalf sie zu Studienaufent-
halten in der Bundesrepublik Deutschland, bevorzugt auch an ihrer
Forschungsstelle; sie regte zum Zwecke der Rechtsvergleichung Unter-
suchungen über Strafvollzug und Strafverfahren in Lateinamerika an und
vermittelte den Austausch wissenschaftlicher Werke. In den Jahren 1975
bis 1977 war sie wiederholt zu Vortrags- und Seminarveranstaltungen in

35 A . a . O . , S.90, 152, 208.


5,1Vgl. zur Kritik am Behandlungsgedanken Peters/Peters, KrimJ 1970, S. 114; Hoh-
meier, Die Strafvollzugsanstalt als Organisation, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die
Strafvollzugsreform, Karlsruhe 1971, S. 125 ff (127); Feest, in: AK StVollzG, Neuwied u.
Darmstadt 1980, vor § 2 Rdn. 7ff; Schneider, Behandlung in Freiheit - Alternativen zum
Freiheitsentzug in Strafanstalten, in: Alternativen zu kurzen Freiheitsstrafen, Diessenho-
fen 1979, S.37ff (41 ff).
35 S. 90.
16 Helmut Marquardt

Argentinien, Kolumbien, Chile und Venezuela, suchte dabei auch das


Gespräch mit staatlichen Stellen, wurde Mitglied des Internationalen
Beirats zweiter angesehener spanischsprachiger Zeitschriften, der „Doc-
trina Penal", die sie mit begründete, und der „Nuevo Pensamiento
Penal"; sie verfaßte mehrere Aufsätze in spanischer Sprache zu straf-
rechtlichen und kriminologischen Themen und gab schließlich in dem
wohl renommiertesten Verlag Argentiniens mit der „Biblioteca de Cien-
cias Penales" eine eigene strafrechtswissenschaftlich-kriminologische
Reihe heraus.
Daß Band 3 ihrer „Kriminologie" in spanischer Übersetzung erschei-
nen konnte, desgleichen die Untersuchung über „Jugendliche Straftäter
und ihre Verfahren" zeigt die hohe Wertschätzung, die ihrer Arbeit in
Lateinamerika zuteil wurde. Wie viel sie darüber hinaus an persönlicher
Hilfe geleistet hat, nicht selten durch entschlossenen und mutigen
Einsatz in politischer Bedrängnis, ist meist nur den unmittelbar Betrof-
fenen bekannt geworden. Zuneigung und Freundschaft, die sie durch
diese Kontakte in reichem Maße erfahren durfte, waren ihr Dank genug.

VII.
Eine erschöpfende Würdigung der Person und des Wirkens Hilde
Kaufmanns hätte noch viele Nuancen aufzunehmen: ihre Mitarbeit in
Gutachtergremien, ihr Einsatz als Vertrauensdozentin des Cusanus-
Werkes, ihre Tätigkeit in der Humboldt-Stiftung, ihr Wirken als Deka-
nin der Juristischen Fakultät zu Köln. Sie hätte vor allem das große
Engagement als akademische Lehrerin hervorzuheben, in dem sie mit
durchaus leidenschaftlicher Strenge ihre Hörer zu kritischem Denken
herausforderte und zu persönlicher Leistungsbereitschaft anspornte.
Daß sie dabei stets ein offenes Ohr für die privaten und beruflichen
Sorgen ihrer Studenten hatte und daß sie vielen mit Rat und Unterstüt-
zung weiterhalf, war ihr selbstverständlich; sie hat davon kein Aufheben
gemacht.
Mitarbeiter, Freunde und Kollegen fanden in ihr zu jeder Zeit eine
geduldig zuhörende und anregende Gesprächspartnerin und bei vielen
Einladungen in ihr stets offenes Haus eine liebenswürdige Gastgeberin.
Mit rührender Aufmerksamkeit umsorgte sie ihre zahlreichen Gäste aus
dem Ausland, führte sie zu Sehenswürdigkeiten der Stadt und zeigte
ihnen, meist selbst am Steuer ihres Autos, die Schönheit der Landschaft
ringsum.
In der Musik, im Klavier- und Orgelspiel, in der Beschäftigung mit
kunstgeschichtlichen und theologischen Themen fand sie den Ausgleich
für ihre Arbeit und gewann daraus auch einen Teil ihrer Kraft. Das
tragende Fundament ihres Lebens jedoch war eine tiefe Gläubigkeit. Aus
Hilde Kaufmann - Leben und Werk 17

ihr schöpfte sie Mut und Zuversicht auch in schweren Stunden, sie gab
ihrer Arbeit Sinn und sie war wohl auch der letzte Grund für ihre
Menschlichkeit und ihre aufopfernde Bereitschaft zur Hingabe an an-
dere.
Hilde Kaufmann war ein Mensch der Tat. Sie hat immer etwas
bewegen wollen, nicht durch kühne, aufsehenerregende Entwürfe, son-
dern durch zähes, geduldiges Arbeiten an den brüchigen Stellen unserer
Strafrechtspflege. Der Bezugspunkt all ihrer Arbeit war der Mensch;
ihm, dem in der Gesellschaft Gescheiterten sollte Gerechtigkeit wider-
fahren. Diesem Bemühen galt ihre wissenschaftliche Verpflichtung. Es
ist das Vermächtnis ihres Lebens und Wirkens.
I.
Kriminalpolitik
und Strafrecntsreform
Implikationen der Normsetzung und
-durchsetzung durch Internationale Organisationen
im Bereich kriminologisch relevanten Verhaltens
von Staatsführungen und ihren Organen
U L R I C H EISENBERG

Im Oktober 1978 mahnte Hilde Kaufmann, Strafrechtsvergleichung


solle auch Vergleich des Strafunrechts sein; diese wissenschaftliche Dis-
ziplin könne bezüglich zahlreicher lateinamerikanischer Länder nicht
mehr nur im reinen Erkenntnisinteresse betrieben werden, sie müsse
vielmehr die Bekämpfung krasser Unrechtsformen, die sich der Instru-
mente des Straf rechts bedienen, zum Zweck haben1. Gleichsam ergän-
zend wies sie im Februar 1979 darauf hin, daß moderne Diktaturen
(Straf-)Verteidiger ihrer Funktion berauben oder sie gar physisch
umbringen, wenn diese es wagen, sich um Regimegegner und politische
Gefangene zu kümmern2.

I. Einleitung
1. Problemstellung
Diesen straf- und strafverfahrensrechtlichen Anregungen entspricht
es, wenn die vergleichende Kriminologie sich innerhalb ihres Rahmens
begrifflich-normativer Anknüpfung mit Fragen der Definition und Kon-
trolle gegenüber Verhalten von Staatsführungen (und ihren Organen) als
mutmaßlichen - und gegebenenfalls terroristischen - Tätergemeinschaf-
ten befaßt. Für solche Tätergemeinschaften sind neben sonstigen Merk-
malsausprägungen 3 insbesondere Formen der in totalitär oder autoritär
verfaßten Staaten auch (verfassungs-)rechtlich begründeten Vereinheitli-
chung der staatlichen Gewalten kennzeichnend, die eine funktionelle

1 Vgl. den Bericht von Dörken ZStW 91 (1979), 835 (839).


2 Vgl. den Bericht von Dörken ZStW 93 (1981), 309 (311).
3 Eisenberg, Kriminologie, 2. Auflage, 1985, §50 Rdn.21 ff sowie §44 Rdn. 13 ff; ders.,
Kriminologisch bedeutsames Verhalten von Staatsführungen und ihren Organen,
MschrKrim. 1980, 217 (226 ff). Zu Funktionen der Tatbegehung s. auch Hess, Repressives
Verbrechen, KrimJ 76, 1 ff.
22 Ulrich Eisenberg

und personelle Identität der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften mit


den entscheidend an der innerstaatlichen Normsetzung und -durchset-
zung Beteiligten bewirken. Dabei erlaubt es die Machtkonzentration den
(mutmaßlichen) Tätergemeinschaften, sich zum Zweck der Stabilisie-
rung der Machtpositionen ihrer selbst oder der sie favorisierenden
gesellschaftlichen Gruppen des strafrechtlichen Kontroll- und Sanktio-
nensystems dergestalt zu bedienen, daß bestimmte Kategorien der Ver-
letzung z.B. von Individualrechtsgütern als nach nationalem Recht
rechtmäßige Ausübung von Funktionen im Rahmen der staatlichen
Strafgewalten erscheinen können. Die genannte Funktionsausübung
umfaßt zudem einen Tätigkeitsbereich, der durch einen ihm eigenen
Mangel an Transparenz und öffentlicher Kontrolle die Entdeckungs-
wahrscheinlichkeit illegaler Praktiken als nachhaltig reduziert ausweist;
im übrigen verbleibt hinsichtlich solcher Verhaltensweisen, die allge-
mein nach nationalem Recht strafrechtlich sanktionsbedrohte Rechts-
gutverletzungen darstellen, die Möglichkeit des gesetzlichen Verfol-
gungsausschlusses zugunsten der Staatsführungen (und ihrer Organe).
Der Umstand, daß auch nach Uberwindung derartiger Herrschaftssy-
steme im nationalen Bereich Zurückhaltung in der Verfolgungs- und
Stigmatisierungsbereitschaft zu verzeichnen ist, mag mit der geringen
Geeignetheit dieses Verhaltensbereichs für die Funktion strafrechtlicher
Erfassung im Sinne einer Stabilisierung der Sozialstruktur zusammen-
hängen4. Soweit die sozialstrukturellen Grundlagen eine solche Verände-
rung der Formen politischer Machtausübung überdauern, wäre eine
erhöhte Bereitschaft zu strafrechtlicher Erfassung und Sanktionierung,
die über eine individuelle Schuldzuweisung betreffend einzelne beson-
ders exponierte Träger politischer Macht hinausginge, indem sie eine
umfassende Ausschaltung von Rollenträgern des vormaligen Herr-
schaftssystems intendierte, disfunktional und daher kontraindiziert.

2. Thematische Eingrenzung
In Anbetracht des Umfangs von Rechtsgewährleistungen durch inter-
nationale Vereinbarungen (s. teilweise ü. II. 2.), die mit der Garantie
sowohl politischer Bürgerrechte5 als auch zunehmend wirtschaftlicher
4 S. Eisenberg a.a.O. (Fn.3), 1985, §10.
sEinerseits erscheint bei funktioneller Betrachtung der Phänomene und Zusammen-
hänge staatlich organisierten Terrors die Außerkraftsetzung politischer Bürgerrechte als
seine regelmäßige, wenngleich nicht notwendige Bedingung, nicht aber stellt diese als
solche i. S. herkömmlichen Verständnisses ein „crimen" dar. Andererseits mögen Ein-
schränkungen insbesondere des Schutzes des persönlichen Geheimbereichs der Funktiona-
lisierbarkeit (somit zugänglicher) einschlägiger „Erkenntnisse" zugunsten staatlicher
Repression entsprechen, so daß eine gleichsam systematische Verletzung von Normen
dieses Bereichs der Thematik zugehören würde, soweit internationale Vereinbarungen die
Privatsphäre gegen Eingriffe hoheitlicher Gewalt schützen.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 23

und sozialer Rechte über den Bereich derjenigen elementaren Existenz-


rechte hinausgreifen, die den Schutz des Strafrechts etwa europäischer
Tradition genießen, stellt sich hinsichtlich der aufgezeigten Forschungs-
fragen freilich das Problem der thematischen Eingrenzung. Dabei läßt
das Ausmaß des durch einschlägiges normwidriges Verhalten von Staats-
führungen (und ihren Organen) verursachten unmittelbaren Schadens es
als vordringlich erscheinen, die Erörterung (einstweilen) auf den Schutz
von Leben, körperlicher Unversehrtheit, persönlicher Sicherheit und
deren strafverfahrensrechtliche Sicherungen gegenüber Verletzungen
durch Staatsführungen (und ihre Organe) zu beschränken. Schon aus
Raumgründen kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht auf die
Ausgestaltung des kriegsvölkerrechtlichen Schutzes der genannten
Rechtsgüter eingegangen werden.

3. Einzelne Normensysteme
Das begrifflich-normative Zugangsproblem der einschlägigen krimi-
nologischen Forschung bleibt, ein Normensystem zugrundezulegen, das
geeignet ist, die in Rede stehenden Erscheinungsformen kriminologisch
relevanten Verhaltens in diesem Bereich zu erfassen. Hierfür bieten sich
Normensysteme Internationaler (einschließlich regional-internationaler)
Organisationen in Form rechtsverbindlicher Vereinbarungen an, deren
formuliertes Normziel der Schutz (auch) höchstpersönlicher Individual-
rechts güter vor kriminologisch relevanten Verletzungshandlungen ist,
die von Staatsführungen (und ihren Organen) oder von Dritten began-
gen und von jenen geduldet werden.
a) Als solche kommen auf internationaler Ebene namentlich in Betracht:
- Der im Jahre 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Natio-
nen (im folgenden: VN) angenommene, am 23. März 1976 in Kraft
getretene Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte''
(im folgenden: „Pakt"), einschließlich des Fakultativprotokolls, mit
dem formell-rechtlich unverbindliche7 Rechtsgarantien der im Jahre
1948 durch die VN proklamierten Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte (im folgenden: AEMR) erstmals in völkerrechtlich ver-
bindliche Form gebracht wurden;

6 Abgedruckt in BGBl. 1973 (II), S. 1534 ff.


7 Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit s. auch Bitker, The United States and Internatio-
nal Codification of Human Rights: A Case of Split Personality, in: Kauf man Hevener, N.
(Hrsg.): The Dynamics of Human Rights in U. S. Foreign Policy, 1981, S. 77ff (84 f), der
unter Bezugnahme auf die Schlußakte der Internationalen Menschenrechtskonferenz in
Teheran vom 22. April - 13. Mai 1968 sowie die Schlußakte von Helsinki vom 1. August
1975 die AEMR dem Völkergewohnheitsrecht zuordnet; s. auch Hinz, M. O., Das Recht
der Apartheid - Internationales Unrecht, DuR 1986, S.68.
24 Ulrich Eisenberg

- das am 7. März 1966 zur Unterzeichnung aufgelegte, am 12. März


1969 in Kraft getretene Internationale Übereinkommen zur Beseiti-
gung jeder Form von Rassendiskriminierung' (im folgenden: „Anti-
Rassendiskriminierungs-Konvention ") ;
- das am 30. November 1973 von der Generalversammlung der VN
angenommene, am 18. Juli 1976 in Kraft getretene Ubereinkommen
zur Abschaffung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid,'' (im
folgenden : „Anti-Apartheid-Konvention ") ;
- die am 9. Dezember 1948 von der Generalversammlung der VN
angenommene, am 12. Januar 1951 in Kraft getretene Konvention zur
Verhütung und Bestrafung des Völkermordes10 (im folgenden: „Anti-
Völkermord-Konvention ") ;
- die am 10. Dezember 1984 von der Generalversammlung der VN
angenommene, jedoch noch nicht in Kraft getretene Konvention
gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe" (im folgenden: „Anti-Folter-Konvention").
b) Auf regional-internationaler Ebene bestehen insoweit folgende Kodi-
fikationen:
- die am 22. November 1969 durch die inter-amerikanische Sonderkon-
ferenz der Organisation Amerikanischer Staaten (im folgenden: CMS)
in San José verabschiedete, am 18. Juli 1978 in Kraft getretene Ameri-
kanische Menschenrechtskonvention12 (im folgenden: AMRK);
- die am 4. November 1950 durch den Europarat in Rom verabschie-
dete, am 3. September 1953 in Kraft getretene Europäische Menschen-
rechtskonvention (im folgenden: EMRK)";
- die von den Mitgliedsstaaten der Organisation für Afrikanische Ein-
heit (im folgenden: OAU) auf der 18. Gipfelkonferenz der OAU vom

8 Abgedruckt in BGBl. 1969 (II), S. 962 ff.


9Abgedruckt bei Brownlie, I. (Hrsg.): Basic Documents on Human Rights, 2. Aufl.,
1981, S. 164 ff; s. auch u. Fn.33.
10 Abgedruckt bei Brownlie a. a. O. (Fn. 8), S. 31 ff.
11 United Nations A/RES/39/46 vom 17. Dezember 1984; zu den gegenwärtigen Plänen
zur Ausarbeitung von „Anti-Folter-Konventionen" im regional-internationalen Rahmen s.
Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes..., in: NJW 1985,
S. 1756, 1759.
12 Abgedruckt bei Brownlie a.a.O. (Fn.9), S.391 ff.
" S. auch den Entwurf einer Europäischen Konvention gegen Folter und andere
grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, abgedruckt in: EuGRZ 1984,
S. 165 ff; zu den Motiven s. etwa: Parliamentary Assembly, 27th ordinary session, Second
Part, Vol. V, Doc. 3668, Strasbourg, 1975; Parliamentary Assembly, Official Records of
Debates, 32nd ordinary session, Third Part, Vol. Ill, Strasbourg 1981, S. 680 ff; Parlia-
mentary Assembly, 35th ordinary session, Second Part, Vol. IV, Doc. 5123, Strasbourg
1983.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 25

24.-28.Juli 1981 gebilligte und zur Unterschrift aufgelegte14, jedoch


noch nicht in Kraft getretene Afrikanische Charta der Rechte der
Menschen und der Völker15 (im folgenden: Afrikanische Charta...).

Demgegenüber besteht bislang für Asien eine vergleichbare Interna-


tionale Organisation nicht16.

II. Normsetzung
1. Implikationen der Normsetzungsprozesse

Der Prozeß der Normsetzung umfaßt bei formell-verfahrensgemäßer


Betrachtung zwei rechtlich einander nachgeordnete, tatsächlich aber
ineinander verschränkte Ebenen. Die Ausarbeitung der Kodifikations-
entwürfe erfolgt durch die nach der Satzung der jeweiligen Organisation
hierfür vorgesehenen Organe, die zuweilen17 ihre Formulierungsvor-
schläge bereits in einem frühen Stadium der Vorarbeiten den nationalen
Regierungen zur Stellungnahme übermitteln; deren Entschließung
obliegt es, nach Annahme des Entwurfes durch das zuständige Organ
der Organisation, den Vertrag als verbindlich anzuerkennen 18 . Soweit
der Eintritt der innerstaatlichen Rechtsverbindlichkeit eines Vertrages
(zusätzlich) seine Ratifikation voraussetzt 19 , wirkt die nach der jeweili-
gen nationalen Verfassung für die Gesetzgebung zuständige Körper-
schaft an der Normsetzung mit (, die allerdings entsprechend den jeweili-
gen innerstaatlichen Gegebenheiten nicht selten gleichsam mit der staat-
lichen Exekutive identisch ist).

a) Einfluß der jeweiligen Staatsführungen


Die Ausarbeitung der Kodifikationsentwürfe und die Beschlußfas-
sung über deren Annahme ist - unbeschadet gewisser Unterschiede in

14 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes...,

in: N J W 1982, S.478 (479).


15 Bezeichnung des Entwurfs: OAU-Dok. CAB/LEG/67/37 Rev. 5; s. hierzu Pansch,
Über Menschenrechte, V N 1985, S. 166 (170); Mbaya, Menschenrechtskodifikation in
Afrika, V N 1984, S.132.
16 S. aber zur Gründung einer Gesamtasiatischen Anwaltskammer mit der Zielsetzung

der Überwachung der Menschenrechtssituation sowie zu den Bestrebungen im Rahmen


der V N hinsichtlich einer entsprechenden regional-internationalen Einrichtung: Amnesty
International (im folgenden: AI), Jahresbericht 1982, S. 233 f; s. zu der im September 1981
durch den (nicht-staatlichen) Internationalen Islamischen Rat verkündeten „Allgemeinen
Islamischen Menschenrechtserklärung" sowie zu den Bestrebungen der Dritten Islami-
schen Gipfelkonferenz zur Errichtung eines Islamischen Gerichtshofes und zur Ausarbei-
tung eines Dokuments über Menschenrechte im Islam: AI, a. a. O., S. 401 f.
17 S. etwa Landerer, Capital Punishment as a Human Rights Issue before the United
Nations, in: Revue de droit de l'homme, 1971, S. 511.
18 S. Art. 11 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969.

" S. Art. 14 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969.
26 Ulrich Eisenberg

der Zusammensetzung und Kompetenzverteilung innerhalb der ver-


schiedenen Organisationen - gekennzeichnet durch eine Prädominanz
der nationalen Exekutive20 einerseits und den Mangel an Repräsentation
und Mitwirkung der Rechtssubjekte21 andererseits. Denn die Kompe-
tenzregelungen der Organisationen ordnen die Aufgabe der Förderung
des Menschenrechtsschutzes solchen Organen zu, die entweder mit
Vertretern der nationalen Exekutive besetzt sind22 oder deren Zusam-
mensetzung zumindest maßgeblich von den nationalen Regierungen

20 Vgl. dazu Wolski, S., Menschenrechtsschutz und Gewaltenteilung, unveröffentl.

Manuskript, Berlin 1984, S. 10.


21 Dieser Terminus sei hier im Hinblick auf den vor allem unter dem Gesichtspunkt der

Staatensouveränität geführten und fortdauernden Streit in der Völkerrechtslehre über die


Eigenschaft von Individuen als Subjekte des Völkerrechts (s. etwa Bartsch, 25 Jahre
Menschenrechtsschutz - eine Bilanz, EuR 79, 105 [108] m. w. N.) im untechnischen Sinne
ausschließlich mit dem Inhalt gebraucht, daß die genannten Vereinbarungen jedenfalls den
Schutzbereich der Rechtssphäre von Einzelpersonen definieren.
22 Zu diesen zählen nach der satzungsgemäßen Kompetenzverteilung sowohl die

Organe der VN als auch das Ministerkomitee als Vertretungsorgan des Europarates.
Gemäß Art.60 i.V.m. Art.55c, 62 Abs.2 der Charta der VN sind die für die
Normsetzung in diesem Bereich zuständigen Organe: Die Generalversammlung des
Wirtschafts- und Sozialrats, dessen Mitglieder, die Generalversammlung selbst (Art. 61
Abs. 1 der Charta der VN) sowie die vom WSR eingesetzte Menschenrechtskommission (s.
Art. 68 der Charta der VN), die jeweils ausschließlich mit Vertretern der Regierungen der
Mitgliedsstaaten der VN besetzt sind (s. auch Tarda, M. E., Human Rights - The
International Petition System, Bd.I, 1979 [Part I, Section I.A.], S.3).
Auf europäischer Ebene oblag unbeschadet der Vorarbeiten durch den Europakongreß
und den internationalen Rechtsausschuß (s. Partsch, Die Entstehung der europäischen
Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1953-54, S. 631 [633]) die Ausarbeitung des Entwurfes
der EMRK entsprechend der Aufgabenverteilung nach Art. 15 Abs. a) i. V. m. Art. 3 der
Satzung des Europarates dem mit den Außenministern der Mitgliedsstaaten oder deren
Beauftragten (Art. 14 der Satzung des Europarates) besetzten Ministerkomitee und dem
von diesem eingesetzten Ausschuß höherer Regierungsbeamter (s. auch Art. 17 der Sat-
zung des Europarates); vgl. Partsch, a.a.O., S.649, unter Hinweis darauf, daß der
Ausschuß der Regierungsvertreter der Konvention „im wesentlichen die Form (gab), in der
sie später angenommen wurde".
Zur Kompetenzverteilung innerhalb der OAU vgl. Art. XII ff, Art. II 1 e), Art. VIII ff
der Charta der OAU (abgedruckt bei Peaslee, A.J., International Governmental Organi-
zation, Constitutional Documents, Bd.I, 3.Auflage, 1974, S. 1161 ff). Inwieweit eine
nach innerstaatlichem Recht etwa gegebene parlamentarische Verantwortlichkeit der Ver-
treter der jeweiligen Staatsführung geeignet ist, eine wirksame Einflußnahme des Parla-
ments insbesondere auf das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter zu gewährlei-
sten, erscheint als wenig geklärt. Der Wirksamkeit von Erklärungen der Staatenvertreter
im Rahmen von Entscheidungsprozessen der jeweiligen Organisation jedenfalls stehen
derartige Gegebenheiten nicht entgegen (zum Problem der parlamentarischen Kontrolle
der Staatenvertreter allgemein s. Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen
Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 4. Auflage, 1984,
Rdn. 1158 a, 1203 ff).
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 27

b e s t i m m t i s t " . M i t einer gewissen A u s n a h m e hinsichtlich der Inter-


a m e r i k a n i s c h e n J u r i s t e n k o m m i s s i o n der OAS24 ( A r t . 1 0 9 der C h a r t a d e r
OAS) sind w e d e r die O r g a n e der (übrigen) O r g a n i s a t i o n e n n o c h die
einzelnen S t a a t e n v e r t r e t e r z u einer Zusammenarbeit mit oder Konsulta-
tion v o n n i c h t - s t a a t l i c h e n O r g a n i s a t i o n e n z u m Z w e c k der E r m i t t l u n g
der ( r e c h t s - ) t a t s ä c h l i c h e n G r u n d l a g e n des R e g e l u n g s g e g e n s t a n d e s v e r -
pflichtet 2 5 . S o w e i t seitens der O r g a n i s a t i o n e n o d e r einzelnen Staatenver-
t r e t e r eine K o o p e r a t i o n m i t n i c h t - s t a a t l i c h e n O r g a n i s a t i o n e n z u s t a n d e
k o m m t , b e d ü r f e n die A u s w a h l v e r f a h r e n , n a c h denen diese O r g a n i s a t i o -

23 Bezüglich der OAS zählen hierzu (entsprechend der satzungsgemäßen Kompetenz-

verteilung innerhalb der OAS) deren mit der Ausarbeitung der AMRK befaßte Organe:
Die von der OAS-Konferenz in Mexiko-City im Jahre 1945 mit der Ausarbeitung der
AMRK beauftragte Interamerikanische Juristenkommission (Art. 105 ff der Charta der
OAS, abgedruckt bei Peaslee, a.a.O. [Fn.22], S. 1182ff) und die Interamerikanische
Menschenrechtskommission (Art. 112 der Charta der OAS); zur Entstehungsgeschichte s.
auch Kutzner, Die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969,
J I R 1971, S. 274. Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskom-
mission erfolgt durch den aus Regierungsvertretern bestehenden Ständigen Rat der OAS
(Art. 4 a. der Satzung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission [abgedruckt
bei Peaslee, a.a.O. (Fn.22), S. 1207ff] i.V.m. den Art.51c., 68 und 78 der Charta der
OAS) auf der Grundlage der von den Regierungen der Mitgliedsstaaten erstellten Kandida-
tenlisten.
Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Juristenkommission erfolgt durch die
Generalversammlung der OAS (Art. 107 i.V.m. Art. 52 ff der Charta der OAS) auf der
Grundlage der von den Mitgliedsstaaten erstellten Kandidatenlisten (Art. 107 der Charta
der OAS).
24 Dieser wird zugleich größtmögliche fachliche Autonomie eingeräumt.

25 Lediglich Art. 71 der Charta der VN sieht fakultativ „Abmachungen zwecks Konsul-

tation mit nicht-staatlichen Organisationen" durch den WSR vor, „die sich mit Angelegen-
heiten seiner Zuständigkeit" befassen (s. hierzu auch Seidl-Hohenveldern, a. a. O. [Fn. 22],
Rdn. 1230 a). - Für die USA wird allerdings berichtet, daß internationale nicht-staatliche
Organisationen generell einer direkten Zusammenarbeit mit formell an der Normsetzung
Beteiligten aus Furcht, für bestimmte außenpolitische Interessen der jeweiligen Regierung
vereinnahmt zu werden, eher abgeneigt seien (s. Weissbrodt, The Influence of Interest
Groups on the Development of United States Human Rights Policies, in: Kaufmann
Hevener a.a.O. [Fn.7] S.229 [246]). Soweit nationale nicht-staatliche Organisationen
hier eine Vermittlerrolle übernähmen, seien sie in der Regel weniger konfliktfähig und
effektiv, da sie nur einen geringen Teil der Wählerschaft repräsentierten und es ihnen
zuweilen auch an Sachkenntnis fehle (s. Weissbrodt, a. a. O., S. 245 f). Die Organe der VN
setzen zuweilen ad hoc-Arbeitsgruppen mit bestimmten Ermittlungsaufträgen ein, ohne
jedoch hierzu verpflichtet zu sein (s. etwa den Bericht der ad hoc-Arbeitsgruppe zu den
Situationen in Südafrika, Namibia, Südrhodesien und den Gebieten unter portugiesischer
Verwaltung aus Anlaß der Vorarbeit zur „Anti-Apartheid-Konvention", in: UN-Year-
book 27 [1973], S. 530 f). Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit diesen
Arbeitsgruppen s. etwa AI, a.a.O. (Fn. 16), S.20f sowie S.233; vgl. auch AI, Jahresbe-
richt 1981, S. 29 f.
Zur Zusammenarbeit von Amnesty International mit den Organen regional-internatio-
naler Organisationen s. AI, a.a.O. (1982) (Fn. 16), S. 141, 329f; a.a.O. (1981), S.31
(32-35).
28 Ulrich Eisenberg

nen oder einzelne ihrer Berichte bestimmt werden, nicht der Offenle-
gung bzw. Begründung 26 . - Die unmittelbar oder mittelbar an der
Normsetzung beteiligten potentiellen Normadressaten trifft weder eine
Pflicht zur Wahrheitsermittlung und Beweisführung hinsichtlich der
Geeignetheit der geplanten Regelungen gemessen am Normziel, noch
obliegt ihnen eine BegründungspiXicht27. Es besteht z . B . auch keine
Verpflichtung, Behauptungen einzelner Staatenvertreter hinsichtlich
einer etwaigen Unverträglichkeit geplanter Regelungen mit kulturellen
Normensystemen28 innerhalb der von ihnen vertretenen Staaten, die einer
Implementation vor allem materiell-rechtlicher Einzelregelungen entge-
genstehen könnten, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen; dies
erscheint insbesondere deshalb inadäquat, weil sich nicht ausschließen
läßt, daß im Falle rechtlicher oder auch nur tatsächlicher Gewaltenver-
einheitlichung archaische kulturelle Normensysteme reaktiviert und im
Sinne staatlicher Repression (erneut) funktionalisiert werden.
Als maßgebliches Kriterium für die Auswahl von Regelungsproble-
men, die Ausgestaltung materieller Rechtsgarantien und der Kontroll-
verfahren erscheint die Konsensfähigkeit bezogen auf die Vertreter der
Staatsführungen der Mitgliedsstaaten der Organisationen, in der sich
deren überwiegende, von der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzel-
staaten offenbar unabhängige Interessenkongruenz hinsichtlich der Sta-

26 Bezüglich des US-State Department s. Weissbrodt, a.a.O. (Fn.25), S.236f; betref-

fend die Bundesregierung vgl. etwa BT-Dr. 10/2778, S.3: „Für ihre eigenen Zwecke nutzt
sie (die Bundesregierung, d. Verf.) die ihr jeweils zur Verfügung stehenden Informations-
quellen".
Auch die Regelung des Art. 109 der Charta der OAS enthält keine entsprechenden
Auswahlkriterien.
27 So wurde etwa der vom Ministerkomitee des Europarats festgestellte Entwurf der

Beratenden Versammlung (zu deren eingeschränkten Kompetenzen im Verhältnis zum


Ministerkomitee s. Seidl-Hohenveldern, a.a.O. [Fn.22], Rdn. 1209f) ohne Begründung
oder Erläuterung zugeleitet. Erbetene Erläuterungen wurden unter Hinweis auf die
Verschwiegenheitspflicht betreffend die Beratungen des Ministerkomitees verweigert (so
Partsch, a.a.O. [Fn.22], S.651).
Vgl. auch Art. 21 der Satzung des Europarats:
„a. Die Sitzungen des Ministerkomitees finden . . . statt
(i) unter Ausschluß der Öffentlichkeit...
b. Das Komitee bestimmt selbst, welche Mitteilungen über die nicht-öffentlichen
Beratungen und über ihre Beschlüsse zu veröffentlichen sind..."
28 Vgl. zur Problematik schon bei nationaler (Straf-)Gesetzgebung Sumner, W. G.;
Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usage, Manners, Customs, Mores,
and Morals; New York 1959 (1906); Ball u. a.; Law and Social Change; Sumner Reconsi-
dered; in: AJS 67 (1962); Noll, P„ Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg 1973, 77;
Hassemer, W.; Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, Reinbek bei Hamburg 1974, 67,
111; Eisenberg a.a.O. 1985 (Fn.3), §23 Rdn.4f.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 29

bilisierung innergesellschaftlicher Machtpositionen widerspiegeln29.


Dabei entspricht es der Bereitschaft der Staatenvertreter, Regelungen
i. S. eines Minimalkonsenses zu befürworten, daß „deren Interesse an
Begründung und Ausgestaltung ihres Tätigkeitsbereiches mit den Inter-
essen der Allgemeinheit um so weniger vereinbar ist, je mehr die
Funktionen legaler wie illegaler Ausgestaltung des Tätigkeitsbereichs
übereinstimmen" 30 ; im einzelnen mag eine Interessenparallelität in sol-
chen Fällen bestehen, in denen der konzentrierten Durchsetzung ökono-
mischer Interessen gesellschaftlich privilegierter Gruppen ( z . B . westli-
cher Industrienationen) die repressive Funktionsausübung selbst mittels
terroristischer Aktivitäten (z. B. in autoritär verfaßten Staaten der soge-
nannten Dritten Welt) jedenfalls nicht entgegensteht31. - Generell mani-
festiert sich insoweit zugleich die in der Interessendisparität zwischen
den die Norminhalte bestimmenden Normadressaten einerseits und den
an der Normsetzung nicht beteiligten Rechtssubjekten andererseits
angelegte Möglichkeit verdeckter Diskrepanzen zwischen formulierten
und tatsächlichen Normzielen.

b) Verhältnis zwischen internationaler und nationaler Ebene


Die für den Eintritt der Rechtsverbindlichkeit entsprechender Verein-
barungen notwendigen Mitwirkungshandlungen auf nationaler Ebene
eröffnen die Möglichkeit, zum Teil weitreichende Vorbehalte32 hinsicht-
lich bestimmter Einzelregelungen der Vereinbarungen zu erklären.

29 So auch Gössner, Der Menschenrechtsschutz im Rahmen der Vereinten Nationen, in:

DuR 1978, S. 267 mit dem Hinweis auf die für den tatsächlich gewährten Menschenrechts-
schutz entscheidende Maßgeblichkeit der inneren rechtlichen Verfaßtheit der Einzelstaa-
ten; s. auch Bartsch a. a. O. (Fn. 11), S. 1759 zur Position der Bundesregierung gegenüber
den Plänen der Institutionalisierung einer Kontrollkommission im Rahmen der Vorarbei-
ten zur europäischen „Anti-Folter-Konvention"; s. insbesondere auch die Art.27ff der
Afrikanischen Charta, in denen in gleichsam generalklauselartiger Form staatsbürgerliche
Pflichten u. a. mit Bezug auf die Staatssicherheit (Art. 29 Abs. 3 der Afrikanischen Charta)
normiert sind (kritisch auch Mbaya, a.a.O. [Fn. 15]); zur herrschaftsstabilisierenden
Funktion einer „Pflichtenakzentuierung (,Verpflichtung') der Freiheitsrechte" (S. 547)
aufgrund wertsystematischer Interpretation allgemein s. Denninger, Freiheitsordnung —
Wertordnung - Pflichtordnung, JZ 1975, S. 545.
30 Wolski a. a. O. (Fn. 20), S. 8.

31 Vgl. auch die Antwort der Bundesregierung (BT-Dr. 10/2948) betr. Rüstungsexporte

nach Peru: Bei der Entscheidung über die Erteilung einer Rüstungsexportgenehmigung
berücksichtige die Bundesregierung auch „die Gesamtheit ihrer außen- und sicherheitspo-
litischen Interessen einschließlich ihrer Bündnisinteressen" (S. 3).
32 S. hierzu auch Gössner, a.a.O. (Fn.29), S.266 (268); unzulässig ist die Erklärung

von Vorbehalten nur in den Grenzen des Art. 19 (a)-(c) der Wiener Konvention über das
Recht der Verträge, insbesondere, wenn der Vorbehalt mit dem Gegenstand und Zweck
des Vertrages nicht vereinbar ist. S. auch Kühner, Vorbehalte und auslegende Erklärungen
zur Europäischen Menschenrechtskonvention, ZfaöR 1982, S. 58 (75 ff).
30 Ulrich Eisenberg

Abgesehen davon, daß die Staaten keinem rechtlich begründeten Zwang


zum Beitritt einer völkerrechtlichen Vereinbarung unterliegen, scheint
zuweilen die Emphase, mit der Vertreter bestimmter Gesellschaftsver-
fassungen die Ausarbeitung entsprechender Kodifikationen befürworten
und vorantreiben, im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bereitschaft zu
stehen, diese Vereinbarungen (vorbehaltlos) zu ratifizieren". Auch inso-
weit erweisen sich die Möglichkeiten der Initiierung sozialen Wandels
durch internationale Vereinbarungen im Sinne mittelbarer Einwirkung
auf die nationale Gesetzgebung als gering.

2. Einzelne inhaltliche Konzeptionen der Normsetzung


Indem die im Unterschied zur AEMR mit dem Ziel völkerrechtlicher
Verbindlichkeit geschaffenen Vereinbarungen die Schutzbereiche einzel-
ner Rechte bestimmen, definieren sie zugleich den Bereich nicht norm-
widriger Rechtsgutverletzungen. Teilweise nehmen die Vereinbarungen
auf Verletzungshandlungen Bezug, die nach nationalem Recht verschie-
dener Mitgliedsstaaten legal sind, wobei sie diese Beurteilung an ver-
schiedene Voraussetzungen binden. Nicht selten finden insoweit gene-
ralklauselartige Formulierungen Anwendung, denen eine Bezugnahme
auf das nationale Verfassungs- oder Gesetzesrecht der Beitrittsstaaten
inhärent ist.

a) Das Recht auf Leben


In unterschiedlicher Ausprägung enthalten die genannten Vertrags-
werke die Gewährleistung des Rechts auf Leben34; zum Teil legen sie den
Vertragsstaaten die Verpflichtung auf, das Recht auf Leben gesetzlich zu
schützen35. Zugleich bestimmen die Vereinbarungen die Voraussetzun-
gen, unter denen Tötungshandlungen nicht normwidrig sind; die Reich-

53 So haben etwa die U S A bislang keine der oben genannten Vereinbarungen der V N

ratifiziert (vgl. Multilateral Treaties, desposited with the Secretary-General, Status as at


3 1 . D e c . 1984, N e w York 1985, S.91 f, 99f, 124, 148, 157). Zu den innenpolitisch
begründeten Widerständen gegen die Ratifizierung der „Anti-Völkermord-Konvention" s.
Bitker a. a. O . (Fn. 7), S. 88/89, und zu den vom US-State-Department betreffend den
„Pakt" in Betracht gezogenen Vorbehalten, ders., S. 91 ff. Zu den möglichen Folgerungen
aus einer unabhängig von der Ratifizierung z. B. der „Anti-Apartheid-Konvention" völ-
kerrechtlich verbindlichen Qualifizierung der Apartheid als internationales Verbrechen s.
aber Hinz, a. a. O . (Fn. 7).
34 Art. 6 Abs. 1 des „Pakts", Art. 4 Abs. 1 A M R K , Art. 2 Abs. 1 E M R K , Art. 4 S. 2 der

Afrikanischen C h a r t a . . . s. auch Art. 5 (b) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konven-


tion", Art. II a. (i) der „Anti-Apartheid-Konvention", Art. II (a.) der „Anti-Völkermord-
Konvention"; vgl. auch Art. 3 A E M R .
35 Art. 6 Abs. 1 S.2 des „Pakts", Art. 4 Abs. 1 S.2 A M R K ; s. hierzu Finokaliotis, K..
Der Schutz des Rechts auf Leben im Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg, 1977,
S. 49 ff m. w. Nachw.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 31

weite dieser Voraussetzungen ergibt sich nicht zuletzt gemäß der Ausge-
staltung des nationalen Rechts. Während Art. 2 Abs. 2 EMRK eine
Enumeration der zum Teil weitreichenden 36 Rechtfertigungsgründe ent-
hält, erklären der „Pakt" (Art. 6 Abs. 1 S.3), die AMRK (Art. 4 Abs. 1
S. 3) sowie die Afrikanische Charta (Art. 4 S. 3) in Form einer General-
klausel die „willkürliche" Tötung für unvereinbar mit der Rechtsgaran-
tie. In Anbetracht der Unbestimmtheit des Begriffs könnte bezweifelt
werden, ob mit dieser Formulierung eine Regelung getroffen worden ist,
die von Staatsführungen und ihren Organen begangene oder von diesen
geduldete Tötungshandlungen erfaßt37.
Die „Anti-Apartheid-Konvention" (Art.IIa [i]) sowie die „Anti-Völ-
kermord-Konvention " (Art. II a) kriminalisieren Tötungshandlungen,
die sich zum Zwecke systematischer Unterdrückung gegen Angehörige
rassischer Gruppen oder, in der Absicht, nationale, ethnische, rassische
oder religiöse Gruppen zu vernichten, gegen Angehörige dieser Bevöl-
kerungsgruppen richten. Schwierigkeiten mag hier im Einzelfall der
Nachweis einer entsprechenden Systematik der Verfolgung bzw. des
Vorhandenseins einer gegen Bevölkerungsgruppen gerichteten Vernich-
tungsabsicht bereiten.
Keine der ursprünglichen Fassungen der genannten Vertragswerke
enthält eine Erklärung zur Abschaffung der Todesstrafe 38 . Eine Ande-

36
S. hierzu Amnesty International, Die Todesstrafe, 1979, S. 33 f.
37
Der Vorschlag, eine Enumeration der Rechtfertigungsgründe in die Regelung aufzu-
nehmen (so etwa ein Antrag der Niederlande [UN, Official Records of the General
Assembly, Twelfth Session [1957], Annexes [agenda item 33] - Doc. A/3764, S. 10f]),
konnte sich während der Vorarbeiten zum „Pakt" nicht durchsetzen. Mit der Generalklau-
sel sollte der „Eindruck" vermieden werden, es komme der Ausnahme größeres Gewicht
zu als der Regel (s. UN, Official Records of the General Assembly, Tenth Session [1955],
Annexes [agenda item 28] - Doc. A/2929, S.29f). Andererseits wurde eine Enumeration
für „notwendigerweise unvollständig" gehalten (Doc. A/2929, a. a. O.). Dem entspricht es,
daß der Sachverständigenausschuß des Europarats in einer vergleichenden Studie (Sachver-
ständigenbericht - Probleme, die sich aus der Koexistenz der VN-Pakte über Menschen-
rechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben, BT-Dr. 7/660, S. 43 ff)
die Auffassung vertritt, „die Ausnahmen, die in (Art. 2 Abs. 2 der EMRK, d. Verf.)
erwähnt werden, seien auch im Text des Pakts enthalten, da keine von ihnen als unberech-
tigt angesehen werden könnte" (Sachverständigenbericht, a. a. O., S. 52).
38
Die Vereinbarungen gehen vielmehr - zum Teil stillschweigend (Art. 4 der Afrikani-
schen C h a r t a . . . ) - von der Verhängung und Vollstreckung dieser Sanktion nach nationa-
lem Recht aus. Art. 6 Abs. 2-6 des „Pakts"; Art. 4 Abs. 2-6 AMRK; s. aber auch Art. 6
Abs. 6 des „Pakts" sowie Art. 4 Abs. 3 AMRK. Während nach dem Wortlaut des „Pakts"
die Frage der Zulässigkeit einer Wiedereinführung der Todesstrafe in den Beitrittsländern
offen und daher verschiedenen Auslegungen zugänglich ist (dagegen: AI, a. a. O . [Fn. 36],
S.20; a.A. Sachverständigenbericht, a . a . O . [Fn.37], S.42ff, 53), verbietet die auch
insoweit am weitesten gehende Regelung der AMRK die Wiedereinführung der Todes-
strafe in Staaten, die sie abgeschafft haben.
32 Ulrich Eisenberg

rung hat sich inzwischen allein für den europäischen Bereich durch das
sechste Zusatzprotokoll zur EMRK ergeben39. Der „Pakt" und die
AMRK enthalten lediglich bestimmte formelle Sicherheitsklauseln hin-
sichtlich der Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen40. Ob die
in beiden Vertragswerken normierte materielle Voraussetzung der
besonderen Schwere der einer Verurteilung zugrundeliegenden Tat41 die
Verhängungspraxis bei Todesurteilen tatsächlich zu beeinflussen ver-
mag, mag in Anbetracht des unbestimmten, normativen Charakters
dieses Rechtsbegriffs zweifelhaft erscheinen42; zumindest scheint sich
gerade hier - im Sinne der oben gemachten Ausführungen (s. II. l . a )
erwartungsgemäß - das Argument einer Gefährdung der Konsensfähig-
keit gegenüber der Möglichkeit der Initiierung sozialen Wandels im
Bereich des nationalen Rechts durch entsprechende Bestimmungen in
den internationalen Vereinbarungen durchgesetzt zu haben.

Obwohl die Frage der Abschaffung der Todesstrafe die Menschenrechtskommission


bereits seit den Vorarbeiten der AEMR beschäftigte und sich entsprechende Amendments
in diesem Zusammenhang als nicht geeignet erwiesen hatten, wurde dieser Frage während
der Vorarbeiten zum „Pakt" keine grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Bereits der
erste Entwurfstext, den die Menschenrechtskommission den Regierungen zur Stellung-
nahme übersandte, enthielt eine entsprechende Ausnahmeregelung. - Ein Amendment
Columbiens und Uruguays für die Abschaffung der Todesstrafe wies die Generalversamm-
lung der VN mit 51 zu 9 Stimmen bei 12 Enthaltungen zurück (UN-Doc. AI'3764, a. a. O.
[Fn. 37], S. 10, 13). Zur Begründung wurde vorgebracht, eine Regelung, die die Todes-
strafe abschaffe, sei für zahlreiche Staaten nicht ratifizierungsfähig. Im übrigen handle es
sich um eine Angelegenheit der nationalen Strafgesetzgebung (UN-Doc. A/3764, a.a.O.
[Fn. 37], S. 12; vgl. zur Entstehungsgeschichte Landerer, a.a.O. [Fn. 17]; wegen empiri-
schen Problemen einer generalpräventiven Wirkung der Todesstrafe s. krit. m. N. Eisen-
berg, a.a.O. [Fn.3], §41 Rdn.5; vgl. speziell auch AI, a.a.O. [Fn.36], S.26-32 m.N.).
Im Hinblick auf die endgültige Fassung der Regelung des Art. 4 des „Pakts" (Suspen-
sion von Rechtsgarantien im nationalen Notstand; s. im Text II. 2. d), e)) ist schließlich
bemerkenswert, daß die Bedeutung verfahrensrechtlicher Sicherungen bei dieser irreversi-
blen Sanktion bereits während der Vorarbeiten gesehen und erörtert wurde, Vorschläge,
diese in die Regelung des Art. 6 aufzunehmen, sich jedoch nicht durchsetzten (s. Landerer,
a.a.O. [Fn. 17], S.521 f.).
39 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in:

NJW 1983, 473, 480. - Art. 2 Abs. 1 S.2 EMRK enthielt ursprünglich lediglich eine
generelle Bezugnahme auf das nationale Recht.
40 Art.6 Abs.2-5 des „Pakts"; Art.4 Abs.2-6 AMRK; s. Bartsch, a.a.O. (Fn.39), zu

den Bestrebungen auf der Ebene der VN, die Abschaffung der Todesstrafe in einem
zweiten Fakultativprotokoll zu regeln.
41 Zur Bandbreite der je nach den innenpolitischen Verhältnissen der einzelnen Staaten

in Betracht kommenden Delikte s. AI, a. a. O. (Fn. 36), S. 40 ff.


42 So auch AI, a.a.O. (Fn.36), S.20.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 33

b) Das Recht auf körperliche und geistig-seelische Unversehrtheit


Jedes der oben genannten Vertragswerke schützt das Recht auf kör-
perliche und geistig-seelische Unversehrtheit gegen Folter43 und andere
grausame44, unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung45,
gegen Gewalttätigkeit oder Körperverletzung45" oder allgemein gegen die
Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden45b.
Die Regelungen enthalten keine Rechtfertigungsgründe. Sie beinhalten
aber neben normativen Rechtsbegriffen, die bei der Subsumtion von
Verletzungshandlungen restriktiven Interpretationen Raum bieten, zum
Teil subjektive Tatbestandsmerkmale, deren Nachweis in der Regel
Schwierigkeiten46 bereitet.
Art. 1 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention" definiert den Begriff wie
folgt: Folter ist „jede Handlung..., durch die einer Person vorsätzlich
schwere körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zuge-
fügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein
Geständnis zu erzwingen, sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von
ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, sie oder einen
Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder eine andere auf Diskrimi-
nierung gleich welcher Art beruhende Absicht zu verfolgen, sofern
solche Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen
Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Per-
son, auf deren Veranlassung, mit deren Zustimmung oder mit deren
stillschweigendem Einverständnis vorgenommen werden"47. Nach Art. 1
Abs. 1 S.2 der „Anti-Folter-Konvention" zählen ausdrücklich nicht
hierzu „Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässi-

43 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikani-

schen Charta, Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention", Art. 1 „Anti-Folter-Konven-


tion".
44 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 5 S.2 der Afrikanischen Charta,

Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention".


45 Art. 7 des „Pakts", Art. 5 Abs. 2 S. 1 AMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikani-

schen Charta, Art. II (b) „Anti-Apartheid-Konvention".


451 Art. 5 (b) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention".

45b Art. II (b) der „Anti-Völkermord-Konvention".

S. etwa Schweizerisches Bundesgericht (BGer) EuGRZ 1978, S. 16 zur Abgrenzung


zulässiger („Bedürfnisse der Untersuchung") und unzulässiger („Zwangsmittel" zur Erlan-
gung eines Geständnisses) Zweckverfolgung bei der Anordnung der strengen Einzelhaft im
Rahmen der Untersuchungshaft; vgl. auch Maier, I. Wichtiger Schritt zur Abschaffung der
Folter, VN 1985, S. 1, mit der Auffassung, daß z.B. „unmotivierte Folterhandlungen",
„die aus purem Sadismus begangen werden", von der Definition des Art. 1 Abs. 1 der
„Anti-Folter-Konvention" nicht erfaßt seien.
47 Deutsche Übersetzung abgedruckt in VN 1985, 31 ff; zum Problem einer „Grau-

zone" betreffend die Verursachung solcher Schmerzen oder Leiden, deren Schweregrad
den der Folter nicht erreicht, s. UN, Economic and Social Council, Commission on
Human Rights, Forty-Second Session, agenda item 10 (a), Doc. E/CN. 4/1986/15, S. 11.
34 Ulrich Eisenberg

gen Zwangsmaßnahmen ergeben, diesen anhaften oder als deren Neben-


wirkung auftreten" 48 . Diese Einschränkung des Rechtsschutzes der Spe-
zialtatbestände der „Anti-Folter-Konvention" gegenüber der allgemei-
nen Regelung des „Pakts" mag nicht zuletzt auf der geringeren Effizienz
des im „Pakt" vorgesehenen Kontrollsystems beruhen.
Eine Korrektur solcher der verfahrensmäßigen Ausgestaltung der
Normsetzungsprozesse auf nationaler Ebene innewohnenden Mängel,
die die Durchsetzung bestimmter nicht verallgemeinerungsfähiger Inter-
essen ermöglichen, die ihre Partikularität zuweilen mit der bloßen
Behauptung einer Identität mit Belangen der Allgemeinheit zu verdek-
ken vermögen, findet demnach nicht statt49. Die Konsensfähigkeit derje-
nigen definitorischen „Konzession an das islamische Strafrecht" 50 aller-
dings, derzufolge der gesamte Bereich solcher körperlicher und seeli-
scher Beeinträchtigungen von dem Tatbestand nicht erfaßt ist, die in
gesetzmäßiger Ausübung staatlicher Strafgewalt verursacht werden,
steht in Einklang mit der Erkenntnis, daß sich Belange der Stabilisierung
gesellschaftlicher Machtpositionen, die folgerichtig auch eine Vernich-
tung der personalen Identität rivalisierender Gegner nicht ausschließen,
mittels der Verletzung von Individualrechtsgütern durch Staatsführun-
gen und ihre Organe in legaler Form gerade auch unter Indienstnahme
der Instrumente des Strafrechts und des Strafvollzuges durchsetzen.

c) Das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit


Während Art. 5 Abs. 1 EMRK eine Enumeration der Rechtfertigungs-
gründe für Rechtsverletzungen enthält, schützen Art. 9 Abs. 1 des
„Pakts", Art. 7 Abs. 2, 3 AMRK, Art. 6 S. 2, 3 der Afrikanischen Charta
und Art.IIa (ii) der „Anti-Apartheid-Konvention" vor „willkürlicher"
und „ungesetzlicher" Festnahme oder Haft51. Gemessen an den Erkennt-

48 Vgl. dagegen etwa Art. 1 und 2 des Entwurfs eines „Gesetzes zum Verbot unmensch-

licher Haftbedingungen" der Fraktion Die Grünen, BT-Dr. 10/2819. Nach diesem Ent-
wurf ist eine unmenschliche Behandlung „insbesondere die Zufügung von physischen und
psychischen Schmerzen, soweit diese nicht aus der haftbedingten Einschränkung der
körperlichen Bewegungsfreiheit herrühren".
49 S. auch die Begründung zu dem Entwurf eines „Gesetzes zum Verbot unmenschli-

cher Haftbedingungen", BT.-Dr. 10/2819, S . 5 f .


50 So Bartsch, a. a. O. (Fn. 11), S. 1755.
Die Motive, die zu der Formulierung dieser Generalklausel geführt haben, entspre-
51

chen den der generalklauselartigen Einschränkung des Rechts auf Leben zugrundeliegen-
den Beweggründen ( U N - D o c . A/2929, a.a.O. [Fn.37], S.35; vgl. auch die entsprechende
Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. [Fn. 37], S. 54).
Für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß die einfachgesetzlichen
Rechtsgrundlagen nach der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte einerseits an den inhaltlichen Anforderungen des Willkürverbots insofern gemessen
werden, als sie hinreichend bestimmt, die Eingriffe mithin vorhersehbar sein müssen.
Andererseits muß es sich nicht um Gesetze im formellen Sinne handeln. Begründet wird
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 35

nissen ü b e r t y p i s c h e einschlägige E r s c h e i n u n g s f o r m e n 5 2 k r i m i n o l o g i s c h
relevanten V e r h a l t e n s erscheinen diese R e g e l u n g e n in m e h r f a c h e r H i n -
sicht als für deren tatbestandliche E r f a s s u n g unzulänglich.

a) I m U n t e r s c h i e d z u den A r t . 7 A b s . 3 AMRK, 5 A b s . 3 EMRK" sieht


A r t . 9 A b s . 3 des „Pakts" die u n v e r z ü g l i c h e V o r f ü h r u n g z u m Z w e c k e
der g e r i c h t l i c h e n K o n t r o l l e der R e c h t m ä ß i g k e i t der F r e i h e i t s e n t z i e h u n g
n u r für den Fall d e r F e s t n a h m e o d e r H a f t w e g e n des V o r w u r f s einer
strafbaren H a n d l u n g v o r . O b diese R e g e l u n g den B e r e i c h p r ä v e n t i v -
polizeilicher F e s t n a h m e n erfaßt, ist d a h e r n a c h i h r e m W o r t l a u t z u m i n -
dest zweifelhaft 5 4 . - Ein Benachrichtigungsrecht, mittels dessen eine
w e s e n t l i c h e V o r a u s s e t z u n g u n t e r a n d e r e m für die K o n t r o l l e der aus
z a h l r e i c h e n L ä n d e r n b e k a n n t e n P r a x i s der I n h a f t i e r u n g o h n e L e g i t i m a -
tion 5 5 geschaffen werden könnte, ist in keiner der Vereinbarungen
ausdrücklich vorgesehen.

ß) D i e R e g e l u n g des R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d e s d e r U n t e r s u c h u n g s h a f t in
A r t . 5 A b s . 1 B u c h s t , c ) EMRK bleibt n a c h i h r e m W o r t l a u t , der als
L e g i t i m a t i o n für die H a f t allein den h i n r e i c h e n d e n T a t v e r d a c h t g e n ü g e n
läßt, w e i t hinter den A n f o r d e r u n g e n z u r ü c k , die verschiedentlich n a c h
n a t i o n a l e m R e c h t an die R e c h t m ä ß i g k e i t der A n o r d n u n g der U n t e r s u -
c h u n g s h a f t gestellt werden 5 6 .

dies zum einen unter Bezugnahme auf die „common-law"-Tradition des angelsächsischen
Rechts, zum anderen unter Hinweis darauf, daß es nicht Aufgabe der Konventionsorgane
sei, die Einhaltung des innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens zu überprüfen (s. hierzu
Trechsel, Die Garantie der persönlichen Freiheit (Art. 5 EMRK) in der Straßburger
Rechtsprechung, EuGRZ 1980, S.514, 518, 519 m.w.Nachw.).
52 S. Eisenberg, 1985 (Fn.3), §44 Rdn.20, 23 f; den., 1980 (Fn. 3), S.222, 224 ff jeweils
m. w. N.
53 Art. 6 der Afrikanischen Charta enthält insoweit keine besonderen verfahrensrechtli-

chen Bestimmungen.
54 S. auch die Feststellung im Sachverständigenbericht, a. a. O. (Fn. 37), S. 54.
55 S. schon Nachw. bei Eisenberg, a.a.O. 1980 (Fn.3), S.224f.
56 Kritisch auch Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.524f unter Hinweis darauf, daß trotz der

Häufigkeit der Anordnung von Untersuchungshaft Entscheidungen der Konventionsor-


gane „eher selten" seien. Es mögen insoweit die für die Beurteilung der Beschwerdemacht
des Verdächtigten maßgeblichen Individual- und Sozialmerkmale, die bereits für die
Annahme des Tatverdachts nicht selten bestimmend sind, in ihrer Wirkung gewissermaßen
kumulieren (s. auch im Text III. 1. b. y)) mit der Folge, daß eine Kontrolle der (mutmaßli-
chen) kriminologischen Relevanz der Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane in einem ent-
scheidenden Abschnitt des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kaum stattfindet. - Zu
den Kriterien für die Überprüfung der Dauer der Untersuchungshaft s. Vogler, Die
Spruchpraxis der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte und ihre Bedeutung für das deutsche Straf- und Strafverfahrensrecht,
ZStW 82 (1970), S. 758 f, unter Hinweis darauf, daß diese Grundsätze allgemein mit der
innerstaatlichen Judikatur (in der Bundesrepublik) übereinstimmen.
36 Ulrich Eisenberg

•y) Art. 5 Abs. 1 Buchst, a) EMRK normiert als Voraussetzung für


solche Freiheitsentziehungen, die im Rahmen der strafrechtlichen Sank-
tionierung erfolgen, allein das formelle Erfordernis der gerichtlichen
Verurteilung. Freiheitsentziehungen unterliegen nach dieser Regelung der
Kontrolle weder hinsichtlich des der Verurteilung vorausgehenden Ver-
fahrens - insoweit gelten die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK57 -
noch bezüglich der Taten, aus deren Anlaß die Strafverfolgung initiiert
wurde 58 . Inwieweit die Inhaftierung von Personen etwa wegen der
(gewaltlosen) Äußerung ihrer politischen Uberzeugung von der Rechts-
garantie des Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK erfaßt ist und gegebenenfalls der
Kontrolle durch die Konventionsorgane zugeführt werden kann,
erscheint nicht zuletzt auch im Hinblick auf die extensive Fassung der
Einschränkungsvorbehalte der insoweit speziellen Rechtsgarantien frag-
lich.
Im Unterschied zu Art. 5 EMRK enthalten Art. 10 des „Pakts" sowie
Art. 5 Abs. 2 S. 2, Abs. 3-6 AMRK Mindestgrundsätze zum Vollzug des
Freiheitsentzuges, insbesondere den Grundsatz der Trennung Beschul-
digter von Verurteilten sowie Jugendlicher von Erwachsenen59, die den
„Pakt" betreffend anläßlich der Ratifizierung oder des Beitritts zum Teil
nicht unerheblichen Vorbehalten der Einzelstaaten unterlagen60. - Auch
beinhalten die genannten Bestimmungen des „Pakts" und der AMRK
über das Gebot der Achtung der Menschenwürde hinaus" eine Aufga-
benbestimmung hinsichtlich des Strafvollzuges dahingehend, daß dieser
eine „Behandlung der Gefangenen" einschließe, „die vornehmlich auf

57 S. hierzu aber im Text II. 2. d. und e. A r t . 6 E M R K findet auch im übrigen jedoch

keine A n w e n d u n g im H a f t p r ü f u n g s v e r f a h r e n ( A r t . 5 A b s . 4 E M R K ) sowie im V e r f a h r e n
über die bedingte Strafaussetzung (s. die N a c h w . bei Vogler, a. a. O . [Fn. 56], S. 764 f).
58 S. Trechsel, a . a . O . ( F n . 5 1 ) , S . 5 2 1 , der darauf hinweist, daß auch hinsichtlich der
übrigen Rechtfertigungsgründe mit A u s n a h m e des A r t . 5 A b s . 1 Buchst, e) (Inhaftierung
wegen Geisteskrankheit, A l k o h o l i s m u s pp.) w e d e r eine U b e r p r ü f u n g der formellen und
materiellen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung durch die Konventionsorgane in
Betracht k o m m t , noch in den genannten Fällen eine gerichtliche H a f t k o n t r o l l e nach A r t . 5
A b s . 4 E M R K f ü r erforderlich gehalten w i r d , w e n n bereits die A n o r d n u n g der Inhaftie-
rung durch ein G e r i c h t v e r f ü g t w u r d e (s. Trechsel, a. a. O . , S. 529).
59 Vgl. die nach ihrem W o r t l a u t in den Einzelheiten nicht deckungsgleichen A r t . 1 0

A b s . 2 b. des „Pakts" und A r t . 5 A b s . 5 A M R K : W ä h r e n d die erstgenannte Regelung v o r


allem den Beschleunigungsgrundsatz hervorhebt, verlangt letztere ausdrücklich die Ein-
richtung besonderer Jugendgerichte.
60 Vgl. Multilateral Treaties, a . a . O . ( F n . 3 3 ) , S. 1 2 4 f f ( z . B . Australien, S . 1 2 5 ; Ö s t e r -
reich, S. 1 2 6 ; Belgien, S. 1 2 6 ; D ä n e m a r k , S. 1 2 7 ; Finnland, S. 1 2 7 ; Island, S. 1 2 9 ; Luxem-
burg, S. 1 3 0 ; Niederlande, S. 1 3 0 ; Neuseeland, S. 1 3 1 ; N o r w e g e n , S. 1 3 1 ; Schweden,
S. 1 3 2 ; Trinidad und Tobago, S. 1 3 2 ; Großbritannien, S. 133).
" S. A r t . 1 0 A b s . 1 des „Pakts", A r t . 5 A b s . 2 S . 2 A M R K .
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 37

ihre Besserung und gesellschaftliche Wiedereingliederung" hinzielt62.


Die Unbestimmtheit dieser Formulierung, die die Berücksichtigung
sonstiger Strafzwecke geradezu voraussetzt, veranlaßt die Annahme,
daß dieser wohl historisch begründete Unterschied zur EMRK0 de facto
kaum Auswirkungen im Sinne einer Beschränkung total-institutioneller
Machtausübung haben wird. Einerseits vermögen sich Belange der „Re-
Sozialisierung", soweit sie tendenziell eine Veränderung der Vollzugssi-
tuation im Sinne einer Angleichung an die Lebensverhältnisse der
Außengesellschaft erfordern, in der Regel gegenüber den übrigen Straf-
zwecken kaum durchzusetzen. Andererseits vermag die Behauptung
einer Geeignetheit der genannten Bestimmungen für eine Stärkung der
Rechtsposition der Gefangenen kaum zu überzeugen in Anbetracht der
Begriffe der „Besserung" und „Wiedereingliederung in die Gesell-
schaft", deren Konkretisierung in der Regel nach Wert- und Interessen-
inhalten solcher gesellschaftlicher Gruppen erfolgt, deren Belange
zumindest nicht in Widerspruch zu denen der (mutmaßlichen) Täterge-
meinschaften stehen.

d) Verfahrensrechte und sonstige formelle Rechtsgarantien


Art. 14, 15 des „Pakts", Art. 8, 9 AMRK sowie Art. 6, 7 EMRK"
enthalten zahlreiche formelle verfahrensrechtliche Garantien, die für ein
rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Strafverfahren unerläßlich
sind65; insbesondere normieren sie Mindestbedingungen für die Strafver-
teidigung.

a So die Formulierung in Art. 10 Abs.3 des „Pakts"; s. auch Art.5 Abs.6 AMRK:

„Punishment consisting of deprivation of liberty shall have as an essential aim the reform
and social readaptation of the prisoners".
63 S. zum europäischen Bereich Kaiser, Zweckstrafrecht und Menschenrechte, SJZ
1984, S. 329; s. aber auch Trechsel, a. a. O. (Fn. 51), S. 527: Außer in Extremfällen...
würden die Straßburger Instanzen sich kaum die Kompetenz anmaßen, in einem derart
kontroversen Gebiet eine Verletzung der Menschenrechte festzustellen..." Dieser
zurückhaltenden Position entspricht es, daß zwar die Prügelstrafe als Verletzung des Art. 3
EMRK beurteilt wird (s. EuGRZ 1977, 486), bei der Frage der Konventionsverletzung
durch den Vollzug strenger Einzelhaft aber in bestimmten Fällen Sicherheitsbelange
Vorrang genießen, soweit die Haft nicht eine totale Sinnesisolation bewirkt („Isolierhaft"),
die nachweislich schwere Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Konstitu-
tion zur Folge hat (s. EKMR EuGRZ 1981, S.91 einerseits, EKMR EuGRZ 1978, S.314
andererseits; zum Begriff der „Isolierhaft" s. EKMR EuGRZ 1976, S.22; 1975, S.455;
1974, S. 107).
64 S. auch Art. 7 der Afrikanischen Charta...

65 Die genannten Bestimmungen enthalten folgende rechtsstaatliche Gewährleistungen:

Die Garantie des gesetzlichen Richters, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der
Gerichte (Art. 14 Abs. 1 S.2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 1 AMRK, Art. 6 Abs.l EMRK,
Art. 7 Abs. 1 d) der Afrikanischen Charta...), die Öffentlichkeit der Verhandlung (Art. 14
Abs.l des „Pakts", Art.8 Abs.5 AMRK, Art.6 Abs.l EMRK s. hierzu Vogler, a.a.O.
38 Ulrich Eisenberg

e) Notstandsrecht
Mit Ausnahme des Rückwirkungsverbots 66 ist keine der formellen und
verfahrensrechtlichen Garantien „notstandsfest" 67 ; entsprechendes gilt
für das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. In Anbetracht
dieses Umstandes, demzufolge die grundlegenden rechtsstaatlichen Ver-
fahrensgarantien gerade dann außer Kraft gesetzt werden können, wenn
im besonderen Maße Rechtsgutverletzungen durch Staatsführungen und
ihre Organe infolge (auch formeller) Machtkonzentration zu besorgen
sind, erscheint die Effektivität der nach den Vereinbarungen von einer
Suspensionsmöglichkeit ausgenommenen materiellen Rechtsgarantien in
hohem Maße gefährdet. Dies gilt unter dem Gesichtspunkt der reduzier-
ten Entdeckungswahrscheinlichkeit illegaler Praktiken, insbesondere im
anstaltsinternen Bereich, die von Staatsführungen und ihren Organen
veranlaßt oder zumindest geduldet werden, vor allem auch hinsichtlich
der im Notstandsfalle ermöglichten Einschränkung oder Aufhebung

[Fn. 56], S. 771 ff), die Unschuldsvermutung (Art. 14 Abs. 2 des „Pakts", Art. 8 Abs. 2
AMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 7 Abs. 1 b) der Afrikanischen C h a r t a . . . ) , verschiedene
Ausprägungen des Rechts auf rechtliches Gehör sowie des Grundsatzes der Waffengleich-
heit im Strafprozeß, die freie Verteidigerwahl (zur Spruchpraxis der Europäischen Men-
schenrechtskommission, nach der es sich hierbei nicht um ein absolutes Recht handle,
sondern der Verteidigerausschluß im Ermessen des Staates stehe, s. Vogler, a. a. O .
[Fn. 56], S. 777) sowie erforderlichenfalls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Art. 14
Abs. 3 a, b, d-g, des „Pakts", Art. 8 A b s . 2 a - g AMRK, Art. 6 Abs. 3 EMRK, der
allerdings voraussetzt, daß die Beiordnung „im Interesse der Rechtspflege" erforderlich
sei; vgl. Vogler, a . a . O . [Fn. 56], S. 777 m . w . N a c h w . ; s. auch A r t . 7 Abs. 1 c) der
Afrikanischen C h a r t a . . . ) , das Appellationsrecht (Art. 14 Abs. 5 des „Pakts", s. hierzu den
Vorbehalt der Bundesrepublik, in: Multilateral Treaties, a . a . O . [Fn. 33], S. 129; Art. 8
A b s . 2 h AMRK), das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 14 Abs. 7 des „Pakts"; Art. 8
Abs.4 AMRK), das Beschleunigungsprinzip (Art. 14 Abs.3c) des „Pakts"; A r t . 6 Abs. 1
AMRK, Art. 5 Abs. 3 E M R K ; kritisch zur restriktiven Anwendung dieses Grundsatzes
durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Trechsel, a. a. O . [Fn. 52],
S.523; s. auch A r t . 7 A b s . l d ) der Afrikanischen Charta) und schließlich das Rückwir-
kungsverbot (Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK, Art. 7 Abs. 2 der Afrika-
nischen C h a r t a . . . ) . Art.2 Abs.3 des „Pakts", Art.25 AMRK, Art. 13 EMRK (s. auch
Art. 7 Abs. 1 a) sowie Art. 26 der Afrikanischen C h a r t a . . . ) verpflichten die Beitrittslän-
der, effektiven innerstaatlichen Rechtsschutz hinsichtlich der in den Konventionen garan-
tierten Rechte zu gewährleisten.
66
S. Art. 15 des „Pakts", Art. 9 AMRK, Art. 7 EMRK.
67
A r t . 4 Abs.2 des „Pakts" (s. hierzu UN-Doc. A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.23f, aus
dem hervorgeht, daß im Rahmen der Vorarbeiten zu dieser Regelung weitergehende
Vorschläge, die eine Einbeziehung auch der Verfahrensgarantien zum Gegenstand hatten,
durchaus zur Diskussion standen), Art. 27 Abs. 2 AMRK, Art. 15 EMRK.
Die Afrikanische C h a r t a . . . enthält keine ausdrückliche Regelung zur Suspension von
Rechtsgarantien im Falle des nationalen Notstandes (s. hierzu Mbaya, a . a . O . [Fn. 15],
S. 135).
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 39

jener V e r t e i d i g e r r e c h t e , deren u n g e h i n d e r t e A u s ü b u n g hier jedenfalls ein


M i n i m u m an öffentlicher K o n t r o l l e gewährleisten könnte 6 8 .

III. Normdurchsetzung
1. Kontrolle von Normverletzungen

I n der R e g e l verpflichten die V e r e i n b a r u n g e n " die Beitrittsstaaten z u


i n n e r s t a a t l i c h e m S c h u t z der in der jeweiligen K o d i f i k a t i o n a n e r k a n n t e n
Rechtsgüter „durch geeignete Maßnahmen" seitens der nationalen
Gesetzgebung u n d Rechtsprechung. I n A n b e t r a c h t des für die ( m u t m a ß -
lichen) T ä t e r g e m e i n s c h a f t e n c h a r a k t e r i s t i s c h e n M e r k m a l s der f o r m e l l e n
o d e r ( n u r ) faktischen K o n z e n t r a t i o n der R e s s o u r c e n politischer M a c h t
k o m m t der Ü b e r n a h m e dieser V e r p f l i c h t u n g gemessen a m Ziel effekti-
v e n R e c h t s g ü t e r s c h u t z e s allenfalls d e r W e r t einer D e k l a r a t i o n des guten
Willens zu 7 0 . N e b e n d e r M ö g l i c h k e i t der A n e r k e n n u n g einer in A u s s i c h t

" Es könnte daher zweifelhaft sein, ob diese Problematik hinreichend dadurch erfaßt
wird, daß in rein formeller Betrachtung lediglich die (zeitweilige) Außerkraftsetzung
einschlägiger Verfahrensrechte zu einer Bedrohung elementarer Existenzrechte ins Ver-
hältnis gesetzt wird (s. etwa BVerfGE 49, 24 [55 ff, 59]; vgl. zur Problematik aber auch
Amelung, Nochmals: § 34 StGB als öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm? NJW 1978, 623 f).
Vgl. UN-Doc. E/CN.4/1986/Ii, a.a.O. (Fn.47), S.3, 26f, demzufolge die vollständige
„Kontaktsperre" im Notstandsfalle allgemein Rahmenbedingung der Anwendung von
Folterpraktiken sei.
69 S. Art. 2 des „Pakts", Art. 2 AMRK, Art. 2 der „Anti-Rassendiskriminierungs-

Konvention", Art. IV der „Anti-Apartheid-Konvention", Art. V der „Anti-Völkermord-


Konvention". S. auch Art. 2, Art. 4 und 5 der „Anti-Folter-Konvention", nach denen die
Staaten auch die Verpflichtung zu strafrechtlichen Maßnahmen trifft. Vgl. auch Art. 1
EMRK; Art. 1 der Afrikanischen Charta.
70 Gleichwohl wird die Durchsetzung der Rechtsgarantien überwiegend primär als

Aufgabe der Vertragsstaaten angesehen (s. etwa die Nachw. bei Nowak, Die Durchsetzung
des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, EuGRZ 1980, S. 532
[541]). Soweit zur Begründung dieser Auffassung auf den Grundsatz der Staatensouveräni-
tät verwiesen wird, erscheint dieser wegen der für die (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften
typischen Merkmalsausprägungen ambivalent, da er neben seinem (unter außenpolitischen
Gesichtspunkten eher freiheitlichen) anti-interventionistischen Gehalt innenpolitisch eine
die repressive Funktionsausübung unterstützende Wirkung haben kann. Allerdings wird in
der neueren (sozialistischen) Literatur {Graefrath/Mohr, Völkerrechtliche und strafrechtli-
che Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen, in: Staat und Recht, 1986, S. 29ff)
unter Bezugnahme auf die sogenannten „Nürnberger Prinzipien" differenziert zwischen
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Personen und der völkerrechtlichen Verant-
wortlichkeit von Staaten. Während die internationale strafrechtliche Verantwortlichkeit
von Personen für von ihnen in ihrer Funktion als Organe der Staatsführung begangene
internationale Verbrechen nicht mit einer „Berufung auf staatliche Souveränität und daraus
fließender Immunität abgewendet werden kann" {Graefrath/Mohr, a.a.O., S. 31; s. auch
UN-Doc. EtCN.4/1986/15, a.a.O. [Fn.47], S.9 m.w.N.), könnten - ebenso wie bei
völkerrechtlichen Delikten, die nicht als internationale Verbrechen definiert sind - Rechts-
folgen wegen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates nur unter Berücksichti-
40 Ulrich Eisenberg

gestellten internationalen Strafgerichtsbarkeit für spezielle international


kriminalisierte Formen kriminologisch relevanten Verhaltens von Staats-
führungen 71 , deren Ineffektivität ihre Grundlage unter anderem im
Fehlen einer Rechtspflicht der Mitgliedsstaaten der Organisation zu
vorbehaltlosem Beitritt72 zu völkerrechtlichen Vereinbarungen hat,
sehen die Vereinbarungen überwiegend lediglich ein dreigliedriges Mit-
teilungssystem vor73. Auch im Bereich der Normdurchsetzung erscheint
die Herstellung von Konsensfähigkeit74 der Kontroll- und Spruchpraxis75
der jeweiligen Konventionsorgane als zentrales und von gleichsam
blockübergreifender Ubereinstimmung getragenes Anliegen der Vertre-
ter der Staatsführungen, dem die Ausgestaltung des Kontroll- und
Sanktionierungsinstrumentariums z. T. Rechnung zu tragen scheint.

a) Ausgestaltung des Kontrollsystems


a) Hinsichtlich der durch die Vereinbarungen institutionalisierten Kon-
trollorgane ist das Kontrollsystem auf der regional-internationalen

gung der Staatensouveränität verhängt werden (zur Anwendung des nationalen Selbstbe-
stimmungsrechts auf koloniale Situationen s. Hinz, a. a. O . [Fn. 7], S. 75 ff).
71
S. Art. VI der „Anti-Völkermord-Konvention", Art. V der „Anti-Apartheid-Kon-
vention"; s. hierzu auch Gössner, a . a . O . (Fn.29), S.269.
Die früheren Bestrebungen, zur Implementation der im „Pakt" garantierten Rechte
einen Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte zu institutionalisieren, vermochten
sich wegen ihres den hergebrachten völkerrechtlichen Grundsätzen der Souveränität und
Unabhängigkeit der Staaten widersprechenden Gehalts nicht durchzusetzen (vgl. UN-Doc.
A/2929, a . a . O . [Fn.37], S.3).
72
Zu den Vorbehalten Algeriens, Burmas, Marokkos, der Philippinen und Venezuelas
gegenüber der in der „Anti-Völkermord-Konvention" vorgesehenen internationalen Straf-
gerichtsbarkeit s. Multilateral Treaties, a. a. O . (Fn. 33), S. 92, 94, 95.
73
Eine Sonderstellung nimmt insoweit die „Anti-Folter-Konvention" ein, die das
Mitteilungssystem verbindet mit der Einführung des Weltrechtsprinzips allerdings nur
betreffend Folterhandlungen (s. Art.4ff der „Anti-Folter-Konvention"; krit. Marx, R.,
Die Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschli-
che oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, ZRP 1986, S. 81, 82, 83; s. auch Fn. 47)
sowie in Anlehnung an das Verfahren nach Resolution 1503 des WSR bei Vorliegen
zuverlässiger Informationen über systematische Folterungen die Möglichkeit vertraulicher
Untersuchungen vorsieht (Art. 20 der „Anti-Folter-Konvention"). Allerdings regelt
Art. 28 der Konvention zugleich ausdrücklich die Zulässigkeit von Vorbehalten speziell zu
dieser Bestimmung (s. hierzu auch Maier, I., a . a . O . [Fn.46], S.2). '
74
S. im Text I l . l . a .
75
S. etwa UN-Doc. AI6546 (General Assembly / Twenty-first session / agenda item 62,
Report of the Third Committee), S. 53: " . . . I t was fully recognized, . . . , that a proper
balance should be struck between the requirement of a minimum effectiveness of imple-
mentation procedure, on the one hand, and the need for securing the widest possible
acceptance of the Covenant by Member States, on the other h a n d . . . " ; s. auch Bartsch,
a . a . O . (Fn.21), S. 115, unter Hinweis darauf, daß die Durchsetzbarkeit der Rechtser-
kenntnisse der Konventionsorgane „allzu starke Abweichungen von dem kollektiv akzep-
tierten Standard und Rechtsschöpfungen" ausschließe. S. auch Fn. 92.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 41

Ebene76 - mit Ausnahme des afrikanischen Bereichs77 - im Unterschied


zu den VN78 justizförmig ausgestaltet.
Soweit die Vereinbarungen die personelle Zusammensetzung79 der
Kontrollorgane regeln, beteiligen sie die (mutmaßlichen) Tätergemein-
schaften unmittelbar80 oder mittelbar81 an den hierfür vorgesehenen

76 Auf regional-internationaler Ebene ist neben den Menschenrechtskommissionen


(Art.20ff EMRK, Art.34ff AMRK; s. auch Art.30ff der Afrikanischen Charta...),
jeweils ein Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 38 ff EMRK, Art. 52 ff AMRK) institutio-
nalisiert. Zu der Besonderheit des Ministerkomitees als Entscheidungsgremium s. im Text
III. 1. a. ß).
77 S. Mbaya, a.a.O. (Fn. 15), S. 134, 135, der auf die offizielle Begründung hinweist,

die Regelung eines kontradiktorischen Verfahrens widerspräche der „traditionellen afrika-


nischen Neigung zu Konsens und Vermittlung".
78 Auf der Ebene der VN obliegt die Prüfung der nach dem Mitteilungssystem

eingehenden Berichte und Beschwerden den jeweils in den Vereinbarungen vorgesehenen


Ausschüssen (Art.28ff des „Pakts"; s. auch die Präambel des Fakultativprotokolls (Aus-
schuß für Menschenrechte); Art. 17ff der „Anti-Folter-Konvention" (Anti-Folter-Kom-
mission); Art. 8 ff der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention"; Art. IX der „Anti-
Apartheid-Konvention" .
79 S. auch die kritische Stellungnahme von Maier, I., a.a.O. (Fn.46), S. 5 betreffend

die diesbezüglichen Unklarheiten in dem Entwurf einer Europäischen „Anti-Folter-


Konvention", in der insbesondere das Fehlen eines Ablehnungsrechts gegenüber den
Mitgliedern der zu institutionalisierenden Kontroll-Kommission beklagt wird. Vgl. (ande-
rerseits) die Befangenheitsregelung des Art. 55 AMRK; s. demgegenüber Art. 43 EMRK,
der bei vergleichbarer Sachlage die Kammermitgliedschaft des Richters, der Staatsangehö-
riger der beteiligten Partei ist, „von Amts wegen" vorsieht.
80 Die Wahl der 18 Mitglieder des Ausschusses für Menschenrechte erfolgt durch die

Versammlung der Vertragsstaaten (Art. 30 Abs. 4 des „Pakts") aufgrund einer von den
Vertragsstaaten erstellten Kandidatenliste (Art. 29 Abs. 1 des „Pakts"). Die Regelungen der
„Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entspre-
chen denen des „Pakts". - Eine Sonderstellung nimmt der in der „Anti-Apartheid-
Konvention" vorgesehene Ausschuß ein, der regelmäßig aus drei Mitgliedern der VN-
Menschenrechtskommission bestehen soll; s. Art. IX der Konvention.
Die Wahl der Mitglieder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ebenso
wie die der Mitglieder des Interamerikanischen Gerichtshofs erfolgt durch die Generalver-
sammlung der OAS auf der Grundlage der von den Regierungen (Art. 36 Abs. 1 AMRK)
bzw. den Mitgliedsstaaten (Art. 53 AMRK) erstellten Kandidatenlisten. Zur Inkompatibi-
litätsregelung des Art. 71 AMRK s. Kokott, Der Interamerikanische Gerichtshof für
Menschenrechte und seine bisherige Praxis, ZfaöR 1984, S. 806 (809 f).
Die Wahl der Mitglieder der Afrikanischen Menschenrechtskommission soll erfolgen
durch die Versammlung der Staats- und Regierungschefs aufgrund einer von den Vertrags-
staaten erstellten Kandidatenliste (Art.33 der Afrikanischen Charta...); s. hierzu Bartsch,
a.a.O. (Fn.39), S.473; zu ihren Kompetenzen s. Bartsch, a.a.O. (Fn. 14), S.479f); vgl.
auch Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: NJW
1981, S. 489 zum Scheitern der Einigungsbemühungen hinsichtlich einer Inkompatibilitäts-
regelung betreffend die Mitgliedschaft in der Kommission und der Innehabung eines
Regierungsamtes.
Die Wahl der Mitglieder der Europäischen Menschenrechtskommission erfolgt durch
das Ministerkomitee aufgrund einer vom Büro der Beratenden Versammlung erstellten
Kandidatenliste (Art. 21 EMRK).
42 Ulrich Eisenberg

Wahlvorgängen. - Wenngleich die Mitglieder der Kontrollorgane in der


Regel nicht als Staatenvertreter, sondern in persönlicher Eigenschaft
tätig sind82, ist aufgrund der Ausgestaltung der Wahlvorgänge nicht
auszuschließen, daß sie im Rahmen ihrer Tätigkeit, bei der ihnen
entsprechend den Konzeptionen der Rechtsgrundlagen weite Beurtei-
lungsspielräume eingeräumt sind, jedenfalls nicht regelmäßig solche
Interessen vertreten, die denen der ihre Auswahl (mit-)bestimmenden
Staatsführungen entgegenstehen. Soweit dieser Fall dennoch eintritt,
scheint von den betreffenden Staatsführungen ausgeübter politischer
Druck nicht ohne Einfluß auf die Kontrolltätigkeit zu sein83.

ß) Die Aufgaben und Befugnisse der aufgrund der Kodifikationen der


VN institutionalisierten Ausschüsse bestehen vorwiegend in der Schlich-
tung bzw. Vermittlung zwischen den Beteiligten sowie der Erteilung von
Empfehlungen und der Erstattung von Berichten84 sowohl nach
Abschluß der Prüfung einzelner Angelegenheiten85 als auch zum Schluß
jedes Geschäftsjahres 86 .
Demgegenüber sind auf regional-internationaler Ebene die Kompe-
tenzregelungen insofern weitergehend, als dem jeweiligen Gerichtshof
die Befugnis übertragen ist, gegebenenfalls formell eine Konventionsver-
letzung festzustellen". Für das Verfahren vor diesem sind ausschließlich

81 Die Wahl der Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erfolgt

durch die Beratende Versammlung aufgrund einer von den Mitgliedsstaaten des Europara-
tes erstellten Kandidatenliste (Art. 39 EMRK).
82 Art. 28 Abs. 3 des „Pakts"; die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der

„Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". Zur Stellung


der Mitglieder des Kontrollausschusses der „Anti-Apartheid-Konvention" s. Art. IX der
Konvention.
Art. 23 EMRK, Art. 36 Abs. 1 AMRK; s. auch Art. 31 Abs. 2, 38 der Afrikanischen
Charta... (s. auch Bartsch, a. a. O. 1981 [Fn. 80], S. 489).
83 S. Bartsch, a. a. O. 1981 (Fn. 80), S.493, zu den auf die Austrittsdrohungen Argenti-

niens, Chiles, Uruguays, Paraguays und Boliviens erfolgten Änderungen der Gerichtspra-
xis der Interamerikanischen Menschenrechtskommission; s. auch im Text III. 2. a.
84 Art. 45 des „Pakts", Art. 6 des Fakultativprotokolls, Art. 24 der „Anti-Folter-

Konvention", Art. 14 Abs. 8 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" (Jahresbe-


richte). Auch legt der Ausschuß für Menschenrechte seine Befugnis, nach Abschluß
einzelner Angelegenheiten „allgemeine Bemerkungen" (Art. 40 Abs. 4 des „Pakts") bzw.
„seine Auffassungen" (Art. 5 Abs. 4 des Fakultativprotokolls) zu übermitteln, weit aus,
und zwar im Sinne einer Berichtskompetenz.
85 Dies ist nach dem Wortlaut der Vereinbarungen nur zum Teil der Fall.

86 Art.41 Abs. 1 e)-h), 40 Abs.4, 42, 47, 45 des „Pakts"; die Regelungen der „Anti-

Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen


denen des „Pakts". Art. 1, 5, 6 des Fakultativprotokolls.
87 Art. 50 ff EMRK, Art. 63 AMRK.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 43

die Beitrittsstaaten und die Kontrollkommissionen aktiv legitimiert™;


d a h e r k o m m t den K o m m i s s i o n e n i n s o w e i t die F u n k t i o n v o n V o r p r ü -
fungsausschüssen zu 8 9 , die i n s b e s o n d e r e „mißbräuchliche"90, „offen-
sichtlich u n b e g r ü n d e t e " 91 s o w i e s o l c h e E i n g a b e n als unzulässig z u r ü c k -
w e i s e n , die bereits G e g e n s t a n d eines anderen internationalen K o n t r o l l -
v e r f a h r e n s w a r e n b z w . sind 92 o d e r hinsichtlich deren der innerstaatliche
R e c h t s w e g nicht a u s g e s c h ö p f t w o r d e n ist 93 . D i e Z u s t ä n d i g k e i t des jewei-
ligen G e r i c h t s h o f s s e t z t allerdings z u s ä t z l i c h die E r k l ä r u n g der Staats-
f ü h r u n g v o r a u s , d a ß diese dessen Gerichtsbarkeit anerkenne94.
I m G e l t u n g s b e r e i c h d e r EMRK besteht z u d e m die M ö g l i c h k e i t der
Zwischenschaltung des ausschließlich aus V e r t r e t e r n der nationalen
E x e k u t i v e b e s t e h e n d e n Ministerkomitees95 als K o n t r o l l o r g a n , das in den

88 Art. 48 EMRK, Art. 61 Abs. 1 AMRK. S. aber zur Verbesserung der Position des

Individualbeschwerdeführers als Verfahrensbeteiligtem durch den Europäischen Gerichts-


hof für Menschenrechte Bartsch, a.a.O. (Fn. 11), S. 1751 (1760). Zur Frage der Parteifä-
higkeit von Individuen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, s. Kokott, a. a. O.
(Fn. 80), S. 812 f.
85 Art. 47 i.V.m. Art. 32 EMRK, Art. 61 Abs. 2 i.V.m. Art. 48 ff AMRK. Betreffend

den Geltungsbereich der EMRK vgl. Murswiek, Die Individualbeschwerde vor den
Organen der Europäischen Menschenrechtskonvention - Zulässigkeitsvoraussetzungen,
in: JuS 1986, S.8.
Zu der Funktion des Vorverfahrens und der Frage der Wirksamkeit einer Verzichtser-
kiärung des betreffenden Staates im Falle einer „Selbstanklage" (s. IAGMR EuGRZ 1984,
S. 189) s. Kokott, a. a. O. (Fn. 80), S. 813 ff.
90 Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, b), c) AMRK.

" Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, c) AMRK.


92 Art. 27 Abs. 1 Buchst, b) EMRK; Art. 46 Abs. 1 Buchst, c) AMRK; kritisch zu der

mit dem Argument der Verfahrenskonkurrenz begründeten Zurückhaltung auch westli-


cher Staaten gegenüber der Anerkennung der Individualbeschwerde auf der Ebene der VN:
Nowak, a. a. O. (Fn. 70), S. 534, 544, der insbesondere darauf hinweist, daß sich das
Problem der Zweigleisigkeit der Verfahren durch die Erklärung von Vorbehalten erledigen
ließe. S. auch im Text III. 1. b) y) aa).
93 Art. 26 EMRK, Art. 46 Abs. 1 a) AMRK; s. aber die Ausnahmeregelung des Art. 46

Abs. 2 AMRK, die in der EMRK keine Entsprechung findet.


94 Art. 46 EMRK, Art. 62 AMRK; Art. 62 Abs. 2 AMRK läßt diese Erklärung aus-

drücklich auch nur für spezielle Fälle zu. Diese Möglichkeit mag nicht zuletzt Legitima-
tionsbelangen der Staatsführungen insofern entgegenkommen, als sie es diesen gestattet,
auf der Grundlage von Erwägungen politischer Opportunität nur solche Fälle der Kon-
trolle durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, in denen eine Bestätigung ihrer Praxis
zu erwarten ist.
Im Geltungsbereich der EMRK stand die Regelung des Art. 46 bislang vor allem in
Angelegenheiten der Staatenbeschwerde einer Befassung des Gerichtshofs entgegen
(s. auch Lindemann, Die Zulässigkeitsentscheidung der Europäischen Menschenrechts-
kommission im Fall der Staatenbeschwerde Frankreichs, Norwegens, Dänemarks,
Schwedens und der Niederlande gegen die Türkei vom 6. Dezember 1983, ZfaöR 1984,
346, 349).
95 S. hierzu Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes...

NJW 1980, S.494: Das Komitee sei „als politisches Organ ein Fremdkörper in dem
44 Ulrich Eisenberg

v o n d e r K o m m i s s i o n a n g e n o m m e n e n , v o n dieser o d e r d e m betreffenden
Staat j e d o c h n i c h t d e m G e r i c h t s h o f z u r E n t s c h e i d u n g v o r g e l e g t e n Fällen
m i t Z w e i - D r i t t e l - M e h r h e i t ü b e r das V o r l i e g e n einer K o n v e n t i o n s v e r l e t -
zung entscheidet.
O b die b e z e i c h n e t e j u s t i z f ö r m i g e A u s g e s t a l t u n g d e r V e r f a h r e n insbe-
s o n d e r e bei I n d i v i d u a l b e s c h w e r d e n für den B e s c h w e r d e f ü h r e r „günsti-
ger" 9 6 ist, e r s c h e i n t in A n b e t r a c h t dieser Fülle v o n Z u g a n g s s c h r a n k e n
zweifelhaft 9 7 . V i e l m e h r m ö g e n sich diese als z u s ä t z l i c h l e g i t i m a t i o n s f ö r -
dernd auswirken, s o w e i t sie ihre G r u n d l a g e in s o l c h e n Umständen
h a b e n , die die E n t d e c k u n g s w a h r s c h e i n l i c h k e i t illegaler P r a k t i k e n der
(mutmaßlichen) Tätergemeinschaften im R a h m e n der ihnen eigenen
F u n k t i o n s a u s ü b u n g a u c h i m innerstaatlichen B e r e i c h r e d u z i e r t e r s c h e i -
n e n lassen.
G e m e i n s a m ist den R e g e l u n g e n der K o n t r o l l v e r f a h r e n , daß, s o w e i t
den O r g a n e n Befugnisse zu eigenen Ermittlungen e i n g e r ä u m t sind, sie
diese vertraulich98 f ü h r e n , w o b e i sie jeweils auf die Mitwirkung des
betreffenden Staates angewiesen sind 9 9 . Mit Ausnahme der (i. e. S.)
r e c h t s p r e c h e n d e n I n s t i t u t i o n e n tagen die K o n t r o l l o r g a n e g r u n d s ä t z l i c h

gerichtsförmig angelegten Verfahren der M R K . . . ; denn es verhandelt nach Art einer


Geheimjustiz in nichtöffentlicher Sitzung, in der weder Beschwerdeführer noch Kommis-
sion vertreten sind, und es gehorcht bei seinen Entscheidungen, die nicht begründet
werden, notwendigerweise den Gesetzen der politischen Opportunität". S. auch bereits
Bartsch, a.a.O. (Fn.21), S. 119, unter Hinweis auf die Entscheidung des Komitees im
sogenannten Huber-Fall (EuGRZ 1975, S.371), in dem das Komitee eine Verletzung des
Art. 6 Abs. 1 EMRK durch ein mehr als zwölf Jahre dauerndes Strafverfahren nicht hat
feststellen können. Zu den Widerständen einiger Regierungen gegen derzeitige Reform-
pläne des Inhalts, Kommission und Gerichtshof - unter Ausschaltung des Ministerkomi-
tees - durch eine einzige Institution mit obligatorischer Zuständigkeit zu ersetzen s.
Bartsch, Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes . . . , in: NJW 1986,
1379 (1386).
Zur Vorlagepraxis der Europäischen Menschenrechtskommission s. Bartsch, a.a.O.
(Fn. 21), S. 120.
96 So etwa Maier, I., a.a.O. (Fn.46) S.4.

97 S. im Text III. 1. b) -y) aa).

98 S. etwa Art. 48 Abs. 2 AMRK, Art. 20 Abs.2, 3 der „Anti-Folter-Konvention"; s.

hierzu Bartsch, a.a.O. ( F n . l l ) , S.1756; s. auch Art. 59 Abs. 1 der Afrikanischen


Charta...
99 Zu der zumindest zurückhaltenden Position der Bundesregierung gegenüber Plänen,

auf europäischer Ebene im Rahmen eines entsprechenden Ubereinkommens einer Kon-


trollkommission die Kompetenz zu unangemeldeten Gefangenenbesuchen einzuräumen s.
Bartsch, a.a.O. ( F n . l l ) , S.1759 m.w.Nachw.; s. auch BT-Dr. 10/2778, a.a.O. (Fn.26),
S.2. Die Regelung dieser Befugnisse ist inzwischen Gegenstand des Entwurfs eines
Fakultativprotokolls zur „Anti-Folter-Konvention"; ablehnend: Maier, I., a.a.O.
(Fn.46), S.4ff.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 45

in nicht-öffentlicher Sitzung100. Die jeweils unterschiedlichen Regelungen


der Veröffentlichungsbefugnisse101 der Kommissionen im Falle des Schei-
terns des Versuchs der gütlichen Beilegung stimmen ferner darin über-
ein, daß vorab fakultativ die Möglichkeit besteht, den betreffenden
Staatsführungen nochmals unter Fristsetzung Empfehlungen zu erteilen.

h) Mitteilungen und Beschwerden betreffend Normverletzungen


a) Das Berichtssystem, nach dem die Staatsführungen der Beitrittslän-
der über die von ihnen getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der
in den Vereinbarungen anerkannten Rechte Mitteilung machen (Staaten-
berichte)101, ist allgemein dem Einwand des interessegeleiteten Reduktion
kriminologisch relevanter Realität ausgesetzt. Soweit - wie in der Regel -
die Berichte schriftlich abgefaßt sind103, bestehen hinsichtlich ihrer
Realitätsadäquanz gemäß allgemeinen Erkenntnissen über behördliche
Wirksamkeitsbelange104 Bedenken dahingehend, daß sie als (regierungs-)
behördliche Stellungnahmen unter Umständen selektiv lediglich die
ohnehin völkerrechtlich legitimierbaren Vorgänge ausweisen. - Dieses
Problem scheint nur bedingt dadurch lösbar, daß in Form allgemeiner
100 Art. 41 Abs. 1 d) des „Pakts", Art. 5 Abs. 3 des Fakultativprotokolls, Art. 33
E M R K . Die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-Rassendiskriminie-
rungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". Die A M R K enthält keine entspre-
chende ausdrückliche Regelung.
Es mögen diese Bestimmungen den Geheimhaltungsinteressen der (mutmaßlichen)
Tätergemeinschaften eher Rechnung tragen als dem Interesse an wirksamer öffentlicher
Kontrolle, der nicht zuletzt auch generalpräventive Wirkung zukommen könnte.
101 Vorgesehen ist z. B. im Falle der Staatenbeschwerde vorab jeweils eine Konsultation

der betreffenden Staatenvertreter (s. Bartsch, a . a . O . [Fn.95], S.491).


Auf europäischer Ebene liegt in den Fällen in denen der Gerichtshof nicht befaßt wird,
aufgrund der Art. 31, 32 E M R K die Entscheidung über die Veröffentlichung, die zudem
nur bei Feststellung einer Konventionsverletzung in Betracht kommt, ausschließlich bei
dem Ministerkomitee.
Für den Bereich der O A U soll nach Art. 59 Abs. 2 der Afrikanischen Charta... der
Veröffentlichung die Entscheidung der Versammlung der Staats- und Regierungschefs
vorgelagert sein.
102 Art. 40 des „Pakts". Die Regelungen der „Anti-Folter-Konvention" und der „Anti-

Rassendiskriminierungs-Konvention" entsprechen denen des „Pakts". S. auch Art. VII der


„Anti-Apartheid-Konvention", Art. 43 AMRK. Die E M R K enthält keine entsprechende
Bestimmung.
103 S. aber zu der Möglichkeit der Veranstaltung von (öffentlichen) Hearings Bartsch,
Die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes... N J W 1978, S. 451, N J W
1979, S.451; zu den Widerständen gegen deren Ausgestaltung im Sinne eines „Kreuzver-
hörs" Nowak, a. a. O. (Fn. 70), S. 536 m. w. Nachw.
Die Berichtspflicht scheint zuweilen dazu geführt zu haben, daß die Staaten ihr
lediglich formell genügt, materiell aber kaum über praktische Durchführungsmaßnahmen
berichtet haben (s. Gössner, a. a. O. [Fn. 29], S. 275; s. auch Partsch, a. a. O . 1985 [Fn. 15],
S. 168).
104 S. Eisenberg, a . a . O . 1985 (Fn. 3), §40.
46 Ulrich Eisenberg

Richtlinien bestimmte inhaltliche Anforderungen an die Staatenberichte


gestellt werden105. Die Tatsache, daß sich die Staatenberichte zudem fast
ausschließlich auf rechtliche Informationen beschränken106 (und insofern
der inhaltlichen Konzeption der materiellen Rechtsgarantien entspre-
chen, die das Problem der innerstaatlichen Legalität repressiven Staats-
unrechts kaum erfassen), kommt dem Interesse der (mutmaßlichen)
Tätergemeinschaften an der Legitimation ihrer Tätigkeit vor den interna-
tionalen Organen entgegen107.
ß) Die Zulässigkeit der Staatenbeschwerde ist in der Regel108 an eine
besondere Unterwerfungserklärung aller Beteiligten, also auch des
beschwerdeführenden Staates, gebunden. Diese Möglichkeit der Einlei-
tung eines Kontrollverfahrens hat bislang auf der Ebene der VN keinerlei
praktische Relevanz erlangt109. Dies entspricht der Annahme, daß das
Beschwerdeverhalten von Staatsführungen maßgeblich von deren Inter-
esse an der Wahrung eigener politischer und wirtschaftlicher Belange
bestimmt sei110. Symbiotische bilaterale Beziehungen etwa, die sich nicht
selten gerade auf eine Koppelung autoritärer Innenpolitik mit aggressi-
ver Außenpolitik bei dem (potentiellen) Beschwerdegegner stützen,
werden daher in der Regel verhindern, daß Staatsführungen entspre-
chend der dieser Beschwerdemöglichkeit zugrundeliegenden Konzep-
tion111 als Sachwalter des Interesses an der Erhaltung eines internationa-
len ordre public auftreten. - Entsprechendes gilt allgemein unter der
Annahme einer prinzipiellen Interessenübereinstimmung von Staatsfüh-
rungen hinsichtlich der funktionsgerechten Ausgestaltung ihres Tätig-
keitsbereichs, der der Anspruch auf Völkerrechtskonformität im Grund-
satz eher widersprechen mag112.
105
S. UN (General Assembly / Official Records / Suppl. N o . 40) Doc. A/34/40, S. 5 ff;
vgl. auch Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S. 536.
106
S. Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S.536.
107
Anhaltspunkte für das Gewicht dieser Belange und die Begründungszusammen-
hänge der Widerstände gegen die Zulässigkeit der direkten Befragung der Regierungsver-
treter bei Erörterung etwaiger Zusatzberichte sowie die Verwertung anderer Informations-
quellen, wie etwa der Berichte nicht-staatlicher Organisationen, die Aufschluß über die
faktische Menschenrechtssituation in den betreffenden Staaten geben könnten, vermitteln
die Nachw. bei Nowak, a. a. O . (Fn. 70), S. 536.
108
Art. 41 Abs. 2 des „Pakts", Art. 21 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention", Art. 45
Abs. 1, 2 AMRK.
Art. 24 EMRK, Art. 11 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention" sowie die
Art. 47 ff der Afrikanischen C h a r t a . . . enthalten keine entsprechenden Bestimmungen.
,09
S. Bartsch, a. a. O . (Fn. 11), S. 1753.
110
Vgl. z. B. zur Position der Bundesregierung zu der Frage, ob sie sich den Beschwer-
den gegen die Türkei anschließe, BT-Dr. 9/1870, S.2; s. auch Lindemann, Völkerrechtli-
che Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1982, ZfaöR 1984, S.495 (506).
111
S. hierzu Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 118.
112
S. auch im Text II. 1. a.
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 47

Auch für den Geltungsbereich der EMRK wird berichtet, daß von
dieser Beschwerdemöglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch gemacht
wird113. - Allgemein wird die Wirksamkeit derartiger Verfahren im
regional-internationalen Bereich zusätzlich dadurch in Frage gestellt,
daß gewisse, mit dem hier vorgesehenen justizförmigen Verfahren ver-
bundene, (auch generalpräventive) Wirkungen dann nicht erzielt werden
können, wenn sich nicht auch der Beschwerdegegner der Gerichtsbar-
keit des jeweiligen Gerichtshofs unterworfen hat114.

y) Auch bei Individualbeschwerden ist in der Regel115 Zulässigkeitsvor-


aussetzung eine besondere Unterwerfungserklärung des betreffenden
Staates.
Die Effektivität dieser Beschwerdemöglichkeit ist im hohen Maße
abhängig von den jeweils unterschiedlichen Regelungen der Zulassungs-
verfahren sowie insbesondere der im wesentlichen der Spruchpraxis der
Kontrollorgane überlassenen Ausgestaltung der Darlegungs- und
Beweisregeln, die das Beschwerdeverhalten von Einzelpersonen in die-
sem Bereich unter den Gesichtspunkten der Einschätzung politischer
Resonanz sowie der Beurteilung der Erfolgsaussichten maßgeblich
beeinflussen könnten. Gemäß allgemeinen Bedingungen auch sonstigen
privaten Anzeigeverhaltens kommt zusätzlich entscheidende Bedeutung
der Möglichkeit der Bewertung eines durch die Staatsführung veranlaß-
ten Vorgangs als Rechtsverletzung zu. Hier könnten sich tatsächlich
bestehende Unterschiede zwischen internationalen und kulturellen Nor-
mensystemen ebenso auswirken wie die Tatsache, daß kriminologisch
bedeutsame Handlungen von Staatsführungen nach innerstaatlichem
Recht zu erheblichen Anteilen legal sind. Zudem mag insbesondere in
nicht-totalitär verfaßten Staaten eine Differenzierung zwischen individu-
ellem Fehlverhalten von Amtsträgern und systematischem Vorgehen der
Staatsführung und ihrer Organe Schwierigkeiten bereiten. Hinzu
kommt, daß bestimmte Bevölkerungsgruppen Rechtsverletzungen durch
die Staatsführung und ihre Organe unter Umständen als erwartungsge-
mäß beurteilen, wobei diese als solche zwar wahrgenommen werden, die

113 Bartsch, a . a . O . (Fn.21), S. 118; zum Umfang der Darlegungslast für die Zulässig-
keit der Staatenbeschwerde s. Lindemann, a. a. O. (Fn. 94), S. 346, unter Hinweis darauf,
daß ein prima-facie-Beweis der Konventionsverletzung nicht erforderlich ist, jedoch
insbesondere bei Behauptung einer konventionsverletzenden Verwaltungspraxis für die
Nichtanwendung des Art. 26 EMRK ein substantiierter Sachvortrag vorausgesetzt wird.
114 S. im Text III. 1. a. ß).

115 Art. 1 des Fakultativprotokolls, Art. 22 Abs. 1 der „Anti-Folter-Konvention",


Art. 14 der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention", Art. 25 EMRK.
Art. 44 AMRK sowie Art. 55 ff der Afrikanischen Charta... enthalten keine entspre-
chende Bestimmung.
48 Ulrich Eisenberg

Betroffenen aber nicht den Beschwerdeweg beschreiten. — Von geringe-


rer Bedeutung könnten diese Aspekte im regional-internationalen
Bereich sein, soweit dort auch nicht-staatliche Organisationen für ent-
sprechende Beschwerden aktivlegitimiert sind116.
aa) Auf der Ebene der VN hat bislang lediglich das im Fakultativproto-
koll vorgesehene Individualbeschwerdeverfahren Bedeutung erlangt. Im
Unterschied zu den entsprechenden Verfahrensregeln im regional-inter-
nationalen Bereich, namentlich den Regelungen der EMRK, sind die
Zulässigkeitsvoraussetzungen vergleichsweise beschwerdeförderlich ge-
faßt117.
Insbesondere hinsichtlich des Erfordernisses der Ausschöpfung des
innerstaatlichen Rechtsweges118 als Zugangsschranke, deren Uberwin-
dung eine erhebliche Beschwerdemacht des Einzelnen voraussetzt119,
sieht das Fakultativprotokoll im Gegensatz zur EMRK eine Ausnahme
für den Fall vor, „daß das Verfahren unbegründet in die Länge gezogen
wird" (Art. 5 Abs. 2 Buchst, c)120. Ein anderer wesentlicher Unterschied
der Regelungen des Fakultativprotokolls zu denen im regional-interna-
tionalen Bereich besteht darin, daß die Möglichkeit einer Zurückweisung
der Beschwerden als offensichtlich unbegründet121 nicht besteht, an der
insbesondere nach der Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechts-
kommission eine weitere Befassung (auch des Europäischen Gerichtsho-
fes für Menschenrechte) vergleichsweise häufig scheitert122. Letzteres
erscheint deshalb unbefriedigend, weil sich die Beschwerdeführer auf-
grund der für den einschlägigen Verhaltensbereich charakteristischen
Merkmale, deren Nachweis durch die Eigenart der Tatbestandsformulie-
rungen zudem kaum erleichtert wird, nicht selten in (Darlegungs- und)

S. Art. 44 AMRK, Art. 25 EMRK; s. auch die Art. 55 ff der Afrikanischen


C h a r t a . . . Vgl. auch AI, 1981, a . a . O . (Fn.25) S.143.
117
So auch Nowak, a . a . O . (Fn. 70), S. 538ff (s. auch Fn.92).
118
Art. 5 Abs. 2 b) des Fakultativprotokolls, Art. 22 Abs. 5d) der „Anti-Folter-Kon-
vention", Art. 14 Abs. 7 a) der „Anti-Rassendiskriminierungs-Konvention", Art. 26
EMRK, Art. 46 Abs. 1 a) AMRK.
119
Vgl. Trechsel, a . a . O . (Fn.51), S. 526, unter Hinweis darauf, daß die Bestimmung
des Art. 5 Abs. 1 Buchst, d) EMRK (Inhaftierung Minderjähriger „zum Zwecke überwach-
ter Erziehung", „zwecks Vorführung vor die zuständige Behörde") in der Praxis der
Kommission wegen der geringen Beschwerdemacht der Betroffenen ohne Bedeutung
geblieben ist.
Ungeklärt und umstritten ist die Frage, ob der Beschwerdeführer noch zum Zeitpunkt
der Einleitung des Beschwerdeverfahrens der Herrschaftsgewalt des Beschwerdegegners
unterliegen muß (s. Gössner, a. a. O . [Fn. 29], S. 276; zur Spruchpraxis des VN-Menschen-
rechtsausschusses s. Nowak, a. a. O . [Fn. 70], S. 539).
120
Eine entsprechende Bestimmung enthält Art. 46 Abs. 2 Buchst, c) AMRK.
121
S. Art. 27 Abs. 2 EMRK, Art. 47 Buchst, c) AMRK.
122
Nowak, a. a. O . (Fn. 70), S. 540; s. auch im Text III. 1. a. ß).
Normsetzung und -durchsetzung durch Internationale Organisationen 49

Beweisnot befinden werden, die unter Umständen erst im Verlauf eines


kontradiktorischen Verfahrens behoben werden könnte.
ßß) Bezüglich der Darlegungs- und Beweislastregeln geht die Spruch-
praxis des Menschenrechts-Ausschusses der VN dahin, die Tatsachenbe-
hauptungen des Beschwerdeführers als erwiesen anzusehen, wenn nicht
die betreffende Staatsführung die Behauptungen substantiiert und unter
(sacherheblichem) Beweisantritt bestreitet123.
Weitgehend ungeklärt sind jedoch die Beweisregeln im übrigen.
Betreffend den Umfang der Uberprüfung von Sachentscheidungen der
nationalen Behörden wird für den europäischen Bereich berichtet, daß
die Rechtmäßigkeit des prozessualen Vorgehens der innerstaatlichen
Institutionen nur in sehr eingeschränktem Maße der Kontrolle unter-
liege124. Die Prüfung, ob - auf der Grundlage nicht substantiiert bestrit-
tener Akteninhalte des entsprechenden (Straf-)Verfahrens - das Vorge-
hen der Behörden prima facie als gerechtfertigt erscheint125, ist als für den
Rechtsgüterschutz unzulänglich anzusehen. Dies gilt schon deshalb,
weil schriftlich fixierte Begründungszusammenhänge behördlicher Ent-
scheidungen gemäß den Formen der Ausgestaltung behördeninterner
Effektivitätsbelange „auf den ersten Blick" jedenfalls als „nicht unver-
nünftig" sich darstellen126. Vielmehr läßt eine derartige Spruchpraxis
besorgen, daß sie - indem sie einer (u. U. gerade hinsichtlich illegaler
Bestandteile) reduzierten Aktenrealität folgt - den Legitimationsbelan-
gen der (mutmaßlichen) Tätergemeinschaften in einer Weise Rechnung
trägt, die diesen die ungehinderte Funktionsausübung einschließlich
potentiell illegaler Praktiken zusätzlich absichert.

2. Sanktionierung von Normverletzungen


a) Sanktionsbefugnisse der von den Organisationen eingesetzten Organe
Inwieweit die informelle Sanktionierung durch die Veröffentlichung
von Berichten seitens der Kontrollkommissionen (s.o. III. 1.a.) von
Einfluß auf die Normeinhaltung der betreffenden Staaten ist, erscheint
als wenig geklärt. Der Sanktionscharakter als solcher ist aber jedenfalls
dann in Frage gestellt, wenn die entsprechenden Berichte lediglich
allgemeine, nicht namentliche Feststellungen enthalten bzw. die (mut-

12J
Nowak, a. a. O. (Fn. 70), m. w. Nachw.
124
S. etwa Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.520f m. w.Nachw.
125
S. Trechsel, a.a.O. (Fn.51), S.525 zur Spruchpraxis der Europäischen Menschen-
rechtskommission zum „hinreichenden Tatverdacht" im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst, c)
EMRK.
126
Zu Problematik und Funktion von Aktenrealität s. Eisenberg, a.a.O. 1985 (Fn. 3),
§13 Rdn.16, §40 Rdn.3.
50 Ulrich Eisenberg

maßlichen) Tätergemeinschaften an der Erstellung der Berichte maßgeb-


lich beteiligt sind127.
Was die Gerichte anbelangt, die gemäß Vereinbarungen regional-
internationaler Organisationen institutionalisiert sind (s.o. III. l.a.), so
sind die ihnen zustehenden formellen Sanktionsbefugnisse darauf
beschränkt, daß der betreffende Staat mit der die Normverletzung
feststellenden Verurteilung aufgefordert wird, Abhilfe zu schaffen und
gegebenenfalls Entschädigung zu leisten128. Die Effektivität dieser Urteile
für die Normeinhaltung der betreffenden Staatsführung dürfte schon
deshalb begrenzt sein, weil sie keine kassatorische Wirkung haben129.
Maßgeblich für die Frage der Normeinhaltung könnte vielmehr das
Ergebnis einer Abwägung der damit für die Staatsführung (tatsächlich
oder mutmaßlich) verbundenen innenpolitischen Nachteile gegenüber
den mit einer Fortsetzung normwidrigen Verhaltens (tatsächlich oder
mutmaßlich) verbundenen Beeinträchtigungen der diplomatischen
Beziehungen zu den übrigen Mitgliedsstaaten sein, das auch von der
Einschätzung der (geringen) Kontrollintensität beeinflußt sein dürfte.

b) Sanktionsmöglichkeit durch die Organisation selbst


Für den Fall beharrlicher Verletzungen der Grundsätze der Organisa-
tionen sehen die Satzungen zum Teil fakultativ die Möglichkeit des
Ausschlusses von Mitgliedsstaaten vor150. Die Wirkung dieser Sanktion ist
insofern ambivalent, als mit dem Ausschluß aus der Organisation
zugleich (auch formell) jede Möglichkeit künftiger Kontrolle der betref-
fenden Staatsführung entfällt.

127 S. Bartsch, a.a.O. (Fn. 80), S. 493 f. (Fn. 14), S.484 zur Einflußnahme einiger
Mitgliedstaaten der O A S auf die Fassung der Jahresberichte der Interamerikanischen
Menschenrechtskommission; s. auch Fn. 83.
Demgegenüber besteht die ausführliche Berichtspraxis des VN-Menschenrechts-Aus-
schusses fort. Die Fassung der Sachentscheidungen nähert sich feststellenden Urteilen an,
ohne daß diese allerdings - im Unterschied zu den Entscheidungen des jeweils im regional-
internationalen Bereich institutionalisierten Gerichtshofs - vollstreckbar wären (s. im
einzelnen Bartsch, a. a. O. [Fn. 11], S. 1755).
128 Zur Vollstreckung s. Art. 68 AMRK, Art. 54 EMRK; gemäß der zuletzt genannten

Bestimmung obliegt die Überwachung der Durchführung dem Ministerkomitee (s. auch
Fn. 95).
129 S. hierzu Vogler, a.a.O. (Fn. 56), S. 779, der die Auffassung vertritt, daß die

völkerrechtliche Pflicht, das konventionswidrige Recht aufzuheben, auch die Verpflich-


tung umfasse, für zurückliegende Urteile einen Wiederaufnahmegrund zu schaffen.
130 S. Art. 8 der Satzung des Europarats; Art. 6 der Charta der VN. S. auch Bartsch,

a.a.O. (Fn. 11), S. 1752, betreffend den mehrfach geforderten Ausschluß der Türkei aus
dem Europarat.
Kriminalprävention und Sozialkritik
im Werk Cesare Beccarias
„Über Verbrechen und Strafen" (1764)
GERHARD DEIMLING

I. Beccarias Empfehlungen zur Verbrechensvorbeugung


Nicht nur für die Kriminalpolitik ist es ein Gemeinplatz, daß Vorbeu-
gen besser sei als Heilen: es gibt heute kaum noch einen Politikbereich,
der auf präventive Maßnahmen und Empfehlungen glaubt verzichten zu
können. Kriminalpolitisch gilt die Prävention seit langem als Alternative
zur staatlichen Strafe, wie ein Blick in einschlägige internationale Biblio-
graphien lehrt. So einleuchtend der Gedanke auch sein mag, daß Vor-
beugen besser sei als Strafen, so ist doch eine besonnene Zurückhaltung
gegenüber meist undifferenzierten und wissenschaftlich unbegründeten
Empfehlungen angebracht.
Hilde Kaufmann stellte im Rahmen einer Tagung der Aktion Jugend-
schutz im Herbst 1973 die skeptische Frage, ob ein Ersatz der sogenann-
ten Repression durch die Prophylaxe möglich sei oder ob nicht in
Wirklichkeit unsere soziale Ordnung eines wohldurchdachten Zusam-
menspiels von Prophylaxe und Repression bedürfe1. Obwohl die wis-
senschaftliche Diskussion über Kriminalprävention ein ehrwürdiges
Alter erreicht hat, steht eine Geschichte ihrer Empfehlungen und Maß-
nahmen, ihrer Erfolge und Mißerfolge sowie der sozialpolitisch-huma-
nitären Ideen noch aus. Ebenso wie die Erforschung der Geschichte der
staatlichen Strafe die Reform des Strafvollzugs mittelbar stark beeinflußt
hat, könnte auch eine Geschichte der Kriminalprävention einen Beitrag
zur Versachlichung der zum Teil euphorisch geführten Diskussion über
Vorbeugungsstrategien leisten und zu einer realistischeren Einschätzung
prophylaktischer Möglichkeiten führen.
Cesare Beccaria (1738-1794) ist einer der ersten Theoretiker, der sich
mit Fragen der Verbrechensvorbeugung befaßt und umfassende Vor-
schläge zur Eindämmung und Verhinderung des Verbrechens gemacht
hat. Bekannt wurde er allerdings weniger durch seine Empfehlungen zur

1 Hilde Kaufmann, Repression oder Vorbeugung? In: Hilde Kaufmann (Hrsg.), Die
Kriminalität Jugendlicher und wir. Repression oder Vorbeugung durch Erziehung, 1974,
S. 15.
52 Gerhard Deimling

Kriminalprävention als vielmehr durch seine Kritik des damals in ganz


Europa herrschenden Justizwesens, insbesondere der Gesetzgebung, des
Gerichtsverfahrens, der Untersuchungshaft, der geheimen Anklagen,
der Folter und der Todesstrafe. Seine erst am Ende seines Buches 2
geäußerten Ideen zur Verbrechensvorbeugung sind als politische Forde-
rungen eines aufgeklärten Denkers an die Adresse eines aufgeklärten
Souveräns zu verstehen, die als Summe seiner Justiz-, Staats- und
Kulturkritik gelten können.

1. Vorbeugung ist der Hauptzweck einer „guten Gesetzgebung". „Bes-


ser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen" ( A l f f 148).
Mit diesem Satz leitet Beccaria sein Präventionsprogramm im 41. Kapitel
seines W e r k s „ U b e r Verbrechen und Strafen" ein, nachdem schon zuvor
im 31. Kapitel im Zusammenhang mit der Erörterung des Kindermordes
dessen Verhütung angesprochen worden war: „Die beste Weise der
Verhütung bestünde bei diesem Verbrechen in einem wirksamen Schutz
der Schwäche vor der Tyrannei, welche die Laster übertreibt, die sich
nicht mit dem Mantel der Tugend decken lassen" (Alff 128). E r hält die
damals übliche strafrechtliche Reaktion auf dieses Verbrechen solange
für ungerecht und nicht erforderlich, solange „nicht das Gesetz das unter
den gegebenen Verhältnissen einer Nation bestmögliche Mittel ange-
wandt hat, um dem Verbrechen vorzubeugen" ( A l f f 129).
Beccaria verbindet seine Vorstellungen über Verbrechensvorbeugung
und Strafe mit einer Theorie des Staates und der Gesellschaft, die auf der
Fiktion des Gesellschaftsvertrags beruht. F ü r ihn sind Gesetze „die
Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in
Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem
ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der U n g e w i ß -
heit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie
opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und R u h e sich
zu erfreuen. D i e Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche für das
W o h l eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation

2 Die folgenden Beccaria-Zitate sind der von Wilhelm A l f f aus dem Italienischen
übersetzten und herausgegebenen Ausgabe „Verbrechen und Strafen", erschienen im Insel-
Verlag Frankfurt a. M. 1966, entnommen (zitiert: Alff). Zum Textvergleich wurden außer
der von Marcello Maestro in der Reihe Feltrinelli Economica StA Milano 1977, herausgege-
benen italienischen Fassung, die von Philip Jacob Flathe ebenfalls aus dem Italienischen
übersetzte und von Karl Ferdinand Hommel 1778 (zit.: Hommel) sowie die aus dem
Italienischen übersetzte und mit Anmerkungen Denis Diderots versehene zweibändige
Ausgabe von Johann Adam Bergk, 1798 (zit.: Bergk) benutzt. Hilfreich ist auch das von
Karl Esselborn nach der 1812 in Mailand erschienenen Folio-Ausgabe übersetzte und 1905
in Leipzig herausgegebene Werk Beccarias (zit.: Esselborn). Auf weitere deutschsprachige
Übersetzungen braucht im Rahmen dieser Abhandlungen wegen der relativ wenigen
sinnverändernden Textabweichungen nicht eingegangen zu werden.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 53

aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter"
(Alff 51). Das im vorvertraglichen Zustand der Gesellschaft herrschende
Gesetz der Selbsthilfe und der Macht des Stärkeren sowie die aus diesem
Zustand hervorgehenden Verbrechen und Strafen müssen deshalb auch
qualitativ von denen verschieden sein, die in einer Gesellschaft auftreten
können, in der die Gesetze„Verträge freier Menschen" sind ( A l f f 48).
Der Gedanke, daß sich in der Art der Verbrechen und Strafen der
gesellschaftliche und politische Zustand einer Nation widerspiegeln,
wurde bereits von Montesquieu (1689-1755) in seinem Werk „De
l'Esprit des Lois" (1748) ausgesprochen. Im neunten Kapitel des sech-
sten Buches heißt es: „Härte der Strafen ist der despotischen Regierung,
deren Prinzip der Terror ist, eher gemäß als der Monarchie und der
Republik, deren Triebkraft Ehre bzw. Tugend ist" 3 . Montesquieu war es
auch, der den Vorbeugungsgedanken unmittelbar mit der Gesetzgebung
„maßvoller Staaten" in Verbindung brachte: „In diesen Staaten läßt es
sich ein guter Gesetzgeber nicht so sehr angelegen sein, Verbrechen zu
bestrafen als vielmehr ihnen zuvorzukommen. Er wird sich mehr für die
Schaffung von Sitten einsetzen als für die Verhängung von Todes-
strafen" 4 .
Wenn es bei Beccaria weiter heißt, daß es der Zweck einer jeden guten
Gesetzgebung sei, „die Menschen zum größtmöglichen Glück oder zum
geringstmöglichen Unglück zu führen" {Alff 148 f) - in der „Einleitung"
heißt es: „Das größte Glück verteilt auf die größte Zahl von Menschen"
(Alff 48) - dann muß noch eines anderen Schriftstellers gedacht werden,
dem Beccaria diese für die Soziallehre der Aufklärungszeit bedeutsame
Formel verdankt, nämlich Francis Hutcheson (1694-1746). Von ihm
stammt die leicht einprägbare Formulierung „vom größten Glück für die
größte Zahl". So wie bei Beccaria taucht sie in vielen anderen zeitgenös-
sischen Schriften der europäischen Philosophie und Nationalökonomie
auf und erfährt im Verlaufe nur weniger Jahrzehnte manche eigentümli-
chen Abwandlungen, die sowohl Ausdruck einer unverkennbaren Resi-
gnation angesichts des Ausbleibens der erhofften Verbesserungen als
auch eines wiedergewonnenen realistischeren Denkens sind.
Verbrechensvorbeugung ist für Beccaria ein zweckrationales Mittel in
der Hand des aufgeklärten Gesetzgebers innerhalb eines von Despotis-
mus freien Staates freier Bürger zur Verwirklichung des größtmöglichen
Glücks für die größtmögliche Zahl. Nur ein auf Gewaltenteilung beru-
hender republikanischer Rechtsstaat, den sich die Aufklärer erhofften,
kann es sich leisten, der Kriminalprävention den Vorzug vor der Verbre-

3
Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1974, S. 172.
4
Montesquieu, a . a . O . S. 172. Uber die Auseinandersetzung Beccarias mit Montes-
quieu siehe Esselborn, S. 5 ff.
54 Gerhard Deimling

chensbekämpfung durch Repression zu geben - sofern sich" alle Bürger


an den von ihnen geschlossenen Vertrag halten.
Verbrechensvorbeugung ist auf einen gerechteren und menschenwür-
digeren Zustand der Gesellschaft in der Zukunft ausgerichtet. Deshalb
muß der Gesetzgeber nach Möglichkeit alle Umstände voraussehen, die
die Erreichung des erwünschten Zustandes behindern oder zunichte
machen könnten. Das kann er jedoch nur, wenn er bereit ist, aus den
Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen. Die „gute Gesetzgebung" ist
für Beccaria deshalb eine hohe Kunst, die darauf beruht, die geeigneten
Mittel zur Erreichung des erwünschten Zustandes zu kennen und anzu-
wenden. Diese Kunst ist Staatskunst des „moralischen Politikers", der
im Sinne Kants die sittliche Aufgabe wahrnimmt, „den ewigen Frieden,
den man nicht bloß als physisches Gut, sondern als einen aus Pflichtan-
erkennung hervorgehenden Zustand wünscht, herbeizuführen" 5 . Becca-
ria hat - ausgehend von Montesquieu - mehr als dreißig Jahre vor Kant
die Verbrechensvorbeugung als eine zentrale Aufgabe der Politik im
allgemeinen und der Kriminalpolitik im besonderen definiert.
2. Verbrechensvorbeugung setzt weltanschauliche Toleranz voraus. Der
„gesetzgebenden Klugheit" des Souveräns entspricht es, nicht alles zu
verbieten und mit Strafe zu bedrohen, was Anlaß zu einem Verbrechen
sein könnte, denn „es ist unmöglich, die unruhvolle Tätigkeit der
Menschen in eine geometrische Ordnung bar der Unregelmäßigkeiten
und Verwirrung zu bringen" ( A l f f 149). Karl Ferdinand Hommel
(1722-1781) greift diesen Gedanken Beccarias zustimmend in seinem
Kommentar auf: „Das ist der Fehler unserer Policey Ordnungen, welche
den Menschen zu Maschinen machen wollen, die zu gesetzter Zeit
schlafen, bethen, essen und trinken sollen, wie man es in Schulen mit
den Kindern macht" (Hommel 217). Beccarias Forderungen nach weit-
gehender Entkriminalisierung bestimmter strafbarer Handlungen grün-
den auf seiner religionskritischen Unterscheidung der Einflußsphären
von Kirche und Staat, von staatlichem Gesetz und religiösen Verhaltens-
vorschriften sowie von „Staatsverbrechen" und „Religionsvergehen".
Voltaire liefert in seinem Kommentar zu Beccaria von 1766 die histori-
schen Belege für die unheilvollen Folgen der Vermischung von Staat und
Kirche: er klagt die Kirche an, sich der staatlichen Macht zu bedienen,
um ihre moralischen Uberzeugungen durchzusetzen, und er klagt den
Staat an, ungerechte und grausame Strafen für Vergehen zu verhängen,
die nicht seiner Jurisdiktion unterstehen. Beccarias Forderung, „Reli-
gionsvergehen" aus dem Strafrecht zu eliminieren, fällt in eine Zeit, in

5
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Kant
Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, 1968, S.239.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 55

der überall in Europa - wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und


Geschwindigkeit - ein Auseinanderbrechen von geistlicher und weltli-
cher Macht und ein Auseinanderdriften der Legitimationsgrundlagen
geistlicher und weltlicher Herrschaft zu beobachten sind. Das Schisma
der in Gesellschaft und Kirche geltenden Moralen wird manifest; die
Empörung über die von Voltaire vor der Weltöffentlichkeit angepran-
gerten Bluturteile speist sich aus dem längst zum Anachronismus gewor-
denen Verhältnis von Staat und Kirche. Verbrechensvorbeugung im
Sinne Beccarias setzt somit die Entkonfessionalisierung und Entideologi-
sierung des staatlichen Strafrechts und die weltanschauliche Neutralität
des Gesetzgebers voraus. Viele Handlungen, die bisher auf Grund
kirchlichen Rechts vom Staat unter Strafe gestellt waren, sind für
Beccaria „indifferente Handlungen", die nur „für schlechte Gesetze
Verbrechen heißen" (Alff 149). Alle Theokratien und totalitären Staaten
mit einer quasireligiösen Ideologie neigen dazu, ihre Untertanen einem
Recht zu unterwerfen, das ihnen keine Handlungsalternativen außer den
vorgeschriebenen bietet. Rousseau hatte zwei Jahre vor Beccaria im
„Emile" geschrieben: „Wenn es einen so erbärmlichen Staat in der Welt
gibt, in dem niemand leben kann, ohne verwerflich zu handeln, und in
dem die Bürger notwendigerweise Schurken werden müssen, dann soll
man doch nicht den Übeltäter hängen, sondern den, der ihn zwang, es
zu werden" 6 . Der sächsische Hofrat Hommel begrüßt mit protestanti-
scher Unbefangenheit und mit unverkennbarem Sarkasmus die Forde-
rungen Beccarias in seiner „Vorrede über Verbrechen und Strafen":
„Gottes Gerichte und menschliche Gerichte sind heterogene Dinge, und
so schwerlich, wie Wasser und Oel, miteinander zu vermischen, weil
ihre Bestandtheile und ihre Quellen verschiedentlich. Die Quelle, wor-
aus menschliche Strafgesetze fliesen, ist einzig und allein die Gröse des
Unheils, welches ein Verbrechen dem Nächsten oder der ganzen Repu-
blik verursachet. Wer dieses nicht wohl unterscheidet, der errichtet ein
Lehrgebäude, ähnlich dem, welches Horaz verlachet:
Fürwahr ein artig Bild! Es steht ein Menschenkopf
Auf eines Pferdes Hals: den diken Vogelkropf
Bedekt ein bunder Schmuk von farbigem Gefieder;
Hernach erbliket man verschiedner Thiere Glieder.
Von oben zeigt ein Weib ihr schönes Angesicht
Von unten wirds ein Fisch. Ihr Freunde lacht doch nicht!"7

3. Der Wille des „guten Gesetzgebers" als Repräsentanten der vertrag-


lich miteinander verbundenen Bürger äußert sich in einfachen und klaren

6 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Uber die Erziehung, in neuer deutscher Fassung
besorgt von Josef Esterhues, zweite Auflage, 1962, S. 208.
7 Hommel, S . X X I f ; siehe auch J.A. Bergks Kommentar Bd. 1, S.312.
56 Gerhard Deimling

Gesetzen. Nach Beccarias Ansicht hat der gute Gesetzgeber die Pflicht,
die Bürger des Staates anzuhalten, sich aktiv für die allgemeine Anerken-
nung des Gesetzes einzusetzen. Dadurch identifizieren sie sich leichter
mit „ihrem" Staat und geben ihrer gegenseitigen Verbundenheit durch
Steigerung des Verbindlichkeitsgrades ihrer Rechtsordnung Ausdruck.
Die Gesetze sind um so verbindlicher, je mehr sie jedem einzelnen
Bürger wegen ihrer Einfachheit und Klarheit als gerecht erscheinen. Sie
besitzen eigene Würde und Legitimität; ihre Verletzung m u ß jedem
Bürger als Frevel gelten. Indem der Einzelne erkennt, daß es moralisch
wertvoll ist, rechtlich korrekt zu handeln, wächst seine Bereitschaft, die
Gesetze nicht nur zu respektieren, sondern auch zu verteidigen. Die
Verteidigung der Gesetze durch die Bürger ist für Beccaria ein wirksa-
mes Prophylaktikum gegen deren latente Neigung, Verbrechen zu bege-
hen. An die Adresse des Souveräns gerichtet fordert er daher: „Ihr wollt
den Verbrechen vorbeugen? Dann sorget dafür, daß die Gesetze klar
und einfach sind, die ganze Macht der Nation sich auf ihre Verteidigung
konzentriert und kein Teil auf ihre Zerstörung verwendet wird" ( A l f f
149 f).

4. Der „gute Gesetzgeber" beugt den Verbrechen vor, indem er dafür


sorgt, daß die Gesetze keine Kollektive (Stände, Klassen), sondern das
menschliche Individuum begünstigen. Es entspricht Beccarias Auffas-
sung vom Gesellschaftsvertrag, daß das menschliche Individuum auch
nach dem partiellen Freiheitsverzicht im „pactum sociale" ein eigenstän-
diges Rechtssubjekt bleibt. Seine Rechte stützen sich nicht auf seine
Zugehörigkeit zu einem der privilegierten Stände, sondern auf seinen
persönlichen Entschluß, dem Kampf aller gegen alle zu entsagen und mit
den anderen Vertragspartnern in Frieden und Eintracht zusammenzule-
ben. In der freiwilligen Anerkennung der Gesetze durch das Individuum
findet der Selbstrespekt des Rechtssubjekts seinen angemessenen Aus-
druck. Die zwingende Macht des Gesetzes beruht darum nicht auf der
Macht eines einzelnen Potentaten oder einer privilegierten Klasse, son-
dern auf der selbst gewollten Bindung an den Gesellschaftsvertrag.
Beccaria glaubt, daß der Mensch, der sich dem Gesetz verpflichtet weiß,
unvernünftig handeln würde, wenn er es bräche: er gehorcht also nicht
aus Furcht vor Menschen, sondern aufgrund der Einsicht in die N o t -
wendigkeit einer von ihm selbst mitgestalteten sozialen Lebensordnung.
Beccaria appelliert deshalb an den Gesetzgeber: „Sorget dafür, daß die
Menschen die Gesetze, und sie allein, fürchten. Die Furcht vor dem
Gesetz ist heilsam, doch verhängnisvoll und trächtig von Verbrechen ist
die Furcht von Mensch zu Mensch. Geknechtete Menschen sind genuß-
süchtiger, ausschweifender, grausamer denn freie Menschen" ( A l f f 150).
Damit dieser Appell bei den Individuen Gehör findet, muß der Souverän
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 57

allerdings gewisse Vorkehrungen treffen, die Beccaria an anderer Stelle


(s. u.) erläutert.
5. Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit der Gesetze verursachen je
nach Staatsverfassung und geographisch-klimatischer Lage der Nation
unterschiedliche Wirkungen in bezug auf Art und Häufigkeit der Ver-
brechen. Wie sehr Beccaria auch an dieser Stelle unter dem Einfluß
Montesquieus steht, wird deutlich, wenn man zum Vergleich das
14. Buch „Vom Geist der Gesetze" heranzieht. Montesquieu formuliert
seinen Grundgedanken wie folgt: „Wenn wirklich die Geisteshaltung
und die Leidenschaften des Herzens unter andersartigem Klima äußerst
unterschiedlich sind, müssen die Gesetze sowohl dem Unterschied
dieser Leidenschaften als auch dem Unterschied dieser Haltungen ent-
sprechen" 8 . Die folgenden Bemerkungen Beccarias sind nur unter der
Voraussetzung der Kenntnis der für die Sozialphilosophie des 18. und
19. Jahrhunderts folgenreichen Gedanken Montesquieus verständlich.
Adolphe Quétélet (1796-1854) hat diesen Gedanken in seiner „Physique
sociale" (1835) ebenso wie einige Moralstatistiker des 19. Jahrhunderts
aufgegriffen und das Klima hypothetisch als einen variablen Faktor in
die kriminalätiologische Forschung aufgenommen. Erst Emile Durk-
heim (1858-1917) hat später im „Suicide" (1897) die wissenschaftliche
Unhaltbarkeit dieser für lange Zeit populären Auffassung - zumindest in
Bezug auf den Selbstmord - nachgewiesen'. Für Beccaria jedenfalls stand
außer Frage, daß unklare und unzuverlässige Gesetze je nach Klima und
Nationalcharakter in der einen Nation Trägheit und Dummheit, in einer
anderen Ränke, Intrigen, Verrat und Heuchelei begünstigen. N u r eine
„kühne und starke Nation" vermag die Unzuverlässigkeit der Gesetze
zu beseitigen, muß aber „zunächst viele Schwankungen von der Freiheit
zur Knechtschaft und von der Knechtschaft zur Freiheit" in Kauf
nehmen (Alff 150). Beccaria schien mit Montesquieu darin überein zu
stimmen, daß auch außersoziale Faktoren die Chancen der Kriminal-
prävention beeinflussen können.
6. Die Verbreitung von Aufklärung und Freiheit ist ein wirksames
Mittel der Verbrechensvorbeugung. Aufklärung bedeutet für Beccaria in
der philosophischen Tradition Francis Bacons (1561-1626)10 und in
Ubereinstimmung mit den französischen Enzyklopädisten in erster

8
Montesquieu, a. a. O . S. 255.
9
Emile Durkheim, Der Selbstmord. Mit einer Einleitung von Klaus Dörner und einem
Nachwort von René König, 1973, S. 100-123.
10
Das seinem Buch vorangestellte Motto stammt von Francis Bacon und lautet über-
setzt: „Gerade bei den schwierigsten Unternehmungen darf man nicht erwarten, daß einer
zugleich säe und ernte, sondern es bedarf der Vorbereitung, damit sie allmählich heran-
reifen".
58 Gerhard Deimling

Linie Vermittlung von empirischem Wissen über naturwissenschaftliche,


politische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Aufklärung,
wie er sie versteht, ist politische Bildung, die z u m Feldzug gegen die
„verleumderische Unwissenheit", gegen Betrug, Aberglauben und illegi-
time Herrschaft antritt. J e mehr sich das Wissen ausbreitet, desto mehr
verschwinden nach Beccarias Ansicht die gesellschaftlichen Übel, und
das Gute gewinnt Oberhand. Für ihn besteht ein direkter Kausalzusam-
menhang zwischen Wissen und Moral: nur der Unwissende ist anfällig
für Verführung und Blendwerk, der Wissende dagegen handelt sittlich
gut aus Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge des sozialen und
politischen Lebens. Z u diesem Wissen gehört auch die Kenntnis der
Rechtsordnung und das Vermögen, zwischen dem v o m Despoten
gewaltsam oktroyierten Unrecht und dem durch den Gesellschaftsver-
trag geschaffenen Recht zu unterscheiden. Aufklärung durch Wissen
befreit von der „ihrer Vernunftgründe entkleideten Autorität" {Alff 151)
und hilft zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung. Sie fördert die
Kritikfähigkeit und Mündigkeit des Individuums und dient damit
unmittelbar der Vorbeugung von Unfreiheit als dem eigentlichen N ä h r -
boden aller Verbrechen.
7. Verbrechensvorbeugung ist nur möglich, wenn sich die Wissenschaf-
ten frei entfalten können. Gute Gesetze haben den Zweck, die Wissen-
schaften zu fördern und dadurch die Zahl der aufgeklärten und freien
Menschen zu vermehren. Beccaria sieht sich aus einem im Text nicht
näher angegebenen G r u n d e offensichtlich zu einer Apologie der Wissen-
schaften genötigt, wenn er schreibt: „ E s ist nicht wahr, daß die Wissen-
schaften stets für die Menschheit schädlich gewesen sind, und wenn
sie es waren, so war es ein für die Menschen unvermeidbares Ü b e l "
(Alff 151). Lange vor Auguste Comtes (1798-1857) Drei-Stadien-Gesetz
entwickelte er z u m Zwecke der Verteidigung der Wissenschaft eine
rudimentäre geschichtsphilosophisch-wissenssoziologische Phasentheo-
rie wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts: dieser beginnt nach einem
lang andauernden Urzustand der Ungeselligkeit der Menschen in dem
Augenblick, in dem „Wohltäter der Menschen" andere Menschen „ z u m
Staunen zu bringen wagten und die gefügige Unwissenheit zu den
Altären führten" ( A l f f 152). Erst die durch Staunen und Wißbegier
entfachten Leidenschaften machten aus wilden Völkern Nationen, das
Streben nach Wissen war das einigende Band der Menschen. Wissen-
schaft und Gesellschaft entstanden z u m gleichen Zeitpunkt; erst durch
Wissenschaft kam die Gesellschaft zu ihrem Bewußtsein 11 . D a s erste
11 Die Furcht Beccarias vor der Zensur veranlaßte ihn vermutlich zu folgender
Bemerkung: „Ich spreche nicht von jenem durch Gott erwählten Volke, für das die
außergewöhnlichsten Wunder und die offensichtlichsten Gnaden die Stelle menschlicher
Politik einnahmen" ( A l f f 152).
Kriminalprävention und Sozialkritik im W e r k Beccarias 59

Stadium der Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung war allerdings


- verglichen mit dem fiktiven Urzustand - durch Fanatismus, Verblen-
dung und Irrtum der Menschen gekennzeichnet. Alle Übel dieser Epo-
che waren aber auf dem Wege der Menschheit von der „Finsternis der
Unwissenheit zum Lichte der Philosophie und von der Tyrannei zur
Freiheit" ( A l f f 153) unvermeidlich. „Die zweite Epoche besteht in dem
schwierigen und furchtbaren Ubergang von den Irrtümern zur Wahr-
heit, von der Finsternis, deren man sich nicht bewußt ist, zum Lichte"
(Alff 152). „Furchtbar" war dieser Übergang, weil die Erkenntnis lieb
gewordener Irrtümer sowohl für die Mächtigen als auch für die Schwa-
chen schmerzlich war. Während dieser drangvollen Periode der begin-
nenden Aufklärung setzt die „Entzauberung der Welt durch Wissen-
schaft" (Max Weber) ein: wenn auch - wie Beccaria meint - die neuen
Erkenntnisse manche Beschwerden bereiten mögen, so sind sie doch
nicht schädlich, sondern dem Gemeinwesen wie dem Individuum außer-
ordentlich nützlich. „Der aufgeklärte Mensch (ist) das kostbarste
Geschenk, das der Nation und sich selber ein Fürst machen kann, der
ihn zum Verwalter und Hüter der unverletzlichen Gesetze bestellt"
(Alff 153). Die Förderung der Wissenschaften durch den Souverän wird
darum zu einem indirekt wirkenden Mittel der Verbrechensvorbeugung,
weil sich der durch die Wissenschaften aufgeklärte Mensch nach der
Wahrheit sehnt und sie nicht fürchtet; weil er frei ist vom Diktat
vermeintlicher Bedürfnisse, asketische Selbstzucht übt und die eigene
Nation als „eine Familie brüderlicher Menschen" betrachtet, zwischen
denen der vertikale soziale Abstand um so geringer wird, „je größer die
Masse der Menschheit ist, die ihm vor Augen steht" (Alff 154).
Hommel hatte Beccarias Apologie der Wissenschaften zum Anlaß
genommen, einen eigenen Beitrag zur Entmythologisierung der Religio-
nen zu leisten, auf deren Konto nach seiner Ansicht in der Vergangen-
heit viele Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten gehen. Er geht in seiner
Religionskritik allerdings über Beccaria hinaus und erkennt, daß der
Mensch „wegen der ihm beywohnenden Furcht ein abergläubisches
Thier ist" (Hommel 220) und die vielen Religionen nichts anderes als
veränderliche Derivationen des konstanten Residuums menschlicher
Furcht sind. Er empfiehlt daher, sich dieser „Schwachheit" des Men-
schen mittels einer List zu bedienen, um die Tugend zu fördern und den
Menschen zur Rechtschaffenheit zu führen. Johann Adam Bergk
(1769-1834) pflichtet in seinen Anmerkungen (Bergk 316 f) ebenfalls
Beccaria bei, unterstreicht aber besonders den Nutzen der Wissenschaft,
demgegenüber die geringeren Übel, die die Aufklärung mit sich bringt,
bedeutungslos sind.

8. Die Reform der Gerichtsverfassung ist ein weiteres unverzichtbares


60 Gerhard Deimling

Mittel der Verbrechensvorbeugung. Beccarias Empfehlungen zur Re-


organisation des „zum Vollzug der Gesetze berufenen Kollegiums"
{Alff 154) sind allerdings sehr unpräzise. Erst sein jüngerer Zeitgenosse
Gaetano Filangieri (1752-1788) hat in seinem „System der Gesetzge-
bung" (1784 ff) die Neuordnung des Gerichtsverfahrens ausführlich
dargelegt und begründet. Er erkannte - ähnlich wie Beccaria - als
Haupthindernis für eine durchgreifende Reform die „feudale Gerichts-
barkeit", die einer Verbesserung des Strafverfahrens im Wege steht.
Beccaria beschränkt sich lediglich auf die Forderung, die Zahl der
Mitglieder eines Richterkollegiums zu erhöhen, weil nach seiner Ansicht
die größere Zahl der an einem Verfahren beteiligten Richter die Gefahr
der „Anmaßung gegenüber dem Gesetz" verringert und „weil Beste-
chung schwieriger ist bei Mitgliedern, die sich gegenseitig beobachten"
(Alff 154). Außerdem vermag nach seiner Ansicht die Furcht des Bürgers
vor dem „Gepränge und Pomp" des Souveräns und seiner Gerichtsbe-
hörden die Ehrfurcht des Bürgers vor dem Gesetz nicht zu befördern.
9. Die „Belohnung der Tugend" ist für Beccaria ein zu selten angewand-
tes Mittel zur Vorbeugung gegen das Verbrechen. Er vertrat offensicht-
lich wie viele seiner Zeitgenossen eine deterministische Auffassung vom
menschlichen Willen, wonach menschliches Handeln nicht nur durch
negative, sondern auch durch positive Sanktionen gelenkt werden kann.
Tugendhaftes Handeln geschieht dann aber nicht um innerer Pflicht des
Handelnden, sondern um der in Aussicht gestellten Belohnung willen.
Die „von der wohltätigen Hand des Fürsten verliehenen Preise" sind für
Beccaria jedoch wirkungsvolle Anreize von höchster kriminalpräventi-
ver Relevanz. Man hat später versucht, diesen Ansatz Beccarias -
allerdings ohne sich auf ihn zu berufen - in der Kriminalpädagogik, in
der Verhaltenstherapie und in der psychologischen Verhaltensforschung
zu nutzen. Elizabeth Fry wandte Belohnungen als pädagogisches Mittel
im Frauenstrafvollzug im New Gate Prison in London an; bekannt ist
auch das „Markensystem" des Engländers Alexander Maconochie
(1787-1860), der es bei Deportierten auf einer Sträflingsinsel Tasmaniens
erfolgreich anwandte12.
Der von der Kant'schen Pflichtethik beeinflußte Johann Adam Bergk
äußerte sich als erster kritisch zu Beccarias Vorschlag: „Die Tugend darf
nie belohnt werden, wenn sie nicht ihren eigenthümlichen Charakter
und ihre innere Würde verlieren soll. Ihr Charakter ist Uneigennützig-
keit und ihre Würde ist ohne allen Preiß. Tugendhafte Handlungen sind
eine Gewissenspflicht und warum soll das bezahlt werden, was die
Pflicht des Menschen an und für sich fördert? Man erzeige der Tugend

12 Siehe hierzu: John Vincent Barry, Alexander Maconochie, Melbourne 1958.


Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 61

nur die gehörige Achtung (die innere kann ihr kein Sterblicher verwei-
gern) und trete tugendhafte Männer nicht zu Staub, dann wird schon die
Tugend triumphieren" (Bergk 322). Hommel dagegen stimmt Beccaria
ohne Einschränkung zu und führt als Beleg für die Richtigkeit seiner
Auffassung ein allerdings weit hergeholtes Beispiel13 für die Belohnung
der Keuschheit an, die nachhaltigere Wirkungen hervorgebracht habe als
die infamierenden „Hurenstrafen" seiner Zeit. Bedauernd bemerkt er
jedoch: „Belohnungen würden mehr ausrichten, aber sie kosten Geld"
(Hommel 230).
10. Das sicherste, aber zugleich auch schwierigste Mittel der Verbre-
chensvorbeugung ist nach Beccarias Ansicht schließlich die Vervoll-
kommnung der Erziehung. Ebenso wie innerhalb eines Staates zwischen
der Art der Strafen und der Art der Regierung eine nahe Verwandtschaft
besteht, so besteht eine solche auch zwischen der Erziehung und der
„Natur der Regierung" ( A l f f 155). Die wechselseitige Abhängigkeit von
Politik und Erziehung, von Politik und Strafrechtspflege sowie von
Strafrechtspflege und Erziehung liegt für Beccaria auf der Hand. Er steht
auch hinsichtlich seiner hohen Einschätzung des erzieherischen Einflus-
ses auf den gesellschaftlichen und staatlichen Zustand in der geistesge-
schichtlichen Tradition Montesquieus, der im IV. Buch „Vom Geist der
Gesetze" 14 die unterschiedlichen Erziehungsprinzipien behandelt, die
der Despotie, der Monarchie und der Republik zugrundeliegen. Eine
despotische Regierung kommt - um sich selbst zu erhalten - nicht
umhin, zu blindem Gehorsam zu erziehen: sie muß die Unwissenheit
der Gehorchenden erhalten und weiß ihre Untertanen nur mittels Ter-
rors zu bändigen. Die Monarchie legt Wert auf die Erziehung des
„honnete homme", dem Galanterie, Ränke und List, Augendienerei,
Höflichkeit, Hochmut und Erlesenheit des Geschmacks als Zeichen
seiner Anpassung an die höfischen Sitten dienen. Der Entzug der Ehre
als dem höchsten Wert ist ihre spezifische Sanktion; der Verlust der Ehre
wird mehr gefürchtet als der Verlust des Lebens. Die Republik schließ-
lich erzieht ihre Bürger zur „politischen Tugend", sie fordert die „Liebe
zu den Gesetzen und zum Vaterland"15 und verhängt im äußersten Fall,
wenn präventive Mittel nicht mehr ausreichen, nur solche Strafen, die
auf Gesetzen beruhen und dem Schweregrad des Verbrechens entspre-
chen. Strafen dieser Art sind für Beccaria „politische Hemmungen"

13 Es bezieht sich auf das Rosenfest des französischen Bischofs Medardus von Noyon
(gestorben vor 561), auf dem alljährlich ein Mädchen mit tadellosem Lebenswandel geehrt
und mit einer ansehnlichen Aussteuer bedacht wurde.
14
Montesquieu, a.a.O., S. 130-137.
15
Montesquieu, a.a.O., S. 136.
62 Gerhard Deimling

{Alff 61), die die zerstörerischen Kräfte des Menschen zügeln und in eine
Richtung lenken sollen, die der Gesellschaft nützlich ist.
Beccaria führt diesen Gedanken Montesquieus über die wechselseitige
Bedingtheit und Abhängigkeit von Politik und Erziehung in seinem
Werk - wohl aus Furcht vor der Zensur-und vor Repressalien16 - nicht
weiter aus, sondern begnügt sich mit Andeutungen, die keinen Zweifel
daran lassen, welcher Regierungsform und welcher Art von Erziehung
er den Vorzug gibt. Ungenannt bleibt auch der Name des „großen
Mannes", „welcher die Menschheit aufklärt, die ihn verfolgt"17. Zweifel-
los hatte Beccaria Jean Jacques Rousseau im Sinn, dessen Werk „Emile,
ou de l'éducation" (1762) unmittelbar nach seinem Erscheinen vom
Obersten Gerichtshof in Frankreich und vom Erzbischof von Paris
sowie am 6. Oktober 1763 in Rom verurteilt und auf den Index librorum
prohibitorum gesetzt worden war. Beccaria erhoffte sich von der Ver-
breitung und Anwendung der Rousseau 'sehen Pädagogik eine kriminal-
präventive Wirkung auf die heranwachsende Jugend, indem sie sie „auf
dem leichten Wege des Gefühls zur Tugend zu ermuntern und auf dem
nicht zu verfehlenden Wege der Einsicht in die Notwendigkeit und die
unangenehmen Folgen vom Bösen abzulenken" vermag ( A l f f 156).
Das Hauptmittel der von Beccaria so gepriesenen „wahrhaft nützli-
chen Erziehung" ist der Unterricht, wie ihn Rousseau am Beispiel der
Erziehung und des Unterrichts Emils vorstellt: der Heranwachsende soll
eigene Erfahrungen im Umgang mit der Welt machen und keinen
anderen Lehrer als die Natur in ihrer unverfälschten Ursprünglichkeit
haben18. Er soll „die Wissenschaft nicht lernen, sondern selbst finden" 1 '.
Bei seinen Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit muß er sich von
seinen Sinnen leiten lassen; „kein anderes Buch als die Welt und kein
anderer Unterricht als der durch die Tatsachen"20 kann ihn wirklich
bilden: „Die Sachen! Die Sachen! Ich kann es nicht genug wiederholen,
daß wir den Worten zu viel Bedeutung beimessen. Mit unserer schwatz-
haften Erziehungsmethode erziehen wir nur Schwätzer"21. Der neue

" Esselborn zitiert ( S . 2 0 ) einen Brief Beccarias an seinen französischen Übersetzer


Morellet, der ihm die „Dunkelheit des Ausdrucks" an einigen Stellen seines Werks
vorgehalten hatte. E r gibt darin zu verstehen, welches seine persönlichen Gründe waren,
die es ihm angeraten erscheinen ließen, vorsichtig zu sein: „Ich habe die Wahrheit
verteidigen wollen, ohne ihr Märtyrer zu werden."
17 Alff 155. In den ersten deutschsprachigen Ubersetzungen sowohl aus dem Italieni-
schen als auch aus dem Französischen fehlt der Hinweis auf den Verfasser des „Emile" ; erst
in der Ausgabe Bergks von 1798 k o m m t der N a m e Jean-Jacques Rousseau vor ( B e r g k 323).
18 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, a. a. O . , S. 144.
" Rousseau, a . a . O . , S. 175.
20 Rousseau, a . a . O . , S. 175.
21 Rousseau, a . a . O . , S. 190.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 63

Mensch, wie ihn Rousseau und Beccaria als tugendhaften Bürger einer
künftigen republikanischen Gesellschaft sehen, hat sich von den Irrtü-
mern und Vorurteilen der Überlieferung befreit: „Er ist nicht durch die
Menschen, sondern durch die Natur gebildet"22, er hat die „Nachah-
mungen durch die Urbilder sowohl der moralischen als auch der Natur-
erscheinungen" 23 ( A l f f 155) ersetzt. Er handelt aus Freiheit in Uberein-
stimmung mit den Gesetzen und bedarf zu seiner rechtlich korrekten
Lebensführung nicht mehr der Strafdrohung des Staates. Beccaria plä-
diert in kriminalpräventiver Absicht für eine Art „Curriculum-Reform":
„Der Unterricht hat weniger in einer unfruchtbaren Menge von Gegen-
ständen zu bestehen als in der Auswahl und Genauigkeit derselben"
(Alff 155). Seine Empfehlungen zur Verbrechensprophylaxe durch
Erziehung und Unterricht zielen primär auf das Erlernen antikrimineller
Verhaltensmuster (E.H. Sutherland) durch den unbescholtenen Bürger
ab. Sie können jedoch sekundär auch als Maxime der „Erziehung des
Rechtsbrechers" durch organisierten Gefängnisunterricht als Mittel der
Rückfallprophylaxe verstanden werden25.

II. Beccarias Auffassungen vom Wesen des Verbrechens


Die Empfehlungen Beccarias zur Kriminalprävention beruhen freilich
nicht auf einer expliziten Verbrechenstheorie; Ansätze zu einer empi-
risch-methodischen Erforschung der Verbrechensursachen sind in sei-
nem Werk noch nicht erkennbar. Ihm geht es in erster Linie um die
Beseitigung der grausamen Strafen, der Folter und der Strafwillkür der
Gerichte. Seine Klassifikation der Verbrechen (Alff 65 ff) orientiert sich
deshalb nicht an den individuellen Motiven des Straftäters, nicht an
dessen psychischen und sozialen Merkmalen und differenziert nicht
nach dessen Alter und Geschlecht; die Art der Delikte und die Rückfall-
häufigkeit bestimmter Delinquenten spielen noch keine Rolle. Seinen
kriminalanthropologischen Vorstellungen liegt das abstrakte Bild des
alters- und geschlechtslosen, mit Sinnlichkeit und Vernunft ausgestatte-
ten menschlichen Wesens zugrunde. Seine Einteilung der Verbrechen
und Strafen richtet sich ausschließlich nach dem Maßstab des Schadens,
der der Gesellschaft durch ein Verbrechen zugefügt wird (Alff 65). Das
größte Verbrechen stellt für ihn der Anschlag „auf die Sicherheit und
Freiheit der Bürger" dar (Alff 68). Ein solches Verbrechen begeht, wer
durch sein Handeln den Gesellschaftsvertrag und damit die Legitima-
tionsbasis des Staates außer Kraft zu setzen versucht. Für diesen beson-

22
Rousseau, a. a. O., S. 284.
25
Siehe hierzu: Thomas Würtenberger, Cesare Beccaria (1738-1794) und sein Buch
„Verbrechen und Strafen" (1764) in: Zeitschrift für Strafvollzug, 1964, S. 127-134.
64 Gerhard Deimling

deren Fall hält Beccaria auch die Todesstrafe als den „rechten und
einzigen Zügel" für zulässig, „um die anderen von der Begehung des
Verbrechens abzuhalten" ( A l f f 111). Im übrigen jedoch soll der Bürger
wissen, „daß er alles tun kann, was dem Gesetz nicht entgegen ist, ohne
eine andere Mißhelligkeit zu befürchten als die aus der Handlung selber
möglicherweise hervorgehende; dieses Wissen ist der politische Lehr-
satz, auf den die Völker sich stützen und der von den höchsten Behörden
unter untadeliger Wahrung des Gesetzes verkündigt werden sollte: ein
unantastbarer Lehrsatz, ohne den es keine legitime Gesellschaft geben
kann" {Alff 67)24.
Beccarias Vorstellungen über Verbrechen und Strafen beruhen ebenso
wie seine Auffassungen zur Verbrechensvorbeugung auf seiner politi-
schen Philosophie von Staat und Gesellschaft und sind daher nur mittel-
bar von kriminologischer Relevanz. Seine erst in Ansätzen erkennbare
Verbrechenstheorie ist faktisch eine verschlüsselte Kritik der Macht- und
Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit. Sein weitreichendes Programm der
politischen und gesellschaftlichen Reform erscheint aus Gründen der
Umgehung der Zensur im weniger anstößigen Gewand der „menschen-
freundlichen" Verbrechensvorbeugung, gegen das auch seine schärfsten
Kritiker keine Argumente vorzubringen wissen. Dabei hat er nicht den
Straftäter, sondern den Inhaber der staatlichen Macht, nicht das vor
Straffälligkeit zu bewahrende Individuum, sondern den zur Verwirkli-
chung des „größten Glücks für die größte Zahl" verantwortlichen
Gesetzgeber im Visier. Verbrechen sind ein im Prinzip vermeidbares
Unglück sowohl für den Täter als auch für das Opfer und für die
Allgemeinheit. Beccaria sieht die Ursachen für dieses Unglück erstens in
einer schlechten, d.h. unvernünftigen, unaufgeklärten Gesetzgebung,
die die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie
zu vermindern, die widersprüchliche, unklare und unzuverlässige
Gesetze produziert, die die unveräußerlichen Rechte des Individuums
mißachtet und die Furcht zwischen den Menschen steigert. Eine weitere
Ursache dieses Unglücks ist die korrupte Rechtsprechung, die Unkon-
trollierbarkeit der Gerichtsverfahren, das Denunziantentum bei gehei-
men Anklagen und die Käuflichkeit der Richter. Die dritte Quelle des
Unglücks ist schließlich das völlige Fehlen oder die unentschuldbare
Vernachlässigung der Aufklärung aller Bürger durch Erziehung, Unter-
richt und Wissenschaft. Der Staat, dessen Souverän die Quellen des
Verbrechens nicht verstopft, ist daher selbst Urheber des Verbrechens;
man kann niemanden als ihn selbst für dieses Unglück verantwortlich

24 Beccaria folgt auch hier der Auffassung Rousseaus, daß eine Strafe immer als
„natürliche Folge böser Handlungen" empfunden werden muß. Siehe hierzu Rousseau,
a . a . O . , S.90.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 65

machen. Eine erfolgreiche Verbrechensprophylaxe erfordert deshalb auf


der Grundlage seiner kriminalätiologischen Einsichten die radikale Ver-
änderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die
Umwandlung der Despotie in eine Republik. Von Beccarias Werk,
fünfundzwanzig Jahre vor dem Sturm auf die Bastille veröffentlicht,
gingen zweifellos starke Impulse zur Förderung sozialkritischer Doktri-
nen bis in die Gegenwart aus: radikale Gesellschaftsveränderung ist
seitdem ein in immer neuen Variationen favorisiertes Programm der
Kriminalprävention, dessen Realisierungsversuche der systematischen
und kritischen Erforschung bis heute noch nicht unterzogen worden
sind.

III. Repression oder Vorbeugung - Eine Alternative?


Beccarias Vorschläge zur Kriminalprävention bleiben trotz der
Abstraktheit ihrer Formulierungen und trotz des geringen Praxisbezugs
ein wichtiges Dokument der gesellschafts- und kriminalpolitischen
Neuorientierungen jener Epoche des politischen und sozialen Umbruchs
und Wertwandels im ausgehenden 18. Jahrhundert. Der appellative Cha-
rakter seiner Schrift, die feierliche Sprache und die „rhapsodische"
Gedankenführung haben seine Zeitgenossen und viele Nachgeborenen
bis in unsere Gegenwart in einen unwiderstehlichen Bann geschlagen,
obwohl es auch nicht an einzelnen kritischen Stimmen gefehlt hat, die
gerade vor der ambivalenten Wirkung seiner rhetorisch-effektvollen,
apodiktischen Erklärungen gewarnt haben25. Beccaria war wie viele
seiner philosophischen Zeitgenossen vom alles durchdringenden Geist
der Aufklärung geprägt. Er erhob im Namen der Ideale der Menschlich-
keit, der Freiheit und der Toleranz seine Stimme gegen die Unmensch-
lichkeit und Barbarei der staatlichen Strafen. Von ihm gingen zahlreiche
Anregungen zum Entwurf einer rationalen Kriminalpolitik im Sinne
einer durchgreifenden Rechts-, Sozial- und Kulturreform in ganz
Europa aus. Schon zu seinen Lebzeiten wurde sein Werk von Hommel
mit einem gewissen Recht als „unsterblich" bezeichnet. Seine kriminal-
präventiven Forderungen sind als das eigentliche Ergebnis einer kriti-
schen Analyse der gesamten Strafrechtspflege seiner Zeit anzusehen. Die
staatliche Strafe hatte für ihn in einem zukünftigen republikanischen

25 Schon in der ersten deutschen Rezension seines 1764 in „Monaco" (Livorno) anonym

erschienenen Werks wird auf diesen Sachverhalt hingewiesen: „Der Verfasser ist ein
scharfsinniger Mann, der den Vortrag und die Sprache in seiner Macht hat" (Göttingische
Anzeigen von gelehrten Sachen, viertes Stück, 9. Januar 1766, S.22). Ein anderer Rezen-
sent hebt 16 Jahre später ebenfalls die „feyerliche Sprache" und den „feyerlichen Perioden-
gang" des „rhapsodischen Werkchens" hervor (Johann Heinrich Christian von Selchow,
Juristische Bibliothek, Göttingen 1780, S. 633 f).
66 Gerhard Deimling

Staat nur noch als allerletztes Mittel eine Berechtigung, das sich eines
Tages von selbst überflüssig macht. Er hat mit seiner Abhandlung eine
der großen, zu immer neuen Spekulationen anregenden Utopien ent-
worfen, deren Realisierung aber trotz immer neuer Anläufe bis heute
noch aussteht und vermutlich immer wieder an der „ärgerlichen Tatsa-
che" scheitern wird, daß der Mensch nicht nur ein vernunftgeleitetes
Wesen ist, das sich aus Einsicht in die Notwendigkeit selbst den gelten-
den Gesetzen der Vernunft unterwirft.
In einer Laienpredigt „Über das Gesetz" hat Hilde Kaufmann eine
ganz andere Dimension des Rechts aufgezeigt, die Beccaria nicht oder
nicht mehr erkennen konnte, weil ihm durch das menschenverachtende
Handeln der damaligen Amtskirche im absolutistischen Staat der Blick
dafür verstellt war: „Erst die Liebe macht den eigentlichen Kern der
Gesetze aus, so sehr, daß nach manchen Stellen des Neuen Testaments
das Gesetz als überflüssig erscheint, nicht, weil es außer Kraft gesetzt
wäre, sondern weil es durch die Liebe in einer viel tieferen, volleren
Weise erfüllt werden soll und weil man auf die einzelnen gesetzlichen
Formulierungen verzichten könnte. Das aber ist der Sinn des paulini-
schen Satzes, daß alle Gesetze zusammengefaßt seien in dem einen
Gebot der Liebe"26.
Die Reform des Strafvollzugs ist in den vergangenen Jahrhunderten
manche verschlungenen und dunklen Wege gegangen: zweifellos haben
unbestechliche Beobachter und Analytiker des bestehenden Strafsystems
vom Schlage Beccarias einen entscheidenden Anteil an der Humanisie-
rung des Strafrechts und an der schrittweisen Substitution der Strafe
durch präventive Maßnahmen im Vorfeld der Kriminalität gehabt, aber
die unmittelbare Hilfe für den Rechtsbrecher in seiner konkreten Not-
lage ging stets von solchen Menschen aus, die das christliche Liebesgebot
allen anderen Gesetzen überordneten und sich anschickten, die „Utopie
der Liebe" unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu verwirklichen. So
verhielt es sich bei Bischof Ridley, als er 1551 nach einer Predigt in
Westminster bei Edward VI. von England für eine Milderung der
grausamen Bestrafung von Straftätern und für deren Erziehung in Bride-
well eintrat27, als sich Friedrich von Spee als Seelsorger der zum Tode
Verurteilten mit seiner Cautio Criminalis von 1631 gegen Hexenwahn
und Hexenprozesse wandte, als John Howard die englischen und kon-

Hilde Kaufmann,
26 Predigten eines Laien, 1974, S. 86.
Grafton's
27 Chronicle; Or, History of England to which is added his table of the
Bailiffs, Sheriffs and Mayors, of the City of London. From the year 1189, to 1558,
inclusive. In two volumes, Vol. 1-2, London 1809, S. 529 ff.
Kriminalprävention und Sozialkritik im Werk Beccarias 67

tinentaleuropäischen Gefängnisse, Kerker und Pesthäuser aufsuchte, als


Elizabeth Fry 1814 begann, gemeinsam mit anderen Frauen das Los der
weiblichen Gefangenen im Londoner Gefängnis N e w Gate zu lindern,
als Theodor Fliedner 1825 seine erste Predigt im Düsseldorfer Arresthaus
hielt und in den folgenden Jahren gemeinsam mit Gleichgesinnten die
erste Gefängnisgesellschaft in Deutschland gründete. Unter dem christli-
chen Liebesgebot standen auch Johann Hinrich Wichern und Mathilda
Wrede, von der die folgenden Sätze überliefert sind, die sie auf dem
Petersburger Gefängniskongreß im Juni 1890 im Rahmen einer Diskus-
sion über „unverbesserliche Verbrecher" gesprochen hat: „Meine Her-
ren! Es gibt ein Mittel, das jeden Rechtsbrecher, auch den sogenannten
unverbesserlichen, moralisch ändern kann. Das ist die Kraft Gottes. Die
Gesetze und die Gefängnissysteme können nicht das Herz eines einzigen
Strffälligen verändern, aber Gott kann es. Ich bin überzeugt, daß man
sich intensiver und vor allem anderen mit der Seele der Gefangenen und
ihrem geistlichen Leben befassen sollte" 28 .
Die Reform der Strafrechtspflege und die Versuche zur Verbrechens-
vorbeugung mit sozialpolitischen Mitteln beruht seit mehr als 400 Jahren
auf diesen beiden Traditionslinien der wissenschaftlichen Erforschung
und kritischen Durchdringung der empirischen Wirklichkeit von Ver-
brechen und Strafen einerseits und des unmittelbaren karitativen Sama-
riterdienstes an denen, die verschuldet oder unverschuldet in eine akute
Notlage geraten sind. Beide konkurrierenden Linien ergänzen sich,
keine von beiden kann die jeweils andere ersetzen, ohne die Erreichung
der gesteckten Ziele zu verfehlen. N u r selten vereinigen sich beide
Linien in einer Person. W o sie sich aber jemals miteinander verbanden,
da folgte aus dem Denken das Tun, und das Tun führte wieder zurück
zur kritischen, wissenschaftlichen Reflexion. Hilde Kaufmann war es
vergönnt, Lehre und Leben so miteinander zu verbinden, daß Wissen-
schaft und christlicher Glaube, ein kritisch-analytischer Geist und tiefe
Frömmigkeit zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Diese seltene
Konstellation erlaubte ihr die völlige Hingabe an die Wissenschaft, ohne
dabei den Nächsten mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten als
Gottes Geschöpf aus den Augen zu verlieren und sich ganz dem
Glauben zu öffnen, ohne aufzuhören, mit den Mitteln der Wissenschaft
die Wahrheit zu suchen. So behielt sie ihren nüchternen, weltzugewand-
ten Optimismus und ihre grundsätzliche Skepsis gegenüber allen inner-
weltlichen Heilslehren, auch wenn sie im Gewände der Wissenschaft
auftraten.

28 Zitiert nach: Albert Krebs, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit

der Aufklärung. Herausgegeben von Heinz Müller-Dietz, 1978, S. 172.


68 Gerhard Deimling

In bezug auf die im Verlaufe der beiden letzten Jahrhunderte seit


Beccaria immer wieder auftauchende Frage, ob eine gute Verbrechens-
vorbeugung nicht die Verhängung und den Vollzug der Strafe überflüs-
sig machen könnte, hat sie in ihrem eingangs erwähnten Vortrag von
1973 ausgeführt: „Ein einfaches Ersetzen der Repression durch eine
Prophylaxe (...) stellt eine jener Utopien dar, die niemals gelingen
werden, solange Menschen bleiben, was sie sind, nämlich Wesen, die
u. a. auch die Tendenz haben, Normen zu brechen" 29 .

29
Hilde Kaufmann, a.a.O., S.29.
Kriminalpolitik und Strafrecht

JUAN BUSTOS RAMÍREZ

I.
Die ganze Entwicklung des Problems der Strafe und die Diskussion
darüber wird innerhalb der Lehre zwischen zwei extremen Positionen
erörtert: dem Utilitarismus der Straftheorien, d.h. der General- und
Spezialprävention, und der mangelnden Zweckmäßigkeit, also den soge-
nannten absoluten Theorien. Die einen sind nur an der Effektivität
interessiert, die anderen allein an der Gerechtigkeit. Eine kriminalpoliti-
sche Definition hat aber notwendigerweise die Spannung zu berücksich-
tigen, die zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es wäre jedoch
verkehrt, eine eklektische Position einzunehmen, denn wenn auch die
positiven Aspekte bestimmter Theorien aufgegriffen würden, so würden
doch auch die negativen Aspekte miteinbezogen, was letztendlich zu der
Errichtung eines in sich selbst widersprüchlichen Systems führen
würde 1 . Auch der Versuch, einer bestimmten Position (positive General-
prävention, demokratische Spezialprävention) Grenzen zu setzen,
scheint keine Lösung zu sein, denn dadurch würden die negativen
Auswirkungen nur eingeschränkt, aber nicht beseitigt; deshalb verletzen
die General- wie die Spezialprävention immer das Prinzip der Verant-
wortlichkeit für die begangene Tat 2 .
Eine kritische Revision der Straftheorien hat daher notwendigerweise
die Überwindung derselben anzustreben. Ausgangspunkt einer solchen
Revision muß die Untersuchung sein, was die Strafe innerhalb des
Sozialsystems war und ist, und dabei ist jegliche ideologische Verschleie-
rung auszuschließen. Aus dieser Sicht dienten sowohl die absoluten wie
die relativen Theorien der Verschleierung; erstere verwandelten die
Realität der Strafe in eine Metapher (berühmtes Beispiel dafür ist die
Auffassung Hegels, daß die Strafe die Negation der Negation des
Rechts sei), letztere lenkten die Realität der Strafe auf die Grundlage

1 Siehe Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: Strafrechtliche Grundlagenpro-
bleme, Berlin 1973, S . l l .
2 Siehe Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Berlin 1983, S. 17ff; Barbero Santos, La
reforma penal española en la transición a la democracia, in: Revue Internationale de Droit
Pénal, 1977, S. 61 ff.
70 Juan Bustos Ramirez

einer abstrakt rationalen Absichtserklärung durch den Gesetzgeber


(Abschreckung, Sicherung des Rechtsbewußtseins, Resozialisierung,
Umerziehung).
Innerhalb des Sozialsystems war und ist die Strafe eine Selbstbestäti-
gung des Staates3. Mit der Strafe hat der Staat seine Existenz selbst und
seine Macht bestätigt. Deshalb hatte - und hat - die Strafe einen
symbolischen Charakter, sie genügte sich selbst, denn durch sie drückt
der Staat seine Existenz aus. Daher also der symbolische Charakter, der
jenseits jeglicher Überlegung von Effektivität und Zweckmäßigkeit liegt.
Der Staat ist jedoch kein abstraktes Wesen, er existiert tatsächlich, und
deshalb bedeutet diese Selbstbestätigung die Selbstbestätigung eines
bestimmten Systems. Und heute ist dies eben die Selbstbestätigung eines
bestimmten demokratischen Systems. Wegen ihres symbolischen Cha-
rakters hat die Strafe nun aber einen punktuellen Charakter, das heißt,
durch sie wird das System durch die Hervorhebung der Kernpunkte, die
das demokratische System gestalten, selbstbestätigt. Deshalb erfüllt die
Strafe durch die Selbstbestätigung des Systems notwendigerweise eine
Schutzfunktion dieser Angelpunkte des Systems, und dabei handelt es
sich um nichts anderes als um die Rechtsgüter. Aus der Realität der
Strafe, der Selbstbestätigung, entsteht in einem demokratischen System
eine Funktion, nämlich der Rechtsgüterschutz.
Somit werden also in einem demokratischen System die Rechtsgüter
zur Basis der Begründung und Legitimation der Strafe, aber eben
dadurch zur conditio sine qua non der Strafe. Eine kriminalpolitische
Definition der Strafe basiert also auf einer Definition der Rechtsgüter4.
Die Rechtsgüter bilden, wie gesagt, die Grundlage des (demokratischen)
Sozialsystems, aus eben diesem Grund können sie nur eine Sozialbezie-
hung sein, da die sozialen Beziehungen grundlegend für die Sozialord-
nung sind. Die Rechtsordnung greift einzig und allein eine bestimmte
Sozialbeziehung in konkreter und symbolischer Form auf (Leben,
Gesundheit des Individuums, Ehre, Freiheit). Als soziale Beziehung
schließt das Rechtsgut eine bestimmte Position der Menschen unterein-
ander mit ein und dient als Vermittler zu anderen Körperschaften oder
Objekten, die unter diesen existieren. Das heißt, es ist ein Kommunika-
tions- und Partizipationsprozeß5. Gerade darum hat es immer einen
dialektischen Charakter. Wir können also schließlich sagen, daß das
Rechtsgut eine konkrete normative Synthese einer bestimmten dialekti-
schen Sozialbeziehung ist6.
3 Siehe Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal español, Barcelona, 1984, S. 39 f.
4 Siehe Bustos Ramírez, a. a. O . , S. 39.
5 Siehe Callies, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frank-

furt a . M . , 1974, S. 143.


6 Siehe Bustos Ramírez, a. a. O . , S. 63.
Kriminalpolitik und Strafrecht 71

Mit anderen Worten, ein demokratisches Strafrechtssystem erscheint


in seiner Legitimationsbasis, welche die Rechtsgüter sind, offen, da diese
wegen ihres kommunikativen, partizipativen und dialektischen Charak-
ters relativ sind und sich in ständiger Entwicklung befinden. Die Strafe
(die Selbstbestätigung des Systems) ist keine abgeschlossene, axiomati-
sche Realität, kein autoritäres Fiat, sondern gerade das Gegenteil, da
nämlich seine Legitimationsgrundlage und Begrenzung die Rechtsgüter
sind. Das Rechtsgut ist somit eine kritische Kategorie des Systems selbst.
Es ist ein Bestandteil des Systems, wirkt aber auch über dieses hinaus, es
ist immer final, und seinen Zweck gilt es immer anzustreben, was einer
offenen Gesellschaft eigen ist, in der durch die Partizipation ihrer
Mitglieder bei allen kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen
Prozessen die Gestaltung des Systems vollzogen wird. Daher führt die
Verschleierung dieser Realität, die durch die absoluten und relativen
Theorien entsteht, immer zu der Gestaltung einer autoritären Konzep-
tion des Sozialsystems oder ist immer Grundlage derselben; sie erhebt
den Anspruch, dieses zu schließen oder das demokratische System nicht
in ein materielles System (der Freiheit und materiellen Gleichheit) zu
verwandeln, sondern in ein rein formales (in dem die Freiheit und
Gleichheit der Menschen axiomatisch angenommen werden). Das so
begriffene Rechtsgut wird zur Begründung und materiellen Grenze des
Unrechts. Deshalb hat die Bestimmung des Unrechts vom Rechtsgut aus
zu erfolgen. Aber die Realität der Strafe erschöpft sich nicht in der
Selbstbestätigung des Staates, da die Strafe existiert, um verhängt zu
werden. Der Begriff der Strafe beinhaltet, daß diese anzuwenden ist.
Verbrechen und Strafe sind untrennbare Realitäten des Systems; das
Verbrechen existiert in dem Maße, in dem es die Selbstbestätigung des
Staates gibt und in dem sich das System in bestimmten sozialen Bezie-
hungen, den Rechtsgütern, anerkennt. Das System bestimmt, was Ver-
brechen und Strafe sind, deshalb sind Verbrechen und Strafe immer ein
Problem politischer Definition. Die Kriminalpolitik durchzieht das
gesamte Strafrechtssystem.
Die Strafe erschöpft sich in ihrer Realität dadurch, daß sie einem
Individuum auferlegt wird 7 . Strafe bedeutet also Bestimmung, Indivi-
dualisierung und Selektion eines Menschen. Das heißt, durch die Strafe
wird nicht nur eine bestimmte soziale Beziehung konkretisiert, sondern
Strafe bedeutet auch die Selektion eines bestimmten Individuums. Aber
so, wie ein demokratisches Strafrechtssystem begrifflich das Rechtsgut
als Begründung und materielle Grenze der Selbstbestätigung voraus-
setzt, so hat die Verhängung der Strafe eine Begründung und materielle
Grenze, und das ist die Anerkennung des Menschen als Person, d. h. der

7
Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 40; Roxin, a. a. O., S. 17ff, 24 ff.
72 Juan Bustos Ramirez

Menschenwürde, der Anerkennung des Menschen als eines sozial H a n -


delnden. Man hat anzuerkennen, daß der Mensch die Grundlage des
Sozialsystems und der sozialen Beziehungen ist, ohne den es das Sozial-
system gar nicht gibt. Aus eben diesem Grund ist die Verhängung der
Strafe, wenn die Menschenwürde anerkannt wird, notwendigerweise an
einen Zweck gebunden. Es geht nicht bloß um die Verhängung an sich,
sondern es handelt sich um eine finale Verhängung, und dieser Zweck
kann nicht jenseits des Menschen liegen, anderenfalls würde dies bedeu-
ten, ihn nicht anzuerkennen. Die absoluten und relativen Theorien
erkennen im Gegensatz dazu die Menschenwürde nicht an: erstere, weil
sie sich mit der bloßen Strafverhängung zufriedengibt, und letztere, weil
sie den Zweck jenseits des Menschen stellt (soziale Verteidigung, staatli-
che Sicherheit, sozialer Nutzen, etc.).
Das Ziel des Menschen ist aber seine eigene Befreiung, die Befriedi-
gung seiner Bedürfnisse, die Disponibilität verschiedener Möglichkeiten
zur Lösung sozialer Konflikte. Die Verhängung der Strafe muß unter
Berücksichtigung dieser Bedürfnisse des Menschen erfolgen. N u r so
kann sie sozial von Nutzen sein. Die Negation der Menschenwürde ist
im Gegensatz dazu sozial schädlich, sie wirkt sich auf die Sicherheit des
Systems aus, denn sie verletzt dessen konstitutive Basis, sie zerstört die
sozialen Beziehungen. Die Anerkennung der Menschenwürde bedeutet
eine dynamische Theorie des verantwortlichen Menschen, der ständigen
Ergründung seiner Bedürfnisse und Entscheidungen.
Die Individualisierung des einer Strafe unterworfenen Menschen hat
also als Begründung und materielle Grenze die Menschenwürde. Dies
bedeutet folglich die Ausarbeitung einer Theorie des verantwortlichen
Menschen. Mit anderen Worten, es gibt zwei verschiedene Theorien,
einerseits die Unrechts- oder Verbrechenstheorie, deren Begründung
und materielle Grenze das Rechtsgut ist, und andererseits die Theorie
des verantwortlichen Menschen. Beiden ist jedoch gemein, daß sie von
einer politischen Definition ausgehen. Wie schon ausgeführt, ist es das
System, welches das Verbrechen dadurch definiert, daß es sich in
bestimmten Rechtsgütern zu erkennen gibt. Aber damit greift es gleich-
zeitig bestimmte Individuen heraus. Verbrechen und verantwortliches
Individuum sind ein Problem politischer Definition. Gleichzeitig sind
dann sowohl das Verbrechen als auch das verantwortliche Individuum
ein soziales Problem, und deshalb handelt es sich bei der Verantwort-
lichkeit immer um ein soziales Problem.
Erstes materielles Prinzip, auf das sich das Strafrechtssystem stützt, ist
also die Menschenwürde, und an zweiter Stelle steht das des Rechtsgu-
tes. Aber in einem demokratischen System ist auch das nicht ausrei-
chend, da die Strafen eine Anwendungsform annehmen müssen, über die
sie als nicht mehr notwendig erscheinen, denn sonst würden sie in
Kriminalpolitik und Strafrecht 73

Widerspruch zu dem Ziel der Befreiung des Menschen geraten. Deshalb


ist die Notwendigkeit der Strafe ein materielles Prinzip der Begründung
und Begrenzung der Anwendung der Strafe, die in einem gegebenen Fall
überhaupt nicht mehr notwendig wird. Damit sind wir also zur dritten
Theorie des Strafrechts gelangt, das heißt der, die sich auf die Formen
der Strafanwendung bezieht. Drei Theorien bilden also das Strafrecht:
die Verbrechenstheorie, die Theorie des verantwortlichen Menschen und
die Theorie der Strafan Wendungsformen. Drei materielle Prinzipien
dienen diesen Theorien als materielle und begrenzende Grundlage: die
Menschenwürde, das Rechtsgut und die Strafnotwendigkeit. Jedes ein-
zelne Prinzip hat seine besondere vorrangige Stellung und kommt in
besonderer Weise zum Ausdruck: das Rechtsgut in der Verbrechens-
theorie, die Menschenwürde im verantwortlichen Menschen und die
Strafnotwendigkeit in den Formen der Strafanwendung. Die absoluten
Theorien befaßten sich nur mit der Verbrechenstheorie und verschleier-
ten damit die Probleme, die die anderen Theorien aufwerfen, wodurch
eine Aushöhlung oder Reduzierung der Strafrechtstheorie hervorgerufen
wird. Bei den relativen Theorien geschah das gleiche; die Generalpräven-
tion neigte dazu, das Gewicht auf die Notwendigkeit der Strafe zu legen
und die Theorien des Verbrechens und des verantwortlichen Individu-
ums zu übergehen; die Spezialprävention tendierte dazu, alle Theorien
aus der Analyse auszuschließen, indem sie die soziale Verteidigung
hervorhob.

II.
Eine Verbrechenstheorie muß also vom materiell betrachteten Rechts-
gut ausgehen. Grundlage der Verbrechenstheorie ist nicht die Hand-
lungslehre 8 ; zum einen, weil es neben ihr eine Unterlassungslehre gibt,
und insbesondere, weil die Handlungslehre auf dem Rechtsgut basiert,
insofern sie nur eine Form des Kommunikationsprozesses innerhalb der
Sozialbeziehung ist. Auch die Kausalität kann nicht als Begründung des
Verbrechens dienen, da es ihr an sich an Bedeutung mangelt, um
irgendeinen Aspekt des Verbrechens zu bestimmen'. Sie ist weder für die
Unterlassungstheorie noch für die Handlungslehre dienlich, denn diese
werden hinsichtlich des Kommunikationsprozesses durch ihren Sinn
bestimmt. Wenn man also der Kausalität innerhalb der Verbrechens-
theorie eine Bedeutung geben wollte, so wurde tatsächlich ihre Benen-
nung nur metaphorisch verwendet, wie dies im Falle der adäquaten
Kausalität geschah, die eigentlich eine Frage rechtlicher Bewertung ist.

8 Siehe Armin Kaufmann, Die Funktion des Handlungsbegriffs im Strafrecht, in:


Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S.26.
9 Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 173 ff.
74 Juan Bustos Ramirez

Aus eben diesem Grund ist die Kausalität auch unbrauchbar, um den
Erfolg mit dem tatbestandsmäßigen Verhalten zu verknüpfen, denn
nicht der natürlich betrachtete Erfolg interessiert, sondern der Erfolg als
schädliche Einwirkung auf ein Rechtsgut (Verletzung oder Gefährdung
des Rechtsgutes). Daher handelt es sich um ein valoratives Problem, das
heißt, es geht um die objektive Zurechnung, um die Möglichkeit, ob ein
Erfolg einem tatbestandsmäßigen Verhalten zuzurechnen ist10.
Weder die überlieferte Handlungslehre noch die Kausalitätstheorie
dienen letztendlich als Grundlage des Verbrechens, allein das Rechtsgut
kann seine Grundlage sein.
Auf der Basis des Rechtsgutes werden die beiden die Verbrechens-
theorie bildenden Kategorien, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrig-
keit, bestimmt.
Bei der Tatbestandsmäßigkeit handelt es sich um nichts weiter als um
die Beschreibung einer bestimmten Situation, in der eine soziale Bezie-
hung stattfindet, sie bezeichnet deren Umgebung. Folglich ist es nicht
die Beschreibung einer Handlung und kann dies auch niemals sein. So
bedeutet Tötung, daß einer einen anderen tötet. Was also beschrieben
wird, ist ein situatives Umfeld. Es ist auch nicht die Beschreibung einer
Unterlassung, was begrifflich unmöglich wäre, deshalb wird auch ein
situatives Umfeld beschrieben: „Wer einer anderen Person nicht hilft,
die schutzlos ist und sich in offensichtlicher und ernster Gefahr befindet,
obwohl er dies ohne Gefahr für das eigene oder das Leben Dritter
machen könnte" (Art. 489 bis span. StGB). Es handelt sich also nicht um
die Beschreibung einer Handlung oder Unterlassung, sondern um die
Zuordnung eines bestimmten Kommunikationsprozesses innerhalb
eines situativen Umfeldes, und deshalb ist es im konkreten Fall der
Richter, der zu entscheiden hat, ob eine solche Zuordnung möglich ist.
Es handelt sich also nicht um ein Kausalitäts- oder Finalitätsproblem,
sondern um die sinngemäße Zuordnung, die eine Kommunikation
innerhalb eines bestimmten situativen Umfeldes hat, das eine soziale
Beziehung ausdrückt. Daher kann der Selbstmord nicht typifiziert wer-
den, da er niemals das situative Umfeld einer sozialen Beziehung aus-
drücken könnte, und aus dem gleichen Grund kann auch der Rauschmit-
telkonsum nicht typifiziert werden; solche Typifizierungen könnten sich
nicht auf das Rechtsgut stützen. Das Rechtsgut schließt solche Typifizie-
rungen aus, es zwingt, wie schon anfangs gesagt, der Strafe eine Grenze
als Selbstbestätigung des Staates auf.
Vom Rechtsgut ausgehend wird also auch der der Tatbestandsmäßig-
keit innewohnende Unwert bestimmt, der nicht einfach ein Handlungs-

10 Siehe Roxin, Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, a.a.O.,


S. 123 ff.
Kfiminalpolitik und Strafrecht 75

unwert, sondern der Unwert eines situativen Umfeldes ist, in dem der
Handlungsunwert sicherlich der wichtigere ist, weil er den entsprechen-
den Kommunikationsprozeß bestimmt, jedoch ist er nicht der einzige
(so gibt es bei der unterlassenen Hilfeleistung eine Bewertung hinsicht-
lich der Schutzlosigkeit und der offensichtlichen, ernsten Gefahr, bei
den Amtsdelikten hinsichtlich der Eigenschaft des Beamten, hinsichtlich
der Gewalt bei einer Reihe von Delikten, etc.).
Eben dieser Sachverhalt, daß jegliche Typifizierung vom Rechtsgut
und nicht von der Handlung aus bestimmt wird, bringt es mit sich, daß
die Erweiterung der Tatbestände auf den untauglichen Versuch nicht aus
der Sicht des Verhaltens begriffen werden kann (Mittel zu sich nehmen,
um abzutreiben), da ein solches Verhalten nicht dem situativen Umfeld
zugeordnet werden kann, welches das Abtreibungsdelikt beschreibt. Die
Typifizierung wird nicht von der ethischen Subjektivität der Handlung
her bestimmt, sondern von der Objektivität der sozialen Beziehung her,
die das Rechtsgut darstellt. Der Handlungsunwert entsteht aus dem
Rechtsgut und nicht aus einer subjektiv ethischen Auffassung in Zusam-
menhang mit der Handlung. D a nun aber die Beschreibung des situati-
ven Umfeldes eine soziale Beziehung zur Grundlage hat, bedeutet das,
daß sie mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist. Deshalb sind die
Probleme des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit und besondere subjektive
Merkmale eigentliche Fragen der Tatbestandsmäßigkeit, und dies nicht
wegen eines ontologischen Grundes, sondern weil die Tatbestandsmä-
ßigkeit auf dem Rechtsgut basiert. Dieses aber wird durch eine
bestimmte soziale Beziehung gebildet, die einen Kommunikationspro-
zeß umfaßt und folglich mit Sinn und Bedeutung ausgestattet ist.

III.
Das Rechtsgut erschöpft sich mit seinem Inhalt aber nicht in der
Tatbestandsmäßigkeit, sondern legt das ganze Verbrechen fest und somit
auch die zweite Begriffskategorie des Delikts, nämlich die Rechtswidrig-
keit. Als materielle Grundlage stattet das Rechtsgut die Rechtswidrigkeit
auch mit einem materiellen Inhalt aus. So, wie man formal sagen kann,
daß die Tatbestandsmäßigkeit Normwidrigkeit ist, so kann auch formal
gesagt werden, daß die Rechtswidrigkeit der Gegensatz des tatbestands-
mäßigen Verhaltens zur gesamten Rechtsordnung ist. Die Strafrechts-
normen (Verbote und Gebote) erscheinen unzweifelhaft als Anerken-
nung des Handlungsunwertes 11 , der aus dem Rechtsgut entsteht und so
zum grundlegenden kommunikativen Kern wird, den das situative
Umfeld, das den Tatbestand beschreibt, in sich schließt. N u r durch

11 Siehe Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, Göttin-


gen, 1954, S. 271 ff.
76 Juan Bustos Ramirez

Normen können solche Kommunikationsprozesse ausgedrückt werden,


und gleichzeitig können sie nichts weiter bezeichnen (z. B. eine kausale
Beziehung) 12 . Die N o r m ist also kein Imperativ und auch nicht die einzig
existierende Rechtsnorm. Es gibt andere Rechtsnormen, die nicht einen
Handlungswert, sondern andere Wertarten ausdrücken. Neben den
selbständigen und unabhängigen Normen gibt es also die übrigen
Rechtsnormen, die die Normwidrigkeit des Verhaltens bedingen, indem
sie nicht nur die ausgeführte Handlung betrachten, sondern die soziale
Beziehung in ihrer ganzen Komplexität und folglich auch die verschiede-
nen Interaktionen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt. Die
Rechtsnormen setzen das Absolute der Bewertung fest (nicht töten,
nicht stehlen, niemand der Freiheit berauben), sie stehen in vorrangiger
und direkter Verbindung mit der Strafe als Selbstbestätigung des
Systems; die Rechtfertigungsgründe hingegen legen die Dynamik und
Öffnung des Systems dar, und deshalb relativieren sie das Absolute der
normativen Bewertung gemäß den verschiedenen konkreten Situationen.
Es handelt sich also um zwei verschiedene Ebenen.
Wenn man sagt, daß die Rechtswidrigkeit der Gegensatz des tatbe-
standsmäßigen Verhaltens zur gesamten Rechtsordnung ist, so wird
formal darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Rechtsordnung nicht
nur die Rechtsnormen gibt, sondern daß außerdem noch andere Rechts-
normen existieren, die diese bedingen, weil sie auf einer anderen Ebene
in Erscheinung treten, auf der die Komplexität des Systems betrachtet
wird. Es liegt also kein logischer Widerspruch in der selbständigen
Festsetzung der Normwidrigkeit und der Rechtswidrigkeit. So würde es
sich allerdings verhalten, wenn man hinsichtlich ein und derselben
Handlung gleichzeitig Verbot und Erlaubnis aussprechen würde, d . h .
auf der vorrangigen Ebene der Selbstbestätigung. Dies wäre bei einem
chirurgischen Eingriff der Fall, von dem angenommen werden könnte,
daß er gleichermaßen verboten und erlaubt ist. Aber dieser kann niemals
als solcher verboten sein, denn ein solches Verbot kann nicht vom
Rechtsgut ausgehen (Sinn und Bedeutung desselben werden in der
Beschreibung des situativen Umfeldes der Verletzungen nicht umfaßt:
wer einen anderen verletzt, schlägt oder mißhandelt und dabei einen
bestimmten Erfolg verursacht). Die Selbstbestätigung, welche die Strafe
impliziert, kann eine solche Situation nicht einbeziehen, denn es stünde
in Widerspruch zu der eigentlichen Funktion des Staates.
Aber wie schon wiederholt aufgezeigt wurde, ist die gegebene Defini-
tion der Rechtswidrigkeit rein formal, das heißt, sie drückt die materielle
Beziehung mit dem Rechtsgut nicht aus. So ist die Tatbestandsmäßigkeit
nicht nur die formale Betrachtung der Normwidrigkeit des Verhaltens,

12 Armin Kaufmann, a. a. O., S. 69 ff.


Kriminalpolitik und Strafrecht 77

sondern die Beschreibung eines situativen Umfeldes, das Sinn und


Bedeutung der sozialen Beziehung umkehrt, die mit dem Rechtsgut
festgesetzt wird. Deshalb muß die Rechtswidrigkeit auch materieller
Ausdruck des Rechtsgutes sein, was sich in der Tatsache manifestiert,
daß Sinn und Bedeutung, die das beschriebene Umfeld dynamisieren,
sich in einer Einwirkung auf das Rechtsgut zeigen (in einem in seiner
Verletzung oder Gefährdung bestehenden Erfolg)". Auf dieser Ebene
geht es also vor allem darum, ob das Rechtsgut tatsächlich betroffen
wurde, nur dann kommen die Rechtfertigungsgründe zur Wirkung.
Normen und Rechtfertigungsgründe finden sich nicht auf der Ebene der
abstrakten und absoluten Bewertungen, sondern sie treten nur durch die
Konkretisierung des Erfolges auf. Der Erfolg ist es, der auf die zweite
Ebene führt. Verletzungsprinzip und Rechtswidrigkeit sind wesens-
gleich, wenn man davon ausgeht, daß die materielle Grundlage des
Verbrechens das Rechtsgut ist. Für die unwertige Darstellung des
Unrechts, daß das Verbrechen in sich schließt, genügt also nicht der
Unwert des situativen Umfeldes, sondern es gehört außerdem der
Erfolgsunwert dazu. Das Unrecht eines Verbrechens ergibt sich letzt-
endlich aus dem Unwert der sozialen Beziehung, wodurch also die Rolle
bestätigt wird, die das Rechtsgut innerhalb der Verbrechenslehre spielt.
Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit sind als erstes also nicht die Recht-
fertigungsgründe zu klären, sondern das Problem, das sich auf die
objektive Zurechnung des Erfolges (Verletzung oder Gefährdung) auf
das tatbestandsmäßige Umfeld bezieht. Die einfache objektive wie sub-
jektive Bestimmung eines situativen Umfeldes reicht nicht aus, um das
Verhältnis zu dem Erfolg herzustellen. So impliziert die Bestimmung,
daß Pedro (vorsätzlich oder fahrlässig) Juan erschoß, ein situatives
Umfeld, dem der gesetzliche Tatbestand des Totschlags entspricht,
keinesfalls der, daß Juans Tod mit Pedros Verhalten in Zusammenhang
steht oder daß es auf dieses situative Umfeld zurückgeführt werden kann
(diesbezüglich sei nur auf das Beispiel der Probleme hingewiesen, die der
dolus generalis aufwirft). Andererseits genügt aufgrund des Verletzungs-
prinzips in keinem Fall die Feststellung des tatbestandsmäßigen situati-
ven Umfeldes; das heißt, wenn es keinen möglichen Erfolg gibt, so kann
auch niemals von einer tatbestandsmäßigen rechtswidrigen Tat gespro-
chen werden, was beim sogenannten untauglichen Versuch der Fall ist,
der nicht mehr in bezug auf die Mittel, sondern hinsichtlich seines
Gegenstandes betrachtet wird (wenn eine sich schwanger glaubende
Frau ein Abtreibungsmittel einnimmt, ohne daß tatsächlich eine
Schwangerschaft vorliegt)14. Es geht darum, mit Wertkriterien vom
Rechtsgut ausgehend zu bestimmen, ob der Erfolg objektiv dem tatbe-
13 Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 184.
14 Siehe Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., Köln 1981, S. 183.
78 Juan Bustos Ramirez

standsmäßigen situativen Umfeld zugerechnet werden kann. N u r so


wird die Rechtswidrigkeit zu einem materiellen Reduktor der Tatbe-
standsmäßigkeit. Die objektive Zurechnung ist also nicht ein Problem
der Tatbestandsmäßigkeit. Dies würde nämlich bedeuten, erneut ver-
schiedene Ebenen miteinander zu verwechseln, sie einfach wie ein
Transplantat neben die natürliche Kausalität zu stellen; und gleichzeitig
ist sie völlig unbrauchbar, denn die Reduzierung der Tatbestandsmäßig-
keit vollzieht sich aufgrund der objektiven und subjektiven Merkmale,
die Bestandteil des situativen Umfeldes sind. Hier erübrigt sich sowohl
die natürliche Kausalität als auch die objektive Zurechnung: die natürli-
che Kausalität, weil sie ein Problem aufwirft, das der Bewertung der
Tatbestandsmäßigkeit fremd ist, da sich die Normen von Anfang an
nicht auf kausale Prozesse beziehen; und die objektive Zurechnung, weil
sie in bewertender Hinsicht auf dieser Ebene den Präzisierungen von
Sinn und Bedeutung nichts Neues hinzufügen kann, denn diese entste-
hen aus dem Rechtsgut hinsichtlich des beschriebenen situativen Umfel-
des. Die objektive Zurechnung ist nur als Problem auf der Ebene der
Rechtswidrigkeit von Bedeutung, als Konkretion des Verletzungsprin-
zips, das vom Rechtsgut ausgeht und als materielle Basis der Rechtswid-
rigkeit dient.

IV.
Nachdem Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit festgelegt sind,
haben wir es nun mit dem Unrecht als Teil eines Delikts zu tun. Die
Tatbestandsmäßigkeit ist nur ein Indiz für die Rechtswidrigkeit und
folglich nur Indiz für ein Delikt, da der Inhalt der grundlegenden
Unwertigkeit, die der Handlungsunwert bedeutet, sich ausschließlich
auf den Gegenstand des eigentlichen Schutzes durch das Strafrecht
bezieht, und das ist das Rechtsgut. Die übrigen Bewertungen und
Unwertigkeiten, die sich auf dieser Ebene ergeben, sind untergeordnet
und begrenzen nur den Handlungsunwert (so der Hinweis auf gute
Sitten, Gewalt, Neugeborene, Schutzlosigkeit etc., der in den gesetzli-
chen Tatbeständen enthalten ist). Die so begriffene Tatbestandsmäßig-
keit ist ein dem Strafrecht eigener Begriff, wie es auch das Rechtsgut ist;
aber eine für die Rechtsordnung so schwerwiegende Tatsache wie das
Delikt kann nicht nur ausschließlich und absolut aus der Sicht des
Strafrechts beurteilt werden, sondern muß auch von der Rechtsordnung
als Ganzer her betrachtet werden, da es ihre Transzendenz für die
gesamte rechtlich-soziale Ordnung ist, was letztendlich interessiert. Es
handelt sich darum, das Eingreifen des Staates zu rechtfertigen und zu
begrenzen, und dies kann nicht nur von der Tatbestandsmäßigkeit aus
erfolgen. Von der Notwendigkeit des Begriffs der Rechtswidrigkeit her
kann ein so schwerwiegendes Eingreifen des Staates nur in dem Maße
Kriminalpolitik und Strafrecht 79

ausreichend legitimiert und folglich auch begrenzt erscheinen (letztend-


lich dem Bürger Garantien gegenüber einem solchen Eingreifen geben),
wie die Tatbestandsmäßigkeit mit der Rechtsordnung als Ganzer ver-
knüpft ist, was gerade der Inhalt der Rechtswidrigkeit ist. Deshalb ist die
Rechtswidrigkeit ein Begriff, der über das Strafrecht hinausgeht, der den
eigentlich zu schützenden Gegenstand des Strafrechts, nämlich das
Rechtsgut, transzendiert, von daher ist die Rechtswidrigkeit ein der
Rechtsordnung eigener Begriff. Diese Verknüpfung zwischen Tatbe-
standsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit kann nur vom Rechtsgut aus
erfolgen, da dieses der Gegenstand des Schutzes durch das Strafrecht ist,
und folglich bestimmt es das Unrecht. Tatbestandsmäßigkeit und
Rechtswidrigkeit an sich sind nicht miteinander verknüpfbar, da sie auf
verschiedenen Ebenen wirksam sind. Es gibt also einen aus der Sicht des
Rechtsgüterschutzes resultierenden Unwert, der dem dem Tatbestands-
inhalt eigenen Unwert fremd ist und der gleichzeitig mit den bewerten-
den und entwertenden Grundlagen, auf denen die gesamte Rechtsord-
nung beruht, übereinstimmt, den Erfolgswert oder -unwert. Die
Rechtsordnung als solche ist daran interessiert, Erfolgsunwerte zu ver-
meiden oder zu mindern (daher die Einrichtung der Nichtigkeit, Rück-
erstattungen, Entschädigungen, Versicherungen etc.). Dieser der gesam-
ten Rechtsordnung inhärente Erfolgsunwert ist auch dem Begriff des
Rechtsgutes eigen. Diese Ubereinstimmung erlaubt also vom Rechtsgut
aus die Rechtsordnung als Ganze mit der Tatbestandsmäßigkeit in
Beziehung zu setzen. Daher ist die Tatbestandsmäßigkeit ein Indiz für
Rechtswidrigkeit, denn um die Rechtswidrigkeit einer Tat erklären zu
können, muß notwendigerweise ein Erfolg vorliegen (ein Erfolgsun-
wert, der in der Verletzung oder konkreten Gefährdung des Rechtsgutes
besteht), und es darf keine Rechtfertigungsgründe geben. Erfolg und
Rechtfertigungsgründe sind die grundlegenden Aspekte der Bewertung
und Entwertung, die die Rechtswidrigkeit gestalten. Rechtswidrigkeit
liegt nur vor, wenn es einen Erfolg (somit einen Erfolgsunwert) und
keinen Rechtfertigungsgrund (somit eine positive Bewertung einer Situa-
tion) gibt. Durch die Rechtfertigungsgründe werden weder die N o r m -
widrigkeit der Verhaltensweise (der Handlungsunwert) noch der Erfolg
(der Erfolgsunwert) beseitigt, aber doch der Unrechtscharakter der Tat;
es liegt kein Delikt vor, es gab nur ein Indiz für ein Unrecht oder Delikt.
Wenn das Problem des Unrechts oder des Delikts so angegangen
wird, will das heißen, daß man, soll wirklich ein Delikt vorliegen, die
objektiven und subjektiven Merkmale in ihrer Gesamtheit betrachten
muß, also sowohl die der Tatbestandsmäßigkeit als auch die der Rechts-
widrigkeit, und dies in der Hinsicht, daß erstere nur ein Indiz für ein
Delikt sind. Dies ist von besonderer Bedeutung für die Problematik der
Irrtumslehre.
80 Juan Bustos Ramirez

Die Irrtumslehre kann nicht allein mit den zwischen subjektivem und
objektivem Aspekt bestehenden Beziehungen der Tatbestandsmäßigkeit
verknüpft werden, da dies nicht ausreichend wäre, sondern sie muß auch
die zwischen dem subjektiven und objektivem Aspekt bestehenden
Beziehungen der Rechtswidrigkeit mit einbeziehen. Die vorsätzliche
oder fahrlässige Tatbestandsmäßigkeit ist ausschließlich ein Indiz der
Rechtswidrigkeit und folglich des Delikts; damit ein vorsätzliches oder
fahrlässiges Delikt vorliegt, muß aber außerdem der subjektive Aspekt
berücksichtigt werden, der in der Rechtswidrigkeit und in ihrer Bezie-
hung zum objektiven Aspekt basieren kann. Dies ist der Fall, wenn
Rechtfertigungsgründe auftreten. Das gültige spanische Strafgesetzbuch
unterscheidet daher zu Recht zwischen den vom Gesetz bestraften
vorsätzlichen oder fahrlässigen Handlungen und Unterlassungen (Art. 1,
Abs. 1) und dem böswilligen Delikt (Art. 565, Abs. 1). Der Vorsatz
bezieht sich nur auf die Tatbestandsmäßigkeit, er ist ein Indiz für die
Böswilligkeit; die Böswilligkeit bezieht sich auf das Unrecht oder das
Delikt. Die Böswilligkeit umfaßt also sowohl das subjektive Merkmal
der Tatbestandsmäßigkeit mit Bezug auf ihren objektiven Aspekt (Vor-
satz) als auch die möglichen rein subjektiven Merkmale ohne Bezug auf
einen objektiven Aspekt und außerdem das subjektive Merkmal des
Rechtfertigungsgrundes hinsichtlich des objektiven Aspekts wie auch die
möglichen rein subjektiven Merkmale. Deshalb hat sich die Irrtumslehre
nicht ausschließlich auf den Vorsatz zu beziehen, sondern auf die
Böswilligkeit, wofür der Vorsatz nur ein Indiz ist. Die Irrtumslehre muß
sich daher auf alle subjektiven Merkmale des Unrechts beziehen, die in
bezug zu den objektiven Aspekten desselben stehen, gleichgültig, ob es
sich dabei um Elemente der Tatbestandsmäßigkeit oder der Rechtswi-
drigkeit handelt. Deshalb schließt ein unvermeidbarer Irrtum über ein
wesentliches Merkmal - sei es der Tatbestandsmäßigkeit oder der
Rechtswidrigkeit, welches in letzterem Falle die tatsächlichen Vorausset-
zungen eines Rechtfertigungsgrundes wären - , das Unrecht, das Delikt
vollkommen aus. Hingegen kann beim vermeidbaren Irrtum über ein
wesentliches Merkmal die Fahrlässigkeit sowohl in bezug auf das tatbe-
standsmäßige Verhalten als auch auf das rechtswidrige, tatbestandsmä-
ßige Verhalten fortbestehen, denn wichtig ist nicht das Indiz für das
rechtswidrige vorsätzliche Verhalten, sondern das vorsätzliche (böswil-
lige) oder fahrlässige Unrecht, und dieses liegt nur vor, wenn auch die
Rechtswidrigkeit hinsichtlich des Verhaltens festgestellt wurde. Das
spanische Strafgesetzbuch unterscheidet zu Recht zwischen Vorsatz und
Böswilligkeit, aber nicht hinsichtlich der Fahrlässigkeit, da diese im
wesentlichen ein normativer Begriff ist und nicht mit finalen subjektiven
oder Tendenzmerkmalen zu vereinbaren ist. Die traditionelle Schuld-
lehre hinsichtlich des Irrtums vollzieht diesbezüglich einen logischen
Kriminalpolitik und Strafrecht 81

Sprung, denn ein Problem aktueller Kenntnis und des Bereiches der
Rechtswidrigkeit, wie es die Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzun-
gen der Rechtfertigungsgründe ist, geht sie bei der Behandlung der Frage
des Verbotsirrtums so an, als ob es ein Problem inaktueller Kenntnis
wäre15. Es liegt andererseits kein logischer Widerspruch vor, wenn
darauf hingewiesen wird, daß es ein vorsätzliches (böswilliges) oder
fahrlässiges Unrecht gibt, und folglich bezieht sich die Irrtumslehre
nicht auf die Tatbestandsmäßigkeit oder gar die Rechtswidrigkeit, son-
dern auf das Unrecht in seiner Gesamtheit, und demzufolge erscheint es
nicht unlogisch, daß, auch wenn ein Indiz für ein vorsätzliches Unrecht
aufgrund einer tatbestandsmäßigen vorsätzlichen Tat vorliegt, dieses
Indiz jedoch letztendlich nur ein fahrlässiges Unrecht oder sogar über-
haupt kein Unrecht bedeutet.
Eine Analyse der Irrtumslehre aus kriminalpolitischer Sicht und folg-
lich vom Rechtsgut als Begründung und Grenze für das staatliche
Eingreifen ausgehend führt dazu, sie nicht einfach als eine Frage der
tatbestandsmäßigen Handlung anzusehen - letzten Endes mit einem
individualistischen und streng subjektiven Charakter - , sondern vom
Schutz der Rechtsgüter aus und folglich mit Hinblick auf das Unrecht in
seiner Gesamtheit. Was die Irrtumslehre in Frage stellt und diskutiert,
ist, bis zu welchem Punkt in den Fällen des Irrtums der Strafschutz der
Rechtsgüter gerechtfertigt ist, wenn gerade der Sinn und die Bedeutung
des Schutzes an sich verfälscht werden.

V.
Mit der Feststellung der Existenz eines Delikts ist die Untersuchung
der Voraussetzungen für die Strafe aber noch nicht abgeschlossen.
Neben der Verbrechenslehre gibt es die Lehre von der verantwortlichen
Person. Lange Zeit hindurch erschien diese Lehre durch ein vermeintli-
ches drittes Element des Delikts, der Schuld, subsumiert und geschmä-
lert zu werden. Auf diese Weise versachlichte man die Betrachtung der
verantwortlichen Person, und gleichzeitig vermied man, alle Konse-
quenzen zu ziehen, die dem Prinzip der Menschenwürde, der materiel-
len Grundlage in bezug auf die verantwortliche Person, innewohnen.
Die Beurteilung der Person darf nicht mit der Beurteilung der Tat
verwechselt werden, wie auch das Prinzip des Rechtsgüterschutzes nicht
mit dem Prinzip der Achtung der Menschenwürde verwechselt werden
darf. Die Lehre von der verantwortlichen Person beinhaltet nicht einen
direkten Bezug zum Schutz der Rechtsgüter, der sich in der Tatbe-
standsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und im Unrecht erschöpft, son-
dern zu der Achtung der Menschenwürde, und aus diesem Grund
15
Siehe Bustos Ramirez, a. a. O., S. 299 f.
82 Juan Bustos Ramirez

müssen die Merkmale der strafrechtlichen Verantwortlichkeit erläutert


werden. Ein Delikt stellt ein Unrecht dar, aber es besagt noch nichts
über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Menschen. Zwar ist nach
dem Strafrecht eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates der
Mensch nur für seine Taten - nicht für seine persönlichen Eigenschaften
- verantwortlich, aber das bedeutet nicht, daß bei der Beurteilung der
Tat völlig von der Person abgesehen und diese einfach nur noch als ein
Anhängsel ihrer Tat betrachtet wird. Das Unrecht macht den Menschen
nicht verantwortlich. Eine derartige Konzeption würde dem Prinzip der
Menschenwürde widersprechen, würde bedeuten, den Menschen nicht
als einen sozial Handelnden zu betrachten, und sie würde verkennen,
daß er das wesentliche Element jeglicher sozialen Beziehung und der
Sozialordnung als Ganzer ist. Es hieße zu leugnen, daß jeglicher Rechts-
güterschutz gerade auf seinem Tun basiert. Daher ist der erste Schritt bei
der Charakterisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Men-
schen die Zurechnungsfähigkeit, das heißt, die Möglichkeit, das began-
gene Unrecht (das Delikt) mit der Fähigkeit der strafrechtlichen Ant-
wort des Menschen zu verknüpfen16. Dies ist dann in erster Linie nicht
ein Problem psychologischer oder psychiatrischer Entscheidung oder
des Rechtsgutsbegriffes, sondern eine kriminalpolitische Entscheidung.
Das Problem liegt darin, die Vereinbarkeit oder NichtVereinbarkeit des
Tuns bestimmter Menschen mit dem System als solchem festzulegen. Es
geht also nicht darum, aufzuzeigen, daß es verantwortliche oder unver-
antwortliche Personen an sich gibt oder solche, die fähig bzw. unfähig
sind, Werten gegenüber Verständnis aufzubringen, sondern einfach
darum, daß sie strafrechtlich nicht verantwortlich sind, daß sie keine
Kriminalstrafe zu bekommen haben. Vereinbar mit dem System und
daher ohne strafrechtliche Verantwortlichkeit ist insbesondere das Tun
der Geisteskranken und minderjähriger Täter. Von einem strafrechtli-
chen Gesichtspunkt aus kann das Unrecht nicht mit ihrer Person ver-
bunden werden. Das soll aber nicht heißen, daß das von ihnen began-
gene Unrecht aus einer anderen Sanktionsperspektive nicht mit ihrer
Person verknüpft werden könnte, daß sie also eine zivilstrafrechtliche
oder verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit haben. Und deshalb
müssen in diesem Sinne alle übrigen Inhalte hinsichtlich ihrer Verant-
wortlichkeit eingesetzt werden (Unrechtsbewußtsein, andere Wertauf-
fassung, Zumutbarkeit des Verhaltens, Unzumutbarkeitsgründe). Die
Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit (d. h., ein solches Tun mit dem

16 Siehe Franco Basaglia y Franca Basaglia, L'ideologia de la diversità, in : La Maggior-

anza Deviante, 1971; David Cooper, Psiquiatría y antipsiquiatría, Buenos Aires, 1971;
G.Jervis, Manuale critico di psiquiatría, Milano, 1978; Albert Cohen, A general theory of
subculture, in: The socioloy of subcultures, 1970.
Kriminalpolitik und Strafrecht 83

System vereinbar erklären), bedeutet keinesfalls, die Garantien des


Menschen zu begrenzen, folglich kann dies nur die Ausschließung einer
Kriminalstrafe (und die Stigmatisierung, die einer Kriminalstrafe inne-
wohnt) bedeuten, aber sie darf diesen Rechtsgenossen nicht die garan-
tierten Rechtsprinzipien entziehen, die jeder Beurteilung über die Ver-
antwortlichkeit eigen sind, sei diese krimineller Art oder nicht, gegen-
über der Auferlegung einer bestimmten Konsequenz für die Begehung
eines Unrechts. Es entspricht dem Prinzip der Menschenwürde und der
Nicht-Diskriminierung, das dazu verpflichtet, Geisteskranke und Min-
derjährige, andernorts insbesondere die Eingeborenen, etc., von der
kriminellen Strafverantwortlichkeit auszuschließen. U n d dies nicht, weil
sie nicht die allen Personen eigenen Eigenschaften hätten (Bewußtsein
über das eigene Tun und Wertbewußtsein), sondern gerade aus Achtung
vor der Menschenwürde.
Die erste Bestimmungsebene der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
ist also diejenige, die sich auf die Zurechnungsfähigkeit bezieht. Als
solche ist sie aber überaus allgemein und umfassend, daher ist es
erforderlich, sie sowohl, was die Ebene der konkreten Fähigkeit der
bewertenden Antwort des Menschen anbelangt, zu präzisieren, als auch
seine konkrete Fähigkeit, innerhalb dieser bewertenden Antwort zu
handeln 17 . Aus kriminalpolitischer Sicht muß notwendigerweise berück-
sichtigt werden, daß die Wahrnehmung, die die Rechtsgüter implizieren,
bei jedem Menschen ein komplexer und konkreter Prozeß ist. Deshalb
muß also für das Vorliegen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei
der Person ein Bewußtsein über das begangene Unrecht vorliegen.
Folglich handelt es sich nicht um die Konzeption eines abstrakten
Bewußtseins bezüglich des Wertes an sich (oder der Wahrheit an sich),
wie die Verfechter der absoluten Straftheorien behaupteten, sondern nur
um jene objektiven Werte, die im System über die Rechtsgüter aufgegrif-
fen werden (die außerordentlich dynamisch und partizipativ und demzu-
folge relativ sind). Dieses Unrechtsbewußtsein basiert also auf einer
politischen Entscheidung, es handelt sich um das Erfordernis eines
bestimmten Bewußtseins. Was dann hinsichtlich der Person analysiert
werden muß, ist die Ubereinstimmung eines bestimmten Bewußtseins
mit diesem Erfordernis. Dieses Erfordernis existiert, entsteht aus dem
Strafrechtssystem, es existiert nicht an sich oder von Natur aus in den
Köpfen der Menschen. Das System selbst muß dem Individuum die
Mittel zur Verfügung stellen, um dieses Bewußtsein zu erreichen.
Darum ist es immer eine soziale Verantwortlichkeit, die Kriminalstrafe
bedeutet auch immer ein Scheitern des Systems. Gerade deshalb geht es

17 Siehe Bustos Ramirez, a.a.O., S.402ff, 386.


84 Juan Bustos Ramirez

hier, was die Ausschließung des Unrechts anbelangt, nicht mehr um das
Problem des Irrtums, was ein Problem der Kenntnisse ist und nicht der
Wertewahrnehmung, die immer einen komplexen sozialen und kulturel-
len Prozeß und nicht bloß Kenntnisse impliziert. Es handelt sich hier
also nicht um die Irrtumslehre, sondern um die Betrachtung eines
anderen Wertebewußtseins (so wie Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB von
einem „irrtümlichen Glauben" spricht und nicht von einem „Irrtum" im
Sinne von Abs. 1 und 2). Die traditionelle Lehre verwechselte die der
Irrtumslehre eigenen Probleme mit denen des Wertebewußtseins, das
sich von der Zumutbarkeit unterscheidet; indem sie darüber hinweg-
ging, daß Gegenstand, Voraussetzung und Folgen in jedem Fall ver-
schieden waren, faßte sie alles unter der Irrtumslehre zusammen.
Die Unvermeidbarkeit eines Unrechtsbewußtseins, das sich vom
Zumutbaren unterscheidet, muß den Ausschluß der kriminellen Verant-
wortlichkeit beinhalten (Art. 6 bis a) Abs. 3 span. StGB), da anderenfalls
der Mensch gerade für etwas Nichtzumutbares verantwortlich gemacht
würde. Das Strafrechtssystem würde den Grundsatz der Menschen-
würde verletzen, wenn es den Menschen trotz des Fehlens des Unrechts-
bewußtseins aufgrund eines anderen Wertebewußtseins strafrechtlich
verantwortlich macht. Folglich handelt es sich darum, die Unzumutbar-
keit des vom System geforderten Unrechtsbewußtseins zu erklären.
Diese Unzumutbarkeit kann allerdings nicht total sein, d.h. daß
Umstände vorliegen, aufgrund derer die Person das geforderte Bewußt-
sein haben konnte. In diesem Falle kann ein Fehlen der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit nicht ausgesprochen werden, sondern diese kann nur
gemindert werden, wie Art. 66 span. StGB aufzeigt, auf den sich Art. 6
bis a) Abs. 3 span. StGB bezieht: „Die Tat ist nicht völlig entschuldbar,
wenn nicht alle erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, um die krimi-
nelle Verantwortlichkeit auszuschließen..."
Die Irrtumslehre und die Lehre von der Unzumutbarkeit des
Unrechtsbewußtseins dürfen also nicht verwechselt werden, da sie auf
völlig verschiedenen Ebenen einwirken und weil sie verschiedene krimi-
nalpolitische und begriffliche Grundlagen haben. Folglich sind auch die
Konsequenzen verschieden. Die Unvermeidbarkeit des Irrtums schließt
das Unrecht aus, die Unvermeidbarkeit der Unzumutbarkeit des
Bewußtseins schließt nur die kriminelle Verantwortlichkeit des Men-
schen aus; beim vermeidbaren Irrtum kann das fahrlässige Unrecht
weiter vorliegen, die Vermeidbarkeit der Zumutbarkeit des Unrechtsbe-
wußtseins kann nur die Verantwortlichkeit der Person mindern (das
entsprechende Unrecht bleibt das gleiche, gleichgültig, ob es sich um ein
vorsätzliches oder fahrlässiges handelt). De lege ferenda könnte natür-
lich gefordert werden, und zwar nicht vom Grundsatz der Menschen-
würde aus und folglich im Verhältnis zur strafrechtlichen Verantwort-
Kriminalpolitik und Strafrecht 85

lichkeit, sondern von der Strafnotwendigkeit und daher von der Strafan-
wendung aus, daß die Gerichte in den Fällen der vermeidbaren Unzu-
mutbarkeit des Unrechtsbewußtseins nicht nur die Strafe mindern,
sondern die Strafanwendung ausschließen können, sei es aufgrund der
geringen Verantwortlichkeit oder der Art oder Geringfügigkeit des
Unrechts, auf das sich diese Vermeidbarkeit bezieht.
Schließlich muß hinsichtlich der Verantwortlichkeit berücksichtigt
werden, ob die vom System geforderte Verhaltensweise im konkreten
Fall des Tuns für die Person zumutbar war. Es handelt sich also nicht
darum, abstrakt die Handlungsfähigkeit der Person noch die Sittlichkeit
ihrer Handlungen zu analysieren, sondern darum, vom Unrecht ausge-
hend zu untersuchen, ob die Person in der Lage war, auf ein bestimmtes
gefordertes Verhalten zu reagieren. Das System kann vom Menschen
nicht etwas verlangen, was bei seinem konkreten Tun über die Grenzen
seiner Betrachtung als sozial Handelnder hinausgeht, und was letztend-
lich bedeuten würde, die Menschenwürde nicht zu achten und den
Menschen nur als ein Rädchen des Systems anzusehen, der nach Belie-
ben manipuliert werden kann, indem die Person als solche im Moment
des Handelns außer Betracht gelassen wird. Und in diesem Sinne muß
das System den Menschen also als solchen mit seinen Ängsten, seiner
Müdigkeit, seinen fundamentalen Bedürfnissen, etc. betrachten. Wenn
diese den Personen bei ihrem konkreten Verhalten eigenen Wesensmerk-
male nicht berücksichtigt werden, so hieße dies, die Achtung der
Menschenwürde nicht anzuerkennen und folglich wäre die einer Person
unter solchen Bedingungen auferlegte Strafe in einem sozialen und
demokratischen Rechtsstaat unrechtmäßig. Wenn also die Verhaltens-
weise nicht zumutbar ist, so muß die strafrechtliche Verantwortlichkeit
ausgeschlossen werden, und wenn nicht alle für die Erklärung der
Unzumutbarkeit notwendigen Voraussetzungen vorliegen, dann muß
die Verantwortlichkeit gemindert werden. Es handelt sich also nicht um
eine Gnadenbezeugung des Systems, sondern um eine direkte Konse-
quenz des Grundsatzes der Achtung der Menschenwürde, ohne den der
Staat keine Strafe verhängen kann. Das bedeutet: nicht nur im Rechtsgut
liegt die Begründung und Begrenzung für das strafende Eingreifen des
Staates, vielmehr gilt das gleiche auch für die Menschenwürde.
Schließlich steht neben der Verbrechenslehre und der Lehre von der
verantwortlichen Person die Lehre von der Strafanwendung, die sich im
wesentlichen nach dem Prinzip der Strafnotwendigkeit richtet. Das
heißt, auch wenn die Strafe verdient ist, weil es ein Delikt und eine
verantwortliche Person gibt, kann aus kriminalpolitischer Sicht die
Strafanwendung als nicht notwendig erscheinen, oder die Strafe ist auf
andere Art oder in geringerem Maße oder mit anderen Bedingungen
anzuwenden. Das gültige Strafrecht hat also anzuerkennen, daß es
86 Juan Bustos Ramirez

innerhalb des Systems nicht nur eine einzige Lehre gibt, sondern meh-
rere, die in dynamischer und dialektischer Weise untereinander verbun-
den sind, und daß es immer darum geht, das kriminelle Problem als ein
sozialpolitisches Problem anzusehen und daß darum immer die Beteili-
gung der Rechtsgenossen und das Angebot von Möglichkeiten zur
Lösung von sozialen Konflikten vorliegen muß.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik
H A N S - D I E T E R SCHWIND

In einem 1972 veröffentlichten Aufsatz1 hat Hilde Kaufmann darauf


verwiesen, daß „Kriminalpolitik jetzt verstanden wird als die Wissen-
schaft von den notwendigen Änderungen der Strafrechtspflege". Gehe
man „über dieses Verständnis des Wortes Kriminalpolitik hinaus, so
(sei) selbstverständlich der gesamte Bereich der Politik irgendwie immer
auch zugleich Kriminalpolitik: Wirtschaftspolitik, Wohnungspolitik,
Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrspolitik, ja selbst die
Außenpolitik und viele andere Zweige der Politik (hätten) natürlich alle
irgendwie Berührungspunkte mit dem Phänomen Verbrechen und Ver-
brecher und (würden) mal mehr, mal weniger, auch in diesen Bereich
hineinwirken"2. Diese umfassendere Definition kriminalpolitischer Auf-
gabenstellung setzt sich vor dem Hintergrund zunehmender Kriminali-
tätsprobleme in unserer Gesellschaft immer mehr durch, weil sie darauf
angelegt ist, die (lange vernachlässigte) außerstrafrechtliche Kriminal-
prävention auszubauen. Danach ist unter Kriminalpolitik die Gesamt-
heit aller staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die zum Schutz der
Gesellschaft und des einzelnen Bürgers auf Verhütung und Bekämpfung
von Kriminalität gerichtet sind3. Erst in diesem Rahmen wird auch die
Kriminologie - über die Poenologie hinaus - als Grundlage (rationaler)
Kriminalpolitik relevant. Den Ausgangspunkt jeder Kriminalpolitik bil-
det jedoch zunächst die Beurteilung der Kriminalitätslage.

I. Kriminalitätslage und Kriminalitätsprognose


So gehören zu den jährlich wiederkehrenden Meldungen der Medien
immer wieder auch jene, nach denen in der Bundesrepublik Deutschland
die Kriminalitätszahlen steigen (so grundsätzlich bis 1983) oder fallen (so
1984).

1 Kaufmann, H.: Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik?, in: J Z 1972, 79.
2 Kaufmann, H. a . a . O . (Fn. 1).
5 Schwind, H.-D.: Zur kriminalpolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland,
in: Schwind, H.-D. / Berckhauer, F. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Präventive Kriminalpolitik,
Heidelberg 1980, S.3—26; so inzwischen z.B. auch Burkhard, W. / Herold, H. / Hama-
cher, H. W. / Schreiber, M. / Stümper, A. / Vorbeck, A.: Kriminalistik-Lexikon, Heidel-
berg 1984, S. 116.
88 Hans-Dieter Schwind

1. Zur Kriminalitätslage
Die Grundlage dieser Informationen bildet die Polizeiliche Kriminal-
statistik (PKS), die das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden in
jedem Frühjahr für das abgelaufene Kalenderjahr herausgibt.
a) Für 1983 enthält die PKS (,,//e///e/i/-Kriminalität") u.a. folgende
Angaben:
- registriert wurden insgesamt 4,345 Millionen Straftaten (absolute Zahl). Zum Ver-
gleich: 1973 waren es erst 2 , 5 5 9 Millionen Delikte; die Steigerungsraten schwankten
pro Jahr zwischen 1 , 2 % und 8 , 0 % ;
- die Häufigkeitszahl ( H Z = Zahl der bekannt gewordenen Fälle pro 100 0 0 0 E i n w o h -
ner) ist von 4 1 3 , 0 (1973) auf 7074,3 (1983) gestiegen. Das heißt (pauschal rechne-
risch), daß 1983 für rund 7 % der Bevölkerung eine Straftat registriert worden ist;
- die Zahl der Tatverdächtigen hat sich von 1,023 Millionen (1973) auf 1,611 Millionen
( 1 9 8 2 ; 1983 in der P K S nicht ausgedruckt) erhöht; dementsprechend stieg die
Kriminalitätsbelastungszahl ( K B Z = Zahl der ermittelten Tatverdächtigen pro
1 0 0 0 0 0 Einwohner) auf 2 8 3 0 , 2 (1982; 1983 wiederum nicht ausgedruckt); besonders
bemerkenswert ist der Anstieg der Jugendkriminalität (Steigerung von 1974 bis 1982
um 64,3 % bei den männlichen Tatverdächtigen und um 89,6 % bei den weiblichen
Tatverdächtigen).

Daß die Fallzahlen 1984 (um 4,9 %) gesunken sind, hat u. a. mit
folgenden Ursachen zu tun: erstens mit technisch bedingten Minderer-
fassungen von Straftaten (in Baden-Württemberg) und der Nichtberück-
sichtigung von Uberhangdelikten aus dem Vorjahr (in Bremen); zwei-
tens mit dem Verzicht der Versicherungen auf die Anzeigepflicht in
bestimmten Fällen; und drittens wahrscheinlich mit den ersten Folgen
des „Pillenknicks" (geburtenschwache Jahrgänge).
Auf die dritte Ursache dürfte z.T. auch die 1984 beobachtete Verrin-
gerung der Tatverdächtigenzahlen (Abnahme gegenüber 1983 um rund
350000) zurückzuführen sein. Diese Abnahme hat jedoch noch eine
weitere erhebliche Ursache, nämlich die „Bereinigung der Tatverdächti-
genzahlen": Danach werden ab 1.1.1984 Tatverdächtige, denen im
Erfassungszeitraum mehrere Straftaten zur Last gelegt werden, nur noch
einmal gezählt; die Zahlen verringern sich dadurch um etwa 20 %\ 1985
nahm die Zahl der registrierten Straftaten wieder von 4,132 Millionen
(1984) auf 4,215 Millionen ( + 2 , 0 % ) zu (PKS für Bund und Länder
1986, 2).
b) Jeder, der sich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) einmal
näher befaßt hat, weiß allerdings, daß diese nur einen Bruchteil der
Kriminalität registriert: Denn in der PKS können naturgemäß nur jene
Delikte gezählt werden, die angezeigt oder auf anderem Wege den

4 Vgl. dazu schon Heinz, W.: „Bereinigte" Tatverdächtigenzählung, in: Kriminalistik


1975, 556 ff.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 89

Strafverfolgungsbehörden bekannt werden. Über das „Dunkelfeld" 5 der


nicht angezeigten Delikte kann die PKS also keine Aussage machen,
d.h. die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt lediglich einen Ausschnitt
aus der Gesamtkriminalität, die sich erst aus der Addition von Hell- und
Dunkelfeldziffern ergibt. Der Umfang dieser Kriminalitätsteilfelder
hängt primär von vier Umständen ab: erstens von der Kriminalitätsent-
wicklung; zweitens vom Anzeigeverhalten der Bürger; drittens von der
Intensität der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden und viertens von der
Entwicklung der Bevölkerungszahlen (etwa Zuwanderungen auf der
einen Seite, geburtenschwache Jahrgänge auf der anderen Seite). Dabei
wird die entscheidende Weiche durch das Anzeigeverhalten (insbeson-
dere der Opfer) gestellt. Die PKS-Zahlen können deshalb nur dann
etwas über steigende oder fallende (Gesamt-)Kriminalität aussagen,
wenn das Anzeigeverhalten konstant bleibt.
c) Ein konstantes Verhältnis hat noch im 19.Jahrhundert der Belgier
Adolphe L.J. Quetelet (1796-1874) angenommen, der in seiner Schrift
„Physique s o c i a l e . . a u f g r u n d einer Statistik über Totschlagsdelikte in
Frankreich u. a. zutreffend ausgeführt hat: „Dieses Verhältnis ist not-
wendig, und, ich wiederhole es, wenn es dieses nicht tatsächlich gäbe,
wäre alles, was bis heute aufgrund der statistischen Unterlagen über das
Verbrechen ausgesagt wurde, falsch und absurd". Noch Hellmef ver-
mutet, daß uns das „Dunkelfeld nicht interessiert, weil es überall gleich
groß ist". Hellmer nimmt also an, daß die Relation zwischen Hell- und
Dunkelfeld konstant ist. Dieser Standpunkt dürfte auch noch der heuti-
gen Auffassung der (meisten) Polizeibehörden und zahlreicher Krimi-
nalpolitiker (und Journalisten) entsprechen. Man geht davon aus, „daß
der erfaßte Ausschnitt innerhalb tolerierbarer Grenzen repräsentativ
oder doch symptomatisch für Struktur und Bewegung der Kriminalität"8
ist. So halfen sich Kriminologie und Kriminalpolitik über das Dilemma
des Dunkelfeldes bislang (grundsätzlich) mit der Hypothese von der
Konstanz des Verhältnisses zwischen registrierter und nicht registrierter
Delinquenz hinweg, was impliziert, daß die PKS insoweit ein (noch)
brauchbares Barometer für das Steigen oder Sinken der Gesamtkrimina-

5 Darunter wird die Summe jener Delikte beschrieben, die den Strafverfolgungsbehör-

den nicht bekannt werden und deshalb in der Kriminalstatistik auch gar nicht erscheinen
{Schwind, H.-D. / Ahlhorn, W. / Eger, H.J. et al.: Dunkelfeldforschung in Göttingen,
Wiesbaden 1975, S. 16).
' Quetelet, A.: Physique sociale ou Essai sur le développement des facultés de
l'homme, Bd. 2, 1869, S. 251.
7 Hellmer, J.: Kriminalgeographie und Verbrechensbekämpfung, in: Kriminalist 1974,

103.
8 Dazu Heinz, W.: Das System der Strafrechtspflegestatistiken, in: Allgemeines Stati-
stisches Archiv 1975, 97.
90 Hans-Dieter Schwind

lität darstellt. Empirische Hinweise zu dieser Frage liegen inzwischen


aus der Bochumer „Empirischen Kriminalgeographie" (1978)9 sowie aus
einer Untersuchung über die „Strukturen der Kriminalität in Solingen"
(1985)10 vor. Dabei hat sich in beiden Arbeiten deutlich gezeigt, daß das
Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld in den einzelnen Stadtteilen von-
einander mehr oder weniger differiert. Gleichwohl fällt auf, daß dort,
wo das Hellfeld groß ist, auch die Dunkelfeldzahlen hoch liegen; man
darf danach die Hypothese von Quetelet und Hellmer dahingehend
modifizieren, daß
- die Vermutung der konstanten Verhältnisse nur insoweit zutrifft, als es so zu sein
scheint, daß neben hohen Hellfeldzahlen auch hohe Dunkelfeldzahlen stehen,
- aber in wechselnder Relation zueinander11.

Wenn sich Hell- und Dunkelfeld danach nicht (berechenbar) konstant


zueinander verhalten und auch nicht (wie andere annehmen) umgekehrt
proportional, gibt es (bisher) für die Kriminalpolitik insoweit keine
gesicherte Grundlage; jedenfalls solange es (hierzulande) noch an stati-
stikbegleitender Dunkelfeldforschung fehlt. In den USA, in Kanada und
in Holland sind zumindest entsprechende Ansätze zu beobachten: Dort
werden bereits in regelmäßigen Abständen Opferbefragungen durchge-
führt.

2. Zur Kriminalitätsprognose
Nicht zuletzt die ungelöste Dunkelfeldfrage erschwert auch die Pro-
gnose der künftigen Kriminalitätsentwicklung, die als Grundlage krimi-
nalpolitischer Entscheidungen Bedeutung besitzt. Seit Juni 1982 machte
sich über diese Frage auch ein Prognosegremium „Entwicklung der
Kriminalität" Gedanken, das der Präsident des Bundeskriminalamts
entsprechend dem Auftrag aus § 2 Abs. 1 Ziff. 5 des BKA-Gesetzes
(„Beobachtung und Analyse der Kriminalitätsentwicklung") eingesetzt
hat12 (Ende 1985 wieder aufgelöst).
Zu den Methoden der Kriminalitätsprognose, die inzwischen am
häufigsten diskutiert und auch praktiziert werden, gehören:
- die „einfache Zeitreihenverlängerung",
- quantitative Ansätze zur Modellbildung,
- Expertenbefragungen sowie die Mischform des
- Szenario-Ansatzes.

9 Schwind, H.-D. / Ahlhorn, W. / Weiß, R.: Empirische Kriminalgeographie - Krimi-


nalitätsatlas Bochum, Wiesbaden 1978, 190 ff.
10 Plate, M. / Schwinges, U. / Weiß, R.: Strukturen der Kriminalität in Solingen,
Wiesbaden 1985.
11 Schwind, H.-D. / Ahlborn, W. / Weiß, R. a. a. O. (Fn. 9), S. 192.
12 Vgl. dazu Kube, E.: Kriminalitätsprognose. Überlegungen zur Notwendigkeit,
Möglichkeiten und Grenzen, in: MschrKrim. 1984, 11.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 91

a) Mit der Methode der „einfachen Zeitreihenverlängerung" ist die


lineare Verlängerung von statistischen Zeitreihen gemeint, also die
Hochrechnung z . B . der Zahlen der PKS (oder der Verurteiltenzahlen
oder der Belegungszahlen im Strafvollzug), und zwar jeweils von der
Vergangenheit in die Zukunft. Dabei kann die Bevölkerungsentwicklung
mitberücksichtigt werden oder auch nicht. Läßt man die Bevölkerungs-
entwicklung unberücksichtigt, würden die Kriminalitätszahlen bei einfa-
cher Zeitreihenverlängerung von 1983 (PKS: 4,345 Millionen Delikte)
bei einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von nur 4 % bis
zum Jahre 2000 auf 8,464 Millionen Straftaten anwachsen und bis zum
Jahre 1050 auf 60,148 Millionen Delikte. Legt man die Abnahme der
Kriminalitätszahlen (von 1984) zugrunde, kann man ebenso ausrechnen,
wann nach dieser Prognose überhaupt keine Straftaten mehr verübt
(d. h. registriert) werden.

b) Zu den Ansätzen, die zur Verfeinerung der Methodik entwickelt


wurden, gehört die quantitative Modellbildung, die im Rahmen der
Trendschätzung nicht nur demographische Daten berücksichtigt, son-
dern darüber hinaus auch andere Faktoren in die Vorhersage mit einzu-
beziehen versucht (Arbeitslosenquote, Ausländeranteil, Polizeistärke
oder Altersaufbau der Bevölkerung usw.). Daß der Altersaufbau der
Bevölkerung eine wichtige Indikator-Funktion erfüllen kann, ist plausi-
bel: Jüngere begehen im Schnitt mehr Delikte als ältere Menschen.
Verwendet man allein diese Erkenntnis für die Kriminalitätsprognose in
der Bundesrepublik Deutschland (in der die Zahl der 15-20jährigen
- infolge des „Pillenknicks" - abnimmt, die der über 50jährigen hinge-
gen ansteigt), müßte man davon ausgehen, daß die Jugendkriminalität
bis zum Jahre 1990 voraussichtlich (weiter) zurückgehen wird. Zu
diesem Ergebnis ist auch das Prognose-Gremium des Bundeskriminal-
amts gelangt13, das als Einflußgrößen z.B. noch die Arbeitslosigkeit
mitberücksichtigt hat. Dabei wird aber auch auf Probleme verwiesen,
„die insbesondere in der unzureichenden Datenbasis wie auch in den
relativ willkürlichen Modellannahmen begründet sind"14.
c) Bei der Expertenbefragung „werden einer Gruppe von jeweils
getrennt angesprochenen Experten Fragen zu zukünftigen Entwicklun-
gen, zur Bewertung der Eintreffwahrscheinlichkeit von Ereignissen, zur
Ausarbeitung von Entwicklungskonstellationen usw. gestellt. Die Häu-
figkeitsverteilung der Expertenmeinungen wird je gefragtes Statement
durch den Median (Wert, der die Mittellinie zwischen 50 % Aussagen

13 Bundeskriminalamt (Projektgruppe Prognose-Gremium): Jugenddelinquenz bei


Deutschen und Ausländern, 1984, 37.
14 BKA a . a . O . (Fn. 13), S.36.
92 Hans-Dieter Schwind

mit höheren bzw. niedrigeren Ausprägungen bildet) und die Extrem-


werte ausgedrückt. Diese Auswertung wird jedem Teilnehmer zurück-
gespielt mit der Bitte, Extremabweichungen in seinem Urteil zu erläu-
tern. Auch nach dieser Runde wird wieder die Verteilung der Äußerun-
gen ermittelt und den Experten mitgeteilt. Durch mehrmaliges Wieder-
holen der Prozedur soll eine Konzentration der Meinungen bis mög-
lichst hin zur Ubereinstimmung bewirkt werden"15.
d) Der Szenario-Ansatz arbeitet mit einem doppelten Ansatz: Zunächst
werden Trendentwicklungen verlängert (einfache bzw. quantitative
Zeitreihenverlängerung), die dann anhand qualitativer Elemente (z.B.
durch Expertenbefragung) ergänzt (bzw. korrigiert) werden. Dabei wird
unter dem „Szenario" das Ergebnis verstanden, das alle Annahmen,
Voraussetzungen und Parameter (Randbedingungen) aufführt und des-
halb auch Alternativen (bzw. Varianten) der Kriminalitätsentwicklung
aufzeigen kann.
Dieser Szenario-Ansatz ist z.B. von Loll benutzt worden, der im
Auftrag des Bundeskriminalamts eine Untersuchung zur zukünftigen
Entwicklung der Jugendausländerkriminalität durchgeführt hat. Loll
„wählte eine Kombination von quantitativen (mathematisch-statisti-
schen) mit mehr qualitativen Elementen (d.h. Expertenbefragungen),
die sich auf den kriminologischen und sozialwissenschaftlichen Erkennt-
nisstand stützen"16. Dabei hat er „unter Einbeziehung der im Ausland
(USA, Großbritannien, Israel) mit der zweiten Einwanderergeneration
gemachten Erfahrungen aus den einschlägigen kriminologischen Theo-
rien die folgenden wesentlichen ,Prädikatoren' für die Delinquenzent-
wicklung ausländischer Jugendlicher" abgeleitet17:
- die Bevölkerungsentwicklung, d. h. hier die absolute und relative Anteilszunahme
von Ausländern im Alter unter 21 Jahren an der Wohnbevölkerung;
- den geringen Schulerfolg bzw. den geringen Anteil ausländischer Schüler an weiter-
führenden Schulen;
- den niedrigen sozio-ökonomischen Status der Ausländer, erkennbar an ihrem gerin-
gen Angestelltenanteil;
- die überdurchschnittliche und zunehmende Arbeitslosenquote der Ausländer;
- die Zunahme der Aufenthaltsdauer, wodurch wachsende Ansprüche der jungen
Ausländer auf tendenziell sich verringernde Chancen stoßen, ihre Ziele mit legalen
Mitteln zu erreichen, sowie
- die Konzentration von Ausländern in kriminalitätsbelasteten statustiefen Gebieten
(nur in H a m b u r g ermittelt).

15 Wittkämper, G. W.: Probleme bei der Prognose der Aufgabenentwicklung der


öffentlichen Verwaltung, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Sonderband der B K A - F o r -
schungsreihe, 1985.
" Vgl. Bundeskriminalamt (Hrsg.): Stand und Entwicklung der Delinquenz ausländi-
scher Jugendlicher, 1983, 12.
17 BKA a . a . O . (Fn.16).
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 93

Die aufgrund dieser Prädiktoren erarbeitete Trendanalyse von Loll hat


ergeben, „daß sich infolge der in den kommenden Jahren voraussichtlich
weiter ansteigenden Zahl junger Ausländer die Anzahl der tatverdächti-
gen Schüler und Studenten in der Bundesrepublik Deutschland bis zum
Jahre 1988 (bezogen auf 1981) um ca. 5 2 % auf über 48000 erhöhen
wird18. Auch die Kriminalitätsbelastungszahlen werden bis 1988 deutlich
ansteigen"19. Loll20 weist jedoch „ausdrücklich darauf hin, daß diese
Prognose wegen der relativ willkürlichen Gewichtung der Variablen und
wegen verschiedener Störeinflüsse nur einen sehr vorläufigen Charakter
habe". Die Zahl der tatverdächtigen Ausländer soll aber auch nach einer
Prognose der „Arbeitsgruppe Bevölkerungsfragen" (beim Bundesmini-
sterium des Innern) bis zum Jahre 2000 weiter anwachsen21. Ob diese
Vorhersagen zutreffen, wird nicht zuletzt von der Durchsetzungskraft
der deutschen Ausländerpolitik (Begrenzungs- und Integrationspolitik)
abhängen22.

II. Kriminalpolitik
Kriminalitätsprognosen sind jedoch fast immer noch so unsicher wie
der Wetterbericht, d.h. sie können der Kriminalpolitik grundsätzlich
kaum verwertbare (sichere) Grundlagen bieten. Deshalb sollte sich der
Kriminalpolitiker (und zwar im Interesse der Sicherheit der Bürger des
Staats) an der pessimistischen Variante möglicher Zukunftsaussichten
orientieren; jedenfalls dann, wenn diese nicht ganz unwahrscheinlich
erscheint. Für diese Auffassung dürfte insbesondere sprechen, daß kri-
minalpolitische Maßnahmen (zur Kriminalitätsvorbeugung und zur
Rückfallverhütung) nicht verspätet einsetzen dürfen, wenn sie Erfolg
haben sollen.

1. Kriminalitätsvorbeugung (primäre Kriminalprävention)


Zur Kriminalitätsbekämpfung setzt der Kriminalpolitiker ein: erstens
Strafe und Strafdrohung, von denen er sich spezialpräventive bzw.
generalpräventive Wirkungen auf (potentielle) Straftäter verspricht;
zweitens außerstrafrechtliche kriminalitätsvorbeugende Maßnahmen.
Neben diesen Maßnahmen der primären Kriminalprävention stehen
Aktivitäten zur Rückfallverhütung (sekundäre Kriminalprävention).
18 BKA a . a . O . (Fn.16), S.37.
" BKA a . a . O . (Fn.16), S. 13.
20 Loll, zit. nach Kube a. a. O. (Fn. 12).

21 Bundesregierung: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik


Deutschland, BT-Drucks. 3/84 vom 3 . 1 . 1 9 8 4 , S. 108.
22 Vgl. zusammenfassend dazu Schwind, H.-D.: Wie lösen wir die Ausländerfrage? -
Das Gastarbeiterproblem aus (kriminal-) politischer Sicht, Teil 1, in: Kriminalistik 1983,
S. 303-325; Teil 2: 1983, S. 358-360.
94 Hans-Dieter Schwind

a) Vorbeugung durch Abschreckung


Herkömmliches Instrument der Kriminalpolitik ist die Strafdrohung.
Nach dem Stand der poenologischen Forschung wirkt diese jedoch nur
dann abschreckend, wenn das Mißerfolgsrisiko hoch ist: das Risiko
nämlich, gefaßt und verurteilt zu werden23. Deshalb ist es in kriminalpo-
litischer Hinsicht z. B. vernünftig, die Polizei personell gut auszustatten
und gut auszubilden, um das Mißerfolgsrisiko des (potentiellen) Täters
möglichst hochzuschrauben. Die kleinen Polizeidienststellen zu zentra-
lisieren, wie das in den 70er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland
geschah, war danach schon deshalb ein Fehler, weil das Mißerfolgsrisiko
(der Straftäter) damit in den polizeientblößten Gebieten abnehmen
mußte: Der „Wiederholungseffekt des erfolgreichen Täters" ermunterte
zu weiteren Straftaten. Kriminalpolitisch vernünftig war deshalb die
roll-back-Entscheidung, „Kontaktbereichsbeamte" wieder vor Ort ein-
zusetzen; hier können diese auch das Vertrauen des Bürgers gewinnen,
das nicht nur das Anzeigeverhalten mitbestimmt, sondern vor allem
auch für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und die Aufklärungsar-
beit der Polizei erhebliche Bedeutung besitzt.

b) Vorbeugung durch sozialpolitische Maßnahmen


Kriminalprävention wird aber nicht nur durch Abschreckung bzw.
hohes Mißerfolgsrisiko (potentieller) Straftäter als möglich betrachtet,
sondern auch durch sozialpolitische Maßnahmen, die bereits im Vorfeld
krimineller Entwicklungen ansetzen müssen. So beginnt sich auch in der
Bundesrepublik Deutschland die Erkenntnis durchzusetzen, daß
(erstens) die steigende Kriminalität mit den Mitteln des Strafrechts allein
nicht zu bewältigen ist und (zweitens) Prävention, wenn sie Erfolg
haben will, verstärkt früher ansetzen muß als bisher; auch hier gilt die
alte Erkenntnis: Vorbeugen ist besser als Heilen. Nach dem ressortüber-
greifenden kriminalpolitischen Ansatz sollte die entsprechende Präven-
tion in allen kriminalpolitisch relevanten Bereichen der Politik aufgebaut
werden: etwa im Rahmen der Schulpolitik (Stärkung des Rechtsbewußt-
seins durch Rechtskundeunterricht), Arbeitsmarktpolitik (Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit) oder Ausländerpolitik (Begrenzung des Zu-
zugs und Integration von bleibewilligen Ausländern, insbesondere der
Zweiten und Dritten Generation). Diese Gedanken sind freilich keines-
wegs neu. So hat schon Franz von Liszt die Meinung vertreten, daß die
beste Kriminalpolitik in einer guten Sozialpolitik besteht24. Eine solche
Kriminalpolitik setzt jedoch entsprechende Ursachenkenntnis voraus.

23 Vgl. dazu ausführlich z. B. Schwind, H.-D.: Uber Poenologie aus kriminalpolitischer


Sicht, in: Festschrift für Wassermann, 1985, 1021 ff.
24
v. Liszt, F.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Berlin 1905, Bd. 2, S.246.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 95

Dementsprechend hat von Liszt25 auch darauf verwiesen, daß „jeder


Kriminalpolitiker Dilettant bleibt, wenn ihm die feste wissenschaftliche
Grundlage fehlt, die er nur in der genauesten und umfassendsten Kennt-
nis der Tatsachen gewinnen kann". Insoweit ist jedoch zu beklagen, daß
wir über die Ursachen kriminellen Verhaltens und darüber, wie man
sinnvoll vorbeugen kann, noch immer zu wenig wissen. So wies z . B .
Kerner1'' - wenn auch überspitzt formuliert - darauf hin, daß wir noch
nicht einmal wissen, warum Menschen Normen überhaupt beachten,
geschweige denn, warum sie sie brechen. Worauf also kann der Krimi-
nalpolitiker dann noch zurückgreifen, wenn er beabsichtigt, seine Ent-
scheidungen an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren.

2. Rückfallverhütung (sekundäre Kriminalprävention)


Im Rahmen der Bekämpfung des kriminellen Rückfalls setzen viele
Kriminalpolitiker ihre Hoffnungen auf den „Behandlungsvollzug", den
auch das Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 (BGBl. I, 1976, 581 ff)
postuliert. Zweifel hinsichtlich des Behandlungserfolges bei Straftätern
im Freiheitsentzug stellten sich allerdings z. B. aufgrund einer Sekundär-
analyse ein, die Lipton, Martinson und Wilks17 über 231 Untersuchungen
von Gefängnisbehandlungsprogrammen in den U S A vorgelegt haben;
danach sollen die Behandlungsbemühungen kaum wesentlichen Einfluß
auf die Rückfälligkeit gehabt haben. Die Folge, die dieses Resultat
ausgelöst hat, war für den Behandlungsvollzug in den Vereinigten
Staaten verheerend. Köberer28 spricht insoweit von einem „justizpoliti-
schen roll-back in den U S A " : weg von der „ Rehabilitationsideologie"
hin zur „Abschreckungsrealität" 2 '. Auch von Kaiser30 ist beobachtet
worden, daß „nach einigen Jahren partieller Behandlungseuphorie der
Trend jetzt umgeschlagen ist". Abgesehen davon, daß die Resultate von
Lipton u. a. auch in den U S A (und zwar wegen methodischer Mängel)
kritisiert worden sind, darf man festhalten, daß sich die enttäuschenden
Ergebnisse über die Wirkungen des Behandlungsvollzugs, die für die
Vereinigten Staaten vorgebracht werden31, bei uns (zumindest bisher

25
v. Liszt, F.: Kriminalpolitische Aufgaben, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge,
Bd. 1, Berlin 1905, S.202.
26
Kerner, H.-J.: Die Stellung der Prävention in der Kriminologie, in: Bundeskriminal-
amt (Hrsg.): Polizei und Prävention, Wiesbaden 1976, S. 19.
27 The Effectiveness of Correctional Treatment, New York 1975.
28
Köberer, W.: Läßt sich Generalprävention messen?, in: MschrKrim. 1982, S.200.
29 Vgl. dazu Andenaes, ].: General Prevention Revisited, in: Journal of Criminal Law
and Criminology 66/1975, S. 338-365.
30
Kaiser, G.: Kriminologie, Heidelberg 1980, S.287.
31 Zusammenfassend dazu Ott, H.-J.: Generalprävention und externe Verhaltenskon-
trolle, Freiburg 1982.
96 Hans-Dieter Schwind

noch) nicht eingestellt haben32. Allerdings sind auch die deutschen


Arbeiten (und zwar ebenfalls wiederum wegen methodischer Problema-
tik) nicht kritiklos geblieben. Unklar ist insbesondere, was eigentlich im
Rahmen der Legalitätsuntersuchungen gemessen wird: Wirkungen der
Behandlung (wenn ja, welcher?) oder (und) die (evtl.) Wirkungen der
Abschreckung (Vollzugsprävention)? Wenig bekannt ist ferner darüber,
ob „Behandlung" in Unfreiheit überhaupt wirksam ist bzw. ob die
„Freiwilligkeit" der Probanden zur Behandlung im Strafvollzug insoweit
ausreichen kann; wenig wissen wir schließlich auch darüber, wie lange
ein evtl. Behandlungserfolg andauert. Nach den Ergebnissen einer nie-
dersächsischen Untersuchung nimmt die entsprechende Konditionie-
rung jedenfalls offenbar von Jahr zu Jahr ab: Im ersten Jahr nach der
Entlassung wurden 41 % der Probanden rückfällig, im zweiten Jahr
waren es bereits 53 % , im dritten Jahr 61 % , im vierten Jahr 66 % und im
fünften Jahr rund 70 % " . Die Untersuchung wird fortgesetzt.
Verunsicherung und Skepsis in bezug auf die kriminalitätsmindernde
(straftatverhütende bzw. rückfallbekämpfende) Wirkung der Kriminal-
sanktionen hat (über die enttäuschenden USA-Resultate über die Wir-
kungen des Behandlungsvollzugs hinaus) die These von der Austausch-
barkeit und Alternativität der Sanktionen ausgelöst. Diese These hat
zum Inhalt, „daß bei fast allen Kriminalsanktionen, unabhängig von der
speziell erfaßten Risikogruppe, ähnlich hohe Erfolgs- und Mißerfolgs-
sätze beobachtet werden" 34 . Danach wird die Meinung vertreten, „daß
im Durchschnitt, also im sogenannten Mittelfeld der verurteilten
Rechtsbrecher und auch der entsprechenden Kriminalsanktionen, (im
individualpräventiven wie im generalpräventiven Bereich) die Erfolgs-
chance immer gleich groß ist: etwa 60 % unabhängig davon, welche Art
Sanktion im einzelnen auch verhängt wird" 35 .
Diesen Ergebnissen widerspricht jedoch eine Zusammenstellung der
Befunde von 140 Rückfalluntersuchungen durch Berckhauer und
Hasenpusch*, die deutliche Unterschiede im Ausmaß des Rückfalls je
nach Sanktionsart und Vollzugsform festgestellt haben. So beträgt die

32 Vgl. dazu die Rückfalluntersuchung von Berckhauer, F. / Hasenpusch, B. (für


Niedersachsen), in: MschrKrim. 1983, S. 320ff, und Baumann, K.-H. / Maetze, W. / Mey,
H. (für Nordrhein-Westfalen), in: MschrKrim. 1983, S. 133 ff.
35 Berckhauer, F. / Hasenpusch, B.: Legalbewährung und Strafvollzug, in Schwind,
H.-D. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Rückfallverhü-
tung, Kriminologische Forschung, Bd. 2, Heidelberg 1982, S.302.
34 Kaiser, G.: Was wissen wir von der Strafe?, in: Festschrift für Bockelmann, 1979,

S.939.
35 Kaiser, G. a . a . O . (Fn.30), S.283.

36 In Schwind, H.-D. / Steinhilper, G. (Hrsg.): Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung


und Resozialisierung, Heidelberg 1982, S.287.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 97

durchschnittliche Rückfallquote nach Geldstrafe nur 2 6 % , nach Straf-


aussetzung zur Bewährung 51 % und nach Vollverbüßung der Freiheits-
strafe im Regelvollzug 62 % . Danach fällt auf, daß die Rückfälligkeit
nach ambulanten Maßnahmen (außerhalb des Vollzugs: Geldstrafe und
Bewährung) geringer sein soll als nach stationären Maßnahmen (Frei-
heitsentzug).
Ob und inwieweit die Differenzen mit den Unterschieden zwischen
den betroffenen Probandengruppen erklärt werden können, ist aller-
dings noch weitgehend unklar. Die Resultate sind jedenfalls solange
noch wenig aussagekräftig, bis „nicht geklärt ist, ob es sich dabei um
vergleichbare Taten und Täter handelt"37.
Obgleich also die Ursachen der Unterschiede noch ungeklärt sind, hat
sich die Sanktionspraxis der letzten Jahrzehnte aufgrund von Gesetzes-
änderungen und durch Rechtsprechungswandel nicht unerheblich verän-
dert: Deutlich ist insbesondere die Verschiebung von den stationären zu
den ambulanten Kriminalsanktionen erkennbar. Dementsprechend wer-
den seither die vollstreckten Freiheitsstrafen verdrängt, und zwar durch
die Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung sowie durch die
Geldstrafe: So sank die Zahl der Freiheitsstrafen ohne Bewährung von
37,3 % (1950) auf 23 % (1965) bis auf 6,5 % (1982) ab (abgestellt auf die
Verurteilung wegen Verbrechen oder Vergehen nach allgemeinem Straf-
recht); zugleich stieg die Zahl der Freiheitsstrafen, die zur Bewährung
ausgesetzt wurden, erheblich an. Zur Regelstrafe unter den Kriminal-
sanktionen wurde allerdings inzwischen die Geldstrafe. Ob diese wirk-
samer ist als der „short sharp shock" der kurzen Freiheitsstrafe, hat
empirisch aber auch noch nicht belegt werden können.

III. Praxisorientierte Forschung als Postulat


Die danach noch unsicheren Grundlagen der Kriminalpolitik berech-
tigen zu der Frage: „Was leistet die Kriminologie eigentlich für die
Gesellschaft?"38. Vor dem Hintergrund dieser Frage mutet auch der
Streit im kriminologischen Lager darüber merkwürdig an, ob die krimi-
nologische Forschung (an den Hochschulen) zur Objektivierung von
Kriminalpolitik überhaupt beitragen soll oder ob sie sich dadurch „pro-
stituiert" 3 '! Im übrigen wird der vorgelegten Hochschulforschung vor
allem von der Praktikerseite, aber auch aus den eigenen Reihen der

37 Zutreffend z . B . Göppinger, H.: Kriminologie, München 1980, S.367.


" Wolff, ].: Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kriminologie, in: KZfSS
3

1974, S. 301-315.
39 Vgl. dazu die zusammenfassenden Hinweise bei Störzer, H. U.: Staatskriminologie -

subjektive Notizen, in: Festschrift für H. Leferenz, Heidelberg 1983, S. 81.


98 Hans-Dieter Schwind

Vorwurf gemacht, daß ihre empirische Forschung zu wenig an den


Bedürfnissen der Praxis orientiert sei40. Mit praxisorientierter Forschung
ist dabei solche Forschung gemeint, die der Praxis empirisch abgesi-
cherte Entscheidungshilfen zur Verfügung stellen kann. Auch KaiserM
räumt in diesem Zusammenhang ein, daß „es mit der Leistung der
Kriminologie, mit ihren Befunden unmittelbar etwas anfangen zu kön-
nen, noch nicht gut bestellt sei". Unter diesen Umständen kann es nicht
überraschen, daß sich als überwiegend praxisorientierte Alternative zur
Universitätsforschung eine „behördeninterne Forschung" etabliert hat.
Der Gedanke der behördeninternen Forschung - der Forschung
innerhalb einer Behörde - ist jedoch keineswegs neu. Wiederum schon
Franz von Liszt hat die Schaffung kriminologischer Institute bei den
Polizeidirektionen gefordert42. Hans Gross trat (1913) für die Gründung
eines „Reichskriminalinstituts" ein. Radzinowicz schlug 1961 „die
Errichtung eines rein kriminologischen Nationalen Instituts oder lei-
stungsfähiger regionaler Institute" vor. Auch Würtenberger empfahl
(1969) ein zentrales Forschungsinstitut für Kriminologie und Kriminali-
stik „im Bereich der Gesamtorganisation der Kriminalpolizei".
Der Beginn der geforderten außeruniversitären kriminologischen For-
schung im Strafvollzug läßt sich auf das Jahr 1921 datieren: In diesem
Jahr wurde nach dem Vorbild des „Kriminalanthropologischen Labora-
toriums" in Brüssel mit der Forschungsarbeit zunächst in Bayern begon-
nen. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte 1947 der Aufbau der „krimi-
nalpsychologischen Untersuchungsstelle" Berlin. Im Bereich der Polizei
wurde die Auswertung der Erfahrungen aus der kriminalpolizeilichen
Praxis sowie der Resultate aus der Forschung zunächst der Reichskrimi-
nalpolizei übertragen und ab 1951 dem „Kriminalistischen Institut" (KI)
des BKA in Wiesbaden. Aber erst in den 70er Jahren setzt die Haupt-
phase der Institutionalisierungsbemühungen in, (wahrscheinlich) durch
die Erkenntnis staatlicher Stellen, nach der die Universitätsforschung
zur Abdeckung der Forschungsbedürfnisse auch in der Zukunft nicht
ausreichen werde:
- 1972 wird die „kriminalistisch-kriminologische Forschungsgruppe" des BKA aufge-
baut;
- 1973 entsteht im Bundesministerium der Justiz das selbständige „Referat Krimino-
logie";

40 Z . B . Leferenz, H.: „unzulänglicher Praxisbezug" - zit. nach Streng/Störzer, in:


MschrKrim. 1982, S. 36; Stümper, A.: Forderungen des Praktikers an die Forschung, in:
PFA (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen kriminalistisch-kriminologischer Forschung,
Hiltrup 1974, S. 108.
41 Kaiser, G.: Kriminologie als angewandte Wissenschaft, in SchwZStW 94 (1977),
S. 516.
42 Alle Hinweise und Zitate nach Störzer a. a. O. (Fn. 39), S. 71.
Unsichere Grundlagen der Kriminalpolitik 99

- 1976 verpflichtet das Strafvollzugsgesetz (in § 166) die Länder zum Aufbau „Krimi-
nologischer Dienste" im Strafvollzug;
- 1979 wird im Niedersächsischen Ministerium der Justiz in Hannover die Referats-
gruppe „Planung und Forschung" (heute: „Planung, Forschung, Soziale Dienste" =
PFS) errichtet;
- ebenfalls 1979 folgt der Aufbau der „Kriminologischen Forschungsgruppe der Baye-
rischen Polizei" beim Landeskriminalamt in München;
- ebenfalls 1979 wird in Hannover das „Kriminologische Forschungsinstitut Nieder-
sachsen" (KFN) gegründet (als e.V.);
- 1981 beschließt die Justizministerkonferenz (JuMiKo) in Celle den Aufbau einer
„Kriminologischen Zentralstelle" als Bund-Länder-Einrichtung (am 13. Juni 1986
offiziell mit der Arbeit begonnen).

D i e s e E n t w i c k l u n g k ö n n t e m i t d a z u beitragen, a u c h die P o e n o l o g i e
v o r a n z u t r e i b e n u n d d e r K r i m i n a l p o l i t i k , die m i t sozialpolitischen M i t -
teln v o r b e u g e n will, e n t s p r e c h e n d e F o r s c h u n g s i n f o r m a t i o n e n z u r V e r -
f ü g u n g z u stellen, w a s allerdings n u r v e r t r e t b a r erscheint, w e n n die
U n a b h ä n g i g k e i t der b e h ö r d e n i n t e r n e n F o r s c h u n g gewährleistet ist 43 .
Schließlich bleibt n o c h das P r o b l e m der T r a n s m i s s i o n ü b r i g : W i e
e r f ä h r t d e r K r i m i n a l p o l i t i k e r eigentlich e t w a s ü b e r die E r g e b n i s s e der
k r i m i n o l o g i s c h e n F o r s c h u n g 4 4 ? L e i d e r k o n n t e a u c h diese F r a g e bisher
n o c h n i c h t zufriedenstellend gelöst w e r d e n .

43 Skeptisch insoweit z.B. Brüsten, M.: Staatliche Institutionalisierung kriminologi-

scher Forschung, in Kury: (Hrsg.): Perspektiven und Probleme kriminologischer For-


schung, Köln 1981, S. 135-182.
44 Vgl. zu diesem Problem z.B. Amelung, K.: Strafrechtswissenschaft und Strafgesetz-

gebung, in: ZStW 92 (1980), S. 19-72; Schwind, H.-D.: Kriminologie in der Praxis,
Heidelberg 1986.
Strategien der Kriminalitätsbekämpfung in Polen
K A Z I M I E R Z BUCHALA

I.
In dem im September 1979 vor der Polnischen Akademie der Wissen-
schaften in Krakow gehaltenen Vortrag über „Anthropologische Kon-
zeptionen in Strafrecht und Kriminologie" hat Hilde Kaufmann u.a.
gesagt: „Uberall dort, wo das Strafrecht oder ihm verwandte Sanktions-
systeme das Stadium des magischen Denkens überwunden haben, ist der
einzige Bezugspunkt der Mensch. Damit kann ein Strafrechtssystem
nicht umhin, Vorstellungen von eben diesen Menschen zugrunde zu
legen, seien sie reflektiert oder nicht" 1 . Und an anderer Stelle: „Straf-
recht ist bekanntlich ein soziales Steuerungs- und Kontrollinstrument
der Gesellschaft zum Schutze gewisser elementarer und nicht preisgeb-
barer Rechtsgüter. N u r wenn dem Menschen freie Selbstbestimmung
zugesprochen wird, kann sinnvollerweise eine Gesellschaft an eben diese
Selbstbestimmung appellieren, die jeweils gültigen Normen zu befol-
gen" 2 . Zugleich gestattet dieses Menschenbild in denjenigen Fällen, da
die Mitglieder dieser Gesellschaft diesem Appell nicht folgen, sie „zur
Rede" zu stellen, von ihnen „Antwort" in bezug auf dieses Nichtbefol-
gen zu verlangen und ihnen in diesem Dialog als Antwort der Gesell-
schaft eine Sanktion zu geben. Anders gesagt: Das Menschenbild des
sich selbst frei steuernden Menschen ist die Grundlage der Kategorie der
„Verantwortlichkeit", die wir dem Menschen zusprechen. Und ohne
diese Kategorie ist das Leben einer Gesellschaft schlicht unmöglich" 3 .
Wenn, so schreibt zu Recht G. Kaiser, die Gemeinschaft ihre Ziele,
das heißt die Sicherung der Existenz und der Entwicklung, erreichen
will, so muß sie eine soziale Kontrolle über das Verhalten ihrer Mitglie-
der ausüben. In der heutigen Wissenschaft liegt also das Problem nicht
darin, ob diese Kontrolle auszuüben ist, sondern wie sie auszuüben ist4.

1
H.Kaufmann: Anthropologische Konzeptionen in Strafrecht und Kriminologie,
Manuskript eines Vortrages, gehalten im September 1979 vor der Akademie der Wissen-
schaften in Krakow, S. 1.
2
Ibidem, S. 12.
5
Ibidem, S. 12.
4
G.Kaiser: Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1972, S. 1.
102 Kazimierz Buchala

Das Strafrecht stellt eine bestimmte Zusammenstellung formalisierter


Instrumente der sozialen Kontrolle dar. Die wichtigsten sind die Bestim-
mung der Sanktionen für gesellschaftlich gefährliches Verhalten, die
Bemessung und Vollziehung der verhängten Strafen und Maßnahmen.
Noch in den fünfziger Jahren herrschte in der Bundesrepublik
Deutschland die Ansicht, daß die fundamentale Funktion der Strafe die
Tilgung der Schuld sei5. Die auf dem Prinzip der Vergeltung beruhende
Konzeption des Strafrechts diente zwar dem Schutz der Menschen-
würde, konnte jedoch nicht im gleichen Maße dem Schutz der Rechts-
ordnung dienen. In der Mitte der sechziger Jahre setzte sich die Konzep-
tion des Präventionsrechtes durch, die an die Spitze der Strategie der
Verbrechensverhütung die individuelle Prävention stellte, nach der die
Strafe nur durch die Eingliederung des Straftäters ins gesellschaftliche
Leben legitimiert ist. H. Kaufmann gehörte dem Kreis der Befürworter
dieser Konzeption an6. In keinem europäischen Land, schreibt Weigend,
war jedoch die individuelle Prävention die einzig angewandte Strategie
der Verbrechensverhütung7. Das bezieht sich besonders auf die Krimi-
nalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Theorie der
Vergeltungsstrafe in der Strafzumessung eine wesentliche Rolle spielte.
Die sogenannten Vereinigungstheorien übten eine Doppelrolle aus; sie
berücksichtigten in gewissem Maße die Präventivforderungen, anderer-
seits dienten sie dem Schutz vor übermäßig harten Strafen. In Überein-
stimmung damit nennt §46 Abs. 1 des (deutschen) StGB als Grundlage
der Strafzumessung die Schuld des Täters; das Gericht soll jedoch auch
den Einfluß der Strafe auf das zukünftige Leben des Täters in der
Gesellschaft mit einbeziehen. Die individuelle Prävention dominiert
jedoch in der Sphäre der Vollziehung der Freiheitsstrafe, obwohl bisher
die Vorhaben betreffs der Sozialtherapieanstalten nicht realisiert wur-
den. Heute ist aber festzustellen, daß sich der Schwerpunkt in der
Sphäre der Strafzumessung deutlich auf die Strategie der Generalpräven-
tion verlegt. Diese Tendenz ist mit Zweifeln an der Wirksamkeit der
Individualprävention zu erklären, sowie der diesbezüglichen Resigna-
tion vieler Länder, wobei die skandinavischen Länder und die USA den

s Vgl. W.Hassemer: Strafziele im sozialwissenschaftlich orientierten Strafrecht, in:


Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften? 1983, S.39ff, ferner W.Hasse-
mer: Generalprävention und Strafzumessung, in: Hauptprobleme der Generalprävention,
1979, S. 34 ff.
''H.Kaufmann: Kriminologie III, Strafvollzug und Sozialtherapie, 1977, S. 88 ff,
201 ff.
7 Th. Weigand: „Neoklassizismus" - ein transatlantisches Mißverständnis, ZStW 94
(1982), S. 812-813.
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 103

Anstoß gaben8, aber auch mit dem Einfluß der amerikanischen Soziolo-
gie und anderer Rechtswissenschaften verbunden. Nicht ohne Bedeu-
tung scheint dabei auch die relative Leichtigkeit bei der wissenschaftli-
chen Verifikation der Effizienz der Individualprävention zu sein, insbe-
sondere bei der Freiheitsstrafe, was von der Generalprävention (sowohl
in ihrer negativen als auch der positiven Funktion) nicht gesagt werden
kann'. Es ist kaum von Politikern zu erwarten, daß sie sich für die
Resozialisierung von Straftätern einsetzen werden, wenn die Wissen-
schaft ihnen Argumente dafür liefert, daß die Resozialisierung eine sehr
schwer lösbare Aufgabe ist, und gleichzeitig den Steuerzahler viel mehr
Geld kostet als andere Formen der Verbrechensvorbeugung. Die Strate-
gie der Generalprävention, besonders ihrer negativen Form, ruft jedoch
bei vielen Kriminologen und Juristen heftigen Widerstand hervor, und
zwar wegen der Möglichkeit einer Kollision mit dem Prinzip der Men-
schenwürde10 und auch der Unmöglichkeit der Uberprüfung ihrer Wirk-
samkeit. Der Glaube an ihre Wirksamkeit beruht auf Intuition, unter-
stützt von Erfahrungen aus der Sphäre der Beziehungen in der Familie
und, in gewissem Maße, in der Schule, sowie der in ihrem Rahmen
angewandten Maßnahmen der sozialen Kontrolle11.

II.
Die Strafpolitik in Polen zeigt jedoch ein anderes Bild als in der
Bundesrepublik Deutschland. Schon in den dreißiger Jahren stützte sich
die Strafpolitik auf die Strategie der individuellen Prävention. Das
drückte auch das polnische StGB von 1932 aus, das unter anderem in der
Strafzumessung der individuellen Prävention eine dominierende Rolle
einräumte12, außerdem gegenüber Rückfalltätern, Berufstätern und
Gewohnheitstätern besondere Maßnahmen, die nach der Verbüßung der
Freiheitsstrafe angewandt wurden, einführte, ebenso wie die liberal
abgefaßten Institutionen der Verurteilung auf Bewährung und der Frei-
lassung auf Bewährung (die nach einer Verbüßung von 2A der Freiheits-
strafe möglich war). Es sah auch eine breite Spannweite der Strafrahmen

8
I. Atilantilla: Neue Tendenzen der Kriminalpolitik in Skandinavien, ZStW 95 (1983),
S. 739ff; A.Hirsch: Gegenwärtige Tendenzen in der Amerikanischen Strafzumessungs-
lehre, ZStW 94 (1982), S. 1048 ff.
' Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 37.
10 Vgl. W.Naucke: Generalprävention und Grundrechte der Person, in: Hauptpro-

bleme der Generalprävention (Anm. 5), S. 13 ff, vgl. weiter K. Lüdensen: Die generalprä-
ventive Funktion des Deliktssystems, in: Hauptprobleme der Generalprävention, S. 54 ff.
" Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 49 ff.
12 Näher K.Buchala: Direktiven der richterlichen Strafzumessung, 1961, S. 18 ff
(Dyrektywy s^dowego wymiaru kary).
104 Kazimierz Buchala

mit niedrigen Mindeststrafandrohungen vor13. In der Praxis der Recht-


sprechung allerdings spielte der Gedanke der Vergeltung weiterhin eine
wesentliche Rolle, obwohl Verurteilungen zur Bewährung in ungefähr
50 % und Geldstrafen in ungefähr 20 % der ausgesprochenen Strafen
angewandt wurden. Im Resultat waren ungefähr 30 % der verhängten
Strafen unbedingte Freiheitsstrafen 14 .
Dieses Bild der Kriminalpolitik änderte sich nach 1945. Zwar wurde
das polnische Strafgesetzbuch von 1932 eigentlich bis zur Herausgabe
des StGB von 1969 nicht novelliert15, es wurde jedoch durch viele
Gesetze ergänzt, die Freiheitsstrafen für Wirtschaftsdelikte und Delikte
auf politischer Basis sowie die Verschärfung der Verantwortlichkeit für
Straftaten gegen das gesellschaftliche Eigentum vorsahen. Diese Gesetze
drohten hohe, manchmal sehr hohe Strafen an, sie hoben die unteren
Grenzen der Strafandrohung an oder schränkten die Möglichkeit der
bedingten Strafaussetzung auf Bewährung ein. Im Jahre 1949 wurde in
das System des Strafrechtes das Merkmal der gesellschaftlichen Gefähr-
lichkeit der Tat eingeführt; die Gerichte wurden dazu verpflichtet, dieses
bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Diese Änderungen bedeute-
ten in der Sphäre der Strafgesetzgebung in Wirklichkeit einen
Umschwung zur Strategie der Generalprävention, die besonders im
Bereich der mittelschweren und schweren Kriminalität (mit einigen
kurzen Ausnahmen) bis in die Hälfte der sechziger Jahre dominierte.
Ahnlich war auch die Praxis der Rechtsprechung, obwohl sie der Rolle
der Individualprävention eine größere Bedeutung beimaß als es aus dem
geltenden Recht eigentlich hervorging. Dies wird besonders deutlich,
wenn man die Zahl der Verurteilungen zur Bewährung berücksichtigt 16 .
In der Mitte der sechziger Jahre erfolgte dann eine erneute Änderung
der Kriminalpolitik. Gemäß dieser Änderung wurden für kleine Delikte
Strafen ohne Freiheitsentzug empfohlen 17 , sowie verschärfte Verantwort-
lichkeit für schwere Delikte. Die Strategie der Kriminalitätsverhütung
stützte sich bis zum Inkrafttreten des neuen polnischen StGB von 1969
sowohl auf die generelle wie die individuelle Prävention, jedoch mit dem
Schwerpunkt auf letzterer. Der Anteil der bedingten Strafaussetzung zur
Bewährung betrug etwa 55 % der verhängten Strafen18, was die tatsäch-

15
D. h. 1 Woche Arreststrafe und 6 Monate Gefängnisstrafe.
14
B. Wröblewski / W. Swida: Die richterliche Strafzumessung, W i h o 1939, S. 107 ff
(S^dziowski wymiar kary).
15
Mit Ausnahme der Institution der vorläufigen Entlassung und der Geldstrafe.
" Im Jahre 1952 betrug die Zahl der bedingt Verurteilten 31,0 % , 1954: 46,0 % , 1956:
30,7%, 1958: 54,4%, 1960: 49,2%.
17
Wenn der Sachschaden nicht größer als 500 Zloty war.
18
Im Jahre 1962: 53,5%, 1965: 54,7%, 1968: 58,4%.
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 105

lieh bedeutende Rolle der Individualprävention unterstreicht. Gleichzei-


tig stieg die Höhe der verhängten Freiheitsstrafen kontinuierlich an.
Dieser Trend dauerte bis zum Anfang der siebziger Jahre. Er wurde
durch die Neufassung des Strafgesetzbuches von 1969 gefördert. Zwar
fiel die nominale Zahl der bedingten Strafaussetzungen zur Bewährung
in den siebziger Jahren 15 (dem korrespondiert die Einführung einer
neuen Bewährungsmaßnahme, der bedingten Einstellung des Verfahrens
und einer neuen Strafe, der Freiheitsbegrenzung, sowie von breiteren
Möglichkeiten der Verhängung von Geldstrafen), jedoch wurde in den
siebziger Jahren die unbedingte Freiheitsentziehung nur noch bei
25-29 % aller Strafen ausgesprochen, das sind ca. 2 % weniger als in den
sechziger Jahren20. Gleichzeitig wuchs die durchschnittliche Höhe der
verhängten Freiheitsstrafen weiterhin (im Vergleich zu den sechziger
Jahren um ca. 1 0 0 % ) .
Uber die Effizienz dieser Kriminalpolitik läßt sich folgendes sagen:
Die Gesamtzahl der festgestellten Delikte betrug im Jahre 1970:424217,
1975: 340423, 1980: 338000, 1984: 539000. Die Zahl der verurteilten
erwachsenen Täter dagegen lag in den selben Jahren bei 166 049, 161286,
151958, 125132. Der Anteil der Vorbestraften betrug entsprechend
2 9 , 9 % , 3 4 , 8 % , 3 6 , 3 % und 3 9 , 7 % .
Wesentliche Änderungen in der Strategie der Verbrechensvorbeugung
fanden in den Jahren 1980-1982 statt. Sie zeigten sich in einer wesentli-
chen Erhöhung der bedingten Aussetzungen zur Bewährung21, einer
geringeren Zahl von Geldstrafen, niedrigeren Geldstrafen sowie niedri-
geren Freiheitsstrafen. Diese Liberalisierung bedeutete eine Verlegung
des Schwerpunktes auf die Strategie der Individualprävention. Dieser
Tendenz unterlagen jedoch nicht die Straftaten aus politischen Motiven,
die mit verhältnismäßig hohen Untergrenzen bei der Strafandrohung
verbunden waren. Eine Hemmung dieser Tendenz trat 1982 auf, und die
schrittweise Umwendung folgte in den Jahren 1983 und 1984. Im
Ergebnis gab es dann eine Äquivalenz beider Strategien in der Kriminal-
politik.
Die Jahre 1980-1984 brachten auch wesentliche Änderungen im
Bereich der Kriminalität. Insbesondere wuchs die Wirtschaftskriminali-
tät, bei gleichzeitig geringfügiger Abnahme der Gewaltkriminalität. Der
Indikator je 100 000 Einwohner betrug im Jahre 1983: 1058 (im Ver-
gleich dazu 1979: 957). Insgesamt erhöhten sich in diesen Jahren die Zahl

" Im Jahre 1973 betrug die Zahl der Verurteilten zur Bewährung 34,1 % , 1976: 32,6 % ,
1979: 2 8 , 3 % . Die Zahl der eingestellten Strafverfahren betrug in entsprechenden Jahren
20,5%, 12,6%, 19,9%.
20 U n d zwar im Jahre 1 9 7 3 : 2 9 , 9 % , 1976: 2 5 , 8 % , 1979: 2 4 , 9 % .

21 Im Jahre 1981 betrug die Zahl der zur Bewährung ausgesetzten Strafen 6 3 , 8 % und

1983: 6 3 , 9 % (in bezug auf alle verhängten Strafen).


106 Kazimierz Buchala

der festgestellten Straftaten um etwa 38 % ; im Jahre 1984 um 60 % . Den


höchsten Anstieg verzeichnen der Bereich der Spekulationsdelikte, bei
Steuern, Zoll und Devisen und der des Einbruchsdiebstahls. Diese
Änderungen kann man jedoch nicht mit der Schwächung der generalprä-
ventiven Funktion der Straftaten in Verbindung bringen, denn vor allem
änderten sich wesentlich die sozial-ökonomischen Bedingungen, was an
der wirtschaftlichen und politischen Krise lag.

III.
Die erwähnte Äquivalenz der Strategie der Verbrechensverhütung in
der Kriminalpolitik der Volksrepublik Polen hat ihre philosophische
Grundlage und eine normative im geltenden polnischen StGB. Die
philosophische ist mit dem Menschenbild des sich selbst frei steuernden
Menschen verbunden. Die normative liegt in den Sanktionen und dem
Maßnahmen-System, sowie manchen Institutionen und Regeln der
Strafzumessung. Das geltende polnische StGB operiert in vielen Fällen
mit verhältnismäßig hohen Sanktionsuntergrenzen, besonders bei fahr-
lässigen Straftaten, Verbrechen gegen das Eigentum sowie bei Gewaltde-
likten. H o h e Strafen drohen auch für Straftaten bei mehrfachem Rück-
fall, was dem Prinzip der Generalprävention entspricht 22 . Gleichzeitig
aber sind bei Rückfalltätern besondere Maßnahmen vorgesehen, wie
Schutzaufsicht oder Unterbringung in einem „Zentrum für soziale
Anpassung". Das polnische StGB sieht breite Möglichkeiten der beding-
ten Einstellung des Verfahrens sowie der bedingten Aussetzung zur
Bewährung vor, sowie auch eine Strafe mit eindeutiger Resozialisie-
rungstendenz, nämlich die Strafe der Freiheitsbegrenzung. Im Bereich
der Strafzumessung sieht es vor, daß das Gericht bei der Einschätzung
der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Tat die allgemeine und die
individuelle Prävention berücksichtigen sollte, was ein großer Teil der
Wissenschaft im Sinne der Vereinigungstheorie versteht, bei gleichzeiti-
gem Gleichgewicht beider Formen der Prävention 23 . Der gesellschaftli-
chen Gefährlichkeit der Tat kommt in diesem Kontext die Funktion des
Legitimierens und Limitierens der Strafbestimmung zu 24 . Nach dieser
Meinung ist der Grad der gesellschaftlichen Gefährlichkeit nicht nur ein

22 Vgl. L. Gardocki: Gesetzliche Gestaltung der Kriminalpolitik, Iuridische Studien


1979, Bd. 7, S. 59 ff (Ksztaltowanie polityki karnej na drodze ustawowej, Studia Prawnicze
t. 7, s. 59 i n.).
23 K. Buchala: Materielles Strafrecht, Lehrbuch, Warszawa 1980, S. 582 ff (Prawo k ä m e
materialne, Warszawa 1980, s.582 i n.), T. Kaczmarek: Die richterliche Strafzumessung in
der V R P , Wroclaw 1972, S. 25 ff (Sfdziowski wymaiar kary w P R L , Wroclaw 1972, s. 25 i
n.), I.Anrejew: D a s polnische Strafrecht, Warszawa 1983, S. 285 ff (Polskie prawo käme,
Warszawa 1985, s . 2 8 5 i n.).
24 K. Buchala: Materielles Strafrecht, S.583.
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 107

wichtiges Indiz für die Strafzumessung, sondern er bildet auch eine


obere Grenze, die die verhängten Strafen nicht überschreiten dürfen.
Man muß hervorheben, daß sich in den Vorschriften, die die Vorausset-
zungen der bedingten Strafaussetzung zur Bewährung bestimmen,
neben selbstverständlichen prognostischen Prämissen auch eine für diese
Maßnahme fremde Voraussetzung befindet, die die Rolle der Strategie
der positiven Generalprävention unterstreicht, nämlich, daß der
Gesichtspunkt der Generalprävention nicht gegen die Aussetzung zur
Bewährung sprechen darf (Art. 73 § 2 poln. S t G B ) . Eine ähnliche Vor-
aussetzung, obwohl verdeckter, finden wir bei den Prämissen der
bedingten Entlassung auf Bewährung, und zwar durch die Einführung
der Forderung der Zielerreichung der Strafe, die Art. 50 poln. S t G B
indirekt enthält und die auf die Strategien der individuellen und generel-
len Prävention verweist.
Man kann darüber streiten, ob beide Strategien nach der Intention des
Gesetzgebers und nach dem ausdrücklichen Wortlaut des poln. S t G B
gleichwertig sind, oder ob einer von ihnen generell oder in einem
bestimmten Bereich der Kriminalität eine dominierende Rolle zukommt.
Auseinandersetzungen zu diesem Problem gibt es in der polnischen
Literatur seit ungefähr 15 Jahren. Es wurden bereits alle möglichen
Standpunkte zu diesem Problem vorgetragen 25 ; ähnlich sieht es in der
Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu diesen Diskussionen aus26.
Man kann annehmen, daß der von Hassemer formulierte Vorwurf gegen
die Strategie der Generalprävention, nämlich daß sie mit dem Grundsatz
der Gewaltenteilung nicht vereinbar sei, weil sie dem Richter Befugnisse
in der Wahl der Strafziele und Maßnahmen zur Erringung der Ziele
zuspreche und dem Richter erlaube, der einen oder anderen Strategie
oder auch dem Prinzip der Vergeltung eine dominierende Rolle zukom-
men zu lassen27, auf dem Boden des polnischen Strafrechts nicht berech-
tigt wäre. Denn der Gesetzgeber übertrug dem Gericht seine Befugnisse,
begrenzte sie aber nicht nur durch ein System der Sanktionen, sondern
auch durch Institutionen und Grundsätze, die zum System der gerichtli-
chen Strafbestimmungen gehören. Diese Lösung enthält zwar die Gefahr
der richterlichen Willkür, hebt jedoch die präventive Effizienz der
Kriminalpolitik. Gegen Vorwürfe, die die Generalprävention, besonders
in ihrer negativen Funktion, betreffen, ist sie aber nicht in ausreichen-
dem Maß immun.

25 T. Kaczmarek: Die richterliche Strafzumessung, S. 31 ff, und ders.: Die allgemeinen


Regeln der Strafzumessung in der Strafrechtslehre und Gerichtspraxis, Wroclaw 1980,
S. 65 ff (Ogolneg dyrektywy wymiaru kary w teorii praktyce s^dowej, Wroclaw 1980, s. 65
in.).
26 T. Kaczmarek: Die Allgemeinen Regeln, S. 99 ff.
27 W. Hassemer: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974, S.27ff.
108 Kazimierz Buchaia

IV.
Die Aussagen der polnischen Strafrechtswissenschaft zur General-
prävention sind, schon wegen der Aktualität dieses Themas für die
Gerichtspraxis, zahlreich. Bevor das polnische StGB von 1969, das die
Strategie der Generalprävention in die Kriminalpolitik und die gerichtli-
che Anwendung eindeutig einführte, in Kraft trat, unterschied die
Wissenschaft drei Versionen der generalpräventiven Einwirkung der
Strafen (Normen), und zwar: (1) erzieherische Einwirkung auf den
Adressaten, was im allgemeinen der in der Wissenschaft der Bundesre-
publik Deutschland bekannten Funktion der Stabilisierung der Normen
entspricht, (2) Gestaltung eines zusätzlichen Motivelements in den
Kategorien „Summe der aus der Straftat hervorgehenden Vorteile", was
der in der Bundesrepublik Deutschland bekannten Theorie der „quasi-
ökonomischen Kalkulation" entspricht, sowie (3) Abschreckung, die
ursprüngliche Funktion der Generalprävention28. In der polnischen Wis-
senschaft hat die erste Funktion der Generalprävention die meisten
Anhänger, die wenigstens die Funktion mit ökonomischer Schattierung.
Diese Einstellung fand ihren Ausdruck auch in Art. 50 § 1 des polnischen
StGB von 1969, in dem bewußt die Bezeichnung „gesellschaftliche
Einwirkung der Strafe" für die Kennzeichnung der Strategie der Gene-
ralprävention angewandt wurde, um zu unterstreichen, daß es sich hier
prinzipiell nicht um die Abschreckung künftiger Straftäter handelt,
sondern um andere Mechanismen der Motivierung der Adressaten der
generalpräventiven Strafe29, wie zum Beispiel: Warnung der Unschlüssi-
gen, Festigen der gesetzmäßigen Haltung, Weckung von Gefühlen der
Mißbilligung einer gegebenen Straftat, Stärkung des Gefühls der Sicher-
heit und des Vertrauens zum Rechtssystem und der es anwendenden
Organe30.
Die Kritiker der Abschreckungsfunktion heben in Polen, ähnlich wie
in der Bundesrepublik Deutschland, hervor, daß der Kreis der Adressa-
ten einer Strafeinwirkung unbestimmt ist. Man weiß nichts über ihre
Haltung und Persönlichkeit oder ihre Reaktion auf die Verhängung
scharfer Strafen gegen andere Täter. Ferner ist zu beachten, daß das
Problem, ob Informationen über generalpräventive Faktoren der ausge-
sprochenen Strafen an die eigentlichen Adressaten treffen, außerhalb des

28 L. Lerneil: Grundlagen der Lehre über Kriminalpolitik, Warszawa 1967, S. 431 ff


(Podstawy nauki polityki kryminalnej, Warszawa 1967, s. 431 i n.), I.Andrejew: Soziale
Einwirkung der Strafe, Iuridische Studien 1979, Bd. 8, S. 109 ff (Spoieczne oddzialnywanie
kary, Studia Prawnicze 1979, t. 8, s. 109 i n.), K. Buchaia: Direktiven der richterlichen
Strafzumessung, S. 24 ff, und auch ders.: Materielles Strafrecht, S. 477ff.
" I.Andrejew: Soziale Einwirkung der Strafe, S. 112ff.
30 J.Bednarzak: Soziale Einwirkung der Strafe, Neue Justiz 1976, H . 4 , S. 567 (Spo-
ieczne oddzialywanie kary, Nowe Prawo 1976, nr. 4, s.567).
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 109

Einflusses des Gerichtes liegt31. Denn heute sind die Gerichtssäle leer
und die Massenmedien können naturgemäß selektiv berichten, was
wahrscheinlich den Eindruck hervorruft, daß ein außergewöhnliches
Urteil publiziert wurde und „normale" Urteile andersartig sind32. Die
präventive Einwirkung der Urteile kommt aber auf Grund vieler ähnli-
cher Strafverhängungen zustande, die eine ständige Tendenz der Straf-
politik kundtun, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg. Es
wird auch hervorgehoben, daß die Motivierung der Adressaten von
ihrem gesellschaftlichen Milieu und der in ihm funktionierenden gesell-
schaftlichen N o r m abhängig ist. Man kann es so ausdrücken: J e negati-
ver das Milieu die begangene Straftat einschätzt und seine Mißbilligung
gegenüber dem Täter durch gesellschaftliche Sanktionen zum Ausdruck
bringt, desto stärker ist die präventive Einwirkung des gegebenen
Urteils, und umgekehrt. Im Zusammenhang damit muß hervorgehoben
werden, daß in einer Situation, in der im gegebenen Milieu die gesell-
schaftlichen Normen eine große Motivierungskraft für den Täter haben,
verschärfte Strafen nicht nötig sind33. Es ist zu unterstreichen, daß in
einem solchen Milieu der Täter wenig Chancen hat, sich nach der
Strafverbüßung in die Gesellschaft einzugliedern, was ihn natürlich
stigmatisiert und die Ziele der speziellen Prävention durchkreuzt. Es
wird auch argumentiert, daß die Kalkulation von Gewinn und Verlust,
wenn sie überhaupt durchgeführt wird, sehr selten die einzelnen Katego-
rien der Straftaten, zum Beispiel Rauschgifthandel, betrifft. Aus dieser
Kalkulation ist a priori ein breiter Kreis von Straftaten ausgeschlossen,
wie zum Beispiel fahrlässige Taten oder solche aus emotionellen oder
politischen Gründen.
Im Zusammenhang mit der positiven Generalprävention werden unter
anderem folgende Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit hervorgehoben:
Die allgemeine Bedingung (die auch die negative Prävention betrifft) ist
die einer hohen Wahrscheinlichkeit der Ermittlung und Bestrafung des
Täters sowie die Schnelligkeit der Strafverhängung und -Vollziehung. In
diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß häufige Amnestien, die
kriminelle Straftaten einbeziehen, die Stabilisierungsfunktionen der
N o r m beeinträchtigen. Bekannt ist die Tatsache, daß das Risiko einer

31 M.Szerer: Das Strafen und der Humanismus, Warszawa 1964, S. 146 ff (Karanie a
humanizm, s. 162 i n.), K. Buchala: Materielles Strafrecht, S. 487 ff, A. Podgorecki: Rechts-
soziologie, Warszawa 1962, S. 105 ff (Socjologia prawa, s. 105 i n.), L. Gardocki: Metho-
den der generalpräventiven Einwirkung des Strafrechts, Wissenschaftliche Hefte des
Instituts für Gerichtsrechtsforschung, 1978, Bd. 8, S. 151 ff (Metody ogölnoprewencyj-
nego oddzialywania prawa karnego, Zeszyty Naukowe Instytutu Badnia Prawa S»do-
wego, 1978, nr.8, s. 151 i n.).
32 Vgl. W. Hassemer: Generalprävention und Strafzumessung, S. 44 ff.
33 L. Gardocki: Methoden, S. 153.
110 Kazimierz Buchala

Straftat vor besonderen politischen Ereignissen geringer war und daher


eher eingegangen wurde, da früher bei solchen Anlässen Amnestien
durchgeführt wurden; bekannt ist ferner die Atmosphäre der Erwartung
einer Amnestie in den Strafanstalten. Es wird weiter hervorgehoben, daß
die Institution der bedingten Einstellung des Verfahrens, besonders in
den Händen des Staatsanwaltes, die Stabilisierungsfunktion der Normen
ebenfalls einschränkt. Ähnlich ist es bei uneinheitlicher Anwendung, das
heißt bei Verletzung des Prinzips der Rechtsgleichheit. Vorwürfe macht
man auch der Praxis einer breiten Anwendung der bedingten Ausset-
zung zur Bewährung, besonders ohne Aufsicht eines Vormundes und
ohne Maßnahmen, die eine engere Kontrolle des Verhaltens des Täters
ermöglichen34. Abgesehen von Kollisionen, die auf dieser Grundlage zur
speziellen Prävention entstehen, wird allgemein angenommen, daß die
Bedingung für die Stabilisierungsfunktion der Strafen ihre gesellschaftli-
che Akzeptanz ist, ihr Ubereinstimmen mit den gesellschaftlichen Emp-
findungen. Natürlich beobachtet man dabei gewisse Unterschiede bei
der Bewertung der als gerecht ausgesprochenen Strafen in Abhängigkeit
von Kultur, Alter, Beruf, Bildung, Herkunft, sowie der wirtschaftlichen
und politischen Stabilität usw. Die dadurch bestimmten Toleranzgren-
zen darf die verhängte Strafe jedoch nicht überschreiten, denn sie verliert
ihren Stabilisationswert sowohl dann, wenn sie als zu scharf, aber auch,
wenn sie als zu mild bewertet wird. Es ist selbstverständlich, daß das
Gericht nicht imstande ist zu erkennen, inwieweit die Strafe, die es
verhängen will, akzeptiert werden wird. Das gleiche gilt für die Grenzen
der Toleranz bezüglich einer Abweichung vom Ideal der Stabilisations-
strafe. In diesem Zusammenhang führen einige Autoren eine zusätzliche
Bedingung ein: Informationen sollten nicht nur über die verhängten
Strafen, sondern auch über begangene Straftaten gegeben werden, denn
die verhängten Strafen können ohne Kenntnis von der begangenen
Straftat und von den Tatumständen nicht verstanden und akzeptiert
werden. Das kompliziert natürlich die Übertragung der Informationen
an die Adressaten, die motiviert werden sollen35. Schon die Tatsache,
daß die Wissenschaft so viele Wirksamkeitsbedingungen für die General-
prävention aufstellt, zeugt von ihrer Distanz zu dieser Strategie der
Verbrechensvorbeugung sowie einer weitgehenden Vorsicht bei ihrer
Anwendung. Diese Distanz und das Humanismusprinzip des polnischen
Rechts bewirken, daß in der Wissenschaft der individuellen Prävention
die dominierende Rolle im Bereich der Strafzumessung zugeschrieben
wird.

34 K. Buchala: Materielles Strafrecht, S. 492 ff.


35 K. Buchala: Direktiven, S. 79 ff.
Kriminalitätsbekämpfung in Polen 111

V.
Der Anstieg der Kriminalität in den Jahren 1981-1984 rief in der
Gesellschaft Beunruhigung und Verringerung des Sicherheitsgefühls
hervor, besonders im Bereich der Spekulation und bei Diebstahl privaten
Eigentums. In diesem Zusammenhang mehren sich auch kritische
Anmerkungen zur Rechtsprechung. Man wirft ihr Verhängung von zu
milden Strafen, zu breite Anwendung der Aussetzung zur Bewährung
und Langwierigkeit des Verfahrens vor und fordert, besonders im
Arbeitermilieu, Verschärfung der Kriminalpolitik und eine wirksamere
Abschreckung von der Begehung von Straftaten. Die Regierung berück-
sichtigte diese Forderungen und legte dem polnischen Parlament, dem
Sejm, zwei Gesetzesentwürfe vor, die am 10. Mai verabschiedet wurden.
Das erste Gesetz ändert einige Vorschriften des geltenden polnischen
StGB, wie die Erhöhung der Geldstrafe, was mit der Senkung des
Geldwertes verbunden ist, die Verschärfung zusätzlicher Strafen, die
Möglichkeit der Verurteilung zu Schadensersatz, sowie die Verschärfung
der Verantwortlichkeit für Übertretungen und die Einführung neuer
Tatbestände in das Gesetzbuch für Übertretungen. Das zweite trägt den
Charakter eines zeitlich begrenzten Gesetzes, das vom 1. Juli 1985 bis
1. Juli 1988 gelten soll und einen eindeutig generalpräventiven Charakter
hat. Dieses Gesetz führt neue Tatbestände für Diebstahl im Transport
ein und verschärft die Freiheitsstrafe in der unteren und der oberen
Grenze in bezug auf die bisher drohenden Strafen. Das Gesetz verbietet
die Anwendung der bedingten Aussetzung zur Bewährung bei schweren
Delikten gegen Volkseigentum, Gesundheit, bei Vergewaltigung, Beste-
chung, bei Verkehrsunfällen mit Todesfolge und bei im Alkoholrausch
begangenen Taten. Ausnahmen gelten in bezug auf minderjährige Täter
oder Täter, denen die Fürsorge für Kranke und Minderjährige obliegt,
unter der Bedingung der Wiedergutmachung. Dieses Gesetz verbietet
auch die Anwendung der außergewöhnlichen Strafmilderung bei den
genannten Delikten. Weiterhin führt es die Vorschrift zur Verhängung
von Geldstrafen in bestimmter Höhe ein, d. h. des Wertes des gestohle-
nen Gutes oder vernichteten Eigentums, bei Spekulation des zweifachen
Wertes des Spekulationsgutes usw. Es erweitert auch den Bereich der
Beschlagnahme des Eigentums. Die generalpräventive Wirkung soll
diesem Gesetz nach auch durch ein beschleunigtes Verfahren gegenüber
dem „auf frischer Tat" ertappten Täter erreicht werden, wobei zum
Beispiel auf Anklage verzichtet wird und gegenüber Tätern schwerer
Verbrechen obligatorisch Arrest ausgesprochen wird. Es wird auch eine
Vereinfachung des Verfahrens für kleinere Delikte vorgeschlagen.
Alle diese Änderungen entsprechen der Strategie der negativen Gene-
ralprävention. O b sie erfolgreich sein werden, läßt sich noch nicht
abschätzen.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte
JUAN CARLOS GARDELLA

I. Die Gerechtigkeit als rechtsphilosophisches Thema


1. Drei rechtsphilosophische Fragenkomplexe
Die historisch gegebenen Forschungslinien, die außerhalb der positiv-
rechtlichen Erkenntnis - der Rechtswissenschaft im strengen Sinne des
Wortes - liegen und unter der Bezeichnung „Rechtsphilosophie" 1
zusammengefaßt werden, lassen sich grundsätzlich auf drei große Fra-
genkomplexe zurückführen.
Einmal handelt es sich um die Struktur der genannten positiv-rechtli-
chen Erkenntnis (mit Regelbeispielen: Rechtsdogmatik, -Soziologie,
-politik) im Rahmen der Erkenntnis schlechthin. Es geht dabei um
grundlegende, an diese spezifische Art der Erkenntnis gerichtete Fragen
logischer und methodologischer Natur. Zum zweiten enthält die Rechts-
philosophie auch eine Behandlung des Fragenkomplexes nach dem
Gegenstand dieser positiv-rechtlichen Erkenntnis - d. h. dem positiven
Recht im allgemeinen - anhand einer Analyse unterschiedlicher Klassen
von Gegenständen. Es handelt sich dabei um den Versuch, den „Begriff
des Rechts" zu definieren, ihn wenigstens zu charakterisieren; zugleich
auch um die Frage, ob und inwieweit sich das positive Recht als
Gegenstand der einen oder der anderen Klasse von Gegenständen (empi-
rischen, formalen usw.) verstehen läßt. Zum dritten befassen sich die
rechtsphilosophischen Untersuchungen schließlich mit der Gerechtig-
keit anhand einer Frage, die aus der Analyse der Rechtswissenschaft, des
politischen und des alltäglichen Lebens selbst, entstanden ist: der grund-
sätzlichen Frage, ob das, was in der Tat für gerecht oder ungerecht
gehalten wird, „eigentlich" gerecht oder ungerecht ist. Diese so umfas-

' Der Vollständigkeit halber sei hierbei ausdrücklich auf die Trennung zwischen
rechtsphilosophischen Forschungslinien und jedem theologischen Wissen hingewiesen.
Argumentationen theologischer Art bei der naturrechtlichen Diskussion und der Philoso-
phie überhaupt wurden schon im Mittelalter manchmal für fehl am Platz gehalten. Die
christliche Offenbarung bedeute eine Unterstützung der „ratio", aber keinen Ersatz für
sie. Immer eindeutiger wurde diese Idee in der Neuzeit; sie spiegelte sich etwa in einer
wohl bekannten Erkläning von Hugo Grotius (De iure belli ac pacis, 1625, Proleg. § 11)
wider und wurde Gemeingut der Aufklärung.
114 Juan Carlos Gardella

sende Frage nimmt in der historisch gegebenen Forschung der Rechts-


philosophie die konkretere Form einer polemischen Gerechtigkeitspro-
blematik an.

2. Die rechtsphilosophische Diskussion über die Gerechtigkeit


Wenn die Rechtsphilosophie das Thema der Gerechtigkeit behandelt,
stellt sie drei grundlegende Fragen:
a) Die Frage nach der richtigen Art und Weise, wie man zu Leitsätzen
kommt, welche sagen, daß eine Handlung gerecht bzw. ungerecht ist.
Dabei handelt es sich um eine Frage methodischer Art, deren Beantwor-
tung an sich über den Inhalt der Gerechtigkeitsleitsätze nichts vorweg-
nimmt. Wir wollen diesen Aspekt des Themas der Gerechtigkeit als
Fragenkomplex nach den Gerechtigkeitskriterien bezeichnen, wobei es
sich eigentlich um zweierlei handelt: einmal um die Kriterien für die
Gewinnung von gerechten Inhalten und zum zweiten um Kriterien für
die Art und Weise, wie man diese gerechten Inhalte durch Interpreta-
tion, Rechtsfortbildung usw. entwickelt. Das Problem der Kriterien der
Gerechtigkeit hat man auf zweierlei Weise beantwortet, und zwar im
Sinne des Objektivismus und des Subjektivismus.
b) Die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Gerechtig-
keitsleitsätze, d.h. nach ihrer Geltung, wobei die Polemik zwischen
Absolutismus und Relativismus geführt wird.
c) Bis auf diejenigen, bei denen der Subjektivismus und der Relativismus
auf einen totalen Skeptizismus hinauslaufen, versuchen die rechtsphilo-
sophischen Richtungen bei der Behandlung des Themas der Gerechtig-
keit auch eine Reihe von Leitsätzen aufzustellen, die bestimmten Hand-
lungen die Wertprädikate „gerecht" oder „ungerecht" zumessen. Dabei
handelt es sich nicht mehr um die methodische Frage nach den Gerech-
tigkeitskriterien oder - gewissermaßen erkenntnistheoretisch - nach der
Geltung von Gerechtigkeitsleitsätzen, sondern um eine inhaltliche
Frage, d. h. um das Ergebnis der Anwendung des einen oder des anderen
Kriteriums. Diese Gerechtigkeitsleitsätze wollen wir im folgenden der
terminologischen Klarheit halber in zwei Klassen einteilen: einmal in die
Gerechtigkeitsprinzipien und zum anderen in die Gerechtigkeitsgrund-
sätze; diese materieller und jene formaler Art.

II. Die Gerechtigkeitskriterien


Das Problem der Kriterien der Gerechtigkeit hat man auf zweifache
Weise zu lösen versucht, und zwar im Sinne des Objektivismus und des
Subjektivismus. Zweifellos handelt es sich in beiden Fällen um Thesen
methodologischer und gewissermaßen auch erkenntnistheoretischer Art,
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 115

denn sie beantworten die Frage, wie man zu Leitsätzen mit Wertprädi-
katen kommt, also Leitsätze, welche besagen, daß eine Handlung gut
oder schlecht, gerecht oder ungerecht, billig oder unbillig usw. ist. Beide
Thesen sind jedoch auch ontologischer Art, denn sie sagen etwas über
die Handlungen aus, d.h. sie behaupten bzw. verneinen, daß eine
Handlung als solche - unabhängig von der Erkenntnis und dem Willen -
gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht usw. ist. Wenden wir uns im
folgenden dem Kern beider Thesen zu2:

1. Die Position des Objektivismus


Sie wurde von weiten Teilen der Naturrechtslehre vertreten. Ein
Beispiel dafür ist die Definition des Naturrechts von H. Grotius in der
Neuzeit als „Vorschrift der rechten Vernunft, die einer jeglichen Hand-
lung anzeigt, daß ihr aus der Ubereinstimmung oder dem Widerspruch
mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Schlechtigkeit oder
moralische Notwendigkeit innewohne, und daß solche Handlung darum
vom Gott als dem Urheber der Natur verboten bzw. geboten ist"3.
Eigentlich ist diese Definition Gemeingut zahlreicher Richtungen des
Naturrechts vor Grotius. Er hat sie bloß zusammengefaßt und die
objektivistische These etwas gemäßigter formuliert. Innerhalb des
Naturrechts ist diese These sowohl ontologisch als auch epistemologisch
zu verstehen:
a) Im ontologischen Sinne besagt der Objektivismus, daß - erstens - die
Handlungen als solche gewisse Eigenschaften aufzeigen, daß - zweitens
- auch die Menschennatur selbst bestimmte Charakteristika besitzt und
daß - drittens - auch der Widerspruch oder die Ubereinstimmung jener
Eigenschaften mit diesen Charakteristika eine Relation an sich darstellt,
unabhängig von der Erkenntnis oder dem Willen.

1 Obwohl rechtsphilosophische Diskussionen eigenständige Problematiken darstellen,

muß man einige Begriffe, die bei ihrer Behandlung benutzt werden, auf die allgemein-
philosophische Bedeutung zurückführen. Das ist angebracht gerade im Fall der Diskussion
zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Es ist deshalb daran zu erinnern, daß die
Erkenntnistheorie die Erkenntnis im allgemeinen als eine so gestaltete Relation zwischen
Subjekt und Gegenstand versteht, daß das Subjekt die Beschaffenheiten des Gegenstandes
mit den Wahrnehmungen und Begriffen erfassen kann. So verstanden eröffnen sich bei der
philosophischen Interpretation des Erkenntnisphänomens zwei Alternativen. Entweder ist
die Erkenntnis ein Nachbilden des Gegenstandes, oder sie stellt ein Erzeugen von ihm dar.
Die erstgenannte Möglichkeit nennt man Objektivismus oder auch Realismus, die zweite
Subjektivismus und auch Idealismus. Die objektivistische These und „e contrario" auch die
des Subjektivismus wurde einmal von Nicolai Hartmann mit den folgenden Worten
charakterisiert: Die Erkenntnis ist „nicht ein Erschaffen von etwas, das auch vor aller
Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist". (Grundzüge einer Metaphysik der
Erkenntnis, Berlin 1949 S. 1).
3 De iure belli ac pacis I, cap I 10.
116 Juan Carlos Gardella

Epistemologisch besagt die objektivistische These, daß die drei


genannten Elemente - Handlungen, Menschennatur und Relation zwi-
schen ihnen - objektiv feststellbar sind in dem Sinne, daß eine solche
Feststellung unabhängig von willkürlichen Neigungen und Abneigungen
des erkennenden oder befehlenden Subjekts stattfinden kann.
b) Eine sowohl ontologisch als auch epistemologisch extrem objektivi-
stische These innerhalb des Naturrechts der Neuzeit - gewisse Richtun-
gen des Spätmittelalters fortsetzend - entwickelte sich bei mehreren
Autoren der spanischen Spätscholastik des 16. und 17. Jahrhunderts, wie
etwa Francisco de Vitoria und Luis Molina, und noch radikaler bei
Gabriel Väsquez\ Das Gerechte oder Ungerechte sei nicht im Willen
oder der Vernunft Gottes - geschweige denn des Menschen - primär
verankert, sondern in der Natur der Dinge selbst. Zwar bezieht sich
diese Formel auf die „vernünftige Natur selbst"; diese enthält jedoch
kein subjektives Moment in dem Sinne, in dem man es gerade in der
Neuzeit zu verstehen beginnt. Mit dem Begriff der „vernünftigen Natur
selbst" zielt man eigentlich auf eine sozusagen „objektivierte Subjekti-
vität".

2. Folgen der objektivistischen Position


Die objektivistische These führt zu gewissen Folgen auf konkreten
Gebieten der Rechts- und Staatstheorie. Unter den wichtigsten seien hier
die drei folgenden kurz analysiert, welche zu Ergebnissen führen, die
mit dem heutigen Menschenrechtsverständnis unvereinbar sind:
a) Kriterien, die für objektiv gehalten werden, führen zu als allgemein-
gültig und unwandelbar definierten Gerechtigkeitsleitsätzen und zu
Systemen von ihnen, die eine große Erstarrung aufweisen. Wenn näm-
lich bei der Bestimmung von der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit
einer Handlung und von den Eigenschaften der Menschennatur die
Erkenntnis und der Wille keine wesentliche Rolle konstruktiver Art
spielen - denn diese Bestimmungen sind nach der objektivistischen
Interpretation ja schon unabhängig von Erkenntnis und Willen grund-
sätzlich vorhanden - kommt man naturgemäß zu Gerechtigkeitsleitsät-
zen, welche die gerechten und ungerechten Handlungen ein für allemal
feststellen wollen. Dieser Gefahr waren sich schon die erwähnten Spät-
scholastiker der spanischen Schule bewußt. Denn - wie Welzel bemerkt
- der Objektivismus führte dazu, daß „auch die entfernteren Konklusio-

4 S. H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1960, S. 95 ff über Francisco de

Vitoria, Luis Molina, Gabriel Väsquez und die gesamte spanische Spätscholastik. Die
Theorie von Francisco Suarez - selbst wenn vielleicht gegen seine Absichten - ist m. E.
grundsätzlich nicht anders als Objektivismus zu deuten.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 117

nen in das eigentliche Naturrecht einbezogen wurden"5. Im Unterschied


zu früheren Naturrechtlern (unter ihnen auch Thomas von Aquin), die
nur die höchsten Grundsätze, nicht aber die daraus gezogenen Konklu-
sionen als allgemein gültig und unwandelbar ansahen, lehrten die Auto-
ren dieser Schule, daß das Naturrecht „auch in seinen entfernteren
Konklusionen überall dasselbe sein" müßte6.
b) Kriterien, die man für objektiv hält, führen zu einer Ausweitung der
Erkennbarkeit der Leitsätze, die „allen" sagen, wann eine Handlung
gerecht oder ungerecht ist. Damit erschweren sie die Anerkennung der
Rolle, welche die Gewissensautonomie bei der Bestimmung der Gerech-
tigkeit oder Ungerechtigkeit der Handlungen spielt. Je objektiver diese
Bestimmung verstanden wird, desto weniger entschuldigt deren
Unkenntnis. Damit hängen auch die „Argumentationen" zusammen, die
sich gegen die Anerkennung eines der wichtigsten Grundsätze des
Strafrechts richten, nämlich des Grundsatzes „nulla poena sine culpa".
c) Der Objektivismus erschwert auch das Verständnis des wichtigsten
Axioms des modernen liberalen Strafrechts, nämlich des Grundsatzes
„nullum crimen, nulla poena sine lege". Denn im Sinne des Objektivis-
mus ist die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Handlung schon
vorhanden, bevor die entsprechende Bestimmung erlassen wurde und
unabhängig von ihr, so daß man dazu neigt, dem Strafgesetz eine
erfassende und nicht eine erzeugende Funktion zuzuschreiben.

3. Die Position des Subjektivismus


Die subjektivistische These glaubt auch an Kriterien der Gerechtig-
keit, aber sie behauptet, daß solche Kriterien gerade in Neigungen und
Abneigungen jedes bewertenden Subjekts verankert sind, welche keine
objektive Gültigkeit der Werturteile begründen können.
a) Neben dem Objektivismus war auch der Subjektivismus in der
Naturrechtslehre stark vertreten. Mehrere Richtungen verfochten die
folgende Ansicht: Die Handlungen sind nicht deshalb von Gott als
gerecht oder ungerecht angezeigt und befohlen, weil sie an sich gerecht
oder ungerecht sind, sondern sie sind im Gegenteil deshalb gerecht oder
ungerecht, weil Gott sie als solche angezeigt und diese von ihm verboten
und jene geboten sind. In dieser sozusagen „theologischen" Etappe des
Naturrechts wird die Rolle des erkennenden und befehlenden Subjekts
Gott übertragen. Als der Säkularisierungsprozeß in der Neuzeit begann,
verlagerte man die Rolle des Subjekts von Gott auf den Menschen. Mit
der Theorie Th. Hobbes wurde diese Funktion spezifischer auf den Staat
5
H.Welzel, a.a.O. S.98.
6 Ibidem, S. 98-99.
118 Juan Carlos Gardella

übertragen. Nach Hobbes ist eine Handlung als solche, d. h. ihrer Natur
nach, „indifferent, ein Adiapheron; ihren Wertcharakter erhält sie allein
durch den Befehl (mandatum) eines Ubergeordneten"7. Gerecht oder
ungerecht ist nur das, was als solches vom Staat bestimmt wird, denn -
so steht es in Hobbes Leviathan8 - „auctoritas, non veritas facit legem".
b) Epistemologisch drückt sich der Subjektivismus in einer weit verbrei-
teten Auffassung der Werturteile aus: Da ihnen kein Wahrheitswert
zukomme, seien sie keine echten Urteile, sondern nur ein maskierter
Ausdruck der entsprechenden Bewertungen volitiv-gefühlsmäßiger und
nicht kognitiver Art. Mit anderen Worten: Ausdrücke, die auf den
ersten Blick Werturteile zu sein scheinen, bildeten eigentlich nur die
Rationalisierung von Willen und Gefühl eines bewertenden Subjekts und
somit letzten Endes der Interessen, die dahinter stehen und sich auf diese
Art gegen andere Interessen zu behaupten versuchen. Dies führt zu einer
Konzeption des Werturteils als Stellungnahme von bestimmten Subjek-
ten, eine Stellungnahme übrigens, die als solche eine Tatsache ist und
keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Im Zusammenhang mit
dieser Theorie, die das „sogenannte" Werturteil auf existierende Bewer-
tungen reduziert, wird selbstverständlich die Möglichkeit eines Wirk-
lichkeitsurteiles nicht ausgeschlossen, „mit dem die Beziehung eines
Objektes zu dem darauf gerichteten Wunsch oder Willen eines oder auch
vieler Menschen festgestellt wird"9.

4. Folgen der subjektivistischen Position


Es ist nicht schwer, eine Kritik an der subjektivistischen These zu
entwickeln, indem bestimmte Folgen aufgezeigt werden, die sich aus ihr
für Problematiken der Theorie des Rechts und des Staates ergeben, wenn
man diese These auf die in II. 3 a) und b) genannten Theorien
beschränkt. Daß die Lehre Hobbes, soweit sie eine Begründung des
politischen Absolutismus bedeutet, nach dem heutigen Verständnis der
Menschenrechte negative Folgen hat, und daß sie zu ihm im Wider-
spruch steht, ist unbestreitbar. Ob die in II. 3 b) angesprochene Theorie
des extremen Neupositivismus über das Werturteil im Einklang mit
diesem Menschenrechtsverständnis steht oder nicht - darüber läßt sich
streiten. Es kommt darauf an, ob den Werturteilen ein Anspruch auf
Wahrheit oder Falschheit überhaupt abgesprochen oder auf irgendeine
Weise zugeschrieben wird. Wie dem auch sei: man sollte nicht außer

7
H.Welzel, a . a . O . S. 117.
8
Th. Hobbes, Leviathan, 26. Kapitel.
' S. H.Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, S.20. Kelsen erklärt, daß ein solches
Urteil „nur die Beziehung zwischen zwei Seins-Tatsachen" feststellt, so daß es „nur ein
besonderes Wirklichkeitsurteil" ist.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 119

acht lassen, daß der Subjektivismus sich nicht auf diese oder andere
Versionen beschränkt, und ebensowenig vergessen, daß die grundsätzli-
che Anerkennung von „allen und jedem" in der heutigen Menschen-
rechtskonzeption mehr der subjektivistischen als der objektivistischen
These entspricht. Außerdem sollte man nicht aus den Augen verlieren,
daß sogar in der Theorie Hobbes ein wichtiger Grundsatz der heutigen
Menschenrechtskonzeption - das Ausschließen rückwirkender Gesetze
- gerade in der subjektivistischen These eine Begründung fand.

5. Kritische Würdigung der objektivistischen


und der subjektivistischen These
Versucht man zu erklären, wie die Menschheit zu den heute aner-
kannten Gerechtigkeitsgrundsätzen gekommen ist, d.h. zu den Men-
schenrechtsmaßstäben, dann ist folgendes festzustellen: Eigentlich spie-
len sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus eine unent-
behrliche Rolle bei der Interpretation der Gerechtigkeitskriterien in dem
Sinne, daß sie sich insofern gegenseitig korrigieren und ergänzen, als
beide Positionen das empiristische Postulat und seine Forderung
„zurück zur Erfahrung" beinhalten. Diese Konvergenz sei hier anhand
einer kurzen Analyse der Folgen aufgezeigt, welche beide Positionen bei
einer Kritik der moralischen und rechtlichen Werturteile haben:
a) Eine der Voraussetzungen für die Möglichkeit solcher Kritik bildet
die objektivistische Auffassung der Werturteile als Feststellungen, von
denen es sinnvoll ist zu sagen, daß sie entweder wahr oder falsch sein
können. In zwei Punkten ist diese These allerdings einzuschränken:
Einmal muß man sich darüber im klaren sein, daß hier nur eine
prinzipielle Möglichkeit gemeint ist, was selbstverständlich keine hinrei-
chende Bedingung der Objektivität von konkreten Werturteilen bedeu-
ten kann. Mit anderen Worten: Es besteht immer die Möglichkeit, daß
sich konkrete Werturteile, die nur Ausdruck willkürlicher Neigungen
und Abneigungen des bewertenden Subjekts sind, mit dem guten Ruf
der Objektivität zu „verkleiden" versuchen.
Zum zweiten sollte man nicht übersehen, daß die Möglichkeit von
Urteilen, welche die Übereinstimmung einer Handlung mit den Men-
schenbedürfnissen oder ihren Widerspruch dazu objektiv aussprechen,
nicht ausreicht, um sie als Werturteile im eigentlichen Sinne dieses
Wortes zu bestimmen. Hierbei ist der oben in II. 3 b) angesprochenen
Theorie bis zu einem bestimmten Punkt recht zu geben: Werturteile
drücken notwendigerweise eine Stellungnahme eines oder mehrerer
Subjekte gegenüber den Inhalten aus. Mit anderen Worten: ihnen kön-
nen Wirklichkeitsurteile vorangehen; sie werden aber erst dann zu
Werturteilen, wenn sie von einem Subjekt als eigenes Motiv, d.h.
120 Juan Carlos Gardella

volitiv-gefühlsmäßig angenommen werden, oder anders gesagt: wenn sie


sich internalisieren10.
b) Dabei handelt es sich zusammenfassend um zwei Hindernisse für die
Entwicklung einer rationalen Kritik der moralischen und rechtlichen
Werturteile: einerseits um die Gefahr einer „misplaced concreteness",
vor der in einem anderen Zusammenhang A.N. Whitehead gewarnt
hat11, andererseits um die eines Internalisierungsprozesses, der seinen
empirischen Ausgangspunkt vergißt und den Werturteilen einen „a
priori"-Status zuschreibt.
In dieser doppelten Hinsicht spielt die subjektivistische Auffassung
eine wesentliche Rolle für die Entfaltung einer Kritik der Bewertungen
insofern, als sie den willkürlichen Charakter existierender Bewertungen
aufdeckt, vor einem naiven Ernstnehmen der entsprechenden Rationali-
sierungen warnt und damit den Versuch ablehnt, diese Bewertungen
einfach durch die begleitende Argumentation zu begründen.
Indem er aber allen Werturteilen die Objektivität überhaupt
abspricht, d.h. indem der Subjektivismus „extrem" wird, blockiert er
gleichzeitig den Weg zu einer sinnvollen Kritik. Denn: Welchen Sinn
könnte eine Kritik der existierenden Bewertungen haben, wenn man
nicht zugleich alternative Urteile aufstellen kann, die irgendeinen objek-
tiven Wert aufzeigen können? Deswegen, vor allem aber, weil sich die
Feststellung der Menschenbedürfnisse und der Ubereinstimmung einer
Handlung mit ihnen prinzipiell nicht ausschließen läßt, dauert der Kern
der objektivistischen Position in der rechtsphilosophischen Entwicklung
in gewisser Weise fort. Objektivistische und subjektivistische Auffas-
sungen beziehen sich im Grunde auf zwei unentbehrliche Aspekte der
Werturteile und können sich gegenseitig nicht ausschließen.

6. Grundgedanken zu einer empiristischen Auffassung


der Gerechtigkeitskriterien
Eine Analyse der Erfahrung ermöglicht den Anspruch auf Wahrheits-
wert der Werturteile. Sie erlaubt es zugleich, die Rolle der Subjektivität
zu verstehen und so das empiristische Postulat zu begründen. Damit läßt

10 Über die Bedeutsamkeit des „Internalisierungsprozesses" für das Verständnis mehre-

rer Probleme der Normen und Werturteile s. J.C. Gardella, Interioridad de la moral y
exterioridad del derecho, en Enciclopedia Iuridica Omeba, Buenos Aires 1963, B d . X V I
S. 449—462, und ders.: La responsabilidad por la violación de los derechos humanos y la
problemática de la culpabilidad penal, en: R. Bergaiii y ]. Bustos (directores y compilado-
res), El poder penal del estado-Homenaje a Hilde Kaufmann, Buenos Aires 1985,
pp. 347-364, II.
11 A.N. Whitehead, bezieht sich auf die „fallacy of misplaced concretness", d.h. die
fälschliche Zuschreibung konkreter Realität" (s. E. Buhser, in: Josef Speck, Hrsg., Grund-
probleme der großen Philosophen, Philosophie der Gegenwart I, 1972, S. 274.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 121

sich auch der Weg zu einer Überwindung von Objektivismus und


Subjektivismus zeigen, wofür drei umformulierte Definitionen vorge-
schlagen werden sollen:
a) Definition des Werturteils
Ein Werturteil ist nicht nur eine Stellungnahme eines Subjektes oder
mehrerer Subjekte, d. h. ein Phänomen volitiv-gefühlsmäßiger Art, das
mehr oder weniger im Bewußtsein internalisiert wurde, sondern auch -
vor dem Internalisierungsprozeß - ein kognitives Phänomen, von dem es
sinnvoll ist auszusagen, daß es Anspruch auf Wahrheitswert hat.

b) Definition der Gerechtigkeit


Die Gerechtigkeit läßt sich durch den Begriff „Bedürfnisse" relativ
präzise definieren. Es handelt sich um die „menschlichen Grundbedürf-
nisse", so, wie sie in den heutigen empirischen Humanwissenschaften
verstanden werden12. Dies bezieht sich sowohl auf die bekannten bio-
psychischen Bedürfnisse (Essen, Schlaf, Sicherheit, positiv-affektive
Antwort der Mitmenschen usw.) als auch auf diejenigen, die einige
Psychologen als dem Menschen eigene Bedürfnisse bezeichnen, etwa die
interpersonelle Relation, die Kreativität, die Identität des Einzelnen, die
Tendenz zur Objektivität usw. Nach dem heutigen Stand der Human-
wissenschaften lassen sich solche Bedürfnisse empirisch analysieren. Sie
geben damit eine Basis, um die konkreten Verhaltensformen oder Hand-
lungen als wertvoll oder wertlos bezeichnen zu können. Es genügt
hierbei, darauf hinzuweisen, daß diese Bedürfnisse in der Praxis der
Forschung der Humanwissenschaften unter der Form von „Paarbegrif-
fen" erscheinen. Nennt man die Sammlung der menschlichen Grundbe-
dürfnisse „Menschennatur", dann kann man der alten Naturrechtstheo-
rie bis zu einem gewissen Punkt recht geben.

c) Definition der Wahrheit


Indem sie den Begriff der „Grundbedürfnisse" benutzt, setzt eine
kritische Gerechtigkeitstheorie selbstverständlich auf irgendeine Weise
einen empirisch feststellbaren Unterschied von „wahren" und „falschen"
Bedürfnissen voraus. Dabei darf sie den „objektiven" Begriff der Wahr-
heit nicht benutzen, denn sonst taucht immer wieder die Frage auf, wer
bestimmt, was ein „objektiv wahres" Bedürfnis ist. Nur der „intersub-
jektive" Begriff der Wahrheit und die damit zusammenhängende Argu-
mentations- und Diskussionstheorie kann hier weiterhelfen. „Wahre"
oder „falsche" Bedürfnisse sind demzufolge diejenigen, welche intersub-
jektiv durch den Prozeß einer rationalen Diskussion als solche bezeich-
net werden. Das bedeutet keinen Verzicht auf den Begriff der „objekti-
12 S. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 1978, Zweites Kapitel.
122 Juan Carlos Gardella

ven Wahrheit", denn dieser bleibt als Diskussions- und Argumenta-


tionsziel. Allerdings bedeutet es, daß man nur durch die Intersubjektivi-
tät - d. h. durch Diskussion und Argumentation - zu objektiven Kennt-
nissen kommen kann, d. h. zu Kenntnissen, die man für „objektiv" hält,
deren Objektivität jedoch immer bestreitbar bleibt. Dies führt zu einer
Position, die zwischen Objektivismus und Subjektivismus ihren Platz
findet.
III. Die Geltung der Gerechtigkeitsleitsätze -
Relativismus und Absolutismus
Die obigen Bemerkungen zum Problem der Gerechtigkeitskriterien
ermöglichen auch, die zutiefst widersprüchliche Art und Weise zu
verstehen, wie sich die rechtsphilosophische Forschung entwickelt,
wenn sie sich mit den Gerechtigkeitsleitsätzen befaßt, d.h. mit den
Ergebnissen der Anwendung jener Kriterien. Zwar läßt sich auf diesem
Gebiet ein gemeinsamer Nenner aller Denkrichtungen der Rechtsphi-
losophie feststellen, nämlich die Tatsache, daß sie im Verlauf ihrer
Entwicklung früher oder später, ausdrücklich oder stillschweigend Stel-
lung zu bestimmten Gerechtigkeitsleitsätzen nehmen. Jedoch bildet dies
alles selbstverständlich nur einen formalen gemeinsamen Nenner.
Inhaltlich ist nämlich das gesamte Gebiet von tiefen Gegensätzen
geprägt, von denen der Gegensatz zwischen der absolutistischen und der
relativistischen Betrachtungsweise dieser Stellungnahme zu den Gerech-
tigkeitsleitsätzen der relevanteste zu sein scheint.

1. Wenige Fachausdrücke der Rechtsphilosophie haben eine so heftige


und bereichernde Polemik erfahren wie die beiden Termini des Gegen-
satzpaares „Relativismus-Absolutismus" 13 . Der Vereinfachung halber
13 Praktisch in allen Disziplinen entfaltete sich diese Polemik, aber vor allem in der

Anthropologie war sie besonders leidenschaftlich und aufschlußreich. S. die klassischen


Werke von R. Linton, The Study of Man: An Introduction, New York 1936, und M.J.
Herskovits, Man and his Works. The Science of Cultural Antropology, New York 1948,
V. 2 über den Kulturrelativismus und XXXVIII über den Ethnozentrismus. Was die
Rechtsphilosophie anbetrifft, sei hier nur die Literatur genannt, welche zu den wesentli-
chen Punkten der Entwicklung dieser Polemik beigetragen hat, nämlich die klassischen
Beiträge von: C. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 24-28, ders.
Rechtsphilosophie, Stuttgart 1950, S. 101-105; C.A. Emge, Uber das Grunddogma des
rechtsphilosophischen Relativismus, 1916, vor allem II; H.Kelsen, Reine Rechtslehre,
Leipzig u. Wien 1934, II und III, idem Wien 1960, S. 16 ff; 68-69, 364 ff, ders., Was ist
Gerechtigkeit?, Wien 1953; U.Klug, Thesen zu einem kritischen Relativismus in der
Rechtsphilosophie, in: Gedächtnisschrift für G. Radbruch, hrsg. von A. Kaufmann, 1968,
S. 103-106; ders. Juristische Logik, 1982, § 18.4 S. auch: Chr. Gusy, Über Relativismus, in
ARSP LXV/2 (1981) S. 503-524, O. Weinberger, Rechtspositivismus, Demokratie und
Gerechtigkeitstheorie, in: RT Beiheft 4 (1982), S. 501-523, B.J. Narain, Absolutism vs
Relativism in Social an Legal Philosophy: Human Rights, in: RT Beiheft 8 (1985),
S. 351-356.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 123

wollen wir hierbei die Kelsenscht Formulierung dieser Polemik zum


Ausgangspunkt einer Analyse machen. Nach Kelsen: „Die Norm der
Gerechtigkeit... konstituiert einen absoluten Wert, wenn sie mit dem
Anspruch auftritt, die allein gültige zu sein, d. h.: wenn sie die Möglich-
keit der Geltung ausschließt, die eine andere Behandlung von Menschen
vorschreibt als sie selbst"14. Auf den ersten Blick scheint diese Formulie-
rung unhaltbar zu sein, denn jede Gerechtigkeitsauffassung - sogar die
relativistische - wird naturgemäß ihre eigene Gültigkeit behaupten und
die der anderen verneinen. Den Erklärungen Kelsens entnimmt man
nicht, wie ein solches Ausschließen der „Möglichkeit der Geltung" im
Sinne des Relativismus zu verstehen ist. In dieser Hinsicht sind m. E.
folgende Anmerkungen erforderlich:

2. Selbstverständlich handelt es sich hier zunächst einmal um die prakti-


sche Möglichkeit der Geltung anderer Gerechtigkeitsauffassungen, d. h.
um das Toleranzprinzip, nach dem sich jedwede Gerechtigkeitsauffas-
sung, wie auch immer ihr Inhalt gestaltet ist, ohne Hindernisse irgend-
welcher Art durch Diskussion entwickeln und verbreiten darf15.
3. Darüber hinaus handelt es sich dabei um die Möglichkeit der logi-
schen Geltung anderer Gerechtigkeitsauffassungen. Daß eine Theorie
logisch gilt, bedeutet im allgemeinen, daß ihre Sätze mit anderen
Sätzen nach bestimmten Operationsregeln in Einklang gebracht werden
können. Dies gilt auch für die Gerechtigkeitstheorien. Daß die eine den
Voraussetzungen für die logische Geltung entspricht, bedeutet selbstver-

14 H.Kelsen, Reine Rechtslehre, i960, S.402.


15 Gegen die wertrelativistische Position Kelsens hat man eingewendet, daß es ein
Selbstwiderspruch sei, absolute Wertmaßstäbe abzulehnen und zugleich die Toleranz als
Wert aufzustellen. Man sollte - so diese Kritik - kohärent bleiben und demzufolge auch
nicht die Toleranz für einen absoluten Wert halten. Auf eine detaillierte Art und Weise ist
O. Weinberger (a. a. O. S. 512-514) auf die Analyse dieses Einwandes gegen Kelsen einge-
gangen, und er hat geantwortet, daß Kelsen „seine Begründung des Toleranzpostulates
nicht einfach als deduktiv logische Folge des Wertrelativismus angesehen hat". M. E. ist
zunächst einmal an die Bedeutung von „relativ" und „absolut" in diesem Zusammenhang
zu erinnern. Wenn man dabei alle Werte als „relativ" bezeichnet, meint man notwendiger-
weise nicht, daß die entsprechenden Werturteile falsch seien oder daß ihre praktische
Anerkennung in der Geschichte gleichgültig wäre (es sei in diesem Punkt auf die Meinung
von U. Klug, Thesen zu einem kritischen Relativismus in der Rechtsphilosophie, S. 6
hingewiesen, daß „kritischer Relativismus und Nihilismus nicht identisch sind"). Wenig-
stens bei einigen Richtungen, die sich als relativistisch erklären, meint man nur folgendes:
Alle Werte sind relativ, in dem Sinne, daß die entsprechenden Werturteile immer deshalb
hypothetischer Art sind, weil sie von der Erfahrung irgendwie abhängen und nie „a priori"
sein können. Wenn „relativ" so verstanden wird, kann man ohne Schwierigkeiten auch die
Toleranz als einen relativen Wert bezeichnen, und dies sicherlich ohne Selbstwiderspruch.
Die Toleranz ist gerade eines der besten Beispiele dafür, daß Werturteile von der Erfahrung
abhängen.
124 Juan Carlos Gardella

ständlich nicht, daß die logische Geltung anderer Gerechtigkeitstheorien


ausgeschlossen ist. Diese Selbstverständlichkeit führt den Relativismus
zur Idee einer Pluralität von Werturteilssystemen, die alle - wie auch
immer ihr Inhalt sein mag - logisch strukturiert sind und sich kohärent
darstellen lassen".
4. Demzufolge kann eine Gerechtigkeitstheorie dem Relativismus nach
weder die praktische noch die logische Möglichkeit der Geltung einer
anderen ausschließen. Einige Richtungen des Relativismus, diejenigen
nämlich, die dem empiristischen Postulat folgen und sich zwischen
Objektivismus und Subjektivismus bewegen (siehe oben II. 6), halten es
nun für möglich, daß eine Theorie eine andere widerlegt. Ist dies
vereinbar mit dem relativistischen Prinzip, nach dem eine Theorie die
Möglichkeit der Geltung einer anderen nicht ausschließen kann? Um
diese Frage beantworten zu können, sind zunächst einmal der epistemo-
logische Status einer Gerechtigkeitstheorie und der damit zusammen-
hängende Begriff der Wahrheit in der empiristischen Philosophie zu
überprüfen.
a) Eine Gerechtigkeitstheorie muß zweifellos nach den Forderungen der
Logik aufgebaut sein, es sei denn, sie beschränkt sich auf einen rein
ideologischen Charakter. Da eine Gerechtigkeitstheorie zugleich eine
empirische Basis hat, bedeutet die Rolle der Logik aber nicht, daß sie
sich in eine logische Theorie verwandelt, so daß bei ihr ein Satz allein
aufgrund des Widerspruchsatzes ausgeschlossen werden könnte. Eine
derartige Verwandlung einer empirisch-logischen in eine logische Theo-
rie bildet gerade den Kern der absolutistischen Gerechtigkeitsauffas-
sungen.
b) Innerhalb eines rein logischen oder mathematischen Systems läßt sich
die Wahrheit eines Satzes in dem Sinne „eindeutig" bestimmen, daß man
die Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung eines beliebigen
Satzes mit anderen des entsprechenden Systems mittels der jeweiligen
Operationsregel bestimmen kann, was übrigens auf der Seite des Sub-
jekts ein totales Evidenzgefühl schaffen kann. Die absolutistischen
Gerechtigkeitsauffassungen basieren auf dieser Art der Wahrheit, die
eigentlich nur für die abgeleiteten Sätze eines formalen Systems gilt, und
versuchen, den Geltungsbereich solcher Wahrheiten zu erweitern,
indem sie erklären, daß auch die empirischen Sätze einer Gerechtigkeits-
theorie in diesem Sinne wahr oder falsch sein können. Benennen wir als

" S. in diesem Sinne die bekannte Darstellung personalistischer und transpersonalisti-


scher Auffassungen nach G. Radbruch (Grundzüge der Rechtsphilosophie, zit., S. 94 ff,
und Rechtsphilosophie, zit. S. 100 ff und §7).
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 125

„absolut" diesen Begriff der Wahrheit, der die Übereinstimmung Satz-


-Satz in einem formalen System ausdrückt und der von den absolutisti-
schen Konzeptionen dann auf empirische Gebiete - wo die Wahrheit als
Ubereinstimmung Satz -Satzverhalt zu verstehen ist - verlagert wird. Da
aber die Wahrheit empirischer Sätze vor allem als Relation Satz-Satzver-
halt zu deuten ist, läßt sie sich damit auf die Wahrscheinlichkeit - und
Intersubjektivität (siehe oben II. 6 c ) - zurückführen. Empirische Sätze
bekommen eine mehr oder weniger starke Bestätigung durch die Erfah-
rung, je nach dem ob die Stärke oder Plausibilität ihrer Argumente und
damit ihre intersubjektive Uberzeugungskraft größer oder kleiner ist,
und haben in diesem Sinne einen hypothetischen Charakter. Sie können
im übrigen kein totales Evidenzgefühl auf der Seite des Subjekts schaf-
fen. Wenn die Widerlegung einer Gerechtigkeitstheorie durch eine
andere auf Sätzen hypothetischer Art basiert, steht sie nicht im Wider-
spruch zu dem relativistischen Postulat: Sie kann nie als endgültig
auftreten und kann demgemäß die Geltung der widerlegten Argumenta-
tion in diesem Sinne auch nicht ausschließen.

IV. Gerechtigkeitsprinzipien und -grundsätze


und das Problem der Definition des Rechts
1. Gerechtigkeitsprinzipien und -grundsätze
Die Gerechtigkeitsleitsätze, zu denen man mit Hilfe des einen oder
des anderen Kriteriums kommt, lassen sich in Gerechtigkeitsprinzipien
und Gerechtigkeitsgrundsätze einteilen. Die erstgenannten beziehen sich
auf die Art und Weise, wie man zu handeln hat. Die Sätze „Tue das
Gute, meide das Böse!" oder „Handle nur nach der Maxime, von der du
zugleich wünschen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde!"
bieten Beispiele dafür. Die zweitgenannten erklären einen mehr oder
weniger allgemeinen Inhalt für gerecht, wie etwa der Satz „Jeder hat das
Recht auf Gedankenfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung".
a) Die Gerechtigkeitsprinzipien wurden in der rechtsgeschichtlichen
Entwicklung oft formuliert und von unterschiedlichen Denkrichtungen
vertreten. Mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen haben sie folgendes
gemeinsam: Sie meinen immer, daß eine Handlung gerecht oder unge-
recht ist, und erheben immer Anspruch darauf, sich in irgendeiner Form
auf die Praxis zu beziehen. Im Unterschied zu den Gerechtigkeitsgrund-
sätzen besitzen diese Prinzipien jedoch einen so hohen Grad von Allge-
meinheit und Abstraktion, daß man eigentlich mit Recht bezweifeln
kann, ob sie wirklich gerechtigkeits- und praxisbezogen sind. Ein Teil
der Rechtsphilosophie tendiert deshalb dazu, solche Prinzipien als
126 Juan Carlos Gardella

„inhaltsleere Formel"17 (schärfer formuliert könnte man auch sagen: als


bloße rhetorische Mittel) zu demaskieren.
b) Zweifellos bilden die kritisierten Gerechtigkeitsprinzipien „inhalts-
leere Formeln" in dem Sinne, daß sich mit ihrer Hilfe die entgegenge-
setzten Inhalte als gerecht oder ungerecht ableiten lassen. Sie spielen
deshalb keine praktische Rolle, und es ist durchaus verständlich, daß sie
als irrelevant für die Praxis angesehen werden. Einige von ihnen, etwa
„das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen"18, stellen Urteile dar, die
zwar a priori, jedoch analytischer Art sind, d. h. sie sind Prinzipien rein
logischer Art, ebenso logisch unanfechtbar wie nutzlos für die Praxis.
Andere bilden das Ergebnis einer Verallgemeinerung, die von in der
Praxis gegebenen, inhaltlichen Gerechtigkeitsgrundsätzen ausgeht, so
daß der Versuch, diese Grundsätze auf eine einheitliche Formel zurück-
zuführen, natürlich zu unterschiedlichen Resultaten führen muß.
c) Leitsätze mit unmittelbarer Relevanz für die Praxis, d. h. Gerechtig-
keitsgrundsätze, findet man auf dem Gebiet der Menschenrechte. Die
Menschenrechts- oder Grundrechtserklärungen, die die Ergebnisse eines
Teiles der Rechtsentwicklung seit einigen Jahrhunderten darstellen,
welche vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in Form von Erklärungen
und insbesondere von Konventionen ihren Ausdruck gefunden haben,
bieten ein Material, in dem sich vor allem inhaltliche Gerechtigkeitsmaß-
stäbe klassischer und - noch stärker - gegenwärtiger Provenienz19
finden.

2. Die Gerechtigkeit und das Problem der Definition des Rechts


Da die Gerechtigkeitsprinzipien inhaltsleere Formeln sind, kann man
sie so definieren, daß sie in jeder positiven Rechtsordnung Anwendung
finden. Von den Gerechtigkeitsgrundsätzen kann man dasselbe nicht
17 H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? zit., V, VI, VII, wo die bekanntesten dieser
Formeln anhand ihres tautologischen Charakters einer scharfen Kritik unterzogen werden.
Gewissermaßen demaskiert auch der Trialismus W. Goldschmidts den bloßen formalen
Charakter einiger dieser Prinzipien. Man findet bei diesem Autor (Der Aufbau der
juristischen Welt, 1963, S. 142 ff) den Unterschied zwischen zwei Arten von Gerechtig-
keitsleitsätzen: „Der oberste Grundsatz besitzt diesen Rang, weil er der wichtigste ist. Die
allgemeinen Grundsätze sind dagegen weniger wichtig, vielleicht sogar geradezu unwich-
tig; dagegen sind sie wegen ihrer formellen Natur allgemein und unverbrüchlich". Es sei
hierzu terminologisch bemerkt, daß Goldschmidt von einem „obersten Grundsatz der
Gerechtigkeit" im Unterschied zu „allgemeinen Grundsätzen" spricht, während wir im
Text von „Gerechtigkeitsgrundsätzen" im Gegensatz zu „Gerechtigkeitsprinzipien" reden.
Die beiden Schemata stimmen nur bis zu einem bestimmten Punkt überein.
18 Thomas von Aquin, Summa Theologica, II 1 qu. 94,2.
" S. V.Frosini, Die Menschenrechte in der technologischen Gesellschaft, in: R T 13
(1982), S. 407—419; dieser Autor hat die Originalität der gegenwärtig erklärten Menschen-
rechte gegenüber den klassischen Menschenrechtsmaßstäben zu Recht betont.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 127

sagen. Einige positive Rechtsordnungen stimmen mit ihnen überein,


andere nicht, oder besser gesagt: ein Teil der positiven Rechtsordnungen
steht im Einklang mit gewissen Gerechtigkeitsgrundsätzen, ein anderer
Teil stimmt mit anderen überein. Damit stellt sich die Frage, inwieweit
Gerechtigkeitsgrundsätze und -prinzipien für die Definition des positi-
ven Rechts überhaupt nötig sind.
a) Auf den ersten Blick scheint es, daß diese Frage ganz einfach und
ohne weiteres zu beantworten ist: Die Gerechtigkeitsprinzipien - der
formale Begriff der Gerechtigkeit - können eine Rolle bei der Definition
des Rechts spielen, während die Gerechtigkeitsgrundsätze, die einen
sehr unterschiedlichen Inhalt der Gerechtigkeit ausdrücken, im Gegen-
satz dazu nicht als Definitionskriterien benutzt werden können. Dies
zeigt sich ganz eindeutig, wenn man Theorien der Gerechtigkeit, wie
etwa die von Ch. Perelman, analysiert. Er definiert „die formale oder
abstrakte Gerechtigkeit" als „ein Handlungsprinzip, nach welchem die
Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt
werden müssen". Mit diesem Begriff ließen sich alle konkreten Formen
der Gerechtigkeit charakterisieren. Diese unterscheiden sich dadurch,
daß „jede von ihnen bei der Anwendung der Gerechtigkeit ein anderes
Charakteristikum für das ausschlaggebende hält, d. h. daß sie die Zuge-
hörigkeit zu einer Wesenskategorie verschieden bestimmen. Sie liefern
indes mehr oder weniger präzise Angaben über die Art und Weise, wie
die derselben Wesenskategorie Zugehörigen zu behandeln seien"20. Von
dieser und anderen Bestimmungen der formalen Gerechtigkeit kann man
sagen, daß sie bei der Definition des positiven Rechts benutzt werden
können, denn sie erfassen alle Inhalte, und dies deshalb, weil diese
Bestimmungen inhaltlos sind. Daß bei der Definition des positiven
Rechts keine Gerechtigkeitsgrundsätze benutzt werden dürfen, scheint
auch klar zu sein.
Bei genauerem Hinsehen ist dies alles aber nicht so einfach, wie es auf
den ersten Blick zu sein scheint. In der Tat diskutierte und diskutiert die
Rechtsphilosophie noch heftig darüber. Sehen wir uns den Kern dieser
Diskussion näher an:
b) Nach einer rechtsphilosophischen Hauptrichtung sollte die Tatsache,
daß das positive Recht immer mit der Gerechtigkeit zu tun hat, nur die
einfache theoretische Feststellung sein, daß jede positive Rechtsordnung
auf irgendeiner der in der Gesellschaft existierenden Gerechtigkeitskon-
zeptionen basiert, von deren Richtigkeit jedoch die Rechtsphilosophie
bei der Definition des Rechts absehen sollte. In diesem Sinne ist das
positive Recht immer als gerecht und ungerecht zu betrachten, oder -

20
Ch.Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1967, S.28.
128 Juan Carlos Gardella

wie Kelsen dies präzis formulierte - eine Rechtsordnung kann „mit dem
einen Maßstab gemessen als gerecht gerechtfertigt, mit dem anderen aber
als ungerecht verurteilt werden" 21 , was von der Rechtsphilosophie eine
neutrale Betrachtungsweise bei der Definition des Rechts verlangt. Dies
bedeutet, daß man das positive Recht mit Kriterien definiert, die von der
einen oder der anderen Gerechtigkeitsauffassung unabhängig sind. Eine
derartige neutrale Haltung verfällt nicht in Nihilismus, Defätismus oder
Autoritarismus, wenn sie - wie es oft geschieht - das Problem der
Definition des Rechts und das Gehorsamsproblem trennt: Die Bestim-
mung einer Ordnung als Rechtsordnung bedeutet nicht, daß man ihr
deshalb gehorchen soll. Die Antwort auf die Gehorsamsfrage hängt
nämlich von der Gerechtigkeitskonzeption ab, welche der Adressat
dieser Ordnung für richtig hält.
c) Die Entwicklung der Rechtsphilosophie zeigt eindeutig, wie mühsam
sich diese neutrale Haltung einen Weg bahnen konnte: Eine andere
Hauptrichtung versucht nämlich, als positives Recht Ordnungen zu
definieren, die einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung entsprechen,
d. h. derjenigen, die von dieser Denkrichtung übernommen und in Form
einer Theorie der Gerechtigkeit präsentiert wird. Rechtsverbindlichkeit
könne man nur diesen Ordnungen zuschreiben, denn - das bildet die
Voraussetzung solcher Denkrichtung - das Gehorsamsproblem und das
Problem der Definition des Rechts ließen sich nicht trennen.
d) Oft sagt man, daß die Wahl zwischen der neutralen und der nicht-
neutralen Betrachtungsweise begrifflich irrelevant sei und nur ein termi-
nologisches Problem darstelle: Man könne entweder alle Ordnungen als
Rechtsordnungen bezeichnen und dann nur einen Teil von ihnen -
diejenigen, die mit einer bestimmten Gerechtigkeitsauffassung in Ein-
klang stehen - für rechtsverbindlich halten; oder man könne nur einen
Teil der Ordnungen für Rechtsordnungen halten und ihnen Rechtsver-
bindlichkeit deshalb zusprechen, weil sie der „richtigen" Gerechtigkeits-
auffassung entsprechen. So oder so komme man zu demselben Ergebnis.
Meines Erachtens zeigt sich jedoch, daß bei dieser Kontroverse der
terminologische Streit nicht nur „bloß terminologisch" ist, sondern daß
er wichtige Folgen praktischer und methodologischer Art hat:
e) Auf die praktischen Folgen beider Betrachtungsweisen bezieht sich
H. L. A. Hart, und zwar wie folgt: Die Idee, „daß es etwas außerhalb des
offiziellen Systems gibt, durch bezug worauf das Individuum in letzter
Instanz sein Gehorsamsproblem lösen kann, läßt sich sicherlich unter
solchen Menschen lebendiger erhalten, die daran gewöhnt sind, zu

21
H.Kelsen, Reine Rechtslehre, i960, S.404.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 129

denken, daß Rechtsregeln ungerecht sein können, als unter solchen, die
denken, daß nichts Ungerechtes jemals Rechtsstatus genießen kann" 22 .
f ) Auf die methodologischen Folgen der neutralen und nicht-neutralen
Betrachtungsweisen des Rechtsbegriffs möchten wir hier kurz hinwei-
sen. Eine neutrale Haltung legt naturgemäß dem Rechtstheoretiker
nahe, das Gebiet der positiv-rechtlichen Erfahrung - Normensysteme,
Praxis, Gerechtigkeitskonzeptionen usw. - so weit und so gründlich wie
möglich zu erforschen, und dies nicht nur, bevor er eine dieser Gerech-
tigkeitskonzeptionen in Form einer Theorie als die „richtige" darstellt,
sondern auch nachher. Denn auch nachdem eine derartige Gerechtig-
keitstheorie aufgestellt wird, verschließt er sich nicht mit der These, „das
(was mit der gewählten Gerechtigkeitskonzeption nicht übereinstimmt)
ist doch keine Rechtsordnung", den nötigen ständigen Zugang zu der
rechtlichen Erfahrung. Die neutrale Haltung bei der Definition des
positiven Rechts entspricht dem empiristischen Postulat.
Dagegen führt die These „das Ungerechte kann nie Rechtsstatus
haben" öfter als die entgegengesetzte dazu, - erstens - die Beschreibung
und Erklärung von anderen Gerechtigkeitskonzeptionen zu vernachläs-
sigen und - zweitens - die Gerechtigkeit vor allem als Sache der
proklamierten Grundsätze und nicht des konkreten Funktionierens
einer Rechtsordnung zu betrachten. Die nicht-neutrale Haltung bei der
Definition des positiven Rechts entspricht dem Glauben an Wahrheiten
apriorischer Art.

V. Die Menschenrechtsmaßstäbe und die Rechtsphilosophie


Das historische Phänomen einer Kodifizierung der Menschenrechte
ist nicht zuletzt für die Rechtsphilosophie von höchster Bedeutung. Man
bedenke, daß das Material der Erklärungen und Konventionen über
Menschenrechte Gerechtigkeitsleitsätze umfassender Art enthält. Men-
schenrechte werden heute nämlich im weiten Sinne des Wortes verstan-
den. Die fortschrittlichste Forschungsrichtung auf diesem Gebiet, die
sich gewissermaßen auch in die Praxis umzusetzen beginnt, lehrt die
Existenz von drei Generationen von ihnen. Die bürgerlichen und politi-
schen Menschenrechte bilden eine erste, auch „klassisch" genannte
Generation. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen stellen den
zweiten Katalog dar, auch „modern" genannt. Das Recht auf Frieden,
Entwicklung und adäquate Umwelt bilden somit eine „dritte Genera-

22 H.L.A. Hart, Der Begriff des Rechts (The Concept of Law, Oxford 1961, ins
Deutsche übersetzt von A. von Bayer, 1973), S. 290. Über die Gehorsamsproblematik s.
auch E. Diaz, Legitimidad democrática: Libertad y criterio de las mayorías, in: Sociologia
del diritto n. 1 1984 p. 109-120; ders. La justificación de la democracia, in: Rev. Sistema
Nr. 66 (Mayo 1985), p. 3-23.
130 Juan Carlos Gardella

tion", auch als „Solidaritätsrechte" bezeichnet23. Es liegt auf der Hand,


daß sich die heutige Menschenrechtslehre, zumindest in ihren grundle-
genden Aspekten, auf eine empirisch-praxisbezogenere Art und Weise
mit dem Thema der Gerechtigkeit befaßt; einem Thema, das traditionell
von der Rechtsphilosophie oft auf spekulative Art und Weise behandelt
wurde. Die Beschäftigung mit der Menschenrechtsentwicklung kann
also zu einer Erneuerung der rechtsphilosophischen Reflexion beitragen.
Im folgenden wollen wir nur zwei der Punkte erwähnen, die in dieser
Hinsicht von besonderem strategischem Wert sind:

1. Gerechtigkeitskriterien, -grundsätze und -prinzipien


auf dem Gebiet der Menschenrechte
Durch Menschenrechtserklärungen und -konventionen sowie (auf
innerstaatlichem Gebiet) durch Verfassungen werden Gerechtigkeitsleit-
sätze positiviert. Dagegen enthalten diese Instrumente keine direkten
Hinweise24 auf Gerechtigkeitskriterien, d. h. auf die Art und Weise, wie
man zu diesen Leitsätzen gekommen ist. Auf der internationalen und
regionalen Ebene erklärt sich dies daraus, daß solche Leitsätze das
Ergebnis einer Ubereinstimmung von sehr unterschiedlichen Rechtskul-
turen und Ländern und deshalb von verschiedenen Konzeptionen von
Gerechtigkeitskriterien sind. Im allgemeinen wollte man nicht viel über
die Methodik streiten, sondern sich über allgemeine Leitsätze der
Gerechtigkeit einigen. Und dieser Konsens geschah auf drei Ebenen,
denn das genannte „Material" von Menschenrechten läßt sich in einem
Drei-Stufen-System ordnen; auf internationalem, auf regionalem und
auf staatlichem Niveau.
Nun enthalten die Gerechtigkeitsleitsätze, welche die Bezeichnung
„Menschenrechtsmaßstäbe" bekommen, nicht nur Gerechtigkeitsgrund-
sätze mit echter praktischer Bedeutung, sondern auch teilweise Gerech-
tigkeitsprinzipien. Vielleicht stellen sie nur Überbleibsel dar, die in der
heutigen Periode der Rechtsentwicklung erhalten geblieben sind als
Nachwirkungen einer vorherigen, spekulativ orientierten Periode. Viel-
leicht erklärt sich die Existenz solcher Prinzipien auch aus der Neigung
der Machthaber, sehr allgemeine Formeln mit rhetorischem Effekt als

25 S. dazu K. Vasak, A 30-year Struggle, in Unesco Courier, Nov. 1977 p. 29; ders.

Human Rights: As a Legal Reality, in: K. Vasak (General Editor), The International
Dimension of Human Rights, Westport, Connecticut 1982, Vol. I p. 3-9; s. auch K. de
Wey Mestdagh, The Rights of Development: From Evolving Principle to "legal" Right: in
Search of its Substance, in: International Commission of Jurists (editor), Development,
Human Rights and the Rule of Law, 1981, p. 143 foll. (s. insbesondere p. 148).
24 Sie beziehen sich aber indirekt auf methodische Aspekte. So z. B. die Artikel 19 und

21 der UN-Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und 19 und 25 des UN-Pakts über
bürgerliche und politische Rechte.
Rechtsphilosophie und Menschenrechte 131

Fassade der Rechtfertigung zu benutzen. Wie dem auch sei: ihre Identi-
fizierung und - wenn nötig - ihre Umwandlung in Grundsätze bilden
eine sehr wichtige Aufgabe der Rechtsphilosophie von heute.

2. Eine rechtsphilosophische Klärung der Menschenrechtsmaßstäbe


Wie jede philosophische - und rechtsphilosophische - Analyse zeigt
der Versuch, die Elemente der Menschenrechtsmaßstäbe zu klären, zwei
Charakteristika auf, nämlich die Tendenz der Universalität und einen
hohen Grad von Gründlichkeit:
Man fragt - erstens - nicht nach der Geltung des einen oder des
anderen Menschenrechtsmaßstabs als solchem, sondern nach der Gel-
tung der Menschenrechtsmaßstäbe schlechthin. Zwar geht die rechtsphi-
losophische Frage von einigen, so zahlreich wie möglich gesammelten
Beispielen aus; die Schlüsse, zu denen man kommt, können sich auf den
einen oder den anderen Maßstab als solchen beziehen, und diese kon-
krete und praktische Bezogenheit bildet zweifellos eine sehr wichtige
rechtsphilosophische Aufgabe. Jedoch - und gerade, um diese Aufgabe
besser zu erfüllen - tendiert die Fragestellung der Rechtsphilosophie zur
Universalität.
Sie tendiert - zweitens - auch zur Gründlichkeit. Man findet sich
nämlich nicht mit der Tatsache der Anerkennung von Menschenrechts-
maßstäben bei den Kodifizierungen ab, sondern man fragt nach den
Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung als Gerechtigkeitsgrund-
sätze. Mit anderen Worten: Es wird die Rolle der Erfahrung, der
Vernunft und der irrationalen Faktoren bei der Gewinnung von Maßstä-
ben untersucht, deren Geltung vorausgesetzt ist. Diese vorausgesetzte
Geltung bedeutet, daß die genannten Maßstäbe sich als ein Sollen
ausdrücken und daß sie als solches vom heutigen Stand des ethischen
Bewußtseins betrachtet werden. Dazu einige Bemerkungen:

a) Logisch gesehen kann dieses Sollen - wie im Fall jeder rechtlichen


und moralischen Norm - drei Formen annehmen: man gebietet, verbie-
tet oder erlaubt25. Mit Beispielen: (1) Die Gerichte sind verpflichtet, die
Angeklagten vor der Entscheidung anzuhören. (2) Folter oder grausame,
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sind verbo-
ten. (3) Jedermann darf seine Meinung äußern. Vom logischen Stand-
punkt aus können die Menschenrechtsmaßstäbe mit allen diesen drei
Arten von Sprache formuliert werden oder nur mit der einen oder der
anderen Form. Aus axiologischen Gründen wählen die Menschenrechts-
erklärungen und -konventionen aber eine spezifische Art der Sprache,
25
S. eine Analyse der drei Arten dieser Sprache und ihrer Austauschbarkeit in U. Klug,
„Acerca de la estructura lógica de las normas" ein: Revista Jurídica, Buenos Aires 1964,
I-IV (s. auch U.Klug. Problemas de filosofía del derecho, Bueños Aires 1966, p.31 ss.).
132 Juan Carlos Gardella

die lautet: „Jeder Mensch hat das Recht a u f . . . " , und die mit dem
gewöhnlichen Sinn der „Dürfen"-Sprache nicht identisch ist. In ihr
drückt sich die Idee des Vorrangs des Einzelnen vor allen Organisatio-
nen und Kulturwerken aus.
b) An sich drücken die Menschenrechtsmaßstäbe ein Sollen aus. Außer-
dem werden sie vom menschlichen Bewußtsein als Sollen erfaßt. Dabei
ist das Wort „Bewußtsein" im weiten Sinne zu verstehen, in einem
Sinne, für den die Bezeichnung „ethisch" vorbehalten ist. Das „ethische
Bewußtsein" umfaßt nämlich das rechtliche sowie das moralische
Bewußtsein. Es ist das Ergebnis des Internalisierungsprozesses von
sozialen Normen und vor allem von ihren Grundsätzen und Werten,
welche je nach dem Grad der Internalisierung rechtlich oder moralisch
genannt werden.

c) Der Internalisierungsprozeß der Menschenrechtsmaßstäbe findet


innerhalb des Bewußtseins statt, mehr seitens der Adressaten als seitens
der Machthaber, denn diese Maßstäbe ziehen grundsätzlich feste Gren-
zen für die Ausübung der Macht. Außerdem vollendet sich ein solcher
Prozeß nie einstimmig, sondern bestenfalls nur mehrheitlich.
d) Die Menschenrechtsmaßstäbe bilden Gerechtigkeitsgrundsätze, die
von den rechtlichen Normen zu unterscheiden sind. Diese sind bei der
Definition der Tatbestände und Rechtsfolgen präziser als die Gerechtig-
keitsgrundsätze, welche nicht mehr - und nicht weniger - als nur eben
Grundsätze darstellen. Diese objektive Tatsache und die vorher
erwähnte relative Schwäche des Internalisierungsprozesses von Men-
schenrechtsmaßstäben, vor allem wenn sie erst beginnen akzeptiert zu
werden, erklären die häufigen Phänomene der Manipulation dieser
Maßstäbe, sowohl bei ihrer Umwandlung in rechtliche Normen als
auch bei der Auslegung, Rechtsfortbildung und Anwendung solcher
Normen.

e) Die Menschenrechtsmaßstäbe, d.h. die Gerechtigkeitsgrundsätze,


sind Verallgemeinerungen von konkreten Bewertungen in Einzelfällen.
Aufgrund von ihnen26 konstruiert man Gerechtigkeitsgrundsätze, indem
verallgemeinert und abstrahiert wird. Im Unterschied zu den Gerechtig-
keitsprinzipien, welche wegen ihrem höchsten Grad von Abstraktion
irrelevant für die Praxis sind, stellen die Menschenrechtsmaßstäbe vor
allem Gerechtigkeitsleitsätze dar, von denen ausgehend und im Lichte
neuer Fälle praktische Lösungen ableitbar sind.

26
Dies ist die empiristische Erklärung eines solchen Phänomens, die m. E. die richtige
ist. Die Formulierung des Apriorismus würde dagegen folgendermaßen lauten: „Anläßlich
von ihnen entdeckt man Gerechtigkeitsgrundsätze".
Bilanz der Strafrechtsreform
HANS JOACHIM HIRSCH

I.
Es ist jetzt mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit die im Mittelpunkt
der bundesdeutschen Strafrechtsreform stehende Neuregelung des All-
gemeinen Teils in Kraft getreten ist, und auch die meisten Teilreformen
des Besonderen Teils liegen inzwischen über zehn Jahre zurück. Dieser
zeitliche Abstand erlaubt es, nunmehr eine Bilanz der Strafrechtsreform
zu ziehen. Dabei geht es insbesondere darum, wie sie sich in praktischer
Anwendung und theoretischer Sicht bewährt hat.
Wenn man von der bisherigen Strafrechtsreform spricht, so handelt es
sich vor allem um die zwischen 1969 und 1975 in Kraft getretenen fünf
Strafrechtsreformgesetze (1. bis 5.StrRG) und die durch das neue Ein-
führungsgesetz (EGStGB 1974) vorgenommenen Gesetzesänderungen.
Die Betrachtung der Reform hat darüber hinaus die im Jahre 1976 durch
das l . W i K G eingeführten Wirtschaftsstrafbestimmungen sowie das
1980 durch das 18.StÄG geschaffene neue Umweltstrafrecht und die in
den zurückliegenden Jahren ergangenen sonstigen Strafrechtsänderungs-
gesetze einzubeziehen. Außerdem sind im Zusammenhang mit der
Reform des StGB das Strafvollzugsgesetz von 1976 und die Erweiterung
der Einstellung wegen Geringfügigkeit in § 153 a StPO zu nennen.
Die nur schrittweise Änderung des Besonderen Teils entsprach
bekanntlich nicht der ursprünglichen Planung. Auch nach dem Scheitern
des eine umfassende Neukodifizierung vorsehenden E1962 ging man,
wie erinnerlich, zunächst davon aus, daß eine Gesamtreform möglich
sein würde. Aus diesem Grunde wurde das den neuen Allgemeinen Teil
enthaltende 2.StrRG zwar bereits Mitte 1969 im Bundesgesetzblatt
verkündet, als Termin des Inkrafttretens jedoch erst der 1.10.1973, das
Ende der nächsten Legislaturperiode, bestimmt. Bis dahin sollte schritt-
weise die Reform des Besonderen Teils erfolgen 1 . Als sich dieser Termin
als unrealistisch erwies, wurde eine weitere Verschiebung auf den
1.1.1975 vorgenommen. Auch sie vermochte indes nichts daran zu
ändern, daß die bundesdeutsche Strafrechtsreform - im Unterschied

1
Vgl. den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsre-
f o r m , BT-Drucks. V/4094.
134 Hans Joachim Hirsch

etwa zur österreichischen - ein Torso blieb, bestehend aus einer in das
alte StGB eingeführten Neufassung des Allgemeinen Teils und einigen
schrittweisen Teilreformen des Besonderen Teils. Nach 1975 ist dann
auch für die noch mit dem Ziel der Gesamtreform betriebene abschnitt-
weise Änderung des Besonderen Teils alsbald der Elan verlorenge-
gangen2.

II. Wichtigste Einzelpunkte der Reform des Allgemeinen Teils


1. Der neue Allgemeine Teil hält am Schuldstraf recht und dessen Flan-
kierung durch Maßregeln (Zweispurigkeit) und andere spezialpräventive
Vollstreckungsregelungen (Strafaussetzung zur Bewährung usw.) fest.
Das neue Recht verwendet nicht nur in mehreren Vorschriften aus-
drücklich das Wort „Schuld", sondern es bestimmt darüber hinaus auch
ausdrücklich, daß die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumes-
sung der Strafe bildet. In der grundsätzlichen Ausrichtung auf das
Schuldstrafrecht waren sich der E1962 und der AE1966 einig3. Auch hat
das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen betont, daß
sich aus dem in Art. 20 Abs. 3 G G verankerten Rechtsstaatsprinzip das
Erfordernis der Schuldangemessenheit der Strafe ergibt4. Denn nur das
Schuldstrafrecht respektiert den Bürger als Person und bewahrt ihn
davor, einer zu seinem individuellen Verhalten außer Verhältnis stehen-
den Repression ausgesetzt zu werden. Daß der Streit zwischen Indeter-
minismus und Determinismus nicht mit letzter Gewißheit im Sinne des
ersteren zu entscheiden ist, berührt die Notwendigkeit eines dem
Schuldgedanken Rechnung tragenden Strafrechts nicht. Dieser Gedanke
ist nämlich, indem er die individuelle Vermeidbarkeit als Gesichtspunkt
berücksichtigt, ein zugunsten des Täters wirkendes Prinzip5. Die Alter-
native wäre ein Strafrecht, das bereits das Unrecht der Tat und die
Gefährlichkeit des Täters genügen ließe. Es kommt daher auch nicht von
ungefähr, daß überall dort, wo eine Strafgesetzgebung das Schuldprinzip
verletzt, der Ruf nach Beachtung oder Wiederherstellung erhoben wird.
Im übrigen schließt das Schuldstrafrecht nicht aus, daß innerhalb der
durch die Schuld gezogenen Grenzen der Strafe spezialpräventive
Gesichtspunkte bei der Strafvollstreckung die erforderliche Beachtung
finden, sei es durch Strafaussetzung zur Bewährung, sei es in der
Ausgestaltung des Strafvollzugs.
2 Zur Geschichte der Reform nähere Angaben bei Jescbeck, Strafrecht, Allg. Teil,
3. Aufl. 1978, S. 79 ff.
3 Vgl. E 1 9 6 2 , Begründung S.96ff; A E AT, S. 29 f. Für das Schuldstrafrecht auch aus

kriminologischer Sicht Hilde Kaufmann, J Z 1962, 196 f.


4 BVerfGE 6, 389, 439; 20, 323, 331; 45, 187, 228.

5 Dazu Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1984, Vor § 3 2
Rdn.170.
Bilanz der Strafrechtsreform 135

Die Grundentscheidung, am Schuldstrafrecht festzuhalten, stützt sich


daher auf breite Zustimmung.
2. Ihren Schwerpunkt hat die Reform des Allgemeinen Teils bei der
inhaltlichen Ausgestaltung der Rechtsfolgenregelung. Die Anstöße, die
vom Alternativentwurf 51 und der internationalen kriminalpolitischen
Entwicklung ausgingen, spiegeln sich in dieser Akzentsetzung wider.
a) Die Abschaffung der früheren Unterscheidung von Gefängnis- und
Zuchthausstrafe durch die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe wird
heute allgemein akzeptiert. Schon vorher bestand in der Praxis des
Strafvollzugs kein wesentlicher Unterschied mehr. Andererseits bedeu-
tete die Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe eine dauernde Stigmatisie-
rung, die zumeist eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft
unmöglich machte. Die Einheitsfreiheitsstrafe entspricht deshalb dem
Bemühen, dem Verurteilten nach Verbüßung der Strafe die Rückkehr ins
Sozialleben zu ermöglichen, und bildet heute keinen Gegenstand der
Diskussion mehr.
Eine ebenfalls wichtige Reform war die Ersetzung kurzer Freiheits-
strafen durch Geldstrafen, indem Freiheitsstrafen unter einem Monat
abgeschafft und die Verhängung von Freiheitsstrafen unter 6 Monaten
auf das Vorliegen besonderer Umstände beschränkt wurde (§§38, 47
StGB). Vor der Neufassung war diese Reform Gegenstand lebhafter
Diskussion. Heute wird die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe im
Rückblick auf die in der Rechtspflege früher ausgeprägte Neigung, in
viel zu vielen Fällen Freiheitsstrafen zu verhängen, als Fortschritt emp-
funden.
Fraglich ist jedoch, ob der Gesetzgeber die ihm insoweit gestellte
Reformaufgabe befriedigend bewältigt hat. Er meinte, man könne die
betreffenden Fälle ausreichend und sachgemäßer durch die Geldstrafe
ahnden. Der Anteil der Geldstrafe ist daher inzwischen auf über 80 %
aller verhängten Strafen gestiegen6, wobei die stets Geldbußen im
Gefolge habenden Ordnungswidrigkeiten noch nicht einmal berücksich-
tigt sind. Man hat inzwischen jedoch den Eindruck, daß die Reform zu
stark durch die günstige damalige Wirtschaftslage beeinflußt worden ist.
Damals verfügte nahezu jeder über ausreichende finanzielle Mittel. Bei
ungünstigerer Wirtschaftslage, wie wir sie gegenwärtig haben, entsteht
das Problem, daß den finanziell Schwachen die Ersatzfreiheitsstrafe
droht und damit eine ungleiche Behandlung von finanziell bemittelten
und weniger bemittelten Tätern eintritt.

5
" Näher darüber Grünwald, ZStW 80 (1968), 89.
6
Vgl. Kaiser, Kriminologie, 7. Aufl. 1985, S. 173. Der Anteil der Geldstrafen betrug
1965 noch 63 %.
136 Hans Joachim Hirsch

Hinzu kommt bei der Geldstrafe, daß sie, wenngleich in geringerem


Umfang als die Freiheitsstrafe, Auswirkungen auf die Familie und damit
auf Personen hat, die an der Straftat unbeteiligt gewesen sind. Darüber
hinaus leistet ihre Vollstreckung vielfach nichts Positives im Sinne der
Resozialisierung des Verurteilten 7 .
Auch wenn die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe grundsätzlich
begrüßt wird, stellt sich daher heute die Frage, ob es richtig war, die
Geldstrafe als die ausschließlich in Betracht kommende Alternative
anzusehen. Sie bildet sicherlich im Bereich der unteren und mittleren
Kriminalität vielfach eine geeignete Strafart, aber eben doch nicht
immer. Ein Mangel der Strafrechtsreform wird deshalb bereits an dieser
Stelle deutlich. E r besteht in dem zu wenig gefächerten Sanktionenkata-
log. Die Alternative nur von Freiheitsstrafe und Geldstrafe ist ungenü-
gend. Moderner ist insoweit beispielsweise das englische Recht, indem
es die Freiheitsstrafe auch durch die Verurteilung zu Community Service
zurückdrängt 8 .
Darüber hinaus wird zunehmend bewußt, daß die generelle Beseiti-
gung der kurzen Freiheitsstrafe ein zu weitgehender Schritt gewesen ist.
Die neueren Entwicklungen in anderen Staaten, insbesondere in den
U S A und in Schweden, zeigen sehr deutlich, daß die kurze Freiheits-
strafe nicht völlig entbehrlich ist, sondern als „short sharp shock" eine
wichtige kriminalpolitische Funktion hat9. Die ausländische Reformge-
setzgebung ist deshalb in diesem Punkte zurückhaltender gewesen als die
deutsche.
Eine für die Praxis bedeutsame Neuerung bildete ferner die Erweite-
rung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung. Bestand vorher
nur die Möglichkeit der Aussetzung bei Freiheitsstrafen bis zu 9 Mona-
ten, so muß das Gericht jetzt im Regelfall bei Verurteilungen zu
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr die Strafe zur Bewährung aussetzen.
Darüber hinaus kann heute auch bei Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren
unter besonderen Umständen Strafaussetzung erfolgen (§ 56 StGB) 1 0 .
Diese Reform ist in die Praxis voll durchgeschlagen. Der Anteil der
Strafaussetzungen hat sich verdoppelt. Heute werden mehr als 65 % der

7 Auch Hilde Kaufmann, in: Grünhut-Erinnerungsgabe, 1965, S.65, hat darauf hinge-
wiesen, daß die Geldstrafe nicht in beliebigem Maße vermehrt werden kann und ihr zudem
die erzieherische Wirkung oft fehlt.
8 Näher dazu Cross, The English Sentencing System, 1975, S. 15 ff; King, Community
Service, 1982; B. Huber, J Z 1980, 638; Fuchs, Der Community Service als Alternative zur
Freiheitsstrafe, 1985.
' Vgl. die Angaben bei Jescheck, ZStW 91 (1979), 1057f m . w . N . ; kritisch kürzlich
auch Weigend, JZ 1986, 260, 267.
10 Für eine Erweiterung der Strafaussetzungsmöglichkeit auf Freiheitsstrafen bis zu

2 Jahren hatte sich bereits im Jahre 1965 Hilde Kaufmann (Fn. 7), S. 90 ausgesprochen.
Bilanz der Strafrechtsreform 137

ausgesprochenen Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt11. Bei Erst-


verurteilten bis zu 2 Jahren Freiheitsstrafe ist die Aussetzung inzwischen
die Regel. Es bestehen Tendenzen, den Anwendungsbereich noch über
den bisherigen Umfang hinaus zu erweitern12. Dabei spielen justizöko-
nomische Erwägungen eine erhebliche Rolle. Man will auf diese Weise
die Uberbelegung der Haftanstalten abbauen. Es ist jedoch zu beachten,
daß nach der heutigen Gerichtspraxis die Verurteilung zu mehr als
2 Jahren Freiheitsstrafe das Vorliegen einer bereits recht gewichtigen Tat
bedeutet, so daß in solchen Fällen kaum Raum für eine Strafaussetzung
verbleibt, sollen die Strafdrohungen bei Täter und Öffentlichkeit noch
als ernst gemeint empfunden werden.
Im übrigen scheint sich auch in der Praxis der Strafaussetzung zur
Bewährung der unzureichend gefächerte Sanktionenkatalog widerzu-
spiegeln. Da nämlich oft die Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig, die
Geldstrafe aber als zu schwache Reaktion empfunden wird, versucht
man, diese Lücke durch eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe
zu schließen. Die Verurteilung zu Community service oder Wochenend-
arrest wäre in solchen Fällen wahrscheinlich doch die sachgerechtere
Lösung - wenn es solche Sanktionen im Erwachsenenstrafrecht gäbe.

b) Im Zusammenhang mit der Intensivierung der Geldstrafe ist die


Einführung des Tagessatzsystems erfolgt (§40 StGB). Es handelt sich
dabei um einen der wenigen Punkte, in denen die Reform ein neues
Rechtsinstitut übernommen und damit für das deutsche Recht juristi-
sches Neuland betreten hat. Diese Neuregelung gilt heute als ein beson-
ders gelungenes Ergebnis der Reform. Sie wird in der Praxis entspre-
chend der gesetzgeberischen Intention gehandhabt, die Geldstrafe
schlagkräftiger zu machen.
Ein neues Rechtsinstitut im StGB ist auch die Verwarnung mit
Strafvorbehalt, die bei Geldstrafen bis zu 180 Tagessätzen möglich ist
(§ 59 StGB) 13 . Diese Regelung, die wenigstens einen positiven Ansatz in
Richtung auf eine Differenzierung des auf die Alternative von Freiheits-
strafe oder Geldstrafe beschränkten Strafensystems hätte bieten können,
ist jedoch ohne praktische Bedeutung geblieben. Die Vorschrift ist in
den zurückliegenden Jahren nur in 0,2 % aller strafrichterlichen Abur-

11Kaiser (Fn.6), S. 168.


12Die SPD-Fraktion hat eine Aussetzungsmöglichkeit bis zu 3 Jahren vorgeschlagen;
vgl. Gesetzentwurf zum weiteren Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung, BT-
Drucks. 10/1116. Dagegen aber die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-
Drucks. 10/4391, S. 16, und jetzt das 23.StÄG vom 13.4.1986.
" Der Vorschlag stammt aus § 57 AE, dort allerdings mit wesentlich weiterem Anwen-
dungsbereich. Für die Einführung der Verwarnung mit Strafvorbehalt vorher bereits
Welzel, Ndschr. I, S. 104, im Anschluß an den Entwurf Gürtner.
138 Hans Joachim Hirsch

teilungen angewandt worden14. Der Grund liegt einmal darin, daß der
Gesetzgeber ihr nur Ausnahmecharakter zugebilligt hat15. Zum anderen
hängt die geringe Bedeutung mit der starken Erweiterung der prozessua-
len Einstellungsmöglichkeiten zusammen. Diese haben dazu geführt,
daß bei Straftaten von geringem Gewicht eine Einstellung des Strafver-
fahrens bei gleichzeitiger Bußgeldauflage bevorzugt wird16. Die Strafver-
folgungsorgane empfinden eine solche Verfahrensweise als justizökono-
mischer.
Durch die Fassung als Ausnahmeregelung und die Bevorzugung des
§ 153 a StPO ist auch verhindert worden, daß der §59 StGB bei der
Geldstrafe die Funktion übernehmen konnte, die bei der Freiheitsstrafe
die Strafaussetzung zur Bewährung hat. Das ist mißlich, weil sonst die
seit der Reform ganz im Vordergrund stehende Geldstrafe durch ein
flankierendes spezialpräventives Element sinnvoller und tätergerechter
hätte gehandhabt werden können.

c) Ein weiterer Schwerpunkt der Reform des Rechtsfolgensystems lag,


der Tendenz des Reformgesetzgebers zum Ausbau der Resozialisierung
entsprechend, bei den Maßregeln (§§61 ff StGB).
aa) Bei den Besserungsmaßregeln nach §§ 63 und 64 StGB war die wohl
wichtigste Neuerung, daß der Maßregelvollzug jetzt zeitlich vorgezo-
gen, auf die Strafe angerechnet und der Strafrest zur Bewährung ausge-
setzt wird (§ 67 StGB) 17 . Von der Praxis ist dieses Vikariierungsprinzip
voll akzeptiert worden; denn soll die Resozialisierungschance sinnvoll
genutzt werden, muß man sie sofort wahrnehmen. Die vom Gesetz
eingeräumte Möglichkeit, ausnahmsweise wie bisher zunächst die Strafe
zu vollstrecken, spielt praktisch kaum eine Rolle18.
Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob die Zweispurigkeit nicht
hinsichtlich des Nebeneinanders von Strafe und Maßregeln der Besse-

14 Vgl. Horn, N J W 1980, 106; Heinz, ZStW 94 (1982), 663 f; kritisch zur „Denaturie-
rung" dieses Rechtsinstituts Baumann, JZ 1980, 464.
15 Vgl. § 5 9 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dazu BT-Drucks. V/4095, S.24f.

16 Auch Rieß, ZRP 1983, 93, konstatiert, daß die prozessuale Einstellungsmöglichkeit

die Verwarnung mit Strafvorbehalt „zur Bedeutungslosigkeit herabgedrängt" hat.


17 Bei den Maßregeln der Sicherung dagegen ist die wichtigste Neuerung die Reform der

Sicherungsverwahrung ( § 6 6 StGB) durch das 1. StrRG. Mit der Neufassung wurden die
Voraussetzungen der Anordnung wesentlich verschärft, um nicht weiterhin - wie zuvor -
überwiegend Täter aus dem Bereich der geringen oder mittleren Vermögensdelinquenz zu
erfassen; vgl. BT-Drucks. V/4094, S. 18 ff. Im Jahre 1968 war Sicherungsverwahrung in
268 Fällen angeordnet worden; vgl. Jescheck (Fn. 2), S.23. Seit 1970 sind die Zahlen
ständig zurückgegangen. 1984 waren noch 36 Täter betroffen; vgl. Statistisches Bundes-
amt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1984, S.32.
" Vgl. O L G Karlsruhe N J W 1975, 1571; Hanack, in: Leipziger Kommentar zum
StGB, 10. Aufl. 1978, § 6 7 Rdn.31 m . w . N .
Bilanz der Strafrechtsreform 139

rung überhaupt überholt ist. Gemäß § 2 S. 1 StVollzG von 1976 ist es


Ziel des Strafvollzugs, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer
Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Sache nach
würde dies einschließen, im Rahmen der Freiheitsstrafe die erforderli-
chen therapeutischen Maßnahmen zu veranlassen. Andererseits ist zu
bedenken, daß aus rechtsstaatlichen Gründen die Anordnung derartiger
medizinischer Maßregeln doch einem Gericht überlassen bleiben muß.
Hinzu kommt, daß das erkennende Gericht in den Fällen der §§ 63 und
64 StGB ohnehin vorher regelmäßig mit der Frage des Vorliegens der
§§ 20 oder 21 StGB befaßt war, so daß es unmittelbarer als die Vollzugs-
behörde informiert ist. Außerdem hätten Strafurteile, die sich auf die
Strafe beschränken und die Anordnungen nach §§ 63 und 64 StGB den
Vollzugsbehörden überlassen würden, einen zu abstrakten Charakter.
Außerdem darf nicht übersehen werden, daß es auch spezialpräventive
Regelungen gibt, die außerhalb des Freiheitsentzugs stehen (z. B. Straf-
aussetzung zur Bewährung, Führungsaufsicht) und deshalb ohnehin
vom erkennenden Gericht zu treffen sind. Daher ist es nach wie vor
sachgemäß, die vorgenannten Maßregeln dem StGB und nicht erst dem
StVollzG zuzuordnen".
bb) Viel diskutiert worden ist die Aufnahme der sozialtherapeutischen
Anstalt in den Maßregelkatalog. Der Vorschlag kam aus § 69 AE. Mit
der Vorschrift (§ 65 StGB) war bezweckt, durch moderne therapeutische
Mittel und soziale Hilfen auf solche kriminell besonders gefährdeten
Tätergruppen einzuwirken, bei denen eine effektive Resozialisierung
erwartet werden kann. Daß sie niemals in Kraft getreten und seit dem
1.1.1985 ganz gestrichen worden ist, liegt einmal daran, daß sie in ihrem
Anwendungsbereich zu groß geraten war, um realisierbar zu sein. Geht
es bei den als Vorbild dienenden dänischen und niederländischen Ein-
richtungen um sehr kleine und sehr personalintensive Anstalten, deren
Insassen für das jeweils praktizierte Behandlungskonzept besonders
ausgewählt sind20, wären durch die neue Vorschrift mindestens 3500
Plätze notwendig geworden21.

19 Eine spezifische Besonderheit des Betäubungsmittelrechts bildet die Zurückstel-

lungsmöglichkeit des § 3 5 BtmG von 1982. Danach kann die Vollstreckungsbehörde, aber
auch nur mit Zustimmung des erstinstanzlichen Gerichts, die Vollstreckung zurückstellen,
wenn sich der Verurteilte in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet
oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Im
Drogenbereich war diese Vorschrift erforderlich, da viele Drogenabhängige in den Straf-
vollzug und nicht in Therapie kamen, weil ihre Strafen mangels günstiger Sozialprognose
nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnten.
20 Näher zu den genannten Einrichtungen Hilde Kaufmann, Kriminologie III, 1977,
S. 160 ff.
21 BR-Drucks. 110/83, S. 18; Schwind, NStZ 1981, 122.
140 Hans Joachim Hirsch

Darüber hinaus war die Vorschrift inzwischen durch die tatsächliche


und rechtliche Entwicklung des Strafvollzugs überholt. D o r t existieren
auf der Grundlage des Strafvollzugsrechts bereits 11 Modellanstalten 22 .
Der § 9 StVollzG von 1976 bietet eine Rechtsgrundlage für die Unter-
bringung in Betracht kommender Häftlinge in sozialtherapeutischen
Einrichtungen. Eine ausdrückliche Vorschrift im StGB wurde daher
entbehrlich, zumal es im Unterschied zu den im vorhergehenden erör-
terten §§63 und 64 StGB hier um Erziehungsmaßnahmen und damit
dem Strafvollzug wesenseigene Aufgaben geht.
Dagegen zeichnet sich nicht ab, daß auf sozialtherapeutische Einrich-
tungen wieder verzichtet wird. Zu einer solchen Entmutigung bieten die
bisherigen Ergebnisse keinen Anlaß 23 .
Die Streichung des § 65 StGB gibt deshalb nicht denjenigen Recht, die
sich prinzipiell gegen ihn ausgesprochen haben. Vielmehr hatte die
Vorschrift eine wichtige Signalfunktion für den Strafvollzug und den
Inhalt des Strafvollzugsgesetzes. O b die Entwicklung ohne den
„Druck", der von seiner Existenz ausging, so verlaufen wäre, ist zu
bezweifeln. Andererseits zeigt die dem 2. StrRG vorangehende Debatte,
in welchem Maße Etikettierungen in der wissenschaftlichen Diskussion
von Einfluß sind. Hätte man Anfang der siebziger Jahre schon ein
Strafvollzugsgesetz gehabt, und wäre es nur darum gegangen, in dieses
den heutigen § 9 StVollzG einzufügen, hätte es vermutlich weniger
grundsätzliche Auseinandersetzungen gegeben.
3. Für die Strafrechtspflege besonders folgenreich ist die Entwicklung,
die sich aus der Abschaffung der Kategorie der Übertretungen ergeben
hat. Diese dritte Deliktskategorie nach den Verbrechen und Vergehen
bestand überwiegend aus gegen Allgemeininteressen gerichteten leichten
abstrakten Gefährdungsdelikten. Da es für solche Verstöße gegen
öffentlichrechtliche Vorschriften seit 1952 ein vom Strafrecht getrenntes
Ordnungswidrigkeitenrecht gibt, erschien es konsequent, die Kategorie
der Übertretungen im StGB zu beseitigen und die betreffenden Bestim-
mungen dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuzuordnen. Zu den Uber-
tretungen gehörte aber auch der Mundraub (§ 370 N r . 5 StGB a. F.), der
im Bereich der einfachen Ladendiebstähle große praktische Bedeutung
hatte. Er geriet durch die Reform mit in den normalen Diebstahlstatbe-
stand und wurde damit von einer Übertretung zu einem Vergehen
aufgewertet. U m den sich daraus ergebenden fragwürdigen kriminalpo-
litischen Konsequenzen zu begegnen, wurde durch das EGStGB 1974

22
Vgl. Schock, ZRP 1982, 208.
23
Zu den Erfahrungen vgl. die Berichte in: MSchrKrim. 1979, 322, 338, 348, 357; siehe
auch Schüler-Springorum, in: Barbero Santos u.a., La Reforma Penal, Madrid 1982,
S. 119; Kaiser, SchwZStR 103 (1986), 1, 9ff.
Bilanz der Strafrechtsreform 141

der § 153 a StPO eingeführt. Man erweiterte also, und zwar noch
akzentuiert für die Eigentums- und Vermögensdelinquenz, die Möglich-
keit der Einstellung wegen Geringfügigkeit in der Weise, daß die Staats-
anwaltschaft oder im Hauptverfahren der Richter unter der Bedingung,
daß der Beschuldigte bestimmte Auflagen - zumeist eine Geldbuße -
erfüllt, das Verfahren einstellen kann.
Diese durch die Beseitigung der Ubertretungskategorie verursachte
verfahrensrechtliche Lösung wurde gleichzeitig zum allgemeinen Kon-
zept für die Erfassung der Bagatellkriminalität ausgestaltet.
Die Regelung hat nach anfänglicher Zurückhaltung erhebliche prakti-
sche Bedeutung erlangt24. Die in der Wissenschaft geäußerte Befürch-
tung, daß die Eröffnung der Möglichkeit, sich von der Anklage durch
Zahlung einer Geldbuße gewissermaßen freizukaufen, zu ungleicher
Behandlung von begüterten und finanziell schwachen Beschuldigten
führen könnte25, ist durch die tatsächliche Entwicklung nicht widerlegt
worden. Vor allem aber besteht das Bedenken fort, daß Beschuldigte
hier von den Strafverfolgungsbehörden vielfach nur auf bloßen Tatver-
dacht hin, also ohne Nachweis der Tat, zur Zahlung einer Geldbuße
genötigt werden. Auch scheint in Hauptverfahren die Versuchung zuzu-
nehmen, strafprozessual gebotene Freisprüche dadurch zu umgehen,
daß dem Angeklagten die Zahlung einer Geldbuße bei gleichzeitiger
Einstellung nach § 153 a StPO aufgezwungen wird. Dabei handelt es sich
vor allem um Fälle, in denen die Tat nicht nachweisbar ist, aber auch die
Unschuld des Täters nicht feststeht. Hier drängt es offenbar manche
Richter und Staatsanwälte zur Erteilung eines „Denkzettels" in Form
einer Geldbuße. Außerdem erspart die Anwendung des § 1 5 3 a StPO
dem Richter die Abfassung des freisprechenden Urteils. Auch soll die
Bereitschaft zur Anwendung der Vorschrift in Hauptverhandlungen, die
sich in den späten Nachmittag oder den Freitagnachmittag auszudehnen
drohen, noch größer als sonst sein.
Man wird diesen Teil der Reform kaum als vorbildlich bezeichnen
können. Er geht nicht auf Vorschläge der Wissenschaft zurück, sondern
ist im Bundesjustizministerium erdacht worden, als man dort das
E G S t G B 1974 vorbereitete. Die prozessuale Regelung hat bewirkt, daß
ein Dunkelfeld der Strafverfolgung entstanden ist, in dem die entschei-
denden Strafverfolgungsorgane genügender verfahrensmäßiger Kontrolle
entzogen sind. Hinzu kommt, daß sich die Regelung im Vorverfahren

24 Vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl. 1986, § 1 5 3 a Rdn.22, der für 1983

die Anzahl der Einstellungen auf etwa 200000 Fälle schätzt. Im Jahre 1977 waren es noch
rund 9 0 0 0 0 Einstellungen; siehe Rieß, ZRP 1983, 94. Empirische Daten auch bei Mein-
berg, Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen, 1985.
25 In diesem Sinne Hanack, in: Gallas-Festschrift, 1973, S. 358; Schmidhausen J Z 1973,
535; Hirsch, ZStW 92 (1980), 229.
142 Hans Joachim Hirsch

nicht mit der Funktion der Staatsanwaltschaft vereinbaren läßt, denn


man überträgt dieser damit richterliche Kompetenzen 2 '. Indem die Ein-
stellung an eine Bußgeldzahlung und dgl. geknüpft wird, werden hier
der Sache nach Sanktionen angeordnet.
Es zeigt sich an dieser Stelle ein weiterer grundsätzlicher Mangel der
Strafrechtsreform. Anstatt für die sanktionsbedürftige Bagatelldelin-
quenz eine — wie das Ordnungswidrigkeitenrecht entkriminalisierte -
materiellrechtliche Lösung zu schaffen, hat sich der Gesetzgeber durch
die Beseitigung der Übertretungskategorie diesen Weg verstellt. Als er
sich in letzter Minute des Problems bewußt wurde, blieb nur noch die
unbefriedigende prozessuale Lösung als Ausweg übrig. Für sie kann
man sich auch nicht auf diejenigen ausländischen Verfahrensrechte beru-
fen, die allgemein dem Opportunitätsprinzip folgen27. Denn dort geht es
allein um die Frage der Strafverfolgung, nicht aber darum, daß deren
Unterbleiben vom Erfüllen einer Sanktion abhängig gemacht wird, also
eine Form des Unterwerfungsverfahrens stattfindet.
4. Große Beachtung hat man bei der Vorbereitung des neuen Allgemei-
nen Teils dagegen der dogmatischen Seite gewidmet. Das ergab sich
schon daraus, daß die wissenschaftliche Diskussion bis Anfang der
sechziger Jahre schwerpunktmäßig auf die Dogmatik des Allgemeinen
Teils konzentriert war. Der E1962, der in diesem Bereich deutlich den
Haupteinfluß auf das 2. StrRG gehabt hat, hatte hier seine Stärke. Die
Theoretiker, die an ihm mitgewirkt haben, waren ganz überwiegend
namhafte Strafrechtsdogmatiker.
Neu hineingekommen in den Gesetzestext sind bekanntlich insbeson-
dere Regelungen des Verbotsirrtums, des rechtfertigenden Notstands
und des Irrtums beim entschuldigenden Notstand, Präzisierungen der
Teilnahme- und Rücktrittsregelungen sowie die ausdrückliche Hervor-
hebung, daß das unechte Unterlassungsdelikt strafbar ist.
Betrachtet man diese Neuregelungen, so bedeuten sie allerdings im
wesentlichen nur eine Festschreibung des auch schon nach dem bisheri-
gen Recht anerkannten Rechtszustands. Ihre praktische Bedeutung
besteht mithin hauptsächlich darin, daß im Laufe der Jahrzehnte gewon-
nene wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Übernahme durch die
Rechtsprechung nun auch - gewissermaßen buchhalterisch - im Gesetz-
buch ausdrücklich vermerkt werden. Hervorzuheben ist, daß das Gesetz
sich dabei Lösungen zu eigen macht, die auf der Grundlage der persona-
len Unrechtslehre entwickelt worden sind, nämlich die Vorsatz-
akzessorietät bei der Teilnahme, die Behandlung des Verbotsirrtums

26 Vgl. Hirsch (Fn. 25), S.231; so auch AE-Novelle zur StPO, 1980, S.6.
27 Zu den betreffenden ausländischen Verfahrensrechten näher Weigend, Anklage-
pflicht und Ermessen, 1978, S. 167 f.
Bilanz der Strafrechtsreform 143

nach der Schuldtheorie und die Vorsatzlösung bei irriger Annahme des
entschuldigenden Notstands. Das Gesetz folgt damit einer Dogmatik,
die weder objektivistisch noch subjektivistisch ist, sondern eine Aus-
balancierung von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten vor-
nimmt28. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß sich in der
Wissenschaft die personale Unrechtslehre mit Inkrafttreten des neuen
Allgemeinen Teils durchgesetzt hat.
Der Reformgesetzgeber war sich bewußt, daß die gesetzliche Fest-
schreibung von dogmatischen Lösungen voreilig sein und die weitere
wissenschaftliche Entwicklung blockieren könnte2'. Daß sich die Dog-
matik des Allgemeinen Teils in Deutschland während der vorhergehen-
den 100 Jahre so fruchtbar entwickelt hat, war zu einem erheblichen Teil
durch die Zurückhaltung der alten Fassung des StGB begünstigt wor-
den. Mit Recht hat man deshalb im neuen Allgemeinen Teil einige
Festlegungen vermieden, so etwa bezüglich der Definition von Vorsatz
und Fahrlässigkeit oder bei den Garantenstellungen. Im Rückblick
erweist es sich auch als vorteilhaft, daß es entgegen §§20, 39 Abs. 2
E1962 und § 19 Abs. 1 AE nicht zu einer Regelung des Irrtums über
einen rechtfertigenden Sachverhalt gekommen ist. Die Entwicklung ist
hier weiterhin in Fluß, wie die Hinwendung der eingeschränkten
Schuldtheorie vom Vorsatzausschluß zur Verneinung der spezifischen
Vorsatzschuld einer vorsätzlichen Tat zeigt30.
Trotz der für den dogmatischen Bereich der Reform charakteristi-
schen Perfektion zeigen sich inzwischen auch einige Schwächen. So war
es sachlich verfehlt, die alte Regelung der Akzessorietätsfrage bei qualifi-
zierenden und privilegierenden besonderen persönlichen Merkmalen
beizubehalten (jetzt §28 Abs. 2 StGB). Diese aus dem Altbestand des
StGB stammende Vorschrift paßt logisch nicht mit der im Jahre 1968
eingeführten Regelung zusammen, die jetzt in §28 Abs. 1 StGB steht.
Denn wenn im Falle des Absatzes 2 nur Bestrafung wegen Beteiligung
am Grundtatbestand möglich sein soll, dann ergibt sich als logische
Konsequenz für strafbegründende besondere persönliche Merkmale,
daß der Extraneus dort entgegen Absatz 1 überhaupt nicht bestraft
werden dürfte. Will man ein derart sachwidriges Ergebnis vermeiden, so
müßte auch für die Fälle des Absatzes 2 die Regelung lauten, daß der

28 Zur Ausgewogenheit von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten im dogmati-

schen System näher Hirsch, ZStW 94 (1982), 240 ff, 261 f, 266 ff, 271.
29 Vgl. BT-Drucks. V/4095, S.7f.

30 So Gallas, in: Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 177; Jescheck, in: Leipziger Kom-


mentar zum StGB, 10. Aufl. 1979, Vor § 1 3 Rdn. 75; Lenckner, in: Schönke/Schröder,
StGB, 22. Aufl. 1985, Vor § 13 Rdn. 120; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum
StGB, 3.Aufl. 1985, § 1 6 Rdn.3; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 15.Aufl. 1985, S. 112;
u. a.
144 Hans Joachim Hirsch

anstiftende oder unterstützende Extraneus wegen Anstiftung bzw. Bei-


hilfe zum qualifizierten oder privilegierten Delikt zu bestrafen ist31. Der
Gesetzgeber wird daher wohl nicht umhinkönnen, den Fehler des §28
StGB zu korrigieren31".
Auch mehren sich die Zweifel, ob es sachlich richtig ist, den absolut
untauglichen Versuch als strafbar anzusehen32. Es war daher verfrüht, in
§23 Abs. 3 StGB die subjektive Versuchstheorie mittelbar festzuschrei-
ben, indem dort selbst bei grobem Unverstand des Täters nur ein
Absehen von Strafe oder eine Strafmilderung ermöglicht und damit vom
Vorliegen eines strafbaren Versuchs ausgegangen wird.
Unbefriedigend ist ferner die Ausbreitung der Kombination von
besonders schweren Fällen mit Regelbeispielen. Man fragt sich, nach
welchen sachlichen Gesichtspunkten der Gesetzgeber eigentlich den
jetzt in § 12 Abs. 3 StGB ausdrücklich verankerten Unterschied zwi-
schen ihnen und qualifizierenden Tatbestandsmerkmalen vornimmt.
Besonders augenfällig wird diese Frage, wenn ohnehin die Strafrahmen-
untergrenze unter der für Verbrechen bleibt und deshalb auch bei der
Regelung als qualifiziertes Delikt weiterhin nur ein Vergehen vorliegen
würde. Die Gesetzgebung läßt in diesem Bereich ein wissenschaftlich
nachvollziehbares Konzept vermissen.
Sehr umstritten war bereits während der Beratungen die durch §21
AE angeregte Neufassung der Vorschriften über die Schuldunfähigkeit
und die verminderte Schuldfähigkeit. Der Gesetzgeber entschied sich für
eine Erweiterung des Anwendungsbereichs, indem er als zusätzlichen
Fall die „schwere andere seelische Abartigkeit" in die §§20 und 21 StGB
aufnahm. Hierdurch sollten alle nicht somatisch begründbaren Störun-
gen, wie Psychopathien, Neurosen und Triebanomalien, erfaßt werden.
Er setzte sich damit über die Bedenken der Vertreter der sogenannten
differenzierenden Lösung hinweg. Diese meinten, daß die seelische

31 Der im Schrifttum teilweise unternommene Versuch, die Widersprüchlichkeit


dadurch auszuräumen, daß man den Absatz 2 als reine Strafzumessungsregelung behandelt
(vgl. Wagner, Amtsverbrechen, 1975, S. 386; Cortes Rosa, ZStW 90 [1978], 413; Roxin, in:
Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1978, § 2 8 Rdn. 4 ff), ist wegen des auf eine
Tatbestandslösung hindeutenden Wortlauts und einer sich mehr als 100 Jahre daran
orientierenden Auslegung recht problematisch, zumal jene Umdeutung zu Lasten des
jeweiligen Extraneus gehen würde und die Friktionen zwischen Absatz 1 und 2 auch auf
der Strafzumessungsebene bestehen blieben.
3 , 1 Fehlerhaft war es auch, die besonderen persönlichen Merkmale in § 1 4 StGB zu

definieren, da sie hier eine andere Bedeutung als in § 2 8 StGB haben; vgl. Lenckner
(Fn. 30), § 1 4 Rdn. 8 m . w . N .
32 Vgl .Jakobs, ZStW 97 (1985), 763 f, und die Diskussion auf der Strafrechtslehrerta-
gung 1985, vgl. den Tagungsbericht von Gropp, ZStW 97 (1985), 919 ff.
Bilanz der Strafrechtsreform 145

Abartigkeit nur zur Schuldminderung führen könne". Sonst könnten


sich viele Täter durch die völlige Exkulpationsmöglichkeit der straf-
rechtlichen Verantwortung gänzlich entziehen. Demgegenüber ging der
Gesetzgeber davon aus, daß auch in Fällen der seelischen Abartigkeit
eine völlige Schuldunfähigkeit möglich sei.
In der Praxis ist der von den Gegnern der Neuregelung befürchtete
Bruch der die Schuldunfähigkeit begrenzenden Dämme bisher ausgeblie-
ben34. Die Anzahl der Fälle, in denen von den Gerichten Schuldunfähig-
keit bejaht wird, hat sich seit der Reform nicht erhöht. Andererseits ist
eine stetige Steigerung bei der Bejahung der verminderten Schuldfähig-
keit zu beobachten. Sie ist von 1,25 % der erwachsenen Verurteilten vor
der Reform auf jetzt 2,16 % jährlich gestiegen". Es wird vermutet, ohne
daß darüber zuverlässige Angaben vorliegen, daß die Judikatur in Fällen
schwerer seelischer Abartigkeit vermehrt verminderte Schuldfähigkeit
annimmt. Der Sache nach scheint sich die Praxis daher im Sinne der
differenzierenden Lösung zu entwickeln.
Im übrigen ist weder unter Juristen noch unter Medizinern geklärt,
wie der Begriff der schweren seelischen Abartigkeit zu umgrenzen ist.
Die vom BGH 3 6 vertretene Differenzierung zwischen psychopathischen
Charakterzügen und nicht vom Begriff erfaßten bloßen Charaktermän-
geln wird in der Psychiatrie als unbrauchbar abgelehnt37. Ein anderer
juristischer Abgrenzungsvorschlag sieht vor, nur solchen Fällen seeli-
scher Abartigkeit Bedeutung beizumessen, die entsprechend den übrigen
Schuldunfähigkeitsmerkmalen Krankheitswert haben38. Sie sollen also in
ihrer Schwere den „krankhaften seelischen Störungen" gleichwertig sein.
Die Frage ist aber, bei Vorliegen welcher Voraussetzungen dies anzu-
nehmen wäre. Bei alledem dürfte unter Juristen und Medizinern wohl
wenigstens Einverständnis darüber bestehen, daß die Reform die
Abgrenzungsprobleme der Schuldfähigkeit nicht beseitigt, sondern eher
noch verschärft hat.
Schließlich ist bei den dogmatischen Neuregelungen des Allgemeinen
Teils noch zu registrieren, daß die gesetzliche Vertypung des bis dahin
nur gewohnheitsrechtlich anerkannten rechtfertigenden Notstands ein

33 So noch §§24, 25 E 1 9 6 2 mit Begründung, S. 141 f; dagegen Hilde Kaufmann, JZ


1967, 140 ff. Zur Entstehungsgeschichte der jetzigen Regelung eingehend Lenckner, in:
Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der forensischen Psychiatrie I, 1972, S. 109 ff.
34 Vgl. H.-L. Schreiber, NStZ 1981, 46; Rasch/Volbert, MSchrKrim. 1985, 137.
35 Rasch/Volbert (Fn.34), S.140.
36 Vgl. BGHSt. 14, 30; 23, 176, 190; B G H N J W 1982, 2009.

37 Näher H.-L. Schreiber, in: Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform in der Bundesrepu-


blik Deutschland und in Italien, 1981, S. 80 ff.
3« So Lange, in: Leipziger Kommentar zum StGB, lO.Aufl. 1978, §§20/21 Rdn.48;
Lenckner (Fn.30), § 2 0 Rdn.23.
146 Hans Joachim Hirsch

unerwartetes neues Problem heraufbeschworen hat: die Frage, ob der


neue §34 StGB als Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe
dienen kann39. Indem die bisherige h. M. dies voreilig bejaht, setzt sie
sich über die bestehenden öffentlichrechtlichen Einwände und die sich
bereits in der Praxis abzeichnende Gefahr40 hinweg, daß man sich in
Form des § 34 StGB eine Generalklausel zulegt, mit deren Hilfe man den
Katalog der gesetzlichen Eingriffsbefugnisse nach Bedarf am Gesetzge-
ber vorbei ergänzt. In Wahrheit geht es bei den kritischen Fällen,
nämlich lediglich solchen seltener Extremsituationen, um eine rein ver-
fassungsrechtliche Problematik, die deshalb auch ausschließlich im Ver-
fassungsrecht - und zwar eng umgrenzt - zu lösen und nicht einer
„Jedermannsvorschrift" wie § 34 StGB zuzuordnen ist41. Die dies außer
acht lassende tatsächliche Entwicklung läßt sich indes nicht als Argu-
ment dafür anführen, daß die gesetzliche Typisierung des rechtfertigen-
den Notstands besser unterblieben wäre. Vielmehr war es, nachdem der
allgemeine rechtfertigende Notstand bereits seit Ende der zwanziger
Jahre als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund anerkannt und in viel-
fältiger Weise praktisch geworden war, an der Zeit, ihn ebenso wie die
Notwehr im Gesetz zu vertypen.

III. Wichtigste Punkte der Reform des Besonderen Teils


1. Der Reformgesetzgeber trat Ende der sechziger Jahre mit dem Ziel
an, durch Reformen des Besonderen Teils die Strafbarkeit tatbestandlich
einzuschränken, also mit dem Ziel tatbestandlicher Entkriminalisierung.
a) Daß durch das 1969 ergangene l . S t r R G einige schon faktisch abge-
storbene Strafbestimmungen, nämlich Ehebruch, Zweikampf und Sodo-
mie, beseitigt und außerdem die Strafbarkeit der einfachen Homosexua-
lität aufgehoben wurden, war eine überfällige Entrümpelung des StGB.
Ihre Notwendigkeit steht nicht mehr zur Diskussion. Auch die Herun-
terstufung des schweren Diebstahls (§243 StGB) vom Verbrechen zu
einem Vergehen war angesichts des weiten und teilweise willkürlich
erscheinenden Anwendungsbereichs, den diese Vorschrift durch die
Rspr. erlangt hatte, prinzipiell angezeigt. Sie wird heute ebenfalls allge-
mein gebilligt. Eine andere Frage ist freilich, ob die Entwicklung der
schweren Eigentumsdelinquenz vielleicht weniger explosiv verlaufen
wäre, wenn man den alten §243 StGB auf einen Bereich besonders
gravierender Begehungsweisen eingegrenzt, diese aber weiter als Verbre-
chen eingestuft hätte.

39 Näher dazu Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 6 ff mit Nachw. zum Streitstand.
40 Vgl. die Nachw. bei Hirsch (Fn. 5), § 34 Rdn. 8 u. 17.
41 Hirsch (Fn. 5), §34 Rdn. 17.
Bilanz der Strafrechtsreform 147

b) Im Unterschied zum l . S t r R G ist die Demonstrationsnovelle


(3.StrRG 1970) weitgehend von der damaligen Tagespolitik bestimmt
worden. Man wollte den Studentendemonstrationen, mit deren Zielen
die linken Flügel der damaligen Regierungsparteien sympathisierten,
nicht mit der Schärfe des bis dahin geltenden Rechts entgegentreten. Im
Mittelpunkt stand die Einschränkung des Tatbestands des Landfriedens-
bruchs (§ 125 StGB). Dieser sah bis zur Reform die Strafbarkeit aller
Personen vor, die sich bewußt in einer gewalttätigen Menschenmenge
befinden, ohne daß sie selbst gewalttätig zu sein brauchen. An ihre Stelle
trat die Beschränkung der Strafbarkeit auf denjenigen Personenkreis, der
nachweislich an Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen als Täter oder
Teilnehmer beteiligt ist.
Diese Gesetzesänderung, die trotz Abratens der konsultierten Polizei-
fachleute erfolgte42, hat in der polizeilichen Praxis große Probleme,
insbesondere körperliche Gefahren für die Polizeibeamten, heraufbe-
schworen. Die Diskussion ist darüber deshalb nie verstummt. In den
daher nach dem Regierungswechsel von 1982 aufgenommenen Beratun-
gen für eine erneute Reform zeigte sich jedoch alsbald, daß der liberale
Koalitionspartner, der die Reform von 1970 mitgetragen hatte, nur zu
geringfügigen Änderungen bereit war. Man war sich deshalb wohl auch
darüber klar, daß das nach langem Hin und Her schließlich herausge-
kommene strafrechtliche „Vermummungsverbot" und der neue Tatbe-
stand des Mitführens von Schutzwaffen43 an den in der Praxis entstande-
nen Problemen nur wenig ändern werden.
Eine über die Tagespolitik hinausgehende Reform bildete dagegen -
wenigstens teilweise - die in der Demonstrationsnovelle enthaltene
Neufassung der Strafbestimmung des Widerstands gegen die Staatsge-
walt (§113 StGB). Hier hat man einer von der Wissenschaft seit langem
erhobenen Forderung, dem Irrtum des Widerstandleistenden über die
Rechtmäßigkeit der Amtshandlung Relevanz zuzusprechen, Rechnung
getragen. Andererseits wurde die Regelung so relativiert und verklausu-
liert, daß sie eine gedanklich klare Linie vermissen läßt. Darüber hinaus
gerieten die Beratungen in ein ideologisches Fahrwasser, indem dort
ernsthaft davon ausgegangen wurde, der Widerstand gegen Vollzugsbe-
amte sei ein privilegierter Fall der Nötigung und des Nötigungsversuchs.
Auf diese Weise sind Friktionen entstanden, wenn der Widerstandlei-
stende nicht mit Gewalt, sondern nur mit einem anderen empfindlichen

42 Siehe dazu die öffentliche Anhörung auf der 4. und 5. Sitzung des Sonderausschusses

für die Strafrechtsreform, Prot. 6, S. 29 ff.


43 Vgl. die Neufassung des § 1 2 5 Abs. 2 StGB durch das ÄndGStGB/VersG vom

18.7.1985, BGBl. I 1511.


148 Hans Joachim Hirsch

Übel droht. Um eine Reform der Reform des §113 StGB wird der
Gesetzgeber auf die Dauer nicht herumkommen44.
c) Eine Einschränkung der Strafbarkeit hatte weiterhin die 1973 erfolgte
Reform des Sexualstrafrechts (4. StrRG) zum Ziel. Positiv war an ihr
zum einen, daß sie die antiquiert wirkende Abschnittsüberschrift „Ver-
gehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit" durch die Formulierung
„Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" ersetzte und den ver-
staubten Begriff „Unzucht" beseitigte. Außerdem entsprach die Ein-
schränkung insbesondere der Strafbestimmungen des Mißbrauchs von
Abhängigen, der Prostitution und der Verbreitung pornographischer
Schriften sowie das rigorose Zusammenstreichen des Kuppeleitatbe-
stands dem die sexuelle „Selbstverwirklichung" betonenden Zeitgeist.
Die anfangs nicht auf ungeteilten Beifall stoßende Reform dürfte
heute zunächst einmal im wesentlichen akzeptiert sein - von Einzel-
punkten abgesehen, wie etwa einem äußerst fragwürdigen Erzieherprivi-
leg bei der Strafbestimmung der Förderung sexueller Handlungen Min-
derjähriger (§180 Abs. 1 S.2 StGB). Die Reform des Sexualstrafrechts
stellt im großen und ganzen eine Anpassung strafrechtlicher Vorschrif-
ten an die gewandelte gesellschaftliche Auffassung dar. Andererseits
zeigt sich hier aber auch die Schnelligkeit, mit der sich solche Auffassun-
gen wieder wandeln. Denn heute werden Teile der Liberalisierung des
Sexualstrafrechts, etwa im Bereich der Pornographie, von der weiblichen
Emanzipationsbewegung kritisiert.

d) Ein dringend reformbedürftiger Bereich war die Abtreibungsstraf-


barkeit. In großen Teilen des Bundesgebiets gab es nicht einmal eine
gesetzliche Bestimmung für den medizinisch indizierten Schwanger-
schaftsabbruch45, von anderen Indikationsfällen gar nicht zu reden.
Auch entsprach die Klassifizierung der gewöhnlichen Fremdabtreibung
als Verbrechen seit langem nicht mehr der sozialen Bewertung, so daß es
nur folgerichtig war, daß bereits im 1. StrRG von 1969 eine Herabstu-
fung zum Vergehen erfolgte.
Zu einer heftigen weltanschaulichen Auseinandersetzung entwickelte
sich jedoch die Beratung der eigentlichen Reform. Das 5. StrRG von
1974, das im Anschluß an den Mehrheitsvorschlag des Alternativkreises
die Fristenlösung enthielt, wurde von der damaligen sozial-liberalen
Koalition nur mit knapper Mehrheit im Parlament verabschiedet. Das
Bundesverfassungsgericht erklärte die Fristenlösung zwar für verfas-
sungswidrig46. Die von der damaligen Parlamentsmehrheit daraufhin
44 Näher zum Ganzen Hirsch, in: Klug-Festschrift II, 1983, S. 235 ff; teilweise anders

Dreher, J R 1984, 401 ff.


45 Zur damaligen Gesetzeslage näher BGHSt. 2, 111 und 242.

46 BVerfGE 39, 1.
Bilanz der Strafrechtsreform 149

beschlossene Indikationenlösung47 wurde jedoch durch die konturenlose


allgemeine Notlagenindikation und die noch darüber hinausgehende
Straffreiheit der Schwangeren stark verwässert. In der Praxis hat das
dazu geführt, daß heute praktisch jede von der Schwangeren subjektiv
empfundene Kollisionslage als Fall der Notlagenindikation behandelt
wird48. Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche wird auf jährlich
200 000 bis 300 000 geschätzt. In der Kriminalstatistik tauchen Fälle des
noch strafbar verbliebenen Bereichs mit nur 24 Verurteilungen jährlich
auf49. Bemerkenswert ist auch, daß das komplizierte Gebäude von
Straftatbeständen, das für den Verstoß gegen Beratungspflichten einge-
führt worden ist, in der Praxis keine Bedeutung erlangt hat.
Die Neuregelung stößt nach wie vor auf Widerstand, insbesondere bei
der katholischen Kirche, aber auch in Kreisen der Artzeschaft und in
Teilen der Bevölkerung. Eine politische Mehrheit für eine erneute
Änderung der Gesetzeslage ist jedoch nicht vorhanden. Sie existiert
nicht einmal in bezug auf die Einhaltung der durch die geltende Indika-
tionenregelung markierten Grenzen. Die Strafverfolgungsbehörden sind
an diesem Bereich völlig uninteressiert. Wenn sie ihm Beachtung schen-
ken würden, könnten sie dabei auch kaum auf Rückhalt in der Presse
und bei den politisch verantwortlichen Organen rechnen. Die Rechts-
wirklichkeit besteht daher in einer verschleierten Fristenlösung. Faktisch
ist deshalb kaum ein Unterschied zu den benachbarten Ländern festzu-
stellen, in denen die Fristenlösung ausdrücklich gilt50.
e) Das voluminöse EGStGB 1974, das gleichzeitig mit dem neuen
Allgemeinen Teil am 1.1.1975 in Kraft trat, brachte außer der techni-
schen Anpassung der Strafrahmen des Besonderen Teils an die Neurege-
lung des Allgemeinen Teils und der schon erwähnten Einführung des
§153a StPO mehrere Neuformulierungen von Vorschriften des Beson-
deren Teils. Es ging dabei um Änderungen, bei denen der Gesetzgeber
glaubte, daß sie unproblematisch seien und daher keiner öffentlichen
Erörterung bedürften. Sie standen außerhalb des Blickfelds der auf die
Strafrechtsreformgesetze fixierten Öffentlichkeit. Das um so mehr, weil
der Entwurf des EGStGB 1974 nicht vorher publiziert wurde.

<7 5. StrRG vom 18.6.1974, BGBl. I 1297.


Siehe dazu den Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem
reformierten §218 des Strafgesetzbuches, BT-Drucks. 8/3630, S. 81 ff.
49 Statistisches Jahrbuch 1985, S.343.
50 Zum Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich jüngst Koch, ZStW 97

(1985), 1043. Eine für das deutsche Recht sich jetzt stellende Frage ist, ob es nicht für die
bereits selbständig lebensfähige Leibesfrucht einer qualifizierenden Strafdrohung bedarf;
vgl. dazu Hirsch, JR 1985, 340 unter Hinweis auf „child destruction" im englischen
Strafrecht.
150 Hans Joachim Hirsch

Neben einer Reihe positiv zu beurteilender Änderungen, wie etwa der


Neufassung des §259 StGB, der Einführung der Versuchsstrafbarkeit
bei § 223 a StGB und der tatbestandlichen Trennung von sachlicher
Begünstigung und Strafvereitelung (§§257, 258 n. F. StGB), sind auf
diese Weise einige unzureichend durchdachte Neuformulierungen ins
Gesetz gekommen, die lediglich alte Auslegungsprobleme durch neue
ersetzt haben. Besonders zu nennen sind in diesem Zusammenhang die
Neufassungen der §§147 und 233 StGB sowie die Regelung des §258
Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikt. Auch bietet der endlose § 203 n. F. StGB
Anlaß zu Reflexionen über die Qualität heutiger Gesetzgebungstechnik.

Durch die Eingriffe des E G S t G B 1974 ist zudem die Homogenität des
StGB nicht unerheblich beeinträchtigt worden. So nahm man - einen
Gedanken des E1962 aufgreifend - die sog. unechten Amtsdelikte aus
dem Abschnitt „Straftaten im Amte" heraus und regelte sie, soweit sie
beibehalten wurden, im Anschluß an die Grundtatbestände. Den Tatbe-
stand der Körperverletzung im Amt ließ man jedoch an seinem bisheri-
gen Platz (§ 340 StGB) zurück. Auch änderte man teilweise die erfolgs-
qualifizierten Tatbestände, indem man bei einigen über § 18 StGB
hinausgehend Leichtfertigkeit bezüglich der schweren Folge anordnete.
Wieso jedoch bei den übrigen Tatbeständen Fahrlässigkeit weiterhin
genügen, bei den geänderten dagegen Leichtfertigkeit erforderlich sein
soll, scheint mehr vom gesetzgeberischen Zufall als von sachlichen
Differenzierungsüberlegungen beeinflußt zu sein51. Insgesamt macht ein
nicht unerheblicher Teil des E G S t G B 1974 den Eindruck des Uberhaste-
ten. Man wollte - unter dem Druck der Politiker - zusammen mit dem
neuen Allgemeinen Teil möglichst viel von der Strafrechtsreform über
die Bühne bringen und übersah darüber die Unausgereiftheit mancher
Änderungen und die Flickschusterei, auf die einige von ihnen hinaus-
liefen.

2. Ging es zunächst bei den Teilreformen des Besonderen Teils um eine


Einschränkung der Strafbarkeit, so ist seit Beginn der zweiten Hälfte der

51 Die Vernachlässigung des Homogenitätsgesichtspunkts bei diesen - nicht immer

vordringlichen - Änderungen hat wohl auch verhindert, daß man die Beseitigung der vor
allem im Gefolge der Novellengesetzgebung mehr und mehr entstandenen Ungleichheit
der Regelung der tätigen Reue bei vollendeten Unternehmens- und Gefährdungsdelikten
(z. B. § 229 und §§ 311 a, 311 c StGB) mit in das „technische" Reformpaket des EGStGB
1974 aufgenommen hat. Auf diese Weise hängt nach dem Gesetzestext und der auf ihn
abstellenden Praxis die Beachtlichkeit der tätigen Reue hier weiterhin davon ab, wann eine
Strafbestimmung ins Gesetz aufgenommen worden ist. Zur Notwendigkeit der Rechtsana-
logie de lege lata Eser, in: Schönke/Schröder, 22. Aufl. 1985, § 2 4 Rdn. 116; Hirsch, in:
Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1981, § 2 2 9 Rdn. 22 m . w . N .
Bilanz der Strafrechtsreform 151

siebziger Jahre die gegenteilige Tendenz zu beobachten. Seither geht es


um eine Erweiterung und Verschärfung.
a) An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Gesetzgebung zur
Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität zu nennen. Schon 1971 hatte
der Gesetzgeber verfahrensrechtliche Verbesserungen zur Intensivierung
der Verfolgung geschaffen52. Mit den durch das l . W i K G von 1976
eingeführten neuen Tatbeständen des Subventionsbetrugs und des Kre-
ditbetrugs erstrebte er sodann eine materiellrechtliche Verschärfung der
Bekämpfung, indem er die Strafbarkeit auf Fälle der abstrakten Vermö-
gensgefährdung vorverlegte. Auch wenn man davon ausgeht, daß das
Schutzbedürfnis hier eine Vorverlegung der Strafbarkeit rechtfertigt, so
erheben sich doch Bedenken gegenüber der gesetzgeberischen Ausge-
staltung. Das erste besteht in den gesetzlichen Überschriften. Sie
bezeichnen die neuen Delikte als Subventions- und Kredit&eir»g. Hier-
bei handelt es sich jedoch um einen Etikettenschwindel des Gesetzge-
bers53. Schon der §263 StGB zeigt, daß zum Betrug der Eintritt eines
Vevmögznsschadens gehört, und demgemäß wird derjenige, der sogar
die subjektive Tatseite des § 263 StGB aufweist, aber mit seiner Ausfüh-
rungshandlung noch keinen Schaden bewirkt hat, nur wegen versuchten
Betrugs bestraft. Mit der bei §§ 264 und 265 b StGB benutzten Etikettie-
rung wird daher etwas suggeriert, was in den Fällen, in denen nur diese
Vorschriften erfüllt sind, gerade noch nicht vorliegt: ein Betrug54. Noch
bedenklicher aber ist es, daß in §264 Abs. 3 StGB auch Fälle der
leichtfertigen Begehung für strafbar erklärt werden. Damit wird in den
strafrechtlichen Vermögensschutz, der nur Vorsatzdelikte - und zwar in
aller Regel als Verletzungsdelikte - kennt, nun sogar ein fahrlässiges
abstraktes Gefährdungsdelikt hineingebracht. Eine solche Ausweitung
zerstört die Ausgewogenheit des strafrechtlichen Vermögensschutzes
und sprengt die Grenzen des Kriminalstrafrechts55.

52 Durch Gesetz v. 8.9.1971 (BGBl. I 1513) wurden Wirtschaftsstrafkammern (§74c

GVG) eingerichtet.
53 Man kann sich dafür auch nicht auf §265 StGB berufen, da dieser - wie sein

subjektiver Tatbestand zeigt - nach Art eines Unternehmensdelikts konzipiert ist. Zudem
ist die Bezeichnung „Versicherungsbetrug" erst durch das EGStGB 1974 in das Gesetz
aufgenommen worden.
54 Erst recht ließe sich nicht von Betrug sprechen, wenn man - wie das unzutreffend

teilweise geschieht - das geschützte Rechtsgut des § 264 StGB nicht im Vermögen, sondern
in der staatlichen Planungs- und Dispositionsfreiheit sieht. Denn Betrug i.S. des StGB
setzt jedenfalls ein Vermögensdelikt voraus.
55 Zur Kritik näher Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, 1982,
S. 122 ff.
152 Hans Joachim Hirsch

Wesentliche praktische Bedeutung haben diese Vorschriften aber


nicht erlangt56. Vielmehr steht der klassische Betrugstatbestand weiter-
hin ganz im Vordergrund. Die eigentlichen Probleme der Bekämpfung
der Wirtschaftskriminalität liegen nach wie vor im Verfahrensbereich, es
sei denn, es handelt sich um neue Erscheinungsformen, die sich beste-
henden Tatbeständen nicht subsumieren lassen.
U m solche Erscheinungsformen geht es bei der Computerkriminali-
tät, also der Manipulation von automatisierten Rechnerabläufen. Das
vom Bundestag kürzlich verabschiedete 2. WiKG sieht deshalb einschlä-
gige neue Tatbestände vor, insbesondere einen Tatbestand des Compu-
terbetrugs (§263a StGB). Unstreitig besteht ein kriminalpolitisches
Bedürfnis für solche Vorschriften. Denn der klassische Betrugstatbe-
stand versagt, wenn es nicht um die Täuschung eines Menschen geht.
Auch in zahlreichen ausländischen Staaten gibt es entsprechende Re-
formbestrebungen".
Das 2. WiKG enthält ferner einen Tatbestand des Scheck- und Kredit-
kartenmißbrauchs (§266b StGB). Zur Aufnahme dieser Vorschrift sah
man sich durch schwerwiegende juristische Fehler der höchstrichterli-
chen Judikatur veranlaßt 58 . Denn zunächst wurde in der Scheckkarten-
entscheidung BGHSt. 24, 386 fälschlich - und unter Ubersehen der
langjährigen gegenteiligen Rspr. zu den Sparbuchfällen - der § 263 StGB
(z. N . der ausstellenden Bank) bejaht, dagegen der nach der bis dahin
anerkannten Auslegung anzunehmende § 266, 1. Alt. StGB verneint. In
der späteren Kreditkartenentscheidung BGHSt. 33, 244 sah man dann
zwar zutreffend, daß §263 StGB nicht einschlägig ist, gelangte jedoch
nun zum Freispruch, weil man nicht gleichzeitig zum §266, 1. Alt. StGB
zurückfand. Wenn der Gesetzgeber deshalb jetzt einen §266b StGB
schafft, so handelt es sich dabei lediglich um eine Klarstellung, daß hier
eben doch eine Untreue anzunehmen ist. Die Rspr. muß sich bei dieser
„Reform" den Vorwurf gefallen lassen, durch mangelhaft durchdachte
Entscheidungen zur Deformierung des StGB beizutragen. Neben quali-
fizierenden und privilegierenden Tatbeständen bekommen wir nun auch
noch einen klarstellenden, und wegen der sachlichen Uberflüssigkeit läßt
sich unschwer voraussehen, welche neuen Rechtsprobleme eine solche
Sonderregelung produzieren wird.
54
Siehe dazu die Angaben bei Kaiser (Fn. 6), S. 356 ff; Kießner, Kreditbetrag - § 265 b
StGB, 1985, S. 83 ff; auch schon Jescheck, in: Max-Planck-Gesellschaft, Jahrbuch 1980,
S.26f. Im Jahre 1984 wurden lediglich 113 Personen aus §264 StGB verurteilt, nach
§265 b StGB sogar nur 5 Personen; vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfol-
gung 1984, S. 18.
57
Dazu Sieber, Informationstechnologie und Strafrechtsreform, 1985, S. 27 ff. Zur
Problematik der konzipierten tatbestandlichen Ausgestaltung ders., S. 31 ff; außerdem
Winkelbauer, Computer und Recht 1985, 43.
58
Vgl. auch den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 10/5058, S. 32.
Bilanz der Strafrechtsreform 153

b) Auch gegenüber dem Terrorismus sah sich der Gesetzgeber im Jahre


1976 veranlaßt, die Strafbarkeit auszudehnen und zu verschärfen. Durch
das sogenannte Anti-Terroristen-Gesetz 59 wurde die Strafbestimmung
der Bildung terroristischer Vereinigungen (§129a StGB) eingeführt. In
zwei anderen neuen Strafbestimmungen (im 14.StÄG) ging es um die
verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten und die Anleitung zu
Straftaten (§§88a, 130 a a. F. StGB). Diese beiden Vorschriften waren
von Anfang an umstritten. Man bezweifelte ihre Effektivität und
befürchtete eine zu starke Einschränkung der Meinungsfreiheit. Bereits
1981, also fünf Jahre später, sind sie deshalb wieder aufgehoben worden.

c) Um Ausdehnung der Strafbarkeit geht es ebenfalls bei dem neuen


Umweltstrafrecht von 1980. Das verstärkte Umweltbewußtsein ruft
nach entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen für schwerwiegende
Fälle. Aber die neuen Vorschriften (§§ 324 ff StGB) sind wenig befriedi-
gend. Sie enthalten einerseits viele unscharfe und auch in den Bagatellbe-
reich sich erstreckende Tatbestandsmerkmale. Andererseits besteht
zumeist eine blankettmäßige Verknüpfung mit verwaltungsrechtlichen
Vorschriften, so daß die neuen Strafbestimmungen oft tatsächlich nicht
angewandt werden können, weil die betreffende Umweltverschmutzung
von einer Verwaltungsbehörde genehmigt ist60. Man hat bei diesem Teil
der Reformgesetzgebung deshalb etwas den Eindruck, daß er den Politi-
kern damals vor allem als Alibi diente, um schnell und ohne Budgetauf-
wand sagen zu können, für den Umweltschutz etwas getan zu haben. In
der Kriminalstatistik beläuft sich die Zahl der Verurteilungen inzwischen
aber immerhin auf rund 1000 Personen jährlich, wobei eine leicht
ansteigende Tendenz zu verzeichnen ist61. Auffallend ist jedoch, daß die
meisten polizeilich eingeleiteten Verfahren schon vor Anklageerhebung
eingestellt werden. Zudem sind die verhängten Strafen recht niedrig: in
85 % der Fälle liegt die Geldstrafe nach Umrechnung der Tagessätze
unter 1000 DM 62 .
Außerdem ist allgemein zu fragen, ob die Grenzen des Umweltschut-
zes wirklich sachgemäß gezogen werden. So fällt unter den Wortlaut des
Umweltstrafrechts, wer in ein Gewässer uriniert, dagegen bleiben
Architekten und Bauherrn, die durch das Errichten von Betonklötzen
die Landschaft auf unabsehbare Zeit ruinieren, schon von vornherein
außerhalb der Tatbestände.

59 ÄndGStGB/StPO v. 18.8.1976, BGBl. I 2181.


60 Näher zur Kritik Lackner, StGB, 16. Aufl. 1985, Bern. 1 vor §324 m. w. N.
" In den Jahren 1981 bis 1984 ist die Verurteiltenziffer von 928 auf 1139 angestiegen;
vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Strafverfolgung 1981, S.20; 1984, S.20.
62 Zu diesen Ergebnissen kommt eine im Auftrag des Umweltbundesamtes durchge-

führte Untersuchung der Universität Bonn, vgl. FAZ vom 25.2.1986.


154 Hans Joachim Hirsch

d) Zu einer Ausweitung und Verschärfung der Strafbarkeit führte auch


die Entwicklung der Drogenszene. Das neue Betäubungsmittelgesetz
von 1982 enthält neben der Einführung therapiebegünstigender Rechts-
folgenregelungen die Verschärfung der Strafdrohungen für besonders
schwerwiegende Handlungsweisen. Außerdem hat es durch die Bildung
zahlreicher selbständiger Tatbestände im Bereich materieller Vorberei-
tungs-, Versuchs- und Teilnahmehandlungen eine im Vergleich zum
sonstigen deutschen Strafrecht ungewöhnliche Vorverlegung der Straf-
barkeit gebracht. Interessant ist, daß in der Praxis jedoch nur 3 % aller
überhaupt wegen Drogenvergehen erfolgten Aburteilungen den neu
pönalisierten Bereich betreffen".
e) Schließlich ist die im Sommer 1985 in Kraft getretene „Auschwitz-
Novelle" zu erwähnen. Ein Referentenentwurf aus dem Jahre 1982 sah
vor, den Tatbestand des § 140 StGB um das Leugnen oder Verharmlosen
von Völkermord und die Verbreitung von Schriften solchen Inhalts zu
erweitern64. Damit sollte die Strafbarkeit von Äußerungen, mit denen die
Ermordung der Juden in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten
abgeleugnet oder bagatellisiert wird, gewährleistet werden. Die stark
von Emotionen und politischen Pressionen geprägte Diskussion führte
schließlich zu dem Ergebnis, daß sich die Regierungsparteien auf eine
Lösung innerhalb des Beleidigungsrechts einigten. Ausgehend davon,
daß derartige Äußerungen Beleidigungen der Uberlebenden oder eine
Verunglimpfung der Ermordeten seien, strich der Gesetzgeber für jene
Fälle und auch solche, in denen es um Opfer einer anderen Gewalt- oder
Willkürherrschaft geht, in § 194 StGB das Antragserfordernis.
Dieser Kompromiß hat die allgemeinen strafrechtstheoretischen Fra-
gen, die der Gedanke, man könne schon das Leugnen oder Verharmlo-
sen historischer Ereignisse pönalisieren, zwangsläufig aufwirft, nicht aus
der Welt geschafft65. Sie sind nun unter den - auch nicht nach Belieben
interpretierbaren - Begriffen „Beleidigung" und „Verunglimpfung" ver-
deckt.
4. In die aktuelle Reformdiskussion sind auch noch einige andere Berei-
che des Besonderen Teils geraten, ohne daß sich indes ein Tätigwerden
des Gesetzgebers abzeichnet.
a) An erster Stelle sind hier die Tötungstatbestände zu nennen. Die
heutige Abgrenzung der Strafbestimmungen des Mordes und des Tot-
schlags ist problematisch geworden, weil die lebenslange Freiheitsstrafe

65 BT-Drucks. 10/843, S.18f.


64 BT-Drucks. 10/1286.
65 Zur Kritik siehe Ostendorf, NJW 1985, 1062. Kritisch zur Entstehungsgeschichte
Dreber/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, § 130a a. F.; Lackner (Fn. 60), § 194 vor Anm. 1.
Bilanz der Strafrechtsreform 155

in einer Reihe von Fällen, in denen nach Auffassung der Strafjustiz der
Mordtatbestand gegeben ist, als unangemessen hohe Strafe erscheint.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich deshalb bekanntlich für die ver-
fassungsrechtliche Notwendigkeit der restriktiven Auslegung ausgespro-
chen, insbesondere bei den Merkmalen der Heimtücke und der Absicht
der Verdeckung einer Straftat66. Der B G H hat sich jedoch nicht zu einer
einschränkenden Interpretation dieser Tatbestandsmerkmale entschlie-
ßen können, sondern hat einen übergesetzlichen Strafmilderungsgrund
aufgestellt, mit Hilfe dessen der Strafrahmen im kritischen Bereich des
Merkmals Heimtücke relativiert werden soll67. Diese Rechtsfolgenlö-
sung ist im Schrifttum überwiegend auf berechtigte Kritik gestoßen68. Sie
überschreitet nicht nur die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfort-
bildung, sondern bewirkt, weil sie nicht in einer einschränkenden Neu-
definition der fraglichen Tatbestandsmerkmale, sondern in einer vom
Gesetzeswortlaut gelösten Milderungsklausel besteht, einen Schwund an
Rechtssicherheit. Darüber hinaus beläßt es jene Konstruktion einerseits
dabei, daß die Täter doch jedenfalls tatbestandlich einen Mord begangen
haben, andererseits führt sie zu einer Strafuntergrenze von nur 3 Jahren,
wodurch sogar die Mindeststrafe des Totschlags unterschritten wird.
Ohne Eingreifen des Gesetzgebers ist dieser exponierte Bereich des
Besonderen Teils daher wohl nicht wieder ins Lot zu bringen. Anderer-
seits besteht nicht der Eindruck, daß der Gesetzgeber dazu schon im
gegenwärtigen Zeitpunkt in der Lage wäre. Ein Lösungsmodell, das auf
breitere Zustimmung rechnen könnte, ist bisher nicht in Sicht. Auch der
Deutsche Juristen tag, der sich 1980 mit dem Thema befaßte, konnte sich
lediglich auf allgemein gehaltene Leitlinien für die Reform der Tötungs-
delikte verständigen69. Zu dem Fehlen eines konsensfähigen Lösungs-
konzepts tritt möglicherweise beim Gesetzgeber die Sorge hinzu, es
könne eine neue Diskussion über die beim Mord als absolute Strafe
angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe entbrennen.
b) Hinzu kommt, daß eine Reform der Tötungsstrafbestimmungen
auch das Thema Sterbehilfe berühren würde. Uber sie wird seit Mitte der
siebziger Jahre mehr oder weniger lebhaft in der Öffentlichkeit disku-
tiert. Beim Aufkommen dieser Diskussion trafen zwei Faktoren zusam-
men: Erstens der Fortschritt der Medizin, der es ermöglicht, daß das

" BVerfGE 45, 187.


67 BGHSt. (GS) 30, 105.

68 Siehe etwa Bruns, J R 1981, 358; den., in: Kleinknecht-Festschrift, 1985, S.49;
Günther, N J W 1982, 353; Jescheck, SchwZStR 100 (1983), 27; Dreher/Tröndle (Fn.65),
§211 Rdn. 17 m. w. N .
" Vgl. die Beschlüsse der Abteilung Strafrecht des 53. Deutschen Juristentages, 1980,
M 163 ff.
156 Hans Joachim Hirsch

Sterben des Menschen in sinnloser und unwürdiger Weise verlängert


wird. Zweitens eine individualistische Zeitströmung, die nach der weit-
gehenden gesetzlichen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nun die
Freigabe der Euthanasie zur Reformforderung erhob. Nachdem die
Debatte zeitweilig in ein ruhigeres Fahrwasser geraten war, ist sie seit
1984 wieder stark in Bewegung geraten. Den Anlaß dazu haben der Fall
Dr. Hackethal und die Rechtsunklarheit schaffende Begründung der
Entscheidung BGHSt. 32, 367 gegeben.
Bisher besteht bei den politischen Parteien begreiflicherweise wenig
Neigung, sich auf die Inangriffnahme einer strafgesetzlichen Regelung
der Sterbehilfe einzulassen. Denn sie würde bis einschließlich der indi-
rekten aktiven Euthanasie überflüssig sein70, andererseits leicht die bisher
vor der direkten aktiven Euthanasie stehenden Barrieren zum Einsturz
bringen können. In der Tat sind die Bedenken gegenüber der Straffrei-
heit der letztgenannten Fallgruppe schwerwiegend. Im Interesse der
Wahrung des Schutzes des Rechtsguts Leben vor aktiven Tötungshand-
lungen ist die prinzipielle Unantastbarkeit fremden Lebens unverzicht-
bar71. Soweit sich in Extremsituationen einmal ergeben sollte, daß das
Eingreifen des Strafrechts verfehlt wäre, würde der als Rechtsinstitut
anerkannte übergesetzliche entschuldigende Notstand dann immer noch
ein ausreichendes „Notventil" bilden72. Daher wird der Gesetzgeber
wohl gut daran tun, wenn er sich nicht zu einer strafgesetzlichen
Initiative zur Regelung der Sterbehilfe drängen ließe.

c) Dagegen wird die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaften


den Gesetzgeber bald dazu zwingen, im Bereich von Fortpflanzungs-
technologie und Humangenetik tätig zu werden73. Strafrechtlich geht es
vor allem darum, daß pönalisiert wird, menschliche Embryonen nach
dem Eintritt der ersten Zellteilung außerhalb des Mutterleibs für For-
schungszwecke oder kommerzielle Verwendung weiterzuzüchten.
Außerdem wird es notwendig sein, das Klonen von Menschen unter
Strafe zu stellen; denn Klonen wäre mit der Menschenwürde unverein-

70 Zur Straflosigkeit der bloßen Teilnahme an der Selbsttötung, der passiven Euthanasie

sowie der indirekten aktiven Euthanasie, vgl. Geilen, FamRZ 1968, 125 f; Engisch, in:
Eser, Suizid und Euthanasie, 1976, S. 315 ff; Eser, in: Eid, Euthanasie, 1975, S.59;
Hanack, in: Hiersche, Euthanasie, 1975, S. 163; Jähnke, in: Leipziger Kommentar zum
StGB, 10. Aufl. 1980, Vor §211 Rdn. 11 ff m. w. N.
71 Näher Hirsch, in: Welzel-Festschrift, 1974, S. 787ff.

72 Vgl. Hirsch (Fn.5), Vor § 3 2 Rdn. 204 m . w . N .

73 Der Bundesminister der Justiz hat jetzt ein „Embryonenschutzgesetz" angekündigt,

vgl. F A Z vom 4 . 3 . 1 9 8 6 . Mit den betreffenden Fragen befaßt sich auch eine Enquete-
Kommission; zu deren Aufgaben siehe den Bericht von Benda, N J W 1985, 1730.
Bilanz der Strafrechtsreform 157

bar, da jeder Mensch das Recht auf eigene unwiederholbare Identität


hat74.
d) Schließlich zeichnet sich ab, daß der Gesetzgeber sich mit dem
Nötigungstatbestand befassen muß. Die jetzige Fassung, die das Produkt
einer mißlungenen Reform aus dem Jahre 1943 ist, entsprach hinsichtlich
der Begehung durch Drohung von Anfang an nicht rechtsstaatlichen
Anforderungen. Durch die inzwischen erfolgte Aufweichung des
Gewaltbegriffs hat sich dieser Mangel auch auf die erste Begehungsform
ausgedehnt. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht entgegen der im
Schrifttum verbreiteten Auffassung75 nicht zur Annahme von Verfas-
sungswidrigkeit gelangen sollte, wird der Gesetzgeber wegen der zutage
tretenden Problematik an einer Präzisierung des Tatbestands nicht vor-
beikommen.

IV. Gesamtbewertung der Reform


1. Hier bedarf als erstes der große Qualitätsunterschied zwischen dem
neuen Allgemeinen Teil einerseits und den Teilreformen des Besonderen
Teils andererseits der Hervorhebung. Der neue Allgemeine Teil ent-
spricht - von gelegentlichem übertriebenen Perfektionismus abgesehen -
gesetzestechnisch dem Niveau der herkömmlichen deutschen Strafge-
setzgebung. Von der bisherigen Reformgesetzgebung zum Besonderen
Teil läßt sich das dagegen nicht behaupten76. Sie enthält bedauerliche
Gesetzgebungspannen, so beispielsweise bezüglich der Koordinierung
der Neuregelung des §113 StGB mit dem allgemeinen Nötigungstatbe-
stand des §240 StGB oder bei der Neufassung des § 147 StGB. Außer-
dem produziert sie monströse Strafbestimmungen, bei denen man den
Eindruck hat, der seit dem Feuerbach'schen Strafgesetzbuch von 1813
erfolgte Übergang zu griffigen Tatbestandsbildungen habe nicht stattge-
funden: Einige neue Vorschriften erstrecken sich jede über nicht weniger
als eineinhalb Seiten des Gesetzbuches und machen eher den Eindruck
eines Verordnungstextes77. Auch hat man manche Regelungen so kom-
pliziert gefaßt, daß sie nur mühsam durchschaubar sind. Dies gilt
insbesondere für die Neuregelung der §§218ff StGB. Zum anderen ist
aber auch eine Vorliebe für Generalklauseln zu beobachten. Das neue
Umweltstrafrecht bildet hierfür ein Beispiel.

74 Zum Ganzen siehe Arthur Kaufmann, in: Oehler-Festschrift, 1985, S.649; Mersson,
Fortpflanzungstechnologien und Strafrecht, 1984.
75 So bereits H. Mayer, Mat. I 267ff; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969,

S- 327; Hirsch, ZStW 74 (1962), 122 ff; neuerdings insbesondere Callies, N J W 1985, 1506.
76 Kritisch schon Lenckner, in: Tübinger Festschrift, 1977, S.239, 253 ff; Naucke,
Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, 1975, S. 50 ff.
77 Vgl. §§ 184, 203, 284 StGB.
158 Hans Joachim Hirsch

Die Erklärung für diesen Qualitätsunterschied ist leicht zu finden. Er


beruht auf den Auswirkungen des eingangs genannten Gesetzgebungs-
konzeptes, die Reform des Besonderen Teils von der des Allgemeinen
Teils abzukoppeln und nach und nach durch Gesetzesnovellen zu voll-
ziehen. Aus den bereits erwähnten Gründen blieb dem Gesetzgeber
keine andere Wahl, als diese Abkoppelung vorzunehmen, zumal sich
auch bis in die Gegenwart gezeigt hat, daß er durch in schneller Folge
auftretende neue Erscheinungsformen sozialwidrigen Verhaltens fort-
während mit besonders aktuellen Reformproblemen in Teilbereichen
konfrontiert wird. Der eingeschlagene Weg hatte dann allerdings fol-
gende Konsequenz: Während der Allgemeine Teil unter starker unmit-
telbarer oder mittelbarer Beteiligung der Wissenschaft zustande kam,
wie es bei einer Kodifikation von der Dignität eines Strafgesetzbuchs
von jeher selbstverständlich ist, handelt es sich bei der Reformgesetzge-
bung zum Besonderen Teil um Regelungen, an deren Abfassung die
Wissenschaft oft nur wenig beteiligt worden ist78.
Ein weiterer Punkt ist der, daß bei Fragen der Reform des Besonderen
Teils weltanschauliche und tagespolitische Gesichtspunkte verstärkt
Einfluß zu gewinnen suchen. An der Frage, ob und gegebenenfalls
inwieweit ein Rechtsgut strafrechtlich zu schützen ist, entzünden sich
leicht die Leidenschaften. Deshalb besteht bei den Gesetzgebungsorga-
nen auch nicht selten die Tendenz, Meinungsverschiedenheiten durch
Generalklauseln oder sonstige verschleiernde Formulierungen zu über-
spielen, um die Entwürfe im Parlament mehrheitsfähig zu machen.
Außerdem hat die nur schrittweise Reform des Besonderen Teils zur
Folge, daß ein Gesamtplan, wie er nun einmal einer Kodifikation
zugrunde liegen muß, nicht mehr recht erkennbar ist. Inzwischen sind
zahlreiche Ungereimtheiten entstanden: von der Einführung eines fahr-
lässigen abstrakten Gefährdungsdelikts im Bereich der Vermögensde-
likte über die Uneinheitlichkeit der Regelung der Erfolgsqualifizierun-

78 Der parlamentarischen Beratung des Allgemeinen Teils lag der in der amtl. Großen

Strafrechtskommission unter starker Beteiligung von Professoren vorbereitete Entwurf,


der 1962 als Regierungsentwurf in den Bundestag eingebracht worden war, und der von
einem Professorenkreis erarbeitete AE 1966, den die FDP-Fraktion einbrachte, zugrunde.
In den Beratungen des Sonderausschusses des Bundestages sicherten Dreher, welcher der
Großen Strafrechtskommission angehört hatte, und Horstkotte, der in enger Verbindung
zum Alternativkreis stand, als Vertreter des Bundesjustizministeriums diesen wissenschaft-
lichen Bezug. Die Vorbereitung der Novellen zum Besonderen Teil befand sich dagegen
vielfach ganz oder vorherrschend in den Händen von Justizverwaltung und Parteijuristen.
Zeitweilig waren zwar einige Teilreformen mehr oder weniger durch Entwürfe des
Alternativkreises beeinflußt, aber die Gewichte verlagerten sich doch zunehmend von der
Wissenschaft weg zu Parlamentariern und Beamten. Die Anhörung einzelner - zudem
nicht selten unter parteipolitischem Blickwinkel ausgesuchter - Theoretiker durch den
jeweiligen Parlamentsausschuß hatte zumeist nur punktuelle Bedeutung.
Bilanz der Strafrechtsreform 159

gen und die Zufälligkeit bei der Einordnung als besonders schwerer Fall
oder Qualifizierung bis hin zu der uneinheitlichen Plazierung der Amts-
delikte.
Als weiterer Mangel kommt hinzu, daß die Bereitschaft der politi-
schen Parteien gewachsen ist, Strafgesetznovellen auch mit knapper
Mehrheit zu verabschieden, selbst auf die Gefahr hin, daß bei veränder-
ten Mehrheitsverhältnissen die betreffenden Vorschriften erneut geän-
dert werden. Auf solche Weise wird nicht nur die Wichtigkeit verkannt, die
dem Gesichtspunkt der Kontinuität gerade bei Reformen des Strafrechts
zukommt, sondern auch die Autorität des Gesetzgebers untergraben79.
Der neue Allgemeine Teil wird dagegen als zusammenfassendes
Ergebnis einer bis an den Anfang des Jahrhunderts zurückreichenden
Reformdiskussion mit Recht von Wissenschaft und Praxis als beeindruk-
kende gesetzgeberische Leistung betrachtet. Allerdings läßt sich die
Reform von 1975 für sich allein gesehen der Bedeutung nach kaum in
eine Reihe stellen mit Marksteinen der Entwicklung bildenden Gesetzes-
werken früherer Jahrhunderte. Wie sich im vorhergehenden zeigte,
enthält der neue Allgemeine Teil weniger prinzipiell Neues als vielmehr
überwiegend einen Ausbau des bereits Vorhandenen. Das heißt natür-
lich nicht, daß es bei der Grundkonzeption, die das StGB bei seinem
Inkrafttreten 1871 verfolgte, im wesentlichen geblieben wäre. Man muß
jedoch beachten, daß das StGB schon in den zurückliegenden Jahrzehn-
ten fortlaufend an den gesicherten Stand der wissenschaftlichen For-
schung durch Gesetzesnovellen angepaßt worden ist. Es läßt sich des-
halb sagen, daß wir bereits seit Jahrzehnten eine permanente Strafrechts-
reform haben, also gewissermaßen eine Strafrechtsreform in Raten. Das
aber heißt, daß die drei bedeutendsten Reformen des Allgemeinen Teils
des StGB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen worden
sind: nämlich als wichtigstes Ergebnis einer jahrzehntelangen Reform-
diskussion die Einführung von Maßregeln der Besserung und Sicherung
am Anfang der dreißiger Jahre, die Abschaffung der Todesstrafe 1949
und die Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung 1953. Der neue
Allgemeine Teil hat daher eher den Charakter eines Ausbaues des durch
jene grundsätzlichen Weichenstellungen bereits eröffneten Weges.
2. Sieht man sich die Zielsetzungen der Reform des Allgemeinen Teils
und der übrigen bis 1975 ergangenen Reformgesetze an, so ging es in den
parlamentarischen Beratungen um drei Gesichtspunkte: Resozialisie-
rung, Entkriminalisierung und Humanisierung 80 .

79 So schon Lenckner (Fn. 76), S. 261.


Siehe zu diesen Leitprinzipien auch Tiedemann, ZStW 86 (1974), 347 f; Kaiser, ZStW
86 (1974), 350 f f - J e s c h e c k , SchwZStR91 (1975), 14 ff; Blau, ZStW 89 (1977), 515 ff; Eben,
JR 1978, 136.
160 Hans Joachim Hirsch

a) Der Resozialisierungsgedanke spielte bei der Reform des Allgemeinen


Teils eine zentrale Rolle, zwar noch nicht im E1962, aber im AE AT
und in der parlamentarischen Beratung. Das bisherige Recht trug ihm,
auch in der durch die Novellengesetzgebung schrittweise modifizierten
Fassung, noch zu wenig Rechnung. Die vom Anfang der sechziger bis
zur Mitte der siebziger Jahre zu beobachtende Resozialisierungseupho-
rie verführte den Gesetzgeber aber glücklicherweise nicht dazu, sich
einseitig am Behandlungskonzept zu orientieren, wie dies in den USA
und in Schweden geschehen war. Infolgedessen ist es auch nicht zur
Einführung der unbestimmten Freiheitsstrafe und auch nicht zu einem
obligatorischen sozialtherapeutischen Behandlungsvollzug gekommen.
Bekanntlich ist in den USA, in Schweden und in anderen Ländern
inzwischen der Resozialisierungseuphorie eine Resozialisierungskrise
gefolgt, und das Pendel scheint dort ins entgegengesetzte Extrem auszu-
schlagen81.
Angesichts dieser neuen Krise der Kriminalpolitik besteht die Gefahr
heute darin, daß unter dem Einfluß jener internationalen Entwicklung
die positiven Seiten des Resozialisierungskonzepts 82 wieder verlorenge-
hen. Da sich die deutsche Reform nicht einseitig am Resozialisierungsge-
danken orientiert, sondern sich um ein ausgewogenes kriminalpoliti-
sches Konzept bemüht hat, zeichnet sich bei uns eine derartige Entwick-
lung aber bisher nicht ab.
b) Eine zweite Zielsetzung der Strafrechtsreform war die Entkriminali-
sierung, also der ultima-ratio-Gedanke. Diese Zielsetzung ist, wie sich
im vorhergehenden gezeigt hat, nur begrenzt durchgehalten worden.
Der Umfang der im Gesetz für strafbar erklärten Verhaltensweisen
nimmt schon seit 1975 nicht mehr ab, sondern im Gegenteil immer mehr
zu. Auch die Entkriminalisierung der Bagatelldelinquenz ist wegen der
erwähnten prozessualen Lösung rechtlich nur unzulänglich erfolgt, weil
sie die Einstufung als Straftat unberührt läßt und nur die Rechtsfolge
und das Verfahren betrifft.
Nicht weniger problematisch ist, daß der §153a StPO inzwischen
einen Anwendungsbereich erlangt hat, der weit über die Fälle geringer
Schuld hinausgeht. Dies ist faktisch möglich, weil es gegen diese Einstel-
lungsbeschlüsse keinen Rechtsbehelf gibt. Was als geringfügig im Sinne
der Vorschrift anzusehen ist, bestimmen daher praktisch diejenigen, die
über die Einstellung zu befinden haben.
Auch kann seit dem EGStGB 1974 bei Eigentums- und Vermögensde-
likten die auf § 153 oder § 153 a StPO gestützte Einstellung im Vorver-
!1
Dazu Jescheck, ZStW 91 (1979), 1037; 98 (1986), 20 f.
82
Wie auch Hilde Kaufmann (Fn. 20), S. 202, betont hat, gibt es „keine Alternative zur
Sozial therapie".
Bilanz der Strafrechtsreform 161

fahren sogar vom Staatsanwalt allein vorgenommen werden. Durch diese


ausdrückliche Herabstufung von Eigentum und Vermögen gegenüber
anderen Rechtsgütern hat der Reformgesetzgeber mit zu dem inzwi-
schen für jedermann spürbaren Rückzug des Eigentumsschutzes beige-
tragen83.
Ein anderer Bereich, in dem die Einstellungspraxis (hier nach §383
Abs. 2 StPO) zu einem breiten Rückzug der Strafverfolgung geführt hat,
betrifft § 223 StGB und §§ 185 ff StGB, also Privatklagedelikte. Bei ihnen
ist der Strafschutz praktisch zum Erliegen gekommen. Diese Entwick-
lung hat bereits vor der Strafrechtsreform begonnen und ist durch sie
weiter beschleunigt worden84.
Dieser Sachlage bei den Delikten gegen den einzelnen steht das
Bemühen um lückenlose Verfolgung nicht nur aller Straftaten gegen die
Allgemeinheit, sondern auch aller Ordnungswidrigkeiten gegenüber.
Letzteres ist um so bemerkenswerter, als bei Ordnungswidrigkeiten
gerade nicht das Legalitätsprinzip, sondern allgemein das Opportuni-
tätsprinzip gilt.
Der Versuch, die Entkriminalisierung auf rein prozessualem Wege
durchzuführen, hat deshalb über die schon in anderem Zusammenhang
aufgezeigten negativen Auswirkungen hinaus auch zu einer starken
Verzerrung der Verfolgungspraxis geführt. Nicht die geringe Schuld gibt
den Ausschlag, sondern das, was die Verfolgungsorgane als öffentliches
Interesse ansehen. Hier hat sich die Reform einseitig zu Lasten des
Strafschutzes des einzelnen ausgewirkt, und zwar gerade auch der
unteren und mittleren Bevölkerungsschichten, für die andere Formen
des Schutzes nicht zur Verfügung stehen. Darüber hinaus hat die durch
die Einführung des § 1 5 3 a StPO ausgelöste Entwicklung wohl dazu
beigetragen, daß das Vertrauen in die Objektivität der Staatsanwaltschaf-
ten nicht unerheblich nachgelassen hat85.

" Zur Kritik vgl. Baumann, ZRP 1972, 275. Der Rückzug des Eigentumsschutzes wird
zudem dadurch bestätigt, daß in mehreren Bundesländern pauschalierende Richtlinien der
Justizverwaltung bestehen, bei Diebstählen bis 50 oder 100 DM Schadenshöhe das
Verfahren einzustellen; vgl. z . B . die nieders. „Richtlinien für die Behandlung der Klein-
kriminalität", Nds.Rpfl. 1976, 48, und den nordrh.-westf. Ministerialerlaß von 1986;
krit. hierzu FAZ vom 2 6 . 2 . 1 9 8 6 und der Bundesjustizminister Engelhard, bei Weck,
N J W 1986, X X V .
14 Zur Entwicklung des Privatklageverfahrens Döring, Beleidigung und Privatklage,
1971; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage, 1974; Hirsch, in: Lange-Fest-
schrift, 1976, S. 815.
85 Dadurch, daß die Staatsanwaltschaften einen gewissen - von ihnen großzügig
gehandhabten - Entscheidungsspielraum erhalten haben, werden sie jetzt auch häufiger in
politische Auseinandersetzungen verwickelt, in denen der Vorwurf erhoben wird, bei
bestimmten Anklagen und Einstellungen seien politische Erwägungen in die Entscheidung
eingeflossen. Da im Rahmen des Opportunitätsprinzips Weisungsmöglichkeiten politi-
scher Instanzen bestehen, erhöht sich die Neigung, solche Mutmaßungen zu äußern.
162 Hans Joachim Hirsch

c) Eine dritte, sich mit den beiden vorgenannten Zielen teilweise über-
schneidende Zielsetzung ist die Humanisierung des Strafrechts. Insbe-
sondere spiegelt sich diese Tendenz heute in der Zurückdrängung der
Freiheitsstrafe wider. Auf Freiheitsstrafe lauten heute nur noch 19 %
aller Verurteilungen. Da von diesen 65 % zur Bewährung ausgesetzt
werden, liegt der Anteil der vollstreckten Freiheitsstrafen unter Einbe-
ziehung der widerrufenen Aussetzungen jetzt bei 10 % aller Verur-
teilten86.
Angesichts der schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Aus-
wirkungen, die das Abbüßen einer mehr als kurzzeitigen Freiheitsstrafe
für den einzelnen und seine Umgebung hat, ist sie nur dann angebracht,
wenn das Gewicht der Tat sie unbedingt erforderlich macht. Auch hat
sich gezeigt, daß verschärfte Geldstrafen das Strafbedürfnis vielfach
durchaus befriedigen können. Andererseits wurde im vorhergehenden
schon darauf hingewiesen, daß die Geldstrafe keineswegs immer die
geeignete Alternative zur Freiheitsstrafe darstellt. Abgesehen davon, daß
sie entsprechende finanzielle Voraussetzungen beim Verurteilten erfor-
dert, wird durch sie derjenige Täter, für den die Freiheitsstrafe unange-
messen wäre, aber die Geldstrafe eine nur unzureichende Ansprache
bietet, nicht ausreichend erfaßt. Die Versuche ausländischer Rechte, die
Lücke zu schließen, etwa durch die Verurteilung zu community Service,
wurden noch nicht beachtet87. Auch die differenzierte Rechtsfolgenrege-
lung des Jugendstrafrechts empfand man nicht als Anregung. Es ist
daher zu registrieren, daß neben der mißlungenen Lösung der Bagatell-
kriminalitätsfrage eine gewisse Phantasielosigkeit bei den Rechtsfolgen
einen weiteren Mangel der deutschen Strafrechtsreform darstellt88. Die-
ser Punkt wird dadurch verschärft, daß man die kurze Freiheitsstrafe
generell abgeschafft hat.

86 Siehe die Angaben bei Kaiser (Fn. 6), S. 158, 172.


87 Das hing u.a. damit zusammen, daß das Bild der früheren Arbeitsstrafe und die
Erinnerung an die Zwangsarbeit der NS-Zeit solchen Erwägungen nicht günstig waren.
88 Zu Möglichkeiten eines stärker differenzierenden Sanktionensystems Jescheck, in:
Dando-Festschrift, 1983, S. 88 ff. Siehe auch Hirsch, ZStW 92 (1980), 250 und ZStW 95
(1983), 650, wo betont wird, daß wir zwischen Freiheits- und Geldstrafe einzuordnende
Strafsanktionen brauchen, die als Freizeitstrafen weder die Nachteile der bisherigen
Freiheitsstrafe noch der Geldstrafe mit sich bringen. Keinen Gewinn würde dagegen die als
„Diversion" bezeichnete Strategie der informellen Sozialkontrolle bringen. Zum einen
betrifft die aus spezifischen verfahrensmäßigen Gegebenheiten der USA entstandene
Richtung vor allem jugendliche Straftäter. Für diese ist sie in der Bundesrepublik wegen
der ohnehin erziehungsorientierten Ausgestaltung des deutschen Jugendstrafrechts (siehe
hier insbesondere § 45 JGG) jedoch entbehrlich; vgl. Kaiser, in: Kriminologisches Wörter-
buch, 2. Aufl. 1985, S. 74. Darüber hinaus erheben sich rechtsstaatliche Bedenken, da mit
Diversion alle zu Gunsten des Beschuldigten bestehenden Garantien des Strafverfahrens
(beginnend mit dem justizförmigen Tatnachweis) verlorengehen würden. Außerdem wäre
die schon durch § 153 a StPO erfolgte Erosion des Legalitätsprinzips noch vergrößert.
Bilanz der Strafrechtsreform 163

Die Humanisierungstendenz ist erneut hervorgetreten bei der 1981


geschaffenen Möglichkeit, den Rest der Vollstreckung einer lebenslan-
gen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn 15 Jahre der Strafe
verbüßt sind (§ 57 a StGB). Diese Regelung wird mit Recht ganz über-
wiegend als notwendige Ergänzungsvorschrift zur lebenslangen Frei-
heitsstrafe betrachtet.
In der Öffentlichkeit wird dem modernen Strafrecht oft zu große
Milde gegenüber dem Straftäter vorgeworfen. Betrachtet man die heuti-
gen Strafdrohungen und die Rechtsfolgeregelungen des Allgemeinen
Teils, läßt sich das jedoch nicht belegen. Allenfalls könnte die Handha-
bung des geltenden Rechts durch Staatsanwaltschaften und Instanzge-
richte, in der sich indes neben justizökonomischen Erwägungen nur der
jeweilige Zeitgeist widerspiegelt, in einigen Bereichen Gegenstand der
Kritik sein.
3. In den entscheidenden Beratungen der Reform des Allgemeinen
Teils, die Mitte und Ende der sechziger Jahre stattfanden, ist wenig von
der Effizienz und Schutzfunktion des Strafrechts die Rede gewesen. Man
interessierte sich damals vorwiegend für den Täter. Allerdings wird man
nicht übersehen dürfen, daß mit dem Resozialisierungskonzept das Ziel
verknüpft ist, die Rückfallkriminalität einzudämmen. Aber das ist natür-
lich nur ein, wenn auch wichtiger, Ausschnitt aus der Effizienzfrage.
Betrachtet man die Kriminalstatistik,, so ist festzustellen, daß die
Strafrechtsreform keinen Rückgang der Kriminalität bewirkt und dar-
über hinaus einen teilweise rapiden Anstieg nicht verhindert hat. Nicht
nur die Fälle einfachen Diebstahls haben sich in den letzten eineinhalb
Jahrzehnten vervielfacht. Auch die Gewaltkriminalität und der schwere
Diebstahl haben stark zugenommen. So zeigt die polizeiliche Kriminal-
statistik seit 1963 eine Verdreifachung der Raubfälle und eine Vervierfa-
chung des schweren Diebstahls8'.
Aber läßt sich daraus eine negative Bewertung der Strafrechtsreform
ableiten? Vergleicht man die deutsche Situation mit der in anderen
Ländern, so zeigt sich, daß die Kriminalitätsentwicklung in allen Indu-
striestaaten Westeuropas und Nordamerikas ähnlich verläuft90. Offen-
sichtlich handelt es sich bei der Kriminalitätszunahme um einen Befund,
der nicht auf Eigenheiten der bundesdeutschen Strafgesetzgebung
beruht, sondern auf dem gegenwärtigen inneren Zustand der fortge-
schrittenen Industriegesellschaft. Die Möglichkeit, auf diese Entwick-
lung durch Verschärfung der Strafdrohungen Einfluß zu nehmen, ist

" Siehe die Angaben bei Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 642. Diese Ent-
wicklung ist bis heute kaum rückläufig; vgl. Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminal-
statistik 1984, S. 77, 101.
50 Vgl.Jescheck, ZStW 91 (1979), 1046.
164 Hans Joachim Hirsch

nicht groß. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die heutigen


gesetzlichen Strafrahmen keineswegs niedrig sind. Eine Verschärfung
würde zudem, um wirklich effizient zu sein, ein entsprechend verschärf-
tes Verfolgungs- und Uberwachungssystem erforderlich machen. Solche
Tendenzen gerieten jedoch schnell in Kollision mit den freiheitlichen
Vorstellungen unserer Gesellschaft". Was allerdings möglich sein
würde, wäre eine stärkere Ausschöpfung der vorhandenen gesetzlichen
Strafrahmen durch die Gerichte. Aber eine Trendwende ist auch
dadurch nicht zu erreichen, wie das Beispiel England zeigt, wo die
Verhängung höherer Strafen üblich ist.
Vor allem aber wird bei der Kritik am Strafrecht leicht übersehen, daß
es gar nicht das Hauptmittel der Kriminalitätseindämmung sein kann.
Bei der Anwendung seiner Strafbestimmungen kommt das Strafrecht
ohnehin stets zu spät, weil das Delikt bereits begangen ist, und bei
Tätern mit krimineller Karriere ist die Chance, sie zu resozialisieren,
eben nur noch eine Chance. Nun ist zwar richtig, daß die primäre
Aufgabe des Strafrechts gar nicht die ist, gegenüber dem Täter nach
begangener Tat mit den strafrechtlichen Rechtsfolgen zu reagieren.
Primär geht es vielmehr darum, durch Aufstellung des Katalogs der
Strafbestimmungen und der Angabe der an ihre Verletzung geknüpften
Sanktionen jedermann davon abzuhalten, überhaupt eine Straftat zu
begehen. Aber diese im Vorfeld liegende präventive Aufgabe kann es
niemals für sich allein erfüllen! Hinzu kommen müssen stabile kriminali-
tätsverhütende gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Der gegenwärtige
Kriminalitätsanstieg ist nur sekundär in Schwächen der Strafgesetz-
gebung begründet, vielmehr beruht er vornehmlich auf Mängeln dieser
Rahmenbedingungen.
An erster Stelle ist hier die Krise des Erziehungssystems zu nennen.
Die traditionellen Erziehungsträger - Familie, Schule und Kirche -
erbringen in der freiheitlichen Industriegesellschaft die Aufgabe, dem
einzelnen die sozialen Spielregeln einzuprägen, teils unzulänglich, teils
gar nicht mehr. Dadurch ist ein kriminalitätsbegünstigendes Defizit in
den Wertvorstellungen entstanden. Dem geht in unserer Konsumgesell-
schaft eine auf Optimierung des eigenen Vorteils gerichtete Einstellung
einher. Das individuelle Interesse und die Stärke des eigenen Handlungs-
potentials sind für das Lebensgefühl der meisten Menschen entscheidend

" Dies würde erst recht für eine objektivistische Konzeption gelten, die - jedenfalls bei
bestimmten Delikten - den Schuldgrundsatz durchbricht, also eine strafrechtliche Gefähr-
dungshaftung einführt. Sie findet sich im amerikanischen Strafrecht als Doktrin der „strict
criminal liability"; näher dazu Bahr, Strafbarkeit ohne Verschulden (strict liability) im
Strafrecht der USA, 1974; Burkhardt, GA 1976, 337f. Bei uns ist dagegen das Schuldprin-
zip als elementarer strafrechtlicher Grundsatz, der keine Einschränkungen duldet, verfas-
sungsrechtlich garantiert; vgl. oben Fn. 4.
Bilanz der Strafrechtsreform 165

geworden. Die Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer und der Gesamt-
heit ist dagegen zurückgetreten. Eine dadurch begünstigte und durch die
Medien noch zusätzlich vermittelte Brutalisierung des Zusammenlebens
kommt hinzu. Auch dürfen die Folgen der modernen Urbanisierung
und die kriminalitätsfördernde Jugendarbeitslosigkeit nicht unerwähnt
bleiben92.
Die an der Kriminalitätseindämmung interessierte Öffentlichkeit hat
ihre Kritik daher weniger an die Strafgesetzgebung zu adressieren, als
vielmehr ihr Augenmerk in erster Linie auf die Gesellschaftspolitik zu
richten. Auch die Kriminalpolitiker sollten sich endlich von der Illusion
frei machen, daß die Strafgesetzgebung der entscheidende oder sogar
alleinige Hebel der Kriminalpolitik sei, und ihre Aufmerksamkeit und
Aktivität mehr der Verminderung der Ursachen zuwenden93.
4. Als Bilanz der bundesdeutschen Strafrechtsreform läßt sich nach
alledem feststellen: Die im Mittelpunkt stehende Reform des Allgemei-
nen Teils hat sich trotz einer Reihe von Punkten, die sich inzwischen als
Mangel erwiesen und durchaus negativ ausgewirkt haben, doch überwie-
gend bewährt und ist insgesamt betrachtet eine ausgewogene und daher
dauerhafte gesetzgeberische Leistung. Sie markiert den Abschluß der
Reformbemühungen, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts begonnen
und deren wichtigste Ergebnisse bereits im Laufe der Zeit durch Geset-
zesnovellen ins StGB aufgenommen wurden. Die bisherige Reform des
Besonderen Teils wird man dagegen hinsichtlich ihrer Qualität zurück-
haltend beurteilen müssen. Hier spielen Tagespolitik, ideologische Ziele,
punktuelle Sichtweisen und gesetzestechnische Schwächen eine nicht
unerhebliche Rolle. Diesem Teil der Reformgesetzgebung fehlt die
große und einheitliche Linie.

92 Zu den genannten Faktoren auch Jescheck, ZStW 91 (1979), 1043 ff. In Teilbereichen
scheint überdies das Verhalten politisch Verantwortlicher für ein zeitweiliges örtliches
Ansteigen bestimmter krimineller Verhaltensweisen mitursächlich zu sein. Manche Aus-
breitung und Steigerung solcher Kriminalität wäre wohl frühzeitig gestoppt worden, wenn
man dem sogleich entschlossen genug entgegengetreten wäre oder die Anfänge nicht sogar
mit Sympathie verfolgt hätte.
" Hilde Kaufmann, J Z 1972, 79, hat es als „selbstverständlich" bezeichnet, daß der
gesamte Bereich der Politik irgendwie auch zugleich Kriminalpolitik ist; als Beispiele nennt
sie Wirtschaftspolitik, Wohnungspolitik, Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, Verkehrs-
politik, ja selbst die Außenpolitik.
Die sozialtherapeutischen Anstalten -
ein kriminalpolitisches Lehrstück?

H O R S T SCHÜLER-SPRINGORUM

I.
Seit eh und je kennt der Strafvollzug eine Gruppe von Gefangenen,
die in einer durchschnittlichen Strafanstalt alle Beteiligten ratlos lassen.
Sie erscheinen weder persönlich beeinflußbar noch durch die Verbüßung
einer Freiheitsstrafe nachhaltig beeindruckbar. Ihre „abnormale" Per-
sönlichkeitsstruktur läßt fragen, ob sie vielleicht in einem psychiatri-
schen Krankenhaus besser aufgehoben wären; dies um so mehr, als das
Strafgericht ihnen nicht selten verminderte Schuldfähigkeit attestierte.
Jedoch sagen uns die Arzte im psychiatrischen Krankenhaus, daß auch
sie mit den dort untergebrachten Straftätern oft nicht zurechtkommen;
denn eigentlich „krank" seien sie wiederum auch nicht. Berücksichtigt
man ferner, daß gerade diese Kategorie von Delinquenten häufig eine
besonders schlechte Rückfallprognose hat, so verwundert es nicht, daß
sie letztlich in der einen oder anderen Form von sichernder Verwahrung
landen. Es handelt sich um die Problemgruppe von Persönlichkeiten auf
der Grenzlinie zwischen „bad" und „mad".
Nach Kriegsende 1945 kamen in der Bundesrepublik Deutschland die
Bemühungen um eine Strafrechtsreform wieder in Fluß. In diesem
Zusammenhang wollte man auch den soeben skizzierten Personen besser
gerecht werden als bisher. Im Gespräch waren „Bewahrungsanstalten"
für Erwachsene und „Verwahrungsanstalten" für „Jungtäter" (E 1958,
1960, 1962). Als der Anlauf zu einer „großen" Strafrechtsreform in den
60er Jahren dann steckenblieb, kamen die sog. Alternativ-Professoren
auf den Einfall der „sozialtherapeutischen Anstalt" (AE-StGB A T 1966).
Dieser Begriff war so neu, daß ihn niemand recht definieren konnte.
Inhaltlich richtete er sich eher negativ gegen bloße Bewahrung oder
Verwahrung. Natürlich zielte „Therapie" auf irgendeine Art von
„Behandlung", dies aber nicht im Sinne einer Krankenhaustherapie,
sondern eben einer sozialen Therapie. Die Methoden, die den Delin-
quenten zu einem andere Personen künftig nicht viktimisierenden Ver-
halten befähigen sollten, waren jedoch völlig offen.
168 Horst Schüler-Springorum

1. Dem Leser wird es schon aufgefallen sein: Eine Einleitung, die so


„abgehoben" daherkommt, will zur aktuellen Fragestellung der Über-
schrift nicht so recht passen; jedenfalls nicht mehr zu einer Zeit, zu der
die ursprüngliche Konzeption der sozialtherapeutischen Anstalt gründ-
lich besiegelt erscheint. Der vorliegende Text wird, wenn diese Gedächt-
nisschrift erscheint, in der Tat fast ein halbes Jahrzehnt alt sein. Er gibt
ein den Sach- und Problemstand von Anfang 1982 resümierendes Referat
des Verfassers wieder, das seinerzeit auf einem Deutsch-Spanischen
Seminar über die Strafrechtsreform in Madrid gehalten wurde (Schüler-
Springorum 1982). Die Entwicklung ist seither zwar nicht stürmisch
vorangeschritten, sondern bekanntlich eher lautlos arretiert worden.
Gerade das aber ließ es reizvoll erscheinen, den damaligen Text, anstatt
ihn auf den objektiven und subjektiven Stand des Jahres 1986 zu
bringen, im wesentlichen unverändert zu lassen und zum Anlaß zu
nehmen, ihn aus der 1986er Sicht zu kommentieren. Das soll in den
nachfolgenden Zusatzabschnitten 3., 5., 7. und 9. geschehen; denn so
läßt sich schärfer herausstellen, was die sozialtherapeutischen Anstalten
zum „kriminalpolitischen Lehrstück" machen kann.
Zu diesen zwei durch (nur) ein halbes Jahrzehnt getrennten Betrach-
tungsebenen kommt noch eine dritte hinzu, die fast genau noch einmal
so weit in unsere kurzlebige Vergangenheit zurückreicht. 1977 erschien
aus der Feder von Hilde Kaufmann das Lehrbuch „Kriminologie III"
mit dem Untertitel „Strafvollzug und Sozialtherapie". Dem damaligen
vollzugspolitischen Thema Nummer eins, der sozialtherapeutischen
Anstalt, sind dort die letzten rund 50 Seiten, etwa ein Viertel des
Gesamtinhalts, gewidmet. Schon seinerzeit sprach Hilde Kaufmann von
einer „tiefen Gefährdung der Sozialtherapie" (S.202), formulierte Ein-
sichten zum Thema, die heute noch nicht überholt sind, und bezog zum
Streitgegenstand selbst eine Position, die bis heute kaum überholbar
erscheint. Auch hierauf hinzuweisen, werden sich nachfolgend willkom-
mene Anlässe bieten.
2. Dank einer günstigen gesetzgeberischen Konjunktur wurde der
wesentliche Inhalt dieses AE-Vorschlages 1969 Gesetz. Das Parlament
in Bonn verabschiedete u.a. den recht bekannt gewordenen §65 StGB.
Die sozialtherapeutische Anstalt (sthA) wurde für 4 Tätergruppen vorge-
sehen:
- Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung
- Jungtäter (unter 27 Jahren) mit mindestens zwei Vorverbüßungen
und Hangtäterprognose
- Sexualdelinquenten mit ungünstiger Prognose
- Delinquenten mit Schuldminderung oder Schuldausschluß, die in
einer sthA besser zu resozialisieren erscheinen als im psychiatri-
schen Krankenhaus.
Sozialtherapeutische Anstalten 169

§ 65 StGB sah vor, daß der erkennende Richter über die Einweisung in
die sthA entscheiden soll. Die Unterbringung dort sollte eine Maßregel
der Besserung und Sicherung sein, wodurch sie automatisch zeitlich
relativ unbestimmt wurde, mit einer maximalen Aufenthaltsdauer von
5 Jahren. Schließlich sollten die sthAen unter ärztlicher Leitung stehen.
Diese Konzeption einer neuen Rechtsfolge partizipierte aber nicht am
Inkrafttreten der 1969 beschlossenen Strafrechtsreform bis spätestens
1975. §65 StGB sollte vielmehr ab 1973 gelten. Das Datum wurde später
aber zunächst auf 1978, dann abermals auf 1985 verschoben. Den Grund
für die jeweiligen „Verschiebegesetze" hatten die Erfinder der Institu-
tion selbst gelegt. Schon 1967 war nämlich geschätzt worden, daß
ungefähr 2000 bis 4000 der Strafgefangenen für die sthAen in Frage
kommen würden (Jescheck 1968, 81; vgl. auch ebenda S. 134; von einem
Bedarf von 5000 Plätzen ging Kürzel 1975 aus). Legt man eine Anstalts-
größe von maximal 200 Plätzen zugrunde, bedeutete dies die Notwen-
digkeit, 20 bis 30 neue Gefängnisse zu bauen. Sicher verwundert es
keinen, daß „die Praxis" dies für unmöglich erklärte und bis heute für
unmöglich erklärt; im Herbst 1981 beschlossen die Vollzugsadministra-
tionen der Bundesländer sogar darauf hinzuwirken, den § 65 durch den
Bundestag wieder aus dem StGB streichen zu lassen.
Damit scheint das Thema eigentlich erschöpft. Daß dem nicht so ist,
liegt daran, daß seit einem runden Jahrzehnt trotz alledem einige sthAen
existieren. Hierfür gibt es zwei Gründe. Zunächst hatte man unter dem
Eindruck der verabschiedeten Strafrechtsreform mit §65 StGB wenig-
stens ein bißchen Ernst gemacht; dies in dem Sinne, daß im ganzen
Bundesgebiet Anstalten eingerichtet wurden, in welchen die Chancen
einer sozialtherapeutischen Behandlung erprobt werden sollten. Diese
Anstalten werden dementsprechend auch Modell- oder Experimentier-
anstalten genannt. Ferner war 1977 ein Gesetz in Kraft getreten, welches
erstmalig den Strafvollzug selbst regelte, und zwar sowohl unter dem
Aspekt der Rechte und Pflichten der Gefangenen als auch unter dem
Aspekt der Organisation des Vollzugs. Dieses Gesetz war natürlich in
der Erwartung ausgearbeitet worden, daß §65 StGB alsbald geltendes
Recht werden würde, und enthielt dementsprechend einen eigenen
Abschnitt über sthAen (§§123-128 StVollzG). Auch wurde u.a.
bestimmt, daß eine solche Anstalt nicht mehr als 200 Plätze haben sollte
(§143 Abs. 3 StVollzG).
Das neue Strafvollzugsgesetz sah ferner vor, daß auch unabhängig
vom Schicksal des §65 StGB Gefangene in eine sthA verlegt werden
können (§9 StVollzG). Dies ist eine wichtige Modalität, weil sie den
Aufenthalt in einer sthA von §65 StGB in entscheidenden Punkten
unabhängig macht: Nicht der Richter, sondern „der Vollzug" selbst
entscheidet über die Aufnahme in eine solche Anstalt. Das bedeutet
170 Horst Schüler-Springorum

zugleich, daß die Insassen einer solchen Anstalt in aller Regel nicht
sofort nach dem Urteil, sondern erst nach Verbüßung von Freiheitsstrafe
im Regelvollzug in die sthA kommen, wenn die Entlassung bereits in
(nicht allzu ferner) Sicht ist.

II.
Die bisherigen Erfahrungen mit Sozialtherapie im Justizvollzug basie-
ren also auf einem doppelten rechtlichen Hintergrund. Auf der einen
Seite steht die Idee, im Zuge der Strafrechtsreform eine neue Maßregel
der Besserung und Sicherung zu schaffen. Auf der anderen Seite hat die
Tatsache, daß jene Idee bisher nicht verwirklicht werden konnte, dazu
geführt, daß lediglich die vom Strafvollzugsgesetz gebotenen Möglich-
keiten die Praxis der vorhandenen sthAen prägen.

3. Der „doppelte rechtliche Hintergrund" ist seit dem 1.1.1985 auf nur
mehr einen reduziert: Durch Bundesgesetz vom 20. Dez. 1984 w u r d e -
eben noch rechtzeitig vor dem Stichtag 1. Jan. 1985 - die sozialtherapeu-
tische Anstalt als (nie in Kraft getretene) Maßregel aus dem StGB wieder
eliminiert. Ganz kampflos war das freilich nicht vonstatten gegangen.
Namentlich die Alternativ-Professoren sprachen sich noch 1982 für eine
„Rettung" der Institution auf der Maßregelspur aus (Schöcb), nachdem
eine entsprechende Resolution von 1979 (Wider den kriminalpolitischen
Rückschritt, MschrKrim. 1979, 379 f) dem damaligen Bundesjustizmini-
ster Dr. Vogel im Januar 1980 persönlich überreicht worden war. Aus
einer Arbeitsgemeinschaft von Praktikern und Theoretikern, die seit
1976 zu regelmäßigem Austausch von Erfahrungen und Standpunkten
zusammenkam, erwuchs 1980 eine Forschungsgruppe, die 1984 ein
„Modell" vorlegte (Driebold u. a.), welches vom künftigen Schicksal des
§ 65 StGB möglichst unabhängig sein sollte. Demgegenüber setzte man
im Fachausschuß „Sozialtherapie und sozialtherapeutische Anstalten"
des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe die Hoffnung eher
auf eine festere Verankerung und den Ausbau der Institution im Straf-
vollzugsgesetz („Vollzugslösung" statt „Maßregellösung", vgl. Bundes-
zusammenschluß 1981).
Seit August 1983 lag allerdings ein Gesetzentwurf des Bundesrates
(BT-Drucksache 10/309) vor, der ganz dem Wunsch der Bundesländer
entsprach, die sozialtherapeutische Anstalt als ein Stück Strafrechtsre-
form endgültig aufzugeben (das 1969 „verabschiedete" Gesetz insoweit
also endgültig zu „verabschieden") und im Rahmen des StVollzG es bei
einer Minimalregelung bewenden zu lassen. Es gehörte zum guten Ton,
diesen Entwurf zum Gegenstand einer öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Bundestages zu machen; sie fand am 19. Sept.
1984 statt. Etwa ein Dutzend „Anhörpersonen" kamen zu Wort, hälftig
Sozialtherapeutische Anstalten 171

verteilt auf Verbands-, Behörden- und Anstaltsvertreter einerseits und


Wissenschaftler verschiedener Disziplinen andererseits. Die Anhörung
erlitt das Schicksal so manches ihrer Vorgänger und Nachfolger, nämlich
eine zwar kostspielige Pflichtübung, im übrigen aber ein folgenloses
Ereignis zu sein: Der Entwurf des Bundesrates wurde textidentisch ab
1. Jan. 1985 geltendes Recht.
Ein kriminalpolitisches Lehrstück? Mindestens drei Hinweise sind
wohl schon an dieser Stelle möglich. Auf einer generalisierenden Ebene
erschiene es reizvoll und lohnend, die Geschichte der sozialtherapeuti-
schen Anstalt als „Idee" vom Alternativentwurf des Jahres 1966 bis zur
skizzierten Entwicklung 1984/85 nachzuzeichnen. Denn was sich vor-
dergründig als Antagonismus zwischen einem reformpolitischen „Ein-
fall" und harten „praktischen" (z.B. personellen, baulichen, vor allem
aber finanziell-budgetären) Realitäten abspielte, läßt sich sehr wohl auch
als ein Streit der Geister wo nicht als Widerspiegelung sich wandelnden
„Zeitgeistes" beschreiben; man denke nur an die kontroverse Einschät-
zung des § 65 als Kernstück der Reform des Maßregelrechts (z. B. Schöcb
1982, 207 f) oder Ausdruck mittlerweile überholter Behandlungsideolo-
gie (vgl. Kerner in Kaiser/Kerner/Schöch 1982, S. 433). Möglicherweise
wird es noch größeren zeitlichen Abstands bedürfen, bevor erkennbar
wird, mit welchem Gewicht die (ja alles andere als nur politische)
„Wende" die Entwicklung mitbestimmt hat. Als die „Alternativprofes-
soren" sich Anfang der 80er Jahre bemühten, auch Presse und Medien
für ihre Rettungsaktionen zu interessieren, hatten sie alle Mühe, den
Gesprächspartnern überhaupt klarzumachen, daß es um etwas Aktuelles
vom Range einer „Nachricht" gehe; denn was sei schon neu daran, daß
man eine gesetzliche Regelung erhalten wissen will? Wenig später, als
die Wende (auch) politisch vollzogen war, war das zwar leichter, aber
eben „überholt".
Eine weitere Überlegung wert wäre, welche Rolle das Gesetz als
Vehikel von Kriminalpolitik in diesem Zusammenhang gespielt hat. Daß
§65 StGB schon 1969 das Parlament passierte, war gewiß ein Sieg einer
Idee, aber doch nur ein halber. Zwar ging noch der Gesetzgeber des
Strafvollzugsgesetzes vom Kommen der sozialtherapeutischen Anstalt
als Besserungsmaßregel aus, aber die Abkoppelung der Institution von
der übrigen („großen") Strafrechtsreform entwertete den legislativen
Impetus von vornherein. Die Technik der „Verschiebegesetze", die
wohl nur durch einige Ubergangsbestimmungen im Strafvollzugsgesetz
selber noch übertroffen wird (Müller-Dietz 1973), illustriert, wie §65
StGB als Gesetz daran gehindert wurde, Gesetz zu werden. Der Parla-
mentsbeschluß von 1969 ließe sich - rückblickend zumindest - als ein
Mißbrauch der Legislative ebenso verstehen wie das Strafvollzugsände-
rungsgesetz vom 20. Dez. 1984 als die Besiegelung des letztendlichen
172 Horst Schüler-Springorum

Sieges der Exekutive. Jedenfalls wurde, je näher der l.Jan. 1985 rückte,
immer klarer, daß gerade vom Gesetzgeber keine substantielle „Ret-
tung" mehr zu erwarten war. Der in das erwähnte Hearing eingebrachte
bemerkenswerte Vorschlag des Psychiaters F. Specht zum Beispiel, unter
Verzicht auf die Maßregellösung richterliche Entscheidungen über den
Vollzug in einer sozialtherapeutischen Anstalt in den Rechtsfolgenab-
schnitt des StGB (etwa zwischen dem 4. und 5. Titel) einzustellen
(Protokoll S. 77 f), löste in der nachfolgenden Diskussion des Ausschus-
ses nicht eine einzige interessierte Rückfrage aus.
Schließlich könnte man die existierenden sozialtherapeutischen
Modellanstalten ins Zentrum der kriminalpolitischen Reflexion rücken;
denn sie scheinen ja doch die These vom Mißbrauch des Gesetzgebers
Lügen zu strafen, wie denn durch den Gesetzentwurf des Bundesrats
vom August 1983 „der Gedanke der Sozialtherapie innerhalb des Straf-
vollzugs betont und gefördert" werden sollte, weil die entsprechende
Praxis es verdiene, „weiter fortentwickelt zu werden" (Begründung
S. 10). Daß es ohne den Gesetzgebungsakt von 1969 jene Modellanstal-
ten nicht gäbe, läßt sich in der Tat kaum bestreiten. Auch gab es in deren
„Gründerzeit" durchaus so etwas wie einen föderalistischen Wettbewerb
unter den Bundesländern, in den sich freilich mitunter (und mit der Zeit
zunehmend) „Alibifunktionen" mischten. Die nunmehr vollzogene
Absage an die Maßregellösung ist jedoch zugleich die Absage an eine
bestimmte Konzeption von Sozialtherapie, womit auch die konzeptuelle
Diskussion neu eröffnet erscheint. Hilde Kaufmann hatte schon 1977
erkannt, „der Aufschub des Inkrafttretens des §65 StGB birgt das
Risiko, daß er nie in Geltung treten könne", aber gemeint, „es gibt keine
Alternative zur Sozialtherapie" (S. 201, 202); zu welchermuß heute die
Frage lauten, und sie wird später aufzugreifen sein.

4. Zwischen Lübeck und Erlangen gibt es zur Zeit zehn Anstalten dieser
Art. Sie verteilen sich einigermaßen gleichmäßig auf die (größeren)
Bundesländer und wurden in der ganz überwiegenden Mehrzahl zwi-
schen 1970 und 1975 eröffnet. Die Anstalten sind insgesamt sehr klein
(20-60 Plätze, mit Ausnahme von Berlin, worauf noch zurückzukom-
men ist). Zumeist handelt es sich um echte kleine Gefängnisse, d. h. um
selbständige Institutionen und nicht um Abteilungen größerer Anstal-
ten. Andererseits sind es auch keine Neubauten von Miniaturgefängnis-
sen, vielmehr hat man vorhandene Gebäude, zum Teil nach Umbauten
im Innern, entsprechend genutzt.
Auch eine sehr kleine Anstalt braucht prinzipiell die Ausstattung einer
großen, z. B. was Arbeitsmöglichkeiten, Küche, Aufsicht, Personal
usw. betrifft. Mit Personal sind die sthAen sogar ungewöhnlich gut
ausgestattet; zählt man die Fachdienste zum Aufsichtsdienst hinzu,
Sozialtherapeutische Anstalten 173

kommt man auf ein Verhältnis von rund 1 :1 von Personal zu Gefange-
nen. Die Fachdienste sind überwiegend Psychologen und Sozialpädago-
gen, nicht jede Anstalt hat einen eigenen Arzt und die wenigsten stehen
unter ärztlicher, einige unter juristischer, einige unter psychologischer
Leitung.
Die Insassen dieser Einrichtungen, die zumeist „Klienten" genannt
werden (und nicht etwa Patienten!), sind „freiwillig" dort. In der Regel
muß man sich als Gefangener im Normalvollzug um die Aufnahme in
die sthA bewerben. Dabei folgen die einzelnen Anstalten einem höchst
unterschiedlichen Set von Kriterien, nach welchen über Aufnahme oder
deren Ablehnung entschieden wird. Diese Kriterien orientieren sich nur
teilweise an den Vorstellungen des §65 StGB. Daß Sexualtäter, aggres-
sive Delinquenten, Drogenabhängige, Uberzeugungstäter, Betrüger
oder psychisch Kranke nach den Aufnahmerichtlinien einzelner Anstal-
ten ausgeschlossen werden, deutet schon darauf hin, daß die Population
dieser Anstalten im Durchschnitt weniger riskant erscheint als die, für
welche § 65 StGB formuliert wurde.
Die praktischen Erfahrungen und Probleme, die sich für den Vollzug
in einer sthA bisher ergeben haben, lassen sich am besten darstellen,
wenn man vom Personal ausgeht. Denn die kleinen Modellanstalten
unterschieden sich vom Regelvollzug von Anfang an dadurch, daß neben
dem Aufsichtsdienst ausgebildete Fachleute verschiedener Professionen
sich um die Klienten kümmern sollten. Sehr früh hatte man vorausge-
sagt, daß diese „Fachdienste" mit dem „Aufsichtsdienst" Konflikte
haben würden. Das zu erwarten lag schon deshalb nahe, weil die
Interessen des Aufsichtsdienstes an Ruhe, Disziplin und Ordnung mit
den Interessen der Fachdienste an individualisierender Behandlung not-
wendig in einen Zielkonflikt geraten mußten. Man kann diesen Zielkon-
flikt auch so beschreiben, daß dem traditionellen Bemühen um einen
Ausschluß jedes Risikos das therapeutische Bemühen um ein Eingehen
kalkulierter Risiken gegenübersteht. Die prognostizierten Konflikte
haben sich in der Tat wohl in jeder sthA verwirklicht. Man kann sich gut
vorstellen, welche Schwierigkeiten solche Konflikte für den Leiter der
Anstalt (besonders, wenn dies ein Jurist ist) und die übergeordneten
Behörden auslösten.
Eher überraschende Probleme traten jedoch auch innerhalb der Fach-
dienste auf. Dies lag daran, daß niemand von ihnen einschlägige Erfah-
rungen von irgendwoher mitbringen konnte. Da eine sozialtherapeuti-
sche Behandlung ohne eine Vorstellung von dem, worin sie bestehen
soll, aber nicht gut möglich ist, prallten hier alsbald die unterschiedlich-
sten Zielvorstellungen aufeinander. Psychiater wollten „heilen", Sozial-
pädagogen ihre Klienten an die gesellschaftliche Wirklichkeit anpassen,
Psychologen sie „konfliktfähig" machen usw., - wobei dies natürlich
174 Horst Schüler-Springorum

nur Beispiele für divergierende Zuordnungen sein können. Schon aus


ihnen sollte jedoch klar werden, daß divergierende Zielvorstellungen zu
entsprechenden Streitigkeiten über die anzuwendenden Methoden führ-
ten. Soweit die sthAen heute ihre eigenen Methoden beschreiben, spie-
gelt sich darin die Unsicherheit über die Gesamtkonzeption wider.
Neben Fremdworten wie „analytische Konzeption", „humanistische
Psychologie" tauchen Umschreibungen auf („Nachreifungsprozesse
initiieren", „in die Normen und Ziele der derzeitigen Gesellschaft
einbinden"). Auffällig ist, daß eine medikamentöse Therapie fast nir-
gends erscheint (vgl. vor allem Bundeszusammenschluß 1981).
Wenn die Statuten einer sthA darüber hinaus die Teilnahme an
Resozialisierungs- oder Behandlungsprogrammen für die Klienten als
„Pflicht" beschreiben, ist diese Pflicht natürlich nur sehr bedingt durch-
setzbar. Sie entspricht zunächst der Tatsache, daß kein Klient gezwun-
gen wird, aus dem Regelvollzug in eine sthA überzuwechseln. Wer dies
tut, weiß also, daß dort ein bestimmtes Programm „läuft". Umgekehrt
wissen die Angehörigen der Fachdienste sehr wohl, daß eine Änderung
von Einstellungen und Verhaltensweisen nicht durch Zwang bewirkt
werden kann. Insofern bleibt die „Pflicht" zur Teilnahme am Programm
der Anstalt letztlich doch „freiwillig" übernommen - hier liegt ein
wichtiger Unterschied zu den wesentlich rigideren Eingriffen in die
Persönlichkeit im Rahmen des Zwangsaufenthaltes in einem psychiatri-
schen Krankenhaus.
Nach alledem ergibt sich ganz gewiß noch keine positive Antwort auf
die Frage, was „sozialtherapeutische Behandlung" in der Bundesrepu-
blik Deutschland derzeit eigentlich ist; allenfalls negativ könnte man
feststellen, daß es sich jedenfalls nicht um herkömmlichen Verwahrvoll-
zug handelt. Hierin liegt auch der wesentliche praktische Unterschied
für die Insassen selbst. Die meisten von ihnen finden sich zum ersten
Mal in ihrem mit viel Vollzugserfahrung angereicherten Leben in einem
„therapeutischen Milieu" - oder doch wenigstens in dem Versuch eines
solchen. Sicher ist, daß diese Konfrontation mit einem anderen Voll-
zugsmilieu bewirkt, daß die Insassen sich jedenfalls im Vollzug in der
sthA anders verhalten als im Regelvollzug. Man kann dies auch als eine
Veränderung der Subkultur der Insassen beschreiben. Gefangene sind
bekanntlich nicht dumm, Klienten der sthA schon aufgrund der Aus-
wahlkriterien noch weniger, und hafterfahrene Klienten erst recht nicht.
Sehr bald konnte man daher die Entwicklung einer spezifisch sozialthe-
rapeutischen Subkultur registrieren. Wo Klienten ständig davon hören,
daß sie ihre Probleme bearbeiten, ihr Verhalten trainieren, ihre Kon-
flikte bewältigen, riskante Situationen simulieren, gruppenfähig werden
oder Beziehungen stabilisieren müßten, lernen sie zumindest sehr
schnell, das entsprechende Vokabular zu übernehmen. So entwickelt
Sozialtherapeutische Anstalten 175

sich eine Art therapeutischer Jargon, den der Klient der Sozialtherapie
zumindest jenen gegenüber beherrscht, die ihn gern hören wollen, also
den Sozialtherapeuten. Ein Insasse drückte dies einmal so aus, daß die
beste Garantie zum Überleben darin bestehe, entweder ein großer
Schauspieler zu werden oder aber ein kleiner Psychiater.
Von hier zu anderen Aspekten der Subkultur ist nur ein Schritt. Hat
man erst einmal gelernt, mit verschiedenen Zungen zu reden, lassen sich
die Mitarbeiter einer sthA eher noch leichter gegeneinander ausspielen
als die Aufsichtsbeamten eines Normalgefängnisses. Da die Mitarbeiter
dies freilich auch wissen, sind die sthAen trotz alledem keineswegs zum
Spielball ihrer Insassen geworden; das Wissen, daß es das Phänomen
einer Subkultur auch hier gibt, hat die Palette der Behandlungsschritte
vielmehr eher bereichert.

5. In „Kriminologie III" hatte Hilde Kaufmann bereits nicht nur die


ausländischen (insbesondere holländischen) Vorläufer- und Parallelinsti-
tutionen beschrieben (S. 160 ff), sondern auch die deutschen Modellan-
stalten skizziert (S. 170 ff), und zwar numerisch vollständig bis auf die
(einzige) sozialtherapeutische Frauenabteilung in Lübeck, die spätere
(1981) Neugründung in Kassel (vgl. Dünkel u. a., 1986) und die 1984
eröffnete zweite hamburgische Anstalt in Altengamme. Geht man vom
1.4.1969 als Eröffnungsdatum der ersten sthA in Hamburg-Bergedorf
aus, so überblicken wir mittlerweile gut VA Jahrzehnte einer experimen-
tellen Praxis, deren Besonderheit es ist, von vornherein mehr oder
weniger intensiv forschend begleitet worden zu sein. Die Empirie auf
das Experiment anzusetzen lag schon deshalb nahe, weil der Gesetzge-
ber ja zunächst nur „Halbzeug" geliefert hatte; der entsprechende
Legitimationsdruck war und ist unverkennbar. Schon vor der Meta-
Evaluation 1985 (Lösel u.a.) hatte es Versuche gegeben, die etappen-
weise produzierten Forschungsergebnisse unter eher kriminalpoliti-
schem (Sonderheft 6/1979 der MschrKrim.) oder eher praktischem
(Sonderheft 1980 der ZStrVo.) Aspekt zusammenzustellen. Dabei waren
die Forschungen selbst alles andere als miteinander „vernetzt" oder auch
nur koordiniert in Angriff genommen worden. Ein Nachteil?
Wenn ja, dann jedenfalls ein nur relativer. Denn gerade das Nebenein-
ander verschiedener Projekte förderte, als man begann, deren erste
Ergebnisse zu vergleichen und auch praktische Erfahrungen auszutau-
schen, je länger je mehr zutage, daß den Anstalten mit ihrerseits wie-
derum recht unterschiedlicher „Machart" doch so manches gemeinsam
war - strukturell sozusagen. Die vorerwähnte Arbeitsgemeinschaft fand
sich von Treffen zu Treffen vor denselben Fragestellungen wieder, um
im Nachhinein festzustellen, daß man wieder einmal denselben Diskus-
sionsmustern gefolgt war. Organisations- und Personalfragen, Klienten-
176 Horst Schüler-Springorum

und Behandlungsprobleme gaben die Strukturen vor, an denen Kon-


zepte entwickelt und Schritt für Schritt „Sozialtherapie" gelernt wurde.
Diese Lernschritte betrafen, was den inneren Betrieb der Anstalten
anlangt (im Gegensatz zu ihrem „Erfolg", s.u.), naturgemäß zuvörderst
das Verhältnis zwischen Insassen und Personal; sollte doch die sthA
gerade das Versachlichende des Regelvollzugs ins Verpersönlichende
wenden, indiziert z . B . durch Stichworte wie „therapeutisches Milieu"
oder „problemlösende Gemeinschaft".
Genau jenes Verhältnis ist vielleicht sogar der Bereich, zu dem sich die
inzwischen neu gewonnenen Erkenntnisse schon vorläufig resümieren
lassen. Zu nennen wäre vor allem die Einsicht, daß auch in der sthA das
„Gefängnis" durchschlägt und die Beziehungen zwischen Personal und
Insassen sowohl miteinander als auch untereinander jedenfalls stärker
bestimmt, als man sich das so gedacht hatte. Auf die Ausbildung einer
„therapeutischen Subkultur" wurde oben bereits hingewiesen. Wie diese
das Innenleben der Gruppe der Therapiegefangenen beschreibt, ließen
sich Parallelen auch für die Gruppe des Therapiepersonals aufzeigen. So
retteten sich Sozialpädagogen und Psychologen, wenn die Schwierigkei-
ten eines möglichst repressionsfreien Umgangs mit ihren Klienten allzu
groß wurden, gelegentlich in ein System von Sanktionen, das sich vom
Vertrauten ( z . B . §§ 102ff StVollzG) vielleicht noch durch den Namen,
nicht aber durch die negative Verstärkerfunktion unterschied; und wirk-
lich schlimm wurde und wird dergleichen dort, wo selbst die Diszipli-
nierung noch als therapeutische Reaktion verkauft werden soll.
Hierzu paßt die „Kritik des therapeutischen Strafvollzugs" als
„erzwungene Beichte" (Lamott 1984) ebenso wie der irritierende
Befund, eine „feindselige Einstellung" der Insassen bestimme „die Reso-
zialisierungschancen mit einer außerordentlichen Wucht" (Ortmann
1984, 817). Abhilfe gegen einen solchen Befund ist anscheinend mit
typisch „sozialtherapeutischen" Rezepten nicht mehr zu schaffen - wie
z. B. mit dem, die Fachdienste seien zu Lasten des (natürlich sozialthera-
peutisch eingebundenen) Aufsichtsdienstes eben noch stärker auszu-
bauen, Psychologen oder Pädagogen verdienten mehr Stellen und mehr
Macht, usw. Denn „dieses Merkmal der Feindseligkeit hängt zu 36 %
von der Begrenzung der Autonomie in der Anstalt (hier: Berlin-Tegel)
ab", was dafür spricht, „daß ein nicht unerheblicher Teil resozialisie-
rungsfeindlicher Bedingungen im Strafvollzug vom Strafvollzug selbst
ausgeht" (Ortmann a . a . O . ) .
Auch derlei Desillusionierung ist indessen nur ein Lernschritt. Ent-
scheidend ist, was wir daraus lernen; dabei sollte noch konsensfähig
sein, daß es kein Lernschritt wäre, vom Befund der Nähe des „therapeu-
tischen" Strafvollzugs zu dessen Normalform zu folgern, daß es bei
letzterem (wieder) bewenden könne. Vielmehr wird ein nächster Lern-
Sozialtherapeutische Anstalten 177

schritt z. B. sein, angesichts der Schwierigkeit, eine Insassensubkultur in


eine problemlösende Gemeinschaft umzufunktionieren, wenigstens die
nachteiligen Effekte der sozialtherapeutischen Subkultur nach Möglich-
keit zu reduzieren oder zu neutralisieren. Oder: Der Innenbetrieb des
sozialtherapeutischen Vollzuges wird künftighin von der zwischen
Bediensteten und Gefangenen zu teilenden Prämisse ausgehen müssen,
daß die Wohn-, Arbeits- und Freizeitgemeinschaften nicht allein deshalb
schon den Namen „therapeutisches Milieu" verdienen, weil sie sich in
einer sthA abspielen; „abspielen" übrigens so wörtlich wie in dem Zitat
aus den berühmten „Knoten" von Laing, das dem jüngsten Aufsatz von
Lamott hierzu (1986) voransteht: „Sie spielen ein Spiel. Sie spielen
damit, kein Spiel zu spielen. Zeige ich ihnen, daß ich sie spielen sehe,
dann breche ich die Regeln, und sie werden mich bestrafen. Ich muß ihr
Spiel, nicht zu sehen, daß ich das Spiel sehe, spielen."

6. Trotz alledem bleibt für manche Klienten allerdings das oft erstmalige
Erleben entscheidend, daß man sich hier überhaupt um sie als Einzelper-
son kümmert. Zwar wird das aus dem bisherigen Leben mitgebrachte
tiefwurzelnde Mißtrauen nur langsam überwunden. Dann aber bezeu-
gen doch viele, wie einschneidend für sie das Erlebnis war, erstmals über
sich selbst haben reden zu können, und dies nicht nur seit Jahren, son-
dern seit Jahrzehnten, - Zeiten der sogenannten Freiheit eingerechnet.
Indessen bedarf keiner Begründung, daß mit der Vermittlung solcher
Erlebnisse noch nicht genug geschehen ist. Der Test auf die Behandlung
in der sthA kann immer erst nach der Entlassung gemacht werden. In
Wirklichkeit kommt es jedoch schon vorher häufig zu einem Test ganz
anderer Art. Der Gefangene kann aus der sthA in den Regelvollzug
„zurückverlegt werden, wenn mit ihren Mitteln und Hilfen kein Erfolg
erzielt werden kann" (§ 9 StVollzG). Das bedeutet, daß ein Abbruch der
Behandlung vor der Entlassung zugleich das Ende der Sozialtherapie im
Einzelfall bewirkt. Obwohl die Entscheidung über eine solche Rückver-
legung die Anstalt trifft, steckt hier natürlich auch ein Stück „Freiheit"
für den Gefangenen selbst: Er kann durch sein Verhalten (z. B. Verwei-
gerung) die Rückverlegung gezielt auslösen. Tatsächlich ist die Quote
der rückverlegten Klienten erheblich und beträgt in manchen Anstalten
bis über 5 0 % (vgl. jetzt den Überblick bei Lösel u.a., 1985; auch
Dünkel u.a., 1986). Manche dieser Rückverlegungen kommen früh
alsbald nach der Aufnahme und noch während einer Probezeit vor,
andere später bis zu Zeitpunkten mehr oder weniger kurz vor der
Entlassung auf Bewährung. Auf diese Weise setzt sich der Aufnahme-
prozeß, aufgrund dessen der Klient in die sthA kam, dort dann ständig
fort. Kritiker der sthA machen geltend, daß auf diese Weise auch einem
Mißerfolg der Behandlung kontinuierlich vorgebeugt werde.
178 Horst Schüler-Springorum

III.
Damit steht die Frage nach dem „Erfolg" der Institution zur Debatte.
In der 2. Hälfte der 70er Jahre konnten die ersten Forschungsergebnisse
vorgelegt werden. Die Untersuchungen selbst bestanden zum Teil in
einem Vergleich der subjektiven Einstellung der Klienten vor und nach
dem Aufenthalt in der sthA; positive Ergebnisse (z. B. Egg) müssen sich
den Einwand gefallen lassen, daß die Einstellung zur Zeit der Entlassung
noch nichts darüber sagt, wie die betreffenden Personen sich draußen im
Ernstfall verhalten. Andere Forschungen galten Fragen der Organisa-
tion, Struktur usw. (z. B. Sagebiel). Vordergründig am interessantesten
erscheinen natürlich die Untersuchungen zum Rückfall bei Kontroll-
gruppen. Hierzu berichten z.B. Dünkel und Rehn Ergebnisse, die
zwischen 5 % und 20 % besser als die Rückfallsätze nach Regelvollzug
waren (vgl. jetzt auch Lösel u.a. 1985, S.403ff, der S.414 zu einem
Über-alles-Befund von 8 - 1 4 % kommt).
Speziell die auf das Kriterium der Legalbewährung abstellenden For-
schungen haben nun ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Verfechter der
sthAen in Wissenschaft und Praxis beriefen sich auf sie, um nach dem
Experiment der Modellanstalten nun endlich auf die Konzeption des § 65
StGB loszusteuern (z.B. Baumann). Für Gegner dieser Anstalten in
Wissenschaft und Praxis sind die Ergebnisse von Dünkel und Rehn nur
Zielscheibe von Kritik und Zweifel. In methodischer Hinsicht beanstan-
det man die Vergleichbarkeit der Untersuchungs- und Kontrollgruppen;
auch wirft man der Auswahlpraxis vor, von vornherein eine erfolgs-
trächtige, risikoarme Population zusammenzustellen und diese durch die
Rückverlegungen ständig noch zu bereinigen (z.B. Albrecht/Lamott,
1980; Schwind, 1981).
Den Kritikern ist sicher zuzugeben, daß die sthAen ihre Praxis an
vollzuglichen anstatt an Behandlungsaspekten weitaus mehr orientieren,
als dies der ursprünglichen Konzeption nach sein dürfte. De facto ist
Sozialtherapie eben eher eine Frage von „Klienten für die Anstalt" als
von einer „Anstalt für die Klienten" (vgl. Lösel u.a. 1985, S.277).
Verwunderlich ist dies freilich nicht, sondern eher eine erwartbare Folge
der Experimentiersituation, in der diese Anstalten sich befinden. Der
Erfolgszwang, unter dem sie stehen, produziert leicht Forschungser-
folge, die dann als Ergebnisse von allzu schlichter Erfolgsforschung
kritisierbar sind.
Andererseits ließen sich insbesondere die Ermittlungen der günstige-
ren Rückfallprozentsätze auch gegen solche Kritik verteidigen, - etwa
mit dem Argument, daß die Forscher, welche jene Prozentsätze ermit-
telten, ihrerseits den Anstalten nicht angehörten, sondern sich neutral
um einen wissenschaftlich möglichst „sauberen" Kontrollgruppenver-
gleich bemühten. Die ganze Auseinandersetzung, die hier nicht weiter
Sozialtherapeutische Anstalten 179

nachgezeichnet werden kann, verdient Interesse freilich aus zwei noch


ganz anderen Gründen.
Erstens muß festgestellt werden, daß in kaum einem anderen krimino-
logischen Bereich die Diskussion um die Tragweite empirischer For-
schungsergebnisse so heftig und so kontrovers geführt wird wie um die
Frage, ob Sozialtherapie sich nun bewährt habe oder nicht. U n d zwei-
tens wird in kaum einem anderen Zusammenhang hinter der wissen-
schaftlichen Kontroverse die kriminalpolitische Kontroverse um die
Zukunft dieser Anstalten so sichtbar wie hier: Prozentsätze und Metho-
denkritik schlägt man sich um die Ohren, weil man Sozialtherapie eben
will - oder eben nicht will.
N o c h soll § 65 S t G B am 1 . 1 . 1 9 8 5 in Kraft treten. H a b e n uns die zehn
sthAen genug gelehrt, um dies endlich herbeizuzwingen?
Sicher nicht! D e n n die zehn Anstalten haben das Modell des § 6 5
S t G B keineswegs „vorprobiert". Sie sind nicht Anstalten des Maßregel-
vollzugs, sondern eine Art spezialisierte Entlassungsvorbereitung im
Strafvollzug; und die dort gewonnenen Erfahrungen sind schon deshalb
nicht multiplizierbar, weil 30 oder 50 Klienten ganz sicher völlig andere
Probleme haben und stellen als die vorgesehenen 150 oder 200 Insassen
einer großen sthA. H i n z u kommt, daß die Vollzugsadministration
argumentiert, daß die Kosten für die großen Anstalten gar nicht aufge-
bracht werden können; denn in jenen sollten sich ja mindestens 5 bis
10 % aller Gefangenen wiederfinden, anstatt etwa 1 bis 2 % , die in den
heutigen Anstalten als Klienten einsitzen. Zugleich wird uns seitens der
Justizverwaltungen versichert, daß man an der Paxis der kleinen Modell-
anstalten, also am status quo der heutigen Sozialtherapie, durchaus
festhalten wolle.
Sehr glaubhaft ist das nicht. D e n n wenn die großen Anstalten absolut
zu teuer erscheinen, sind doch die augenblicklichen kleinen Anstalten
relativ noch viel teurer; im Rahmen des gesamten Strafvollzugs bleiben
sie auch künftighin ein großer Luxus.

7. „ D i e direkten politischen Auswirkungen von Forschungsergebnissen


s i n d . . . nach den meisten Erfahrungen mit Evaluationen eher gering"
(Lösel u . a . 1985, I). Diese nach dem Stichtag 1 . 1 . 1 9 8 5 getroffene
Feststellung gibt Anlaß, wenigstens die neue rechtliche Situation der
sthA kurz zu bewerten, - ein in dem Maße notwendig subjektives
Unterfangen, als kriminalpolitische Einstellungen schon die voraufge-
gangenen Kontroversen stets mitbestimmt hatten.
Mit der Streichung der sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel
sind zugleich einige Probleme ihres gesetzlichen Zubehörs entfallen, mit
dem die Strafrechtsreform sie einst ausgestattet hatte. D a z u gehört z . B .
die in § 65 S t G B vorgesehen gewesene ärztliche Leitung der Institution.
180 Horst Schüler-Springorum

Mehrere der Modellanstalten hatten damit zunächst Ernst gemacht,


doch im Laufe der Zeit kam „man", Theoretiker wie Praktiker der
Sozialtherapie, immer mehr davon ab. Gemeint sein konnten doch wohl
nur Psychiater, und die, die bei knappem Angebot sich fanden, gerieten
alsbald in Konflikte mit nichtärztlichen Konfliktpartnern wie vorgesetz-
ten Behörden, übrigem Behandlungspersonal, Aufsichtsbediensteten
und Anstaltsjuristen. Man kann den Rückzug der (wenigen) Psychiater
aus den Modellanstalten als die Geschichte persönlicher Rollen- und
Zielwidersprüche beschreiben; man kann ihn aber auch als die Durchset-
zung der klassischen Vollzugselemente interpretieren (vgl. Ortmann
1984, 819).
Ähnlich werden manche begrüßen, daß die Vollzugslösung nunmehr
auch das maßregeltypische Moment der zeitlichen Unbestimmtheit -
nach §67d StGB sollten es maximal fünf Jahre sein - hat wegfallen
lassen. Anders als die ärztliche Leitung konnte dieses Merkmal in den
existierenden Anstalten freilich nur sehr bedingt erprobt werden, näm-
lich im Rahmen der i. d. R. wesentlich kürzeren Spanne zwischen der
Verlegung in die sthA, der frühesten Entlassung nach §57 StGB und
dem Zeitpunkt der „Endstrafe". Die inzwischen wohl vorherrschend
kritische Einschätzung des Moments der Unbestimmtheit folgt denn
auch mehr einem allgemeinen Beurteilungswandel, der die Gefahr mani-
pulativer Interaktionen mittels manipulierbarer Verweildauer heute eher
hoch einschätzt; immerhin, die früher genannte „sozialtherapeutische
Subkultur" weist in dieselbe Richtung. - Mit dem Moment der Unbe-
stimmtheit verwandt ist das Spiel um Aufnahme und Rückverlegung,
und das wird bleiben. Denn nach § 9 StVollzG ist jede Aufnahme in die
sthA eine „Verlegung". Dem Vorteil der damit verbundenen Entlas-
sungsorientierung steht der Nachteil gegenüber, daß erst einmal ein
Stück Regelvollzug hinter sich haben muß, wer von dessen „Gefange-
nem" zum „Klienten" einer sthA werden will. Wirklich zwingend
erscheint letzteres allerdings nicht: Schon der Wechsel unmittelbar aus
der Untersuchungshaft zum Strafantritt in einer sthA läßt sich als eine
Form von „Verlegung" begreifen, und wenn nach §8 StVollzG die
Abweichung vom Vollstreckungsplan den Begriff der Verlegung defi-
niert, kann jeder so abweichende Straf antritt eine solche sein: statt später
zu „verlegen" wird eben von vornherein richtig „gelegt".
Daß dergleichen auch nur annähernd in dem Maße geschehen wird, in
dem Gefangene von den „besonderen therapeutischen Mitteln und
sozialen Hilfen einer solchen Anstalt" (§ 9 StVollzG) profitieren könn-
ten, ist nun aber alles andere als sicher. Der kardinale Nachteil der neuen
Gesetzeslage ist das Allerweltswörtchen „kann" in §9 StVollzG. Das
stand zwar auch schon vorher dort, aber bis zum 31.12.1984 eben vor
dem Hintergrund des §65 StGB. Als nunmehr alleiniger Träger für die
Sozial therapeutische Anstalten 181

„Fortentwicklung" der Sozialtherapie (s.o.) ist es jedoch zu schwach.


Entsprechend hart war um eine wenigstens graduell verbindlichere
Regelung gerungen worden, - schon ein „soll" wäre das ganze Rechts-
ausschuß-Hearing vom 19.9.1984 wert gewesen.
Demgegenüber fallen andere Nachteile vergleichsweise weniger ins
Gewicht. In § 123 StVollzG wurde explizit die Möglichkeit aufgenom-
men, Sozialtherapie statt in getrennten Anstalten in bloßen Abteilungen
von Anstalten des Regelvollzuges zu betreiben, was den Ergebnissen
einer zur „Gründerzeit" lange geführten Debatte über deren pro und
contra widerspricht (vgl. § 6 AE-StVollzG 1973 mit Begr.). Abge-
schwächt wurde auch die Regelung über die „nachgehende Betreuung"
(§ 127 alt, § 126 neu StVollzG), obwohl diese unter dem Aspekt der sthA
als Entlassungsvorbereitung gerade gesetzlich aufgewertet zu werden
verdient hätte. Und wenn zum Mindestgehalt eines Vollzugsplans (§ 7
StVollzG) nun auch die Angabe über eine evtl. „Verlegung in eine
sozialtherapeutische Anstalt" gehört, hängt der Inhalt einer solchen
„Angabe" doch, wie bei anderen Punkten des Vollzugsplans auch (z. B.
„Umschulung" oder „Veranstaltungen der Weiterbildung"), vom kon-
kret verfügbaren Angebot ab (anders wohl Böhm 1985, 1815). So sehen
wir die existierenden Anstalten dieser Art, ihr Personal wie ihre Insas-
sen, ihre Existenz wie ihre Struktur, in Abhängigkeit viel weniger von
Recht und Gesetz als vom Ermessen von Verwaltungsinstanzen; sie sind
damit in der Tat zum Objekt der je länderspezifisch vollzugspolitischen
Einstellungen geworden, - „for better or worse".

8. Aus allen diesen Gründen sind die heutigen sthAen eine Institution
ohne Bestandsgarantie. Kein Gesetzesbefehl soll sie erhalten, kein Rich-
terspruch sie erzwingen können. In dieser Perspektive erweist sich der
Streit um ihren Erfolg oder Nichterfolg abermals fast als Scheingefecht:
Soweit ihre Bewährung bisher nicht bewiesen ist, so ihre Nichtbewäh-
rung auch nicht. Bewiesen sind lediglich die Kosten. Abermals sehen wir
uns deshalb vor das Problem der schlichten kriminalpolitischen Ent-
scheidung gestellt. Da auch kriminalpolitisches Wollen aber vernunftge-
leitet sein sollte, seien abschließend noch einige Argumente zusammen-
gestellt, die für eine vernünftige kriminalpolitische Entscheidung über
die Zukunft der sthAen bedeutsam sein könnten.

IV.
Ganz so wenig hat nämlich das letzte Jahrzehnt zu unserer Frage
schließlich doch nicht erbracht. Zwar ist „Sozialtherapie" bis heute eher
ein Programm als eine umrissene Konzeption. Das Wort steht zugleich
aber auch für eine praktizierte Alternative zum bloßen Verwahrvollzug
und zur psychiatrischen Verwahrung. Eben deshalb vereint der Begriff
182 Horst Schüler-Springorum

„Sozialtherapie" ja eine so große Anzahl von verschiedenen Versuchen,


Alternativen zum Verwahrvollzug zu praktizieren. Zwei weit (nicht nur
geographisch) auseinanderliegende Beispiele hierfür seien nachgetragen.
Die größte sthA befindet sich im Gefängniskomplex Berlin-Tegel.
Dort liefen von vornherein zwei sozialtherapeutische Programme
nebeneinander: eines der Sozialtherapie wie zuvor hier geschildert, und
daneben ein „soziales Training", welches im Laufe der Jahre viele
Hunderte von Klienten durchliefen. Das Training bestand wesentlich in
Arbeits- und Berufstraining, schulischer Bildung, gelegentlich auch
Verhaltenstraining, aber ohne psychologisch-inquisitorische Methode.
Ein interessantes Ergebnis der Forschung über beide Programme war,
daß deren Erfolge (ausgedrückt im Rückfall nach der Entlassung) sich
nicht signifikant danach trennen lassen, in welchem Programm der
Klient war (Dünkel 1979, 328 f). Man könnte dies als ein Ergebnis
sorgfältiger und geglückter Zuweisung des einzelnen Klienten zum
jeweiligen Programm interpretieren. Treffender ist vermutlich eine
andere Erklärung: Allein die Tatsache, daß überhaupt etwas geschah,
beeinflußte den Rückfall günstig.
Im großen Stadtgefängnis in München engagierten sich Mitarbeiter
der psychiatrischen Universitätsklinik über Jahre hinweg in einer
„Sozialtherapie" für kleinste Gruppen schwerster Fälle. Jeweils etwa
8-12 Gewaltdelinquenten und Sexualstraftäter wurden aus anderen
bayerischen Gefängnissen hier zusammengeführt und intensiv, insbe-
sondere die Sexualtäter auch medikamentös, behandelt und betreut.
Diese Probanden stellen vom Alter, den Delikten und der Persönlich-
keitsstörung her eine so schwierige Gruppe dar (Speer 1983), daß im
Grunde schon jeder einzige nach der Entlassung ausbleibende Rückfall
ein beachtlicher Erfolg ist. Die Gewalt- und Aggressionstäter sind denn
auch fast alle rückfällig geworden, oft freilich mit weniger gravierenden
Delikten als zuvor. Für die Sexualtäter weist eine Statistik von 1981
immerhin 5 0 % Nichtrückfälle bei 58 Probanden aus (Wiederholt 1981).
Auch das ist Sozialtherapie.
Die Beispiele aus München und Berlin stellen gewiß zwei Extreme auf
der Skala möglicher sozialtherapeutischer Programme dar. Sie zeigen
zugleich auf, daß so umstrittene Begriffe wie „Behandlung" und „Hilfe"
nur scheinbar Unterschiedliches oder gar Gegensätzliches beschreiben.
Daß Resozialisierung, selbst als „Behandlung", nicht gegen den Willen
des Betroffenen möglich ist, weiß jedes Kind. Daß sie hinter Mauern
unsäglich schwer ist, weiß jeder, der es versucht hat (vgl. z.B. - über
München berichtend - Speer 1983). Die verschiedenen Erfolge der
bisherigen Versuche, mögen sie sich nun als „Angebot von Hilfe" oder
als „Pflicht zur Therapie" definieren, beweisen im Grunde nur, wie
finster die Situation im Regelvollzug noch immer ist. Denn schon jede
Sozialtherapeutische Anstalten 183

kleine Zuwendung, jedes kleine Angebot einer persönlichen Beziehung


fällt offenbar so sehr aus dem Rahmen des „Normalen", daß sie zwar
nicht Wunder bewirkt, aber doch wenigstens Verwunderung bei dem,
dem sie zuteil wird. Genau darin liegt die Chance; aber wußten wir nicht
eben dies schon lange vor 1969?

V.
Wenn ich am Ende eine persönliche Prognose zur Zukunft der
Sozialtherapie anbiete, so versteht sich deren Inhalt schon fast von
selbst. Was immer an noch zu publizierenden Ideen kommt und was
immer als „Trend" aus Nordamerika zu uns herüberweht, - Sozialthera-
pie ist selbst durch die kurze bisherige Geschichte der kleinen Anstalten
schon so verankert, daß sie nicht mehr so leicht und jedenfalls nicht von
heute auf morgen wird auf Null reduziert werden können. Was immer
von ihr bleibt, wird sich aber zugleich auf den breitgespannten Polen
zwischen bloßer Verwahrung und geschlossener Psychiatrie, zwischen
geschlossenem und offenem Vollzug bewegen.
Die sthAen befinden sich heute also genau auf dem Grat zwischen
Modell und Institution. Das vielgescholtene Experimentier- und Model-
lierstadium, in welchem wir noch immer stehen, hat der Idee einer
ernsthaft auf Resozialisierung abzielenden Vollzugsform nicht gescha-
det, sondern eher genützt. Die von den Verfechtern der Sozialtherapie
so vehement angestrebte Institutionalisierung mit festgelegten Definitio-
nen und Strukturen könnte der Idee der Sozialtherapie möglicherweise
sogar abträglich sein. Denn solange sie Experiment ist und sich „Modell"
nennt, bleibt sie das schlechte Gewissen unseres immer noch viel zu
schlechten Strafvollzugs.
9. Das Schlußpostskript: Alsbald nach dem Madrider Referat legte die
vorerwähnte Forschungsgruppe ihre Ergebnisse und Anregungen vor:
„Die sozialtherapeutische Anstalt" von Driebold u. a. (1984) mit dem
Untertitel „Modell und Empfehlungen für den Justizvollzug"; ein Jahr
früher schon war „Strafvollzug - Erfahrungen, Modelle, Alternativen"
erschienen (Driebold, Hg., 1983), worin insbesondere S. Quensel seine
Vorstellungen über eine mögliche Entwicklung von Strafvollzug und
Sozialtherapie entwickelte (S. 55 ff). In stark verkürzter Fassung laufen
die Vorschläge insgesamt darauf hinaus, die sthA der Zukunft über einen
Verbund von „Zentralanstalt" (ca. 45 Plätze, ca. 45 Mitarbeiter; nicht
allzu „geschlossen", Aufenthalt ca. 6 Monate) und „Tochtereinrichtun-
gen" (5-15 Plätze, 5-7 Mitarbeiter; eher „offen"; Aufenthalt ca. 12
Monate) eng zu verflechten mit der örtlichen Gemeinde, der der ca. 150
Plätze umfassende sozialtherapeutische Gesamtverbund angehört. In
einem solchen mit den kommunalen Angeboten und Leistungen „ver-
184 Horst Schüler-Springorum

netzten System" durchläuft der Delinquent eine „Interaktionstherapie",


die ihn langsam aber sicher in die Freiheit führen soll (Driebold u. a.
1984, 23ff). Wenn es nach Quensel geht (a.a.O. S.68ff), könnte dieses
System bis zum Jahr 2000 nicht weniger als 2000 Klienten aufnehmen -
und 5000 Klienten bis zum Jahr 2050; realisierbar weil finanzierbar sei
das um den (also sehr wörtlich zu verstehenden) Preis einer Reduktion
der Gefangenenzahl im Normalvollzug auf 25 000 im Jahr 2000 und auf
(abermals) 5000 im Jahr 2050.
Wie „realutopisch" das auch immer sein mag (vgl. Specht in Driebold
Hg. 1973, S. 9), handelt es sich hier doch um mehr als bloße Rettungs-
phantasien; unverkennbar ist das Bestreben, auf argumentativem Wege,
ziemlich planerisch und ein wenig futuristisch die Sozialtherapie als
„Idee" zu überleben zu lassen und aus ihren bisherigen Ansätzen solches
Uberleben abzusichern. Genau darum, meine ich, geht es heute in der
Tat; denn das Strafvollzugsänderungsgesetz vom Jahreswechsel 1984/85
hat die Idee und Praxis der Sozialtherapie in doppelter Hinsicht auf ihre
Ausgangsbedingungen zurückverwiesen:
Die Vollzugslösung, so wurde das Gesetz begründet, verdiene u. a.
deshalb den Vorzug, weil „ein allgemeinverbindliches und wissenschaft-
lich gesichertes Behandlungskonzept . . . fehlt" (BT-Drucks. 10/309,
S.9). Sehr Ahnliches konnte man mehr als ein Jahrzehnt zuvor auch
beim Kammergericht schon lesen (NJW 1972, 2228 ff; dazu Müller-
Dietz, N J W 1973, 1065ff); und mit Blick auf die in den Anstalten
praktizierten Behandlungsformen fragte Hilde Kaufmann zur Halbzeit
(1977, S. 203), ob es sich bei alledem vielleicht „um therapeutischen
Wildwuchs und methodischen Wirrwarr handelt". Nachdem die Vorrei-
terfunktion der Anstalten, nämlich den §65 StGB wenigstens partiell
einzuüben, nunmehr entfallen ist, steht die Sozialtherapie tatsächlich
(wieder) vor der Aufgabe einer neuen „Selbstfindung": weniger der Idee
oder Definition nach, wohl aber nach Konzept und Methode. Solch
Neubeginn könnte, so paradox das klingen mag, sogar erleichtert wer-
den durch die Antwort, die Hilde Kaufmann seinerzeit auf ihre eigene
Frage gab: daß es sich nämlich bei „Wildwuchs" und „Wirrwarr"
vermutlich um nichts anderes handele als um „eine durchaus normale
Situation" (a. a. O.). Denn der Eindruck von Wirrwarr und Wildwuchs
war ja (unvermeidlich) entstanden, obwohl in wohl jeder einzelnen sthA
vor Aufnahme des „Betriebes" mehr oder weniger kontrovers und hart
um die „Konzeptualisierung" der anstehenden Behandlung gerungen
worden war. Wenn es nunmehr darum geht, eben diese Diskussion -
etwa auf der Grundlage der Forschungsgruppenvorschläge - neu zu
initiieren, mag daraus sehr wohl zunächst abermals eine experimentelle
Vielfalt und scheinbares methodisches Durcheinander entstehen; denn
wo es ums Versuchen geht, sind Irrtümer nun einmal normal.
Sozialtherapeutische Anstalten 185

Zurückgeworfen auf die Ausgangslage ist die Sozialtherapie aber


auch, was ihre Klientel selbst betrifft. Im obigen Abschnitt 7. über Vor-
und Nachteile der heutigen Rechtslage hätte noch diskutiert werden
können, wie der mit der Streichung des § 65 StGB verbundene Wegfall
der Aufnahmekriterien für eine sthA - jener vier Tätergruppen - zu
bewerten sei. Sie hatten von jeher Kritik auf sich gezogen, und die
Modellanstalten hatten sich nur sehr bedingt an ihnen orientiert. Ande-
rerseits waren die Aufnahmekriterien wenigstens ein Indiz dafür gewe-
sen, für wen die Idee gedacht war, - man denke z.B. nur an die
Jungaspiranten auf Sicherungsverwahrung oder die rückfallgefährdeten
Sexualdelinquenten. Genau diese Frage ist heute aber nicht vom Tisch,
wenn anders Sozialtherapie im Justizvollzug künftighin nicht zu einer
Handvoll Intensiwollzüge, zu denen man sich die je passende Klientel
aus dem Normalvollzug fischt, denaturieren soll.
Welche Gruppe von Personen damit da capo zur Debatte steht, lassen
die Zeichen der Zeit unschwer erkennen: Es sind die der ersten Sätze
dieses Beitrags - die „Täter", die „eine schwere Persönlichkeitsstörung
aufweisen", wie §65 StGB der Sache nach für alle Destinatäre der
geplanten Maßregel gemeinsam formulierte. Das Strafrecht selber erfaßt
sie heute nur mehr als die Menschen mit dem „vierten Merkmal" der
§§20, 21 StGB, die mit einer „schweren seelischen Abartigkeit". Kommt
eine solche „Abartigkeit" im Einzelfall (gutachterlich) in einem Ausmaß
zum Vorschein, das zur „positiven" Feststellung erheblich verminderter
Schuldfähigkeit führt, stehen ggf. die Pforten des psychiatrischen Kran-
kenhauses (§63 StGB) offen, oder eben die des Justizvollzuges. Die
psychiatrischen Maßregeleinrichtungen haben ziemlich sehnlich auf das
Kommen der sozialtherapeutischen Maßregel gewartet (nicht zuletzt
auch auf die in §65 Abs. 3 vorgesehenen Entlastungsmöglichkeiten); ob
die Vergeblichkeit dieses Wartens die Bereitschaft fördern wird, sich
dort auch dieser Menschen anzunehmen, erscheint zweifelhaft - sonst
bedürfte es wohl nicht der nachdrücklichen Aufforderung dazu (Rasch
1982). Pläne der Justiz, neue Sicherungsanstalten zu bauen, sind die
bedrückende Konsequenz: §63 oder §66, das gerade war ja die perma-
nente Verlegenheit gewesen; um ihr abzuhelfen, wird für die Schweiz
nunmehr vorgeschlagen, durch einen neuen Art. 65 (!) die Sozialthera-
peutische Anstalt als „sichernde Maßnahme" einzuführen (Schultz 1985,
S. 242 ff).
Die Konstanz des Problems wird nur überlagert durch (freilich nicht
allzusehr) wechselnde Namensgebungen. Wenn Hilde Kaufmann (1977
S. 199) „,Defektpersönlichkeit' oder ,Lernstörungen'" einander entge-
genstellt, so weist die überwiegende Nomenklatur auf erstere hin. Was
früher mit „Verwahrlosung" oder „Psychopathie" eher deskriptiv erfaßt
wurde, wird heute als „dissoziales Syndrom", „Entwicklungspsychopa-
186 Sozialtherapeutische Anstalten

thie", „Basisstörung" o.a. erfaßt (vgl. Cornel 1985 m.w.Nachw.; auch


E. Quensel 1984); die mit den Begriffen je verbundenen Akzente hat
Hilde Kaufmann (a. a. O. S. 202) anschaulich überhöht, wenn sie „von
in ihrer Sozialisation verunglückten Menschen" spricht. Und recht
treffend fassen Lösel u. a. (1985 S.4) den Einzugsbereich der als Maßre-
gel verunglückten Sozialtherapie dahin zusammen, „daß hier an eine
Normabweichung an der Grenze zum Krankhaften gedacht war".
Das neue Vakuum ist also das alte, und deshalb steht die Sozialthera-
pie heute am Scheidewege: Soll sie sich seiner annehmen - oder soll sie
sich „fortentwickeln" zum ständigen Reformimpuls des behandlungs-
orientierten Strafvollzugs? „Innovatorische Impulse für den normalen
Strafvollzug zu geben" (Hilde Kaufmann a.a.O., S. 153), enthält das
Gesetz genügend Handhaben auch ohne die §§ 9 pp. StVollzG. Jene
andere Aufgabe zu verfolgen, gibt es derzeit „keine Alternative".

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Die gemeinnützige Arbeit als Beispiel für einen
grundlegenden Wandel des Sanktionenwesens
GÜNTER B L A U

I.
Hilde Kaufmann ist mit ihrem Werk „Kriminologie III - Strafvollzug
und Sozialtherapie" eine nahezu enzyklopädische Bestandsaufnahme der
stationären sozialtherapeutischen Praxis der siebziger Jahre gelungen.
Ihr Werk hat klassischen Rang, nicht nur wegen der Reife und Abgewo-
genheit der Darstellung, sondern auch deshalb, weil es das Ende oder
doch die Abenddämmerung einer pönologischen Epoche signalisiert, in
der Wissenschaft und Praxis ihr Hauptaugenmerk auf die (Re-)Soziali-
sierung der Straffälligen im Rahmen des überkommenen, wenn auch
vielfach gelockerten Freiheitsentzuges richteten. Dabei verbanden sich
kriminalpädagogischer Idealismus mit einem um empirische Absiche-
rung bemühten sozialtherapeutischen Engagement, ohne daß indessen
bei uns von einer Behandlungseuphorie die Rede sein konnte.
1. Zwar floriert die „Gefängniswissenschaft" auch heute noch auf
hohem Niveau. Die Publikationsflut reißt nicht ab1. Deutsche und vor
allem niederländische Evaluationsstudien aus sozialtherapeutischen
Modellanstalten haben den Befürwortern intramuraler Sozialtherapie bei
bestimmten Tätergruppen sogar wichtige Argumentationshilfen gelie-
fert2. Aber im Grunde scheint das Öffentlichkeit und Politiker nicht
mehr sonderlich zu interessieren. § 65 StGB ist vom Gesetzgeber gestri-
chen worden. Die sozialtherapeutischen Modellanstalten fristen mittels
der „Vollzugslösung" (§9 StVollzGes.) zwar noch ihr Dasein; von einer
„angereicherten" Vollzugslösung3 ist aber kaum noch die Rede. Die
Strafvollzugswissenschaft stagniert. Die organisationssoziologischen
Forschungsergebnisse aus den sechziger und siebziger Jahren über die
Justizvollzugsanstalten als totale Institutionen und über die Gefangenen-

1
Müller-Dietz, ZStW 97 (1985), 331 ff, spricht von dem „Phänomen einer nahezu
atemberaubenden wissenschaftlichen Produktion, die kaum noch Zeit für Durch- und
Nachdenken läßt".
2 Zuletzt Gabriele Dolde, ZStVO 1985, 148ff m . w . N . ; Romkopf, ebenda, 156ff.
3
Schwind, NStZ 1981, 121; zusammenfassend jetzt Baumann/Weber, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 1985, 723 m.N.
190 Günter Blau

Subkultur sind inzwischen gesicherter und unbestrittener geistiger


Besitz. Die Resozialisierungsperspektiven des StVollzGes. haben wegen
der engeren fiskalischen und personellen Rahmenbedingungen der acht-
ziger Jahre, insbesondere auch wegen der neu aufgetretenen Kapazitäts-
probleme in den Anstalten, ihren Schwung verloren. Andererseits ist
Martinsons für die USA so folgenreicher Slogan „Nothing works"
methodisch widerlegt4; der Norweger Mathiesen hat seither die Kassan-
drarolle übernommen5. Zum Versickern der Initiativen zur Reform des
kustodialen Systems haben beide beigetragen. Daß von einer Krise des
Gefängniswesens, der Freiheitsstrafe, ja der Kriminalpolitik überhaupt
gesprochen werden muß, ist allgemeine Meinung6. Allerdings ist man
auch darüber einig, daß die Freiheitsstrafe Teilfunktionen im Sanktio-
nensystem auf unabsehbare Zeit behalten wird7.
Zudem hat die deutsche Strafvollzugswissenschaft seit dem Inkrafttre-
ten des StVollzGes. deutlich positivistische Züge angenommen. Die
Kommentierungen dieses Gesetzes und die Dokumentation und Analyse
der lawinenartig angewachsenen Judikate stehen im Vordergrund. Zur
Stagnation trägt auch die historisch bedingte begriffliche Einengung der
deutschen Strafvollzugswissenschaft auf den Vollzug der freiheitsentzie-
henden Kriminalsanktionen bei. In allen Strafvollzugslehrbüchern und
-grundrissen wird die „Behandlung in Freiheit" ausgespart8. In den
USA, wo der Oberbegriff „correction" lautet, ist das bekanntlich
anders. Es fragt sich, ob diese traditionelle deutsche Stoffein teilung, die
mit unserem juristischen Vorverständnis von Kriminologie und Pönolo-
gie zusammenhängen mag, während in den USA der sozialwissenschaft-
4 Vgl. etwa Kury (Hrsg.), Methodische Probleme der Behandlungsforschung, insbe-

sondere in der Sozialtherapie, Köln u.a. 1983.


5 Vgl. z. B. „The arguments against building more prisons" in N. Bishop (ed.), Scandi-

navian Criminal Policy and Criminology 1980-1985; ferner Hessischer Landtag, Drucks.
11/1443 v. 6 . 9 . 1 9 8 4 , S. 38—40 (Anhörung zur Situation des Strafvollzuges in Hessen).
Ähnlich argumentiert Feltes, ZStVO 1985, 195 ff.
6 Kaiser/KernerlSchock, Strafvollzug, ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1982, 80;Jescheck, ZStW
91, (1979), 1037 ff. Die frühere Staatssekretärin. Hélène Dorlhac bemerkte im Juni 1985
auf einem internationalen Colloquium in Reims : „La crise pénitentiaire est g r a v e . . . Ce
n'est pas une question de droite ou de gauche mais un phénomène de société. La prison a
atteint un point de non retour. L'institution n'est plus adaptée" (Le Monde v. 4 . 6 . 1 9 8 5 ,
P-10).
7 Das wird sogar von der Société internationale de Défense Sociale eingeräumt. Vgl.

„Revision of the Minimum Program of the International Society of Social Defense


(adopted Dec. 1984)" in: Cahiers de Défense Sociale 1984/1985, p.25. - A . M . offenbar
H.J. Schneider, der das Ende der Strafanstalt seit langem voraussagt (so eine Kapitelüber-
schrift in dem von ihm herausgegebenen und mitverfaßten Werk Psychologie des 20. Jahr-
hunderts, Bd. 2, Kriminalität und abweichendes Verhalten, Weinheim/Basel 1983, 323).
8 Kritische Ansätze bisher nur bei Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen
Sanktionensystems, Heidelberg u.a. 1979, 52ff, 59; anders noch ders., in Strafvollzugs-
kunde als Lehrfach und wissenschaftliche Disziplin, Bad Homburg 1969.
Gemeinnützige Arbeit 191

liehe Zugang im Vordergrund steht, angesichts eines international fest-


stellbaren Trends zur Bevorzugung ambulanter Sanktionen nicht all-
mählich anachronistische Züge annimmt.
In den USA und in Skandinavien hängt das zunehmende Desinteresse
an Sozialtherapie innerhalb des stationären Vollzugs bekanntlich - ver-
einfacht formuliert - mit neoklassizistischen Tendenzen zusammen 9 .
Solche Tendenzen sind bei uns nur sektorale Randerscheinungen,
beschränkt auf gewisse White-collar-Delikte wie Drogenhandel, Wirt-
schafts- und Umweltdelikte. Das ist zwar bemerkenswert genug, zumal
hier sowohl einer Wiederbelebung der kurzen Freiheitsstrafe bei durch
Geldstrafe nicht motivierbaren Tätern wie auch des langfristigen Frei-
heitsentzuges (vor allem bei Dealern) das Wort geredet wird, was in
beiden Varianten Auswirkungen auf die Gefangenenpopulation und
deren durchschnittliche Verweildauer hat.
2. Als epochenspezifisch und innovationsträchtig wird jedoch nicht nur
in der Bundesrepublik Deutschland ganz überwiegend der Wandel von
kustodialen zu nichtkustodialen, „ambulanten" Sanktionen angesehen.
Dieser Wandel spiegelt sich in der Statistik10 und in einer bevorzugten
Thematisierung auf kriminologischen Tagungen und im Schrifttum, aber
auch in einer Vielzahl von justizamtlich kontrollierten Diversionspro-
grammen11.
Die Auffassung, stationäre Unterbringung sei „nicht die richtige
A n t w o r t . . . , um soziale Probleme zu lösen", weder im Bereich der
Psychiatrie, der Heimerziehung und der Nichtseßhaftenhilfe, noch bei
Straffälligkeit, entspricht, zumal bei der jüngeren Generation, einer weit

9 Vgl. für die USA insbes. Th. Weigand, ZStW 94 (1982), 801 ff und Herrmann, JZ
1985, 602 ff; für Skandinavien den o. Fn.5 erwähnten von N. Bishop hrsgg. Band; ferner
Antilla, New Trends in Criminal Policy, in: International Penal and Penitentiary Founda-
tion, Bonn 1984, 11 ff.
10 Vgl. die Auswertung von Heinz, ZStW, 94. Bd., 1982, 632 ff. Kennzeichnend für den

statistisch nachweisbaren Wandel des Sanktionsstiles ist auch der starke Anstieg der
Weisungen gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden und die Abnahme des Jugend-
arrestes. Nachweise bei Walter, MSchrKrim. 1985, 69 ff, 83.
11 Selbst auf der VII. Konferenz der Leiter der Strafvollzugsverwaltungen von 19

Mitgliedsstaaten des Europarates im Mai 1985 in Straßburg waren „Measures alternative to


imprisonment... one of the major themes of the meeting... The participants also hoped
that the European Committee on Crime Problems would include among its future
activities the formulation of basic standards governing the administration and implementa-
tion of sentences served outside prisons" (Ezratty in: Council of Europe [Ed.], Prison
Information Bulletin Nr. 5/1985, 1). - Aus dem neueren deutschen Schrifttum zu nicht-
kustodialen (Diversions-)programmen vgl. u.a.: H.Kury (Hrsg.), Ambulante Maßnah-
men zwischen Hilfe und Kontrolle, Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen For-
schung, Bd. 7, Köln u. a. 1985, und in konzentrierter Zusammenfassung: W. Heinz, Neue
Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutsch-
land, in: Festschrift für Hans Heinrich Jescheck, Berlin 1985, 955-976.
192 Günter Blau

verbreiteten Stimmungslage. Hinzu kommt eine allgemeine Institutions-


verdrossenheit, die politisch vor allem von den „Grünen" getragen
wird 12 . Die Kriminalpolitiker dieser Richtung, die u. a. auch in der SPD
ihre Anhängerschaft hat, halten eigentlich nur noch drei Reaktionswei-
sen der „sozialen Kontrolle" auf „soziale Devianz" für verantwortbar:
1. „Radical nonintervention" selbst bei Mehrfachtätern, befürwortet von
denjenigen, bei denen sich die Institutionsverdrossenheit bis zur Ableh-
nung jeglicher äußerer, vor allem staatlicher Intervention steigert 13 ;
2. Diversion 14 und 3. ambulante Alternativen zur Freiheitsstrafe späte-
stens bei deren Vollzug, möglichst aber schon bei der Verurteilung.
3. Begünstigt wird diese Entwicklung sicherlich durch die wachsende
Vorherrschaft des Präventionsgedankens auf Kosten retrospektiver,
tatorientierter Betrachtungsweise auf dem Felde der Strafrechtstheorie.
Welche Implikationen eine alle anderen Strafziele verdrängende, sich
selbst absolut setzende Präventionsphilosophie für die Schuld- und
Tatbestandslehre, aber auch für einen rechtsstaatlichen Strafprozeß hat,
ist kürzlich von Naucke eindrucksvoll dargelegt worden 15 . Freilich hat
das Vordringen von Straf- und Sanktionstheorien mehr utilitaristischen
Zuschnitts tiefere - und wohl irreversible - Ursachen. Absolute Theo-
rien sind in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft unserer Tage
Legitimationsverlusten ausgesetzt. Die hierdurch bedingten neu auftre-
tenden, z . B . sozialwissenschaftlichen Legitimationsbedürfnisse bei der
Androhung, Verhängung und beim Vollzug der Freiheitsstrafe sind
offenbar geistesgeschichtlich und gesellschaftspolitisch unabweisbar.
Der Freiheitsentzug zieht aber bei dieser Argumentationsweise, - die
nicht unbedingt zu einem primitiven Input/Output-Denken verküm-
mern muß, - im Vergleich zu ambulanten Maßnahmen notwendiger-
weise den kürzeren 16 .

12 Eine ausführliche Dokumentation zur rot-grünen Kriminalpolitik in Hessen findet

sich in: Das andere Transparent Nr. 12 / Sept. 1985. S. ferner Maelicke in: O.Sievering
(Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe, Frankfurt/M. 1982, 15 ff.
Auf einem anderen Blatt steht die vom 7. United Nations Congress on the Prevention
of Crime and the Treatment of Offenders im Sept. 1985 in Mailand auch von mir gebilligte
These, daß bei leichterer Jugenddelinquenz „in many cases non-intervention... the best
response" sei (A/Conf. 121 - L 17 Add. 1, page 17).
15 So Janssen in H.J. Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe?, Heidelberg 1983, 15 ff,
54.
14 Vgl. außer den in Fn. 11 Genannten noch Blau/Franke und Herrmann in ZStW 96
(1984), Heft 2, sowie Blau in H. Kury (Hrsg.), Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologi-
schen Forschung, Band 10, Köln u.a. 1975, 311 ff.
15 Naucke, Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, Stuttgart
1985.
16 Vgl. u.a. Hassemer in: Hassemer/Lüderssen/Naucke, Fortschritte im Strafrecht
durch die Sozialwissenschaften? Heidelberg 1983, 39 ff.
Gemeinnützige Arbeit 193

4. Aus dieser Denkweise heraus bemängeln andere Kritiker des „dualen


Sanktionssystems" (Freiheitsstrafe : Geldstrafe), daß bei diesem System
die soziale Dimension zu kurz komme17. Bedenke man die soziale
Aufgabe des Strafrechts, seine friedensstiftende Funktion, und erwäge
man ferner, daß der strafrechtliche Konflikt nicht abstrakt zwischen
Täter und Gesellschaft, sondern meist konkret zwischen zwei beteiligten
Personen entstehe, so müsse auch die strafrechtliche Sanktion nach Art
und Anwendung diesem Zusammenhang Rechnung tragen. Alternativen
zum Freiheitsentzug wie zur Geldstrafe, - und zwar insbesondere die
gemeinnützige Arbeit - würden dieser Aufgabe der Konfliktregulierung
weit besser gerecht18.
Diese Argumentation ist offenkundig von viktimologischen Vorstel-
lungen beeinflußt. Auch die Viktimologie, deren kometenhafter Auf-
stieg noch sozialwissenschaftlicher und möglicherweise tiefenpsycholo-
gischer Deutung bedarf, da er in keinem Verhältnis zum wissenschaftli-
chen Neuigkeitswert dieser Betrachtungsweise steht1', hat somit eben-
falls zur Diskreditierung der täterbezogenen kustodialen Sozialtherapie
wie auch zur Problematisierung der Geldstrafe beigetragen. Daß ambu-
lante Sanktionen, die den Verurteilten entweder in seinem bisherigen
Arbeitsverhältnis belassen oder ihm Arbeitsleistungen zum Nutzen der
Allgemeinheit auferlegen, gelegentlich bessere Möglichkeiten der Opfer-
entschädigung bieten, kann nicht bestritten werden. Allerdings ist zu

17 Vgl. etwa Rössner, Bewährungshilfe 1985, 105 ff; Schädler, ZRP 1985, 185 ff.
" Rössner o. Fn. 17. Zur insoweit in der Tat unbefriedigenden Lage beim Freiheitsent-
zug s. Müller-Dietz, Strafvollzug - Tatopfer und Strafzwecke, G A 1985, 147. Gesichts-
punkte eines Täter-Opfer-Ausgleichs erörtern Rössner und Wulf (Hrsg. und Verf.) in
„Opferbezogene Strafrechtspflege", Bonn 1984, 125 ff.
" Viktimologie als kriminologische Methode ist sicherlich legitim. Es ist auch unbe-
streitbar, daß das herkömmliche Täterstrafrecht erhebliche „viktimologische" Defizite im
Bereich der Tatbestands-, Unrechts- und Strafzumessungslehre, der Opferentschädigung
und der Stellung des Opfers im Strafprozeß aufzuarbeiten hatte (vgl. hierzu u. a. Achen-
bach, Vermögensrechtlicher Opferschutz im strafprozessualen Vorverfahren, in: Fest-
schrift für Günter Blau, Berlin u.a. 1985, 7ff; Arzt, Viktimologie und Strafrecht,
MSchrKrim. 1984, 105 ff, sowie den Sammelband von Janssen/Kerner, Verbrechensopfer,
Sozialarbeit und Justiz, Bonn-Bad Godesberg 1985).
Sozialpsychologisch auffällig ist aber die weit verbreitete Bereitschaft, sich mit dem
Opfer (über-) zu identifizieren. Schien doch bisher die Identifizierung mit dem Täter die
psychologische Regel zu sein als Projektion eigener Wünsche („Es gibt kein Verbrechen,
das ich nicht in meiner Phantasie begehen könnte!"). Auch die Faszination von Kriminal-
romanen und -filmen dürfte auf solchen Projektionen mit beruhen (vgl. H.]. Schneider,
Artikel „Kriminalroman", in: Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., 2. Bd., Berlin
1967). Es mag sein, daß der gegenwärtige Viktimologie-Boom, der das Täter-Opfer-
Versöhnungskonzept als Alternative zur Vergeltungsstrafe in hohem Maße begünstigt hat,
Ausdruck einer sich ausbreitenden Opfermentalität einer Generation ist, die sich immer
wieder als Opfer undurchschaubarer Sachzwänge, „struktureller Gewalt", der Politik der
Supermächte usw. fühlt.
194 Günter Blau

fragen, wie z. B. die „gemeinnützige Arbeit", die nach fast einhelliger


Meinung und Praxis unentgeltlich geleistet werden muß, einer individu-
ellen Opferentschädigung dienstbar gemacht werden soll. Der immer
wieder betonte reparative Charakter dieser Sanktionsform erschöpft sich
letzten Endes denn doch in einer symbolischen Wiedergutmachung an
der Rechtsgemeinschaft. Das Opfer profitiert nur dann davon, wenn der
Täter gleichzeitig in einem bezahlten, durch Strafvollzug nicht unterbro-
chenen Arbeitsverhältnis steht und deshalb Schadensersatz leisten kann;
statistisch ist das aber zur Zeit eher die Ausnahme. Einer von Viktimolo-
gen ins Auge gefaßten einverständlichen Konfliktregelung zwischen
Täter und Opfer20 stehen die nichtkustodialen Sanktionen jedenfalls
nicht unbedingt näher als die kustodialen.
5. Die somit aus verschiedenen Quellen gespeiste Verlagerung wissen-
schaftlicher Reflexion und kriminalpolitischer Aktion von kustodialen
zu ambulanten Reaktionen auf Straffälligkeit kann man geradezu als
Paradigmawechsel i. S. von Thomas Kuhn, zumindest aber als „Paradig-
makonkurrenz" bezeichnen. Wolfgang Keckeisen21 hat für den Bereich
der Kriminologie einen den hier beschriebenen Wandel überlagernden
Wechsel vom ätiologischen zum Kontrollparadigma beschrieben. Die
Parallelen auf dem Felde der Pönologie sind unverkennbar. Die Grund-
annahmen und erkenntnisleitenden Fragestellungen zwischen einer -
noch so liberalen - Gefängniswissenschaft und einer Wissenschaft von
möglichen Interventionen bei sozialer Devianz sind nämlich trotz vieler
Verschränkungen und Überschneidungen deutlich voneinander unter-
schieden, ungeachtet dessen, daß auch die Wissenschaft vom stationären
Vollzug strafrechtlicher Sanktionen ihren Gegenstand in präventions-
rechtlichen und sozialwissenschaftlichen Kategorien zu beschreiben
pflegt, z. B. als intensivsten „staatlichen Einfluß auf die Lernprozesse in
sozialen Interaktionen" (Callies)22. Die sozialen Lernfelder Gefängnis
und „free Community" sind aber so verschieden strukturiert, daß sie
unterschiedliche Problemlösungsmethoden bedingen23.
20 Typisch etwa für diese Richtung Ostendorf, Alternativen zur strafverurteilenden
Konfliktserledigung, ZRP 1983, 302 ff.
21 Keckeisen, Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. Perspektiven
und Grenzen des Labelling approach, München 1974; s. auch Müller-Metz, Allgemeine
Handlungstheorie als Grundlage kriminalsoziologischer Theoriebildung - eine Theoriekri-
tik, Mainzer jur. Diss. 1983, 16 ff.
22 Callies, Theorie der Strafe im demokratischen Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1974,

174 f.
23 „Freiheitsentzug stellt nun einmal im Verhältnis zur bloßen Freiheitsbeschränkung

sowohl von der Eingriffsintensität als auch von den Auswirkungen her ein aliud dar. Dies
gilt selbst dann, wenn man in Rechnung stellt, daß bestimmte Formen des Freiheitsentzu-
ges wie etwa der Freigängervollzug sich in ihren praktischen Konsequenzen Freiheitsbe-
schränkungen annähern können." (Müller-Dietz, Grundfragen, [Fn. 8], 59).
Gemeinnützige Arbeit 195

II.
Der erstaunliche Siegeszug der „gemeinnützigen Arbeit" als Sank-
tionsalternative während der letzten drei Jahre, - unbekümmert um
etwaige strafrechtsdogmatische, prozessuale und rechtsstaatliche Beden-
ken, aber auch kaum berührt von den ungünstigen Rahmenbedingungen
des Arbeitsmarktes, - ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den
epochalen, paradigmatischen Charakter der Interessenverlagerung von
kustodialen zu ambulanten Sanktionen. Anhand dieses Beispiels soll
daher die behauptete Entwicklung verdeutlicht werden.

1. Auffällig ist vor allem, daß eine Sanktion, die in Gestalt des § 2 6 b
StGB a. F. seit langem, freilich nur theoretisch, zum sanktionspoliti-
schen Repertoire gehörte24, sich in so kurzer Zeit von absoluter Bedeu-
tungslosigkeit zu einer Sanktion von Gewicht, wenn auch bisher nur als
Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe bei uneinbringlichen Geldstrafen,
gewandelt hat.
Die Gründe für das Schattendasein des im Jahre 1924 in das StGB
aufgenommenen § 28 b können als bekannt vorausgesetzt werden25. Es
fehlten die Ausführungsbestimmungen der obersten Landesbehörden
(wenn man von einer thüringischen Ausnahme absieht). Die Argumente
für diese bewußte Abstinenz waren u. a. schon in der Begründung zum
Vorentwurf 1909 aufgelistet26. In der NS-Zeit wurde die gemeinnützige
Arbeit „im Dienste der Volksgemeinschaft" dann naturgemäß weiter
diskreditiert. Sie pervertierte in den Lagern zur Zwangsarbeit und in den
Vollzugsanstalten zum möglichst harten Strafschärfungs- und Diszipli-
nierungsmittel.
Nach einigen örtlichen Nachkriegsversuchen, dem § 28 b StGB wieder
Leben einzuhauchen, die sämtlich scheiterten27, wurde die Vorschrift
wieder obsolet. In der Begründung mit E 6 2 heißt es lakonisch:
„Die Möglichkeit der Tilgung einer Geldstrafe durch freie Arbeit, die das geltende
Recht in § 28 b StGB vorsieht, hat der Entwurf nicht aufgenommen. Sie hat in der
Vergangenheit nur ganz geringe praktische Bedeutung erlangt. Ihre Schwierigkeiten
sind wesentlich größer als ihre Vorzüge. Ihre Wiederbelebung ist auch bei Aufrechter-
haltung des geltenden Rechts nicht zu erwarten 2 '."

24 Eingehende Darlegungen bei Michael Pfohl, Gemeinnützige Arbeit als strafrechtliche

Sanktion, Berlin 1983; siehe auch Grebing in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe
im deutschen und ausländischen Recht, Baden-Baden 1978, S. 57 f.
25 Näheres bei Pfohl (Fn.24), 29 ff, 35 f, sowie ders. in Bewährungshilfe 1985, 112 ff.

26 Begründung zum Vorentwurf 1909, 39 ff.

27 Pfohl (Fn.24), S.32.


28 A . a . O . S. 172. Vgl. die eindrucksvolle Aufzählung der deutschen Strafrechtslehrer,

die sich damals gegen freie Arbeit aussprachen, bei Pfohl a. a. O., S. 34 Anm. 71. Gewich-
tige Befürworter waren dagegen Würtenberger, ZStW 64 (1952), 17ff, 28 f und Zip/ZStW
77 (1965), 526ff, 448ff. Weitere Nw. bei Baumann, MonSchrKrim. 1979, 290f.
196 Günter Blau

2. Die aktuelle, bisher nicht abgerissene, aber lange Zeit folgenlose


Diskussion über die gemeinnützige Arbeit als Sanktionsalternative nahm
dann ihren Ausgang von § 52 Abs. 1 des Alternativentwurfs zum AT.
Dort heißt es:
„Auf Antrag des Verurteilten ordnet das Gericht an, daß gemeinnützige Arbeit
insbesondere in Krankenhäusern, Entziehungsanstalten, Altersheimen oder ähnlichen
Einrichtungen ganz oder zeitweise an die Stelle der Geldstrafe tritt, wenn dadurch der
Strafzweck erreicht werden kann. Der Antrag kann auch während der Laufzeit der
Geldstrafe, in der Regel jedoch nur einmal, gestellt werden."
(Es folgen Bestimmungen über die Umrechnung der Tagessätze im Verhältnis 1 : 1 ,
über die Entlohnung und über die Änderungskompetenz des Vollstreckungsgerichts).

Der Bundesgesetzgeber hat diesen Vorschlag nicht aufgegriffen -


jedenfalls nicht in dieser Form - und auch nicht mit dem kriminalpoliti-
schen Ziel des AE, die Geldstrafe in bestimmten Bereichen zu ersetzen.
Allerdings hat er bald danach andere Erprobungsfelder für die gemein-
nützige Arbeit im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung (§§ 56 b
Abs. 2 Nr. 3 StGB, auch i. V. mit § 57 Abs. 1 und Abs. 3) sowie im
Rahmen der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§§59a Abs.2 i.V. mit
§ 5 6 b Abs. 2 Nr. 3 StGB) und im Rahmen der Einstellung gem. § 153 a
Abs. 1 Nr. 3 StPO geschaffen. Sie sind freilich sämtlich im wesentlichen
Papierwerk geblieben29, so daß man nicht sagen kann, sie hätten psycho-
logisch und organisatorisch den Boden für die Akzeptanz einer Sank-
tionsalternative „gemeinnützige Arbeit" bereitet.
3. Das gilt bis in die jüngste Zeit auch für die im Jugendstrafrecht in sehr
viel weiterem Umfang möglichen und auch praktizierten Arbeitsweisun-
gen. Zahlreiche Vorschriften (§§23 Abs. 1, 29, 88, 45, 47, meist in
Verbindung mit §10 Abs. 1 Nr. 4 J G G ) ermöglichen bekanntlich
Arbeitsweisungen durch Richter und Jugendstaatsanwalt. Obwohl das
Jugendstrafrecht immer wieder und auf vielen Gebieten „Trendsetter"
des Erwachsenenstrafrechts gewesen ist, war eine Ausstrahlung auf das
Sanktionensystem des StGB lange Zeit nicht zu beobachten. Erst die in
München Anfang der achtziger Jahre begonnenen „Brücke"-projekte
zur Vermeidung von Geldbußen und Jugendarrest und vor allem deren
ausführliche Dokumentation und Evaluation durch Christian Pfeiffer30
scheinen das sanktionspolitische Klima allgemein beeinflußt zu haben.
Aber das gehört schon zum Phänomen des plötzlichen Meinungsum-
schwunges.
4. Angelpunkt dieses Meinungsumschwunges wurde im Jahre 1974 der
Art. 293 EGStGB. Er war das Ergebnis eines Kompromisses31. Eine
29 Pfohl a . a . O . , S.68, 75, 84.
30 Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, Köln u.a. 1983, 141-199.
31 Schäfer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufl. 1977, Rdn.6 zu § 4 5 9 e .
Gemeinnützige Arbeit 197

Aufnahme in das StGB verbot sich nach den enttäuschenden Erfahrun-


gen mit § 28 b. So wurde an verborgener und kaum systemgerechter
Stelle eine Experimentierklausel geschaffen, um den Ländern die Chance
zu eröffnen, uneinbringliche Geldstrafen durch freie Arbeit zu tilgen.
Die Länder haben diesmal diese Chance, wohl entgegen der Erwartung
des Bundesgesetzgebers, ergriffen und seit August 1984 sämtlich Rege-
lungen getroffen, die jedenfalls eine Erprobung der neuen Sanktions-
form erlauben und rechtlich absichern.
Vorbereitet und gefestigt wurde dieser Umschwung vornehmlich
durch Ministerialjuristen32 oder Strafrechtslehrer mit Ministerialpraxis33,
aber auch durch Strafrechtswissenschaftler mit speziellen auslandsrecht-
lichen Kenntnissen, die dann auch rechtsvergleichend argumentierten
und informierten34.
Zu den besonders engagierten Befürwortern der gemeinnützigen
Arbeit (g. A.) gehörte - neben dem unermüdlichen Baumann, der auf die
relativ erfolgreiche Berliner Verordnung vom 25.4.1978 aus der Zeit
seiner Tätigkeit als Berliner Justizsenator verweisen konnte - vor allem
Roxin als Mitverfasser des AE. Im Rahmen seiner 1980 veröffentlichten
„10 kriminalpolitischen Thesen" 35 vertrat er unbekümmert um den
damals scheinbar offenkundigen Mißerfolg des Vorschlags der AE-
Professoren die Meinung, dieser Vorschlag sei heute „aktueller denn je";
kein modernes StGB sollte auf einen Versuch mit dieser Strafe ver-
zichten.
Retardierend wirkten demgegenüber andere gewichtige Stimmen aus
Praxis und Wissenschaft, die meistens unter Hinweis auf die Totgeburt
des § 2 8 b StGB a. F., aber auch auf die anfänglichen Mißerfolge mit der
Hamburger Verordnung vom 3.12.1968 (i. d. F. vom 15.4.1975) 3 ' die
Praktikabilität der Alternative „g. A." bezweifelten. An erster Stelle
steht hier als einflußreicher Kommentator Herbert Tröndle, der noch

J2 Schädler, ZRP 1983, 5 ff; 1985, 185 ff; Zimmermann, Bewährungshilfe, 1982, 113 ff;
Krieg u.a., MSchrKrim. 1984, 25ff; Best in Steinhilper (Hrsg.), Soziale Dienste in der
Strafrechtspflege, Heidelberg 1984, 209 ff. Wichtige Impulse gingen auch von einer Tagung
der evangelischen Akademie Hofgeismar im März 1984 aus, auf der ein Erfahrungsaus-
tausch der jeweiligen Fachvertreter der Bundesländer stattfand.
33 Vgl.J. Baumann, insbes. in MSchrKrim. 1979, 290 ff.
34 Vgl.yescheck und Grebing in Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen

und ausländischen Recht, Baden-Baden 1978, die freilich einer deutschen Regelung eher
zurückhaltend und skeptisch gegenüberstehen; ferner Huber, J Z 1980, 638 ff; Roxin, J A
1980, 221 und 545 ff; Kreuzer, Soziale Arbeit 1985, 490 ff; s. auch Schädler, ZRP 1983,
S. 6, dort die Anm. 5 - 9 . - Wichtige Beiträge ohne diese rechtsvergleichende Dimension
stammen von Bemmann, Festschrift für Schaffstein, 1975, 211 ff; Rolinski, MSchrKrim.
1981, 52 ff [61] und vor allem Schall, NStZ 1985, 104 ff.
35 J A 1980, 545 ff [550],

36 Vgl. hierzu Grebing, (Fn.34), 141 F n . 6 1 7 a ; Zimmermann, (Fn.32).


198 Günter Blau

1985 in der 42. Auflage seines StGB-Kommentars (Rdn. 8 zu §43) unter


Hinweis auf seine nicht minder negativen Darlegungen im Leipziger
Kommentar37 der g. A. keinerlei Chancen einräumt. Ablehnend verhielt
sich auch Stree38, der vor allem verfassungsrechtliche Gründe geltend
machte.
Weniger kontrovers entwickelte sich die Lehrbuchliteratur. Aus ihr
läßt sich spiegelbildlich ablesen, wie abrupt das Meinungsklima umge-
schlagen ist. Während Jescheck39 der Tilgung uneinbringlicher Geldstra-
fen durch freie Arbeit noch jede praktische Bedeutung abspricht, halten
Maurach/Gössel/Zipf° die freie Arbeit immerhin für wünschenswert;
die bisherigen Erfahrungen seien allerdings alles andere als ermutigend.
Ihm gegenüber können Baumann/Weber41 schon darauf verweisen, daß
inzwischen fast alle Bundesländer von der ihnen durch den Bundesge-
setzgeber eröffneten Möglichkeit, uneinbringliche Geldstrafen durch
freie Arbeit zu tilgen, Gebrauch gemacht haben42.
Daß es darüber hinaus im linken, besonders im grünen Spektrum auch
entschiedene Gegner der gemeinnützigen Arbeit aus ganz anderer Moti-
vation gibt, kann nicht überraschen43. Helmut Janssen spricht geradezu
von einer Perversität des Schlagwortes „Arbeit statt Strafe".
5. Die Entwicklung ist offensichtlich über alle diese Bedenken hinweg-
gegangen. Ähnlich wie schon im Falle des § 1 5 3 a StPO hat sich die
Praxis dieser auf dem Felde der Theorie noch unausgegorenen und
kontrovers diskutierten Neuerung in einem Ausmaß bemächtigt, das der
Bundesgesetzgeber kaum vorausgesehen haben dürfte.
Von den in den einzelnen Ländern praktizierten Modellen43' ist das
hessische44 wohl am besten dokumentiert45. Es scheint auch am erfolg-
reichsten zu sein. Das vorrangige Ziel der Justizverwaltung, die Kapazi-
tätsnöte der hessischen Justizvollzugsanstalten dadurch zu lindern, daß

37 10. Aufl., 1978, Rdn. 9-11 zu §43.


3» Schönke/Schröder/Stree, 21. Aufl. 1982 Rdn. 15 zu § 56 b StGB.
39 Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, 631.

40 Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1984, Teilband 2, S.468.

41 Allgemeiner Teil, 9. Aufl., Bielefeld 1985, 608 f.

42 Meist durch Rechtsverordnung, aber auch innerhalb der Gnadenordnungen. Uber-

sicht bei Krieg u.a. MSchrKrim. 1984, 25ff und Schall, (Fn.34).
43 Vgl. etwa Voss bei der öffentlichen Anhörung zur Situation des Strafvollzugs in

Hessen vom 7 . 9 . 1 9 8 4 , Hessischer Landtag, Drucksache 11/1443, S. 17, 18; ders. KrimJ
1984, 244 sowie H.Janssen in: Kerner (Hrsg.), Diversion statt Strafe?, Heidelberg 1983.
Der detaillierteste Überblick über die Ländermodelle findet sich bei Claus Fuchs,
Der Community Service als Alternative zur Freiheitsstrafe, Pfaffenweiler 1985, 318-356.
44 Hess. GVB1. I 1981, 293 (VO v. 20.8.1981).

45 Insbes. von Schädler und Zimmermann, oben Fn. 32. - S. auch die Antwort des
Mdjustiz auf eine große Anfrage der SPD im Hessischen Landtag, Hess. JMB1. 1985,
565-573.
Gemeinnützige Arbeit 199

weniger Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt werden, daß aber zumindest die


durch die Arbeitsmarkt- und damit Einkommenskrise bedrohlich anstei-
gende Zahl sinnloser und schädlicher kurzer (Ersatz-)Freiheitsstrafen -
durchschnittliche Länge etwa 30 Tage46 - stagniert, ist in bemerkenswer-
tem, wenn auch noch nicht voll zufriedenstellendem47 Umfang erreicht
worden.
Nach einjähriger Laufzeit des zunächst auf zwei Landgerichtsbezirke beschränkten
Projektes waren bereits 3937 Tage Ersatzfreiheitsstrafe abgewendet worden. Seit
1.10.1983 ist in allen Landgerichtsbezirken gemeinnützige Arbeit nach Art. 293 e
EStGB möglich. Ständig stehen seither etwa 500 Verurteilte „in Arbeit". Daraufhin
haben bis zum 3 0 . 1 0 . 1 9 7 4 insgesamt 1536 Verurteilte ganz oder teilweise ihre Geld-
strafe abgearbeitet und sich 29 829 Tage Ersatzfreiheitsstrafe erspart. Weitere 38072
Tage Ersatzfreiheitsstrafe wurden durch Zahlungsvereinbarungen, meist vermittelt
durch die in diesen Verfahren eingeschalteten Gerichtshelfer, abgewendet. Hochge-
rechnet bedeutet das die Ersparnis von bis zu 150 Haftplätzen pro Jahr 48 .

Als weiterer Erfolg wird ferner ein durch positive Erfahrungen mit
Art. 293 EGStGB bewirkter Wandel des Sanktionsstiles der Richter und
Staatsanwälte bei Einstellungen nach § 153 a StPO, bei Arbeitsauflagen
nach § 56 b Abs. 2 Nr. 3 StGB und nach Verwarnung mit Strafvorbehalt
(§§59, 59a i.V. mit § 5 6 b Abs.2 Nr.3 StGB) gewertet. Daß diese
Fernwirkung des Art. 293 auch Gefahren birgt, daß nämlich der in
anderem Zusammenhang viel diskutierte Widening-the-net-Effekt ein-
treten kann, wird z. B. von Schädler ausdrücklich eingeräumt.
Sowohl in Hessen wie auch in Niedersachsen werden diese Erfolge auf
die weitgehende Beteiligung von zur Zeit 1250 gemeinnützigen Organi-
sationen und auf die Einschaltung von Gerichtshelfern bei der Vermitt-
lung eines Beschäftigungsverhältnisses, aber, wie erwähnt, auch beim
Zustandekommen von Ratenzahlungsvereinbarungen, zurückgeführt.
Das Spektrum der Einsatzstellen reicht von Altenpflege und Behinder-
teneinrichtungen, Kindergärten und Jugendzentren bis zu Tierheimen,
Forstämtern, Museen und Feuerwehren. Dabei wird streng darauf
geachtet, daß der Arbeitsmarkt nicht weiter belastet wird und nur solche

« Vgl. Heinz, ZStW 94 (1982), 632ff (657ff).


47 Nach Schädler, ZRP 1982, 7, war die Anzahl der Strafantritte zur Verbüßung von

Ersatzfreiheitsstrafen in den Bundesländern im Jahre 1981 durchschnittlich um 11,78%


gestiegen bei gleichbleibenden Geldstrafenverurteilungen. Vgl. ferner die Stichtagbele-
gungsberechnungen bei Schädler, ZRP 1985, 186, Anm.37, 38. Vom 1.3. bis 3 1 . 8 . 1 9 8 4
mußten andererseits immerhin noch 324 Verurteilte ihre Ersatzfreiheitsstrafe antreten.
Schädler stellt resigniert fest, die g. A. versage bei Arbeitsunfähigen und bei Wohnsitz-
losen.
48 Nach Schädler ZRP 1985 a . a . O . Die Vergleichszahlen für Niedersachsen (drei
Landgerichtsbezirke) lauten: Ersparnis von 11 598 Hafttagen in neun Monaten; für Bre-
men: ca. 7000 Häftlinge pro Jahr (nach Schall, [Fn.34], S. 106).
200 Günter Blau

Arbeiten zugeteilt werden, „die zwar nützlich und aus sozialer Sicht
erforderlich sind, aber ansonsten nicht erledigt würden"4'.
6. Die Perspektive, die sich aus den bisherigen erfolgreichen Versuchen
mit der gemeinnützigen Arbeit als Surrogat der Ersatzfreiheitsstrafe
ergibt, ist die des AE: Gemeinnützige Arbeit als im StGB zu veran-
kernde Primärsanktion50, und zwar zur Disposition des Angeklagten
wahlweise neben Geldstrafe, da auf die Zustimmung des Betroffenen
nicht verzichtet werden kann51. Zumindest muß aber eine bundesweite
Surrogatlösung als kriminalpolitisch überfällige und zugleich reanimie-
rende Bereicherung unseres strafrechtlichen Sanktionensystems in das
StGB integriert werden, da die von Land zu Land divergierenden
Umrechnungskurse und die in einzelnen Ländern nur partielle (auf
einige Landgerichtsbezirke beschränkte) Anwendung rechtsstaatlich
unerträglich ist.

III.
Es erscheint ratsam, vor abschließenden Bemerkungen zu dem Für
und Wider dieser Entwicklungstendenzen und Reformvorschläge noch
einige vergleichbare europäische Modelle in die Betrachtung einzubezie-
hen; nicht nur weil die Rechtsvergleichung das Problembewußtsein
stimulieren und den „Lösungsvorrat" erweitern kann, - eine mittler-
weile schon triviale Feststellung! - , sondern weil der erstaunliche Auf-
schwung der Sanktionsalternative „gemeinnützige Arbeit", von dem hier
die Rede ist, ohne ein bestimmtes ausländisches Vorbild, den britischen
Community Service, kaum verständlich ist.
1. Die offenkundige Praktikabilität dieser im Jahre 1972 zunächst expe-
rimentell, ab 1974 in ganz England und Wales eingeführten Sanktionsal-
ternative52 - trotz einer im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland
noch größeren Arbeitslosigkeit in ihrem Anwendungsbereich - hat die
Befürworter der g. A. zweifellos ermutigt und mit Argumenten ver-
sehen.
49 So Schall, (Fn. 34).
50 Ebenso Albrecht, MSchrKrim. 1981, 265 ff (271); Kreuzer, o. Fn.34; einschränkend
Schall, oben Fn. 34, S. 111; eher skeptisch auch G. Kaiser in Brüsten u. a. (Hrsg.),
Entkriminalisierung, Opladen 1985, 177 ff.
51 So überzeugend Schall, (Fn.34); a.M. Pfohl, (Fn.24).
52 Criminal Justice Act, 1972 und Powers of Criminal Courts Act, 1974. Ausführliche

deutschsprachige Beschreibung und Wertung bei Barbara Huber JZ 1980, 638 ff; Grebing
in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht,
Baden-Baden 1978, 1227; Jescheck in Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre
Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, Baden-Baden 1984, 2124 ff; Pfohl,
(Fn. 24), S. 122 ff; Klaus Fuchs, Der Community Service als Alternative zur Freiheitsstrafe,
Pfaffenweiler 1985; auch Schädler ZRP 1985, 6, bezeichnet den c.s. als Vorbild.
Gemeinnützige Arbeit 201

Dabei waren die Ziele der deutschen Kriminalpolitiker, wie dargelegt,


viel bescheidener: in England alternative Primärsanktion für alle Taten,
die mit zeitiger Freiheitsstrafe bedroht sind; bei uns nur Sekundärsank-
tion zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen; in England organisato-
rische Selbständigkeit einer Community Service Office, in der Bundesre-
publik Deutschland Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde unter
regional mehr oder minder häufiger Einschaltung von Gerichtshelfern
(Sozialarbeitern); in England Maximaldauer von 240 Arbeitsstunden; in
der Bundesrepublik Deutschland (Hessen) bis zu 2160 Stunden. Uber-
einstimmend wird in beiden Rechtsordnungen die Einwilligung des
Betroffenen verlangt; in England kann er sich nach einer ihm vorgelegten
Liste den Arbeitsplatz sogar selbst aussuchen. Auch dort ist die Arbeit
unentgeltlich zu leisten (anders der AE!). Effizienter und auf einem
höheren Organisationsniveau ist in England die prekäre Frage der
Aufsicht bei der Arbeit geregelt. Bleibt der Verurteilte trotz Abmahnung
hartnäckig der Arbeit fern, werden in England bei Gericht sog. Breach-
Proceedings eingeleitet, die auf Geld- oder Freiheitsstrafe hinauslaufen
können. In einem Viertel der Fälle werden solche Nichterfüllungs-
Sanktionen verhängt. Während des Vollzugs der Community Service
Order (CSO) wurden nur 10% der Verurteilten wieder straffällig. Die
Rückfallquote nach ihrer Beendigung ist aber relativ hoch (ca. 44 %); der
Resozialisierungseffekt hält sich also in Grenzen, obwohl immer wieder
betont wird, daß der CS den - meist arbeitslosen - Verurteilten dazu
verhilft, neue Fähigkeiten zu entwickeln und Anerkennung innerhalb
der Gemeinschaft zu finden. Interessant ist die quantitative Dimension:
Im Jahre 1980 betrug der Anteil der CSO an allen verhängten Kriminal-
strafen bereits 4 % , d. h. von 456000 verhängten Kriminalstrafen laute-
ten 22 000 auf CSO 53 .
Die Vorzüge und Mängel des CS sowie die Frage, welche Lehren für
die deutsche Kriminalpolitik aus dem britischen Beispiel zu ziehen sind,
ob die g. A. insbesondere zur Primärsanktion umgewandelt werden
sollte, sind im deutschen Schrifttum so ausführlich und detailliert erör-
tert worden, daß hier darauf verwiesen werden kann. Sicher ist es
richtig, daß der Community Service weit tiefer im Sozialleben des
Landes verwurzelt ist als ähnliche Einrichtungen bei uns (Huber) oder
etwa auch in den Niederlanden. Auch „Volonteers" haben bei uns keine
so ausgeprägte Tradition. Trotzdem ist der CS, vielleicht mehr im
organisatorischen Detail als im Gesamtkonzept, eine Fundgrube für
deutsche Kriminalpolitiker auf der Suche nach Alternativen zur Frei-
heitsstrafe.

" Vgl. zu allem Vorhergehenden insbesondere Huber, (Fn. 52) und Pfohl, (Fn.24),
122-148.
202 Günter Blau

2. Mutatis mutandis könnte das sogar für die bemerkenswerte und


detailreiche polnisch e Regelung der Art. 33 §2 N r . 2, Art. 34, 35 polni-
sches StGB, Art. 113-124 polnisches VollstreckungsG - beide vom
19.4.1969 - gelten54. Danach kann dem Verurteilten im Rahmen einer
Freiheitsbeschränkungsstrafe die Verpflichtung auferlegt werden, ihm
gerichtlich zugewiesene gemeinnützige Arbeiten auszuführen. Die Nei-
gung, sich am Modell eines sozialistischen Landes zu orientieren, ist bei
uns freilich aus naheliegenden Gründen gering. Anklänge an die
Zwangsarbeit im Archipel Gulag sind unvermeidlich, wenn sie auch im
Falle Polens offenbar nicht gerechtfertigt sind. Auch hat die „Arbeit für
den Sozialismus" nach marxistisch-leninistischem Selbstverständnis
einen anderen Stellenwert als in unserem System55. Praktische Erfahrun-
gen mit der polnischen Regelung (1978: 11 089 Fälle)56 - z. B. mit dem
Gericht als Vollstreckungsbehörde, der Auswahl der Arbeiten durch das
Gericht, die rechtliche Gleichstellung mit einem befristeten Arbeitsver-
trag, Berichtspflicht der Arbeitsbetriebe, Beschlußverfahren bei Arbeits-
verweigerung mit Rechtsmittelzug, Teilerlaß der Arbeitsverpflichtung
auf Antrag usw. - sind gleichwohl nicht ohne Interesse. Als Hauptman-
gel wird von polnischen Strafrechtlern die geringe Effizienz der Aufsicht
bei Arbeitszuweisung empfunden; der zweiten Erscheinungsform der
Freiheitsbeschränkungsstrafe: Lohnabzug am gewohnten Arbeitsplatz
(Art. 34 §2 poln. StGB) wird daher immer mehr der Vorzug gegeben57.
3. Kaum bekannt ist bisher das französische Modell des „Travail d'inté-
rêt général" (TIG), in Kraft seit dem 1.1.1984 58 . Auch hier hat der
britische Community Service Pate gestanden59.
Die neue Sanktion darf nicht verwechselt werden mit den „Travaux
54
Siehe Geilke, Der polnische Strafkodex, Berlin 1970 und Lammich, Das polnische
Strafvollstreckungsgesetzbuch, Berlin / N e w York 1981.
55
Vgl. etwa: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der D D R (Hrsg.), Straf-
recht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. Berlin (Ost) 1978, S.487f unter Hinweis auf Marx/
Engels, Werke, Bd. 19, Berlin (Ost) 1962 S.32.
56
Zur polnischen Arbeitsstrafe vgl. u.a. Gaberle-Weigend, MSchrKrim. 1980, 82ff
(93 f); Lammich, Einleitung zu Das polnische Strafvollstreckungsgesetzbuch, Berlin 1981,
13 ff; ders., ZStVO 1981, 94 ff; ders., MSchrKrim. 1981, 82 ff; ferner Jescheck in: Jescheck
(Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, Baden-Baden, 1984, 2124. Zur Geschichte
der poln. Arbeitsstrafe Wasik in Festschrift für G.Blau, 1985, 599ff (605).
57
Persönliche Mitteilung von Prof. Ratajczak, Posen; s. auch ders. in Festschrift f.
G.Blau, S.537ff (550).
58
Journal Officiel vom 6.10.1983. Einfügung der Artikel 43-3-1 bis 43-3-5 in den code
pénal, der Artikel 741-1 bis 747-7 in den code de procédure pénale. Kurze Erwähnung bei
Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, (Fn. 56), 2129 und bei Margret Spartiol,
Landesbericht Frankreich in: Eser/Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa,
Freiburg/Br. 1985, 263 f.
5
' So ausdrücklich Pinatel, Revue Internationale de Criminologie et de Police technique
1984, 464.
Gemeinnützige Arbeit 203

d'utilité collective" ( T U C ) , ein seit dem 1 . 7 . 1 9 8 5 erweitertes staatliches


Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramm für jugendliche Arbeits-
lose60.
Das Hauptziel der neuen Sanktionsalternative T I G ( = Verurteilung
zu gemeinnütziger Arbeit) ist auch in Frankreich das Zurückdrängen
von als schädlich erkannten kurzen Freiheitsstrafen und damit eine
Verringerung der Übervölkerung der Gefängnisse.
Trotz der letzten Reformen, durch die vor allem die Zahl der U-Häftlinge durch
Einschränkung der Voruntersuchung und strengere Haftbefehlsvoraussetzungen
gesenkt wurde und trotz der üblichen Jahresamnestie zum 14. Juli waren die französi-
schen Gefängnisse am 1.8.1985 immer noch zu 1 1 8 % überbelegt (38553 Strafgefan-
gene und 19 209 U-Häftlinge). Etwa ein Drittel der Freiheitsstrafen belief sich auf
weniger als 1 Jahr. Dabei bereitet der große Anteil jugendlicher Insassen besondere
Sorge. In der Zeit von 1951 bis 1983 hatte sich die Zahl der jugendlichen Gefangenen bis
zu 18 Jahren (ohne Altersuntergrenze!) - verfünffacht. 1984 zählte diese Gruppe 5700
Personen, davon 1322 unter 16 Jahren. 8 5 % von ihnen waren U-Häftlinge gegenüber
ca. 50 % der erwachsenen Gefangenenpopulation. 40 % der jugendlichen Gefangenen
waren Ersttäter".
Das praktische Bedürfnis, Alternativen zum Freiheitsentzug zu schaf-
fen, war und ist in Frankreich daher noch sehr viel dringender als bei
uns; - und dies, obwohl das Institut der Ersatzfreiheitsstrafe für unein-
bringliche Geldstrafen in Frankreich nicht existiert. Die aus der zivil-
rechtlichen Zwangsvollstreckung stammende Erzwingungshaft („con-
traint par corps"), Art. 749 C. p. p. ist keine Kriminalstrafe62.
Die T I G konnte somit nur als Haupt- oder Nebenstrafe konzipiert
werden, nicht als subsidiäre Ersatzsanktion.
Der Gesetzgeber sah zwei Varianten vor: T I G kann entweder als
selbständige Hauptstrafe oder als Auflage bei Strafaussetzung (sursis)
verhängt werden. Im einzelnen gilt folgendes:
Nach A r t . 4 3 - 3 - 1 C . p . p . ( n . F . ) kann gegen einen Angeklagten,
dessen kriminelle Vorbelastung gewisse Obergrenzen nicht überschrei-
tet, unbezahlte gemeinnützige Arbeit zugunsten bestimmter öffentlicher
Organisationen, Kommunen oder Vereinigungen von mindestens 40

60 Ausführlicher Bericht von George Valance in: Le Nouvel Observateur vom


10.5.1985, 90-94; siehe ferner Le Monde vom 4.6.1985, Le Matin vom 9.6. und
13.6.1985 und Le Monde Economique vom 11.6.1985 S. 19.
Zur hier interessierenden travail d'intérêt général vgl. insbesondere Pierre Kramer,
L'inventaire des sanctions pénales in Archives de Politique Criminelle 1984, Nr. 7, 60 ff,
65 ff, ferner Jacques Vérin, Les premières expériences pratiques concernant le travail
d'intérêt général - observations préliminaires; ebenda 1984, 179; siehe auch Vérin, Délin-
quant et victime in: Le Monde Diplomatique, Janvier 1985, 19.
61 Vgl. zu allem Vorhergehenden Le Monde vom 24.5.1985 S. 30 und vom 14. 8.1985

S. 7; ferner Le Matin vom 3.6.1985 und Le Monde vom 27.7.1985 S. 8, dort auch J. M.
Angelini, „Et si on choisissait l'éducation?"
62 Näheres bei Grebing, Landesbericht Frankreich in: Jescheck/Grebing (Hrsg.),
(Fn. 52), S. 435 ff.
204 Günter Blau

und höchstens 250 Stunden verhängt werden. Bei Jugendlichen zwischen


16 und 18 Jahren beträgt das Minimum 20 Stunden und das Maximum
120 Stunden. Der Angeklagte muß zustimmen. Die Sanktion muß
binnen 18 Monaten erfüllt werden. Die Einzelheiten des Vollzugs
bestimmt und überwacht der Vollstreckungsrichter (Juge de l'applica-
tion des peines), bei Jugendlichen der Juge des enfants; er stellt auch eine
Liste der in Betracht kommenden Arbeitsplätze auf (Art. 747-7-1
C. p. p.). Wird T I G als Bewährungsauflage verhängt, gelten die gleichen
Voraussetzungen und Fristen (Art. 747-1-747-7 C.p.p.).
Anders als bei uns scheinen Organisation und Überwachung der g. A.
in Frankreich allerdings noch erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten.
Die Akzeptanz bei den Richtern ist daher noch zwiespältig, z. T. noch
unbefriedigend, teilweise aber auch sehr positiv63. Sie beruht bisher vor
allem auf der Erfahrungsgrundlage von Pilotprojekten in 6 Gerichtsbe-
zirken, die noch vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung durchge-
führt wurden. Auch die z . T . enthusiastisch positiven Voten heben
jedoch hervor, daß personelle Kapazitäten bei den Bewährungsorganisa-
tionen und Vollstreckungsrichtern freigesetzt und finanzielle Hilfe von
den Kommunen und dem Justizfiskus geleistet werden müsse, damit die
neue Sanktion zum festen Bestandteil des richterlichen Repertoires
werden könne64.
In dem ersten zusammenhängenden Erfahrungsbericht zieht Jacques
Vérin eine durchaus positive Bilanz65. Der Verurteilte werde aus seinen
Egoismen herausgerissen. Aber auch die Justiz löse sich aus ihrer
Isolation. T I G werde zum Gemeinschaftswerk von Bürgern, Kommu-
nen, gemeinnützigen Vereinigungen, Bewährungshelfern und Justiz; ein
neuer Geist sei spürbar. Wichtig sei aber die Auswahl geeigneter Fälle.
So seien Drogenabhängige, Alkoholiker und sozial schwer Behinderte
nicht geeignet. Auf eine Enquête sociale vor der Verurteilung dürfe
daher nicht verzichtet werden. - Die Maßnahme wurde bisher - nach
Vérin - bei leichterer und mittlerer Kriminalität vornehmlich gegenüber
Jungerwachsenen (18-25-Jährigen), überwiegend Ersttätern, die in ihrer
Mehrzahl arbeitslos waren, angewandt. Die verhängten Arbeitsstunden
bewegten sich im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens. - Die
Arbeitsbeschaffung erwies sich, wie schon angedeutet, oft als prekär.
Dabei sei eine prompte und persönlichkeitsgerechte Arbeitsvermittlung,
- die im wesentlichen Sache der Comités de probation et d'assistance aux
libérés ( = „CPAL") ist - eine entscheidende Voraussetzung für die
Akzeptanz der Maßnahme durch den Verurteilten und das Gericht.

63
Pinatel, (Fn.59), 472 f; ebenso Kramer, (Fn.60) S.66.
M
Vérin, (Fn. 60) in Archives . . . , S. 184 f.
65 Vergleiche sein Plädoyer für TIG in Le Monde Diplomatique, (Fn. 60).
Gemeinnützige Arbeit 205

Die Palette der möglichen Tätigkeiten, die Vérin anführt, bereichert


die im deutschen Schrifttum genannten um einige Varianten: so das
Entfernen wilder Plakate oder Sgraffiti, Hilfeleistungen für einen Verein
zur Betreuung von Verbrechensopfern, Ordnung einer öffentlichen
Bibliothek u. ä. und immer wieder Maßnahmen des Umweltschutzes.
Uneinheitlich sei noch die Aufnahme der TIG-Verurteilten durch die
„freien" Arbeitskollegen. Freundlichem Empfang stünden auch selte-
nere Fälle gegenüber, in denen der TIG-Arbeiter isoliert worden sei.
Der enge Kontakt der CPAL-Sozialarbeiter und der Vollstreckungsrich-
ter mit allen Betroffenen habe jedoch bereits Vorurteile beseitigt. Bei den
gemeinnützigen Einrichtungen, insbesondere den Kommunen, müsse
man freilich darauf achten, daß sie nicht zu viel Geschmack an den
billigen Arbeitskräften des T I G bekämen.
Zukunftsperspektiven biete T I G jedoch nur, wenn Betreuung und
Kontrolle gewährleistet seien. Andernfalls würden die Richter von der
neuen Sanktion keinen Gebrauch machen. Das setze eine spürbare
Vermehrung von Sozialarbeiterplanstellen bei den CPAL, aber auch von
Richterstellen bei den Vollstreckungsgerichten voraus. Bei Nichtver-
mehrung oder gar Verminderung der Sozialarbeiterstellen aus fiskali-
schen Gründen drohe eine diametral entgegengesetzte Entwicklung: die
Verdrängung der mit sozialem Betreuungsaufwand verbundenen Straf-
aussetzung zur Bewährung durch Verurteilungen zu der vermeintlich
weniger aufwendigen T I G . Nicht kurze Gefängnisstrafen, wie beabsich-
tigt, sondern leichtere Sanktionen würden dann substituiert.
IV.
Der Uberblick zeigte, daß die bisher im In- und Ausland vornehmlich
diskutierten praktischen Schwierigkeiten beim Vollzug der Sanktionsva-
riante g. A. nach wie vor Gewicht haben, aber wider Erwarten relativ
gut bewältigt werden konnten. Die bisher eher spärlichen strafrechts-
dogmatischen Überlegungen zu dem Gesamtkomplex ambulanter Sank-
tionen und speziell der g. A. bedürfen jedoch dringend der Vertiefung.
Sie kann im Rahmen dieses Beitrags nicht einmal ansatzweise geleistet
werden. Nur einige verfassungsrechtliche Fragen sollen noch aufgewor-
fen werden:
1. Die Verfassungsmäßigkeit der Sanktion „g. A." ist bisher, soweit
ersichtlich, fast ausschließlich im Hinblick auf Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3
G G geprüft worden66, nur am Rande auch bzgl. Art. 4, 9 GG 67 .
66 Vgl. Pfohl, (Fn. 24), S. 149 bis 155, ferner die Begründung zum A E AT S. 105. Z. Z.

ist beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde wegen der behaupteten Verfassungswidrig-


keit (Art. 12 Abs. 2 GG) einer jugendrichterlichen Weisung, 16 Stunden Hilfsdienste zu
leisten, anhängig (vgl. Kreuzer, o. Fn. 34, 492, 494).
67 Pfohl, (Fn. 24), 155, 59, 88 f.
206 Günter Blau

Einigkeit herrscht darüber, daß von Zwangsarbeit i. S. v. Art. 12


Abs. 3 solange keine Rede sein könne, als der Gesetzgeber die Verhän-
gung der Sanktion von der Einwilligung des Betroffenen abhängig
macht. Wie dargelegt, hält sich der deutsche - ebenso wie der englische
und französische - Gesetzgeber in allen Fällen an diese Bedingung, in
denen g. A. als Subsidiärsanktion (Art. 293 EGStGB) oder als Quasi-
sanktion (§ 153 a StPO) zur Disposition des Richters oder Staatsanwalts
gestellt wird. Kontrovers ist dagegen die Frage, ob die vom Einwilli-
gungserfordernis ausgenommenen Arbeitsauflagen (§ 56 b Abs. 2 Nr. 3;
nicht dagegen §56b Abs. 3 StGB) im Rahmen einer Strafaussetzung
verfassungskonform sind. Stree bezweifelt das mit guten Gründen68.
Nicht viel weniger prekär ist die Problematik bei jugendstrafrechtlichen
Weisungen gem. § 10 Abs. 1 Nr.4 (auch i.V. mit §45) JGG, aber auch
im Falle des § 98 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, der es dem Jugendrichter gestattet,
auf Antrag der Vollstreckungsbehörde oder von Amts wegen den
Jugendlichen oder Heranwachsenden (§98 Abs.3) u.a. aufzuerlegen,
anstelle der Geldbuße einer Arbeitsauflage nachzukommen. Eines Ein-
verständnisses des Jugendlichen oder Heranwachsenden bedarf es nicht.
Mit der Annahme einer beschränkten Grundrechtsfähigkeit der Jugend-
lichen wird man zumindest bei Heranwachsenden nicht weiterkom-
men69. Bei der eigentlichen Arbeitsweisung (§10 Nr. 4 JGG) wird bisher
vor allem auf den pädagogischen Gehalt als Zulässigkeitsvoraussetzung
abgestellt. Nur Schaffstein70 verweist neuerdings auch auf die allgemei-
nen verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese Bedenken gewinnen an
Gewicht, falls die Arbeitsauflage nach Maßgabe des Referentenentwurfs
zum ersten JGG-Anderungsgesetz71 in § 15 J G G verankert werden
sollte, weil dann auch der graduierbare Unrechtsausgleich in die Zumes-

68 Zuletzt in: Schönke/Schröder/Stree, 21. Aufl. 1982 Rdn. 14 bis 16 zu § 5 6 b ; ebenso

schon früher Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, Neuwied 1963, 62 f; siehe


auch O L G Hamburg N J W 1969, 1780. Anders wohl die h.M. vgl. Jescheck, Allgemeiner
Teil, 3. Aufl. Berlin 1978, S.680, Anm.34. Unentschieden Maurach/Gössel/Zipf, Allge-
meiner Teil, Teilband 2, 1984, Rdn. 42 zu § 6 5 .
69 So richtig Pfohl, (Fn.24), S. 150, zweifelnd bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der

Weisung nach § 1 0 Nr. 3 J G G auch Schaffstein, Jugendstrafrecht, 8. Aufl., S. 73, weil das
Grundrecht der freien Berufswahl angetastet werde; ebenso Eisenberg, J G G , 1982,
Rdn. 19 zu § 10; Brunner, J G G , 7. Aufl., 1984, Rdn. 3, 6, 9, 10 zu § 10.
70 In: Festschrift für Hans Heinrich Jescheck, Berlin 1985, 952. S. auch 7. U . N . -

Kongreß, (Fn. 12), p. 17: „Any diversion involving referral to appropriate community or
other services shall require the consent of the juvenile, or her or his parents or guar-
dian . . . " Im Kommentar hierzu heißt es: „Diversion to community service without such
consent would contradict the Abolition of Forced Labour Convention".
71 BMJ - 4212/2-7-3-25, 762/83 vom 18.11.1983, Art. 1 Nr. 4.
Gemeinnützige Arbeit 207

sungserwägungen eingehen soll72. Es ist möglich, daß die Gesetzesreife


der JGG-Novelle nicht zuletzt durch Bedenken gegen die Verfassungs-
mäßigkeit der neu vorgesehenen Arbeitsauflage verzögert worden ist.
Tatsächlich käme eine solche als Zuchtmittel definierte Arbeitsauflage
der g. A. als Hauptsanktion am nächsten.
Daß diese Problematik aber schon de lege lata bei § 98 Abs. 1 Nr. 3,
Abs. 3 OWiG, einer eindeutig rückwärts gewandten Sanktion repressi-
ver Art, in hohem Maße erörterungsbedürftig ist, scheint bisher geflis-
sentlich übersehen worden zu sein. Auch Pfeiffer, der als Beweis für die
ahndenden, Unrecht ausgleichenden Eigenarten der g. A. ausdrücklich
auf §98 Abs. 1 Nr. 3 OWiG hinweist, vernachlässigt diesen Aspekt73.
Pfohl bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma an, der aber im hochsen-
siblen Bereich des Verfassungsrechts gleichfalls Bedenken erweckt74. Er
beruft sich zunächst auf die Methode historischer Interpretation und
weist nach, daß die Väter der Verfassung Art. 12 GG als Reaktion auf
den Mißbrauch des Arbeitsgedankens in der Zeit des Nationalsozialis-
mus konzipiert hatten. Den Gedanken, Zwangsarbeit i. S. d. Art. 12
Abs. 3 G G dementsprechend auf bestimmte qualitativ und quantitativ
schwerwiegende Arbeitszwänge einzugrenzen mit der Folge, daß g. A.
schon begrifflich nicht darunter falle, verwirft Pfohl dann aber selbst.
Plausibler erscheint seine Argumentation a maiori ad minorem. Wenn
schon ein - aus damaliger Sicht, zu einer Zeit des noch unangefochtenen
Primats der Freiheitsstrafe, allein regelungsbedürftiger - mit Freiheits-
entzug verbundener Arbeitszwang gem. Art. 12 Abs. 3 zulässig sei, dann
doch erst recht eine nicht mit Freiheitsentzug verbundene richterliche
Anordnung. Angesichts des klaren Wortlautes des Art. 12 Abs. 3 G G
sind jedoch solche extensiven Interpretationen bedenklich, auch des-
halb, weil freie Arbeit ganz anderen Denaturierungserscheinungen aus-
gesetzt ist als Arbeit im Gefängnis. Man denke nur an das von Schaff-
stein75 angeführte Beispiel, Polizeifahrzeuge während des Wochenendes
zu reinigen. Auch die vom BVerfG (BVerfGE 46, 214, 222) geprägte
und von der amtlichen Begründung zum Ref. Entw. J G G Ä G (S. 67 f)
aufgegriffene staatliche Pflicht, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege
zu gewährleisten, taugt als Legitimationsgrund nicht. Von der Existenz
einer Sanktion gegen Heranwachsende, auch unfreiwillig g. A. zu lei-
sten, kann die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nicht abhängen.

72 Amtliche Begründung S.20f. Vgl. für die derzeitigen „Brücke"-Projekte, durch die

gleichfalls Arbeitsauflagen zur Vermeidung von anderen Zuchtmitteln (Geldbuße, Jugend-


arrest) angeregt und vollzogen werden: Pfeiffer, (Fn.30), 141 ff.
75 Pfeiffer, (Fn.30), S. 161.

74 (Fn. 24), S. 149 bis 155.

75 (Fn. 70), S.452.


208 Günter Blau

2. Die bisher erörterte verfassungsrechtliche Problematik kann im


Erwachsenenstrafrecht vernachlässigt werden, da dort, wie dargelegt,
von dem Einwilligungserfordernis (läßt man die Arbeitsauflage des
§ 5 6 b StGB, die nicht in den Zusammenhang der Alternativen zur
Freiheitsstrafe gehört, einmal außer Betracht), nirgends abgegangen
wird; nicht einmal im Rahmen der Vorschläge der Alternativprofesso-
ren. Hier taucht jedoch de lege lata ein anderes verfassungsrechtliches
Problem auf: die mögliche Verletzung des Satzes nulla poena sine lege.
Nur Stree76 bemängelte bisher, soweit ersichtlich, die Unbestimmtheit
der Verpflichtung zur Arbeitsleistung; und dies im Hinblick auf den
Auflagenkatalog des § 5 6 b Abs. 2 Nr. 3; wieviel schwerer wiegt das
Argument bei einer Primär- oder Sekundärsanktion!
Allerdings ist hier sogleich die Frage aufzuwerfen, ob der Satz nulla
poena sine lege überhaupt Verfassungsrang hat. Art. 103 Abs. 2 GG
garantiert bei enger grammatikalischer Auslegung nur den Satz nullum
crimen sine lege. Er bietet daher Raum für die gleichen Auslegungskon-
troversen, die schon Art. 116 WV hervorgerufen hatte. Damals hatten
beachtliche Stimmen in Literatur und Rechtsprechung die Auffassung
vertreten, die Verfassungsgarantie gelte nicht für die Strafdrohung77. Es
ist daher schwer zu verstehen, daß der Parlamentarische Rat wieder eine
Formulierung wählte, die solchen Kontroversen ausgesetzt ist, obwohl
die Erstreckung der Garantie auf das nulla-poena-Prinzip augenschein-
lich beabsichtigt war, wie die Materialien ergeben. Auf diese Absicht,
die unbestrittene rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers
(Krey), beruft sich heute die h. M., wenn sie den Satz nulla poena sine
lege in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG einbezieht.
Geht man von dieser h. M. aus, so erweckt der nachträgliche Austausch
der allein angedrohten und verhängten Sanktion Geldstrafe (oder in § 98
OWiG Geldbuße) gegen eine zunächst nicht näher konkretisierte
Ersatzsanktion „g. A." auch bei Einverständnis des Betroffenen erhebli-
che verfassungsrechtliche Bedenken. Diese werden in mehrfacher Hin-
sicht verstärkt durch die für den Laien obskuren Fundstellen im
EGStGB und in landesrechtlichen Verordnungen und Erlassen, sowie
durch den von Land zu Land verschiedenen Umrechnungskurs. Von
einer durch das Gebot der „lex certa" erstrebten „Orientierungsgewiß-
heit für den Bürger"78 kann somit keine Rede sein. Die Bedenken sind
aber prinzipieller Natur. Freiheitsentzug, Geldstrafe und in der Öffent-
lichkeit geleistete g. A. sind sanktionsrechtlich, vóllzugstechnisch und

76 Schönke/Schröder a. a. O. Rdn. 15 zu § 56 b.
77 Näheres bei Volker Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Berlin - New York 1983, 96.
78 Krey, Parallelitäten und Divergenzen zwischem strafrechtlichem und öffentlich-
rechtlichem Gesetzesvorbehalt, in: Festschrift für G.Blau, 1985, 123ff (132).
Gemeinnützige Arbeit 209

nicht zuletzt hinsichtlich der psychologischen und sozialen Belastung


des Betroffenen etwas fundamental Verschiedenes. So kann der zu g. A.
Verurteilte Diskriminierungen und Bloßstellungen am Arbeitsplatz aus-
gesetzt sein, die sich von den subkulturellen Belastungen des stationären
Vollzugs u . U . negativ abheben, schon deshalb, weil sie dort von
Unbeteiligten nicht wahrgenommen werden. Wenn der Satz nulla poena
sine lege u.a. dem Täter auch die Berechenbarkeit und „Schwere"-
Einschätzung der Sanktion, der er sich aussetzt, ermöglichen soll,
gehören so tiefgreifende Alternativen, wie sie hier zur Debatte stehen, in
den Allgemeinen Teil des StGB, auch bei Wahlmöglichkeit des Ange-
klagten.
Aufgrund ähnlicher Erwägungen habe ich schon vor Jahren befürwor-
tet, daß Modalitäten der Freiheitsstrafe wie Freigang, zumal im Rahmen
eines von Anfang an offenen Vollzuges, als Sanktionsalternative in den
A T gehöre, da eine juristische Uberdehnung des Begriffs Freiheitsstrafe
stattfinde, die der Parallelwertung in der Laiensphäre nicht mehr ent-
spreche und den Satz nulla poena sine lege aus den Angeln hebe7'.
3. Schließlich ist zu fragen, ob nicht nur die Eingriffsvoraussetzungen,
sondern auch der „Vollzug" der alternativen, nichkustodialen Sanktio-
nen in Zukunft stärker durchnormiert werden sollte. So müßten bei der
g. A. als Ersatzsanktion de lege lata nicht nur die Umrechnungs-,
sondern auch die Anrechnungsmodalitäten bei mehreren Ersatzfreiheits-
strafen, die Aufsichts- und Berichtspflichten, die Sanktionen bei Nicht-
erfüllung, die gerichtliche Zuständigkeit (erkennendes Gericht oder
Strafvollstreckungskammer?) geregelt werden. StGB, StPO, GVG und
Strafvollstreckungsordnung müßten also novelliert werden.
In einer Zeit, da der angeblich zum Aussterben bestimmte stationäre
Vollzug in früher unvorstellbarem Maße verrechtlicht worden ist, nicht
nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern z. B. auch in den USA,
erscheint eine solche Normierungsforderung plausibel. Sie scheint
gleichwohl dem Zeitgeist nicht zu entsprechen. Das Bedürfnis, das
ständig wachsende Repertoire resozialisierender Interventionen des
Sozialstaates rechtsstaatlich abzusichern, nimmt ab. So lautet jedenfalls
die Diagnose liberaler Strafrechtswissenschaftler80. Daß diese ihr Wäch-
teramt wahrnehmen und den epochalen Wandel vom Freiheitsvollzug zu
seinen Alternativen nicht nur registrieren, sondern kritisch begleiten,
entspricht der Tradition europäischer Strafrechtswissenschaft.

79 J R 1970, 457.
80 Vgl. Naucke oben Fn. 15 und in Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Fortschritte
im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften?, Heidelberg 1983, 1 ff.
II.
Kriminologie
und Jugendstrafrecht
Grundlagen, Beiträge und mögliche Entwicklungs-
linien einer Kriminologie der Befreiung
LOLITA ANIYAR DE C A S T R O *

Diskussion über Befreiung ist Diskussion über Herrschaft. U n d


Herrschaft braucht, was sich „soziale Kontrolle" 1 nennt. Diese soziale
Kontrolle und Herrschaft können als nackte Gewalt auftreten; norma-
lerweise aber wird der Herrschaft das sanfte Gesicht der Hegemonie (im
Gramsci'schen Sinn der mehr einverständlichen Herrschaft) gegeben,
und der sozialen Kontrolle das der Ideologie. Deswegen werden
bekanntlich alle verfügbaren ideologischen und motivierenden Kräfte
einbezogen, um sich auf den Beistand der Massen stützen zu können.
Diese motivierenden Kräfte erzeugen, indem sie sich auf breite kulturelle
Uniformität gründen, nicht nur die Illusion von Repräsentation und die
Fiktion der Teilhabe an Entscheidungen, die nur der Form nach politi-
sche sind, sondern aktivieren auch die Massen selbst auf dem Gebiet
dieser sozialen Kontrolle. So wird die soziale Kontrolle, die andernfalls
nur von der politischen Gesellschaft (auch diese im Gramsci'schen Sinne
verstanden) durchgeführt würde, schließlich in der Praxis durch die
Gemeinschaft selbst in die Tat umgesetzt, und zwar aktiv und sogar
automatisch.
Indem so ein vermeintliches kollektives Bewußtsein in Bewegung
gesetzt wird, das in Wahrheit eine soziale Konstruktion von nicht immer
verallgemeinerungsfähigen Werten, Notwendigkeiten und Interessen
darstellt, und mittels der Präsenz der Massen bei lediglich verfahrensmä-
ßigen Spielen 2 (wie dem Wahlvorgang und dem juristischen Verfahren;
Prozessen, in denen die wirklich möglichen Optionen nur beschränkt
zur Wahl gestellt werden), wird die reale Teilnahme des einzelnen an
Entscheidungsfindungen erschöpft und seine essentielle Entpolitisierung
erreicht.

* Aus dem Spanischen übersetzt von Jörg Martin.


1 Zur Klärung dieses Begriffs in dem hier verstandenen Sinn siehe Aniyar de C.,
Conocimiento y Orden Social: Criminología como legitimación y Criminología de la
Liberación, Maracaibo, Instituto de Criminología, Universidad del Zulia, 1981.
1 Siehe Lubmann, Potere e Complessità Sociale, Milano 1979; ders., Soziologische
Aufklärung. Köln, Bd. 1 1970, Bd. 2 1975.
214 Lolita Aniyar de Castro

Zum einen stützt sich die politische Gesellschaft auf die zivile Gesell-
schaft. Damit ist weniger als die instrumenteile und voluntaristische
Staatsauffassung im ursprünglichen marxistischen Sinn gemeint, d. h. die
Konzeption von der zivilen Gesellschaft als Basis von materiellen Ver-
hältnissen einer historisch determinierten Staatsform, in der diese jene
bestimmt (und nicht umgekehrt, wie dies von der naturrechtlichen Lehre
behauptet wird). Wir gehen eher von einer Erkenntnis aus, die zwar die
Klassenherrschaft (die der Legitimation oder erhaltender Mechanismen
bedarf) und die gesellschaftlichen Widersprüche als Realitäten sieht, aber
auch die Unmöglichkeit anerkannt, Macht gegenwärtig so schematisch
und linear auszuüben, daß nur die Interessen einer einzigen Klasse
formal oder inhaltlich geschützt werden.
Zum anderen finden wir den offensichtlichen Dualismus von bour-
geoisen juristischen und ideologischen Konzepten einerseits, die das
Interesse der gesamten Gesellschaft zu schützen vorgeben (obwohl
selbst dies oftmals fraglich ist, wie die empirischen und normativen
Untersuchungen über Straftaten der Machthaber gezeigt haben), und
einer Wirklichkeit andererseits vor, in der diese Konzepte über den Rang
uneingelöster Versprechen nicht hinauskommen.
Dieser Dualismus ist gleichzeitig Teil des Vorgangs der Legitimation
selbst: einer Gesetzgebung und Rechtsdoktrin, insbesondere im öffentli-
chen Recht, die bloße Programm- und Symbolfunktion haben. Beispiel-
haft sind die Venezuelanische Verfassung und auch die internationalen
Verträge über Menschenrechte, denen Venezuela beigetreten ist. Letz-
tere werden zwar im Grunde nur als individuelle Rechte definiert, aber
nicht einmal der Schutz der Menschenrechte des einzelnen wird in der
Praxis gesichert oder verwirklicht.
Zweifellos gibt es auch symbolische (normativ-programmatische)
Zugeständnisse einiger sozialer Grundrechte wie den Verbraucher-
schutz, und auch konkrete Zugeständnisse wie das Streikrecht. Diese
sind jedoch in Wahrheit Errungenschaften des Klassenkampfs.
Auf diese Weise wird im normativen Rahmen - bzw. dem der
politischen Gesellschaft - eine erste Stufe der Legitimation der bestehen-
den Ordnung erreicht.
Die zweite Stufe bildet die Tätigkeit der zivilen Gesellschaft. Alle
hinsichtlich Handlungen und Wertvorstellungen konformistischen
Hilfsgruppen (Familie, Schule, Kirche, humanistische, wissenschaftliche
und technische Intelligenz) werden für eine Aufgabe herangezogen, die
in Selbstkontrolle besteht.
Wie Foucault sagt, muß der Staat bei der Verwaltung (nicht der
Ausübung) der Macht ökonomisch vorgehen. Deswegen teilt er sie
mittels seiner Agenten, die sich der politischen Rolle, die sie erfüllen,
meist nicht bewußt sind, fein auf.
Kriminologie der Befreiung 215

Die Bedeutung der Eingliederung dieser auf alle gesellschaftlichen


Klassen verteilten Agenten für die Erzeugung kultureller Uniformität
besteht darin, daß so nicht nur die Bildung unterschiedlicher - und
damit solidarischer - kultureller Gruppen verhindert wird, sondern daß
auch die Solidarität innerhalb der Klassen gebrochen und damit ein
eigenständiges Bewußtsein der beherrschten Klasse verhindert wird.
Es gibt also Agenten, die - mittels der sogenannten Sozialisationspro-
zesse - die Aufgabe haben, die soziale Wahrnehmung eines idealen
Staatsgebildes, das unveränderbare und essentielle Werte repräsentiere,
zu bewirken.
Wie Bobbio feststellte 3 , kann man von Hobbes über Hegel bis zu
Rousseau, Locke und Kant naturrechtliche Modelle des idealen Staates
vorfinden, in denen die zivile Gesellschaft vom Staat (und nicht umge-
kehrt der Staat von der Gesellschaft) bestimmt wird, einem Staat, der
unvergänglich sei und die Interessen der Allgemeinheit, nicht Partikular-
interessen, vertrete.
Dies ist evident für die, die mit dem faktischen Abbild der Strafnor-
men, welche ja den letzten und entschiedensten Schutz sozialer Interes-
sen darstellen, umzugehen wissen.
Wir glauben also - so möchte ich das bisher Gesagte, von dem vieles
ohnehin offensichtlich ist, zusammenfassen - daß die Legitimation
heutzutage gleichermaßen auf der Illusion einer tatsächlichen Mitwir-
kung des Volkes an den politischen Entscheidungsprozessen der bour-
geoisen Demokratien (einer Mitwirkung, die wir als ausschließlich und
formell verfahrensmäßige oder instrumentelle erkennen) wie auf der
kollektiven Mobilisierung zur Gestaltung von Sozialisationsprozessen,
die grundsätzlich, wenn auch nicht ausschließlich, feste Strukturen
haben, beruht.
Dies trifft gleichermaßen für die Länder der Dritten Welt, in denen
ungebremster Kapitalismus herrscht, wie für die industrialisierten und
postindustriellen Staaten zu.
Aber es gibt Stufen der Herrschaft, die nur in den an den Rand
gedrückten Ländern, den Stützen der Entwicklung und der Macht der
im Mittelpunkt stehenden Länder, zu finden sind, und die vielleicht am
ehesten mit dem Begriff der Neokolonisation zu kennzeichnen sind
(Kulturimperialismus, technologische Abhängigkeit usw.).
Der Kampf für die Befreiung kann daher an vielen Fronten zugleich
geführt werden, sowohl hinsichtlich der nationalen Herrschaft wie der
internationalen als auch der transnationalen: der politischen, der militä-
rischen und der zivilen Front. Auch wenn diese alle schwierig sind, so

3 Bobbio, Gramsci y la Concepción de la Sociedad Civil, in: Pizzorno u. a., Gramsci y


las Ciencias Sociales. Cuadernos de Pasado 19 (1978).
216 Lolita Aniyar de Castro

erscheint uns doch die letztgenannte als die am ehesten unüberwindbare


und die mit dem stärksten Feind: dem des Informationsmonopols, mit
der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit, mit den Sozialisationsme-
chanismen.
Nicht aus akademischer Überheblichkeit stellen wir uns diesem
Kampf: Die politischen und militärischen Befreiungskämpfe in der
Dritten Welt scheinen nur dann erfolgreich gewesen zu sein, wenn sie
nicht vorab gegen die traditionellen, akzeptierten Werte angegangen
sind. Es sind nicht nur die Klassen der Macht, die sich mit ihren eigenen
logistischen Mitteln dagegen wehren. Es sind vielmehr auch die verarm-
ten lateinamerikanischen Mittelschichten und, schlimmer noch, Unter-
schichten, die jenen bei der Verteidigung von nur vermeintlichen Allge-
meininteressen zur Seite stehen.
Diese Einleitung ist m. E. unerläßlich, um unsere auf Befreiung
gerichteten Ziele in der Kriminologie zu erklären, die — wenn auch nicht
ausschließlich - die Notwendigkeit einer radikalen Gegen-Information
in den Mittelpunkt stellt. Einer Gegen-Information, die nicht allein von
und mittels der (egal ob traditionellen oder kritischen) Kriminologie zu
bewirken ist, sondern nur durch die Anstrengungen einer großen Zahl
interdisziplinärer Intellektueller, die sich nicht länger in ihren jeweiligen
(unbewehrten) Arbeitszimmern für spezialisiertes Denken verschanzen.
Weil die Kriminologie eine der Disziplinen ist, die auf allen Ebenen
von dem Einfluß des Positivismus geprägt ist und demzufolge allgemein
als kausale Erforschung von Straftat, Straftäter und Straffälligkeit ver-
standen wird, ist eine Erklärung vielleicht besonders wichtig: daß sie
heute für viele, und es werden immer mehr, etwas sehr anderes bedeutet:
Die Kriminologie von heute - die sich parallel zum Positivismus bewegt
und daher auch keine Schnittpunkte mit ihm haben kann - beansprucht,
eine Kritische Theorie der Sozialen Kontrolle zu sein.
Ein erstes Feld für diese neue kriminologische Perspektive ist die
Erkenntnis von der legitimierenden Rolle, die die verschiedenen klassi-
schen Schulen der Kriminologie gespielt haben.
Die klassische Strafrechtsschule, die als prä-kriminologisch angesehen
wird, ist mit dieser neuen Perspektive als verwaltende und gesetzliche
Kriminologie zu verstehen, als eine die neu geschaffene Ordnung (um
einen Begriff Weber'sehen Denkens zu verwenden) durch gesetzliche
Herrschaft stützende Form der sozialen Kontrolle.
Die politische Funktion dieser Kriminologie läßt sich in folgenden
Schritten zusammenfassen:
Gesellschaftsvertrag —» Gewaltmonopol in den Händen des Regenten
(der allein das Erlaubte und Verbotene als - vermeintlich konsensfähige
- Grundwerte des Systems bestimmt) —» Gesetzlichkeitsprinzip (klassi-
sche Selektierung des Unerlaubten) —> Verbot des rückwirkenden Geset-
Kriminologie der Befreiung 217

zes zur Sicherheit des Marktes —» systematische Kodifizierung zur


Vermeidung widersprüchlicher gesetzlicher Wertungen disziplinierte
Auslegung des Gesetzes —* Annahme der Gleichheit der Vertragspartner
(die mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zu vereinbaren ist4).
Sie war also eine rechtlich-politische Plattform zur Gewährleistung
der für die freie Entwicklung des Marktes notwendigen Voraussehbar-
keit, einem zentralen Interesse der aufstrebenden Klasse, die darüber
hinaus auch deren Recht auf Macht gegen die ideologischen Überbleibsel
der feudalen Gesellschaft absichern mußte. Deswegen war sie eigentlich
eher der Entwurf eines idealen Staates. Im Einklang damit fiel es leicht,
den Straftäter als Klassenfeind zu erkennen und wirksamere Kontrolle
über das auszuüben, was damals zutreffend als industrielle Reservearmee
bezeichnet wurde, und dessen Gliedern beigebracht wurde, ihren
Zustand als Nicht-Eigentümer zu akzeptieren, indem sie für die Lohnar-
beit diszipliniert wurden, erst in den sogenannten „Besserungs- und
Arbeitshäusern", später dann in den Strafanstalten 5 .
Die positivistische Kriminologie rechtfertigte dann später die Macht
der neuen, bereits konsolidierten Klasse mittels einer Wissenschaftstheo-
rie - die die Bewußtseinsphilosophie ablöste - indem sie, mittels einer
vermeintlichen Sozialphysik, eine starke einheitliche Macht errichtete,
die Ordnung über das Chaos der Revolution bringen würde. Für den
Positivismus bedeutet die Wissenschaft Ordnung und diese Fortschritt,
sofern sie nicht umgestürzt wird. Der Positivismus stellte sich somit als
einziger Weg zu einer idealen Gesellschaft dar.
Auf dem Gebiet der Kriminologie diente er dazu, Kriterien für
Anormalität, Krankheit, Abweichung, soziale Erkrankungen oder
„soziale Auflösung" im Falle sogenannter Straffälligkeit und abweichen-
den Verhaltens zu schaffen. Konsequenterweise wurde auch die medizi-
nische Terminologie übernommen, um gesellschaftliche Probleme zu
identifizieren (Diagnose, Prognose, Behandlung usw.). Dies alles diente
dazu, den Armen mit dem Häßlichen, dem Anormalen und dem Gefähr-
lichen zu assoziieren und damit die klassenspezifische Wirklichkeit der
Strafvollzugspopulation zu überdecken. Und auch umgekehrt: den Rei-
chen mit dem Gesunden, dem Schönen, dem Harmlosen. Auf diese
Weise wurde die Trennung der Machthaber von den schädlichen Verhal-
tensformen bewirkt und ein Stereotyp des Straftäters geschaffen, der
immer zu den Unterschichten gehörte. In Lateinamerika diente der
Positivismus zur Unterdrückung ethnischer Minderheiten und sogar zur
Rechtfertigung ausbeuterischer Nord-Süd-Beziehungen, indem eine

4
Siehe Pavarini, Control y Dominación. Teorías Criminológicas burguesas y proyecto
hegemónico. México 1983.
5
Ebd.
218 Lolita Aniyar de Castro

angebliche Verbindung zwischen Unterentwicklung, geographischer


Lage und Delinquenz geschaffen wurde6.
Der klassische Charakter der Institutionen und ihre wirkliche Funk-
tion, die durch zahlreiche Forschungen - in Lateinamerika von der
Lateinamerikanischen Gruppe für Vergleichende Kriminologie 7 durch-
geführt - festgestellt wurden, löste einen epistemologischen Bruch aus,
der zu den sogenannten radikalen Bewegungen hinführte, der Kritischen
Kriminologie und der Neuen Kriminologie (die alle auf mehr oder
weniger orthodoxen marxistischen Grundlagen beruhen).
So hörte die Kriminologie auf, kritiklos und ergeben eine Hilfswissen-
schaft des Strafrechts zu sein, indem sie das Verhältnis zwischen diesen
beiden Gebieten umkehrte und ihrerseits das Strafrecht als eines der
zahlreichen Mittel der sozialen Kontrolle zum Forschungsobjekt
machte.
Die Zielsetzungen der neuen Kriminologie, die in Mexiko „Krimino-
logie der Befreiung" genannt wird8, sind äußerst umfassend: sich in eine
Kritische Theorie jeglicher Form sozialer Kontrolle zu wandeln, sowohl
der formellen (die durch die Einrichtungen der politischen Gesellschaft
bewirkt wird) als auch der informellen (die durch die Einrichtungen der
zivilen Gesellschaft erfolgt). Die überkommene Kriminologie wird
selbst zum Objekt der Kritik der neuen Kriminologie; denn sie beab-
sichtigt, die Rolle offenzulegen, die jene als eine weitere Form nicht nur
der informellen, sondern auch der formellen sozialen Kontrolle gespielt
hat.
Ebenso wurden Religion, Erziehung und die auferlegten kulturellen
Formen in dem Maße, wie sie reproduktive Elemente sind, die die erste
Stufe der Sozialisation bzw. Primärsozialisation bilden, in Forschungs-
arbeiten unseres Instituts' und der 1981 in Mexiko gegründeten Latein-
amerikanischen Gruppe für Kritische Kriminologie näher untersucht.
Diese informellen Spielarten sozialer Kontrolle sind dem Gebiet der
Kriminologie nicht fremd. Diese beschäftigte sich nämlich stets mit der
Sekundärsozialisation bzw. Resozialisation, wenn diese angesichts des
Fiaskos der Primärsozialisation ansteht (vgl. Baratta, für den es eine

6 Vgl. Aniyar de C., El Movimiento de la Toería Criminológica y Evaluación de su


estado actual, in: Del Olmo, América Latina y su Criminología. México 1981.
7 Siehe Aniyar de C., La historia no contada de la Criminología Latinoamericana,
Capítulo Criminológica 9/10, Maracaibo 1981/1982.
8
Aniyar de C., Conocimiento y Orden Social: Criminología como legitimación y
Criminología de la Liberación. Maracaibo, Instituto de Criminología, 1981; Bergaiii,
Hacia una criminología de la Liberación para América Latina. Capítulo Criminológico 9/
10, Maracaibo 1981/1982.
' Siehe Arreaza, Violencia Cultural en Venezuela. Maracaibo, Instituto de Criminolo-
gía. 1982; dies., Religión como forma de Control Social; Aniyar de C., Educación como
forma de Control Social. Capítulo Criminológico 11/12, Maracaibo 1983/1984.
Kriminologie der Befreiung 219

fortwährende Erziehung gibt, die in der Schule anfängt und im Gefäng-


nis endet10). Wir wissen aber von der Maßlosigkeit, in beruflicher
Vereinzelung gegen das ganze Netz sozialer Kontrolle anzukämpfen;
deswegen auch der Ruf nach einem interdisziplinären Treffen über die
Befreiung.
Daß die neue Kriminologie die Frage nach einer Neuformulierung der
Inhalte der Strafgesetzbücher und ihres Forschungsgegenstandes auf-
wirft, beruht zweifellos auf Überlegungen, die der Ethik, der Epistemo-
logie und der Politikwissenschaft in dem Maße zugehören, wie diese in
jenen enthalten sind.
In der Ethik, weil sie die Aufklärung des wahren Charakters der
praktischen und moralischen Probleme beinhaltet (d.h. eine kognitive
Möglichkeit dazu), bevor man sich mit den dezisionistischen Positionen
abfindet, die für die Systemanalysen der Politikwissenschaft charakteri-
stisch sind. Anders ausgedrückt: Es handelt sich nicht darum, Ziele zu
übernehmen, die mit willkürlich ausgewählten Wertungen belastet sind,
so als ob dies Glaubenssache wäre, sondern um den Versuch, mittels
einer freien und rationalen Diskussion zur Feststellung der Kriterien,
wie die verallgemeinerungsfähigen Interessen zu erkennen sind, eine
autonome Definition der Sozialschädlichkeit zu finden (als eine, die
nicht notwendigerweise an die in Frage gestellten gesetzlichen Normie-
rungen anknüpft).
Zu diesem Punkt gibt es bereits wichtige Beiträge (Tappan, Schwen-
dinger und Baratta in Criminologia, gegenüber Habermas und Lüh-
mann in Epistemologia y teoria politica). Habermas stellte fest: „Die
beobachtbare Diskrepanz von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit, die
kodifizierten Ausschließungsregeln, die Diskrepanz von tatsächlichen
Anspruchs- und politisch zugelassenen Befriedigungsniveaus, die im
internationalen Vergleich sichtbar werdenden Repressionen - alle diese
Phänomene haben den gleichen Status wie andere Konfliktphänomene,
die erst dann für eine Krisenanalyse in Anspruch genommen werden
können, wenn sie in ein theoretisches Beschreibungs- und Bewertungs-
system eingeordnet werden können". 11 Dazu schlägt er vor, „in einem
stellvertretend simulierten Diskurs zwischen den Gruppen, die sich
durch einen artikulierten oder zumindest virtuellen Gegensatz der Inter-
essen voneinander abgrenzen (bzw. nicht-arbiträr abgrenzen lassen),
verallgemeinerungsfähige und gleichwohl unterdrückte Interessen fest-
zustellen".
Diese Intersubjektivität des Diskurses (der notwendigerweise auf-
grund der strukturellen Unfähigkeit, beiden Teilen im Konfliktfall die

10
Baratta, Criminologia Critica e Critica del Diritto Penale. Bologna 1982, 173 ff.
11
Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt/M. 1973, 161.
220 Lolita Aniyar de Castro

notwendige Gleichheit zur authentischen Formulierung ihres Willens zu


geben, simuliert ist), macht sich Baratta in Criminología zu eigen. Er
fügte dem weitere Elemente hinzu:
1. Die Konzeption vom Menschen als Träger positiver Bedürfnisse,
und
2. die Möglichkeit, daß die Bedingungen für die Befreiung der Arbei-
terklasse die für Befreiung überhaupt sein können.
Beim letzten Treffen der Lateinamerikanischen Gruppe der Kritischen
Kriminologie in Medellin (1984) haben wir vorgeschlagen, auch die
Verpflichtung gegenüber den großen Mehrheiten der „Randgruppen" als
ein ausgleichendes Bestandteil einzubeziehen. Denn es schien uns
unmöglich, einen Vorschlag zur Transformation abstrakt zu erarbeiten,
der nicht berücksichtigt, daß in Lateinamerika - das in dieser Hinsicht
aufgrund der anderen Erfordernisse von Europa sehr verschieden ist -
jede Veränderung nur über die Option der schwächsten Konfliktspartei
möglich ist.
Diese Verpflichtung beruht nicht nur auf einer gefühlsmäßigen Partei-
nahme. Vielmehr werden damit der Wert und die Bedeutung der beson-
deren Interessen einer unterdrückten Klasse anerkannt, die - wie Marx
betonte - keine Ausbeuterklasse ist und daher einzige Vertreterin von
Interessen, die wirklich allgemein und daher zum aktuellen historischen
Zeitpunkt emanzipatorisch sind.
In Europa ist deutlich zu erkennen, daß - unter tatkräftiger Mitwir-
kung der Sozialdemokratie - eine Position des Kompromisses entsteht.
Für diesen Mittelweg besteht das Problem darin, die Legitimationskrise
zu lösen und den Zusammenhalt des Systems wieder herzustellen.
Vorschläge für eine neue Ethik, die rational auf den historisch determi-
nierten Interessen der unteren Klassen aufbaut und die Möglichkeit nicht
gering schätzt, Ubereinstimmungen zwischen bourgeoiser und proleta-
rischer Moral auch unter den gegebenen Bedingungen festzustellen,
stammen jedoch paradoxerweise aus einem postindustriellen Land, das
wenig mit Sozialdemokratie zu tun hat. Das Ehepaar Schwendinger aus
den USA sieht einen Forschungsgegenstand der Kriminologie darin, die
Verletzung anderer als der traditionellen Interessen und Bedürfnisse zu
untersuchen12. Diese sollen von einer Interpretation der Menschenrechte
abgeleitet werden, die, mit der notwendigen taktischen Flexibilität, von
der proletarischen Moral ausgeht.
Auch die Zweckmäßigkeit der Untersuchung der Verletzung soge-
nannter Grundbedürfnisse13 wurde vorgeschlagen. Diese unterscheiden
12 Siehe Schwendinger, Clases Sociales y la Definición del Delito. Veröff. in Crime and
Social Justice, Issues in Criminology 7 (1977).
13 Diese Grundbedürfnisse sind per definitionem solche, die allen gemeinsam sein, wie

z. B. das auf Leben, Gesundheit, Erziehung, Wohnung, Umwelt, Erholung und Kultur.
Kriminologie der Befreiung 221

sich zwar nicht wesentlich von den klassenspezifisch neu definierten


Menschenrechten. Dieses Kriterium kann aber, auch wenn es vorge-
hende nach quantitativen Gesichtspunkten zusammenzufassen meint,
das Problem nicht lösen, weil die Einzelheiten, nach denen diese
gemeinsamen Interessen auszuwählen sind, nicht konkretisiert werden.
Zudem darf nicht vergessen werden, daß es Interessen von (z. B. sexuel-
len und kulturellen) Minderheiten gibt, deren Bedeutung bei der Unter-
suchung von Verhaltensweisen, die diese Grundbedürfnisse verletzen,
nicht ungeklärt sein darf.
Somit setzt die Perspektive der Befreiung bei einer Reihe ganz kon-
kreter Themen an:
1. Die legitimierende Rolle der konventionellen Kriminologie, zu
beobachten in folgenden Bereichen: a) Rechtfertigung der Macht
(Klassische und Positivistische Schule); b) Schaffung klassenspezi-
fischer Stereotypen von Straftätern und Straffälligkeit; c) Unter-
werfung unter kodifizierte Definitionen; d) Desinteresse an der
Straffälligkeit der herrschenden Klassen; e) Funktion als ideologi-
sche und praktische Stütze der formellen sozialen Kontrolle:
Unterdrückung, Wiedereingliederung (Resozialisation).
2. Forschungen zur strukturellen Basis der Definitionen von Straftat
und Straftäter.
3. Kritische Untersuchung der formellen sozialen Kontrolle: Polizei,
Gerichte, Gesetze, „Operationen" oder Razzien.
4. Kritische Untersuchung der Straffälligkeit der Machthaber (white-
collar-crime).
5. Kritische Untersuchung der zwischen- und überstaatlichen
Gewalt, die Leben, Gesundheit, persönliche Güter und Lebens-
qualität beeinträchtigen.
6. Entkodifizierung und politische Neuinterpretation herkömmlicher
Themen der alten Kriminologie: Frauenkriminalität, Drogen,
Rolle der Massenmedien usw.
7. Vorschläge zu einer alternativen sozialen Kontrolle.
8. Neudefinition des Forschungsgegenstandes der Kriminologie.
Die beiden bisher einzigen konkreten Vorschläge für die weitere
Entwicklung eines Entwurfs der Befreiung in der Kriminologie (als einer
lateinamerikanischen Kriminologie) wurden auf der bereits erwähnten
Versammlung von 1981 in Mexiko dargelegt, bei der die Lateinamerika-
nische Gruppe der Kritischen Kriminologie entstand. Es handelt sich um
folgende:
Bergaiii14 schlägt eine historisch-epistemologische Uberprüfung und
die Mitwirkung zur Schaffung einer eigenen politischen Theorie vor.
14 Bergaiii, Hacia una Criminología de la Liberación para América Latina. Capítulo
Criminológico 9/10. Maracaibo 1981/1982.
222 Lolita Aniyar de Castro

Ich selbst15 habe eher methodologische Elemente vorgeschlagen, die


für die Entwicklung der Forschungslinien einer entmystifizierenden
Kriminologie dienen können und die durch die Charakteristiken der
vorgeschlagenen Methode die historisch-konkrete Situation Lateiname-
rikas widerspiegeln. Diese sind:
a) Die kritische Theorie der sozialen Kontrolle muß antiformal und
bewußt unsystematisch sein. Sie soll nicht die Konsolidierung
einer Theorie anstreben, sondern eine neue vorschlagen, die sich
sowohl als Teil eines Entwicklungsprozesses als auch den Kräften
der Befreiung der Menschen verbunden versteht.
b) Sie muß selbstreflektiv und historisch sein, keine lineare und nicht-
problemorientierte Kritik. Anders ausgedrückt: Sie muß sich des
Standpunktes bewußt sein, den sie innerhalb der Entwicklung
einnimmt, und damit auch darüber, wie jene sie beeinflußt.
Zugleich muß sie der Illusion widerstehen, alle Phänomene gewis-
sermaßen einfrieren, sie also mittels mathematischer Gleichungen
und immer gültiger Behauptungen beschreiben zu können.
c) Sie muß dialektisch sein, denn „die historische soziale Begebenheit
ist die Verfestigung des Ausdrucks einer konkreten Gesamtheit zu
sich wechselseitig beeinflussenden Zeitpunkten"". So werden die
positivistischen Fehler der Aufsplitterung der Wirklichkeit und der
radikalen Trennung zwischen Objekt und Subjekt, dem Allgemei-
nen und dem Besonderen, dem Öffentlichen und dem Privaten,
vermieden, „denn diese sind nur Momentaufnahmen unter der
Spannung des Entstehenden" 17 .
d) Sie ist die Zurückweisung der Gesellschaften, in denen technokra-
tische und/oder autoritäre Rationalität herrscht, und zugleich
moralische Verpflichtung und Teil eines emanzipatorischen Ent-
wurfs, der auf dem Streben beruht, eine zutreffende Analyse der
Gesellschaft zu erstellen, darüber hinaus aber auch auf dem Stre-
ben, diese zu überwinden und zu negieren.
Sie darf sich nicht auf einen vorgefertigten Entwurf beschrän-
ken, denn „die Kritik kann nichts anderes sein, als die materialisti-
sche Anklage der sozialen Ungerechtigkeit" 18 .
Andererseits muß jede Forschung der Kritischen Theorie der Sozialen
Kontrolle als Mittel der historischen Methode, die für das Erfassen der

Aniyar de C., Conocimiento y Orden Social (Fn. 8).


Rodríguez Ibanez, Teoría Crítica y Sociología. México 1978.
Ebd.
Ebd.
Kriminologie der Befreiung 223

nicht immer meßbaren Komplexität und Tragweite der zu untersuchen-


den Phänomene unerläßlich ist, sich zunutze machen:
1. Das intuitive Verständnis, das natürlich
- qualitativer und nicht notwendig quantitativer Art sein wird,
- mehr Verständnis von Zweck und Bedeutung sein muß als Suche
nach kausalen Erklärungen,
- sich verstehende Imagination zunutze machen muß (Mills sprach
von schöpferischer Imagination) und nicht auf dem Physikalis-
mus induktiver Verallgemeinerungen bestehen darf, und
- Gegebenheiten untersuchen muß, die sie als einzigartig erkennt,
weil sie historisch determinierten Bedingungen entsprungen
sind, und aus denen es keine allgemeingültigen Erklärungen
ableiten will. Denn die historischen Ereignisse wiederholen sich
im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen niemals in identi-
scher Weise; sie lassen sich also nicht durch Analogien verste-
hen, sondern nur als Tendenzen.
2. Die Kategorie der Gesamtheit, d. h. daß die Phänomene innerhalb
ihrer strukturellen Komplexität verstanden werden müssen, die
mehr ist als nur die Summe der Einzelteile. Dies bedeutet:
- sich nicht an unbedeutenden Einzelheiten aufzuhalten,
- eine integrale, synthetische und rekonstruierende Analyse des
Prozesses vorzunehmen.
Bestandteile der vorgeschlagenen Methode sind somit im Ergebnis:
1. Die schaffende Geschichte und das geschichtlich Geschaffene;
2. die Suche nach dem Inhalt hinter der Erscheinung;
3. die Dialektik;
4. die Widersprüche;
5. die Gesamtheit;
6. die Analyse des Wirklichen, nicht des Metaphysischen;
7. Selbstreflexion;
8. das intuitive Verständnis;
- von Ziel und Bedeutung, nicht von Kausalitäten;
- verstehende Imagination, weder Beschreibung noch Suche von
Allgemeingültigem,
- von einzigartigen Begebenheiten (das historisch Geschaffene);
9. eine ständige Verpflichtung für die Befreiung und die volle Ver-
wirklichung aller Menschen;
10. der Wille, nicht formal zu werden;
11. die Notwendigkeit, eine theoretische Praxis der Transformation
zu sein.
Als abschließende Folgerung möchte ich einen an anderer Stelle
bereits geäußerten Satz wiederholen: „Nur wenn Selbstreflexion aufklä-
rerisch ist, weil sie die Undurchsichtigkeit des für die Legitimation des
224 Lolita Aniyar de Castro

Systems notwendigen ideologischen Denkens in Transparenz wandelt,


und diese Transparenz ihrerseits die Unterdrückung zerstört, ist der
Theorie-Praxis-Bezug transformatorisch und emanzipatorisch."
Diesen Weg gehen die Forschungen des Instituts für Kriminologie der
Universität von Zulia, deren zentrale Themen bisher unter anderem
waren:
Gewalt in Lateinamerika
- zwischenstaatliche Konflikte
- politische Gewalt
- kulturelle Gewalt
- Aggression als Gegengewalt
White-collar-crime in Lateinamerika
Soziale Kontrolle in Lateinamerika
Menschenrechte und lateinamerikanische Strafrechtssysteme
Die von der Kriminologie ausgefüllte sozialpolitische Rolle.
Jede Erkenntnis ist praktisch und muß in die Welt der konkreten
Praxis zurückfinden. Darum ist ein abschließendes Erfordernis, die
erlangten Resultate dem Volk zurückzugeben und ihmn so zu zeigen,
wo die nicht lediglich konstruierte, sondern authentische Wirklichkeit
der sozialen Kontrolle, insbesonderen der formalen, verborgen ist, für
welche die breiten Massen des Volkes den größten Tribut zollen müssen.
Fundamentos e Impedimentos
de una Teoría Criminológica Latinoamericana
(Gründe und Schwierigkeiten
einer kriminologischen Theorie in Lateinamerika)

ROBERTO BERGALLI

A Hilde Kaufmann, quien no compartió los


principios que guían las siguientes reflexiones
pero siempre mantuvo el más absoluto respe-
to por ellos. Esta virtud, junto a su enorme
capacidad de afecto y profunda solidaridad,
la han hecho acreedora de toda gratitud.
¡Gracias Hilde!

Introducción
Lo que se denomina como Latinoamérica constituye un vasto conglo-
merado de países que, por distintas razones históricas, culturales, políti-
cas, económicas y particularmente geoestratégicas ha despertado - a lo
largo de su desarrollo pero especialmente en los últimos tiempos - una
especial atención. Con una expresión al uso, podría decirse que Latino-
américan está de moda.
Claro que esta moda nada tiene que ver con gustos estéticos o
prácticas cotidianas. Muy lamentablemente se relaciona con la situación
a la que buena mayoría de esos países ha llegado después de un proceso
de marcado condicionamiento de sus estructuras económico-sociales.
H o y puede calificarse esa situación como trágica o dramática a la luz de
los regímenes de injusticia social que no sólo han generado una desigual
distribución de la riqueza; ellos también han provocado, como lo
demuestran sus realidades actuales, un estado de cosas en que la sistemá-
tica violación de los derechos humanos más fundamentales es una
constante de la vida que sobrellevan vasta franjas sociales.
En esta perspectiva, claro está, otros sectores, grupos minoritarios
calificados como oligarquías vernáculas, han contraído una importante
cuota de responsabilidad que se remonta a varias generaciones. En
algunos casos los beneficios que esas minorías han percibido - prove-
nientes de la posesión de dilatadas superficies de tierra, en casos más
restringidos de la extracción de frutos y minerales o, más últimamente,
226 Roberto Bergaiii

de la especulación en el comercio con el extranjero de esos productos - se


originan en privilegios obtenidos en la época de la Conquista y Coloni-
zación luso-hispánica.
N o obstante, en la mayor parte de los casos, esas ventajas han tenido
orígenes más cercanos en las innúmeras corrupciones generadas por los
distintos sistemas de dominación política instaurados preponderante-
mente a lo largo del corriente siglo. Con ellos ha tenido entrada en la
escena de la administración pública una forma peculiar de gestión que
supone el acuerdo entre los administradores y quienes les invisten del
mandato para repartir ilegalmente buena parte de los excedentes que
deberían ingresar en el erario. De esta forma son derivados los fondos
cuyos destinos podrían ser los de atender la salud, la instrucción o las
obras públicas.
Mas en esos sistemas de dominación casi tradicionales en América
latina, de los que habría que excluir a contados países, han venido a
actuar con marcada trascendencia - desde siempre en algunos casos y
sobre todo en las últimas décadas - dos elementos, cuales son: el papel
decisivo desempeñado por la clase militar y la creciente intervención de
la política imperial de los Estados Unidos de Norteamérica. Ambos han
jugado contemporáneamente y en forma terminante hasta la actualidad
en la construcción de la llamada doctrina de la seguridad nacional (DSN) 1
la cual, según se opina, a la luz de los acontecimientos provocados por el
segundo de los elementos antes aludidos durante estos años recientes,
debería ser denominada como doctrina de la seguridad continental (cfr.
Bergalli 1983 a). Su imposición ha significado el despliegue de técnicas de
control social que, más allá de la manifestación ideológica llevada a cabo
en las instancias de socialización primaria (familia, escuela, etc.), se han
manifestado como altamente represivas y de intrínseca perversidad, tales
como la «detención-desaparición», la tortura y los tormentos más varia-
dos, las detenciones sin proceso prolongadas sine die en virtud del
«estado de sitio» o de «emergencia», el exilio, etc.; es decir, de un
auténtico terrorismo de Estado.

1
Sobre la DSN mucho se ha escrito en este último tiempo y ello se ha hecho en disintos
campos en los cuales se ha analizado la particular conformación del sistema de relaciones
entre Estado y sociedad civil, ocurrida en aquellos países donde las burocracias autoritarias
constituyeron los nuevos sistemas de dominación política. Un trabajo que debe distin-
guirse de entre el rico y valioso material producido es del de E. García Méndez (1985, esp.
Erster Teil, Kapitel IV: Die Doktrin der inneren Sicherheit (DIS),83-103). N o obstante,
esta ocasión es oportuna para citar aquí uno de los últimos trabajos de Alfonso Reyes
Echandía, querido amigo y compañero, ejemplar tipo de jurista crítico y comprometido
con la realidad de su país y de Latinoamérica, quien junto a su discípulo - también otro
modelo de joven empeñado con el trabajo por la paz y la justicia social - Emiro Sandoval
Huertas, quizá el más válido crítico de los sistemas penales latinoamericanos, fueron
bárbaramente asesinados durante los hechos acaecidos en el Palacio de Justicia de Bogotá
Teoría criminológica Latinoamericana 227

El resultado del cuadro sintéticamente descripto se mide con el


aumento sensible del analfabetismo; de la mortalidad infantil; de la
desnutrición; de la expulsión de la mano de obra calificada de los
mercados de trabajo industriales; de la mayor separación entre población
campesina y urbana; de la multiplicación de las áreas periféricas a las
metropólis, calificadas por el lenguaje popular como «bidonvilles»,
«ranchos», «poblaciones callampas», «villas miserias», etc., auténticos
ghettos urbanos; y, en general, con el incremento de la marginación
social. Todo lo cual fue precavidamente analizado ya hace catorce años
(v. Córdova 1976), pero últimamente fue denunciado por la misma F A O
(v. La Razón 1984).

Para quienes creen todavía que la disciplina criminológica constituye


un conjunto de conocimientos destinado a identificar las causas indivi-
duales del comportamiento criminal tal como viene definido por la ley
penal para la protección de determinados bienes, seleccionados según
una cierta perspectiva ideológica-jurídica que prima necesidades subjeti-
vas, será espontánea la pregunta de por qué y para qué sirve la introduc-
ción que acaba de hacerse.
En efecto, si se acepta pacíficamente el concepto de delito a partir de
una teoría jurídica del mismo que no ha recibido totalmente los avances
de las diversas ciencias sociales, los cuales han enriquecido cuantiosa-
mente el conocimiento sobre el comportamiento humano, la pregunta se
justifica. Más aún, si todavía ese enfoque dogmático-jurídico no ha
acogido en plenitud los aportes que la filosofía, la sociología y la
economía políticas - o sea lo que supone un enfoque económico-

(6-7 de noviembre de 1985). El trabajo de Reyes Echandta (1984) fue precisamente leído
durante un Seminario en que se discutía el tema del control social en América latina; el
mismo quedó inédito pero de su contenido es posible extraer las causas por las cuales no
casualmente parecen haber caído Reyes y Sandoval (en cuyo trabajo de 1985 también se
revelan dichas causas). En efecto, si bien la investigación de los hechos del Palacio de
Justicia, en Bogotá no parece en el plano eficial llegar a un esclarecimiento - más bien se
mantiene la confusión - , es en los ámbitos periodísticos y de la propia opinión pública que
existe el convencimiento acerca de una responsabilidad compartida entre el Ejército, la
Policía y la propia clase política (encabezada por el mismo Presidente de la República) con
relación a las decisiones tomadas para producir el ataque militar contra los ocupantes del
Palacio y haber impedido el cese del fuego, pese a los ruegos de Reyes Echandía, Presidente
de la Corte Suprema de Justicia que junto a otras víctimas inocentes eran rehenes del grupo
guerrillero. Lo sucedido es una prueba más - junto a otras múltiples víctimas producidas en
los círculos de unas disciplinas jurídica y criminológica críticas de hasta qué punto es
peligroso en Latinoamérica la denuncia del sistema de dominación ejercido a través de la
DSN. Pero, asimismo, constituye una legitimación del discurso crítico y reflexivo en torno
al control social y particularmente respecto del sistema penal.
228 Roberto Bergalli

estructural - han brindado para desvelar ciertos aspectos ocultos de la


denominada cuestión criminal.
Por el contrario, encontrarán fuera de lugar aquella pregunta quienes
participen de la opinión que la definición de lo delictivo ha de estar
principalmente orientada por la idea de daño social o de lesión de
intereses sociales. En este sentido adquiere auténtica validez el pensa-
miento criminológico que ha integrado las contribuciones de aquellas
disciplinas, las cuales han permitido ahondar en el sistema de relaciones
entre Estado y sociedad civil, poniendo al descubierto una deformada
concepción de la criminalidad que viene diseñada desde la superestruc-
tura.

1. Este breve esbozo último pretende encerrar el desarrollo observado


por la teoría criminológica, acaecida en el ámbito cultural del centro del
sistema capitalista de producción. La transición de una criminología,
labrada en el marco del Iluminismo, marcada luego a fuego por el
Positivismo, y enriquecida con las aportaciones del Funcionalismo - con
sus diversas hipótesis que presumieron de explicar el origen de la
criminalidad y la desviación en general - , la sociología del conflicto o por
fin el Interaccionismo simbólico, permitió consolidar un objeto com-
plejo o articulado de conocimiento. El delito como ente jurídico, el
delincuente, la desviación dentro de la incuestionada estructura social y
el propio aparato de control social - tanto el informal como el jurídico-
penal formalizado - , han constituido los diversos pasos o «hallazgos» del
desarrollo observado.
Mas el acaecer de esa teoría criminológica, que puede calificarse como
liberal, ha recibido una contrastación patente al ser encuadrada en una
reflexión crítica, de cuño marxista. La consecuencia puede valorarse
como positiva en tanto la configuración de la cuestión criminal resulta
formar parte de toda una concepción global de la sociedad. La tradicio-
nal definición del delito cae así dentro del cuestionamiento general que se
formula al discurso jurídico (cfr. Novoa Monreal 1985), fuertemente
influenciado por el Positivismo y la denominada teoría pura del derecho.
Por ende, la criminología ya no puede nutrirse únicamente del saber de
los juristas y se incorpora así al área más comprensiva de una ciencia
social enriquecida por esta reflexión sobre el comportamiento criminal,
la cual ahora sí participa en el análisis de los sistemas de dominación
política.

2. La presencia de una reflexión criminológica, en lo que provisoria-


mente se denomina espacio cultural latinoamericano, es un hecho de
manifiesta constatación desde hace mucho tiempo. El propio Lombroso
lo había verificado desde su perspectiva, cuando prologó la obra de Luis
Teoria criminológica Latinoamericana 229

María Drago (v. Lombroso 1890) y Jiménez de Asúa lo puso de relieve,


señalando el valor de los trabajos de los juristas-criminólogos vinculados
en Argentina a una concepción positivista de la criminalidad (cfr.
Jiménez de Asúa 1947; 1964) e, incluso, a un proyecto político concreto
para el país (cfr. Ricaurte Soler 1968, 153-156 y 159-166).
El influjo del determinismo biológico en las teorías sociológicas
cientificistas fue muy marcado a la hora de constatar la introducción de la
disciplina sociológica, por ejemplo en la Universidad de Buenos Aires -
lo que ocurrió en 1895 - , la cual disciplina ya había obtenido un
reconocimiento como tal desde muchos años antes. En el desarrollo de
un biologismo sociológico ha de destacarse la obra de José Ingenieros
quien es considerado el padre de la criminología argentina y seguramente
el más consistente sistematizador en todo el continente de la orientación
clínica (v. Blarduni 1976). Pese a su formación marxista y a su interpreta-
ción materialista de la historia latinoamericana y argentina, es llamativa
la coincidencia de Ingenieros, sobre el plano metodológico en la interpre-
tación del fenómeno criminal, con los juristas liberales y conservadores
que tanto impulso dieron al positivismo criminológico. En este sentido
puede afirmarse que, en la medida en que la filosofía positiva servía como
la mejor vía para concretar el orden y el progreso en los nacientes países
(la propia bandera brasileña lleva grabado este lema «Ordem e Progreso»
como prueba de la recepción del Positivismo en los procesos indepen-
dentistas latinoamericanos), también ayudó a consolidar la primera fase
de expansión del capitalismo orientado por las clases dominantes e ilus-
tradas.
En general, es la descripta la tónica observada por la recepción
positivista en Latinoamérica, aunque quizá la razón ostensible de asimi-
lación ferviente de esta doctrina haya sido la que señala Leopoldo Zea (v.
1976, 80), en el sentido de que: «El Positivismo fue en todos estos casos
(de los distintos países latinoamericanos) un remedio radical, con el cual
trató Hispanoamérica de romper con un pasado que la abrumaba».

3. Las consecuencias que el pensamiento positivista comportó en la


marcha de la investigación y la teoría criminológica en América latina
han quedado ya definitivamente constatadas. Diversos autores se han
ocupado de ello, incluido quien aquí escribe (cfr. por todos los trabajos
en que se ha insistido sobre el tema, Bergalli 1982 a), pero quizá sea un
trabajo decisivo en esta tarea el que realizó Rosa del Olmo (1981).
Importante es señalar que tanto en la labor de del Olmo, como en las de
los demás, un elemento central ha constituido el de poner en evidencia la
conexión que dicha orientación ha observado en el proceso de consolida-
ción del sistema de dominación (destacado en la Introducción de este
ensayo) que ha hecho de la injusticia social y de la marginación sus
230 Roberto Bergaiii

características principales. Pero ha sido en la década de los años setenta,


con la emergencia de las burocracias autoritarias - cuya identificación fue
hecha con claridad por O'Donnell en diversos trabajos suyos en el
comienzo de una teoría crítica del Estado latinoamericano (v., por todos,
1979) - , que el Positivismo criminológico prestó un decisivo apoyo al
despotismo, suministrando las «bases científicas» y las categorías esen-
ciales para homogeneizar el disentimiento político con la peligrosidad
criminal (cfr. Bergalli 1983 b). Esta situación quedó visiblemente refle-
jada en la legislación defacto creada por las dictaduras militares surame-
ricanas de dicho período, desde las cuales fue combatida la llamada
«subversión» que, en muchos casos, recurrió a la lucha armada enfren-
tando el terrorismo de Estado ejercitado desde el poder por las Fuerzas
Armadas. A través de esta estructura jurídica, de esa nueva legalidad del
terror, se prolongó el ataque contra todo tipo de oposición confun-
diendo al disconforme político con el enemigo eversivo. El nefando
resultado de todo esto ha quedado patentizado en la investigación llevada
a cabo en Argentina por la Comisión Nacional para la Desaparición de
Personas (CONADEP), la cual elaboró el Informe que ahora todo el
mundo conoce en forma resumida bajo el título Nunca más (1984) y que,
en buena medida, también ha sido demostrado en el juicio celebrado
contra los nueve Comandantes de las tres primeras Juntas militares que
gobernaron el país en el período de 1976-1983.

4. Pues bien, frente a semejante desarrollo de la disciplina criminoló-


gica, un movimiento que con el tiempo se ha ido nutriendo progresiva-
mente - con mayores o menores vaivenes, descriptos en distintas versio-
nes por Lola Aniyar de Castro (1984) y muy recientemente por Rosa del
Olmo (1985) - ha comenzado a elaborar una reflexión autónoma sobre la
cuestión criminal en Latinoámerica. Dicha autonomía está pensada sobre
dos niveles; uno, en el que desvinculándose del discurso y la tradición
positivista, la determinación de la verdadera esencia de esa cuestión
criminal y de las formas de su control se alimente con los aportes de
otros filones disciplinarios, los cuales sirvan para definir - más allá del
médico y del jurídico - los verdadersos objetos de conocimiento; otro, en
el que aun utilizando los desarrollos que el pensamiento crítico y
reflexivo había procurado al nacimiento y avance de una criminología
crítica o radical en los ámbitos culturales anglo-norteamericano y euro-
peo continental, la vinculación eurocéntrica que había revelado la crimi-
nología en Latinoamérica se produjera de una manera que sirviera para
enmarcarla de forma global y como una parcela más de la ciencia social -
tal como ocurriera en los campos de la filosofía, de la teología o de la
ciencia política - dirigida hacia el objetivo de la liberación latinoameri-
cana {Aniyar de Castro 1981 y 19.84 b; Bergalli 1982 b y 1984).
Teoria criminológica Latinoamericana 231

Diríase que el primero de los niveles de autonomización de la crimino-


logía latinoamericana ha sido «parcialmente» 2 cubierto con la labor
cumplida, a lo largo de once años, por el denominado Grupo de
Criminología Comparada, coordinado por el Instituto de Criminología
de la Universidad del Zulia, Maracaibo (Venezuela). Las investigaciones
empíricas emprendidas sobre campos no tradicionales del conocimiento
criminológico, de forma comparativa en diversos países del área, por
científicos sociales de distinta procedencia disciplinaria, han procurado
de verdad unos resultados francamente novedosos. El iter de dicha labor
- que comienza en 1974 con el tema de la «violencia» y se continúa con el
proyecto sobre el delito de «cuello blanco» que inicia en 1979 - supone,
sin duda, un salto cualitativo en la forma del conocimiento de la cuestión
criminal en los países latinoamericanos, por lo menos hasta 1981 en que
c o m o lo acaba de señalar del Olmo (cfr. 1985 op. cit., 5 0 - 5 1 ) ocurren
unos sucesos que transforman el desarrollo del nuevo movimiento y la
producción del Grupo de Criminología Comprada asume otro ritmo.
O c u r r e en que el tal año de 1981, y sobre la base de los aportes dados
por ese cúmulo de datos surgidos de aquellas investigaciones compara-
dos, se plantea la necesidad de formular una propuesta teórica. L a
constatación de que la criminalidad que más daño social genera en
América latina no es la que aparece encerrada por las definiciones
jurídicas de los Códigos y las leyes penales, ha adquirido para entonces
una solidez definitiva. E n consecuencia, era preciso poner de relieve, por
un lado, que son las estructuras económicas injustas y el abuso del poder

2 Dícese «parcialmente» pues la actividad de este Grupo ha estado auspiciado por el

denominado Centro Internacional de Criminología Comparada de la Universidad de


Montreal, Canadá. Este ente constituye uno de los tantos difusores del saber criminológico
internacionalizado, producido desde el centro del sistema capitalista. Si bien es verdad que
este detalle no ha significado, en los hechos, más que una presencia personal de los
directivos de aquel Centro en las reuniones del Grupo de Criminología Comparada,
también es cierto que se convirtió en una de las formas para vehiculizar la idea de que los
estudiosos de la cuestión criminal en América latina deberían mantenerse adheridos a las
propuestas que emergen de los ámbitos de producción de aquel «saber», tal como entre
otros lo son los congresos de la Sociedad Internacional de Criminología, órgano éste
claramente orientado por los principios de una manera de entender la disciplina criminoló-
gica que precisamente contradice la voluntad de que ésta adquiera su propia autonomía en
América latina. Vale la pena aclarar que esta afirmación no pretende insertar a su Autor en
una polémica - que ha de esperarse esté superada - la cual concretamente se centraba en el
tema de los supuestos beneficios o desventajas que podían acarrear para el Grupo
latinoamericano las relaciones con el aludido Centro de difusión transnacional de los
sistemas de control social. La presente reflexión sólo ha de considerarse como una
constatación en la evolución de los acontecimientos en torno a la concreción del pensa-
miento crítico en América latina que, por supuesto, no observa un desenvolvimiento
lineal ni homogéneo, como tampoco lo son otros aspectos del proceso de liberación
latinoamericano.
232 Roberto Bergaiii

político por grupos minoritarios las situaciones más capaces de producir


perjuicios difusos sobre la masa social y, por otro lado, al verificarse el
papel subalterno que la criminología tradicional había cumplido en la
legitimación de un derecho penal desigual para Latinoamérica, fue
imperioso reivindicar la redefinición de las categorías y los elementos del
derecho penal liberal como medio de control social, de manera tal que
con él pueda combatirse la opresión y el autoritarismo estatales sin hacer
abstracción de las garantías propias al mismo.
Estos aspectos fueron los puntos centrales del Manifiesto aprobado
por el nuevo Grupo de Criminología Crítica que nace en la reunión de
Azcapotzalco (México D. F.) celebrada el 27 de junio de 1981 (cfr.
Bergalli 1982 b, op. cit., 299-301 y Capítulo Criminológico, nros. 9/10,
Órgano del Instituto de Criminología de la Universidad del Zulia,
133-137). Con él se echaron las bases para la tentativa de construir una
teoría crítica del control social en América latina y los sucesivos Encuen-
tros de este Grupo - Medellín, agosto de 1984 (v. Centro de Criminolo-
gía 1984) y Managua, septiembre de 1985 (las ponencias presentadas
están en vía de publicación en la revista Poder y Control, de Barcelona)
- han venido generando reiterados esfuerzos en aquella dirección.
A tal punto ha sido proficua la elaboración de una teoría crítica del
control social que, de los planteamientos iniciales que quien aquí escribe
sostuvo en 1982, vinculados con los que se consideraron parámetros
centrales de una simil tarea o bien labor inmediata de una criminología
latinoamericanista, liberadora y transformadora de la realidad social -
como para la filosofía lo ha propuesto Cerutti Guldberg, en sus diversos
ensayos sobre el tema y finalmente en su enjundioso libro (v. 1983), al
identificar las vías emprendidas por la filosofía de la liberación latino-
americana - cuales son, el de una revisión histórico-epistemológica de la
disciplina y una contribución a la construcción de una teoría política
propia del continente, se ha desprendido una interesante discusión. En
efecto, a partir de aquella propuesta, este Autor llegó posteriormente a la
reflexión de que si bien es verdad que todo ejercicio de la dominación en
América latina ha pasado a través de una estrategia de control social que
asume las formas más despiadadas, lo que ha llevado a la legítima
propuesta de elaborar una teoría crítica de semejante control, también es
cierto y necesario establecer las diferencias entre el genus control social y
el typus control jurídico-penal que por primera vez formulara Kaiser
(v. 1972, 1-31 y 1980, 160 ss.) o sobre las que más recientemente ha
discurrido Hess (1983, 529).
Semejante reflexión emerge de la constatación que si bien el último
tipo de control aludido ha continuado reconociendo en América latina su
matriz ideológica en las pautas de la lógica: dominación-control social,
también ha de ser objeto concreto de un estudio sociológico sobre los
Teoria criminológica Latinoamericana 233

intereses que se mueven en el proceso de creación de las normas jurídico-


penales y, asimismo, respecto de aquellos que impulsan, en una determi-
nada dirección, las instancias de aplicación de dicho modo formalizado
del control. Así surgió la idea de denominar una labor de tal naturaleza
como sociología del control penal (cfr. Bergalli, 1984) y como parcela
también diferenciada de la criminología, término éste último y disciplina
los cuales, en razón de sus orígenes y parámetros positivistas, apegados
al paradigma etiológico en torno al estudio de las causas del comporta-
miento criminal individual, han de quedar destinados, en todo caso, para
designar y aplicar la labor clínica, orientada hacia la técnica clasificatoria
y de tratamiento de individuos en los ámbitos de la reclusión penitencia-
ria. De esta manera se ha vuelto a reiterar la idea (v. Bergalli, 1985).
Mas la discusión que ha provocado la reflexión en cuestión nace
cuando se interpreta que la propuesta consistiría en «recortar» las
aspiraciones del tipo de criminología emprendida (v. Aniyar de Castro
1985, 22) por el Grupo Crítico. Es decir, se interpreta que la teoría crítica
del control social - a la cual quien escribe sigue adhiriendo sin reservas -
podría quedar restringida al estudio del control jurídico-penal. Lo que es
más grave aún, se supone que dicho recorte estaría fundado en una
imputada «sensación de impotencia» que limitaría asumir un «tema tan
arduo, multiespecializado y complejo».
Está claro que cuando se propusieron los parámetros centrales o bien
la labor inmediata de una criminología latinoamericanista, liberadora y
transformadora de la realidad social, uno de ellos - la revisión histórico-
epistemológica de la displina - suponía precisamente una tarea como la
propuesta y que ahora se discute. Es decir, pretendía el esclarecimiento
del campo epistemológico de la teoría crítica del control en América
latina compuesto de diversas parcelas; una de ellas, siempre enmarcada
por la lógica: dominación-control social, merece el análisis que para ella
se propuso, lo cual no persigue practicar división alguna, en ejercicio de
la vieja ideología de la separación de los ámbitos de conocimiento.
N o hay, por lo tanto, ni impotencias ni ánimos de hurtar terrenos de
análisis. Para el caso, la teoría crítica del control social y la sociología del
control penal navegan en el mismo barco o sea en el que quiere llegar al
puerto del desvelamiento total de las formas de dominación que tiene
rostros tan despiadados como otros más sutiles.

II
Es de toda evidencia que interpretar la cuestión criminal en América
latina desde la perspectiva crítica, en la cual son primordiales los análisis
económico-estructurales y político-sociales, no constituye la única
manera de hacerlo. Antes bien, conviene resaltar que tal interpretación
234 Roberto Bergaiii

no sólo no es homogénea sino que tampoco es privativa de lo que puede


denominarse cultura criminológica latinoamericana3, en la cual, como ya
ha quedado señalado, ha predominado hasta no hace mucho, la antigua y
hegemónica tradición positivista.
1. Pues bien, es precisamente la característica que se destaca la que ha
provocado, según parece, la mayor imposibilidad para que Christopher
Birkbeck pudiera concretar con éxito su loable empeño de examinar
acabadamente las posibilidades, revisándolas analítica y metodológica-
mente, de existencia de una teoría latinoamericana en la criminología
(v. Birkbeck 1984). Otro obstáculo que seguramente también ha impe-
dido a Birkbeck de identificar los elementos que en primer lugar distin-
guen a los autores por él analizados globalmente, sin distinguir con
precisión la matriz crítica que separa a unos de otros con raigambres
positivistas y que, luego, lo han inconscientemente impulsado al estudio
simplificado de su problema desde un punto comparativo con las teorías
criminológicas elaboradas en los países centrales, sin advertir que el
empleo de adjetivos comunes («crítica», «crítico») no traduce una identi-
dad de cuestiones, ese obstáculo ha sido la limitada utilización de una
bibliografía que llega hasta el año de 1982 (por lo menos en lo que
respecta a quien aquí escribe). De esta forma se ha obviado de tener en
cuenta la producción que en este último tiempo más ha profundizado en
América latina el estudio de la cuestión criminal mediante enfoques
económico-estructurales y político-sociales; como sóla muestra vale la
pena recordar aquí un trabajo modélico en semejante perspectiva, cual es
el último del malogrado Emiro Sandoval Huertas (1985) quien precisa-
mente supo poner de manifiesto las constantes del sistema jurídico-penal
de control social en Colombia, orientadas hacia la protección del bloque
dominante.
No obstante, de una forma u otra, el intento de Birkbeck ha sido
hecho con toda seriedad y puesto que este Autor proviene de un ámbito

3 Un elemento que confirma este juicio lo proporciona el propio análisis de Christopher


Birkbeck - que viene examinado en el texto - en el cual se entremezclan autores que no
participan de la misma perspectiva criminológica e, incluso, asumen principios ideológicos
y políticos muy distantes entre sí, lo cual será señalado con énfasis en el mismo texto.
Como se alude, la reflexión crítica también ha recibido algunos cuestionamientos en el
ámbito latinoamericano, de similar entidad y seriedad que los que aquí pasan a analizarse.
Por ejemplo, Carlos Tozzini ha formulado diversas reflexiones en torno a las propuestas
críticas y de ellas puede extraerse que a lo que él llama categoría social de la criminología -
que según este autor utiliza el método de las ciencias sociales - habría que reprocharle el
haber tomado una derivación hacia explicaciones directa o indirectamente políticosociales
del comportamiento desviado lo cual estaría acarreando una gran confusión metodológica.
Ahora bien, puesto que ya se han dedicado amplios comentarios y respuestas a los
análisis de Tozzini (v. por todos, Bergalli op. cit. 1985), en esta ocasión se dedicará
atención a otro de los cuestionamientos formulados.
Teoria criminológica Latinoamericana 235

cultural foráneo al latinoamericano (aunque ya se encuentra física y


emotivamente incorporado a él), lo que supone de su parte un impor-
tante esfuerzo por comprender una realidad que le era extraña, merece
respeto y una respuesta todo lo amplia que lo permita una intervención
como la presente.
De lo que Birkbeck supone como postulados que emergen de la
heterogeneidad de autores que él examina (sin hacer disquisición alguna
acerca de sus procedencias político-culturales y científicas, que sí existen
entre ellos y hubiera sido prudente tenerlas en cuenta) para construir una
supuesta teoría criminológica latinoamericana, él formula cinco observa-
ciones críticas que aquí sencillamente se enuncian:
a. Nunca se define (por dichos autores) el sentido de teoría, ni la
relación entre conceptos teóricos y ámbitos empíricos;
b. Se observa poca discusión sobre el concepto de «América latina»;
c. Nunca se establece claramente en qué consiste lo distintivo de
América latina, ni se demuestra cómo, o porqué las teorías crimi-
nológicas existentes no son aplicables;
d. La «nueva teoría criminológica» o la teoría «alternativa» (que se
auspicia), es también importada; y
e. N o se observa en este momento una teoría criminológica «latino-
americana», con conceptos teóricos propios y explicaciones distin-
tas a las ya existentes.
Pero, si bien estas observaciones de Birkbeck implican dificultades
para la formulación de una teoría criminológica latinoamericana, él dice
que no significan en sí mismas que sea imposible construir una teoría de
este tipo (es posible que esta afirmación suponga una previsión acerca de
la tentativa de construir una teoría crítica del control social en el
continente). De allí que el Autor analizado intenta - desde unos puntos
de vista a los que dice no adherir pero que se basan en el llamado
empirismo lógico - definir una teoría criminológica latinoamericana, fijar
sus requisitos y señalar los problemas que deben superarse para arribar a
ese fin.
2. Aunque ya se han hecho algunas réplicas a las observaciones de
Birkbeck (cfr. Aniyar de Castro, op. cit. 1985; Bergalli, op. cit. 1985),
aquí se emprende una más puntual. Con ese objeto - y puesto que así lo
permiten - las cinco observaciones de Birkbeck han de ser repondidas en
dos análisis separados: uno, que encierra las críticas a. y d.; otro, que
incluye las aludidas en b., c. y e.
A. En los puntos a. y d. Birkbeck hace referencias concretas al concepto
de teoría del que, como expone, los autores por él analizados hacen uso
pero sin entrar a definirlo, de modo que el contenido semántico del
término resultaría vacío.
236 Roberto Bergalli

Atendiendo a esta observación es que Birkbeck no encuentra, en


quienes se ocupan de la criminología en América latina, observación
alguna sobre lo que él denomina «problématica relación entre conceptos
teóricos y referentes empíricos» y de tal forma así quedaría impedido de
«establecer los criterios formales que fundamentarían la posibilidad de
una teoría latinoamericana».
Es por estos motivos apuntados que Birkbeck intenta, más adelante en
su ensayo, una definición partiendo de la idea de estructura de una
teoría, suministrada por el empirismo lógico, antes que de la característi-
cas formales de teoría. A partir de ello y de la dicotomía entre lenguaje
teórico y lenguaje observacional, tan importante para el Positivismo,
Birkbeck se plantea la necesidad de la interpretación de los términos
teóricos respecto de los empíricos para que la teoría sea útil en la ciencia
empírica. De esta forma, y también mediante las ideas de reglas de
correspondencia y definiciones operacionales, llega al concepto de texto de
una teoría y de éste al de dominio (dominio contrastable y dominio
verificado de una teoría), señalando que dada la importancia de los
dominios en las ciencias sociales - pues ellas «no necesariamente se
ocuparían de conceptos o procesos universales» — uno de los problemas
metodológicos que aquejan a ellas concierne a la adecuada especificación
de los dominios para cada teoría.
Asentadas estas observaciones, Birkbeck ensaya una definición de lo
que sería una teoría criminológica latinoamericana, según su opinión:
«un conjunto de enunciados sistemáticamente relacionados, que
incluyen algunas generalizaciones del tipo de una ley, que es empírica-
mente contrastable, y cuyos dominios indican contrastabilidad y/o
validez específica para la región latinoamericana, debido a la particulari-
dad de los procesos criminológicos que allí se observan».
Señala asimismo Birkbeck que cuando ciertos autores por él analiza-
dos «rechazan el positivismo criminológico (sin precisar su contenido,
afirma) proponen una teoría para América latina generalmente basada en
alguna versión del marxismo y esbozada por la criminología crítica». Así
concluye que de tal manera se habría producido una confusión de dos
problemas inherentes a la contrucción de una teoría, cuales serían: el de
la especificidad social de una formulación teórica y el de su contenido
ideológico, pues - continúa Birkbeck - rechazar el «positivismo crimino-
lógico» e importar la «criminología crítica» no es crear una teoría
«latinoamericana».

a) Pues bien, una primera pero decisiva consideración (que, sin


embargo, parte del último aspecto de las observaciones sintetizadas) que
merecen los reproches de Birkbeck condensados aquí, se relaciona con
una particularidad esencial de los análisis que él dice haber tenido en
Teoria criminológica Latinoamericana 237

cuenta, pero que no surge de sus palabras: todos ellos se enmarcan en la


estimación que el tipo de criminología producida por y para América
latina hasta el momento de la aparición de los enfoques encarados por
Birkbeck, también ha sido producido en origen fuera del continente
latinoamericano (basta recordar lo que se señaló al comienzo de este
trabajo - v. I 2. - en cuanto a las verificaciones hechas por Lombroso y
Jiménez de Asúa). Por otra parte, la estrecha relación entre el Positi-
vismo y la consolidación del sistema liberal burgués en Europa se
reprodujo en América (lo que también fue señalado antes) hasta prolon-
garse en la afirmación del despiadado proyecto de dominación hegemó-
nica que llevaron a cabo las burocracias autoritarias, confirmando así un
proceso de concentración imperial-capitalista que ahora se expresa
mediante flagrantes intervenciones en Centroamérica.

b) Igualmente, la división del mundo capitalista en países centrales y


periféricos - como son los latinoamericanos - , obliga a analizar la
realidad social de estos últimos en términos que sólo pueden ser com-
prendidos por conceptos como los de teoría y práctica, tal como fueron
enunciados en origen por Marx en sus Tesis sobre Feuerbach (cfr.
K. Marx / F. Engels 5 a. ed. 1974). De semejante concepción nacen
algunos de los análisis que Birkbeck cuestiona y su aparente olvido de
este detalle parece debilitar sus críticas.
Empero, como se sabe, la relación que el materialismo dialéctico y su
evolución posterior ha construido entre ambos conceptos - incluyendo
la polémica que desató la propuesta de Althusser acerca de la práctica
teórica, aunque luego él mismo se rectificara intentando situar dicha
relación sacándola de la interioridad de la teoría misma (tal como lo ha
expuesto Adolfo Sánchez Vázquez 1978, esp. 61-72) - no tiene la
naturaleza que le atribuye el empirismo lógico. Es decir, no puede
hablarse de una teoría que debe ser sometida a un proceso sistemático de
verificación, o sea de comparación de ella con los datos empíricos para
establecer su validez, sobre todo cuando tales datos vienen predetermi-
nados por unos indicadores incuestionados como en el caso de la
criminología tradicional. Hay que hablar, más bien, de una salida del
campo teórico y situarse en la práctica o sea en la historia real de una
formación social que responda a características homogéneas, como para
comprender el proceso de producción de conocimientos que permitirá
transformar los objetos reales (para el caso de la criminología latinoame-
ricana constituidos por masivas violaciones de derechos humanos, pro-
cesos de exclusión de amplias franjas sociales campesinas y urbanas,
creación de normas jurídico-penales orientadas por intereses minorita-
rios, aplicación de las instancias de control penal en perjuicio de los
marginados sociales, etc.) en objetos de conocimiento criminológico.
238 Roberto Bergaiii

Este es el sentido de teoría que cabe atribuir a los análisis que critica
Birkbeck (por lo menos a los de Aniyar de Castro, del Olmo y quien aquí
escribe) y aunque por razones de espacio es imposible prolongar esta
explicación, semejante sentido permite descartar la concepción de una
disciplina criminológica aferrada a la definición del delito dada única-
mente por la ley penal, tal como la que ha guiado a Birkbeck en su
crítica.
Asimismo, vale la pena aquí recordar, la propuesta de construir una
teoría del control social en América latina (la cual, justo es reconocerlo,
nace casi contemporáneamente en la época en que Birkbeck termina el
examen de la literatura para formular sus observaciones) descarta de
hecho el concepto de criminología al que parece adherir nuestro crítico
quien, dicho sea de paso, al no ser explícito en este punto, parece quedar
vinculado a la tradicional perspectiva positivista.
B. Pasando ahora al núcleo de cuestiones que encierran los puntos b., c.
y e. de las observaciones de Birkbeck, se observa que el eje de ellas se
asienta sobre el concepto de «América latina», al que los autores por él
señalados parecemos referirnos por algo distintivo, lo cual no aparece -
según afirma - nunca claramente establecido.
En el sentido que se indica, es verdad que no existe homogeneidad en
quienes nos hemos ocupado del tema y que, incluso, esa heterogeneidad
y supuesta obscuridad conceptual permiten extraer las conclusiones a las
que ha llegado Birkbeck, en cuanto América latina resulta ser un término
tomado del discurso cotidiano y no del discurso teórico, que su conte-
nido es impreciso y depende del criterio de definición que se adopte. Por
ello, como clase de países, «América latina» no se presenta en nuestros
estudios como correspondiendo necesariamente a las clasificaciones de
dominios que impliquen las teorías criminológicas.
Para Birkbeck, esa falta de correspondencia que supone una tentativa
de forjar (y forzar) las teorías criminológicas en boga en el molde
«latinoamericano» puede distorsionar la relación entre teoría y referentes
empíricos. De tal modo, en vez de utilizar la categoría «América latina»
a priori, para orientar todo el discurso criminológico, Birkbeck afirma
que es mucho más aconsejable construir los dominios teóricos en tema
de investigación.
Por la distinta procedencia de enfoques, de formación y orientación
epistemológica de los autores que Birkbeck encierra en las mismas
observaciones (Canestri, Drapkin, Rico y quien escribe), cabe un análisis
separado de ellos por lo cual aquí únicamente han de asumirse las que
atañen.
a) Es posible que - como dice Birkbeck - la adopción de un criterio
geográfico, agrupando (aunque admitiendo cierto nivel de heterogenei-
Teoria criminológica Latinoamericana 239

dad) a todos los países que ocupan una porción de hemisferio - como se
hizo en un trabajo ya muy antiguo (cfr. Bergalli 1972, 17-24) - , pueda
provocar que esa clasificación no aparezca respondiendo a las propieda-
des (criminológicas) que se deseen estudiar, provocando una distorsión
en la lógica de la clasificación que según el empirismo lógico debería
primar en las definiciones. O sea, que una teoría criminológica «latino-
americana» requeriría que el dominio contrastable y/o verificado de la
misma debe coincidir con lo que se considere «América latina».
Ahora bien, ocurre que el dominio contrastable y/o verificado a que se
refiere Birkbeck (en la terminología del empirismo lógico) coincide
efectivamente con el objeto de conocimiento criminológico en el que él
piensa, o sea: delito definido tradicionalmente por la ley penal incuestio-
nada, y en el que pensaba quien subscribe el presente trabajo, influido
como estaba por los resabios de una formación positivista - tal como ha
sido reconocido expresamente (v. Bergalli op. cit. 1982, Introducción
esp. IX) - en la época de emitir aquella clasificación. Pero no el objeto de
conocimiento en el que ahora piensa quien aquí reflexiona. Por lo tanto,
la crítica al criterio geográfico elegido para determinar el espacio latino-
americano ya no es más válido, por lo menos hasta que no se cuestione
también la concepción de la disciplina que se ha venido sosteniendo
(v., sobre todo, supra - I - 4.).
Por lo demás, siendo sin embargo muy claro que hasta cierto
momento ha existido una dificultad para tratar los distintos países
latinoamericanos como parte de una unidad interna regional y en clara
diferenciación del resto del mundo, actualmente y desde hace un tiempo
esto no se produce más.
Como bien acaba de sostener Ana Pizarro: «América latina es un
concepto que ha sido - que aún a veces hoy lo es - controvertido y que
constituye de hecho una noción histórica en evolución» (v. 1985, 1.
Introducción, 13). Entrando ya en su tema, la autora dice que: «El
interrogante sobre qué es la literatura latinoamericana está directamente
ligado a la noción misma de América latina como concepto. Esta noción,
como sabemos, surge en la segunda mitad del siglo pasado, en la voz del
colombiano José María Torres Caicedo. Con una proyección integradora
y diferenciadora, así reflexiona (éste) en 1875: <hay América anglosajona,
dinamarquesa, holandesa, etc.; la hay española, francesa, portuguesa, y a
este grupo ¿qué denominación científica aplicarle sino el de latina?>. La
noción de América latina surge como oposición a la noción de América
sajona, tal como lo afirma José Martí en el mismo período, quien las
opone y delimita con la noción de nuestra América, que es la América en
que nació Juárez y de la cual hace un análisis comparable al que han
desarrollado las ciencias sociales latinoamericanas a mediados de este
siglo» (Pizarro op. loe. cit., 15).
240 Roberto Bergaiii

Es verdad que la apertura de este concepto al Caribe es más tardía.


Esto se produce más avanzado el presente siglo, cuando la propia voz
Latinoamérica o América latina tenía ya un reconocimiento continental y
los organismos internacionales lo usan abiertamente. Aparecen, de este
modo, la Comisión Económica para América latina (CEPAL), el Consejo
Latinoamericano de Ciencias Sociales (CLACSO) del que depende la
Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) y así hasta el
nacimiento del Sistema Económico para América Latina (SELA) que
quizá haya sido el ente que más ha influido en la utilización de la
expresión «América latina y el Caribe». Lo cierto es que existen lazos
estructurales de conformación cultural que tienen que ver con formas
similares de existencia histórica, de respuesta económica, social y cul-
tural que encuentran su expresión en los diferentes discursos de las
ciencias sociales y políticas, a pesar de la distinta metrópoli coloniza-
dora.

b) Es seguramente un signo distintivo de lo «latinoamericano» la capaci-


dad de respuesta unitaria que países muy heterogéneos entre sí demues-
tran en distintos niveles de sus propios desarrollos. Esto se ve con
claridad en dos cuestiones, intrínsecamente ligadas entre sí, que han
condicionado tanto las estructuras socio-económicas como hasta la
propias formas que el Estado en América latina ha venido revelando. Las
raíces históricas de la dependencia y el imperialismo como factor origina-
rio son, en efecto, las que poco a poco han venido conformando esa
capacidad de respuesta que si bien, de momento, ha producido dos
modelos distintos de revolución autóctona (Cuba y Nicaragua), ha
tenido y tiene una expresión creciente en los distintos movimientos de
liberación nacional. Otra manifestación de la capacidad señalada es, sin
duda, la transformación que se viene operando - sobre todo en el sur del
continente - en los sistemas de dominación política que formalmente
están adquiriendo las expresiones de la democracia liberal. Una y otra de
estas formas de respuesta son ciertamente consecuencia, más o menos
positiva, de las dos cuestiones mencionadas (esta idea proviene de unas
interesantes reflexiones de Hugo Chumbita, cfr. 1984, 269-274).
La interpretación de la capacidad de respuesta a que se alude es motivo
de todas aquellas disciplinas que se han venido ocupando de los distintos
aspectos que exhibe el condicionamiento de la realidad social latinoame-
ricana. Una teoría crítica del control social y una sociología del control
penal constituyen dos — tal como han sido aquí concebidas - formas
adecuadas de interpretar aspectos particulares de esa realidad. Sin
embargo, y como lo demuestra esta misma polémica que amistosamente
abrimos con Birkbeck, ambas se encuentran en plena etapa formativa y,
por lo tanto, sujetas y abiertas a todo tipo de cuestionamiento. Si por lo
Teoria criminológica Latinoamericana 241

demás estas vías también se encuentran en un incipiente proceso de


conformación de objetos de conocimiento, entonces es posible y justifi-
cado que las categorías y elementos teóricos que empleen sean los
propios del discurso maduro de la criminología crítica elaborada en los
países centrales. Esto, por cierto, y creo que afortunadamente de cara a
obtener una plena autonomía en el análisis de la auténtica cuestión
criminal, no significa la existencia de una criminología crítica latinoame-
ricana como sabiamente acertó a señalarlo poco antes de su asesinato el
querido y entrañable compañero Emiro Sandoval Huertas (cfr. op. cit.
1985, 7); ella se está concretando con formas y expresiones propias e
idóneas para la realidad que debe aprehender.

Zusammenfassung
In einer kurzen Einleitung werden die Gründe, weshalb heute Latein-
amerika ein reich erörtertes Thema ist, untersucht. Diese Gründe und
deren unheilvolle Konsequenzen haben eine enge Beziehung zu den
durch die Abhängigkeit gekennzeichneten sozio-ökonomischen Struk-
turen der lateinamerikanischen Länder. Die Situation hat sich in den
letzten zwei Jahrzehnten aufgrund des Einflusses zweier wichtiger Fak-
toren verschlimmert: die entscheidende Rolle des Militärs und die
zunehmende Intervention der imperialistischen Politik der Vereinigten
Staaten von Nordamerika in die inneren Angelegenheiten der lateiname-
rikanischen Länder.
Diese Gründe erklären die besondere Entwicklung des kriminologi-
schen Denkens Lateinamerikas, das im Zentrum des kapitalistischen
Produktionssystems offenbar eine Vertiefung erfahren hat. Diese Ent-
wicklung - eine struktur-ökonomische Perspektive, die durch eine
kritische Reflexion orientiert ist - widerspricht der traditionellen Ent-
wicklung der kriminologischen Disziplin, da diese auf einer juristischen
Definition des Verbrechens beruht, in der Fortschritte der sozialpoliti-
schen Wissenschaften noch nicht aufgenommen worden sind.
Dieses lateinamerikanische Denken hat in den letzten zehn Jahren die
positivistische Tradition, welche die Kriminologie seit ihrer Entstehung
im Kreise der juristischen Kultur am Ende des 19.Jahrhunderts
beherrscht hatte, in Frage gestellt.
Die kritische Reflexion ist in Lateinamerika mehrmals angegriffen
worden. Zwei Autoren sind in diesem Zusammenhang besonders erwäh-
nenswert: der erste (Tozzini) wirft der Sozialkategorie der Kriminologie,
da sie die Methode der Sozialwissenschaften anwende, vor, eine Rich-
tung gewählt zu haben, die zu direkten oder indirekten sozialpolitischen
Erklärungen des abweichenden Verhaltens führt; dies soll eine große
methodologische Undeutlichkeit herbeigeführt haben (siehe Fn. 2). Der
242 Roberto Bergaiii

zweite Autor (Birkbeck) bezieht sich nur auf Lateinamerika und auf die
Autoren, die zur Gründung und Förderung einer eigenen kriminologi-
schen Theorie beigetragen haben sollen, einschließlich einiger, die nicht
zu der Gruppe gehören, die kritisch genannt werden kann. Gegen diese
Autoren werden fünf Einwände erhoben mit der Absicht, von einem
wissenschaftstheoretischen Ansatz aus die sogenannte kriminologische
Theorie zu „demontieren". Allein die zweite Fragestellung wird in dem
vorliegenden Beitrag analysiert und beantwortet.
Den Einwänden sind zwei Positionen entgegenzuhalten, die zu einer
kritischen sozialwissenschaftlichen Kultur Lateinamerikas gehören.
Beide stammen aus derselben Orientierung der Befreiung. Die erste
Position greift das Resultat einer zehnjährigen empirischen Erfahrung
auf ( G r u p o de Criminologia Comparada en America latina, koordiniert
vom Instituto de Criminologia der Universität Zulia, Maracaibo/Vene-
zuela), und strebt den Aufbau einer kritischen Theorie der Sozialkon-
trolle an (Aniyar de Castro, Bergaiii). Die zweite Position betrachtet die
strafrechtliche Kontrolle als das reduzierte und formalisierte Arbeitsfeld
(typus) des gesamten Sozialkontrollsystems (genus); hier wird die kriti-
sche Analyse der Verbrechenstheorie und der Straftheorie übernommen.
Beide Theorien weichen von dem neutralen Diskurs, den die juristische
Kultur Lateinamerikas beherrscht hat, ab.

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Kriminologie: Die unangemessene Kollision
von zwei Parallelen
C A R L O S A . TOZZINI

Meines Erachtens ist es sehr schwierig, a priori eine Basis zur krimi-
nologischen Untersuchung, die Präexistenz eines einzigen, disziplinaren
Begriffs und Grundes festzusetzen, - so wie ein Thema der Einladung
zur Mitarbeit an der verdienten Huldigung zum Andenken an die
vortreffliche Freundin, die Hilde Kaufmann war, es zu denken gibt - das
heißt, als ob es sich um schon festgelegte und endgültig gesicherte
Fragen handeln würde. Soweit ich es verstehe, handelt es sich im
Gegensatz um Probleme, die theoretisch noch gären auf Grund von
bedenklichen Antinomien, die im strikt rationalem Felde durch reduk-
tionistische Konzeptionen einerseits naturalistischer und andererseits
sozio-politischer Art aufgestellt werden, so daß heute nur die „durch
den Glauben Aufgeklärten" feststehen und sich in diesen Gebieten
dogmatisch ausdrücken können.
Die Kriminologie soll das ganze Problem des Menschen erörtern,
doch - je nach Einstellung - sich spezifisch auf das verbrecherische oder
abweichende Verhalten beschränken. Ihre Untersuchungen sollen - um
nur einige Bezirke unseres Interesse zu nennen - an die des Strafrechts,
der Kriminalpolitik, des Strafvollzuges und sogar der Soziologie
anschließen. Wie es Hilde Kaufmann sagte (1981, 20), die wissenschaft-
liche Erkenntnis ist „so etwas wie ein Scheinwerfer, der um das Objekt
kreist und immer ein anderes Gesicht bescheint... Von hier aus
erscheint die Wissenschaft nicht mehr als ein integrales Aufnehmen der
Wirklichkeit, sondern als eine ausgelesene und nicht verschmelzbare
Summe von einzelnen Perspektiven".
Gerade an dieser Kreuzung von Gebieten und Vergleichung von
Erkenntnissen, scheint die Kriminologie durch verschiedene Einstellun-
gen und ihre scheinbar auseinandersetzende wissenschaftliche Schlüsse
zergliedert zu sein. Meiner Ansicht nach knüpfen sich die Schwierigkei-
ten, die von der Konfusion zwischen allgemeinen und besonderen - dem
Objekt der Kriminologie zugehörenden Kategorien (die ich auch später
genauer betrachten werde) herkommen, an die Unmäßigkeit der autori-
246 Carlos A. Tozzini

tären Reduktionismen, die mit Gegenüberstellungen und Ausschlüssen,


fast immer von politischer Art, enden.
Sodann klagt man die Kriminologie an - und gewissermaßen mit
Recht - , von einem Extrem in das andere zu springen, mit einer
Pendelbewegung die theoretischen Einstellungen, die versuchen, einen
Aspekt der Realität in eine allumfassende Wahrheit zu verwandeln,
beschwören zu wollen. Eine Betrachtung der Entwicklung ihrer ver-
schiedenen Konzeptionen (Bergaiii, 1980) läßt abschätzen, wie man von
einem biologischen Determinismus des Verhaltens zu einem politischen
Determinismus kam; wie man von einem Verbrechen unter dem Trieb
von abartigen Stigmen zu seiner sozio-politischen Vorherbestimmung
wegen der bloßen Zugehörigkeit der proletarischen oder subproletari-
schen Klasse einer kapitalistischen Gesellschaft kam.
Es ist zureichend bekannt, worin der positivistische Determinismus
besteht, so daß man in einer Arbeit dieser Art darauf nicht einzugehen
braucht. Von diesem Gesichtspunkt aus haben jene, die vom Strafgesetz
einen unstreitbaren Ausgangspunkt gemacht haben, um von dort aus das
„abnormale" Verhalten zu suchen und ihre „Heilmittel" oder „Wieder-
sozialization" entweder mit Sicherheitsmaßnahmen ante delictum oder
mit Anpassungstherapie post delictum - so wie es, unter anderen, die
strafrechtliche Kriminologie will - deren Resultate - wie es einige
meinen - sich noch in einer Bestätigungsperiode befinden (Kaufmann,
1979), wenngleich es für andere schon gescheitert ist (Bettiol, 1980, 1),
und zeigen die Notwendigkeit eines Requiem spezieller Vorsichtsmaß-
nahmen. Die so denken, finden, daß man ihnen ideologische Einver-
ständnisansichten und die Bestätigung von unrechten Sozialregimen
zuschreibt, und man hat sie Anhänger der institutionalisierten Krimino-
logie genannt, weil sie den herrschenden Klassen eine wissenschaftliche
Begründung gaben.
Vom anderen Pol her fügen die Nachfolger der sogenannten kriti-
schen Kriminologie einen interessanten Komplex von rationalen
Arbeitshypothesen, die in der politischen Soziologie und in der Soziolo-
gie des Strafrechts entstanden, in Hinsicht auf eine allgemeine - und
manchmal sehr notwendige - Nachprüfung der Strafstrukturen, beson-
ders der juristischen, der von Sozialkontrolle und der von Verwirkli-
chung der Strafe (Baratta y Melossi, 1976, 237-317) an, aber ohne die
zugehörigen Lösungen für jede Institution und funktionellen Verhält-
nisse, die man abschaffen will, beizubringen, auch ohne einen Ort des
Planeten zu beschreiben, wo - außer einigen Inhaltsverschiedenheiten in
bezug auf vormundschaftliche Güter, Art der Strafe und Exekutionsmo-
dus - sich durch solche Theorien die so menschlichen wie abscheulichen
Probleme, welche Ungleichheit, Auslese und Abgeschiedenheit verursa-
chen, von der auch menschlichen Anwendung des Strafgesetzes hätten
Kriminologie als Kollision von zwei Parallelen 247

überwinden lassen1. Denn, wie es Juan Bustos Ramirez (1983, 24)


zutreffend zeigt: „ohne von Unterwerfung zu reden, kann man jedoch
nicht eine Kriminologie begreifen, für die das Strafrecht und die juristi-
schen Rechtsgüter nicht eine nötige Voraussetzung wären".
So bringt man die Kriminologie auf die Ebene - vielleicht mit Recht in
einem bestimmten Gebiete der Erkenntnis - einer Disziplin, die sich mit
der Untersuchung über die Macht, ihre Quellen und Erscheinungen,
zusammensetzt, sei es die schon in einer Gesellschaft etablierte Macht,
sei es - obwohl man dies nicht explizite stellt - die Macht, die kritisch
dazu treibt, sich an ihrer Stelle zu etablieren. In diesem Sinne leuchtet es
ein, daß die Verwandlung der juristisch-individuellen Güter in kollek-
tive und der Patronen wie „ehrlich" und „verworfen", sich in verschie-
denen ideologischen Vorurteilen und Stereotypen in bezug auf die
gerichteten Individuen übersetzen wird und sie auch in der Kriminologie
erscheinen werden.
Die extreme These dieses sozio-politischen Determinismus, die nicht
die Persönlichkeit des Abweichenden, sondern das Strafgesetz in Frage
stellt - als zur Bewahrung der Interessen der Herrschaftsklasse und
repressiver Institutionen geboren, die man mit einer „innerlichen Mili-
tärkraft" vergleicht, und bei der Übertragung eines wissenschaftlichen
Schlusses von einer allgemeinen Kategorie auf eine besondere - kommt
letztens zum Schlüsse, daß der so durch ein politisches Gesetz geschaf-
fene „Verbrecher" ein politischer Verbrecher ist. In diesem Sinne ist die
Behauptung von Lola Aniyar de Castro klar: „Wenn das Gesetz ein
politischer Akt ist, so ist auch das abweichende Verhalten - um ein Wort
zu benützen das uns die Mitteilung der Idee erleichtert - ein politischer
Akt. Und alle Gefangene sind, dem Wesen nach, politische Gefangene"
(1977, 148).
Wie wir sehen, der Irrtum, der wissenschaftliche Wahrheiten mit
Gebieten vermischt, für die sie nicht erreicht sind, ist ein Laster der
Argumentation, welches so häufig bei Positivisten wie bei ihren Kriti-
kern vorkommt.
Der Positivismus, der aus dem Comt'schen Dogma der Unwandelbar-
keit der natürlichen Gesetze wissenschaftliche Deformationen einführte,
versetzte die Kategorien dieser Wissenschaften auf seelische Prozesse,
und kam so zur Formulierung unveränderlicher sozialer Gesetze und

1 Zum Beispiel bestimmt das Strafgesetzbuch Cubas von 1979 (in „Straflehre", 1980,

385—476), Art. 76, daß der „gefährliche Zustand" darin besteht, daß man „die Normen der
sozialistischen Moral" durch Akte bestreitet, die - nach Art. 77 - einen mehr oder weniger
üblichen Katalog des Verhaltens ausmachen, das pre- und post delictum Sicherheitsmaß-
nahmen verdient (Trunkenheit, Narkomanie, Kupplerwesen, Prostitution, Strabanzerei,
usw.), und die so lange dauern, bis das Subjekt heilt und sich an „die Normen der
sozialistischen Moral„ wieder anpaßt (Art. 80 f).
248 Carlos A. Tozzini

zur Vorbestimmbarkeit in Funktion spröder Kausalverhältnisse des


menschlichen Verhaltens (so wie des „genus homo delinguens", natür-
licherweise an das antisoziale Verhalten gebunden), veranlaßt auch den
Irrtum der Verwechslung von Ebenen, aber im umgekehrten Sinne, weil
er die Erfindungen in besonderen Gebieten auf allgemeinere erweitert.
Darum erscheint, in einer ersten Etappe, die Soziologie mit dieser
Perspektive einverleibt, obwohl man auch die anderen Disziplinen als
notwendigen Rahmen sozialer Realität umfaßt. Die Gesellschaft wird in
dem Maße untersucht und dargestellt, wie sie als Ergebnis der quantitati-
ven Äußerung von kausalen Individualpatronen, die noch immer als
psychisch und organisch minusvalent betrachtet werden, vorkommt.
Doch brachte die positivistische Soziologie die Neuigkeit zum Vor-
schein, physische Faktoren (Klima, Temperatur, usw.) und soziale
Faktoren (Familie, Erziehung, Bevölkerung, Gesetzgebung, usw.) hin-
zuzufügen. „AI sociologo criminalista - behauptete Ferri - quello que
importa conoscere, per trarre le sue induzioni giuridiche e sociali, sono i
fattori della criminalità, suscettibili di osservazione positiva nell'ordine
biologico corno in quello fisico e sociale" (1929, 192-193).
Diese Position, die - nach Ferri - nur die Annahme einer Methode,
nicht aber die eines philosophischen Systems ist, ist nur vom Gesichts-
punkt einer erlebnis-individuellen Fragestellung richtig, weil das Subjekt
das soziale Medium nach seinen besonderen Strukturen seines intellektu-
ellen und sinnlichen Wahrnehmens, seiner Interesse, Triebe, Erfahrung,
Spannungen, usw. erfaßt und sich aneignet. Ein großer Beitrag der
Gestalttheorie war der Experimentenzusammenhang, der bewies, daß
das Verhalten nicht nur durch einen geographischen oder realen
Umkreis, sondern durch ein inneres Feld, das Verhaltungsfeld genannt
wird, erzeugt und reguliert ist (Koffka, 1953, 49).
Aber auch diese Perspektive ist falsch, wenn man sie aufs Gebiet der
sozio-kulturellen Realität überträgt, woher auch die unüberwindliche
Existenz eines tranzindividuellen kollektiven Wesens aufkommt, das im
Stande ist, die Verhaltungen zu modellieren und aufzuzwingen. Demzu-
folge erscheinen diese als Massivphänomene, als heteronome Gesetze
sozialer und juristischer Art.
Die Erscheinung der modernen Soziologie fing vor allem seit der
zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts mit den Anfängen des Nordame-
rikanischen Pragmatismus an - so im theoretischen Gehalt als in metho-
dischen Fragen - , eine zweite, immer mehr differenzierte Ebene in den
Kategorien des Kriminologiestudiums auszuzeichnen. Unter dieser
Spaltung des Objekts fingen die Tendenzen des Konstruktionismus, des
symbolischen Interaktionismus, der Konflikte und des Marxismus an,
wegen der kritischen Fragestellungen an das Gesetz und seine Bildung,
den Schutzinteressen und seine durch Sozialkontrollinstitutionen ver-
Kriminologie als Kollision von zwei Parallelen 249

mittelte Anwendung an die Machtgruppen, an politisch-wirtschaftliche


Systeme und ihre Ungleichheiten von Reichtum, Privilegien und Gele-
genheiten einerseits und Unterentwicklung, Unterscheidung und Abge-
schiedenheit andererseits, das Schwergewicht von individuellen Fakto-
ren zu den direkt oder indirekt soziopolitischen Erklärungen des abwei-
chenden Verhaltens (Bergaiii, 1983, 109-208) zu verschieben. Auf dieser
Weise werden alle Sozialschichten, inklusive der als Mittel der Einfüh-
rung der Akzeptation der Rollen von Ausgewählten und Unterdrückten,
in Krise gestellt {Baratta, 1976, 237-261).
Dieser dunkle, sehr synthetisch dargestellte Überblick von Auseinan-
dersetzungen zeigt - meines Erachtens - die Existenz einer schweren
methodologischen Verwirrung, die die notwendige Integration der Kri-
minologie angreift. Was man bisher sehen kann, zielen die Anhänger der
verschiedenen Positionen - über alle ideologische Beschuldigungen hin-
aus - darauf hin, das Gebiet der eigenen Perspektive zu hypertrophieren,
verkennen damit das andere und enden demzufolge mir einer Bejahung
der Gültigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten, die man an einem
bestimmten Punkt erreicht, und die sich ganz oder teilweise in einen
Fehlschluß verwandeln, falls man sie total auf eine verschiedene Ebene
überträgt.
Meines Erachtens - und ohne daß man vom Suchen theoretischer
Eklektizismen, sondern eher notwendiger von der Realität selbst erfor-
derten Untersuchungen reden kann - zeigt die Kriminologie zwei klar
unterscheidbare Kategorien: eine allgemeine, soziale, die die Methode
der Sozialwissenschaft gebraucht2, und eine andere individuelle, die sich
an die Methodologie der biologischen und psychologischen Wissen-
schaften stützt3.
Darum kann man nicht die Existenz einer allgemeinen, interdiszipli-
nären Methode der Kriminologie, an Stelle so vieler Methoden wie die
anthropologische Erkenntnis Objektperspektiven gestattet, begreifen.
Nichts anderes ist die Methode als ein Weg, eine Prozedur der Bestäti-
gung einer wissenschaftlichen Wahrheit in einer gewissen Ebene, das

2 N u r auf diesem Gebiet, und ohne soziologistische Reduktionismen, ist die Definition

der Kriminologie nach Bustos gültig: „die Untersuchung und Kontrolle der Kriminalität als
ein einziger sozialer Prozeß, der den Mechanismen der politischen und juristischen
Definition einer bestimmten sozialen Organisation entsprungen ist" (1983, 23).
3 Angesichts eines sehr gewöhnlichen Irrtums muß ich erklären, daß diese beiden

Wissenschaften eine sehr verschiedene Genesis und Gehalt haben, weil die erste von den
Naturwissenschaften herkommt, die Wurzeln der Psychologie aber in die Philosophie
eingreifen (Brett, 1963, und Misiak, 1964). D e r Irrtum war, den Anfang der Psychologie in
der Experimentalpsychologie von Wundt und der Leipziger Schule zu sehen. In gleicher
Weise könnte man sie von der Physik abstammen lassen, falls man die Beiträge Webers,
Fechners und einiger Gestaltisten in Betracht ziehen würde.
250 Carlos A. Tozzini

heißt, eine Form, nicht ein Inhalt. Und in der Wissenschaftstheorie kann
eine wissenschaftliche Frage nur an der selben Ebene, in der sie gestellt
wurde, beantwortet werden {Kaufmann, 1981, 20). Der Gegensatz stellt
das Problem des „ökologischen (?) Fehlschlusses oder des unrichtigen
Niveaus", das eben darin besteht, daß man Verhältnisse zwischen ver-
schiedenen Niveaus einsetzt und Schlüsse, die nur in dem Gebiet
bedeutend sind, in dem sie erreicht wurden, auf ein anderes überträgt
{Galtung, 1971, 46). Dieser Art des Fehlschlusses kann man die schon
erwähnte Verallgemeinerung über „politische Gefangene" zusetzen, und
obwohl er einige nur in einer repressiven Gesellschaft als Verbrechen
erachtete Tatsachen erklären kann, ist er doch nicht geeignet, manches
individuelle Verhalten, das die mehr oder weniger allgemein beschützten
Güter anbelangt, zu verstehen.
Zusammengefaßt: Es ist ebenso falsch, soziale Verhältnisse aus den
individual-menschlichen Verhalten zu interpretieren, wie - im Gegen-
satz - das Verhalten mit sozialen Verhältnissen zu verwechseln und für
es sozial-politische Gesetze anzuwenden.
Der Fehlschluß, die Erfindungen der sozialen Schichten mit denen des
Verhaltens zu verwechseln, und umgekehrt, erzeugt Spaltung und
gegenseitiges Isolieren der Kategorien, die - wenn man sie auf ihren
Gebieten richtig gebraucht - die wissenschaftliche Systematisierung,
welche die Kriminologie heute noch immer entbehrt, zulassen würde.
Wenn man, durch Abhängigkeit an einem geschlossenen juristischen
Dogmatismus, die Untersuchungen am verbrecherischen Verhalten von
inkriminierenden Normen her zentralisiert, indem man in jeden Fall alle
Möglichkeit des Entdeckens, wer - Gesellschaft, Machtgruppe oder
Individuum - in Wahrheit das analysierte Verhältnis verursachte, ver-
neint (das gelegentlich so etwas wie eine Verneinung des kriminologi-
schen Wertes der Untersuchung der Umstände, unter denen die Verur-
teilung von Sokrates und Jesus überkam, wäre), oder indem man nur rein
sozio-politische Wege als einzige Beobachtungsposten des menschlichen
Verhaltens annimmt, schließt man hermetisch die Türen zu in Bezug auf
die Integration der kriminologischen Erkenntnis ebenso wie in Bezug
auf die Mitarbeit mit den anderen Strafdisziplinen {Kaufmann, 1963,
235-250), sobald man die Brücken mit mehrfachem Verkehr - die die
Theorie des Handelns mit der Zumutung, der Verschuldigung, der
Strafe und ihrem Vollzug unter anderen Institutionen, vereinen, und die
wesentlich werden zum richtigen Schaffen und zur Anwendung gesetzli-
cher Instrumente individueller und kollektiver Notwendigkeiten des
Menschen - abschneidet.
Kriminologie als Kollision von zwei Parallelen 251

Literatur
Aniyar de Castro, L. (1977): Criminología de la reacción social, Universidad de Zulia,
Maracaibo.
Baratta, A. (1976): Sistema penale ed emarginazione sociale, en «La Questione Criminale»,
mayo-diciembre, ed. Il Mulino, Bologna.
Bergaiii, R. (1980): La recaída en el delito: modos de reaccionar contra ella, ed. del autor,
Barcelona.
Bergaiii, R. (con Juan Bustos Ramírez y Teresa Miralies) (1983): Pensamiento criminológico
I, ed. Península, Barcelona.
Bettiol, G. (1980): ¿Hacia un nuevo romaticismo jurídico?, en «Doctrina Penal», ed.
Depalma, Buenos Aires.
Brett, G.S. (19637: Historia de la psicología, ed. Paidós, Buenos Aires.
Bustos Ramírez,], (con Roberto Bergaiii y Teresa Miralies), (1983): Pensamiento crimino-
lógico I, ed. Península, Barcelona.
Ferri, E. (1929): Sociologia crminale, t. I, Unione Tipografica-Editrice Torinese, Torino.
Galtung, ]. (1971): Teoría y métodos de la investigación social, t. I, ed. Eudeba, Buenos
Aires.
Kaufmann, H. (1963: ¿Que deja en pie la criminología del derecho penal?, en «Anuario de
Derecho Penal y Ciencias Penales», Instituto Nacional de Estudios Jurídicos, Madrid.
Kaufmann, H. (1979): Ejecución penal y terapia social, ed. Depalma, Buenos Aires.
Kaufmann, H. (1981): Concepciones del hombre en el derecho penal, en «Doctrina Penal»,
ed. Depalma, Buenos Aires.
Koffka, K. (1952): Principios de la psicología de la forma, ed Paidós, Buenos Aires.
Melossi, D. 61976): Istituzioni di controllo sociale e organizzazione capitalistica de lavoro:
alcune ipotesi di ricerca, en «La Questione Criminale», mayo-diciembre, ed. Il Mulino,
Bologna.
Misiak, H. (1964): Raíces filosóficas de la psicología, Ed. Troquel, Buenos Aires.
Prognoseentscheidungen - ein empirisches
und entscheidungstheoretisches Problem
WERNER GEISLER

Hilde Kaufmann hat sich als Kriminologin darum bemüht, zwischen


oder aus den Seinswissenschaften und der / in die Strafrechtswissenschaft
zu vermitteln. Diesem Bemühen soll auch der nachfolgende Beitrag
dienen.
Prognoseentscheidungen im Strafrecht haben durch die Strafrechtsre-
formgesetze für die Sanktionszumessung und -terminierung zwar erheb-
lich an Bedeutung gewonnen. Die Beurteilung künftiger Realität würde
aber auch bei stärkerem Vordringen neoklassizentischer Ideen im Straf-
recht für die Entscheidung über einzelne Sachverhalte erhebliche Bedeu-
tung behalten, weil Prognosen jenseits der individualpräventiven Orien-
tierung der Strafen im Straf- und Strafprozeßrecht, Zivil- und Verwal-
tungsrecht notwendiger Entscheidungsbestandteil sind.
Es überrascht angesichts dieses Befundes, daß trotz eines kaum noch
überschaubaren Schrifttums zur Prognoseproblematik für die Einzelfall-
entscheidung grundsätzliche Fragen teils kaum gestellt, teils auf dem
Hintergrund rechtsstaatlicher Anforderungen und verfahrensmäßiger
Vorgaben mit wenig befriedigenden Lösungsvorschlägen beantwortet
werden. So ist es wenig verwunderlich, wenn bei der Anwendung der
Vielzahl prognostische Einschätzungen verlangender Rechtsnormen
Voraussetzungen nicht angesprochen, Prognosen vielfach schablonen-
haft-schematisch gestellt werden und ihre Ergebnisse häufig weit von
empirischer Absicherung entfernt sind. Die gesetzlichen Regelungen
bieten dafür kaum oder völlig unzureichende Anhaltspunkte.
Um dies zu verdeutlichen, bedarf es nur des Hinweises auf ein
Beispiel aus dem strafrechtlichen Sanktionenrecht, der Regelung über
die Strafrestaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe. Das Gericht setzt die
Vollstreckung des Strafrestes nach §57 Abs. 1 StGB zur Bewährung aus,
wenn - unter anderem - „verantwortet werden kann zu erproben, ob der
Verurteilte außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen
wird". Dieser Vorschrift kann zunächst nur entnommen werden, daß
bei irgendeinem Grad unterhalb einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit
neuer Straftaten die Strafrestaussetzung erfolgen soll, verantwortet wer-
den kann. Weder ist - mit Ausnahme des Unterschiedes zu § 56 Abs. 1
254 Werner Geisler

StGB: „keine Straftaten mehr begehen wird" - zur Höhe des verant-
wortbaren Risikos 1 noch zu denkbaren Differenzierungsmöglichkeiten
des Risikos nach Tatschwere oder Art der gefährdeten Rechtsgüter,
noch zu Gütekriterien für die Prognose 2 ein Maßstab angelegt.

I.
Aus diesem Problemaufriß kann hier nur ein Teilbereich behandelt
werden, den ich in Erinnerung an Hilde Kaufmann in der Prognosegüte
wähle, einem Gebiet, für das es Erkenntnisse aus verschiedenen seins-
wissenschaftlichen Disziplinen in die juristischen Entscheidungszusam-
menhänge zu übertragen und dafür weiter zu entwickeln gilt. Die
Prognosegüte hängt - soweit noch weitgehend anerkannt - von der
zuverlässigen Feststellung des relevanten Prognosesachverhalts und,
anders ließe sich schon die Relevanz einzelner Gesichtspunkte nicht
feststellen, der Kenntnis gesicherter Erfahrungssätze ab. Letztere gene-
relle Regeln ermöglichen in unserem Beispielsfall erst die Vorhersage
künftigen Legalverhaltens aus dem Prognosesachverhalt.
Zunächst ist als Ausgangspunkt festzuhalten, daß die Prognosegüte
nicht an Maßstäben eines deterministischen Verhaltensmodells gemessen
werden kann. Zur Begründung dieser Festlegung bedarf es nicht einmal
einer Stellungnahme im Determinismus-/Indeterminismusstreit, obwohl
jedenfalls der überwiegende Teil der europäischen, täterorientiert for-
schenden Kriminologen zutreffend nicht annimmt, es könnten „Ursa-
chen" menschlichen Handelns im Sinne von notwendigen und ausrei-
chenden Bedingungen erkannt werden3. Jedenfalls entsteht nach dem
heutigen Forschungsstand die Tat aus einem komplexen, in vielen
Einzelheiten noch unerforschten Geflecht von Variablen, für das die
Verstorbene plastisch den Begriff „Entstehungszusammenhänge" ver-
wandt hat3. Auch bei einer extremen Häufung von mit Rückfall im
Zusammenhang stehenden Daten des Täters in seinen sozialen Bezügen
oder deren vollständigen Fehlen läßt sich keine hundert Prozent sichere
Prognose stellen. Kriterien für die Prognosegüte müssen daher notwen-
digerweise nur bescheideneren Anforderungen genügen, solange
zukünftige soziale Wirklichkeit und das menschliche Verhalten in dieser
bei juristischen Entscheidungen Berücksichtigung finden sollen.

1 Dazu Frisch, W., Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, bes. S. 88 ff, 142 ff,

der auch in bestimmten Fallgruppen bei Schlechtprognose Aussetzungsmöglichkeiten


sieht.
2 §§ 246 a, 454 Abs. 1 S. 5 StPO sollen für die dadurch betroffenen Fälle ein bestimmtes

Informationsniveau des Gerichts durch Festschreibung des Umfangs der Aufklärungs-


pflicht gewährleisten.
5
Kaufmann, Hilde, Kriminologie I, 1971, S. 15 f.
Prognoseentscheidungen 255

II.
Seit dem Aufkommen der Entscheidungs- und Prognoseforschung im
Zusammenhang mit den amerikanischen P<zro/e-Entscheidungen in den
20er Jahren diesen Jahrhunderts war das Interesse darauf gerichtet,
Persönlichkeitsmerkmale und soziale Daten des Individuums oder mit
Bezug auf dieses zu erkennen, mittels deren Straftäter und Rückfalltäter
von Nichtkriminellen und Einmaltätern im Sinne formeller Sozialkon-
trolle für die Zwecke der Sozialkontrolle, der Urteils-, Entlassungs- und
Behandlungsprognose unterschieden werden können. Die intuitive Pro-
gnose kann, trotz ihrer großen Bedeutung in der praktischen Rechtsan-
wendung4, hier außer Betracht bleiben, denn sie ist nicht nur kein
wissenschaftliches Verfahren, sondern sie weist auch eine zu hohe
Fehlerquote auf5.
Wissenschaftliche Prognoseverfahren sind zunächst über Jahrzehnte
entlang zweier Denkmodelle entwickelt worden, deren Ergebnisse die
statistische und die klinische Prognose bilden.
Beiden Modellen gemeinsam ist die Vorstellung, daß nur aus einer
Kombination einer größeren Zahl von Einzelinformationen über den
Probanden und seinen Sozialbereich eine Diagnose vergangenen und
Prognose künftigen Legalverhaltens gewonnen werden kann. Sie stehen
in der über lange Zeit die kriminologische Diskussion dominierenden
Kontroverse zwischen „multifaktoriellem Ansatz" versus „eindimensio-
nalem Ansatz" auf der Seite der multifaktoriellen Ansätze. Nur
beschreibt der Begriff „multifaktoriell" das methodologische Paradigma
der klinischen Prognosen unzutreffend, weil es bei diesen nicht zunächst
um Isolierung einzelner Faktoren oder Variablen und anschließend
deren Zusammenfügung geht, sondern eine differentialdiagnostische
Exploration des Probanden, deren Befunde mit kriminologischem
Bezugswissen verknüpft werden, unmittelbar in die Prognose mündet.
Terminologisch wird dies adäquater durch den Begriff „Entstehungs-
zusammenhänge" erfaßt.

4 Nach Fenn, Rudolf, Kriminalprognose bei jungen Straffälligen, 1981, S. 91 gaben nur

4,2 % (7 Probanden) der befragten Jugendrichter und Staatsanwälte an, wissenschaftliche


Prognoseinstrumente zu verwenden; diese lassen sich bei näherer Befragung als Annähe-
rung an klinische Verfahren verstehen.
5 Nach einer eigenen Untersuchung wurden 73 % der nach Verbüßung von Vi der

Freiheitsstrafe entlassenen Eigentums- und Vermögenstäter rückfällig, 6 0 % der später


vorzeitig Entlassenen und 86 % der Vollverbüßer, s. Aschenbrenner, Aufsattler, Geisler et
al., Anwenderorientierte Verfahren für multiattribute Bewertungen bei komplexen Ent-
scheidungen, in: Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung, Arbeits- und Ergebnis-
bericht 1982-1983 des SFB 24 der Universität Mannheim, 1984, S. 22 ff. Jedoch bietet die
Untersuchung Anhaltspunkte dafür, daß die schlechtere prognostische Leistung der
Vollstreckungskammern bei der 2/j-Entscheidung das Ergebnis richterlicher Rationalisie-
rungstendenzen ist.
256 Werner Geisler

Der gemeinsame Ausgangspunkt von den Entstehungszusammenhän-


gen für die statistische und die klinische Prognose ist nach dem heutigen
kriminologischen Kenntnisstand auch zutreffend. Er erlaubt gleichzeitig
die Berücksichtigung möglicherweise relevanter Aspekte der Kriminali-
sierungstheorien. Der dem gegenüber begrenzte Wert, den eindimensio-
nale Theorien für die Erklärung der Entstehung von Kriminalität haben,
folglich auch für die Prognose, wird schon durch die heute akzeptierte
Rücknahme des Erklärungsanspruches dieser von „Allgemeiner Krimi-
nalitätstheorien" auf „Theorien mittlerer Reichweite" deutlich. Selbst
ein so prominenter Verfechter eindimensionaler Theoriebildung - wenn
man die Theorie der differentiellen Assoziation für eindimensional hält -
wie Sutherland hat in einem posthum veröffentlichten Beitrag mit dem
bezeichnenden Titel „The Swan Song of Differential Association" die
Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte (differentielle Möglichkeiten,
Bedürfnisstruktur, Verfügbarkeit von Verhaltensalternativen) nicht
mehr ausgeschlossen6.
Gütekriterien für die Prognose müssen bezüglich dieser gemeinsa-
men, multivariaten empirischen Grundlage von Täter- und Sozialdaten
sowie den allgemeinen Gesetzen solche der Reliabilität, Validität und
Relevanz sein7.

III.
Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Modellen der statisti-
schen und der klinischen Methode liegt in der Aggregation der Einzelbe-
funde, wobei dieser Unterschied, jedenfalls bisher, auf die Erhebung des
Prognosesachverhaltes durchschlägt. Für die statistische Methode sind
Prognosetafeln oder -tabellen charakteristisch. In ihnen werden auf dem
Boden des multifaktoriellen Ansatzes in Vergleichsgruppen-Untersu-
chungen ermittelte Faktoren, also isolierte Gesichtspunkte, physischer,
psychischer und sozialer Art zusammengefaßt, die geeignet scheinen,
zwischen rechtskonformem Verhalten und Rückfälligkeit zu differenzie-
ren. In den Tabellen werden die Prognosefaktoren teils gleich bewertet
und addiert, teils nach ihrer Bedeutung gewichtet und addiert. Bei den
klinischen Methoden wird jeder quantifizierende Ansatz vermieden, an
dessen Stelle die in der Person des Forschers liegende, allenfalls quali-
tative Aggregation von Erfahrungswissen tritt. Dieses Erfahrungswissen
wird durch „pragmatisch ausgerichtete Einzelfallstudien" mit vorwie-

6
Sutherland, E . H . , Critique of a Theory, in: Sutherland, Edwin H., On Analysing
Crime, ed. K.Schuessler 1973. The Sutherland Papers ed. Albert Cohen et al.
7 Solche Anforderungen werden heute auch im Ansatz für die Grundlagen der klini-

schen Prognose gestellt, s. Göppinger, H., Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S. 338.


Prognoseentscheidungen 257

gend psychiatrischen oder klinisch-psychologischen Methoden ge-


wonnen8.
Es ist seit langer Zeit bekannt und wiederholt dargelegt worden, daß
die aus diesen Methoden entwickelten statistischen und klinischen Pro-
gnosen erhebliche Mängel je eigener, aber auch gemeinsamer Natur
haben - z. B. das hohe Maß prognostischer Unsicherheit im bis zu 70 %
der Fälle umfassenden Mittelfeld - , auf die nachfolgend noch einzugehen
ist. Erkenntnisse aus der Entscheidungsforschung, die geeignet gewesen
wären, grundsätzliche Schwachstellen methodischer Art einer näheren
Prüfung zuzuführen und dafür Lösungsmöglichkeiten zu suchen, sind in
der kriminologischen Prognoseforschung, insbesondere in Deutschland
überhaupt nicht, allenfalls in den Arbeiten von Göppinger zum Teil
implizit aufgenommen worden.
Schon die Arbeiten von Meehl, 1954', und Miller, 195610, brachten
Belege für die begrenzte Kapazität des Menschen zur Verarbeitung
komplexer Informationen. Inzwischen ist empirisch gesichert, daß Men-
schen: 1. nur eine nach Anzahl und Gewichtung begrenzte Menge von
Informationen gleichzeitig verarbeiten können und 2. bei komplexen
Sachverhalten Entscheidungsstrategien einsetzen, die zwar geeignet
sind, Komplexität zu reduzieren, aber gleichzeitig zu systematischen
Urteilsverzerrungen (biases) führen können".
Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich methodische Einwendungen
gegenüber Prognoseverfahren, die die Aggregation der Informationen
über den Probanden auf den Beurteiler verlagern. Dies trifft jedoch nicht
nur für die intuitive Prognose, sondern weitgehend für die klinische
Prognose herkömmlicher Art zu. Es handelt sich dabei nicht nur um
einen Kompetenzstreit zwischen Vertretern verschiedener Disziplinen,
als der die Auseinandersetzung „Clinical" versus „Statistical prediction"
zeitweilig geführt worden ist12. Vielmehr geht es um Einwände, bezüg-
lich derer für die klinische Prognose Lösungsmöglichkeiten zu suchen
sind.
Die methodischen Vorbehalte gegen die statistische Prognose waren
schon viel früher als solche gegen den multifaktoriellen Ansatz von
8
Göppinger, Anm.7, S. 85 ff, 338.
' Meehl, P.E., Clinical versus Statistical Prediction: A Theoretical Analysis and
Review of Evidence. The University of Minnesota Press, 1954.
10
Miller, G.A., The Magical Number Seven, Plus or Minus: Some Limits on our
Capacity for Processing Information, in: The Psychological Review, Vol. 63, 1956,
S. 81 ff.
11
Zusammenfassend Borcbarding, K., Entscheidungstheorie und Entscheidungshilfe-
verfahren für komplexe Entscheidungssituationen, in: Handbuch der Psychologie, Bd. 12,
Marktpsychologie, 2.Hbd„ 1983, S.67ff.
12
Dazu nur Mannheim, H., Comparative Criminology, Bd. 1, 1965, S. 149 ff, der für
einen Kompromiß eintrat; ebenso nun Walker, N. D., Sentencing, London 1985, S. 366ff.
258 Werner Geisler

Sutherland formuliert worden, den er als „Katalog von desperaten und


unkoordinierten Ursachen" kritisierte13. Die hier interessierenden Ein-
wendungen beziehen sich darauf, daß es für die große Zahl von Faktoren
- tatsächlich handelt es sich vielfach um Variable mit nicht nur binären
Ausprägungen - keinen Modus gäbe, deren Zusammenspiel bei der
Entstehung krimineller Handlungen zu erfassen. Dieser Vorwurf war
durch Hammond und Cbayen14 bestätigt worden. Diese hatten in einer
Untersuchung über Rezidivisten auch die Möglichkeiten für eine statisti-
sche Entlassungsprognose überprüft. Es gelang ihnen nicht, mittels der
von ihnen verwendeten Regressionsgewichte für die einzelnen Faktoren
die Aggregation gegenüber dem additiven Verfahren zu verbessern.
Offen blieb jedoch, auch in dieser Untersuchung nicht erörtert15, ob das
Ausbleiben einer Verbesserung der Aggregation zur Entlassungspro-
gnose den Mängeln der empirischen Daten oder den der verfügbaren
statistischen Analyse- und Rekonstruktionsverfahren zuzurechnen ist.

IV,

Die Mängel der klinischen und der statistischen Prognoseverfahren


sind vielfach herausgestellt worden16. Sie lassen sich unterscheiden in
solche, die für beide Modelle Bedeutung haben: Unschärfe und Größe
des Mittelfeldes, Alterung der empirischen Datengrundlage und vielsei-
tige Begrenzung dieser auf bestimmte Probandengruppen, und solche,
die nur die statistischen oder die klinischen Prognosemodelle betreffen.
Grundsätzlich sollte man nach solchen Mängeln unterscheiden, die die
empirische Datengrundlage betreffen17, und solche, die an der begrenz-
ten menschlichen Erkenntnis- und Verarbeitungskapazität für komplexe
Beurteilungszusammenhänge anknüpfen. Diese Unterscheidung ist
selbst dann sinnvoll, wenn, wie schon zuvor angesprochen, jedenfalls
heute noch die Organisation der Informationsverarbeitung bei der klini-

15 Für eine neuere Kritik Wilkins, L . T . , Social Deviance, London 1964, S. 37 f.


14 Hammond, W. H., Chayen, E., Persistent Criminals, HMSO, London 1963, S. 164,
176; so auch Albrecht, H.-J., Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe
Verurteilten, 1982, S. 125 ff, 234 ff.
15 Hammond, W . H., Anm. 13, S. 184 ff, obwohl die Zuverlässigkeit der Datengrund-
lage als Problem erkannt wurde, a. a. O., S. 197 ff.
" Kaiser, G., Kriminologie, Ein Lehrbuch, 1980, S. 273 ff; Göppinger, Anm. 7, S.338f,
342 ff; Schöch, H., Kriminalprognose, in: Kaiser, G./Schock, H., Kriminologie, Jugend-
strafrecht, Strafvollzug, 2. Aufl., 1982, S. 85 ff.
17 Dazu besonders für die deutschen Prognosetabellen Hinkel, F., Zur Methode
deutscher Rückfallprognosetafeln, 1975.
Prognoseentscheidungen 259

sehen Methode auch für die Erhebung des individuellen Prognosesach-


verhaltes bedeutsam ist. Die Prognoseforschung der letzten 20 Jahre hat
sich für beide Bereiche um Verbesserungen bemüht.
Für die Herstellung der empirischen Datengrundlage hat man, soweit
quantitative Verfahren verwendet werden, stärker auf signifikante
Zusammenhänge zwischen Variablen und dem Kriterium Rückfall
geachtet. In der neueren Fachdiskussion ist das Augenmerk vermehrt auf
Veränderungssituationen für die Entlassungsprognose und auf die Kom-
bination von Längs- und Querschnittsbetrachtung des Täters in seinen
sozialen Bezügen für den Entscheidungszeitpunkt und die nächste Zeit
danach gelenkt worden. Während z.B. die Prognosetafel nach
F. Meyer16 Veränderungen während des Vollzuges, genereller: Sank-
tionswirkungen, kaum und die Nachentlassungssituation überhaupt
nicht berücksichtigt, wird nunmehr darauf im Standardschrifttum aus-
drücklich abgehoben". Während etwa herkömmliche Prognosetabellen
nach F .Meyer und Klapdor in ihrer dominanten Aufarbeitung von
Daten aus Biographie und krimineller Karriere statisch erscheinen,
haben die intuitiven richterlichen Entlassungsprognosen nach eigenen
Untersuchungen schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Daten aus
dem Vollzugsverhalten und für die Entlassungssituation deutlich
berücksichtigt20. Auch ist inzwischen erkannt, daß es für die Beurteilung
künftigen kriminellen Verhaltens stärker auf in der konkreten Situation
wirksame Möglichkeiten und Fähigkeiten des einzelnen (Zuwendungsfä-
higkeit, Belastbarkeit, Konfliktbewältigungsvermögen) ankommt, weil
Kriminalität auch für Rückfalltäter weitgehend nicht ein dauerhafter
Lebensstil ist, sondern das Verhalten, dargestellt als Verwendung ver-
fügbarer Zeit, immer nur kürzere Situationen betrifft.
Die empirische Rückfallforschung bietet in wenigen neueren Arbeiten
zu Teilbereichen Datenmaterial, so die Arbeiten von Göppinger bezüg-
lich der Verhaltensmöglichkeiten, soweit kriminovalente/-resistente
Konstellationen, Relevanzbezüge und Wertorientierung in der Tübinger
Jungtäter-Vergleichsuntersuchung erfaßt wurden21, Stöckels Untersu-

18 Meyer, F., MschrKrim. 48, 1965, S. 225 ff.


" Kaiser, G., Anm. 16, S.276; Schöch, H., Anm. 16, 1982, S.90.
20 Aufsattler, W „ Oswald, M., Geisler, W „ Graßhoff, U . ( Eine Analyse richterlicher
Entscheidungen über die Strafrestaussetzung nach § 57 I StGB, MschrKrim., Jg. 65, 1982,
S. 305 ff; s. auch Aufsattler, W., Geisler, W. et al., Eine Richterbefragung zur Strafrestaus-
setzung nach § 5 7 I StGB, Bericht aus dem SFB 24, Mannheim 1983.
21 Dazu neben Göppinger, Anm. 7, jetzt: Göppinger, H., Der Täter in seinen sozialen
Bezügen, 1983 und derselbe, Angewandte Kriminologie, 1985.
260 Werner Geisler

chung zur Bewährungssituation22, sowie die Arbeiten von Berckhauer/


Hasenpusch, May, Rehri, Spieß und Dünkel2\
Heute ist (notwendigerweise) keine absicherbare Datengrundlage zu
gewinnen, die einerseits empirischen Gütekriterien genügt, andererseits
für die Vielzahl der im geltenden Strafrecht erforderlichen Prognoseent-
scheidungen ausreicht. Alle Untersuchungen sind auf mehr oder weniger
enge Stichproben beschränkt und nicht ohne weiteres in ihren Ergebnis-
sen auf außerhalb dieser liegende Probanden übertragbar. Es gibt auch
keine standardisierten Definitionen für die zu erhebenden Variablen und
das Rückfallkriterium, so daß die Ergebnisse der verschiedenen Unter-
suchungen nur ausnahmsweise für die Verbreiterung der eigenen empiri-
schen Grundlage, die aus 228 wegen Eigentums- und Vermögensdelik-
ten zu mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe Verurteilten besteht,
zusammengetragen werden können. In der Regel reichen für die Ver-
breiterung der empirischen Grundlage nicht die veröffentlichten
Erkenntnisse. Vielmehr ist unter Beachtung der datenrechtlichen
Schutzvorschriften die Überlassung der Rohdaten und des Variablen-
schlüssels samt Rückfalldefinition erforderlich, um diese Daten, soweit
möglich, unter Beachtung der eigenen Definitionen zu verarbeiten. Die
Überlassung des anonymisierten Datensatzes, einschließlich der Zusatz-
materialien, haben wir zur Zeit nur für die Arbeiten von Rehn und
Stockei erreichen können. Dennoch ist das verwertbare empirische
Datenmaterial vor allem für die Bereiche der Sanktionswirkungen (Voll-
zugsverhalten) und Nachentlassungssituation noch immer unzurei-
chend.

22 Stockei, H., Strafrestaussetzung - Bewährungshilfe - Widerruf, 1981 und dazu


Kerner, H.-J., Herrmann, D., Belastungen der Probanden, Situation des Bewährungshel-
fers und Bewährungserfolg, in: Bewährungshilfe, Jg. 31, 1984, und die Anforderungen aus
Wissenschaft und Praxis bei Aufsattler, W. / Geisler, W., „Harte" Entscheidungen mit
„weichen" Daten: Welchen Nutzen bieten formalisierte Entscheidungshilfen für die
Strafrestaussetzung nach § 5 7 StGB?, in: Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung,
Hrsg.: MArle, Mannheim 1984.
23 Albrecht, H.-J., Anm. 14, Baumann, K.-H., Mätze, W., Mey, H.-G., Zur Rückfäl-
ligkeit nach Strafvollzug, Legalbewährung von männlichen Strafgefangenen pp.,
MschrKrim., Bd. 66, 1983, S. 133 ff; Berckhauer, F., Hasenpusch, B., Legalbewährung
nach Strafvollzug, in: Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Krimi-
nologische Forschung, Bd. 2, hrsg. v. Schwind, H.-D. und Steinhilper, G., 1982, S.281 ff;
dieselben, Rückfälligkeit entlassener Strafgefangener, MschrKrim., Bd. 65, 1982, S. 318 ff;
Dünkel, F., Prognostische Kriterien zur Abschätzung des Erfolgs von Behandlungsmaß-
nahmen im Strafvollzug sowie für die Entscheidung über die bedingte Entlassung,
MschrKrim., Bd. 64, 1981, S. 279 ff; Rehn, H.-G., Vergleichende Untersuchung über die
Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen, 1979; Spieß, B., Wie bewährt sich die
Strafaussetzung?, Strafaussetzung zur Bewährung und Fragen der prognostischen Beurtei-
lung bei jungen Straftätern, MschrKrim., Bd. 64, 1981, S. 296 ff.
Prognoseentscheidungen 261

Die sich aus den Erkenntnissen der Entscheidungsforschung ergeben-


den Vorbehalte hinsichtlich der menschlichen Informationsverarbei-
tungskapazität und möglicher Urteilsverzerrungen sind für die krimino-
logische Prognoseforschung nicht systematisch aufgearbeitet worden.
Die Weiterentwicklung der statistischen Prognoseverfahren hin zu
Strukturprognosetafeln verfolgt das Ziel, stärker die Interdependenz
einzelner Prädiktoren berücksichtigen zu können. Dabei wird mittels
statistischer Verfahren eine Stichprobe Straffälliger sukzessiv-hierar-
chisch nach den jeweils mit dem Kriterium Rückfall am höchsten
korrelierenden Prädiktoren in Untergruppen aufgeteilt24. So sollen nach
dem Muster der Thaid-Bäume prognostisch homogene Gruppen entste-
hen. Dieses Modell der quantitativen Aggregation von Merkmalskombi-
nationen steht der differential-diagnostischen Typenbildung, jedoch
mittels quantitativer Methode, sehr nahe. Wegen der Zersplitterung in
sehr viele Untergruppen durch die Berücksichtigung einer großen Zahl
von Prädiktoren ist für die Entwicklung und Validierung guter Progno-
setafeln eine sehr große Stichprobe erforderlich. Außerdem kann dieses
verhältnismäßig anspruchsvolle Verfahren die zuvor verdeutlichten
Defizite der empirischen Datengrundlage nicht ausgleichen25. Bisher
sind diese Verfahren herkömmlichen statistischen Verfahren noch nicht
überlegen.
Einen grundsätzlich anderen Weg hat Göppinger mit der Methode der
„idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse" des „Täters in seinen
sozialen Bezügen" gewiesen26. Von der klinischen Prognose ausgehend,
verobjektiviert er diese in mehrfacher Hinsicht. Er hat als Datenbasis die
Ergebnisse der interdisziplinären multifaktoriellen Tübinger-Jungtäter-
Vergleichsuntersuchung27, die, wenn auch bewußt nicht nur, eine quan-
titative Analyse von Daten aus zwei Stichproben (Häftlingsgruppe und
Vergleichsgruppe aus der relevanten Durchschnittsbevölkerung) ist.
Diese Daten werden aber qualitativ für die Diagnose und Prognose
schrittweise nach seinem Modell der „kriminologischen Trias" (Stellung
der Tat im Lebenslängsschnitt, kriminovalente Konstellationen, Rele-
vanzbezüge und Wertorientierung) zu Typen zusammengefügt, die mit
seinen Idealtypen verglichen werden können28. Das für Praktiker (Rich-
ter, Staatsanwälte, Sozialarbeiter und Vollzugsbedienstete) handhabbare

24 Schultz, P., Zum Problem der Prognose in der Bewährungshilfe. Phil. Diss. Köln

1975, zusammenfassend Kaiser, Anm. 16, S. 277 ff.


25 Albrecht, H.-J., Anm. 14, S. 234 ff, Kaiser, Anm. 16, S.278.

26 Göppinger, H., Angewandte Kriminologie im Strafverfahren, KrimGegfr., H. 12,


1976, S. 56 ff, jetzt derselbe, Angewandte Kriminologie, 1985.
27 Göppinger, H., Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983.

28 Für eine methodische Aufarbeitung dieses Ansatzes s. Bock, M., Kriminologie als

Wirklichkeitswissenschaft, 1984, bes. S. 106 ff.


262 Werner Geisler

Verfahren ist zwar noch nicht an einer neuen Stichprobe validiert, aber
wohl an in Göppingen eigenem Institut durchgeführten Begutachtungen
neuer Fälle bewährt. Die empirische Datengrundlage berücksichtigt
über die kriminovalenten Konstellationen, Relevanzbezüge und Wert-
orientierung Sanktionswirkungen und in gewissem Umfang auch die
Nachentlassungssituation. Jedoch ist die Datengrundlage aus der Ver-
gleichsuntersuchung notwendigerweise einem Alterungsprozeß ausge-
setzt.

V.
Die beiden neueren Modelle stellen, mißt man sie an den Erkenntnis-
sen der Entscheidungsforschung, eine Verbesserung gegenüber der
intuitiven Prognose dar, die Richter heute in der Praxis überwiegend
verwenden (müssen). Komplexe Informationsgefüge, die dazu noch mit
Unsicherheit behaftet sind, können auf rein intuitiver Basis nicht ratio-
nal verarbeitet werden. Es ist wiederholt nachgewiesen worden, daß
Menschen nur eine begrenzte Anzahl von Informationen gleichzeitig
verarbeiten können, bei komplexen Sachverhalten Urteilsstrategien ein-
setzen, die zwar geeignet sind, Komplexität zu reduzieren, dabei aber
gleichzeitig zu spezifischen Urteilsverzerrungen führen können, z.B.
durch selektive Uberbetonung prägnanter Informationen, Ignorierung
oder Umbewertung von Informationen, die dissonant sind, Vernachläs-
sigung sogenannter „Base-Rate-Informationen", unrealistische Vorstel-
lungen von der Komplexität ihrer eigenen Beurteilungsprozesse haben
und mit zunehmender Informationsvielfalt bezüglich ihres Urteils
zunehmend sicherer werden, während die Häufigkeit korrekter Beurtei-
lungen mit zunehmender Informationsmenge abfällt29.
In der normativen Entscheidungstheorie, seit einigen Jahren auch der
„Künstliche-Intelligenz"-Forschung, sind Ansätze entwickelt worden,
die derartige Verzerrungen intuitiver Urteilsprozesse vermeiden sollen.
Da sie auf eine rationale Aufarbeitung des subjektiven Entscheidungsfin-
dungsprozesses gerichtet sind, kann mit ihnen gleichzeitig die Mobilisie-
rung des subjektiven Wissens, der Erfahrungen der Entscheider als
Experten zur Vervollständigung und Uberprüfung der empirischen
Datengrundlage angestrebt werden. Diese Ansätze zeichnen sich durch

2 ' Für Zusammenfassungen derartiger Befunde Nisbet, R., Ross, L., Human Interfe-

rence, Strategies and Shortcomings of Social Judgement, Englewood Cliffs, N.J., 1980;
Frey, D., Informationssuche und Informationsbewertung bei Entscheidungen, 1981;
Kahneman, D., Slovic, P., Twersky, A., Judgement under Uncertainty Heuristics and
Biases, New York, N. Y., speziell für richterliche Entscheidungen Rolinkski, K., Die
Prägnanztendenz im Strafurteil, 1969; Haisch, J., Urteilsperseveranz in simulierten Straf-
verfahren, MschrKrim., Bd.62, 1979, S. 157ff.
Prognoseentscheidungen 263

folgende Merkmale aus: 1. die Zerlegung (Dekomponierung) komplexer


Probleme in möglichst elementare (wenig komplexe) Bestandteile; 2. die
Verlagerung intuitiver Urteilsprozesse auf eine möglichst elementare
Ebene; 3. die anschließende Aggregation (Rekomponierung) der ele-
mentaren Urteile zur (komplexeren) Gesamtbeurteilung mittels eines
formalen Modells; 4. die Nutzung subjektiven (Experten-)Wissens dort,
wo eine gesicherte empirische Grundlage fehlt.
Beide neueren Verfahren arbeiten für die Erhebung des individuellen
Prognosesachverhaltes und in gewissem Umfang für die Analyse der
Erhebungen mit der unter 1. angesprochenen Dekomponierung und der
unter 2. angesprochenen Verlagerung intuitiver Urteilsprozesse auf eine
möglichst elementare Ebene. Mit der Dekomponierung sollen intuitive
Beurteilungen auf eine möglichst elementare, wenig komplexe Ebene
verlagert werden, um die Informationsgewinnung und Bewertung von
der Strukturierung des Beurteilungsproblems loszulösen. Damit soll
erreicht werden, daß die Strukturierung des Beurteilungsproblems: die
Festlegung der Beurteilungsgesichtspunkte und ihre relative Bedeutung,
nicht schon von den spezifischen Besonderheiten des Einzelfalles
geprägt wird, sondern sich primär daran orientiert, welche Gesichts-
punkte für die betreffende Kategorie von Beurteilungsproblemen aussa-
gekräftig sind. Die Durchführung intuitiver Bewertungen auf einer
möglichst elementaren Ebene soll die gleichzeitige Berücksichtigung
vieler Prädiktoren ermöglichen, ohne den Beurteiler mit einer Aufgabe
zu belasten, für die er schlecht ausgerüstet zu sein scheint.
Die Aggregation der einzelnen Prädiktoren bzw. Variablen mittels
eines formalen Modells stellt den ersten deutlichen Unterschied zwi-
schen den beiden neueren Verfahren dar. Während die Strukturprogno-
setafeln mit einem formalen Modell arbeiten, einer hierarchischen Struk-
tur der Dichte der Beziehung zwischen Prädiktor und Kriterium, liegt
hier für Diagnose und Prognose bei der idealtypisch-vergleichenden
Einzelfallanalyse ein vom Beurteiler subjektiv vorzunehmender Schritt,
der mit dem Risiko von Verzerrungen belastet ist. Bei der Nutzung
subjektiven (Experten-)Wissens zur Auffüllung von Lücken und der
Überprüfung der empirischen Grundlage wird man nur nach dem ersten
Eindruck dazu kommen, daß beide Modelle darauf überhaupt nicht
abheben. Tatsächlich bietet aber das Modell den idealtypisch-verglei-
chenden Einzelfallanalysen, zumal schon in den Schritten der Analyse
des Lebensquerschnitts (kriminelle Konstellation) und der Erfassung der
Relevanzbezüge und Wertorientierung in stärkerem Maße Bewertungs-
schritte enthalten sind, die Möglichkeit der Berücksichtigung von sub-
jektivem Wissen des Beurteilers. So mag beispielsweise der Beurteiler in
Kenntnis der Veränderung der Arbeitsmarktsituation zum Zeitpunkt
seiner Prognose im Vergleich zur Datenbasis in der Jungtäteruntersu-
264 Werner Geisler

chung zur Beurteilung des Arbeitsverhaltens andere Gesichtspunkte


heranziehen.

VI.
Möglichkeiten für die Verbesserung prognostischer Entscheidungen
sind beim gegenwärtigen Entwicklungsstand durch eine Verbesserung
der Aggregation (Rekomponierung) der Einzelbeurteilungen und der
Nutzung subjektiven Wissens der betreffenden Experten zu erwarten.
Die Aggregation der Einzelbeurteilungen kann über ein formalisiertes
Modell vorgenommen werden, das sich auf theoretische Vorstellungen
über kognitive Prozesse beim Menschen oder auf normative Konzepte
rationalen Verhaltens stützt. Die Anwendung des Bayes-Theorems ist
für Entscheidungshilfeverfahren auf dem Boden normativer Konzepte
die bislang verbreitetste Formalisierung. Es schreibt vor, in welcher
Weise unsichere (probabilistische) Informationen zu verarbeiten sind,
wenn formalen Rationalitätskriterien genügt werden soll, die auf ele-
mentaren Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie beruhen30. Bisher ist
die Anwendbarkeit des Bayes-Theorems für Diagnoseverfahren in der
Medizin demonstriert worden", wobei der erforderliche Algorithmus
auf einem Computer programmiert wurde. Über ein Anwendungsbei-
spiel, das der Rückfallprognose sehr ähnlich ist, berichtet Gustafsori11.
Er entwickelte ein Prognosesystem, das Suizidgefährdung aufgrund von
Prädiktoren wie: Häufigkeit von Suizidgedanken, Entwicklung konkre-
ter Suizidpläne, Wahrnehmung, daß keine Chancen mehr bestehen,
persönliche Probleme zu bewältigen, vorhersagen sollte. Ein Vergleich
der Vorhersagegenauigkeit des Computers mit der von Psychiatern und
niedergelassenen Ärzten erbrachte folgende Werte:

Trefferquoten:
Computer Psychiater niedergel. Ärzte
Suizidversuch 68 % 40 % 34 %
kein Suizidversuch 94 % 86 % 87 %

30 Boreberding, Anm. 11, S. 141 ff; Aufsattler, W., Simple Modelle für komplexe Pro-
bleme? Zur Robustheit probabilistischer Prognoseverfahren gegenüber vereinfachenden
Modellannahmen. Diss. Phil. Mannheim 1985.
31 Mai, N., Hachmann, E., Anwendung des Bayes-Theorems in der medizinischen
Diagnostik, Metamed 1977, S. 161 ff; Wardle, A., Wardle, L., Computer-aided Diagnosis,
A Review of Research, Methodik der Information in der Medizin 17, 1978, S. 15 ff; Rogers,
W. et al., Computer-aided medical Diagnosis, Literature Review. Internat. J. Biomed.
Comp. 10, 1979, S. 267 ff.
32 Gustaf son, D. H., Greist, J. H. et al., A Probabilistic System for Identifying Suicide

Attempters, in: Computer and Biomedical Research, 10, 1977, S. 1 ff.


Prognoseentscheidungen 265

Auch die Verwertung subjektiven Wissens der Experten bedarf der


Standardisierung. Das setzt zunächst voraus, daß die Entscheider (z.B.
Richter) Gelegenheit haben, mit dem zu beurteilenden Sachverhalt
Erfahrungen zu sammeln, Experten zu werden. Sodann müssen sie in
der Lage sein, diese Erfahrungen in quantifizierter oder in quantifizier-
barer Form mitzuteilen. Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit
Befragungen von Vollstreckungsrichtern und Bewährungshelfern sind
sie dazu jedenfalls dann in der Lage, wenn man sich mit der Angabe von
Intervallen begnügt. Die zu einem früheren Zeitpunkt durchgeführte
erste Richterbefragung" hatte aber auch zu der Erkenntnis geführt, daß
Angaben über quantitative Größen (z.B. Rückfallwahrscheinlichkei-
ten), wie sie ein formalisiertes Verfahren verlangt, nur dann sinnvoll zu
erheben sind, wenn Konsistenzprüfungen schon während der Befragung
möglich sind. In der zweiten Befragung von Richtern und Bewährungs-
helfern konnten diese Konsistenzprüfungen mittels eines eigens dafür
konzipierten und auf einem Mikrocomputer implementierten Verfah-
rens durchgeführt werden. Damit ist es grundsätzlich möglich, das
subjektive Wissen von erfahrenen Richtern und Bewährungshelfern für
Bereiche zu mobilisieren, wo kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse
vorliegen, etwa für die Nachentlassungssituation, und die als empirisch
gesichert geltenden Faktoren auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.
Abschließend läßt sich damit feststellen, daß ein Instrumentarium zur
Verfügung steht, mit dem eine Verbesserung der Prognosemethoden in
Richtung auf eine rationalere Informationsverarbeitung und Erweite-
rung der empirischen Datengrundlage an den Stellen möglich erscheint,
an denen zur Zeit, gemessen an den Erkenntnissen der Entscheidungs-
forschung, die Prognosemethoden verbesserungsbedürftig erscheinen.

35
Aufsattler/Geisler et al„ Anm.20 (1983).
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug
H A N S J O A C H I M SCHNEIDER

Wenn der Kriminologe von Kriminalität redet, meint er fast stets


Straftaten, die von Männern begangen worden sind. Frauenkriminalität
war lange Zeit ein vergessenes Thema. Sie wurde in der Öffentlichkeit
nicht als Problem thematisiert. Frauen wurden als Rechtsbrecher nicht
ernst genommen. Wenn sich die ältere Kriminologie mit der Frauenkri-
minalität befaßte, so nahm sie das nicht selten zum Anlaß, die Frau
pauschal abzuwerten und ihre angebliche Unterlegenheit aufzuzeigen,
worauf Hilde Kaufmann 1967 so eindrucksvoll hingewiesen hat. Das
Frauenbild der älteren Kriminologie stimmte auf diese Weise mit theolo-
gischen und philosophischen Auffassungen des 19. und des beginnenden
20.Jahrhunderts überein: In der Bibel überwiegen die männlichen, die
Vater-Sohn-Bilder. Die ältere Theologie betonte demgemäß die Unter-
geordnetheit der Frau unter den Mann. Weibliche Gottesbilder hat erst
die neuere feministische Theologie entdeckt (Virginia R. Mollenkott
1985; Catharina J. M. Halkes 1985), wenn auch der Jurist Johann Jakob
Bachofen 1861 bereits herausarbeitete, daß auf älteren Kulturstufen
Muttergottheiten das Matriarchat mutterrechtlicher Gesellschaften
repräsentierten. Zahlreiche abendländische Philosophen vertraten die
Meinung, Frauen seien weniger vernünftig als Männer; die Frau wurde
häufig nur als „Ergänzung" des Mannes betrachtet (Genevieve Lloyd
1985). Als sich die Frauen anschickten, in vermehrtem Umfang zu
studieren und berufstätig zu werden, sprach man davon, sie studierten
„in männlicher Weise", sie erlernten „männliche Berufe", sie seien
„vermännlicht" (Carl Gustav Jung 1948). Diese Ansicht setzte voraus,
daß „Eros", Gefühl, Ehe, Familie die Welt der Frau seien und daß
„Logos", Vernunft, Wissenschaft, Beruf Felder seien, die dem Mann
„von Natur aus" gehörten. Zwei Weltkriege brachten nicht nur macht-
politische und wirtschaftliche Einschnitte. Sie führten auch eine
Neuordnung der Beziehungen der Geschlechter herbei. Mit der Auflö-
sung des traditionellen Vaterbildes {Alexander Mitscherlich 1963) war
eine Verunsicherung der männlichen Rolle verbunden. Der Vater, der
mit Selbstverständlichkeit Gehorsam und Unterordnung forderte,
wurde nicht mehr geduldet. An seine Stelle trat der beschützende, sich
einfühlende Vater, dessen Väterlichkeit mehr der Mütterlichkeit, der
268 Hans Joachim Schneider

pflegenden weiblichen Rolle nahekommt (Margarete Mitscherlich 1985,


161-172). Mit der väterlichen Rolle änderte sich auch die Rolle des
Mannes. Die Frau ist gegenwärtig nicht nur im Begriff, eine rechtliche
und berufliche Gleichstellung zu erreichen; sie ist auch dabei, sich aus
der Dominanz des Mannes völlig zu befreien und eine weitgehende
Angleichung der weiblichen und männlichen Rollen in der Gesellschaft
durchzusetzen. Diese Entwicklung wird eine Änderung der Frauenkri-
minalität zur Folge haben.

Der Frauenanteil an der Kriminalität


Er ist in allen Ländern, in allen Altersgruppen, zu allen Zeiten, für die
brauchbare Kriminalstatistiken verfügbar sind, und für alle Delikte
niedriger als der Männeranteil (Edwin H. Sutherland, Donald H. Cressey
1978, 130). Ausnahmen bilden lediglich typische Frauendelikte wie
Kindestötung und -aussetzung und Selbstabtreibung. Eine Zunahme der
Geburtenkontrolle und eine liberalere Einstellung gegenüber dem un-
ehelichen Kind haben freilich in den Industrieländern zu einem Rück-
gang der Kindestötung und -aussetzung und der Selbstabtreibung
geführt. Nach den offiziellen Kriminalstatistiken beträgt der Frauenan-
teil an der Kriminalität in den entwickelten Industrieländern etwa 10 %
bis 20 %, in den Entwicklungsländern etwa 3 % bis 5 %. Von 1254 213
Tatverdächtigen waren in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre
1984 nach der polizeilichen Kriminalstatistik 295 813 weiblich. Das ist
ein Anteil von 23,6 %. Der Frauenanteil an den Tatverdächtigen lautete
im Jahre 1972 auf 17,6 %. Er ist also in zwölf Jahren um 6 % gestiegen.
Nach der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes waren
im Jahre 1982 von 772194 Verurteilten (mit Straftaten im Straßenver-
kehr) 120184 Frauen. Das sind 15,6 % der Verurteilten. In den Strafan-
stalten der Bundesrepublik Deutschland befanden sich am 31.3.1982
45 584 Strafgefangene, davon 1501 weibliche. Das sind 3,3% (Statisti-
sches Bundesamt 1984, 14 und 39). Delikte der Frauen und Mädchen
werden weniger entdeckt, weniger angezeigt. Frauen und Mädchen
werden seltener verhaftet und verurteilt. Wegen der Eigenart der Frau-
enkriminalität kommen Frauen und Mädchen weniger in Strafanstalten.
Zwar begehen Männer erheblich mehr Kriminalität als Frauen. Nach der
Dunkelfeldforschung ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern
aber nicht so groß, wie er nach den offiziellen Statistiken erscheint. Der
Frauenanteil an der Kriminalität beläuft sich in den westlichen Industrie-
ländern nach der Erforschung des Dunkelfeldes auf etwa 35 % (Roger
Hood, Richard Sparks 1970, 48). Er ist in Großstädten höher als in
Kleinstädten und auf dem Land.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 269

Entwicklung der Frauenkriminalität


Läßt man die Straßenverkehrsdelikte einmal beiseite und betrachtet
man die Entwicklung der Kriminalität der Frauen und Mädchen langfri-
stig, so beträgt der Frauenanteil an den Verurteilungen im Jahre 1982 in
der Bundesrepublik Deutschland knapp 20 % wie vor einhundert Jah-
ren. Die Kriminalität der Frauen und Mädchen hat in den letzten
hundert Jahren allerdings größere und kleinere Schwankungen durchge-
macht. So stieg die Frauenkriminalität während der beiden Weltkriege in
den kriegführenden Staaten erheblich an und machte im Deutschen
Reich im Jahre 1917 knapp 38 % aus (Sebastian von Koppenfels 1926, 9).
Die Dunkelzahl war damals freilich noch höher. In den letzten zehn bis
zwanzig Jahren wächst die Frauenkriminalität in der Bundesrepublik
Deutschland, in England und den Vereinigten Staaten von Amerika
etwas schneller als die Männerkriminalität. Dieser schnellere Anstieg der
Frauenkriminalität, der sich in engen Grenzen hält, trifft jedoch keines-
wegs für alle Industrieländer zu. Nach einer Studie der Vereinten
Nationen ist der Anstieg der Frauenkriminalität in den Entwicklungs-
ländern im Durchschnitt um 30 % und in den entwickelten Industrielän-
dern im Durchschnitt um 50 % höher als das Wachsen der Männerkrimi-
nalität (United Nations 1977). Die Frauenanteile an der Kriminalität
nehmen in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere bei den Ver-
mögens- und Wirtschaftsdelikten (Betrug, Untreue, Hehlerei, Unter-
schlagung und Urkundenfälschung), bei den Rauschgiftdelikten und
auch bei den Gewaltdelikten (Raub, Körperverletzung) zu (Bundeskri-
minalamt 1973, 28; 1985, 28). In den USA wächst gleichfalls im wesent-
lichen der Frauenanteil an den Vermögensdelikten (insbesondere am
Ladendiebstahl, am Scheckbetrug und an der Rezeptfälschung), weil
Vermögensdelikte für soziale Veränderungen empfindlicher sind und
weil Frauen die Aufgabe des Einkaufens hauptsächlich wahrnehmen
(Darreil J. Steffensmeier 1980, 1981a und 1981b). Da der Frauenanteil
an der Kriminalität jedoch erheblich geringer ist als der Männeranteil,
haben sich die absoluten Zahlen der Frauenkriminalität nicht so stark
erhöht wie die der Männerkriminalität. Die Delinquenz der Mädchen
wächst stärker als die Frauenkriminalität. Sie laufen vermehrt aus dem
Elternhaus weg und streunen herum. Mädchenbanden greifen in engli-
schen und nordamerikanischen Großstädten ältere Damen an und ent-
reißen ihnen die Handtaschen. Die Gewaltdelikte der Mädchen sollen in
den USA stärker angestiegen sein als die der erwachsenen Frauen. Die
Änderung der weiblichen Rolle soll sich bei Mädchen deutlicher in
Delinquenz auswirken als bei Frauen (Ilene H. Nagel, John Hagan 1983,
102, 106 m.w.N.).
270 Hans Joachim Schneider

Struktur der Frauenkriminalität


Frauen und Mädchen verüben vorwiegend Delikte, die ohne große
Hindernisse und ohne erhebliches Risiko begangen werden können. Sie
gehen weniger planvoll vor als kriminelle Männer. Sie nutzen vielmehr
sich bietende Gelegenheiten aus. Diebstähle, insbesondere Warenhaus-
und Ladendiebstähle, stehen bei ihnen an der Spitze. Männer begehen
diese Diebstahlsform freilich noch häufiger als Frauen, und die Zahl der
Männer, die Warenhaus- und Ladendiebstähle bevorzugen, wächst stär-
ker an als die der Frauen und Mädchen. Der Grund hierfür liegt darin,
daß sich Männer immer mehr am Einkaufen beteiligen. Auch Angestell-
tendiebstähle werden von Männern mehr begangen als von Frauen. An
zweiter Stelle stehen bei den Frauen die Straßenverkehrsdelikte. Uber-
verhältnismäßig stark belastet sind Frauen bei folgenden Delikten und
Deliktsarten: Aussagedelikte, falsche Anschuldigung, Beleidigungsde-
likte, Personenstandsfälschung, Verletzung der Aufsichtspflicht, Kin-
desmißhandlung und -aussetzung und Förderung der Prostitution (Carl
Gustav Cremer 1974, 34—142). Wegen des geringeren Frauenanteils an
der Gesamtkriminalität werden allerdings auch diese Delikte von Män-
nern häufiger verübt als von Frauen. Schwerpunkte der Falschaussagen
von Frauen liegen in Ehescheidungs- und Unterhaltsprozessen. Die
falsche Anschuldigung der Frau ist meist eine sexuelle Falschbezichti-
gung. Beleidigungsdelikte erwachsen oft aus Nachbarschafts- und Fami-
lienstreitigkeiten. Tötungsdelikte, an denen Frauen in sehr geringem
Maße beteiligt sind (1984: 11,7%), treten bei ihnen vor allem in ihrem
sozialen Nahraum auf. Vorwiegend sind Ehemänner, Geliebte,
Freunde, Bekannte und die Kinder der Täterinnen die Opfer (David
A. Ward, Maurice Jackson, Renee E. Ward 1979). Während Tötungen
und Körperverletzungen mehr von Frauen als Täterinnen begangen
werden, spielen sie bei Raub und Einbruch Hilfsrollen für die Männer,
die überwiegend als Täter handeln (Dale Hoffman-Bustamante 1973).
Bei den Begehungsformen der Tötungsdelikte durch Frauen steht der
Giftmord nicht an erster, sondern erst an zweiter Stelle. Wie die
männlichen Täter töten auch die Mörderinnen in erster Linie durch
Einwirkung stumpfer Gewalt, durch Erschlagen. Die Rückfallhäufigkeit
und -gefährdung der weiblichen Kriminellen ist geringer als die der
männlichen, obgleich die einmal wegen einer Straftat verurteilte Frau
stärker verfemt und in ihrem Fortkommen schwerer behindert ist als der
kriminelle Mann.

Gründe für den geringeren Kriminalitätsanteil der Frau


Den geringeren Anteil der Frauen und Mädchen an der Kriminalität
hat man vor allem aus der Körperlichkeit der Frau zu erklären versucht.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 271

Die italienischen Kriminologen Cesare Lombroso und Guglielmo Fer-


rero sprechen 1894 von dem Konservatismus der Frauen, von ihrem
Festhalten an traditionellen Werten, das sie auf die Unbeweglichkeit der
weiblichen Eizelle zurückführten, während die männlichen Samenfäden
sehr beweglich seien. Prostitution bildet für sie den weiblichen Ersatz
der Kriminalität. Im wesentlichen kriminalbiologisch versuchte auch der
nordamerikanische Kriminologe Otto Pollak 1950 den geringeren
Frauenanteil an der Kriminalität zu rechtfertigen. Er spricht vom „mas-
kierten Charakter" der Frauenkriminalität und meint damit, die Frau
habe ein niedrigeres Entdeckungs- und Anzeigerisiko. Er versucht, den
„maskierten Charakter" der Frauenkriminalität mit der besonderen
Fähigkeit der Frau zur Täuschung, Verstellung und Verheimlichung zu
beweisen, die körperlich bedingt sei, da sie den Höhepunkt beim
Geschlechtsakt vortäuschen oder verheimlichen könne, was dem Mann
unmöglich sei (kritisch hierzu: Jocelynne A. Scutt 1978). Aufgrund dieser
besonderen weiblichen Fähigkeit zur Täuschung würden kriminelle
Frauen - so argumentiert Pollak - von den Justizbehörden, die vorwie-
gend von Männern besetzt seien, mit „männlicher Ritterlichkeit" und
mit mehr Nachsicht behandelt. Noch in den sechziger Jahren unseres
Jahrhunderts begründen Kriminologen den geringeren Frauenanteil an
der Kriminalität damit, daß Frauen zwei X-Geschlechtschromosome als
Träger der Erbanlagen besäßen, während normale Männer ein X- und
ein Y-Chromosom hätten. Im Y-Chromosom sehen sie den anlagemäßig
vorherbestimmenden Faktor für Männlichkeit, Aggressivität und Krimi-
nalität (Armand Mergen 1968, 36/37; John Cowie, Valerie Cowie, Eliot
Slater 1968). Schließlich gibt es eine feministische Ansicht, die meint,
Frauen ersetzten ihr kriminelles Verhalten durch „Sozialabweichungen",
nämlich durch ihre Flucht in die Geisteskrankheit (Carol Smart 1977),
durch psychosomatische Erkrankungen und durch Prostitution (Marlis
Dürkop, Gertrud Hardtmann 1974, 227, 232). Alle diese Erklärungsver-
suche, die sich mehr oder weniger auf das körperlich bedingte „Wesen
der Frau" gründen, sind unbefriedigend. Denn sie überbewerten das
körperliche Anderssein der Frau, und sie unterbewerten die sozio- und
psychodynamischen Prozesse, in denen die Frau und das Mädchen ihre
weibliche Rolle erfährt und annimmt. In anthropologischen Untersu-
chungen hat Margaret Mead (1955) festgestellt, daß es keine natürlichen,
körperlich vorgegebenen Geschlechtsrollen gibt. Die Persönlichkeitsun-
terschiede zwischen Mann und Frau sind nicht Folge bestimmter Natur-
anlagen, sondern werden durch geschlechtsspezifische Verhaltensmuster
aufgebaut. Das geschlechtsbezogene seelische und soziale Verhalten
kommt hauptsächlich durch soziale Steuerung und Beeinflussung zu-
stande.
Der kriminalstatistisch erfaßte Frauenanteil an der Kriminalität ist
Ili Hans Joachim Schneider

geringer als der Männeranteil, weil es ein geschlechtseigenes Dunkelfeld


der Frauen- und Mädchenkriminalität gibt. Viele Frauendelikte werden
im sozialen Nahraum begangen, was ihre Entdeckung erschwert. Denn
sie werden oft informell geregelt und der Kriminalpolizei nicht ange-
zeigt. Bei der Ausführung von Verbrechen spielt die Frau häufig Hilfs-
rollen, die nicht so klar strafrechtlich erfaßbar sind. Frauen übernehmen
oft die Vorbereitung und Auskundschaftung der Tat und die Anlockung
des Opfers. Beischlafsdiebstahl und Erpressung auf sexueller Grundlage
bleiben zuweilen verborgen, weil der Bestohlene oder Erpreßte ihm
peinliche Bloßstellungen vermeiden will. Kriminalpolizisten zeigen
Frauen weniger an, und Strafrichter verurteilen sie zuweilen nicht zu
Freiheitsstrafen, weil sie ihre Delikte als nicht so schwer und gewaltsam
empfinden, weil Frauen eine geringere Rückfallhäufigkeit und deshalb
weniger Vorstrafen besitzen und weil Frauen häufig unmündige Kinder
zu versorgen haben, die die Strafrichter nicht gern einem Heim überlas-
sen möchten.
Der geringere Frauenanteil an der Kriminalität ist indessen keineswegs
nur ein kriminalstatistisches Kunstprodukt. Frauen und Mädchen bege-
hen tatsächlich erheblich weniger Kriminalität als Männer. Die Frau und
das Mädchen leben trotz des Wandels, in dem sich die Frauenrolle
befindet, auch heute noch in Rückzugsstrukturen der Familie, in einge-
schränkteren sozialen Handlungsräumen, in denen geringere soziale
Kontakte weniger Gelegenheiten zum Täter- und Opferwerden eröffnen
(June Fielding 1977). Sind Frauen berufstätig, so haben sie meist Berufe
gewählt, die eine Erweiterung ihrer hegenden und pflegenden Rolle zum
Inhalt haben und die auf einen „abgedämpften Lebenskampf" (Hans von
Hentig 1963, 32) abzielen. Mädchen und Frauen unterliegen auch gegen-
wärtig noch einer wesentlich stärkeren sozialen Kontrolle durch ihre
Väter, Ehemänner und ihre Kinder im sozialen Nahraum. Ihre Erzie-
hung zur Konformität mit der weiblichen Rolle ist strenger und verhin-
dert stärker den Kontakt mit abweichenden Verhaltensmustern. Man
lehrt Mädchen, passiv und folgsam zu sein, während dem Jungen immer
noch größere Freiheit gewährt wird. Die Selbstwahrnehmung der
Geschlechter ist aufgrund der sozialen Aufgaben- und Arbeitsteilung
zwischen den Geschlechtern unterschiedlich.
Sozial definierte Geschlechtsrollen führen zu weiblichen Einstellun-
gen und zu weiblichem Verhalten. Frauen und Mädchen entwickeln
ihren eigenen weiblichen Lebensstil, mit dem sich bestimmte Arten der
Kriminalität, z.B. Gewaltkriminalität, nicht vertragen. Das soziale
Selbst der Frau wird durch Geschlechtsrollenerwartungen bestimmt.
Soziale Stereotype, eingebürgerte Vorurteile mit festen Vorstellungskli-
schees beeinflussen das Geschlechtsrollenbewußtsein der Männer und
Frauen. Das Bild, das ihre Interaktionspartner von ihrer Geschlechts-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 273

rolle haben, prägt entscheidend das Selbstbild der Frau und des Mäd-
chens, das ihr Verhalten steuert. Die eigene weibliche Rolle wird im
lebenslangen sozialen Prozeß symbolischer Interaktion gelernt. In die-
sem Wechselwirkungsprozeß wird auf das Verhalten des Partners nicht
nur reagiert, sondern das Verhalten und der Partner selbst werden auch
interpretiert und definiert. In diese Interpretationen gehen soziale Ste-
reotype über Geschlechtsrollenerwartungen ein. Die Interaktionspart-
ner haben Vorstellungen von dem, was weiblicher Lebensform ent-
spricht. Maßstab für weibliches Verhalten ist hierbei die Annahme, die
Mädchen und Frauen von den Geschlechtsrollenerwartungen ihrer
Interaktionspartner haben.
Der nordamerikanische Soziologe Talcott Parsons hatte 1947 schon
durchaus den richtigen Grundgedanken, als er herausarbeitete, daß den
Mädchen die Identifikation mit der Mutter als Rollenmodell leichter
gelinge, weil sie die Mutter und ihr Verhalten im Elternhaus viel häufiger
tagtäglich vor Augen hätten, als dies bei Jungen mit ihrem Vater der Fall
sei. Das Mädchen lernt auf diese Weise ihre Hausfrauen- und Mutter-
rolle. D e m Jungen wird es nicht so leicht gemacht. Er hat seinen Vater
meist nicht vor sich, dessen Arbeit und Beruf häufig kompliziert und
weniger sozial sichtbar sind. Das Mädchen hat eine bessere Chance,
gefühlsmäßig zu reifen. Aus einem „männlichen Protest" gegen eine
vorwiegend weibliche Erziehung erwächst beim Jungen - nach Parsons -
Delinquenz. Mädchen können sich demgegenüber nicht mit Diebstahl
und Vandalismus „beweisen". Denn die Rollenerwartung der Gesell-
schaft besteht für Frauen und Mädchen trotz des Wandels, in dem sich
die Frauenrolle befindet, immer noch vorwiegend darin, mit dem männ-
lichen Geschlecht gegenseitig zufriedenstellende Beziehungen anzu-
knüpfen und aufrechtzuerhalten (Albert K. Cohen 1955, 141/142). Ihrer
Position in der Gesellschaft entsprechend, erlernen Mädchen ihre weib-
liche Rolle, indem sie durch soziale Interaktion, insbesondere mit ihren
Eltern, die Rollenerwartungen, die die Gesellschaft an ein Mädchen
stellt, kennenlernen und sie in Interaktionsprozessen mit Hilfe von
Lerntechniken annehmen und erfüllen. Parsons' Rollenmodell gilt auch
für Töchter berufstätiger Mütter. Denn auch sie erfüllen meist neben
ihrer Berufsrolle ihre Hausfrauen- und Mutterrolle. Die Vaterrolle
besteht demgegenüber viel einseitiger in einer die Familie beschützenden
und erhaltenden Berufsrolle. Die weibliche Rollenerwartung orientiert
sich in unserer gegenwärtigen entwickelten Industriegesellschaft immer
noch an der traditionellen hegenden und pflegenden Rolle der Frau. Die
vorwiegende oder gar ausschließliche Berufsrolle der Frau stellt im
gesellschaftlichen Bewußtsein immer noch eine Ausnahme dar. Es ist für
die geringere Kriminalitätsbelastung der Frau entscheidend, daß Töchter
berufstätiger Mütter dieses soziale Stereotyp erlernen.
274 Hans Joachim Schneider

Da Mädchen in der Familie auf ihre Erwachsenenrolle als Hausfrau


und Mutter relativ gut vorbereitet werden können, ist das Problem der
Unsicherheit über ihre eigene soziale Stellung bei ihrem Hineinwachsen
in die Erwachsenengesellschaft in ihrer Jugendzeit viel weniger dringend
als für Jungen, die beruflichen Erfolg in der Erwachsenengesellschaft
haben müssen (Dietlinde Gipser 1975). Die legitimen Mittel zur Errei-
chung des gesellschaftlich definierten Erfolgszieles sind für Mädchen
aufgrund ihres andersartigen Sozialisationsprozesses leichter, die illegiti-
men Mittel aufgrund stärkerer sozialer Kontrolle schwerer zugänglich
als für Jungen. Während ein Junge sich in Ausbildung und Beruf
bewähren muß, kann sich ein Mädchen auf seine Hausfrauen- und
Mutterrolle zurückziehen, ohne durch sozialen Mißerfolg ein negatives
Selbstbild zu entwickeln. Hieraus folgt die geringere Delinquenz der
Mädchen als der Jungen (vgl. auch Lutz Keupp 1982).

Kriminalitätsstruktur und Geschlechtsrolle


Es gibt kaum ein Delikt, an dem Frauen nach der Kriminalstatistik
überverhältnismäßig stark beteiligt sind, aus dem nicht Schlüsse auf
angebliche Persönlichkeitseigenschaften der Frau gezogen worden sind,
obgleich alle diese Delikte wegen des geringeren Frauenanteils an der
Kriminalität von Männern mehr begangen werden als von Frauen. Aus
dem hohen weiblichen Anteil an Falschaussagen hat man beispielsweise
auf die Neigung der Frau zu Unaufrichtigkeit und Lüge zu schließen
versucht. Ihre hohe Beteiligung an der Beleidigungskriminalität hat zu
der diskriminierenden Behauptung geführt, Frauen besäßen ein zänki-
sches Wesen. Die Heimlichkeit und Hinterhältigkeit der Giftmorde
wurden der Frau als der Zubereiterin der Nahrung angelastet. Es wurde
behauptet, Frauen begingen nur deshalb weniger Gewaltdelikte, weil die
mitteleuropäische Frau durchschnittlich kleiner und leichter als der
Mann sei und weil sie deshalb eine verringerte Möglichkeit zur Kraftent-
faltung hätte. Alle diese Versuche, die geschlechtsspezifische Delikts-
struktur auf die weibliche Konstitution, auf angeborene Persönlichkeits-
merkmale der Frau zurückzuführen, sind gescheitert. In Wirklichkeit
spiegelt die geschlechtsbezogene Kriminalitätsstruktur die sozial defi-
nierte Geschlechtsrolle der Frau und ihre unterschiedliche Sozialisation
wider. Frauen begehen so viele Beleidigungen, weil sie - nicht zuletzt
von Männern - gelernt haben, daß Frauen ihre Aggressionen mehr in
Worten und weniger in Taten ausdrücken. Gewaltdelikte verüben sie so
häufig im sozialen Nahraum, weil ihre Männer sie in modernen Wohn-
hochhäusern mit ihrer sozialen Isolation und ihrem Kontaktmangel
alleinlassen. Die geschlechtsspezifische Deliktsstruktur ist Ausdruck
unterschiedlicher gesellschaftlicher Rollenerwartungen, die für jedes
Geschlecht eigene Erfolgsziele definieren.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 275

Änderungen der Frauenkriminalität


Bei niedrigem Frauenanteil am Verbrechen wächst die Frauenkrimina-
lität in zahlreichen entwickelten Industrieländern - auch in der Bundes-
republik Deutschland - und in zahlreichen Entwicklungsländern etwas
schneller als die Männerkriminalität. Die weibliche Kriminalitätsstruk-
tur ändert sich gleichfalls. Die Variationsbreite der von Frauen begange-
nen Delikte steigt an. Die weibliche Kriminalitätsstruktur wird der
männlichen ähnlicher, obgleich beide noch erheblich unterschiedlich
bleiben. Frauen begehen mehr Vermögens- und Wirtschaftskriminalität.
Die Gewaltdelikte der Frauen nehmen in geringerem Ausmaß zu.
Gleichwohl bleiben Raub (Frauenanteil 1984: 8 , 4 % ) und Einbruch
(Frauenanteil 1984: 7 % ) typische Männerdelikte. Allerdings hat es
schon immer aufsehenerregende Einzelfälle weiblicher Berufseinbre-
cher und -räuber gegeben. Im organisierten Verbrechen ist die Frau
keineswegs absolut unbekannt (Alan Block 1981). Aus weiblichen krimi-
nellen Hilfsrollen werden immer mehr Rollen von Täterinnen. Rausch-
mittel- und Alkoholkonsum der Frauen wachsen.

Ursachen für die Wandlungen der Frauenkriminalität


Eine Meinung innerhalb der Kriminologie hält diese Änderungen für
scheinbare Wandlungen. Sie vertritt die Ansicht, das geschlechtsspezifi-
sche Dunkelfeld der Frauen- und Mädchenkriminalität verkleinere sich
lediglich. Frauen würden nur häufiger gefaßt, angezeigt und verurteilt,
als dies früher der Fall gewesen sei. Polizei, Staatsanwaltschaft und
Strafgerichte seien nicht mehr so nachsichtig mit Frauen und Mädchen,
die nunmehr die Gleichbehandlung erführen, für die sie stets gekämpft
hätten. Dieser Auffassung kann mit dieser Begründung nicht gefolgt
werden. Das geschlechtsbezogene Dunkelfeld der Frauenkriminalität
entsteht nicht wegen der „Ritterlichkeit" der Polizisten und Strafrichter
Frauen und Mädchen gegenüber, sondern aus der Eigenart der Frauen-
und Mädchenkriminalität selbst, die nicht als so schwer empfunden und
häufiger informell geregelt wird, und aus der Besonderheit der weibli-
chen Rolle innerhalb der Gesellschaft, die bei der Reaktion auf Frauen-
kriminalität mit Recht berücksichtigt wird. Daß Frauen oft unmündige
Kinder zu versorgen haben, ist z . B . ein legitimer Grund, sie nicht so
schnell zu Freiheitsstrafen zu verurteilen.
Die Reaktion der Polizei und der Strafgerichte auf Frauenkriminalität
ändert sich nicht, weil sich nur die Einstellungen der Polizisten und
Strafrichter kriminellen Frauen und Mädchen gegenüber gewandelt
haben, sondern weil sich die Frauenkriminalität ihrer Höhe und Eigen-
art nach tatsächlich verändert hat. Die nordamerikanischen Kriminolo-
276 Hans Joachim Schneider

ginnen Freda Adler und Rita James Simon haben 1975 diese Entwicklung
auf die Emanzipation der Frau zurückgeführt. Ihre These lautet: In dem
Maße, in dem Frauen Zugang zu Berufen und wirtschaftlichen Positio-
nen bekommen, sind sie auch den Verantwortlichkeiten, Versuchungen,
Druckphänomenen und Entsagungen ausgesetzt, denen bisher nur Män-
ner unterworfen gewesen sind. Es trifft zwar zu, daß die rechtliche und
berufliche Gleichstellung der Frau immer größere Fortschritte macht. Es
mag aber bezweifelt werden, ob diese rechtliche und berufliche Emanzi-
pation eine Gleichheit in der tatsächlichen Teilhabe an gesellschaftlichen
Prozessen zur Folge gehabt hat. Die Berufstätigkeit der Frau ist in den
USA von 1960 bis 1970 von 34,8% auf 4 2 , 6 % gestiegen. Ähnliche
Entwicklungen zeigen sich in anderen Industrieländern, auch in der
Bundesrepublik Deutschland. Die Berufstätigkeit der Frau in Polen, die
mit 46 % einen sehr hohen Prozentsatz in den Industrieländern erreicht
hat, führte zwar zu einer Beteiligung der Frauen an der Berufs- und
Wirtschaftskriminalität von über 58 % . Ein ähnlicher Ablauf wird aus
Indien berichtet ( M . L . Bhanot, Surat Misra 1981). Der wesentlich
geringere Anteil der Frauen an der traditionellen Kriminalität, z. B. an
der Gewalt- und Sexualkriminalität, hat sich demgegenüber nicht grund-
legend geändert. Die polnische Kriminologin Danuta Berger Plenska hat
1981 diesen Umstand damit begründet, daß die rechtliche, berufliche
und ökonomische Gleichstellung der Frau in Polen keineswegs in glei-
chem Umfang für eine Umgestaltung ihres Lebensstils, ihres sozialen
und psychischen Selbstbildes, ihrer sozialen Rolle und ihrer weiblichen
Rollenerwartungen bestimmend gewesen ist. Obgleich eine sehr große
Anzahl von Frauen berufstätig ist, hat sich ihre Hausfrauen- und
Kindererziehungsrolle nicht wesentlich geändert. Das rührt einmal
daher, daß die weibliche Berufstätigkeit oft lediglich eine Erweiterung
ihrer traditionellen Geschlechtsrolle darstellt. Das ist zum anderen auch
darauf zurückzuführen, daß Frauen oft nur deshalb berufstätig sind,
weil sie die materielle Lebensqualität ihrer Familie verbessern wollen.
Die Doppelbelastung der Frau in Beruf und Haushalt läßt ihr nur wenig
Zeit zur Begehung von Kriminalität. Das ist ein Grund dafür, warum
sich die Änderung der Frauenkriminalität in Höhe und Struktur trotz
der sich im Wandel befindlichen Frauenrolle in engen Grenzen hält.
Eine weitere Ursache besteht darin, daß Ehe und Familie für die Frau
und das Mädchen immer noch Erfolg, gesellschaftliche Position und
Ansehen bedeuten. 87 % der jungen Mädchen räumen auch heute noch
ihrer Ehe und ihrer Familie höchsten Rang ein (Jocelynne A. Scutt 1976,
28).
Ökonomische, politische, medizinische und technologische Fort-
schritte haben Frauen zwar von ungewollten Schwangerschaften, von
Küchenpflichten und Kleinkinderpflege befreit, sie mit Berufsmöglich-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 277

keiten ausgestattet, die nur Männern vorbehalten waren, und sie mit
Körperkräften versehen, die früher nur Männer besaßen. Die weibliche
Rolle in der Gesellschaft hat dennoch ihre traditionelle Bedeutung und
ihren hohen Wert behalten. J e mehr sich das weibliche Rollenverhalten
freilich dem männlichen annähert, desto mehr wird sich auch die weibli-
che Kriminalität der männlichen angleichen. J e mehr sich die Rollen
ähneln, desto mehr wird sich der weibliche Kriminalitätsanteil vermeh-
ren und der männliche Kriminalitätsanteil vermindern (Darreil J. Stef-
fensmeier 1981 a, 52). Es ist im Rahmen der Aufgaben- und Arbeitstei-
lung innerhalb der Gesellschaft durchaus möglich, daß viele Männer
hegende und pflegende Rollen übernehmen, die traditionell mehr Frauen
vorbehalten waren. Die weitgehende rechtliche Gleichstellung der Frau
und ihr Einrücken in das Erwerbsleben haben aber weder zu ihrer vollen
sozialen Emanzipation noch zu einer weitgehenden Rollenangleichung
noch zu einer Gleichheit der Frauen- und Männerkriminalität geführt.
Frauen sind in deliktsriskante Handlungräume eingedrungen, die
früher Männern reserviert waren. Das hat sich in einem höheren Anteil
der Frauen an der Berufs- und Wirtschaftskriminalität ausgewirkt. Die
traditionelle Kriminalität der Frauen hat sich aber nur wenig verändert.
Zwar ist diese Kriminalität während der beiden Weltkriege in den
kriegführenden Staaten erheblich angestiegen. Diese Zunahme beruht
indessen nicht allein darauf, daß die Frauen die Männer in Beruf und
sozialer Stellung ersetzten, sondern vor allem darauf, daß die Frauen
durch den Krieg enormen psychischen, sozialen und ökonomischen
Anstrengungen und Belastungen ausgesetzt waren. Der Umstand, daß
sie während der Kriegsjahre in der Heimat männliche Rollen übernom-
men hatten, bewirkte keine grundsätzliche Umgestaltung der weiblichen
Rollenerwartungen in der Gesellschaft.
In den Nachkriegszeiten pendelte sich deshalb die Frauenkriminalität
in H ö h e und Struktur wieder auf den Vorkriegsstand ein. Die Rolle, die
die Frau in einer Gesellschaft spielt, hängt nicht nur von ihrer Rechts-
stellung und ihren Beschäftigungsbedingungen ab. Durch die Kinderer-
ziehung und durch ihren Einfluß auf ihren Mann und ihre Söhne kann
sie in der Gesellschaft eine große, freilich sozial weitgehend unsichtbare
Macht in mittelbarer Weise ausüben. Die japanische Kriminologin
Kinko Saito Sato hat 1981 erklärt, daß die stark strukturierte, kriminali-
tätsarme japanische Gesellschaftsordnung auf einer starken Mutter-
Sohn-Beziehung beruht. Die japanische Frau betrachtet ihren Ehemann
als ihren „großen Sohn". Weise läßt sie ihm die Illusion, daß er die
Entscheidungen allein fällt. In Wirklichkeit liegt eine der wesentlichsten
Ursachen dafür, daß Japan die entwickelte Industrienation mit der
geringsten Kriminalität ist, darin, daß Frauen ihren kriminalitätskon-
trollierenden Einfluß in mittelbarer Weise wirksam ausüben.
278 Hans Joachim Schneider

Ursachen der Frauenkriminalität

Die Kriminalität der Frauen und Mädchen hat keine geschlechtsspezi-


fischen Ursachen. Frauen werden grundsätzlich aus denselben Gründen
kriminell, aus denen auch Männer Kriminalität begehen. Die Ursachen
weiblicher Kriminalität sind allenfalls geschlechtsbezogen abgewandelt
(so wohl auch Hans-Claus Leder 1978, 117). Die italienischen Krimino-
logen Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero wollten 1894 die weibli-
che Kriminalität auf die Konstitution der Frau zurückführen. Sie sei ein
in seiner Entwicklung zurückgebliebener Mann; kriminelle Anlagen in
der Frau verursachten weibliche Kriminalität; so besitze die kriminelle
Frau ein geringes Muttergefühl; sie sei rachsüchtig, grausam und verlo-
gen. Erich Wulffen sprach noch 1931 von der Frau als der „geborenen
Sexualverbrecherin". Er wollte damit sagen, daß Straftaten von Frauen
stets in einem näheren oder entfernteren Zusammenhang mit ihrem
Geschlechtsleben beurteilt werden müßten. Man könnte heute über
solche Aussagen, die das weibliche Geschlecht herabzusetzen geeignet
sind, einfach hinweggehen, gäbe es nicht Autoren, die mit wohlklingen-
deren Worten zwar, aber immer noch mit der gleichen Tendenz argu-
mentierten (Nachweise bei Hilde Kaufmann 1967), und gäbe es keine
Vorurteile über die Entstehung der weiblichen Kriminalität in der
öffentlichen Meinung mehr. Es ist von „sexueller Hörigkeit" die Rede,
die weibliche Kriminalität angeblich verursachen soll. Kriminalität von
Frauen und Mädchen wird auf eine kriminelle Erbanlage zurückgeführt
(Evemarie Siebecke-Giese 1960). Man spricht in diesem Zusammenhang
häufig von sexueller Triebhaftigkeit und Labilität krimineller Frauen.
Erhöhte Deliktsbereitschaft soll bei der Frau durch ihre Generations-
phasen entstehen: durch Menstruation, Schwangerschaft, Geburt,
Wochenbett und Stillzeit {Helga Einsele 1975, 610; Elisabeth Trube-
Becker 1974; Carl Gustav Cremer 1974, 213; Ann D.Smith 1962, 11).
Hormonumstellungen während der Rückbildungsphase der Wechsel-
jahre sollen bei der Frau zu Schwankungen ihres psychischen Gleichge-
wichts, zu erhöhter Labilität und zu Kriminalität führen. Pubertierende
Mädchen sollen aus Heimweh Brandstiftung begehen (Pyromanie).
Sexuell unbefriedigte Frauen sollen ohne Zueignungsabsicht zum
Zwecke der Spannungslösung stehlen (Kleptomanie). Alle diese Aussa-
gen konnten bis heute empirisch nicht nachgewiesen werden. Sigmund
Freud entwickelte die Theorie vom Penis-Neid der Frau: Sie werde
deshalb kriminell, weil sie „kastriert geboren" werde und weil ein Teil
der Frauen diesen Nachteil nicht ertragen könne. Der nordamerikani-
sche Kriminologe William I. Thomas hat diese Lehre 1923 zur Rollen-
frustrationstheorie weiterentwickelt: Die Frau rebelliere mit ihrer Kri-
minalität gegen ihre weibliche Rolle, die ihr in einer männlich beherrsch-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 279

ten Gesellschaft zugewiesen werde und die sie als unbefriedigend emp-
finde. Eine moderne feministische Ansicht führt die Kriminalität der
Frauen und Mädchen auf eine doppelte Unterdrückung der Frauen
durch kapitalistische und patriarchalische Strukturen zurück (Elsbeth
Brökling 1980; Dietlinde Gipser 1980, 1981; Dorie Klein 1973; Dorie
Klein, June Kress 1976). Sie verbindet diese ökonomische Kriminalitäts-
theorie mit dem Etikettierungsansatz: Um die männliche Machthierar-
chie aufrechtzuerhalten, definierten Männer, die den staatlichen Sank-
tionsapparat beherrschten, Frauen und Mädchen als kriminell (Marie-
Andrée Bertrand 1979). Die so definierten Frauen, die ihre ihnen von
Männern zugewiesene „unterwürfige" Rolle nicht annähmen, fühlten
sich deshalb nicht als Personen, sondern als „Dinge", „Spielzeuge" und
„Instrumente", was die Entstehung ihrer Kriminalität begünstige
{Marie-Andrée Bertrand 1969). Diese feministische Auffassung kann
nicht den geringen Frauenanteil an der Kriminalität erklären. Sie steht
auch zu empirischen Forschungsergebnissen in Widerspruch, die gezeigt
haben, daß sich kriminelle Frauen weder als kapitalistisch und patriar-
chalisch unterdrückt noch als „objektiviert" empfinden und daß sie eine
ganz traditionelle Sicht von ihrer weiblichen Rolle haben (Ngaire Naffin
1981). Schließlich hat sich die Theorie der unterschiedlichen Zugangs-
chancen der Frauen auch nicht empirisch nachweisen lassen (Marguerite
Q. Warren 1982, 182; vgl. aber Susan K. Datesman, Frank R.Scarpitti,
Richard M. Stephenson 1975). Diese Theorie behauptete, Frauen und
Mädchen würden um so eher kriminell, je diskriminierter sie ihre soziale
Stellung und je eingeschränkter sie ihre sozialen Handlungskompeten-
zen als Frauen wahrnähmen. Die besonders hohe Arbeitslosigkeit der
Frau soll in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen (Joseph G. Weis
1976). Da die Frau auch heute noch dem Mann gegenüber benachteiligt
ist, kann die Theorie der unterschiedlichen Zugangschancen die Tatsache
nicht erklären, daß die Frauenkriminalität niedriger als die Männerkri-
minalität ist (vgl. aber Josefina Figueira-McDonald, Elaine Selo 1980).
Die Psychoanalytikerin Gisela Konopka hat 1966 erstmalig mit Recht
auf die besondere emotionale Empfindlichkeit des Mädchens hingewie-
sen, das unter gestörten Familienbeziehungen sehr stark leidet. Eine
Familie mit großen Spannungen unter ihren Mitgliedern kann dem
Mädchen kaum positive Modelle zum Erlernen jener Fähigkeiten bieten,
die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung stabiler und befriedigen-
der mitmenschlicher Beziehungen notwendig sind. Unter delinquenten
Mädchen sind deshalb übertriebene Einsamkeit, geringes Selbstwertge-
fühl, Entfremdung von Erwachsenen und die Unfähigkeit weit verbrei-
tet, Freundschaften mit Altersgenossen zu schließen (Mary Gray Riege
1972). Kriminelle Frauen haben oft ihre Mutter entbehren müssen; sie
haben offene oder versteckte elterliche Zurückweisung erfahren; sie sind
280 Hans Joachim Schneider

von ihren Eltern häufig überbeschützt und verwöhnt worden (Margery


Velimesis 1975). Das Forscherehepaar Sheldon und Eleanor Glueck hatte
bereits 1934 herausgefunden, daß ein belastetes emotionales Klima in der
Familie, mangelnde elterliche Überwachung, Weglaufen aus dem Eltern-
haus, vorzeitiger Schulabgang, Herumstreunen, häufiger Lehrstellen-
und Arbeitsplatzwechsel, Kontaktschwäche und häufiger Partnerwech-
sel unter fünfhundert von ihm untersuchten kriminellen Frauen beson-
ders oft vorkamen. Junge Mädchen werden zudem schneller als Jungen
wegen sexuellen Fehlverhaltens in Fürsorgeheime eingewiesen. Richter
und Verwaltungsbeamte fühlen sich berufen, über die sexuelle Tugend-
haftigkeit der Mädchen zu wachen. Durch eine solche übertriebene
Reaktion ändert das Mädchen seine Identität; es fühlt sich als kriminell
definiert und tritt - gebrandmarkt - sehr leicht in eine kriminelle
Karriere ein (Elaine Selo 1976). Die hohe Zahl der Geschiedenen,
Verwitweten und Ledigen unter den kriminellen Frauen zeigt zudem,
welch große Bedeutung die soziale Isolation für die Entstehung der
weiblichen Kriminalität hat. Intelligenzmängel bilden demgegenüber für
sich allein keine Ursache für Frauenkriminalität (Augusta F. Bronner
1914). Die nordamerikanische Kriminologin Marguerite Q. Warren hat
1982 herausgefunden, daß sich von allen Kriminalitätstheorien die Kon-
trolltheorie am besten für die Erklärung der Verursachung der Frauen-
kriminalität eignet, die Erziehungsmängel in der Familie, mangelnden
Erfolg in Schule, Ehe, Familie und Beruf und Abwesenheit äußerer
Kontrollen in sozialen Gruppen und Institutionen für die Entstehung
der Kriminalität verantwortlich macht.

Gewaltdelikte von Frauen


Schwere Straftaten von Frauen, z.B. Gewaltdelikte, beruhen häufig
auf Konflikten in ihren mitmenschlichen Beziehungen. Nicht selten
wollen sie durch solche Rechtsbrüche menschliche Beziehungen herstel-
len oder aufrechterhalten. Die ungarische Kriminologin Gabriella Ra§ko
hat die weibliche Tötungskriminalität sehr eingehend untersucht und
ihre Forschungsergebnisse 1981 veröffentlicht. Frauen ertragen Zurück-
weisungen, Enttäuschungen, Entbehrungen, tagtägliche Quälereien und
Mißhandlungen jahrelang mit ungeheurem Langmut. Ihre Aggressionen
entwickeln sich über eine lange Zeit und treten sehr lange nicht in
Erscheinung. Aus tiefer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung kommt
es dann zu einer plötzlichen Explosion, weil die Frau keinen anderen
Ausweg aus ihren Konflikten in ihrem Familien- und Liebesleben mehr
sieht. Das Opfer trägt dadurch häufig zu seinem Opferwerden bei, daß
es die Täterin jahrelang erniedrigt und quält. Solche immerwährenden
Enttäuschungen und Entbehrungen läßt die Frau auch oft, an schwäche-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 281

ren Personen, z.B. an Kindern, aus. Sie bleibt bei der Tötung keines-
wegs nur im Hintergrund. Oft tritt eine Überreaktion ein. Die Frau
tötet mit zehn, fünfzehn Schlägen, obgleich zwei oder drei für den
Eintritt des Todes ihres Opfers ausgereicht hätten. Eine einfache undif-
ferenzierte Persönlichkeit kommt in eine kriminogene, kriminalitätsver-
ursachende Überbelastungssituation, der sie nicht gewachsen ist. Eine
kontaktgestörte Frau, die ihre Gefühle nicht unter Kontrolle hat und die
zu Impulsivität neigt, hat z . B . für eine hilflose, geistig oder körperlich
behinderte Person zu sorgen, obgleich sie ohnehin schon mit Arbeit
überbelastet ist. Diese Personensorge, die schwer auf ihr lastet, überfor-
dert sie, und sie entwickelt Feindseligkeitsgefühle ihrem Opfer gegen-
über. Sie entledigt sich schließlich dieser Person durch Tötung.

Reaktion auf Mädchendelinquenz und Frauenkriminalität


Obgleich Mädchen schneller und länger wegen sexueller Verwahrlo-
sung in Erziehungsanstalten eingewiesen werden als Jungen, behandelt
die Kriminalpolizei delinquente Mädchen nachsichtiger. Fragt man
Mädchen und Jungen nämlich in einem anonymen Fragebogen (Selbst-
berichtmethode) nach der von ihnen verübten Delinquenz, so stellt sich
heraus, daß Jungendelinquenz etwas weniger als doppelt so häufig
vorkommt wie Mädchendelinquenz. Während nämlich das Verhältnis
zwischen Jungen- und Mädchendelinquenz auf dieser Ebene der Dun-
kelfeldforschung noch 1,7 zu 1 beträgt, vergrößert sich der Unterschied
bei den Verhaftungen auf 3,88 zu 1 zwischen Jungen- und Mädchende-
linquenz (William Feyerherm 1981). Da die Kriminalpolizei nur auf
schwere Delinquenz mit Verhaftung reagiert, wird aus der Veränderung
der Verhältniszahlen deutlich, daß Mädchendelinquenz leichter als Jun-
gendelinquenz ist oder zumindest von der Kriminalpolizei als leichter
beurteilt wird. Die Bundesgerichte der USA, die ganz überwiegend von
männlichen Richtern besetzt sind, verhängten die schwersten Freiheits-
strafen von fünf und mehr Jahren in 8 % der Fälle gegenüber Männern
und nur in 4 , 7 % der Fälle gegenüber Frauen. Strafaussetzung zur
Bewährung erhielten Frauen doppelt so oft wie Männer (65,2 % zu
37,3 %). Die kalifornischen Gerichte verurteilten Männer mehr als
doppelt so oft zu Freiheitsstrafe als Frauen (Elisabeth F. Moulds 1980).
Die deutschen Zahlen sind für die delinquenten Mädchen und die
kriminellen Frauen eher noch günstiger.
Zu den Gründen, warum Kriminalpolizei und Gerichte auf Mädchen-
delinquenz und Frauenkriminalität anders reagieren als auf Jungendelin-
quenz und Männerkriminalität, werden im wesentlichen sechs Theorien
vertreten.
- Die Machtkonflikttheorie {William J. Chambliss, Robert B. Seid-
282 Hans Joachim Schneider

man 1971; Richard Quinney 1970, 1974, 1977; Austin T.Turk 1969)
argumentiert, daß die wirtschaftliche Macht des Tatverdächtigen oder
des Angeklagten ein wichtiger Faktor bei der kriminalpolizeilichen oder
richterlichen Uberzeugungsbildung ist: Je machtloser der Tatverdächtige
oder der Angeklagte ist, desto ungünstiger wird die Entscheidung der
Kriminalpolizei und der Strafgerichte ausfallen. Da Frauen in unserer
Gesellschaft machtloser als Männer sind, müßten die kriminalpolizeili-
chen und gerichtlichen Entscheidungen für Frauen nachteiliger als für
Männer sein. Das ist jedoch nicht der Fall.
- Die Ritterlichkeitstheorie knüpft an Otto Pollak 1950 an und
behauptet, die männlichen Kriminalpolizisten und Richter nähmen den
delinquenten Mädchen und kriminellen Frauen gegenüber eine väterlich-
beschützende Haltung ein, weil sie die Frauen als unmündige Kinder
beurteilten, die Hilfe, Rat und Anleitung benötigten. Denn sie seien
schwach, macht- und hilflos und „zu ihrem eigenen Schutz" auf Füh-
rung angewiesen (Elisabeth F. Moulds 1980). Diese Theorie verkennt die
Selbständigkeit und Tüchtigkeit der meisten Frauen, die den Männern
beruflich ernstlich Konkurrenz zu machen in der Lage sind.
- Die „Böse-Frau"-These nimmt an, daß Mädchen und Frauen nicht
nur wegen ihrer Straftaten härter bestraft werden, sondern auch deshalb,
weil sie Geschlechtsrollenstereotype verletzt hätten, die es Frauen ver-
biete, kriminell zu werden. Nach der „Bösen-Frau"-These werden
kriminelle Frauen als widernatürlich, als Hexen verurteilt, die der
Höflichkeit und des Schutzes nicht mehr würdig sind, die Männer
normalerweise Frauen entgegenbringen (Christine Rasche 1975, 15). Da
kriminelle Frauen von Kriminalpolizei und Gerichten nicht schlechter
behandelt werden als kriminelle Männer, ist die „Böse-Frau"-These
gegenstandslos.
- Mitunter wird die Ritterlichkeitstheorie zusammen mit der „Bösen-
Frau"-These vertreten: Kriminelle Frauen werden von männlichen Kri-
minalpolizisten und Richtern nur so lange bevorzugt behandelt, wie sie
in ihrem Verhalten den weiblichen Rollenerwartungen innerhalb der
Gesellschaft entsprechen (Christy A. Visher 1983). Frauen, die sich z.B.
reuig zeigen und weinen, werden milde behandelt. Haben sie allerdings
schwere, gefährliche („männliche") Straftaten begangen und benehmen
sie sich feindselig und aggressiv gegenüber der Kriminalpolizei und den
Gerichten, geht man mit unnachsichtiger Härte gegen sie vor (Ilene
H.Nagel, John Hagan 1983, 135, 136; Marlene Stein-Hilbers 1978).
Bisher fehlt es an ausreichenden empirischen Beweisen, daß Frauen und
Mädchen von Kriminalpolizei und Gerichten nur so lange milde beur-
teilt werden, wie sie sich weiblich verhalten, und daß sie ungünstige
Entscheidungen zu erwarten haben, wenn sie aus ihrer weiblichen Rolle
fallen.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 283

- Die Realitätstheorie geht davon aus, daß Mädchen und Frauen


wegen der tatsächlichen Eigenart ihrer Delinquenz und Kriminalität und
wegen ihrer sozialen Geschlechtsrolle von Kriminalpolizei und Gerich-
ten milder behandelt werden: Weibliche Kriminalität ist weniger gewalt-
sam; sie stellt eine geringere Bedrohung der Gesellschaft dar. Frauen
spielen bei Gewaltdelikten vorwiegend Hilfsrollen. Freiheitsstrafen von
Frauen haben einen ausnehmend negativen Einfluß auf ihre Familien,
besonders auf ihre Kinder. Alle diese Umstände werden im Rahmen der
Individualisierung der Behandlung der Rechtsbrecherin mit Recht von
der Kriminalpolizei und den Gerichten berücksichtigt (Laura Crites
1978).
- Die Theorie der „Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung" macht die
Eigendynamik, die die Annahme entwickelt, weibliche Kriminalität sei
weniger gefährlich als männliche, dafür verantwortlich, daß Mädchende-
linquenz und Frauenkriminalität milder beurteilt werden: In der öffent-
lichen Meinung herrscht die Auffassung vor, Frauenkriminalität sei
nicht bedrohlich. Mit dieser Erwartungshaltung gehen Kriminalpolizi-
sten und Richter an Frauenkriminalität heran, und sie definieren sie auch
tatsächlich als weniger schlimm, selbst wenn sie objektiv nicht ungefähr-
lich sein sollte ( W i l l i a m Feyerherm 1981).
Die Realitätstheorie und die Theorie der „Sich-selbst-erfüllenden-
Prophezeiung" sind beim gegenwärtigen Stand der Forschung am über-
zeugendsten: Mädchendelinquenz und Frauenkriminalität werden von
der Kriminalpolizei und den Gerichten wegen ihrer - auch von der
Dunkelfeldforschung festgestellten (Michael J.Hindelang 1979) - tat-
sächlichen oder von ihnen angenommenen Eigenart und wegen der
sozialen Geschlechtsrolle der Frau milder beurteilt als Jugenddelinquenz
und Männerkriminalität.

Der Strafvollzug an Mädchen und Frauen


Er hat grundsätzlich dieselben Probleme wie der Strafvollzug an
Jungen und Männern. Die weiblichen Gefangenen lehnen das Strafvoll-
zugspersonal ab, weil von ihm keine Hilfe zu erwarten sei. Das weibli-
che Personal, das wegen der Doppelbelastung in eigener Familie und im
Beruf meist überfordert ist ( H e l g a Einsele 1975), betrachtet das gesamte
Verhalten der weiblichen Gefangenen mit Mißtrauen. Von diesem Ver-
halten ist - nach Ansicht des Personals - häufig nichts Gutes zu
erwarten. Die weiblichen Gefangenen werden in Abhängigkeit gehalten;
für sie wird alles geplant. Behandlung wird vom Personal mit Worten
befürwortet; es weiß allerdings meist nicht, was Behandlung bedeutet
und wie man ein Behandlungsklima schafft. Sicherheit und Ordnung
versteht das Personal demgegenüber leicht; Erfolg und Mißerfolg wer-
284 Hans Joachim Schneider

den in diesem Bereich - im Gegensatz zum Behandlungserfolg -


unschwer beobachtet und erlebt.
Neben diesen allgemeinen Problemen, mit denen auch der Männer-
strafvollzug zu kämpfen hat, begegnet der Frauenstrafvollzug speziellen
Schwierigkeiten, die sich aus der sozialen Geschlechtsrolle der Frau, aus
der kleinen Zahl weiblicher Strafgefangener, aus der weiblichen Homo-
sexualität und aus dem Umstand ergeben, daß straffällige Frauen häufig
kleine Kinder zu versorgen haben. Nur wenige weibliche Kriminelle
werden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Im Vergleich zu den männlichen
Straftätern erhalten sie häufig nur kurze Freiheitsstrafen, was ihre
Behandlung nicht unerheblich erschwert. In der Bundesrepublik
Deutschland gibt es wegen der kleinen Zahl der weiblichen Strafgefange-
nen nur wenige organisatorisch selbständige Frauenstrafanstalten.
Delinquente Mädchen werden oft in Anstalten für erwachsene Frauen
mituntergebracht, was ihre kriminelle Infektion erleichtert und deshalb
nicht unbedenklich ist (Helga Einsele 1976). Wegen der kleinen Zahl der
inhaftierten Frauen ist eine Klassifikation, eine Aufstellung der weibli-
chen Strafgefangenen in Gruppen gleichartiger Persönlichkeiten, nicht
möglich. Jedes Haus beherbergt alle Frauen mit den verschiedensten
Behandlungs- und Ausbildungsbedürfnissen: junge und alte Frauen,
Ersttäter und Schwerrückfällige, Gelegenheits- und Berufskriminelle,
Frauen mit kurzen und langen Freiheitsstrafen (Linda R.Singer 1979).
Die Errichtung von Schwerpunktanstalten (Vollzugsgemeinschaften,
§150 StVollzG) mit Austauschmöglichkeiten von Land zu Land ist
deshalb anzustreben, obgleich dann wiederum das Problem der weiten
Entfernung der weiblichen Strafgefangenen von ihrem Heimatort ent-
steht. Die kleine Zahl weiblicher Strafgefangener wirkt sich positiv und
negativ aus. In Frauenstrafanstalten sammeln sich psychisch schwer
geschädigte Persönlichkeiten mit tiefen Kontaktstörungen, die Uberan-
sprüche an menschliche Zuwendung stellen (Helga Einsele 1975) und
deshalb eine überverhältnismäßig große Zahl des ausgebildeten Perso-
nals benötigen. Noch dringender als Männer brauchen sie zumeist eine
harmonische, gepflegte Umgebung zur Stützung ihres Selbstbewußt-
seins. Weltweit werden inhaftierten Frauen deshalb schönere Wohn-
räume und gepflegtere Einrichtungs- und Arbeitsgegenstände zugebil-
ligt, als man sie im Männerstrafvollzug findet. Kosmetische Körper- und
Haarpflege sind üblich. Zahlreiche Anstalten lassen das Tragen eigener
Kleidung zu. Geringere Sicherheitsvorkehrungen als im Männerstraf-
vollzug erleichtern den weiblichen Strafgefangenen ihr Leben. Nur
wenige Frauen haben eine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung.
Auch darauf beruht ihr schlechtes Selbstbewußtsein. Gleichwohl mangelt
es im Frauenstrafvollzug wegen der kleinen Zahl inhaftierter Mädchen
und Frauen an schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten.
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 285

Meist wird ihre traditionelle Rolle als Hausfrau und „Dazuverdiene-


rin" bestärkt. Sie werden als Näherinnen, Wäscherinnen, Büglerinnen,
Krankenpflegerinnen aus- und weitergebildet. Sekretärinnen- oder
Datenverarbeitungsaufgaben werden ihnen selten gestellt. Gerade inhaf-
tierte Mädchen und Frauen benötigen indessen eine gute und moderne
Schul- und Berufsausbildung, damit sie nach ihrer Entlassung ihre
Selbständigkeit behaupten und ihre Konkurrenzfähigkeit unter Beweis
stellen können.
Die Homosexualität spielt im Frauenstrafvollzug eine andere Rolle als
im Männerstrafvollzug. Stellt sie bei Männern in der Strafanstalt eine
vorübergehende, oft gewaltsam aufgedrängte und nicht gefühlsgetragene
Anpassung an eine sexuelle Notlage dar, gibt die freiwillig eingegangene
homosexuelle Beziehung Frauen in der einsamen und beängstigenden
Atmosphäre der Strafanstalt gefühlsmäßige Unterstützung. Weil ein
anderer Mensch sich um sie kümmert und sie beachtet, wird das
Selbstwertgefühl der inhaftierten Frau gestärkt. Die homosexuelle
Beziehung verhindert eine Entpersonalisierung (David A. Ward, Gene
K. Kassebaum 1966). Hauptursachen der Homosexualität in Frauenhaft-
anstalten sind nicht der sexuelle Entzug, sondern die Suche nach Zuwen-
dung und der Verlust der weiblichen Rolle in der Fraueninstitution. Als
Ersatz für die soziale Isolation bildet sich ein informelles Sozialsystem,
das aus künstlichen Familienstrukturen, aus einem Netz locker struk-
turierter Kernfamilien, mutterzentrierter Familien unterschiedlicher
Größe, künstlichen Verwandtschaftsbeziehungen und Familienfragmen-
ten besteht. Die homosexuellen Ehen, die Pseudofamilien und die
künstlichen Verwandtschaftsgruppen, die sich auch im Mädchenstraf-
vollzug finden (Rose Giallombardo 1974), bilden hierbei instabile Sozial-
strukturen. Weil diese Sozialstrukturen so spannungsgeladen sind und
mitunter auseinanderfallen, belastet die Homosexualität die Anstaltsat-
mosphäre mit heftigen seelischen Erschütterungen, Schuldproblemen
und Eifersuchtserscheinungen. Hierbei ist es für eine Frau besonders
schwierig, eine männliche Rolle anzunehmen und aufrechtzuerhalten.
Denn man erwartet von ihr nicht nur die Annahme der äußeren Symbole
der Männlichkeit in Kleidung und Haarschnitt. Unter ihren weiblichen
Mithäftlingen besteht vielmehr die Erwartungshaltung, daß sie sich wie
ein Mann benimmt. Das Lebensziel der Frau ist immer noch hauptsäch-
lich auf Ehe, Familie und Kindererziehung gerichtet. Durch ihre Rolle
der Ehefrau und Mutter erlangt sie Ansehen, Sicherheit und Selbstwert-
gefühl. Die Familiengruppen bilden sich in den Frauenstrafanstalten, um
den sozialen Erwartungshaltungen an die weibliche Rolle gerecht zu
werden. Die inhaftierte Frau will in der künstlichen Atmosphäre der
Strafanstalt ihre eigene weibliche Identität bewahren und sich von der
männlichen Rolle abheben, der ihre weibliche Rolle zugeordnet ist (Rose
286 Hans Joachim Schneider

Giallombardo 1966). Männer behalten in der Strafanstalt vorwiegend ihr


Selbstbild als Brotverdiener bei; für sie ist ihre berufliche Rolle maßge-
bend. Weibliche Gefangene leiden mehr unter der Trennung von ihren
Familien und unter der Zerstörung ihrer Familienrollen. Frauen bringen
ihre Identitäten und Selbstbilder mit ins Gefängnis, die sich grundsätz-
lich an ihren Rollen als Ehefrauen, Mütter und Töchter orientieren.
Nach ihrer Entlassung aus der Strafanstalt geben sie ihre Homosexualität
meist auf.
Inhaftierte Frauen sind nicht nur Ehefrauen, deren Ehe häufig durch
ihren Strafanstaltsaufenthalt zerstört wird, sie sind auch Mütter, die
Kinder zur Welt bringen und die kleine Kinder zu versorgen haben. Im
Anstaltskrankenhaus können Kinder geboren werden. Ferner braucht
der Frauenstrafvollzug besondere Einrichtungen für schwangere Frauen
und Mutter-Kind-Heime, in denen alle bestraften Mütter mit ihren
Kindern unter fünf Jahren in kindgerechter Umgebung zusammen leben
können (§ 80 StVollzG). Werden nämlich Kinder im Vorschulalter von
ihren Müttern getrennt, können sie schwere körperliche, psychische und
soziale Schädigungen davontragen. Die Mutter-Kind-Einrichtung dient
darüber hinaus der Hafterleichterung und der Resozialisierung der
Mütter. Die enge Wohngemeinschaftssituation zwischen Müttern und
Kindern erfordert allerdings auch Erholungsmöglichkeiten für die Müt-
ter. Für Frauen, die Kindestötung oder -mißhandlung begangen haben,
ist das tägliche Zusammensein mit ihrem Kind äußerst wichtig, damit sie
unter Anleitung erleben können, wie man in Augenblicken eigener
innerer Unbeherrschtheit mit dem Kind umgehen kann, ohne ihm
Schaden zuzufügen. Alle diese Mütter versorgen in der Mutter-Kind-
Einrichtung selbst ihre Kinder in ihrer Freizeit in Anwesenheit der
Sozialarbeiterin {Helga Einsele, Hanna Dupuis 1978). Selbst wenn man
Störungen der Mutter-Kind-Beziehung durch die Strafanstaltsatmo-
sphäre zu vermeiden sucht, kann man nicht ganz ausschließen, daß die
notwendigen Kontrollmaßnahmen der Strafanstalt negative Einflüsse auf
die Kinder haben. Die Mütter werden vor ihren Kindern als unterstes
Glied in der Kette der Hierarchie des Strafvollzugs behandelt. Diese
Degradierung kann sich ebenfalls nachteilig auf die Kinder auswirken
(Uta Krüger 1982).
Da Sozialabweichung und Kriminalität der Mädchen und Frauen
häufig aus einer Störung der Soziodynamik ihrer Familie entsteht, ist
Familientherapie für delinquente Mädchen und kriminelle Frauen außer-
ordentlich wichtig (Alfred S.Friedman 1971). Da Mädchen und Frauen
durch ihren Strafanstaltsaufenthalt besonders nachhaltig in ihren Fami-
lienbeziehungen gestört werden (Homosexualität, Mutter-Kind-Bezie-
hung), sollten delinquente Mädchen und kriminelle Frauen grundsätz-
lich in ihrer Familie belassen und in Freiheit behandelt werden. Delin-
Frauenkriminalität und Frauenstrafvollzug 287

quente Mädchen sollten in Pflegefamilien und Gruppenwohnheimen,


nicht aber in Jugendstrafanstalten eingewiesen werden.

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Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen
zur Diskussion um Frauenkriminalität

A R T H U R KREUZER*

I. Einführung
Hilde Kaufmann hat mit dem Titel ihrer Studie von 1967 „Das Bild
der Frau im älteren kriminologischen Schrifttum" 1 bereits auf etwas
Grundsätzliches in der ebenso alten wie aktuellen Diskussion um Frau-
enkriminalität hingewiesen: In dieser geht es vorrangig nicht so sehr um
bestimmte Kriminalität und deren Erklärung als vielmehr um eine
Auseinandersetzung über das Bild von der Frau selbst. Ahnlich dient ja
seit alters Kriminalität überhaupt zugleich dazu, sich mit dem Bild vom
Menschen auseinandersetzen zu können - man denke etwa an Kains
Brudermord, die antiken Tragödien oder Dostojewskis Romane.
Das Bild der Frau ist seit eh und je mit einer Reihe von Attributen
positiver oder - meist - negativer Art verbunden; es schillert; es ist
widersprüchlich, ambivalent; es wandelt sich ständig. Solche Attribute,
Stereotypen, ja Vorurteile gehen - das darf wohl angenommen werden -
wesentlich auf Erfahrungen, Einstellungen und Wertungen von Män-
nern zurück. Sie weisen der Frau hier das Schöne, das Gute, Bildung
und Wärme zu, dort dagegen das Böse, die Falschheit, Schwäche und
mangelnde Intelligenz. Die Schöpfungsgeschichte läßt bei Moses - ver-
mittelt durch die List der Schlange und Eva - Adam sündig werden, ein
Verbot übertreten, aber auch zur Erkenntnis gelangen. In Goethes Faust
zieht uns - die Männer - das Ewig-Weibliche hinan; in Nietzsches
Jenseits von Gut und Böse zieht es uns hinab.
Womöglich noch deutlicher negativ war lange Zeit das Bild der Frau
in der Kriminalität, Kriminalitätskontrolle und Kriminologie getönt.
Das „Cherchez la femme!" im Roman „Les Mohicans de Paris" von
Dumas aus dem Jahr 1854 drückt ja nicht lediglich eine vermeintliche
Volks- bzw. Mannesweisheit aus, wonach sich hinter Bosheit und
Falschheit oft eine Frau verberge, vielmehr zugleich eine kriminalistische

Unter Mitarbeit von Hans Schneider


1
MschrKrim 1967 S. 143 ff.
292 Arthur Kreuzer

Regel, wonach, zumal bei unaufgeklärten Tötungssachen, weibliche


Tatverdächtige oder Drahtzieher zu vermuten seien. Lombroso2 — einer
der Väter neuerer Kriminologie - hielt die Frau vor einem Jahrhundert
bekanntlich für moralisch minderwertig; er führte ihre Verlogenheit auf
physische Eigenheiten zurück. Möbius erachtete sie 1890 in seiner
Schrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" wegen
ihrer intellektuellen Schwäche in Ubereinstimmung mit der vorherr-
schenden Gerichtspraxis als unbrauchbare Zeugin. Weininger sprach um
die gleiche Zeit gar von ontologischer Verlogenheit des Weibes. Diese
Sichtweise gehörte bis in unser Jahrhundert zum festen Bestand foren-
sisch-psy chiatrisch-psychologischer Uberzeugung; gleichgerichtete
Aussagen in den Lehrbüchern von Mittermaier (1834), Groß (1897) und
Hocbe (1901) belegen es3. Hilde Kaufmann hielt solche kriminologi-
schen Stellungnahmen für lesenswert, „nicht zuletzt deshalb, weil sie
von männlichen Autoren verfaßt sind, oft Ausführungen über die Frau
schlechthin enthalten und damit einen - wohl unfreiwilligen - Beitrag
zur Geschlechterpsychologie liefern".
Hiermit dürfte sich zugleich eine Teilantwort auf die Frage anbieten,
warum das Thema Frauenkriminalität so aktuell ist. Kaum ein großer
amerikanischer Kriminologenkongreß, der sich nicht wenigstens am
Rande frauenspezifischen Aspekten widmete; kaum ein kriminologi-
sches Lehrbuch, welches „weibliche Kriminalität" aussparte. Es konnte
gar nicht anders sein, als daß die neuere feministische Bewegung auch
und gerade hier ansetzte, Vorurteile aufzudecken, zu entmythologisie-
ren, ja die Frau aus der Vorherrschaft des Mannes in Kriminalität und
Kriminologie zu befreien. So nahmen sich hierzulande schon die beiden
ersten juristisch vorgebildeten Professorinnen der Kriminologie -Anne-
Eva Brauneck4 und Hilde Kaufmann - der Thematik an, freilich noch
unbelastet von späteren modischen und ideologischen Überzeichnun-
gen, die gar manche der zahlreichen Arbeiten jüngerer Kriminologinnen
zu dieser Thematik prägen.
Wenn man sich auf dieses immer wieder von Männern, zur Zeit aber
überwiegend von Frauen beackerte Feld begibt, erfordert dies, sich in
zweierlei Hinsicht zu rechtfertigen: Zum einen, weil es zunehmend so

2 C. Lombroso / G. Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, Hamburg


1894.
3 Nachweise z . B . bei: Liebel/v. Uslar, Forensische Psychologie, Stuttgart u.a. 1975
S. 69 ff; E. Müller-Luckmann, Uber die Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher
Zeuginnen bei Sexualdelikten, Beiträge zur Sexualforschung Heft 14, 2. Aufl., Stuttgart
1963 S. 1 ff; U. Undeutsch, Handbuch der Psychologie 11. Bd., Göttingen 1967 S. 26 ff;
H.Kaufmann, (oben F. 1).
4 Allgemeine Kriminologie, Reinbek 1974, insb. S. 54 ff, 63 ff, 222 ff.
Cherchez la femme? 293

scheint, als sei das Thema Frauen vorbehalten, zum anderen, weil sich
schon so viele auf diesem Feld bemüht haben und bemühen, ohne
nenneswerte neue Arbeitserträge vorweisen zu können. Zum ersten fällt
die Rechtfertigung weniger schwer: Ein partnerschaftliches Verständnis
von Mann und Frau verbietet es, bestimmte Berufe oder auch nur
bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen dem einen oder anderen
Geschlecht zuzuweisen oder vorzubehalten. Vielleicht können männli-
che Kriminologen, die sich dem Thema widmen, zugleich ein neueres
Vorurteil entkräften, man habe sich ihm nicht genügend gewidmet aus
Verachtung, „weil Frauen ja eigentlich noch nicht einmal richtig krimi-
nell sein können und deshalb die Beschäftigung mit diesem Problem
überflüssig sei" 5 . Zum zweiten fällt eine Rechtfertigung schwerer: Wenn
eine schier inflationäre Literatur zu dem Thema so wenig ertragreich
erscheint, warum dann ein weiterer Beitrag, obwohl dieser keine neuen
Erkenntnisse versprechen kann? Uberhaupt ist Skepsis angebracht,
wenn man es als kriminologischen Erkenntniszuwachs wertet, alte Vor-
urteile in der Beurteilung der Frau in Kriminalität und Kriminalitätskon-
trolle entlarvt zu haben; ist es nicht weit eher ein allgemeiner Wandel des
Bildes von der Frau, dem sich auch Kriminologen nicht haben verschlie-
ßen können?
In der Tat geht es in diesem Beitrag lediglich um den Versuch, die
theoretische Diskussion wieder mit fast banaler Wirklichkeit - soweit sie
meßbar erscheint - zu konfrontieren und dabei zu verhindern, daß an
die Stelle überholter neue Vorurteile treten. So werden im II. Teil zwei
Teilaspekte - die Geschlechterverteilung im Dunkel- und im Hellfeld -
aufgrund kleinerer empirischer Untersuchungen erörtert, um bekannte,
aber immer wieder angefochtene frühere Befunde gegen neuerliche
Kritik abzusichern; und im III. Teil sollen einige Konsequenzen für die
Theoriedebatte angedeutet werden.

II. Empirisch-kriminologische Grundfragen


1. Geschlechterverteilung und Kriminalität im Dunkelfeld
a) Verhielten sich Männer und Frauen in der Kriminalität gleich, wäre
theoretischen Erklärungsbemühungen der Boden entzogen. Erst der
Eindruck zumindest quantitativer, womöglich auch qualitativer
Ungleichbelastung der Geschlechter mit Kriminalität bildet den Treib-
stoff für theoretische Erklärungsversuche. Daher stellt sich dem empi-
risch forschenden Kriminologen zuerst die Frage, wie es sich tatsächlich
mit der behaupteten Gleich- oder Ungleichverteilung verhalte. Eine
wesentlich geringere Belastung der Frau in der entdeckten und verfolg-

5 M.Dürkop/G.Hardtmann, Frauenkriminalität, Kritische Justiz 1974 S.219ff, 220.


294 Arthur Kreuzer

ten Kriminalität steht außer Streit. Die offene Frage lautet: Ist die Frau
auch im Dunkelfeld, d. h. in der tatsächlichen Kriminalität - unabhängig
von deren Bekannt- und Verfolgt-Werden erheblich geringer belastet?
In Frühzeiten wissenschaftlichen kriminologischen Bemühens wurde
die Meinung von einer deutlichen Ungleichverteilung, einer geringen
Kriminalitätsbelastung der Frau vertreten. Freilich gab es noch keine
Dunkelfeldforschung, so daß man die Ungleichverteilung im Hellfeld
der im Dunkelfeld weitgehend gleichsetzte, wenn man sich der Möglich-
keit einer solchen Unterscheidung überhaupt bewußt war.
Doch war gelegentlich auch schon von einer Gleichverteilung zu
lesen. Namentlich Lombroso/Ferrero vermuteten ein neuerdings wieder
behauptetes spezifisch weibliches Dunkelfeld. Besonders stelle die weib-
liche Prostitution ein Verhalten dar, welches das größere Ausmaß ver-
folgter männlicher Kriminalität kompensiere. Und dieses Verhalten
entspreche der weiblichen Anlage. Allein eine solche Erklärung läßt sich
aus heutiger Sicht als ein Mythos unter zahlreichen Mythen um die
Frauenkriminalität und Kriminalität schlechthin entlarven. Der so ange-
stellte wägende Vergleich von Deliktstypen hinkt in vielerlei Hinsicht.
Zum einen ist Prostitution nicht überall als Straftat definiert und gewich-
tet, also qualitativ durchaus von männertypischer Kriminalität, zumal
Gewaltkriminalität, zu unterscheiden. Zum zweiten müßte der Ver-
gleich konsequent Verhaltensweisen wie männliche Prostitution und
Homosexualität in die Abwägung einbeziehen. Will man Prostitution
überhaupt wägen, sie quantitativ und qualitativ so außerordentlich
gewichten wie Lombroso/Ferrero, dann darf man zum dritten männliche
Verhaltensweisen im Zusammenhang mit weiblicher Prostitution nicht
außeracht lassen, ohne sich dem Vorwurf männlicher intellektueller
Unredlichkeit auszusetzen. Zu diesen Personen und Verhaltensweisen
gehören aber: die entsprechenden Kunden oder „Freier", ferner die in
ihrer sozialen Gefährlichkeit oftmals unterschätzten „Beschützer" oder
„Zuhälter", die Betreiber von Bordellen, die Hintermänner von organi-
siertem Nachtleben und Vergnügungsgewerbe. Gerade in diesem
Bereich tendiert jedoch das Dunkelfeld noch weit näher zum Ausmaß
von 100 % als bei Prostitution, selbst dort, wo sie als Straftat gilt.
Unter Berufung namentlich auf die Studie von Waller stein/Wyle
(1947) griffen 1950 vor allem Pollakb und neuerdings hierzulande Leder1

6 O.Pollak, The Criminality of Women, Philadelphia 1950.


7 H.-C. Leder, Frauen- und Mädchenkriminalität, Heidelberg 1978; den., Der Stand
kriminologischer Arbeit über Frauen- und Mädchenkriminalität - desorientierend für
Politik, Kriminalpolitik, Sozialarbeitspraxis und Wissenschaft? MschrKrim 1984 S. 313 ff;
andeutungsweise auch D. Gipser, Mädchenkriminalität, München 1975 S. 127 (auf diese
Arbeit wird noch zurückzukommen sein).
Cherchez la femme? 295

die Gleichverteilungsthese - nunmehr vermeintlich auf empirische


Befunde gestützt und soziologisch argumentierend - wieder auf. Pollak
bezeichnete just die Ungleichverteilung als „Mythos". Er brachte die
annähernde Gleichverteilung im Dunkelfeld und Ungleichverteilung im
Hellfeld in einen Zusammenhang mit der Fähigkeit von Frauen, sich
verdeckt zu halten, und mit einer ritterlichen Einstellung des Mannes in
der Strafverfolgung. Leder wird nicht müde, aufgrund erster, noch
grobschlächtig vorgehender Dunkelfelduntersuchungen „die tenden-
zielle Gleichverteilung zwischen Männer- und Frauenkriminalität als
These und Ansatzpunkt für einen Paradigma-Wechsel" zu postulieren,
„welcher wichtige Folgen für Wissenschaft und Politik haben müßte".
Er fordert deswegen zur Bestätigung dieser These weitere Dunkelfeld-
untersuchungen in der Bundesrepublik.
Zwar konnte die Dunkelfeldforschung mit Hilfe erster „seif reports"
tatsächlich den Eindruck erwecken, der Geschlechterabstand sei im
Dunkelfeld weitaus geringer als im Hellfeld. Jedoch wurden - wie in
Delinquenzbefragungen üblich - lediglich leichtere Deliktsarten erfragt,
Häufigkeiten der Begehung gar nicht. Dennoch ergaben sich nicht
unwesentliche Geschlechterdifferenzen'.
Gleichwohl ist es bemerkenswert, daß theoretisch so entgegengesetzt
eingestellte und argumentierende Kriminologen, wie Lombroso einer-
seits, Pollak, Gipser und Leder andererseits, die nämliche These tenden-
ziell gleicher Beteiligung der Geschlechter in der Kriminalität vertreten,
ohne sich auf hinreichende Befunde stützen zu können. Wieder drängt
sich der Verdacht auf, ein Bild der Frau solle durch ein anderes, nicht
weniger klischeehaftes abgelöst werden. Für Lombroso mußte die Frau
stärker kriminell sein als allgemein angenommen, um ihre entsprechende
Anlage zu belegen, für die anderen muß sie es wohl sein, um dem Mann
ebenbürtig zu sein.
Dabei würde ein Blick auf neuere Dunkelfeldforschungen die Brü-
chigkeit, ja Unschlüssigkeit der Gleichverteilungsthese offenbaren.
Delinquenzbefragungen sind inzwischen verfeinert und intensiviert. Es
nimmt wunder, daß Leder solche Befunde ignoriert9. Die Geschlechter-
differenzen sind so deutlich und einhellig, daß die Geschlechtervariable
als wichtigste - noch vor den Variablen Alter und Schicht - und nicht

' Vgl. z.B. F. I. Nye/J.F. Short/V.J. Olson, Socioeconomic Status and Delinquent
Behavior, American Journal of Sociology 1958 S. 381 ff.
' Dies wurde schon zu recht von L.Keupp (MschrKrim 1983 S. 176 f) moniert; die
Kritik muß nach der neueren Literaturstudie von Leder wiederholt werden. Ebenso hatte
bereits weit früher H. Mannheim (Vergleichende Kriminologie 1965, deutsch Stuttgart
1974 S. 834) auf die mangelnde empirische Plausibilität der Gleichverteilungsthese von
Pollak hingewiesen.
296 Arthur Kreuzer

nur als die am leichtesten operationalisierbare in allen Delinquenzbefra-


gungen erscheint. Sie steht so unumstritten im Vordergrund, daß Kriti-
ker wie Stacey/Thorne nicht ganz zu Unrecht monieren, durch die
Reduktion der Ausgangsfragen nach Frauenkriminalität und Frauenan-
teilen an der Kriminalität auf eine sozialstatistische Geschlechtervariable
würden theoretische Erklärungsbemühungen eher verdeckt als ermutigt:
„Whether one is a man or a woman, after all, is highly visible; as it is
socially constructed, the division encompasses the entire population and
sorts neatly into a dichotomy10." Frauenanteile werden danach sowohl
am Gesamt erfragter Delinquenz als auch bei bedeutsameren, insbeson-
dere mit Gewalt verbundenen Deliktsarten durchweg als geringer, teils
erheblich geringer ausgewiesen11.

b) Eigene, seit 1973 kontinuierlich durchgeführte Delinquenzbefragun-


gen („seif reports") in unterschiedlichen Populationen und Altersstufen
junger Menschen zwischen 13 und 20 Jahren erhärten die Beobachtung
ungleicher Belastungen der Geschlechter mit Delinquenz eindeutig12.
Die Befragungen waren zunächst repräsentativ angelegt; sie bezogen
1973 Schüler aller Schularten zwischen 13 und 20 Jahren in Hamburg
ein. Schon hier zeigte sich, daß man in keiner Jahrgangsstufe oder
Schulart Deliktsmuster finden konnte, die als mädchentypisch angese-
hen werden konnten. Hingegen waren die meisten Deliktsarten bei
quantitativer Betrachtung als jungentypisch einzustufen. Lediglich bei
Fahrgeldhinterziehen, Ladendiebstahl und Schuleschwänzen - damals
noch strafbar - näherten sich beide Gruppen an. Allerdings deutete sich
eine in späteren qualitativen Untersuchungen zur Drogenproblematik

10 J. Stacey / B. Thorne, The Missing Feminist Revolution in Sociology, Social Problems

1985 S. 301 ff, 307.


11 Ubersichten amerikanischer Delinquenzbefragungen hierzu bei D.J. Steffensmeier /

R. H. Steffensmeier, Trends in Female Delinquency, Criminology 1980 S. 62 ff, 78; ferner:


R. Giallombardo, Female Delinquency, in: D. Shichor/D. H. Kelly (ed.), Critical Issues in
Juvenile Delinquency, Lexington 1980 S. 63 ff; I.M. Gomme et al., Rates, Types, and
Patterns of Male and Female Delinquency in an Ontario County, Can. J. Crim. 1984
S. 313 ff, 321 f. Übersichten zu deutschen Arbeiten bei: H.Göppinger, Kriminologie
4.Aufl., München 1980 S.500ff, 507; G.Kaiser, Kriminologie, Heidelberg u.a. 1980
5. 152 ff; L. Keupp, (oben Fn. 9).
12 A.Kreuzer, Schülerbefragungen zur Delinquenz, RdJB 1975 S.229ff (a); ders.,
Drogen und Delinquenz, Wiesbaden 1975 (b); ders., Über Gießener Delinquenzbefragun-
gen, in: O. Triffterer/F. v. Zezschwitz (Hrsg.), Festschrift für Walter Mallmann, Baden-
Baden 1978 S. 129 ff; ders., Weitere Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen,
MschrKrim 1980 S. 385 ff; ders., Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität, Zeitschrift für
Pädagogik 1983 S. 49 ff; Übersicht dazu: ders., Gießener Beiträge zur Dunkelfeldforschung
und empirischen Strafverfahrenswissenschaft, in: H.J. Kerner u.a. (Hrsg.), Deutsche
Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, Köln u. a. 1983
Bd. 1 S. 235 ff.
Cherchez la femme? 297

erneut auftretende Tendenz zu einer Art „Kompensation" sozial abwei-


chenden Verhaltens an; Mädchen scheinen in Bereichen illegalen, straf-
baren Verhaltens geringer, in Bereichen nicht strafbaren, weniger nega-
tiv bewerteten Verhaltens stärker vertreten zu sein, anders ausgedrückt:
Mädchen scheinen Lebenskrisen bzw. Krisen in der Pubertät und Peri-
pubertät mehr passiv und „nach innen" zu verarbeiten, Jungen mehr
aktiv und „nach außen". So fanden sich damals und in späteren Untersu-
chungen bei Mädchen höhere Werte für Selbsttötungsversuche, für
entsprechende Gedanken, für psychische Störungen, für Medikamen-
tengebrauch und -mißbrauch. Andere Forscher berichten beispielsweise
über eine um das Zehnfache höhere Rate von Eß- und Magersucht bei
Mädchen. Desgleichen stellte sich die altersmäßige Steigerung delin-
quenten Verhaltens bei Mädchen als weniger dramatisch heraus; so fehlt
bei ihnen der für Jungen gefundene sprunghafte Delinquenzanstieg von
13/14- zu 15jährigen.
Einen andersartigen Zugang eröffnen die seit einem Jahrzehnt fast
alljährlich bei Gießener Studienanfängern, zuletzt bei Studenten der
Rechts- und der Wirtschaftswissenschaften ebenfalls anonym, schrift-
lich, standardisiert in Gruppen und teilweise mit konstant gehaltenen
Fragen, teilweise mit variierenden Fragegegenständen und Fragestilen
durchgeführten Deliquenzbefragungen. Hier ist zwar wegen der bil-
dungsschichtspezifischen Schlagseitigkeit keine Repräsentativität gege-
ben; andererseits ermöglichen die hohe Motivation der Studenten, das
annähernd gleiche Bildungsniveau und Frageverständnis sowie die kon-
stanten Rahmenbedingungen qualitativ bessere Einblicke und Erkennt-
nisse über mögliche Trends. Gerade weil gegenwärtig soziale Rolle und
etwaige Berufstätigkeit der Frau in kriminologischen Erklärungen für
bedeutsam erachtet werden, ist hier zudem die Gleichartigkeit der
sozialen Rahmenbedingungen beider Geschlechter vorteilhaft; Studien-
anfänger sind in der Regel noch ohne Beruf, nicht mehr unter elterlicher
Aufsicht, eigenständig, noch nicht an eine neue Familie gebunden. Auch
lassen sich so methodische Fragwürdigkeiten eher prüfen und eingren-
zen. In allen bisherigen Befragungen wurde - im Gegensatz zu frühen
amerikanischen „seif reports" - der Gesichtspunkt von Häufigkeit und
Schwere erfragter Delinquenz besonders berücksichtigt.
Unter den zahlreichen erfragten Delinquenzmustern gab es sechs, die
jedenfalls nach dem Kriterium „schon mal vorgekommen" qualitativ sich
stärker angleichende Werte bei Studentinnen und Studenten aufwiesen:
Erfahrung mit illegalen Rauschmitteln („weiche Drogen"), Fahren ohne
Fahrerlaubnis, Fahrgeldhinterziehen, Ladendiebstahl, Entwenden von
Büchern aus Bibliotheken, Fälschen von Unterschriften (z. B. Elternun-
terschriften in der Schulzeit). Indes zeigten sich schon stärkere Unter-
schiede in der berichteten Häufigkeit solcher Delikte. Das gilt beispiels-
298 Arthur Kreuzer

weise auch und kontinuierlich für Ladendiebstahl; er wurde 1985/86 von


44,8 % der Studenten und 35,0 % der Studentinnen berichtet, in der
Häufigkeitskategorie „über fünfmal" jedoch von 10,9 % der Studenten
und nur noch von 6,1 % der Studentinnen.
Was sich auf der Ebene eines Deliktstypenvergleichs zeigt, bestätigt
sich zugleich auf der Ebene eines Gesamtvergleichs von Delinquenzbela-
stungen. In der Ubersicht 1 wird ein solcher Vergleich graphisch darge-
stellt. Für jede Befragungsperson wurde ein „Delinquenzbelastungs-
punkt" errechnet. In ihm ist jedes erfragte Delinquenzmuster - gewich-

Übersieht 1
Geschlechterverteilung nach Häufigkeit und Schwere erfragter Delinquenz
Befragung bei Studienanfängern der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in
Gießen im WS 1984/85 und 1985/86

?\

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1 00 1 1 0 1 20 1 30 1 10 150 160 170 180 190 2 0 0 300 400 500 600 700 800 884

(Stichprobe: männlich n = 755, weiblich n = 595)

Delinquenzbelastungspunkte

Kurvenbildung durch Abtragung prozentualer Klassenhäufigkeiten über den Klassenmit-


telpunkten, die zur Augenführung linear verbunden werden.

1. 1 1 , 4 % der männlichen, 34,1 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 0 - 1 2 Delinquenzbelastungspunkte (DBP) = „schwache Delin-
quenzbelastung".
2. 58,5 % der männlichen, 57,0 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 12,5-76,5 D B P = „mäßige Delinquenzbelastung".
3. 30,1 % der männlichen, 8 , 9 % der weiblichen Probanden befinden sich in der Delin-
quenzbelastungsklasse 77-884 D B P = „starke Delinquenzbelastung".
Cherchez la femme? 299

tet nach Häufigkeit und Schwere - berücksichtigt. Die Häufigkeitszahl


wurde mit dem Schwerepunktwert - streuend zwischen 1 (für Fahrgeld-
hinterziehen) und 8 (z. B. für Einbruchsdiebstahl oder Körperverletzung
mit der Folge einer Behandlungsbedürftigkeit) - je Delikt multipliziert;
die Summe dieser Einzelwerte jedes Delinquenzmusters bildete den
Delinquenzbelastungspunkt („DBP"). Die Streubreite ist in der Gesamt-
stichprobe erwartungsgemäß groß, jedoch erheblich größer bei männli-
chen Befragten (Maximum 884 DBP gegenüber 264 bei weiblichen
Befragten). Ebenso erwartungsgemäß verdichten sich die Häufigkeiten
in der Gesamtstichprobe, namentlich aber in der Teilstichprobe weibli-
cher Probanden, in den unteren Belastungsklassen, während hohe Bela-
stungswerte nur noch vereinzelt auftreten. Sehr hohe Belastungen kom-
men fast ausschließlich bei männlichen Befragten und auch bei ihnen
selten vor. Diese geringen Probandenzahlen in hohen Belastungsklassen
verbieten es, entsprechende Teilstichproben gesondert auszuwerten.
Man wird solchen Befunden methodische Unsicherheiten entgegen-
halten können. Diese bestehen selbstverständlich, werden von uns im
Hinblick auf die hier getroffenen Feststellungen jedoch insgesamt nicht
für durchschlagend erachtet13. Bedenkenswert erscheint vor allem der
eventuelle Einwand, weibliche Befragte definierten möglicherweise
geschlechtsrollenspezifisch Delikte anders, oder sie erinnerten bzw.
berichteten weniger infolge geschlechtsrollenspezifischen Verdrängens,
so daß die berichteten Befunde ein Artefakt oder eine petitio principii
darstellten. In der Tat ergab die Hamburger Repräsentativerhebung von
1973", daß jedenfalls bei definitionsunsicheren, störanfälligeren und
stärker einem geschlechtsrollenspezifischen Verständnis zugänglichen
Delinquenzfragen weibliche Befragte zurückhaltender berichten; so
bejahten noch 2 6 % der 15jährigen, doch nur noch 2 % der über
18jährigen Schülerinnen, jemals an Schlägereien beteiligt gewesen zu
sein. Doch zeigen nur wenige Deliktstypen derartige geschlechts- und
altersgebundene Verdrängungen; selbst bei diesen Delikten sind die
Geschlechterabstände auch in den Altersgruppen der Pubertierenden, in
denen diese Delikte Höhepunkte zeigen und geringere Hemmungen im
Berichten auslösen, noch erheblich. Auch findet sich bei Studentinnen
ein vergleichsweise offeneres, weniger von Rollenverständnissen abhän-
giges Berichten. So gaben von den überwiegend 19-2ljährigen Studen-
tinnen immerhin noch 1 7 % an, bei Schlägereien beteiligt gewesen zu
sein. Für definitionsklarere Fragen, wie denen nach Ladendiebstählen
oder Fahrgeldhinterziehen, gilt dieser Einwand ohnehin kaum.

15 Zu Methodenfragen A.Kreuzer (oben Fn. 12) insb. 1975a und b, 1978, 1980; dort
jeweils weitere Nachweise.
14 A.Kreuzer (oben Fn. 12) 1975a.
300 Arthur Kreuzer

c) Letztlich können methodische Bedenken gegen die dargelegten


Befunde zur ungleichen Geschlechterverteilung der Delinquenz entkräf-
tet werden, wenn man zum Vergleich Befunde methodisch andersartiger
Dunkelfelduntersuchungen heranzieht.
So wurden im Rahmen eigener Studien zur Drogendelinquenz wie-
derholt biographisch und qualitativ ausgerichtete Intensivinterviews
bei weiblichen und männlichen Drogenabhängigen durchgeführt,
1970-1972 in Hamburg, 1978-1980 bundesweit15. Zwar zeigte sich
innerhalb der untersuchten Drogen- und Delinquenzkarrieren eine
beachtliche Tendenz weiblicher Drogenabhängiger, sich nach Art und
Umfang von Delinquenz männlichen Drogenabhängigen anzugleichen.
Die Angleichung ist am größten, mißt man sie an der Zahl übernomme-
ner delinquenter Verhaltensmuster. Erklärbar erscheint dies aus der
Karriere von weiblichen Drogenabhängigen, die mit eintretender
Abhängigkeit von illegalen Drogen und von dem entsprechenden sub-
kulturellen Milieu Hemmungen verlieren, welche häusliche Bewahrtheit
und rollenspezifische Erziehung zunächst noch gegenüber derartiger
Delinquenz bieten. Indes bestehen auch bei ihnen nach Art und Intensi-
tät der Delikte gewichtige geschlechterspezifische Unterschiede, die sich
in folgenden Befunden äußern:

- Weibliche Drogenabhängige initiieren selten neue Delinquenzmuster,


die wichtigsten Muster der Versorgung - Handel, Schmuggel, Raub,
Diebstahl, Fälschen - wurden durch Männer in das Drogenmilieu
eingeführt und nur zögerlich von Frauen übernommen.
- Frauen wählen weniger strafbare Verhaltensweisen, unter strafbaren
Verhaltensmustern weniger auffällige, weniger mit Aggression ver-
bundene, weniger Aktivität fordernde Muster. Zu den von Frauen
bevorzugten Mustern gehören: Kommissions- und Vermittlungsge-
schäfte, Hilfestellungen bei Diebstählen, Beutebergung, einfache
Diebstähle aus Arztpraxen, Diebstähle im sozialen Nahraum, Ver-
schreibungserschleichen, Bettelei, vor allem Prostitution.
- Frauen begehen gewichtigere Delikte selten allein, wenn überhaupt,
dann in fortgeschrittener Drogenkarriere und zunehmender Isolie-
rung.
- Frauen partizipieren weitgehend von ihren jeweiligen männlichen
Partnern; sie werden überwiegend von ihnen zum Drogengebrauch
und Injizieren illegaler Drogen verleitet, erhalten anfangs die Mittel
kostenlos, übernehmen später vorzugsweise dienende, helfende Tätig-
keiten auch in der Beschaffungsdelinquenz („bag followers"). Hierin

15 A.Kreuzer (oben F n . 1 2 ) 1975b; A. Kreuzer/C.Gebhardt / M. Maassen/M. Stein-


HUbers, Drogenabhängigkeit und Kontrolle, BKA-Forschungsreihe Bd. 14, Wiesbaden
1981.
Cherchez la femme? 301

mag man die Fortsetzung, ja Pervertierung gesellschaftlich vorge-


zeichneter Rollenschemata erkennen. Diese passive, instrumentale
Rolle wird am sichtbarsten in der Drogen-Prostitution.

Insgesamt bestätigt sich also nach quantitativen und qualitativen


Dunkelfelduntersuchungen, daß Frauen nach Häufigkeit und Schwere
weitaus weniger delinquent sind als Männer.

2. Geschlechterverteilung und verfolgte Kriminalität


Die kriminologische Diskussion um Ausfilterungsprozesse rückt
bekanntlich den Schichtaspekt in den Brennpunkt des Interesses. Von
Selektionstheoretikern wird oft behauptet, Delinquenzbefragungen hät-
ten eine Gleichverteilung von Delinquenz über alle sozialen Schichten
im Dunkelfeld erwiesen; die überproportionale Belastung unterer
Schichten im Hellfeld, vor allem in Haftanstalten, belege eine unter-
schichtfeindliche Selektion in der Strafverfolgung. In eigenen Untersu-
chungen erwies sich diese Argumentation als fragwürdig und zumindest
zu wenig differenziert. Es stellte sich heraus, daß Dunkelfelderhebungen
entscheidende Milieus unterer Schichten und stark delinquenzbelastete
Personen kaum erreichen, daß ferner Polizeiauffälligkeit und Strafver-
folgung in engem Zusammenhang mit Häufigkeit und Schwere tatsächli-
cher - im Sinne erfragter - Delinquenz stehen. Zwar werden gelegentlich
auch gering delinquenzbelastete junge Menschen in Strafverfolgung
verwickelt; die Verfolgungswahrscheinlichkeit wächst aber rapide mit
zunehmender tatsächlicher Belastung. Eine Gleichverteilung im Dunkel-
feld ist im übrigen allenfalls bei bagatellhaften, massentypischen Delik-
ten erkennbar".
Kaum beachtet wird in der Diskussion hingegen eine ganz ähnliche
Konstellation der Ausfilterung: im Dunkelfeld wird anhand von Delin-
quenzbefragungen zwar ein Abstand der Geschlechterbelastungen fest-
gestellt; dieser ist aber weit geringer als der im Hellfeld. Liegen die
gemessenen Delinquenzbelastungen der Männer im Dunkelfeld 1,3 bis
3mal so hoch wie die der Frauen, so ist die Relation im Hellfeld schon
auf der Ebene polizeilicher Verfolgung 4:117, auf der Ebene strafgericht-

16 Vgl. insb. A. Kreuzer (oben Fn. 12) 1975 a und 1980 (S. 385 ff, 388 ff), jeweils mit
Schrifttumsnachweisen.
17 Die Umstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik auf eine „bereinigte Tatverdächti-

genzählung" 1983 wirkt sich allerdings rein optisch zuungunsten der Frauen aus: Da
männliche Tatverdächtige häufiger mehrmals wegen gleicher Delikte im selben Jahr
auffallen, jedoch jetzt nur noch einmal gezählt werden, fallen zwangsläufig Frauenanteile
höher aus: Vor der Umstellung 1982 lagen sie bei 19,9% aller Tatverdächtigen, 1984
dagegen bei 2 3 , 6 % . Auch diese statistische Täuschung belegt indes, daß Männer bei
wachsender Häufigkeit stärker vertreten sind. In die gleiche Richtung weisen etwa
kriminalstatistische Befunde über sog. „Mehrfachtäter" (mindestens zweimal im Jahr und
302 Arthur Kreuzer

licher Verurteilungen 6:1, bei der Untersuchungshaft 20:1, im Strafvoll-


zug 30:1 18 . Auch hierfür werden unterschiedlichste Erklärungen angebo-
ten, jedoch vermißt man das Nächstliegende: Häufigkeit und Schwere
als ausschlaggebendes Kriterium für die Entdeckungs-, Verfolgungs-,
Verurteilungs- und Inhaftierungswahrscheinlichkeit. Beide Ausfilte-
rungsprozesse - die schicht- und die geschlechtsspezifischen - dürften
eine gemeinsame Erklärung in dieser Variablen finden. Je schwerer ein
Delikt ist und je häufiger jemand delinquent wird, um so wahrscheinli-
cher sind Entdeckung und Strafverfolgung; da Männer öfter und schwe-
rere Delikte begehen, werden sie stärker verfolgt und bestraft. Dies ist
bereits in früheren Untersuchungen belegt worden und sei hier aufgrund
der letzten Studentenbefragungen erneut dargelegt in der Ubersicht 2. Es
zeigt sich, daß zwar die meisten männlichen und weiblichen Probanden,
die als „stark delinquenzbelastet" eingestuft sind, nie polizeiauffällig
waren, daß sich aber - geschlechtergleich - mit wachsender Häufigkeit
und Schwere tatsächlicher Delinquenz die Wahrscheinlichkeit polizei-
lich aufzufallen erhöht. Da weibliche Befragte unter stärker Delinquenz-
belasteten unterrepräsentiert sind, ist entsprechend zugleich ihr Anteil
unter Polizeiauffälligen geringer. Ihr noch kleinerer Anteil unter
Bestraften und Inhaftierten erscheint daher als konsequente Fortsetzung
dieses sich schon nach Dunkelfelderhebungen abzeichnenden Trends.

Soweit erkennbar, weicht eine einzige Dunkelfeldstudie von diesem Befund ab. Gipser
befragte 112 der Polizei aufgefallene Mädchen nach tatsächlicher Delinquenz und
verglich die Ergebnisse mit denen einer Kontrollgruppe von 125 polizeilich nicht
aufgefallenen. Zwar lagen die angegebenen Delinquenzraten durchweg in der Auffälli-
gengruppe höher, doch wurden die Unterschiede als nicht signifikant bezeichnet. Aus
den Ergebnissen wurde gefolgert, Mädchen aus der Mittelschicht seien gleichermaßen
delinquenzbelastet wie Mädchen aus der Unterschicht - und „wahrscheinlich nicht viel
weniger delinquenzbelastet als Jungen" - , jedoch würden „Mädchen aus der Unter-
schicht mit größerer Wahrscheinlichkeit von offiziellen Sanktionsinstanzen registriert".
Gipser hält neuerdings an dieser Interpretation fest trotz aller entgegenstehenden
Befunde der sonstigen Dunkelfeldforschung und der gegen die Studie vorgetragenen
grundlegenden methodischen Bedenken". Die Befunde stehen - wie geschildert - in der
Dunkelfeldforschung allein. Methodische Bedenken sind früher schon eingehend dar-

mit mehr als fünf Straftaten Aufgefallene) in Nordrhein-Westfalen und Hamburg. So


betrug der Anteil weiblicher Tatverdächtiger an den unter 21jährigen in Hamburg von
1979 bis 1982 17,4 %, der Anteil weiblicher Mehrfachtäter aber nur 7,7 % aller Mehrfach-
täter (errechnet nach Daten des LKA Hamburg, Jugendkriminalität in Hamburg 1979 bis
1982, Hamburg 1983).
18 Ähnliche Relationen z. B. für England: M. Ramsay, Women and Crime: A Changing

Pattern of Convictions? In: Home Office Research Bulletin 1984 S. 39 ff; für Canada: I. A.
Gomme et al. (oben F. 11).
" D. Gipser, (oben Fn. 7) insb. S. 127; jetzt dies., Kriminalität der Frauen und Mäd-
chen, in: H.-J. Schneider (Hrsg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten, Weinheim/
Basel 1983 Bd. 1 S. 427 ff, 438 f.
Cherchez la femme? 303

gelegt worden20. Bereits folgende methodische Besonderheit hat wahrscheinlich das


Ergebnis der Untersuchung entscheidend beeinflußt: In beiden Untergruppen, beson-
ders unter stärker Delinquenzbelasteten, vor allem aber in der Gruppe Polizeiauffälli-
ger, dürfte die Berichtsneigung im persönlichen standardisierten Interview geringer sein
als in anonym durchgeführten Befragungen, wie den zuvor skizzierten Studentenbefra-
gungen. Polizeiauffällige, die man als solche aufsucht, werden aus begreiflichen Grün-
den mißtrauischer und zurückhaltender sein. So fallen auch schon die Grunddaten zur
erfragten Delinquenz erheblich geringer aus als in anonymen Interviews. Der von
Gipser eingeschlagene Weg erweist sich daher im Blick auf die Ausgangsfragen als
methodischer Irrweg.

Übersicht 2
Delinquenzbelastung und Polizeiauffälligkeit
Befragung bei Studienanfängern der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in
Gießen im WS 1984/85 und 1985/86

n Polizeiauf- Delinquenzbe-
fälligkeit lastung stark

<J 144 60.4


Polizeiauffälligkeit
5 43 23.3

<J 611 22.9


keine Polizei-
auffälligkeit
9 552 7.8

6 227 38.3
Delinquenzbe-
lastung stark
9 53 18.9

<J 442 12.0


Delinquenzbe-
lastung mäßig
339 7.7

<J 86 4.7
Delinquenzbe-
lastung schwach
9 203 3.4

(Stichprobe: männlich n = 755, weiblich n = 595; Angaben in %, jeweils


bezogen auf die in der Zeilenspalte bezeichnete Teilstichprobe; getrennt nach
Geschlechtern)
20
Zur Kritik eingehend: A. Kreuzer, Besprechung von D. Gipser, Mädchenkriminalität,
MschrKrim 1975 S. 309 ff.
304 Arthur Kreuzer

III. Empirische Befunde und theoretische Erklärungen


Zuletzt ist nun zu fragen nach Konsequenzen der dargelegten empiri-
schen Befunde für theoretische Bemühungen, Frauenkriminalität zu
erklären. Werden solche Befunde in Erklärungsmodellen überhaupt -
und wenn ja wie - berücksichtigt? Am ehesten dürfte man von gesell-
schaftstheoretischen, sozialistischen, marxistischen und interaktionisti-
schen Ansätzen erwarten, die Frage weiblicher Minderbeteiligung in der
Kriminalität aufzugreifen. In ihren zahlreichen Varianten - namentlich
auch unter Vertretern des „labeling approach" - wird nämlich, wie
erwähnt, die Gleichverteilungs- und Selektionsfrage unter Schichtaspek-
ten zentral behandelt. Um so erstaunlicher ist die Abstinenz in den
Bemühungen, die naheliegende Parallelkonstellation der Frauenfrage
aufzugreifen. Dies, obwohl doch viele eine Brücke zwischen Marxismus
und Feminismus zu bauen versucht haben21. Möglicherweise erklärt sich
die Abstinenz daraus, daß schon die Schicht-bezogenen Selektionsthesen
empirisch wenig Bestätigung erfahren haben22 und daß eine Ausweitung
des Selektionsansatzes auf die Frauenfrage den Eindruck seiner mangeln-
den empirischen Tragfähigkeit verstärkt hätte. Die Abstinenz zeigt sich
bei nahezu allen Richtungen, bei „marxistisch-leninistischen" Erklä-
rungsversuchen ebenso23 wie bei „marxistisch-interaktionistischen"24.
Dabei bieten „Klassiker" durchaus Hinweise, die Frauenfrage aufzu-
greifen. F. Engels hat schon die theoretische Brücke angedeutet: Das
gesellschaftliche Klassensystem lasse sich auf die Geschlechter derart
übertragen, daß Frauen das Proletariat darstellen, unterdrückt von der
herrschenden (Männer-)Klasse der Bourgeois; die Frau sei daher doppel-
ter Unterdrückung ausgesetzt - den Antagonismen des kapitalistischen
Systems und den durch Männer vermittelten patriarchalischen Struk-
turen25.

21 Vgl. die Literaturnachweise zu einer „Marxist-Feminist Theory" bei ], Stacey /

B. Thorne (oben Fn. 10) S. 301 ff, 308 ff.


22 Zur Auseinandersetzung insbesondere mit F. Sack und A. Baratta über die mangelnde

empirische Bestätigung des „labeling approach" vgl. A.Kreuzer (oben Fn. 12) 1980
S. 385 ff, 388 ff mit Nachw.
23 Vgl. z.B. das einzige kriminologische Lehrbuch der DDR von ]. Lekschas / H. Harr-

land/ R. Hartmann IG. Lehmann, Kriminologie, Berlin 1983, welches die Frauenfrage
überhaupt nicht berührt.
24 Auch bei F. Sack (z. B. Selektion und Kriminalität, Kritische Justiz 1971 S. 384 ff und

Probleme der Kriminalsoziologie, in: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozial-
forschung Bd. 12, 2. Aufl. Stuttgart 1978 S. 192 ff, sucht man vergeblich nach einer
Thematisierung.
25 F.Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 4.Aufl.
Stuttgart 1892, in: K. Marx / F.Engels, Ausgewählte Werke, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1972
S. 88 f. Dies wird in neuerer Frauenliteratur gern übernommen: Vgl. z.B. S.Firestone,
Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a.M. 1981.
Cherchez la femme? 305

Kaum jemand wagt indes, den nächsten Schritt konsequent zu tun,


welcher in der Schicht- bzw. Klassenfrage noch getan wird: Gehören
Kriminalität und Kriminalisierung zu den Mitteln herrschender Schich-
ten, Herrschaftsverhältnisse zu festigen, untere Schichten zu unterdrük-
ken, dann müßten sie auch von Männern genutzt werden, patriarchali-
sche Strukturen zu festigen, Frauen zu unterdrücken. Dies liefe aber
darauf hinaus, daß Frauen gerade proportional stärker im Strafverfol-
gungsgang erfaßt und rigider bestraft werden müßten; das Gegenteil also
dessen, was sich empirisch nachweisen läßt. Gelegentlich finden sich in
der Tat entsprechende Vermutungen26. Und in der deutschen feministi-
schen Bewegung vertritt dezidiert diese Auffassung A. Schwarzer:
„Vor Justitia sind nicht alle gleich. Arme zum Beispiel müssen nicht nur früher sterben
als Reiche, sie müssen auch länger sitzen. Denn wir haben in der Bundesrepublik eine
Klassenjustiz. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, daß wir auch eine Männerjustiz
haben. Justitia ist ein Mann! Denn: Frauen werden für gleiche Taten oft härter
verurteilt als Männer! Frauen haben schlechtere Haftbedingungen als Männer! Frauen
werden seltener begnadigt als Männer!" 27 .

Diese Pauschalaussage ist jedoch unhaltbar. Es darf auf den oben


geschilderten überproportionalen Ausfilterungsprozeß in der Frauenkri-
minalität verwiesen werden. Auch belegen die immer wieder zitierten
angeblichen Justizskandale selbst kaum schlüssig solches Urteil - Straf-
verfahren gegen Vera Brühne, Ingrid van Bergen usw. - ganz abgesehen
von deren fehlender Verallgemeinerbarkeit. Außerdem läßt sich schon
kriminalstatistisch aufzeigen, daß Frauen keineswegs weniger oder spä-
ter begnadigt werden. Prüft man etwa die Gnadenpraxis bei den am
ehesten vergleichbaren Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe,
so zeigt sich eher das Gegenteil: So betrugen die Frauenanteile an den
Verurteilungen 1954-1963 12,1%, 1964-1973 4 , 5 % , 1974-1983 4 , 9 % ;
entsprechende Anteile an den wegen lebenslanger Strafen Inhaftierten
sind jedoch geringer; sie betrugen 1973 noch 5 , 9 % und sind kontinu-
ierlich bis 1983 auf 4,0 % zurückgegangen; indes müßten sie bei einer
frauenfeindlichen Begnadigungspraxis, zumal angesichts längerer
Lebenserwartung von Frauen, über den Anteilen bei Verurteilten liegen.
Aus diesen Befunden ist die Fragwürdigkeit der These von A. Schwarzer
zu folgern, nicht jedoch auf eine Gnadenpraxis zu schließen, die umge-
kehrt Frauen bewußt begünstigte; denn wenn Frauen im allgemeinen
früher begnadigt werden, hängt es in erster Linie damit zusammen, daß
die lebenslänglichen Verurteilungen überwiegend wegen Mordes im

26 Nachweise bei S.Box, Power, Crime and Mystification, London, New York 1983
S. 165 ff, 169 f.
27 A. Schwarzer, Männerjustiz, in: dies., Mit Leidenschaft, Texte 1968 bis 1982, Rein-
bek 1982 S. 208 ff, 208.
306 Arthur Kreuzer

Nahraum und in Konfliktsituationen ergehen und daß Frauen auch als


weniger gefährlich und rückfallgefährdet erachtet werden.
Die meisten, die Kriminalität und Kriminalisierung von Frauen unter
dem theoretischen Gesichtswinkel des labeling approach beurteilen,
bedienen sich einer der soeben geschilderten entgegengesetzten Argu-
mentation: Frauen würden in der Strafverfolgung besonders „ritterlich",
nachsichtig behandelt, woraus sich der beschriebene geschlechterspezifi-
sche Selektionsfilter ergebe. Die „chivalry hypothesis" reicht sogar weit
in Zeiten vor der Labeling-Diskussion zurück. Schon Pollak28 vertrat sie
1950:
„Man hate to accuse women and thus indirectly to send them to their punishment,
police officers dislike to arrest them, district attorneys to prosecute them, judges and
juries to find them guilty, and so on."

Viele haben sich der These angeschlossen29. Aber wohl wenige haben
sie - in deutscher Gründlichkeit - so auf die Spitze getrieben wie Dürkop
und Hardtmann und zwar unter Berufung auf eine marxistische Sicht,
nämlich die Annahme doppelter gesellschaftlicher Unterdrückung von
Frauen:
„Es ist sicherlich richtig, daß häufig Richter ritterliches Verhalten zeigen. In Wirklich-
keit ist diese Ritterlichkeit jedoch eine versteckte Form von Frauenfeindlichkeit, die
sich in Etiketten und Ritualen erschöpft, statt für eine echte Emanzipation der Frauen
einzutreten. Daß sich männlicher Chauvinismus in Gegenwart von Frauen in Ritter-
lichkeit umkehrt, wurde ebenso festgestellt wie ein Zusammenhang von ritterlichen
Einstellungen der Männer mit autoritären, ethnozentrischen und faschistischen Syn-
dromen30."

Man könnte es sich leicht machen, diese Theorie zu widerlegen. So


ließe sich die Anwendbarkeit des labeling approach auf die Frauenfrage
überhaupt abtun mit dem Argument der Logik: Eine Theorie ist unsin-
nig, wenn sich aus ihr einander entgegengesetzte, sich ausschließende
Aussagen ableiten lassen - die Aussage, Frauen würden benachteiligt,
und die, sie würden in der Strafverfolgung besser gestellt. Man könnte
auch einfach die Behauptung als absurd verwerfen, Männer diskrimi-
nierten und unterdrückten Frauen durch nachsichtige Strafverfolgung.
Um Sachlichkeit bemüht, wird man auf die dargestellten Erkenntnisse
der Dunkelfeldforschung verweisen, wonach Frauen eben seltener delin-

28 O. Pollak (oben F. 6) S. 151.


29 Z. B. E. F. Moulds, Chivalry and Paternalism, in: S. K. Datesman et al. (ed.) Women,
Crime and Justice, New York, Oxford 1980 S . 2 7 7 f f ; N.Hahn Rafter/E.M. Natalizia,
Marxist Feminism: Implications for Criminal Justice, Crime and Delinquency 1981
S. 81 ff.
50
M. Dürkop / G. Hardtmann (oben Fn. 5) S. 219 ff, 224, 227, dabei C.Schmerl/
D. Steinbach zitierend.
Cherchez la femme? 307

quent sind, ferner in erster Linie Häufigkeit und Schwere der Delikte für
Art und Ausmaß der Strafverfolgung den Ausschlag geben, nicht frauen-
spezifische Verfolgungsstrategien. Ebenso darf man empirische Unter-
suchungen erwähnen, welche eindeutige geschlechterspezifische Straf-
verfolgungstendenzen nicht haben belegen können31.
Erscheinen pauschale Behauptungen frauenfeindlicher Strafverfol-
gung - im Zusammenhang bald mit rigiderer, bald mit bewußt nachsich-
tiger Selektions- und Sanktionspraxis - unhaltbar und eher dazu geschaf-
fen, eine Theorie aufrechtzuerhalten, so bleibt dennoch die Frage beste-
hen, ob es geschlechterspezifische Verfolgungsstrategien gibt. Wie bei
nahezu allen kriminologischen Erklärungen enthalten ja noch so einsei-
tige Modelle durchaus tragfähige Elemente. Und wie allenthalben ist ein
einziger theoretischer Ansatz nicht imstande, umfassende Erklärungen
zu bieten. Selbst wenn also Häufigkeit und Schwere der Straftaten
wichtigste Kriterien für Verfolgungswahrscheinlichkeit und Sanktions-
strenge bilden, bleibt Raum für zusätzliche Einflußfaktoren. Unter
diesen könnten auch geschlechterspezifische Strategien bedeutsam sein.
Ein derartiger Erklärungsansatz müßte freilich sehr differenziert sein.
Ohne hier ein ausdifferenziertes Erklärungsmodell anbieten zu wollen
oder gar empirisch überprüfen zu können, seien wenigstens einige
Erklärungsdimensionen aufgezeigt:
- Geschlechterspezifische Verfolgungsstrategien können ambivalent
sein, je nach dem Geschlecht von Verfolgern und Verfolgten. Daher
ist zuerst zu unterscheiden, ob Männer (als Polizisten, Staatsanwälte,
Richter) Frauen verfolgen oder Frauen männliche Beschuldigte oder
Frauen weibliche Beschuldigte oder Männer männliche Beschuldigte.
Denkbar ist ja zum Beispiel, daß Frauen härter über Frauen urteilen
als Männer und umgekehrt32. Aber auch das Gegenteil ist möglich:
Mehr Verständnis von urteilenden Frauen über Beschuldigte ihres
Geschlechts33. Statistisch läuft dies - wie so oft — auf die Schwierigkeit
hinaus, daß sich beide Tendenzen „aufheben" könnten, also bei
Anwendung üblicher messender Methoden nicht nachweisbar wären.
Um die Differenzierung weiterzutreiben: Denkbar ist weiterhin, daß

31 Vgl. z . B . D.A. Curran, Judicial Discretion and Defendant's Sex, Criminology 1983

S.41 ff; C.A. Visher, Gender, Police Arrest Decisions, and Notions of Chivalry, Crimino-
logy 1983 S. 5 ff; E. Blankenburg / K. Sessar/W. Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß
strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1978 S. 193 ff.
32 Vgl. z . B . S.Box/C.Hale, Liberation/Emancipation, Economic Marginalization, or

Less Chivalry, Criminology 1984 S. 473 ff.


53 R. R. Morris (Attitudes toward Delinquency by Delinquents, Non-Delinquents and
their Friends, Brit. J. Crim. 1965 S. 249 ff) kommt jedenfalls auf der Ebene des Vergleichs
Betroffener untereinander zu diesem Ergebnis.
308 Arthur Kreuzer

beispielsweise rigider gegenüber Frauen und überhaupt rigider gegen-


über Straftätern eingestellte Frauen in der Justiz das Amt einer Straf-
richterin bevorzugen, nachsichtiger-verständnisvoller eingestellte
Juristinnen dagegen zu anderen Gerichtszweigen tendieren.
- Solche Verfolgungsstrategien können weiterhin deliktsspezifisch
unterschiedlich und wiederum ambivalent sein34. So könnten Delikte
zu nachsichtigerer Verfolgung führen, die eher mit vorherrschenden
Geschlechtsrollenverständnissen in Einklang zu bringen sind - z. B.
Ladendiebstahl einer kinderreichen minderbemittelten Frau - , als
etwa terroristische Aktionen von Frauen.
- Schließlich können sich derartige, stark wertungsabhängige Strategien
bei einzelnen und in der Allgemeinheit im Laufe der Zeit wandeln".
Neben solchen denkbaren geschlechterspezifischen Strategien ist
außerdem Raum für viele andere in der Kriminologie diskutierte Ein-
flußgrößen, die mindere weibliche Kriminalität im Dunkel- und im
Hellfeld erklären könnten. Stichwortartig seien nur Besonderheiten in
Psyche und Sozialisation von Frauen genannt.
So wären wir am Schluß wieder bei banalen kriminologischen
Erkenntnissen angelangt. Einige interessante Erklärungen erweisen sich
als zu undifferenziert und so unhaltbar. Wie des öfteren müssen sich
Kriminologen darum bemühen, von anderen Kriminologen aufgestellte
Behauptungen zu verwerfen. Frauen sind weder gleich stark in der
Kriminalität vertreten, noch werden sie als Frauen generell stärker oder
nachsichtiger verfolgt. Es lebe - auch insofern - der kleine Unterschied!
Frauen sind jedoch wie Männer grundsätzlich gleichermaßen in der
Lage, Delikte zu begehen. Nicht nur bezüglich Schicht, Alter, Rasse,
Region, sondern desgleichen für das Geschlecht gilt die These von der
Ubiquität der Kriminalität. Jedoch ist die Minderbeteiligung von Frauen
in der tatsächlichen und in der verfolgten Kriminalität erklärungsbedürf-
tig. Dabei sollten keine Bezugsdisziplin und kein theoretisches Konzept
beanspruchen, ausschließlich und umfassend zu sein.

54 Die Notwendigkeit deliktsspezifischer Unterscheidungen betonen z.B. W.Steffen,


Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens,
Wiesbaden 1976 S. 221 ff, ferner M.Stein-Hilbers, Zur Frage der geschlechterspezifisch
unterschiedlichen Strafverfolgung, Krim J 1978 S. 281 ff. Für die Drogendelinquenz wurde
beispielsweise eine gegenüber weiblichen Drogenabhängigen verständnisvollere Sanktions-
praxis als wahrscheinlich dargelegt (A. Kreuzer, Drogen und Delinquenz, Wiesbaden 1975
S. 311).
35 Eine zunehmend härtere Haltung von Strafverfolgungsorganen gegenüber weiblichen

Tätern will z.B. L. Crites (Women offenders: Myth vs. Reality, in: dies, (ed.) The Female
Offender, Lexington 1976 S. 33 ff) nachweisen. In die gleiche Richtung weisen M.D.
Krohn et al„ Is Chivalry Dead?, Criminology 1983 S.417ff.
Drugs in Latin America and the World Crisis
- Initial Considerations -

ROSA DEL O L M O

A. Introduction
Generally, when one discusses drugs, the immediate association is
with substances capable of disturbing the psychic - and even physical
condition of human beings. But not all substances with such qualities are
classified in this way. An additional necessary condition for considering
them drugs is their illegality. Thus, drugs belong to the field of the
uncontrollable, often unknown and mysterious, object of irrational
fears. Furthermore, the existence of abundant literature saturated with
moral prejudices, false and sensational revelations which distort reality,
etc., has encouraged us to smother the real problems with an aura of
phantasy and mystery. This situation stimulates drug use (and abuse)
while maintaining discussions at a pre-scientific level, dominated mainly
by fear.
1. Different Official Approaches to the subject
The analysis of drug literature published in the last forty years shows
interesting changes in the way the subject is approached.
In the fifties, the "drug world" was limited to marginal individuals. In
the United States for instance, it was considered characteristic of ghetto'
inhabitants, jazz musicians, etc. In Venezuela, it was thought typical of
"barrio" people and specially of criminals. In other words, drugs were
used by society's "outsiders".
In the sixties, the situation changed. The subject began to be presented
as a fight of epic proportions between good and evil. Drugs and evil
became synonimous and had to be fought in order to preserve the "good
society". Essential, however, was the fight itself. At that moment, the
moral aspect of the problem was considered of central importance.
In the seventies, drugs and the fight against them were no longer so
important. Attention turned to "the individual who used drugs" in order
to find out why he did so and try to prevent him from doing it again.
There were too many well-to-do young people involved in it, specially
in US society. Venezuela experienced the same situation although less
intensely. It became fashionable to distinguish two types of people: the
310 Rosa del Olmo

"consumers" whose problem was seen basically as one of sickness; and


the drug "traffickers" regarded as criminals. For the former, great efforts
were made and medical treatment became a priority.
When we reach the eighties, the situation changes again. The indi-
vidual who uses drugs is no longer so important; indeed, it becomes
tacitly accepted if in small doses. For example, as regards marihuana, its
use is depenalized in eleven states of the United States and in many
others is not prosecuted. Moreover, there are today approximately one
million Americans who grow their own marihuana at home. New laws
which have to do with drugs emerged in the entire Continent to
distinguish between the "sick" and the "criminal" and no longer punish
drug consumption as such.
Today emphasis has once again been focused on the drugs themselves
but in a different way than twenty years ago. Different criteria are
applied in the case of those drugs introduced into the United States from
abroad (e. g. marihuana, cocaine, and heroine) to those used in the case
of the drugs produced in the US for internal consumption or export
(e.g. the various kinds of pills). Evidently, at this stage the economic
aspects of the problem begin to be recognized, but increasingly associ-
ated with fundamental political problems.
Further study of this is evidently necessary, but what cannot be
denied is that the official way of approaching drugs is intimately
connected with the role they play at different moments in the society's
development. As we suggested more than ten years ago1, drugs have
played very different roles during the course of history. In pre-capitalist
societies, they were used as medicine, or connected with religion, war,
etc. in a wide variety of ways.
As capitalism emerges, drugs, like everything else, become merchan-
dise. They no longer have exclusively use-value but also and essentially
exchange value. This can be demonstrated by studying the history of
different drugs in detail2, but the most obvious example - perhaps
because it has been thoroughly studied - is the history of opium and its
by-products3.

1 See my book La Sociopolitica de las Drogas, Caracas, FACES, UCV, 1975 (second

edition, 1985).
2 For more details see my book mentioned above.

3 Many books exist on this. For example, Alfred W. McCoy, The Politics of Heroin in

Southeast Asia, New York, Harper, 1972, or Catherine Lamour and Michael Lamherth,
La Nueva Guerra del Opio, Barcelona, Barral, 1973. More recently, Sebastian Scheerer,
"The Popularity of the Poppy", V. Conference of the European Group for the Study of
Deviance and Social Control, Barcelona, Spain, 1977.
Drugs in Latin America 311

2. Differences in Drug Offer and Demand


If we accept that drugs are merchandise, or commodities, (with a
particular specificity since it doesn't have the same freedom of competi-
tion in the market, due to its illegal condition), their use becomes
increasingly determined by market laws and thus by offer and demand.
The complexity of the capitalist mode of production has an effect on
drugs as in the case of any other merchandise, although - again - in a
different way because of their illegality. Thus, an international financial
network to back them up is established (as with any merchandise)
together with a complex economic network for production, distribution
and circulation, networks which will acquire their own peculiarities
according to the particular drug. Thus, today we can speak of a
marihuana industry and even of a transnational (as we shall see); also of
an opium industry and more recently of a coca industry among others.
Furthermore, we find conglomerates which handle several drugs at the
same time. An example is the cocaine-marihuana industrial complex set
up in Colombia.
If we consider drugs as merchandise, we can see in the past decades
some significant differences in regard to their offer and demand.
In the fifties for example, drugs in the US were related to opium and
its derivates and in Venezuela on a very small scale, to marihuana. In the
sixties, as a result of the Mexican overproduction, marihuana entered the
United States in great quantities and 1965 became known as "the key
year of marihuana". At the same time, the market for heroine increased
as a result of the Vietnam war. In Venezuela, there was no equivalent
market because the problem was the guerrilla warfare.
It is in the seventies when the really big market of drugs began,
specially in developed countries, with the massive abuse of marihuana
among the youth and the introduction of cocaine as a result of the
heroine business crisis when the Southeast Asia war ended.
When we get to the eighties, marihuana - although still present - no
longer occupies the first place in the drug market; it has been displaced,
specially in the States, by the new "super-drug" cocaine.
The different drug industries compete for the market in developed
countries as with any other merchandise. The same happens in underde-
veloped countries which produce the raw material necessary for proces-
sing those drugs used in developed countries. In certain Latin American
countries, new markets are created for some secondary byproducts of
the raw material. For example, the case of the basuco\ as well as all sorts

4
Basuco comes from coca base paste. It is produced in a very primitive fashion and
instead of ether, kerosene or oil is used as a solvent which increases its toxic effect. It is
smoked rather than inhaled and much cheaper than cocaine.
312 Rosa del Olmo

of pills produced in great scale in the big labs of the developed countries,
but used each day more in greater quantities in Third World countries5.
The drug traffic is no longer directed only to the developed countries.
There is now a two-way process since what is important is the creation
of new markets on a world scale. That explains in part the substitution of
one drug for another as well as variations in users' demands. Also
another aspect closely connected with the problem is what happens in
drug producing regions. Since we are dealing with illegal merchandise, it
is easier that at a particular moment one or another drug be withdrawn
from the market. Many examples illustrate this fact; among them the
occasion when the Mexican Government decided to stop marihuana
cultivation in 1976 as a result of US pressure. While this was happening,
there were marked oscillations in offer and demand until a new region
for production was developed: in this case, the Colombian Guajira
region.

B. Relationship between Drugs and the Present World Crisis


When the historical development of different drugs is examined from
the moment they acquire the characteristics of a merchandise within the
capitalist mode of production, we can assert that drugs have played an
important role on many occassions related to crisis. For the moment, we
will only mention the present world crisis dividing it into two phases,
one covering the seventies and the other, from the end of the seventies to
the present.

1. Drugs in the First Phase of the Present World Crisis:


the Case of Colombian marihuana
This first phase of the World crisis has as a main characteristic an
emphasis on expansionist policies combined with inflation. That histori-
cal moment is related to particular aspects in the development of the
drug market, specially in the case of the Colombian marihuana industry,
created and consolidated precisely in that period.
Before proceeding, however, it is important to remember certain facts
about that period. For example, that in 1971, the US balance of
payments had problems and too many dollars left the country due to the
Vietnam war and the establishment of several new US military bases
abroad. These and other events forced the US to devaluate the dollar and
eliminate its free exchange with gold. This in turn, had a series of
consequences in other countries as well as in the creation of the so called

5
See in this sense, "Rise of the Third World Junkies", SOUTH, The Third World
Magazine, London, February, 1984, p. 12.
Drugs in Latin America 313

Eurodollar market. Also the 1973 dollar devaluation followed by O P E C


measures to raise oil prices and create great amounts of Petrodollars
originated the creation of new financial resources since "opportunities
for a productive investment were scarce and as a result, a great propor-
tion of these funds functioned as financial capital and were transfered as
credit to peripheral countries 6 ."
At the same time, in 1971, President Nixon pointed out that drug
abuse was US Public Enemy No. 1 and assigned $370 millions for
medical treatment and rehabilitation of 100,000 students and 40,000
Vietnam war veterans.
In 1973, the Federal Government increased its budget to fight drugs to
700 million dollars of which two thirds went to treatment. There was a
serious drug problem in the States because the heroin market was fully
established since 1970. The US Government, however, for political
reasons considered it was not the moment to attack the regions dedicated
to poppy growth in Southeast Asia but rather directed all its efforts
against marihuana growth in Jamaica and Mexico. Thus, Operation
Buccaneer and Operation Condor were launched; the first in Jamaica in
1974, and the second in Mexico in 1975. The result of this, however, was
that the marihuana industry moved elsewhere and thus Colombia
emerged as a major producer for reasons which need further research.
By 1974, the first big shipment of marihuana from Colombia Guajira
region had entered the State of Florida.
At that time, those responsible for setting up the new industry were
clearly identified with the Mafia although in order to achieve such a high
level of production, the industry needed key support, in and out of
Colombia, which goes beyond the so-called Mafia itself.
The first visitors were Bill Santoro, the biggest boss in drug traffic and
Jim Cbagra, his expert on international commerce who decided to send
to "The Sierra Nevada of Santa Marta a group of US botanists, agronom-
ists and experts on growing in tropical areas who would test the quality
of Santa Marta Gold 7 ."
From that visit on, Colombia was destined to grow more marihuana
than coffee and "legions of gringos loaded with dollars arrived, as well as
teams of lawyers, economists, agricultural engineers, botanists, experts
in cultivation to assess marihuana plantations, as well as great quantities

6
Sergio Aranda and Fernando Porta, "Crisis Mundial y transformaciones en América
Latina", Cuadernos del CENDES No. 1, 2a época, septiembre-diciembre, 1982, Caracas,
p.10.
7
José Cervantes Angulo, La Noche de las Luciérnagas, Bogotá, Plaza & Janes, 1980,
p.21.
314 Rosa del Olmo

of chemical fertilizers, machinery, etc., all coming from the United


States8."
To Colombia, with its 25 million inhabitants and high levels of
poverty and unemployment, this new industry helped 70,000 peasant
families who lived of the cultivation of marihuana instead of starving to
death. A peasant would earn six times more, growing marihuana than
coffee or cotton. At the same time, the country received for its drug
production only in 1977, 8 billion dollars, i.e., three times its national
budget and twice the total income from coffee production'.
The development of such an industry at a time when the main
characteristic of the crisis was an expansionist policy, suggests the
possibility of a connection between them, specially if we remember the
interest in favouring fast industrialization in developing countries. In
this particular case, however, as the merchandise was illegal, things get
complicated because of the enormous cash flows involved and the need
of a security system to protect the merchandise as well as the wide
network of employees.
What we have said so far suggests several questions. For example, can
we say that the world crisis at that particular moment favoured the
development of a parallel economy? Or an "underground economy" as
some have called it? Will it follow the same laws as the legal economy?
Will inflation increase because of the illegal nature of the drug transac-
tions? Is there any relationship between the enormous excess of pet-
rodollars and the consolidation of this expensive industry, capable of
producing, for example only in the States in 1978, wholesale profits of 4
billion dollars?
To what extent, part of this new money was invested in Colombia and
if so, what is its relationship with the emerging narcodollars? What role
do the international banks play in all this?
Many more questions could be introduced here, but something seems
sure: Colombia's marihuana industry is only one cog in a transnational
network which (following the pattern of any present-day transnational
corporation) was able at a certain point to manipulate the Nation-State
of Colombia for its own benefit. In other words, the production of
marihuana is beyond the possible control of the Nation-State of Colom-
bia. We can't forget here Marlene Dixon's words: "There is indeed a
symbiotic dual power relationship between the ruling elite of the
bourgeois government and the bourgeois transnationals - each aids the
other to get rich. The symbionts coexist as dual power within the

8 Ibid., p. 23.
' Benjamin Losada Posada, Economía subterránea o el imperio del contraderecho en
Colombia, Bogotá, s/f., p. 9.
Drugs in Latin America 315

capitalist world system, one lords of the world economy, the other lords
of its territories10."
This statement applied to a transnational corporation dealing with an
illegal merchandise such as marihuana could provoke the objection that
the Nation-State's ruling elites don't have to be aware of this type of
activity. Moreover, the tendency is to refer to it as an "underground
economy" or a "State within the State". However, it is worthwhile
recalling the words of a dope industry's quality control expert, pub-
lished in the American Journal High Times", "You don't grow a field
with a million pounds unless you know you've got pretty good protec-
tion from the government and you've got a perfect way to sell it12."
Also, it is important to remember the words of a Colombian author,
Jose Cervantes Angulo when writing about the situation in Colombia's
Guajira region: "From Puerto Lopez to Puerto Estrella, I saw at least
two hundred secret landing strips which the Colombian Air Force knew
about", and later on he adds: " H o w is it possible that the Colombian
authorities didn't notice the building of these airports? Or was it that
they didn't take the necessary repressive steps at the time 13 ?"
It is a complex subject to study, but it seems that the transnational
corporation has the last word even when dealing with illegal merchan-
dise. Again we want to quote Marlene Dixon, when she says: "All
bourgeois states need the transnational, but the transnationals do not
need all bourgeois states... The bourgeois nation-state must survive as
best it can and it may prosper or not depending upon its relation to the
world economy and its accomodation to the demands of the transna-
tional with enterprises located within its borders 14 ."
The recent history of marihuana seems to fit the case particularly well
if we examine Jamaica as a nation-state which at present depends for its
survival to a great extent on its marihuana production; or the more
recently known case of the Nation-state of Belize with a marihuana
production estimated in 100 million dollars and one of its former
Cabinet Ministers arrested recently in Miami by Drug Enforcement

10
Marlene Dixon, "Dual Power: The rise of the Transnational Corporation and the
Nation State", Contemporary Marxism, San Francisco N o . 5, 1982, p. 139.
11 Here it is important to remember that this journal is part of what we have been

talking about. It was founded in 1974 dedicated to promote drugs and has a monthly
production of 400,000 issues. It belongs to a Trust which sets the line and is in charge of
the economic aspect. It is sold free of restrictions at any stand in the US.
12 "The Dope Taster", Interview, The Best of High Times, Vol. Ill, 1978-79, p. 91.
15
Jose Cervantes Angulo, La Noche de las Luciernagas, ob. cit., pp. 103-104.
14
Marlene Dixon, op. cit., p. 139.
316 Rosa del Olmo

Administration agents charged with smuggling $1.7 million dollars


worth of marihuana a month into the United States15.
In this moment of world crisis, it seems not to be so important
whether the merchandise is or is not legal, what is important is the
accelerated imposition of the vicious logic of transnational capital.

2. Drugs in the Second Phase of Present World Crisis:


The case of Bolivia's Cocaine
For the second phase of the present world crisis we have chosen to
examine the case of Bolivia, conscious that we are ignoring other
Nation-States such as Peru and Colombia, also very important for the
cocaine transnational, but to examine more than one case would make
this paper too long.
One fact seems important in this second phase of the crisis, a radical
change towards a marked protectionism of the US economy established
by the Reagan Administration. It seems that such a change is the result
of the increasing inflationary process of the seventies and perhaps due
also to the movement of capital among different regions which seemed to
give too much power to developing countries, at the time very important
debtors. It is very significative (and may have something to do with the
change in policy) that in the seventies the Latinamerican economy was
strengthened in relation to that of the States, having superior overall
growth rate which had its political effects in certain signs of diplomatic
independence". All these and a series of additional factors gave rise to
strict anti-inflationary measures forcing the economy activity through
(a) restrictive monetary policies with the resulting increase in interest
rates; (b) restriction of fiscal spending and (c) reduction of state expendi-
ture on social benefits17.
Our examination of the cocaine agro-industry fully established since
the middle of the seventies with its well developed consumers market,
leads us to relate it to the inflationary process. Moreover, we believe that
the huge new drug market, specially in the case of cocaine, has contri-
buted to aggravating the crisis. That could explain in part the exagger-
ated attention Reagan Administration's officers are giving at present to
this merchandise.

15
D. Frazier, "La marihuana desplazó al azúcar en Belice", El Nacional, Caracas, April
10,1985. Also UPI, "Former Belize Official charged with plot to smuggle marijuana", The
Daily Journal, Caracas, April 9, 1985.
" Grádela Chichilnisky & Richard Falk, "United States and Latin America: Conflict
and Conflict Resolution in a Changing Economy Environment", Seminario Internacional
"Impacto de la Crisis económica mundial sobre la paz y la seguridad de América Latina",
Caracas, March, 1985.
17
Sergio Aranda & Fernando Porta, op.cit., p. 17.
Drugs in Latin America 317

In this sense, it is important to remember that the Department of State


estimated for 1980 wholesale income for illegal drugs in the States in
sixty billion dollars, i.e. 15 billion above EXXON's sales (the biggest
transnational corporation), and retail sales within the American market
in approximately 80 billion dollars. That is 9 % of the total sales of all
merchandise in the world 18 .
By 1984, drug sales in the United States alone were estimated in 100
billion dollars. The NIC report from the National Narcotics Intelligence
Consumers Committees, published in August 1984, itself recognized
that the use of the principal drugs in the US had continued increasing.
For 1983, "marihuana consumption increased in 5 % , heroine, consi-
dered the most dangerous drug, increased only 1 % and cocaine, the
fashionable drug among the new middle class registered an increase of
12 % last year 19 ". On the other hand, according to data from the State
Department, production also increased in the last four years in the
world. Coca production has increased in 40 %, Cannabis near 20 % and
Poppy 5 0 % .
Despite the efforts of the DEA to destroy plantations and intercept
great quantities of drugs, the cocaine market is arriving at its saturation
point. The great increase in the offer has produced a violent reduction in
the price of a kilo of cocaine20. Thus, the kilo of cocaine, which was
worth $65,000 in Miami in 1980, fell to $20,000 in 1982, and to $15,000
in 1984 (See Chart l) 2 '. This was not the case in the world market,
however, where that same year of 1984, a kilo of cocaine was still worth
$50,000.
The disparity in the price level between the States and the rest of the
world suggests that at least during the short or medium term, the
difficulties of creating a rapid expansion of cocaine consumption outside
the States leads the corporation to remain there with a guaranteed
consumer market despite the sharp fall of prices.
Because of the vast proportion of domestic consumption in United
States and despite recent fall in prices, the second phase of the crisis has

18 "Mind-Benders: new menace", SOUTH, The Third World Magazine, London, Feb.
1984, p. 12.
" Ted Cordova Claudet, "Washington contra la droga", El National, Sept. 30, 1984.
20 It's interesting to point out here how drugs also have their stock market. The Journal

High Times for example, publishes each month a section called TRANS-HIGH MARKET
QUOTATIONS where it offers detailed prices of each drug in different countries next to a
column called "Trans-high market analysis". When the Journal's ten year anniversary in
June 1984, it published a section comparing prices with 1974 and complaining about the
increase in prices!
21 The price fall is also observed up drug-production countries. For example, in 1981, a

kilo of basic paste to elaborate cocaine was sold in Bolivia at $5,000 while in 1983, it was
worth only $700.
318 Rosa del Olmo

Chart 1
Value in Dollars per Kilo of Cocaine

City Year
1983 1984

Los Angeles $45 to $55 thousand/k $35 to $45 thousand/k


New York $35 to $45 thousand/k $30 to $35 thousand/k
Miami $25 to $30 thousand/k $15 to $32 thousand/k

(Source: N I C , Report, August, 1984)

been characterized by the creation of a vast financial market of additional


money - the cocadollars22 - which create a parallel economy beyond
official control and which apparently provokes serious difficulties for
the Government in the implementation of its restrictive financial policy.
That may be one of the reasons for the US Government's world war
against drugs; that war, however, is not against consumers today, but
rather against the centers of drug-production and their financial rep-
resentatives, particularly in Latin America.
It is very probable that pressures to sign extradiction treaties between
the US and the principal producing countries at present may have
something to do with arresting those "drug smugglers" which are not US
citizens, in order to confiscate their enormous fortunes usually depo-
sited in US Banks. Ironically, the very banking system which imposes
high interest rates in order to implement the restrictive economic policy,
is paying those same rates to drug magnates' deposits. At the same time,
the quantities involved are so enormous that in at least three cases
Latinamerican drug magnates have offered to cancel the external debt of
their respective countries just in order to be left alone. In the case of
Bolivia, Roberto Suarez Gomez, known as "The Cocaine King" offered
President Siles Suazo in June 1983, to give him a 2 billion dollars credit
to overcome the crisis and contribute to pay the country's debt. Money
which he has in US banks.
Could it be that the extradiction treaties are regarded as so important
to US Government because it takes seriously the potential threat that
some Latin American Government might accept such an offer, introduc-
ing serious difficulties in the World Financial System?

22 American tax officials estimate that each year they lose 9 billion dollar in money

laundrying of illegal sources. Cocaine seems to be one of the main causes of this situation.
Payments are made with cocaine and it seems that it substitutes gold in certain transactions.
We already hear of coca bank deposits as we used to hear previously of gold deposits. This
great flow of cocadollars goes to the tertiary sector of the economy and does not contribute
to national productive investment. That is, money is invested in hotels, luxurious cars,
Miami mansions, in buying bank shares, etc.
Drugs in Latin America 319

In this paper, we chose the case of Bolivia's cocaine in order to


illustrate not only the implications of the cocaine transnational corpora-
tion for the world financial system, but also to show the impact of the
transnational within a Nation-state and for this purpose Bolivia is the
most dramatic example for several reasons. First of all, because it is the
country with the highest rate of inflation in the world; it produces half of
the world's cocaine, it is the biggest exporter to the United States and has
a considerable number of inhabitants who live off the cultivation of coca;
because already in 1980 its main legal export product, tin, produced
annually 700 million dollars while coca paste produced annually 1600
million dollars while the Gross Domestic Product was 800 million;
because it is a country with an Association of Committees to develop
and defend Coca Colonizers and Producers; because its peasants go on
hunger strikes in defense of coca growth as happened in October 1984.
And finally, because it has suffered military coups openly financed with
cocadollars, i. e., by the cocaine transnational corporation, as occurred
the 17 of July of 1980 (costing 80 million dollars)23 coup headed, as it will
be remembered, by General Luis Garcia Mesa as President and Luis Arce
Gomez as Minister of Interior, the latter a nephew of the above
mentioned "Cocaine King", Roberto Suarez Gomez.
Bolivia is probably the best example of a Nation-State where drug
business occupies the first place in the country's currency flow, from the
peasant who receives 5 dollars for one thousand oranges but 80 dollars
for 23 kilos of coca leaves, to the State itself which received for example,
in 1984, one dollar for its production while "drug traffickers" received
one dollar and a half for cocaine production.
And is also a very good example to demonstrate the empire of the
transnational corporations in today's world and the incapacity of a
Nation-State to control their transactions, because it needs them for its
survival. The problem of Boliva's coca is not a problem of "corrupted
military men" as is usually said. In this sense, it is important to
remember how the open complicity of Garcia Meza's government with
drug traffic was internationally known, but it remained in power despite
that, more than two years. Also all the efforts of Siles Zuazo's govern-
ment and now of Paz Estenssoro seem useless because the cocaine
transnational corporation is not interested yet in abandoning the
Nation-state of Bolivia.
In short, the problem of Bolivia's cocaine - and as a matter of fact of
drugs in general today - is a problem of the world crisis which ends up
complicating the crisis itself.

23
Rafael Cartay, "Geopolitica de la Cocaina", Mérida, Universidad de los Andes, s/f.,
p.21.
Viktimisierung im Straßenverkehr in Japan*
KOICHI MIYAZAWA

In seinen Ausführungen auf der Vorbereitungstagung zum U N O -


Kongreß im Juli 1984 in Ottawa hat Lopez-Rey darauf hingewiesen, daß
die vorliegenden Kriminalstatistiken nur wenige das Opfer bzw. die
Viktimisierung betreffende Daten enthalten1. Insofern ist sein Vor-
schlag, viktimologische Maßnahmen auf eine der Wirklichkeit entspre-
chende Basis zu stellen, sehr begrüßenswert.
Hierzu muß ich jedoch bemerken, daß Japan in dieser Hinsicht eine
Ausnahme darstellt, da bei uns seit etwa mehr als zehn Jahren2 umfas-
sende Daten zur Viktimisierung in den verschiedenen Deliktsarten stati-
stisch erfaßt werden. Diese wissenschaftlich sehr interessanten Angaben
sind allerdings ausländischen Fachleuten kaum zugänglich, da sie aus-
schließlich in japanischer Sprache veröffentlicht sind3.

* Der vorliegende Text enthält die mit Fußnoten versehene Wiedergabe eines Referats,
das der Verfasser am 22.8.1985 auf der Viktimologentagung in Zagreb in verkürzter Form
vorgetragen hat. Die Vortragsform wurde beigehalten.
1 Vgl. dazu Lopez-Key, The Victim of Crime, präsentiert auf der interregionalen
vorbereitenden Tagung für den UNO-Kongreß über die Verhütung von Verbrechen und
die Behandlung der Straffälligen, Ottawa, 9.-13.Juli 1984, und den Report of the
Interregional Preparatory Meeting for the Seventh United Nations Congress on the
Prevention of Crime and the Treatment of Offenders on Topic III: „Victims of Crime",
Ottawa 9-13 July 1984. United Nations General Assembly, A / C O N F . 121/IPM/4. 10
September 1984, §§68, 69.
2 Im Laufe der Zeit wurden dabei immer mehr Bereiche der Viktimisierung erfaßt. Bis

zum Jahre 1967 liegen Daten über erlittene Schadenshöhe und Art bei Vermögensdelikten
(Raub, Erpressung, Diebstahl, Betrug und Unterschlagung) vor, vom Jahre 1968 an
kommen Daten über die Anzahl der Opfer von Delikten gegen die Person hinzu (Körper-
verletzung, vorsätzliche und fahrlässige Tötung). Seit 1972 sind Angaben über Alter,
Geschlecht und Beruf der Opfer in verschiedenen Deliktskategorien vertreten. Sehr ins
Detail gehende Daten, wie z. B. provozierendes Verhalten des Opfers bei Delikten gegen
die Person bzw. Art der Beziehung zwischen Täter und Opfer in einigen Deliktsarten sind
vom Jahre 1979 an vermerkt.
5 In Japan gibt es z. Zt. zwei in englischer Sprache herausgegebene Berichte über

Kriminalität und ihre Bekämpfung. Seit 1963 wird von der japanischen Regierung das
„Summary of the White Paper on Crime" veröffentlicht, in dem leider keine Angaben über
Opfer enthalten sind, während die National Police Agency seit 1982 das „White Paper on
Police (Excerpt)" herausgibt, das jedoch außer kurzen Angaben über das Entschädigungs-
system für Verbrechensopfer ebenfalls keine Opferdaten enthält.
322 Koichi Miyazawa

Bei der Darstellung dieser Daten muß ich mich jedoch aus Raumgrün-
den auf die Aufzählung einiger Hauptpunkte der japanischen Kriminal-
statistik, die viktimologisch relevant sind, beschränken. Diese sind:
1. Klassifizierung weggenommener Gegenstände nach Vermögensde-
likten4,
2. Schadenshöhe bei Diebstählen je nach Begehungsart 5 ,
3. Schadenshöhe bei Vermögensdelikten außer Diebstählen,
4. Klassifizierung der Opfer von Delikten gegen den Einzelnen ein-
schließlich erfolgsqualifizierter Delikte nach Geschlecht, Alter,
Beruf,
5. Verhalten bei der Straftat7 und Beziehung zum Täter 8 .
Mit Hilfe dieser Angaben lassen sich Tendenzen der Opferwerdung,
Täter-Opfer-Beziehungen und Viktimisierungsprozesse genauer er-
fassen.
Im folgenden möchte ich insbesondere auf die Opfer von Straßenver-
kehrsdelikten in Japan sowie deren Viktimisierung näher eingehen.
Die einschlägigen Daten stammen aus der Sonderstatistik „Statistik
des Straßenverkehrs", die vom Verkehrsdezernat des Polizeipräsidiums
herausgegeben wird 9 .
Die Ausgabe von 1985 enthält folgende Abschnitte:
1. Entwicklung und gegenwärtige Situation des Straßenverkehrs,
2. Entwicklung und gegenwärtige Situation der Verkehrsdelikte;
3. Verkehrsunfälle im Jahre 1984,
4. Kontrolle von Verkehrsverstößen ( z . B . Geschwindigkeitskon-
trollen),
5. Verkehrsregelung,

4 Es handelt sich hier um Deliktsarten wie Raub, Erpressung, Diebstahl, Betrug und

Unterschlagung sowie um die Angabe der weggenommenen Gegenstände wie Bargeld,


Uhren, Edelsteine, Kameras, Gemälde und Antiquitäten, Autos, Motorräder, Fahrräder,
Schecks und Wechsel, Kreditkarten usw. (insgesamt werden 25 Gegenstände aufgezählt).
5 Hier wird in zwei Typen unterteilt: Einbruch und andere Diebstähle. Der Einbruchs-

typus wird wieder in verschiedenen Kategorien unterteilt, wie z. B. Einbruch bei Abwe-
senheit bzw. Anwesenheit der Bewohner, in Hotels, in Behördengebäuden, Schulen und
verschiedenen Anstalten. Der andere Typus umfaßt Diebstähle an und aus Fahrzeugen und
andere Nicht-Einbruchsdelikte.
6 Umfaßt Delikte wie z . B . vorsätzliche und fahrlässige Tötung, Raub, Notzucht,

vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung, Erpressung, Nötigung, Diebstahl, Betrug,


Unterschlagung, Untreue, unzüchtige Handlungen usw.
7 Provokation und Einfluß von Alkoholgenuß.

8 Zwischenmenschliche Beziehungen: Verwandtschaft und Bekanntschaft (wie z. B. die

[der] Geliebte, Arbeitgeber bzw. Vorgesetzte, Kollegen bzw. Untergebene am Arbeits-


platz, Freunde und Bekannte).
' Seit 1965 liegt die Straßenverkehrsstatistik, herausgegeben vom Verkehrsdezernat des
Polizeipräsidiums vor. Hier ist ebenfalls im Laufe der Zeit eine Zunahme von Angaben
über das Opferwerden zu bemerken.
Viktimisierung im Straßenverkehr 323

6. Erteilung von Fahrerlaubnissen,


7. Internationale Vergleichsmaterialien 10 .

Die viktimologisch interessanten Daten behandelt der 3. Abschnitt,


der aus folgenden fünf Unterpunkten besteht:
a. Uberblick über Unfälle und Unfallumstände im Jahre 1984,
b. Todesfälle,
c. Umstände der Opferwerdung,
d. Unfälle von Kindern,
e. Verkehrsunfälle auf Schnellstraßen und Autobahnen.

Nachfolgend seien einige vielleicht aufschlußreiche Daten über ver-


schiedene Opferkategorien aufgeführt.

1. Fußgänger
Die Opferrate der verschiedenen Verkehrsteilnehmer ist im interna-
tionalen Vergleich recht unterschiedlich. Es dürfte z. B. kennzeichnend
für die Verkehrssituation in den verschiedenen Ländern sein, in welchem
Maße Fußgänger der Gefahr einer Viktimisierung ausgesetzt sind. Dies
läßt sich anhand der einschlägigen Vergleichsmaterialien aufzeigen. (Vgl.
hierzu Tabelle 1.

Bemerkenswert ist hier, daß sich die Rangordnung der angeführten


zehn Länder in den letzten Jahren leicht verändert hat. Wie Sie sehen,
steht Japan mit dem Anteil der Fußgänger an den Verkehrstoten nach
England an zweiter Stelle. In den drei Ländern, die über 10000 Ver-

Tab. 1: Verkehrstote und Anteil der Fußgänger (1984)

Land Verkehrstote Fußgänger Quote

England 5618 1986 35,4 %


Japan 9520 2 792 29,3 %
Norwegen 409 105 25,7%
Österreich 1756 374 21,3%
Bundesrepublik Deutschland 11732 2 489 21,2%
Italien 7 706 1567 20,3 %
Schweden 779 157 20,2 %
Belgien 2090 373 17,8%
Frankreich 11677 1879 16,1 %
USA 42 584 6924 16,0%
Niederlande 1710 259 15,1 %

10 Entnommen aus den statistischen Materialien der Regionalen Wirtschaftskommission

der Vereinten Nationen für Europa 1984.


324 Koichi Miyazawa

kehrstote registrierten, überwiegen vermutlich Autofahrer und ihre


Mitfahrer als Opfer.
Der Anteil der Fußgänger an den Verkehrstoten entwickelte sich in
den letzten zehn Jahren in Japan folgendermaßen. In den Jahren 1954
und 1955 betrug der Anteil der Fußgänger an den Verkehrstoten insge-
samt noch über 50 %. Danach verminderte er sich allmählich, und zwar
betrug er Ende der 50er Jahre 40 %. Im Jahre 1961 waren es dann noch
36% und zur Zeit liegt die Zahl, wie oben gezeigt, bei 30-34%. Die
Radfahrer machten hingegen in den Jahren 1955 bis 1959 etwa 18-19 %
der Verkehrstoten aus. Danach stieg ihr Anteil von 20 % im Jahre 1960
auf 40 % im Jahre 1969 an, und jetzt beträgt er etwas mehr als der der
Fußgänger, nämlich 35-36%.
Die Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge ist überall in Japan, sogar
auf den Autobahnen, auf 110 km/h begrenzt. Angesichts dieser Tatsache
ist nur ein verhältnismäßig niedriger Anteil von Autofahrern an den
Verkehrstoten zu erwarten.

a) Alters- und Geschlechtsstruktur


Wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist, ist die Viktimität der Männer
insgesamt etwa dreimal so hoch wie die der Frauen, obwohl der Anteil
der Frauen an der Bevölkerung etwas über dem der Männer liegt. Im
Vergleich dazu ist jedoch der Anteil der Frauen an den getöteten
Fußgängern ziemlich hoch. Er beträgt hier nämlich 41,8%. Insgesamt

Tab. 2: Bevölkerungsanzahl, Verkehrstote und Fußgänger in Japan (1984)

Bevölkerung (1000) Verkehrstote Fußgänger


Alter männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl.

unter 6 5 626 5 339 237 137 185 102


7-12 5966 5671 143 63 66 39
13-15 2973 2 821 95 24 4 1
16-19 3 554 3 384 1239 175 19 12
20-24 4088 3943 865 144 31 7
25-29 3987 3921 461 53 43 4
30-34 4 795 4 750 318 70 35 12
35-39 5085 5034 405 107 79 7
40-44 4651 4677 484 121 138 29
45-49 4079 4119 435 134 139 49
50-54 3 868 3 936 511 167 168 48
55-59 3311 3 521 453 152 132 54
60-64 2234 2946 300 169 82 88
65-69 1736 2297 302 156 87 116
über 70 3200 4 722 783 559 291 509
total 59155 61080 7031 2231 1499 1077
Viktimisierung im Straßenverkehr 325

betrachtet weisen die weiblichen Fußgänger zwar eine geringere Vikti-


mität auf als die männlichen; betrachtet man jedoch die Gruppe der über
60jährigen, so ist zu erkennen, daß die älteren Fußgängerinnen in
zunehmendem Maße stärker viktimisiert werden als die männlichen
Fußgänger der gleichen Altersgruppen. Das absolute Zahlenverhältnis
der beiden Geschlechter dürfte hier keine Rolle spielen, da bereits vom
40. Lebensjahr an die Anzahl der Frauen zu überwiegen beginnt. Bemer-
kenswert ist hier, daß die Verkehrsstatistiken seit dem Jahre 1973 diese
Tendenz in fast gleichem Ausmaß ausweisen.
Was die Entwicklung der Zahlen bei Unfällen und der dabei Getöte-
ten und Verletzten im Straßenverkehr anbetrifft, ist folgendes zu bemer-
ken: In den Jahren 1969 und 1970 waren die höchsten Werte zu
verzeichnen, und zwar wurden 720 888 Unfälle, 16 765 Tote und 981 096
Verletzte registriert. Danach verlief die Kurve abwärts, bis sie 1977 mit
460649 Unfällen, 1979 mit 8466 Toten und 1978 mit 594116 Verletzten
einen Tiefstand erreichte. Seitdem sind die Zahlen wieder allmählich
angestiegen.

b) Kinder und Jugendliche


Daten über Kinder und Jugendliche liegen für die Jahre 1966 bis 1984
vor. Insgesamt betrachtet hat sich die Zahl der Vorschulkinder (also
unter 6 Jahren) unter den Verkehrstoten in den letzten Jahren erheblich
vermindert. Gab es in dieser Altersgruppe zwischen 1966 und 1973 ca.
1100-1200 Verkehrstote jährlich, so beträgt ihre Zahl jetzt weniger als
400. Ähnlich verhält es sich mit der Zahl der Verletzten, die insbeson-
dere seit 1972 erheblich abgenommen hat.
Auch bei den Grundschülern zeigt sich eine Tendenz zur Verminde-
rung der einschlägigen Zahlen, während unter den Mittelschülern die
Zahl der Toten und Verletzten seit 1975 stetig zunimmt.
Für Kleinkinder und Grundschüler liegen einige viktimologisch inter-
essante Daten in bezug auf Wochentag, Tageszeit und Ort der Viktimi-
sierung vor.
Wochentag: Insgesamt betrachtet werden die meisten Verkehrstoten
am Sonnabend und am Sonntag, die wenigsten am Mittwoch regi-
striert".
Tageszeit: Die Viktimisierung im Straßenverkehr steht in einem
Zusammenhang mit Verhaltensmustern (behaviour patterns) des Opfers.
Bei Kleinkindern fällt die Hauptzeit der Viktimisierung in die Vormit-
tagsstunden zwischen 10 und 12 Uhr. Dies könnte mit auf mangelnde

11 Die durchschnittliche Anzahl von Verkehrstoten bei Kleinkindern und Jugendlichen

(1980-1984) beträgt: sonntags 123; montags 113; dienstags 107; mittwochs 97; donnerstags
101; freitags 116; samstags 139.
326 Koichi Miyazawa

Aufsicht zurückzuführen sein, da zu dieser Zeit Familienmitglieder etwa


mit der Vorbereitung des Mittagessens beschäftigt sind. Vorschulkinder
und Grundschüler werden hauptsächlich am Nachmittag zwischen 14
und 16 bzw. 16 und 18 Uhr viktimisiert. Je nach besuchter Institution
und Klassenstufe fällt der Nachhauseweg in einen dieser Zeiträume, so
daß diese Altersgruppen dann besonders dem Straßenverkehr ausgesetzt
sind.
Ort: Seit 1970 läßt sich anhand der einschlägigen Daten auch die
Entfernung zwischen der Wohnung und dem Unfallort feststellen.
Kleinkinder werden meist innerhalb eines Umkreises von 50 Metern um
ihre Wohnung betroffen. Vorschulkinder erleiden tödliche Unfälle meist
in einer Entfernung von 50 m bzw. 100-500 m von ihrem Zuhause, bei
den Grundschülern sind es zumeist 100-500 m.

2. Einfluß von Urbanisierung und Industrialisierung


Die einschlägigen Daten über Tote und Verletzte im Straßenverkehr
aus der Verkehrsstatistik lassen auch zum Einfluß von Urbanisierung
und Industrialisierung Vermutungen zu. Im Laufe der Industrialisierung
wurden in Japan ganz neue Industriegebiete geplant und fertiggestellt.
Die Statistiken für die davon betroffenen Großstädte und Präfekturen
spiegeln diese Entwicklung in wachsenden Viktimisierungstendenzen im
Straßenverkehr wider. Hierbei könnte eine Rolle spielen, daß, im
Gegensatz zur Praxis in den Vereinigten Staaten und den europäischen
Ländern, in Japan zuerst der Ausbau und die Neuanlage von Industrie-
gebieten und Fabrikbauten erfolgt, während der Straßenbau hinterher-
hinkt, was ein starkes Gefährdungsmoment für potentielle Opfer bedeu-
tet. So steht oft für schwere Transportfahrzeuge in den neuen Industrie-
gebieten kein adäquat ausgebautes Straßennetz zur Verfügung. Infolge-
dessen nimmt parallel zum Neu- und Ausbau von Industriegebieten und
Neuansiedlungen die Zahl der Unfälle, Toten und Verletzten in den
entsprechenden Gebieten erheblich zu. Nach Beendigung der Bauphase
geht ihre Anzahl wieder zurück und bliebt danach in etwa stabil12.

3. Schlußbemerkung
Der von mir gegebene kurze Uberblick über die Viktimisierung im
Straßenverkehr in Japan, wie sie sich in der Statistik darstellt, berechtigt

12
Aus den Daten über Verkehrstote und -verletzte kann man etwa ersehen, wieweit die
Entwicklung der betreffenden Industrie- bzw. Satellitengebiete durch Industrialisierung
und Urbanisierung vorangeschritten ist. Wie im Text erwähnt, verkehren auf schmalen
Straßen schwere Lastwagen und Zugmaschinen. In Neubaugebieten werden Einrichtungen
für Fußgänger wie z. B. Fußgängerzonen, Fußgängerbrücken und Geländer zum Schutz
von Fußgängern zuletzt, also erst nach beendigter Urbanisierung des gesamten Gebiets,
eingerichtet bzw. erstellt.
Viktimisierung im Straßenverkehr 327

abschließend zu der Feststellung: Obwohl sich aufgrund statistischer


Daten allein kein umfassendes Bild von Viktimisierungsprozessen auf-
stellen läßt, wäre man ohne solche Daten bei der Hypothesenbildung
ausschließlich auf Intuition oder Spekulation angewiesen. Viktimologi-
sche Betrachtungen sollten jedoch auf tatsächlichen Gegebenheiten
basieren, worauf sich nachfolgend soziologische Erklärungen der Hin-
tergründe, sozialpsychologische Interpretationen oder auch sozialpatho-
logische Analysen aufbauen lassen, um die tatsächlichen Viktimisie-
rungsprozesse wirklichkeitsgetreu nachzuzeichnen.
Bekanntlich hatte Hilde Kaufmann, an deren Beisetzung am
19. Januar 1981 ich in tiefer Trauer teilgenommen habe, die Absicht, ihr
Hauptwerk zur Kriminologie in drei Bänden zu verfassen13. Der Tod
hinderte sie daran, es zu vollenden. Da sie vorher die Viktimologie kaum
erwähnt hatte, hätte sie im ungeschrieben gebliebenen 2. Band dazu
Stellung genommen. Gerade zur Viktimologie von Verkehrsdelikten
liegen bisher nur sehr wenige Äußerungen vor14. Möge dieser Beitrag,
den ich dem Andenken an Hilde Kaufmann widme, zur wissenschaftli-
chen Diskussion der Viktimisierung auf dem Gebiete der Verkehrsde-
likte, also einer weltweit bedeutsamen Deliktsgruppe, anregen.

13 Hilde Kaufmann, Kriminologie I (Entstehungszusammenhänge des Verbrechens),


1971; dieselbe, Kriminologie III (Strafvollzug und Sozialtheraphie), 1977.
14 Zu diesem Thema sind folgende Schriften zu nennen: W.J. Alexander, The Case of
Accident Victims on the Roads, Afr. Med. J. Vol. 37 (1963), p. 554-555; W. Haddon Jr. et
al., A Controlled Investigation of the Characteristics of Adult Pedestrians Fatally Injured
by Motor Vehicles in Manhattan, J. Chron. Dis. Vol. 14-6 (1961), p. 655-678; Wolf
Middendorfs The Offender-Victim Relationship. As far as Traffic Offences are Concern-
ed, in: I. Drapkin/E. Viano, Victimology: A New Focus Vol.V (1977), p. 179-191; A. I.
Widiss, Accident Victims under no-fault Automobile Insurance: A Massachusetts Survey,
Iowa Law Review vol. 61-1 (1975), p. 1-72. Vgl. dazu auch Viktimologie: Eine deutsch-
und englischsprachige Bibliographie mit Einleitung, herausgegeben von Koichi Miya-
zawa / Hidemichi Morosawa / Tetsuo Abe, Hogaku kenkyu (Zeitschrift für Rechtswissen-
schaft der Keio Universität), Bd. 55, Nr. 3, 5 - 7 (1982).
Was läßt die vereinheitlichte Juristenausbildung
von der Kriminologie übrig?
WOLFGANG H E I N Z

I. Kriminologie in der Juristenausbildung -


„Durchbruch zur Wirklichkeit"1 in der strafrechtlichen Ausbildung
in den 70er Jahren
Die vor einem Jahrhundert getroffene Feststellung von H. Dernburg,
die „Frage der juristischen Studienordnung . . . (werde) seit Jahrzehnten
lebhaft verhandelt"2, ist unverändert aktuell. Seit es eine wissenschaftli-
che Juristenausbildung gibt, wurde sie für reformbedürftig gehalten3; sie
bildet „eines der ewigen Probleme der Rechtswissenschaft und der
Rechtspolitik"4. Dies überrascht nicht, geht es doch bei der Diskussion
um Strukturen und Inhalte der Ausbildung letztlich um die Funktion
von Recht und Rechtspraxis, um Stellung und Aufgabe der Juristen in
der Gesellschaft, damit also um zentrale gesellschaftspolitische Grund-
fragen der Gestaltung des Gemeinwesens.
Eine der in der wechselvollen Geschichte der Reformdiskussionen
bzw. der Reformen der letzten 100 Jahre immer wieder erhobenen
Forderungen war, die Kriminologie in das Ausbildungsangebot für
Juristen aufzunehmen.
Bereits in seiner Berliner Antrittsvorlesung über „Die Aufgaben und die Methode der
Strafrechtswissenschaft" vom Oktober 1899 hatte F. von Liszt5 eine entsprechende
Erweiterung des Aufgabengebiets der Strafrechtswissenschaft gefordert. 1914 meinte
A. Nußbaum, der für eine umfassende Einbeziehung der „Rechtstatsachen"' eingetreten
war, lediglich die „Gesamte Strafrechtswissenschaft" genüge als „einzige juristische
Disziplin" den modernen Anforderungen, „obschon auch hier der Unterricht den

' Tb. Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft.


Karlsruhe, 2. Aufl., 1959, 31.
2 H. Dernburg, Die Reform der juristischen Studienordnung. Berlin 1886, 3.
3 Vgl. G. Köhler, Zur Geschichte der juristischen Ausbildung in Deutschland. In: J Z
26, 1971, 768 ff.
4 H. Gerland, Die Problematik der gegenwärtigen Reformlage im Rechtsstudium an
den deutschen Hochschulen. Leipzig 1931, 5.
5 Abgedruckt in F. von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Berlin 1905, Band

2, 284 ff.
6 Vgl. A. Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung. Ihre Bedeutung für Wissenschaft
und Unterricht. Tübingen 1914.
330 Wolfgang Heinz

Fortschritten der Wissenschaft nicht durchweg gefolgt sein dürfte"7. Die strafrechtli-
chen Fachvertreter beurteilten dies noch skeptischer. 1950 stellte W. Sauer fest: „Es ist
unbegreiflich, daß die Juristen bisher so wenig die Bedeutung kriminologischer Arbei-
ten und Erkenntnisse für die Strafjustiz eingesehen haben... Auch ein theoretischer
Ausbau beider Teile des Strafrechts . . . sollte künftig mehr im Hinblick auf kriminolo-
gische Ziele erfolgen..., soll die Strafrechtswissenschaft nicht in wertlose logische
Konstruktionen oder unfruchtbare historische Rückblicke ausarten... Künftig ist das
gesamte Strafrecht, Gesetzgebung, Rechtsprechung, besonders Strafbemessung und
Vollzug, nicht zuletzt der Rechtsunterricht, kriminologisch anzulegen8." In seiner
Freiburger Antrittsvorlesung von 1955 forderte Th. Würtenberger die Strafrechtsdog-
matiker auf, „den ,Durchbruch zur Wirklichkeit' (zu) wagen"'. Er konstatierte:
„Allzulange hat sich die deutsche Strafrechtswissenschaft mit dogmatisch oft recht
unfruchtbaren Problemen, ja oft mit Spitzfindigkeiten aufgehalten, statt sich stärker
von den Impulsen zur Kriminalpolitik auf der gesicherten Grundlage kriminologischer
Forschung leiten zu lassen... Die offenkundige Unsicherheit im Methodischen sowie
die Brüchigkeit im Systematischen sind dafür mitverantwortlich, daß die Kriminologie
noch nicht in dem notwendigen Umfang zur festen Grundlage der modernen Straf-
rechtspflege und zur eigentlichen Domäne der Strafrechtswissenschaft geworden ist10."

Ungeachtet dieser Forderungen blieb es jedoch bis weit in die 60er


Jahre hinein bei der „Randsituation der Kriminologie" 11 . Kriminologi-
sche Lehrveranstaltungen führten ein Schattendasein in der Juristenaus-
bildung an deutschen Hochschulen 12 .
Eine Wende brachte erst die seit Anfang der 60er Jahre intensiv und
kontrovers geführte Reformdebatte 13 sowie die hiervon angeregte und in
wesentlichen Punkten beeinflußte Neufassung des Deutschen Richterge-
setzes im Jahr 1971 14 und die Neustrukturierung des Lehr- und Prü-

7 A. Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung. Ihre Bedeutung für Wissenschaft und


Unterricht. Tübingen 1914, 33.
8 W. Sauer, Kriminologie als reine und angewandte Wissenschaft. Ein System der

juristischen Tatsachenforschung. Berlin 1950, VII f.


9 Th. Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft.
Karlsruhe, 2. Aufl., 1959, 31.
10 Th. 'Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft.
Karlsruhe, 2. Aufl., 1959, 37 f.
" G.Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg, Karlsruhe 1980, 65 m . w . N .
12 Vgl. zuletzt G.Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung. In: Festschrift für
R.Wassermann. Neuwied 1985, 592ff; ferner die umfassende Darstellung bei H.U.
Störzer, Kriminologisch-kriminalistische Ausbildung an der Universität. Eine phänome-
nologische Bestandsaufnahme. In: E. Kube; H . U . Störzer; S.Brugger (Hrsg.): Wissen-
schaftliche Kriminalistik. Grundlagen und Perspektiven. Teilband 2. Theorie, Lehre und
Weiterentwicklung. BKA-Forschungsreihe, Bd. 16, Wiesbaden 1984, 340 ff.
13 Vgl. statt vieler H. Müller-Dietz, Das (Wahl-)Fach Strafvollzug in Lehre und Prü-
fung. In: H.Müller-Dietz; G.Kaiser; H.-J. Kerner: Einführung und Fälle zum Strafvoll-
zug. Heidelberg 1985, 8 ff; H.-D. Schwind, Zur Neuordnung der Juristenausbildung. In:
DRiZ 59, 1981, 441 ff; A. Rinken, Einführung in das juristische Studium. München 1977,
52ff m.w.N.
14 Vgl. das Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 10.9.1971

(BGBl. I S. 1557).
Juristenausbildung und Kriminologie 331

fungsstoffes in d e n landesrechtlichen A u s b i l d u n g s - u n d P r ü f u n g s o r d -
n u n g e n . N e b e n die traditionelle G r u n d f o r m der zweistufigen A u s b i l -
dung trat - zeitlich befristet 1 5 - die einstufige Ausbildung, d u r c h die
Reformerfahrungen für eine spätere bundeseinheitliche Uberprüfung
a u c h d e r z w e i s t u f i g e n J u r i s t e n a u s b i l d u n g g e w o n n e n w e r d e n sollten.
U n a b h ä n g i g v o n dieser auf einer Ä n d e r u n g des B u n d e s r e c h t s - E i n f ü -
g u n g d e r s o g . E x p e r i m e n t i e r k l a u s e l ( § 5 b A b s . 1 a. F . D R i G ) - b e r u h e n -
den R e f o r m w u r d e parallel h i e r z u d u r c h landesrechtliche R e g e l u n g e n
a u c h die zweistufige Ausbildung neu strukturiert m i t d e m Ziel, die
A u s b i l d u n g z u intensivieren, T h e o r i e u n d P r a x i s z u integrieren, andere
W i s s e n s c h a f t e n in das r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e S t u d i u m einzubeziehen
s o w i e d e n L e h r s t o f f n e u aufzuteilen. N a m e n t l i c h d u r c h die Differenzie-
rung des Lehr- und Prüfungsstoffes in Pflicht-, Wahl- und Grundlagen-
fächer w u r d e v e r s u c h t , das S t u d i u m d u r c h S t o f f a b s c h i c h t u n g z u entla-
sten, z u einer e x e m p l a r i s c h e n wissenschaftlichen V e r t i e f u n g z u f ü h r e n ,
die h i s t o r i s c h e n , p h i l o s o p h i s c h e n u n d sozialwissenschaftlichen Grund-
lagen des R e c h t s s t ä r k e r z u r G e l t u n g z u bringen s o w i e eine gewisse
fachliche Spezialisierung i m H i n b l i c k auf berufliche Interessen z u er-
möglichen16.

Diese Neustrukturierung ging zurück auf Empfehlungen für die Neuordnungen der
Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, die der Reformausschuß der Landesjustizver-
waltungen gemeinsam mit Vertretern der Innenministerkonferenz im Anschluß an die
Vorschläge des Juristischen Fakultätentages von 1968 (Münchener Beschlüsse) und
1969 (Mainzer Beschlüsse) erarbeitet hatte. Die Ländergesetzgeber übernahmen in den
neuen, nach 1970 erlassenen und im wesentlichen bis 1984 gültigen Ausbildungs- und
Prüfungsordnungen weitgehend diesen differenzierten Katalog17.

15 Die ursprünglich bis 15.9.1981 befristete Experimentierphase (vgl. Art. III §2 des

Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 10.9.1971 [BGBl. I S. 1557])
wurde bis 15.9.1984 verlängert (vgl. Art. I Nr. 2 b des Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Deutschen Richtergesetzes vom 16.8.1980 [BGB1.I S. 1451]).
16 Vgl. V.Lohse, Die Teilreform der Juristenausbildung. In: JuS 13, 1973, 123 ff;
A.Rinken, Einführung in das juristische Studium. München 1977, 10.
17 Rechtsgrundlagen der Juristenausbildung, insbesondere im Wahlfach „Kriminologie,

Jugendstrafrecht, Strafvollzug" in den Jahren zwischen 1971 und 1984:


Baden-Württemberg: Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen
Vorbereitungsdienst i. d. F. vom 18.5.1971 (GBl. S. 190), zuletzt geändert durch Gesetz
zur Änderung des Gesetzes über die Universitäten im Lande Baden-Württemberg vom
8.12.1981 (GBl. S.582). Verordnung der Landesregierung über die Ausbildung und
Prüfung der Juristen (JAPrO) vom 18.5.1971 (GBl. S. 198), zuletzt ersetzt durch Verord-
nung der Landesregierung über die Ausbildung und Prüfung der Juristen (JAPrO) v.
16.12.1981 (GBl. 1982 S.3).
Bayern: Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 18.3.1966
(GVB1. S. 120) i. d. F. der Verordnung zur Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsord-
nung für Juristen (JAPO) vom 5.4.1971 (GVB1. S. 159), zuletzt ersetzt durch Ausbil-
332 Wolfgang Heinz

Gegenstand der Ersten Juristischen Staatsprüfung sollte außer den


Pflichtfächern auch eine vom Studenten zu bestimmende Wahlfach-
gruppe sein. In allen Bundesländern wurden in der ersten Hälfte der 70er
Jahre im Rahmen der zweistufigen Ausbildung zwischen sieben und
zwölf Wahlfachgruppen eingeführt, darunter die Wahlfachgruppe „Kri-

dungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) in der Bekanntmachung vom 8. Dezem-
ber 1982 (GVB1. S. 1033).
Berlin: Gesetz über die juristische Ausbildung (JAG) vom 29.4.1966 (GVB1. S. 735) in
der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die juristische Ausbil-
dung vom 8.6.1971 (GVB1. S.994), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.7.1982 (GVB1.
S. 1097) und Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die juristische Ausbil-
dung vom 1.10.1982 (GVB1. S. 1893). Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen
QAO) vom 9.6.1972 (GVB1. S. 1004), zuletzt in der Fassung vom 11.10.1982 (GVB1.
S. 1897).
Bremen: Die einstufige Juristenausbildung in Bremen kennt die Unterscheidung zwi-
schen Pflicht- und Wahlfach nicht. Die einstufige Juristenausbildung wurde eingeführt
durch Bremisches Juristenausbildungsgesetz (BremJAG) vom 3.7.1973 (GBl. S. 177),
zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Bremischen Juristenausbildungsgeset-
zes vom 5.7.1976 (GBl. S. 155).
Hamburg: Juristenausbildungsordnung vom 10.7.1972 (GVB1. S. 133, 148, 151),
zuletzt geändert am 16.12.1982 (GVB1. S.386).
Hessen: Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz - JAG)
i.d.F. vom 12.3.1974 (GVB1.I S. 157) i.d.F. vom 20.1.1982 (GVB1.I S.34). Juristische
Ausbildungsordnung vom 10.9.1965 (GVB1.I S. 193) i.d.F. vom 14.9.1982 (GVB1.I
S. 196, 202).
Niedersachsen: Niedersächsische Ausbildungsordnung für Juristen vom 22.1.1971
(GVB1. S. 21) i. d. F. vom 21.1.1982 (GVB1. S. 18).
Nordrhein-Westfalen: 3. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die juristischen
Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz -
JAG) vom 16.6.1970 (GVB1. S.508) i.d.F. der Bekanntmachung vom 6.7.1972 (GVB1.
S. 200) und i. d. F. der Bekanntmachung vom 15.10.1982 (GVB1. S. 702). Verordnung zur
Durchführung des Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen
Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsordnung - JAO) i.d.F. der Bekanntmachung
vom 6.7.1972 (GVBl. S.206) und i.d.F. der Bekanntmachung vom 15.10.1982 (GVB1.
S. 708).
Rheinland-Pfalz: Landesgesetz über die juristische Ausbildung vom 15.7.1970 (GVBl.
S. 229), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18.12.1981 (GVBl. S.331). Landesverordnung
zur Durchführung des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (Juristische Ausbil-
dungs- und Prüfungsordnung - JAPO) vom 21.12.1972 (GVBl. 1973 S.2), zuletzt
geändert durch Verordnung vom 30.12.1981 (GVBl. 1982 S. 27).
Saarland: Gesetz Nr. 703 über die Befähigung zum Richteramt und zum höheren
Verwaltungsdienst vom 9.2.1960 (Amtsbl. S. 209). Ausbildungs- und Prüfungsordnung
zur Erlangung der Befähigung zum Richteramt und zum höheren Verwaltungsdienst
(Ausbildungsordnung für Juristen - JAO) vom 28.3.1960 (Amtsbl. S.241) i.d.F. der
Bekanntmachung vom 22.9.1972 (Amtsbl. S.692) und i.d.F. der Bekanntmachung vom
22.1.1982 (Amtsbl. S. 109).
Schleswig-Holstein: Landesverordnung über die Ausbildung der Juristen (JÄO) vom
30.12.1970 (GVBl. 1971 S.21), zuletzt gfeändert durch die Landesverordnung vom
22.12.1981 (GVBl. 1982 S. 7).
Juristenausbildung und Kriminologie 333

minologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzugdie in Hamburg, Hessen


und im Saarland um weitere Fächer erweitert wurde".
Im Zusammenhang mit diesen Ausbildungsreformen wurden im
Bereich der Kriminologie neue Lehrstühle geschaffen und das krimino-
logische Lehrangebot vermehrt. Die Reform gab zugleich wichtige
Impulse für die Organisation und Institutionalisierung der Kriminologie
nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung. Anfang der 60er
Jahre waren lediglich in Heidelberg, Köln und Tübingen rein kriminolo-
gische Lehrstühle vorhanden. Inzwischen wird man davon ausgehen
können, daß an sämtlichen deutschen Universitäten die Kriminologie in

18 Zur Wahlfachgruppe „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" vgl. H. Blei,

WFG Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. In: H.-W. Bussmann (Hrsg.): JA-


Sonderheft 11. Wahlfachgruppen, 2. Aufl., 1977, 48 ff; H.Giehring, Kriminologie in der
restaurierten Juristenausbildung. In: Kriminologisches Journal 17, 1985, 307ff; H. Göp-
pinger, Möglichkeiten und Grenzen kriminologischer Ausbildung der Juristen. In: Fest-
schrift für K.Peters. Tübingen 1974, 519ff; H.Göppinger, Kriminologie. München,
4. Aufl., 1980, 36 ff; J.Hellmer, Uberblick über die Wahlfachmaterie Kriminologie. In:
R.Maurach; E.Behrendt (Hrsg.): Wahlfach Examinatorium. WEX 2. Kriminologie.
Karlsruhe 1973; R. Herren, Modellvorstellungen für das Wahlfach „Kriminologie, Jugend-
strafrecht, Strafvollzug" im künftigen juristischen Hochschulunterricht. In: JZ 26, 1971,
455ff; W.Heinz, Ausbildung und Einsatzmöglichkeit von Kriminologen. In: Kriminolo-
gisches Bulletin 10, 1984, 3ff; H.Jung, W F G : Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zug. In: JuS 14, 1974, 64ff; H.Jung (Hrsg.), Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugend-
strafrecht, Strafvollzug. München 1975; G.Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbil-
dung. In: Festschrift für R.Wassermann. Neuwied 1985, 594ff; G.Kaiser; H.Schöch,
Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. München, 2. Aufl., 1982; A.Kreuzer, Zur
Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" im juristischen Stu-
dium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 526 ff; R. Maurach; E.Behrendt (Hrsg.):
Wahlfach Examinatorium. W E X 2. Kriminologie. Karlsruhe 1973; H. Müller-Dietz, Das
(Wahl-)Fach Strafvollzug in Lehre und Prüfung. In: H.Müller-Dietz; G.Kaiser; H.-J.
Kerner: Einführung und Fälle zum Strafvollzug. Heidelberg 1985, 8 ff; H.J. Schneider,
Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. München, 2. Aufl., 1982; H. Schöch, Krimi-
nologie in der Juristenausbildung. Anspruch und Wirklichkeit. In: Schriftenreihe der
Polizei-Führungsakademie, 1981, 53; H. U. Störzer, Kriminologisch-kriminalistische Aus-
bildung an der Universität. Eine phänomenologische Bestandsaufnahme. In: E. Kube;
H . U . Störzer; S. Brugger (Hrsg.): Wissenschaftliche Kriminalistik. Grundlagen und
Perspektiven. Teilband 2. Theorie, Lehre und Weiterentwicklung. BKA-Forschungsreihe,
Bd. 16, Wiesbaden 1984, 346 ff; F. Streng, Anmerkungen zur Situation und Perspektive der
kriminologischen Juristenausbildung. In: Kriminologisches Journal 11, 1979, 143 ff.
" Auf die Fächer „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" beschränkt wurde die
Wahlfachgruppe in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. In Hamburg kamen noch hinzu
„Kriminalpsychologie, gerichtliche Medizin". Im Saarland umfaßte die Wahlfachgruppe
„Kriminologie, Jugendstrafrecht und Jugendwohlfahrtsrecht, Strafvollzugskunde", in
Hessen umfaßte die Wahlfachgruppe „Jugendstrafrecht und Jugendwohlfahrtsrecht, Kri-
minologie, Strafvollzug, gerichtliche Psychiatrie, Strafprozeßrecht, soweit nicht bereits
Pflichtfach, Geschichte der Strafrechtspflege" (vgl. Bundesregierung: Bericht über die
Juristenausbildung in den Ländern, BT-Drs. 7/3604, 88 ff).
334 Wolfgang Heinz

irgendeiner F o r m innerhalb der juristischen F a k u l t ä t e n v e r t r e t e n ist 20 .


E n t s p r e c h e n d d e n d u r c h die n e u e n J u s t i z a u s b i l d u n g s - u n d P r ü f u n g s o r d -
n u n g e n geschaffenen A n f o r d e r u n g e n hat sich a u c h das k r i m i n o l o g i s c h e
L e h r a n g e b o t vervielfacht 2 1 .

Diese Institutionalisierung der Kriminologie in Lehre und Forschung ist u. a. ablesbar


an der Entwicklung der Ausbildungsliteratur, insbesondere der kriminologischen Lehr-
bücher. Zu den bis 1970 vorliegenden Lehrbüchern von F. Bauer, F. Exner, A. Mergen,
E. Mezger, B. Niggemeyer / H. Gallus / H. Hoeveler, W. Sauer sowie von F. Seelig I
H. Bellavic sind in den 70er Jahren die Vorlesungsskripten von A.-E. Brauneck, die
Lehrbücher, Einführungen bzw. Grundrisse von A.-E. Brauneck, U. Eisenberg,
H. Göppinger, R. Herren, G. Kaiser, H. Kaufmann, R. Lange, H. Mannheim, H.J.
Schneider sowie von B.-R. Sonnen getreten.
In den 80er Jahren kamen neben Neuauflagen völlig neu hinzu die Lehrbücher von
J.Jäger, J. Kürzinger, K. Lüderssen und H.-D. Schwind. Ergänzt wurden diese Lehrbü-
cher durch spezielle Literatur zur Repetition und zur Prüfungsvorbereitung. Ein
ähnliches Bild zeigt sich übrigens auch auf den Gebieten von Jugendstrafrecht und
Strafvollzugskunde.
Diese Entwicklung in der Lehre hatte Rückwirkungen auf die Forschung. Diese sind
ablesbar an der Fülle kriminologischer Monographien, insbesondere der Dissertationen
und Aufsätze sowie der Vielfalt kriminologischer Reihen und Fachzeitschriften. Biblio-
graphien und Dokumentationen vermögen die anschwellende Literaturflut nur noch
unvollständig zu erschließen. Die Existenz kriminologischer Lexika deutet auf das
steigende Bedürfnis hin, den Wissens- und Meinungsstand über Stichwörter abrufbar
zur Verfügung zu haben.

D a das G e w i c h t eines F a c h e s a u c h d u r c h dessen Prüfungsrelevanz


b e s t i m m t w i r d , w a r e n die u n t e r s c h i e d l i c h e n Prüfungskonzeptionen in
den B u n d e s l ä n d e r n v o n strategischer B e d e u t u n g für die Studienintensität
i m W a h l f a c h . D i e g e w ä h l t e W a h l f a c h g r u p p e w a r n ä m l i c h n i c h t in allen
B u n d e s l ä n d e r n o b l i g a t o r i s c h e r Bestandteil der schriftlichen Prüfung im
Ersten Juristischen Staatsexamen11:

20 Vgl. zuletzt H. U. Störzer, Kriminologisch-kriminalistische Ausbildung an der Uni-

versität. Eine phänomenologische Bestandsaufnahme. In: E. Kube; H . U . Störzer;


S. Brugger (Hrsg.): Wissenschaftliche Kriminalistik. Grundlagen und Perspektiven. Teil-
band 2. Theorie, Lehre und Weiterentwicklung. BKA-Forschungsreihe, Bd. 16, Wiesba-
den 1984, 360 ff m . w . N .
21 Vgl. W. Heinz, Ausbildung und Einsatzmöglichkeit von Kriminologen. In: Krimino-

logisches Bulletin 10, 1984, 16ff; G.Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg,
Karlsruhe 1980, 65 f; G. Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung. In: Festschrift für
R.Wassermann. Neuwied 1985, 596f; H.U. Störzer, Kriminologisch-kriminalistische
Ausbildung an der Universität. Eine phänomenologische Bestandsaufnahme. In: E. Kube;
H . U . Störzer; S.Brugger (Hrsg.): Wissenschaftliche Kriminalistik. Grundlagen und
Perspektiven. Teilband 2. Theorie, Lehre und Weiterentwicklung. BKA-Forschungsreihe,
Bd. 16, Wiesbaden 1984, 360 ff mit jeweils weiteren Nachweisen.
22 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-

zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 530.
Juristenausbildung und Kriminologie 335

In den sogenannten Süd-Modellen (Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz


und im Saarland) bestand der schriftliche Teil der Prüfung aus acht Aufsichtsarbeiten,
hiervon war eine obligatorisch der Wahlfachgruppe zu entnehmen.
In den Nord-Modellen dagegen (Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachen, Nord-
rhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein) waren drei bzw. vier Klausuren zu fertigen
sowie eine Hausarbeit. Hinsichtlich der Prüfungsrelevanz der Wahlfachgruppen
bestanden hierbei mehrere Varianten.
In Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-
Holstein waren ausschließlich die Pflichtfächer Gegenstand der drei bzw. vier Auf-
sichtsarbeiten. Lediglich in Berlin lag das Schwergewicht bei der vierten Klausur in den
Fächern der Wahlfachgruppe des Prüflings.
Die Hausarbeit konnte in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein dem Stoff
der Wahlfachgruppe entnommen werden, zumindest dort ihren Schwerpunkt haben. In
Hamburg und in Nordrhein-Westfalen dagegen konnte die Wahlfachgruppe immer nur
in Verbindung mit dem Pflichtfach zum Gegenstand der Hausarbeit gemacht werden.
In Berlin konnte auch die Hausarbeit im Wahlfach geschrieben werden, sofern geeig-
nete Aufgaben in hinreichender Zahl zur Verfügung standen.

D i e mündliche Prüfung im Rahmen der Ersten Juristischen Prüfung


e r s t r e c k t e sich auf die P f l i c h t f ä c h e r u n d die W a h l f a c h g r u p p e . L e d i g l i c h
in B e r l i n u n d in N i e d e r s a c h s e n k o n n t e v o n d e r P r ü f u n g in den W a h l f ä -
c h e r n abgesehen w e r d e n , w e n n die A u f g a b e für die H a u s a r b e i t der
Wahlfachgruppe entnommen war.
E n t s p r e c h e n d u n t e r s c h i e d l i c h w a r der A n t e i l der W a h l f a c h p r ü f u n g
a m E x a m e n s e r g e b n i s . W ä h r e n d in d e n L ä n d e r n des S ü d - M o d e l l s d e r
A n t e i l bei ca. 1 7 % lag, s c h w a n k t e er in d e n s o g . „ H a u s a r b e i t s l ä n d e r n "
zwischen 3 % und höchstens 40 % " .
I n d e n seit d e n 7 0 e r J a h r e n a u f g r u n d b u n d e s g e s e t z l i c h e r Zulassung 2 4
in i n s g e s a m t sieben B u n d e s l ä n d e r n 2 5 e r p r o b t e n M o d e l l e n der einstufigen
Juristenausbildung w u r d e n andere W e g e der I n t e g r a t i o n der Sozialwis-
senschaften b e s c h r i t t e n , u n d z w a r teils d u r c h ein integriertes sozialwis-
senschaftliches Eingangsstudium, teils durch Berücksichtigung der

23 A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug"


im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 532; vgl. ferner
H. Schöch, Kriminologie in der Juristenausbildung. Anspruch und Wirklichkeit. In:
Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie, 1981, 54, der den Prüfungsanteil in den
Hausarbeitsländern wegen des insgesamt relativ seltenen Falls einer Hausarbeit aus dem
Wahlfach deutlich geringer einschätzt.
24 Vgl. § 5 b DRiG, eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Deutschen Richter-

gesetzes vom 10.9.1971 (BGBl. I S. 1557) i. d. F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Deutschen Richtergesetzes vom 16. 8.1980 (BGBl. I S. 1451).
25 Baden-Württemberg (Konstanz seit 1974), Bayern (Augsburg seit 1971, Bayreuth

seit 1977), Bremen (seit 1971), Hamburg (seit 1974), Niedersachsen (Hannover seit 1974),
Nordrhein-Westfalen (Bielefeld seit 1973) und Rheinland-Pfalz (Trier seit 1975). Vgl.
hierzu die Einzeldarstellung in: Bundesregierung: Bericht über die Juristenausbildung in
den Ländern. BT-Drs. 7/3604, 4 ff; ferner die Ubersicht in der Begründung zum Entwurf
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes (BR-Drs. 311/82)
vom 27.8.1982, S.9.
336 Wolfgang Heinz

außerjuristischen Disziplinen als Informations- und Verständnishilfen


und durch intensive Einbeziehung in eine Vertiefungs- oder Schwer-
punktausbildung. In sämtlichen Modellen der einstufigen Juristenausbil-
dung wurden die in der herkömmlichen Ausbildung zu der Wahlfach-
gruppe „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" gehörenden
Fächer gelehrt. Im Unterschied zum Wahlfachgruppensystem war hier-
bei jedoch die Kriminologie im Grundstudium regelmäßig Lehrfach für
alle Studenten26.
Die Ausbildungsrelevanz des Faches Kriminologie war dementspre-
chend in den zweistufigen Ausbildungsgängen weitaus geringer als in
den Modellen der einstufigen Juristenausbildung. Das Wahlfachgrup-
pensystem führte notwendigerweise dazu, daß die Inhalte der Wahlfä-
cher in den Pflichtfächern nicht mehr vermittelt und die nicht studierten
Wahlfächer „abgewählt" wurden. In der zweistufigen Ausbildung dürfte
vom Ausbildungsangebot im Bereich der Kriminologie nur eine Minder-
heit der studierenden Juristen erreicht werden. Es dürften nicht mehr als
2 0 % gewesen sein27, von denen allenfalls 1 0 % ernsthaft Kriminologie
studierten. Nach der Referendarprüfung und im Zweiten Juristischen
Staatsexamen spielte die Wahlfachausbildung keine Rolle mehr. Demge-
genüber richtete sich die Kriminologie in den einstufigen Ausbildungs-
gängen an alle Jurastudenten, ein an die Praxisausbildung sich anschlie-
ßendes Schwerpunktstudium diente der Ergänzung und der Vertiefung
auch kriminologischer Kenntnisse.

II. Die Diskussion über eine Vereinheitlichung


der Juristenausbildung oder die „Wahlfachgruppen
auf der Abschußliste?" 28
Durch die Befristung der Experimentierphase, die das Deutsche Rich-
tergesetz für die Erprobung der einphasigen Ausbildungsmodelle vorge-
sehen hatte, brachte sich der Gesetzgeber mit der Reform selbst in
Zugzwang.
In dieser Reformdiskussion bestand im wesentlichen Einigkeit dar-
über, daß die Ausbildung wieder vereinheitlicht werden und Ausbil-

26 Vgl. hierzu m. w. N. W. Heinz, Ausbildung und Einsatzmöglichkeit von Kriminolo-

gen. In: Kriminologisches Bulletin 10, 1984, 21 ff; A.Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs
„Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" im juristischen Studium und Referendarex-
amen. In: JuS 19, 1979,-527.
27 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-

zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 529; F. Streng,
Anmerkungen zur Situation und Perspektive der kriminologischen Juristenausbildung. In:
Kriminologisches Journal 11, 1979, 144.
28 P.Schlosser, Wahlfachgruppen auf der Abschußliste? In: Jura 3, 1981, 335.
Juristenausbildung und Kriminologie 337

dungsziel der zur Wahrnehmung aller volljuristischen Berufe befähigte


Jurist (Einheitsjurist) sein sollte29. Einigkeit bestand ferner darüber, daß
die Grundlagen- und Bezugsfächer, einschließlich der Sozialwissen-
schaften, auch weiterhin in der Juristenausbildung ihren festen Platz
haben müßten 30 . Einigkeit bestand schließlich auch darüber, daß insbe-
sondere die Fächer Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug
auch künftig Gegenstand der Lehre in der Juristenausbildung sein
sollten. Heftig umstritten war dagegen u. a. die Neuordnung der Pflicht-
fächer, insbesondere die Frage der Trennung des Ausbildungs- und
Prüfungsstoffes in Pflicht- und Wahlfächer, sowie die Frage der Vertie-
fung oder Schwerpunktbildung 31 . Unterschiedliche Auffassungen be-
standen schließlich hinsichtlich der nicht zu den Kernfächern zählenden
Gebiete, vor allem darüber, was die Wahl- bzw. Abwahlmöglichkeit,
die Intensitätsgrade der Wissensvermittlung sowie die Prüfungsrelevanz
angeht.
Ausgangspunkt der Kritik am Wahlfachgruppensystem war die Ein-
sicht, daß der Zuschnitt der Wahlfachgruppen unbefriedigend ist,
namentlich Zufälligkeiten und Unausgeglichenheiten aufweist. Uber
diese Kritik hinaus betrachteten einige Länder das mit dem Wahlfachsy-
stem verfolgte Konzept als eine „verhängnisvolle Fehlentwicklung" 32 ,
die korrigiert werden müsse. Dieser „Gegenwind", dem sich auch die
Kriminologie ausgesetzt sah, war in einigen der Entwürfe deutlich
spürbar.
Im Zwischenbericht des Ausschusses der Justizministerkonferenz zur Reform der
Juristenausbildung wurde ein „Horrorkatalog" der Fächer vorgelegt, die der Student
vollständig, in den Grundzügen oder im Uberblick kennen und können müsse. Hierbei
wurde die bisherige Wahlfachgruppe „Kriminologie..aufgeteilt auf die Gruppen

29 Vgl. H. Seiter, Juristenausbildung zwischen Tradition und Reform. Konstanz 1982,1.


30 Hierzu hat der Juristische Fakultätentag 1981 in einem Beschluß festgehalten: „Die
Rechtswissenschaft versteht sich nicht als rein hermeneutische Geisteswissenschaft. Sie hat
vielmehr die soziale Wirklichkeit zu ihrem pragmatischen Gegenstand. Das gebietet die
Berücksichtigung der Ergebnisse der verschiedensten Humanwissenschaften in der For-
schung ebenso wie in der Lehre."
31 Vgl. hierzu zusammenfassend R.Scheyhing, Zehn Jahre Wahlfachsystem. Überle-
gungen zum Jubiläum der Münchener und Mainzer Beschlüsse zur Studienreform. In: JZ
36,1981, 262 ff; Wassermann, Zur Neuordnung der Pflichtfächer der ersten Juristischen
Staatsprüfung in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen. In: J Z 38, 1983, 788 ff.
Insbesondere zu dem Reformentwurf des Landes Baden-Württemberg vgl. J. Frowein;
H.-J. Kerner; P. Ulmer, Baden-Württembergischer Reformentwurf über die Ausbildung
der Juristen - ein Schritt zurück. In: J Z 38, 1983, 792 ff; F. Rittner, Ein Irrweg für die
Juristenausbildung. Bemerkungen zum baden-württembergischen Reformprojekt. In: JZ
38, 1983, 786 ff; R.Wahl, Kritik am Entwurf zur Änderung der Juristenausbildung in
Baden-Württemberg. In: Baden-württembergische Verwaltungsblätter 1984, 43 ff.
32 Entwurf der JAPrO Baden-Württemberg 1983, Begründung, S.9.
338 Wolfgang Heinz

„(14.) Grundzüge des Jugendstrafrechts mit den Bezügen zum Jugendhilferecht",


„(15.) Das Strafverfahrensrecht unter Berücksichtigung des Ordnungswidrigkeiten-
rechts, des Strafvollstreckungs- und des Gnadenrechts, des Strafvollzuges und der
Kriminologie", „(19.) Forensische Psychiatrie und Psychologie in Zusammenhang mit
den jeweiligen Verfahrensarten"33.
Ein Entwurf des Bayerischen Justizministeriums aus dem Jahr 1981 sah 26 einzelne
Wahlfächer vor - Strafvollzug, Jugendstrafrecht, Kriminologie bildeten jeweils ein
Wahlfach - , die freilich allesamt nicht mehr hätten prüfungsrelevant sein sollen34.
Der Referentenentwurf einer Neufassung der baden-württembergischen Verord-
nung über die Ausbildung und Prüfung der Juristen von 1983 sah als Wahlfachgruppe
vor „Rechtsvergleichung, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Ordnungswidrigkeiten-
recht, Strafvollzugsrecht". Die Wahlfachgruppen sollten nicht mehr prüfungsrelevant
sein. Zulassungsvoraussetzung sollte sein die erfolgreiche Teilnahme „an einem Seminar
oder einer Übung aus der gewählten Wahlfachgruppe"35.
Im Entwurf des 9. Gesetzes zur Änderung des Juristenausbildungsgesetzes von
Nordrhein-Westfalen, der Mitte 1984 zur Diskussion gestellt worden war, war als eine
von fünf Wahlfachgruppen vorgesehen „Rechtspflege (Zivil- und Strafrechtspflege)".
Zusätzlich zu den sachlich zuzuordnenden Pflichtfächern sollte diese Wahlfachgruppe
enthalten: „Familienrecht, Erbrecht, Handelsrecht, Gesellschaftsrecht, Wertpapier-
recht, Internationales Privatrecht, Wettbewerbsrecht, Kartellrecht, Kriminologie,
Strafvollzug, Jugendstrafrecht."

D i e s e D i s k u s s i o n fand ihren N i e d e r s c h l a g in einer F ü l l e v o n M o d e l -


len, in d e n e n die unterschiedlichsten r e c h t s - u n d justizpolitischen Ziele,
z u m Teil aber a u c h sehr spezifische B e r u f s i n t e r e s s e n ihren N i e d e r s c h l a g
fanden. F ü r die D e b a t t e v o n Ziel u n d Inhalt der A u s b i l d u n g b e s t i m m e n d
w a r e n v o r allem die A u s b i l d u n g s m o d e l l e des D e u t s c h e n R i c h t e r b u n d e s
u n d des D e u t s c h e n A n w a l t v e r e i n s , die V o r s c h l ä g e des R e f o r m a u s s c h u s -
ses der J u s t i z m i n i s t e r k o n f e r e n z z u r R e f o r m der J u r i s t e n a u s b i l d u n g , die
H e i d e l b e r g e r E m p f e h l u n g e n , das M o d e l l des J u r i s t i s c h e n F a k u l t ä t e n t a -
ges s o w i e die E n t s c h l i e ß u n g der P r ä s i d e n t e n der L a n d e s j u s t i z p r ü f u n g s -
ämter v o m Mai 1 9 8 3 " .
D i e E n t w ü r f e z u r N o v e l l i e r u n g des D e u t s c h e n R i c h t e r g e s e t z e s 3 7 m u ß -

33 Vgl. H. Seiter; R. Stürner, Zum Stand der Diskussion um die Reform der Juristenaus-

bildung. In: JuS 22, 1982, 311.


34 Vgl. P.Schlosser, Wahlfachgruppen auf der Abschußliste? In: Jura 3, 1981, 335.
35 Mit unter dem Eindruck des massiven Protestes der juristischen Fakultäten des

Landes und der Hochschullehrer für Kriminologie wurde dieser Entwurf abgemildert. In
der JAPO 1984 war in der Wahlfachgruppe jedenfalls Rechtsvergleichung nicht mehr
enthalten. Ferner wurden die Zulassungsvoraussetzungen dahingehend modifiziert, daß
nicht jedes beliebige Seminar, sondern nur ein Seminar mit dem Schwerpunkt in der
Wahlfachgruppe genügt. Schließlich wurde in die Begründung aufgenommen, daß zu den
Allgemeinen Lehren des Strafrechts auch kriminologische Grundlagen gehören.
36 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung im Hinblick sowohl auf die Berücksichti-

gung von Kriminologie als auch hinsichtlich der Gliederung des Ausbildungsganges bei
W.Heinz, Ausbildung und Einsatzmöglichkeit von Kriminologen. In: Kriminologisches
Bulletin 10, 1984, 27 ff.
37 Vgl. hierzu die abgewogene Darstellung und Würdigung bei H. Seiter; R. Stürner,

Zum Stand der Diskussion um die Reform der Juristenausbildung. In: JuS 22,1982, 310 ff;
Juristenausbildung und Kriminologie 339

ten zwar die Festlegung von Details der Ausbildungsinhalte, der Fächer-
zuschnitte und der Prüfungsinhalte dem Landesrecht überlassen, aber
dennoch enthielten sie einige wichtige Direktiven, die über das bisherige
Bundesrecht hinausgingen. Diese betrafen nicht nur die Ausbildungsin-
halte38, sondern vor allem die Entscheidung über den Weg, auf dem die
allseits gewünschte wissenschaftliche Vertiefung erreicht werden sollte.
Der von der sozial-liberalen Koalition getragene Regierungsentwurf von 1982 glie-
derte „aufgrund der positiven Erfahrungen mit einstufigen Ausbildungsgängen"" die
Ausbildung in eine Grundausbildung und eine Schwerpunktausbildung. Das Wahlfach-
gruppensystem wurde abgelehnt: „Nach allgemeiner Auffassung ist dieser Versuch
einer Schwerpunktausbildung nicht gelungen. Gründe sind das Ausscheiden von
Grundlagenfächern aus dem Pflichtstoff, der zu enge Zuschnitt der Wahlfachgruppen,
die fehlende Beziehung zur Praxis und die geringe - in den Ländern zudem unterschied-
liche - Bedeutung der Wahlfachgruppen für das erste Examen40."
Der von den CDU/CSU-regierten Ländern eingebrachte Entwurf des Bundesrates
von 1983 behielt dagegen die „bewährte Gliederung der Ausbildung"41 bei. Vorrang
sollte eine „breite rechtswissenschaftliche Ausbildung" haben. Eine „zusätzliche wis-
senschaftliche Vertiefung" sollte jedoch für alle angehenden Juristen verbindlich sein.
Sie sollte als „integrierte Vertiefung"42 im Rahmen eines Wahlfachsystems während des
Studiums und in der Wahlstation der Referendare erfolgen.
Dieser Gedanke wurde von dem von der CDU/CSU und FDP getragenen Regie-
rungsentwurf von 1984 weitergeführt. In der Begründung wurde zunächst hervorgeho-
ben, „dem Ziel des Einheitsjuristen (müsse) die Breite der Ausbildung in Studium und
Vorbereitungsdienst entsprechen"43. Betont wurde allerdings auch: „Ein wesentliches
Ziel der Bemühungen um eine Neuordnung der Juristenausbildung ist die wissenschaft-
liche Vertiefung44." „Dem Gedanken der Vertiefung wird in Studium und Vorberei-
tungsdienst Rechnung getragen: Im Studium hat sich der Student Wahlfächern zu
widmen, die der Ergänzung des Studiums und der Vertiefung der mit ihnen zusammen-
hängenden Pflichtfächer dienen. Innerhalb des Vorbereitungsdienstes haben vor allem
die Wahlstationen, die zu Schwerpunktbereichen zusammenzufassen sind, die Aufgabe
der Vertiefung45."

H. Seiter; R. Stürner, Die Reform der Juristenausbildung nach dem Entwurf des Bundesju-
stizministeriums und dem CDU/CSU-Entwurf. In: JuS 22, 1982, 545 ff.
31 Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 27. 8.1982 formulierte zum Ausbil-

dungsinhalt: „Die Ausbildung erstreckt sich auch auf die philosophischen und geschichtli-
chen Grundlagen sowie auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen des
Rechts" (vgl. §5 II S. 3 [BR-Drs. 311/82]). Der schließlich Gesetz gewordene Entwurf der
Bundesregierung vom 12.3.1984 formulierte zurückhaltender, Gegenstand des Studiums
seien die Kernfächer „einschließlich der rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren
philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen" (vgl. §5 a l l S. 1 [BT-
Drs. 10/1108]).
39 BR-Drs. 311/82, S . l .

40 BR-Drs. 311/82, Begründung, S. 16.

41 BT-Drs. 9/2376, S. 1.

42 BT-Drs. 9/2376, Begründung, S.8.

43 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S. 8.

44 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S.9.

45 BT-Drs. 10/1108, S. 1 f.
340 Wolfgang Heinz

Das am 16.9.1984 in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des


Deutschen Richtergesetzes vom 25.7.1984 (BGBl. I S. 995), das auf dem
Regierungsentwurf 1984 beruht, vereinheitlichte wieder die Juristenaus-
bildung in Deutschland. Die einstufigen Modelle sind zum Auslaufen
bestimmt. Die in ihnen entwickelten Konzepte der Einbeziehung der
Sozialwissenschaften wurden nur zum kleinsten Teil übernommen.
Praktisch wurde die Experimentierphase zwischen 1971 und 1984 unge-
schehen gemacht. Für verbindlich erklärt wurde eine modifizierte zwei-
phasige Ausbildung. Aber immerhin wird die 1969 nach jahrzehntelan-
ger Reformdiskussion erfolgte Abschichtung des Lehr- und Prüfungs-
stoffes in Pflicht- und Wahlfächer nicht ebenfalls revidiert, denn in der
Frage der exemplarischen wissenschaftlichen Vertiefung folgt das D R i G
der Wahlfachgruppenlösung.
Zum Ausbildungsinhalt bestimmt nunmehr § 5 a II D R i G : „Gegen-
stand des Studiums sind vor allem die Kernfächer Bürgerliches Recht,
Strafrecht, Öffentliches Recht und Verfahrensrecht einschließlich der
rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren philosophischen, ge-
schichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen. Der Student widmet
sich darüber hinaus Wahlfächern, die der Ergänzung des Studiums und
der Vertiefung der mit ihnen zusammenhängenden Pflichtfächer die-
nen." Im Hinblick auf die Wahlfächer ist damit erstmals festgelegt, daß
die Ausbildungsordnungen der Länder Wahlfächer ausweisen müssen.
Ferner sind die Länder durch § 5 b I Nr. 5 D R i G gehalten, die Wahlsta-
tionen zu „Schwerpunktbereichen" zusammenzufassen. Uber Zahl, Art
und Inhalte der Wahlfächer trifft das D R i G freilich ebensowenig eine
Aussage wie über die Prüfungsrelevanz der Wahlfächer. Von einer
ausdrücklichen Regelung über die Prüfungsgegenstände wurde deshalb
abgesehen, weil „nach dem Grundsatz, daß Ausbildungs- und Prüfungs-
gegenstände übereinstimmen müssen, die Regelungen des Entwurfs über
die Ausbildungsgegenstände in Studium und Vorbereitungsdienst aus-
reichen" 46 . In der Begründung wurde ferner festgehalten: „Aus dem
Grundsatz ,Was gelehrt wird, wird geprüft' folgt, daß für die erste
Prüfung die Gegenstände des Studiums maßgeblich sind und daß die
zweite Prüfung durch die Gesamtheit der Ausbildung bestimmt wird 47 ."
Der näheren Ausgestaltung durch die Länder waren insoweit vor
allem überlassen die Festlegung
- des Zuschnittes der Pflichtfächer und der Wahlfachgruppen,
- des Zuschnittes der Schwerpunktbereiche und
- von Zahl und Art der Prüfungsleistungen.

46 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S. 10.


47 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S. 12.
Juristenausbildung und Kriminologie 341

III. Kriminologie als Lehr- und Prüfungsstoff


in den neuen Justizausbildungsordnungen der Länder
1. Die Regelungen über die Lehre im Kernfach „Strafrecht" und im
Wahlfach „Kriminologie ..."in den neuen Justizausbildungsordnungen
Die Länder haben in ihren zwischenzeitlich erlassenen Ausbildungs-
und Prüfungsordnungen 48 diesen bundesrechtlichen Änderungen Rech-
nung zu tragen versucht. Daß das Ergebnis alles andere als einheitlich
ist, ist angesichts der konträren Auffassungen, die insbesondere in den
Fragen der Einbeziehung der Sozialwissenschaften und des Vorrangs der
„breiten rechtswissenschaftlichen Ausbildung" vor einer Schwerpunkt-
ausbildung und vor einer exemplarischen wissenschaftlichen Vertiefung
bestanden, nicht überraschend.
48
Rechtsgrundlagen der vereinheitlichten Juristenausbildung in den Ländern:
Baden-Württemberg: Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen
Vorbereitungsdienst (JAG) i.d. F. vom 18.5.1971 (GBl. S. 190), zuletzt geändert durch
Gesetz vom 8.12.1981 (GBl. S.582). Verordnung der Landesregierung über die Ausbil-
dung und Prüfung der Juristen (JAPrO) vom 9. 7.1984 (GBl. S. 480).
Bayern: Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) i. d. F. der Bekannt-
machung vom 8.12.1982 (GVB1. S. 1034), zuletzt geändert durch Verordnung zur Ände-
rung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen vom 6. 8.1985 (GVB1. S. 322).
Berlin: Gesetz über die juristische Ausbildung (JAG) i.d.F. vom 26.11.1984 (GVB1.
S. 1684). Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAO) vom 26.11.1984 (GVBl.
S. 1688).
Bremen: Gesetz über die erste juristische Staatsprüfung und den juristischen Vorberei-
tungsdienst (JAPG) vom 24.9.1985 (GBl. S. 161).
Hamburg: Gesetz zur Neuordnung der Juristenausbildung vom 12.3.1986 (GVB1.
S.49).
Hessen: Gesetz über die juristische Ausbildung (Juristenausbildungsgesetz - JAG)
i. d. F. des Dritten Gesetzes zur Änderung des Juristenausbildungsgesetzes vom
29.10.1985 (GVBl. I S. 175). Verordnung zur Ausführung des Juristenausbildungsgesetzes
(Juristische Ausbildungsordnung - JAO) i. d. F. vom 30.1.1986 (GVBl. I S. 66).
Niedersachsen: Niedersächsische Ausbildungsordnung für Juristen (NJAO) vom
24.7.1985 (GVBl. S.215).
Nordrhein-Westfalen: Gesetz über die juristischen Staatsprüfungen und den juristi-
schen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz - JAG) i. d. F. der Bekanntmachung
vom 16.7.1985 (GVBl. S. 522). Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die
juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst (Juristenausbil-
dungsordnung - JAO) i. d. F. der Bekanntmachung vom 16.7.1985 (GVBl. S. 529).
Rheinland-Pfalz: Landesgesetz über die juristische Ausbildung vom 15.7.1970 (GVBl.
S. 229) i. d. F. des Dritten Landesgesetzes zur Änderung von Vorschriften über die
juristische Ausbildung vom 6.9.1985 (GVBl. S. 209). Landesverordnung zur Durchfüh-
rung des Landesgesetzes über die juristische Ausbildung (Juristische Ausbildungs- und
Prüfungsordnung - JAPO) vom 16.10.1985 (GVBl. S.227).
Saarland: Ausbildungs- und Prüfungsordnung zur Erlangung der Befähigung zum
Richteramt und zum höheren Verwaltungsdienst (Ausbildungsordnung für Juristen -
JAO) i.d.F. vom 10.9.1985 (Amtsbl. S.978).
Schleswig-Holstein: Landesverordnung über die Ausbildung der Juristen (JAO) i. d. F.
vom 2.8.1985 (GVBl. S.237).
342 Wolfgang Heinz

Die bundesrechtliche Vorgabe, daß Gegenstand des Studiums die „Kernfächer Bür-
gerliches Recht, Strafrecht, Öffentliches Recht und Verfahrensrecht einschließlich der
rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren philosophischen, geschichtlichen und
gesellschaftlichen Grundlagen" ( § 5 a l l S. 1 DRiG) sein müssen, hat im Bereich des
Kern- bzw. Pflichtfachs „Strafrecht" unterschiedlichen Ausdruck gefunden. Die
Spannweite reicht von „Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuches" (Hessen, Niedersach-
sen) über den „Allgemeinen Teil des Strafrechts" (Bayern, Hamburg, Saarland und
Schleswig-Holstein) bis zu den „Allgemeinen Lehren des Strafrechts" (Baden-Würt-
temberg 4 ', Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz). Hier wird die
Zukunft zeigen müssen, ob und inwieweit (vor allem) die Fachvertreter des Strafrechts
bzw. die Juristen-Kriminologen diese Möglichkeit nutzen, Kriminologie in die straf-
rechtliche Vorlesung zu integrieren 50 . Die Befunde der Untersuchung von H. Giehring
und F. Schumann51 erlauben jedenfalls insoweit eine günstige Prognose.
Erhebliche Unterschiede bestehen ferner hinsichtlich der bei den Kernfächern zu
berücksichtigenden „gesellschaftlichen Grundlagen". Die vergleichbare „Bezüge"-
Klausel der alten Ausbildungsordnungen hatte allerdings, soweit ersichtlich, keine
große praktische Bedeutung erlangt. Vom Strafrecht her gesehen, wäre dies dennoch
eine wichtige Möglichkeit, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in die Lehre und
Prüfung des Straf- und des Strafverfahrensrechts einzubeziehen. Dem steht nicht
entgegen, daß in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen als eigenständige
Pflichtfächer „Grundlagen" 52 bzw. „Methoden und Grundlagen des Rechts" 53 ausge-

49
In der Begründung zur J A P r O 1984 heißt es hierzu, es „wird davon ausgegangen,
daß zu den Allgemeinen Lehren des Strafrechts auch kriminologische Grundlagen gehö-
ren, weshalb diese nicht besonders erwähnt sind" (Begründung, S. 14). Dementsprechend
hat z. B. die Juristische Fakultät der Universität Konstanz in ihren neuen Studienplan vom
Mai 1984 als strafrechtliches Pflichtfach eine 2stündige Vorlesung „Sanktionen und krimi-
nologische Grundlagen" aufgenommen.
50
Daß die in § 4 Abs. 2 BadWürttJAPrO enthaltene Rahmenvorgabe, „die Methoden
und Erkenntnisse benachbarter Wissenschaften einzubeziehen", gültig ist und insbeson-
dere keinen Verstoß gegen die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 G G verbürgte Wissenschaftsfreiheit
darstellt, hat der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof unlängst in einem
Normenkontrollverfahren festgestellt (vgl. Beschluß vom 3.4.1985, veröffentlicht in:
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 4, 1985, 667). Dem Lehrenden stehe insoweit
allerdings die „Kompetenz-Kompetenz" zu.
51
H. Giehring; F. Schumann, Kurzbericht über Ergebnisse einer Befragung der Profes-
soren/innen für Strafrecht und/oder Kriminologie an den rechtswissenschaftlichen Fakul-
täten der Bundesrepublik Deutschland zur Einbeziehung sozialwissenschaftlicher
Erkenntnisse und Theorien in die universitäre Ausbildung im Strafrecht und Strafverfah-
rensrecht. Unveröff. Mskr., Mai 1985, S. 17: „...lassen die Ergebnisse doch den Schluß
zu, daß die Einbeziehung erfahrungswissenschaftlicher Inhalte in die universitäre Vermitt-
lung des Straf- und Strafverfahrensrechts für einen erheblichen Teil der Hochschullehrer
ein wichtiges Anliegen ist und daß dafür auch ein gewisser Umfang der Unterrichtszeit
reserviert wird".
52
In Baden-Württemberg umfaßt z. B. das Pflichtfach „Grundlagen": „Grundzüge der
Rechts- und Verfassungsgeschichte, Grundzüge der Rechtsphilosophie und der Rechtsso-
ziologie, Allgemeine Staatslehre, Wirtschaftswissenschaft für Juristen" (vgl. § 5 III N r . 4
JAPrO). Zulassungsvoraussetzung zum ersten juristischen Staatsexamen ist die erfolgrei-
che Teilnahme an „zwei Lehrveranstaltungen in Rechts- und Verfassungsgeschichte,
Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie oder Allgemeiner Staatslehre" (§ 8 II N r . 1 a JAPrO).
In der schriftlichen Prüfung können sich die Aufgaben auch auf die „Grundlagen"
erstrecken (§ 12 III S. 2 JAPrO).
Juristenausbildung und Kriminologie 343

wiesen wurden, denen namentlich die Rechtssoziologie bzw. deren Grundzüge zuge-
ordnet wurden. Ebenfalls als Teil der Pflichtfächer ausgewiesen wurde die „Rechtsso-
ziologie" in Berlin54 sowie die „Grundzüge der Rechtssoziologie" in Hessen 55 und in
Niedersachsen 5 '. Ansonsten wird jedoch Rechtssoziologie als sog. Grundlagenfach, das
neben den Pflicht- und Wahlfächern besteht 57 , oder als Teil einer besonderen Wahlfach-
gruppe 58 ausgewiesen. Denn auch im Zusammenhang mit der Rechtssoziologie, insbe-
sondere aber mit der in Nordrhein-Westfalen ausgewiesenen Rechtstatsachenforschung
ergeben sich vielfältige Ansätze zur Vermittlung kriminologischer Befunde.
Erhebliche Änderungen hat der Wahlfachgruppen-Katalog gegenüber dem Stand der
70er Jahre erfahren. Die Zahl der Wahlfachgruppen wurde teils verringert, teils
erweitert.
Anzahl der Wahlfachgruppen J A P r O a. F. JAPrO n.F.
Baden-Württemberg 8 45'
Bayern 7 7
Berlin 9 11
Bremen 5
Hamburg 11 15
Hessen 9 10
Niedersachsen 9 10
Nordrhein-Westfalen 7 6
Rheinland-Pfalz 10 8
Saarland 7 9
Schleswig-Holstein 8 12

53
In Nordrhein-Westfalen werden zu diesem Pflichtfach gezählt: „die Grundzüge der
Rechtstheorie, der Rechtssoziologie, der Rechtstatsachenforschung sowie der Rechtsphi-
losophie und der Rechts- und Verfassungsgeschichte" (vgl. § 3 II Nr. 6 JAG). In Nord-
rhein-Westfalen setzt die Zulassung zur Prüfung u. a. voraus, daß der Bewerber „an einer
dafür geeigneten Lehrveranstaltung - insbesondere an einem Seminar - teilgenommen hat,
in der geschichtliche, philosophische oder gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen des
Rechts und die Methodik seiner Anwendung exemplarisch behandelt worden sind, und
darüber einen Leistungsnachweis, der mindestens eine schriftliche Leistung umfassen muß,
erbracht hat" (§81 Nr. 5 JAG). Uber diese Zulassungsvoraussetzungen können auch die
Grundzüge der Kriminologie relevant werden, weil, so das Beschlußprotokoll des Justiz-
ausschusses des Landtages von Nordrhein-Westfalen, „die Rechtstatsachenforschung, die
als neuer Ausbildungsgegenstand in den Katalog aufgenommen wurde, auch die Krimino-
logie umfaßt" (Beschlußempfehlung und Bericht des Justizausschusses NRW, LT-Drs. 9/
4081, S. 28).
54
§5 Nr. 1 JAO.
55
§ 7 II Nr. 1 JAG.
54
§8 N r . 2 N J A O .
57
In Rheinland-Pfalz ist Rechtssoziologie Bestandteil eines von zwei Grundlagenfä-
chern (§ 1 IV Nr. 2 JAPO). Zulassungsvoraussetzung zur ersten juristischen Staatsprüfung
ist die erfolgreiche Teilnahme an einem Seminar oder einer gleichwertigen Lehrveranstal-
tung in einem Grundlagenfach (§2 1 Nr. 3 c JAPO). In der schriftlichen Prüfung findet
keine selbständige Prüfung der Grundlagenfächer statt. In der mündlichen Prüfung ist die
Prüfung der Grundlagenfächer Teil der Prüfung der Pflicht- und Wahlfächer ( § 5 1 JAPO).
58
Rechtssoziologie ist Teil eines Wahlfaches in Bayern (§ 5 III Nr. 1 JAPO), Hamburg
(§5 III N r . 14 JAG), im Saarland (§11 III Nr. 2 JAO) und in Schleswig-Holstein (§3 III
Nr. 12 JAO).
59
Die Wahlfachgruppen 3 a und 3 b wurden als jeweils selbständiges Wahlfach gezählt.
344 Wolfgang Heinz

Auf die „klassische" Wahlfachgruppe beschränkt blieben „Kriminologie, Jugend-


strafrecht, Strafvollzug" in Bayern,, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, im Saar-
land40 und in Schleswig-Holstein. Ergänzt wurden diese Fächer dagegen um Strafpro-
zeßrecht in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg, um Ordnungswidrigkeiten-
recht in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sowie um Wirtschaftsstrafrecht
(Nordrhein-Westfalen). Den im DRiG betonten Gedanken des Zusammenhangs mit
den Pflichtfächern haben Nordrhein-Westfalen" und - am stärksten - Hamburg"
betont, das in den Wahlschwerpunkt VIII (Kriminalität) u. a. „materielles Strafrecht
ohne die Beschränkung des Pflichtfachkataloges" aufgenommen hat. Die ohnedies
stofflich überfrachtete Wahlfachgruppe „Kriminologie..." wurde damit in etlichen
Bundesländern noch mehr überladen, was nicht nur die Tendenz weiter verstärken
wird, die empirischen Gebiete, insbesondere die Kriminologie, zugunsten der (eher)
dogmatisch handhabbaren - Jugendstrafrecht, Strafvollzug - zu vernachlässigen, son-
dern der Verwirklichung des Ziels der „wissenschaftlichen Vertiefung" entgegensteht.

Strafrechtliche Pflicht- und Wahlfächer in der vereinheitlichten Juristenausbildung


Land Pflichtfacha Wahlfach
Baden- Die allgemeinen Lehren des Straf- Kriminologie, Jugendstraf-
Württemherg rechts und der besondere Teil des recht, Ordnungswidrigkeiten-
(§5 III Nr. 2, Strafgesetzbuchs recht, Strafvollzugsrecht
IV Nr. 2 JAPrO)
Bayern Der Allgemeine Teil des Straf- Strafvollzug, Jugendstrafrecht,
(§5 II Nr. 4, rechts und der besondere Teil des Kriminologie
III Nr. 3 JAPO) Strafgesetzbuches
Berlin Die allgemeinen Lehren des Straf- Kriminologie, Strafvollzug,
(§§5 Nr. 6, 6 I rechts und der besondere Teil des Jugendstrafrecht
Nr. 8 J A O ) Strafgesetzbuchs
Bremen (Kernfach Kriminalwissen- (Schwerpunkt):
(§14 II Nr. 2, schaften/Strafrecht) : Kriminalwissenschaften/Straf-
IV JAPG) - allgemeine Lehren des Straf- recht"
rechts und Straftatbestände des
Strafgesetzbuches und Neben-
strafrechts, die für die Rechts-
praxis bedeutsam sind,
- Sanktionen nach Strafgesetz-
buch und verfahrensrechtliche
Erledigung,
- für die genannten Rechtsmate-
rien erhebliche Erkenntnisse der
Kriminologie

60 Jugendwohlfahrtsrecht war im Saarland von allem Anfang an Gegenstand der Wahl-

fachgruppe.
" „Zu den Wahlfachgruppen gehören 1. die der jeweiligen Gruppe sachlich zuzuord-
nenden Pflichtfächer; 2. folgende weitere Rechtsgebiete . . . b) in der Wahlfachgruppe
Strafrechtspflege . . . Kriminologie . . . " ( § 3 IV JAG).
62 §5 III Nr. 8 JAG.
63 Die Auflistung der Pflichtfächer muß aus Raumgründen auf das materielle Strafrecht

beschränkt werden.
Juristenausbildung und Kriminologie 345

Land Pflichtfach° Wahlfach


Hamburg a) Der Allgemeine Teil des Straf- (Wahlschwerpunkt Krimina-
(§5 II Nr. 4, rechts einschließlich des Rechts lität):
III Nr. 8 JAG) der Straftatfolgen, a) Materielles Strafrecht ohne
b) Die für die Rechtspraxis und die Beschränkung des Pflicht-
das wissenschaftliche Verständnis fachkataloges,
bedeutsamen Vorschriften des b) Jugendstrafrecht mit den Be-
besonderen Teils des Strafgesetz- zügen zum Jugendhilferecht,
buches, c) Strafverfahrensrecht,
c) Die Grundzüge der weiteren d) Strafvollzugsrecht,
Vorschriften des besonderen Teils e) für die genannten Rechtsma-
des Strafgesetzbuches, des mate- terien erhebliche kriminologi-
riellen Jugendstrafrechts und des sche und kriminalgeschichtliche
Ordnungswidrigkeitenrechts Erkenntnisse
Hessen Der Allgemeine und der besonde- Jugendstrafrecht, Kriminolo-
(§7 11 Nr. 5, re Teil des Strafgesetzbuches gie, Strafvollzug, Strafprozeß-
III Nr. 10 JAG) recht
Niedersachsen Der Allgemeine und der besonde- Kriminologie, Strafvollzug,
(§§8 Nr. 6, 9 re Teil des Strafgesetzbuches Jugendstrafrecht65
Nr. 4 NJAO)
Nordrhein- Die allgemeinen Lehren und der (Strafrechtspflege) die der je-
Westfalen besondere Teil des Strafgesetz- weiligen Gruppe zuzuordnen-
(§3 II Nr. 2, III buchs den Pflichtfächer, Kriminolo-
Nr. 2 b JAG) gie, Wirtschaftsstrafrecht,
Strafprozeßrecht, Jugendstraf-
recht, Recht der Ordnungswi-
drigkeiten, Strafvollzug
Rheinland- Die allgemeinen Lehren des Straf- Kriminologie, Jugendstraf-
Pfalz rechts und der besondere Teil des recht, Strafvollzugsrecht
(§1 III Nr. 4, Strafgesetzbuches einschließlich
IV Nr. 5 JAPO) der Grundzüge des Sanktionen-
rechts
Saarland Der Allgemeine Teil des Straf- Kriminologie, Jugendstrafrecht
(§11 II Nr. 4, rechts und der besondere Teil des und Jugendwohlfahrtsrecht,
III Nr. 3 JAO) Strafgesetzbuchs Strafvollzugskunde
Schleswig- Die Allgemeinen Lehren des Straf- Kriminologie, Strafvollzug,
Holstein rechts und der besondere Teil des Jugendstrafrecht
(§3 II Nr. 4, Strafgesetzbuchs
III Nr. 4 JAO)

64 Die inhaltliche Ausfüllung bleibt der nach § 14 IV JAPG noch zu erlassenden

Verordnung über die Schwerpunkte in der Juristenausbildung und der ersten juristischen
Staatsprüfung (SpVO) vorbehalten.
65 Eine Ausnahme gilt für den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Osna-

brück. Dort tritt an die Stelle dieser Wahlfachgruppe gem. §60 IV Nr. 6 NJAO die
Wahlfachgruppe „Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminologie". Vgl. H.Achen-
bach, Wirtschaftsstrafrechtliches Wahlfachstudium an der Universität Osnabrück. In: JuS
24, 1984, 728 ff.
346 Wolfgang Heinz

Die vom Bundesgesetzgeber beabsichtigte Vereinheitlichung der Juri-


stenausbildung ist demnach, nimmt man als Maßstab die Differenzie-
rung in ein- und zweistufige Ausbildungsgänge, zwar gelungen, die
Unterschiede sind aber, werden die zweistufigen Ausbildungsgänge
untereinander verglichen, im Strafrecht größer geworden. Gleichwohl
blieb der Kernbereich der bisherigen 'Wahlfachgruppe „Kriminologie.
erhalten und ist wegen des Zusammenhanges mit dem als Kernfach
festgelegten Strafrecht festgeschrieben.

2. Auswirkungen der Neustrukturierung der Wahlfachgruppen


auf die Lehre
Die Änderungen des DRiG wirken sich gem. Art. 3 des Dritten
Änderungsgesetzes erst ab dem WS 1985/86 aus. Zwar haben einige
Bundesländer von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch Landes-
recht die Änderung bereits auf das WS 1984/85 bzw. das SS 1985
vorzuziehen. Aber dennoch ist es jetzt noch zu früh, die Auswirkungen
auf die Lehre im einzelnen abzuschätzen, zumal die entsprechenden
Studienordnungen noch nicht in allen Fakultäten erarbeitet wurden.
Soweit eine Beurteilung zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglich ist,
werden - erwartungsgemäß - erhebliche Änderungen in einigen der
bisherigen einstufigen Ausbildungsgänge erfolgen. In Bremen z. B. wird
einerseits das kriminalwissenschaftliche Grundstudium ausgeweitet, in
dem Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug in problemorien-
tierten Kursen - Schutz von Leben und Gesundheit, Schutz von Eigen-
tum und Vermögen, Theorie und Praxis der Strafjustiz, Schutz kollekti-
ver Rechtsgüter - integriert sind. Andererseits wird das Projektstudium,
das hervorragende Möglichkeiten einer Integration sozialwissenschaftli-
cher Fächer bot, auf einen Minimalbestand reduziert, nämlich von 30 auf
künftig etwa 8 Semesterwochenstunden.
Wie eine vom Verf. Ende November 1985 durchgeführte Umfrage bei
allen Juristischen Fakultäten" ergab, wird in den bisherigen zweistufigen
Ausbildungsgängen das kriminologische Lehrangebot auch künftig im
wesentlichen unverändert angeboten werden. Die bestehenden großen
Unterschiede in Umfang, Art und Inhalt der Lehrveranstaltungen wird
es auch künftig geben67. Kriminologie wird, wie schon in der Vergangen-
heit, zumeist als 2- oder 3stündige Vorlesung angeboten werden; an
einigen Universitäten wird ein weiterer 2- oder 3stündiger Kurs Krimi-
nologie II oder Kriminologie der Einzeldelikte gelesen. Hinzu kommen

" Der Verf. dankt allen Kollegen, die hier namentlich nicht aufgeführt werden können,
für die ihm erteilten Auskünfte.
67 Vgl. A. Kreuzer, Zur Lage des Wahlfachs „Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvoll-
zug" im juristischen Studium und Referendarexamen. In: JuS 19, 1979, 528.
Juristenausbildung und Kriminologie 347

kriminologische Kolloquien, Seminare, Examinatorien, Übungen usw.


Lediglich aus Baden-Württemberg werden bereits jetzt eingetretene
negative Entwicklungen berichtet:
Im WS 1985/86 wurde in Freiburg eine deutliche Abnahme der Besucher von Vor-
lesungen in den Fächern der Wahlfachgruppe beobachtet, ohne daß andere Gründe als
die geänderte J A P r O ersichtlich wären.
In Heidelberg wurden die Vorlesungen in Kriminologie deutlich reduziert, und
zwar von bisher sechs Stunden auf zwei Stunden.

3. Prüfungsrelevanz des Wahlfachs „Kriminologie..."


in der Ersten Juristischen Staatsprüfung
Die bereits bisher bestehenden Unterschiede zwischen Süd- und
Nord-Modellen in der Ausgestaltung der schriftlichen Prüfung bestehen
weiter fort. Den Klausur-Ländern (Baden-Württemberg, Bayern,
Rheinland-Pfalz und Saarland) stehen weiterhin die Hausarbeitsländer
gegenüber. Hinsichtlich der Prüfungsrelevanz der Wahlfachgruppen
haben sich jedoch einige bedeutsame Änderungen ergeben:
Von der in den Klausurländern geltenden Regelung, eine der Aufsichtsarbeiten aus
der Wahlfachgruppe zu schreiben, macht nunmehr Baden-Württemberg eine Aus-
nahme. Gegenstand der schriftlichen Prüfung sind nur noch die Pflichtfächer. Der
Wegfall der Wahlfachprüfung in Baden-Württemberg bedeutet die Abschaffung des
Wahlfachstudiums, was so auch gewollt ist' 8 .
In den Hausarbeitsländern sind ebenfalls Änderungen eingetreten. In Bremen ist die
Hausarbeit obligatorisch dem Schwerpunktbereich zu entnehmen. In Hamburg ist
Gegenstand einer der vier Klausuren - zwingend - der Wahlschwerpunkt.

Wie bereits früher, so wird auch künftig das Wahlfach Gegenstand der
mündlichen Prüfung sein, Baden-Württemberg erneut ausgenommen. In
einigen Ländern, wie etwa Niedersachsen, wo bisher das kriminologi-
sche Wahlfach nur zusammen mit dem Strafrecht geprüft wurde, wird
künftig das Wahlfach selbständig mit einem eigenen Notenanteil geprüft
werden.

Die Prüfungsrelevanz der Wahlfachgruppen


in der Ersten Juristischen Staatsprüfung
Land Schriftliche Prüfung Mündliche Prüfung
Baden- 9 Klausuren in den Pflichtfächern; Wahlfachgruppen werden nicht
Württemberg keine Wahlfachgruppenprüfung geprüft
(§§12 111,
16 II J A P r O )

68 Der Entwurf will der Spezialisierung der Juristen entgegenwirken und dem Zivilrecht

wieder das frühere Gewicht einräumen. In der Begründung liest man deshalb: „Die
Wahlstoffgebiete werden nicht geprüft. Diese Regelung ermöglicht es dem Studenten, sich
bei der Prüfungsvorbereitung auf die Rechtsgebiete zu konzentrieren, die für die Ausbil-
dung zum Volljuristen essentiell sind. Das ermöglicht eine frühzeitige Teilnahme an der
Prüfung" (Begründung 1984, S.9).
348 Wolfgang Heinz

Land Schriftliche Prüfung Mündliche Prüfung


Bayern 8 Klausuren, davon 1 in der Wahl- Pflichtfächer und Wahlfach-
(SS 21 I, II Nr. 4, fachgruppe gruppe
26 I Nr. 4 J A P O )
Berlin 1 Hausarbeit (fakultativ mit dem Pflichtfächer und Wahlfach-
(SS 8 III S . l , Schwergewicht in der Wahlfach- gruppe
11 III S . l , gruppe); 4 Klausuren, davon 1 mit
14 II J A P O ) dem Schwergewicht in der Wahl-
fachgruppe
Bremen 1 Hausarbeit (obligatorisch aus Kern- und weitere Pflicht-
(SS 16, I, 17 II, dem Schwerpunktbereich); fächer" sowie Schwerpunkt-
21 I J A P G ) 3 Klausuren in den Kernfächern bereich
Hamburg 1 Hausarbeit (im Pflichtfach fa- Pflichtfächer und Wahlschwer-
(SS 11 II, 12 II, kultativ mit Wahlschwerpunkt 70 ); punkt
19 I J A G ) 4 Klausuren, davon 1 im Wahl-
schwerpunkt
Hessen 1 Hausarbeit (fakultativ in der Pflichtfächer und Wahlfach-
(SS 13 II, 14 II, Wahlfachgruppe); 4 Klausuren in gruppe
15 J A G ) den Pflichtfächern
Niedersachsen 1 Hausarbeit (fakultativ in der Pflichtfächer und Wahlfach-
( S S I I I, 12 I, Wahlfachgruppe); 3 Klausuren in gruppe
15 I N J A O ) den Pflichtfächern
Nordrhein- 1 Hausarbeit (fakultativ rechtswis- Pflichtfächer und Wahlfach-
Westfalen senschaftliches Gutachten in der gruppe
(S 10 II J A G ; Wahlfachgruppe); 3 Klausuren in
SS 6 I, 7 11, den Pflichtfächern
9 VJAO)
Rheinland- 8 Klausuren, davon 1 in der Wahl- Pflichtfächer und Wahlfach-
Pfalz fachgruppe gruppe
(S§4 I, 5 I
JAPO)
Saarland 8 Klausuren, davon 1 in der Wahl- Pflichtfächer und Wahlfach-
(SS 18, 19 II, fachgruppe gruppe
25 II J A O )
Schleswig- 1 Hausarbeit (fakultativ in der Pflichtfächer und Wahlfach-
Holstein Wahlfachgruppe); 3 Klausuren in gruppe
( S S " I, 12 I, den Pflichtfächern
19 II J A O )

Den Grundsatz „Was gelehrt wird, wird geprüft", hat Baden-Würt-


temberg zugunsten des Ziels, eine breite rechtswissenschaftliche Ausbil-

" Zu den „weiteren Pflichtfächern" zählen aus dem Bereich von Kriminalwissenschaf-
ten/Strafrecht „Grundzüge des Strafvollzugs- und Strafvollstreckungsrechts".
70 Vgl. S U II J A G , der mehrere Kombinationsmöglichkeiten vorsieht, z . B . Pflicht-

fachgruppe allein, Pflichtfachgruppe unter Einbeziehung des Wahlschwerpunktes, Wahl-


schwerpunkt unter Einbeziehung einer Pflichtfachgruppe, Wahlschwerpunkt allein.
Juristenausbildung und Kriminologie 349

dung in dogmatischen Fächern zu erreichen, aufgegeben. Statt dessen


wird eine gewisse sekundäre Motivation zur Beschäftigung mit der
Wahlfachgruppe durch ein sog. „Zulassungs-Modell" zu schaffen ver-
sucht. Als Voraussetzung für die Zulassung zur Ersten Juristischen
Staatsprüfung wird der Nachweis einer „erfolgreichen Teilnahme" an
„einer Übung in der gewählten Wahlfachgruppe oder einem Seminar mit
Schwerpunkt in der gewählten Wahlfachgruppe" (§ 8 II Nr. 2 b JAPrO)
gefordert. Uber den Ausweg eines thematisch entsprechend gestalteten
strafrechtlichen Seminars kann freilich Kriminologie erfolgreich abge-
wählt werden. Die Wahlfachgruppen zählen deshalb in Baden-Württem-
berg weitgehend, was vom Verordnungsgeber gewollt ist, zur „Verlust-
liste der Juristenausbildung"71. Daß damit auch Konsequenzen in Lehre
und Forschung mitbedacht wurden, sei nur am Rande erwähnt72. Ledig-
lich die „kriminologischen Grundzüge" haben über „Rechtssoziologie"75
als Bestandteil des Pflichtfachs „Grundlagen" und über die „Allgemei-
nen Lehren des Strafrechts" Prüfungsrelevanz.
Diesem „Zulassungs-Modell" folgen, allerdings bei Prüfungsrelevanz
der Wahlfachgruppen in der Staatsprüfung, Bremen74, Hamburg75 und -
eingeschränkt - auch Nordrhein-Westfalen76. Die Mehrzahl der Bundes-
länder begnügt sich dagegen wie bisher mit dem bloßen Nachweis der
Teilnahme oder fordert die „erfolgreiche" Teilnahme an einer Wahl-
übung77, die die Wahlfachgruppe zwar zum Gegenstand haben kann,
aber nicht muß.

71 Ebenso auch K. Kreuzer, Die Neuordnung der Juristenausbildung in Baden-Würt-


temberg. In: JuS 25, 1985, 492. „Die Wahlfächer im überkommenen Verständnis sind
abgeschafft. Der Einteilung in die drei genannten Wahlfachgruppen dürfte damit im
Ergebnis lediglich eine Ordnungsfunktion zukommen."
72 Daß die Hochschullehrer „sich schwerpunktmäßig wieder den Lehrveranstaltungen

in den Pflichtstoffgebieten . . . widmen" werden, ist die in der Begründung zur JAPrO
1983 noch ausgesprochene Erwartung (vgl. Begründung 1983, S. 8).
73 Die Juristische Fakultät der Universität Mannheim hat in ihr Studienprogramm eine

2stündige Vorlesung „Rechts- und Kriminalsoziologie" aufgenommen.


74 Vgl. § 12 II Nr. 5 i. V. m. § 11 II Nr. 3 JAPG.

75 Vgl. § 10 II Nr. 1 i. V.m. §3 IV JAG.

76 Vgl. § 8 I Nr. 4 c J A G . Danach ist Voraussetzung für die Zulassung zur Prüfung, daß

der Bewerber „erfolgreich . . . nach seiner Wahl in einem zu seiner Wahlfachgruppe


gehörenden Fach (§ 3 Abs. 4 Nr. 2) an einer weiteren Übung, einem Seminar mit Referat
oder an einer Exegese mit schriftlichen Arbeiten teilgenommen hat". Da die Wahlfach-
gruppe „Strafrechtspflege" in Nordrhein-Westfalen neben Kriminologie, Jugendstrafrecht
und Strafvollzug auch das Wirtschaftsrecht, das Strafprozeßrecht und das Recht der
Ordnungswidrigkeiten umfaßt, ist nicht gewährleistet, daß die Zulassungsvoraussetzung
durch eine Übung in der „klassischen" Wahlfachgruppe erlangt wird.
77 So die Regelung in Berlin, Niedersachsen und im Saarland.
350 Wolfgang Heinz

4. Kriminologie in den neuen „Schwerpunktbereichen"


Im Vorbereitungsdienst kam und k o m m t der Kriminologie Bedeu-
t u n g zu 7 8 , allerdings o h n e allzu g r o ß e P r ü f u n g s r e l e v a n z 7 ' .
E i n e N e u e r u n g , d e r e n T r a g w e i t e d e r z e i t n o c h n i c h t eindeutig a b g e -
s c h ä t z t w e r d e n k a n n , bietet das i m A n s c h l u ß an die S c h w e r p u n k t a u s b i l -
d u n g in d e n einstufigen A u s b i l d u n g s g ä n g e n e n t w i c k e l t e K o n z e p t d e r
wissenschaftlichen V e r t i e f u n g in d e r 6 m o n a t i g e n W a h l s t a t i o n d e r R e f e -
r e n d a r e . D u r c h die Z u s a m m e n f a s s u n g z u Schwerpunktbereichen (§ 5 b I
N r . 5 D R i G ) soll gewährleistet w e r d e n , „ d a ß die A u s b i l d u n g in den
Wahlstationen n i c h t lediglich die A u s b i l d u n g in einer Pflichtstation
f o r t s e t z t " 8 0 . A u f die A u s b i l d u n g bei d e r W a h l s t a t i o n k a n n ein S t u d i u m
an einer r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n F a k u l t ä t a n g e r e c h n e t w e r d e n ( § 5 b I I
S. 2 D R i G ) .
D i e v o n d e n L ä n d e r n gebildeten S c h w e r p u n k t b e r e i c h e b e r ü c k s i c h t i -
gen S t r a f r e c h t u n d K r i m i n o l o g i e in h ö c h s t u n t e r s c h i e d l i c h e m M a ß e u n d
m i t w e i t r e i c h e n d e n K o n s e q u e n z e n für die Z w e i t e J u r i s t i s c h e S t a a t s p r ü -
fung.

Die meisten Bundesländer haben einen - von mehreren - Schwerpunkt „Justiz"


(Bayern, Berlin) bzw. „Zivilrecht und Strafrecht" (Niedersachsen) bzw. „Zivil- und
Strafrechtspflege" (Saarland, Schleswig-Holstein) bzw. „Rechtspflege" (Nordrhein-
Westfalen) gebildet. Spezielle Schwerpunktbereiche „Strafrechtspflege" (Hessen,
Rheinland-Pfalz) bzw. „Kriminalwissenschaften" (Bremen) oder „Kriminalität und
strafrechtliche Kontrolle" (Hamburg) sind die Ausnahme. Lediglich in Baden-Würt-
temberg findet sich kein Schwerpunkt mit strafrechtlichen Bezügen81.
Strafrechtliche Ausbildungsstellen sind, abgesehen von der bundesrechtlich vorgege-
benen „sonstigen Station, bei der eine sachgerechte Ausbildung gewährleistet ist" (§ 5 b
Nr. 5 h DRiG), zumeist Staatsanwaltschaften, Gerichte in Strafsachen und Rechtsan-
wälte, die vorwiegend im Bereich des Strafrechts tätig sind. Darüber hinaus sind als

78 § 26 II JAPO Rheinland-Pfalz bestimmt als Ziel der allgemeinen Ausbildung bei einer

Staatsanwaltschaft oder einem Gericht in Strafsachen: „Der Rechtsreferendar soll ferner


die Persönlichkeits- und umweltbedingten Ursachen der Kriminalität und die Grundzüge
der Strafzumessung kennenlernen sowie einen Einblick in den staatlichen Strafvollzug und
die Möglichkeiten der Resozialisierung von Straftätern erhalten." Ähnlich bestimmt §40 I
S. 4 J A O Schleswig-Holstein: „Auf die Persönlichkeits- und umweltbedingten Ursachen
von Delikten soll er hingewiesen werden. Dem Referendar wird auch Einblick in den
Strafvollzug und in die Möglichkeiten der Resozialisierung vermittelt." Vgl. mit zahlrei-
chen weiteren Nachweisen C. Dästner; E. Krauß, Ausbildungsbestimmungen. In: C. Däst-
ner; W. Patett; R. Wassermann (Hrsg.): Die soziale Wirklichkeit in der Rechtsanwendung.
Heidelberg, Karlsruhe 1980, 23 ff.
79 Vgl. R. Wassermann, Die Sozialwissenschaften in der Zweiten Juristischen Staatsprü-

fung. In: C. Dästner; W. Patett; R. Wassermann (Hrsg.): Die soziale Wirklichkeit in der
Rechtsanwendung. Heidelberg, Karlsruhe 1980, 297 ff.
80 BT-Drs. 10/1108, Begründung, S. 12.

81 In Baden-Württemberg wurden folgende Schwerpunktbereiche gebildet: „Arbeit

und soziale Sicherung", „Wirtschaft und Steuern" sowie „Rechtliche Gestaltung" (§ 31 I


Nr. 5 JAPrO).
Juristenausbildung und Kriminologie 351

Ausbildungsstellen vorgesehen: Justizvollzugsanstalten (Bremen, Hamburg, Rhein-


land-Pfalz, Saarland), Polizeibehörden (Bremen), Einrichtungen der sozialen Dienste
der Justiz (Bremen) sowie sozialtherapeutische Anstalten (Rheinland-Pfalz).
Als zusätzlicher Prüfungsstoff werden bei einer Schwerpunktausbildung im Straf-
recht genannt: Jugendstrafrecht (Bayern: ohne Beschränkung auf die Grundzüge,
Rheinland-Pfalz, Saarland) und Strafvollzugsrecht (Rheinland-Pfalz, Saarland: Grund-
züge).

IV: Kriminologie in der vereinheitlichten Juristenausbildung -


Versuch einer vorläufigen Bilanz
1. Die Anfang der 80er Jahre mit Grund zu befürchtende faktische
Abschaffung nicht nur der Schwerpunktausbildung, sondern auch des
Wahlfachsystems ist nicht eingetreten. Durch die Vorgabe in § 5 a Abs. 2
S. 2 DRiG ist das Wahlfachsystem stärker denn je als Bestandteil der
Lehre verankert.
2. Die Wahlfachgruppe „Kriminologie..." blieb in ihrem Kernbereich
erhalten. So bunt und vielgestaltig das Ausbildungsrecht der Länder im
übrigen auch sein mag, in der Frage der Einbeziehung der Kriminologie
in die rechtswissenschaftliche Ausbildung besteht Ubereinstimmung.
Dem heutigen Verständnis von Strafrechtswissenschaft in Ausbildung
und Prüfung entsprechend, sind die kriminologischen Grundlagen
bereits Gegenstand des strafrechtlichen Kernfachs. Dem tragen die
meisten Ausbildungsordnungen durch entsprechende Kennzeichnung
des Kernfachs Rechnung.
3. Die in einigen Bundesländern den Pflichtfächern zugeordnete
„Rechtssoziologie" bildet eine weitere Brücke, sozialwissenschaftliche
Befunde in die Kernfächer zu integrieren. Dies gilt vor allem für die
darüber hinausgehende nordrhein-westfälische Regelung, die Grund-
züge der Rechtstatsachenforschung als Pflichtfach vorzusehen, wobei
davon ausgegangen wird, daß Rechtstatsachenforschung auch die Krimi-
nologie umfaßt.
4. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß in einigen Bundesländern das
Gewicht der Kriminologie innerhalb der Wahlfachgruppe geschmälert
worden ist. Lediglich in sechs Bundesländern blieb der bisherige
Zuschnitt der Wahlfachgruppe unverändert. Erweiterungen um Straf-
prozeßrecht, Ordnungswidrigkeitenrecht, Wirtschaftsstrafrecht bis hin
zum materiellen Strafrecht - ohne die Beschränkung des Pflichtfachkata-
logs - lassen die gewünschte wissenschaftliche Vertiefung nicht zu. Sie
begründen darüber hinaus die Gefahr, daß die Kriminologie zugunsten
der dogmatischen Fächer der Wahlfachgruppe „abgewählt" wird. Insge-
samt gesehen bestehen zwischen den zweistufigen Ausbildungsgängen
nach der Vereinheitlichung der Juristenausbildung größere Unterschiede
als zuvor.
352 Wolfgang Heinz

5. Die Ausbildungsreform entscheidet sich freilich an der Frage der


Prüfungsrelevanz. Der Bundesgesetzgeber hat den Grundsatz „was
gelehrt wird, wird geprüft" nicht kodifiziert. Als einziges Bundesland
hat Baden-Württemberg auf eine Prüfung der Wahlfächer verzichtet.
Faktisch ist damit das Wahlfach im Studium abgeschafft und der Stand
vor 1969 wieder eingeführt. Durch diesen Schritt in die falsche Rich-
tung, nämlich zurück, ist die Gleichwertigkeit der Prüfung in Frage
gestellt. Das „Zulassungs-Modell" baden-württembergischer Prägung
bietet keinen adäquaten Ersatz. Es kann nicht gewährleisten, daß eine
Befassung mit Kriminologie erfolgt. Die Erwartung, in der Juristenaus-
bildung Vorreiterfunktion für die übrigen Bundesländer zu haben, ging
nicht in Erfüllung. Die Prüfungsrelevanz der Wahlfächer wurde in den
übrigen Bundesländern nicht geschmälert, in einigen sogar erhöht. So ist
in dem „Hausarbeitsland" Hamburg nunmehr eine vierte Klausur im
Wahlschwerpunkt vorgesehen, „um der Bedeutung des in einem Wahl-
schwerpunkt vertieften Studiums und der Einbeziehung der Sozialwis-
senschaften Rechnung zu tragen"82. An Gewicht haben die Wahlfächer
in einigen Bundesländern noch dadurch gewonnen, daß zusätzlich zur
Prüfung ein Zulassungsmodell nach baden-württembergischem Vorbild
eingeführt worden ist.
6. Derzeit noch nicht abschätzbar sind die Chancen, die das neue
Schwerpunktstudium in dem in den Bundesländern, Baden-Württem-
berg erneut ausgenommen, eingerichteten Schwerpunkten „Justiz" bzw.
„Strafjustiz" bietet. Dem Mangel, daß aufgrund des Wahlfachsystems
einem größeren Teil der Praktiker während ihres Studiums keine krimi-
nologischen Kenntnisse vermittelt werden können, könnte in dieser
berufsfeldbezogenen Ausbildung wenigstens teilweise abgeholfen wer-
den. Dies entbindet freilich nicht von der Aufgabe, eine kriminologische
Ergänzungsausbildung der Praktiker anzustreben.
7. Inwieweit diese Neustrukturierung der Ausbildung im Fach Krimi-
nologie Rückwirkungen auf Lehre und Studium haben wird, läßt sich
derzeit noch nicht abschätzen. Erwartbar sind größere Abstriche in den
bisherigen einstufigen Ausbildungsgängen und in der Juristenausbildung
in Baden-Württemberg.
8. Die Bedeutung der institutionellen Seite wurde in der Kriminologie
lange Zeit unterschätzt. Die Neuordnung der Juristenausbildung hat
nunmehr - insgesamt gesehen - zu einer gewissen institutionellen Absi-
cherung geführt. Über kurz oder lang wird sich auch Baden-Württem-

K
Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Juristenausbildung
(Drucksache 11/3997, S. 19).
Juristenausbildung und Kriminologie 353

berg dem nicht entziehen können. In den Vordergrund des wissenschaft-


lichen Diskurses werden nun wieder mehr die zentralen Fragen nach den
Lehrinhalten und nach den mit der Vermittlung kriminologischer
Inhalte verbundenen Erwartungen83 treten müssen. Die von Hilde Kauf-
mann, deren Gedächtnis dieser Beitrag gewidmet ist, aufgeworfene
Frage nach der kriminologischen Lehrveranstaltung „als allgemeine
Orientierungshilfe für Studierende?"84 und die von ihr gegebene Ant-
wort könnten dazu beitragen, die Diskussion über Rolle und Verant-
wortung des Kriminologen aus den eingefahrenen Gleisen zu befreien,
in denen sie sich seit geraumer Zeit bewegt.

83
Vgl. hierzu zuletzt einige der möglichen Positionen bei H. Christ, Die Kriminologie
im Studium der Rechtswissenschaft. In: MschrKrim 63, 1980, 330 ff; H. Giehring, Krimi-
nologie in der restaurierten Juristenausbildung. In: Kriminologisches Journal 17, 1985,
309ff; G.Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung. In: Festschrift für R.Wasser-
mann. Neuwied 1985, 592 ff.
84
H. Kaufmann, Die kriminologische Lehrveranstaltung als allgemeine Orientierungs-
hilfe für Studierende? In: MschrKrim 63, 1980, 379ff.
Die gesellschaftliche Organisation
der deutschsprachigen Kriminologie
- Rückblick und Ausblick -

H E I N Z SCHÖCH

I.
Als ich Hilde Kaufmann im Jahre 1975 bei der Freiburger Tagung der
Gesellschaft für die gesamte Kriminologie zum erstenmal persönlich
begegnete, sprach sie hoffnungsvoll von den neuen Perspektiven dieser
Gesellschaft für die Weiterentwicklung der Kriminologie. Obwohl die
damalige Tagung unter dem Leitthema „Kriminologie und Strafverfah-
ren"1 nicht zentral ihre eigenen kriminologischen Schwerpunkte betraf2,
war sie doch beeindruckt von dem Ausmaß, in dem es gelungen war,
Kriminologen aller Richtungen und Herkunftsdisziplinen bei dieser
Tagung zusammenzuführen. Sie würdigte die Sachlichkeit und streitbare
Toleranz in den Referaten und Diskussionen und trug selbst mit brillan-
ten Diskussionsbemerkungen hierzu bei. Hinzu kam die Hoffnung, daß
die Vereinigung der beiden großen deutschsprachigen kriminologischen
Gesellschaften unmittelbar bevorzustehen schien, nachdem G.Kaiser
und H. Ehrhardt für diese Gesellschaft und A. Mergen und F. Petersohn
für die Deutsche Kriminologische Gesellschaft die Verhandlungen erfolg-
reich abgeschlossen hatten.
1. Zehn Jahre danach muß man leider feststellen, daß die hohen Erwar-
tungen, welche die Freiburger Tagung geweckt hat, nicht in Erfüllung
gegangen sind. Zwar vereinigte die 1977 unter dem Vorsitz von H. Wal-
der in Bern veranstaltete Tagung über „Wirtschaftskriminalität und
Beurteilung der Schuldfähigkeit" noch einmal ein beachtliches Spektrum
von Referenten und Tagungsteilnehmern, aber die folgenden Tagungen
in Köln (1979), Saarbrücken (1981), Bern (1983) und Salzburg (1985)
trugen zu deutlich die Handschrift einer klassisch psychiatrisch-krimi-

1 Kriminologische Gegenwartsfragen (KrimGegfr), 12 (1976).


2 Diese dürften eher auf dem Gebiet der interdisziplinären Grundlagenforschung über
Entstehungszusammenhänge des Verbrechens und der empirischen Vollzugs- und Behand-
lungsforschung gelegen haben; vgl. H. Kaufmann, Kriminologie I, 1971; Kriminologie III,
1977.
356 Heinz Schöch

nologischen Richtung der Kriminologie3. Trotz glänzender Rahmenpro-


gramme, um die sich die Veranstalter große Verdienste erworben haben,
erschien der weitaus größte Teil der deutschsprachigen Kriminologen
oder interessierten Bezugswissenschaftler und Praktiker nicht auf diesen
Tagungen. Selbst diejenigen, die sich angemeldet hatten und angereist
waren, blieben den wissenschaftlichen Veranstaltungen zunehmend
fern. Die für die wissenschaftliche Standortbestimmung so notwendige
Diskussion blieb fast ganz aus, weil selten kontroverse Standpunkte
vertreten waren und die zeitliche Programmgestaltung ohnehin kaum
Raum hierfür ließ.
Kennzeichnend für diese Verengung und Auszehrung der Tagungen
der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie ist auch die Tatsache, daß
bei den letzten vier Tagungen von insgesamt 54 Referaten nur zwei von
kriminologischen Lehrstuhlinhabern gehalten wurden (Zipf 1981, Ker-
ner 1985), obwohl es in der Bundesrepublik Deutschland, in Osterreich
und der Schweiz ca. 50 Professoren gibt, die Kriminologie an juristi-
schen oder sozialwissenschaftlichen Fakultäten vertreten und von denen
mancher zu den Themen „Tötungsdelikte" (1979), „Sozialtherapie"
(1981), „Humangenetik und Kriminologie", „Kinderdelinquenz und
Frühkriminalität (1983), „Rückfallkriminalität, Führerscheinentzug"
(1985) auch etwas zu sagen gehabt hätte4. Es kamen ferner nur zwei
Soziologen zu Wort, die nicht zu den Kriminalsoziologen i. e. S. gehö-
ren (Dolde, Thomas). Nicht ganz so kraß, aber ähnlich selektiv war seit
1979 auch die Auswahl der Referenten aus den in Betracht kommenden
Psychiatern und Psychologen5.
Verständlich wird diese Ausgrenzungsstrategie, wenn man berück-
sichtigt, daß dem in der Regel sechsköpfigen Vorstand seit 1982, als
Kaiser resignierend ausschied, nur noch jeweils ein Jurist neben vier oder
fünf Psychiatern angehört6, wobei die teilweise vorliegende Doppelpro-
motion der Psychiater nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß diese
ganz überwiegend einer engen Schule der forensischen Psychiatrie zuge-
rechnet werden, die heute nur eine Minderheit der forensischen Psy-
chiatrie oder Psychologie repräsentiert und die in der klinischen Psy-
chiatrie noch weniger Rückhalt hat.

3 Insbesondere Göppinger und Breuer, die in den letzten Jahren den maßgeblichen
Einfluß in der Gesellschaft hatten (s.u. II, 1).
4 Von einigen Kollegen habe ich erfahren, daß ihre Angebote zur Mitwirkung vom

Vorstand zurückgewiesen wurden.


5 So tauchen z. B. so bekannte Psychiater wie Mende, Ritzel, Schorsch, Venzlaff
überhaupt nie, Rasch in den letzten 10 Jahren nicht mehr unter den Referenten auf.
' 1982/83: Breuer, Göppinger, Hartmann, Horn, Leferenz, Vossen. 1984/85: Bresser,
Göppinger, Horn, Vossen, Zipf.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 357

2. Den projektierten Zusammenschluß der beiden Gesellschaften


behandelte der Vorstand nach 1975 schleppend und griff ihn erst wieder
ernsthaft auf, als der langjährige Vorsitzende der Deutschen Kriminolo-
gischen Gesellschaft, A. Mergen, aus Altersgründen 1984 sein Amt
niederlegte. Nachfolger wurde der frühere Justizminister des Landes
Niedersachsen und Bochumer Kriminologe, H.-D. Schwind. Auf seine
Initiative verlieh die Gesellschaft 1985 die für besondere kriminologische
und kriminalpolitische Leistungen vorgesehen Beccaria-Medaille in
Gold an Bundesinnenminister Dr. Zimmermann „wegen seiner beson-
deren Verdienste um den Umweltschutz" 7 . Diese unter kriminologi-
schen oder kriminalpolitischen Gesichtspunkten kaum nachvollziehbare
Entscheidung8 hat nicht nur in der Presse und in Fachkreisen, sondern
auch unter den Mitgliedern der Deutschen Kriminologischen Gesell-
schaft Erstaunen und Befremden hervorgerufen. Obwohl aus Protest
nur wenige Vereinsmitglieder und ein Vorstandsmitglied ausgeschieden
sind9, bedeutet diese politisch taktlose Entscheidung eine schwere
Hypothek für die Vereinigung beider Gesellschaften. Denn selbst dieje-
nigen, die Zimmermanns Bemühungen um den Umweltschutz respek-
tieren und die seinen gelegentlich etwas undifferenzierten Äußerungen
zu kriminalpolitischen Themen nahestehen, dürften zum großen Teil
Schwierigkeiten haben, eine derartige Politisierung wissenschaftlicher
Ehrungen für einen amtierenden Minister zu tolerieren.

3. Angesichts dieser Sackgassen, in die sich die beiden großen Gesell-


schaften in den letzten Jahren manövriert haben, überrascht es nicht
mehr, daß auch der dritte Verband, der 1969 aus Protest gegen überholte
„institutionelle und vereinsorientierte Politik" 10 gegründete Arbeitskreis
Junger Kriminologen (AJK), weitgehend isoliert ist und kaum über eine
begrenzte Anhängerschar hinauswirkt. Schien es bei der Freiburger
Tagung 1975 noch so, als käme auch im Rahmen der gesellschaftlichen
Tagungen ein offener Dialog zwischen „alter" und „neuer" Kriminolo-
gie zustande, so findet heute die Diskussion fast nur noch in abgeschlos-
senen Zirkeln ohne echte Kommunikation mit der jeweils anderen
Schule statt.

4. Diese insgesamt desolate Situation hat vielfach zu der Haltung


geführt, daß es für die wissenschaftliche Kriminologie relativ unerheb-

7
Schwind/Steinbilper, Einführung, in: Umweltschutz und Umweltkriminalität, Krimi-
nologische Studien, Bd. 91, 1986, S. 1.
8 Bisher hatte m. W. noch kein amtierender deutscher Minister die Medaille erhalten;

die neuen Tatbestände des Umweltstrafrechts (§§ 324 ff StGB) waren längst in Kraft (seit
1980), bevor Zimmermann Innenminister wurde.
' So Schwind am 31.10.1985 in einem Interview im heute-journal.
10 KrimJ 1969, Nr. 1, S. 1.
358 Heinz Schöch

lieh sei, ob und wie sich die Kriminologen gesellschaftlich organisieren.


Dabei wird jedoch übersehen, daß es vor allem die großen Tagungen
einer alle Richtungen umfassenden Fachgesellschaft sind, die das Bild
des Faches in der Öffentlichkeit prägen und die auch die Transformation
wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis entscheidend beeinflussen.
Hinzu kommt die Repräsentation des Faches im Ausland und gegenüber
Institutionen der Forschungsförderung", bei Anhörungen im Gesetzge-
bungsverfahren und bei der Wahrnehmung universitärer und außeruni-
versitäter Ausbildungsinteressen. In allen diesen Bereichen könnte eine
allgemein anerkannte kriminologische Gesellschaft Wesentliches zur
Förderung der Kriminologie beitragen.
5. Deshalb gilt es, die bisherige Spaltung zu überwinden und zu versu-
chen, alle kriminologisch Interessierten in einer einheitlichen kriminolo-
gischen Gesellschaft zu vereinen. Die trotz der erwähnten Schwierigkei-
ten hoffentlich bald erfolgende12 Vereinigung der Gesellschaft für die
gesamte Kriminologie und der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft
kann nur ein erster Schritt sein. Die Neuordnung muß weitergreifen und
die vereinte Gesellschaft zu einer Organisation gestalten, in der alle
kriminologischen Schulen und Richtungen repräsentiert sind, und an der
alle teilhaben können, die an kriminologischer Forschung und Lehre
sowie an der Anwendung kriminologischer Forschungsergebnisse in der
Praxis interessiert sind.
Daß dies möglich ist und daß die Kriminologen keineswegs so zer-
stritten sind, wie die gesellschaftliche Organisation vermuten ließe,
beweist eine Vielzahl überwiegend informeller Initiativen oder Veran-
staltungen, von denen nur beispielhaft einige genannt seien13:
a) Seit 1966 bestehen interdisziplinäre Schwerpunktprogramme für Kri-
minologie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1967 wurde auf
Anregung von Göppinger der erste Förderungsschwerpunkt unter der
Bezeichnung „Empirische Kriminologie" eingerichtet, 1972 erfolgte auf
Initiative des AJK eine Ausweitung auf „Empirische Kriminologie ein-
schließlich Kriminalsoziologie". Auf Antrag der Soziologen Brüsten und
Haferkamp und der Juristen Kaiser und Schöch wurde 1978 ein neuer
Schwerpunkt „Empirische Sanktionsforschung - Genese und Wirkung
von Sanktionsnormen" geschaffen, der 1983 um weitere fünf Jahre

11 Vgl. auch Rundschreiben des neuen Vorsitzenden H.-J. Kerner vom 12.2.1986.
12 Vgl. Kerner, wie Fn. 11.
13 Den Beispielen liegt keine systematische Suche zugrunde, sondern persönliche

Erfahrung; mangels eigener Kenntnis fehlt deshalb etwa die „Gesellschaft für vorbeugende
Verbrechensbekämpfung"; vgl. aber z.B. G.Nass (Hrsg.), Kriminalität - vorbeugen und
behandeln, 1978.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 359

verlängert wurde14. Hier sind unter den Gutachtern Vertreter aus allen
wichtigen Bezugsdisziplinen vertreten, Strafrechtswissenschaft, Soziolo-
gie, Psychologie und - bis 1978 - auch Psychiatrie, ebenso bei den
Antragstellern. Die alljährlich stattfindenden Sitzungen der Prüfungs-
gruppe sowie einige besondere Forschungscolloquien15 zeigen, daß eine
konstruktive Zusammenarbeit der Bezugswissenschaftler über Fächer-
und Schulengrenzen hinweg möglich ist.
b) In dem 1985 in 2. Auflage erschienenen Kleinen Kriminologischen
Wörterbuch16 haben sich Juristen, Psychologen, Psychiater und Soziolo-
gen aus allen kriminologischen Richtungen zusammengefunden und in
92 Stichwörtern zentrale Probleme der Kriminologie behandelt, wobei
sich die teilweise unterschiedliche Sichtweise durchaus als belebend und
weiterführend erweist.
c) Seit 1969 treffen sich jährlich etwa 30-40 Juristen, Psychiater und
Psychologen und behandeln in interdisziplinären Symposien17 Probleme
der forensischen Psychiatrie und Psychologie, aber auch wichtige krimi-
nologische Fragen wie Prognosen, Sanktionen, Straf- und Maßregel-
vollzug.
d) Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshil-
fen e. V. (DVJJ), die 1917 als Zusammenschluß sachkundiger Persönlich-
keiten der Jugendgerichtsbarkeit gegründet wurde, hat unter den lang-
jährigen Vorsitzenden Kohlrausch, Sieverts und Schüler-Springorum
nicht nur Praktiker und Wissenschaftler aus allen einschlägigen
Fachrichtungen (einschließlich Pädagogik und Sozialpädagogik) zusam-
mengeführt, sondern auch beachtliches wissenschaftliches Profil entwik-
kelt. Sie hat derzeit über 1000 Mitglieder, veranstaltet alle drei Jahre den
Jugendgerichtstag mit einem überaus reichhaltigen Programm18 und
bietet, verstärkt durch die in fast allen Bundesländern gegründeten
Regionalgruppen, viele Fortbildungstagungen an, bei denen Praktikern
aus dem Bereich der Jugendgerichtsbarkeit, der Polizei, der Bewäh-
rungshilfe, des Jugendvollzugs und der Heimerziehung auch kriminolo-

14 Vgl. dazu Albrecht, MschrKrim 60 (1977), S. 185 ff; Kaiser, MschrKrim 60 (1977),
S. 41 ff; Antragsteller 1985 waren Brüsten, Schumann und Heinz, Kerner.
15 Vgl. Albrecht, MschrKrim 63 (1981), S. 383 ff; Pieplow, MschrKrim 67 (1985),
S. 43 ff.
16 Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch,
2. Aufl. 1985.
17 Vgl. z . B . MschrKrim 66 (1983), S.325ff; Teilnehmer a . a . O . S.367.

18 Z. B. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V.


(Hrsg.), Die Jugendrichterlichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, 1981,
Jugendgerichtsverfahren und Kriminalprävention, 1984.
360 Heinz Schöch

gische Erkenntnisse vermittelt werden. Die DVJJ hat auf dem Gebiet der
Jugendkriminalität bereits weitgehend das erreicht, was für eine gesamt-
kriminologische Gesellschaft wünschenswert wäre.
e) Die Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 1904 von
dem Psychiater Gustav Aschaffenburg gegründet und seit 1969 von
Schüler-Springorum, Quensel und Remschmidt herausgegeben, ist zu
einem Forum geworden, in dem alle kriminologischen Richtungen zu
Wort kommen und in dem auch viele neue Forschungsergebnisse darge-
stellt werden.
f ) Seit 1964 werden bei den südwestdeutschen kriminologischen Collo-
quien19 jährlich im Wechsel Forschungen der kriminologischen Institute
und Lehrstühle aus Freiburg, Heidelberg und Tübingen, seit einigen
Jahren auch aus Saarbrücken, Mannheim und Konstanz vorgestellt und
mit erfrischender Offenheit diskutiert, wobei überwiegend jüngere Mit-
arbeiter zu Wort kommen.
g) Das 1980 gegründete Kriminologische Forschungsinstitut Niedersach-
sen e. V. vereint als außeruniversitäre Forschungseinrichtung unter den
Mitgliedern des Trägervereins, im wissenschaftlichen Fachbeirat und
unter den angestellten Forschern alle Fachrichtungen. Es hat in jährlich
stattfindenden Colloquien Kriminologen aller Schulen aus dem In- und
Ausland zusammengeführt 20 . Hier wurde auch die eindrucksvolle und
ein breites Forschungsspektrum umfassende dreibändige Dokumenta-
tion „Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Krimina-
litätskontrolle" aus Anlaß des IX. Internationalen Kongresses für Krimi-
nologie in Wien (1983) betreut und koordiniert21.
h) In der Schweiz sind insbesondere die jährlich stattfindenden dreitägi-
gen Seminare oder Colloquien hervorzuheben, die von der Schweizeri-
schen Arbeitsgruppe für Kriminologie (des Schweizerischen Nationalko-
mitees für Geistige Gesundheit) veranstaltet und von ihrem Präsidenten
W. T. Haesler21* organisiert werden. Bei diesen Tagungen referieren
deutsche, österreichische und schweizerische Wissenschaftler und Prak-
tiker aus allen in Betracht kommenden Fachgebieten und Richtungen zu

" Müller-Dietz, MschrKrim 67 (1984), S, 198 ff.


20
Kury (Hrsg.), Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 1,
1981; Band 3, 1983; Band 7, 1984; Band 10, 1985.
21
Kerner, Kury, Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung
und Kriminalitätskontrolle, Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung,
Band 6, 3 Teilbände, 1983.
211 Sein Nachfolger ist seit 1986 J.Schuh, der die Tagungen ab 1987 organisiert.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 361

Rahmenthemen22 wie Jugendkriminalität und Schule (1974), Kriminolo-


gische Probleme der Polizei (1976), Alternativen zu kurzen Freiheits-
strafen (1978), Stigmatisierung durch Strafverfahren und Strafvollzug
(1980), männliche und weibliche Kriminalität (1981), psychisch
abnorme und drogenabhängige Rechtsbrecher (1982), Kindesmißhand-
lung (1983), Politische und Wirtschaftskriminalität (1984), Viktimologie
(1985), Suizid (1986). Das breite Themenspektrum, die gründliche Aus-
leuchtung der Themen nach allen Richtungen, die vorurteilsfreie Refer-
entenauswahl und die meist lebhafte Diskussion haben dazu geführt, daß
in den letzten Jahren fast regelmäßig etwa 300 Personen teilnahmen,
davon etwa drei Viertel aus der Schweiz, der Rest aus dem Ausland,
überwiegend aus Deutschland und Osterreich. Die Schweizerische
Arbeitsgruppe für Kriminologie bezweckt nach ihren Statuten (Art. 2)
„die Förderung der Kriminologie in der Schweiz". Sie „versteht sich als
vermittelndes Forum zwischen Wissenschaft und Praxis" und widmet
„besondere Aufmerksamkeit der Kriminalitätsprophylaxe und dem
Straf- und Maßnahmenvollzug". Sie gibt außerdem die zweisprachige
Zeitschrift „Kriminologisches Bulletin" heraus.
i) In Österreich, der ursprünglichen Heimat der Gesellschaft für die
gesamte Kriminologie, hat vermutlich diese noch das größte Gewicht,
jedoch gehen besondere Akzente auch von dem Institut für Rechts- und
Kriminalsoziologie aus, das von 1973-1981 unter dem Namen „Ludwig-
Boltzmann-Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie" bekannt
wurde. Dieses überwiegend soziologisch ausgerichtete Institut arbeitete
zunächst eng mit dem Justizministerium23, teilweise auch mit der psy-
chiatrischen Universitätsklinik24, zusammen und beschäftigte sich haupt-
sächlich mit Fragen der Sanktions- und Instanzenforschung. Nach der
Ausweitung der Forschungsinteressen auf sozioökonomische Fragestel-
lungen, rechtshistorische Analysen und Untersuchungen zur Normge-
nese kam es zu Spannungen mit dem Justizministerium und zum Aus-
scheiden aus dem früheren Trägerverein, der Ludwig-Boltzmann-
Gesellschaft25. Seit 1.1.1982 wird das Institut von einem privaten Trä-
gerverein betrieben. Es beschäftigt derzeit fünf Soziologen, einen Juri-
sten und zwei Historiker und gibt im 13. Jahrgang die „Kriminalsoziolo-
gische Bibliografie" heraus. Insgesamt wird man die Aktivitäten und
Zielvorstellungen der hier engagierten Gruppe am ehesten mit denen des
Arbeitskreises Junger Kriminologen (AJK) vergleichen können.

22 Die Referate werden regelmäßig veröffentlicht (im Verlag Rüegger, CH-7001 Chur)

unter dem Titel des Tagungsthemas.


23 Stangl, KrimJ 1984, S. 287 ff, 295 f.

24 Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980, S.31.


25 Stangl, KrimJ 1984, S.296.
362 Heinz Schöch

II.
Um die Frage zu beantworten, weshalb angesichts einer solchen
Vielfalt fach-, richtungs- und länderübergreifender Initiativen noch kein
gemeinsames gesellschaftliches Dach für die deutschsprachige Krimino-
logie gefunden werden konnte, ist es erforderlich, sich etwas genauer mit
der Geschichte und Struktur der drei größeren Vereinigungen zu be-
fassen.
1. Die Gesellschaft für die gesamte Kriminologie, die 1927 als Kriminal-
biologische Gesellschaft gegründet wurde, gab sich ihren neuen Namen
erst bei der 40. Wiederkehr des Gründungstages im Jahre 1967, „um
Mißverständnissen vorzubeugen, aber auch um einer gewissen Erweite-
rung der Aufgaben Ausdruck zu verleihen"26. Gegründet wurde sie am
6. Juni 1927 in Wien nach Einrichtung der ersten kriminalbiologischen
Dienste in einigen Strafanstalten27 mit dem Ziel, den Erfahrungsaus-
tausch zwischen den kriminalbiologischen Untersuchungsstellen und
der medizinischen und psychologischen Grundlagenwissenschaft zu för-
dern und - „wegen der zentralen Stellung der Persönlichkeit des Täters
im Strafrecht"28 - , der „Erfassung der kriminellen Persönlichkeit in der
Gesetzgebung, der Strafrechtspflege, dem Strafvollzug sowie in der
wissenschaftlichen Lehre" 2 ' stärkeres Gewicht zu verleihen. In der
Gründungssatzung, die bis 1967 gültig war30, heißt es in Artikel I: „Die
Gesellschaft hat den Zweck, die biologische Betrachtung des Verbre-
chens sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Forschung zu fördern
wie ihre Einführung in die Praxis der Strafrechtspflege in die Wege zu
leiten und auszubauen; sie führt die Bezeichnung ,Kriminalbiologische
Gesellschaft'31." In einer von der ersten Mitgliederversammlung verfaß-
ten Resolution wird deutlicher, was mit der biologischen Betrachtung
des Verbrechens gemeint ist, nämlich „die verschiedenen wissenschaftli-
chen Methoden zur Aufschließung der Persönlichkeit, die sich in der
Psychiatrie, in der Erbbiologie und in der naturwissenschaftlich und
philosophisch orientierten Psychologie bewährt haben"32.

26 Göppinger, Leferenz, KrimGgfr 8 (1968), Vorwort.


27 Mezger, Die Geschichte der Kriminologie und der Kriminologischen Gesellschaft,
in: Der Jugendliche im Lichte der Kriminalbiologie, Mitteilungen der Kriminalbiologi-
schen Gesellschaft, Band 6, 1951, S. 7ff, 9.
28 Lenz, Die Ziele der Kriminalbiologischen Gesellschaft, in: Mitteilungen der Krimi-

nalbiologischen Gesellschaft, Band I, 1927, S. 1.


29 Resolution der 1. Mitgliederversammlung (wie Fn. 28), S. 85.

30 Vgl. Würtenberger, KrimGgfr 8 (1967), S. 1; die neue Satzung trat am 1 . 5 . 1 9 6 8 in


Kraft.
31 Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Band I, 1927, S.8.

32 Resolution (Fn.29), S.85.


Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 363

Deutlich ist also bei der Beschreibung der Ziele und Methoden die
Handschrift des Gründungsinitiators und ersten Präsidenten der Gesell-
schaft erkennbar, des Hofrats und Professors Adolf Lenz, Nachfolger
von H. Gross auf dem Grazer Strafrechtslehrstuhl und Vorsteher des
Kriminologischen Universitätsinstituts Graz. Er hatte seine Gedanken
im gleichen Jahr in dem „Grundriß der Kriminalbiologie" veröffent-
licht33. Obwohl spätestens seit F. v. Liszt die Kriminologie als Synthese
von Kriminalbiologie und Kriminalsoziologie (Kriminalstatistik i. w. S.)
verstanden wurde34, erwähnt die neue Gesellschaft die Kriminalsoziolo-
gie mit keinem Wort. Zwar leugnet auch Lenz soziale Verbrechensursa-
chen nicht ganz, aber „eine lebensvolle Erforschung der inneren Ursa-
chen des Verbrechens" müsse „betonen, daß auch im Gelegenheitsver-
brecher zur Zeit der Tat vorgegebene Dispositionen bestanden, die ihn
unter dem Einflüsse mächtiger Anreize aus der Umwelt zur kriminoge-
nen Einstellung führten"35.
Gemeinsam mit seinem Schüler, dem damaligen Privatdozenten
E. Seelig, und den Medizinern v. Neureiter (Riga), Fetscher (Dresden)
und Viernstein (Straubing), die nach dem Vorbild des Belgiers Verwaeck
kriminalbiologische Untersuchungsstellen eingerichtet hatten, bildete
Lenz den Vorstand der neuen Gesellschaft. Er blieb bis zur letzten der
fünf Vorkriegstagungen36 deren Präsident, Seelig wurde Schriftführer
und hatte diese Funktion bis zu seinem Tod Mitte der 50er Jahre inne.
Bei ihrer Gründung hatte die Gesellschaft 92 Mitglieder, bei der
Tagung in Hamburg (1933) bereits 15937. Es handelte sich überwiegend
um Juristen und Mediziner, etwa zur Hälfte aus Wissenschaft und
Praxis, jedoch finden sich auch einige Psychologen und Pädagogen unter
den Mitgliedern. Im Mittelpunkt der Tagungen stand bei den ersten
Tagungen der Erfahrungsaustausch über Ergebnisse und Methoden der
kriminalbiologischen Untersuchungsstellen. Zunehmend wurden erb-
biologische Aspekte betont, seit 1933 verbunden mit kriminalpolitischen
Konsequenzen wie Kastration, Sterilisation und anderen Sicherungs-
maßnahmen. Programmatische Erklärungen zur Aussonderung der
Asozialen, Erforschung der erbhygienischen Gesundheit und rassen-
wertlichen Tüchtigkeit mit dem Ziel einer Unterstützung der „Bevölke-

33 Lenz, Grundriß der Kriminalbiologie, Wien 1927.


v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1905, l.Band, S.178f, 309ff;
2. Band, S. 79, 438 ff.
35 Lenz (Fn. 28), S.2.
36 1937 in München; zu den übrigen Tagungen Würtenberger (Fn. 30), S. 2.
37 Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Band IV, 1933, S. 5—12; danach

erschien kein Mitgliederverzeichnis mehr.


364 Heinz Schöch

rungspolitik des nationalsozialistischen Staates"38 überschatten die letzte


Tagung 1937.
Bei der ersten Nachkriegstagung im Jahre 1951 ging der neue Vorsit-
zende Mezger in seiner Eröffnungsansprache mit keinem Wort auf die
verhängisvollen Verstrickungen der kriminalbiologischen Forschung mit
den nationalsozialistischen Wahnideen und deren Konsequenzen ein. Er
erwähnt nur mögliche Mißverständnisse, die durch den Namen „Krimi-
nalbiologische Gesellschaft" entstehen könnten, und weist auf die in
Deutschland übliche Zusammenfassung der Kriminalbiologie mit der
Kriminalpsychologie und -Soziologie unter dem Oberbegriff Krimino-
logie hin. Jedoch seien „unsere österreichischen Freunde darin weniger
pedantisch", für sie sei „die ,Biologie' die Lehre vom ,Leben' schlank-
weg" 3 '. Allerdings dürften aus dem alten Namen keine falschen Schlüsse
auf eine einseitig biologisch-naturwissenschaftliche Einstellung und
Zielsetzung gezogen werden.
In den folgenden Jahren bestand der Vorstand in der Regel aus drei
Juristen und drei Psychiatern. Vorsitzender war von 1951-1961 Mezger,
von 1962-1963 Würtenberger (beide Juristen), von 1964-1967 der Psy-
chiater Leferenz. Die Tagungen lassen ein breiteres Themenspektrum
erkennen als die Vorkriegstagungen:
1951 in München: Der Jugendliche im Lichte der Kriminalbiologie.
1953 in München: Beurteilung und Behandlung von Sexualdelin-
quenten; Probleme der Zurechnungsfähigkeit und
der Fahrlässigkeit.
1954 in Graz: Das Typenproblem; Kombination der Verbre-
chensursachen.
1957 in Freiburg: Die Frühkriminalität - Beurteilung und Bekämp-
fung.
1959 in Tübingen: Kriminologie der Verkehrsdelikte.
1961 in Wien: Die Zusammenarbeit zwischen Richter und Sach-
verständigen bei Persönlichkeitsuntersuchungen.
1963 in Heidelberg: Alkoholismus.
1965 in Gießen: Jugendkriminalität.
1967 in Köln: Rückfalldelinquenz.
Unter den 76 Referenten dieser acht Tagungen waren - soweit ersicht-
lich - vier Psychologen, ein Pädagoge (Mollenhauer) und ein Soziologe
(Wurzbacber). Im übrigen handelt es sich je etwa zur Hälfte um Juristen

5! Viemstein, Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Band V, 1937,


S. 119; vgl. aber auch a . a . O . Mezger, S.6; Stampfl, S. 114; bemerkenswert sachlich
dagegen a. a. O. Exner, S. 43 ff, Seelig, S. 65 ff.
39 Mezger (Fn. 27), S. 14.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 365

und Psychiater; insoweit ist eine Auswahl nach bestimmten Forschungs-


richtungen nicht erkennbar, doch vermißt man damals bereits bekannte
Namen wie Hilde Kaufmann, Anne-Eva Brauneck, Sieverts, Mergen
und Hellmer auf der juristisch-kriminologischen Seite ebenso wie z. B.
Bürger-Prinz, de Boor oder Stutte auf der forensisch-psychiatrischen
Seite.
Vermutlich40 bei der Gießener Tagung wurde, als Nachfolger des
Psychiaters Hirschmann, Göppinger zum Schriftführer gewählt. Göp-
pinger bereitete eine Satzungsänderung vor, die 1967 bei der Kölner
Tagung verabschiedet wurde und am 1.5.1968 in Kraft trat. Neben dem
bereits erwähnten neuen Namen und einer offenen Aufgabenumschrei-
bung41 der Gesellschaft enthält die neue Satzung folgende wichtige
Änderungen:

- Der Erste Vorsitzende kann nur noch für zwei Jahre gewählt
werden. Wiederwahl ist nur nach Ablauf einer Frist von 6 Jahren
möglich, dagegen werden der Schriftführer und der Schatzmeister
auf unbestimmte Zeit gewählt. Das Amt des Schriftführers kann mit
dem des Schatzmeisters verbunden werden (§ 12 Abs. 1-3).
- Die Aufnahme eines neuen Mitgliedes muß von zwei Mitgliedern
der Gesellschaft vorgeschlagen werden (früher von einem); eine
Ablehnung durch den Vorstand bedarf keiner Begründung und ist
unanfechtbar (§ 5 Abs. 2).
- Als weiteres Organ neben Vorstand und Mitgliederversammlung
sieht die Satzung einen Beirat vor, der sich je aus mindestens einem
Vertreter der Kriminologie, der Kriminalistik und der einzelnen
kriminologischen Bezugswissenschaften zusammensetzen soll, ins-
besondere aus der forensischen Psychiatrie, der gerichtlichen Medi-
zin, der Psychologie, der Soziologie, dem Straf- und Strafprozeß-
recht, dem Strafvollzug und der Bewährungshilfe (§ 13 Abs. 1
i . V . m . §9).
- Die Sektion Kriminalistik wird als Kooperation ordentliches Mit-
glied der Gesellschaft; ihre Mitglieder können auch die persönliche
Mitgliedschaft erwerben.
Die Aufnahme der Sektion Kriminalistik dürfte sich bewährt haben,
auch wenn diese nur unregelmäßig mit eigenen Tagungsbeiträgen vertre-

40 Im Gegensatz zu früher und später wird in den Tagungsbänden aus den Jahren 1963

und 1965 nichts über Veränderungen im Vorstand mitgeteilt (vgl. KrimGgfr Heft 6 und 7),
weshalb insoweit nur Rückschlüsse möglich sind.
41 § 2 Abs. 1 der Satzung vom 1 . 5 . 1 9 6 8 : „Aufgabe der Gesellschaft ist die erfahrungs-

wissenschaftliche Erforschung aller Umstände, die mit dem Zustandekommen, der Bege-
hung, der Aufklärung und der Bekämpfung des Verbrechens sowie der Behandlung des
Verbrechers zusammenhängen."
366 Heinz Schöch

ten war (1967, 1969, 1973, 1979). Entscheidend ist die Zusammenarbeit
beider Disziplinen.
Die hervorragende Idee eines Beirates wurde leider nie in die Praxis
umgesetzt. Er existiert m. W. nicht oder allenfalls in rudimentärer Form.
Die höhere Hürde bei der Aufnahme neuer Mitglieder hat sich m. E.
nicht bewährt. Sie ist bei gemeinnützigen Vereinen ganz ungewöhnlich
und schreckt potentielle Bewerber um die Mitgliedschaft eher ab.
Die kurze Amtszeit des Vorsitzenden in Verbindung mit einer unbe-
grenzten Amtszeit des Schriftführers, der zugleich Schatzmeister ist und
die Geschäftsstelle leitet, hat den Schriftführer zur eigentlich bestim-
menden Gestalt der Gesellschaft werden lassen. Nach der Übernahme
dieses Amtes durch Göppinger wurde folgerichtig auch der Sitz der
Gesellschaft nach Tübingen verlegt (§ 1 Abs. 2 der Satzung). Die Konti-
nuität bei der Führung der laufenden Geschäfte hat sicher manche
Vorteile. Sie birgt jedoch die Gefahr, daß der Vorstand und insbeson-
dere der Erste Vorsitzende in seiner Gestaltungs- und Handlungsfreiheit
beeinträchtigt wird und daß die Gesellschaft nicht genügend neue
Impulse erhält. Man kommt leider nicht umhin festzustellen, daß sich in
der fast 20jährigen Amtszeit Göppingen (1966-1983) 42 diese Gefahr
zunehmend realisiert hat.
Seine Sorge vor einer Unterwanderung der Gesellschaft durch „falsche
Lehren" war offenbar so groß, daß er diese Entwicklung nicht sehen
konnte oder wollte45. In den ersten Jahren war dies noch nicht so spürbar
bzw. wurde durch standhafte Vorsitzende, die auch Spannungen in Kauf
nahmen, ausgeglichen. Die folgenden Tagungen können deshalb noch
als relativ offen und lebendig bezeichnet werden:

1969 in Saarbrücken: Kriminologische Grundlagenforschung; Sozial-


therapeutische Anstalt; Chromosomenanoma-
lien; Sexualdelinquenz (Vors. Witter).
1971 in Wien: Strafzumessung und sichernde und bessernde
Maßnahmen aus kriminologischer Sicht (Vors.
Hartmanri).
1973 in Bad Nauheim: Straf- und Maßregelvollzug, Situation und Re-
form; Kriminologie und Kriminalistik (Vors.
Ehrhardt).
1975 in Freiburg: Kriminologie und Strafverfahren; Dunkelfeld-
forschung (Vors. Kaiser).

42 Die Leitung der Geschäftsstelle und das Amt des Schatzmeisters behielt er bis Ende
1985.
45 Spätestens seit 1975 habe ich deshalb mehrere Gespräche mit ihm geführt und ihm in

den 80er Jahren auch Briefe geschrieben; alle Vermittlungsversuche waren leider fruchtlos.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 367

1977 in Bern: Wirtschaftskriminalität, Beurteilung der


Schuldfähigkeit (Vors. Walder).
Obwohl auch auf den späteren Tagungen beachtenswerte Referate
gehalten wurden, kam die eingangs dargestellte Selektion bei den Refe-
renten und die damit verbundene Verengung und Auszehrung der
Tagungen immer deutlicher zum Ausdruck. 1979 wurde zunächst erneut
die Satzung geändert (§12 Abs. 2, 4): Die nicht mehr amtierenden
Vorstandsmitglieder gehören dem Vorstand als Ehrenmitglieder ohne
Stimmrecht an und können zu den Sitzungen eingeladen werden; der
Erste Vorsitzende wird nicht mehr von der Mitgliederversammlung,
sondern vom Vorstand gewählt. Dennoch - oder möglicherweise wegen
dieser erdrückenden Einbindung in einen Kreis von „Getreuen" - fand
sich 1979 kein neuer Vorsitzender mehr, so daß Bresser zwei weitere
Jahre im Amt blieb, obwohl die Satzung eine solche Verlängerung der
Amtszeit nicht vorsieht. Zugleich wurde Bresser 1979 zum Schriftführer
auf unbestimmte Zeit gewählt, übernahm dieses Amt aber erst ab
1.1.1984, da es bis dahin von Göppinger kommissarisch weitergeführt
wurde, der zugleich bis Ende 1985 Schatzmeister und Leiter der
Geschäftsstelle blieb. Auch 1983 konnte kein neuer Vorsitzender gefun-
den werden, weshalb Vossen ebenfalls insgesamt vier Jahre im Amt
blieb.
Es ist zu begrüßen, daß sich Kerner angesichts dieser verfahrenen
Situation bereit erklärt hat, den Vorsitz der Gesellschaft ab 1.1.1986 zu
übernehmen und daß er bei der Mitgliederversammlung im Oktober
1985 einstimmig in den Vorstand gewählt wurde. Da im Vorstand
derzeit nur vier von sechs Plätzen besetzt sind44, besteht auch Spielraum
für die Fusionsverhandlungen mit der Deutschen Kriminologischen
Gesellschaft und für eine weitere Öffnung.
Die Mitgliedschaft weist trotz mancher Unmutsäußerungen über die
Entwicklung des letzten Jahrzehnts noch eine recht differenzierte Struk-
tur auf44". Von den insgesamt 226 Mitgliedern sind 55,8 % Juristen, 31 %
Mediziner, 6,6% Psychologen, 2,2% Soziologen, 1,3% Pädagogen,
3,1 % unbekannt. Im weiteren Sinne wissenschaftlich tätig sind 61 %,
35 % sind Praktiker und 4 % waren nicht einzuordnen. Der Frauenanteil
ist mit 8,9 % noch sehr gering. 69 % sind Deutsche, 15 % Österreicher,
8 % Schweizer und weitere 8 % kommen aus insgesamt 11 anderen
Ländern. Positiv hervorzuheben sind demnach folgende Eigenschaften:
Verbindung von Wissenschaft und Praxis. Einbeziehung der Kriminali-
stik, internationale Zusammensetzung der Mitglieder, insbesondere die

44 Bresser, Horn, Kerner, Zipf.


441 Stand 16.1.1986.
368 Heinz Schöch

starke Repräsentanz der Nachbarländer Österreich und Schweiz. Als


Schwäche muß die geringe Beteiligung der Soziologen und (Sozial-)
Pädagogen bezeichnet werden. Auch die Anzahl der Psychologen und
der Frauenanteil ist noch zu gering.
Es ist zu hoffen, daß die Mitglieder, die bisher aus Enttäuschung über
die Entwicklung der letzten Jahre den Tagungen einfach ferngeblieben
sind45, die jetzt gegebene Chance wahrnehmen, die Gesellschaft mit
neuem Leben zu erfüllen.
2. Die Deutsche Gesellschaft für Kriminologie wurde 1959 auf Initiative
von A. Mergen gegründet, der auch bis 1984 ihr Präsident war. Weitere
Gründungsmitglieder waren u. a. die Philosophen und Soziologen
Th. W. Adorno, M. Horkheimer, Generalstaatsanwalt F. Bauer, Oberlan-
desgerichtspräsident C. Staff und seine Frau I. Stoff. Die Gründungsmo-
tive hat Mergen in seiner Mainzer Abschiedsvorlesung folgendermaßen
zusammengefaßt: „Als im Jahre 1959 die Kriminalbiologische Gesell-
schaft sich in .kriminologische' Gesellschaft umbenennen wollte, jedoch
weder die diagnostisch-kriminalistischen noch die soziologischen Diszi-
plinen in die Kriminologie einbeziehen wollte, setzten wir uns in Mainz
zur Wehr. Es galt, der Kriminalität ihre Interdisziplinarität und ihre
Objekte zu bewahren. Da die Kriminalbiologen auf ihrem Standpunkt
beharrten, gründeten wir von Mainz aus, in Frankfurt im Dezember
1959, die Deutsche Kriminologische Gesellschaft"46.
In §2 der Satzung heißt es: „Aufgabe des Vereins ist die empirische,
natur- und sozialwissenschaftliche Erforschung der Kriminalität und des
kriminellen Menschen, der Verbrechensbegehung, der Verbrechensauf-
klärung und -bekämpfung sowie der sozialen Verteidigung gegen das
Verbrechen" 47 . Die sozialwissenschaftlichen Bezüge der Kriminologie
und die Verbrechenskontrolle werden hier also deutlicher zum Aus-
druck gebracht als in der Satzung der Gesellschaft für die gesamte
Kriminologie48. Die in der neueren Kriminologie herrschende Gegen-
standsdefinition49 dürfte mit dieser Fassung etwas besser getroffen sein.
Die Deutsche Kriminologische Gesellschaft gibt seit 1961 die sehr
erfolgreiche „Kriminologische Schriftenreihe" heraus, in der Anfang

45 Bei den Mitgliederversammlungen, an denen ich teilgenommen habe, waren jeweils

nur etwa 40-70 Mitglieder anwesend.


46 Mergen, Fünfunddreißig Jahre Kriminologie an der Universität Mainz, Abschieds-

vorlesung am 9.2.1984 (gedruckte Broschüre ohne Verlagsangabe).


47 Satzung vom 18.12.1959, in: Aktuelle Kriminologie, Zum zehnjährigen Bestehen

der Deutschen kriminologischen Gesellschaft und dem 50. Geburtstag ihres Präsidenten
Prof. Dr. Dr. Armand Mergen, Hamburg 1969.
48 S. oben Fn. 41.
49 Vgl. Kaiser, Kriminologie, Lehrbuch, 1980, S. 3 ff m.w.N.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 369

1986 der 91. Band erschien. Über ihre sonstigen Aktivitäten in den
ersten 10 Jahren informiert der Band „Aktuelle Kriminologie"50. Danach
wurden jährlich drei große eintägige Veranstaltungen durchgeführt: die
Generalversammlung mit einem wissenschaftlichen Vortrag und Diskus-
sion, seit 1967 Arbeitstagungen mit mehreren Vorträgen und Diskussio-
nen und seit 1964 Akademische Feierstunden, in denen die Beccaria-
Medaillen in Gold und Silber verliehen wurden. Diese Medaille wird zur
Erinnerung an den italienischen Juristen und Kriminalpolitiker der
Aufklärung, Cesare Beccaria (1738-1794), der häufig als Begründer der
Kriminologie genannt wird, verliehen. Kriterien für die Verleihung (in
Gold) sind: hervorragende Leistungen in Forschung und Lehre auf dem
Gesamtgebiet der Kriminologie, besonders erfolgreiche Tätigkeit bei der
Verbrechensverhütung, Verbrechensbekämpfung oder im neuzeitlichen
Strafvollzug, oder sonstige ungewöhnliche Verdienste um die Krimino-
logie51. In den ersten Jahren wurde die Medaille in Gold an bis zu 5
Personen verliehen, später nur noch an eine oder zwei. Preisträger waren
bisher u. a. Sh. u. E. Glueck, F. Gramatica, H. v. Hentig, Th. Sellin,
M. Lopez-Rey, H. Mannheim, H. Bürger-Prinz, R. König, O. Prokop,
K. Lorenz, A. Portmann, K. Peters52. Vor dem Hintergrund dieser inter-
national bekannten Wissenschaftler muß die Verleihung an den derzeiti-
gen Bundesinnenminister noch unverständlicher erscheinen als sie nach
den Statuten ohnehin ist.
Möglicherweise kann diese bisher einmalige politische Aktion als
Zeichen einer Identitätskrise der Deutschen Kriminologischen Gesell-
schaft verstanden werden. In den letzten Jahren wurden die drei Veran-
staltungstypen offenbar etwas reduziert und gestrafft53. Die Mitglieder-
zahl scheint rückläufig zu sein. Während es beim 10jährigen Jubiläum
noch 197 ordentliche Mitglieder waren54, darunter 14 % Ausländer,
waren es Ende 1985 nach Angaben von Mergen55 noch etwa 150, davon
schätzungsweise 50 % Juristen, 25 % Mediziner, 25 % Psychologen und
Soziologen. Der etwas höhere Anteil an Psychologen und Soziologen in
dieser Gesellschaft verwundert angesichts der Entstehungsgeschichte
und ihres satzungsmäßigen Niederschlages nicht. Der Anteil der Prakti-
ker dürfte deutlich höher liegen als in der anderen Gesellschaft.

50
Wie Fn. 47.
51
An. III des Statuts der Beccaria-Medaille, in: Aktuelle Kriminologie (Fn. 47),
S.XXII.
52
Laudationes und Reden der Preisträger in der Reihe „Kriminologische Aktualität"
(seit 1964), zuletzt teilweise in den „Kriminologischen Studien".
53
Soweit dies anhand der mir zugänglichen Publikationen feststellbar ist.
54
Wie Fn. 57, S. XXXIII ff; zusätzlich 21 Ehrenmitglieder (Preisträger und Grün-
dungsmitglieder).
55
Mergen, in Brief an Verf. vom 19.11.1985.
370 Heinz Schöch

Insgesamt scheint auch in dieser Gesellschaft die Einsicht zu wachsen,


daß die Gründe, die seinerzeit zu einer Neugründung geführt haben,
heute eine Spaltung der deutschsprachigen Kriminologie nicht mehr
rechtfertigen, wenn die Gesellschaft für die gesamte Kriminologie die
biologisch-psychiatrische Zentrierung deutlicher als bisher aufgibt und
die oben angedeutete Öffnung vollzieht. Etwa 10-15 % der Mitglieder
besitzen ohnehin schon die Mitgliedschaft in beiden Gesellschaften.
3. Der Arbeitskreis Junger Kriminologen (AJK) ist im Gegensatz zu den
beiden bisher dargestellten Gesellschaften kein eingetragener Verein und
daher in seinen Strukturen und Zielen schwerer zu erfassen. Er konstitu-
ierte sich im Juni 1969 und konzentrierte sich alsbald auf die Herausgabe
des Kriminologen Journals, das zunächst hektographiert verbreitet
wurde und seit 1972 als gedruckte Zeitschrift viermal jährlich erscheint56.
Ein großer Teil der hier publizierten Aufsätze stammt von den Arbeits-
tagungen des AJK. Informationsaustausch zwischen den Kriminologen
und Integration der kriminologischen Forschung von den verschiedenen
Disziplinen her: das waren zunächst die Ziele der Initiatoren57. Die
Kritik an den bestehenden Gesellschaften war aber ebenso unverkennbar
wie der Protest gegen hierarchische Strukturen im Wissenschaftsbetrieb:
„In den letzten Jahren hat sich der Bereich kriminologischer Forschung
über die traditionellen Grenzen der juristischen und psychiatrischen
Disziplinen hinweg ausgedehnt; festgelegte Normen wissenschaftlicher,
institutioneller und vereinsorientierter Politik verlieren ihre Gültigkeit
. . . Wissenschaftliche Forschung ist nicht an Alter, Titel und Universitä-
ten gebunden"58.
Dem Arbeitskreis gehörten zunächst 18 Personen an, zur Hälfte
Soziologen, im übrigen Juristen, Psychiater und Psychologen, u. a.
E. Blankenburg, M. Brüsten, G.Kaiser, T.Moser, K.-D. Opp, D.Peters,
L. Pongratz, St. Quensel, W. Rasch. Der Kreis weitete sich bald aus,
doch wurde zunächst nicht jeder Interessierte eingeladen, wenn er der
traditionellen Richtung zugerechnet wurde. In den ersten Jahren standen
Informationen und Diskussionen über empirische Forschungsprojekte
im Mittelpunkt. Etwa 1972 begann eine grundsätzlichere theoretische
und programmatische Diskussion59, bei der es um das Verhältnis zwi-
schen neuer (kritischer) und alter (traditioneller) Kriminologie, zwi-
schen interaktionistischen Etikettierungsansätzen und klassischen atio-

56
Derzeit 18. Jahrgang (1986).
57
KrimJ 1969, N r . 1, S. 1.
58
KrimJ 1969, N r . 1, S. 1.
59
Vgl. z.B. Sack, KrimJ 1972, S.3ff; Opp, KrimJ 1972, S.32ff; sowie die anschließen-
den Diskussionsbemerkungen KrimJ 1972, S. 53 ff; eingehend Rüther, Abweichendes
Verhalten und „labeling approach", Köln u.a. 1975.
Gesellschaftliche Organisation der Kriminologie 371

logischen Theorien ging. Einige derjenigen, die unter Berücksichtigung


der neuen Perspektiven der Kriminalsoziologie die Verbindung mit der
traditionellen Kriminologie herstellen wollten und eher das Ubergrei-
fende und Konvergierende betonten, schieden im Laufe der Zeit aus dem
AJK aus (z.B. KaiserM, Opp, Rasch). Dominierend blieb die Richtung,
die sich als „kritische", „konfliktorientierte", teilweise auch als „marxi-
stische" oder „sozialistische" Kriminologie bezeichnet und die bean-
sprucht, die Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin anders zu
begründen als bisher61. Andere, die sich nicht ganz mit diesen radikalen
Ansprüchen identifizieren wollen, blieben aus Interesse an der Diskus-
sion dabei, zumal die Arbeitstagungen in den letzten Jahren für alle
Interessierten offen waren.
Der Teilnehmerkreis bei diesen Arbeitstagungen fluktuiert relativ
stark; anwesend sind in der Regel etwa 40-50 Personen. Das letzte
Anschriftenverzeichnis der regelmäßig Eingeladenen umfaßt 76 Perso-
nen, überwiegend Soziologen, etwas weniger Juristen und vereinzelte
sonstige Wissenschaftler. Praktiker sind nur wenige dabei. Etwa 20 %
dürften auch Mitglied in einer der beiden Gesellschaften sein. Die
Aktivitäten des AJK werden heute im wesentlichen vom Wissenschaftli-
chen Beirat des Kriminologischen Journals bestimmt, dem 14 Grün-
dungsmitglieder angehören, u. a. D. Bittscheid-Peters, M. Brüsten,
J. Feest, H. Giehring, R. Lautmann, L. Pongratz, St. Quensel, F. Sack,
K.F. Schumann, H.Steinert. Aufgrund früherer Redakteurstätigkeit
kamen weitere hinzu, z. B. H.-J. Kerner oder M. Dürkop.
Obwohl die Interessen und Reaktionen der dem AJKK nahestehenden
Kriminologen nicht leicht einzuschätzen sind, darf aufgrund verschiede-
ner Äußerungen von Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates ver-
mutet werden, daß in der derzeitigen Situation ernsthaftes Interesse an
der Mitgestaltung einer neuen Gesellschaft besteht, in der alle Richtun-
gen der Kriminologie angemessen repräsentiert sind.

III.
Insgesamt ist in allen drei Vereinigungen eine Bewegung erkennbar,
die darauf hinausläuft, die Spaltung zu überwinden und alle kriminolo-
gisch Interessierten in einer einheitlichen Gesellschaft zu vereinen. Die

60 Vgl. dazu Kaiser, Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie"? in:

Festschrift für R. Lange, 1976, S. 521 ff.


61 Sack, Kritische Kriminologie, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, hrsg. von

Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss, 2. Aufl. 1985, S. 277 f; vgl. auch Arbeitskreis Junger Kri-


minologen, Kritische Kriminologie, 1974.
372 Heinz Schöch

zahlreichen informellen Kontakte über die Grenzen der bisherigen


Organisationen hinweg verstärken diese Tendenz (s. o. I, 5)62.
Die vorübergehend unter Hochschullehrern erwogene Idee der Grün-
dung einer neuen, rein wissenschaftlichen Vereinigung sollte daher nicht
weiter verfolgt werden. Sofern besondere Fragen der kriminologischen
Forschung und Lehre behandelt werden müssen, die für andere Mitglie-
der uninteressant sind, könnte dies innerhalb einer allgemeinen Gesell-
schaft durch eine besondere Sektion", durch spezielle Ausschüsse oder
in dringenden Fällen durch den Vorstand geschehen. Ob weitere Sektio-
nen für einzelne Fachrichtungen oder Sparten gebildet werden sollten,
erscheint mir zweifelhaft, da die meisten Mitglieder ohnehin noch in
anderen Fachverbänden organisiert sind und von der Kriminologie
gerade die Integration der jeweils speziellen Betrachtungsweisen er-
hoffen.
Die American Society of Criminology (ASC), die seit 1941 besteht und
heute ca. 2200 Mitglieder hat (darunter ca. 160 Ausländer), könnte in
mancherlei Hinsicht Vorbild sein. Die Satzung sieht zwar die Bildung
von „Divisions" vor, doch haben sich bisher nur zwei Divisions gebil-
det. („Transnational Crime and Comparative Criminology" sowie
„Women and Crime"). Lediglich bei den Tagungen selbst erfolgt dann
eine gewisse Untergliederung nach Sektionen.
Es würde hier zu weit führen, Vorschläge für die Ausgestaltung der
Satzung zu entwickeln. Wichtig ist nur, daß der Gesellschaftszweck so
offen wie möglich formuliert wird64 und daß alle Gruppen und Fachrich-
tungen die Chance erhalten, entsprechend ihrem Gewicht in den Orga-
nen vertreten zu sein. Da der Vorstand auf keinen Fall vergrößert (eher
verkleinert) werden sollte, bietet sich der Ausbau des bisher verkümmer-
ten Beirates aus der Satzung der Gesellschaft für die gesamte Kriminolo-
gie an65. Entscheidend aber ist, daß die künftige Organisation vom Geist
der Toleranz geprägt wird. Nur so kann eine kriminologische Gesell-
schaft den dringend notwendigen Beitrag zur Förderung der Kriminolo-
gie und zur Begegnung von Wissenschaft und Praxis leisten.

62
Die aufgrund der Verleihung der Beccaria-Medaille an den Bundesinnenminister
entstandene Gegenströmung sollte mit einigem Zeitabstand überwunden werden, nachdem
die Gesellschaft für die gesamte Kriminologie ihre Distanzierung im Oktober 1985 dadurch
dokumentiert hat, daß sie die Wahl von Schwind in den Vorstand zurückgestellt hat; auch
der AJK hat seine Haltung deutlich zum Ausdruck gebracht (vgl. Brüsten, KrimJ 1985,
S. 161 ff).
65
Ahnlich wie die Sektion „Kriminalistik" in der Gesellschaft für die gesamte Krimino-
logie.
64
Auch hierfür bietet die Satzung der ASC wertvolle Anregungen.
65
Modell könnte etwa der „Geschäftsführende Ausschuß" in der DVJJ (Fn. 18) sein.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht
KLAUS SESSAR

Als im Jahre 1971 der erste Teil des auf drei Bände angelegten
Lehrwerkes zur Kriminologie von Hilde Kaufmann erschien1, hatte die
Diskussion um ein kriminologisches Gegenmodell - Untersuchung der
definitorischen Bedingungen statt der ätiologischen Bedingungen von
Kriminalität - ihre ersten Höhepunkte hinter sich2. In diesem den
traditionellen Bedingungen oder „Entstehungszusammenhängen des
Verbrechens" gewidmeten Band ist von ihm nichts zu spüren, vermutet
wurde die Aufnahme des Definitionsansatzes oder „labeling approach"
in den nicht mehr erschienenen zweiten Band über Kriminalitätstheo-
rien3. Kaufmann hat aber in ihrem Vorwort zur Dissertation von Rüther
dem Ansatz attestiert, neue Fragestellungen aufgeworfen zu haben, die
zu klären zwingen, welche empirischen Ansätze „der einmal als ,alte'
Kriminologie bezeichneten Forschungen unverändert weitergeführt
werden können, welche von ihnen einer methodischen Erweiterung
bedürfen, um den labeling-Aspekt einzubeziehen, und welche gar
unhaltbar geworden sind"4.
Die mitschwingende Skepsis galt vor allem dem Ausschließlichkeits-
anspruch, mit dem der labeling approach eine Zeitlang, zumindest in der
Bundesrepublik Deutschland, auftrat und der in scharfem Kontrast zu
seiner Theorielosigkeit im Sinne empirischer Uberprüfbarkeit stand5.
Inzwischen ist es still(er) um ihn geworden. Unter den vielen Gründen
war es auch seine innere Widersprüchlichkeit, die seine Weiterentwick-
lung und damit die Konsolidierung der Kriminologie als einer vom
Strafrecht abgenabelten Wissenschaft hinderte. Sie lag u. a. darin, daß

1 Kaufmann, H.: Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens. Stutt-


gart u.a. 1971.
2 Sack, F.: Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: Sack, F., König, R. (Hrsg.):

Kriminalsoziologie. Frankfurt am Main 1968, S.431—475; Moser, T.: Jugendkriminalität


und Gesellschaftsstruktur. Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und
psychoanalytischen Theorien des Verbrechens. Frankfurt am Main 1970, S. 14 ff.
J Rüther, W.: Abweichendes Verhalten und labeling approach. Köln u. a. 1975, S. 19.
4 Rüther (Anm. 3), S.VI.

5 Vgl. zuletzt Gihhs,J. P.: The Methodology of Theory Construction in Criminology,

in: Meier, R.F. (Ed.): Theoretical Methods in Criminology. Beverly Hills u.a. 1985,
S. 23-50 (S. 34 ff).
374 Klaus Sessar

der Ansatz dem normativen Paradigma ein interpretatives Paradigma


gegenüberzustellen versuchte, ohne den Bezugsrahmen normativer Ent-
scheidungskriterien zu verlassen; soweit die strafrechtliche Sozialkon-
trolle thematisiert wurde, begnügte er sich häufig damit, das Strafrecht
an sich selbst zu messen. Hierauf ist kurz einzugehen, um danach einige
empirische Resultate vorzulegen, die die Kriminologie anregen könnten,
auf anderen Wegen aus dem Strafrecht zu finden.

I. Der labeling approach


Grundlegend war das Axiom einer durch Definition, nicht durch
Verhalten entstehenden, quasi „produzierten" Kriminalität im Wege
transaktioneller Prozesse zwischen den Definierenden (Polizei, Justiz,
Sozialarbeit, usw.) und den zu Definierenden. Seine empirische Basis,
auf die es hier allein ankommen soll, war die Beobachtung selektiver
Definitions- und Zuschreibungsprozesse und entsprechender Strafver-
folgung. Die Leugnung der Verhaltenskomponente hätte vorausgesetzt,
daß die Selektion anderen Kriterien als denen des Verhaltens folgte, also
etwa Sozial- oder Persönlichkeitsmerkmalen wie Schichtzugehörigkeit,
Alter, Geschlecht oder Nationalität. Der Ansatz wäre konsequent nur
durchzuhalten gewesen, wenn ein von diesen Merkmalen unabhängiges
strafbares Verhalten im Kontrast zu einer von diesen Merkmalen abhän-
gigen Verbrechenskontrolle gestanden hätte. Diese Hypothese war nicht
haltbar, es sei denn, man warf Schwarzfahren und Mord in einen Topf.
Zwar fand man sogenannte ubiquitäre Kriminalität, doch nur unter
männlichen Jugendlichen und dort nur im Bagatellbereich. Man war
nicht in der Lage, eine ähnliche Erwachsenenkriminalität auszumachen,
und schon gar nicht konnte beobachtet werden, daß alle Jugendlichen
und Erwachsenen, und erst recht nicht Mädchen und Frauen, schwere
Delikte begingen. Die Unterscheidung in der Verfolgung leichter und
schwerer Straftaten ist aber im Normprogramm des Strafrechts selbst
vorgesehen und folgt dort Kriterien, die denen in der Kriminalsoziologie
erörterten ähneln6.
Allerdings liegt in der obigen Hypothese bereits ein - nicht nur
logischer - Kurzschluß. Schon die Annahme eines Widerspruchs zwi-
schen abweichendem Verhalten und hierauf reagierender Kontrolle setzt
abweichendes Verhalten voraus, das dann also nicht erst produziert
werden muß; der Widerspruch wird also nur empirisch überprüfbar,

6 Vgl. etwa das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der

Ordnungswidrigkeiten, die u. a. mit einem zu befürchtenden „Ubermaß staatlichen Stra-


fens" begründet wurde, BVerfGE Band 27, S. 30.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 375

wenn man von der Annahme, auf der er gründet, abläßt7. Benötigt hätte
man mit anderen Worten eigene Kriterien der Zuschreibung (an irgend
etwas muß sich Kontrolle orientieren, schließlich wird nicht jeder
Mensch kraft seiner Schichtzugehörigkeit verfolgt oder nicht verfolgt),
die man nicht hatte, so daß man nicht umhin konnte, sie dem Strafrecht
zu entnehmen, womit freilich der Ansatz Gewicht verlor: interessant
wurden „nurmehr" unterschiedliche Bedeutungszuweisungen aufgrund
unterschiedlicher Bewertungen strafbaren Verhaltens 8 . Zwar gehörte
zum Thema auch der Komplex einer schichtspezifisch gemeinten oder
sich schichtspezifisch auswirkenden Normsetzung (Anatole France: „In
seiner majestätischen Gleichheit untersagt das Gesetz sowohl den Rei-
chen wie den Armen, unter Brücken zu nächtigen, in den Straßen zu
betteln und Brot zu stehlen"), doch galt das zentrale Interesse den
Normdurchsetzungsprozessen. Die Normgenese als Forschungsthema
wird eigentlich erst seit kurzem entdeckt.
Erst der Bedeutungsaspekt brachte den eigentlichen empirischen
Zugang zur Normdurchsetzung. Es wurde jetzt nämlich möglich, auf
der Mikroebene die Entscheidungsprozesse von Polizei, Staatsanwalt-
schaft, Gericht oder Sozialarbeit entweder statistisch, durch einen input-
output-Vergleich (und durch die Analyse der „black box"), durch
teilnehmende Beobachtung von Interaktionsprozessen oder durch Ein-
stellungsmessungen herauszuarbeiten. Der theoretische Rahmen, soweit
man von einem solchen noch sprechen konnte, postulierte die Diskre-

7 Vgl. Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. Per-


spektiven und Grenzen des labeling approach. München 1974, S. 42, der einen „objektivi-
stischen Rest" konstatiert. Er ist schon gar in einer anderen Variante des labeling approach
zu finden, wo es um die Konstituierung krimineller Karrieren aufgrund der ausgrenzenden
Funktionen der Definitions- und Zuschreibungsprozesse geht; die Verhaltenskomponente
wird hier zum unerläßlichen Element der Theoriebildung.
8 Die konstituierende Kraft der Verbrechenskontrolle ist freilich dort nachzuweisen,

wo es nicht um ihr Ob, sondern um ihr Wie geht, also z. B. um die Art der Deliktsbege-
hung. Dies ist dort mehr als reine Dogmatik, wo hiervon unterschiedlich schwere
Strafen abhängen (z. B. bei Raub statt Diebstahl). Eine besondere Bedeutung hat vor allem
der Vorsatzbegriff, mit dem z.B. darüber entschieden wird, ob jemand wegen einer
Körperverletzung oder einer (versuchten) Tötung bestraft wird. Solange der Vorsatz als
eine (innere) Tatsache angesehen wird, bestehen zwar außerordentlich große Schwierigkei-
ten der Beweisführung, doch ist, wenn diese fehlschlägt, „nur" eine falsche Subsumption
vorgekommen; der Richter hat sich geirrt. Verneint man den Tatsachencharakter des
Vorsatzes und „rechnet man ihn als Geistiges zu" (Hruschka), fehlt also die Anbindung an
die psychologischen Komponenten von Verhalten, ist eine falsche Subsumption nur noch
schwer vorstellbar, einfach weil es keine Subsumption, sondern jetzt eine Definition, also
Konstruktion ist; der Richter hat sich nicht geirrt, sondern allenfalls eine intersubjektiv
unzugängliche Entscheidung getroffen. Hierzu Sessar, K.: Rechtliche und soziale Prozesse
einer Definition der Tötungskriminalität. Freiburg i.Br. 1981, S. 18 ff, 80 ff; Hruschka, ].:
Uber Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes, in: Festschrift für Theodor Klein-
knecht. München 1985, S. 191-202.
376 Klaus Sessar

panz zwischen Norm und Normanwendung, zwischen Rechtsregeln


und Anwendungsregeln („second code"'), um hiervon ausgehend den
interaktionellen, zumindest informellen, also immer weniger normgelei-
teten Charakter der Entscheidungsfindung zu begründen. Auf der
Makroebene wurde der Zusammenhang zwischen Ressourcenknappheit
und Entscheidungsfindung thematisiert.
Ein solcher Ansatz war kritisch nur noch in dem Maße, in dem auch
das Strafrecht selbstkritisch sein kann - und gelegentlich ist. Zwar
verdeckt der waghalsige Anspruch der Strafjustiz, Gerechtigkeit auszu-
üben, die Beobachtung, daß sie diese noch immer einzuüben versucht,
doch ist letzteres wenigstens in der theoretischen Diskussion nicht
unbekannt: „Gleichheit im Recht und vor dem Recht ist schon bei einem
rein juristisch-dogmatisch geprägten Verständnis von Recht und Wirk-
lichkeit keine durch positive Setzung herstellbare, noch irgendwie sonst
problemlos vorfindliche Gegebenheit, sondern ein immer wieder müh-
sam zu erarbeitendes, d. h. in Realität erst umzusetzendes Postulat"10.
Entsprechend waren die Forschungsergebnisse nicht von der Art, die
den Strafrechtler theoretisch hätten beunruhigen müssen. Zumindest
wurde er nicht daran gehindert, die leicht-fertige „Richter-sind-auch-
nur-Menschen"-Attitüde einzunehmen. Möglicherweise hätte man ihn
beunruhigen können, hätte man die zahlreichen Einzelbefunde zu einem
größeren Konstrukt verknüpft, wodurch man zum Ergebnis einer
systembedingten, von den individuellen Akteuren weitgehend unabhän-
gigen, damit um so stabileren Ungleichbehandlung gelangt wäre (teil-
weise die organisationsspezifischen Verfahrensweisen bei Schur"). Dies
wurde (am Beispiel der Behandlung und Bewertung von Tötungsdelik-
ten) nirgends so treffend vorgeführt wie mit der Pfadanalyse von Swigert
und Farrell12.
Soweit ist es in der deutschen Kriminologie nicht mehr gekommen,
der wissenschaftliche Elan brach vorher ab. Festzuhalten ist, daß die aus
dem labeling approach entstandene Institutionsforschung nicht selten in

' MacNaughton-Smith, P.: Der zweite Code. Auf dem Wege zu einer (oder hinweg
von einer) empirisch begründeten Theorie über Verbrechen und Kriminalität, in: Lüders-
sen, K., Sack, F. (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten II. Die gesellschaftliche
Reaktion auf Kriminalität 1. Frankfurt am Main 1975, S. 197-212.
10 Kerner, H.-J.: Straftaten, Straftäter und Strafverfolgung. Bemerkungen zu offenen
Fragen einer kritischen Kriminologie, in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.):
Kritische Kriminologie. Positionen, Kontroversen und Perspektiven. München 1974,
S. 190-210.
11 Schur, E. M.: Abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle. Etikettierung und
gesellschaftliche Reaktionen. Frankfurt am Main 1974, S. 19.
12 Swigert, V.L., Farrell, R.A.: Murder, Inequality, and the Law. Lexington, Mass.
1976, S. 4 f; vgl. Sessar (Anm.8), S. 14.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 377

der Ermittlung der Rechtswirklichkeit steckenblieb und immer Gefahr


lief, in Rechtstatsachenforschung zu versickern. Es wurde mit anderen
Worten noch nicht die Emanzipation der Kriminologie vom Strafrecht
erreicht, man fiel zurück auf die Frage nach dem „Nutzen und Nachteil
der Sozialwissenschaften für das Strafrecht"13.

II. Das Opfer


Der Definitionsansatz konnte mit dem Opfer einer Straftat nichts
anfangen - genausowenig wie das Strafrecht und die traditionelle Krimi-
nologie. Auch hier finden sich interessante Ubereinstimmungen im
Erkenntnisinteresse bzw. seines Fehlens, weil einmal mehr der labeling
approach auf die strafrechtlichen Vorgaben, in denen das Opfer nicht
vorkam, fixiert war. Als dann die Opferforschungen und mit ihr die
Opferbefragungen (victim surveys) einsetzten, war die Etikettierung für
die hierfür sich zuständig fühlende Viktimologie schnell parat: obskur14,
eine Nachkriegsblüte der Kriminologie15. Die Befassung mit dem Ver-
brechensopfer hätte freilich zu einer pikanten Ubereinstimmung mit
dem Strafrecht geführt: in konsequenter Anwendung der eigenen Prä-
missen hätte nur das durch Zuschreibungsprozesse definierte Opfer ein
wahres Opfer (also z.B. nicht die von ihrem Mann vergewaltigte Frau
ein Vergewaltigungsopfer) sein können - ganz wie das Strafrecht dies
auch sieht16.
Die Befangenheit der labeling-Anhänger war begreiflich. Immerhin
war zu verkraften, daß der überwiegende Teil der Straftaten durch
Informanten, insbesondere Opfer, bekannt wird. Sie sind die zentralen
„Torhüter" des Strafverfolgungssystems, auf deren Konto die asymme-
trische Kriminalitätsbelastung im Input kraft unterschiedlichen Anzeige-
verhaltens geht. Die Bedeutung der Polizei für die Entdeckung von
Straftaten wurde marginal bzw. blieb auf einzelne nebenstrafrechtliche
Gebiete beschränkt (inzwischen weiß man, daß der überwiegende Teil
der polizeilichen Streifenwagentätigkeit der Konfliktlösung und Krisen-

13 Vgl. Lüderssen, K., Sack, F. (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissen-

schaften für das Strafrecht. 2 Teilbände. Frankfurt am Main 1980. Auch Steinert konsta-
tiert, daß man sich allzu sehr die Fragen von den Juristen habe vorgeben lassen - Steinert,
H.: Zur Aktualität der Etikettierungs-Theorie, in: Kriminologisches Journal 1985,
S. 29-43 (S. 39).
14 Quensel, S.: Zur Double-bind-Situation von Fritz Sack: Versuch einer Rezension, in:

Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1979, S. 45-49 (S.48).


15 Sack, F.: Probleme der Kriminalsoziologie, in: König, R. (Hrsg.): Handbuch der

empirischen Sozialforschung. Band 12: Wahlverhalten, Vorurteile, Kriminalität. 2. Aufl.


Stuttgart 1978, S. 192^92 (S.299).
" Zipf, H.: Die Bedeutung der Viktimologie für die Strafrechtspflege, in: Monatsschrift
für Kriminologie und Strafrechtsreform 1970, S. 1-13 (S. 1).
378 Klaus Sessar

intervention dient17). Es kann nicht weiter verfolgt werden, warum


weitere Befunde aus den Opferbefragungen unbeachtet blieben oder in
ihrer theoretischen Tragweite nicht erkannt wurden: eine normativen
Erwartungen zuwiderlaufende geringe Anzeigebereitschaft, so daß 1983
in den U S A 60 % der persönlich erlittenen Delikte (z. B. zu 43 %
Vergewaltigungen, zu 66 % versuchte Raubüberfälle ohne Körperverlet-
zung oder zu 72 % Diebstahlsdelikte ohne Kontakt mit dem Täter) der
Polizei nicht gemeldet wurden 18 ; oder die Abhängigkeit der Entschei-
dung über die Anzeige von Kriterien, die mit dem Normverständnis des
Strafrechts nicht immer etwas zu tun haben: Art des Delikts, Rücksicht-
nahme auf den Täter, Versicherungsbedingungen, Privatangelegenheit,
Mißtrauen gegenüber Polizei und Justiz, usw.
Hinter solchen Befunden verbirgt sich eine distanzierte Haltung
gegenüber formeller Verbrechenskontrolle. Sie werden noch durch die
Einstellungen von Opfern gegenüber Kriminalität und Kriminellen
unterstützt, die zum Teil in einer Weise moderat ausfallen, daß insoweit
Legitimationsmasse für den Strafanspruch der Justiz verlorenzugehen
droht (vielleicht nie existierte). Berücksichtigt man, daß Verbrechensop-
fer nichts weiter als diejenigen Mitglieder der Gesellschaft sind, die
besonders schlechte Erfahrungen mit Kriminalität gemacht haben, dann
konstellieren sich langsam und behutsam weitere Ansätze, die die Ver-
haltensebene gelten lassen können, doch bezüglich der Bewertungsebene
die Fragestellungen verändern (was dann natürlich auf die Verhaltens-
ebene zurückwirkt).

III. Neue Ansätze

Während es also im labeling approach, stark verkürzt, um Defi-


nitionsprozesse innerhalb des Strafrechts ging, in deren Gefolge das
Problem der Ungleichheit eine zentrale Bedeutung hatte (so daß man
schon mal die Forderung hören konnte, es müsse der Wirtschaftsstraftä-
ter wie der Gewalttäter aus der Unterschicht bestraft werden), wird
allmählich der Regelungsbedarf durch Strafrecht insgesamt in Frage
gestellt. Dies ist natürlich nicht neu, neben dem Definitionsansatz, und
zum Teil mit diesem verschränkt, laufen seit langem die konflikttheoreti-
schen Ansätze her. Sie fechten den unterstellten Konsenscharakter des
Strafrechts an, da dieses Prozesse der Kriminalisierung für die Durchset-
zung der Ziele und Interessen der herrschenden Klasse oder der Mächti-

17 Feltes, Tb.: Polizeiliches Alltagshandeln. Eine Analyse von Funkstreifeneinsätzen


und Alarmierungen der Polizei durch die Bevölkerung, in: CILIP. Bürgerrechte und
Polizei 1984, S. 11-24.
18 Sourcebook of Criminal Justice Statistics - 1983. U. S. Department of Justice. Bureau

of Justice Statistics. Washington D . C . 1984, S.308f.


Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 379

gen einsetze. Manchmal wird gar nicht bestritten, daß über die Strafbar-
keit bestimmter Verhaltensweisen sozialer Konsens besteht, doch reiche
er weiter als die durch die Strafnorm tatsächlich erreichten Personen-
kreise; es wird also der gekürzte Strafanspruch, die Nichtkriminalisie-
rung, für den Nachweis der Ideologienatur des Strafrechts herangezo-
gen". Ein unbefangener Betrachter mag auf Grund solcher Argumenta-
tion den Anwendungsbereich des Strafrechts erweitern wollen, trifft nun
aber auf einen zweiten Aspekt, dessen Vereinbarkeit mit dem ersten
nicht immer deutlich wird: es wird nunmehr bestritten, daß Verhalten,
das regelungsbedürftige Probleme aufgibt, nur strafrechtlich geregelt
werden könne. Eine der zentralen Fragen der kritischen Kriminologie
sei daher nach Schumann die Suche nach den Bedingungen, die dafür
maßgeblich sind, „daß bestimmte Konfliktsituationen durch das Straf-
recht und nicht durch alternative Konfliktregelungsformen behandelt
werden und vice versa"20.
Damit wird eine Beziehung zum aktuellen Abolitionismus hergestellt,
der allerdings nicht minder facettenreich und auch noch keine Theorie
ist21. In seiner Grundhaltung zielt er auf den Abbau von Strafen, z. B.
der Freiheitsstrafe über die Forderung nach Abschaffung der Gefäng-
nisse (dies ist freilich Kriminalpolitik und benötigt keinen neuen
Begriff), oder aber von Strafrecht. Der Abolitionismus tritt nun also aus
dem Rahmen vorgegebener strafrechtlicher Strukturen heraus, einstwei-
len zögernd und tastend und noch ängstlich gegenüber dem überwälti-
genden Anspruch einer Disziplin, deren Argumente, weil sie mit (staatli-
cher) Macht vorgetragen werden, den Anschein von Schlüssigkeit für
sich haben. Entsprechend reagieren Strafrechtler auf sozialwissenschaft-
liche Anliegen häufig mit einer Analyse der Konsequenzen für das
Strafrecht und das Strafjustizsystem, würde man ihnen folgen, um zu
dem Ergebnis zu gelangen, daß deren Etablierung nur noch Korrekturen
verträgt22. Die Analyse muß sich aber die Funktion des Strafrechts unter
Gesichtspunkten vornehmen, die nichts mehr mit ihm selbst zu tun

" Schumann, K.F.: Gegenstand und Erkenntnisinteressen einer konflikttheoretischen


Kriminologie, in: Arbeitskreis Junger Kriminologen (Hrsg.): Kritische Kriminologie.
Positionen, Kontroversen und Perspektiven. München 1974, S. 69-84 (S.81).
20 Schumann (Anm. 19), S. 83.
21 Scheerer, S.: Die abolitionistische Perspektive, in: Kriminologisches Journal 1984,
S. 90-111 (S.97); vgl. auch Schumann, K.F.: Labeling approach and Abolitionismus, in:
Kriminologisches Journal 1985, S. 19-28 (S.24).
22 Naucke, W.: Die Sozialphilosophie des sozialwissenschaftlich orientierten Straf-
rechts, in: Hassemer, W., Lüderssen, K., Naucke, W. (Hrsg.): Fortschritte im Strafrecht
durch die Sozialwissenschaften? Heidelberg 1983, S. 1-38 (S. 35): „Das sozialwissenschaft-
lich orientierte Strafrecht wird nur gehört, solange es den herrschenden Trend bestätigt.
Eine andere Situation ergibt sich nur, wenn man nicht erst versucht, um den Zugriff auf
den strafrechtlichen Regelungsapparat zu konkurrieren. Es entspricht einer anderen,
380 Klaus Sessar

haben, will man vermeiden, sich unablässig im Kreise zu drehen: das


Strafrecht ist funktional, weil es sich dies selbst attestiert.
Solche Gesichtspunkte betreffen, einmal sehr einfach ausgedrückt, die
Frage nach dem Bedarf an Strafrecht, um das friedliche Zusammenleben
der Mitglieder einer Gesellschaft zu gewährleisten. Die Friedlosigkeit in
einer Gesellschaft ohne Strafrecht wird behauptet und dient als seine
Stütze, da eine stets latent drohende Privatjustiz oder Privatrache nur
durch den staatlichen Strafanspruch gebunden werden könne. Der Ver-
dacht ist aber, daß das, was als allgemeine Strafbedürfnisse ausgegeben
wird, weitaus eher Ausfluß der systemeigenen Strafbedürfnisse des
Strafrechts oder der Strafjustiz ist; zu ihm trägt die Beobachtung bei, daß
dort, wo Strafbedürfnisse sichtlich fehlen oder vielleicht gebilligtes
Verhalten vorliegt, durch eine „richtungweisende" Tatbestandsausle-
gung (Besetzen abbruchbestimmter Häuser als Hausfriedensbruch) oder
Strafzumessung abgeholfen wird23. Wo sie vorliegen, sind sie also mög-
licherweise nicht nur Auslöser, sondern auch Folge des offiziellen
Strafanspruchs und seiner Praxis; sie werden nach außen projiziert, um
von dort für die Legitimation des eigenen Handelns zurückzustrahlen24.
Damit hängt zusammen, daß die Öffentlichkeit in einer Weise mit Strafe
als einzig vorstellbarem Reaktionsmittel programmiert ist, daß diese
dann auch jederzeit „abrufbereit" ist. Nichtpunitive Alternativen, die
genauso oder besser dem Ausgleichsbedürfnis gerecht werden könnten,
konnten in einem solchen Klima bislang keine offizielle Anerkennung
erhalten, geschweige sich bewähren.
Der nächste Schritt ist daher, den offiziellen Strafanspruch bezogen
auf die Konflikte und Probleme, die ihn auslösen, in die Analysen
einzubeziehen. Das Strafrecht wird damit in einem sehr ursprünglichen

gegenwärtig aber weniger beachteten Tradition, sich auf die Kritik an diesem Apparat zu
beschränken. Die Gründe für diese Kritik sind aus der Sozialphilosophie besser zu
gewinnen, als aus jedem anderen Reservoir; die Sozialwissenschaften können diese Gründe
besser stützen, nicht ersetzen".
21 So gibt es eine Rechtsprechung, die bei trunkenheitsbedingten Unfallfolgen im

Straßenverkehr die Verteidigung der Rechtsordnung bemüht und die Vollstreckung der
Freiheitsstrafe verlangt, anders die Rechtstreue der Bevölkerung nachlassen würde (vgl.
Maiwald, M.: Die Verteidigung der Rechtsordnung - Analyse eines Begriffs, in: Goltdam-
mer's Archiv für Strafrecht 1983, S.29-72 (S.57f). Es geht also nicht darum, daß die
Bevölkerung beunruhigt wäre, würde die Freiheitsstrafe nicht vollstreckt werden, sondern
nicht beunruhigt ist, so daß man für Unruhe glaubt sorgen zu müssen, der man dann
abhilft. (Oder meinte man, was dann falsche Rechtsanwendung gewesen wäre, die
Abschreckung?)
24 Steinen, H.: Kleine Ermutigung für den kritischen Strafrechtler, sich vom „Strafbe-

dürfnis der Bevölkerung" (und seinen Produzenten) nicht einschüchtern zu lassen, in:
Liiderssen, K., Sack, F. (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten IV: Kriminalpolitik
und Strafrecht. Frankfurt am Main 1980, S. 302-357 (S.329).
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 381

Sinn w i e d e r zur abhängigen Variable, denn w e n n „in erster Linie


Stabilität (nicht V e r ä n d e r u n g ) , O r d n u n g u n d v o r g e f u n d e n e B e d e u t u n g
( n i c h t U n o r d n u n g u n d U n v e r s t ä n d l i c h k e i t ) , schließlich Einheitlichkeit
(nicht Verschiedenheit) und erst Selbstverständliches, dann Uberra-
schendes" erklärungsbedürftig werden 2 5 , ist die von ihm geltend
gemachte Ordnungsfunktion unter verändertem Blickwinkel neu zu
ü b e r d e n k e n . A n a l y t i s c h w a n d e l n sich die F r a g e s t e l l u n g e n d a n n insofern,
als sie, i n d e m sie strafrechtliche V o r g a b e n reflektieren, o h n e sie a u s k o m -
m e n m ü s s e n : diese w e r d e n n i c h t länger an sich selbst g e m e s s e n .
D i e s verlangt F o r s c h u n g e n z u r S t r u k t u r des Strafrechts als U n t e r n e h -
men im Sinne professioneller und ökonomischer Eigeninteressen 2 6 ,
w o m i t seine unablässige E x p a n s i o n in V e r h a l t e n s b e r e i c h e erklärt w e r d e n
k ö n n t e , die von ihm i m m e r n o c h n i c h t als o r d e n t l i c h o d e r stabil g e n u g
b e z e i c h n e t w e r d e n , u m sich selbst überlassen z u bleiben. F o r s c h u n g e n
w e r d e n sich daher u. a. m i t d e r F r a g e befassen m ü s s e n , inwieweit es den
Ruf nach Strafe wirklich gibt. D a z u ist es n ö t i g , die A l l g e m e i n h e i t m i t
ihren v o n K r i m i n a l i t ä t u n t e r s c h i e d l i c h getroffenen u n d b e t r o f f e n e n M i t -
gliedern, den O p f e r n also, e i n z u b r i n g e n . Sie sind n a c h A r t u n d A u s m a ß
ihrer B e t r o f f e n h e i t in A b h ä n g i g k e i t erlittener u n d wahrgenommener
B e e i n t r ä c h t i g u n g e n z u fragen, n a c h ihren affektiven u n d kognitiven V e r -
arbeitungs- u n d A b w e h r m ö g l i c h k e i t e n , n a c h den F o l g e w i r k u n g e n , n a c h

25 Es muß noch untersucht werden, inwieweit die vielfach vorgenommene Umdrehung

der Hobbes'schen Frage: „Warum gehorchen die Menschen nicht den Regeln der Gesell-
schaft?" in: „Warum gehorchen die Menschen den Regeln der Gesellschaft?" (Wrong,
D. H.: The Oversozialized Conception of Men in Modern Sociology, in: American Socio-
logical Review 1961, S. 183-193) in den vorliegenden Kontext gehört. Denn die erste Frage
"is bad because it assumes that something clearly variable is in fact constant. In their
attempts to get out of this difficulty, sociologists are forced to pose the opposite question,
which leads to the 'interminable dialogue'" (Hirschi, T.: Causes of Delinquency. Berkely
u.a. 1969, S.4; hierzu Otto, H.-J.: Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle.
Wandel vom soziologischen zum ökonomischen Paradigma in der nordamerikanischen
Kriminologie? Freiburg im Breisgau 1982, S.49ff).
26 Näher hierzu Cohen, St.: Visions of Social Control. Crime, Punishment and
Classification. Cambridge 1985, S. 167ff, der Parallelen zu lllichs iatrogenetischem Modell
zieht: Die Verursachung von Krankheit durch eine expandierende Medizin. Die Krimino-
logie steht vor der einzigartigen Chance, die Hypothese der Abhängigkeit definierter
Kriminalität von eigennutzorientierter Strafrechtspflege quasi-experimentell zu überprü-
fen: durch den dramatischen Geburtenrückgang der letzten zwanzig Jahre bedingt bleiben
allmählich die existenzsichernden Zuwachsraten aus. Auf die ab jetzt zu erwartende stete
Abnahme zunächst der Kinder- und Jugendkriminalität, später der Erwachsenenkriminali-
tät sind (unter Berücksichtigung eines gewissen Normalisierungsbedarfs) zwei Reaktionen
vorstellbar: die Anpassung im Sinne drastischer Reduzierung von Mitteln und Kräften an
weniger Kriminalität oder umgekehrt die Anpassung der Kriminalität samt ihrer Kontrolle
an die vorhandenen Mittel und Kräfte. Erste empirische Uberprüfungen in Großbritannien
deuten eher auf die zweite Reaktion hin, vgl. Pratt,].: Delinquency as a Scarce Resource,
in: The Howard Journal 1985, S. 93-107 (S. 102f).
382 Klaus Sessar

Art und Umfang des Reaktions- oder Ausgleichsbedarfs, usw. Der


Grundhypothese entsprechend steht eine nichtstrafrechtliche Bewälti-
gungsbereitschaft im Vordergrund, die in den Fragestellungen durch die
Aufnahme des Alltagsrepertoires privater Konfliktbewältigung ihren
Ausdruck finden muß. Ein geläufiges Beispiel ist die Integrierung der
Wiedergutmachung neben oder statt der Bestrafung, weil vermutet wird,
daß ihre Berücksichtigung zu einem Nachlassen der Bedeutung der
Strafe führen wird 27 .
Im weiteren sollen einige Beispiele aus einem Forschungsprojekt
vorgestellt werden, die obige Annahmen stützen helfen und die Nichtan-
zeigebereitschaft wie die Nichtstrafbereitschaft betreffen.

IV. Einige empirische Ergebnisse


Am Seminar für Jugendrecht und Jugendhilfe der Universität H a m -
burg wird mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
eine empirische Untersuchung zur Bedeutung der Wiedergutmachung
(i. w. S.) für die Beilegung strafrechtlich relevanter Konflikte unternom-
men. Es handelt sich um Einstellungsmessungen (z. T. auch Verhaltens-
messungen) mit dem Ziel, das Ausmaß der Akzeptanz der Wiedergut-
machung anstelle von Strafen zu bestimmen. Zu diesem Zweck wurde
eine Reihe von - meist schriftlichen - Befragungen durchgeführt: eine
repräsentative Stichprobe der Hamburger Bevölkerung (mindestens 18
Jahre alte Deutsche; N = 4400); ebenfalls repräsentative Stichproben
von Jurastudenten des ersten und achten Semesters sowie von Gerichts-
referendaren (kontrolliert durch entsprechende Studentenpopulationen
aus dem Bereich der Philologie und Sozialpädagogik sowie durch Lehr-
amtsreferendare); nichtrepräsentative Stichproben von Straftätern in
Untersuchungshaft, Strafhaft und Bewährung sowie, auch außerhalb
Hamburgs, von (Jugend-)Gerichtshelfern, (Jugend-)Bewährungshelfern
und Schiedsleuten; eine Totalerhebung der Hamburger Straf- und Zivil-
justizpraktiker (die Straf- und Zivilrichter an den Amtsgerichten und
dem Landgericht H a m b u r g sowie Staatsanwälte ohne Amtsanwälte).
Insgesamt nehmen etwa 8500 Probanden an der Befragung teil.
Sämtliche Populationen wurden in gleichlautender Weise zur Akzep-
tanz der Wiedergutmachung befragt, so daß Vergleiche zwischen ihnen
möglich sind. Darüber hinaus wurden für die einzelnen Populationen
spezifische Fragen entwickelt, die u. a. mit ihrer jeweiligen beruflichen
Situation zu tun haben. Dies gilt nicht für den für die Bevölkerungsbe-
fragung vorgesehenen Erhebungsbogen, der in seinem zweiten Teil eine

27
Vgl. Sessar, K., Beurskens, A., Boers, K.: Wiedergutmachung als Konfliktregelungs-
paradigma?, in: Kriminologisches Journal 1986, S. 86-104 (88).
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 383

Opferbefragung enthält (in einer Unterstichprobe hiervon Fragen zur


Kriminalitätsfurcht sowie zum Abwehr- und Vermeideverhalten im
Anschluß an eine oder in Antizipierung von einer Opferwerdung). Sie
nimmt die Fragen zu den konkreten Konsequenzen der Tat, zu den
getroffenen Maßnahmen, den Einstellungen gegenüber der Tat und den
restitutiven oder punitiven Reaktionen auf den Täter auf28.

1. Die Situation der Anzeige einer Straftat


Im Rahmen von Dunkelfeldforschungen spielten die Opferbefragungen nicht zuletzt
deshalb eine herausragende Rolle, weil die Nichtanzeige von Straftaten durch die Opfer
zu eben diesem Dunkelfeld führt. Es lag daher nahe, Motivationsanalysen für den
unterlassenen Gang zur Polizei anzustellen, wie dies bis heute die amerikanischen
Befragungen und alle existierenden deutschen Untersuchungen tun. Der häufigste
Grund für die Nichtanzeige ist in den USA beim versuchten Raub ohne Verletzung, bei
Körperverletzungen und beim Diebstahl ohne Kontakt mit dem Täter die Geringfügig-
keit der Opferwerdung („victimization not important enough"), bei vollendetem Raub
oder versuchtem Raub mit Verletzung sowie Diebstahl mit Kontakt mit dem Täter
(z. B. Taschendiebstahl) die Aussichtslosigkeit einer Anzeige („nothing could be
done") 2 '. In den Göttinger und Bochumer Untersuchungen von Schwind und Mitarbei-
tern sowie in der Stuttgarter Untersuchung von Stephan war der geringe Schaden
ebenfalls der am häufigsten genannte Grund, wenn das Opfer nicht zur Polizei
gegangen war30.
Begünstigt durch den Umstand, daß unsere Kriminalität, soweit von ihr individuelle
Personen betroffen sind, ganz überwiegend leichtere Kriminalität ist, sowie durch eine
Reihe weiterer Gründe, eine erlittene Straftat nicht zu melden, wurde ein Dunkelfeld
ermittelt, das das Hellfeld bei weitem übertrifft. Die Nichtanzeige einer Tat ist mit
anderen Worten vielfach wahrscheinlicher als ihre Anzeige (s. o., S. 378), wodurch sie in
soziologischer Betrachtung allmählich zu einem „normalen Tatbestand" wird. Dann
aber wird es naheliegender, die ursprüngliche Fragestellung, die normativer Art war,
umzustellen und zu untersuchen, warum eine Straftat überhaupt gemeldet wird.
Tatsächlich kann beobachtet werden, daß bisherige Motivationsanalysen zur Nichtmel-
dung von Straftaten solchen zu ihrer Meldung Platz machen oder neben sie treten".

28 Genauer hierzu Sessar/Beurskens/Boers (Anm. 27).


29 Sourcebook (Anm. 18), S.318f.
30 Schwind, H.-D., Ahlhorn, W„ Eger, H.J.Jany, U„ Pudel, V., Weiß, R.: Dunkelfeld-
forschung in Göttingen 1973/74. BKA-Forschungsreihe Band 2. Wiesbaden 1975,
S. 195 ff; Schwind, H.-D., Ahlborn, W., Weiß, R.: Empirische Kriminalgeographie.
Bestandsaufnahme und Weiterführung am Beispiel von Bochum („Kriminalitätsatlas
Bochum"). BKA-Forschungsreihe Nr. 8. Wiesbaden 1978, S. 205 ff; Stephan, E..- Die
Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminologisch-viktimologische Analyse zur Erfor-
schung des Dunkelfeldes unter besonderer Berücksichtigung der Einstellung der Bevölke-
rung zur Kriminalität. BKA-Forschungsreihe Nr. 3. Wiesbaden 1976, S. 191 ff.
31 So insbesondere englische Untersuchungen, vgl. Sparks, R. F., Genn, H. G., Dodd,
D.J.: Surveying Victims. A Study of the Measurement of Criminal Victimization. Chiche-
ster u. a. 1977, S. 122 f.; Hough, M., Mayhew, P.: Taking Account of Crime: key findings
from the second British Crime Survey. Home Office Research Study No. 85. London
1985, S. 19ff. Vgl. auch Skogan, W.G.: Reporting Crime to the Police: The Status of
World Research, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 1984, S. 113-137.
384 Klaus Sessar

Mehr noch: Anzeigeuntersuchungen werden zu Befindlichkeitsanalysen, in denen die


Situation von Opfern nach erlittener Straftat vor dem Hintergrund ihrer aktuellen
Bedürfnisse, Interessen, Orientierungen und Einstellungen bedeutsam wird.

In der vorliegenden Studie wurde nach der Opferwerdung in den


vergangenen drei Jahren gefragt, bezogen auf 18 Deliktsversionen.
41,3 % der Probanden gaben an, in der Referenzzeit keine der vorgege-
benen Straftaten erlitten zu haben, 58,7 % waren also Opfer geworden.
Hatten sie mehrere Delikte angekreuzt, waren sie zusätzlich gebeten
worden, das von ihnen am schwersten eingeschätzte zu benennen (dieses
wird im weiteren zugrunde gelegt). Die Verteilung der Viktimisierungen
stellt sich somit wie folgt dar: Eigentumsopfer (allgemeiner Diebstahl,
Diebstahl des oder vom Kfz oder Fahrrad oder aus Kfz, Betrug,
Sachbeschädigung) 71,0%; Opfer eines Wohnungseinbruchs 9 , 7 % ;
Angriffsopfer (Körperverletzung mit und ohne Waffen) 9 , 9 % ; Opfer
unsittlicher Berührung 5,7 %; Opfer von Sexualdelikten (sexuelle Nöti-
gung, versuchte und vollendete Vergewaltigung) 1,3 % ; Raubopfer (ein-
schließlich des von der Rechtsprechung gebildeten Handtaschenraubs)
2,1 %; Opfer von Verleumdung oder Beleidigung 0,3 %.
Im weiteren werden die Opfer unsittlicher Berührungen und von
Verleumdungen bzw. Beleidigungen (N = 59) herausgenommen und die
verbliebenen Opferwerdungen zu drei Kategorien zusammengefaßt:
Eigentumsdelikte, Wohnungseinbruch und Gewaltdelikte. Die Antwort
auf die Frage, ob die erlittene Straftat angezeigt wurde, ergibt sich aus
Tabelle l52.
Tabelle 1: Anzeige einer erlittenen Straftat nach Art der Opferwerdung

Anzeige Eigentums- Wohnungs- Gewalt- Summe


delikte einbruch delikte
% % % %

keine Anzeige 40,3 10,1 63,3 41,4


Anzeige per- 56,7 73,9 29,4 53,9
sönlich oder
im Auftrag
Anzeige durch 3,0 15,9 7,3 4,7
dritte Person

Summe % 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (466) (69) (109) (642)

32 Nachteile des schriftlichen Interviews: 191 Probanden, die ihre Opferwerdung

angegeben hatten, beantworteten danach nicht die weiteren Fragen zu deren Folge. Eine
Verweigererstudie ergab eine signifikante Beziehung zwischen der Antwortbereitschaft
und der - hier von uns definierten - Schwere des Delikts, wonach also bei leichten Taten
die weiteren Fragen eher unbeantwortet blieben. Vermutlich würden solche Opfer eben-
falls keine große Strafneigung an den Tag legen.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 385

Im Durchschnitt wurden 53,9 % der erlittenen Straftaten persönlich


oder durch einen Beauftragten angezeigt, in weiteren 4 , 7 % der Fälle
erfolgte die Anzeige durch eine dritte Person (hier muß offenbleiben, ob
das Opfer sonst selbst zur Polizei gegangen wäre oder nicht). Auffallend
ist, daß Opfer von Gewalttaten weitaus weniger zur Polizei gehen als
Opfer von Eigentumsdelikten - oder eben umgekehrt: im Falle eines
erlittenen Eigentumsdelikts und schon gar eines Wohnungseinbruchs
wird „überraschend" häufig angezeigt. Dies kann mit dem Versicherungs-
schutz zu tun haben, der verlorengeht, wenn nicht angezeigt wird.
Tatsächlich gaben 86 der Probanden, die Opfer eines Eigentumsdelikts
geworden waren, an, allein wegen des Versicherungsschutzes zur Polizei
gegangen zu sein; nähme man diese Fälle wegen des „sachfremden"
Motivs heraus, würde die Nichtanzeigequote 50 % erreichen (bei Woh-
nungseinbruch allerdings nur wenig steigen).
Aus Tabelle 2 ergeben sich die Gründe für die Anzeige bzw. Nichtan-
zeige im Falle einer erlittenen Straftat (gestattet waren jeweils zwei
Nennungen, wovon 47 % der Probanden bei der Anzeige und 38 % bei

Tabelle 2: Gründe für die (Nicht-)Anzeige erlittener Schäden*

Eigentums- Wohnungs- Gewalt- Summe


delikte einbrach delikte
Ol
/o O/o/ O/o/ 0//o

Anzeige
- Versicherung 49,9 42,3 12,5 43,7
- Schadensersatz 21,3 16,5 22,9 20,6
- Bestrafung 16,9 27,8 33,3 20,4
- normale Reaktion 8,3 7,2 12,5 8,5
- sonstige Gründe 5,5 6,2 18,8 6,8

Summe % 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (384) (97) (48) (529)

Nichtanzeige
- Probleme mit Polizei und 50,2 (3) 34,5 45,6
Justiz
- Geringfügigkeit der Tat 36,1 (3) 25,0 33,1
- private Angelegenheit, 7,5 (1) 26,2 12,8
Regelung
- Angst vor dem Täter 1,4 (1) 9,5 3,9
- sonstige Gründe 4,7 - 4,8 4,6

Summe % 100,0 _ 100,0 100,0


(N) (213) (8) (84) (305)

Wegen Mehrfachnennungen (maximal zwei) höheres N ; berechnet auf 1 0 0 %


386 Klaus Sessar

der Nichtanzeige Gebrauch machten; dies wird in der Tabelle nicht


eigens ausgewiesen). Was die Anzeigegründe angeht, so spielen die
Versicherungsbedingungen bei den Eigentumsdelikten und dem Woh-
nungseinbruch die größte Rolle, im ersten Fall gefolgt von den Scha-
densersatzforderungen, im zweiten Fall von der Forderung nach Bestra-
fung des Täters, die bei den Gewaltdelikten die größte Bedeutung hat.
Will man den Stellenwert der Bestrafung als Motiv der Anzeige näher
bestimmen, müssen die Gründe der Nichtanzeige natürlich hinzuge-
nommen werden. Dort finden sich Motive, die die Strafverfolgung
explizit ausschließen, etwa die Geringfügigkeit der Tat („nicht so
schwerwiegend") oder der private Charakter der Angelegenheit bzw.
Regelung („der Täter hatte sich entschuldigt", „...den Schaden
ersetzt", „ich wollte nicht, daß der Täter bestraft wird"). Zusammen
machen diese beiden Gründe bei den Eigentumsdelikten knapp 4 4 % ,
bei den Gewaltdelikten über 5 0 % , zusammen knapp 4 6 % aus, so daß
das Motiv der Bestrafung durch Anzeigeerstattung zusätzlich erheblich
relativiert (prozentual praktisch halbiert) wird.
Hinter solchen dürren Zahlen werden die Umrisse einer Situationsein-
schätzung deutlicher, die die strafrechtlich getönte Intervention an den
Rand akuter Lösungsbedürfnisse verweist. Dies war auf Grund anderer
Untersuchungen zu erwarten gewesen. Rosellen berichtet von einem
großen Prozentsatz befragter Anzeigeerstatter (Freiburg/Br.), die mit
der Anzeige Abhilfe verfolgten, weniger Strafverfolgung (oder aber die
Strafverfolgung sollte der Abhilfe, nämlich der Rückgewinnung der
gestohlenen Sache dienen). Hanak fand in einer ähnlichen Befragung
(Wien) nur Minderheiten, die mit der Benachrichtigung der Polizei eine
Bestrafung bezweckten, meist wurden Abhilfe, Sicherung privatrechtli-
cher Forderungen, medizinische Versorgung u. ä. erwartet. Im briti-
schen Crime Survey von 1984 gaben 16 % der Befragten an, sie hätten
die erlittene Tat angezeigt, damit der Täter bestraft werde (allerdings
meinten weitere 11 % , daß die Anzeige wegen der Schwere des Delikts
erfolgt sei, wohinter sich ebenfalls Strafbedürfnisse verborgen haben
mochten); 3 6 % hatten die Tat gemeldet, um damit Vorsorge und
Restitution zu verfolgen: Verhinderung weiterer Viktimisierungen, Gel-
tendmachung von Versicherungsansprüchen, Rückgewinnung des
Eigentums, Schadensersatz, usw.33

33 Rosellen, R.: Soziale Kontrolle durch Anzeigeerstattung: Eine empirische Untersu-

chung zu den situativen Bedingungen, Motiven und Zielen privater Strafanzeigen, in:
Kerner, H.-J., Kury, H., Sessar, K. (Hrsg.): Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsent-
stehung und Kriminalitätskontrolle. 3 Bände. Band 2. Köln u. a. 1983, S. 798-822
(S.810f); Hanak, G.: Kriminelle Situationen. Zur Ethnographie der Anzeigeerstattung,
in: Kriminologisches Journal 1984, S. 161-180 (S. 174ff); Hough/Mayhew (Anm.31),
S. 19 f.
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 387

Der Bedarf an sozialer Kontrolle richtet sich insoweit auf Minderung


und Beseitigung der durch die Straftat eingetretenen Isolierung und
Desorientierung, auf eine Restabilisierung sozialer Beziehungen und
Kontakte. Zweifellos hat zentrale Bedeutung hierbei die Schwere der
Beeinträchtigung. Würde man ihre Definition den offiziellen Bestra-
fungsstilen entnehmen, würde man sie freilich mit ihrer Sprache und
Logik zum Explanans machen, während sie dem hier vertretenen Ansatz
zufolge das Explanandum darstellt. Die Schwere hängt m. a. W. von den
subjektiv empfundenen Einbrüchen in die eigene Lebenswelt ab, die
dort um so größer sein dürften, wo das soziale Auffangnetz schwach, die
Isolierung entsprechend groß und deshalb keine ausreichende Hilfe zu
erwarten ist34. Ein funktionierendes soziales Netzwerk und aufeinander
abgestimmte Hilfsressourcen dürften daher die Bedeutung der Strafan-
zeige weiter mindern.

2. Die Einstellung zu Wiedergutmachung und Strafe


Im Zuge internationaler Versuche, dem Opfer einer Straftat wieder mehr Geltung zu
verschaffen, wurde auch seine Interessenlage in bezug auf die Bestrafung des Täters
untersucht. Dabei ging es meist darum herauszufinden, ob die durch das Strafrecht
vernachlässigte Wiedergutmachung eine Neubelebung erfahren kann, oft zusätzlich zur
Strafe, gelegentlich auch statt der Strafe. E s war dies ein rechts- oder kriminalpolitisches
Erkenntnisinteresse, das im weiteren auf Nichtopfer, insgesamt die Allgemeinheit,
ausgedehnt wurde. Die Resonanz war insofern sehr groß, als die Wiedergutmachung
angenommen wurde - als hätte Zunder gefehlt, um ein erloschen geglaubtes Feuer
wieder anzufachen. Allerdings konnte es bei der ursprünglichen kriminalpolitischen
Fragestellung nicht bleiben, sie weicht immer mehr einer straftheoretischen, dann aber
auch kriminologischen und viktimologischen Fragestellung, weil, wie erwähnt, die
allgemeinen Bedürfnisse weniger auf Strafe und mehr auf materielle und emotionale
Wiedergutmachung zu zielen scheinen 35 .

In den folgenden Tabellen sind die Einstellungen zu einigen typischen


Sanktionssituationen wiedergegeben, in denen die - aufgrund der gegen-
wärtigen Rechtslage nicht immer mögliche - strafrechtliche Sanktion
durch Schadenswiedergutmachung ersetzt werden kann; die Probanden
sind wie zuvor in Nichtopfer und in Opfer verschiedener Deliktsarten
unterteilt. Fast gänzlich unabhängig hiervon sprach sich die überwälti-
gende Mehrheit der Befragten für eine Wiedergutmachung statt einer
Geldstrafe (Tabelle 3 a) und für eine Freiheitsstrafe zur Bewährung mit
Wiedergutmachungsauflage (Tabelle 3 b) aus, wenn sonst durch den
offiziellen Strafanspruch die Entschädigung des Opfers gefährdet wäre

54 Ekland-Olson, Sh.: Social Control and Relational Disturbance: A Microstructural

Paradigma, in: Black, D. ( E d . ) : Toward a General Theory of Social Control. Volume 2 :


Selected Problems. Orlando u.a. 1984, S . 2 0 9 - 2 3 3 ( S . 2 1 8 f f ) .
J5 Sessar, K.: Ü b e r das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz, in: Festschrift für

Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag. Berlin 1985, S. 1 1 3 7 - 1 1 5 7 (S. 1150 ff).
388 Klaus Sessar

Tabelle 3: Einstellung zur Schadenswiedergutmachung als strafrechtliche Sanktion

a) Der Richter hat einen Diebstahl abzuurteilen. Er möchte, daß der Täter eine Geldstrafe
von 1000 D M zahlt (die in die Staatskasse fließt). Er sieht aber, daß das Opfer mit seinem
Schaden, der auch annähernd 1000 DM beträgt, leer ausgehen würde, denn der Täter
könnte nicht beides zahlen. Nehmen wir an, der Richter könnte zwischen folgenden
Möglichkeiten wählen. Zu welcher würden Sie ihm raten?

Nicht- Opfer Summe


opfer
Der Richter soll den Täter Eigen- Woh- Gewalt-
tums- nungs- delikte
delikte einbruch
% % % % 0/
/o

- zu einer Geldstrafe in Höhe von 8,8 10,2 10,8 6,2 9,3


1000 D M verurteilen (das Opfer
muß also seine Forderung vor
einem Zivilgericht geltend
machen)
- zu einer Geldstrafe von 500 DM 18,2 15,7 10,8 11,5 16,1
und zur Entschädigung des
Opfers in Höhe von 500 D M
verurteilen (das Opfer muß also
seine restliche Forderung vor
einem Zivilgericht geltend
machen)
- statt zu einer Geldstrafe zur 72,9 74,1 78,5 82,3 74,6
Entschädigung des Opfers in
Höhe von 1000 DM verurteilen
(es wird also auf eine Geldstrafe
verzichtet)

Summe % 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (658) (688) (93) (130) (1569)

oder unmöglich werden würde. Ebenso bestand eine generelle Bereit-


schaft, auf die Strafe im Falle abgeschlossener Wiedergutmachung zu
verzichten (bei Diebstahl; Tabelle 3 c) und dies in erheblichem Ausmaße
auch dann, wenn die Probanden selbst Opfer einer Straftat geworden
waren und der Richter im konkreten Fall Wiedergutmachung statt
Strafe, ganz oder teilweise, vorgeschlagen hätte (Tabelle 3 d).
In weiteren Untersuchungsschritten ging es nicht nur um das Ver-
hältnis zwischen Bestrafung und Wiedergutmachung in einem Strafur-
teil, sondern auch um das Verhältnis zwischen privater Einigung und
strafrechtlicher Intervention im Falle einer Straftat. Zu diesem Zweck
wurden, auf Subpopulationen verteilt, insgesamt 38 fiktive Deliktssitua-
tionen gebildet und die Probanden gefragt, ob ihrer Meinung nach Täter
und Opfer sich privat oder mit Hilfe einer Schiedsperson einigen sollten,
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 389

Tabelle 3 (Fortsetzung)

b) Der Richter hat einen Einbruchsdiebstahl abzuurteilen. Üblicherweise hat ein Täter bei
dieser Sachlage dafür 18 Monate abzusitzen. Der Richter sieht aber, daß dieser dann seinen
Arbeitsplatz verlieren würde. Das Opfer würde mit seinem Schaden von 6000 D M leer
ausgehen. Was würden Sie dem Richter raten?

Nicht- Opfer Summe


opfer
Der Richter soll Eigen- Woh- Gewalt-
tums- nungs- delikte
delikte einbruch
% % % % %

- den Täter zu der 18monatigen zu 4,8 5,8 7,4 3,8 5,3


verbüßenden Freiheitsstrafe
verurteilen (das Opfer muß also
seine Forderung vor einem
Zivilgericht geltend machen)
- die Freiheitsstrafe zur 87,4 88,5 84,0 87,7 87,7
Bewährung aussetzen, damit der
Täter in Freiheit bleibt und seiner
Arbeit nachgehen kann. Ihm
wird gleichzeitig auferlegt
den Schaden des Opfers von
6000 D M in Monatsraten zu
ersetzen
- den Täter zur Entschädigung 7,8 5,8 8,5 8,5 7,0
des Opfers in Monatsraten
verurteilen (es wird also auf eine
Freiheitsstrafe mit oder ohne
Bewährung verzichtet)

Summe % 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (665) (693) (94) (130) (1582)

ob die Strafjustiz eine solche Einigung übernehmen und überwachen


sollte, ob der Täter bestraft werden sollte, gegebenenfalls mit ganzer,
teilweiser oder überhaupt keiner Anrechnung einer etwaigen Wiedergut-
machung auf die Strafe. Das Ergebnis entspricht sicher nicht üblichen
Erwartungen: über 40 % der Befragten traten für eine außerstrafrechtli-
che Lösung, nur 22 % für eine rückhaltlose Bestrafung ein. Beispiels-
weise wurde der privat (oder mit Hilfe einer Schiedsperson) zu vereinba-
rende Täter-Opfer-Ausgleich von über drei Viertel der Probanden bei
Zechbetrug, Verwandtenbetrug, Bagatelldiebstahl und Schwarzfahren
gutgeheißen, während umgekehrt nur bei der Vergewaltigung (bis zu
80 %), eingeschränkt auch noch beim Wohnungseinbruch (bis zu 50 %)
die kompromißlose Bestrafung dominierte; in allen anderen Fällen sollte
die Wiedergutmachung in einem Maße Berücksichtigung finden, daß
390 Klaus Sessar

Tabelle 3 (Fortsetzung)
c) Stellen Sie sich vor, ein Bekannter von Ihnen ist bestohlen worden. Er hat von einem
Gericht bereits Schadensersatz in voller Höhe zugesprochen bekommen. Der Täter hat
bereits gezahlt. Nun überlegt Ihr Bekannter, ob er sich weiterhin bemühen soll, daß der
Täter angeklagt wird.
Nicht- Opfer Summe
opfer
Was raten Sie ihm? Eigen- Woh- Gewalt-
tums- nungs- delikte
delikte einbruch
o/
/o % 0/
lo o/
/o o/
/o

- der Täter sollte auf jeden Fall 17,6 21,3 20,2 17,7 19,4
noch angeklagt werden
- es genügt, daß der Täter den 82,4 78,7 79,8 82,3 80,6
Schaden bezahlt hat

Summe % 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (665) (690) (94) (130) (1579)

d) Nehmen Sie einmal an, in Ihrem Fall hätte es einen Richter gegeben, der Ihnen in der
Gerichtsverhandlung folgenden Vorschlag gemacht hätte. Der Täter soll sich verpflichten,
bei Ihnen den Schaden wiedergutzumachen. Wenn er dies tut, wird die sonst vorgesehene
Strafe - je nach d e r S c h w e r e der Straftat - ganz oder teilweise erlassen.

Nicht- Opfer Summe


opfer
Wären Sie mit einem solchen Eigen- Woh- Gewalt-
Vorschlag einverstanden gewesen? tums- nungs- delikte
delikte einbruch
o/ o/
% % /o /o

- ich wäre damit einverstanden _ 53,0 28,4 45,5 49,0


gewesen, daß dann die Strafe
ganz erlassen wird
- ich wäre damit einverstanden - 33,8 48,5 33,3 35,4
gewesen, daß dann die Strafe
teilweise erlassen wird
- ich wäre nicht damit - 13,2 22,1 21,2 15,6
einverstanden gewesen, die Strafe
dann ganz oder teilweise zu
erlassen

Summe % - 100,0 100,0 100,0 100,0


(N) (417) (68) (99) (584)

zumindest eine Verrechnung mit der zu verhängenden Strafe möglich


sein sollte (der fiktive Täter war 30 Jahre alt, ledig und nicht vorbe-
straft) 36 .
36 Zu diesem Forschungsabschnitt eingehend Sessar/Beurskens/Boers (Anm. 27).
Neue Wege der Kriminologie aus dem Strafrecht 391

V. Schlußbemerkung
Die Kriminologie ist auf dem Weg zu weiteren Ufern. Nach einer eher
systeminternen Problematisierung der Kontrollstile des Strafrechts und
der Strafjustiz werden allmählich deren Grundlagen selbst überdacht
und mit der Forderung verknüpft, sie einem empirischen Prüfverfahren
zu unterwerfen. Im vorliegenden Zusammenhang ging es dabei um die
Legitimation von Strafe angesichts einer hierdurch, wie zu vermuten ist,
aufrechterhaltenen sozialen Friedlosigkeit, die sich in verbleibenden
Ohnmachts- und Frustrationsgefühlen der unmittelbar Betroffenen, der
Opfer also, und in einer gewissen generellen Ratlosigkeit auszudrücken
scheint, wie man auf Strafe aus sein kann, ohne sich um die akute
Problemlösung zu kümmern. Zumindest in der Bevölkerung existieren
sichtlich andere Prioritäten. Natürlich brachten die vorgestellten Resul-
tate, die Teil gesicherter internationaler Forschungen sind, noch nicht
den Abgesang auf das Strafrecht, vielmehr raten sie einstweilen zu
Vorsicht und Zurückhaltung bei der Geltendmachung allgemeiner Straf-
ansprüche, die sich weitaus eher als solche des Strafrechts oder der
Strafjustiz herausstellen könnten. Langfristig könnten sich die krimino-
logischen Bemühungen dann aber der Frage zuwenden, welche Verbin-
dungen das Strafrecht überhaupt noch zu sozialen Realitäten sucht, ob es
an ihrer Gestaltung im Sinne gesellschaftlicher Bedürfnisse und Ansprü-
che mitzuwirken bereit ist, was möglicherweise eine nur noch beschei-
dene Rolle bedeutete, oder ob es kraft der Eigendynamik von Profes-
sion, Organisation und Ideologie nicht längst zu einem bedarfsunabhän-
gigen Macht- und Ordnungsanspruch gefunden hat, nicht ungefährlich
angesichts des hochdifferenzierten Instrumentariums repressiver Sank-
tionen, das ihm zur Verfügung steht.
Zum Funktionswandel des Jugendarrests
F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN

Zu den Arbeitsgebieten Hilde Kaufmanns, deren ehrendem Gedächt-


nis dieser Band gewidmet ist, haben besonders auch das Jugendstrafrecht
und die Jugendkriminologie gehört. So mag es angezeigt sein, ihrer mit
einem Diskussionsbeitrag zum Jugendarrest zu gedenken, einem seit
Jahrzehnten umstrittenen und bis heute offenen Problem der Jugendkri-
minalpolitik. Wenn wir diesen Beitrag unter die Uberschrift „Funk-
tionswandel des Jugendarrests" stellen, so soll damit angedeutet werden,
daß sich seit der Einführung des Jugendarrests in das deutsche Jugend-
strafrecht im Jahre 1940, aber auch seit seiner Übernahme in das geltende
J G G 1953 bis heute sowohl in der Klientel der Rechtsfolge wie auch in
deren kriminalpolitischer Zielsetzung wesentliche Wandlungen vollzo-
gen haben und noch weiter vollziehen, die in der wissenschaftlichen
Diskussion wie auch in einem Teil der Praxis nicht immer die ihnen
gebührende Beachtung gefunden haben. Diese Wandlungen haben -
sieht man einmal von der sie noch nicht hinreichend berücksichtigenden
Jugendarrestvollzugsordnung von 1977 ab - ohne Gesetzesänderungen,
allein aufgrund einer allmählichen Änderung der jugendrichterlichen
Rechtsfolgenbestimmung stattgefunden. Sie sind damit ein Teil jener
Umgestaltung unseres Jugendstrafrechts durch die Praxis, die wegen der
bedauerlichen Schwerfälligkeit unserer Gesetzgebung gerade auch auf
diesem Gebiet der Rechtsentwicklung die Gewichte zwischen Legisla-
tive und Judikative in einer mit der Gewaltenteilung nur noch schwer zu
vereinenden, aber doch wohl unvermeidlichen Weise verschoben hat.
Das Vordringen der ambulanten zu Lasten der stationären Rechtsfolgen,
das Aufkommen neuer, dem J G G noch unbekannter Institutionen wie
der Betreuungsweisungen oder der sozialen Trainigskurse sowie, damit
verbunden, auf verfahrensrechtlichem Gebiet die schnelle Zunahme der
Diversion kennzeichnen diese Entwicklung. Daß damit der Jugendarrest
betroffen ist, bedarf für den Kundigen kaum weiterer Hervorhebung,
weil jene neuen Rechtsfolgen ebenso wie die Diversion von ihren
Vorkämpfern bewußt und betont mit dem Ziele eingesetzt werden, mit
ihnen den Jugendarrest zurückzudrängen oder ihn gar völlig zu ersetzen.
Wenn wir demgegenüber den eigenen Standpunkt den es zu begrün-
den gilt, an den Anfang unserer Ausführungen setzen, so lautet er: Eine
weitere Zurückdrängung des Jugendarrests durch ambulante Maßnah-
394 Friedrich Schaffstein

men ist wünschenswert, seine völlige Beseitigung ist jedoch weder


erwünscht noch ohne Schaffung einer kaum zu schließenden Lücke in
unserem jugendkriminalrechtlichen Rechtsfolgensystem möglich. Dage-
gen sind sowohl in bezug auf die Voraussetzungen bei der Klientel
namentlich beim Dauerarrest wie auch hinsichtlich der Vollzugsmetho-
den die inzwischen eingetretenen Wandlungen in der Funktion des
Jugendarrests zu berücksichtigen.
Um Ursachen und Ausmaß dieser Wandlungen zu bestimmen, ist es
notwendig, sich zunächst auf die Ausgangslage bei der Einführung des
Jugendarrests im Jahre 1940 zu besinnen. Die Geschichte des Jugendar-
rests ist freilich in letzter Zeit bereits wiederholt, wenn auch mit
unterschiedlicher Akzentuierung dargestellt worden1, so daß wir uns
hier auf einige ergänzende Bemerkungen beschränken dürfen.
Der Jugendarrest ist bekanntlich im Jahre 1940 mit der Begründung,
daß es in der Kriegszeit eines kurzen harten Disziplinierungsmittels bei
sozialwidrigem Verhalten der ohne ihre im Felde befindlichen Väter
aufwachsenden Jugendlichen bedürfe, vom nationalsozialistischen
Gesetzgeber eingeführt worden. Diese Herkunft des Jugendarrests wird
heute oft als Argument gegen ihn verwendet. Indessen darf dabei nicht
übersehen werden, daß die Idee des Jugendarrests auf den später als
Vorkämpfer des Pazifismus verfolgten Philosophen und Sozialpädago-
gen Friedrich Wilhelm Förster zurückgeht, der sie in seinem berühmten
Referat auf dem 3. Deutschen Jugendgerichtstag in Frankfurt 19122
neben vielen anderen zukunftsträchtigen Vorschlägen zur Jugendkrimi-
nalität (z. B. gemeinnützige Arbeit und Schadenswiedergutmachung an
Stelle kurzzeitiger Freiheitsstrafe) unter Hinweis auf einige kantonale
schweizerische Vorbilder zuerst entwickelt hat3. Deshalb ist es falsch,
1 Vgl. Jung, J Z 1978, 621 ff; Chr. Pfeiffer, MschrKrim. 1981, 28 ff; Böhm, Einführung
in das Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 1985, 161 f.
2 Neudruck bei Schaffstein/Miehe, W e g und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1968,
31 ff.
3 D e m A u t o r dieses Beitrages ist der Ersatz der kurzen Freiheitsstrafe, deren Mindest-

dauer damals einen Tag betrug, durch einen nicht als Kriminalstrafe ausgestatteten
Jugendarrest unter Hinweis auf Försters Vorschlag durch den Sozialpädagogen und Psy-
chologen Curt Bondy, bis 1932 Leiter des thüringischen Jugendgefängnisses in Eisenach
nahegebracht worden. E r hat ihn dann auch nach Bondys Emigration in den Jahren vor
dem 2. Weltkrieg in der kriminalpolitischen Diskussion und insbesondere in der Jugend-
rechtskommission der damaligen Akademie für Deutsches Recht, vertreten. Als Dauerar-
rest schwebte mir ursprünglich ein längerer Freiheitsentzug nach dem Vorbild der engli-
schen preventiv detention vor. - Das Vorbild für den Freizeitarrest war für mich die von
dem Göttinger Vormundschafts- und Jugendrichter Fehler geübte Praxis, bei Jugendlichen
eine nach Tagen bemessene Freiheitsstrafe am Wochenende im örtlichen Gerichtsgefängnis
verbüßen zu lassen, eine Praxis, die sich damals bewährt hatte und wohl auch von manchen
anderen Jugendrichtern geübt wurde, um den Arbeitsplatz des Jugendlichen nicht zu
gefährden, andererseits aber auch den kurzen Freiheitsentzug für den Jugendlichen fühlbar
zu gestalten.
Funktionswandel des Jugendarrests 395

den Jugendarrest und seine Funktion im deutschen Jugendstrafrechtssy-


stem nur nach dem zeitgeschichtlichen Anlaß seiner Einführung zu
beurteilen. Den richtigen Hintergrund für seine Beurteilung gibt erst
jene Konzeption des Verhältnisses von Strafe und Erziehung im Jugend-
strafrecht, welche F. W. Förster in jenem grundlegenden Referat auf dem
3. Frankfurter Jugendgerichtstag entwickelt hat. Anders wäre es auch
nicht zu erklären, daß der JGG-Gesetzgeber von 1953, dessen erklärtes
Ziel es war, nationalsozialistische Spuren aus dem JGG 1943 zu entfer-
nen, den Jugendarrest nach manchem Hin und Her schließlich doch
beibehalten hat4. Gleichwohl sollte nicht verkannt werden, daß schon
die Termini „Zuchtmittel" und „Arrest" ebenso wie die damalige Form
des Arrestvollzuges (Einzelhaft, „strenge Tage" u. dgl.) und die von
ihnen erhoffte Wirkung („Weckung des Ehrgefühls") dem Zeitgeist jener
Jahre verhaftet waren 5 . Sie waren, was wiederum heute oft übersehen
wird, an der Mentalität der von diesem Zeitgeist geprägten Jugend
ausgerichtet, die, weniger sensibel als die heutige, durch ein „autoritär"
und repressiv wirkendes Disziplinierungsmittel, welches den short sharp
shok anstrebte, leichter ansprechbar, als es für die Jugend des Jahres
1986 denkbar wäre.
Die ursprüngliche Funktion und zugleich die Klientel des Jugendar-
rests wurde durch zwei Bestimmungen bezeichnet: Einmal durch den
§ 13 JGG, der in seinem Abs. 1 den Richter anweist, eine Jugendstraftat
mit Zuchtmitteln zu „ahnden", wenn Jugendstrafe nicht geboten ist,
dem Jugendlichen aber „eindringlich zum Bewußtsein gebracht werden
muß, daß er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat." Die
zweite Bestimmung stellen die Richtlinien zu § 16 und zwar insbeson-
dere deren Nr. 1 dar: danach ist „der Jugendarrest ein geeignetes Zucht-
mittel bei nicht allzu schweren Verfehlungen gutgearteter Jugendlicher,
die durch einen kurzen, strengen Freiheitsentzug, den damit verbunde-
nen Zwang zur Selbstbesinnung und die Betreuung während des Arrests
noch erzieherisch beeinflußt werden können."
Bekanntlich hat der damit ausdrücklich auf die „gutgearteten"
Jugendlichen beschränkte Jugendarrest in den beiden ersten Jahrzehnten
nach seiner Einführung eine außerordentlich starke, nach heutigem
Urteil weit überzogene Anwendung gefunden. Im Jahre 1958 waren
noch über 40 % aller nach Jugendstrafrecht verhängten Rechtsfolgen

4 Böhm, (Fn. 1), S. 162, weist mit Recht darauf hin, daß selbst die DDR, die 1952 den
Jugendarrest als „nazistische Erfindung" abgeschafft hatte, 1968 mit dem Namen „Jugend-
haft" eine kurze Freiheitsentziehung (von 1 Woche bis zu 3 Monaten) als Disziplinierungs-
mittel bei weniger schweren Straftaten (u. a. „Rowdytum") wieder eingeführt hat (§ 74
StGB DDR). Vgl. auch Böhms Hinweis auf das gleichen Zielen dienende Niederländische
Trainingslager „De Corridor".
5 Vgl. dazu zutreffend Jung (Fn. 1), 621 ff.
396 Friedrich Schaffstein

Dauer- und Freizeitarreste. Erst seither ist unter dem Einfluß einer zwar
gelegentlich übertriebenen, doch in wesentlichen Punkten zutreffenden
Kritik am Jugendarrest' dessen inflationäre Anwendung zurückgegangen
und die Art seines Vollzuges gelockert worden.
Die Kritik kam, wie ebenfalls bekannt ist und hier nur andeutungs-
weise wiederholt zu werden braucht, von durchaus verschiedenen Seiten
und mit unterschiedlichen Argumenten7. Soweit diese Argumente vor-
nehmlich ideologisch bestimmt sind und auf der „antiautoritären Päd-
agogik" der frühen siebziger Jahre aufbauen, ist eine sinnvolle Auseinan-
dersetzung mit ihnen kaum möglich. So mag hier die Feststellung
genügen, daß m. E. Repression und Prävention sich nicht gegenseitig
ausschließen müssen und daß auch Strafe ein sinnvolles Erziehungsmittel
sein kann. Mag auch der Ausspruch „Zuchtmittel" uns heute als veraltet
erscheinen, so gilt das doch nicht von der Formulierungen des § 12 J G G ,
daß es im Jugendstrafrecht Mittel der Ahndung geben muß, um dem
Jugendlichen seine Verantwortung für das von ihm begangene Unrecht
und die Notwendigkeit seines Einstehens dafür eindringlich zum
Bewußtsein zu bringen.
Aber wer auch diesen unseren grundsätzlichen Standpunkt teilt, wird
in der geäußerten Kritik am Jugendarrest oder doch an dessen Handha-
bung in der jugendgerichtlichen Praxis manchen durchaus berechtigten
Ansatzpunkt finden. Dies gilt zunächst einmal von dem bereits seit
langem erhobenen Einwand, daß allzu oft „Arrestungeeignete", nämlich
solche, die nach einem bereits verbüßten Arrest rückfällig geworden
sind, ferner FE-Zöglinge oder bereits allzu schwer Verwahrloste zu
Jugendarrest verurteilt wurden, wobei dann gerade diese „Ungeeigne-
ten" die Rückfallstatistik des Jugendarrests erheblich verschlechterten. -
Besonders von sozialpädagogischer Seite wurde ferner eingewendet, daß
die kurze Dauer des Arrests und die Art seines Vollzuges eine pädagogi-
sche Behandlung, die noch dazu ursprünglich auf einige Gespräche des
Jugendrichters als Vollzugsleiter mit dem Arrestanten beschränkt sein
sollte, von vornherein ausschließen, und gerade diese Vollzugsweise den

6 Vgl. besonders Eisenhardt, Die Wirkungen der kurzen Haft auf Jugendliche, 1977;
Jung (Fn.l); Plewig, MschrKrim. 1980, 20ff; Pfeiffer (Fn. 1), 28ff. Ferner die Referate
von Plewig/Hinrichs, Bericht über die Verhandlungen des 17. Dt. Jugendgerichtstages in
Saarbrücken, 387 ff und von Feltes/Möller, Bericht über die Verhandlungen des 18. Dt.
Jugendgerichtstages in Göttingen, 311 ff.
7 Von den Kommentatoren des JGG hält Brunner, 7. Aufl. §16, Rdn. 5-7 trotz
Anerkennung mancher erhobenen Bedenken am Jugendarrest nachdrücklich fest, während
ihn Eisenberg, §13 Rdn. 9 für erzieherisch ungeeignet hält und daher ablehnt. Eine sehr
abgewogene Stellungnahme im Anschluß an die Reformvorschläge Eisenhardts findet sich
bei Jung (Fn. 1) und bei Böhm (Fn. 1) S. 161, 167 f.
Funktionswandel des Jugendarrests 397

Jugendlichen nur in seiner Trotzhaltung gegen die Gesellschaft bestär-


ken würde. N o c h gewichtiger waren wohl die Beobachtungen des
Psychologen Eisenhardt in seinem freilich auch schon wieder überholten
Bericht über alle von ihm besuchten deutschen Jugendarrestanstalten:
die vom Jugendarrest erwartete Besinnungs- und Denkzettel-Wirkung
trete zwar in den ersten vier Tagen ein, mache dann aber einer Gewöh-
nung und einem bloßen „Abbrummen" des Arrests Platz 8 .
Ein weiterer Ansatzpunkt der Kritik war und ist die lange Zeit, die
zwischen Tat und Verhängung des Arrests einerseits, seiner Vollstrek-
kung andererseits (durchschnittlich 3 - 6 Monate)' liegt. Bedenkt man,
daß die Verfechter des Jugendarrests, darunter auch der Verfasser,
seinerzeit dessen entscheidenden Vorzug gegenüber der nach dem J G G
1923 in den entsprechenden Fällen allein zulässigen bedingten Strafaus-
setzung kurzer Gefängnisstrafen zur Bewährung mit dem Schlagwort
„Sofortwirkung, aber keine Fernwirkung der Ahndung" sehen wollten,
so wurde gerade dieses Ziel einer für die Ahndung von Jugendstraftaten
besonders wichtigen Sofortwirkung nicht erreicht. Die unendliche und
offenbar unüberwindliche Schwerfälligkeit der Justizbürokratie läßt
auch wenig H o f f n u n g , daß es jemals erreicht werden könnte 10 .
Die Kritik am Jugendarrest hat im Vergleich der 50er und 60er Jahre
mit dem letzten Jahrzehnt zu einem wesentlichen Rückgang des prozen-
tualen Anteils des Jugendarrests unter dem nach Jugendstrafrechts ver-
hängten Rechtsfolgen gegen jugendliche und heranwachsende Täter
geführt. Doch war dieser Rückgang nur möglich, weil sich gleichzeitig
in einer Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung eine Reihe von
Alternativen zum Jugendarrest herausgebildet hat. Dazu gehörten schon
am Anfang die Geldauflage nach § 15 Abs. 1 N r . 3 J G G , deren Zunahme
allerdings in den letzten Jahren durch die Zunahme der Jugendarbeitslo-
sigkeit eine Grenze gesetzt worden ist. Wichtiger, auch weit pädago-
gisch sinnvoller sind die Weisung, eine gemeinnützige Arbeitsleistung zu
erbringen (§10 Abs. 1 N r . 4 J G G ) , die durch die von Cb. Pfeiffer
initiierten „Brücke"-Modelle in mehreren Großstädten die jugendge-
richtliche Praxis verändert hat, ferner die zunächst von Simonsohn
angeregten, allmählich über das Experimentierstadium bereits hinaus-
wachsenden sozialen Trainingskurse, neue Bestrebungen, im Rahmen

8
Eisenhardt (Fn. 6).
9
So auch die Beobachtungen von Feltes (Fn. 6) S. 290 ff. Kürzliche Erkundigungen des
Verf. in einzelnen Anstalten bestätigen dies Ergebnis auch noch für das Jahr 1985.
10
In der Jugendarrestanstalt Königslutter wurde dem Verf. mitgeteilt, daß aufgrund
telefonischer Verständigung zwischen Jugendrichter und Jugendarrestanstalt ein sofortiger
Arrestvollzug immerhin in besonders dringenden Fällen erfolge.
398 Friedrich Schaffstein

eines Täter-Opfer-Ausgleichs der Wiedergutmachung des Schadens zu


größerer Bedeutung zu verhelfen, und endlich, zahlenmäßig am bedeu-
tendsten, die informelle Erledigung von jugendlicher Kleinkriminalität
durch Diversion, welche auf der Grundlage der §§ 45 Abs. 1 und 2 sowie
47 J G G nicht Jugendarrest, wohl aber jene zuletzt genannten Alternati-
ven zuläßt.
Zahlenmäßig läßt sich die Diversion nur unvollständig erfassen, da die
Strafverfolgungsstatistik nur die unter Einschaltung des Jugendrichters
nach §45 Abs. 1 und § 4 7 J G G erfolgten Einstellungen ausweist, die
immerhin schon in den fünf Jahren von 1976 bis 1980 von 28,9 auf
35,7 % aller Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende gestie-
gen war. Die gerade in den letzten Jahren besonders stark propagierten
Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft ohne Einschaltung des
Jugendrichters (§ 45 Abs. 2), die aus der Statistik nicht ersichtlich sind,
wurden schon 1978 auf etwa 15 % geschätzt, dürften ihren Anteil aber
seither ganz erheblich erhöht haben. Das unter diesen von Jahr zu Jahr
zunehmenden informellen Erledigungen von Jugendsverfahren, die
ungeachtet sehr unterschiedlicher Handhabung in den einzelnen Län-
dern, ja auch in den einzelnen Gerichtsbezirken sich auch zahlreiche
Fälle von Bagatellkriminalität befinden, die noch in den 50er und 60er
Jahren mit Jugendarrest geahndet worden wären, dürfte nicht zweifel-
haft sein. Aber selbst wenn man die Diversion unberücksichtigt läßt,
zeigt die Verurteiltenstatistik deutlich den Rückgang des Jugendarrests
zugunsten der oben genannten alternativen Rechtsfolgen.
Auf 1000 nach Jugendstrafrecht Verurteilte entfielen:

Jahr Dauer- Freizeit- Geldaufl. Weisungen Jugend-


arrest arrest strafen

1958 203 209 292 100,0 150


1967 189 204 300 122 138
1970 123 146 406 136 130
1975 94 108 381 209 165
1980 78,5 111,3 315 308 136
1982 89,7 104,1 321 399 130
1983 90,9 103,5 292 459 146

Während in den 25 Jahren zwischen 1958 und 1983 die Verurteilungen


zu Dauer- und Freizeitarrest auf weniger als die Hälfte zurückgegangen
sind, ist dieser Rückgang zunächst bis 1970 durch eine Zunahme der
Geldauflagen, seither aber vor allem durch eine von Jahr zu Jahr stetige
Zunahme der Weisungen, unter denen wohl die als solche in der Statistik
Funktionswandel des Jugendarrests 399

nicht ausgewiesenen Arbeitsweisungen einen besonderen Vorrang ein-


nehmen dürften, gekennzeichnet worden11.
Indessen zeigt uns die Statistik ebenfalls, daß dann, wenn es zu einem
formellen, mit einer Verurteilung endenden Verfahren kommt, der
Prozentsatz des Jugendarrests zwar bis 1975, seither aber nicht mehr
zurückgegangen ist. Wegen der erhöhten Zahl der Verurteilten insge-
samt haben sich auch die absoluten Zahlen der Verurteilten zu Dauerar-
rest von 9133 im Jahre 1975 über 10413 (1980) bis 13 510 (1983) erhöht.
Dies wird man nur damit erklären können, daß trotz der intensiven
Kritik am Jugendarrest, die doch wohl auch bis zu den meisten Jugend-
richtern gedrungen sein dürfte, die Praxis auf diese Rechtsfolge nicht in
allen Fällen verzichten mag. Fragt man nun aber, welches diese Fälle
sind, so wird man schon aufgrund der Verurteiltenstatistik einen Wandel
in der Klientel und damit auch in der Funktion des Jugendarrests, und
zwar namentlich des Dauerarrests, feststellen dürfen. Denn wenn im
Vergleich mit den 60er Jahren der Jugendarrest seither zunächst zugun-
sten der Geldauflagen, später vor allem zugunsten der Weisungen
zurückging, die 1958 nur ein Viertel, 1983 aber mehr als das Vierfache
der Dauerarreste ausmachten, so wird man davon ausgehen dürfen, daß
es vor allem die „leichten Fälle", also die „gutgearteten" Täter im Sinne
der Richtlinien, waren, die heute überwiegend vom Jugendarrest ver-
schont blieben.
Entsprechendes gilt auch für die Diversion. Labeling-Ansatz und
Dunkelfeldziffern haben sich auch in der Praxis herumgesprochen. Sie
haben das Ihre dazu beigetragen, die Jugendrichter von der Normalität
und Ubiquität der Entwicklungskriminalität, zugleich aber auch von den
Bedenken gegen den Stigmatisierungseffekt eines förmlichen Strafver-
fahrens mit stationären Rechtsfolgen zu überzeugen. So sind es wie-
derum gerade diese „leichten", „normalen" Fälle, in denen Richter und
Staatsanwälte in den letzten Jahren in zunehmendem Maße von einem
förmlichen Verfahren, damit aber auch von der Anordnung des Jugend-
arrests abgesehen haben.
Wenn aber nun heute jene „gutgearteten" Jugendlichen im Sinne der
Richtlinien zu § 16 J G G nur noch relativ selten in den Jugendarrest
gelangen, so kann der quantitativ gleichbleibende Restbestand der Arre-

11 D a die Kriminalstatistik die A r t der Weisungen nicht ausweist, sind hier nur
Vermutungen möglich. Auch ist zu beachten, daß Weisungen neben anderen Rechtsfolgen
(z. B. Betreuungsweisungen neben Jugendarrest) angeordnet werden können. Gleichwohl
zeigt das von Jahr zu Jahr steigende Vordringen der Weisungen, in 25 Jahren auf das
Viereinhalbfache, sehr eindrucksvoll die Wandlungen in der Rechtsfolgen-Praxis der
Jugendgerichte zugunsten ambulanter erzieherischer Maßnahmen, eine Entwicklung, die
durch die aus der Verurteiltenstatistik jedenfalls nicht ersichtliche Zunahme der Diversio-
nen noch wesentlich verstärkt wird.
400 Friedrich Schaffstein

stanten jetzt nur noch vorwiegend aus solchen Jugendlichen und Heran-
wachsenden bestehen, die nach Tat und Persönlichkeit in den oberen
Bereich sozialer Gefährdung, gleichsam an die Grenze zu den „schädli-
chen Neigungen", einzuordnen sind. Eben diese Vermutung wird durch
die einzige und deshalb dringend kontroll- und ergänzungsbedürftige
empirische Untersuchung bestätigt, die es über heutige Dauerarrestanten
gibt12. Pfeiffer hat alle Arrestanten, die in dem Jahre 1979 Jugendarrest in
den Arrestanstalten München, Hamburg und Kaufungen verbüßt haben,
auch daraufhin untersucht, wieviele von 9 sog. „Gefährdungsmerkma-
len" bei ihnen vorlagen. Hier kann es nicht darauf ankommen, des
Näheren über die Untersuchung Pfeiffers zu berichten oder gar eine
vielleicht in einigen Punkten mögliche Kritik an ihr zu üben. Vielmehr
scheint es uns in unserem Zusammenhang nur wichtig zu sein, daß
Pfeiffer auch auf der Grundlage seines groben Rasters zu dem von uns
eigentlich schon erwarteten Ergebnis kommt, daß von seinen 1563
Probanden nur etwa ein Viertel völlig unbelastet war, dagegen 40,3 %
zwei oder mehr „Gefährdungsmerkmale" aufwies und damit - so Pfeif-
fer - „nach offizieller Terminologie" mit großer Wahrscheinlichkeit
nicht mehr den „Gutgearteten" zugerechnet werden könne..
Ob man sie deshalb, wie Pfeiffer es tut, sämtlich als „arrestungeeig-
net" bezeichnen muß, ist eine andere Frage, die hier zunächst nicht
weiter diskutiert werden soll. Worauf es uns ankommt, ist allein die sich
durch Pfeiffers Zahlen bestätigende Feststellung, daß mit der Zunahme
informeller Verfahrensformen (Diversion) und der gleichfalls zuneh-
menden Bereitstellung ambulanter Alternativen die Klientel des Jugend-
arrests sich wesentlich verändert hat. Hält man an der Terminologie der
Richtlinien fest, so wird man feststellen dürfen, daß die sog. „Gutgearte-
ten" in ihm allenfalls nur noch die Hälfte der Insassen ausmachen,
während die andere Hälfte bereits als erheblich gefährdet angesehen
werden muß. Richtiger aber ist wohl, daß es überhaupt keine eindeutig
bestimmbare Grenze zwischen „Gutgearteten" und „Gefährdeten" gibt,
sondern zwischen diesen Gruppen nur fließende Übergänge bestehen,
innerhalb deren sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte dank einer
veränderten Jugendgerichtspraxis bei den Jugendarrestanten das Schwer-
gewicht auf die letzteren verlagert hat. Aber wie dem auch sei: jedenfalls
bedarf es der Klärung, welche kriminalpolitischen Konsequenzen aus
diesen Feststellungen zu ziehen sind.
Zunächst fragt es sich, ob überhaupt die Beibehaltung des Jugendar-
rests noch sinnvoll ist, wenn er für die Gruppe, für die er eigentlich
12 Pfeiffer (Fn. 1) S. 28 ff. Vgl. auch die eindrückliche Beschreibung der Motivationen,

die heute der jugendrichterlichen Anordnung des Jugendarrests zugrundeliegen, bei Möller
(Fn. 6) S. 115.
13 Pfeiffer (Fn. 1) S. 36 ff.
Funktionswandel des Jugendarrests 401

gedacht war, zunehmend durch pädagogisch wirksamere ambulante


Maßnahmen ersetzt wird. Ich möchte diese Frage zumindest für die
Gegenwart, wenn auch mit einigen Vorbehalten, bejahen. Für die
Gegenwart deshalb, weil jenes Netz ambulanter Maßnahmen noch
keineswegs so lückenlos und flächendeckend ist, wie es zu wünschen
wäre. Vor allem in ländlichen Gerichts- und Jugendamtsbezirken, aber
auch in vielen Großstädten fehlen einstweilen nach Organisationen wie
„die Brücke", welche gemeinnützige Arbeit, Täter-Opfer-Ausgleich
oder soziale Trainingskurse vermitteln können. So wie die Verhältnisse
einstweilen und wohl noch auf längere Zeit beschaffen sind, befinden
wir uns hier immer noch in Ubergangs- und Experimentierstadium, das
von den Jugendrichtern, Jugendämtern und sozialpolitisch engagierten
Verbänden viel Eigeninitiative verlangt, die nun einmal nicht überall
vorhanden ist und auch nicht so schnell erwartet werden kann. Eben dies
ist wohl der Grund, warum nicht nur der Jugendarrest ungeachtet aller
an ihm geübten Kritik einen doch recht beträchtlichen Anteil unter den
Sanktionen des JGG behauptet hat, sondern sich auch unter den Jugend-
arrestanten einstweilen neben den stärker Gefährdeten - wenn man
P f e i f f e r s Material und seine Untersuchungsergebnisse zugrundelegt -
doch immer noch annähernd die Hälfte mit keinem oder nur einem
Gefährdungsmerkmal befindet.
Geht man nun davon aus, daß es nach Überwindung dieser Über-
gangsphase möglich sein sollte, den Prozentsatz der nur Gering-Gefähr-
deten durch Diversion und Bereitstellung ambulanter Alternativen
wesentlich zu senken, so bleiben für den Jugendarrest immer noch drei
Fallgruppen übrig:
1. Die Fälle des Beuge- (oder besser: des Ungehorsams-)arrests. Es
herrscht im Schrifttum Einmütigkeit darüber, daß der nach §11 Abs. 3
und § 15 Abs.2 JGG verhängte Jugendarrest den durch die schuldhafte
Nichtbefolgung der Weisungen bzw. Auflagen bewiesenen Ungehorsam
gegen richterliche Anordnungen ahnden soll. Damit ersetzt er nicht etwa
wie die Ersatzfreiheitsstrafe die Weisungen und Auflagen, sondern soll
deren künftige Befolgung sichern. In dieser Funktion ist der Jugendar-
rest m. E. trotz aller auch hiergegen erhobenen Einwendungen unver-
zichtbar. Diese Einwendungen beziehen sich insbesondere darauf, daß
die erzieherische Wirksamkeit der Weisungen und Auflagen gefährdet
sei, wenn ihre Befolgung nicht völlig freiwillig sei, sondern durch die
Arrestdrohung erzwungen werde14. Doch auch abgesehen davon, daß

14 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung der Freiwilligkeitsproblematik in Max Busch /

Gunhild Hartmann, Soziale Trainingskurse im Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes 1983,


179 ff m.w. N.
402 Friedrich Schaffstein

schon im Anordnungsstadium der Freiwilligkeit regelmäßig dadurch in


Frage gestellt wird, daß den meisten Jugendlichen die Alternative zwi-
schen Weisung bzw. Auflage und Ahndung durch Arrest oder Geldbuße
bekannt ist, wäre es erzieherisch unerträglich, wenn der Jugendliche, der
den Weisungen folgenlos nicht nachkommt, auf diese Weise die Erfah-
rung vermittelt würde, daß der Jugendrichter und mit ihm die Rechts-
ordnung bloße „Papiertiger" sind, deren Anordnung er nicht zu befol-
gen braucht. Natürlich wird es nicht immer möglich sein, auf jeden
Verstoß gegen Weisungen sogleich mit Arrest zu reagieren. Oft werden
gutes Zureden und Ermahnungen oder auch eine Änderung der Weisun-
gen (§11 Abs. 2 J G G ) zunächst sinnvoller sein15. Als ultima ratio für die
Fälle, daß alle Ermahnungen nichts nützen, muß dann aber doch der
Jugendarrest bleiben. Anders formuliert: das ganze System ambulanter
Maßnahmen hat, wenn es überhaupt funktionieren und nicht mehr
Schaden als Nutzen anrichten soll, letztlich doch wieder den Jugendar-
rest im Hintergrund zur Voraussetzung.
Pfeiffer16 hat in seinen Untersuchungen in München ermittelt, daß die
Beugearrestanten deutlich höher mit Gefährdungsmerkmalen belastet
waren als die übrigen jugendlichen und heranwachsenden Arrestanten.
Läßt sich, was kaum verwunderlich wäre, diese zunächst auf den
Münchener Raum beschränkte Feststellung verallgemeinern, so fügen
sich auch die Beugearrestanten in jene Wandlung in der Klientel des
Jugendarrests ein, so daß die Konsequenzen, die daraus für den Jugend-
arrest und seinen Vollzug zu ziehen sind, gerade auch für diese Gruppe
gelten.
2. Die zweite Fallgruppe, für die auch künftig Jugendarrest in Frage
kommt, scheint mir problematischer zu sein. Sie betrifft die Fälle bereits
erheblicher Gefährdung, in denen die Jugendrichter sich dennoch noch
nicht zur Anordnung einer Jugendstrafe entschließen können17. Dabei

15 So mit Recht auch Pfeiffer (Fn. 1), S. 48. Doch bedarf es um eine Fehleinschätzung zu

vermeiden und hinter dem „Ungehorsam" steckende Konfliktsituationen aufzudecken,


einer Anhörung des Jugendlichen vor der Anordnung des Folgearrests. Sie sollte möglichst
schon de lege lata erfolgen, de lege ferenda aber dem Jugendrichter zur Pflicht gemacht
werden.
" Pfeiffer (Fn. 1) S.48.
17 Dabei gehe ich davon aus, daß für bisher als „arrestungeeignet" bezeichnete Jugendli-
che auch künftig in der Regel Jugendarrest nicht angeordnet werden sollte. Es sind meist
Heimzöglinge, ferner bereits allzu schwer Verwahrloste (insbes. Alkohol- und Drogen-
süchtige) sowie Jugendliche, die bereits einen Dauerarrest erfolglos verbüßt haben. Hier
beweisen die besonders hohen Rückfallzahlen aller einschlägigen Untersuchungen, daß der
Jugendarrest hier nichts mehr auszurichten vermag (so mit Recht auch Brunner, J G G § 16,
Rdn. 12). Die Gruppe der hier als bereits erheblich gefährdete Bezeichneten dürfte sich im
wesentlichen aus solchen Jugendlichen zusammensetzen, für die nach der ursprünglichen
Konzeption des J G G bereits eine kürzere Jugendstrafe (mit oder ohne Strafaussetzung zur
Funktionswandel des Jugendarrests 403

würden sie sich auf die Formulierung des § 1 7 Abs. 2 J G G berufen


können, die Jugendstrafe ausdrücklich nur dann zuläßt, „wenn Erzie-
hungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen".
Viele wenn nicht sogar die meisten Jugendrichter scheinen den § 17
Abs. 2 so auszulegen, daß zunächst alle anderen Erziehungsmaßregeln
und Zuchtmittel einschließlich des Jugendarrests als letzte Vorstufe
erfolglos versucht sein müssen, ehe zur Jugendstrafe geschritten werden
darf. O b diese Auslegung, die durch die in den letzten Jahren zuneh-
menden Warnungen vor den Nachteilen des Strafvollzuges (Subkultu-
ren, Uberfüllung der Anstalten u. dgl.) gestützt wird, wirklich zutref-
fend und sinnvoll ist, mag zweifelhaft sein. Die allzu oft übliche
Stufenleiter von Ermahnung, Verwarnung, Weisungen, Freizeitarrest,
Dauerarrest, die ein Jugendlicher zu durchlaufen hat, ehe es zur Jugend-
strafe kommt, birgt die Gefahr in sich, daß bereits schwer geschädigte
Jugendliche oder Heranwachsende, die, wenn überhaupt, dann nur noch
durch einen intensiven Behandlungsvollzug vor einer kriminellen Kar-
riere bewahrt werden können, erst dann in den Jugendstrafvollzug
gelangen, wenn es für sie bereits zu spät ist. Freilich setzt eine solche
Erwägung den Glauben daran voraus, daß überhaupt irgendwelche
Erfolge durch Jugendstrafvollzug zu erreichen sei. Da dieser Glaube in
zunehmendem Maße erschüttert zu sein scheint - ob mit Recht oder
Unrecht, bleibe hier dahingestellt - wird man sich mit der Konsequenz
abfinden müssen, daß die Jugendgerichte aus Scheu vor der Jugendstrafe
auch bereits bloß erheblich Gefährdete, für die Weisungen und Auflagen
nicht mehr in Frage kommen, in den Jugendarrest einweisen. Die an sich
wohl begründete (und eher noch zu geringe) Mindestdauer der Jugend-
strafe von 6 Monaten wird nach dem Rechtsgefühl vieler, am Straftaxen-
system des Erwachsenenstrafrechts orientierter Jugendrichter noch zu
einer solchen Entscheidung beitragen.
3. Eine dritte, gleichfalls problematische Fallgruppe, in der Jugendarrest
auch weiterhin in Frage kommt, wird durch den neuerdings so genann-
ten „Einstiegsarrest" gekennzeichnet. Bekanntlich sieht der letzte Refe-
rentenentwurf zu einer J G G - N o v e l l e einen solchen, nach herrschender,
aber sehr umstrittener Auffassung18 bisher noch nicht zulässigen Ein-
Bewährung) angezeigt war. Uberweist man sie entsprechend der neueren Praxis der

Jugendgerichte dem Jugendarrest, so hat das immerhin vielleicht auch den Vorteil einer

Vermeidung der erzieherisch wenig nutzbaren kurzen Jugendstrafe unter 9 Monaten.


18 B G H 18, 207; Daliinger/Lackner, J G G § 2 7 R d n . 5 A ; Schaffstein, Jugendstrafrecht,
8. Aufl., 127f m. w . N . ; Eisenberg, J G G § 8 Rdn. 11 läßt die Frage offen. Für Zulässigkeit
des Einstiegsarrests schon de lege lata spricht sich eine starke Minderheit aus, so u. a. KG
N J W 61, 1175 und für § 2 7 J G G nachdrücklich Brunner, J G G 7. Aufl., § 2 7 Rdn. 14
m. w. N.
404 Friedrich Schaffstein

stiegsarrest sowohl bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§21 JGG)


wie auch beim Schuldspruch unter Aussetzung des Strafausspruchs (§ 27
JGG) vor. Ich halte eine solche Kombination des Jugendarrests mit den
beiden Aussetzungsfällen der §§21 und 27 JGG zwar de lege lata nicht
für zulässig, sehe mich aber in meiner Auffassung, daß dieser de lege
ferenda wünschenswert sei, gerade auch durch die neuen Veränderungen
in der Jugendarrestklientel bestätigt. Solange man den Arrest auf die sog.
„Gutgearteten" beschränken wollte, durfte dieser für Jugendliche, bei
denen schädliche Neigungen als Voraussetzung der Jugendstrafe festge-
stellt (§21) oder doch mindestens als möglich angenommen (§ 27) waren,
nicht in Frage kommen. Dies hatte auch insofern einen Sinn, als im
Arrestvollzug eine Infizierung der „Gutgearteten" durch Straffällige mit
schädlichen Neigungen vermieden werden sollte und gerade dies ein
Grund für den Vollzug in strenger Einzelhaft war. Nachdem nun aber
durch die geschilderte Entwicklung jene Beschränkung auf die „Gutge-
arteten" fortgefallen ist, der Arrest in zunehmendem Maße eine Sanktion
auch für stärker Gefährdete geworden ist, und der Vollzug in gelocker-
ter Form durchgeführt wird, besteht kein Anlaß mehr, solche Jugendli-
chen und Heranwachsenden, die nach ihrem Gefährdungsgrad bereits an
der Grenze der „schädlichen Neigungen" stehen und eben deshalb nach
§21 oder §27 JGG verurteilt werden, vom Jugendarrest fernzuhalten,
sofern dieser den Erfolg der nach §§21 ff, 27 ff einsetzenden Bewäh-
rungshilfe zu verstärken verspricht. Daß aber in nicht seltenen Fällen ein
(nicht zu langer) Arrest, der dem Klienten den Ernst seiner Situation vor
Augen führt und ihm deutlich macht, daß die Strafaussetzung keinen
Freispruch darstellt, und daß durch den Arrest für eine wirksame
erzieherische Beeinflussung durch den Bewährungshelfer der Boden
bereitet wird, ist eine in der jugendgerichtlichen Praxis weitverbreitete
Ansicht.
Hinzu kommt die ebenfalls schon oft zugunsten des Einstiegsarrests
angeführte Gewährleistung von Rechtsgleichheit in den von den Jugend-
gerichten besonders häufig vorkommenden Genossensachen. Wird etwa
von mehreren Einbruchsdieben nach geltendem Recht bei annähernd
gleichen Tatanteil je nach der Persönlichkeit des Täters der eine zu
Jugendarrest verurteilt, während der oder die anderen trotz stärkerer
persönlicher Belastung Strafaussetzung nach §21 oder §27 erhalten, so
wird die Gerechtigkeit einer solchen ungleichen Sanktionierung sowohl
den betreffenden Jugendlichen wie auch ihren Angehörigen und Freun-
den nur schwer klar zu machen sein. Anders wäre es, wenn auch die
Strafaussetzung nach §21 bzw. §27 mit Jugendarrest verbunden wäre.
Das alles ist oft gesagt worden und bedarf deshalb hier keiner längeren
Erläuterung. Das Bedenken, das freilich auch weiterhin gegen einen
solchen Einstiegsarrest einzuwenden ist, besteht darin, daß die Jugend-
Funktionswandel des Jugendarrests 405

gerichte von einer solchen neu zu schaffenden Kombination vielleicht zu


häufig Gebrauch machen würden und es damit zu einer zu großen
Ausweitung des Jugendarrests gerade zu einem Zeitpunkt kommen
würde, an dem man sich von den früher mit dem Jugendarrestvollzug
verbundenen Illusionen über seine Wirksamkeit abzukehren beginnt. So
gewichtig dieser Einwand auch ist, so möchte ich doch die erwähnten
Vorteile, die der Jugendarrest mit sich bringen würde, für gewichtiger
halten und in der Hoffnung, daß die Jugendgerichte bei der Anwendung
der neuen Kombination ein verständiges Maß halten, die Einführung
derselben befürworten. Doch sollte die Gefahr einer zu großen Auswei-
tung des Einzelarrests durch eine Gesetzesformulierung vermindert
werden, die den Ausnahmecharakter der Kombination noch deutlicher
als im Referentenentwurf hervorhebt. Das gilt insbesondere für die
Verbindung des §21 J G G mit Jugendarrest.
Die Veränderung in der Klientel des Jugendarrests muß zwangsläufig
auch Veränderungen in der Vollzugsweise und vielleicht auch in der
Dauer des Jugendarrests nach sich ziehen. Die am einstigen militärischen
Arrest ausgerichtete Vollzugsform der strengen Einzelhaft, bei der die
erzieherische Einwirkung auf gelegentliche Gespräche mit dem Jugend-
richter als Vollzugsleiter beschränkt war, ist nach allgemeiner Auffas-
sung längst überholt. Aber auch die seit dem 1.1.1977 geltende Jugend-
arrestvollzugsordnung entspricht noch nicht allen pädagogischen Wün-
schen". Sie läßt jedenfalls überaus unterschiedliche Formen des Jugend-
arrestvollzuges zu, unterschiedlich nicht nur in den einzelnen Bundes-
ländern, sondern meist auch in den verschiedenen Anstalten desselben
Landes, so daß sich heute kaum noch ein einigermaßen zutreffendes und
einheitliches Bild über die Wirklichkeit des Jugendarrestvollzuges in der
Bundesrepublik Deutschland gewinnen läßt. Ubereinstimmung sollte
aber jedenfalls darüber herrschen, daß die Zeit des Jugendarrests dazu
genutzt werden sollte, den hinter der Straftat stehenden Konflikt des
Jugendlichen aufzuhellen und so eine soziale Diagnose als Grundlage für
die Nachbetreuung zu erstellen. Denn je mehr bereits erheblich Gefähr-
dete in den Jugendarrest gelangen, wird man es nicht bei dem in seiner
Dauer eng begrenzten Vollzug bewenden lassen dürfen, sondern diesen
durch eine Kombination mit einer Betreuungsweisung oder (beim Ein-
stiegsarrest) mit der Bewährungshilfe als eine diagnostische Eingangs-
phase einer länger dauernden ambulanten Betreuung auszugestalten
haben. Dazu bedarf es jedoch eines fachlich geschulten Personals,
welches dieser neuen Aufgabe gewachsen ist. Nicht jeder in einer
Arrestanstalt tätige Sozialarbeiter - dies jedenfalls ist der Eindruck des

19 Vgl. Jung, Plewig, Pfeiffer u. a. (Fn. 6).


406 Friedrich Schaffstein

Verfassers - dürfte solchen Anforderungen genügen, zumal er, was


offenbar nicht selten vorkommt, in gespannten Beziehungen mit dem
Verwaltungs- und Aufsichtspersonal der Anstalt stehen mag. U m so
wichtiger wird f ü r das „Vollzugsklima" und damit für die Erfüllung der
dem Jugendarrest nunmehr zufallenden Aufgaben die Person des Voll-
zugsleiters, der nach §90 Abs. 2 J G G den Jugendrichter am O r t des
Vollzuges, das heißt also der jeweiligen Jugendarrestanstalt ist. Jeder
Kundige weiß, daß in vielen Arrestanstalten erfahrene Jugendrichter
diese Funktion ausüben, die den ihnen zufallenden organisatorischen
und pädagogischen Aufgaben mit Engagement nachkommen. Minde-
stens ebenso oft dürfte aber auch bei den richterlichen Vollzugsleitern
die für eine solche Aufgabe nun einmal nicht bei jedem Richter voraus-
zusetzende Befähigung und das damit verbundene pädagogische Engage-
ment fehlen. Kaum irgendwo wie bei dieser Schlüsselstellung der
Jugendkriminalrechtspflege sind so sehr die Klagen am Platze, die in den
letzten Jahren, insbesondere seit den viel beachteten empirischen Unter-
suchungen von Hauser20, über Auswahl und Ausbildung der Jugendrich-
ter erhoben worden sind. Setzt schon das normale Jugendrichteramt eine
über die juristische Befähigung hinausreichende psychologisch-pädago-
gische Neigung und Begabung voraus, so gilt das noch weit mehr von
dem Richter, der das besondere Einsatzbereitschaft und Zeit beanspru-
chende A m t eines Vollzugsleiters einer Jugendarrestanstalt oder eines
Vollstreckungsleiters im Jugendstrafvollzug wahrnimmt. Man wird lei-
der keineswegs sagen können, daß die für die Stellenbesetzung in der
Justiz und f ü r die Geschäftsverteilung an den Gerichten Zuständigen
sich dieser Tatsache hinreichend bewußt sind. Gleiches gilt übrigens
auch für die Berücksichtigung der Vollzugsleiterfunktion des Jugend-
richters beim Pensenschlüssel, die in der Regel zu gering ist. Wird in
dieser personalpolitischen Hinsicht nicht Abhilfe geschaffen, so dürften
die besten Jugendarrestvollzugsordnungen bloßes Papier bleiben und
den Anforderungen, die an den Arrest gerade für eine veränderte und
wesentlich schwierigere Klientel zu stellen sind, nicht gerecht werden
können.
Ein letzter Punkt, der noch einer kurzen Erörterung bedarf, ist die
Dauer des Jugendarrests. Alle bisherigen Ausführungen insbesondere
auch über den Vollzug in den Jugendarrestanstalten, bezogen sich
eigentlich nur auf den Dauerarrest. Den Freizeit- und Kurzarrest wird
man am ehesten durch Arbeits- oder Geldauflagen, ambulante Trai-
ningskurse oder andere Weisungen und Auflagen ersetzen können. Für
bereits stärker Gefährdete aber ist er nur selten, allenfalls in Verbindung

20
H. Hauser, Der Jugendrichter, Ideal und Wirklichkeit, Krim. Stud. H e f t 31 (1980).
Funktionswandel des Jugendarrests 407

mit Betreuungsweisungen, geeignet. Indessen ist das Bild, welches hier


die gegenwärtige Praxis bietet, noch ein durchaus diffuses. Während in
einigen Bezirken, so insbesondere in Hamburg, Freizeitarreste kaum
noch angeordnet werden, zeigen andererseits die Zahlen unserer Statistik
(S. 398), daß die Freizeitarreste immer noch, wie seit jeher, häufiger
angeordnet werden als Dauerarreste. Dies ist besonders erstaunlich,
wenn man die organisatorischen Schwierigkeiten bedenkt, die sich
gerade beim Vollzug des Freizeitarrests zwangsläufig ergeben. Sie sind
erst kürzlich von Böhm anschaulich geschildert worden21. Wenngleich
wohl in der heutigen Praxis noch so häufig Freizeitarrest angeordnet
wird, so wird man das allenfalls mit der oben erwähnten Ubergangssi-
tuation rechtfertigen können, in der sich der Jugendarrest gegenwärtig
noch befindet. So lange nicht überall ein genügendes Angebot ambulan-
ter Maßnahmen besteht, gemeinnützige Arbeit noch nicht überall orga-
nisiert ist, Betreuungsweisungen aus Personalmangel nicht möglich,
soziale Trainingskurse nicht von allen Jugendämtern eingerichtet, auch
Geldauflagen wegen Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründen nicht
sinnvoll sind, wird der Freizeitarrest schwerlich ganz zu vermeiden sein.
De lege ferenda scheint mir seine Beibehaltung nur noch in den meisten
Fällen des Ungehorsamsarrests diskutabel zu sein. Für die anderen oben
angeführten Fallgruppen möchte ich - insofern übereinstimmend mit
Pfeiffer und anderen22 - auf den Freizeitarrest und seine Ersatzform, den
Kurzarrest, verzichten, sobald seine Ersetzung durch ambulante Maß-
nahmen überregional gesichert ist.
Für den Dauerarrest und seine bisherige Vollzugsweise wird vielfach
eine Dauer von drei Wochen für optimal angesehen. Ordnet das Jugend-
gericht eine Dauer von vier Wochen an, so bietet § 87 Abs. 3 J G G eine
Möglichkeit, zur Vermeidung von Gewöhnung oder aus sonstigen erzie-
herischen Gründen die Arrestdauer abzukürzen. De lege ferenda ergibt
sich allerdings aus der Veränderung der Klientel und dem Funktions-
wandel des Jugendarrests die Frage, ob nicht auch eine Verlängerung der
Höchstdauer auf etwa drei Monate zu erwägen wäre. Allerdings würde
dies eine prinzipielle Verbesserung der baulichen und personellen Aus-
stattung und eine Veränderung des erzieherischen Konzepts der Jugend-
arrestanstalten zur Voraussetzung haben. Dabei aber sollte es zu beden-
ken geben, daß nicht nur die Jugendhaft der D D R eine Höchstdauer von
drei Monaten hat, sondern auch das Niederländische Strafvollzugs-
Trainingslager „De Corridor" ein Behandlungprogramm für junge Män-
ner von vier Wochen bis zu Viermonatskursen. Auf die damit in der

21Böhm ( F n . l ) S. 163 f.
22Pfeiffer ( F n . l ) S. 50. Auch Berkhauer, ZRP 1982, 145 ff, hält den Freizeitarrest für
„eigentlich überflüssig".
408 Friedrich Schaffstein

D D R und in den Niederlanden gemachten Erfahrungen wird man


zurückgreifen müssen, wenn man an eine Verlängerung der Arrestdauer
als Konsequenz der geschilderten Wandlungen denkt. Der Jugendarrest
würde dadurch in seinem Wesen verändert werden. Ob der Gesetzgeber
in absehbarer Zeit zu einer solchen Veränderung bereit wäre, ist ange-
sichts der Erhöhung des damit verbundenen finanziellen Aufwandes und
der immer wieder bekundeten geringen Bereitschaft, auch nur kleinere
Reformen an unserem Jugendstrafrecht zuzulassen, in den Bereich der
Spekulationen zu verweisen, über die zu streiten wohl einstweilen müßig
wäre.
Rückbesinnung auf den Gesetzeszweck
im Jugendstrafrecht
ELLEN SCHLÜCHTER

I. Vorausschau auf eine „Jugendstrafrechtsreform de lege lata"


Mit der Weitsicht einer erfahrenen Kriminologin und ihrem Engage-
ment für die Bekämpfung der Jugendkriminalität1 begegnet uns Hilde
Kaufmann. Schon bevor die Hoffnungen auf eine grundlegende Umge-
staltung des Jugendstrafrechts durch den Gesetzgeber2 deutlich verblaßt
sind3, spricht sie von einer „Jugendstrafrechtsreform de lege lata". Mag
sie dem gleichnamigen Titel ihres Beitrages in der Festschrift für Welzel4
auch ein Fragezeichen angefügt haben, so verlegt sie in ihren Ausführun-
gen doch das Gewicht von der Rechtsie£z««g auf die (richtige) Rechts-
anwendung.
Hilde Kaufmann hat damit eine Entwicklung vorweggenommen: Da
das gesetzte Recht allenfalls noch punktuell5, nicht aber grundlegend
erneuert werden dürfte, geht es bei Tagungen6 sowie im Schrifttum7 um
die „innere" anstelle der äußeren Reform8 des Jugendkriminalrechts. So
ist vom J G G 1953 auszugehen und zu fragen, ob und gegebenenfalls
inwiefern es einer „inneren Reform" bedarf. Sie wäre erforderlich, wenn

1 Vgl. Hilde Kaufmann u.a., Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren, 1975.
2 Eine Ubersicht zu den Reformvorhaben findet sich etwa bei Jung, Die jugendrichter-
lichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, ZRP 1981, 36 ff (Generalreferat auf
dem 18. Jugendgerichtstag).
3 Vgl. statt vieler etwa Schaffstein, Jugendstrafrecht. Eine systematische Darstellung,
8. Aufl., 1983, 34.
4 1974, 897 ff.

5 Aufschlußreich der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom

18. November 1983 zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes; dazu Eisenberg, Bestrebun-
gen zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft
zu Berlin, Heft 84, 1984.
' Vgl. dazu etwa die Beiträge DVJJ (Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen -
Anspruch und Wirklichkeit, 1981.
7 Aus der reichen Literatur seien etwa genannt Kury/Lerchenmüller (Hrsg.), Diver-
sion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 1 und 2, 1981; Pomper/Walter,
Möglichkeiten der ambulanten Behandlung karrieregefährdeter junger Straftäter, 1980.
'Jung (o. Fn. 2); Pfeiffer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, Jugend-
richterliches Handeln vor dem Hintergrund des Brücke-Projekts, 1983, 119 ff passim.
410 Ellen Schlüchter

man einen anderen Zweck als bisher zu verfolgen hätte (dazu sogleich
II. 1.) und/oder der angestrebte Zweck noch nicht verwirklicht (unten
II. 2.), wohl aber realisierbar (vgl. II. 3.) wäre.

II. Zweck des Jugendstrafrechts in der Bewährung


1. Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht
Zutreffend hat man erkannt, daß sich Zwecküberlegungen regelmäßig
nicht auf ein Ziel reduzieren lassen9. Dies gilt auch für so grundsätzliche
Fragen wie für die Strafzwecke. Trotz der hierzu entwickelten „Vereini-
gungstheorien"10 ist die Rede von einer Antinomie". Es zeichnen sich
„teleologische Konflikte" 12 ab. Zwar mögen sich spezialpräventive
Überlegungen häufig mit den Gesichtspunkten der Vergeltung und
Generalprävention harmonisieren lassen13. Doch versteht sich eine sol-
che Versöhnung der verschiedenen Strafzwecke nicht von selbst. So wird
zuweilen der Richter oder der Staatsanwalt darüber zu entscheiden
haben, welchen der Strafzwecke er als vorrangig behandeln will.
Sich in dieser Weise festzulegen kann schon vom Gesetzgeber gefor-
dert sein. Dies wird deutlich an den Vorüberlegungen zum J G G 192314.
Auch in der Begründung des Regierungsentwurfs15 spiegelt sich die von
der Jugendgerichtsbewegung1' in die Diskussion eingebrachte Erkennt-
nis wider, „daß Verfehlungen von Personen, die sich körperlich und
geistig in der Entwicklung befinden, grundsätzlich anders bewertet
werden müssen als Straftaten Erwachsener." Von hier aus ist das eben-
falls schon in den Beratungen15 erkennbar gewordene Streben zu verste-
hen, Strafe nur subsidiär zu verhängen und in erster Linie erzieherisch
einzugreifen. Dieses Anliegen bleibt jedenfalls dem Grunde nach17 im

' Vgl. etwa Weinberger, Zur Theorie der Gesetzgebung, in: Mokre/Weinberger
(Hrsg.), Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. Überlegungen zu den Grundlagen der
modernen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung, 1976, 173 ff, 190.
10 Dazu etwa Baumann/Weber, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 9. Aufl., 1985, 12 ff
m. w. N.
11 Instruktiv Bruns, Das Recht der Strafzumessung. Eine systematische Darstellung für

die Praxis, 2. Aufl., 1985, 81 ff.


12 Weinberger, (o. Fn.9), 190.
13 Zutreffend Miehe, Literaturbericht zu Bottke, Generalprävention und Jugendstraf-

recht 1984, in: ZStW 97 (1985), 996, 999.


14 Informativ Miehe, Die Anfänge der Diskussion über eine Sonderbehandlung junger

Täter, in: Schaffstein/Miehe (Hrsg.), Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1968, 1 ff.
15 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 375, Anlage Nr. 5171, 8.

" Zur Jugendgerichtsbewegung aufschlußreich Sieverts, Das Jugendgerichtsgesetz von


1953 und die deutsche Jugendgerichtsbewegung, in: Simonsohn (Hrsg.), Jugendkriminali-
tät, Strafjustiz und Sozialpädagogik, 4. Aufl., 1972, 122 ff.
17 Vgl. Sieverts, (o. Fn. 16), 133 ff.
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 411

J G G 1943 erhalten und wird - wenn auch unzureichend 18 - im J G G


1953 auf die Gruppe der Heranwachsenden ausgeweitet".
Dennoch besteht heute über den Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht
kein Konsens (mehr). Der Erziehungsgedanke befindet sich gleichsam in
einer Krise. Dies erklärt sich - so merkwürdig es klingen mag - aus
seiner Ubersteigerung. Als nämlich die beabsichtigte grundlegende
Erneuerung des Jugendstrafrechts gescheitert ist, hat man die reformeri-
schen Vorhaben zunächst in den vom J G G 1953 gesetzten Rahmen
einzubringen versucht 20 . Nach abgewandelten Reaktionsformen hat man
gesucht. Teils hat man dabei eine veränderte formelle21, teils eine infor-
melle Verfahrenserledigung erstrebt. Informell haben nach einer Auffas-
sung die Strafverfolgungsorgane selbst22, nach anderer Ansicht sonstige
gesellschaftliche Einheiten 23 eingreifen sollen. Hierbei ist es insgesamt
weniger um eine dogmatisch abgesicherte Auslegung oder Rechtsfortbil-
dung als darum gegangen, kriminalpolitische (Behandlungs-)Intentionen
durchzusetzen 24 .
Das Pendel hat so einseitig zur Seite der Spezialprävention ausgeschla-
gen, daß sich unüberhörbar warnende Stimmen erhoben haben25.
Befürchtet wird insbesondere eine (Uber-)Reaktion in Bereichen, in
denen früher eine Maßnahme gänzlich unterblieben wäre 26 . Das stimmt

18 Vgl. schon die Diskussion auf den Jugendgerichtstagen 1953 in München („Neue

Wege zur Bekämpfung der Jugendkriminalität") sowie 1965 in Marburg („Die Rechtsbrü-
che der 18- bis 21jährigen Heranwachsenden, ihre Kriminologie und ihre Behandlung").
" Dazu neuerdings Miehe, Die neuere Entwicklung der Altersgruppenfrage im Straf-
recht und Strafprozeßrecht, ZblJugR 1982, 82 ff.
20 Aufschlußreich Müller-Dietz, Jugendstrafrechtliche Sanktionen. Ihr Anteil und ihre
Bedeutung für die Kriminalprophylaxe, in: Kury!Lerchenmüller (Hrsg.), Diversion.
Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 1, 25 ff, 52 ff.
21 Vgl. etwa Müller-Dietz (o. Fn.20).
22 Instruktiv Kaiser, Möglichkeiten der Entkriminalisierung nach dem Jugendgerichts-

gesetz im Vergleich zum Ausland, in: Zeitschrift für Pädagogik 29 (1983), 32; Walter,
Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität. Zur kriminologischen, kriminalpolitischen
und insbesondere dogmatischen Bedeutung von Diversion, ZStW 95 (1983), 32 ff.
23 Dazu Kury, Diversion - Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel amerikanischer

Programme, Kirchhoff, Diversionsprogramme in den USA, und Herriger, Gemeindebezo-


gene Konzepte der Kontrolle und Prävention von Jugenddelinquenz. Eine Übersicht über
Praxisprogramme in den USA, jeweils in: Kury/Lerchenmüller (Hrsg.), Diversion. Alter-
nativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 1, 1981, 165 ff bzw. 246 ff, 327 ff; Sonnen,
Diversion: Wege zur Vermeidung des förmlichen Verfahrens, in: DVJJ (Hrsg.), Die
jugendrichterlichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, 1981, 177 ff.
24 Kritisch Miehe/Schaffstein, Literaturbericht, ZStW 97 (1985), 563, 566.
25 Deutlich etwa Bietz, Erziehung statt Strafe?, ZRP 1981, 212 ff, 214; Bottke, General-

prävention und Jugendstrafrecht, 1984, 43.


26 Treffend Kerner, Diversion - eine wirkliche Alternative?, in: Kury/Lerchenmüller
(Hrsg.), Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 2, 1981, 688 ff.
412 Ellen Schlüchter

nachdenklich. Altbekannt27 und in neuerer Zeit stärker betont28 findet


sich die Erwägung, ob nicht die günstigste Wirkung einer Maßnahme in
ihrer Mitwirkung bestehe.
Hieraus erklärt sich der von Albrechteingenommene Standpunkt: Er
führt auf der ganzen Linie einen „Angriff auf die prominentesten
Flaggschiffe der Spezialprävention"30. Dabei zielt er nicht nur auf das
Erwachsenenstrafrecht ab, sondern distanziert sich von dem Erzie-
hungsansatz auch im Jugendstrafrecht31. Er will aber nicht etwa zugleich
den „normativen Sonderstatus"32 der Jugendlichen und Heranwachsen-
den gegenüber den Erwachsenen aufgeben. Vielmehr fordert er „ein
eigenständiges Jugendstrafrecht mit spezifischen, repressionsarmen
Sanktionstypen"32 sowie gestärkte verfahrensrechtliche Garantien.
In einer lediglich zurückgenommenen staatlichen Machtausübung im
materiellen wie im formellen Recht werden sich aber schwerlich die
Besonderheiten des Jugendstrafrechts erschöpfen lassen. Wie man schon
im vorigen Jahrhundert erkannt hat, ist der Jugendliche kein „kleiner
Erwachsener"33. So verlangt ja auch Albrecht ein „eigenständiges
Jugendstrafrecht mit spezifischen"2' - also wohl auf die Eigenständigkeit
abgestimmten - Reaktionen. Kann sich aber die Eigenständigkeit nicht
auf eine geringere Eingriffsstärke beschränken, hat sie sich nicht nur
quantitativ, sondern qualitativ auszuwirken. Dann aber benötigt man
ein Kriterium für die Abweichung gegenüber dem Erwachsenenstraf-
recht.
Man findet es auch nicht in der anderen Entgegnung auf die ausge-
prägten Behandlungsintentionen. Wie man sich um die (Grund-)Rechte
des Probanden sorgen kann, so läßt sich ein Nachteil für die Rechtsge-
meinschaft insgesamt befürchten. Aber nicht nur insofern hat Bottke mit
seiner Untersuchung zur „Generalprävention und Jugendstrafrecht"34
ein verdienstliches Gegengewicht zu den reinen Behandlungskonzepten
geschaffen. Vielmehr hat er von seinem anderen Ausgangspunkt aus
ebenfalls die Rechte der Jugendlichen und Heranwachsenden berück-
sichtigen wollen25. Ihm ist insofern zuzustimmen, als er der „Andro-
hungsgeneralprävention"35 Raum auch im Jugendstrafrecht gibt. Ohne
27 Vgl. schon v. Liszt in seinem Vortrag aus dem Jahre 1900 über die Kriminalität der

Jugendlichen, Aufsätze, Bd. 2, 331 ff, 338/339.


28 Dazu Kerner, (o. Fn.26), 690 ff m.w.N.
29 Spezialprävention angesichts neuer Tätergruppen, ZStW 97 (1985), 831 ff, 857.
30 Zur Kritik an der Spezialprävention vgl. etwa schon Schreiber, Widersprüche und
Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, ZStW 94 (1982), 279, 293 ff m.N.
31 (O. Fn. 29), 851 ff.
32 (O. Fn. 29), 853.

33 S. Nachweise bei Miehe, (o. Fn. 14).


34 So der gleichnamige Titel seiner Studie aus dem Jahre 1984, vgl. schon o. Fn. 25.

35 Baumann/Weber, (o. Fn.10), 11.


Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 413

eine Symptomtat, verwirklicht nach den allgemeinen Deliktstatbestän-


den, darf nämlich eine jugendstrafrechtliche Reaktion nicht ausgespro-
chen werden. Hieraus folgert Bottke36, auch das Jugendstrafrecht stärke
die gegen sozialinadäquates Verhalten gesetzten Normen in ihrer Gel-
tungskraft. Dadurch könnte man die Rechtstreue der Bevölkerung
jedenfalls dann als erhöht ansehen, wenn man die für das allgemeine
Strafrecht (wieder37) zugrunde gelegte38 generalpräventive Wirkung un-
terstellt.
Nicht die allgemeinen Strafzwecke können jedoch in diesem Rahmen
diskutiert werden. Die Aufmerksamkeit muß sich vielmehr auf die
jugendtümlichen Besonderheiten konzentrieren. Als spezifisch für das
Jugendstrafrecht ist aber bisher nur der Erziehungsgedanke (unter Vor-
rang vor den anderen Strafzwecken) genannt worden. Hieran hat man
jedenfalls dann festzuhalten, wenn man ein Kriterium qualitativer Natur
sucht. Würde aber an die Stelle des Erziehungsgedankens ein bloßer
Freiraum treten, so liegt der Nutzen allenfalls in der Erkenntnis, daß
man einem Phantom zu folgen versucht hat.
Nicht gemeint ist damit freilich die von Albrechf betonte rechtsstaat-
liche Achtung der Grundrechte und insbesondere der Menschenwürde.
Doch zeichnet sich hierdurch das Jugendstrafrecht nicht vor dem allge-
meinen Strafrecht aus. So ist in zwei Richtungen nachzudenken.
Zum einen fragt sich, ob ein Tausch des Erziehungsgedankens gegen
eine Wertleere mit dem Gesetz zu vereinbaren wäre. Um dies zu
verneinen, soll nicht etwa die subjektive Methode40 bemüht werden.
Nicht nur der Gesetzgeber41, sondern auch das Gesetz spricht immer
wieder von der Erziehung. Erwähnt seien nur die Erziehungsmaßregeln,
um die eine Seite der Reaktionsskala zu betrachten. Für die andere Seite
gilt nichts anderes. Das Vollzugsziel der Jugendstrafe (als der härtesten
Sanktion) wird in der Erziehung zu einem rechtschaffenen und verant-
wortungsbewußten Lebenswandel gesehen (vgl. §91 Abs. 1 J G G ) .
Gleichwohl genügen diese Belege nicht. Zwar ließen sie sich durch eine

36 (O. Fn. 34), 7.


37 Zum Wiederaufleben des generalpräventiven Gedankens vgl. etwa HassemerlLüders-
sen/Naucke, Hauptprobleme der Generalprävention, 1979; Kaiser, Was wissen wir von der
Strafe?, Festschrift für Bockelmann, 1979, 923 ff, 930; Schöch, Verstehen, Erklären,
Bestrafen, in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, 305 ff, 318.
38 Vgl. dazu etwa Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die
Zurechnungslehre, 1983, 13 ff.
39 (O. Fn. 29), 844 ff.

40 Hierzu neuerdings Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht,

1983.
41 Dazu o. Fn. 15.
414 Ellen Schlüchter

Fülle einschlägiger Hinweise aufbessern 42 . Doch würden hiermit gleich-


sam nur weitere Beweismittel für dieselbe Argumentation aufgerufen.
Anstelle dessen ist zu versuchen, aus dem Wortlaut der sich wiederho-
lenden Normmerkmale auf den Grundgedanken des Gesetzes zu schlie-
ßen. Dem scheint sich allerdings ein doppeltes Hindernis entgegenzu-
stellen. Hat man doch zunächst vom Wortlaut zum Wortsinn 43 eines
Merkmals vorzudringen. Erst von hier aus kann man zum Anliegen des
Gesetzes gelangen. Dieses zweite Hemmnis - auf dem Weg vom Wort-
sinn zum Gesetzeszweck - mag sich allerdings zuweilen verringern. So
liegt es dann, wenn sich ein Ausdruck so häufig im Gesetz findet, wie
dies für das Wort „Erziehung" im JGG auffällt. Dann dürfte es nicht
vermessen sein, Erziehung als vorrangigen Gesetzeszweck anzunehmen.
Doch bleibt die Aufgabe bestehen, den Sinn des Merkmals zu erken-
nen. Damit ist zugleich die andere offene Frage angesprochen. Es läßt
sich nämlich nicht ausschließen, daß es sich bei dem Wort „Erziehung"
um ein unbestimmtes oder gar sinnleeres Merkmal handelt. Dagegen
steht allerdings die Rahmenfunktion der Norm vor allem dann, wenn
man auf die bisherigen den Rahmen ausfüllenden konkretisierenden
Rechtsanwendungen schaut44. Diese können allenfalls durch einen besse-
ren Standpunkt sowie überzeugende Argumente ihre Verbindlichkeit
verlieren und auch dies nur, solange dabei der durch die Norm gesetzte
Rahmen nicht verlassen wird.
Solche schlagenden Argumente sind nicht ersichtlich. Zwar geht
Nothacker',5 von bisher verschwimmenden Konturen für den Vorrang
des Erziehungsgedanken aus. Er selbst zieht sie aber schärfer, indem er
das Anliegen auf eine Reihe von Gesichtspunkten reduziert 46 . Auch
konkretisiert er den zunächst wenig reflektierten 47 Erziehungsbegriff,
indem er ihn als Sozialisation versteht 48 . Schränkt man die sich hierdurch
öffnende Bedeutungsweite auf die Legalbewährung ein49, so ist der
Begriff bestimmt genug und sinnerfüllt. Daher würde man der Rahmen-

42 Umfassend zusammengestellt bei Nothacker, „Erziehungsvorrang" und Gesetzesaus-


legung im Jugendgerichtsgesetz. Eine systematisch-methodologische Analyse jugendstraf-
rechtlicher Rechtsanwendungsprinzipien, 1985, 106, dort Fn. 4.
43 Zwischen Wortlaut und Wortsinn unterscheidet treffend Engisch, Einführung in das
juristische Denken, 8. Aufl., 1983, 78 ff.
44 Näher Verf., Mittlerfunktion der Präjudizien. Eine rechtsvergleichende Studie, 1986,

22 ff passim.
45 (O. Fn. 42).
46 (O. Fn. 42), 44 ff, 48 ff.
47 Informativ Nothacker, (o. Fn. 42), 40.
48 (O. Fn. 42), 61 ff.
4' In diesem Sinne etwa Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 2. Aufl.,
1985, §5 Rdn.4.
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 415

funktion der Norm zuwiderhandeln, wollte man das Moment der


Erziehung und dessen Vorrang vor der Strafe aus den Normen des J G G
hinausinterpretieren, mithin aus dem Gesetz selbst eliminieren.
Es treten deutliche Umrisse des Ziels hervor, mag der Weg dorthin
auch noch zu bahnen sein. Dabei liegen die Probleme weniger in der
begrifflichen Fassung. Schon aus §10 Abs. 1 J G G ergibt sich, daß ein
Regeln der Lebensführung gemeint ist. Daran sei festgehalten, wenn hier
auch nicht darauf eingegangen werden kann, inwiefern der Begriff im
Sinne der Kybernetik gebraucht wird oder ob nicht doch steuernde
Elemente einfließen. Damit zeigt sich zugleich als offene Frage, wie auf
die Lebensführung des Jugendlichen oder Heranwachsenden einzuwir-
ken ist. Sie zu lösen, bleibt Aufgabe von Lehre und Praxis, selbst wenn
schon jetzt verdienstliche Bemühungen aufmerken lassen50.
Widerstände dagegen, ein Ziel zu erreichen, stellen nicht das Anliegen
selbst in Frage. Es wird zudem der Tatsache gerecht, daß sich vor allem
der Jugendliche (aber auch der Heranwachsende) noch in der Entwick-
lung befindet. Ihn hierbei sich selbst zu überlassen mag noch diskus-
sionswürdig51 sein, solange nicht eine Symptomtat die Fehlentwicklung
indiziert. Sowie ein solches Indiz, auftritt, ist aber zu überlegen, ob und
gegebenenfalls in welcher Weise die Lebensführung zu lenken ist, damit
der junge Mensch sich straffrei führt. Von einem „Lenken" ist die Rede,
um von den kybernetischen Begriffen des Regeins und Steuerns Abstand
zu gewinnen.
Zusammenfassend sei als anerkannter primärer Zweck des Jugend-
strafrechts der Erziehungsgedanke festgehalten. Dabei hat man Erzie-
hung zu verstehen als Lenken der Lebensführung im Interesse der
Legalbewährung. Dieses Anliegen hat den Vorrang gegenüber dem
Ahnden der Straftat52 und der (positiven) Generalprävention53. Zu stark
drückt sich im J G G der Erziehungsgedanke und sein Vorrang von den
anderen Strafzwecken aus. Ihn zu eliminieren, verbietet die Rahmen-
funktion der Norm.

2. Unzureichende Verwirklichung
In der Rechtswirklichkeit wird dem Vorrang des Erziehungsgedan-
kens nicht widersprochen, wohl aber zuwidergehandelt. Dieses Mißver-

50 Vgl. die Nachweise o. Fn. 7.


51 Zum Beginn der Diskussion vgl. A. S. Neill, Summerhill, 1960; vgl. ferner vom
selben Verfasser: Summerhill, for and against, 1970.
52 Häufig wird sich allerdings eine Harmonisierung erreichen lassen, vgl. Miehe, (o.
Fn. 13).
53 Dazu Jakobs, (o. Fn. 38).
416 Ellen Schlüchter

hältnis von Anspruch und Wirklichkeit 54 hat Hilde Kaufmann55 als eine
der ersten aufgedeckt. Schon sie hat nachgewiesen, daß in der Praxis
Reaktionen des Jugendstrafrechts häufig wie Sanktionen im Erwachse-
nenstrafrecht zuerkannt worden sind. Läßt sich doch etwa die Auflage
im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 3 J G G wie die Geldstrafe im Erwachsenen-
strafrecht verhängen. Entsprechendes gilt für den Jugendarrest nach § 16
J G G , der wie eine kurzfristige Freiheitsstrafe eingesetzt worden ist.
Dieses Umfunktionieren von speziell jugendstrafrechtlichen Reaktionen
in Denkschemata des Erwachsenenstrafrechts bildet nur ein Beispiel
dafür, wie der Vorrang des Täterbezuges verloren gegangen ist. Dazu
findet sich gerade in neuerer Zeit eine Fülle von Veröffentlichungen56.
Eine Besserung zeichnet sich zwar dank der „Brücke-Modelle" 57 ab.
Wo sie ins Werk gesetzt worden sind58, erleichtern sie den sinnvollen
Ausspruch von Arbeits- und Betreuungsweisungen. Dies ist als segens-
reich und verdienstlich anzuerkennen. Andererseits scheint sich der
Blick jetzt teilweise auf die Reaktionsform der Weisungen zu fixieren.
Immer noch wird das weite Spektrum der jugendstrafrechtlichen
Rechtsfolgen nicht ausgeschöpft. Besonders eine Reaktionslücke zwi-
schen den Weisungen und der schärfsten Form der Zurechtweisung -
der Jugendstrafe - wäre verhängnisvoll. Deshalb ist in die negative
Beurteilung des Jugendarrests im Schrifttum 5 ' durchaus nicht vorbehalt-
los einzustimmen. Zu folgen hat man ihr freilich für unerhebliche
Verfehlungen, die auf einen episodalen Charakter hindeuten. Hier wird
man nicht selten von einer Reaktion sogar absehen können60. Auch mag
sich leichten Erziehungsdefiziten mit Weisungen begegnen lassen. Dage-
gen wird man mit ihnen allein nicht auskommen bei erheblich geschädig-
ten Jugendlichen, deren Taten sich als Symptom für eine kriminelle
Entwicklung darstellen. Dann gilt es, die vom J G G bereitgehaltenen

54 Vgl. auch das Generalthema des 18. Deutschen Jugendgerichtstages in Göttingen

1980 und dazu o. F n . 2 sowie 6.


55 (O. Fn.4).

56 Genannt sei statt vieler der Einführungsvortrag Heinz, gehalten auf der Jahrestagung

1983 des Landesverbandes Baden-Württemberg der Deutschen Vereinigung für Jugendge-


richte und Jugendgerichtshilfen e.V. in Konstanz am 6.Mai 1983, I N F O 2-83, mit
umfangreichen Nachweisen.
57 Instruktiv insbesondere Pfeiffer, (o. Fn. 8).

5» Dazu etwa Marks, Weisungen gemäß § 10 J G G - Intensivierung sozialpädagogischer

Hilfen im Bereich unterhalb der Jugendstrafe durch Brücke-Projekte, in: Kury/Lerchen-


müller (Hrsg.), Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen, Bd. 2, 1981,
598 ff.
59 Nur beispielhaft genannt sei Pfeiffer, Jugendarrest - für wen eigentlich? Arrestideo-

logie und Sanktionswirklichkeit, MschrKrim. 64 (1981), 28 ff.


60 Dazu vor allem Kerner, (o. Fn. 26), 688 ff.
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 417

Reaktionsmöglichkeiten zu nutzen, ehe man zur ultima ratio der


Jugendstrafe greift. Deren Vollzug erfüllt nämlich trotz vielgestaltiger
Bemühungen noch immer nicht die an ihn gestellten erzieherischen
Anforderungen61. Leider wird nicht beachtet: Hier Geld zu investieren
heißt Geld zu sparen. Eine kriminelle Karriere ist teurer für den Staat
als rechtzeitig einsetzende Hilfe. So liegt es jedenfalls häufig im Blick auf
Delinquenten, die nicht nur Schwierigkeiten bereiten, sondern in sie
(auch) verstrickt sind62.
Ihnen hat man Hilfe anzubieten. Ein geregeltes Leben ist einzuüben.
Dies wird zuweilen nur stationär geschehen können, läßt sich aber mit
dem Vollzug in der heute üblichen Form kaum erreichen. Er ist eher auf
Jugendliche und Heranwachsende zugeschnitten, die nicht günstig
beeinflußt werden können. Solche Delinquenten gibt es. Das sei nicht
geleugnet63. Deshalb bleibt eine stationäre Maßnahme wie die Jugend-
strafe unentbehrlich.
Nicht vergessen werden dürfen aber die Jugendlichen und Heran-
wachsenden, auf die noch positiv eingewirkt werden kann. Selbst bei
erheblichen Erziehungsdefiziten wird man eine günstige Entwicklung
schwerlich von vornherein ausschließen können. Da sie sich aber mit
dem Jugendvollzug in der heutigen Ausprägung kaum verwirklichen
läßt, sollte so weit wie möglich auf andere Reaktionen ausgewichen
werden.
Wenn der Delinquent ein geregeltes Leben zu führen erst lernen muß,
kann ein „Erziehungskurs"64 in Betracht kommen. Man wird ihn gerade
bei erheblich gestörten Jugendlichen und Heranwachsenden nur unter -
zunächst einsetzendem und dann sich lockerndem - Zwang durchführen
können. Genau hier liegt auch der Grund, warum mit Sorge zu betrach-
ten ist, wie im Schrifttum der Jugendarrest in Mißkredit geraten ist59 und
wie er auch in der Praxis weniger häufig angeordnet wird. Es ist zu
befürchten, daß sich dies zum Nachteil gerade erheblich gefährdeter
oder gar geschädigter Jugendlicher auswirkt. Sobald sie bei ambulanten
Maßnahmen versagen, liegt der Schritt in den Vollzug der Jugendstrafe
nicht weit. Diesen Schritt zu gehen wäre aber sogar gesetzwidrig, wenn
sich der Erfolg auch mit dem Jugendarrest erreichen ließe.

" Vgl. Brunner, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 7. Aufl., 1984, §17 Rdn.2.


62 Vgl. außer Böhm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 2. Aufl., 1985, 20, vor allem
Müller-Dietz, (o. Fn.20), 31 ff.
65 Ebenso erschreckend wie treffend schon Groß, Verhandlungen 27. DJT, Bd. 1
(1904), 93/94.
64 Freilich zu variieren gegenüber den sonst diskutierten Erziehungskursen, vgl. etwa

Köhnke, Stützungskurse der Jugendgerichtshilfe, ZblJugR 1979, 12 ff; Stützungskurs -


eine ambulante Maßnahme nach einem Jugendgerichtsverfahren, ZblJugR 1981, 52 ff;
ferner Wilke, Soziale Trainingskurse, ZblJugR 1980, 422 ff.
418 Ellen Schlüchter

Gedacht wird freilich nicht an einen Arrest in der heute üblichen


Form. Es geht um Sozialisation und nicht um entsozialisierende Gewöh-
nung65. Dies zu verwirklichen, ist Sache der Rechtsanwendung. Wie
wenig hier Rechts Setzung bewirkt, hat die Jugendarrestvollzugsordnung
aus dem Jahre 197666 gezeigt. Der Grund liegt nicht nur in der Ausgestal-
tung als Sollregelung. Er findet sich vielmehr in dem Mangel an persönli-
chen und sachlichen Mitteln, die zur Verfügung gestellt werden, eine
wahrlich verschwenderische Sparsamkeit! Man vergleiche doch nur die
Kosten für einen (nicht nur auf dem Papier) erzieherisch gestalteten
Jugendarrest und eine anschließende Nachbetreuung mit dem Aufwand
für einen immer wieder Rückfälligen. Sparen läßt sich sogar dann, wenn
man - bei realistischer Einschätzung - nicht mehr erwartet als eine
gesenkte Rückfallquote.
Es bedarf der Einsicht, daß Kriminalität zumindest zuweilen - wenn
nicht gar häufig - auf Entbehrungen beruht, Entbehrungen weniger
materieller Natur. Die persönliche Zuwendung hat gefehlt. Sie gilt es
nachzuholen. Das aber ist schwerlich möglich ohne eine positive Einstel-
lung gegenüber dem jungen kriminell gewordenen Menschen.
Ihr Fehlen in weiten Kreisen der Bevölkerung kann nicht ernst genug
genommen werden. Sie dürfte letztlich auch den Grund dafür gebildet
haben, daß die Reformbestrebungen gescheitert sind. Hiermit soll zwar
nicht die Funktion des Gesetzgebers darauf reduziert gesehen werden,
eine abgeschlossene Entwicklung zu kodifizieren''7. Neben der kodifizie-
renden wird durchaus die gestaltende Gesetzgebung berücksichtigt68.
Doch hat die Gestaltung ihre Grenzen. Die Formbarkeit der Verhält-
nisse darf nicht überschätzt werden. Lediglich in gewissem Umfang
lassen sich Gegebenheiten umgestalten69. Und dieser Umfang scheint im

65 Zur entsozialisierenden Gewöhnung: Eisenhardt, Die Wirkungen der kurzen Haft


auf Jugendliche. Eine repräsentative empirische psychologisch-kriminologische Studie
über delinquente Jugendliche und die Auswirkungen des Vollzuges auf ihre sozialen
Einstellungen, 1977; außerdem Bausch/Cremer-Schäfer, Jugendarrest. Ein Tagebuch als
Beitrag zur Rechtstatsachenforschung, KrimJ 11 (1979), 211 ff; Plewig, Zur Reform des
Jugendarrestes oder: Was man so alles über „Kriminelle Jugendliche" weiß, MschKrim. 63
(1980), 20 ff.
66 Vom 18.8.1976, BGBl. I, 2349.

67 Dazu etwa v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissen-

schaft, in: Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny. Ein programmatischer Rechtsstreit auf-
grund ihrer Schriften, 1959, 72 ff, 98; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter
besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., 1967, 461 passim.
68 Zum Unterschied „zwischen der gestaltenden und der kodifizierenden Gesetzge-

bung" treffend Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, 215 (Hervorhebung dort).


" Aufschlußreich Noll, Gründe für die soziale Unwirksamkeit von Gesetzen, in:
Rehbinder/Schelsky, Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und
Rechtstheorie, Bd.III, 1972, 259ff; Neuestens zur „Strafgesetzgebung als Experiment?":
Marxen, GA 1985, 533 ff.
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 419

Streben nach einem reinen Jugendhilferecht überschritten worden zu


sein. Hat die Praxis doch schon nicht den Vorrang der Erziehung
hinreichend beachtet.
So ist festzuhalten, daß sich das Anliegen einer gegenüber der Strafe
vorrangigen Erziehung bisher nicht befriedigend hat verwirklichen
lassen.

3. Reform durch umgestaltete Rechtsanwendung


Schon jetzt zeichnen sich positive Entwicklungslinien ab. Bereits
erwähnt worden ist der Ausspruch von Weisungen anstelle von Arrest.
Dies aber darf nicht überbewertet und allenfalls als Beginn eingeschätzt
werden. Damit sollen nicht die unbestreitbaren Verdienste Pfeiffers70
geleugnet werden. Vielmehr geht es darum, möglichst weitgehend Hil-
fen zur Lebensgestaltung zu bieten und damit das (weitere) Abgleiten
eines Jugendlichen in die Kriminalität zu verhindern, letztlich also um
den Dienst am Erziehungsgedanken.
Hierzu ist das ganze Spektrum der schon de lege lata umfangreichen
Reaktionsmöglichkeiten auszuschöpfen. Es kann in diesem Rahmen
noch nicht einmal befriedigend angeleuchtet werden. Hingewiesen sei
nur auf einen effektiven Einsatz der Betreuungsweisung wie auch der
Erziehungsbeistandschaft. Ferner mag man erwägen, ob und gegebenen-
falls inwiefern sich die im Jugendstrafverfahren kaum noch angeordnete
Fürsorgeerziehung günstiger gestalten läßt. Zu denken ist an die Unter-
bringung eines gefährdeten Jugendlichen in einer geeigneten Familie
oder Wohngemeinschaft. Ferner sei erinnert an das Stiefkind der heiler-
zieherischen Behandlung71 (vgl. §10 Abs. 2 JGG).
Das Interesse soll sich aber nicht auf früher schon katalogisierte
Vorschläge72 beschränken. Es ist in diesem Rahmen vielmehr auf die
erheblich gefährdeten oder geschädigten Jugendlichen und Heranwach-
senden zu konzentrieren, denen man jedenfalls ex ante eine kriminelle
Karriere voraussagen muß, wenn nicht eingegriffen wird. Der Praktiker
wird eine Vielzahl von Beispielen dafür nennen können, wie sich in
einem solchen Fall Nichtintervention auswirkt, nämlich verheerend.
Man sieht es immer wieder, wenn man aufgrund von § 19 StGB nichts
unternehmen darf gegen Kinder, die stets aufs neue mit nicht unerhebli-
chen Taten auffallen. Nur selten halten dann Vormundschaftsrichter
und/oder Jugendamt eine ungünstige Entwicklung hinreichend auf.

70 Dazu schon o. Fn. 8.


71
Eisenberg (o. Fn.49), §10 Rdn.40 spricht davon, daß Weisungen nach §10 Abs. 2
JGG „vergleichsweise selten angeordnet" werden.
72 Schon de lege lata läßt sich nämlich ein Großteil der Forderungen durchsetzen, wie

Müller-Dietz (o. Fn. 20), 52 ff, sie erhoben hat.


420 Ellen Schlüchter

Nicht minder schlecht sind häufig die Erfahrungen mit Jugendlichen


und/oder Heranwachsenden, die in Untersuchungshaft genommen wor-
den sind und die es erreichen, daß der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt
wird. Dabei geht es nicht etwa darum, die Untersuchungshaft gegen
Jugendliche oder Heranwachsende in ihrer jetzigen Form zu billigen.
Abhilfe ist dringend geboten. Vielmehr soll hier auf die Grenzen ambu-
lanter Maßnahmen hingewiesen werden - letztlich im Interesse der
Jugendlichen mit erheblichen Erziehungsdefiziten. Nicht nur der
Gesellschaft, sondern auch ihnen gegenüber erscheint es unverantwort-
lich, nicht den Versuch zu wagen, ein geringeres Mittel als (vollzogene)
Jugendstrafe einzusetzen. Dabei wird nicht verkannt, daß man zuweilen
jedenfalls ohne anfänglichen Zwang nicht den Grund legen kann für eine
positive Entwicklung.
Gerade deshalb sollte so weit wie möglich die schon angesprochene64
Möglichkeit genutzt werden, den Jugendarrest als „Erziehungskurs" zu
gestalten. Ein ermutigender Beginn zeigt sich in einem unter anderen
von der Jugendarrestanstalt Remscheid durchgeführten Projekt: Den
Inhalt bildete ein intensives Sporttraining, eingesetzt in Form der Erleb-
nispädagogik, verbunden mit Gruppengesprächen und Gruppenarbeit.
Ausgewählt wurden vier Arrestanten, die eine Arrestzeit von vier
Wochen zu verbüßen hatten. Ihre Probleme lagen vor allem in einem
gestörten Umgang mit anderen sowie mit der Freizeit. Sie wurden
zunächst in den ohnehin in Remscheid praktizierten Gruppenvollzug
aufgenommen und mit der Gruppenarbeit auf den Kurs vorbereitet. In
die Vorbereitung wurden die Eltern einbezogen.
Die Arrestanten nahmen sodann an einem viertägigen Wandertraining
durch die Schwäbische Alb teil. Diese Wanderung wurde dem eigentli-
chen Kurs vorgeschaltet und mit großer Sorgfalt geplant, für die Arre-
stanten sogar eine Wanderausrüstung besorgt. Die Wanderung, zu der
außer den Arrestanten zwei Beamte des Aufsichtsdienstes sowie der
Sozialarbeiter und teilweise sogar der Vollzugsleiter mitliefen, war recht
anstrengend. Das gemeinsame Erleben ließ ein Gruppengefühl entste-
hen. Die hierdurch geschaffene Vertrauensbasis auch zu den Anstaltsbe-
amten führte zu Gesprächen. Durch sie lernten die Arrestanten in einem
für die kurze Zeit beachtlichen Umfang, besser miteinander umzugehen
und Konflikte auf andere als eine aggressive Art zu lösen. Selbst im Blick
auf Ordnung und Sauberkeit sowie Tischmanieren zeigte sich eine
merkliche Besserung.
Nach Ende der Wanderung gleich tags darauf folgte die Abfahrt nach
Oberstdorf. Dort fand der eigentliche Kurs unter Führung der Diakoni-
schen Akademie Stuttgart statt. An ihm nahmen neben der Gruppe aus
Remscheid noch weitere Gruppen aus den Jugendarrestanstalten Geln-
hausen und Kaufungen teil. Auch die Jugendvollzugsanstalt Adelsheim
Gesetzeszweck im Jugendstrafrecht 421

war mit zwei Jungstraftätern und einem Sport-Pädagogen beteiligt.


Untergebracht waren die Teilnehmer in einem gemütlichen, einfachen
Haus in Oberstdorf, das nicht bewirtschaftet ist und in dem nur eine
Hilfskraft zur Verfügung steht. Zum Küchen- und Hausdienst mußten
deshalb die Teilnehmer herangezogen werden. Die Einteilung verlief
insofern nicht so problematisch wie das Aussuchen des Hauptpro-
gramms. Angeboten wurde die Teilnahme an der Bergsport- oder Rad-
wandergruppe sowie an der als Auffangmöglichkeit für weniger Geübte
gebildeten Bergwandergruppe. Nicht wenige der Teilnehmer vermoch-
ten sich nicht zu entscheiden. Sie wurden in der Bergwandergruppe
zusammengefaßt, die damit zur Auffanggruppe und Notlösung wurde.
In ihr wurde deutlich, daß Teilnehmer ohne sorgfältige Vorbereitung
sich schwerlich in ein Konzept einzufügen vermögen. Auch zeigte sich
wiederum, daß nicht ein jeder Jugendliche oder Heranwachsende ange-
sprochen werden kann. Selbst mit Sport- und Erlebnispädagogik lassen
sich nur Menschen beeinflussen, die geistig und sozial noch gewisse
Voraussetzungen mitbringen. Für sie aber kann ein solcher Kurs die
Chance für ein straffreies Leben bedeuten". Deshalb ist der Plan des
Justizministeriums Nordrhein-Westfalen zu begrüßen, das Projekt zu
wiederholen in Zusammenarbeit der Jugendarrestanstalten Gelnhausen,
Kaufungen, Olpe und Remscheid, allerdings nicht in Oberstdorf, son-
dern zur Kostenersparnis in Eschwege.
Damit sind freilich die Möglichkeiten durchaus nicht ausgeschöpft.
Zu denken ist ferner an Vorhaben, die einen stärkeren Arbeitsbezug
aufweisen und klar werden lassen, daß auch Arbeit Freude bereiten
kann. Schon jetzt zu begrüßen ist die Verbindung mit einer intensiven
Nachbetreuung. Ohnehin erscheint jedenfalls Dauerarrest ohne
anschließende Betreuung kaum als sinnvoll. In der Kombination lassen
sich aber ermutigende Erfolge erzielen. Insofern kann ebenfalls auf
Erfahrungen hingewiesen werden, die in der Jugendarrestanstalt Rem-
scheid gewonnen worden sind74. Dies verwundert nicht. Hat sich doch
hier Herr Jugendrichter Schäfer besonders verdient gemacht. An die
Stelle uninteressanter bloßer Beschäftigung hat er die Fertigung von
Kinderspielzeug aus Holz zu setzen verstanden. Noch wichtiger freilich
erscheint die Motivation der Jugendlichen und Heranwachsenden - wie
auch der Bediensteten. Und hier dürfte man in Remscheid auf dem
richtigen Weg sein mit dem Engagement des Vollzugsleiters und seines
Sozialarbeiters Lautenschlager.

73
Leider ist zu diesem Projekt noch nichts veröffentlicht, sondern der positive Ausgang
der Verf. nur bei einem Besuch der Anstalt bekannt geworden.
74
Vgl. Schulz, Das Projekt „Remscheid" (in Vorbereitung).
422 Ellen Schlüchter

Selbst die wenigen ausdrücklich erwähnten Gesichtspunkte lassen sich


in die Rechtswirklichkeit nur einbringen bei hinreichendem Einsatz.
Damit ist nicht nur der Staat bzw. seine Kasse angesprochen. Vielmehr
geht es um die Bekämpfung der Jugendkriminalität als Aufgabe der
Bevölkerung, mithin jedes einzelnen. Nicht wenige könnten helfen
durch Zuwendung eines ihrer vielleicht erheblich überbewerteten - und
nicht selten sinnentleert gestalteten - Güter. Gemeint ist das Opfer von
„Freizeit".
Insgesamt finden sich in der Theorie genügend Vorschläge. In die
Praxis werden sie sich aber nur bei hinreichendem Engagement der
Bevölkerung umsetzen lassen.

III. Hoffnung statt Prognose


Den Blick auf die Bevölkerung insgesamt mag man auch reduzieren
auf alle diejenigen, die mit der Jugendstrafrechtspflege betraut sind. Von
ihnen hängt es ab, inwiefern eine Reform durch umgestaltete Rechtsan-
wendung gelingen kann. Dann aber läßt sich weder positiv noch negativ
eine Prognose wagen. An ihrer Stelle tritt die Hoffnung, die Hoffnung
auf eine „Jugendstrafrechtsreform de lege lata" im Andenken an Hilde
Kaufmann.
III.
Theorie, Zumessung und Vollzug
der Strafe
Über die gerechte Strafe
Ein rechtsphilosophischer Essay

A R T H U R KAUFMANN

Die allgemeine Unsicherheit in Grundsatzfragen gehört zu den her-


vorstechenden Merkmalen unserer Zeit. Diese Feststellung - es soll
keine Wertung sein - gilt für alle Lebensbereiche, sie gilt für den
einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft, sie gilt für den Staat wie für
die Kirchen, und sie gilt nicht zuletzt auch für die Wissenschaft. Es
werden zwar viele Theorien ersonnen, aber sie werden gewissermaßen
aus dem Tag für den Tag ersonnen, nur aus gerade empfundenen
Bedürfnissen und Interessen heraus, ohne gesicherte Fundamente.
Mit der Theorie der Strafe steht es nicht anders. Nach der Epoche
reinen Zweckstrafens in der Diktatur (wobei man für die drakonischen
Repressalien der damaligen Zeit das Wort „Strafe" meist vermied, als
könnte man so dem Rechtfertigungsproblem aus dem Weg gehen)
erfolgte eine Rückbesinnung auf den „absoluten" Grund der Strafe. In
berechtigter Abwehr des Unrechtsstaates übersteigerte man (auch ich
selbst!) dann allerdings diesen Aspekt, so daß er schließlich in Mißkredit
geriet. Mehr und mehr brach sich der Resozialisierungsgedanke Bahn -
bei gleichzeitiger Ablehnung nicht nur des Vergeltungsgedankens, son-
dern vor allem auch der Generalprävention. Gegenwärtig hat es den
Anschein, daß die Spezialprävention wieder zurückgedrängt wird
zugunsten einer Position, die man (reichlich mißverständlich) „positive
Generalprävention" nennt. Eine theoretische Grundlage hierfür ist
kaum ersichtlich; den rechtssoziologischen Funktionalismus, der sich im
Augenblick großer Zuneigung erfreut, wird man schwerlich für eine
solche halten können.
In derartigen Zeiten der Unsicherheit, die nur Ad-hoc-Theorien
hervorzubringen imstande sind, ist es nützlich, sich auf die „Klassiker"
zu besinnen. Nicht als ob man von dort Antwort auf alle aktuellen
Fragen erlangen könnte. Aber man kann wieder Orientierung gewinnen
und eine Basis, von der aus eine sinnvolle Diskussion möglich ist.
In der Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, die ihr Leben in
vielfältiger Weise in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt hat, sind einige
Überlegungen über die gerechte Strafe sicherlich nicht fehl am Platze.
Dabei braucht die Richtung unserer Frage nach der „gerechten", der
„richtigen Strafe" sicher nicht legitimiert zu werden, sind sich doch in
426 Arthur Kaufmann

diesem Ziel alle Straftheorien einig. Was sie unterscheidet, ist die Auffas-
sung darüber, worin die „Richtigkeit", die „Gerechtigkeit" der Strafe
liegt-
Jede ernsthafte Gerechtigkeitstheorie muß von Aristoteles ihren Aus-
gang nehmen, mag sie sich dann auch mehr oder weniger weit von ihm
entfernen. Da es mir in dieser kleinen Studie aber nur darum geht, den
Blick auf diesen Ausgangspunkt hinzulenken, werde ich im wesentlichen
nur die aristotelische Gerechtigkeitslehre berücksichtigen. Aber noch
einmal: Ich bin nicht der törichten Meinung, daß Aristoteles alle unsere
Probleme schon gelöst hätte. Ich bin indessen sehr wohl der Meinung,
daß er uns helfen kann, wieder Klarheit zu gewinnen.
Aristoteles hat seine Lehre von der Gerechtigkeit hauptsächlich im
5. Buch der Nikomachischen Ethik entwickelt. Hier findet sich auch die
klassische Einteilung in „ausgleichende Gerechtigkeit" (iustitia commu-
tativa) und „austeilende Gerechtigkeit" (iustitia distributiva). Später ist
dieses Schema durch mannigfache Hinzufügungen und auch Abände-
rungen ergänzt und abgewandelt (vielfach auch verunklart) worden.
Darauf gehe ich hier nicht ein. Berücksichtigt sei jedoch noch eine dritte
Art der Gerechtigkeit, die „legale Gerechtigkeit" (iustitia legalis), mit
der Thomas von Aquin das aristotelische Modell vervollständigt hat1;
diese Berücksichtigung ist angemessen, weil der Aristoteliker Thomas
nur ins volle Licht gerückt hat, was bei Aristoteles schon implizit
angelegt war.
Zum Einstieg betrachte man das nebenstehende Schaubild.
Dazu im einzelnen. Die ausgleichende Gerechtigkeit (Aristoteles nennt
sie „berichtigend": öixaiov öiOQfkimxov) bedeutet die absolute Gleich-
heit unter den von Natur Ungleichen, aber vom Gesetz Gleichgestellten
(„alle Mörder", so unterschiedlich sie auch sind, erhalten lebensläng-
lich). Den „absoluten Straftheorien" geht es ausnahmslos um die Ver-
wirklichung dieser einen Art von Gerechtigkeit: um die Herstellung des
„Gleichgewichts" zwischen Schuld und Strafe, sei es nun eines ethischen
Gleichgewichts (Kant), eines logisch-dialektischen Gleichgewichts
(Hegel), eines ästhetischen Gleichgewichts (Herbart), eines religiösen
Gleichgewichts (Stahl), eines psychologischen Gleichgewichts (Merkel)
oder eines rechtlichen Gleichgewichts (Binding). Die durch das Verbre-
chen aus dem Lot geratene Ordnung muß wiederhergestellt werden, und
das muß sie auch dann, wenn das für keinen Menschen einen positiven
„Zweck" hat. In Kants berühmtem Inselbeispiel2 wird dieser ethische
Rigorismus besonders deutlich.

1
Thomas von Aquin, Summa theologica II, II, 57 ff.
2
Kant, Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, S.333.
Über die gerechte Strafe 427

Die gerechte Strafe

Gerechtigkeit

Ü
-a
c
Absolute Straftheorien Relative Straftheorien
(punitur quia peccatum est) 3 (punitur ne peccetur)
<

Talionsprinzip Spezialprävention Generalprävention


Absolute Gleichheit Verhältnisgleichheit Gesichtspunkt der
zwischen Schuld und (suum cuique) sozialen Rückbindung.
Strafe (Aug' um Aug' Strafe nach Maßgabe der Strafe nach Maßgabe
Täterpersönlichkeit von Gemeinschafts-
Vergeltung a) Resozialisierung erfordernissen: Soziale
(„Schuldausgleich") b) Warnung Wiedergutmachung
c) Ungefährlich- •— a) positive General-
machung1 prävention: Stabi-
lisierung der Ge-
Individuale Gerechtigkeit Soziale Gerechtigkeit sellschaft („Ver-
teidigung der
Rechtsordnung")
b) negative General-
prävention: Ab-
schreckung der All-
gemeinheit

Rechtsgüterschutz

E s ist s e h r b e m e r k e n s w e r t , d a ß n o c h Kant die Gleichheit als f o r m a l e


o d e r n u m e r i s c h e v e r s t a n d e n h a t , also im Sinne des Talionsprinzips.
G l e i c h e s m u ß m i t genau G l e i c h e m v e r g o l t e n w e r d e n : A u g ' u m A u g ' ,
Z a h n u m Z a h n - „hat e r aber g e m o r d e t , s o m u ß e r s t e r b e n ; es gibt hier
kein S u r r o g a t z u r B e f r i e d i g u n g d e r G e r e c h t i g k e i t " 4 . D a b e i h a t t e s c h o n
Aristoteles eine s e h r viel differenziertere und z u t r e f f e n d e r e A u f f a s s u n g
v o n d e r G e r e c h t i g k e i t als G l e i c h h e i t : N i c h t auf die n u m e r i s c h e G l e i c h -
heit k o m m t es e n t s c h e i d e n d an, s o n d e r n auf die p r o p o r t i o n a l e , g e o m e -

3 Dieses Won klingt nicht ganz so inhuman wie „Unschädlichmachung"


4 Kant, a.a.O. (Fn.2).
428 Arthur Kaufmann

trische, relationale 5 . Das Gleiche ist eine Mitte, sagt er, eine Mitte
zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Da aber das Gleiche ein
Mittleres ist, so ist auch das Recht ein Mittleres und demnach etwas
Proportionales.
Für Aristoteles ist daher die maßgebende Weise der Gerechtigkeit die
austeilende Gerechtigkeit als die verhältnismäßige Gleichheit in der
Behandlung einer Mehrzahl von Personen: die Zuteilung (öixaiov
öiavE|xr|Tixov) von Rechten und Pflichten nach Maßgabe von Würdig-
keit, Fähigkeit, Bedürftigkeit... Die distributive Gerechtigkeit ist mit
anderen Worten das später namentlich von Cicero so genannte Prinzip
des Suum-cuique-tribuere. Sie ist die U r f o r m der Gerechtigkeit, da die
ausgleichende Gerechtigkeit voraussetzt, daß die von N a t u r Ungleichen
erst durch einen öffentlichen Akt der austeilenden Gerechtigkeit gleich-
gesetzt werden („alle Kinder", „alle Minderjährigen", „alle Kaufleute",
„alle Mörder" . . . ) .
Folgt man Aristoteles, daß es für das Recht wesentlich auf die austei-
lende Gerechtigkeit und also auf proportionale Gleichheit ankommt
(und dafür sprechen gewichtige Gründe 6 ), dann ist Hauptzweck der
Strafe die Spezialprävention und dabei in erster Linie die Resozialisie-
rung. D e m Täter wird „das Seine" zugeteilt, das, was er nötig hat, um
künftig unauffällig in der Rechtsgemeinschaft leben zu können. Es ist
interessant, daß Thomas von Aquin, der den metaphysischen Sinn der
Strafe sehr wohl in der Vergeltung sieht, von der weltlichen Strafe aber
sagt, sie habe in erster Linie Heilscharakter („poena medicinalis") 7 . Das
für die „Heilung" des Täters, also für seine Resozialisierung Nötige
kann indessen gerade auch ein Verzicht auf Strafe sein, jedenfalls auf
ihren Vollzug, ein Verzicht, der unter dem Aspekt der ausgleichenden
Gerechtigkeit (der Vergeltung) als unmöglich, weil ungerecht, erschei-
nen muß. Kant hat das ja mit allem Nachdruck betont. Dabei hätte Kant
von seinem Autonomiegedanken aus eigentlich eher zur Spezialpräven-
tion kommen müssen, denn nur unter ihrer Rücksicht wird der Täter als
Zweck an sich selbst anerkannt und nicht als Mittel für fremde Zwecke
(Wiederherstellung der O r d n u n g , Abschreckung der Allgemeinheit,
Stabilisierung der Gesellschaft) dienstbar gemacht.

„Stabilisierung der Gesellschaft" ist heute das Reizwort. Damit sind


wir bei der legalen Gerechtigkeit, die Aristoteles als in der distributiven

5
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131 äff.
6
Sie müssen im Rahmen einer Relationenlogik und Relationenontologie diskutiert
werden, was hier aber nicht möglich ist. Siehe dazu Arthur Kaufmann, Vorüberlegungen
zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen, in: RTh 17 (1986).
7
Thomas von Aquin, Summa theologica II, II, 108, 3.
Über die gerechte Strafe 429

Gerechtigkeit mitenthalten gedacht hat. Ihre besondere Heraushebung


macht jedoch das Moment der Verpflichtung der einzelnen gegenüber
der Gesamtheit deutlich: Eigentum berechtigt, verpflichtet aber auch.
Fraglos hat auch der Rechtsbrecher Verpflichtungen gegenüber der
Gemeinschaft. Er muß Lasten auf sich nehmen, die sich unter dem
Gesichtspunkt der Resozialisierung nicht als nötig, vielleicht sogar als
ausgesprochen schädlich erweisen. An sich ist das eine Binsenweisheit.
Daß man sie heute als eine große Entdeckung feiert, hat einen einfachen
Grund. Man hatte nämlich alles auf die Karte der Resozialisierung
gesetzt und dann eines Tages erfahren, daß etwas in der Gesellschaft aus
dem Gleichgewicht gerät, wenn man die Strafe nur danach bemißt, was
für den jeweiligen Täter zu seiner Resozialisierung das Beste ist. Und
was dieses für den Täter Beste ist, jedenfalls in der Regel, weiß man
schließlich schon lange: möglichst schonende Strafen, am besten laufen-
lassen, denn das Gefängnis macht einen Menschen selten besser. Aber
das geht nicht, zumindest nicht bei gravierenden Delikten. Da macht die
Gesellschaft nicht mit. Die rechtstreue Gesinnung der Anständigen
werde durch unangemessene Freisprüche oder milde Bestrafungen kor-
rumpiert, sagt man. Und darum müßten „zur Verteidigung der Rechts-
ordnung" (§§47 Abs. 1, 56 Abs. 3, 59 Abs. 1 StGB) auch solche Strafen,
mitunter sehr harte Strafen verhängt werden, die vom Täter her gesehen
nicht nötig, vielfach sogar geradezu schädlich sind. Als beliebte Beispiele
dienen die späten Strafen gegen NS-Täter, die Jahrzehnte unauffällig in
der Gesellschaft gelebt haben und bestimmt auch ohne Prozeß nie mehr
rückfällig geworden wären.
Ich habe nie daran gezweifelt, daß solche Bestrafungen erforderlich
sind. Aber warum sind sie das? Warum gerät denn in derartigen Fällen
die Rechtstreue ins Schwanken, warum wirkt es destabilisierend, wenn
der schuldhaften Tat nicht die „angemessene" Bestrafung folgt? Was
gerät hier aus dem „Gleichgewicht"? Doch nichts anderes als das urtüm-
liche Bedürfnis nach einem Gleichmaß: wie zwischen Tugend und Lohn,
so auch zwischen Übeltat und Strafe. Denn nicht anders „will es die
Gerechtigkeit... nach allgemeinen, a priori begründeten Gesetzen".
Dieser Satz Kants8 behält also seine Gültigkeit (wenn auch nicht in der
Rigorosität, wie Kant ihn gemeint hat). Früher nannte man das schlicht
Vergeltung und Vergeltungsbedürfnis. Heute spricht man von Stabilisie-
rung und Stabilisierungsbedürfnis, weil man sich des Ausdrucks „Ver-
geltung" schämt. Es soll gewiß nicht verkannt werden, daß nicht alles,
was derzeit unter der Flagge „positive Generalprävention" segelt, nur
den Sinn der Vergeltung hat. Aber im Kern ist es Vergeltung, oder,
wenn man das lieber hört, „Schuldausgleich". Schließlich wurde der

8 Kant, a . a . O . (Fn.2), S.334.


430 Arthur Kaufmann

Gedanke der norm- und gesellschaftsstabilisierenden Funktion der


Strafe im Rahmen der absoluten (Vergeltungs-)Theorien schon immer,
mehr oder weniger explizit, thematisiert, am deutlichsten in der Integra-
tionslehre Smends, der Theorie von der politischen Notwendigkeit der
Strafe.
Ich sage das nicht in einem abwertenden Sinne. Ich erkenne die
(schlecht so genannte) Theorie von der positiven Generalprävention als
einen richtigen Aspekt des Ganzen sehr wohl an, denn ich habe nie
daran gezweifelt, daß jeder Strafe (auch wenn man sie anders nennt, z. B.
„Sanktion" oder „Maßregel") ein Moment der vergeltenden Gerechtig-
keit innewohnt, und daß dieses Vergeltungsmoment in manchen Fällen
(NS-Täter!) sogar das Ubergewicht gewinnt. Ich sehe nur in der
Umtaufe längst bekannter Phänomene keinen rechten Sinn.
Wenn noch ein Wort in eigener Sache gestattet ist: In meinem vor
dreißig Jahren konzipierten Buch „Das Schuldprinzip" habe ich den
Standpunkt vertreten, daß der primäre Sinn der Strafe die Vergeltung sei,
und ich habe von da aus die These postuliert, daß das Vorliegen von
Schuld Strafe (freilich nicht notwendig staatliche Strafe!) erforderlich
macht'. Dieser Standpunkt hat berechtigte Kritik erfahren, und ich habe
ihn deshalb schon vor geraumer Zeit aufgegeben oder, besser gesagt,
modifiziert10. Es ist aufschlußreich, daß nunmehr gerade das Lager, aus
dem hauptsächlich die erwähnte Kritik kam, via „positive Generalprä-
vention" die These von der notwendigen Verbindung zwischen Schuld
und Strafe wieder rehabilitiert hat, jedenfalls in den wesentlichen Punk-
ten11. Es bleibt freilich ein Unterschied. Während ich immer die Auffas-
sung vertreten habe, die Berechtigung der Strafe müsse sich in erster
Linie aus der Person des Täters ergeben und ich daher auf dessen
Entsühnungsbedürftigkeit abstellte, argumentiert die neue Lehre mit der
Bedürftigkeit der anderen, nämlich der Gesellschaft, um deren Stabilisie-
rung willen die Strafe notwendig und gerechtfertigt sei. Der Sühnege-
danke ist, jedenfalls wenn man nur die staatliche Strafe im Auge hat,
gewiß vielen Bedenken ausgesetzt. Aber ist nicht die „positive General-
prävention", wie letztlich alle Generalprävention, noch viel ungeeigneter
und suspekter, um Strafe in ihrem Grundsinn zu legitimieren?
Werfen wir noch einmal einen Blick auf das Schaubild. Die Strafe ist
in erster Linie ein Akt der distributiven Gerechtigkeit: Dem Täter ist
„das Seine" zu geben, das, was ihm nottut, „poena medicinalis". Doch

9 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip (1961), 2. Aufl. 1976, bes. S. 201 ff.
10 Das kann man hauptsächlich in meinen Büchern: Schuld und Strafe, 2. Aufl. 1983,
sowie: Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, nachlesen.
11 Daß die Strafe die Schuld nicht stets ausschöpfen muß, habe schließlich auch ich

schon in jener frühen Zeit nicht angezweifelt; Das Schuldprinzip (Fn. 9), S.205.
Über die gerechte Strafe 431

das kann nicht das alleinige Prinzip sein, denn der Täter steht nicht
isoliert da, sondern ist stets Glied einer Gemeinschaft. Darum muß die
Strafe auch berücksichtigen, was der Gemeinschaft nottut (legale
Gerechtigkeit), und das, was ihr nottut, nämlich zur Erhaltung und
Stabilisierung ihrer Rechtstreue, ist in allererster Linie die Gewißheit,
daß auf die schuldhafte Tat die „gehörige" Strafe folgt (kommutative
Gerechtigkeit). Der Gemeinschaft tut, mit Kants Worten gesagt, not,
daß „jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind"12. Dabei
möchte ich das, was von der „positiven Generalprävention" zur legalen
Gerechtigkeit gehört, lieber „soziale Wiedergutmachung" nennen, weil
dadurch besser zum Ausdruck kommt, daß der Täter dies der Mitwelt
schuldet. Soweit die „positive Generalprävention" aber ein Akt der
ausgleichenden Gerechtigkeit ist, sehe ich keinen Grund, dafür nicht den
angestammten Ausdruck „Vergeltung" zu verwenden.
Hauptzweck der Strafe also ist die Spezialprävention, vornehmlich die
Resozialisierung. Zu ihm treten die anderen Strafzwecke: Vergeltung
(Schuldausgleich) und soziale Wiedergutmachung grenzengebend und
modifizierend hinzu (um Abschreckung braucht man sich bekanntlich
nicht zu sorgen). Der Rechtsgüter schütz schließlich, um den es bei der
staatlichen Strafe ja immer wesentlich geht, ist kein Strafzweck neben
den drei anderen, kein Teilaspekt der Strafe, er ist vielmehr das Resultat
einer optimalen Verbindung der drei Strafzwecke.
Mir scheint, daß dies eine taugliche Ausgangsbasis ist, um von da aus
die verschiedenen Einzelfragen zu diskutieren. So wird, um nur ein
Beispiel zu nennen, auf der Grundlage der hier eingenommenen Position
für die lebenslange Freiheitsstrafe deutlich, daß deren Problem darin
liegt, ob eine solche Strafe, die unter spezialpräventiven Gesichtspunk-
ten niemals zu rechtfertigen ist, doch unter dem Aspekt der Gesell-
schaftsstabilisierung als noch vertretbar angesehen werden kann. Viel-
leicht wird man das rebus sie stantibus bejahen müssen, d.h. für die
heute gegebenen Verhältnisse. Eines Tages wird es aber gewiß dahin
kommen, daß die Gesellschaft nicht mehr aus dem Gleichgewicht gerät,
wenn man auf Mord nicht mit lebenslanger Haft reagiert. Auch die
„gerechte Strafe" ist eine geschichtliche Größe. Sie muß immer wieder
aufs neue bestimmt werden. Ohne einen Orientierungspunkt gerät man
dabei aber leicht ins Ephemere und Unverbindliche. Dem vorzubeugen,
ist der Sinn der vorliegenden Studie.

12 Kant, a. a. O . (Fn. 2), S. 333.


Zur Verortung der Spezialprävention /
Sozialtherapie: Maßregel oder Strafvollzug?
R E I N H A R D VON H I P P E L

Nichts bekümmert den menschlichen Richter


mehr, als die traurige Erfahrung, daß Strafen
den Verbrecher nur selten bessern, sondern
dieser nach ausgestandener Strafzeit seine
vorhergegangene Lebensart wieder anfängt.
Es ist daher gewiß ein verdienstliches Werk,
wenn alle Vorschläge, die diesem Uebel Ein-
halt thun können, sorgfältig gesammlet und
geprüft werden.
E r n s t Ferd. Klein
Annalen X I (1793) S. 123

Praesumptio est rei incertae probabilis co-


niectura (.)
Can. 1825 § 1

A.

Der Schwerpunkt von Hilde Kaufmanns wissenschaftlichem Werk


wird durch Band III ihrer Kriminologie dokumentiert. Er trägt den
Titel: Strafvollzug und Sozialtherapie. Gegenstand des Buches ist nicht
etwa die vom Schulenstreit getragene Frage, ob Sozialtherapie im Straf-
vollzug möglich sei, während ihre Möglichkeit an und für sich vorausge-
setzt wird, sondern die ebenso mühsame wie wichtige empirische Erfor-
schung von beidem: Strafvollzug und Sozialtherapie. Hilde Kaufmann
ist vom Bestehenden ausgegangen, nicht von Utopia. Damit sind ihre
Ergebnisse zur Sozialtherapie von der Anknüpfung her heute brauchbar
für den Strafvollzug, aber auch a fortiori bei jedem ex definitione der
Schulenstreiter „besseren" Institut, zu dessen unbequemem Maßstab sie
sogar werden könnten. Hilde Kaufmann hat sich also jenseits der
Tagesthemen an die Arbeit gemacht, unauffällig, aber eindringlich. Die
pragmatische Grundlage dieser Arbeit ist nicht nur das Gegebene,
sondern zugleich das, was sich nach über hundert Jahren Schulenstreit
und einer Phase großer Euphorie nach der Totgeburt der Sozialthera-
peutischen Anstalt als das Mögliche erwiesen hat. Die Beschreibung der
gedanklichen Anknüpfung für die empirische Erforschung von Strafvoll-
434 Reinhard von Hippel

zug und Sozialtherapie hat für unsere Zeit besonders deutlich Eberhard
Schmidt beschrieben:
„Es ist ja so seltsam, wie im Bereiche des Vollzugs, wo es nicht mehr um die Frage geht,
welche straftheoretischen Gesichtspunkte für die Bestimmung der strafrechtlichen
Unrechtsfolgen entscheidend sein sollen, wo vielmehr der bestrafte Mensch mit seinem
Schicksal und seinem Sein in nun doch eben vor allem auch menschlichen Beziehungen
zu den leitenden Organen des Strafvollzuges tritt-, wie da der straftheoretische Streit
wesenlos wird und die alles beherrschende Frage sich einstellt: wie ist die Behandlung
des Gefangenen und die Arbeit an ihm so zu gestalten, daß der Vollzug mit allem, was
er ist und mit sich bringt, erstens sittlich verantwortet werden kann, zweitens den
Gefangenen vor einer Entpersönlichung und vor einer sittlichen Depravierung durch
die üblen Elemente bewahrt, drittens das Verantwortungsbewußtsein des Gefangenen
gegenüber seiner Schuld und seiner weiteren Lebensgestaltung wachruft und stärkt,
viertens das mit dem Gefangenen und seiner Welt gegebene soziale Problem in der
Richtung löst, daß er tunlichst nicht wieder rückfällig wird?
Für einen Strafvollzug, der in der positiven Lösung dieser vier Probleme seinen Sinn
sieht, wähle ich den Ausdruck „Resozialisierungsvollzug". Ich weiß genau, daß diese
Vokabel - um mehr handelt es sich nicht - eine Bezeichnung a potiori ist. Es gibt
Verbrecher, denen im Hinblick auf die Schwere ihrer Tat und die in ihr dokumentierte
„Schuld" unabweislich eine lange Freiheitsstrafe auferlegt werden muß, bei deren
Zumessung seitens des Richters der Gedanke an eine Resozialisierung des Täters ganz
zurücktritt, ja vielleicht deswegen gar nicht erwogen wird . . . Aber bei allen Gefange-
nen besteht die Sorge: wie werden sie in die Freiheit zurückkehren? . .

In dieser Abhandlung Hilde Kaufmann zu Ehren soll eine Entwick-


lung vom 18. Jahrhundert in das 19. Jahrhundert hinein nachgezeichnet
werden, die gleichfalls jenseits des damaligen Schulenstreits in eine
verblüffend ähnliche realistische Beschreibung zusammengefaßt worden
ist, aber zugleich auch das Relief, von dem sich die Not des Strafvollzu-
ges abhebt2.
1 Eberhard Schmidt: Kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Probleme in der
deutschen Strafrechtsreform. In: ZStW 69 (1957), 359f (368f), Hervorhebungen von Eb.
Schmidt.
2 Methodisch sagt eine Beschreibung allein noch nichts aus: Sie erhält erst Bedeutung

durch Vergleich mit dem, was kontextuell als gegeben hingenommen werden muß. Erst
das, was sich dann noch abhebt, ist spezifisch. Das mag anhand einer seinerzeit spektakulä-
ren Fehldiagnose demonstriert werden: In den 60er Jahren hat ein bekannter Gerichtsme-
diziner dem „Sozialanwalt" Dr. W. eine manifeste Schizophrenie des paranoischen For-
menkreises attestiert. Dieses Gutachten war Grundlage der stationären Untersuchung nach
§ 126 a StPO, die die Diagnose nicht bestätigte. Die Falschdiagnose war vermeidbar: Dr.
W. hatte über viele Monate öffentlich, insbesondere durch Flugblätter, höchsten Chargen
in Verwaltung und Gesellschaft der Stadt M. Mord, nächtliche Leichenexhumierungen
usw. vorgeworfen. Die dadurch ausgelösten Reaktionen führten u. a. zu dem Strafverfah-
ren, das nach Scheitern der Flucht zu Dr. W.'s zunächst ambulanter Untersuchung geführt
hat. Machte man sich die Ausgangslage klar: Auf der Flucht vor der Strafverfolgung unter
Festhalten an der Moritat mußten die Erlebnisreaktionen alle inhaltlichen Merkmale eines
schizophrenen Verfolgungswahnes umfassen mit der entscheidenden Ausnahme: mangels
Konsistenz und Resistenz im Explorationsgespräch fehlte über das Motivierte hinaus
gerade alles Zwanghafte eines Wahnsystems. Diagnose: Normale Reaktion auf selbstpro-
duzierte abnorme Erlebnisse.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 435

B.
Jede historische Beschreibung, die nicht eine totale Diskontinuität
zum Gegenstand hat, ist hinsichtlich des zeitlichen Beginns begrün-
dungspflichtig. Ich beginne mit „Des (Berliner) Cammer-Gerichts aller-
unterthänigstem Bericht, die Unterbringung der aus den Vestungen und
Zuchthäusern entlassenen betreffend" vom 6. Juni 1791 im wesentlichen
aus folgenden Gründen:
1. Dieser Bericht hat nachweislich unmittelbare Wirkung gehabt3.
2. Es spricht eine starke Vermutung für Auswirkungen auf das Preuß.
ALR, insbesondere 20 II §§5 und 1160.
3. Die Inhalte der unmittelbar ausgelösten Wirkungen werden weiter
diskutiert.
4. Die Materialien zu 1. sind von Ernst Ferdinand Klein mit einer
Einleitung versehen veröffentlicht, also ohne Archivarbeit zugäng-
lich\

3 Ich folge hier der Anordnung von E.F. Klein in seinen Annalen Bd. X I (1793):

A. „Des Cammer=Gerichts allerunterthänigster Bericht, die Unterbringung der aus den


Vestungen und Zuchthäusern entlassenen betreffend", v. 6.Juni 1791, a . a . O .
5. 124-133;
B. Protokoll einer Vernehmung des Commissarius des Zuchthauses zu Spandau und
einiger Insassen durch den Präsidenten des Cammergerichts v. Kircheisen vom 5. May
1791, a . a . O . S. 134-136;
C. Bericht der Kaufleute Riemann, Fernau jun. und Käbisch über ein von ihnen eingerich-
tetes „freywilliges Spinn^Institut" vom 22.März 1791, a . a . O . S. 136-138;
D. Großkanzler v. Carmer „Auf seiner Königl. Majestät allergnädigsten SpeciaUBefehl"
an das Cammer-Gericht v. 26. Sept. 1791, a. a. O. S. 138 f;
E. v. Carmer: „An Ein Hochlöbl. Ober=Kriegs=Collegium" v. 5.Sept. 1791 a . a . O . ,
S. 139-142;
F. Königl. Preuß. Ober-Kriegs-Collegium (,Schulenburg, v. Kannewurff) an den Groß-
kanzler v. Carmer v. 16.Sept. 1791, a . a . O . S. 142f;
G. v. Carmer: „An Ein Hochlöbl. GeneraUDirektorium" v. 5.Sept. 1791, a . a . O .
S. 143 f;
H. Königl. Preuß. General^Ober=Finanz-, Kriegs- und Domainen-Directorium „An des
Königl. Großkanzler ec. Herrn v. Carmer Excellenz" v. 24.Sept. 1791, a . a . O .
S.144-148;
J. Friedrich Wilhelm (II.) An das Cammergericht v. 17.October 1791, a . a . O .
S.148-151;
K. „Der Criminal^Deputation des Cammergerichts fernerer allerunterthänigster Bericht,
die aus den Zuchthäusern und Vestungen zu entlassenden Züchtlinge betreffend" an
den König v. April 1793, a . a . O . S. 151-164;
L. Friedrich Wilhelm (II.) An die CriminaUDeputation des Cammergerichts v. 22. Juli
1793, a . a . O . S. 165f und v. Carmer „An Ein Hochlöbl. General- ec. Directorium" v.
17.Junii 1793, a . a . O . S. 166-173;
M. „Königl. Preuß. General^ ec. Directorium" an den Großcanzler v. 5. Julii 1793,
a . a . O . S. 174-176.
4 Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preußischen Staaten,

Bd. X I (1793), 123 ff.


436 Reinhard von Hippel

5. Parallel läuft eine strafrechtstheoretische Grundsatzdiskussion,


von der hier besonders die zwischen 1799 und 1801 erschienenen
Beiträge von Feuerbach, Grolmann und Klein interessieren. Der
Zeitpunkt 1791 liegt also vor der dichter beschriebenen wissen-
schaftlichen Diskussion wie der mit dem ALR eingeleiteten Ge-
setzgebung.

I.
Die in Anm. 3 nachgewiesenen Schriftstücke füllen mehr Seiten, als
für diesen Beitrag bereitstehen. Deshalb ist äußerste Straffung unter
Verzicht auf viele interessante Details geboten.
Unmittelbarer Anlaß der Denkschrift des Cammergerichts v.
6. VI. 1791 ist ein konkreter Untersuchungsfall:
„Der Inquisit wurde nach ausgestandener Strafe mit zerfleischtem Rücken, arm und
abgerissen aus dem Zuchthause entlassen. Kein Gastwirth wollte ihn aufnehmen, von
der Obrigkeit, bey der er sich meldete, erhielt er ein Privat*Almosen, keine Unterstüt-
zung, keine Anweisung für die Zukunft, auch die letzte erbettelte Herberge sollte ihm
versagt werden, seine Noth stieg nach der Natur der Sache mit seinen Bedürfnissen, er
brach ein, stahl und ward methodisch von neuem ein Dieb.
Dies ist die Geschichte sehr vieler Verbrecher, was sind davon die Ursachen? 5 "

Bemerkenswerter als diese ebenso eindringliche wie knappe Beschrei-


bung ist der Fortgang der Denkschrift: Gegenüber weit verbreitetem
Vorurteil sei die Ursache nicht im Strafvollzug zu suchen, der bereits
ungemein verbessert worden sei. Natürlich gebe es auch negative Ein-
flüsse im Vollzug, aber die positiven Folgen insbesondere der Einübung
von „Reinlichkeit, Arbeitsamkeit und Sittsamkeit" über mehrere Jahre
überwögen6.
„Wir suchen (die Ursache) hauptsächlich darin, daß der Uebergang
aus einer langwierigen Gefangenschaft in das freye bürgerliche Leben,
ohne Unterstützung und Aufsicht geschieht, daß dem eingesperrt gewe-
senen nicht gleich nach seiner Entlassung Mittel an die Hand gegeben
werden, sein Brodt ehrlich zu erwerben und unterzukommen, und
werfen uns also natürlich die Frage auf:
ob diese Sache aus der Erfahrung zu abstrahieren sey, und wodurch diesem Uebel
Einhalt geschehen könne? 7 "

Bevor wir diesen Gedanken in toto weiterverfolgen, sollten wir kurz


anhalten und uns wenigstens eines der vielen unscheinbaren Details, in
denen bekanntlich der Teufel zu sitzen pflegt, vergegenwärtigen: Der bei

5 A . a . O . S. 126.
6 A . a . O . S. 126, 127.
7 A . a . O . S. 127.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 437

Einlieferung bereits schäbig Gekleidete kommt bei der Entlassung


„abgerissen" heraus. Dieses Detail in der Denkschrift des Cammerge-
richts hat bereits zu einer ganzen Kette von Rescripten für die Mindest-
ausstattung der einzuliefernden Sträflinge bzw. Militärsträflinge geführt.
Der leichten Auffindbarkeit halber: R. v. 23. April 18298: „Den abzulie-
fernden Sträflingen sind folgende Kleidungsstücke mitzugeben:
3 Hemden,
1 Paar wollene Strümpfe,
1 Paar Schuhe oder Stiefeln,
1 Hut oder 1 Mütze;
ferner bei Männern:
1 Paar Beinkleider,
1 Weste,
1 Rock oder Jacke;
und bei Weibern:
2 Röcke,
1 Kamisol,
1 Halstuch,
alles in gutem und brauchbaren Zustande".

Zweck, Zuständigkeit und Kostentragung werden durch das Rescript


der Minister der Justiz und des Inneren und der Polizei v. 8. Jan. 1838
eindeutig geklärt:
„Die Frage . . . ob der Jurisdiktionarius nicht befugt sei, diejenigen Kleidungsstücke,
womit er unvermögende Verbrecher bei deren Abführung in die Strafanstalt zu
versehen hat, sofort nach ihrer Ankunft in der Anstalt von daher zurück zu fordern?
kann nur verneint werden; weil eine solche Befugnis den Gerichtsherren oder Kommu-
nen weder durch eine gesetzliche, noch durch eine administrative Bestimmung zuge-
standen, übrigens auch noch niemals von irgendeinem Jurisdiktionario oder einer
Gemeinde in Anspruch genommen worden ist9."

Doch zurück zum Hauptstrang:


Gut einen Monat vor dem Datum der Denkschrift hat sich der
Präsident des Cammergerichts v. Kircheisen im Zuchthause zu Spandau
durch Besichtigung, insbesondere aber Vernehmung des Commissarius
und später einiger ihm vom Verfahren her bekannten Inquisitinnen über
Art (Baumwolle-Spinnerey und Baumwollstreichen) und Pensum der
Arbeit, Entlohnung bei Ubersoll, Verwendung des Geldes usw. davon
überzeugt: Ersparnisse kann ein Häftling während der Haftzeit nicht
machen10.

8 Gräff/Rönne!Simon: Erg. u. Erl. d. Preuß. Criminal-Rechts durch Gesetzgebung u.


Wissenschaft . . . Erste Abtlg. 2.Aufl., 1842, S.209f zu §565 CrO. Ferner z.B. Gräff,
Sammlung sämtlicher Verordnungen . . . Bd. 4 (1830), S. 105. V.Kamptz, Jahrb., Bd. 33,
S.346.
' A . a . O . S.210, ferner: v. Kamptz, Annalen, Bd.22, S. 182.
10 S. Anm. 3 sub B.
438 Reinhard von Hippel

Die in der Mark im Aufbau befindlichen Arbeits- und Werkhäuser


zur Lösung des Rückfallproblems einzusetzen, hält das Cammergericht
für „zweckwidrig und zu hart. Nur der Name wird hier verändert und
Privation der Freyheit ist doch immer ihr Loos. Es sind Gefangene,
deren Schicksal um so härter ist, weil sie nicht mit Gewißheit den Tag
ihrer Befreyung heranrücken sehen, und ihre Befreyung nicht vom
richterlichen Ausspruch, sondern vom willkürlichen Gutbefinden der
vorgesetzten Behörde abhängt"".
Zehrpfennig und Almosen allein werden gleichfalls verworfen:
„Müßige Bettler mit Geld versehen, verringert nie die Armuth oder Anzahl der Bettler.
Es bleibt also unsers Ermessens kein anderer guter Weg, als eine Einrichtung, in
welcher der Freygelassene, beym gänzlichen Genuß seiner wiedererlangten Freyheit,
sogleich in den Stand gesetzt wird, seinen Unterhalt durch Arbeit zu erwerben,
übrig" 12 .

Das Cammergericht wiederholt zunächst einen früheren Vorschlag,


der vom König durch Rescript vom 21.December 1787 abgelehnt wor-
den ist, daß die Haftentlassenen
„entweder an die Regimenter, denen sie zur Einkleidung obligat, oder an die Ordo-
nanz-Häuser, um als andere Recruten vertheilt zu werden, mittelst des Transports
abgeliefert werden möchte.
Dies wäre die beste Versorgung, sie ist mit Bekleidung, Wohnung, Zucht und
Aufsicht begleitet, und der neue Stand verlöscht den Fleck, mit welchem der vorige
durch das Verbrechen verbunden war . . .
Etwas anderes ist es, mit der Ablieferung an ein Regiment, wie in Bayern geschehen
soll, bestraft werden, und wieder etwas anderes, nach ausgestandener Strafe unter
einem Regimente seine Versorgung zu erhalten" 13 .
„Schwieriger scheint es zu seyn, diejenigen, welche Altershalben nicht zum Solda-
tendienst brauchbar sind, so wie die entlassenen Weibsleute, sogleich bey ihrer Entlas-
sung neben dem vollständigen Genuß ihrer Freyheit mit zureichender Arbeit zu
versehen.
Es ist leicht, theoretische Vorschläge zu thun; desto schwerer aber, den vorgesetzten
Endzweck zu erreichen; . . , 14 "

Als Ansatz zur Problemlösung bietet das Cammergericht das über 14


Monate erprobte, von den Kaufleuten Riemann, Fernau jun. und
Käbisch 1789 privat eingerichtete Spinninstitut an15, in dem freiwillig
„160 Arme ihren Unterhalt gefunden, daß in 14 Monaten 3000 Pf. Wolle
gesponnen sind, und daß das Spinnerlohn 1315 Rthlr. betragen hat" 16 .

11 A . a . O . S. 128.
12 A . a . O . S. 129.
13 A . a . O . S. 129ff.

" A . a . O . S. 130.
15 Der auf Anordnung - offenbar des Cammergerichts - erstattete Bericht nebst Bilanz

ist a. a. O . sub C (S. 136 ff) abgedruckt.


16 A . a . O . S. 132.
Verortung der Spezialprävention/Sozialtherapie 439

Bei folgerichtigem Ausbau solcher Institute sei „mit viel Wahrschein-


lichkeit zu vermuthen, daß der augenblickliche Rückfall in Verbrechen,
insofern solcher durch Noth und Müßiggang erzeugt wird, vermieden
werden dürfte. Dies zu bewirken, gehört zur Landes-Polizey17, . . . " .
Die weiteren von Klein abgedruckten18 Dokumente müssen und kön-
nen hier kursorisch zusammengefaßt werden: Friedrich Wilhelm II. ist
interessiert, der Großkanzler v. Carmer sagt dem Cammergericht im
Auftrag des Königs Artiges (D), schreibt dem Ober-Kriegs-Collegium
(E) vergeblich (F), ferner dem General-Direktorium (G), das seine
differenzierte Antwort (H) selber zusammenfaßt:
„Die Hauptsache möchte indessen immer diese bleiben, daß man sich des ersten
Aufenthalts nach der Entlassung versichere, und der Obrigkeit des Orts aufgebe, nicht
nur möglichst dafür, daß sie Beschäfftigung zur Subsistenz erhalten mögen, zu sorgen,
sondern auch ihre Aufführung in besondere Obacht zu nehmen" 1 9 .

Der König beauftragt das Cammergericht mit der Erstellung einer


praktischen Ausarbeitung (J), die dieses auch vorlegt (K). Das Cammer-
gericht weist u.a. eine königliche Verfügung v. 12.Juni 1783 für das
Glogauische nach, die den Grundherrschaften die Beschäftigung der
entlassenen Züchtlinge für mindestens ein Jahr „gegen hinlängliche Kost
und nothdürftigen Lohn" und den Landräten die Bekanntmachung und
strikte Überwachung der Einhaltung der Verordnung auferlegte. Befolgt
werde sie allerdings kaum, „und Ew. Königl. Majestät müssen wir es
allerunterthänigst anheim stellen, ob der Landrath v. S... als Gerichts-
herr zu T... dieserhalb, und wie zu bestrafen sey"20.
Die Belegung der Werk-Land-Arbeitshäuser wird abgelehnt, weil
„der Begriff einer fortgesetzten Strafe . . . dabei unvermeidlich" sei21 und
zu Willkürlichkeit und Verwischung von wesentlichen Unterschieden
führe22. Es folgen detaillierte und praktikable Vorschläge, die 3 Monate
vor Strafende einsetzen, sich mit Zuständigkeiten, Gesundheitspflege,
Transport, Kostenträger usw. beschäftigen und schließlich in einer
Auflistung notwendiger Vorschriften zusammengefaßt werden. Der
König beauftragt daraufhin das Cammergericht mit dem Entwurf eines
Reglements (22. Juli 1793; L), der Kanzler macht dazu aus dem Informa-
tionsrücklauf bei ihm Vorgaben für das Generaldirektorium (17. Juni
1793; L). Das Generaldirektorium stimmt den Vorgaben weitgehend zu
und ergänzt sie in einigen Punkten (5. Juli 1793; M).

17 A . a . O . S. 133.
18 S. in A n m . 3 .
19 A . a . O . S. 147.
20 A . a . O . S. 152f.
21 A . a . O . S. 154.
22 A . a . O . S. 155.
440 Reinhard von Hippel

II.
Die außerordentlich interessanten Details gerade in der letzten Phase
können hier unbeschrieben bleiben: sie spiegeln u. a. die Schwierigkeiten
der Schaffung eines Territorialstaates, der Ablösung alter Rechte wie
Zuständigkeiten (Grundgerichtsbarkeit!), die ohne korrespondierende
Einführung neuer Grundlagen der Finanzierung staatlicher Aufgaben
nicht möglich ist usw.
Auch für den Kriminalisten sind die Materialien alles andere als
uninteressant. Wir können sie dennoch ausklammern, weil die ganze
Angelegenheit zunächst einmal gesetzgeberisch im Preußischen Allge-
meinen Landrecht aufgeht. Die Dokumentation endet im Juli 1793, das
Publikations-Patent des ALR datiert v. 5. Februar 1794. Dazwischen
blieb nur noch Zeit zu vorwiegend redaktionellen Änderungen. Im ALR
finden wir in 20 II § 5 die Sicherungs- und in 20 II § 1160 die Besserungs-
detention, die sowohl zu einem Grundlagenstreit in der Theorie wie zu
zahlreichen Rescripten für die Praxis führen, bei denen es nicht zuletzt
um die Frage der Zuordnung der Detention zum Strafrecht oder dem
Polizeirecht und die damit verknüpften Zuständigkeiten nebst Kosten-
tragung (negativer Kompetenzkonflikt) geht. Zunächst der Wortlaut:
„ § . 5 . Diebe und andere Verbrecher, welche ihrer verdorbenen Neigungen wegen dem
gemeinen Wesen gefährlich werden könnten, sollen, auch nach ausgestandener Strafe,
des Verhafts nicht eher entlassen werden, als bis sie ausgewiesen haben, wie sie sich auf
eine ehrliche A r t zu ernähren im Stande sind."
„§. 1160. Macht er sich dieses Verbrechens (Diebstahl), nach zweimaliger Verurthei-
lung, zum drittenmale schuldig: so soll er nach ausgestandener Strafe, in einem
Arbeitshause so lange verwahrt, und zur Arbeit angehalten werden, bis er sich bessert,
und hinlänglich nachweiset, wie er künftig seinen ehrlichen Unterhalt werde verdienen
können."

Sachlich gehört im ALR zu diesem Problemkreis 19 II: „Von Armen-


anstalten und andern milden Stiftungen", insbes. §§10, 15, 16, 19. So
bleibt der Spannungsbogen zwischen Kriminal-, Polizei- und Wohl-
fahrtsrecht im ALR erhalten. Die Formulierung der §§5, 1160 dürfte
zwar nicht zuletzt durch die Initiative des Cammergerichts ausgelöst
sein, geht aber im zweispurigen Konzept strikter Freiheitsentziehung
gerade der Intention v. Kircheisen's völlig zuwider und entspricht Ernst
Ferdinand Klein's Position, die er 1801 noch einmal bündig umreißt:23
„ . . . alsdann wird der Richter nur nöthig haben zu bestimmen, ob Gründe vorhanden
sind, den Inquisiten in eine Besserungsanstalt zu bringen" 2 4 .

23 „Kurze Uebersicht meiner Theorie über die sogenannten außerordentlichen Strafen


mit Rücksicht auf die in diesem Bande der Annalen erzählten Rechtsfälle"; Annalen X X I
( 1 8 0 1 ) S. 291 ff.
24 A . a . O . S . 2 9 8 .
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 441

Die weitere Entwicklung verläuft so, daß der Gesetzgebungsstand bei


Beibehalten des Gesetzestextes durch Rescripte, Zirkular-Verordnungen
usw. weitreichenden Änderungen unterworfen wird.
So wird bei gleichbleibendem Text des ALR 25 nach der Instruktion v.
27. III. 1797, „wie es bei Entlassungen der zur Festung- oder Zuchthaus-
Arbeit verurtheilt gewesenen Person gehalten werden soll"25", durch die
Zirkular-VO v. 26.11.1799 „wegen Bestrafung der Diebstähle und
ähnlicher Verbrechen"25b die Zweispurigkeit insoweit aufgegeben zugun-
sten der Spezialprävention i. S. der Theorie Karl (v.) Grolmann's2b-17.
In der Gesetzgebung unter dem Dach des im Wortlaut unveränderten
ALR folgen als wichtigste Elemente: Cabinetts-Ordre v. 28.11.1801,
„betr. die Deportation der zu lebenswierigem Gefängniß verurtheilten
Verbrecher nach Siberien"28, das Circular v. 17. III. 1804 nebst Beilagen29

25
Vgl. z.B. die Neue Ausgabe von 1817.
25>
Abgedr. bei Rabe, Sammlung Preuß. Gesetze und Verordnungen etc. IV (1817),
65 ff.
25b
Rabe, V (1817) 330 ff.
26
Vgl. dazu Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechts-
pflege, 3. Aufl. 1965, §242.
27
Die Jahre 1799 bis 1801 sind auch in der wissenschaftlichen Diskussion ein D r e h - u n d
Angelpunkt: Feuerbach, Grolmann und Klein - in alphabetischer Reihenfolge - tragen
erneut und gestrafft ihre Positionen vor:
1800 - die von Feuerbach „Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen
Beleidigungen des Verbrechers. Nebst einer näheren Prüfung der Kleinischen Strafrechts-
theorie. Als Anhang zu der Revision des peinlichen Rechts" (1800) und Grolmann's
Abhandlung. „Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben? Einige
Bemerkungen zur Beantwortung dieser Frage": Erschienen im ersten Band des von
Grolmann herausgegebenen „Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und
der Gesetzgebung" (1800), S. 241-264. 1801 veröffentlichte Klein die wohl knappste
Darstellung seiner Position (Annalen XXI [1801] 291-299). Literarisch ist alles vorbereitet:
Zweispurigkeit (Klein), Spezialprävention (Grolmann) und Generalprävention (Feuer-
bach).
2
» Rabe VI, 460 ff, dazu der Bericht von v. Goldbeck v. 24. II. 1801 ebenda. S. 4 6 2 ^ 6 4 ;
dazu Klein, Annalen XXI, 291-299 (298), ferner Eb. Schmidt, Geschichte, 3. Aufl. §243;
der einmalige (s. Kriegsmann, Gefängniskunde, 1912, S. 56 N : 4) Versuch scheiterte an der
UnZuverlässigkeit der Russischen Behörden: Ein Teil der Deportierten erschien in Ost-
preußen als organisierte Räuberbande. 1825 wünschen die Stände der Provinz Sachsen auf
ihrem ersten Provinzial-Landtage: „daß es Sr. Majestät dem Könige gefallen möge, gleich
der Großherzoglich Mecklenburg^Schwerinschen Regierung, mit der Brasilianischen
Regierung Unterhandlungen wegen Deportation der in Strafanstalten detinirten (!) Verbre-
cher und Heimathsloser dem Gemeindewesen gefährlicher Personen nach Brasilien, inso-
fern dieselben sich freiwillig dazu sich entschließen, anzuknüpfen", Rumpf, Landtags*
Verhandlungen der ProvinziaUStände in der Preußischen Monarchie, Zweite Folge 1828,
S. 135, dazu der Landtags^Abschied (Friedrich Wilhelm III.) v. 17. Mai 1827, Rumpf
3 a. O . S. 159: „In wie weit es zulässig sein werde, dem von Unserm getreuen Ständen
geäußerten Wunsche: die in den Strafe Anstalten detinirten Verbrecher und Heimathslosen
nach Brasilien zu deportieren, statt zu geben, wird sich erst nach Beendigung der jetzt im
Werke seienden Revision der Gesetzgebung und nach weitern Erfahrungen über die
442 Reinhard von Hippel

„an s ä m m l i c h e P r o v i n z i a l - L a n d e s - C o l l e g i a . . . w e g e n E i n s e n d u n g der
L i s t e n v o n den e n t w i s c h t e n V e r b r e c h e r n " , die V O v. 9. V I I I . 1 8 0 4 ,
„betr. die E i n r i c h t u n g einer Z w a n g s - A r b e i t s a n s t a l t für das H e r z o g t h u m
Magdeburg, Graffschaft Mansfeld und Fürstenthum Halberstadt"30,
das P a t e n t v. 8. Sept. 1 8 0 4 , „ w e g e n n ä h e r e r B e s t i m m u n g der G r u n d s ä t z e
ü b e r die V e r p f l i c h t u n g z u r V e r p f l e g u n g der O r t s a r m e n in der C h u r -
m a r k , N e u m a r k u n d P o m m e r n " 3 1 , das R e s c r i p t des J u s t i z m i n i s t e r i u m s
v. 8. Sept. 1 8 0 4 „an das Stadtgericht z u Berlin . . . betr. die G e l d s t r a f e n
bei u n b e m i t t e l t e n P e r s o n e n " 3 1 8 , u n d der „ G e n e r a l - P l a n z u r allgemeinen
E i n f ü h r u n g einer bessern C r i m i n a l - G e r i c h t s - V e r f a s s u n g u n d z u r V e r -
b e s s e r u n g d e r G e f ä n g n i ß - u n d S t r a f - A n s t a l t e n " v o m 16. Sept. 1804 3 2 .
D e r G r u n d g e d a n k e d e r E r n e u e r u n g der Strafrechtspflege ist für P r e u ß e n
o f f e n b a r in einer K a b i n e t t s - O r d r e v o m 2 8 . F e b r u a r 1801 3 3 n i e d e r g e l e g t :

„Das beste Strafgesetz wird indessen den Zweck immer nur sehr unvollkommen
erreichen, wenn nicht durch zweckmäßige Anstalten für die Besserung solcher Verbre-
cher, die dazu noch Hoffnung geben, und deren Separation von den incorrigiblen
Bösewichtern, auch dafür gesorgt wird, daß die aus den Gefängnissen zu entlassenden
Verbrecher Gelegenheit und Mittel erhalten, sich ihren Unterhalt auf eine redliche
Weise zu erwerben."

anderwärts mit dieser Maaßregel (!) gemachten Versuche bestimmen lassen"; dazu z.B.
Robert (v.) Mohl: Englische Strafcolonieen. In: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft
und Gesetzgebung des Auslandes X I (1839) 345 ff und Mittermaier: Die neuesten Ver-
handlungen in England über den Zustand der Transportation und die Nothwendigkeit der
Aufhebung dieser Strafart, ebenda. Bd. XIII (1841), 401 ff. - Generell ist anzumerken, daß
die heute gerne beklagte geringe Zahl an Strafarten eine Folge der Abschaffung einer
großen Zahl von Scheußlichkeiten ist. Vgl. z. B. die Verordnung des General-Gouverneurs
Justus Grunerv. 19./31.May 1814 für die Rheinlande, „wodurch einige Bestimmungen des
Strafgesetzbuches gemildert werden"; abgedr. in: Sammlung von Gesetzen und Verord-
nungen f. d. Königl. Preuß. Rhein=Provinzen. Bd. I, Koblenz, 1827, S. l f ; in der
Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 werden Strafen ausgeschlossen, Art. 10: „Der
bürgerliche Tod und die Strafe der Vermögenseinziehung finden nicht statt". Zu den
Strafarten z . B . : Mittermaier, in: v. Rotteck/Welcker (Hrsg.): Staats-Lexikon oder Ency-
klopädie der Staatswissenschaften usw. Bd. XV, 1843, S. 184-215.
29 Rabe VIII. (1818), 19-22.

30 Rabe VIII., 129-156; Hervorhebung verdient die erstaunliche Sammlung heteroge-

ner Probanden in den §§ 1-9 unter der Uberschrift „Ueber den (!) Zweck und die (!)
Absicht der Zwangs^ Arbeitsanstalt, im gleichen über die Aufnahme in solche", die von
„bettelnden Invaliden" (§3) über „bettelnde Weiber und Kinder der dienstthuenden
Soldaten" (§ 4) und „Strafanstalt für geringe Verbrechen" (§ 8) bis zur „Besserungs- und
Erhaltungsanstalt für bestrafte Verbrecher" (§ 9) reicht.
31 Rabe VIII., 165 ff.

31" Rabe VIII., 168 f.

32 Abdrucke in: Mathis Allg. Jur. Mo. Sehr. f. d. Preuß. Staaten I (1805), 155-177;

Rabe XIII. (1825), 593-608; Klein's Annalen XXIII, 213-237. Zum Inhalt s. Eb. Schmidt,
Geschichte, 3. Aufl. §243.
33 Diese K O ist mir nicht zugänglich, ich zitiere nach Eb. Schmidt, Geschichte, usw.

§243, S. 255.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 443

III.
Mit dieser Kabinetts-Ordre sind wir gedanklich einerseits zu den
ebenso menschlichen wie gewissenhaften Ansätzen in den Denkschriften
des Cammergerichts (v. Kircheisen) und vor die Detention des A L R
zurückgeführt, andererseits wird der tatsächlichen Entwicklung einer
sowohl kategorial wie institutionell differenzierten Armen-, Irren- und
Kriminalrechtspflege vorgegriffen. Für beide Seiten kommt es bei der
Zuwendung zu Problemen des Vollzuges bei klarer Gedankenführung
schon 1801 auf eine Stellungnahme im Grundlagenstreit, der durch die
Namen Feuerbach, Grolmann und Klein exemplifiziert wurde, entspre-
chend wenig an, wie in dem Zitat von Eberhard Schmidt von 195734.
Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man weiß, daß für den
vermeintlich reinlichen Generalpräventionsideologen Feuerbach zwar
die Detention ebenso unerträglich sein mußte wie für v. Kircheisen, aber
für den Vollzug fest zugemessener Strafen gelten für ihn die Postulate
eines jeden realistischen Poenologen. Die Belege entnehme ich wegen
des systematischen Zusammenhangs seinem Lehrbuch in der Ausgabe
letzter Hand 35 , obwohl sich die Zitate aus vielen Schriften häufen ließen.
Ich wähle aus dem Lehrbuch § 1 8 mit seiner strikten Absage an die
Spezialprävention:
„Die bürgerliche Strafe als solche hat daher nicht zum Zweck und Rechtsgrund 1)
Prävention gegen die künftigen Uebertretungen eines einzelnen Beleidigers . . . Wenn
man dem System des Vfs. vorwirft, dasselbe begründe einen Terrorismus auf Kosten der
Menschlichkeit und anderer Staatszwecke; so vergißt man, daß, wie dem Vf. wohl
bekannt, grausame Strafen gerade das Entgegengesetzte der Abschreckung bewirken,
und daß es lediglich Sache der gesetzgebenden Staatsweisheit (d. Criminal-Politik) ist,
die Frage zu erörtern: welche Strafen zu bestimmen u. wie dieselben in der Ausführung
einzurichten seyen, um nicht blos dem Zwecke aller Strafen zu entsprechen, sondern
auch nebenbei, so viel möglich, andere menschliche und bürgerliche Zwecke zu fördern.
Die wohlverstandene Abschreckungstheorie und Benthams Princip des allgemeinen
Nutzens vertragen sich sehr gut miteinander"".
„Daß sittliche Anstalten (Erziehung, Unterricht, Religion) nicht ausgeschlossen
sind, sogar die letzte Grundlage aller Zwangsanstalten bilden und deren Wirksamkeit
bedingen, ist wohl unbezweifelt. Sed de his non est hic locus"37.

Feuerbach gilt zwar aus gutem Grund als einer der Begründer des
Rechtsstaates, aber er ist alles andere als ein straftheoretischer Fanatiker:
was den Filter des nullum crimen sine lege poenale nicht passiert hat,

34 ZStW 69 (1957), 359 ff (368 f).


35 A. v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts,
Elfte verbesserte Ausgabe, Giessen, 1832; zu dem Wert der einzelnen Auflagen, Binding:
„Die besten Ausgaben sind die von Feuerbach selbst noch besorgten 9.-11. Giessen 1826,
1828, 1832." Binding, Grundriß des Dt. Strafrechts, AT. 8. Aufl. 1913, S.51.
36 A. a. O. S. 18; Hervorhebungen von Feuerbach.
37 Ebenda §10 S. 14 Anm.a).
444 Reinhard von Hippel

unterliegt relativ freien Gestaltungsmöglichkeiten. Entsprechend gab es


für Grolmann keinerlei Grund, die Existenz generalpräventiver Wirkun-
gen zu bestreiten, so daß er ganz unideologisch schreiben kann:
„Nie würden meine Behauptungen für mich selbst die volle Ueberzeugungskraft gehabt
haben, welche sie jetzt haben; hätte sie nicht mein verehrter Freund, der Hr. Professor
Feuerbach mit so viel Glück, mit so viel Scharfsinn und doch zugleich mit so viel
Humanität und Nachsicht gegen die Schwächen des Freundes, bekämpft"3'.

Die Trennungslinie ist letztlich auch gar nicht straftheoretischer


Natur, sondern eine Frage der Rechtsstaatlichkeit: Für den Praktiker v.
Kircheisen und das Cammergericht war in der Denkschrift von 1791 die
Detention oder die Zwangseinweisung in ein Arbeitshaus unvertretbar,
dasselbe gilt für Feuerbach, nicht aber für eine spezialpräventive Theorie
oder Klein, dessen zweispurigen Vorstellungen gerade das ALR mit der
Detention folgt.

IV.
Doch zurück zum Generalplan von 1804: Er hat mit Sicherheit eine
empirische Grundlage, denn ihm ging eine Kabinetts-Ordre v. 25. Juni
1799 voraus, mit der Friedrich Wilhelm III. anordnete, „daß über den
Zustand sämtlicher Strafanstalten bis zu den kleinsten Patrimonialge-
fängnissen, Bericht erstattet würde" 39 . Dieser Generalplan hat zum
vorrangigen Gegenstand die Differenzierung im Vollzug, schließt aber
die Detention (korrektioneile Nachhaft) auf der Basis des ALR und der
inzwischen eingerichteten Anstalten40 ein. So ist der nächste Schritt in
der Gesetzgebung nicht das von Friedrich Wilhelm III. im Landtags-
Abschied v. 17. Mai 1827 angekündigte neue Materielle Strafrecht, son-
dern die Criminal=Ordnung v. 11. XII. 1805. Damit verlagern sich die
inhaltlich gleichen Probleme zu Fragen wie: „Kann bei dem Eintritt
einer außerordentlichen Strafe auch auf Einsperrung bis zur Besserung
oder Begnadigung erkannt werden? 41 "
Der Schwerpunkt der nicht zum Ausgleich kommenden Probleme
liegt nunmehr wegen der spezialpräventiven Detention des ALR bei den
die Entlassung regelnden §§ 569-571 der CrO. Dies ist für die heutige
Strafrechtswissenschaft insofern ein Glücksfall, als die zwischen dem
Gesetzestext (ALR, CrO) und Justiz angesiedelten Instrumente der
Rescripte und Kabinetts-Ordre immer wieder gerade auch zur abstrak-

38 Sollte es denn wirklich ..., S. 242.


39 Eb. Schmidt, Geschichte usw. §243, S.254.
40 S. bei Eb. Schmidt, Geschichte, §243, S.255.
41 Gräff/Rönne/Simon a.a.O. Erste Abtheilung S. 145; vgl. insbes. ebenda die ver-
schiedenen Rescripte und KOen zu § 408.
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 445

ten K l ä r u n g v o n Beweisfragen 4 2 , d . h . nicht z u l e t z t u n d n a c h h e u t i g e r


Terminologie: zur Entlassungsprognose eingesetzt werden. Das
G e w i c h t dieser B e w e i s f r a g e n ist einerseits s o g r o ß , andererseits o f f e n b a r
durch Definitionen beeinflußbar, aber a u c h in den Zuständigkeiten
rangierbar, d a ß es n i c h t ü b e r r a s c h t , w e n n m a n eine E n t w i c k l u n g v o m
w a c h e n G e w i s s e n bis z u dessen B e s c h w i c h t i g u n g n a c h w e i s e n k a n n .
So heißt es i m R e s c r i p t des J u s t i z m i n . v. 18. I V . 1 8 1 0 „an das C a m -
m e r g e r i c h t u n d sämtliche O b e r l a n d e s g e r i c h t e , wegen der Dauer der
Detention der Verbrecher bis zum Nachweis eines ehrlichen Erwerbes
oder bis zur Besserung"":

„Da diese Detentionen nach ausgestandener Strafe eigentlich nichts weiter als eine
Polizeimaßregel (!) sind, gleichwohl in den meisten Fällen alle Nachtheile der wirkli-
chen Bestrafung mit sich führen . .

E n t s p r e c h e n d n i m m t „die C r i m . D e p u t . des S t . G . z u B e r l i n , w e l c h e r
der O B . A p p . Sen. des K . G . (in d e m U r t e l v. 13. J u l i 1 8 2 7 ) beitritt, . . .
an, d a ß die D e t e n t i o n bis zur Besserung keine Strafe, s o n d e r n eine reine
P o l i z e i - M a a ß r e g e l sei, w e l c h e a u c h bei a u ß e r o r d e n t l i c h e n Strafen eintre-
ten m ü s s e ; dagegen statuirt die g e n a n n t e C r i m . D e p u t . E i n s p e r r u n g bis
zur Begnadigung n i c h t als p o e n a extraordinaria, weil eine s o l c h e E i n -
s p e r r u n g eigentlich eine lebenswierige F r e i h e i t s b e r a u b u n g enthalte, die
n a c h § 4 0 8 der C r O bei der a u ß e r o r d e n t l i c h e n Strafe n i c h t zulässig sei" 4 4 .
Besonders erhellend ist das n i c h t n ä h e r klassifizierte Schreiben des
J u s t i z m i n i s t e r s an den O b e r = A p p e l a t i o n s - S e n a t des C a m m e r g e r i c h t s v.
20. Juni 1823:45

„Die Einsperrungen bis zur Besserung, und resp. bis zur Begnadigung müssen, wenn
dabei auch zum Theil polizeiliche Zwecke zum Grunde liegen, nach der Verordnung
vom 26. Febr. 1799, doch als wahre Strafen angesehen werden. Diesen Charakter haben
sie auch dadurch nicht verloren, daß nach einer späteren Verfügung ein Zeitraum
bestimmt werden soll, vor Ablauf dessen die Entlassung des Verurtheilten und resp. der
Antrag auf dessen Begnadigung nicht erfolgen soll, indem die Absicht dieser Verfügung
nur dahin gegangen ist, die Dauer der Freiheitsentziehung mit dem begangenen
Verbrechen in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen, ohne zwischen der Einsperrung
während dieses Zeitraums und derjenigen, nach demselben einen wesentlichen Unter-
schied einführen zu wollen. Die Einsperrung bis zur Besserung und bis zur Begnadi-
gung ist also für alle damit bedrohete Verbrechen die ordentliche Strafe, welchen einen
vollständigen Beweis der Thäterschaft des Angeschuldigten voraussetzt. In Ermange-
lung dieses Beweises wird auf die gedroheten Strafen nicht erkannt werden können,
vielmehr wird die zu erkennende außerordentliche Strafe nur auf die Festsetzung eines

42 S. b. in: Gräff/Rönne/Simon zu §§569-571, insges. zu den Beweisfragen der Entlas-


sungsprognose S. 219 ff.
43 Abgedr. bei Mathis, Allgem. Jur. Mo. Sehr. IX (1810) S.45f.

44 Gräff/ Rönne/Simon, a. a. O. S. 146.


45 In: H. Gräff, Sammlung sämtlicher Verordnungen, . . . und die Erläuterung des
Allgemeinen Landrechts betreffend Bd. I, 1830, S. 322.
446 Reinhard von Hippel

nach den Vorschriften des A.L.R. zu arbitrirenden bestimmten Strafmaaßes einschrän-


ken müssen.
Der Justiz^Minister hat dem Ober= Appelations^Senat des Königl. Kammergerichts
diese seine Ansicht über die aufgeworfene Frage auf den deshalb erstatteten Bericht
vom 28. Mai. c nicht vorenthalten wollen, ist aber weit davon entfernt, dadurch die
eigene Ueberzeugung der erkennenden Richter leiten zu wollen.
Die Entscheidung über die aufgeworfene Frage im Allgemeinen kann nur bei
Gelegenheit der Revision der Strafgesetze erfolgen, zu welchem Zweck der erstattete
Bericht dem Königlichen Ministerium zur Revision der Gesetze mitgetheilt worden
ist."

I c h halte diese N i c h t - V e r f ü g u n g für in vielerlei B e z i e h u n g a u f s c h l u ß -


reich. O h n e A n s p r u c h auf eine abschließende E x e g e s e u n d G e w i c h t u n g ,
z u der hier n i c h t der O r t ist, sind folgende E l e m e n t e u n ü b e r s e h b a r :
I m E i n g a n g w i e i m A u s g a n g G e d a n k e n , die in R i c h t u n g G e w a l t e n t e i -
lung u n d R e c h t s s t a a t l i c h k e i t zielen: H e r s t e l l u n g d e r R e c h t s s t a a t l i c h k e i t
d u r c h D e u t u n g d e r D e t e n t i o n als d e n S t r a f r a h m e n e r w e i t e r n d e S t r a f z u -
m e s s u n g s r e g e l , e t w a i m Sinne v o n § 2 4 3 R S t G B n. F . ; L i m i t i e r u n g des
e r w e i t e r t e n S t r a f r a h m e n s auf die n o r m a l e n S t r a f z u m e s s u n g s e r w ä g u n g e n
der Zeit, heute also die S c h u l d a n g e m e s s e n h e i t ; Einschränkung des
e r w e i t e r t e n S t r a f r a h m e n s auf Fälle des vollen B e w e i s e s .
U n t e r d e r P r ä m i s s e d e r G e l t u n g der § § 5 u n d 1 1 6 0 v o n 2 0 II des A L R
w e r d e n die D e t e n t i o n e n gedanklich der striktesten E i n s c h r ä n k u n g in der
A n w e n d u n g u n t e r w o r f e n 4 6 . So w i r d K o n t i n u i t ä t hergestellt zwischen
den D e n k s c h r i f t e n des C a m m e r g e r i c h t s einerseits u n d der p o s i t i v e n
R e c h t s o r d n u n g v o m P r e u ß . S t G B v. 14. A p r i l 1 8 5 1 bis z u m R e i c h s s t r a f -
g e s e t z b u c h , die erst m i t d e m „ G e s e t z gegen gefährliche G e w o h n h e i t s -
verbrecher und über Maßregeln der S i c h e r u n g u n d B e s s e r u n g vom
2 4 . N o v e m b e r 1 9 3 3 " 4 7 endet.

44 Etwas sehr Ähnliches hat Hans v. Dohnanyi 1936 in seiner Kommentierung des
Gesetzes v. 24. Nov. 1933 im Nachtrag zum Frankschen Kommentar unternommen.
47 Daß dieses Gesetz von der Militärregierung 1945 nicht aufgehoben worden ist, liegt

daran, daß es zwar für das NS-Regime ein willkommenes Hilfsmittel war, das aber
ansatzweise schon im ALR vorkam und in seiner modernen Ausprägung den durch die
IKV gerade international gestellten Forderungen der soziologischen Strafrechtsschule
entsprach, die auch das Instrumentarium im wesentlichen bereitgestellt hat. Für die
Amerikaner gab es entsprechende und z. T. sogar weitergehende Gesetze u. a. in Califor-
nien (seit 1917), die zu der Zeit noch in gutem Ansehen standen. Das Verdikt der
Verfassungswidrigkeit, gemessen an den Verfassungen der USA und des Staates California
hat der Supreme Court of California erst am 22. Juni 1976 gesprochen: People v. Olivas,
abgedr. in West's California Reporter Vol. 131 (1976) p. 55-69.
Wie räum- und zeitübergreifend diese Problemzusammenhänge sind, mag folgende
Gegenüberstellung zeigen: Nach Robert Waelder: Psychiatry and the Problem of Criminal
Responsability, 1952 (zitiert nach der Übersetzung in der dt. Ausg. v. Karl M enninger:
Strafe - ein Verbrechen? 1970, S. 265) ergibt sich folgender Teil einer umfassenden
Kombinatorik:
Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 447

In der Zeit bis zum neuen Strafgesetzbuch von 1851 dominiert neben
den immer wieder auftauchenden prozessualen Problemen und dem
Versuch, durch negative Kompetenzkonflikte sich die ungeliebte Deten-
tion vom Halse zu schaffen, das Bemühen um sinnvolle Unterbringung
von Armen, Irren, Delinquenten in separaten und brauchbaren Anstal-
ten. Insbesondere galt das Bemühen auch einer Differenzierung im
Strafvollzug. Diese Entwicklung war durch den wirtschaftlich lange
nachwirkenden Zusammenbruch Preußens 1806 äußerst mühsam und in
vielem dürftig, u.a. weil auf ungeeignete Bausubstanz, insbesondere
säkularisierter Klöster, zurückgegriffen werden mußte. Hinzu kam als
Behinderung die dem Staate nicht mehr entsprechende verzettelte
Gerichtsorganisation, die bis hin zu den Kosten Auswirkungen hatte48.
Angesichts der Armut und der Schwierigkeiten bei der Bildung eines
modernen Territorialstaates ist es zu einer grundlegenden Neuordnung
des Gerichtsverfassungswesens vor den Reichsjustizgesetzen nicht mehr
gekommen. Damit war die Entwicklung in Preußen wieder beim Aus-
gang angekommen, allerdings belastet mit der Detention des A L R , mit
der man sich auf die unterschiedlichste Weise zu arrangieren verstand.
Unbezweifelbar bleibt, daß das realistisch Mögliche in der Verbesserung
der Strafrechtspüegt durch Verbesserung des Strafvollzuges zu suchen

„Nicht gefährlich, nicht abschreckbar


Behandlungsfähig Behandlung

Nicht gefährlich, nicht abschreckbar


Nicht behandlungsfähig Entlassung"

Danach ist alleiniger Rechtsgrund der Behandlung und damit Freiheitsentziehung die -
von wem immer behauptete - Behandlungsfähigkeit.
Die Gegenposition: Robert v. Mohl: System der Präventiv-Justiz oder Rechts=Polizei,
zugleich Bd. 3 von: Die Polizei* Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates,
2. umgearb. Aufl. 1845, S . 2 5 f , nebst Anm. 8:
„Freiheitsstrafe ist die Vollziehung eines Unheiles der wiederherstellenden Rechts-
pflege; sie ist wegen ihrer eigenen Nothwendigkeit und Rechtlichkeit zu vollziehen, nicht
weil sie etwa bessern kann. Denn hieraus würde folgen, daß ein Verurtheilter, welcher
erklärt, daß er sich nicht bessern werde, ganz frei zu lassen wäre, sobald man nur von der
Wahrheit dieser seiner Erklärung überzeugt wäre; es würde ferner folgen, daß keine Strafe
mehr ein bestimmtes Maaß haben könnte, sondern je nach der Besserungsfähigkeit des
Einzelnen abzukürzen oder zu verlängern wäre, usw. Allerdings soll der Staat die
Gelegenheit, auf sittlich und rechtlich verdorbene Menschen günstig einzuwürken, nicht
vorübergehen lassen. Sittengesetz und Klugheit fordern dieß gleichmäßig. Allein die Strafe
wird deshalb kein Mittel für die Präventiv^Justiz, sondern nur eine der unzähligen
Ursachen, warum Rechtsverletzungen nicht begangen werden". (Aus Anm. 8, S.26).
48 Zu den tatsächlichen Schwierigkeiten beim Aufbau der Anstalten sehr aufschlußreich

die Vorstellung der Provinzial-Landstände (Plural) und der Landtagsabschiede, beides bei
Rumpf a . a . O . ab 1825 (Erscheinungsjahr), ab 15. Folge (1841) fortgeführt von Nitschke.
448 Reinhard von Hippel

war49. Dieses realistisch Mögliche hat C.J. A. Mittermaier in unüberbo-


tener Kürze und Genauigkeit dargelegt:
„Das wahre der Strafgerechtigkeit und dem Zwecke des Staats entsprechende Besse-
rungssystem kann also nur darin bestehen, daß bei der Einrichtung der Strafanstalten
das Grundmerkmal der Strafe in der Art beibehalten wird, daß der Sträfling die seinem
Verbrechen in Gesetze gedrohte, der Größe seiner Verschuldung anpassende, im
Urtheile ausgesprochene Strafe, die für ihn ein Uebel sein soll, in der Anstalt erleidet,
daß aber zugleich die Anstalt so eingerichtet ist, daß der Ausbreitung der moralischen
Verdorbenheit der Sträflinge vorgebeugt, der Sträfling zu gewissen äußerlich erkennba-
ren (!) Tugenden, z . B . Ordnung, Reinlichkeit, Fleiß gewöhnt, in den Stand gesetzt
wird, bei dem Austritt aus der Anstalt sich anständig sein Brod zu verdienen, daß auch
die Möglichkeit seiner Besserung zweckmäßig angeregt und er angespornt wird, durch
Besserung sich des Vertrauens der bürgerlichen Gesellschaft wieder würdig zu ma-
chen" 50 .

c.
Nimmt man Mittermaiers Beschreibung als Programm, dann ist es ein
Programm des Alltags, angewiesen auf die Tugend der Constantia, bar
jeden Glanzes eitler Spekulationen. Dafür sind die normativen Vorgaben
realisierbar und in unserem Staate weitestgehend verwirklicht51, und die
Ausgestaltung des Vollzuges ist sowohl ausdifferenziert als auch der
Erfahrung gegenüber offen. Wie im Maßregelrecht durch eine Strategie
der Normativierung und damit empirischer Entleerung der Prognose-
problematik der Täter verloren gehen kann, habe ich an anderer Stelle52
zu beschreiben versucht. Die möglichen praktischen Folgen deckt das
unfreiwillige Experiment im sog. Baxstrom-Fall auf: „Im Jahre 1966
mußten aus verfahrensrechtlichen Gründen 967 Personen, die als gefähr-
lich angesehen und in einer Anstalt für psychisch Auffällige Rechtsbre-
cher untergebracht worden war, aus dieser geschlossenen Anstalt entlas-
sen und in allgemeine Krankenhäuser überführt werden, wo sie wie
gewöhnliche Patienten behandelt, z.T. auch ganz entlassen wurden.
Von ihnen mußten in den folgenden vier Jahren nur 3 °/o von neuem in
eine Anstalt für gefährliche, psychisch auffällige Rechtsbrecher einge-
wiesen werden; auch der Anteil der wegen neuer rechtswidriger Taten
zu Strafe Verurteilten war gering"53. Das zugrundeliegende Prinzip hat
bereits Ludwig Wittgenstein klargestellt:

w Die Frage der Eingliederung nach der Entlassung lag schon damals außerhalb der

Strafrechtspflege.
50 Art. Besserungsanstalten in v. Rotteck/Welcker (Hrsg.): Staats-Lexikon oder Ency-
klopädie der Staatswissenschaften, Bd. II, 1835, S. 504 ff (511).
51 Grundsätzlich fest zugemessene Strafen, volle Geltung des Schuldprinzips, vgl.

insbes. §§ 18, 29 StGB, aber auch die immer mehr verfeinerte Strafzumessung selbst.
52 FS für Ernst Wolf, 1985, S. 181.

53 Horstkotte in L K Bd. III, 10. Aufl. 1985, § 6 7 c Rdn.57.


Verortung der Spezialprävention / Sozialtherapie 449

„Jeder Erfahrungssatz kann als Regel dienen, wenn man ihn - wie ein
Maschinenteil - feststellt, unbeweglich macht, so daß sich nun alle
Darstellung um ihn dreht und er zu einem Teil des Koordinationsystems
wird und unabhängig von den Tatsachen"54.
Die offene Erfassung der prinzipiell immer wieder neuen Wirklichkeit
des Strafvollzuges, aber auch die zum Verzicht auf tödliche Feststellung
von Menschen mittels eines Koordinatensystems nötige Bescheidenheit,
gehören unübersehbar zum Paradigma des Lebens von Hilde Kaufmann.

54 Schriften Band 6: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, rev. u. erw.

Ausgabe, Dt. Frankfurt o.J., S.437.


Franz Lieber - ein Theoretiker
der „Straf"- und „Gefängniskunde"
HEINZ MÜLLER-DIETZ

I. Zum Beitrag Hilde Kaufmanns zur Gefängnisforschung


Hilde Kaufmann hat zeitlebens der Ausgestaltung, der Wirksamkeit
und den Auswirkungen des Sanktionensystems, nicht zuletzt des Straf-
vollzuges, ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei war der
kriminalpolitische Impetus kaum weniger virulent als die spezifisch
empirisch-kriminologische Zielsetzung, welche ihre Studien auf den
Gebieten der Phänomenologie, Effizienzkontrolle und Evaluationsfor-
schung beflügelte und vorantrieb. Ein erheblicher Teil ihres wissen-
schaftlichen Werkes ist der Realität des Strafens und Bestraftwerdens,
den gesetzlichen Strafsanktionen — bestünden sie in Freiheitsentziehung1
oder bloßen Freiheitsbeschränkungen2 - sowie den Möglichkeiten ihrer
Veränderung gewidmet.
Gleichsam als Summe, wenngleich keineswegs Abschluß, einschlägi-
ger Arbeiten H. Kaufmanns steht uns Band III ihrer leider unvollendet
gebliebenen „Kriminologie"3, der „Strafvollzug und Sozialtherapie"
zum Gegenstand hat4, vor Augen. Wenn sie auch einen stark kriminal-
psychologischen, z. T. auch psychiatrischen Ansatz - der ja in jüngster
Zeit unter freilich verändertem Vorzeichen wieder zu Ehren gekommen
ist5 - favorisiert hat, so hat sie gerade in jener empirisch orientierten

1 Vgl. z.B. H.Kaufmann, Die Gefängnissubkultur. In: Erziehung und Recht im


Vollzug der Freiheitsstrafe. Hrsg. von Gerhard Deimling und Josef M. Häußling. Wupper-
tal 1974, S. 105-116; dies., Strafvollzugsreform und Klassifikation. In: Festschrift für
Richard Lange zum 70. Geburtstag. Berlin/New York 1976, S. 587-596.
2 Z. B. H. Kaufmann, Soll Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt
bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? In: Erinnerungsgabe für Max
Grünhut (1893-1964). Marburg 1964, S. 61-91.
3 H. Kaufmann, Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens. Stutt-
gart/Berlin/Köln/Mainz 1971.
4 H. Kaufmann, Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie. Stuttgart/Berlin/
Köln/Mainz 1977.
5 Vgl. etwa Willi Seitz (Hrsg.), Kriminal- und Rechtspsychologie. Ein Handbuch in

Schlüsselbegriffen. München/Wien/Baltimore 1983; Friedrich Lösel (Hrsg.): Kriminalpsy-


chologie. Grundlagen und Anwendungsbereiche. Weinheim/Basel 1983; Uwe Füllgrabe,
Kriminalpsychologie. Stuttgart 1983.
452 Heinz Müller-Dietz

Darstellung des Strafvollzuges nicht unerheblich zur Rezeption der US-


amerikanischen Gefängnisforschung beigetragen, die ja vornehmlich
durch soziologische Fragestellungen und Methoden geprägt ist. So
beansprucht die „soziologische Analyse der Gefängnisprobleme" nicht
zufällig nahezu die Hälfte des Bandes6. Daß H. Kaufmann diese Ent-
wicklung der deutschen Pönologie7 ungeachtet ihres andersartigen wis-
senschaftlichen Standortes, für den der konkrete Täter im Mittelpunkt
stand, mitvollzogen hat, zeugt nicht nur von ihrer unideologischen,
wirklichkeitszugewandten Art des Denkens und Forschens, sondern
auch von ihrem Gespür für die wissenschaftliche Relevanz kriminologi-
scher Ansätze und Gegenstände. Insofern macht gerade jene Verknüp-
fung soziologischer und psychologischer Analysen den besonderen
Gehalt und Wert des dritten Bandes ihrer „Kriminologie" aus8.

II. Zur Rezeption des Werkes von Lieber


Diese Rezeption US-amerikanischer Forschungen zum Gefängniswe-
sen durch H. Kaufmann mag es auch rechtfertigen, an ein Stück „umge-
kehrter" Rezeptionsgeschichte, deren Quintessenz darin bestand, daß
Ideen zur und Vorstellungen von der „Gefängniskunde" - personifiziert
durch die Gestalt des Deutschamerikaners Franz Lieber (1800-1872) -
aus der „Alten" in die „Neue Welt" wanderten, zu erinnern. Wir haben
es hier mit einem Kapitel historischer Kriminologie zu tun, das bisher
weitgehend - freilich nicht ganz - ungeschrieben blieb.
Daß Liebers Beitrag zur Pönologie nicht völlig dem Vergessen
anheimfiel, ist vor allem Gustav Radbruch zu danken, der ja nicht
zuletzt in den Jahren aufgezwungener Muße intensive historische Stu-
dien trieb, deren Frucht eine Reihe ebenso kenntnisreicher wie liebevol-
ler Porträts bildete9. Eine jener „Lesefrüchte" stellt eine kurze Skizze
von Leben und Wirken Liebers dar, die markante biographische Daten
mit Hinweisen auf dessen einschlägiges Hauptwerk - „Bruchstücke über
Gegenstände der Strafkunde besonders über das Eremitensystem"10 -

6 H.Kaufmann (Fn.4), S. 13-90.


7 Den Beginn markiert wohl Steffen Harbordt, Die Subkultur des Gefängnisses. Eine
soziologische Studie zur Resozialisierung. 2. Aufl. Stuttgart 1972.
8 Das 2. Kap. (S. 91 ff) beschäftigt sich bekanntlich mit der Persönlichkeitsbeurteilung

im Strafvollzug, das 3. Kap. (S. 134 ff) mit der psychotherapeutischen Hilfe für den
Straftäter, namentlich der Sozialtherapie (S. 152 ff).
' Vgl. G. Radbruch: Elegantiae Juris Criminalis. Vierzehn Studien zur Geschichte des
Strafrechts. 2. Aufl. Basel 1950; ders., Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben.
2. Aufl., hrsg. von Erik Wolf, Göttingen 1957.
10 F. Lieber, Bruchstücke über Gegenstände der Strafkunde besonders über das Eremi-

tensystem. Hamburg 1845.


Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 453

verbindet". Radbruch merkt hier an, Lieber sei „unter den späteren
Strafvollzugsreformern" „zu Unrecht fast vergessen"; er wäre es, „auch
abgesehen von diesen besonderen Verdiensten, wert", „daß man neben
Karl Schurz auch seiner öfters gedächte als eines jener bedeutenden
Männer, die Deutschland in den Zeiten der Reaktion an Amerika
verloren hat"12. Radbruch verweist darauf, daß Lieber es war, „der für
die empirische Wissenschaft vom Verbrechen und von der Strafe das
Wort,Pönologie' geprägt hat"13.
Schon dieser Umstand, der freilich für die deutsche Strafvollzugsfor-
schung weitgehend folgenlos blieb, sollte die wissenschaftliche Auf-
merksamkeit auf jenes ungewöhnliche Lebenswerk lenken. Freilich hat
der Vorstoß Radbruchs nicht verhindern können, daß Lieber als Pöno-
loge vielfach unbekannt (und ungenannt) geblieben ist. Immerhin haben
einschlägige Publikationen aus neuerer Zeit auf diesen Aspekt seines
Werkes, insbesondere auf seine Forderung hingewiesen, „Lehrstühle der
Strafkunde oder Poenologie zu errichten, d. h. des Zweiges, der sich mit
der Strafe selbst und den Sträflingen beschäftigt"14, um eine wissen-
schaftliche Behandlung des Gefängniswesens im Interesse einer qualifi-
zierten Ausbildung zu ermöglichen und zu gewährleisten15; Günther
Kaiser hebt in diesem Kontext mit Recht hervor, daß ein solches
Konzept „in modifizierter Form heutzutage vor allem in den pönologi-
schen Werken des anglo-amerikanischen Schrifttums" akzentuiert
werde16.
Freilich hat dies Lieber auch in der amerikanischen Pönologie nicht zu
größerer Resonanz verhelfen können. Soweit ersichtlich, hat lediglich
Negley K. Teeters an jenen, von Kaiser hervorgehobenen Sachverhalt,
namentlich daran erinnert, daß Lieber in einem Brief an Alexis de
Tocqueville „penology" als „einen Zweig der Kriminalwissenschaft, der
sich mit der Bestrafung des Verbrechers befaßt", definiert habe17. Teeters

" Radbruch, Lesefrüchte. ZfStrVo 3 (1952/53), S. 175-80 (175-177).


12 Radbruch (Fn. 11), S. 175. Vgl. auch E.B. Greene, Lieber and Schurz, two loyal
Americans of German Birth. Washington 1918; Friedrich Lenz, Werden und Wesen der
öffentlichen Meinung. Ein Beitrag zur politischen Soziologie. München 1956, S. 112.
13 Radbruch (Fn. 11), S. 176. Zum Verständnis der „Pönologie" etwa Horst Schüler-
Springorum, Strafvollzug im Ubergang. Studien zum Stand der Vollzugsrechtslehre.
Göttingen 1969, S. 24 ff.
14 Lieber (Fn. 10), S.34.

15 Vgl. Müller-Dietz, Strafvollzugskunde als Lehrfach und wissenschaftliche Disziplin.


Bad Homburg v.d.H./Berlin /Zürich 1969, S.6.
16 Kaiser, Begriff, Entwicklung und Ziel des Strafvollzugs. In: Günther Kaiser/Hans-
Jürgen Kerner/Heinz Schöch, Strafvollzug. Ein Lehrbuch. 3. Aufl. Heidelberg 1982,
S. lf. Vgl. auch Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg/Karlsruhe 1980, S. 281.
17 Teeters, Das Dilemma im modernen Strafvollzug. In: Max Busch / Gottfried Edel
(Hrsg.), Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug. Internationale Probleme des
Strafvollzugs an jungen Menschen. Neuwied und Berlin 1969, S. 59-65 (59).
454 Heinz Müller-Dietz

ist es auch gewesen, der in seiner gemeinsamen geschichtlichen Darstel-


lung des pennsylvanischen Gefängnisses Cherry Hill mit John D. Shea-
rer Liebers Verdienste um die Begründung der Pönologie und um das
Gefängniswesen hervorgehoben hat18. Ansonsten wird Lieber in der
amerikanischen Kriminologie, wenn überhaupt, nur als Ubersetzer des
berühmt gewordenen Werkes von Gustave de Beaumont und Alexis de
Tocqueville über das amerikanische Strafvollzugssystem und dessen
Anwendung auf Frankreich" registriert; in dieser Eigenschaft zitieren
ihn denn auch Sutherland und Cressey in ihrer „Kriminologie" 20 . Das hat
nun schwerlich daran gelegen, daß Liebers einschlägiges Hauptwerk zur
„Strafkunde" 1845 in deutscher Sprache in Hamburg erschienen ist;
denn ihr war ja 1838 eine einschlägige Studie in den Vereinigten Staaten
vorausgegangen21.
Vielmehr wird eine wesentliche Ursache für jene Vernachlässigung in
dem Umstand zu sehen sein, daß der aus Berlin stammender Lieber, der
1827 in die Vereinigten Staaten emigrierte, in der Folgezeit nicht als
Pönologe und Kriminologe, sondern als politischer Philosoph, Staats-
und Völkerrechtler wissenschaftlich wie publizistisch reüssierte. In die-
ser Eigenschaft wird er denn auch in staatswissenschaftlichen und histo-
rischen, nicht zuletzt rechts- und ideengeschichtlichen Studien22 sowie in
Lexikas23 zur Kenntnis genommen und als ein, wenn auch nicht genialer,
so doch bedeutender Kopf genannt, der die staatsrechtliche, staatsphilo-
18 Teeters/Shearer, The Prison at Philadelphia Cherry Hill. The Separate System of
Penal Discipline: 1829-1913. New York 1957, S.23f, 30, 87. Vgl. auch Harry Elmer
Barnes, The Historical Origin of the Prison System in America, Journal of Criminal Law
and Criminology XII (1921/22) 35-60 (57 f); Blake McKelvey, American Prisons. A
History of Good Intentions. Montclair, N . J . 1977, S.36, 65, 72, 112.
" G. de Beaumont and A. de Tocqueville, On the Penitentiary System in the United
States and its Application to France. Translated with Introduction, Notes, and Additions
by Francis Lieber. Philadelphia 1833.
20 Edwin H. Sutherland and Donald R. Cressey, Criminology. Ninth Ed. Philadelphia /

New York/Toronto 1974, S.495. Vgl. auch Teeters/Shearer (Fn.18), S.202f, 232;
McKelvey (Fn.18), S.26.
21 Lieber, Essay on Subjects of Penal Law and on Uninterrupted Solitary Confinement

at Labor, in a Letter to John Bacon. Philadelphia 1838.


11 Vgl. z. B. Robert Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In

Monographien dargestellt. Bd.I. Erlangen 1855, S.531, 573. Bd. III. Erlangen 1858,
S.357, 784; Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswis-
senschaft. Dritte Abt. Zweiter Halbbd. Text. München und Berlin 1910, S.667f; Merle
Curti, Das amerikanische Geistesleben. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
1947, S. 324, 417f, 525, 594, 615, 619, 628 f, 639; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im
neunzehnten Jahrhundert. 3.Bd.: Erfahrungswissenschaften und Technik. 3. Aufl. Frei-
burg i. Br. 1954, S. 360; Hans Maier, Politikwissenschaft. In: Staat und Politik. Hrsg. von
Emst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher. Frankfurt a. M. 1964, S. 260-270 (268).
23 Vgl. etwa Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden.

15. Aufl. 11.Bd. Leipzig 1932, S. 410; Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden.
17. Aufl. 11. Bd. Wiesbaden 1970, S.448; Encyclopaedia Britannica. Vol. 14. Chicago/
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 455

sophische und völkerrechtliche Doktrin in den U S A seit Mitte des


19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußte. Vielleicht würde man ihn heute
als einen Politikwissenschaftler mit staats- und völkerrechtlichen Ambi-
tionen charakterisieren. Jener Sachverhalt wird zugleich dadurch illu-
striert, daß der Rechtsphilosoph Radbruch Lieber zuerst ebenfalls wohl
als Staatsrechtler kennengelernt hatte24, ehe er in ihm den Pönologen
entdeckte.
Gewiß lassen sich Spuren von Liebers Interesse am Gefängniswesen
und an dessen wissenschaftlicher Behandlung in Form der „Gefängnis-
kunde" bis in seine späteren Schriften hinein nachweisen 25 . Doch bleibt
der Eindruck vorherrschend, daß jene Phase, in der er seine wichtigste
einschlägige Arbeit, die „Bruchstücke" schrieb und veröffentlichte 26 ,
gemessen an seinem ganzen Lebenswerk eher episodenhafte Züge trägt.
Daß sie gleichwohl - biographisch wie ideengeschichtlich - nicht ohne
Reiz ist und deshalb dem Vergessen entrissen werden sollte, mögen
Lebensgeschichte und Vorstellungen jenes Publizisten von der „Straf-
kunde" im einzelnen belegen. Konnte er doch von sich selbst sagen, daß
er „einer der wenigen, vielleicht der einzige lebende Poenologe ist, der
nicht ohne persönliche Erfahrung über diese Gegenstände schreibt" 27 .

III. Leben und Werk Liebers28

1. Die Zeit in Deutschland


Franz Liebers Leben begann am 18. März 1800 in der preußischen
Hauptstadt Berlin und endete am 2. Oktober 1872 in der amerikanischen

London/Toronto/Geneva 1962 (1929), S. 36; Encyclopaedia of the Social Sciences. Ed. by


Edwin R.A. Seligman. Vol. Nine. New York 1933 (Twelfth Print. 1957), S.452.
24 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie. 6. Aufl. hrsg. von Erik Wolf. Stuttgart 1963,
S. 280 (zum Thema richterliche Unabhängigkeit).
25 Vgl. z.B. Liebers Beitrag über Begnadigung in: Lieber, Contributions to Political
Science. Including Lectures on the Constitution of the United States and other Papers.
Vol.11 of his Miscellaneous Writings. Ed. by Daniel C.Gilman. Philadelphia 1881
(Constitution of New York), S. 185-189.
26 Vgl. Fn. 10.
27 Lieber (Fn.10), S.4.
28 Dazu etwa Russell Thayer, The Life, Character, and Writings of Francis Lieber. A

Discourse Delivered before the Historical Society of Pennsylvania, January 13, 1873. In:
Reminiscences, Addresses, and Essays by Francis Lieber. Vol. I of his Miscellaneous
Writings, Philadelphia 1881, S. 15-44; Lewis R.Harley, Francis Lieber. His Life and
Political Philosophy. New York 1899 (Reprint 1970); Elihu Root, Francis Lieber, Ameri-
can Journal of International Law V (1911), S. 84-117, 355-393, VII (1913), S. 453^69;
Joseph Dorfman and Rexford Guy Tugwell, Francis Lieber: German Scholar in America,
Columbia University Quarterly 30 (1938) 159-190, 267-293; B.E. Brown, American
Conservatives. The Political Thought of Francis Lieber and J. W. Burgess. New York
1951; Frank L.Freidel, Francis Lieber. Ein Vorkämpfer des nationalen Denkens und des
internationalen Rechts, 1957. Vgl. auch Fn.31.
456 Heinz Müller-Dietz

Weltstadt New York. Dieser Zeitraum umspannt zugleich eine überaus


wechselvolle Geschichte im Leben der Völker und Staaten, denen der
Publizist jeweils angehörte; am Ende standen die Uberwindung des
Bürger- und Sezessionskrieges in den USA, die Entstehung des Deut-
schen Reiches - nationale Zielsetzungen also, die sich in gewisser Weise
in den staatsphilosophischen Schriften Liebers widerspiegeln2'. Zugleich
sind diese symptomatisch für die Abkehr von rationalistisch-aufkläreri-
schen Ideen eines Rousseau über den Gesellschaftsvertrag und seine
Hinwendung zu eher romantizistischen Vorstellungen vom organischen
Wachstum des Staates30. Im Stile der Zeit, aber gewiß nicht ohne innere
Überzeugung und Sympathie, charakterisierte Franz von Holtzendorff,
mit dem Lieber in engem Kontakt gestanden hatte, den Publizisten
später: „Zweien Welten, der alten und der neuen, gehört dieser unge-
wöhnliche und in mannigfachen Beziehungen hervorragende Mann
gleichzeitig an. Er bezeichnet für mich einen Höhepunkt politischer
Weltbildung, in welcher alle Geisteskräfte altklassischer Kultur, italieni-
scher Kunstsinnigkeit, deutscher Wissenschaft, englischer Freiheitsliebe
und nordamerikanischer Unabhängigkeit zur Einheit verschmolzen
waren"31.
Lieber wurde in eine Zeit voller Um- und Aufbrüche hineingeboren.
An seinem Lebenslauf lassen sich aber nicht nur die Veränderungen und
Irritationen einer Epoche ablesen. Vielmehr läßt er zugleich einen
gedankenreichen und engagierten Kopf, eine begeisterungsfähige Natur
erkennen. Früh schon wurde er mit den politischen Wirren der Zeit
konfrontiert; er erlebte die Besetzung Berlins durch die französische
Armee. Früh schon traten auch als charakteristische Züge an ihm
Abenteuerlust, Ehrgeiz und Patriotismus hervor32. Von Friedrich Lud-

29 Die fraglos wichtigsten einschlägigen Werke Liebers bilden: Legal and Political
Hermeneutics; or, Principles of Interpretation and Construction in Law and Politics.
Boston 1837, third Ed. 1880; Manual of Political Ethics. 2 Vols. Boston 1838, third Ed. by
T.D. Woolsey, Philadelphia 1875.
30 Vgl. Curti (Fn.22), S. 639; ders., Francis Lieber and Nationalism. In: The Hunting-

ton Library Quarterly 4 (1941), S. 263-292.


31 Lieber, Aus den Denkwürdigkeiten eines Deutsch-Amerikaners (1800-1872). Auf
Grundlage des englischen Textes von Thomas Sergeant Perry und in Verbindung mit
Alfred Jachmann hrsg. von Franz v. Holtzendorff. Berlin und Stuttgart 1885, S. V (im
folgenden zit.: Denkwürdigkeiten). Die deutsche Ausgabe stellt eine gekürzte Fassung der
amerikanischen dar: The Life and Letters of Francis Lieber. Ed. by Thomas Sergeant
Perry. Boston 1882. Perry urteilte über Lieber (Denkwürdigkeiten, S. 151): „Lieber war
stets . . . ein höchst angenehmer Gesellschafter. Seine leichte, geniale Manier, seine stets
bereite Unterhaltungskraft, seine Heiterkeit und sein Witz, verbunden mit seiner ausge-
dehnten Belesenheit und gründlichen Gelehrsamkeit, verliehen ihm große Vorzüge. Es war
nichts Pedantisches in seinem Wesen...".
32 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 5.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 457

wig Jahn und seiner Turnerbewegung beeinflußt, nahm er am Feldzug


von 1815 gegen Napoleon teil". Ahnlich wechselvoll wie die frühen
Jahre gestalteten sich auch seine Studien. Erst wollte er Botanik studie-
ren, dann Militärarzt werden; schließlich wandte er sich der Mathematik
zu. Doch waren seine Studien überschattet von seinem politischen
Engagement und dessen Folgen in der Zeit der Demagogenverfolgun-
gen. 1819 wurden ihm seine engen Beziehungen zu Jahn zum Verhäng-
nis; er wurde vier Monate lang in einer preußischen Festung inhaftiert34.
Dem jungen Liberalen wurde verboten, auf einer preußischen Universi-
tät zu studieren. So setzte Lieber seine mathematischen Studien in Jena,
Halle und (1821) in Dresden fort35.
Indessen ließen ihm Abenteuerlust und Begeisterungsfähigkeit keine
Ruhe. Bald darauf schloß er sich der philhellenischen Bewegung an.
1822 nahm er an einer Expedition nach Griechenland teil, die dem
Freiheitskampf der Griechen gegen die türkische Herrschaft galt36. Das
Unternehmen scheiterte; Lieber fand beim damaligen preußischen
Gesandten Georg Barthold Niebuhr in Rom als Hauslehrer der Kinder
freundliche Aufnahme37. Als ihm 1823 die Fortsetzung seiner mathema-
tischen Studien in Preußen durch Polizeiminister v.Kamptz wieder
ermöglicht wurde, siedelte er wieder nach Berlin über38. Dort lernte er
bekannte und bedeutende Zeitgenossen - wie etwa Kriminalrat Hitzig,
Henriette Herz, E.T.A. Ho f f mann und Chamisso - kennen; auch zu
Varnhagen v. Ense unterhielt er Beziehungen39. Doch wurden ihm seine
liberale Vergangenheit und die politischen Verhältnisse in seinem Vater-
land erneut zum Verhängnis. Vor die Polizei geladen weigerte er sich,
über umstürzlerische Umtriebe auszusagen. Dies hatte 1824 seine zweite
Inhaftierung zur Folge40. Immerhin genoß Lieber im Gefängnis Erleich-
terungen, die ihn in die Lage versetzten, literarische Studien zu treiben
und sich selber schriftstellerisch - etwa Gedichte schreibend - zu

33 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.6-25.


34 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.30. Aufgrund von E.T.A. Hoffmanns Votum vom
3.11.1819 wurde Lieber noch am selben Tage entlassen (E. T.A. Hoffmann: Juristische
Arbeiten. Mit Erl. hrsg. von Friedrich Schnapp. München 1973, S.569).
35 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.31.

36 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.34-42. Vgl. auch Lieber, Tagebuch eines Aufenthalts

in Griechenland. Leipzig 1823.


37 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.43f. Lieher hat später der Beziehung zu Niebuhr in
einem Buch ein freundschaftliches Denkmal gesetzt: Reminiscences of an Intercourse with
Mr. Niebuhr. Philadelphia 1835.
38 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.55.

39 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.56, 58.

40 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.58.


458 Heinz Müller-Dietz

betätigen41. Vor allem den Bemühungen Niebuhrs, der sich nach wie vor
für das Schicksal seines jungen Protege interessierte, war es zu danken,
daß Lieber am 6.4.1825 freigelassen wurde42. Der Verdacht revolutionä-
rer Bestrebungen blieb freilich bestehen; die Situation äußeren Drucks
hielt aufgrund der fortdauernden polizeilichen Untersuchung an. Die
Schwierigkeiten, eine seinen Fähigkeiten angemessene Stellung in Preu-
ßen zu finden, ließen in Lieber schließlich den Gedanken reifen auszu-
wandern. Dieser Entschluß fiel ihm keineswegs leicht; aber er sah ohne
Anstellung angesichts der politischen Bedrückungen in seiner Lage
keinen anderen Ausweg. Mit Hilfe englischer Studien bereitete er sich
darauf vor; seinen Plan hielt er der Polizei wegen vor jedermann
geheim43. Am 17.5.1926 verließ er Berlin, am 27.5.1826 traf er in
London ein44.

2. Leben und Wirken in den Vereinigten Staaten


Doch war damit die Zeit materieller Nöte keineswegs zu Ende. Es gab
Überlegungen, in England, etwa als Professor der deutschen Sprache,
Fuß zu fassen45 - letztlich trieb es Lieber aber in die Vereinigten Staaten,
das Land der von ihm so sehr geschätzten republikanischen Freiheit. In
Boston wurde er 1827 freundschaftlich aufgenommen46. Dank Niebuhrs
Empfehlung wurde er bald ständiger Korrespondent mehrerer deutscher
Zeitungen. Die regelmäßige Berichterstattung über Amerika trug alsbald
dazu bei, das Projekt einer Enzyklopädie nach dem Vorbild des Brock-
haus'schen Konversationslexikons in Angriff zu nehmen47. Lieber
gewann dafür zahlreiche angesehene Publizisten; er selber schrieb eine
große Anzahl von Artikeln. In vier Jahren (1829-1832) gelang es ihm,

41 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 60. Daraus ging die unter dem Pseudonym Arnold
Franz veröffentlichte Schrift „Vierzehn Wein- und Wonnelieder" (Berlin 1826) hervor. Die
literarischen Interessen sollten sich, wenngleich sie belletristisch keinen besonderen Aus-
druck fanden, auch später immer wieder äußern. Bemerkenswert erscheint etwa die
sprachkritische Notiz im Tagebuch vom 2 7 . 6 . 1 8 3 6 , die stilistischen Tadel an Jean Paul
mit der Forderung verbindet: „Wir Deutsche brauchten eine gerade, glatte Prosa mehr als
irgend eine andre Nation. Lessing, Goethe und Herder haben viel dafür gethan, aber bei
unsrer Neigung, im Abstrakten zu schweben, haben wir stets eine große Vorliebe für
Bilder. . . . Es ist so unendlich viel leichter, in hochfliegender Sprache zu schreiben und
Bilder zu gebrauchen, als eine gesunde, einfache, strenge, korrekte, präzise, durchdrin-
gende und dauerhafte Sprache anzuwenden" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 108).
42 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.59.

43 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.64.

44 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.65-68.

45 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.68. Einmal mehr hatte sich Niebuhr für ihn verwen-
det, wie er in einem Brief an Richter Thayer (vgl. Fn. 28) am 16.1.1868 schrieb (Denkwür-
digkeiten, Fn.31, S.276).
46 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 76.

47 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.78.


Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 459

dieses 13bändige Werk der „Encyclopaedia Americana" abzuschließen,


das ihn rasch bekannt werden ließ48. In dieser Zeit korrespondierte er
auch mit Wilhelm v. Humboldt und Leopold v. Ranke*9. Damit hatte
eine überaus fruchtbare publizistische Tätigkeit begonnen, die Lieber
später zu einem der führenden Politikwissenschaftler der Vereinigten
Staaten aufsteigen ließ. Wie sehr er diese Veränderung seiner Lebensum-
stände genoß, verrät eine Tagebuchnotiz vom 2 4 . 5 . 1 8 3 1 : „Ich kenne
keine Periode in der deutschen Geschichte, die mich erfrischte, erhöbe,
erheiterte. Erst hier in Amerika habe ich den wahren Wert der Freiheit
kennengelernt; und hier ist der Wendepunkt meines Lebens" 50 .
Das ist gewiß ehrlich empfunden; doch gibt es keineswegs seine ganze
Erfahrung mit der neuen Heimat wieder. Die 1829 erfolgte Eheschlie-
ßung51 und Gründung einer Familie mußte Lieber auch an eine dauer-
hafte Sicherung des Lebensunterhaltes denken lassen52. Dem kam wohl
1835 seine Anstellung als Professor für Geschichte und Volkswirtschaft
am South Carolina College entgegen53; doch sollte er im Süden nicht
heimisch werden; die dortigen Lebensverhältnisse, nicht zuletzt die
Sklaverei - die er später öffentlich zu bekämpfen nicht müde wurde54 -
stießen ihn ab55. Jene Tätigkeit, die immerhin über 20 Jahre seines
Lebens dauerte (1835-1856), legte ihm - wiewohl sie publizistisch und
wissenschaftlich überaus fruchtbar war56 - manche Zurückhaltung auf;

48 Encyclopaedia Americana, ed. by Francis Lieber. 13 Vols. Philadelphia 1828-32.


49 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 80 ff.
50 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 89.

51 Seine spätere Frau hatte Lieber bereits während seines Englandaufenthaltes kennen-

gelernt (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 82).


52 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.97.

53 Denkwürdigkeiten (Fn.), S. 100, 103.


54 Auch in seiner Korrespondenz kritisierte er die Sklaverei immer wieder aufs schärf-

ste. In einem Brief vom Februar 1854 an George S. Hillard heißt es: „Der Süden vergißt,
daß die ganze Richtung der Geschichte gegen die Sklaverei ist" (Denkwürdigkeiten,
Fn. 31, S. 224). Noch deutlicher wurde er später, im Brief vom 5.9.1858, in dem er „den
afrikanische(n) Sklavenhandel" als „ein • gottloses, unchristliches Verbrechen" und
„Schandfleck für unsre Rasse" brandmarkte (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.248).
55 Im April 1854 gab er Hillard in einem Brief zu verstehen, daß es die Gelegenheit, hier

seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war, die ihn im ungeliebten Süden hielt. Doch
änderte das nichts an seinem Urteil: „Bald sind es zwanzig Jahre, die ich in dieser Gegend
zugebracht habe; es wäre Thorheit, etwas andres davon zu sagen, es war ein vergeudetes
Leben" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.228).
56 Außer den in Fn. 10 und 29 zit. Werken erschienen in jener Zeit etwa: Essays on

Labour and Property. New York 1841, third Ed. 1856; Ueber die Unabhängigkeit der
Justiz oder die Freiheit des Rechtes, in einem Briefe aus Amerika. Heidelberg 1848; On
Civil Liberty and Self-Government. 2 Vols. Philadelphia 1853, third Ed. by T. D. Woolsey
1874. Nicht minder groß als die Arbeitskraft Liebers muß auch seine Arbeitslast damals
gewesen sein. Das zeigt sein geradezu modern anmutender Stoßseufzer in dem Brief an
Mrs. George Tickner vom 17.4.1853: „wir leben in einer solchen Hast und müssen über
460 Heinz Müller-Dietz

erst danach, als Professor für Geschichte und Politische Wissenschaft


(1857-1865) sowie für Verfassungsgeschichte und Öffentliches Recht
(1865-1872) an der Columbia Universität57, sollten Liebers Wünsche
und Intentionen weitgehend in Erfüllung gehen.
Seine publizistischen und wissenschaftlichen Interessen ließen Lieber
indessen zu keiner Zeit ruhen. Auch an Selbstbewußtsein fehlte es ihm
nicht. In einem Brief vom Juni 1838 schrieb er seiner Frau: „Mittelmä-
ßige Bücher, ja überflüssige, verkaufen sich in meiner Wissenschaft
besser als meine eignen58." Auf die „Encyclopaedia Americana" folgte
die Ubersetzung des Werkes von Beaumont und de Tocqueville über das
amerikanische Gefängniswesen5'. Briefwechsel mit bekannten Zeitge-
nossen, so etwa mit seinem Freund Karl Joseph Anton Mittermaier, den
er über die Mustergefängnisse in Philadelphia und Auburn informierte60,
wie Tagebuch, erst recht aber Publikationen61 lassen erkennen, welche
Themen Lieber in den 30er Jahren bewegten: Grundfragen der politi-
schen Ethik, der Gesetzgebung, des Begnadigungsrechts, der Rechts-
pflege, der Erziehung62 - und eben der Pönologie. Mittermaier war es
denn auch, der ihn darin bestärkte, das Projekt einer Pönologie weiter-
zuverfolgen: „Lassen Sie die Ethik ruhen und schreiben Sie Ihre Pönolo-
gie; wir brauchen sie dringend63." Es entsprach Liebers vielseitigem
Engagement, daß er das eine tat, ohne das andere zu lassen. So sollten in
der Folgezeit gleichermaßen Werke der politischen Philosophie und der
Staatslehre wie der Pönologie entstehen.
Über letztere äußerte sich Lieber Mittermaier gegenüber am
10.5.1836 recht ausführlich64: „Fürchten Sie nicht, daß ich aufgeben
werde, meine Pönologie (Strafmittellehre) zu schreiben. Es ist einer der

solche Berge von Büchern, die täglich erwachsen, und die Geschichte, wie sie über uns
forteilt, nimmt unsre Aufmerksamkeit so unausgesetzt und verschiedenartig in Anspruch,
daß die Fähigkeit zu rezipieren und jede Stelle in einem Buche mit Thatsachen und
Ereignissen zu verbinden, die noch frisch in der Seele des Publikums sind, sich täglich
verringert" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S.219).
57 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.238f, 243.

58 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 120. Aber schon am 2 7 . 9 . 1 8 3 9 hörte es sich in einer

Tagebuchnotiz etwas anders an: „Es ist doch sonderbar, daß die Auflage meiner .Politi-
schen Ethik' nahezu verkauft ist" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 129).
5 ' Vgl. Fn. 19.

60 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 105ff. Vgl. auch Jürgen Friedrich Kammer, Das


gefängniswissenschaftliche Werk C . J . A . Mittermaiers. Diss. jur. Freiburg i. Br. 1971,
S. 48. Lieber korrespondierte mit Mittermaier von 1832 bis zu dessen Tod (1867).
61 Vgl. Fn. 56.

62 Lieber, Remarks on the Relation between Education and Crime, in a Letter to the

Right Rev. William White. Philadelphia 1835. White war damals Präsident der „Philadel-
phia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons" (deren Mitglied Lieber war).
63 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.209f.

64 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 106f.


Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 461

Gedanken, die von meinem Geiste Besitz ergriffen haben, und mich
beherrschen werden, bis ich sie bemeistert habe. Der ganze Gegenstand
in seiner elementaren, legalen, psychologischen, materiellen und histori-
schen Beziehung ist klar in mir, ganz und gar, und ich werde nicht
ruhen, bis ich das Werk vollendet habe. . . . Ich hoffe zu beweisen, daß
es die Pflicht des Staates ist, den Verbrecher zu bessern; auf alle Fälle
muß es sein Bestreben sein, denselben nicht zu verschlechtern. In dieser
Beziehung weiche ich von Feuerbach und allen andern Publizisten ab.
Andererseits bin ich weit entfernt von den krankhaften, religiösen und
sentimentalen Ansichten65. Ich habe selten einen guten Erfolg darin
gesehen, daß die Gefühle eines Gefangenen in religiösen Dingen erregt
wurden, aber dadurch freilich ist viel Gutes gestiftet, daß einer zur
Selbsterkenntnis seiner Beziehung zum Schöpfer gebracht wird. Die
Erfahrung der Gefängnisdirektoren bestätigt mich in dieser Ansicht."
Die Studie, die dann 1845 ihre deutschsprachige Nachfolge in Gestalt
der „Bruchstücke" fand, erschien 183866. Sie stellte gleichzeitig ein
Plädoyer für das pennsylvanische Einzelhaftsystem dar, das Lieber auch
bei anderen Gelegenheiten - etwa in seiner Korrespondenz und in
Gesprächen - vehement verteidigte. Die Pönologie bildete zugleich jenes
Thema (seines Lebens), in dem sich persönliche Erfahrung und wissen-
schaftliches Interesse begegneten. Noch einmal holte ihn seine politische
Vergangenheit ein. Von der allgemeinen Begnadigung für politische
Vergehen, die Friedrich Wilhelm IV. anläßlich seiner Krönung ausge-
sprochen hatte, war Lieber ausgeschlossen geblieben - was ihn sehr
schmerzte; erst auf ein Bittgesuch vom 10.11.1841 begnadigte ihn der
König und erlaubte ihm, nach Preußen zurückzukehren67. Wenige Jahre
später, im Frühjahr 1844, konnte Lieber den Plan einer Europareise, die
ihn nach England, Frankreich (zu Tocqueville), Belgien, Holland und
schließlich nach Preußen führte, verwirklichen.
In Berlin hatte er eine lange, denkwürdige Unterredung mit dem
König68. In deren Verlauf gab der König seinem Bedauern über den
Weggang Liebers und dessen ungerechte Behandlung durch den preußi-

65 Dazu paßt recht gut Liebers Urteil über Charles Dickens' Gefängnisdarstellung im

Brief an Hillard vom 1 7 . 1 2 . 1 8 4 2 : „Als ich zu seiner thränenreichen Beschreibung von


dem Philadelphia-Gefängnisse kam, dachte ich: ,junger Mann, du solltest besser kennen,
worüber du schreiben willst'. Dickens dachte offenbar, da er Genie besitzt, brauchte er nur
am Pfropfen zu riechen, auch wenn die Flasche fest verkorkt ist, um fähig zu sein, über die
Fabrikation ihres Inhaltes zu schreiben. Trotz alledem sind in dem Buch viele wahre, feine
und gute Partieen. Ob seine Erzählung von dem New Yorker Gefängnisse wahr ist, weiß
ich nicht" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 149).
66 Vgl. Fn. 21.

67 Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 140-143.

" Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 159-163.


462 Heinz Müller-Dietz

sehen Staat Ausdruck. Im Mittelpunkt des Gesprächs stand jedoch das


Gefängniswesen. „Ich habe dem König von Preußen sehr eindringlich
empfohlen, General-Inspektoren für die Gefängnisse einzusetzen mit
der Verpflichtung, auf den Universitäten Vorlesungen zu halten über
Pönologie, wie ich den ganzen Zweig der Kriminal-Wissenschaft
genannt habe, welcher sich mit der Bestrafung und dem Verbrecher
beschäftigt (oder beschäftigen sollte) - nicht mit Definition von Verbre-
chen, dem Gegenstande der Verantwortlichkeit, und der Feststellung
des Verbrechens, was die Kriminal-Gesetze angeht und den Straf-
prozeß"." Lieber plädierte ferner - des Besserungsgedankens wegen -
für das pennsylvanische Einzelhaftsystem und damit gegen das auburn-
sche Prinzip der Gemeinschaftshaft: „Es steht fest, daß eine so maschi-
nenartige Methode, wie das Einsperren zwischen vier Wänden, nicht ein
moralisches Resultat hervorbringen kann, wie es nötig ist, um einen
Menschen zu reformieren. . . . Die erste große Frage bei diesem Gegen-
stande ist: hat der Staat das Recht, einen Menschen schlechter zu machen
als er ist? Ich antworte, sicherlich nicht! . . . Aber der Staat macht sich
eines Unrechtes schuldig, wenn er einen Menschen in eine Lage bringt,
in der er nach den ewigen Gesetzen der Ethik schlechter werden muß. Es
ist gewiß, daß Menschen, welche von denselben Gedanken, Antrieben
und Leidenschaften gelenkt werden, aufeinander Einfluß ausüben wer-
den, wenn sie in Berührung gebracht werden70." Wenn auch Liebers
Plädoyer trotz der wohlwollenden Haltung des Königs aus verschiede-
nen Gründen erfolglos blieb71, so konnte er doch wenigstens in einer
Hinsicht Fortschritt vermelden: Mit seinen Ansichten über die „skanda-
lösen öffentlichen Exekutionen" fand er Gehör72. Auch Minister Eich-
horn berichtete er „ von meiner neuen Wissenschaft, der Pönologie, und

" Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 168. Bereits 1835 hatte Lieber v.Kamptz vorgeschla-
gen, „ein Gefängnis mit Einzelhaft bei Bonn einzurichten, als eine moralische Klinik für
die Studien der Kriminalisten und Verwaltungsbeamten im allgemeinen" (Denkwürdigkei-
ten, Fn. 31, S. 100).
70 Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 161 f.

71 In einem Brief an de Tocqueville vom 2 6 . 1 1 . 1 8 4 4 schrieb Lieber: „Lassen Sie mich


Ihnen unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit mitteilen, daß der König unbe-
dingt für das pennsylvanische System ist, aber die meisten seiner Minister sind es nicht. . . .
Teilkampf, ein Deutscher, der jetzt in den Vereinigten Staaten wohnt und kürzlich hier
war, hat großes Unheil angerichtet. E r hat ein Buch geschrieben, in dem er die einfältigsten
Dinge vorschlägt, - Einzelhaft, zum Beispiel, bis der Missethäter gebessert ist, etwa ein
oder anderthalb Jahre, und dann das Auburn-Systemü! Doch dies Buch hat in Berlin
Eindruck gemacht, namentlich auf den General von Thiele, den Premier-Minister - einen
Mann von guten Absichten, aber beschränkten Ansichten" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31,
S. 167).
71 Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 163. Über „Extra-" und „Intramuran-Hinrichtungen"

hatte er vorher schon Material gesammelt. Vgl. den Brief vom 12.7.1842 an Hillard
(Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 146). 1844 erschien in den Heidelberger Jahrbüchern ein
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 463

der Notwendigkeit eines Professors, der zu gleicher Zeit General-


Inspektor der Gefängnisse sein müßte" 73 .
Recht angetan zeigte sich Lieber von Gesprächen mit Hitzig, Carl
Friedrich v. Savigny und Alexander v. Humboldt7*. Das Angebot einer
zeitweisen Anstellung im Justizministerium mit dem Auftrag, die
Errichtung und Beaufsichtigung von „Detentionshäusern" (Untersu-
chungshaftanstalten) zu übernehmen, lehnte er indessen ab75. Ebensowe-
nig hatte die Aufforderung, „in preußische Dienste zu treten und an der
Universität Berlin Vorlesungen zu halten", Erfolg 76 . Lieber erschien
weder das Angebot einer zeitweiligen Anstellung im Justizministerium
noch einer Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der Pönologie befriedigend und
verlockend genug, um nach Preußen zurückzukehren; vielmehr strebte
er letztlich eine Professur im Norden der Vereinigten Staaten an - die er
dann ja auch, freilich sehr viel später, 1857 an der Columbia Universität
in N e w York, erhielt. Viel mögen zu dieser Entscheidung Liebers
Vorliebe für die „Neue Welt", deren Staatsform und Weiträumigkeit,
seine eigenen weitgespannten wissenschaftlichen und publizistischen
Interessen, die ja zu erheblichem Teil der politischen Philosophie, der
Verfassungsgeschichte und dem Staatsrecht galten, beigetragen haben;
hat er doch in besonderem Maße die Beschränktheit und Enge der
politischen Verhältnisse in Preußen erlebt und empfunden. Hinzu kam
dann noch die Erfahrung mit dem Scheitern der Paulskirche, das er
anläßlich einer weiteren Deutschlandreise 1848 selber beobachten
konnte 77 .

Beitrag aus Liebers Feder „Ueber Hinrichtungen auf offenem Felde oder über Extramu-
rane und Intramurane Hinrichtungen". „Extramuran-Hinrichtungen sind ein Skandal und
gefährlich, unmoralisch" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S. 168).
73 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 165.

74 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 163ff.

75 Denkwürdigkeiten (Fn.31), S. 168f.

76 Brief vom 30.3.1846 an Mittermaier (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 175).


77 In einem Brief vom 8. 8.1848 schrieb er aus Frankfurt an seine Frau: „Die Unwissen-

heit in allen die bürgerliche Freiheit betreffenden Dingen ist unbegreiflich" (Denkwürdig-
keiten, Fn.31, S. 190). In einem weiteren Brief vom 5.1.1851 an Hillard heißt es: „Das
Mandarinentum der deutschen Regierungen hat das deutsche Volk unfähig gemacht zu
handeln. . . . die Deutschen unternehmen keine Aenderung, ohne zuvörderst auf die ersten
prinzipiellen und metaphysischen Grundlagen derselben zurückzugreifen, ohne zuvor die
kleinlichsten Details im Geiste zu systematisieren, und wenn sie endlich all ihre Betrach-
tungen auszuführen gedenken, ist die Gelegenheit - mit dem breiten und schnellen Flug
der Möve - vorbei. Eine Theorie ist bedeutungsvoller für sie, als ein Prinzip. Betrachten
Sie ihre Juristen. Wie gelehrt, und doch wie arm an allem, was wichtig ist für die Praxis"
(Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.212f). Hillard gegenüber kam er in einem Brief vom
23.4.1854 erneut darauf zu sprechen, „welche erbärmliche Rolle Deutschland wieder in
der gegenwärtigen Konjunktur spielt". Es sei „kein Wunder, daß die Deutschen eine
melancholische Nation genannt werden" (Denkwürdigkeiten, Fn.31, S.230).
464 Heinz Müller-Dietz

Freilich barg sein Entschluß, in den Vereinigten Staaten zu bleiben,


manche belastenden Konsequenzen. Da mußte er nicht nur mit dem -
bereits angedeuteten - Umstand fertig werden, daß ihn äußere Lebens-
umstände länger als erwünscht im Süden festhielten. Da überschatteten
recht bald, nachdem er den so sehr ersehnten Ruf an eine Universität des
Nordens, das Columbia College, erhalten und angenommen hatte
(1857), die Wirren des Bürgerkrieges, in dem sich sein Sohn Oskar auf
die Seite des Südens schlug und für diesen fiel, seine weitere Tätigkeit.
Gleichwohl trat er auch jetzt mit Engagement als Publizist und Wissen-
schaftler für die von ihm als recht erkannte Sache des Nordens ein78. Er
schrieb Propagandaartikel für die „Loyal Publication Society", an deren
Spitze er stand, gegen die Sklaverei und für die nationale Einheit.
Nachhaltiger noch und dauerhafter wirkte er indessen als maßgebendes
Mitglied einer Kommission, die Präsident Lincoln ins Leben gerufen
hatte, um Regeln für die Kriegsführung des Heeres der Vereinten Staaten
zu entwerfen. Durch diese „Instructions for the Government of the
Armies of the United States in the Field" (1863), die sich durch humane
Grundsätze auszeichneten, erwarb sich Lieber internationales Ansehen
als Völkerrechtler 79 ; wurden sie doch später, 1870, von Preußen über-
nommen sowie 1899 und 1907 Bestandteil der Haager Konvention über
Landkriegsführung. Auch und gerade hier hielt er den Gedanken an die
Wahrung der Bürgerfreiheit hoch80 - wie überhaupt die enge Symbiose
liberaler und nationaler Ideen für sein Werk und Wirken charakteristisch
ist. Repräsentativ dafür sind namentlich seine schon früher erschienenen
politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Standardwerke über
politische Ethik sowie Bürgerfreiheit und Selbstverwaltung, durch die
sich Lieber schon lange vor dem Sezessionskrieg maßgeblichen Einfluß
auf die öffentliche Diskussion und wissenschaftliche Doktrin in den
Vereinigten Staaten gesichert hatte81.
Auch in den letzten Jahren seines Lebens blieb Lieber aktiv. Einen
erheblichen Teil seiner Zeit nahm wie ehedem die Korrespondenz mit
bekannten Zeitgenossen ein; zu ihnen zählten namentlich der Staats-
rechtlicher Johann Caspar Bluntschli und einmal mehr F. v. Holtzen-
dorff, mit dem er ebenso wie mit Mittermaier im Laufe der Zeit
zahlreiche Briefe gewechselt hat82. In diesen Äußerungen wird ein

78
Vgl. Curti (Fn. 22), S.615, 619.
79
Vgl. z.B. Harley (Fn.28), S. 141-154; Root (Fn.28).
80
Charles Sumner gegenüber bemerkte er in einem Brief vom 14.12.1861: „Nichts ist
für moderne bürgerliche Freiheit gefährlicher, als eine große demokratische Armee;
. . . Das Schwert ist stets anmaßend. Ein Soldat schreibt dies" (Denkwürdigkeiten, Fn. 31,
S. 257).
81
Vgl. Fn. 29 und 56.
82
Denkwürdigkeiten (Fn. 31), S. 301 ff.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 465

unvermindert waches Interesse an Zeitfragen sichtbar; das Spektrum


reicht von der Expatriierung oder Verbannung von Straftätern83 über
Probleme der politischen Ethik und des internationalen Rechts 84 bis hin
zur Schaffung eines deutschen Nationalstaates. Für 1873 plante Lieber
eine weitere Europareise 85 . Dazu kam es indessen nicht mehr; der Tod
beendete am 2. Oktober 1872 ein Leben, das „dem Studium und der
Verbreitung der großen Lehre politischer Erfahrung geweiht war" 86 und
in dessen Schuld sich - wie kurz danach einer seiner Freunde, der
Richter Russell Thayer, schrieb - Amerika wußte: „Probably no man has
instructed so many of our countrymen in the thruths of history, the
canon of ethics, and the principles of political science 87 ."

IV. Liebers " S t r a f k u n d e " oder „Pönologie"


Die Beschäftigung mit jener Materie, die Lieber „Strafkunde" oder
„penology" nannte, hatte gewiß biographische Hintergründe, seine
zweimalige Inhaftierung in Preußen. Aber sie wurde wohl auch durch
ein umfassendes Interesse an öffentlichen Angelegenheiten, das nicht
zuletzt dem Verhältnis von Rechten und Pflichten des Staates gegenüber
seinen Bürgern galt, gefördert. Zeitlebens engagierte sich Lieber für die
Wahrung der Bürgerfreiheit sowie die staatlichen und gesellschaftlichen
Institutionen zu ihrem Schutz. Einen Ausschnitt aus dieser ebenso
weitreichenden wie grundlegenden Beziehung stellte für ihn der
Umgang des Staates mit dem (inhaftierten) Rechtsbrecher dar. Dabei
interessierten ihn nicht Fragen des materiellen Strafrechts und des Straf-
prozeßrechts. Vielmehr standen für ihn allemal Rechtfertigung, zweck-

85
Bluntscbli gegenüber kritisierte er in einem Brief vom 2.6.1866 die „Inhumanität,
teilweise bestrafte Verbrecher zu expatriieren... Ueber diese Sache herrschen in Europa
sonderbare Begriffe. Kürzlich erhielt die Gefängnis-Gesellschaft zu New York von einer
ähnlichen Gesellschaft in Liverpool einen Brief, in welchem man fragte, ob wir etwas
dawider hätten, daß Verbrecher, die sich gut aufgeführt, mit Empfehlungsbriefen zu uns
geschickt würden. New York ist voll von englischen Beutelschneidern und Dieben, von
polizeilich beaufsichtigten Personen. Ein Teil der Strafe wird ihnen erlassen unter der
Bedingung, daß sie nach Amerika auswandern, und die Kirchspiele, zu denen die Verbre-
cher gehören, sind gleich bereit, die Kosten der Transportation zu tragen" (Denkwürdig-
keiten, Fn. 31, S. 268 f).
8< In einem Brief vom 10.4.1872 an den Ehrenpräsidenten des internationalen Komi-

tees in Genf, General Dufour, sprach sich Lieber - im Interesse „internationaler Versöh-
nung und Vergleichung" - zwar für „die Rückkehr zu der Gepflogenheit des Mittelalters
und die Wahl von Rechts-Fakultäten berühmter Universitäten zu internationalen Schieds-
gerichten" aus; von der „Idee eines permanenten hohen Gerichtshofes von Nationen, von
dem alle internationalen Mißverständnisse entschieden werden sollten", hielt er jedoch -
wie schon früher - nichts (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 309 f).
85 Brief vom 22.9.1872 an v. Holtzendorff (Denkwürdigkeiten, Fn. 31, S. 316).
86
Perry in: Denkwürdigkeiten (Fn.31), S.317.
17
Thayer (Fn. 28), S.34.
466 Heinz Müller-Dietz

mäßige Gestaltung und Wirkung der Kriminalstrafe, und d. h. praktisch


des Vollzuges der Freiheitsstrafe(n) im Vordergrund der Betrachtung.
Mit dieser Thematik setzte sich Lieber spätestens seit 1833 auseinan-
der 88 ; im Grunde begleitete sie ihn sein Leben lang89. Aber anders als auf
politikwissenschaftlichem und staatsrechtlichem Gebiet fand er keine
Gelegenheit, seine einschlägigen Gedanken zu einer geschlossenen
Gesamtdarstellung zusammenzufassen. Statt dessen blieb es bei „Bruch-
s t ü c k e ^ ) " , Tagebuchnotizen, brieflichen Äußerungen, einigen wenigen
Schriften, in denen Fragen der „Strafkunde" oder „Pönologie" zur
Sprache kamen. Ausführungen im Zusammenhang finden sich vor allem
in dem 1838 erschienenen „Essay on Subjects of Penal Law and on
Uninterrupted Solitary Confinement at Labor" 90 sowie in den - wieder-
holt schon erwähnten - „Bruchstücke(n)" 91 . Sie gleichen im ganzen eher
einer Skizze oder einem Entwurf und sind in Stil und Darstellungsart
durch eine ausgesprochen rechts- und vollzugspraktische Zielsetzung
geprägt, wie auch daran abzulesen ist, daß es an einer gründlichen
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen Autoren fehlt.
Immerhin vermitteln jene fragmentarischen Hinweise oder Überlegun-
gen einen näheren Eindruck von den Intentionen, die Lieber insoweit
verfolgte.
Im Grunde galten seine einschlägigen Überlegungen zwei sachlich
verschiedenen, von ihm aber als durchaus zusammengehörig empfunde-
nen Themen: der Problematik sinnvoller und zweckmäßiger Ausgestal-
tung des Strafvollzuges und der Frage nach Gegenstand und Funktion
der „Strafkunde" oder „Pönologie".

1. Kriminalstrafe und Gefängniswesen


Für Lieber stand das Recht (und die Pflicht) des Staates zu strafen
außer jedem Zweifel. Die Strafbewehrung von Gesetzen, die jedermann
zu befolgen hat, entsprang für ihn geschichtlich-gesellschaftlicher N o t -
wendigkeit 92 . Die Kriminalstrafe hat Lieber zufolge Schutzfunktion.
Ihren Zweck setzte er vor allem in die Verhütung weiterer Straftaten und
in die „Aufrechterhaltung des ethischen Charakters der Gesellschaft" 93 .
„Eine gute Strafe soll gerecht, sittlich, weise und ernst sein." Dies
impliziere namentlich Verhältnismäßigkeit und Begrenzung der Sank-
tion sowie Strafbemessung nach den Grundsätzen der Gleichbehandlung

s
» Vgl. Fn. 19 und 69.
85
Vgl. den Hinweis in Lieber, Contributions to Political Science (Fn. 25), S. 470.
Vgl. Fn. 21.
91
Vgl. Fn. 10.
92
Lieber (Fn. 10), S.5.
93
Lieber (Fn. 10), S. 13.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 467

und Individualisierung94. Strenge Gesetzesbindung der Justiz sei uner-


läßlich. „Vorher bestehendes und unvermeidbares Gesetz gehört zum
Wesen der Freiheit95." Sittlich sei nur eine Strafe, die nicht brutal und
quälend sei, die den Verurteilten nicht „verschlechtere", sondern ihn
zum Guten anleite. Weise sei eine Strafe, die vom Verbrechen abhalte,
statt dazu zu verführen; „sie muß nicht ausstoßen oder über ihre Zeit
hinaus brandmarken oder infamieren, sondern vielmehr versöhnen".
„Sie muß einen dauernden, also einen sittlichen, aber nicht blos physi-
schen Eindruck machen96." „Sie muß überhaupt mit den geringsten
Mitteln den möglichst größten Zweck erreichen." Milde müsse die Strafe
sein97; auch sei deshalb Zurückhaltung bei der Strafbemessung geboten,
weil „wir nie vollkommen ermessen können, welcher Theil des Unrechts
dem Uebelthäter zukömmt, welcher seinen Eltern oder Umgebungen,
übeln Gesetzen oder entsittlichenden Beispielen in den Hochgestellten,
oder demoralisierenden Maaßregeln der Regierung, verwahrloster oder
schnöder Erziehung, oder Irrthum, Noth und Qual"98. Ferner dürfe die
Strafe wegen möglicher Irrtümer „nicht unwiderrufbar sein"; sie müsse
vielmehr „hemmbar sein, d.h. sie muß bei erfolgter Einsicht der
Unschuld oder geringeren Schuld des Verurtheilten geschlossen oder
verkürzt werden können"99. Im ganzen „müssen wir nicht das Uebel
durch eine rücksichtslose Strafweise, die weit mehr ein blindes Drein-
schlagen als ein behutsames und gewissenhaftes Strafen genannt werden
kann, noch vielfach vergrößern, sondern vielmehr die Strafweise wäh-
len, die eine sorgsame, gewissenhafte, verständige und des Regeins
fähige, vereinzelte Bestrafung und Behandlung möglich macht"100.
Aus der präventiven Aufgabe des Strafrechts leitete Lieber also den
Besserungszweck der Strafe ab. Zunächst habe der Staat „wenigstens das
Recht, den zu bessern, der durch seine That gezeigt hat, daß er der
Gesellschaft gefährlich ist, und, da es ein großer Zweck der Strafe ist,
Verbrechen zu verhüten, es aber kein besseres Mittel gäbe, die Fort-

54 Lieber (Fn. 10), S. 16 f. Gerechtigkeit i.S. der Gleichmäßigkeit des Strafens bildet
freilich ein Problem, „wenn jeder Verbrecher einen eigenen Bestrafungsfall bildet" (S. 45).
95 Lieber (Fn. 10), S. 15. „Ueber die Unabhängigkeit der Justiz" äußerte er sich im
gleichen Jahr (vgl. Fn. 56). Er sprach sich in dieser Schrift nicht nur für die strenge
Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung und die ausschließliche Bindung des
Richters an Gesetz und Recht, sondern auch für den Anklage- und den Geschworenenpro-
zeß aus.
96 Lieber (Fn. 10), S. 17.

97 Lieber (Fn. 10), S. 18.

" Lieber (Fn. 10), S. 6. Freilich hatte er in seiner Schrift über „Education and Crime"
(Fn. 62) mangelhafte Erziehung und (berufliche) Ausbildung als eine der gewichtigsten
Verbrechensursachen bezeichnet (S. 13).
99 Lieber (Fn. 10), S. 18.

100 Lieber (Fn. 10), S. 16.


468 Heinz Müller-Dietz

pflanzung des Verbrechens abzuschneiden, als die Besserung des Ver-


brechers, so ist es des Staates Pflicht, sie zu unternehmen"101. Noch vor
diese Pflicht rückte Lieber das Verbot, „Menschen schlechter zu
machen, als sie schon sind". Der Staat lädt aber hiernach „die große
Schuld dieses Schlechtermachens auf sich", „wenn er verurtheilte Ver-
brecher in Lagen bringt, in denen sie nach den ersten Prinzipien unserer
Sache unausweichlich schlechter werden müssen"102. Solchen Gefähr-
dungen setzt der Staat Lieber zufolge zwangsläufig dann aus, wenn
Rechtsbrecher im Gefängnis miteinander in Berührung kommen. Das
Lernen am (guten oder schlechten) Beispiel des anderen bildete für ihn
gleichsam eine psychologische Gesetzmäßigkeit103.
Hieraus ergab sich als logische Schlußfolgerung die Trennung und
isolierte Unterbringung der Straftäter. Diese sollten vor der Gefahr der
Ansteckung bewahrt und dem positiven Einfluß der Gefängnisbe-
diensteten und -besucher ausgesetzt werden. Ein solches Ziel lasse sich
aber - so Lieber - am besten durch das pennsylvanische System der
Einzelhaft, das er auch das „Eremitensystem" nannte, erreichen. Als
besondere Pflicht des Staates erachtete er es, „diejenigen, die noch nicht
einmal schuldig befunden sind und die also vielleicht schon das sehr
große Uebel einer unverschuldeten Gefangenschaft und Schmälerung
ihres guten Rufes zu dulden haben, von moralischer Ansteckung frei zu
halten"104. „Von allen Poenologen wird daher Absonderung als eine der
ersten und unerläßlichen Bedingungen aller Gefängniß-Verbesserungen
verlangt"105. Der Gefangene habe wie jeder Mensch in Gemeinschaft
„einen unwiderstehlichen Drang, sich mitzutheilen"106. Diesem Drang
könne aber wirksam, nachhaltig und auf humane Weise nur durch die
Einzelhaft entgegengewirkt werden. Allein „unbedingte Ausschließung"
„von der Welt und von anderen Uebelthätern" vermeide jenes „schnei-
dende Uebel", durch das „der Staat aus Gefängnissen, statt Straf-
Anstalten Academieen des Verbrechens und Pflanzschulen der Sünde
macht"107.
Ein solches Gefängnissystem habe vielfache segensreiche Folgen. In
der Einsamkeit lerne der Gefangene nachdenken, vielleicht sogar seine

101 Lieber (Fn. 10), S. 12. Dabei stand die Uberzeugung von der grundsätzlichen
Besserungsfähigkeit des Rechtsbrechers Pate (vgl. S. 8).
102 Lieber (Fn. 10), S. 8. Vgl. auch Fn. 70.

103 Lieber (Fn. 10), S. 9. Er nannte es „das Gesetz der sittlichen Reduplikation". „Bringt

man Verbrecher in enge Berührung, so müssen sie schlechter werden. Es ist nicht Sache des
Zufalls, sondern moralische Notwendigkeit" (S. 10; vgl. auch S.23).
104 Lieber (Fn. 10), S. 14.

105 Lieber (Fn. 10), S. 10.

106 Lieber (Fn. 10), S . l l .

107 Lieber (Fn. 10), S.23.


Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 469

Tat bereuen108, „überhaupt reflectiren"10'. Nur in der Einzelhaft könne


„der ungesunden Seele Heilung geboten werden"110. Dadurch könne
wieder „Arbeitslust" geweckt111, die Ausbildung der Gefangenen geför-
dert werden112. Eine wohnliche Ausgestaltung des Haftraums werde
diese positiven Einflüsse verstärken. „Die Einzelzelle ist ein wohlerhell-
tes, trocknes, geräumiges Zimmer, welches der Sträfling nicht selten mit
kleinen Zeichnungen oder andern Dingen ausschmückt"113. Sie gebe
„den Verbrechern, von denen die größte Mehrzahl heimathlos gelebt
hat, das Gefühl dessen, was der Engländer ein ,home' nennt, und wofür
es leider kein Wort im Deutschen gibt. Sie trägt also dazu bei, der
Vagabundenseele des Verbrechers Stätigkeit zu geben, und Freude an
der Ordnung, Reinlichkeit und Freundlichkeit dieser seiner kleinen
Welt"114. Gesundheitlichen Gefahren, die der Inhaftierung von Natur
aus innewohnten, könne durch eine „passende Gymnastik", regelmäßige
„Leibesübungen" entgegengewirkt werden115. Insgesamt sei das „Eremi-
tensystem" - im Gegensatz zu anderen Strafvollzugssystemen -
„wesentlich auf der Natur des Menschen begründet, und aus dem Wesen
des Verbrechers selbst entwickelt"116. Es trage deshalb entscheidend zur
Verringerung des Verbrechens bei 117.
Demgegenüber hielt Lieber das auburnsche System der Gemein-
schaftshaft mit strengem Schweigegebot für ein spezialpräventiv untaug-
liches und obendrein noch grausames Strafmittel, da es, wenn über-
haupt, nur mit äußerster Härte unerwünschte Kontakte zwischen den
Gefangenen unterbinden könne. „Die Peitsche aber ist grade, was wir
vermeiden wollen. Sie reizt und empört, oder entwürdigt vollkommen
und verhindert also die gewünschte Besserung"118. Auch von den vielfa-
chen Vorschlägen und Versuchen, die Straftäter nach verschiedenen
Kategorien zu klassifizieren, hielt Lieber nichts. „In vielen der engli-
schen Gefängnisse hat man folgende Classification angenommen: Junge

108 Lieber (Fn. 10), S.21.


109 Lieber (Fn. 10), S. 23 f.
110 Lieber (Fn. 10), S.25. Der Metapher von der Strafe, die dem Rechtsbrecher „wie
Arzenei dem Kranken" zuteil werde (S. 24), entspricht die Gegenüberstellung von „Straf-
kunst" und „Heilkunst" (S.25).
111 Lieber (Fn.10), S.21.
112 Lieber (Fn. 10), S.28.

113 Lieber (Fn. 10), S.41.


114 Lieber (Fn. 10), S.42.

115 Lieber (Fn. 10), S. 38 ff. Daß er insoweit mit detaillierten Vorschlägen aufwartet,
während seine Darstellung im übrigen eher skizzenhaft ausgefallen ist, mag auch auf
persönliche Hafterfahrungen zurückzuführen sein.
116 Lieber (Fn. 10), S.37.
117 Lieber (Fn. 10), S.36.
Lieber (Fn. 10), S. 12.
470 Heinz Müller-Dietz

Vagabunden; erwachsene Vagabunden; Vernachlässigung der Familie;


Entlaufene; Gartendiebe; Polizei-Vergehen; Verbrecher, die zum ersten
Male verurtheilt sind; alte Verbrecher; und Transportations-Classe.
Mehr als diese bloße Angabe wird kaum nöthig sein, um zu zeigen, wie
vollkommen nutzlos diese Sichtung der groben von der gröberen Kleie
für alle ethischen und poenologischen Zwecke sein muß. Dasselbe
würde aber von jeder Classification gesagt werden können119." In letzter
Konsequenz führe auch der Gedanke sinnvoller Trennung zum „Eremi-
tensystem"120.
Die Kritik, die von verschiedener Seite, so etwa auch von Teil-
kampf21, am pennsylvanischen Konzept der Einzelhaft geübt worden
war, wies Lieber mit Nachdruck zurück. Er wußte sich mit seiner
Auffassung im Einklang mit maßgebenden, international renommierten
Pönologen wie etwa Mittermaier122. Dem Einwand, „daß die Vereinze-
lung des Menschen unnatürlich sei", hielt Lieber entgegen, daß letztlich
„jede Beraubung der persönlichen Freiheit, ja jede Strafe unnatürlich"
sei. Indessen liege die „Unnatürlichkeit" „im Verbrechen, nicht in der
Strafe"123. Zwar sei die zwangsweise Einsperrung von Menschen hinter
Mauern in der Tat etwas „Mechanisches"124, doch sei die dadurch
bewirkte Einsamkeit „höchst geistiger Natur"125. Davon, daß Einzelhaft
den Gefangenen (innerlich) verhärte, sei nichts bekannt geworden.
Ebensowenig sei die Behauptung belegt, daß diese Strafweise zu geistiger
Abstumpfung führe126. Auch Angaben über andere negative psychische
Auswirkungen hätten sich nicht bestätigt127. Im ganzen sah Lieber seine

1,9 Lieber (Fn. 10), S. 19.


120 Lieber (Fn. 10), S.20.
121 Vgl. ]. Louis Teilkampf, Über die Besserungsgefängnisse in Nordamerika und
England. Nach eigenen Beobachtungen in den Jahren 1838 bis 1843. Nebst Bemerkungen
über den Gesundheitszustand der Sträflinge in den obigen Anstalten von Theodor Teil-
kampf. Berlin 1844. Dazu Lieber (Fn. 10), S. 26; vgl. auch Fn. 71.
122 Mittermaier hat sich in einer Vielzahl von Publikationen für das Einzelhaftsystem
ausgesprochen. Vgl. nur etwa: Die Gefängnißverbesserung insbesondere die Bedeutung
und Durchführung der Einzelnhaft im Zusammenhange mit dem Besserungsprinzip nach
den Erfahrungen der verschiedenen Strafanstalten. Erlangen 1858, S. 73 ff; Der gegenwär-
tige Zustand der Gefängnißfrage mit Rücksicht auf die neuesten Leistungen der Gesetzge-
bung und Erfahrungen über Gefängnißeinrichtung mit besonderer Beziehung auf Einzel-
haft. Erlangen 1860, S. 78 ff. Vgl. ferner z . B . Ludwig von Jagemann, Zur Rechtsbegrün-
dung und Verwirklichung des Grundsatzes der Einzelhaft. Frankfurt a. M. 1848.
123 Lieber (Fn. 10), S.26.

124 „Natürlich ist das Gefangenhalten selbst eine Sache der Mechanik" (Lieber, Fn. 10,

S. 46).
125 Lieber (Fn. 10), S.22.

126 Lieber (Fn. 10), S.25f.

127 Lieber (Fn. 10), S. 28 f. Relativ ausführlich setzte sich Lieber mit dem Bedenken
auseinander, „daß das Eremitensystem nicht für Deutsche passen würde, und daß es
namentlich bei ihrem ernsteren Charakter häufig Wahnsinn hervorbringen würde" (S. 29).
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 471

Position durch die Kritiker nicht erschüttert128. Es gibt auch keine


Anzeichen dafür, daß er sie später geändert oder gar aufgegeben hätte129.
Viele dieser straf- und strafvollzugstheoretischen Überlegungen Lie-
bers sind gewiß zeitgebunden, vor allem aus dem Geist der Epoche, dem
wissenschaftlichen Standard jener Zeit und seinen persönlichen
Anschauungen, in denen liberale und humane Grundsätze dominierten,
zu erklären. Dementsprechend schwach waren auch seine Annahmen,
soweit sie nicht ohnehin auf Spekulationen beruhten, empirisch abgesi-
chert. Im Vordergrund stand die Methode der Einzelfallbeobachtung;
Lieber stützte sich vielfach auf die Befragung einzelner Gefangener, die
er im Gefängnis aufgesucht hatte130. So sehr er statistische Erhebungen
zum Nachweis der Wirksamkeit des Einzelhaftsystems befürwortete, so
sehr zeigte er sich andererseits davon überzeugt, daß sie doch nur die
von ihm behauptete präventive Effizienz bestätigen würden131. Die wei-
tere - auch wissenschaftliche - Entwicklung ist über jene Auffassungen
hinweggegangen. Aber immerhin findet sich in Liebers Ausführungen so
manche feine Beobachtung und bemerkenswerte Feststellung, die über
seine Zeit hinausweist132.

2. Das Konzept der „Strafkunde" oder „Pönologie"


Bedeutender als Liebers Anschauungen vom „richtigen" Gefängnissy-
stem sind indessen seine Vorstellungen vom Fach selbst, das wissen-
schaftlich wie praktisch den Strafvollzug zum Gegenstand hat. Diese
Überlegungen hatten denn auch, wie angedeutet, nachhaltigeren Einfluß
auf die Entwicklung der „Strafkunde" oder „Pönologie". Hier war er,
ungeachtet mancher Vorläufer133, seiner Zeit voraus.

Er räumte zwar ein, daß die Einzelhaft Deutsche psychisch zu Beginn stärker belaste als
Gefangene anderer Nationalität; „denn der Deutsche ist von Natur trübe, sucht mögliche
Schwierigkeiten auf, vergrößert sie und malt sich die Zukunft schwarz; er hat viel
Ausdauer, aber wenig Energie" (S. 30 f); indessen hätten sich gleichwohl negative Befürch-
tungen nicht bewahrheitet (S.31). Leicht wird man geneigt sein, solche Überlegungen als
völkerpsychologische Spekulationen ins kulturhistorische Museum zu verweisen; doch
welche Zeit wäre denn davor schon gefeit?
128
Lieber (Fn. 10), S. 46 ff.
129 Dabei spielt freilich eine Rolle, daß Lieber ungeachtet seines fortdauernden Interes-

ses am Gefängniswesen sich nach Veröffentlichung der „Bruchstücke" vorrangig anderen


Themen zugewandt hat.
1,0 Vgl. z . B . Lieber (Fn.10), S.28f.
131
Lieber (Fn. 10), S. 35 ff.
132 Vielleicht außer den Bemerkungen zur Relativität der Schuld, der Strafen und der

Strafbemessung auch solche wie etwa die folgende: „ich habe nie ein lebhafteres Gerechtig-
keitsgefühl, in Hinsicht von Strafen, bei andern als Verbrechern gefunden. Die, die gegen
Leben und Eigenthum Anderer freveln, werden durch ungerechte Strafen, ob sie gegen
sich selbst oder Andere gerichtet sind, aufs tiefste empört" (5 f).
133 Vgl. Müller-Dietz (Fn. 15), S. 5 ff.
472 Heinz Müller-Dietz

Ausgangspunkt war für ihn die Erfahrung, daß sich Strafrechtler in


aller Regel für das materielle Strafrecht und das Strafverfahren, nicht
aber für das „Strafwesen" und die „Strafpolitik" interessieren. „Der
Jurist von Fach hört auf Interesse an einem Criminalfall zu nehmen, so
wie er entschieden ist. Dasselbe ist mit dem Publikum der Fall. Das
Urtheil ist wie der Vorhang, der nach der Auflösung aller Verwicklun-
gen fällt"134. Für Kriminalisten bleibe „die innere Gerechtigkeit der
Strafe", d.h. „ihr Verhältniß zum begangenen Unrecht", ihre „Erlaubt-
heit, Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit" weitgehend außer Betracht.
„Was die Psychologie des Verbrechers betrifft, ohne die jedoch keine
gute Strafe bestimmt werden kann, so ist sie bisher fast ganz übergangen
worden135." Ohne sie ließen sich sinnvollerweise auch keine Strafrechts-
reformen durchführen.
„Die europäischen Gesetzbücher verhängen Gefängnißstrafen der
verschiedensten Grade, aber in den meisten Ländern bleibt es unterlas-
sen, die Gefängnißart selbst zu bestimmen, und doch giebt diese erst der
Strafe ihr eigentliches Wesen"136. Strafgesetzgebung wie Strafbemessung
sind Lieber zufolge maßgeblich von der Kenntnis der Täterpersönlich-
keit und der Sanktionswirkungen abhängig sowie auf die inhaltliche
Festlegung des Strafvollzugssystems verwiesen. „Die Angabe, daß ein
gewisses Verbrechen mit fünf Jahren Gefängniß bestraft werden soll,
giebt mir erst einen bestimmten Begriff, wenn ich weiß, welche Art von
Gefangenschaft gemeint ist; noch kann der Gesetzgeber in der Austhei-
lung der Strafen möglicher Weise gerecht sein, wenn er sie nicht voll-
kommen in ihrem ganzen Umfange und ihren Wirkungen kennt. Die
Strafweise selbst also gehört wesentlich zu den ernstesten Gegenständen
der Strafwissenschaft, und die ganze Lehre vom Verbrechen ist eine
haltlose, kömmt nicht die Lehre vom Verbrecher dazu; die Lehre vom
Princip des Strafrechts ist eine ungedeihliche Speculation, reiht sich nicht
die Lehre von der Bestrafung und der Psychologie des Verbrechers
daran"137.
Um dem Mangel wissenschaftlicher Behandlung und praktischer Ver-
mittlung jener Materie abzuhelfen, schlug Lieber vor, „Lehrstühle der
Strafkunde oder Poenologie zu errichten, d. h. des Zweiges, der sich mit
der Strafe selbst und dem Sträflinge beschäftigt". „Die Lehrer der
Strafkunde sollten vor Allem praktische und wissenschaftliche Leute

134
Lieber (Fn. 10), S.33.
135
Lieber (Fn. 10), S.34.
136
Lieber (Fn. 10), S. 34. Diese Überlegungen erinnern an Franz von Liszts - spätere -
Forderung, den Inhalt, d. h. die Ausgestaltung der Freiheitsstrafe(n) (reichs-)gesetzlich zu
regeln. Dazu Müller-Dietz, Das Marburger Programm aus der Sicht des Strafvollzugs.
ZStW 94 (1982), S. 599-618 (611).
137
Lieber (Fn. 10), S.35.
Franz Lieber - „Straf"- und „Gefängniskunde" 473

zugleich sein." Darunter verstand Lieber praxiserfahrene und theore-


tisch gebildete höhere Gefängnisbeamten oder -inspekteure, die Lei-
tungspositionen in der Verwaltung des Strafvollzuges einnehmen und
außerdem über einschlägige wissenschaftliche Qualifikationen verfü-
gen138. Jeder Jurist sollte gehalten sein, an ihren Lehrveranstaltungen
teilzunehmen. Auf diese Weise hoffte Lieber dem Fach selbst praktisch
wie theoretisch zu der diesem zukommenden Bedeutung verhelfen zu
können. „Die nöthige Wissenschaft der Strafkunde würde weiter ent-
wickelt und fortgebildet, und der Dünkel beseitigt werden, mit dem
jetzt Juristen die Strafe selbst und den Verbrecher, sobald er überwiesen
worden, gewöhnlich betrachten139."
Liebers Vorstellungen von der gleichsam „personalisierten" Aufhe-
bung der Trennung von Theorie und Praxis140 auf dem Gebiet der
Pönologie sind nicht Wirklichkeit geworden; es wäre auch sehr die
Frage, ob sie sich mit den Erfordernissen und Zwangsläufigkeiten einer
immer arbeitsteiliger und komplexer werdenden Gesellschaft hätten in
Einklang bringen lassen. Was aber auf jeden Fall weiterwirkte, sind die
Überlegungen zur wissenschaftlichen und praktischen Aufwertung der
Pönologie als theoretische Disziplin wie als Fach der juristischen Ausbil-
dung. Wenn jene lange Zeit so vernachlässigt gebliebene Materie heute
unter empirischem Vorzeichen im Rahmen der Kriminologie und unter
normativen Aspekten qua Strafvollzugsrecht Gegenstand wissenschaftli-
cher Forschung und Lehre ist, so dankt sie dies nicht zuletzt Franz
Lieber und den Impulsen, die von seiner Beschäftigung mit dem Straf-
wesen ausgegangen sind. Dies gilt ungeachtet der Skepsis, die mehr und
mehr der Freiheitsstrafe als einem sinnvollen und tauglichen Instrument
der Kriminalpolitik entgegengebracht wird.

138
Lieber (Fn. 10), S. 33 f. „Für den Staatsmann von Profession hat das Strafwesen
keine Lockung; es ist nicht glänzend, es bietet keine Carrieren. Stellt man also keine
höheren Beamten und Leute von Nachdenken und Würde bei diesem Fache an, so bleibt es
in den Händen untergeordneter Leute, die, was herkömmlich ist, ehrlich fortzupflanzen
fähig sind, aber nichts weiter, während die höheren Beamten, unter die das Strafwesen als
ein Nebenzweig gestellt sein mag, nur die formellste Geschäfts-Controlle darüber zu
führen im Stande sind" (S. 33).
1)9
Lieber (Fn. 10), S.34.
140Zu dieser Problematik etwa Müller-Dietz, Strafvollzug und Strafvollzugsdienst
heute. MSchrKrim. 50 (1967), S. 281-297 (281 f).
Denkweisen von „Poenologen"1 über die
Einzelhaft" um die Mitte des X I X . Jahrhunderts2
ALBERT KREBS

„Das Gefängnis will ich nicht zur Tortur


machen, also auch keine Einsamkeit stattfin-
den lassen, welche als Tortur wirkt. Ich will
kein „Mürbemachen" durch einsames Ge-
fängnis, sondern nur solche Einsamkeit, die
den Gefangenen vor moralischem Verderben
und vor dem Zusammensein mit nichtswür-
digen Subjekten schützt".
Karl Theodor Welcker (1790-1869) J

I.
Von der Entwicklung des Gefängniswesens seit 1777
bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts
Der Meinungsstreit um die Durchführung des Freiheitsentzuges in
Einzelhaft, Gemeinschaftshaft mit Schweigegebot oder einer Synthese
beider Formen, erreichte in der Geschichte der Kulturnationen gelegent-
lich des Ersten internationalen Kongresses für Gefängniswesen einen
Höhepunkt, der auch noch bei den Debatten gelegentlich des Zweiten
Kongresses spürbar wurde.
Im September 1846 tagte in Frankfurt am Main die erste internationale
„Versammlung für Gefängnisreform". Der im Druck veröffentlichte
Wortlaut der Verhandlungen ermöglichte allen Interessierten einen Ein-
blick in die damaligen Probleme, die Mentalität der Zeitgenossen und die
Durchführung des Freiheitsentzuges durch die jeweils in ihren Staaten
Verantwortlichen kennenzulernen und in der Theorie nachzuvollzie-

' Max Grünhut, Penal Reform, Oxford 1948, p. 60. Harry E. Bames, The evolution of
Penology in Pennsylvania, Indianapolis 1927, p. 174. Hans Jürgen Kerner, Pönologie, in:
Günther Kaiser, Hans-Jürgen Kerner/Fritz Sack/Hartmut Schellhoss (Hrsg.) Kleines Kri-
minologisches Wörterbuch, 2. Aufl., Heidelberg 1985, S.338.
2 Hilde Kaufmann, Die geschichtliche Entwicklung des Freiheitsstrafenvollzuges, in:
Kriminologie, Bd. III, Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977,
S. 209-216.
3 Karl Theodor Welcker, in: Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisre-
form zusammengetreten im September 1846 in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main
1847. Abgekürzt: Frankfurt a.M. 1846, S.109.
476 Albert Krebs

hen4. Der 1847 folgende Kongreß in Brüssel verstärkte diese Möglich-


keiten5.
Die allgemeine Entwicklung des Gefärigniswesens der Kulturnationen
hatte gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts einen Stand erreicht, der die
staatlichen und die gesellschaftlichen Kräfte zu eindeutiger Willensbil-
dung, was mit Gefangenen geschehen solle, herausforderte. Die „Auf-
klärung" wirkte sich aus.
Die Reformbewegung war zuächst verkörpert durch John Howard
(1726-1790) 6 den englischen Philanthropen, dessen Einfluß weit über
Europa bis nach Nordamerika reichte. Im Staate Pennsylvanien und im
Staate New York bildeten sich zwei Formen der Gefangenenbehandlung
heraus, die sich im Prinzip widersprachen. Das „philadelphische
System", der Einzelhaft bei Tag und Nacht, wurde vielerorts eingeführt,
um die nachteiligen Folgen vormals geübter Gemeinschaftshaft, das
heißt vor allem, der negativen Beeinflussung der Gefangenen unterein-
ander, zu unterbinden. Die Einzelhaft bot mancherlei Vorteile, sie
wurden vor allem in einem geordneten Vollzug durch die Trennung der
Anstaltsinsassen gesehen.
Die in Boston, für die im Staate New York gelegene Strafanstalt
Auburn gestaltete Vollzugsform mit Einzelhaft bei Nacht und Gemein-
schaftshaft bei Tage, versuchte die klar erkannten Nachteile solchen
Zusammenlebens der Insassen durch ein streng durchgeführtes Schwei-
gegebot mit harten Strafen bei Übertretung zu kompensieren7.
Auch in Europa fanden Howards Vorschläge Beifall. Von den Verant-
wortlichen wurden in den verschiedenen Ländern diese Systeme über-
nommen und versucht, eine dritte Form des Freiheitsentzugs, in einer
Synthese von Einzelhaft und von Gemeinschaftshaft zu einem „Klassifi-
kationssystem" durchzuführen. Rückfällige wurden von Nichtrückfälli-
gen getrennt, Merkmale der Ehrlosigkeit entschieden über eine Differen-
zierung im Vollzug, und Besonderheiten der Verbrechensmotive
bestimmten mildere oder strengere Behandlung. Es wurden damit indi-
viduelle Gesichtspunkte in die Gefangenenbehandlung eingebracht. -
Diese drei sich in Theorie und Praxis klar unterscheidenden Systeme
wurden nach den Orten, in denen sie erstmals praktiziert worden waren,

4 Frankfurt a.M. 1846, S. 8-10.


5 Débats du congrès pénitentiaire de Bruxelles, Session 1847, Bruxelles 1847. Abge-
kürzt: Bruxelles 1847, S. 5-11.
' Albert Krebs, John Howards influence on the Prison System of Europe with special
reference to Germany, in: John C. Freeman, Prisons Past and Future, London 1978,
p. 35-51.
7 Harry Elmer Barnes / Negley K. Teeters, The Pennsylvania and Auburn System of

Penal Treatment, in: New Horizons in Criminology, 2nd Ed., New York 1952,
p. 399-418.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts 477

bezeichnet, als: das philadelphische, das auburn'sche und das europäi-


sche (genfer) System 8 .
Auf dem Frankfurter internationalen Kongreß 1846 suchten einzelne
Teilnehmer in zum Teil heftigen und schonungslos geführten, aber
dennoch sachlichen Debatten, - wobei die von dem Münchner Strafan-
staltsdirektor Obermaier (1789-1885) angewandte Methode der Locke-
rung der Einzelhaft bei Aufhebung des Schweigegebotes in Vollzugsan-
stalten wiederholt zur Sprache kam - , die Probleme der Einzelhaft zu
klären 9 .
Bei dem Versuch, das damalige Geschehen, das Einberufen der Ver-
sammlung, die Einladung ihrer Teilnehmer, die Programmgestaltung,
den Ablauf der Sitzungen und die Auswirkung der Kongreß Verhandlun-
gen nach fast 140 Jahren nachzuvollziehen, begegnet der Berichterstat-
ter, wie bei jeder geschichtlichen Darstellung, der Schwierigkeit, den
Rahmen des Zeitgeschehens in seiner Bedeutung gebührend zu erfassen
und darzustellen, ohne das damalige Geschehen von dem bis heute
gewonnenen Standort aus zu werten.
Die politische Situation in Europa in der Mitte des X I X . Jahrhunderts
war ungewöhnlich angespannt. Die vorangegangenen Jahrzehnte zeigten
wohl die Energien auf zu einer Erneuerung, ja zu einem Umsturz der
gesamten Ordnung, zu einer Revolution. Der Julirevolution in Frank-
reich 1830 folgte u.a. die gewaltsame Loslösung Belgiens von den
Niederlanden. - Der Frankfurter Aufstand, die „Insurrection de Franc-
fort" vom 3. April 1833 war eine Verschwörung, die, wenn sie gelungen
wäre, eine allgemeine Revolution in Deutschland hätte bewirken sollen.
Für das hier behandelte Thema brachten diese Ereignisse unter ande-
rem neue Einsichten über den politischen Gefangenen, regten an über
Behandlung junger Straffälliger nachzudenken und forderten weiter auf,
zusätzliche Mittel zu suchen für die Behandlung erwachsener Rechtsbre-
cher beiderlei Geschlechts. So wurde z. B . auch die Forderung gestellt,
die Strafanstalten und ihre Insassen mit Privatpersonen zu besuchen, das
heißt, durch Bürger als Glieder eines „Aufsichtsrates" kontrollierend zu
wirken.
Die Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform
geben eindrucksvoll das Ringen um Klarheit, um die beste Methode der
Gefangenenbehandlung wieder. Auch der zweite Kongreß in Brüssel
läßt aus den gedruckten Verhandlungen die gleiche Tendenz erkennen 10 .

8 Hermann Kriegsmann, Einführung in die Gefängniskunde, Heidelberg 1912, S. 62.


' Frankfurt a,M. 1846, S.31, 123.
10 (Beschlüsse 1-8) Frankfun a.M. 1846, S. 271-273.
478 Albert Krebs

II.
Einzelheiten aus den Verhandlungen in Frankfurt am Main
und in Brüssel 1846 und 1847
Der Personenkreis, der an beiden Orten beteiligt war, gehörte zu der
Schicht europäischer Bildungsbürger, die sich für eine Erneuerung der
Gefangenenbehandlung einsetzte. Der Gedanke, Vertreter dieser
Schicht erstmals nach Frankfurt am Main zu einer Aussprache über
Gefängnisreform einzuladen, ging von dem Frankfurter Arzt Dr. med.
Georg Varrentrapp (1808-1886) aus. Durch medizinische Studien wäh-
rend seiner ausgedehnten Reisen in Belgien, Holland und England, auch
mit dem Problem des Freiheitsentzuges und seiner gesundheitlichen
Auswirkungen konfrontiert, erwachte sein Interesse an diesem Fachge-
biet. In der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main war er als Mitglied der
Gesetzgebenden Versammlung bald auch treibende Kraft zur Erneue-
rung des freistädtischen Gefängniswesens. Bei seiner Mitwirkung an der
Herausgabe der „Jahrbücher für Gefängniskunde . . . , " dem damals
führenden deutschen Fachorgan, vertiefte er seine Fachkenntnisse und
erweiterte auch seinen Freundes- und Bekanntenkreis, der auf diesem
Fachgebiet tätig wurde. — Als Liberaler, der sich an der gesamten
politischen Entwicklung beteiligte, erwirkte er mit Gleichgesonnenen
die Einberufung zu dem Fachkongreß nach Frankfurt am Main11.
Das Einladungsschreiben zu diesen Verhandlungen an die Fachwelt
aller Kulturnationen trug die Unterschrift von siebzehn für die Sache der
Poenitentiarreform übernational bekannten Fachkräfte. Die Bedeutend-
sten unter ihnen waren: der Belgier Ducpetiaux (1804—1868), Generalin-
spektor der Gefängnisse und Wohlfahrtsanstalten; der Hamburger Arzt
Dr. Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862)12, genannt der „deutsche
Howard"; der Präsident des Badischen Abgeordnetenhauses Prof. Dr.
Joseph Anton Mittermaier (1797-1867)", Rechtslehrer in Heidelberg;
der Franzose Moreau-Christophe (1799-1867), Generalinspektor der
Gefängnisse; der Generaldirektor der Gefängnisse in Großbritannien
Withworth Russell (1790(?)-1847); der „Holländische Howard" William

11 E.Roediger/T>t. med. Georg Varrentrapp, in: Allgemeine Deutsche Biographie,


Bd. 39, 1895, S. 5 0 0 - 5 0 2 . Alexander Spiess, Zum Andenken an Dr. Georg Varrentrapp.
Geh. Sanitätsrat und außerordentliches Mitglied des Kaiserlichen Gesundheitsamtes.
Nekrolog aus der Deutschen Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege, Braun-
schweig 1886, S . I - X I I .
12 Dr. med. Nikolaus Heinrich Julius, in: Albert Krebs/Nikolaus Heinrich Julius:
„Vorlesungen über die Gefängnis-Kunde" gehalten 1827 zu Berlin. Eine Studie, in: Albert
Krebs, Hrsg. von Heinz Müller-Dietz, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und
Theorie seit der Aufklärung, Berlin 1978, S. 123-136.
13 Prof. Dr. jur. Joseph Anton Mittermaier, in: Jürgen Friedrich Kammer, Das gefäng-
niswissenschaftliche Werk C. A.J. Mittermaier, jur. Diss., Freiburg i. Br. 1971, S. 161 ff.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 479

Suringar (1790-1872), Präsident der Niederländischen Gefängnisgesell-


schaft; der Rechtslehrer Karl-Theodor Welcker (1790-1869), Mitglied
der Abgeordnetenkammer Karlsruhe14. All diese Männer hatten bereits
ihre Bewährungsprobe bei Aufgaben in dem Fachgebiet bestanden und
waren zum Handeln für die Sache internationaler Gefängnisreform
berufen.
Nicht minder bedeutungsvoll waren die übrigen Teilnehmer an den
Frankfurter Verhandlungen. Die 45 Deutschen und 32 Nichtdeutschen
gehörten zu folgenden Berufsgruppen:15
Berufsgruppe Deutsche Nichtdeutsche Insgesamt

Advokaten 6 3 9
Ärzte 6 - 6
Baumeister 1 2 3
Gefängnisdirektoren 6 1 7
Mitglieder von
Gefängnisgesellschaften 1 5 6
Geistliche 5 4 9
Rechtslehrer 8 3 11
Richter 3 6 9
Ministerialbeamte 9 8 17

An dem Kongreß in Brüssel 1847 nahmen 196 Poenologen teil. Sie


stammten wiederum aus allen europäischen Kulturnationen und den
Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ihre berufliche Zusammenset-
zung entsprach in etwa der Zusammensetzung der Vertreter in Frankfurt
am Main 184616.
Zum Präsidenten der Versammlung von Frankfurt am Main wurde
durch Akklamation Prof. Mittermaier und zum Sekretär Dr. Varren-
trapp gewählt. Die zu Beginn der Verhandlungen erstatteten Lagebe-
richte von Vertretern dreier deutscher Bundesstaaten: Preußen (Dr.
N.H. Julius)-, Baden (E. v. Jagemann) und Nassau (Lindpaintner) und
die dann folgenden aus Polen (Graf Skarbeck), Dänemark (David),
Norwegen (Möinichen), Schweden (Netzel), Belgien (Ducpetiaux), Hol-
land (Suringar), England (Russell), Frankreich (Ardit), Italien (Mitter-
maier), Nordamerika (Dwight), Genf (Ferrière) und Rußland (Procbo-
row) ergaben ausreichenden Stoff zur Aussprache. Diese kreiste immer
wieder um die Kernfrage: „Einzelhaft", ihre Gestaltung, ihre Vorteile
und ihre Nachteile17. Bei den sich anschließenden Aussprachen traten in

14 Prof. Dr. jur. Karl Theodor Welcker, in: Heinz Müller-Dietz, Das Leben des
Rechtslehrers und Politikers K.Th. Welcker, Freiburg i.Br. 1968.
15 Frankfurt a.M. 1846, S.8f.

16 Bruxelles 1847, p. 5.

17 Frankfurt a.M. 1846, S.16ff.


480 Albert Krebs

Frankfurt am Main zwei Außenseiter besonders ins Blickfeld der Ver-


sammlung. Es waren dies: der Sekretär der Bostoner Gefängnisgesell-
schaft, Rev. Louis Dwight (1793-1854), der in seinem Referat über das
nordamerikanische Gefängniswesen zum Bedauern sämtlicher Teilneh-
mer nicht auf die Frage der beiden verschiedenen Vollzugsformen im
Staate New York und im Staate Pennsylvanien einging. Die Teilnehmer
hatten erwartet, daß Rev. Dwight als Vorkämpfer für das Prinzip der
Gemeinschaftshaft in seinem Heimatland auch für das auburn'sche
Prinzip eintreten würde. Er erwähnte es nur mit der Bemerkung: „das
auburn'sche System beruht nicht auf Peitschenhieben, es ist diese
Annahme ein großer Irrtum" 18 . Die Gründe für sein Schweigen ließen
sich nicht ermitteln. Auf dem Kongreß in Brüssel 1847 berichtete über
die nordamerikanischen Gefängnisse George Sumner aus Boston. Dabei
stellte er sowohl das philadelphische als auch das auburn'sche System
mit all' seinen Vor- und Nachteilen der Versammlung vor. Er endete mit
dem Satze: „Die Überzeugung von der Unfehlbarkeit des auburn'schen
Systems ist fast völlig verschwunden und das System der Trennung
gewinnt täglich mehr Anhänger"".
Der zweite Außenseiter auf dem Frankfurter Kongreß, der bereits
erwähnte Obermaier, der ebenfalls seine Methoden und sein „System"
nicht beschrieb, sondern nur gelegentlich sein Mißfallen an der Verhand-
lungsführung kundtat, verließ aus persönlichen Gründen die Tagung
nach der dritten Sitzung20. Seine zwei Jahre nach der Frankfurter Ver-
sammlung veröffentlichte Stellungnahme: „Die Verhandlungen über die
Gefängnisreform in Frankfurt am Main im September 1846 oder die
Einzelhaft mit ihren Folgen" 21 verfehlten ihre Wirkung. - Zahlreiche
Teilnehmer teilten in Frankfurt am Main zwar nicht seine Ansichten,
respektierten aber seine integre Persönlichkeit und seine hervorragende
Leistung im Strafvollzug an der Kaiserslauterer und Münchner Strafan-
stalt.
Während Obermaier beharrlich schwieg, schilderten Besucher der
von ihm geleiteten Anstalten ihre durchaus positiven Beobachtungen.
Sie kennzeichneten seine Methode mit den Schilderungen zweier Bege-
benheiten. Einmal war bekannt geworden, daß ein Gefangener eine
Meuterei anregen wollte. Obermaier ließ sämtliche Gefangene im
Anstaltshof antreten, um sich und den Meuterer einen Kreis bilden, und
wies diesen zurecht. - Der Gefangene „stand wie vernichtet da, und war

18Frankfurt a.M. 1846, S. 80.


" Bruxelles 1847, p.49.
20 Frankfurt a.M. 1846, S. 126.

21 Georg Michael Obermaier, Die Verhandlungen über Gefängnisreform in Frankfurt


am Main im September 1846 oder die Einzelhaft mit ihren Folgen, München 1848.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 481

von diesem Augenblick an gehorsam wie ein Kind und einer der
ordentlichsten Gefangenen". Ein zweites, noch stärkeres Beispiel wurde
ebenfalls gegeben. Gelegentlich eines Brandes in der Nachbarschaft der
Strafanstalt München ließ Obermaier die Inhaftierten eine Wassereimer-
kette zur nächstgelegenen Wasserstelle bilden und ordnete an: „so,
Kinder, löscht!". Die Gefangenen führten seine Weisung aus und kehr-
ten danach in die Anstalt vollzählig zurück22. - Trotz dieses Achtungs-
erfolges machte das System Obermaier nicht „Schule".
Die Aussprachen nahmen auf beiden Kongressen einen breiten Raum
ein und es herrschte unbegrenzte Redefreiheit. Die besonders interes-
sierten Poenologen wiederholten die Argumente, die für die Einführung
der Einzelhaft sprachen. Einwendungen wurden kaum erhoben. Bereits
am Ende der zweiten Sitzung der Frankfurter Versammlung faßten die
Teilnehmer folgenden Beschluß: „die Einzelhaft findet bei den Verur-
teilten im Allgemeinen ihre Anwendung mit all den Schärfungen und
Milderungen, welche durch die Art der Vergehen und der Verurteilun-
gen, durch die Individualität und Aufführung der Gefangenen bedingt
sind, - so daß jeder Gefangene mit nützlicher Arbeit beschäftigt werde,
jeden Tag in freier Luft sich Bewegung mache, religiösen, moralischen
und Schulunterricht erhalte, am Gottesdienst teilnehme, Besuche des
Geistlichen seines Glaubens, des Gefängnisvorstehers, des Arztes und
der Mitglieder der Aufsichtskommissionen und Schutzvereine, erhalte,
außer den anderen Besuchen, welche ihm durch die Hausordnung
gewährt werden können". Aus einem Vermerk geht hervor, die
Beschlüsse 1-3 und 5-8 sind teils einstimmig, teils fast einstimmig,
Beschluß 4 mit großer Mehrheit angenommen worden23. Welche Gegen-
stimmen oder Stimmenthaltungen zum 2. Beschluß erfolgten, ließ sich
nicht ermitteln.
Die noch folgenden 6 Beschlüsse befaßten sich mit Einzelfragen zum
Generalthema: Einzelhaft. Der 6. Beschluß warf besonders schwierige,
architektonische Probleme auf24.

III.
Die theoretischen Forderungen an die Durchführung der Einzelhaft im
Anstaltsalltag bedingten eine Denkweise, die zum Teil zu völlig wirk-
lichkeitsfremden Vorschlägen führte
Der fast einstimmig gefaßte 6. Beschluß lautete: „Die Zellengefäng-
nisse werden so erbaut werden, daß jeder Gefangene dem Gottesdienste
seines Glaubens beiwohnen, den Geistlichen, welcher den Gottesdienst

22 Frankfurt a. M. 1846, S. 126 f.


25 Frankfurt a.M. 1846, S. 112, 27.
24 Frankfurt a. M. 1846, S. 271 f.
482 Albert Krebs

verrichtet, sehen und hören und von ihm gesehen werden kann, alles
jedoch, ohne dem Grundprinzip der Trennung der Gefangenen vonein-
ander Eintrag zu tun". In der dem Beschluß vorangegangenen Ausspra-
che, und trotz ernster Zweifel an einer befriedigenden Lösung, wurde
die Entscheidung gefällt: das Prinzip der Einzelhaft müsse auch für die
Teilnahme am Gottesdienst verbürgt bleiben25. Diese Forderung führte
zwangsläufig zu wirklichkeitsfremden Denkweisen.
Die „Ruhezeit" als architektonische Aufgabe im Sinne der Einzelhaft
zu gestalten, war problemlos. Die Ausgestaltung der Schlafzellen, auch
zu Arbeitszellen, schränkte freilich die Auswahl der Arbeit, und damit
die Produktion von Wirtschaftsgütern ein. - Die Probleme mehrten sich
bei der vorgesehenen täglichen Bewegung der Gefangenen in „frischer
Luft" unter Beibehaltung der absoluten Trennung untereinander. Die
Frage, wie sollte diese Trennung bei Unterricht und beim Gottesdienst
unter den gestellten Bedingungen verwirklicht werden, barg kaum lös-
bare Probleme in sich. Ein Tagungsteilnehmer bemerkte nüchtern: „je
mehr wir die Einzelheiten der Fragen behandeln, desto mehr Schwierig-
keiten werden uns begegnen"26. Uber einige bei den Verhandlungen
angedeuteten Lösungsversuche sei kurz berichtet. Dabei hat, wie bereits
betont, der Historiker des Gefängniswesens ausschließlich die Aufgabe,
die Ergebnisse seiner Forschungen darzulegen, Zusammenhänge aufzu-
weisen, nicht aber Werturteile zu fällen.
Als Mittel zur Aufrechterhaltung absoluter Trennung beim Aufent-
halt außerhalb der Einzelzelle sahen die Experten die „Gesichtsmaske"
an. Diese Maske war eine Kopfbedeckung, die „vorne geschlossen und
nur für die Augen zwei Öffnungen hatte"27. Wohl in Anknüpfung an
diese Methode verwies der Kongreßteilnehmer Advokat von Baumhauer
aus Utrecht auf die Schrift von von Froriep über die „Isolierung der
Sinne" hin, in welcher künstliche Mittel angegeben werden, um alle
Sinne „zu stopfen oder auszuschließen"28. Von Baumhauer führte dazu
aus: „wir alle bezwecken nur ein System, ein sittliches, religiöses,
unterrichtendes," . . . bei Trennung der Gefangenen untereinander anzu-
wenden, und „dass eigentlich eine Meinungsverschiedenheit nur in

25 Frankfurt a.M. 1846, S.257.


26 Frankfurt a.M. 1846, S.231.
27 Frankfurt a. M. 1846, S. 248.

28 D. Ludwig Friedrich von Froriep, Über die Isolierung der Sinne als Basis eines neuen

Systems der Isolierung der Strafgefangenen. In der Königl. Pr. Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt am 5. März 1846 vorgetragen von D. Ludwig Friedrich v.
Froriep, des Ordens der K. Württembergischen Krone und des Großherzogl. S. Ordens
des weißen Falkens Ritter, Großh. S. Obermedizinalrat zu Weimar und der K. Pr.
Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Direktor (24 S.m.vier Tafeln)
Weimar, Druck und Verlag des Landes-Industrie-Comptoirs, 1846.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 483

Betreff der Art und der Anwendung der Absonderung besteht. Einige
bedienen sich des Stillschweigens, um die Gefangenen voneinander zu
trennen, andere der Mauern. Der Unterschied liegt also nicht im System,
sondern in der Methode. Die Ersten, um ihren Zweck zu erreichen,
verboten dem Gefangenen zu sprechen, sie beraubten den Menschen
seines edelsten Kleinods, der Sprache. Dem Gefangenen ward durch das
Stillschweigen eine Strafe auferlegt, die der Folter von Tantalus ähnelt.
Die Verteidiger des Schweigsystems wurden übrigens bald das Fehler-
hafte ihres eigenen Systems gewahr, die Gefangenen verstanden sich und
verkehrten schweigend miteinander durch Zeichen. Um das Schweigsy-
stem (nichts anderes als Isolierung durch die Sinne) zum höchsten Grad
der Vollkommenheit zu bringen, müßte man erst jede sinnliche Wahr-
nehmung, jede Mitteilung, mittelst der Sinne beseitigt haben. Daß eine
konsequente Durchführung dieses Systems dazu führen müßte, beweist
eine neulich erschienene Schrift des Herrn von Froriep, über die Isolie-
rung der Sinne, in welcher in vollem Ernste künstliche Mittel angegeben
werden, um alle Sinne zu stopfen oder abzuschließen. Ich brauche nicht
auf das Unpraktische dieser Absperrungstheorie weiter hinzuweisen,
man stelle sich nur die Stunden der Mahlzeit, des Gottesdienstes, des
Unterrichts, jeden Augenblick des Tages vor, wo der Gebrauch des
einen oder des anderen Sinnes unentbehrlich ist"29.
Ohne zu den Ausführungen des Advokaten von Baumhauer oder des
Herrn von Froriep Stellung zu nehmen, sei darauf hingewiesen, daß von
Froriep bemerkt: er sei bemüht gewesen, „diese Ideen über Sinnisolie-
rungen und deren Benutzung zur Isolierung von Strafgefangenen, an die
Regierungen mehrerer größerer Staaten gelangen zu lassen, mit der
Bitte, sie als Disziplinarstrafen einer Prüfung in Zucht- und Besserungs-
häuser unterwerfen zu lassen." Von Froriep fügte hinzu, er veröffentli-
che diesen Vortrag, „um durch ihn für meine Vorschläge öffentlich eine
unparteiische praktische Prüfung zu erbitten"30. Ob und mit welchen
Ergebnissen diese Prüfung erfolgte, war nicht zu ermitteln. - Im Ver-
handlungsbericht der ersten Versammlung für Gefängnisreform wird die
Methode der Isolierung der Sinne als Mittel der Durchführung der
Trennung bei Aufenthalten des Gefangenen außerhalb der Einzelzelle
weder kommentiert, noch nochmals erwähnt.
Die Suche nach praktischen Möglichkeiten der Aufrechterhaltung des
Trennungsprinzips nach Verlassen der Zelle bewegte die Fachleute in
dem infrage stehenden Zeitabschnitt in ungewöhnlichem Maße. Es
wurde auch auf verschiedene Weise versucht, eine Lösung für die
Trennung der Gefangenen bei Bewegungen an frischer Luft zu finden.

29 Frankfurt a.M. 1846, S.207.


30 v. Froriep, (S. Anm.28), S.4.
484 Albert Krebs

In dem ersten, nach dem Prinzip der Trennung erbauten Eastern Peni-
tentiary in Philadelphia, erdachten die Architekten folgende Möglich-
keit: Im Anschluß an jede Wohnzelle wurde, nur von ihr aus betretbar,
ein von Mauern in Höhe der Zellenwände umgrenzter kleiner Spazierhof
angebaut31.
Eine andere Form von „Erholungshöfen" in den Zellengefängnissen
mit streng durchgeführtem Isolierungssystem waren die im Freien lie-
genden radförmigen Räume, speichenartig voneinander getrennt, in der
jeweils ein Gefangener sich zu ergehen hatte. Der Berichterstatter, ein
Gegner dieses Prinzips, fährt fort, „trotzdem sich dieser Modus der
Bewegung bei vollständiger Isolierung nur schwer durch einen anderen
wird ersetzen lassen, so gibt er doch zu Bedenken Anlaß, daß der in
einem engen Räume wie ein wildes Tier in dem Käfig einer Menagerie
auf- und abwandelnde Gefangene seine Erholung nur in verkümmerter
Weise genießen werde" 32 .
Weitere Anforderungen an die Architekten stellten die Vollzugsprak-
tiker; sie wünschten bauliche Einrichtungen, bei denen während des
Unterrichts und während des Gottesdienstes das Prinzip der Trennung
der Gefangenen gewahrt blieb.
Die Aussprache hierüber in Frankfurt ward lebhaft und zum Teil
leidenschaftlich geführt, sie fand einen Abschluß in dem bereits erwähn-
ten 6. Beschluß. Besonders lebhaft setzten sich hierfür die französischen
Teilnehmer ein, wobei der Generalinspektor Moreau-Christopbe mit
brillanter Beredsamkeit die geistigen Grundlagen der architektonischen
Lösungen aufzeigte und daraus Folgerungen für deren Gestaltung zog.
Die erste Möglichkeit der Teilnahme am Gottesdienst, bei Wahrung der
Trennung, wurde wiederum im Eastern Penitentiary in Philadelphia
erprobt. Dort „wohnten die Sträflinge dem Gottesdienst und der Predigt
bei, ohne ihre Zellen zu verlassen und zwar vermittelst der halbgeöffne-
ten Türen und eines in der Mitte des Gefängnisses angebrachten Altars
und einer Kanzel. Diese Art des Gottesdienstes war in jeder Hinsicht die
einfachste, aber es fragt sich, ob sie auch in religiöser Beziehung die
beste ist? Für die Quäker in Pennsylvanien mag sie genügen", meinte
Moreau-Christophe, „für den katholischen Kultus ist sie unzureichend.
Der Quäker trägt seinen Tempel in sich selbst, der Katholik dagegen,
vielleicht weil er weniger religiös ist, legt Wert auf den Glanz äußerer
Zeremonien. N u r durch Vermittlung der Sinne wird die Religion seinem

31
H.E. Barnes/N.K. Teeters, (s. Anm.7), p.403 m. Abb. Eastern State Penitentiary.
The exercise yards, p. 404.
32
Prof. Kim, Sonstige Gefängnishygiene und die Krankenpflege, in: Franz v. Holtzen-
dorff/Eugen v. Jagemann (Hrsg.), Handbuch des Gefängniswesens, Bd. II, Hamburg
1888, S. 197 f.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 485

Herzen zugänglich. Er verlangt den Gesang geistlicher Lieder, das


Geläute der Glocken, er will das Spiel der Orgel hören, er braucht
Kreuz, Weihrauch, Paniere"".
Die zweite Form der Durchführung des Gottesdienstes im Sinne des
6. Beschlusses der Frankfurter Versammlung schien nach Moreau-Chri-
stophe mit der Einrichtung der Kapelle im Gefängnis Pentonville in
London verwirklicht." Die Kapelle ist nämlich da, so wie das Gefängnis-
gebäude in Zellen abgeteilt . . . , für den Gottesdienst ist also ein beson-
derer Raum hergestellt"34. Der Holländer Suringar bekannte: „am ver-
gangenen 2. August wohnte ich dem Gottesdienst in der Zellenkapelle in
Pentonville bei. Die Erinnerung an diese feierliche und ergreifende
Stunde wird mir ewig bleiben. Gegen 200 Gefangene saßen in den
amphitheatralisch gebauten Stühlen. Sie konnten sich einander nicht
sehen, aber alle sahen den Priester und wurden von ihm gesehen. Ich
saß auf einer Bank in der Nähe der Kanzel und konnte also alles
vollkommen beobachten . . . Nach dem Gottesdienste besuchte ich noch
Einige in ihren Zellen und fand sie in andächtiger Stimmung . . . Wenn
sie aus der Kirche herauskommen, setzt jeder eine Kopfbedeckung auf,
die vorne geschlossen ist und nur für die Augen zwei Offnungen hat. Ich
hatte anfangs einen gewissen Widerwillen gegen die Mütze und gegen die
Kapelle selbst, aber derselbe verschwand, als ich die Sache von nahem
betrachtete und sah, wie einfach es war. Eine solche Kapelle sollte in
jedem Gefängnis sein und zwar mit allen Verbesserungen, welche die
Fortschritte der Baukunst lehrt" 35 .
Noch eine dritte Form zur Teilnahme am Gottesdienst bei beständiger
Trennung der Gefangenen untereinander beschrieb wiederum Moreau-
Christophe unter bezug auf den anwesenden Konstrukteur, den Archi-
tekten Haron-Romain. „Stellen Sie sich, meine Herren, einen kolossalen
Bienenkorb vor, von der Form eines Kegels oder einer hohlen, runden
Pyramide. An seiner inneren Wand sind 450 Zellen angebracht, welche
rund um in fünf Reihen von je 90 Zellen in Art von Bienenzellenreihen
übereinanderliegen. Diese fünf Zellenreihen sind von fünf kreisförmigen
Baikonen begleitet und das ganze Gebäude durch eine enorme gläserne
Kuppel bedeckt. In der Mitte des durch den freien, mittleren Raum
gebildeten großen runden Hofes erhebt sich ein hoher Aussichtsturm.
Auf diesem steht der Altar, welcher von oben durch den gläsernen Dom
erleuchtet ist, unter demselben eine Orgel, deren feierliche Töne bis in
die Zelle jedes einzelnen Sträflings widerhallen. In der Höhe der zweiten
Zellenreihe sind vier Kanzeln an dem Turm angebracht, von denen aus

33 Frankfurt a.M. 1846, S.238.


34 Frankfurt a.M. 1846, S.254.
35 Frankfurt a.M. 1846, S.248.
486 Albert Krebs

jedesmal von einem Vierteil der in vier Abteilungen geschiedenen Gefan-


genen die Predigt und der Unterricht gehört werden kann" 36 .
Im Laufe der Aussprache wurden gegen die „Zellenkirche", das heißt
gegen die getrennten Sitze (stalls) und gegen die „Bienenkorbkirche",
Bedenken geäußert. Ganz allgemein wurde gefordert, eine Kirche müsse
durchaus nur als Kirche bestimmt sein. - Die in Deutschland im Laufe
der Entwicklung im XIX. Jahrhundert erbauten Vollzugsanstalten wur-
den sämtlich mit einem von den übrigen Räumen abgetrennten Kirchen-
raum ausgestattet. Bis Ende 1918 wurde vielfach bei Vollzug der Einzel-
haft auch die Einrichtung der „stalls" beibehalten 37 . Neben diesen archi-
tektonischen Problemen wurde eine weitere Anregung erwähnt, die
ebenfalls das System der Einzelhaft unter allen Umständen beibehalten
wollte, aber ihre Härte zu mildern versuchte. Prof. Hefter, Geheimer
Obertribunalrat, Berlin, warf die Frage auf, „wo ist denn die schlechte
Gesellschaft, in welche der Gefangene gebracht werden soll? Man kann
ihn in g u t e Geselschaft bringen, und es ist Sache der Verwaltung dafür
zu sorgen" 38 . Hefter erinnerte damit an das Grundprinzip; Einzelhaft
nicht um der Einzelhaft willen, sondern um der Trennung von schädli-
chen Einflüssen, ausgehend von der Gemeinschaft der Gefangenen. Das
schwierige Thema wurde von dem Belgier Ducpetianx aufgegriffen:
„nichts würde hindern, von Zeit zu Zeit diejenigen Gefangenen, welche
sich am besten betragen und unverwerfliche Beweise ihrer Besserung
gegeben haben, in die Gesellschaft der Angestellten des Gefängnisses
zuzulassen. Man könnte sie auf Abende abwechselnd zum Vorsteher, zu
dessen Gehilfen, zum Geistlichen, zum Lehrer und zum Arzt einladen.
Durch diese Herablassung würde man sie in ihren eigenen Augen heben
und teilweise ihre Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten" 39 .
Diese Frage, die eine Fülle von Problemen in sich barg, gehörte mit zu
dem Themenbereich der Anstaltsbesucher, der Aufsichtskommissionen,
der Schutzgesellschaften und der Gefängnisvereine, das heißt, der Mit-
wirkung gesellschaftlicher Kräfte am staatlichen Strafvollzug. Mit den
Vokabeln „schlechten" und „guten" Gefangenen mit „nichtswürdigen
Subjekten" wird, wie bereits erwähnt, das Thema berührt, das Präsident
Mittermaier in seiner Begrüßungsansprache bei Eröffnung der Ver-
sammlung 1846 kurz umschrieben hatte. Nach einem Hinweis auf die
Fortschritte der Naturwissenschaften und auf den Forscher Liebig, der

36 Frankfurt a.M. 1846, S.239.


37
Karl Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminal-
statistik und Kriminalpolitik, Stuttgart 1889, S.250. „stalls" s. „Kirche der Königlichen
Strafanstalt Moabit" Tafel 7.
38 Frankfurt a.M. 1846, S. 195.
35 Frankfurt a.M. 1846, S.205.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts 487

„eine solche geistige Revolution hervorgebracht habe", fuhr Mittermaier


fort: „Was brauchen wir denn? Wir müssen den Ärzten folgen, wenn
etwas Tüchtiges aus uns werden soll, müssen wir vor Allem die Natur
der Kranken, die Natur des Verbrechers studieren. Das war nun bisher
gleich fertig, man dachte sich ein paar Beispiele, nannte den Titel des
Verbrechens und sagte, mit welcher Strafe es belegt wird. Wir müssen
erst, wie die Arzte, die Krankheit und dann aber auch die Natur der
Heilmittel aufsuchen. Hier haben die neueren Arzte etwas Großes durch
ihre Zergliederung getan und sind zu ungeheueren Umgestaltungen
gekommen. Wir haben noch lange nicht die Natur der Heilmittel, die
wir anwenden wollen, studiert". Mittermaier wünscht eine Beratung
über die „Ursache, über die Natur eines Verbrechens, über die Natur
des Menschen" und er wünscht „über die Natur der Heilmittel Erfah-
rungen zu sammeln, um dann eine Analyse" dazu anstellen zu können40.
Haben damals die Poenologen die von Mittermaier aufgezeigten Pro-
bleme wirklich erkannt? Bei der Lektüre der beiden Kongreßberichte
wird der fachlich interessierte Leser in eine Atmosphäre des Aufbruchs
versetzt, die zugleich die Verantwortung für die Gesellschaft und für das
Geschick des Straffälligen spüren läßt. Die in den Berichten und Aus-
sprachen geäußerten Denkweisen nehmen stets Bezug auf den Menschen
im Freiheitsentzug mit seinen Besonderheiten, und zwar sowohl auf den
dem Strafvollzug Unterworfenen als auch auf den im Strafvollzug im
staatlichen oder gesellschaftlichen Auftrag Tätigen41.

IV.
Einige Denkweisen über die Auswirkungen der Einzelhaft in bezug auf
die Gefangenen und die Bediensteten in den Strafanstalten
In dem Programm für die Verhandlungen über Poenitentiarreform in
Frankfurt 1846 wurde das Thema: „Ist die getrennte Haft auch auf die
Weiber, Kinder und die angeklagten oder verurteilten Militärgefange-
nen" anzuwenden und in welchem Maße und mit welchen Milderungen
zur Aussprache gestellt. Weiter waren Verhandlungen über Schutzver-
eine und Rettungsanstalten für jugendliche Gefangene vorgesehen42.
Während der Frankfurter Versammlung wurde das Thema jugendliche
Gefangene aufgegriffen und beschlossen, die Verhandlungen zu diesem
Thema bis zum nächsten Jahre auszusetzen. „Ich bin der Ansicht, daß
die Frage in Betreff der unerwachsenen Missetäter, deren Besserung, die
Quellen vieler Verbrechen und der Uberfüllung unserer Strafhäuser

40
Frankfurt a.M. 1846, S. 19.
41
Frankfurt a.M. 1846, S. 123.
42
Frankfurt a.M. 1846, S. 7.
488 Albert Krebs

verstopfen würde, wie sie jetzt in allen Ländern stattfindet, zu wichtig


ist, um bereits in der gegenwärtigen Versammlung erwogen zu werden.
Es wäre besser, sie bis zu der Versammlung des nächsten Jahres aufzu-
sparen und unterdessen alles auf diese Frage Bezügliche zu sammeln, um
sie gehörig zu erörtern. Denn diese Fragen, welche die Lasteranfänge
berühren, sind nicht nur die wichtigsten, sondern auch die hoffnungs-
reichsten". Dies äußerte Dr. Julius, der „deutsche Howard". Und so
geschah es43.
Die in Brüssel hierüber geführte Aussprache war leidenschaftlich.
Auch die Probleme der Pariser „gamins", der „petits vauriens" wurden
aufgezeigt, stellvertretend zur Kennzeichnung der Notlage in den euro-
päischen Großstädten 4 4 .
Auf die Leistungen Johann Hinrich Wicherns im Rauhen Hause bei
Hamburg und auf die von de Metz in Mettray bei der Behandlung so
gefährdeter und geschädigter junger Menschen wurde hingewiesen. Das
„Familienprinzip", das Wichern im Rauhen Hause bei Hamburg anwen-
dete, fand besondere Würdigung, und es wurde alles vermieden, was das
Rauhe Haus und Mettray als Zwangserziehungsanstalten erscheinen
lassen konnte 45 . Die „Familie" galt dort als der natürliche sittliche Kreis,
in welchem das Gute in das menschliche Gemüt hineingelegt, in wel-
chem es gepflegt und geschützt werden soll. Dieses Prinzip sollte die
Grundlage aller Rettungsanstalten, auch der landwirtschaftlichen Kolo-
nien für Minderjährige werden. In Brüssel wurde folgende erste Resolu-
tion gefaßt: Des maisons spéciales d'éducation correctionelle seront
affectées aux jeunes condamnés. Le régime auquel seront soumis les
détenus dans ces maisons sera combiné avec le système de l'emprisonne-
ment individuel appliqué dans les conditions les moins rigoureuses, avec
le placement des enfants dans les colonies agricoles ou leur mise en
apprentissage chez des cultivateurs, des artisans ou des industriels, et
l'intervention des sociétés de patronage" 46 .
Das Thema: die Behandlung der weiblichen Gefangenen wurde in
Frankfurt überhaupt nicht, in Brüssel nur kurz erörtert, und dabei auch
zu klären versucht, welche Stellung Elizabeth Fry, „the Newgate Angel"
(1780-1845) zur Einzelhaft einnahm. Der Sekretär der niederländischen
Gefängnisgesellschaft Mollet, der bereits am Frankfurter Kongreß teilge-
nommen, und dort gegen das auburn'sche und gegen das genfer System,
für das System der völligen Trennung, gesprochen hatte, berichtete in
Brüssel über sein Gespräch mit Elizabeth Fry kurz vor deren Tod. Frau
Fry habe beklagt: „die langdauernde Einsamkeit (solitude) mache die ihr
43 Frankfurt a . M . 1846, S . 2 6 5 .
44 Bruxelles 1847, p. 6 5 - 6 7 , 78.
45 Bruxelles 1847, p. 8 5 - 8 7 .
46 Bruxelles 1847, p. 180.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des X I X . Jahrhunderts 489

Unterworfenen krank". Er habe dazu geäußert: „die Einsamkeit sei


keine absolute, da der Gefangene täglich Besuche empfangen könne".
Abschließend habe Frau Fry erklärt: „eile approuverait de tout son cœur
le sytème, persuadée qu'il est impossible, dans le régime de la commu-
nauté, qu'aucun prisonier se transforme jamais complètement" 47 . Die
nicht erfolgte Aussprache über Behandlung von Frauen „in der Einzel-
haft" ist mit der Auffassung zu erklären: die aufgestellten Prinzipien und
die angestellten Denkweisen sollten für beide Geschlechter gelten. In
diesem Zusammenhang ist weiter festzuhalten, daß an den Verhandlun-
gen in Frankfurt am Main keine, an denen in Brüssel eine Frau teilnahm.
Zu dem 1846 öffentlich bekanntgegebenen Programm gehörte nicht
die Behandlung der Haftart für „politische Gefangene." Erst im Laufe
der Verhandlungen kam darauf die Rede. Wortführer in dieser Ausspra-
che war zunächst der belgische Generalinspektor Ducpetiaux, der
bekannte: „ich selbst habe vor einigen Jahren als politischer Gefangener
die Härte des Gefängnisses erfahren. Man hat mich der Folter der Zelle
und der absoluten Vereinzelung unterworfen, und ich bediene mich des
Wortes Folter mit Absicht. Die Folter bestand für mich in der Trennung
von meinen Mitgefangenen, die mit mir für die nationale Sache gestritten
hatten. Man hat mich bedroht . . . , mich in die gemeinschaftlichen Säle
der gewöhnlichen Verbrecher zu bringen, und diese Drohung ist mir
entsetzlicher gewesen, als selbst die absolute Vereinsamung" 48 . - Eine
weitere Erfahrung aus der Zeit der Julirevolution in Frankreich im Jahre
1830 brachte Moreau-Christophe, der frühere Generalinspektor der
Gefängnisse des Seine-Departements, in die Aussprache ein. „Oft waren
(damals) die Gefängnisse überfüllt mit Carlisten, Buonopartisten, Repu-
blikanern, oft war es der einzige Punkt, wo die Parteien, welche früher
gar keine Berührung miteinander gehabt hatten, sich fanden, sich ver-
ständigten und sich die Hand reichten zu gemeinsamen Unternehmun-
gen"49. Damit standen sich in Frankfurt zwei Auffassungen gegenüber.
Die eine wünschte Einzelhaft auch für politische Gefangene, die andere
eine Ausnahmebestimmung für diese Gruppe. - „Wir haben den großen
Grundsatz der Einzelhaft festgestellt, wir haben ihn angenommen mit
allen Milderungen, die für nötig beachtet werden können, dies muß uns
genügen, darauf müssen wir uns beschränken" 50 . Dieser mehrheitlich
vertretenen Auffassung fügte sich die Minderheit. Solche Kompromisse
sind kennzeichnend für die gesamte Haltung der Teilnehmer an beiden
Kongressen.

47 Bruxelles 1847, p. 90.


48 Frankfurt a. M. 1846, S. 222.229.
49 Frankfurt a. M. 1846, S. 224.
50 Bruxelles 1847, p. S. 231 f.
490 Albert Krebs

Die von den Teilnehmern an den Kongressen in Frankfurt und Brüssel


zum Teil selbst miterlebte und geförderte Entwicklung des Prinzips der
Einzelhaft, das seinen Ausgang vom Quäkerstaate Pennsylvanien
genommen hatte, läßt dessen christlichen Hintergrund schon in der
Vokabel „Zelle" erkennen 51 . Mit daraus ist die Bedeutung der Stellung
des Strafanstaltsgeistlichen und auch die Anteilnahme der Kongreßteil-
nehmer bei Erörterung der architektonischen Probleme hinsichtlich der
Gestaltung der Räume für den Gottesdienst verständlich52. Gelegentlich
der Brüsseler Tagung bei Behandlung der Personalfragen wurde das
Werk der „régénération morale" betont und in diesem Zusammenhang
die Mitwirkung von „agents moraux" gefordert. Gegen die Stimmen von
zwei Teilnehmern beschloß die Brüsseler Versammlung folgende dritte
Resolution: „Ii est indispensable que le service intérieur des prisons
cellulaires soit réparti entre deux espèces d'agents: les agents moraux et
les agents matériels.
Il est utile que les agents moraux soient formés à cette mission par un
noviciat qui leur donne les conditions désirables d'instruction et de
dévouement à l'œuvre.
A cet effet l'État pourra appeler à concourir à l'œuvre de la réforme
morale des prisonniers, les associations religieuses et les sociétés de
patronage qui s'organiseront dans ce but.
Pour tous les besoins ordinaires de la vie, le service des cellules doit se
faire par les agents matériels dûment contrôlés; les communications
morales et religieuses des condamnés auront lieu régulièrement avec les
agents moraux chargés d'exercer, en même temps, une surveillance
douce et persuasive sur les détenus. Les moyens de correction jugés
nécessaires ne seront jamais employés que par les agents matériels.
Le directeur de la maison doit avoir le même pouvoir sur tous les
agents.
La surveillance spéciale des femmes détenues doit être en tous cas
confiée à des personnes de leur sexe"53
Diese Differenzierung in „agents moraux" und „agents matériels"
bedeutete keine Sensation bringende Feststellung. Folgerichtig schlössen
sich diesen Denkweisen die Überlegungen über die Mitwirkung kirchli-
cher Vertreter und weitergehender, die der religiösen Orden an. - Der
Erzbischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteier

51
H. E. Barnes, (s. Anm. 1), p. 84, 125, 129. - Gustav Radbruch, Die Einzelhaft kann
ihre religiöse, gleichviel ob quäkerische oder katholische Konzeption nicht verleugnen,
auch ihrer säkularisierten Gestalt innewohnt immer noch ein verborgenes Depot religiöser
Heilskräfte, in: Die Psychologie der Gefangenschaft. (Erste Veröffentlichung, in:
ZStGW.1911 (32) S. 339/354. - Abgedruckt in: ZStrVollz. 1952 (3) S. 143).
52
S. Kap. III. vorliegender Abhandlung.
55
Bruxelles 1847, p. 185.
Denkweisen über die „Einzelhaft" Mitte des XIX. Jahrhunderts 491

(1811-1877), dachte dieses Problem zuende und wünschte im Jahre 1858


die Trennung der hessischen Strafanstalten nach Konfessionen und die
Ubergabe der katholischen Strafanstalten an geistliche Korporationen. -
Vorangegangen waren die Forderungen des evangelischen Theologen
und Gründers des Rauhen Hauses bei Hamburg, Johann Hinrich
Wichern (1808-1881), die dort ausgebildeten Mitarbeiter sollten in preu-
ßischen Gefängnissen als Bedienstete tätig werden. - Die Pläne von
Wichern zerschlugen sich nach einem mißlungenen Versuch der Beschäf-
tigung seiner Mitarbeiter in der preußischen Strafanstalt Moabit54. - Die
Wünsche Kettelers wurden von der Großherzoglichen hessischen Regie-
rung nicht erfüllt55.
Auf die Bedeutung der Mitwirkung von Vertretern der Gesellschaft,
also nichtbeamteten Kräften, bei Überwachung des Freiheitsentzugs,
unabhängig von der jeweiligen Konfessionszugehörigkeit in „Aufsichts-
kommissionen" verwiesen die liberalen Vertreter einer zeitgemäßen
Gefängnisreform. So forderte der Präsident Mittermaier 1846 in Frank-
furt am Main in seiner Schlußansprache an die erste internationale
Versammlung als Krönung aller Bemühungen die Mitwirkung gesell-
schaftlicher Kräfte bei Erfüllung der Vollzugsaufgaben. „Ich habe noch
einen Wunsch. Nichts ist es mit allen unseren Beschlüssen, wenn nicht
eines geschieht. Wir müssen eine Masse tüchtiger Bürger haben, welche
als Glieder des Aufsichtsrates kontrollierend wirken, damit wahres
Vertrauen entstehen, damit nicht etwa eine einseitige Laune oder vorge-
faßte Meinung des Direktors eine Härte übt. Wenn es dahin kommt, daß
die edelsten Bürger Mitglieder solcher Aufsichtsräte werden, - und der
Geist, der bei Gott im Deutschen lebt, der Geist der Gemütlichkeit
spricht dafür, daß Männer sich finden, die kein Opfer scheuen, - dann
wird es besser werden. Die Zeit ist ernst und wird immer ernster, der
Opfer werden viele gefordert werden"56.
Die Verhandlungen in Brüssel 1847 lassen erkennen, daß die Themen-
stellung sich nach der Frankfurter Versammlung 1846 erweiterte. Im
Sinne der Ausführungen Mittermaiers über „das Studium der Natur des
Verbrechers" sah das Tagungsprogramm für 1847 als letztes Verhand-
54
Max Busch, Der Erzieher bei Johann Hinrich Wichern. Eine Untersuchung zum
Berufsbild des Erziehers, phil. Diss. Frankfurt a. M. 1954, S. 135 ff. Hermann Kriegs-
mann, (s. Anm. 8), S. 74.
55
Ernst Emil Hoffmann, Das Gefängniswesen in Hessen. Seine geschichtliche Ent-
wicklung und jetzige Lage, iur. Diss., Gießen 1900, in: Blätter für Gefängniskunde,
Bd. 33, 1900, Sonderheft, S.26.
56 Frankfurt a.M. 1846, S.276. - Albert Krebs, Der „Anstaltsbeirat" (§§162 bis 165

StVollzG). Eine sozialgeschichtliche Studie über das Mitwirken gesellschaftlicher Kräfte


bei dem staatlichen Vollzug der Freiheitsstrafe, in: E. W. Hanack /P. Rieß/ G. "Wendisch
(Hrsg.), Festschrift für Hanns Dünnebier zum 75.Geburtstag am 12.Juni 1982, Berlin/
New York 1982, S.707f.
492 Albert Krebs

lungsthema die Behandlung der Frage vor: „Quelles sont les causes
principales de la criminalité et de l'augmentation du nombre des offenses
et des récidives? A quels remèdes convient-il de recourir pour prévenir
celles-ci, ou, du moins, pour en diminuer le nombre57?

V.
Zur Weiterentwicklung der Probleme des Freiheitsentzuges
Die Voraussage Mittermaiers bei seiner Frankfurter Schlußansprache:
„die Zeit ist ernst und wird immer ernster, der Opfer werden viele
gefordert werden" erwies sich als richtig.
Vor allem bedingt durch die deutsche Revolution 1848/49 konnte die
auf der Brüsseler Tagung für 1848 vorgesehene dritte Zusammenkunft
der Poenologen erst 10 Jahre später zur Fortsetzung der Erörterung über
„Einzelhaft" und andere Haftfragen einberufen werden58.
Die Berichterstattung über die Beratungen der dritten Sektion „Con-
grès international de bienfaisance de Francfort-sur-le-Mein. Session de
1857" über „réforme pénitentiaire" läßt schon in der Bezeichnung des
Kongresses den Wandel seiner Zielsetzung gegenüber den beiden voran-
gegangenen Versammlungen in Frankfurt am Main 1846 und Brüssel
1847 erkennen. - Eine Berichterstattung über seinen Verlauf und vor
allem seine Bedeutung, der Denkweisen zum Problem der Einzelhaft
und anderen Fragen des Freiheitsentzuges würden den Rahmen der
vorliegenden Abhandlung sprengen. Eine besondere Studie hierüber
wird zu gegebener Zeit vorgelegt59.

57 Bruxelles 1847, p. 16.


58 Congrès international de bienfaisance de Francfort-sur-le-Mein. Session de 1857.
Tome I. Francfort-s. M., Bruxelles, Gand, Leipzig 1858.
59 Die Studie: Albert Krebs, Die Verhandlungen der ersten internationalen Versamm-
lung für Gefängnisreform, zusammengetreten September 1846 in Frankfurt am Main,
erschien - nach Fertigstellung der vorliegenden Studie - in: Festschrift für Günter Blau
zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1985, Hrsg. von H.-D. S c h w i n d / U . B e r g / R . D .
Herzberg/G. Geilen/G.Warda. Berlin/New York 1985, S.629-650.
Die Bestimmune der Tatschuld und Bemessung
der Strafe nach der vom Täter entwickelten
„kriminellen Energie"
Ein Beitrag zur Entfernung pseudo-kriminologischer Begrifflichkeit
aus dem Strafrecht

MICHAEL WALTER

I.

Mit dem Verhältnis der Kriminologie zum Strafrecht hat sich Hilde
Kaufmann wiederholt beschäftigt. Diesem Thema widmete sie insbeson-
dere ihre vielbeachtete Bonner Antrittsvorlesung1, bei der sie folgende
Position bezog:
Gemeinsamer Ausgangspunkt für Kriminologie und Strafrecht sei der
verantwortlich handelnde Mensch. Kriminologische Forschung untersu-
che Anlagen und Umwelt des Täters, mithin die verschiedenen krimino-
genen Faktoren. Doch erhebe sie nicht den Anspruch, damit schon alle
Bedingungen einer Tat zu erfassen. Vielmehr werde die grundsätzliche
Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln, von der das Straf-
recht ausgehe, seitens der Kriminologie anerkannt. Die kriminologische
Behandlungsforschung ziele gerade darauf ab, die Fähigkeit zur verant-
wortlichen Selbstbestimmung zu entwickeln und zu festigen.
Diese Sicht dürfte zwar das inzwischen wesentlich weitere Spektrum
kriminologischer Forschung, zu dem Konstitutions- und Kontrollpro-
zesse von Kriminalität ebenso hinzugehören wie viktimologische
Aspekte, nicht mehr vollständig wiedergeben. Im Hinblick auf die
Grenzziehung zum Strafrecht erscheint die Position Hilde Kaufmanns
indessen unverändert gültig: Während die Annahme individueller Ver-
antwortlichkeit für ein Strafrecht eine notwendige Voraussetzung dar-
stellt, vermag kriminologische Forschung sie zu relativieren, ohne des-
wegen jedoch im Ausgangspunkt abzuweichen. Die Grenzlinie beider

1 Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: J Z 1962, S. 193 f; zur Vor- und

Nachgeschichte dieser Fragestellung vgl. Neumann u. Schroth, Neuere Theorien von


Kriminalität und Strafe, 1980, S. 1. Offenbar verleitet die Attraktivität, die dieser provo-
zierenden Formulierung eigen ist, zu immer neuen, wenn auch thematisch abweichenden
Varianten, s. Schüler-Springorum: Was läßt der Strafvollzug für Gefühle übrig?, in:
Festschrift für Blau, 1985, S.359f.
494 Michael Walter

Wissenschaften liegt weder im Ausgangspunkt noch im Forschungsge-


genstand, sondern in den Erkenntnisinteressen und Methoden. Wenn
die anschließenden Ausführungen Probleme der Bestimmung individu-
eller Verantwortlichkeit aufgreifen, markiert den Scheidepunkt der
Begriff der Tatschuld, der unmißverständlich das strafrechtliche Verar-
beitungsinteresse anzeigt. Kriminologische Theorie kann sich auf ent-
sprechende Begriffe nicht einlassen, sie nur „respektieren" 2 . Kriminolo-
gische Befunde erweisen höchstens einzelne empirische Grundannah-
men, auf die das Strafrecht als sozialgestaltendes Recht zurückgreift, als
unhaltbar.
Da Theorien und Begriffe von wissenschaftlichen Erkenntnisinteres-
sen und Methoden abhängen und diese, wie gesagt, bei strafrechtlichen
und kriminologischen Fragestellungen verschieden sind, müssen
Begriffe, die einerseits in straf(maß)begründenden Kontexten verwendet
werden, aber andererseits in einem kriminologischen Gewände einher-
kommen, einen gewissen Argwohn hervorrufen. Der folgende Beitrag
befaßt sich mit einem solchen Grenzgänger, dem Begriff der kriminellen
Energie. Der Text schließt an eine frühere Arbeit an3 und geht der Frage
nach, ob der Begriff der kriminellen Energie innerhalb der strafrechtli-
chen Dogmatik und dort zur Bestimmung der Tatschuld und Bemessung
der Strafe eine legitime Funktion erfüllt. Anknüpfend an Hilde Kauf-
manns Koexistenzthese versucht der Beitrag, eine schon traditionelle
Vermengung von Kriminologie und Strafrecht durch eine Rückbesin-
nung auf die strafrechtliche Eigenbegrifflichkeit aufzuheben sowie das
Gefahrenpotential dieses Mischbegriffs der kriminellen Energie aufzu-
zeigen.

II.
1. Wie eine Musterung des Schrifttums deutlich macht4, spielt bisher der
Begriff der kriminellen Energie im Rahmen von Tatschulderwägungen
eine ganz erhebliche Rolle. Mit dem Hinweis auf unterschiedliche
Ausmaße krimineller Energie hat zunächst das Bundesverfassungsgericht
zwei problematische Regelungen des materiellen Strafrechts für verfas-
sungskonform erklärt, nämlich die generelle Heraufsetzung der Min-
deststrafe auf 6 Monate bei einem Rückfall gemäß § 48 Abs. 1 StGB 5

2 Vgl. Hilde Kaufmann, (Fn. 1), S. 196, die insoweit allerdings noch weitergehend eine
„Harmonie" zwischen Strafrecht und Kriminologie behauptet.
3 Läßt sich der Handlungsunwert an der aufgewendeten „kriminellen Energie" ermes-

sen?, GA 1985, S. 197 f.


4 Herrn Assessor H. Geiter danke ich auch an dieser Stelle für umfangreiche Zuarbeit

und kritisch-anregende Gespräche.


5 S. BVerfGE 50, S. 125 f (134).
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 495

sowie die Regelung der §§211, 21 StGB, die die Verhängung der
lebenslangen Freiheitsstrafe auch im Falle erheblich verminderter
Schuldfähigkeit zuläßt6. Die betreffenden Argumentationen spiegeln
zwar in allererster Linie den strafrechtswissenschaftlichen Stand, doch
ist weder die indirekt erteilte verfassungsrechtliche Unbedenklichkeits-
bescheinigung zu leugnen noch der darüber hinausweisende Umstand,
daß gerade der Gesichtspunkt der kriminellen Energie auserkoren
wurde, die Verfassungsmäßigkeit zu stützen.

2. Betrachtet man die Formulierungen des positiven Rechts, fällt sogleich


§46 Abs. 2 StGB ins Auge, der für die Strafbemessung unter anderem
den bei der Tat „aufgewendeten Willen" als beachtenswert (genau: als
„namentlich in Betracht kommend") bezeichnet. Die gängigen Kom-
mentierungen zu dieser Bestimmung verweisen auf die Bedeutung der
Nachhaltigkeit des Willens für die Ermittlung der kriminellen Energie7.
Stree spricht von einem „neuen Kriterium für die Strafzumessung" 8 ,
doch war dieser Aspekt auch bereits vor Schaffung des § 46 StGB und
des früheren § 13 StGB rechtlich anerkannt'. Hier erreicht der Begriff die
wohl größte Nähe zum inzwischen geschriebenen Recht. Allerdings
handelt es sich, wenn man der Kommentierung folgt, nicht um eine
abschließende Verortung der kriminellen Energie im allgemeinen Straf-
zumessungsrecht, denn mit dem fraglichen Terminus wird ebenfalls zur
Erläuterung anderer in §46 Abs. 2 StGB aufgeführter Gesichtspunkte
gearbeitet10.
In Beiträgen, die sich der schwierigen Aufgabe stellen, die praktizier-
ten Grundsätze der Strafbemessung der Fachwelt näherzubringen, ist
kriminelle Energie ein wiederkehrender Merkposten von anhaltender
Aktualität". Aufschlußreich erscheinen daneben Detailanalysen, die
zugleich etwas über die quantitative Verbreitung entsprechender Argu-
mentationsfiguren aussagen. So ermittelte eine Untersuchung über die

6 S. BVerfGE 50, S. 5 f (13).


7 S. schon den Text in GA 1985, S. 198.
« Schönke/Schröder/Stree, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1985, § 4 6 Rdn. 16.
9 S. insbes. K.Peters, Praxis der Strafzumessung und Sanktionen, in: Krim. Gegen-
wartsfragen, Heft 10, hrsg. v. Göppinger u. Hartmann, 1972, S.52 u. 53; vgl. a. den dort
abgedr. Beitrag von Leferenz (S. 19 u. 26); eine exemplarische Zusammenfassung der
vorgesetzlichen Strafzumessungsrechtsprechung gibt Jagusch, Die Praxis der Strafzumes-
sung, systematische Darstellung der Strafzumessungsgründe anhand der höchstrichterli-
chen Rechtsprechung, Sonderausgabe aus dem LK, 8. Aufl. 1956, B IV 5.
10 Z. B. zur Erfassung belastender oder entlastender Umstände bei der Ausführung der

Tat, s. LK-G.Hirsch, 10. Aufl. 1985, § 4 6 Rdn.45, oder zur Einschätzung des Verhaltens
nach der Tat, s. Hertz, Das Verhalten des Täters nach der Tat, 1973, S. 65 u. S. 107.
11 S. etwa die Berichte von Mösl in der NStZ, z . B . 1981, S. 132 u. 133; 1983, S. 164;

1984, S. 162 u. S. 492.


496 Michael Walter

Strafzumessung beim Bankraub' 2 , daß von 348 Verurteilungen 141


Aussagen zum „Ausmaß der verbrecherischen Energie" enthielten
( = 40,5 %), wobei dieser Gesichtspunkt 122 Mal für eine Strafschärfung
und 19 Mal für eine Strafmilderung herangezogen worden ist13.
Die dortigen Angaben liefern nicht lediglich erste Anhaltspunkte über
die vorherrschende Richtung, in die derartige Strafzumessungserwägun-
gen weisen. Sie zeigen ebenfalls geradezu beispielhaft die Komplexität
des Gegenstandes, den es zu erörtern gilt: „Meist am Ende einer ganzen
Reihe einzelner Strafzumessungstatsachen wurde ein abschließendes
Werturteil über die vom Täter bewiesene Sozialschädlichkeit und
-gefährlichkeit, d.h. seine verbrecherische Energie, gefällt"14. Der
Begriff hat in der praktischen Anwendung demnach eine Sammelfunk-
tion. Seine Bedeutung strahlt auf verschiedene die Tatschuld betreffende
Momente aus, deren Fäden dann gebündelt werden. Zugleich aber
werden Gesichtspunkte der Gefährlichkeit erfaßt, die die Verhaltenspro-
gnose betreffen und präventive Überlegungen auf den Plan rufen. Der
Begriff ist in diesem Sinne sehr „flexibel". Es scheint sich um einen
Topos zu handeln, der recht unterschiedliche Einzelinhalte ab- oder
zudeckt und insbesondere im Klima einer unsicheren und ungeklärten
Strafzumessungsdogmatik gedeiht15.
3. Wie der Hinweis auf die Rechtsprechung zeigt, läßt sich die Bedeu-
tung eines rechtlichen Begriffs abgesehen von seinem innersystematisch-
dogmatischen Stellenwert auch an dem tatsächlich-praktischen Gebrauch
und den damit verbundenen Außenwirkungen ablesen. Dieser letztge-
nannte Gesichtspunkt thematisiert die Adressatenperspektive, besagt
also etwas zum Kommunikationsvorgang, durch den den Bürgern kri-
minelle Energie vorgehalten und solchermaßen vermittelt wird. Nicht
wenige dogmatische Konstrukte, wie etwa bestimmte scharfsinnige
Unterscheidungen zwischen positivem Tun und Garantenunterlassen
oder Abgrenzungen zwischen einzelnen Eigentums- und Vermögensde-
likten (deren Notwendigkeit und Wert nicht bestritten werden soll!)
gehen ja sehr wahrscheinlich an den Normadressaten vorbei, werden

12 Wolfram Lorenz, Strafzumessung beim Bankraub, 1972 veröff. i . d . Reihe: Krimino-


logie, Abhandlungen über abwegiges Sozialverhalten, hrsg. v. Würtenberger.
13 S. Lorenz, (Fn. 12), S . 3 9 ; diese Untersuchung bezieht sich zwar auf Strafakten, die
vor der Einführung des § 13 (und späteren § 4 6 ) bearbeitet worden sind (aus den Jahren
1964—1966), hat aber wegen der im Grunde gleichgebliebenen Rechtslage wenig an
Aktualität verloren; vgl. a. K.Peters, ( F n . 9 ) , S . 5 7 (betr. Betrug, Meineid u . a . Del.).
14 Lorenz, a. a. O .
15 So auch z. B . in Schweden, w o so gut wie keine gesetzlichen Strafzumessungsregeln
existieren und die regionalen Abweichungen im Strafmaß beträchtlich sind, vgl. Cornils,
Landesbericht für Schweden i . J e s c h e c k (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im
deutschen und ausländischen Recht, 1983, S. 781 f (809).
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 497

mithin „außen" gar nicht wahrgenommen. Zu diesem Kreis gehört der


Begriff der kriminellen Energie aber offenbar nicht, sondern er gehört zu
dem Vokabular, das Widerhall und Reaktionen auslöst und Schlagworte
abgibt. Das belegen zur Genüge Prozeßberichte in den Massenmedien,
die teilweise ganz unter den Stern der kriminellen Energie gestellt
werden. Verweise auf kriminelle Energie dürften mehr als andere rechtli-
che Begründungen den Zirkel einer eher esoterischen Fachlichkeit
durchbrechen und auch von Uneingeweihten interessiert aufgenommen,
wenn auch nicht unbedingt verstanden werden.
Eine gewisse Vorstellung von der individuellen Bedeutung, die die
„Feststellung" krimineller Energie für die Delinquenten und diejenigen
besitzt, die mit ihnen in Kontakt treten, vermittelte dem Verfasser eine
zufällige Begegnung mit einem Anstaltsgeistlichen. Der war zur Univer-
sitätsbibliothek aufgebrochen, um dort in kriminologischen Wörterbü-
chern eine nähere Definition der kriminellen Energie nachzuschlagen.
Nachdem er nicht hatte kundig werden können, weil zumindest die
gegenwärtige Kriminologie diesen Begriff nicht verwendet, trug er sein
Anliegen vor: Da in vielen Urteilen „seiner" Gefangenen deren beson-
dere kriminelle Energie hervorgehoben worden war, wollte er mehr über
diese Diagnose erfahren und mit seinen Schützlingen den betreffenden
Befund gemeinsam religiös-menschlich verarbeiten. Das Beispiel zeigt,
daß empirisch klingende Formeln unter der Autorität des Richter-
spruchs für Realität gehalten werden können und daß damit die vom
Etikettierungsansatz benannte Gefahr besteht, daß solche Einschätzun-
gen über einen justiziellen Herstellungsprozeß zu einer fatalen Wirklich-
keit im Sinne einer negativen Fremd- und Selbsteinschätzung werden.

III.
1. Soll es aber darum gehen, die Eigenbegrifflicbkeit des Strafrechts
hochzuhalten, erweist sich dann nicht gerade die kriminologische Absti-
nenz als unerheblich oder gar als wünschenswert? Die Antwort lautet
nein, weil Eigenbegrifflichkeit nicht als antiempirische Gegenwirklich-
keit mißverstanden werden darf. Soweit das Strafrecht auf empirisch
zugängliche Realitäten bezug nimmt, werden zwar die betreffenden
Begriffe wegen des normativen Verwendungszusammenhangs mit korre-
spondierenden Begriffen aus empirischen Theorien kaum identisch sein,
müssen sich jedoch an dem Erfahrbaren, das sie gestalten wollen,
ausrichten. Unter voller Anerkennung des normativen Regelungsbedarfs
sind als erstes die Notwendigkeiten zu klären, eine bestimmte Rekon-
struktion der Wirklichkeit vorzunehmen. Erst danach brauchen die
empirische Tuchfühlung und eine empirisch vertretbare Façon gesucht
zu werden. Im Hinblick auf unseren Gegenstand fragt sich daher
498 Michael Walter

konkret, ob vom rechtlichen Konzept aus überhaupt ein vernünftiger


Grund benannt werden kann, auf ein Modell zurückzugreifen, das, wie
es der Begriff der kriminellen Energie impliziert, mit der fragwürdigen
Vorstellung von der willensmäßigen Uberwindung angenommener Hin-
dernisse arbeitet16.
Um diese Überprüfung vorzunehmen und um dem Sujet möglichst
nahezukommen, werden anschließend zunächst die im Schrifttum
genannten Fallgestalten aufgeführt. Der Beitrag kann sich dabei auf
Konstellationen beschränken, in denen kriminelle Energie als Schuld-
merkmal verstanden wird. Es bleiben hier deshalb die Fälle mit einem
bereits gesteigerten Handlungsunwert insoweit ausgeklammert, wie die
Annahme einer erhöhten Tatschuld schon reflexhaft aus der verantwort-
lichen Ausführung der unwertigen Handlung folgt17.
Die Struktur des Begriffs, der, wie erwähnt, von unterschiedlich
hohen oder starken Hindernissen ausgeht, die willensmäßig übersprun-
gen bzw. überwunden werden, zeichnet eine Zweiteilung in dem Sinne
vor, daß Ausgangslagen mit herabgesetzten Hemmschwellen von Aus-
gangslagen mit heraufgesetzten Hemmschwellen unterschieden werden
können.
2. Die erstgenannte Fallgruppe, bei der eine besonders geringe krimi-
nelle Energie angenommen wird, betrifft insgesamt verschiedene For-
men und Grade einer Täterverführung. Der Sache nach werden zum
einen sozialpsychologische Phänomene wie Gruppendruck oder grup-
pendynamische Zwänge erfaßt, denen sich der Täter nicht entgegenge-
stellt hatte18. Solches Nachgeben, z.B. gegenüber dem Anführer einer
Gleichaltrigengruppe von Jugendlichen, wird als Kontrapunkt verbre-
cherischer Willenskraft angesehen. In der höchstrichterlichen Recht-
sprechung ist weiter anerkannt, daß etwa auch die Tatförderung durch
einen sogenannten V-Mann schuldmindernd für den „gelockten" Täter
wirkt", worin man gleichfalls das Zugeständnis geringerer verbrecheri-
scher Energie findet 20 . Als drittes bleiben schließlich die sonstigen Fälle
der bewußten oder unbewußten Tatförderung, vor allem durch das
Tatopfer, soweit sie nicht schon zur Annahme eines geminderten Hand-

" Vgl. meinen Beitrag, (Fn.3), S. 198.


17
Dazu s. die früheren Ausführungen (Fn. 3), S. 204 f.
18
S. z.B. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 176 u. 177; Preisen-
danz, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 1978, §46 A n m . 3 b ; vgl. a. LK-G.Hirsch, (Fn. 10), §46
Rdn. 71; vgl. a. d. kritischen Beitrag von Willi Schumacher in: N J W 1980, S. 1880 f.
" S. etwa B G H in: NStZ 1984, S.78f; B G H in: Strafvert. 1982, S. 221 f; O L G
Stuttgart in: M D R 1980, S. 1038.
20
S. Seelmann in: ZStW Bd. 95 (1983), S. 797f (819 u. 820) sowie a. Schönke/Schröder/
Stree, (Fn. 8).
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 499

lungsunwertes führen. Der Verletzte, ferner aber ebenso Dritte können


Tathemmungen beseitigen21; der Willensaufwand bei einem betrügeri-
schen Vorgehen soll beispielsweise wegen des nachlässigen Verhaltens
eines Finanzbeamten vermindert sein22.
3. Die meisten Fallgestalten, bei denen kriminelle Energie zur Erfassung
der Tatschuld bemüht wird, gehören freilich zur zweiten Fallgruppe.
a) Als besondere Barrieren, die mit Willenskraft überwunden werden,
stellt man sich zunächst bestimmte Pflichtigkeiten vor. Sie können aus
Ehrenämtern resultieren, etwa der Stellung als Vorstandsmitglied einer
evangelischen Kirchengemeinde, wenn der Täter gegen Grundsätze ver-
stieß, zu denen er sich in der Öffentlichkeit durch die Amtsübernahme
bekannt hatte23. In eine ähnliche Richtung weist eine spätere Entschei-
dung eines Oberlandesgerichts, das einem Arzt bei einer folgenlosen
Trunkenheitsfahrt den Strick weniger aus der Pflichtenkomponente,
sondern vorrangig aus einem „besonders guten" Wissen um alkoholbe-
dingte Ausfallerscheinungen gedreht hatte24. Ferner soll ein „verstärkter
gesetzwidriger Wille" am Werke sein, wenn gerade ein Arzt versucht,
zur Verschleierung einer vorausgegangenen Trunkenheitsfahrt die Blut-
proben zu vertauschen25. Obwohl die hervorgehobene Position in den
genannten Beispielen nicht mit der Tat in Verbindung stand, wurde die
Strafschärfung regelmäßig darauf gestützt, daß die mit den Amtern oder
Aufgaben verbundenen Pflichten dem Täter ein besonderes Ansehen
verliehen hätten, welches zu mißachten eine besondere Energieentfal-
tung vorausgesetzt habe26. Abgesehen von generalpräventiven Erwägun-
gen wird angenommen, daß beispielsweise ein „Richter als T ä t e r . . .
möglicherweise mehr innere Widerstände beseitigen muß als ein Bürger
in weniger spezifisch exponierter Stellung"27.

b) Hemmschwellen sind nach verbreiteter Auffassung nicht nur expo-


nierte Stellungen, ebenso gehört die Sorge um die eigene Existenz in der
Bundesrepublik Deutschland dazu. Diese Existenz aufs Spiel zu setzen,

21 S. schon Jagusch, (Fn. 9) B III 7 u. 7 a; vgl. jetzt etwa Schönke/Schröder/Stree,


(Fn.8).
22 Vgl. BGH bei Mösl in: NStZ 1983, S.494.
23 So BGH in: NJW 1961, S. 1591 f (Delikt: versuchte Abtreibung).

24 S. OLG Frankfurt in: NJW 1972, S. 1524f; hinsichtlich ähnlich gelagerter Fälle, die

nicht mehr eine den Handlungsunwert erhöhende Pflichtverletzung (in Ausübung


bestimmter beruflicher Tätigkeiten) betreffen, vgl. die Angaben bei Schönke/Schröder/
Stree, (Fn.8), §46 Rdn.35.
25 S. Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S.489 (Fn.2).
26 S. Bruns, (Fn. 25), S. 486 u. 487, unter Bezugnahme auf BGH bei Daliinger in: MDR

1957, S. 528.
27 S. SK-Horn, 3. Aufl. 1985, §46 Rdn. 73.
500 Michael Walter

indem man als Ausländer die spätere Ausweisung riskiere, sei ein
Ausdruck erhöhter verbrecherischer Energie 28 .
c) Vor allem wird angenommen, daß sich kriminelle Energie in einer
unerwünschten oder ausbleibenden Verarbeitung kriminalrechtlich ein-
schlägiger und eigentlich auch weniger einschlägiger Vorerfahrungen
äußere. Die inzwischen obsolete Rückfallvorschrift des § 48 StGB29 ist
nur die Spitze eines Eisberges, der Berg wird bleiben 30 . Ein früheres
Verfahren, das mit einem Freispruch endete 31 , unschuldig erlittene
Untersuchungshaft 3 2 , ein vorheriges Fahrlässigkeitsdelikt 33 wie natürlich
vorausgegangene vorsätzliche Delikte 34 werden allesamt als potentielle
Warnsignale verstanden, deren Überhören oder -sehen eine Willensstei-
gerung und damit eine Tatschulderhöhung im Sinne der allgemeinen
Zumessungsvorschrift des §46 StGB beinhalte. Bemerkenswert
erscheint das Gefälle, das hier zwischen der Theorie und der praktischen
Rechtsanwendung besteht. Es läßt sich aus der Kommentierung der im
Schrifttum oft erörterten Rückfallvorschrift des früheren §48 StGB
ersehen. Vom Ansatz her wurde regelmäßig auf den Wortlaut verwiesen
(„und ist ihm . . . vorzuwerfen, daß er sich die früheren Verurteilungen
nicht hat zur Warnung dienen lassen..."), der jede schematische Straf-
schärfung verbot 35 . Ging es aber schließlich um die Schwierigkeit, wie
denn der Richter die gesetzlichen Merkmale feststellen soll, las man
hilfreiche Hinweise wie den, daß beim Fehlen entgegenstehender
Umstände f ü r gleichartige Delikte von einer Vorwarnung auszugehen
sei36. Im übrigen hatte man eventuelle Probleme, die aus Fragen nach der
Realität der Warneffekte erwachsen könnten 37 , im Wege der Interpreta-
tion ausgeräumt. Vorausgesetzt wurde lediglich, daß der Täter die
Möglichkeit besessen habe, das vorherige Geschehen als Warnung zu
begreifen und sich in diesem Sinne motivieren zu lassen38. Damit stand

28
S. B G H bei Mösl in: NStZ 1981, S. 133, vgl. ferner Bruns, (Fn. 18), S.201 u. 202 u.
Schönke/Schröder/Stree, (Fn. 8), §46 Rdn.36.
29
S. 23.StrÄndG vom 13. April 1986, Art. 1, Ziff. 1 (in Kraft seit l . M a i 1986).
30
Abgetragen würde er am ehesten dadurch, daß man die bei § 48 vorgetragene Kritik
auf die Interpretation des §46 bezöge.
31
S. Bruns, (Fn. 18), S.227 u. S.285 u. 286 mit Hinw. auf die BGH-Rechtsprechung.
32
S. B G H bei Holtz in: M D R 1979, S.635.
33
S. Jagusch, (Fn. 9), B IV 7 b ff.
34
S. Lackner, Strafgesetzbuch, 16. Aufl. 1985, §46 A n m . 4 b) aa); B G H in: NStZ 1982,
S. 326.
35
S. insbes. BVerfGE 50, S. 125 f (137).
36
S. z.B. Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 42.Aufl. 1985, §48 Rdn. 10; LK-
G. Hirsch, (Fn. 10), §48 Rdn.36 Jescheck, Lb., 3. Aufl. 1978, S.718.
37
S. schon Stratenwertb, Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 17.
38
S. etwa Lackner, (Fn. 34), §48 Anm. 3 b) aa); eine weitere Ausdehnung ergäbe sich,
falls man mit einem sozialen Schuldbegriff eine mehr generalisierende Betrachtungsweise
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 501

die allenorts betonte Zurückhaltung im Ergebnis weitgehend nur auf


dem Papier39. Bei einer Berücksichtigung wiederholter Auffälligkeit im
Rahmen der allgemeinen Strafzumessung dürfte kaum eine größere
Zurückhaltung zu beobachten sein, im Gegenteil. Für die Delinquenten
sind also warnende Barrieren schnell gefunden, für die Rechtsanwen-
dung Schwellen strafrechtlicher Theorie schnell abgebaut.
Vor dem Hintergrund des Uberwindungsmodells lassen sich die mit
Energie überwundenen Hindernisse in den unter 3. a) bis c) aufgeführten
Fallgruppen als individuelle Stützen auffassen. Anders als andere Delin-
quenten werden - entsprechend der immanenten Logik - Menschen in
einer besonderen Pflichtenstellung, Menschen, die mit der Tat besonders
große Nachteile riskieren, und besonders gewarnte Menschen verstärkt
zur Normbefolgung angehalten. Sie haben so gesehen günstigere, weil
angeblich gefestigtere, Ausgangsbedingungen, die sie gewissermaßen zu
normtreuen Bürgern prädestinieren. Verstoßen sie dennoch gegen Straf-
vorschriften, müssen sie über ein persönliches kriminelles Potential
verfügen, das dann als kriminelle Energie bezeichnet wird.
4. Dieser Terminus findet aber auch noch darüber hinaus Anwendung.
Es gibt Fallgruppen, für die eine individuell höhere Hürde vor dem
Tatentschluß nicht benannt werden kann, bei denen es teilweise über-
haupt schwerfällt, ein größeres Hindernis, das überwunden wird, zu
umschreiben. Schon um zu vermeiden, daß die betreffenden Fallgestal-
ten durch die Einordnung in das bisher verwendete Einteilungsschema
interpretativ verfremdet werden, bietet es sich an, insoweit mit den
Begriffsverwendern auf eine besondere Beschaffenheit des Verhaltens-
entschlusses abzustellen, der regelmäßig durch eine Art überschießender
Innentendenz gekennzeichnet werden kann.

a) Zu dieser Fallgruppe gehört als erstes der Uberzeugungstäter. Dessen


Normverletzung stellt keine einmalige Entgleisung dar, sondern
geschieht in grundsätzlicher Nichtanerkennung des Geltungsanspruchs
der Norm. Sein Wille sei, da er sich aus einer inneren Überzeugung
herleite, besonders intensiv und lasse den Täter darum in erhöhtem
Maße schuldig werden40.

zugrunde legt und nach der Motivierbarkeit eines vorgestellten Durchschnittsmenschen


fragt, vgl. hierzu Krümpelmann in: GA 1983, S.337f.
39 Zur früheren Diskussion um die Reichweite des § 1 7 bzw. §48 s. insbes. Horstkotte
in: J Z 1970, S.152f.
40 S. Ebert, Der Uberzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975, S. 57; s. a.
Jagusch, (Fn. 9), B IV 3; diese Auffassung ist von der Rechtsprechung allerdings nicht
durchgängig und einheitlich zugrunde gelegt worden, vgl. dazu Baumann in: MDR 1963,
S. 87f (89, 90).
502 Michael Walter

b) Eine überschießende Innentendenz wird ferner darin gesehen, daß


der Täter zu bestimmten Zeiten gehandelt hat. Kriminelle Energie
verrate die „besondere Verschlagenheit" bei Nacht41, doch auch wer am
„lichten Tage" zu Werke geht, braucht darum nicht besser dazustehen,
weil gerade diese Unverfrorenheit „besonders dreist" sein könne42.
c) Häufig wird die kriminelle Energie auch aus der Eigenart des Hand-
lungsaktes selbst erschlossen.
Zunächst stellt man auf die Intensität des Vorgehens ab. Erfaßt
werden vor allem Fallgestalten, bei denen der Täter „doppelt genäht"
hatte, also beispielsweise drei gezielte Schüsse auf den Nacken seines
Nebenbuhlers abgegeben43 oder dem Opfer viele Messerstiche beige-
bracht und noch ein zweites Messer geholt hatte, nachdem das erste
ausgefallen war44. Unter den Gesichtspunkt der Intensität wären auch
Verhaltensweisen zu bringen, die als beharrlich oder hartnäckig bezeich-
net werden. Zu diesen gehört etwa das Festhalten an einer Falschaussage
trotz gerichtlicher Vorhalte und erneuter Ermahnung zur Wahrheit45.
Direkt oder mittels einer Indizkonstruktion werden hier aber ebenfalls
und gerade Sachverhalte herangezogen, die nach der eigentlichen Tatbe-
gehung eingetreten sind, wie die Sicherung der Vorteile der Tat46, die
Spurenbeseitigung47 und das Leugnen der Tat48. Ja sogar das prozeßtak-
tisch motivierte Geständnis vermag nach vertretener Ansicht eine „grö-
ßere verbrecherische Tatkraft" anzuzeigen, die dann das Schuldurteil
beeinflußt49.
Von Formen intensiver Begehung können extensive Handlungsweisen
unterschieden werden, die gleichfalls mit dem Begriff der kriminellen
Energie belegt werden. So hat. der Bundesgerichtshof die Annahme
„äußerst geringer krimineller Energie" als unvereinbar mit dem Befund
angesehen, daß der Angeklagte nahezu zehn Jahre lang seine Einnahmen
unvollständig verbucht und zu wenig Steuern entrichtet hatte50. Von den
Deliktsarten her gesehen spielt dieser Aspekt vor allem beim fortgesetz-
ten Delikt und bei Dauerdelikten eine Rolle. In beiden Fällen unterstellt

41 S. LK-G. Hirsch (Fn. 10), §46 Rdn.45.


42 Bruns, (Fn.18), S. 180.
43 S. BGH bei Böhm in: NStZ 1983, S.448.
44 Vgl. BGH in: NJW 1985, S. 870.
45 Vgl. BGH bei Mösl in: NStZ 1984, S.493.
46 Hertz, (Fn. 10), meint, sie könne eine „Verfestigung der kriminellen Energie im
Täter" bedeuten (s. S. 107).
47 S. BGH bei Haitz in: MDR 1977, S.982; vgl. a. LK-G.Hirsch, (Fn.10), §46
Rdn. 94; Schönke/Schröder/Stree, (Fn. 8).
48 Vgl. BGH in: VRS 22, 343 (345) u. BGHSt. 1, 105 f.

« Jagusch, (Fn. 9), B VI b.


50 S. BGH bei Mösl in: NStZ 1981, S. 132.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 503

man dann auch erwartungsgemäß einen stärkeren verbrecherischen Wil-


len51. Entsprechendes gilt, soweit bei kürzeren Geschehensabläufen das
„verbrecherische Wollen" über die verwirklichte Tat hinausging52.
d) Wenn mit der Intensität der Handlung die kriminelle Energie
zunimmt (und umgekehrt), ist es nur folgerichtig, in der Variante der
Begehung durch positives Tun, also in der Handlung überhaupt, mehr
kriminelle Energie wiederzufinden als in der des Unterlassens gemäß
§13 StGB 53 .

IV.
Eine Musterung der einzelnen Fallgestaltungen unter Tatschuldge-
sichtspunkten führt teils zu Ubereinstimmungen und teils zu Divergen-
zen mit den vorgetragenen Ergebnissen.
1. Für die erste Fallgruppe, die Verführungsfälle, leuchtet die Annahme
einer geminderten Tatschuld ein. Versteht man unter Tatschuld die von
der Warte eines sozialen Wertesystems aus gesehen vorwerfbare Bildung
eines Tatentschlusses, hängt die Begründung und ebenso das Ausmaß
der Tatschuld von der individuellen Entscheidungsfreiheit ab. Sie wird,
worauf schon der Wortlaut des Gesetzes verweist, durch ein bestimmtes
Minimum an Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bedingt, s. §§ 20 StGB
und 3 J G G . Sozialpsychologisch verständliche Verhaltensanreize, Ver-
führungs- und Drucksituationen beeinträchtigen zumindest die Autono-
mie der Verhaltenssteuerung. Unter der Voraussetzung, daß dieses real
erfaßbare Phänomen im Rahmen einer normativ-wertenden Beurteilung
als strafrechtserheblich angesehen wird, ergibt sich dann eine vermin-
derte Tatschuld, ohne daß dabei die Notwendigkeit entsteht, den Begriff
der kriminellen Energie zu bemühen. Um insoweit alle erwähnten
Fallgestalten einzubeziehen, muß man allerdings auch ungezielte und
unbewußte Angriffe auf die Steuerungsautonomie anerkennen, also
deren Beeinträchtigung durch unbewußte verführerische Handlungen
und objektive Arrangements für möglich halten. Das aber ist zwanglos
durchführbar, weil umgekehrt nicht einzusehen wäre, warum es für die
Handlungsfreiheit des Verführten darauf ankommen soll, inwieweit
andere einen solchen Effekt in ihre Vorstellungen und Absichten einbe-
zogen haben.
2. Aus der Perspektive dieses Ansatzes würden die vorne unter III. 3.
zusammengefaßten Fallgruppen eher durch das Gegenteil einer Beein-

51 Zusammenfassend Bruns, (Fn. 18), S. 177 f.


52 S. z . B . LK-G.Hirsch, (Fn. 10), § 4 6 Rdn.71.
53 S. statt vieler Jescheck, (Fn. 36), S. 496.
504 Michael Walter

trächtigung der Steuerungsautonomie charakterisiert sein. Die hervorge-


hobene soziale Stellung als Arzt oder Richter, die Sorge des Ausländers
um die weitere Existenz in der Bundesrepublik Deutschland und eine
besondere Warnung durch vorausgegangene justizielle Maßnahmen lie-
ßen sich als zusätzliche Stützen begreifen, die eine Orientierung an den
jeweiligen sozialen Werten erleichtern. Vom Schuldgrundsatz her zwin-
gend ist eine derartige Folgerung indessen nicht. Die Annahme einer
Beeinträchtigung der Steuerungsautonomie schließt nämlich nur die
Vorstellung einer vollständigen Autonomie ein, nicht aber die, daß es
noch jenseits der vollen Freiheit ein Mehr geben müsse.
Abgesehen vom Realitätsbezug, ob die Annahme entsprechender
Stützungen des Verhaltens nicht auf eine unvertretbare Fiktion hinaus-
läuft, stellt sich somit die Frage nach der rechtlichen Funktionalität
dieser Konstruktion. Zumindest im Hinblick auf die verschärfte straf-
rechtliche Haftung bei der Übernahme etwa kirchlicher Ehrenämter ist
sie offensichtlich nicht gegeben. Denn es ist schlichtweg nicht einzuse-
hen, warum jemand, der sich freiwillig für gemeinschaftliche Einrich-
tungen einsetzt und zur Verfügung stellt, bei gleicher Handlungsweise
mehr büßen soll als ein anderer, der ansonsten nur seinen eigenen
Interessen nachgeht54. Das gilt im Grunde sinngemäß auch für berufsun-
spezifische Delikte von Ärzten, außerdienstliche Vergehen von Richtern
und allgemeine Straftaten sonstiger sozialer Repräsentanten. Sie dürfen
wegen ihrer Stellung nicht privilegiert, aber andererseits auch nicht
härter bestraft werden55.
Unter Schuldgesichtspunkten dysfunktional erscheint auch die schär-
fere Bestrafung des Ausländers, der mit der Straftat seine Ausweisung
riskiert. Eine eventuelle Bereitschaft zur Selbstschädigung kann ja kaum
einen ausreichenden Grund liefern, das Maß vorab noch voller zu
machen56. Eine Straferhöhung ließe sich höchstens mit der äußerst
anfechtbaren Unterstellung einer geringeren Strafempfindlichkeit halten.
Auch die Berücksichtigung des Umstandes, daß möglicherweise eine
ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen wird, vermag eine höhere
Tatschuld nicht zu erklären, denn diese Auswirkungen wären solche der
strafrechtlichen und polizeilichen Reaktion, die nicht dem Delinquenten
angelastet werden können.
Hier wie vor allem bei der Rückfallschärfung wird offenbar, daß eine
Argumentation, die auf die Tatschuld abhebt, letztlich das Thema

54 Vgl. a. Arndt in: NJW 1961, S. 1591 u. 1592.


55 S. a. Hanack in: NJW 1972, S.2228.
56 Bei einem Beamten, der seine Entlassung riskiert hat, ist man - soweit ersichtlich -

noch nie auf die Idee gekommen, die Strafe zu schärfen. Im Gegenteil wird hier inzwischen
überwiegend die Auffassung vertreten, daß die Strafe wegen der beruflich-disziplinari-
schen Nachteile zu mildern (!) sei, s. Bruns, (Fn. 18), S.254 mit weit. Hinw.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 505

verfehlt. Geht es doch um die Befürchtungen oder Ängste, die wachge-


rufen werden, wenn staatliche Sanktionsdrohungen scheinbar nichts
fruchten: Erfüllen sich die Wirksamkeitserwartungen nicht, muß das am
gefährlichen Täterwillen liegen. Die Güte des Sanktionssystems wird
nicht angezweifelt. Die Art und Weise der Verarbeitung geht im Gegen-
teil in die andere Richtung, es wird „more of the same" verabreicht".
Dieser Gedanke ist kein tatschuldbezogener, sondern ein präventiver. Er
ist präventiv in dem Sinne, daß Prävention nicht lediglich mit einer
Schuldstrafe erstrebt wird, vielmehr wird die Strafbemessung selbst
schon von präventiven Erwägungen beeinflußt, wobei deren Qualität an
dieser Stelle nicht bewertet werden soll. Die ganze Konstruktion von der
erhöhten Tatschuld durch Mißachtung von Vorwarnungen hat allein
eine harmonisierende Funktion 58 und würde sofort fallengelassen wer-
den, könnten die obengenannten Befürchtungen und Ängste in einer
anderen Weise sozial bewältigt werden. Wir stoßen auf eine Leistung des
Begriffs der kriminellen Energie, die ihn so brauchbar macht, nämlich
die Verquickung von Tatschuld- und Präventionsgesichtspunkten. Dar-
auf wird später noch näher einzugehen sein.
3. Ein weiterer Fall, bei dem von Tatschuld die Rede ist, obwohl
Prävention gemeint wird, ist der des Uberzeugungstäters. Eine beson-
dere Intensität seines Willens ergibt sich erst, soweit man die Festigkeit
und Konstanz der Uberzeugung heranzieht, also ihr Fortbestehen in der
Zukunft und die Schwierigkeit, diesen Block aufzulösen oder auch nur
zu beeinflussen. Von der Gesinnung her handelt der Uberzeugungstäter
oft wertbewußter als andere Delinquenten. Die beim Uberzeugungstäter
anzutreffende Wertverschiebung dürfte regelmäßig weniger verwerflich
sein als die opportunistische Haltung derjenigen, die sich um eine soziale
Wertordnung nicht scheren. Die präventive Orientierung tritt auch
durch eine Explikation des mitgedachten Uberwindungsmodells hervor.
Der Überzeugungstäter setzt sich in actu über den Geltungsanspruch der
Norm wie jeder andere hinweg, er überwindet höchstens insofern mehr,
als er eine bestimmte normative Wertung grundsätzlich nicht anerkennt.
Das aber betrifft die Gefahrprognose, die Wahrscheinlichkeit weiterer
Normverstöße.
4. Während mit dem Begriff der kriminellen Energie bei den Figuren des
Rückfall- und des Überzeugungstäters eine Vermischung von Tatschuld-

57 S. insoweit Stratenwerth, (Fn.37), S. 18.


58 Im Hinblick auf den Erfolg des Unternehmens schreibt schon Zipf: „Unter Schuldge-
sichtspunkten ist es bis heute letztlich nicht geglückt, eine Strafschärfung wegen Rückfalls
mit einem ernstgenommenen Tatschuldprinzip zu harmonisieren". (Die Strafzumessung,
1977, S.93).
506 Michael Walter

und Präventionsaspekten erreicht wird, kommt bei den Tageszeitfällen


(III. 4. b)) noch eine zusätzliche Begriffsfunktion zum Vorschein. Der
Begriff schafft die Möglichkeit, dem Täter mit einer gewissen Beliebig-
keit böse Eigenschaften zuzuschreiben. Wagt er die Tat am Tage, ist er
dreist, handelt er im Schutze der Nacht, ist er verschlagen. Ist es am
relativ anständigsten, die Delikte morgens oder abends zu begehen? Die
Schwelle zum grundlosen Moralisieren und Phantasieren scheint endgül-
tig überschritten59. Legitim können derartige Unterscheidungen doch
nur sein, falls mit den genannten Begehungsmodalitäten etwas Gehalt-
volles zur Rechtsgutsgefährdung ausgesagt wird60. Eine höhere Tat-
schuld kann hier nur aus einem gesteigerten Handlungsunwert abgeleitet
werden.

5. Entsprechendes gilt für Fallgestalten, die durch die Intensität der


Verletzungshandlung gekennzeichnet sind. Die Intensität der Verlet-
zungshandlung beeinflußt regelmäßig das Ausmaß, die Wahrscheinlich-
keit oder die Geschwindigkeit eines Objektschadens 61 . Ist das ausnahms-
weise nicht so, wie bei affektiv-unrationalem Verhalten, z . B . einem
wahllosen Zuschlagen auf das Opfer, steht höchstens eine Schuldminde-
rung in Frage.
Grenzt man davon die Fälle ab, die oft als ein besonders hartnäckiges
Vorgehen charakterisiert werden, müssen zum Auffinden der richtigen
Lösung zwei Gesichtspunkte unterschieden werden. Die Hartnäckigkeit
kann einmal im Sinne einer konstanten Verbissenheit und Unbelehrbar-
keit verstanden werden, wie das für den genannten Fall des uneinsichti-
gen Zeugen (s. III. 4. c)) naheliegt. Dessen Unzugänglichkeit macht
kaum die konkrete Tat gefährlicher und ist analog der Situation beim
Uberzeugungstäter oder - im Hinblick auf gerichtliche Vorhalte und
Ermahnungen - analog der beim Rückfalltäter zu beurteilen. Insoweit
handelt es sich folglich um Momente, die aus präventiven Erwägungen
für erheblich gehalten werden. Zum anderen läßt sich eine erhöhte
Tatschuld aber auch unabhängig von solchen präventiven Gesichtspunk-
ten aus der Überlegung herleiten, daß ein Täter angesichts von Wider-
ständen seinen Tatentschluß aufrecht erhalten hat. Wir treffen im
Grunde auf die gleiche Sachstruktur wie bei der Unterscheidung zwi-
schen positivem Tun und Überlassen. Das Tun wie die Fortsetzung des
Tuns beeinflußt zunächst den Handlungsunwert62 und damit reflexiv
auch die Tatschuld. Will man indessen daneben noch eine gesonderte
Schuldabstufung vornehmen, kann das sehr wohl ohne Zuhilfenahme

59 Vgl. a. Maisch in: N J W 1975, S.566 (567).


60 S. des näheren meinen Beitrag in GA 1985, dort S.208.
61 S. Fn. 60.
62 S. Fn. 60.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 507

des Begriffs der kriminellen Energie erfolgen. Wer handelt oder wer
weiterhandelt, nutzt seine Handlungsfreiheit im Vergleich zur Unterlas-
sungsvariante umfassender, weil er über das Geschehenlassen und eine
eventuelle Resignation hinaus in ein Geschehen steuernd eingreift. Mit
dem stärkeren Mißbrauch der Handlungsfreiheit ist zugleich ein höheres
Maß an Schuld verbunden. Im Rahmen der Tatschuld muß mithin nur
neben dem eingangs thematisierten Ausmaß der Entscheidungsfreiheit
das Ausmaß der Nutzung der Handlungsfreiheit berücksichtigt werden.
Die Einbeziehung des Nachtatverhaltens in das Schuldurteil über
Indizkonstruktionen erscheint zumindest soweit bedenklich, wie bela-
stende Momente zeitlich rückverlagert werden, ohne daß dafür ein
stringenter Nachweis geführt wird. Die Annahme, der Täter sei, weil er
später Vorteile gesichert und Spuren beseitigt habe, von vornherein mit
besonderem Kalkül zu Werke gegangen, unterstellt eine Geradlinigkeit
des Verhaltens, die keineswegs gegeben zu sein braucht. Der Anteil, der
dem Begriff der kriminellen Energie an dieser fragwürdigen Konstruk-
tion zukommt, ist der einer Vereigenschaftung situativer Momente,
wodurch sich eine gewisse Dauerhaftigkeit trotz des Fehlens eines
ausreichenden empirischen Belegs leicht behaupten läßt. Im übrigen
betreffen umsichtige Planungen im Stadium der Tatbegehung ebenso wie
solche vor der Tatbegehung bereits den Handlungsunwert63. Ein geson-
dertes Schuldmoment könnte außerdem wiederum aus dem Gesichts-
punkt abgeleitet werden, daß ein berechnendes Vorgehen eine umfassen-
dere und somit in diesem Kontext vorwerfbarere Nutzung der Hand-
lungsfreiheit beinhaltet.
Die Berücksichtigung des Tatleugnens und sogar des prozeßtakti-
schen Geständnisses zeigt erneut die verdeckte Präsenz präventiver
Erwägungen an. Wer Schwierigkeiten macht, sich unzugänglich zeigt
oder als besonders raffiniert erscheint, bereitet Sorgen bezüglich seines
künftigen Legalverhaltens. Aber abgesehen von der Tatschuldferne sol-
cher Gedankengänge entstehen zusätzliche rechtsstaatliche Bedenken.
Die nachteilige Berücksichtigung eines Geständnisses, weil es nur aus
prozeßtaktischen Gründen abgegeben worden sei, würde, denkt man
diesen Ansatz weiter, letztlich auch dazu führen, daß die Wahl eines
Verteidigers als straferhöhend in Betracht käme.
Was schließlich die Variante extensiver Tatbegehung und den Ent-
schluß dazu anbelangt, kann auf das Vorstehende verwiesen werden.
Details nur der Deliktsorganisation sind unerheblich, es ist beispiels-
weise gleichgültig, ob die Beute in einer Fuhre abtransportiert wird oder
wegen der begrenzten Ladekapazität des Wagens in mehreren Etappen.
Unterschiedliche Qualitäten der Rechtsgutsgefährdung werden bereits

63
S. Fn. 60.
508 Michael Walter

über den Handlungsunwert erfaßt. Soweit noch Raum für eine eigen-
ständige Tatschuldbestimmung verbleibt, wäre wiederum an die ver-
stärkte negative N u t z u n g der Handlungsfreiheit anzuknüpfen.

V.
1. Ziehen wir Bilanz, ergibt sich, daß der Begriff der kriminellen
Energie für die Bestimmung der Tatschuld nicht benötigt wird. In den
Fällen, in denen mit diesem Terminus Variationen der Tatschuld aufge-
spürt werden sollen, geht es entweder gar nicht um die Tatschuld,
sondern um präventive Aspekte, oder die Tatschuld ist sachgerecht in
anderer Weise erfaßbar. Abgestellt werden kann dabei - abgesehen von
der Entscheidung zu unterschiedlich pflichtwidrigem Verhalten - auf das
Ausmaß der Entscheidungsfreiheit und das Ausmaß der N u t z u n g der
Handlungsfreiheit. Der in §46 Abs. 2 StGB genannte „bei der Tat
aufgewendete Wille" ist geringer, wenn die Entscheidungsfreiheit herab-
gesetzt war, er ist stärker, wenn der Täter seine Handlungsfreiheit im
Vergleich zu anderen Fallgestaltungen umfassender genutzt hat.
2. Als problematische Funktionen des Begriffs der kriminellen Energie
haben sich folgende herausgestellt: die Ermöglichung beliebiger negati-
ver Zuschreibungen, die Vereigenschaftung situativer Momente und
insbesondere die Einfassung präventiver Erwägungen in Schuldkatego-
rien. Dieser letztgenannte Vorgang bedarf noch der weiteren Analyse,
damit die Leistungsfähigkeit des Begriffs in ihrer Gesamtheit deutlich
wird.
VI.
1. Die Notwendigkeit, Tatschuldmerkmale und präventive Überlegun-
gen zu entflechten und auseinanderzuhalten, ist heute weitgehend aner-
kannt 64 . Sie besteht insbesondere, wenn man das Strafrecht von der
Tatschuldseite her begrenzen und andererseits an präventiven Erforder-
nissen ausrichten will65. Je mehr der Schuldbegriff präventiv eingefärbt
wird, desto weniger vermag er die Begrenzungsfunktion zu erfüllen.
Umgekehrt erleichtert ein Konglomerat aus Schuld- und Präventions-
momenten auch nicht gerade eine empirische Kontrolle der besonderen
Präventionserwägungen. Beides nun, eine Aushöhlung der Begren-
zungsfunktion der Tatschuld wie eine empirische Ignoranz, ja sogar
Sperre, sind aber die Früchte des Argumentierens mit krimineller
Energie.
64
Eine Ausnahme bildet freilich Jakobs' Ansatz, der gerade auf der gegenteiligen
Annahme basiert, daß Schuld (general)präventiv zu bestimmen sei, s. Jakobs, Schuld und
Prävention, 1976, S.32 u. Lb. S.397.
65
S. Stratenwerth, (Fn. 37), S. 37.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 509

Die Aushöhlung des Tatschuldbegriffs erfolgt in der Weise, daß zwar


auf Entstehungsgründe des Tatentschlusses Bezug genommen, also ein
schuldrelevanter Bereich angesprochen wird, dieser dann aber mit der
Persönlichkeitsstruktur und gefährlichen Eigenschaften assoziiert wird,
die meist wenig konkretisierte Befürchtungen hinsichtlich des künftigen
Verhaltens wachrufen. Sprachlich findet die Verquickung ihren Aus-
druck darin, daß Schuld und Gefährlichkeit in einem Atemzuge genannt
werden und als im Grunde austauschbare Größen erscheinen". Die Rede
ist etwa von einer „Gefährlichkeit des verbrecherischen Willens", den
eine „gesteigerte Schuldenergie" hervorbringt67, von der Schulderhö-
hung durch eine „besonders gefährliche kriminelle Intensität"68 usf.
Vereinzelt wird die über den Tatwillen bewerkstelligte Gleichsetzung
von Schuld und Gefährlichkeit direkt zum empfohlenen Prinzip erho-
ben69. Nach einer Analyse einschlägiger Urteile lesen wir, es werde
regelmäßig „ein Urteil komplexer Art gefällt, das nicht nur eine
bestimmte Seite der Täterpersönlichkeit beleuchtet, sondern umfassend
vielen Einzelmerkmalen Rechnung trägt"70.
Durch die Verankerung der behaupteten gefährlichen Willensenergie
bei der Schuld wird sodann eine empirische Ignoranz in dem Sinne
erreicht, daß die Gefährlichkeit nicht real belegt zu werden braucht.
Man ist der Mühe enthoben darzutun, warum weitere schädigende
Handlungen zu besorgen seien. Im Gegensatz zu dieser Konstruktion ist
die Gefährlichkeit ja keine einer Person inhärente Eigenschaft, sondern
hängt von einem ganzen Bedingungsgeflecht ab. Diese Komplexität wird
anhand irgendwelcher Tatmodalitäten schlicht auf das Wesen des Täters
reduziert. Daß unter bestimmten sozialen Rahmenbedingungen bei-
spielsweise besonders gefügige und angepaßte Menschen sehr gefährlich
werden können (NS-Täter) und - wie wir wissen - Delinquenten, die
Gewaltdelikte begangen haben, zum Teil eine überdurchschnittlich gün-
stige Kriminalprognose aufweisen, findet solchermaßen natürlich kaum
Berücksichtigung.
Darüber hinaus kommt die Einförmigkeit der Folgerungen, die an das
Energieurteil anknüpfen, einer empirischen Sperre gleich. Prävention
heißt hier immer ein Mehr an Ubelszufügung, und dieses Mehr erfährt
aus der Verquickung mit dem Schuldgedanken noch seine Scheinlegiti-
mation. Daß sich eine Strafschärfung bei einer empirischen Uberprüfung
als präventiv gänzlich unwirksam oder gar schädlich herausstellen
könnte, ist vom Konzept her nicht vorgesehen.
66 S.a. Hillenkamp in: GA 1974, S.208f (215 Fn.58).
67 S. Jagusch (Fn. 9), A III 1 a.
68 S. BGH in: NJW 1982, S.2264 (2265).
69 Hertz im Anschluß an Lange, (Fn. 10), S.81 u. 82.
70 S. Lorenz, (Fn. 12), S. 39.
510 Michael Walter

VII.
1. Befürchtungen einer unsystematischen und der rationalen Kontrolle
letztlich entzogenen Ausuferung strafrechtlicher Eingriffe erweisen sich
damit als begründet.
Die Gefahr, daß mit dem Begriff der kriminellen Energie praktisch
aus dem Nichts heraus über eine scheinbar kriminologische Begründung
eine gegenüber empirischer Kritik immunisierte Strafschärfung hergelei-
tet werden kann, läßt sich zusammenfassend in folgendem Stufen-
Modell darstellen:
a) Ein nahezu beliebig ausgewähltes Sachverhaltsmoment wird als
Ausdruck krimineller Energie angesehen. (Beispiel: Begehung der
Tat am „lichten Tage")
b) Es erfolgt eine negative Etikettierung/Zuschreibung. (Beispiel:
dreistes, skrupelloses Verhalten)
c) Das Verhalten wird vereigenschaftet. (Beispiel: In der Tat haben
latente Dreistigkeit und Skrupellosigkeit Ausdruck gefunden.)
d) Es wird ein Gefahrurteil abgeleitet. (Beispiel: Dreistigkeit und
Skrupellosigkeit - das Energiepotential - machen/macht künftige
Normbrüche wahrscheinlich.)
e) Es erfolgt eine Strafschärfung aus präventiven Beweggründen.
f) Für d) und e): Die Parallelität von Schuld- und Gefahrurteil
(„komplexe Würdigung") bedingt eine empirische Immunisierung:
Das Gefahrurteil und die aus dem Gefahrurteil hergeleitete Straf-
schärfung werden wegen der Verquickung mit dem Schuldurteil
erfahrungswissenschaftlich abgeschottet.
2. In der gegenwärtigen strafrechtlichen Grundlagendiskussion wird die
Vermischung von Schuld- und Präventionsaspekten, also ein wesentli-
ches Charakteristikum des bisherigen Verständnisses von krimineller
Energie, abgelehnt, aber weiter mit diesem Topos gearbeitet. Seine
Bedeutung soll nur außerhalb des Tatschuldbereichs liegen71. Während
mit diesem Begriff bislang überwiegend individualpräventive Anliegen
wie die künftige Abschreckung und Abschirmung des Delinquenten
assoziiert wurden, geht es Schünemann nunmehr in Fortführung des
Roxinschen Konzepts um generalpräventive Gesichtspunkte. Er recht-
fertigt die Existenz und Anwendung des Strafrechts damit, daß straf-
rechtliche Sanktionen die Geltung der sanktionsbewehrten Normen
bestärkten. Zur Steuerung dieser Integrationsprävention komme es dar-
auf an, die durch Taten jeweils ausgelösten Erschütterungen des N o r m -

71
S. Stratenwerth, (Fn.37), S. 18; B. Schünemann i. Grundfragen des modernen Straf-
rechtssystems, 1984, S. 188 f.
Tatschuld und Strafe nach der „kriminellen Energie" 511

geltungsbewußtseins der Bevölkerung zu ermessen und zu gewichten. In


diesem Kontext verwendet Schünemann den Begriff der kriminellen
Energie zur Kennzeichnung des von einer Tat auf die Allgemeinheit
ausgehenden Bedrohungsgrades 72 . Zwar bezieht sich der Begriff vorder-
gründig weiter auf die Qualität der Tathandlung. Doch dienen die schon
unter diesem Blickwinkel gefährlich-diffusen Inhalte letztlich dazu, ein
kollektives Strafbedürfnis, also wenig greifbare Reaktionen „der" Bevöl-
kerung vorwegahnend zu erfassen, sowie dazu, einen Ansatzpunkt für
Kategorisierungen entsprechender Bedrohungsgefühle abzugeben. Auch
wenn Schünemann selbst die Notwendigkeit weiterer Explikationen
betont und solche in Aussicht stellt73, muß man nach alledem bereits
jetzt befürchten, daß eine Mischung angesetzt worden ist, die bisher
feststellbare Gefahren noch um eine neue brisante Dimension, nämlich
die vermutete Kriminalitätsverarbeitungskapazität in der Bevölkerung,
erweitert. Damit hinge die kriminelle Energie nicht mehr nur vom Täter
ab, sondern auch davon, bei wieviel Strafe sich die Menschen zu
beruhigen scheinen. Soll es nun auch auf deren gute oder böse Willens-
energie ankommen?

72
S. Schünemann (Fn. 71), S. 191 f.
75
S. Schünemann, (Fn.71), S. 193.
Strafzumessung und ihre Auswirkung
auf den Vollzug"'

JÜRGEN BAUMANN

I. Einleitung
Es ist heute wie früher schwer, über Probleme der Strafzumessung zu
referieren. Früher war es schwer, weil die wissenschaftliche Durchdrin-
gung dieses Gebietes zu wünschen übrig ließ: Strafzumessungsrecht als
terra incógnita. So beklagte noch von Weber in seiner Arbeit „Die
richterliche Strafzumessung", 1956, daß die Strafzumessung zumeist ein
„Glückspiel" sei. Sarstedt berichtete auf dem 41. Deutschen Juristentag
1955 in Berlin von den 2 Kammern eines Landgerichts, von denen die
eine jeweils eine vierfach höhere Strafe verhängte, als die andere Kam-
mer, wohlgemerkt bei gleichem oder ähnlichem Sachverhalt. - Heute ist
es schwer, über Strafzumessung zu referieren, weil die wissenschaftliche
Bearbeitung ihrer Probleme nahezu unübersehbar geworden ist. Nicht
nur die herausragenden Arbeiten des Erlanger Kollegen Bruns haben
diesen Umschwung herbeigeführt. Eine große Zahl wichtiger Monogra-
phien1 und eine ungeheure Zahl von Abhandlungen und Aufsätzen hat
zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Strafzumessung beigetragen.
Daß die Praxis der Gerichte nach wie vor zu wünschen übrig läßt, sei
jedoch nicht verschwiegen.
Versuchen wir gleichwohl, trotz dieser Schwierigkeiten, einen Blick
auf die Strafzumessungsproblematik zu werfen, der auch für den nicht-
deutschen Juristen interessant sein könnte.
II. Bedeutung der Rechtsfolge im Strafrecht
1. Gerade eine auf das subtilste verfeinerte Strafrechtsdogmatik, insbe-
sondere im Bereich der allgemeinen Strafrechtslehren, ist oft in der
Gefahr, die Bedeutung der Rechtsfolgebestimmung zu unterschätzen.
Während den Rechts Voraussetzungen höchste Aufmerksamkeit
geschenkt wird und auch wissenschaftliche Arbeiten in diesem Bereich
äußerster Akribie das größte Interesse erwecken, scheint bei den Rechts-

* Vortrag, gehalten am 29.11.1985 als Einführungsreferat vor der Griechischen


Gesellschaft für Strafrecht in Athen.
' Zuletzt etwa Streng, F., Strafzumessung und relative Gerechtigkeit. Heidelberg 1984.
514 Jürgen Baumann

folgen weniger Scharfsinn erforderlich und genießen wissenschaftliche


Arbeiten in diesem Bereich weniger Anerkennung.
Das zeigt sich schon bei der Ausbildung junger Juristen. An der
Universität kommen in den Lehrveranstaltungen die Rechtsfolgen des
Strafrechts fast immer (auch aus Zeitgründen) zu kurz. Man versucht an
manchen Universitäten (so auch in Tübingen) dem dadurch entgegenzu-
wirken, daß Sondervorlesungen über die Rechtsfolgen des Strafrechts
angeboten werden. In der Referendarausbildung spielen Fragen der
gerechten Strafzumessung kaum eine Rolle, und in beiden Staatsexamen
kommen kaum je Prüfungsarbeiten vor, die ihren Schwerpunkt im
Bereich der Strafzumessung hätten. Das ist die traurige Bestandsauf-
nahme.
Alles das geschieht ungeachtet der Tatsache, daß die Akzentverlage-
rung vom 7tf£strafrecht auf das Täterstrafrecht seit dem Marburger
Programm (von Franz von Liszt, 1882) allmähliche aber unaufhaltsame
Fortschritte gemacht hat. Auch die Reform von 1969/1975 (1. und
2. Strafrechtsreformgesetz) hat uns weitere Akzente im Rechtsfolgenbe-
reich beschert, die überwiegend täterstrafrechtliche Züge tragen. Ich
nenne hier nur neben den Strafzumessungsrichtlinien in § 46 StGB: das
Absehen von Strafe nach § 60 StGB, die Verwarnung mit Strafvorbehalt
nach §59 StGB, die Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung
und der Strafrestaussetzung, die allgemeine Rückfallvorschrift des
§48 a. F. StGB, die ultima-ratio-Klausel für die kurzfristige Freiheits-
strafe in § 47 StGB und die Institution der Führungsaufsicht nach §§ 68 ff
StGB. Das heute geltende Recht erlaubt, je nach Beurteilung der Täter-
persönlichkeit, für ein und dasselbe Tatgeschehen Sanktionen, die zwi-
schen dem geschlossenen Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem bloß
warnend erhobenen Zeigefinger liegen.
Auf diese Weise wird gerechte Strafzumessung zunehmend wichtiger,
kommt in ihrer Bedeutung fast gleich der Bejahung oder Verneinung der
Tatbestandserfüllung durch das erkennende Gericht. Um so ärgerlicher
werden hier unverständliche und nur auf richterlicher „Intuition" beru-
hende Diskrepanzen. Was soll noch akribische Tatbestandsfeststellung,
wenn im Bereich der Strafzumessung die Reaktion des Staates auf die
Straftat auf Null gestellt werden kann? Wie steht es hier mit dem
Gleichheitsgrundsatz unserer Verfassung, wie vereinbart sich das alles
mit dem Rechtsstaatsprinzip?

2. Auch das neben dem Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung veran-


kerte Sozialstaatsprinzip fördert die Bedeutung gerechter Strafzumes-
sung. Wird die gerechte Strafe zunehmend als ultima ratio der Rechtspo-
litik aufgefaßt (Strafe nur, wo andere Mittel versagen), ist die Strafe noch
weitergehend nur ultima ratio auch der allgemeinen Sozialpolitik (wie
Strafzumessung und Vollzug 515

ich es in vielen Arbeiten vertreten habe), so muß die im Einzelfall


zugemessene Strafe auch den Anforderungen der Rechtspolitik und
Sozialpolitik genügen. Strafe muß remedium sein für fehlende Sozialisa-
tion des Täters, muß sozialpolitisch wirksam sein, muß „strafen aber
auch heilen". Je mehr die Erkenntnis an Raum gewinnt, daß Strafe ein
sozialpolitisches Mittel ist, desto gewichtiger wird im Einzelfall nicht
nur die gerechte, sondern auch die sozialpolitisch effektive und zweck-
mäßige Strafzumessung.
Daß wir hier schon ein Optimum an Balance zwischen den Zwecken
der Generalprävention und der Spezialprävention erreicht hätten, wird
niemand behaupten können. Solange unsere Rückfallquoten so hoch
liegen, spricht zumindest einiges dagegen, daß Strafe derzeit bei uns
sozialpolitisch zweckmäßig und effektiv eingesetzt werde.
3. Nun liegen die Defizite bei uns nicht nur beim Gesetzgeber und bei
der Anwendung des materiellen Rechts. Fast ebenso wichtig sind die
Defizite im Bereich des Strafprozeßrechts. Dem kundigen Thebaner ist
längst bekannt, daß die Bonität und Effektivität eines Strafrechts, zumal
eines Tatstrafrechts mit starkem täterstrafrechtlichem Akzent, wesent-
lich von der Konzeption und Güte des Strafprozeßrechts abhängt. Nun
ist aber unser Strafprozeßrecht überwiegend tatstrafrechtlich konzipiert,
zielt ab auf und instrumentalisiert die Aufdeckung der Tat in einem stark
formalisierten Verfahren. Die Aufklärung der Täterpersönlichkeit, die
Kriminaldiagnose und Prognose, das alles steht keinesfalls im Vorder-
grund, ist kaum je Gegenstand der polizeilichen und staatsanwaltschaft-
lichen Ermittlungen. Zur „Individualisierung" der Rechtsfolge fehlt uns
ein angemessenes und effektives Verfahren.
Diese Erkenntnis hat bei uns schon seit geraumer Zeit den Wunsch
nach einer Gesamtreform der Strafprozeßordnung genährt (die jedoch
derzeit in weiter Ferne liegen dürfte2). Auch hat das Unbehagen mit
einem Strafprozeß, der mehr auf ein Tatstrafrecht zugeschnitten war, zu
Überlegungen geführt, die Hauptverhandlung in Strafsachen neu auszu-
gestalten, und sie in zwei eigenständige Abschnitte zu zerlegen: Ein
Präinterlokutverfahren, mit allen Förmlichkeiten ausgestattet und in der
Regel öffentlich durchgeführt, soll die Frage der Tatbegehung klären.
Steht die Tatbegehung nicht fest, so Freispruch, steht sie fest, so wird
das in einem „Schuldinterlokut" oder „Tatinterlokut" festgestellt. Erst
dann, also bei Feststellung der Tatbegehung und nach dieser Feststellung
schließt sich ein Postinterlokutverfahren an, in der Regel nichtöffentlich,
in welchem es um die Aufhellung der Täterpersönlichkeit und die
Findung der hiernach angemessenen Rechtsfolge geht, also um die

2 Näher dazu mein Beitrag „Die Situation des deutschen Strafprozesses" in: Festschrift

für Klug, hrsg. v. G. Kohlmann. Köln 1983, S. 459 ff.


516 Jürgen Baumann

„Individualisierung der Strafe". Der Arbeitskreis Alternativentwurf hat


im Mai 1985 ein entsprechendes und ausformuliertes Modell dazu
vorgelegt.
N o c h aber scheitert die Verwirklichung vieler, wenn nicht aller
schönen wissenschaftlichen Arbeiten zur Strafzumessung zumeist daran,
daß entsprechende prozessuale Möglichkeiten nicht vorhanden sind.

III. Strafgerechtigkeit
1. Nach dem zuvor Ausgeführten müßten eigentlich sowohl im Bereich
des materiellen Strafrechts, wie im Bereich des Strafprozeßrechts alle
Bemühungen um das Problem der Strafgerechtigkeit kreisen. Aber
schon bei der Verwertung dieses terminus entsteht sofort die bange
Frage, was denn nun „Strafgerechtigkeit" überhaupt sei. Die Frage nach
der Strafgerechtigkeit zu stellen, ist fast noch boshafter, als zu fragen:
„Was ist Gerechtigkeit". Hier wie dort gibt es viele wortreiche aber
zumeist nicht völlig überzeugende Erklärungen.
Wissen wir nicht sicher, was „Gerechtigkeit" ist, wie können wir
dann wissen, was „Strafgerechtigkeit" sein soll! Hinzu kommt beson-
ders im Strafrecht der alte Theorienstreit um Sinn oder Zweck der Strafe.
Wie heißt es doch bei Senneca: „nam ut Plato ait, nemo prudens punit,
quia peccatum est, sed ne peccetur". Philosophen haben also schon
immer über den Begriff der „Strafgerechtigkeit" und nicht nur über den
allgemeinen der „Gerechtigkeit" gegrübelt. Rekapitulieren wir kurz die
Bedeutung der Straftheorien für die jeweils dazu passende Strzizumes-
sungsxhtont:
a) Wer mit Kant und Hegel, um nur die bedeutendsten unserer Philoso-
phen zu nennen, eine absolute Straftheorie vertritt, nicht nach einem
Zweck des Strafrechts fragt, sondern jeden Täter nach dem bestrafen
will, „was seine Taten wert sind", der hat es bei der Strafzumessung
scheinbar leicht. Scheinbar leicht, weil er mit der Strafe keine Zwecke
verfolgen muß und die Ausrichtung der Strafe nach der Tatschuld einen
gewissen Automatismus zu verbürgen scheint: Tat mit Tatschwere 19
ergibt Strafschwere 19.
Scheinbar leicht, weil wir nicht einmal genau wissen, wann eine Tat
schwer und wann sie leicht ist. Kommt es dabei auf den Erfolg der Tat
an, oder auf die Art des Täterangriffs, oder auf den Grad der Verunsi-
cherung der Rechtsgemeinschaft, um nur ein paar mögliche Kriterien zu
nennen? Interessiert hauptsächlich das Maß der Rechtsgwtverletzung
oder das der Rechtsß/Zzc&tverletzung? In moderne Kategorien übersetzt:
interessiert das Maß des Erfolgsunwertes oder das des Aktunwertes?
Oder eine Kombination von Akt- und Erfolgsunwert, und wenn dies,
welche Kombination in welchem Gewichtsverhältnis?
Strafzumessung und Vollzug 517

Schließlich ist zu bedenken, daß auch bei der absoluten Theorie also
bei einer Bestrafung nach dem Maß des vom Täter schuldhaft angerichte-
ten Unrechts, doch das Schuldprinzip zu beachten ist: nulla poena sine
culpa. Schuld im Sinne individueller Verantwortlichkeit verweist aber
wieder auf die Struktur der Täterpersönlichkeit. Daraus folgt notwen-
dig, daß sogar bei der absoluten Straftheorie und bei einem reinen
Tkistrafrecht Strafzumessung ohne Berücksichtigung der Täterpersön-
lichkeit nicht erfolgen darf. Zumessungsgerechtigkeit ist also auch auf
der Grundlage dieser beiden scheinbar die Arbeit erleichternden Prämis-
sen nicht durch einfaches Ablesen auf einer Skala der Rechtsgütervalen-
zen möglich, Strafzumessungsgerechtigkeit steht also auch hier auf
schwankendem Boden.
b) Noch schlimmer wird es bei der Einführung des Strafzweckes der
Generalprävention. Klar ist, daß, wenn dabei am Schuldstrafrecht fest-
gehalten werden soll, Strafrecht also nicht zu einem präventivpolizeili-
chen Mittel entarten soll, alle soeben erörterten Schwierigkeiten beste-
hen bleiben. Auch ein generalpräventives Schuldstrafrecht kann von der
individuellen Schuld der Täterpersönlichkeit nicht absehen.
Hinzu kommt die völlige Ungewißheit, wie Bestrafungen bei ganz
bestimmten Delikten auf ganz bestimmte potentielle Tätergruppen wir-
ken würden. Wie soll sich bei dieser Unsicherheit generalpräventiv
begründete Strafzumessungsgerechtigkeit herstellen lassen?
Zum Glück hat sich bei uns in Literatur und Rechtsprechung der
Grundsatz durchgesetzt, daß das schuldangemessene Maß der Strafe aus
generalpräventiven Gründen nicht überschritten werden darf (während
§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB hier recht unklar formuliert). Aber dieses Verbot
der Überschreitung der schuldangemessenen Strafe ist nicht viel wert,
wenn die Schuldangemessenheit selbst nicht klar erkennbar ist, mit der
Folge, daß die h. M. eine „Punktstrafe" der Schuldangemessenheit nicht
anerkennt (Konsequenz der sog. „Vereinigungstheorie" bei den Straf-
zwecken ist daher die „Spielraumtheorie" bei der Strafzumessung im
Einzelfall). Die Unsicherheit des Einflusses generalpräventiver Überle-
gungen bei der Strafzumessung wird also durch das Gebot der Schuldan-
gemessenheit keineswegs verringert. Sie wird vergrößert durch Vermeh-
rung der unsicheren Maßstäbe um den selbst wieder höchst unsicheren
weiteren Maßstab generalpräventiver Zwecksetzung.
c) Schon nach diesen Ausführungen ist offenkundig, daß die allergrößte
Verunsicherung im Bereich der Strafzumessungsgerechtigkeit eintreten
muß, wenn man eine schuldangemessene Strafe unter spezialpräventiver
Zwecksetzung verhängen will. Steigerbar ist diese Unsicherheit lediglich
dadurch, daß man vielleicht gleichzeitig noch generalpräventive Zwecke
verfolgen will. Und genau das ist bei uns h. M. und Rechtsprechung:
518 Jürgen Baumann

Vereinigungstheorie der Strafzwecke mit der Folge der Spielraumtheorie


bei der Einzelstrafzumessung: Berücksichtigung general- und spezial-
präventiver Strafzwecke im Rahmen der Tatschuldangemessenheit!
Kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß die Gewinnung spezialpräven-
tiver Maßstäbe zur Strafzumessung voraussetzen würde, daß der Erzie-
hungs- oder Abschreckungsbedarf beim einzelnen Täter genau ausgelo-
tet werden könnte, daß Täterdiagnose und Täterprognose auch nur
einigermaßen zuverlässig möglich wären! Darauf, daß, selbst wenn diese
Möglichkeit bestünde, unser Straiprozeßrecht derartige Diagnosen und
Prognosen kaum durchführbar erscheinen läßt, war schon oben hinge-
wiesen.
Wie also soll sich Strafzumessungsgerechtigkeit, ebenso wichtig wie
Strafgerechtigkeit bezüglich des Ob der Tatbegehung, erreichen lassen?
Müssen wir resignierend vom Wunsch nach Zumessungsgerechtigkeit
Abschied nehmen? Würde das aber nicht rückwirken auf die Strafge-
rechtigkeit, in der Weise, daß wir gar nicht bestrafen dürfen, wenn wir
nicht wissen, wie wir gerecht bestrafen sollen?
2. Erwarten Sie bitte von mir keine Patentlösung. Die wüßte ich selbst
gern. Ich habe sie auch in der heute so reichhaltigen Literatur zur
Strafzumessung nicht gefunden.
a) Jedenfalls ist die gesetzliche Regelung, die wir in §46 StGB haben,
nur sehr wenig hilfreich. Denn § 46 Abs. 1 ist vom Gesetzgeber mit der
Formulierung: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung
der Strafe" bewußt unklar gehalten. In den früheren Entwürfen hieß es
noch, daß die Schuld die Strafe begrenze, daß die Strafe das Maß der
Schuld nicht überschreiten dürfe. Man hat den Begriff der „Grundlage"
bewußt so unklar gewählt, um auch aus spezialpräventiven Gründen die
angemessene Tatschuld überschreiten und auch unterschreiten zu kön-
nen (so Begründung des E62 S. 96, 181). In der Literatur fanden sich
sogar Stimmen, die glaubten, die schuldangemessene Strafe auch aus
generalpräventiven Gesichtspunkten überschreiten zu dürfen. Ein m. E.
klarer Verstoß gegen das Schuldprinzip, sowohl bei der Überschreitung
aus spezialpräventiven, als auch erst recht aus generalpräventiven Grün-
den. Im letzteren Fall wird wirklich der bestrafte Mensch unter Verstoß
gegen das Schuldprinzip zum bloßen Mittel gemacht, um auf andere
einzuwirken.
Mit Recht nennt daher Bruns die Regelung in § 46 Abs. 1 Satz 1 eine
„Leerformel" 3 . Satz 2 des Abs. 1 ist später durch den Sonderausschuß
des Dt. Bundestages für die Strafrechtsreform eingefügt worden. Er

5
Bruns, H.-J.: Strafzumessungsrecht. 2.Auflage, Köln u.a. 1974, S.309.
Strafzumessung und Vollzug 519

enthält den Tropfen „spezialpräventiven Öls", wenn er anordnet, daß


bei der Strafe auf der „Grundlage" der Schuld auch die Wirkungen für
das künftige Leben des Täters zu beachten seien.
b) Noch ärger steht es mit den Strafzumessungsgesichtspunkten, die der
Gesetzgeber in §46 Abs. 2 aufgestellt und zur Abwägung des Gerichts
bei der Strafzumessung gestellt hat. Hier wird Strafzumessung nur
scheinbar rationalisiert, denn das Verhältnis der jeweiligen Gesichts-
punkte zueinander ist völlig offengelassen, wohl auch gar nicht genau
regelbar. Wieviel wiegen die Beweggründe des Täters, wenn sie nach
Ansicht des Richters miserabel sind, im Verhältnis zum Bemühen des
Täters, den Schaden wiedergutzumachen? 6 Punkte minus gegen 4
Punkte plus, oder umgekehrt 4 Punkte minus gegen 6 Punkte plus?
Noch diffuser wird die Sache, wenn man bedenkt, daß viele der in § 46
Abs. 2 aufgezählten Gesichtspunkte durchaus ambivalent sind. Wie ist
eine unglückliche Kindheit des Täters und früher Kontakt mit asozialem
Milieu („Vorleben des Täters" in §46) zu werten? Strafmildernd wegen
der Verführungssituation und deshalb geminderter Schuld? Oder, unter
spezialpräventiven Gesichtspunkten, strafschärfend, weil den Bedarf an
Umerziehung und Einwirkung auf den Täter steigernd?
Sind gute „wirtschaftliche Verhältnisse" strafmildernd zu berücksich-
tigen, weil sie in gewissen Fällen die Rückfallgefahr mindern ( = spezial-
präventive Betrachtung), oder soll man strafschärfend argumentieren,
daß die Schuld eines Täters, der nicht aus wirtschaftlicher Not gehandelt
hat, größer ist? Ist nicht alles nach wie vor richterlicher „Intuition"
überlassen? Früher einmal hatte ich bei der Besprechung von Urteilen,
die auf das Vorleben des Täters im NS-Regime abstellten, zu meinem
größten Erstaunen festgestellt, daß die starke Einbindung in der Jugend
in die NS-Ideologie zu höchst unterschiedlicher Bewertung führte. Mal
wurde sie strafmildernd berücksichtigt, weil ja der Täter schon in der
Jugend verführt worden war — mal strafschärfend, weil man glaubte,
einer verfestigten Ideologie kräftig entgegenwirken zu müssen.
3. Auch der Alternativentwurf der deutschen und schweizerischen
Strafrechtslehrer zum AT eines StGB (von 1966, 2. Aufl. 1969), hat eine
Patentlösung nicht gefunden. Aber sein Vorschlag scheint mir noch im
großen ganzen einigermaßen praktikabel, wenn er das Mindestmaß der
zuzumessenden Strafe nach generalpräventiven-rechtsgüterschutzorien-
tierten Kriterien festlegen wollte, das Höchstmaß der zuzumessenden
Strafe aber nach der Tatschuld des Täters (also Tatschuld als klare
Grenze, nicht als verschwommene „Grundlage"). Und dann sollte der
Richter allein unter spezialpräventlven Gesichtspunkten von der Unter-
grenze ausgehend in Richtung Obergrenze die gerechte und effektive
Strafe finden.
520 Jürgen Baumann

Obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, daß ein Strafrecht soziale
Zwecke verfolgen muß, will man es sozial-rechtlich und nicht bloß
metaphysisch-sittlich rechtfertigen - obwohl ich deshalb nach wie vor
meine, daß Strafzumessung ein Maximierungsproblem beider Straf-
zwecke sein müsse ( = möglichst viel Spezialprävention bei gleichzeitig
möglichst viel Androhungsgeneralprävention) - glaube ich doch, daß für
die praktische Arbeit der Strafzumessung die Notlösung des AE vorzu-
ziehen sei. Denn wer kann schon die Verfolgung ganz unterschiedlicher
Strafzwecke so ausbalancieren und die Zweckerreichung nach beiden
Richtungen hin so maximieren oder optimieren, wenn unsere Tatsachen-
grundlage so schwankend und unsere Diagnose- und Prognosemöglich-
keiten so unvollkommen sind! Strafgerechtigkeit also nur eine Wunsch-
vorstellung? Kaum je erreichbar und in der Praxis wohl stets anzustre-
ben, aber wohl immer auf ein notwendig vergröberndes Instrumenta-
rium angewiesen?

IV. Das Urteil und sein Vollzug


Dieses Ergebnis ist gewiß deprimierend und gern hätte ich eine
bessere Lösung angeboten. Aber Euphemismus ist bei einer so grundle-
genden Frage, wie der nach der Strafgerechtigkeit, wohl nicht ange-
bracht.
1. Statt nun das Problem noch mit weiteren Fragestellungen zu belasten,
was leicht wäre (man denke nur an die seit dem letzten Deutschen
Juristentag wieder stärker diskutierte Frage der Opferberücksichtigung
und der Genugtuungsfunktion der Strafe), möchte ich hier abschließend
noch auf einen Aspekt hinweisen, der in der öffentlichen Diskussion
noch keine besondere Rolle spielt. Dies ganz zu Unrecht, denn zur
Bedeutung der Rechtsfolge im Strafrecht (dazu oben II) und zur Strafzu-
messungsgerechtigkeit und Strafgerechtigkeit (dazu oben III) gehört
schließlich auch der Blick auf die Realität der zugemessenen Strafe.
Geldstrafe und Geldstrafe ist zweierlei, je nachdem, ob in einem Fall
die Geldstrafe vollstreckt, im anderen aber nach Art. 293 E G StGB (in
den Ländern übrigens nach ganz verschiedenen Maßstäben) in Ablei-
stung gemeinnütziger Arbeit umgewandelt, oder aber nach § 459 a StPO
mit Zahlungserleichterungen versehen wird. Nach § 459 d StPO kann die
Vollstreckung der Geldstrafe ganz unterbleiben, nach § 459 f StPO
unterbleibt auch die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe, wenn die
Vollstreckung eine unbillige Härte bedeuten würde. In der Realität
höchst verschieden wirkende Geldstrafen (im Bereich der Schuldsühne,
im Bereich der Spezial- oder Generalprävention und was die Genugtu-
Strafzumessung und Vollzug 521

ung für das Tatopfer angeht)! Die Geldstrafe, die das erkennende
Gericht verhängt, kann also später zu etwas völlig anderem werden, als
sich der strafzumessende Richter vorgestellt hat.
Noch stärker springt das ins Auge bei der vollstreckten (also nicht zur
Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe. Freiheitsstrafe ist nach § 10 des
seit dem 1.1.1977 geltenden Strafvollzugsgesetzes grundsätzlich und
soweit möglich und verantwortbar im offenen Vollzug durchzuführen.
Geschlossener Vollzug, also ständige Einsperrung, soll die Ausnahme
sein für Gefangene, bei denen Fluchtgefahr oder Mißbrauchsgefahr
besteht. Der offene Vollzug unterscheidet sich vom geschlossenen fast
stärker, als sich offener Vollzug von Nichtbestrafung oder Strafausset-
zung zur Bewährung unterscheidet. In seiner „offensten Form" wird der
offene Vollzug im sog. „Freigang" vollzogen (§11 Abs. 1 N r . 1
StVollzG), d. h., der Gefangene ist nur abends in der Anstalt. Tagsüber
ist er ohne Aufsicht bei irgendeiner Firma, oft sogar bei der bisherigen,
tätig. Auf dem Weg von der Arbeit in die Anstalt läßt man ihn oft auch
noch bei seiner Familie vorbeigehen, damit auch diese Kontakte erhalten
bleiben. Vergleichbar vielleicht der semidetenzione im neuen italieni-
schen Strafrecht, also der Halbgefangenschaft nach Art. 53 ff des italieni-
schen StGB in der Fassung von 1981.
Freiheitsstrafe, auch vollstreckte, ist also nicht gleich Freiheitsstrafe.
Die Realität der Freiheitsstrafe zeigt sich erst im Vollzuge, auf den der
verurteilende und strafzumessende Richter keinen Einfluß hat. Muß
aber nicht die Realität der Strafe berücksichtigt werden, wenn wir von
Strafgerechtigkeit sprechen?
2. Zwei grundverschiedene Überlegungen lassen sich hier anstellen:
a) Immer wieder begegnen Versuche, auch im Vollzug der Freiheits-
strafe Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die mit der Tatschuld des
Verurteilten in Zusammenhang stehen. So ist mancher geneigt, offenen
Vollzug dann nicht vorzunehmen, wenn der Täter schwere Schuld auf
sich geladen hat. Das ist aber nicht der Standpunkt des Strafvollzugsge-
setzes, wenngleich in diesem Gesetz einzelne Hinwendungen zu diesem
Prinzip begegnen. Zu erinnern ist hier etwa an § 13 Abs. 3 StVollzG,
nach welchem Urlaub aus der Haft bei Verurteilung zu lebenslanger
Freiheitsstrafe erst nach 10 Jahren Vollzug der Freiheitsentziehung
erfolgen darf. Zu erinnern ist auch an die bundeseinheitlichen Verwal-
tungsvorschriften der Länder zum StVollzG. Wenn in diesen Verwal-
tungsvorschriften etwa zu § 13 (Urlaub aus der Haft) in N r . 3 bestimmte
Verurteilte vom Urlaub ganz ausgeschlossen werden (also auch dann,
wenn eine gute Prognose bezüglich Rückkehr und Mißbrauchsausschluß
besteht), oder, wenn in Nr. 4 Gefangene, die noch mehr als 18 Monate
zu verbüßen haben, als ungeeignet für den Urlaub bezeichnet werden.
522 Jürgen Baumann

b) Die andere Überlegung geht dahin, daß bei so unterschiedlichem


Vollzug von Freiheitsstrafen (und so unterschiedlicher Vollstreckung
von Geldstrafen) es doch eigentlich Aufgabe des erkennenden Gerichts
sein müßte, zu bestimmen, ob nun etwa ein geschlossener Vollzug oder
aber ein offener Vollzug (d.h. eine nur „halbe Freiheitsstrafe", eine
semidetenzione) erfolgen soll. Das um so mehr, je mehr man sich
bemüht, Strafzumessung gerechter und gleichzeitig effektiver zu ma-
chen.
Es ist deshalb kein Zufall, daß der Arbeitskreis Alternativentwurf bei
seinem oben (zu 113) geschilderten Arbeiten an einer Reform der
Hauptverhandlung in Strafsachen, also bei seinem Bemühen, in einem
intensiven Postinterlokutverfahren zu einer besseren Zumessung der
Strafe zu kommen, die Frage aufwerfen mußte, ob man nicht dem
erkennenden Gericht auch eine Aussage über bestimmte Arten des
Vollzuges zugestehen oder gar abverlangen sollte. Wenn nach unseren
Modellen der Strafrichter sich sehr intensiv mit der Täterpersönlichkeit
und ihren kriminogenen Defiziten befaßt (im Bereich von Arbeit, Frei-
zeitgestaltung, Schul- und Berufsausbildung, allgemeinem Sozialverhal-
ten), so müßte er konsequent auch stärker auf den Vollzug der Strafe
Einfluß nehmen, zumal Strafvollzug nicht gleich Strafvollzug ist.
Es hat bei uns schon einzelne Urteile gegeben, in denen der erken-
nende Richter zur Art und zur näheren Ausgestaltung des Vollzuges im
Urteilstenor (also nicht nur in den Urteilsgründen) Stellung genommen
hat. Wir haben dieser Frage viel Aufmerksamkeit und Diskussion zuge-
wandt. Gegen diese verbindliche Bestimmung des Vollzuges im Urteils-
tenor (was an sich aus Gründen der Strafgerechtigkeit vorzuziehen
gewesen wäre) sprechen folgende Gründe: Entscheidungen im Vollzuge
müssen flexibel sein, der Vollzug kann nicht durch den Urteilstenor ein
für alle mal festgelegt werden. Das geht nicht, weil das Vollzugsverhal-
ten des einzelnen Verurteilten nicht völlig prognostizierbar ist.
Auch können sich im Vollzug neue Situationen ergeben. Der Gefan-
gene kann krank werden, die Familienverhältnisse können sich ändern.
Umgekehrt kann es im Vollzug neue stabilisierende Momente geben,
etwa Kontakte zu resozialisierungsgünstigen Bezugspersonen. In den
Anstalten können neue Ausbildungs- und Schulmaßnahmen angeboten
werden. Alte Maßnahmen können entfallen. Auch das Interesse des
Gefangenen an derartigen Maßnahmen kann sich ändern. Bestimmte
Schulausbildung oder Berufsausbildung kann sich als zu schwierig her-
ausstellen. Fluchtgefahr kann eintreten, die vorher nicht vorhanden war,
usw. Alles das kann der erkennende Richter (besonders bei länger
dauernden Freiheitsstrafen) nicht voraussehen - also kann er es auch
nicht autoritativ im Urteilstenor festlegen. Würde man anders entschei-
den, so müßte man die Möglichkeit schaffen, den Urteilstenor, der
Strafzumessung und Vollzug 523

solche Anordnungen enthält, immer wieder zu ändern. Das aber wäre


sehr mißlich für die formelle und materielle Rechtskraft der richterlichen
Entscheidung.
Als „zweitbeste" Lösung wurde von uns geprüft, ob man nicht, um
möglichst viel Entscheidungskompetenz beim erkennenden Gericht
anzusiedeln, gleichwohl aber Flexibilität zu erhalten, die Bestimmung
des Gerichts in einem mit dem Urteil zu verkündenden Beschluß ansie-
deln könnte. Derartige Beschlüsse haben wir bereits nach § 268 a StPO
bei der Strafaussetzung zur Bewährung; über diese wird im Urteil
entschieden - dagegen erfolgt die Festlegung der Bewährungszeit, der
Auflagen und Weisungen, sowie die Unterstellung unter einen Bewäh-
rungshelfer in einem gleichzeitig mit dem Urteil zu verkündenden
Beschluß. Dieser ist nach §305a StPO auch isoliert (mit der
Beschwerde) anfechtbar, so daß das Urteil schon in Rechtskraft erwach-
sen kann. Auf diese Weise würde wenigstens ein Nachteil der Tenorlö-
sung, nämlich die Verzögerung des Eintretens der Rechtskraft bei Streit
um die Vollzugsanordnungen des Richters, entfallen.
Freilich blieben die anderen Nachteile bestehen. Auch der Beschluß
müßte immer wieder den im Vollzug bestehenden und sich ändernden
Verhältnissen angepaßt werden. Rechtssicherheit und Strafgerechtigkeit
wären so kaum erreichbar. Immer wieder müßte, und zwar sehr schnell,
der Beschluß an im Vollzug auftretende neue Gesichtspunkte angepaßt
werden, mit der großen Gefahr, daß diese Anpassung oft zu spät käme.
So blieb nur die Lösung, dem erkennenden Gericht Hinweise auf die
Art und die Ausgestaltung des Vollzuges in den Urteilsgründen zu
ermöglichen. Das haben wir in §267 Abs. 4 unseres Alternativentwurfs
einer Novelle zur Reform der Hauptverhandlung (1985) vorgeschlagen.
In einer Sollvorschrift (nicht immer wird der erkennende Richter zu
einer klaren Stellungnahme gelangen können) wird vorgeschrieben, daß
der Richter in den Urteilsgründen „zur Art und näheren Ausgestaltung
des Vollzuges, insbesondere auch zu den dem Verurteilten während des
Vollzuges zu gewährenden Hilfen" Stellung nehmen soll. Diese Stel-
lungnahme hat Empfehlungscharakter (Begründung des AE S. 78), bin-
det den Vollzug also nicht und schon keineswegs auf Dauer. Allerdings
soll die Vollzugsbehörde nur im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens von
dieser Empfehlung abweichen. - Was den Umfang der Stellungnahme
angeht, so soll der Richter möglichst Stellung nehmen zu den Punkten,
die im „Vollzugsplan" (nach § 7 StVollzG von der Anstalt aufzustellen)
eine Rolle spielen, also: offener - oder geschlossener Vollzug, Arbeits-
einsatz, Berufsausbildung, Umschulung, Schulbildung, Außenbeschäfti-
gung, Freigang, Art der Anstalt, Maßnahmen zur Entschuldung und zur
Vorbereitung der Entlassung, usw.
524 Jürgen Baumann

3. Auf diese Weise kann der Richter (hoffentlich zu erwartende)


genauere Überlegungen zur Strafzumessung gleichzeitig für die Realität
seiner Strafzumessung nutzbar machen, Sozialisationsdefizite nicht nur
schlicht mit der Verhängung der Strafe, sondern mit Überlegungen zum
Wie der Strafe bekämpfen.
Erst so wird Strafzumessung mehr als ein reines Verdikt über Tat und
Täter und erst so wird gesagt, wie die Freiheitsstrafe aussehen soll und
wird damit Strafgerechtigkeit, wenn schon nicht hergestellt, so doch
wenigstens angestrebt.
Gleichwohl bleibt gerechte Strafzumessung wohl immer die schwie-
rigste Aufgabe unserer Strafgerichte, und die Aufgabe, die am unvoll-
kommensten gelöst ist. Aber gerade deshalb ist diese Aufgabe auch die
lohnendste und gerade deshalb sollte man die Aufgabe auch richtig
formulieren: als Zumessung nicht nur von Monaten oder Jahren Frei-
heitsstrafe, sondern als Zumessung einer ganz bestimmten und krimina-
litätsbekämpfenden Sanktion.
Nicht eine Zahl von Monaten oder Jahren Freiheitsstrafe und nicht
eine Summe bei der Geldstrafe interessiert uns und darf uns interessieren
- sondern das in seinem Vollzug wirksame Remedium gegen begangene
und drohende Kriminalität.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall
Zur Beschränkung der Strafrestaussetzung durch die Rechtsprechung
der Oberlandesgerichte zu § 67 Abs. 5 StGB

KLAUS ROLINSKI

Hilde Kaufmann hat niemals den Versuch gemacht, „echte Schuld" zu


leugnen oder das Strafrecht abzuschaffen1. Aber sie hat dessen Verände-
rung mit gleicher Eindringlichkeit gefordert und angenommen, daß
Strafrecht, beschränkt auf bestimmte Personengruppen, nämlich auf
Jugendliche, „Abnorme in einem erweiterten Sinne des Wortes" und auf
Hangtäter, durch Sonderregelungen, gemeint sind Maßregeln der Besse-
rung, „ersetzt" werden kann2.
Darüber hinaus stand die „Frage nach der richtigen Ausgestaltung des
Reaktionssystems" im Zentrum ihrer wissenschaftlichen Forschung3.
Dieses Ziel glaubte sie mit Recht nur auf dem Weg einer vorherigen
empirischen Erhellung der kriminologischen Faktizität erreichen zu
können, denn „die Kenntnis der Entstehungszusammenhänge ist die
notwendige Voraussetzung für die Frage der Rechtsfolgen" 4 . Unter den
Rechtsfolgen aber nahm die Sozialtherapie eine zentrale Stellung ein,
und bei aller Skepsis über die bisher geleisteten Vorarbeiten der Psycho-
logie und Soziologie lautete das Ergebnis des dritten Bandes ihres
Lehrbuches: „Es gibt keine Alternative zur Sozialtherapie, wie langsam
auch immer die Verbesserung ihrer Methoden vor sich gehen mag"5.
Diesen Grad der Erkenntnis hat die „Gegenreform" und der gegenwär-
tige Gesetzgeber noch nicht erreicht.

I.
Der Sanktionsnotstand, der im folgenden erörtert wird, besteht darin,
daß in den Fällen, in denen neben einer Freiheitsstrafe beim Verurteilten

1 Kaufmann, Hilde, Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? J Z 1962,
S. 193-199 (197).
2 Kaufmann, Hilde, a.a.O. (Anm. 1), S. 196.
3 Kaufmann, Hilde, Kriminologie I, Entstehungszusammenhänge des Verbrechens,
Stuttgart 1971, S. 14.
4 Kaufmann, Hilde, a.a.O. (Anm. 3), S. 14.
5 Kaufmann, Hilde, Kriminologie III, Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart 1977,
S. 202.
526 Klaus Rolinski

eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach §63 StGB oder §64
StGB (§§ i. f. sind solche des StGB) angeordnet und diese vor der Strafe
vollzogen worden ist, auch dann die Entlassung nicht vor Verbüßung
der Hälfte der Freiheitsstrafe verfügt werden darf, wenn die Behandlung
des Straftäters vorher erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Der
Grund liegt in der restriktiven Auslegung des § 67 Abs. 5 durch die
Oberlandesgerichte6. Sie deuten Satz 1 - „Wird die Maßregel vor der
Strafe vollzogen, kann das Gericht die Vollstreckung des Strafrestes auch
dann nach § 57 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei
Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung erledigt sind" -
dahin, daß der Gesetzgeber nur die Frist des §57 Abs. 1, nicht aber die
des Absatzes 2 erfassen wollte, der die Voraussetzungen regelt, bei deren
Vorliegen ein Strafrest ausnahmsweise schon nach Verbüßung der Hälfte
der Freiheitsstrafe ausgesetzt werden darf.
Gegen diese Auslegung und für die Befreiung der Aussetzung des
Strafrestes von jeder Mindestverbüßung haben Hanack7 und Marquardt
gute Gründe geltend gemacht. Zum gleichen Ergebnis kommen Lack-
nerTröndlew und Lencknernicht aber Horn12 und Stree". Der
Bundesrat glaubt nun den Streit mit einer nackten Gesetzesänderung,
d. h. einer solchen ohne zureichende Begründung, beenden zu können.
Er schlägt folgende Gesetzesänderung vor:
„Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Gericht die Vollstreckung des
Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung
aussetzen, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist."
Die Begründung lautet:
„§ 67 Abs. 5 Satz 1 StGB-Entw. klärt die Streitfrage, ob eine Aussetzung des Strafrestes
auch dann zulässig ist, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe durch Anrechnung
erledigt ist (vgl. Stree in Schönke-Schröder, StGB, 21. Aufl., § 6 7 Rdn.4). Die vom
Entwurf vorgeschlagene Lösung beruht auf der Erwägung, daß die breite Palette der

' O L G Hamm M D R 1977, S. 334; O L G Celle J R 1978, S. 421 ; O L G Karlsruhe M D R


1981, S. 867; O L G Stuttgart NStZ 1984, S. 77.
7 Hanack, Emst-Walter, Probleme des Vikariierens und der Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt (§§67, 64 StGB), in: J R 1978, S. 399-403.
8 Marquardt, Helmut, Dogmatik und kriminologische Aspekte des Vikariierens von
Strafe und Maßregel, Berlin 1972.
' Lackner, Karl, Strafgesetzbuch, 16. Aufl., München 1985, Anm. 5 zu §67.
10 Tröndle, in: Dreher-Tröndle, Strafgesetzbuch, 41. Aufl., München 1983, Rdn. 6 zu
§67.
11 Lenckner, Theodor, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, in: Handbuch der forensi-
schen Psychiatrie I, Hg., H. Göppinger u. H. Witter, Berlin 1972, S. 3-286.
12 Horn, Eckhard, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I, AT,
3. Aufl., Frankfurt, Stand Sept. 1985, Rdn. 7 zu §67.
13 Stree, Walter, in: Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 22. Aufl., München 1985,
Rdn.4 zu §67.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 527

Strafzwecke auch in dem hier in Frage stehenden Bereich nicht völlig zugunsten des
Rehabilitationsgedankens aufgegeben werden darf. Ebenso dürfte der Gleichbehand-
lungsgrundsatz eine noch weitergehende Privilegierung des Untergebrachten ver-
bieten" 1 4 .

Wird dieser Vorschlag Gesetz - der Rechtsausschuß hat ihm schon


zugestimmt15 - , dann dürfte nicht nur, sondern dann wird ein Sanktions-
notstand zementiert.

II.
Die folgende Erörterung versucht das zu verbinden, was Hilde Kauf-
mann offenbar methodologisch schon vorgeschwebt hatte, nämlich die
„Einzelfallanalyse methodisch auszubauen"16 und der juristischen Argu-
mentation als notwendig vorgelagerte, empirisch gesicherte Kenntnis
dienstbar zu machen. Für den Verfasser (Verf.) bedeutet dieser Weg
nicht zugleich auch die Übernahme der theoretischen Implikationen der
Phänomenologie im Sinne Husserls, der solche „Sichtbarmachung" im
übrigen zuzuordnen ist, und schon gar nicht die Abkehr vom For-
schungsparadigma des kritischen Rationalismus mit den insbesondere
aus der Psychologie und Soziologie übernommenen statistischen Verfah-
ren. Der Einzelfall soll lediglich das Charakteristische einer Fallgruppe
plakativ belegen, wobei einzuräumen ist, daß bei hinreichend weiter
Differenzierung kein Fall wie der andere ist und daß man nie sicher sein
kann, den adäquaten Fall stellvertretend erfaßt zu haben. Nur: Jedes
korrigierende statistische Verfahren ebnet zugleich die einmalige Farbig-
keit des Einzelfalles ein. Der Verf. will sie hier; er muß daher das Risiko
eines Fehlgriffs akzeptieren.

III.
Der Fall erscheint zunächst banal. Die angeklagte Probandin (Prob.)
entwendete im Zeitraum von November bis Januar 1983 in neun Fällen
Handtaschen, die von Kundinnen während des Einkaufens in Waren-
häusern für einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen waren. Sie ent-
nahm ihnen Bargeld, Schecks und Scheckkarte und warf das Übrige in
Papierkörbe. Von den 61 erbeuteten Schecks benutzte sie 20 zum
Einkaufen und fälschte dabei die Unterschrift. Der Schaden - eingelöste
Schecks und Bargeld - betrug circa 8 350,- DM. Auch zur Jahreswende

14 Bundesrat, Entwurf eines . . . Strafrechtsänderungsgesetzes, in: Bundestagsdrucksa-


che 3 7 0 / 8 4 , (S. 5, 13).
15 Rechtsausschuß des Bundestages (6. Ausschuß), in: Beschlußempfehlung und Bericht,
Bundestagsdrucksache 1 0 / 4 3 9 1 ; 10. Wahlperiode.
16 Kaufmann, Hilde, a.a.O. ( A n m . 3 ) , S . 2 6 0 .
528 Klaus Rolinski

1983/84 entwendete die Prob, in vier nachgewiesenen Fällen Handta-


schen und Waren aus Selbstbedienungsläden und Warenhäusern. Bei den
gestohlenen oder mit gefälschten Schecks gekauften Waren, handelte es
sich um ein buntes Sammelsurium vom Damennachthemd über Kosme-
tika, Herrenhemden, Lebensmittel, bis hin zu Schreibtischgarnitur,
Büchern, Solarmobil, Schottenrock und Herrenanzug. Ferner fällt auf,
daß die Prob., obwohl sie im September 83 beim Diebstahl ertappt und
von der Polizei - weil sie mit der Beute fliehen wollte und wild um sich
schlug - überwältigt werden mußte, bis zum April 84 weiter stahl, wobei
sie noch zweimal von einem Hausdetektiv festgenommen wurde.
Zur ersten Exploration - Verf. hatte ein Gutachten zur angemessenen
Sanktion zu erstellen - erscheint ganz unerwartet eine zutiefst verunsi-
cherte Frau, der man eine solche „kriminelle Energie" spontan abspre-
chen möchte. Sie zittert vor Angst, antwortet devot und mit leiser
Stimme, weint häufig und erscheint unansprechbar gestört. Diese Hilf-
losigkeit eines in seiner Existenz offenbar nachhaltig zerrütteten Men-
schen haben auch die jeweiligen Anklagevertreter gespürt. Bei der
vorletzten Verurteilung beantragte der Staatsanwalt zwar sechs Monate
Freiheitsstrafe, blickte dann aber auf die scheue Angeklagte, senkte den
Blick und fügte tonlos hinzu: „Auf Bewährung".
Das strafrechtlich relevante Verhalten begann etwa 1975 mit einem
Ladendiebstahl, der aber ohne Staatsanwaltschaft beigelegt wurde.
Danach erfolgten folgende Verurteilungen:
- 1976/77 wegen Ladendiebstahls zu 200,- D M Geldstrafe,
- 1979 wegen Ladendiebstahls zu fünf Tagessätzen zu je 10,- D M
Geldstrafe,
- 1979 wegen Diebstahls zu 40 Tagessätzen zu je 10,- D M Geldstrafe,
- 1980 wegen Diebstahls zu zwei Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt
zur Bewährung,
- 1981 wegen Diebstahls zu drei Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur
Bewährung,
- 1983 wegen Diebstahls zu einem Monat Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur
Bewährung.
O b diese Verurteilungen und die angeklagten Tathandlungen das
tatsächliche Ausmaß der Diebstähle erfassen, konnte nicht eruiert
werden.

1. Lebenslauf der Probandin


Bereits die äußere Lebensgeschichte weist Besonderheiten auf: Die
heute 40jährige Prob, wurde unehelich geboren und kam gleich nach der
Geburt zu Pflegeeltern, die sie im Alter von vier Monaten adoptierten.
Sie absolvierte erfolgreich die Grundschule und besuchte das Gymna-
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 529

sium bis zum Alter von 16 Jahren. D a sich ihre Leistungen nun
verschlechterten, wechselte sie zur Mittelschule über, machte dort aber
die mittlere Reife. Der Leistungseinbruch ist wahrscheinlich auf ein
traumatisches Ereignis zurückzuführen, das sie bis heute nicht verarbei-
tet hat. Im Alter von 15 Jahren erklärte ihr eine Nachbarin auf der
Straße, offenbar mit dem Unterton der Gehässigkeit, daß sie ein Adop-
tivkind sei. Diese Nachricht traf die völlig unvorbereitete Prob, nachhal-
tig, wurde von ihr als existenzvernichtend empfunden, wohl insbeson-
dere deshalb, weil die Pflegeeltern ihrem Kind in der Wohnsiedlung
einfacher Arbeiter und kleiner Angestellter die Sonderrolle, etwas Besse-
res zu sein, zudiktiert hatten. Es wurde verhätschelt und verwöhnt und
vor allem von den Nachbarkindern isoliert (Spielverbot, weißes Kleid-
chen). Die Prob., die diese Selbsteinschätzung internalisiert hatte,
dachte an Selbstmord, wurde aber von einer verständigen Lehrerin, der
sie sich anvertraut hatte, davon abgebracht.
Nach der mittleren Reife arbeitete die Prob, als kaufmännische Ange-
stellte. Bereits im Alter von 18 Jahren heiratete sie einen Mann aus der
Nachbarschaft und lebte mit ihm im Haus der Adoptiveltern. In dieser
Zeit war die Adoptivmutter die Tonangebende im Haus. Sie starb nach
2/2 Jahren, der Adoptivvater heiratete erneut und zog aus. Von der
Familie ihres Mannes wurde die Prob, wie eine „Tochter" aufgenom-
men. Die gemeinsamen Wochenendaktivitäten endeten aber im Verlauf
der Jahre, weil sich die Prob, zurückzog, insbesondere als ihre Schwie-
germutter krank und pflegebedürftig wurde.
Als im vierten Ehejahr ein Sohn geboren wurde, gab die Prob, ihre
Arbeit auf und widmete sich nur noch der Familie. Ein Jahr später
wurde eine Tochter geboren.
N o c h etwa fünf Jahre nach der Geburt ihrer Kinder lebte die Prob, ein
vergleichsweise unauffälliges Leben. Danach begann ein Prozeß der Per-
sönlichkeitsspaltung - nicht im psychotischen Sinne - , der im nachhin-
ein fast dem Phänomen des double conscience nahekommt. Die Prob,
fühlte sich von ihrem Mann und ihren Kindern zunehmend ausgeschlos-
sen, nicht zu ihnen gehörig. Sie artikulierte diesen Zustand einmal mit
den Worten: „die drei und ich". Zugleich verband sich mit dem Gefühl
des Ausgeschlossenseins das Gefühl der Minderwertigkeit, das sich
zunehmend steigerte und heute Grundlage ihrer geradezu devoten Hal-
tung ist: „Mein Mann ist so klug; er kann alles, repariert alles im H a u s " .
„Ich kann nichts und bin nichts". N u r die Diebstähle scheint sie wirklich
und aktiv gelebt zu haben.
Die Ursachen für diese Isolierung ließen sich nicht eindeutig aufhel-
len. Sicher dürfte das Bedürfnis der Prob, nach Zuwendung und Zärt-
lichkeit von ihrem Ehemann nicht befriedigt worden sein. Auch die
sexuellen Kontakte vollzogen sich nach ihrem Empfinden als zu nüch-
530 Klaus Rolinski

tern. Zwar kam ihr Mann drei- bis viermal in der Woche in ihr Bett, war
aber nach zwei bis drei Minuten „fertig". Im 13. Ehejahr, die Prob, war
jetzt 31 Jahre alt, rissen die sexuellen Beziehungen zwischen den Eheleu-
ten ganz ab, der Ehemann zog aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus,
wohnte seitdem im Erdgeschoß und wurde verdächtigt, eine Freundin zu
haben, ein Verdacht, den die Prob, heute als Irrtum hinstellt. Sie selbst
dagegen freundete sich mit einem finanziell verschuldeten Nachbarn,
einem Gymnasiallehrer, an. Daraus entstand nach etwa einem Jahr ein
festes Verhältnis mit regelmäßigen sexuellen Kontakten. Außergewöhn-
lich an diesem Verhältnis war, daß die Prob, ihren Freund kontinuierlich
mit Geld (ihr Mann mußte ihr das gemeinsame Konto sperren) und
Waren aus den Diebstählen versorgte - ein Strafverfahren wegen Hehle-
rei mußte eingestellt werden, weil der Vorsatz nicht nachweisbar war -
und daß sie in die Rolle einer Dienerin gedrängt wurde mit möglicher-
weise sado-masochistischer Färbung. Daß sie seinen Garten umgrub,
während er im Haus die Zeitung las, kann noch als rollenspezifische
Profilierung interpretiert werden. Abnorm dagegen war, daß er beim
Kauf zweier Stühle von einem die Füße verkürzen ließ, damit sie
niedriger am Tisch sitzen und die Hände nach Art braver Schulmädchen
auflegen konnte. Später räumte die Prob, auch ein, daß sie geschlagen
worden war. Noch während der Exploration sprach sie mit einer
Mischung aus Angst und Hochachtung von einem „so gebildeten
Herrn" und wunderte sich eigentlich immer noch, daß „er sich ihr
überhaupt zugewandt hatte". Im Prozeß hat sie ihn aus Angst vor seiner
Macht voll gedeckt und entlastet. Dieses Verhältnis, in dem sie immer-
hin auch Zärtlichkeit (Streicheln) erfahren hatte, bestand bis kurz vor
der letzten Verurteilung, also etwa sechs Jahre lang. Während dieser Zeit
versorgte sie zwei Haushalte, den ihrer Familie und den ihres Freundes.
Den ersten ernsthaften Selbstmord versuchte sie kurz vor ihrer dritten
Verurteilung. Sie fuhr mit einem Pkw frontal gegen einen entgegenkom-
menden Tanklastwagen und überlebte ohne bleibende Verletzungen.
Danach kam sie in ambulante psychotherapeutische Behandlung, die mit
Unterbrechungen etwa vier Jahre lang durchgeführt wurde. Nach ihrer
großen Diebstahlsserie von Handtaschen machte sie einen zweiten
Selbstmordversuch mit Schlaftabletten und wurde zur stationären
Behandlung in eine psychiatrische Klinik auf die Dauer von vier Wochen
eingewiesen.

2. Bezugspersonen der Probandin


Zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung - vor der letzten Verurtei-
lung - wird die Prob, nur von einem Gedanken beherrscht: Sie hat
Angst, zu „Gefängnis" verurteilt zu werden. Eine vollzogene Freiheits-
strafe würde sie auch mit hoher Wahrscheinlichkeit vollkommen zerstö-
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 531

ren und praktisch therapieunfähig machen. Diese Befürchtung läßt sich


aus ihrer gegenwärtigen Lage begründen.
Der Tagesablauf der Prob, verläuft ereignislos und ist auf ein Minimum von Interaktio-
nen mit ihren Familienmitgliedern beschränkt und ohne emotionale Resonanz. Ihre
Tätigkeiten bestehen im Saubermachen und Essenvorbereiten. Zu gemeinsamen Aktivi-
täten k o m m t es nicht. Die Prob, ist froh, wenn sie sich nach der Küchenarbeit
nachmittags zu ihrem Sohn ins Wohnzimmer setzen „darf". Sie muß aber still sein
(stricken) und darf ihn nicht stören (Schularbeiten). Selbst am Weihnachtsabend - die
Prob, muß alle Vorbereitungen alleine treffen - gehen „die drei" voraus in die Messe,
während sie den Tisch abräumt und spült, warten aber nicht auf sie. Die Prob, lebt
praktisch n e b e n ihrem Mann und ihren Kindern.
Die Familie hat die Selbstisolierung der Prob, mitvollzogen und fordert sie nicht mehr
auf, sich am familiären Geschehen zu beteiligen.
Ihr Mann äußert schon lange ihr gegenüber keine Zeichen der Zuwendung oder
Vertraulichkeit. Körperliche Kontakte kommen nicht vor. Es gelingt beiden nicht, ihre
ehelichen Konflikte zu verbalisieren oder gar zu lösen. Selbst nach lautstarkem Streit
folgt keine versöhnende Aussprache. Im Außenfeld allerdings tritt der Ehemann für die
Prob, ein, bezahlt die Rechnungen des Anwalts und hat noch niemals mit Scheidung
gedroht. Diese formale Anständigkeit mag in seiner katholischen Erziehung begründet
sein.
Aber nicht nur ihr Mann, sondern auch ihr Sohn hat offenbar die dienende Rolle der
Prob, als „getretenes H ü n d c h e n " akzeptiert, ohne daß er Gefühle äußert, die so etwas
wie Zuneigung oder mitmenschliche Wärme ausdrücken.
Den besten emotionalen Kontakt hat die Prob, noch zu ihrer Tochter, der aber auch
durch Gehorsam gekennzeichnet ist. Wenn die Tochter die weitere Psychotherapie
verbietet, dann bricht die Prob, sie ab. Erst als sie sich die Fortsetzung flehend zum
Geburtstag wünscht, „erlaubt" es die Tochter. D i e Prob, projiziert ihre Situation sehr
deutlich in die Tafel 3 G F des Thematic Apperception Test ( T A T ) :
„Drinnen sitzen alle zusammen. Sie ist ausgeschlossen. Mit ihr spricht man nicht. Sie
läßt man auch nicht mitreden. Sie fragt sich, wie soll das anders werden? Sie geht auch
lieber raus. D a s ist besser so. Alleine kann man viel besser weinen. Sie will nicht, daß
die anderen ihr Leid sehen. Ich weiß nicht, warum die anderen so lustig sind. Sie selber
hat nichts erlebt, kann nichts erzählen. Im H a u s e erlebt man ja nichts.
A B : Sie wird zum Friedhof gehen.
A B : Weil ich das auch mache. Ich gehe auch auf den Friedhof und erzähle meiner M a m a
(Adoptivmutter) alles. Sie hat nicht viel H o f f n u n g , daß das anders wird".

Als Ausnahme erscheint nur ein Ubertragungsverhältnis zur Psycho-


therapeutin zu bestehen, das aber ebenfalls durch Unterwürfigkeit
gekennzeichnet ist. Die Prob, projiziert ihr verklärtes Mutter-Kind-
Verhältnis auf die Arztin, die die Mutterrolle einnimmt.
Keine Beziehungen bestehen dagegen zu ihrem Adoptivvater und
dessen zweiter Frau. Es entspricht geradezu einem Lehrbuchfall, daß die
Prob, ein Kätzchen hat, das „sich immer an sie schmiegt und auf sie
wartet".
Als Ergebnis ist mithin festzuhalten, daß die Prob, in emotionaler
Isolierung die inferiore Rolle der geprügelten Dienerin übernommen
hat. Ausgestoßen von der Familie und schamlos ausgenutzt vom
Freund, hat sie einen Grad von Hilflosigkeit erreicht, in der Wirklich-
532 Klaus Rolinski

keit und Vorstellung anfangen, ineinander überzugehen. Die Prob,


erklärt ihrer Therapeutin am Telefon, daß es sie (die Prob.) gar nicht
gäbe. Sie sei auf dem Weg zum Telefon am Spiegel vorbeigekommen und
habe sich nicht mehr gesehen. „Aber dann hat die Frau D o k t o r mich
zurückgeschickt und gesagt, schauen sie in den Spiegel, da können sie
sich sehen. U n d dann habe ich mich gesehen und gewußt: Es gibt mich
doch".
Unter dem Eindruck dieser fragilen Lage überrascht ein Ereignis, auf
das Verf. durch puren Zufall gestoßen ist. Ein Mann mittleren Alters
meldet sich, bittet um einen Termin und erzählt dann, er habe die Prob,
auf dem letzten Faschingsball kennengelernt. Sie sei dort mit ihrer
Freundin gewesen. Er liebe sie. Sie sei eine so tolle Frau. Er sei zwar
verheiratet, aber das mache nichts. Er lasse sich scheiden. Die Prob,
möchte er heiraten und erbittet dazu jede Hilfe.
Double conscience ähnliches Verhalten oder Ausagieren unbefriedig-
ter Bedürfnisse nach Aktivität, Einfluß und Zuwendung? Die Prob,
äußert sich über diesen Sachverhalt genausowenig wie über die näheren
Umstände der Diebstähle. Sie schweigt, zittert, weint und sagt, daß sie
sich nicht erinnere. N u r die Delikte, die ihr von der Polizei nachgewie-
sen sind, gibt sie zu, aber mit der Begründung, wenn die Polizei das
sage, wird es wohl stimmen. Man könnte meinen, sie lüge geschickt, um
günstig beurteilt zu werden. Immerhin hatte sie nicht einmal ihrer
Psychotherapeutin die Existenz des ersten Freundes mitgeteilt, so daß
ihr Ehemann als böser Macho und Unterdrückter von Frauenrechten
eingestuft wurde. Tatsächlich wird man annehmen müssen, daß bei der
Prob, taktierendes Lügen und Verdrängung fließend ineinander über-
gehen.

3. Hypothesen zur Ätiologie


Eine adäquate Sanktion m u ß die Ursachen der Störung berücksichti-
gen. Zunächst haben ein Psychiater und eine von der Medizin herkom-
mende Psychotherapeutin unabhängig voneinander festgestellt, daß eine
Erkrankung psychotischer Art nicht vorliegt.
Auch einen Fall von „pathologischer Kleptomanie" wird man ableh-
nen müssen. In diesen Fällen offenbaren sich die Frauen dem Gutachter
gegenüber und berichten, daß sie aus einem „unwiderstehlichen Drang"
gehandelt oder „orgasmusartige sexuelle Gefühle" während des Stehlakts
erlebt hätten 17 . Derartige Beobachtungen liegen hier nicht vor.

17
Floru, L., Der Begriff des pathologischen Stehlens, in: Monatsschrift für Kriminolo-
gie und Strafrechtsreform 1957, S. 72-88; Schumann, Hans-Joachim von, Entschuldbare
Eigentumsdelikte, Hamburg 1975, S. 64 ff; Dietrich, Heinz, Manie - Manomanie - Sozio-
pathie und Verbrechen, Stuttgart 1968, S. 43 ff.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 533

Eine psychoanalytische Interpretation liegt zwar nahe, dürfte aber


wohl nur den Psychoanalytiker überzeugen. Man könnte annehmen, das
Trauma der Adoption und die Unfähigkeit des Adoptivvaters, die
Vaterrolle beizubehalten, haben dazu geführt, daß die Vaterfigur negativ
besetzt, verdrängt, die Mutterrolle hingegen positiv besetzt und kindlich
verklärt worden ist. Die „Fluchtheirat" spricht dafür, daß die Prob,
nicht einen Partner, sondern eine Vaterfigur als Ersatz gesucht hat.
Diese Erwartung hat ihr Ehemann nicht erfüllen können. Die Diebstähle
wären dann Handlungen, um die Vaterfigur herauszufordern, sei es in
Form von Racheakten wegen der fehlenden Zuwendung im Kindesalter
oder in Form von Aufmerksamkeitshandlungen, um die gegenwärtige
Zuwendung, wenn auch nur in Form von Beschimpfung zu erhalten.
Näher dürfte die schon oben erwähnte Hypothese von der zwanghaf-
ten Kompensation unterdrückter Bedürfnisse der Zuwendung, des Ein-
flusses und der Aktivität auf der Grundlage einer infantilen und existen-
tiell verunsicherten Persönlichkeit sein. Unter dieser Annahme läßt sich
auch die rationale Klarheit, ja geradezu Gerissenheit der Prob, bei der
Ausführung der Delikte - abwarten bis eine Kundin ihre Handtasche
unbeobachtet läßt und blitzschnelles Zugreifen - leicht einordnen. Die
Funktion der Diebstahlshandlung liegt in der zeitweiligen Befreiung von
der permanenten Bedrückung, wobei anzunehmen ist, daß positive
Gefühle der eigenen Stärke, des Wohlbehagens und wohl auch der
Freude auftreten. Einfügen läßt sich in diese Hypothese auch die sprü-
hende Aktivität der Prob, auf dem Faschingsball, da das kompensato-
risch-ausagierende Verhalten nicht notwendigerweise ein deliktisches
Verhalten sein muß. Für ihre Rolle als unterdrückte Dienerin des Hauses
kommt ein allein besuchter Faschingsball ohnehin einem abweichenden
Verhalten gleich.
Die beiden Sachverständigen sprechen von einem „depressiven Syn-
drom bei hysterischer Grundstruktur" oder von einer „schweren neuro-
tischen Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert", wobei der Dieb-
stahl selbst als „depressive Durchbruchshandlung" zu deuten sei. Sie
billigen der Prob. §21 StGB zu.

4. Art der Sanktion


Problematisch ist die Folgerung, die der Richter aus diesen Befunden
ziehen soll. Lassen wir die Frage des Schuldausgleichs als Geheimnis des
Richters beiseite, dann wird man zu den zur Verfügung stehenden
Sanktionen sagen dürfen:
Eine Geldstrafe wird wegen der unveränderten Bedingungskonstella-
tion wohl ohne Einfluß bleiben und eine Freiheitsstrafe wird das Gericht
wegen der bisher erfolglosen Strafaussetzungen nicht noch einmal aus-
setzen können.
534 Klaus Rolinski

Würde eine Freiheitsstrafe vollzogen, so bliebe die Prob, nicht nur


ohne Behandlung, sondern würde weiter in die emotionale Isolierung
hineingedrängt werden. Das Stigma „im Gefängnis gewesen", würde
ihre inferiore Rolle in der Familie und ihr negatives Selbstbild noch
verstärken, und ihr Ehemann hätte wegen der ablehnenden Reaktion der
Nachbarschaft noch größere Schwierigkeiten, auf seine Frau zuzugehen.
Der Gefängnisaufenthalt und die daraus folgende Stigmatisierung
könnte also bei der Prob, zum totalen Zusammenbruch und zum
Selbstmord führen. Die geeignete Sanktion müßte mithin die drei wich-
tigen Aspekte der
- möglichst geringfügigen Stigmatisierung, der
- Erhaltung noch vorhandener Bindungen in der eigenen Familie und
der
- Ermöglichung einer weiterführenden psychotherapeutischen Behand-
lung
berücksichtigen. Steht eine solche Maßregel dem Richter zur Verfü-
gung?

IV.
Nach dem Gesetz hat der Richter zunächst wegen des Schuldaus-
gleichs auf eine Strafe zu erkennen. Das Landgericht hat daher die Prob,
zu zwei Gesamtfreiheitsstrafen von insgesamt 25 Monaten verurteilt und
eine Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt. Da eine bloße Freiheits-
strafe aber den Sanktionsbedürfnissen des Falles nicht gerecht wurde
und die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit gemäß §21
vorlagen, hat es zugleich die Unterbringung der Prob, in einem psychia-
trischen Krankenhaus gemäß § 63 angeordnet und vorsorglich - wegen
Suizidgefahr - die sofortige Einweisung verfügt.
Als Kernfrage bleibt, ob § 63 geeignet ist, den Sanktionsnotstand, der
in diesem und in vergleichbaren Fällen auftritt, zu beseitigen. Die Frage
stellt sich insbesondere aus zwei Gründen. Einmal ist die Maßregel der
sozialtherapeutischen Anstalt (§65) nun endgültig dem Sparen am fal-
schen Platz mit der Folge zum Opfer gefallen, daß der Richter bei den
therapiebedürftigen Fällen der verminderten Schuldfähigkeit - mit Aus-
nahme der Suchtfälle nach § 64 - auf die Maßregel des § 63 beschränkt
ist. Zum anderen kann die Maßregel der Einweisung in ein psychiatri-
sches Krankenhaus,wie oben dargelegt, wegen der restriktiven Recht-
sprechung der Oberlandesgerichte erst dann beendet werden, wenn sie
mindestens bis zur Hälfte der gleichzeitig verhängten Freiheitsstrafe
vollzogen ist. Das aber bedeutet das Wegsperren dieser Fallgruppe im
psychiatrischen Krankenhaus, und zwar nach erfolgreicher Therapie.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 535

Die Einweisung dieser Verurteilten erfolgt nach dem Grundgedanken


des §63: Es soll die Gesellschaft vor den gefährlichen Straftätern
geschützt werden, denn die „Gesamtwürdigung des Täters und seiner
Tat" muß ergeben, „daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche
rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemein-
heit gefährlich ist". Der Grad der Gefährlichkeit in § 63 wird aber - mit
Recht - niedriger angesetzt als in § 66, nach dem die Sicherungsverwah-
rung angeordnet wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts-
hofs genügen bereits Delikte der mittleren Kriminalität, was auch immer
das sein mag: im entschiedenen Fall eine Serie von Einbrüchen mit einem
Gesamtschaden von 1500,- DM18. Die Folge der Reduzierung des
Gefährlichkeitsgrades ist eine Zunahme der Bedeutung des Merkmals
therapiebedürftig. Nach Rechtsprechung und Literatur erfolgt die Ein-
weisung nicht nur zur Sicherung des Täters, sondern - als Nebenzweck
- auch zu seiner Besserung. Nach manchen hat sogar der „Resozialisie-
rungs- oder Rehabilitationsgedanke grundsätzlich Vorrang vor dem
Sicherungszweck" 1 '. Zwar widerspricht m. E. diese Tendenz dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62), doch spiegelt sie das vernünf-
tige Bedürfnis der Praxis wider, die Fälle, die therapiebedürftig und
therapiegeeignet sind, mit Hilfe des Merkmals „gefährlich" über §63
wenigstens der Psychotherapie eines psychiatrischen Krankenhauses
zuzuführen.
Dieser Weg kann aber kein Ersatz der leichtfertig gestrichenen Maßre-
gel sozialtherapeutische Anstalt sein. Bei einem Teil der Fälle, nämlich
bei den Eigentums- und Vermögensdelikten unterhalb des Einbruchs in
Serie, dürfte das Merkmal „für die Allgemeinheit gefährlich" und damit
die Voraussetzungen des §63 gar nicht vorliegen. Auch unsere Prob,
hätte nach dem jetzigen gesetzlichen Sanktionensystem in den Erst- und,
nach dem mit Sicherheit folgenden nächsten Delikt, in den Regelvollzug
eingewiesen werden müssen. Darüberhinaus sind die psychiatrischen
Krankenhäuser für diese Einweisungsfälle contra legem nur bedingt
eingerichtet. Wird nämlich ein Verurteilter nach §63 als „gefährlich"
eingewiesen, wird er notwendigerweise in der geschlossenen (forensi-
schen) Abteilung untergebracht, und zwar ohne Rücksicht auf sein
eigenes Krankheitsbild. Da diese Abteilung mit den „schweren Fällen"
belegt ist, muß er einmal mit diesen auf engem Raum zusammenleben
und bleibt darüberhinaus praktisch ohne Psychotherapie, weil auf einer
geschlossenen (forensischen) Station mit Psychopathen und Oligophre-
nen eine solche Behandlung nur in Ansätzen möglich ist. So war es im

18 BGHSt, N J W 1976, S. 1949.


19
Müller-Dietz, Heinz, Rechtsfragen der Unterbringung nach §63 StGB, in: NStZ
1983, S. 145-152 und S. 203-207, (S. 148).
536 Klaus Rolinski

vorliegenden Fall trotz zahlreicher Telefonate, die im Regelfall nicht


geführt werden, nicht möglich, in Bayern und außerhalb Bayerns ein
zuständiges psychiatrisches Krankenhaus zu finden, das eine geeignete
Therapie hätte anbieten können. Daher hat auch unsere Prob, die
geschlossene Abteilung als erdrückende Bedrohung ihrer Existenz erlebt
und mit panischer Angst reagiert. Man wird wohl zugeben müssen, daß
weder ihre „schwere neurotische Persönlichkeitsstörung" noch ihre
„Gefährlichkeit" eine solche Form von Freiheitsentzug rechtfertigen.
Das Gericht trifft kein Vorwurf: Es hat in seinem Sanktionsnotstand mit
Bezug auf die Zukunft nur das geringste Übel gewählt.
Nun mag man einwenden, daß der Klinikchef als zuständiger Voll-
zugsleiter für den Maßregelvollzug den Verurteilten in die offene Abtei-
lung verlegen und damit einer Psychotherapie zuführen kann. Rechtlich
hat er diese Befugnis, faktisch muß er sie mit größter Zurückhaltung
ausüben. E r haftet nämlich der Öffentlichkeit gegenüber dafür, daß ein
Entweichen, mit oder ohne Rückfall, nicht auftritt und das ist für einen
Arzt eine außerhalb seiner normalen Tätigkeit liegende Aufgabe, deren
Bewältigung regelmäßig mit Verunsicherung einhergeht. In dieser
Pflichtenkollision kann er nicht einmal auf gesetzliche Regelungen, dem
Strafvollzugsgesetz vergleichbar, zurückgreifen, und darüberhinaus ver-
fügen psychiatrische Krankenhäuser regelmäßig nicht - wie die Konzep-
tion der sozialtherapeutischen Anstalt - über halboffene Einrichtungen.
Schließlich findet er - örtlich sicher unterschiedlich - bei der Staatsan-
waltschaft als Vollstreckungsbehörde keine dialogische Unterstützung,
denn der zuständige Staatsanwalt pflegt sich grundsätzlich für unzustän-
dig zu erklären: Der Jurist ist froh, daß der Arzt der Gesellschaft
gegenüber für einen eventuellen Rückfall haftet. Findet sich aber ein
couragierter Arzt, der das Risiko der Behandlung übernimmt, dann wird
er sozusagen zusätzlich justizförmig torpediert: Er kann eine erfolgrei-
che Therapie nicht für beendet erklären. Der Verurteilte muß nach dem
Gesetz entweder im psychiatrischen Krankenhaus bleiben oder in die
Strafanstalt übersiedeln, solange jedenfalls, bis er die Hälfte der Strafzeit
in irgendeiner Form verbüßt hat. Wird diese resozialisierungsfeindliche
Auslegung vom Gesetzgeber zwingend vorgegeben?
Die Oberlandesgerichte und einige Stimmen in der Literatur versu-
chen ihre Auffassung, unterschiedlich differenziert und akzentuiert, im
wesentlichen mit zwei Argumenten zu stützen:

- Die Auslegung des § 67 Abs. 5, insbesondere die Berücksichtigung des


Wortlauts und des Willens des historischen Gesetzgebers, spräche für
die Beseitigung nur der 2 /i-Mindestverbüßung und
- die Beseitung auch der /2-Mindestverbüßung verletzte den Schuld-
und den Gleichheitsgrundsatz (Gerechtigkeitsargument).
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 537

Auf den Wortlaut des § 67 Abs. 5 stellt Horn20 ab. Er meint, weil nur
eine Befreiung von § 57 Abs. 1 StGB formuliert sei, habe § 57 Abs. 2
Gültigkeit, andernfalls - so unausgesprochen - hätte der Gesetzgeber
auch § 57 Abs. 2 ausdrücklich ausschließen müssen. Die Voraussetzun-
gen für dieses argumentum e contrario liegen aber nicht vor. Wie Klug21
nachgewiesen hat, ist diese Form des Schließens nur erlaubt, „wenn die
betreffenden Rechtsvoraussetzungen die jeweiligen Rechtsfolgen inten-
siv oder gegenseitig implizieren"22. Wir können auch formulieren, wenn
der Gesetzgeber die Rechtsfolge „Strafrestaussetzung" n u r an die
Rechtsvoraussetzung „Verbüßung von weniger als % der Strafe"
geknüpft hätte, ist der Umkehrschluß erlaubt, keine Aussetzung, wenn
'/2 der Strafe noch nicht verbüßt ist. Aus dem Gesetz läßt sich gerade
diese Einschränkung nicht entnehmen. Die Formulierung „ a u c h d a n n
nach § 57 Abs. 1 aussetzen" spricht für eine kumulative Erweiterung und
gegen die Annahme einer „notwendigen Voraussetzung" für die Rechts-
folge. Wie offen die Formulierung ist, zeigt das Vorhandensein weiterer
Rechtsvoraussetzungen, denn die Reststrafenaussetzung ist auch
erlaubt, wenn 2A der Strafe, aber noch nicht die gesamte, verbüßt ist. Ob
der Gesetzgeber also die Strafrestaussetzung „nur" an die Rechtsvoraus-
setzung des § 57 Abs. 1 knüpfen wollte, ist mithin im Streit und Gegen-
stand der Auslegung. Wer mit dem argumentum e contrario den Beweis
führt, versucht in Wahrheit, mit der erwünschten Rechtsfolge die
Rechtsvoraussetzungen für diese Rechtsfolge zu belegen23. Das O L G
Celle24 hat daher zurecht ausgeführt, daß der Wortlaut des § 67 Abs. 5
beide Deutungen - nur Befreiung von der %-Grenze und Befreiung
auch von der '/^-Grenze - zuließe.
Den Willen des historischen Gesetzgebers zieht insbesondere das
O L G Celle25 heran, und zwar die Protokolle des Sonderausschusses für
die Strafrechtsreform. In diesem Gremium war die Frage kontrovers, ob
die Strafe nach Erledigung der Maßregel, d. h. nach erfolgreicher psy-
chotherapeutischer Behandlung, auszusetzen sei oder ob der Therapierte
wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung in die Strafanstalt zu
verlegen sei, damit er nicht besser davonkomme im Vergleich zu dem
allein zu Freiheitsstrafe Verurteilten. Freilich würde diese Lösung
bedeuten, daß mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit der Therapieer-
folg im Anschlußvollzug wieder verlorenginge. Abgeordnete der SPD-

20 Horn, Eckhard, a.a.O. (Anm. 12), Rdn. 7 zu §67.


21 Klug, Ulrich, Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin 1966, S. 124.
22 Klug, Ulrich, a.a.O. (Anm. 21), S. 128.

23 Vgl. auch Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin


1975, S. 376.
24 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422).

25 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422).


538 Klaus Rolinski

Fraktion hatten zwar den Vorschlag eingebracht, zugunsten der Reso-


zialisierung auf jede weitere Strafverbüßung zu verzichten, der von der
Mehrheit der Länder auch akzeptiert wurde (gegen die Stimme Bayerns,
bei Enthaltungen von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und dem Saar-
land)26, doch hat der Sonderausschuß dieser Lösung nicht zugestimmt 27 .
Maßgeblich war das oben genannte „Gerechtigkeitsargument", wobei
von den selteneren Fällen - acht Jahre Freiheitsstrafe - paradigmatisch
ausgegangen wurde.
Im weiteren Verlauf der Diskussion über diesen Punkt trübt sich der
klare Wille des historischen Gesetzgebers. Das Ausschußmitglied Mül-
ler-Emmert bringt in der 146. Sitzung eine „Kompromißlösung" ein,
nämlich die Formulierung des heute geltenden § 67 Abs. 5. Er begründet
sie:
„Damit wäre - in Verfeinerung der von ihm in der 131. Sitzung beantragten Formulie-
rung - klar auf den § 57 Abs. 1 Bezug benommen und zum Ausdruck gebracht, daß im
Einzelfall auch die %-Grenze des § 57 unterschritten und der gesamte Strafrest ausge-
setzt werden könne"28.

In der sich anschließenden kurzen Diskussion wird die Frage des § 57


Abs. 2 nicht aufgeworfen, so daß schlicht unklar bleibt, wovon die
Ausschußmitglieder bei der Abstimmung ausgingen. Berücksichtigt
man, daß Müller-Emmert eine „Kompromißlösung" eingebracht hat,
die auf die Ablehnung der radikalen Resozialisierungslösung zu bezie-
hen ist, so klingt die Auffassung des O L G Celle plausibel: „Der Senat
halte es jedoch für ausgeschlossen, daß dieser Fassung eine so weitge-
hende Bedeutung zukommen sollte . . ." 29 . Man kann das Kompromiß-
merkmal aber auch auf die Kann-Formulierung beziehen. Der Kompro-
miß läge dann darin, daß der Richter nicht gezwungen ist, bei Vorliegen
der Voraussetzungen die Strafe zur Bewährung auszusetzen, sondern
daß die Strafvollstreckungskammer im Einzelfall, z . B . auch unter
Berücksichtigung des Gerechtigkeitsarguments (Schuldausgleich) 30 , die
Strafaussetzung versagen kann.
Auch die Begründung im zweiten schriftlichen Bericht für den Ver-
zicht auf die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB bringt keine
Klarheit.

26 Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, Protokolle V, S.2025.


27 Sonderausschuß, a.a.O. (Anm.26), S.2328.
28 Sonderausschuß, a.a.O. (Anm. 26), S. 3247/3248).
29 O L G Celle, J R 1978, S.421 (422).

30 Vgl. Hanack, Ernst-Walter, in: Leipziger Kommentar (LK), Hg., H.-H.Jescheck,


10. Aufl., Berlin 1985, Rdn.20, 21 zu §67.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 539

„Nach Ansicht des Ausschusses ist nicht einzusehen, warum der Verurteilte, obwohl
der Maßregelzweck erreicht ist, in solchen Fällen anschließend noch stets im Vollzug
zurückbehalten werden soll, bis zu % der Strafe verbüßt sind" 31 .

Es leuchtet daher ein, daß Lenckner meint, der Gesetzgeber habe sich
im letzten Augenblick für die Beseitigung der Grenzen des § 57 Abs. 1
und 2 StGB entschieden 32 . Dennoch: Sicher wird man sagen können, der
Wille des historischen Gesetzgebers kommt in den Materialien nicht klar
zum Ausdruck. Dann reicht er aber zur Auslegung eines Gesetzes nicht
aus.
Eine vergleichsweise sichere Auslegung folgt m. E. aus der ratio legis
des § 67 Abs. 5 (teleologische Auslegung) und aus der systematischen
Stellung der betroffenen Vorschriften. § 67 soll den Konflikt regeln, der
dann entsteht, wenn die Maßregel erfolgreich vor der Strafe vollzogen
worden, die gleichzeitig verhängte Strafe aber noch nicht durch Anrech-
nung erledigt ist. Die wiederholt ausgesprochene Zielsetzung besteht
darin, die Erhaltung der mit der Maßregel erreichten Besserung nicht
aufs Spiel zu setzen 33 . N u r deshalb wurde eine weitere Verbüßung von
Freiheitsstrafe ausschließlich für den Fall vorgesehen, daß „Umstände in
der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen" (§67 Abs. 5,
Satz 2); niemals z.B. aus Gründen der Generalprävention 34 . Die Ausle-
gung, nach der die Hälfte der Freiheitsstrafe verbüßt werden muß (§ 57
Abs. 2), gerät mit dieser Zielsetzung in unauflösbaren Widerspruch. Die
Verlegung des Verurteilten in die Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung
der Freiheitsstrafe ist wegen der Beschränkung gemäß § 67 Abs. 5 Satz 2
grundsätzlich verwehrt. U n d die nur noch verbleibende Möglichkeit des
Aufenthaltes im psychiatrischen Krankenhaus verstößt gegen den
Grundsatz, eine Maßregel aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht ist
( § 6 7 d Abs. 2). Diese Aporie vermeidet die Strafrestaussetzung, die auch
von der Begrenzung der Vi-Verbüßung absieht.
Die weitere systematische Auslegung stützt dieses Ergebnis. §57
Abs. 1 regelt den Grundfall der Strafrestaussetzung. H a t der Verurteilte
ein Mindestmaß der Strafe (2A) verbüßt, besteht eine positive Prognose
und willigt er ein, so hat das Gericht den Strafrest zwingend auszuset-
zen. Abs. 2 stellt zu dieser Grundsituation einen Ausnahmefall dar, weil
er zusätzliche Merkmale erfordert und weil er lediglich als Kann-
Vorschrift formuliert ist. Auch § 67 Abs. 5 Satz 1 stellt eine Ausnahme-

31
2. Schriftlicher Bericht zum 2. Strafrechtsreformgesetz, BT-Drucksache V/4095,
5. Wahlperiode, S. 32.
32
Lenckner, Theodor, a.a.O. (Anm. 11), S. 232.
" Hanack, Ernst-Walter, a.a.O. (Anm.39), Rdn. 18 zu §67; Marquardt, a.a.O.
(Anm. 8), S. 105.
54
2. Schriftlicher Bericht, a.a.O. (Anm. 31), S.32.
540 Klaus Rolinski

regelung zu § 57 Abs. 1 dar. Soll aber in der Ausnahmevorschrift von


einer Voraussetzung der Grundregel abgesehen werden - hier von dem
Erfordernis der Mindestverbüßung - , dann genügt eine Verweisung auf
die Grundregel. Eine Bezugnahme auf eine weitere Ausnahmeregelung
(§57 Abs. 2) darf der Gesetzgeber nur vornehmen, wenn er auch die
Voraussetzungen der Ausnahmeregelung einbeziehen will, hier: die
Mindestverbüßung von einem Jahr Freiheitsstrafe und „besondere
Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten" 35 . Der
Hinweis auf die Auslegungsregel, wonach Ausnahmetatbestände restrik-
tiv zu interpretieren seien - hier: Nur Befreiung von der K-Mindestver-
büßung - , geht im vorliegenden Fall fehl. Da die Oberlandesgerichte
diese systematische Stellung der §57 Abs. 1 und §67 Abs. 5 nicht
berücksichtigen, geraten sie in einen weiteren Widerspruch: Sie über-
nehmen zwar eine Voraussetzung des § 57 Abs. 2, nämlich die Zeitsperre
der Halbverbüßung, lehnen aber die übrigen als irrelevant ab36. Wer aber
eine unausgesprochene Verweisung annimmt, muß auch die übrigen
Merkmale der Vorschrift berücksichtigen, will er sich nicht dem Vor-
wurf der Willkür aussetzen.
Die systematische Stellung führt also zu dem Ergebnis, daß der
Gesetzgeber - nicht notwendig auch der historische - mit der Verwei-
sung auf § 57 Abs. 1 nicht nur von der sondern auch von der XA-
Mindestverbüßung befreien wollte.
Bleibt zu fragen, ob Schuld- und Gleichheitsgrundsatz wirklich ver-
letzt sind, wenn der Verurteilte, der zu Freiheitsstrafe und Maßregel
verurteilt worden ist, schon vor Verbüßung der Hälfte seiner Freiheits-
strafe zur Bewährung entlassen wird, während derjenige, der „nur" zu
einer gleichlangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, diese bis zu % oder
- im Ausnahmefall (§ 57 Abs. 2) - bis zu Vi verbüßen muß, ehe er in die
Freiheit entlassen werden darf?
Notwendig ist zunächst, das fiktive Beispiel von acht Jahren Freiheits-
strafe, mit dem im Sonderausschuß die unerhörte Schwere der Verlet-
zung des Gleichheitssatzes belegt wurde, auf die regelungsbedürftige
Faktizität, die ja immerhin empirisch meßbar ist, zurückzuführen. Die
Anlaßtat, deretwegen bei den Probanden im Material von Marquardt die
Maßregel der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus (damals
§ 42 b StGB) angeordnet wurde, verlangte nur in 7,7 % eine Zuchthaus-
strafe, in 92,3 % reichte eine Gefängnisstrafe für den Schuldausgleich
aus. 64 Probanden (= 82 %) wurden mit einer Freiheitsstrafe von
3 Monaten bis zu 2 Jahren, 7 (= 9 %) zu zwei bis drei Jahren und nur
6 (= 8 %) zu einer Freiheitsstrafe zwischen vier und fünf Jahren Gefäng-

35 A . A . O L G Stuttgart, OLGSt § 6 7 Nr.2, S.51.


36 So O L G Stuttgart, OLGSt § 6 7 Nr. 3, S.7.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 541

nis, bzw. zwischen vier und zehn Jahren Zuchthaus (= 3 Fälle von 78)
verurteilt37. Diese Daten korrespondieren mit dem vorliegenden „typi-
schen" Fall. Berücksichtigt man die durchschnittliche Therapiedauer,
die gegenwärtig für neurotische Störungen auf durchschnittlich 10-12
Monate geschätzt wird - die durchschnittliche Behandlungsdauer der im
übrigen nach §63 eingewiesenen Straftäter beträgt 4—5 Jahre38 - , wird
deutlich, daß der Streit um eine ideologische Position geführt wird. Im
Regelfall wird ja ohnehin die Hälfte der Strafzeit durch die notwendige
Therapiezeit verbraucht. Die hohen Zuchthausstrafen betreffen grund-
sätzlich psychotische Straftäter, bei denen eine Psychotherapie - wenn
überhaupt - nur sehr begrenzt möglich ist, so daß diese Täter aus
Sicherheitsgründen zu verwahren sind. Auch im vorliegenden Fall ist die
Psychotherapie bereits so erfolgreich gewesen, daß die Prob, schon
einen längeren Urlaub in ihrer Familie verbringen konnte, so daß es sehr
unwahrscheinlich ist, daß die gesamte „zu verbüßende" Therapiezeit
auch benötigt wird. Das Problem der vorzeitigen Entlassung würde
dann auch hier resozialisierungshemmend auftreten.
Zu entscheiden ist also darüber, ob es besser ist, in einem Teil der
therapiegeeigneten Fälle eine Psychotherapie rechtzeitig zu beenden und
damit ihren Erfolg zu sichern oder ob in einigen wenigen Fällen das
Vergeltungsbedürfnis so schwer wiegt, daß die Verhinderung einer
drohenden Ungleichbehandlung nicht einmal dem Richter über eine
gesetzliche Kann-Regelung anvertraut werden darf. Die Entscheidung
dieser Frage hängt sicherlich vom ideologischen Standpunkt ab. Für
mich ist die Unterschreitung einer schuldangemessenen Strafe — und
darauf liefe ja eine vorzeitige Reststrafaussetzung hinaus - schon deshalb
vertretbar, weil die ausgeworfenen Strafhöhen wegen der Irrationalität
der Strafzumessung innerhalb einer ziemlich offenen Bandbreite ohne-
hin nicht vergleichbar sind. Wer in X vor die Kammer Y kam - in
Anwaltskreisen als „Jüngstes Gericht" apostrophiert, im Gegensatz zur
„Herz-Jesu-Kammer" - , erhielt für seinen Einbruch schon wegen des
spiritus loci ein Jahr Freiheitsstrafe mehr zudiktiert. Darüberhinaus
wirkt in erster Linie der Schuldspruch, d.h. die öffentliche Verurtei-
lung, als Reaktion auf eine Regelverletzung normstabilisierend und
damit generalpräventiv. Die Rechtsadressaten nehmen eine Reduzierung
der Strafverbüßung zugunsten einer Resozialisierung nur wahr, wenn sie
zum Regelfall wird. So assoziiert der Bürger mit lebenslanger Freiheits-
strafe etwa 20 Jahre, aber nicht den Tod des Verurteilten in der Strafan-

37 Marquardt, Helmut, a.a.O. (Anm. 8), S. 103, 104.


J! Bischof, H. L., Behandlungsdauer strafrechtlich Untergebrachter im psychiatrischen
Krankenhaus, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1985, S. 29-34
(30).
542 Klaus Rolinski

stalt. Im übrigen wird die Normgeltung durch Resozialisierung nicht


gefährdet. Bei der vorliegenden Fallgruppe handelt es sich aber um
extreme Ausnahmefälle, die nur die Gerechtigkeit der Verurteilungen
zueinander betrifft. Unter Anerkennung dieser Sachverhalte ist der
Spezialprävention im Verhältnis zum Schuldausgleich grundsätzlich grö-
ßeres Gewicht beizumessen. Mit Recht hat Hanack auch auf die Unter-
schiedlichkeit der Fallgruppen aufmerksam gemacht, die eine unter-
schiedliche Bewertung rechtfertigt. Wenn auch die verminderte Schuld-
fähigkeit im Strafmaß schon zum Ausdruck kommt, so bleibt doch das
zusätzliche Merkmal der psychischen Störung oder Krankheit, das eine
besondere Zuwendung (Behandlung) durch die Rechtsgemeinschaft
nach dem Sozialstaatsprinzip verlangt. Fördert der Verurteilte seine
Psychotherapie durch intensive Mitarbeit, kann hierin so etwas wie ein
positives Nachtatverhalten (§46 Abs. 2 StGB) als strafmindernd bewer-
tet werden 39 . Wenn dagegen Horn geltend macht40, der einzelne Ange-
klagte würde sich die Möglichkeit der vorzeitigen Strafrestaussetzung
dadurch erschleichen, daß er sich zu Strafe und Maßregel verurteilen
läßt, übersieht er die Filter des Sachverständigengutachtens, des verur-
teilenden Gerichts, der psychiatrischen Behandlung und der erneuten
richterlichen Beurteilung durch die Strafvollstreckungskammer. Wer
hier anfangs „erfolgreich" war, wird spätestens in der psychiatrischen
Behandlung auffallen und über § 67 Abs. 5 Satz 2 - als Profi - in den
Strafvollzug überwiesen werden. Und wer zweifelnd meint, es könne
doch der eine oder andere „durchrutschen", der sollte akzeptieren, daß
die „Gerechtigkeit", die mit einer auch den extremsten Ausnahmefall
erfassenden „wasserdichten" Regelung erreicht wird, die Gerechtigkeit
im Regelfall - hier: rechtzeitige Beendigung erfolgreicher Psychothera-
pie - erschlägt. Im Ergebnis kann das „Gerechtigkeitsargument" mithin
nur den überzeugen, der vom abstrakten Vergeltungsdenken ausgeht.
Vergegenwärtigt man sich die vorgesehene gesetzliche Änderung auf
dem Boden des Streitstandes, wird deutlich, daß sich der Gesetzgeber
zum Zugpferd der Gegenreform macht. In Wahrheit wird nicht nur eine
unklare Formulierung korrigiert, sondern der Vollzug der Maßregel
psychiatrisches Krankenhaus weiterhin und zusätzlich behindert. Zu
befürchten ist nämlich, daß die Kann-Formulierung des § 57 Abs. 5 in
Verbindung mit der positiv genannten /2-Mindestverbüßung restriktiv
ausgelegt werden wird. N u r wer in die Nähe des Regelfalles - Mindest-
verbüßung von % der Strafe - kommt, hat Chancen, daß sein Strafrest
ausgesetzt wird. Die Streichung der Maßregel sozialtherapeutische

39
Hanack, Emst-Walter, a.a.O. (Anm.7), S.402.
40
Horn, Eckhard, a.a.O. (Anm. 12), Rdn. 7 zu §67.
Sanktionsnotstand im konkreten Einzelfall 543

Anstalt verlangt aber im Gegenteil eine Erweiterung der psychothera-


peutischen Möglichkeiten im psychiatrischen Krankenhaus. Was ferner
verwundert, ist, daß dieser „Schritt in die falsche Richtung" gegangen
wird ohne daß die Gegenreform es für notwendig erachtet, die Proble-
matik einer Gesetzesänderung aufzuarbeiten und z . B . die zu regelnde
Materie empirisch zu erfassen - eine elementare Notwendigkeit jeder
guten Gesetzgebung41. O b dieser Justizminister die Vorarbeiten für eine
überlegte Gesetzesänderung noch schaffen wird, ist wohl eher skeptisch
zu beurteilen, obwohl er der Partei angehört, die seinerzeit die Reform
des Strafrechts maßgeblich mitgetragen hatte.

41
Noll, Peter, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 86 ff.
Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf?
ECKHARD H O R N

Man ist sich heute im wesentlichen darüber einig: Zulässig ist der
Widerruf der Strafvollstreckungs-Aussetzung zwar auch noch nach
Ablauf der Bewährungszeit, aber nicht zeitlich unbeschränkt. Maßge-
bend für die Bestimmung dieses Zeitpunktes ist insbesondere der
Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes1.
Das von dem Vertrauensschutz-Aspekt abgezogene Maß hat in der
Praxis freilich zu den unterschiedlichsten Ergebnissen geführt. Damit
gerät die Leistungsfähigkeit dieses Gesichtspunktes als eines generellen
Maßstabs erst einmal in Zweifel. Ferner wird sich jeder, der das "Wort
„Vertrauensschutz" nicht nur als Floskel gebraucht, sondern sich auch
etwas dabei denkt, fragen einmal, ob die jeweils gemeinte Einstellung
des Delinquenten mit dem Wort „Vertrauen" eigentlich korrekt
umschrieben ist, zum andern, wieso diese Einstellung - wäre sie denn
tatsächlich „Vertrauen" - des Schutzes teilhaftig werden muß - durch
Ablehnung des Aussetzungswiderrufes trotz Vorhandenseins sämtlicher
Widerrufsvoraussetzungen im übrigen.

I. Darstellung der Rechtsprechung


1. Die Frage der zeitlichen Beschränkung eines Aussetzungswiderrufs
wird in der Rspr. an unterschiedlichen Terminen festgemacht. So wird
einmal auf das Ende der Bewährungszeit, ein anderes Mal auf den
Eintritt der Rechtskraft der Aburteilung der als Bewährungsbruch
erscheinenden Straftat, meist auf beide Zeiträume, gelegentlich aber auch
auf andere Umstände (Mitteilung des Widerrufsantrages der StA) abge-
stellt.
So ist es denn auch kein Wunder, wenn die jeweils für noch hinnehm-
bar gehaltenen Zeiträume erheblich differieren. Während das OLG
Koblenz2 einen Widerruf nahezu zwei Jahre nach Ablauf der Bewäh-
rungszeit für „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar" gehalten
hat, sah das OLG Hamm3 auch noch drei Jahre nach dem Ablauf der

1 Dreher/Tröndle, § 5 6 f Rdn. 2 a; Ruß LK, § 5 6 f Rdn. 12; vgl. a. Scbönke/Scbröder/


Stree, § 56 f Rdn. 13. Zur Rspr. s. den nachfolgenden Text.
2 M D R 1985, 70.

3 JMB1. N W 1982, 166.


546 Eckhard Horn

Bewährungszeit kein Hindernis für einen Widerruf. Von dem Zeitpunkt


der Rechtskraft der Verurteilung wegen einer in der Bewährungszeit
begangenen Straftat ab gerechnet lehnt das OLG Hamm* einen Widerruf
ab, weil „schon über ein Jahr" vergangen ist, während ein anderer Senat
des gleichen Gerichts 5 trotz eines Zeitraums von 22 Monaten zwischen
der rechtskräftigen neuen Verurteilung und der Mitteilung des Wider-
rufsantrages widerruft.

2. Als Begründung für die Ablehnung des Widerrufs wird in der Rspr.
fast durchgehend angegeben, der Widerruf sei „ungebührlich lange
hinausgezögert" worden. Die „Ungebühr" wird entweder schon im
Ablauf einer (mehr oder weniger) langen Zeitspanne 6 gesehen oder aber
mit Versäumnissen der Justiz begründet. So war beispielsweise ein
Verurteilter nahezu VA Jahre nach seiner Stellungnahme zum Wider-
rufsantrag der Staatsanwaltschaft 7 „aus vom Senat nicht zu erkennenden
Gründen" „trotz zahlreicher Erinnerungen nicht beschieden" worden.
Das OLG Hamm8 meint, das Vertrauen des Verurteilten, es werde jetzt
nicht mehr widerrufen, sei „durch das Verhalten der Gerichte gestützt"
worden: „Nachdem dem Verurteilten am 31.12.1982 vom A G zum
ersten Mal mitgeteilt worden war, daß die StA den Widerruf der
Strafaussetzung beantragt habe, hörte er zunächst über ein Jahr lang
nichts mehr von dem Widerrufs verfahren. Erst mit Schreiben der Straf-
vollstreckungskammer vom 12.1.1984, also nach der letzten neuen
Verurteilung, wurde ihm mitgeteilt, daß gegenwärtig die Frage des
Widerrufs geprüft werde. Danach hörte der Verurteilte bis zum
17.10.1984, also mehr als 9 Monate, wiederum nichts mehr über den
angekündigten Widerruf". Auch das OLG Celle9 beschränkt seine
Argumentation dafür, daß der Widerruf jetzt unzulässig sei, nicht allein
auf den Zeitablauf. Vielmehr wird sorgfältig geprüft, dargelegt und
begründet, warum eine Entscheidung „innerhalb von drei Monaten nach
Eintritt der Rechtskraft" hätte geschehen können.

3. Interessant ist aber auch, mit welcher Begründung die Rspr. einen
Widerruf zugelassen hat. So hindert nach dem OLG Hamm10 auch ein
Zeitraum von 3 Jahren seit dem Ablauf der Bewährungszeit den Wider-
ruf nicht, weil die Strafvollstreckungskammer „den rechtskräftigen
Abschluß des neuen Strafverfahrens abwarten" durfte, der späte Eintritt

4 StV 1985, 198.


5 O L G Hamm NStZ 1984, 363.
6 O L G Koblenz M D R 1985, 70.

7 O L G Stuttgart StV 1985, 380.

8 StV 1985, 198.

' NdsRpfl. 1980, 92.


10 JMB1. N W 1982, 167.
.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 547

der Rechtskraft „entscheidend auf den vom Verurteilten eingelegten


Rechtsmitteln" beruhte, und schließlich der Widerruf nach Verwerfung
der Revision „unverzüglich" erfolgt ist. Das OLG Stuttgart" hat den
Widerruf auch noch zwei Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit aus
zwei Gründen zugelassen: Einmal sei „die Verzögerung allein der Eigen-
art der begangenen Straftaten und dem zeitaufwendigen Verfahrensgang
zuzuschreiben", zum andern habe die Strafvollstreckungskammer den
Verurteilten wiederholt ausdrücklich darauf hingewiesen, „daß ein
Widerruf auch noch nach Ablauf einer längeren Zeit möglich ist". Das
OLG Karlsruhe12 hat den Zeitablauf von 16 Monaten seit Rechtskraft der
Aburteilung nicht als so außergewöhnlich angesehen, daß „rechtsstaatli-
che Grundsätze, insbesondere der Vertrauensschutz, dem Widerruf der
Strafaussetzung entgegenständen"; zwar könne eine „ausgesprochen
verzögerliche Handlung" u . U . einen Widerruf unzulässig machen,
„ungebührliche Verzögerungen in der Sachbehandlung" seien jedoch im
vorliegenden Fall „nicht ersichtlich". Das OLG Hamm13 hat einen
nachträglichen Widerruf zugelassen, weil die Widerrufsentscheidung
„nicht grundlos", sondern deshalb zurückgestellt worden ist, weil der
Ausgang mehrerer gegen den Verurteilten anhängiger Strafverfahren
abgewartet werden sollte: „Der Verurteilte kann, wenn ein anderes
Verfahren wegen einer während der Bewährungszeit begangenen Tat
noch gegen ihn läuft, auch nicht davon ausgehen, daß der Ausgang
dieses Verfahrens auf die früher gewährte Strafaussetzung ohne Einwir-
kung bleiben wird". Einen besonderen Grund dafür, daß ein Vertrau-
ensschutz für den Verurteilten „schlechterdings nicht entstehen"
konnte, obwohl zwischen der Rechtskraft der neuen Verurteilung und
der Mitteilung des Widerrufsantrages an den Verurteilten 22 Monate
vergangen waren, liefert das OLG HammH: Es sei dabei „auch abzuwä-
gen zwischen dem Zeitablauf einerseits und dem Gewicht der neuen
Straftaten und der für sie verhängten Strafen andererseits". Angesichts
der neuen Verurteilung „zu der empfindlichen Freiheitsstrafe von
2 Jahren und 8 Monaten" mußte sich der Verurteilte sagen, „daß sich
lediglich die justizförmige Abwicklung des hier auf jeden Fall zu erwar-
tenden Widerrufsverfahrens - aus welchen Gründen auch immer -
verzögert hatte". Das LG Hamburg15 hat einen Vertrauensschutz des
Verurteilten - trotz Beanstandung des Vorgehens der StA - mit der
Begründung verneint, „daß sich der Verurteilte nicht an die Weisung

11 Die Justiz 1982, 273.


12 Die Justiz 1976, 436.
13 JMB1. N W 1977, 274.
14 NStZ 1984, 363.
15 MDR 1977, 159.
548 Eckhard Horn

hielt, jeden Aufenthaltswechsel umgehend mitzuteilen, sondern in der


Bundesrepublik Deutschland herumreiste und dabei mehrere Diebstähle
beging. Unter diesen Umständen mußte er aber davon ausgehen, daß die
ihm vom A G München zugebilligte Bewährungsfrist widerrufen
würde".

II. Analyse der Rechtsprechung

Der vorstehende Uberblick über die Rspr. läßt erkennen, daß das
Argument „Vertrauensschutz" eigentlich zwei Aspekte hat, die freilich
meist ineinander hineinspielen: Einmal wird die Situation des Verurteil-
ten ins Auge gefaßt, wenn die Unzulässigkeit des Aussetzungswiderrufs
damit begründet wird, daß der Betroffene mit dem Widerruf jetzt nicht
mehr zu rechnen brauche, daß er „Vertrauensschutz" genieße. Zum
andern wird der Akzent eher darauf gesetzt, daß die Widerrufsentschei-
dung ungebührlich lange hinausgezögert worden sei; hier richtet sich der
Blick in erster Linie auf Behörden und Gerichte, die mit der (Vorberei-
tung der) Widerrufsentscheidung befaßt sind.

1. Was die Einstellung des Verurteilten angeht, so läßt sich sehr schnell
erkennen, daß sie mit dem Wort „Vertrauen" fehlerhaft und irreführend
beschrieben ist. Denn die Fälle, in denen sonst im öffentlichen Recht
von Vertrauensschutz die Rede ist, liegen immer so, daß der Bürger auf
die Bestandskraft oder das Fortwirken eines staatlichen Aktes oder einer
behördlichen Äußerung vertraut. An einem staatlichen Akt oder dem
Ausspruch eines Amtsträgers, an einem Beziehungsgegenstand für Ver-
trauen fehlt es aber hier gerade: Die Bewährungszeit läuft ab, der
Widerruf bleibt aus, es geschieht gar nichts. Was sich in der Psyche des
Verurteilten abspielt, wenn er einige oder gar eine lange Zeit nach Ablauf
der Bewährungszeit und nach seiner Verurteilung wegen der neuen
Straftat „von der Justiz" nichts mehr hört, läßt sich allenfalls beschreiben
als „hoffen" (vermuten, wünschen, erwarten), daß der Widerruf der
Aussetzung der Strafe wegen der alten Tat in Vergessenheit gerät16.

2. Nun liegt aber der Akzent, der von der Rspr. mit dem Wort
Vertrauensschutz verbunden wird, offenbar mehr auf dem Schutz: Es
geht nicht so sehr darum, daß der Delinquent mit dem Widerruf nicht
mehr rechnet, sondern, daß (und von wann ab) er nicht mehr mit ihm zu
rechnen braucht, sich also nicht mehr sagen muß, „daß sich lediglich die
justizförmige Abwicklung des . . . Widerrufsverfahrens - aus welchen
Gründen auch immer - verzögert" 17 .

» Ebenso KG JR 1958, 189.


17 OLG Hamm NStZ 1984, 362.
.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 549

Die Antwort der Gerichte auf die Frage, von welchen Kriterien dieser
Schutz getragen wird, ist allerdings durchgängig merkwürdig inhalts-
leer18. Meistens bleibt es bei schlichten Behauptungen: „Nach Ablauf
von nahezu l'A Jahren seit seiner Stellungnahme konnte und mußte der
Verurteilte, der diese Verzögerung nicht zu vertreten hat, nicht mehr mit
einem Widerruf rechnen"". Oder: Nach mehreren, zeitlich weit ausein-
ander liegenden Mitteilungen darüber, daß die StA den Widerruf bean-
tragt habe und gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde, und
einem Zeitraum von weiteren 9 Monaten „konnte der Verurteilte mit
einiger Berechtigung darauf vertrauen, daß auch die dritte Verurteilung
. . . jetzt nicht mehr zu einem Widerruf führen würde" 20 . Oder: Dem
Verurteilten konnte sich „der Gedanke ohne weiteres aufdrängen, in
seinem Fall werde ein Widerruf unterbleiben. Je länger die Entscheidung
nach Eintritt der Rechtskraft der neuen Verurteilung unterblieb, desto
begründeter mußte eine solche Annahme für den Beschwerdeführer
werden" 21 .

3. Es gibt aber auch Begründungsansätze dafür, daß der Staat schon vor
Ablauf der Vollstreckungsverjährungsfrist (§§79, 79 a StGB) seinen
Vollstreckungsanspruch vollständig verlieren soll. Dabei stellen die
Gerichte mit Vorliebe auf - allerdings niemals des weiteren explizierte -
„Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit" ab: So soll es „mit den Grundsät-
zen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar" sein, den Verurteilten „zu lange
in Ungewißheit über die Entscheidung der Widerrufsfrage zu be-
lassen" 22 .
Dieser Ansatz bedarf der Vertiefung. Dabei verbietet sich jedoch ein
„direkter Durchgriff" zum Grundgesetz. Vielmehr ist - solange es an
einer gesetzlichen Regelung für die Behandlung von Fällen mit überlan-
ger Verfahrensdauer fehlt - zunächst einmal durch Auslegung des Straf-
und Strafverfahrensrechts dafür zu sorgen, daß aus einer „rechtsstaats-
widrigen Verletzung des Beschleunigungsgebots" die „verfassungsrecht-
lich gebotenen Konsequenzen" gezogen werden 23 .

III. Auslegung der §§56f, 56 g StGB


Für das Gericht, das für die Regelung des Schicksals der ausgesetzten
Freiheitsstrafe zuständig ist, kommen von Gesetzes wegen nach Ablauf
der Bewährungszeit drei Entscheidungsmöglichkeiten in Frage: Ausset-

18Krit. a. Schroeder J Z 1974, 684.


" O L G Stuttgart StV 1985, 380.
20 O L G Hamm StV 1985, 199.

21 O L G Celle NdsRpfl. 1980, 93.

22 O L G Koblenz MDR 1985, 70.

23 BVerfG NJW 1984, 967.


550 Eckhard H o r n

zungswiderruf nach § 56 f Abs. 1, „Verlängerung" der Bewährungszeit


nach § 56 f Abs. 2 oder Straferlaß nach § 56 g Abs. 1. Jede dieser Ent-
scheidungen ist an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebunden.
Liegen diese vor, so ist aber auch jede der genannten Entscheidungen
obligatorisch: Sind die Voraussetzungen für einen Widerruf gegeben, so
ist der Widerruf, reichen jedoch Maßnahmen nach § 56 f Abs. 2 aus, so
ist ein entsprechender Beschluß geboten; das Gericht ist zum Straferlaß
verpflichtet, wenn die Voraussetzungen für einen Widerruf (oder jeden-
falls diejenigen für eine Verlängerung der Bewährungszeit nach § 56 f
Abs. 2) fehlen.
Dieses „Wenn" ist nun aber nicht allein als Bedingung („sofern"),
sondern jdf. prinzipiell auch zeitlich („sobald") zu verstehen. Denn es
gibt keinen Gesichtspunkt, der es erlauben würde, eine obligatorische
Entscheidung aufzuschieben. Sind die gesetzlichen Voraussetzungen
erfüllt, so muß das zuständige Gericht die entspr. Entscheidung unver-
züglich treffen.
1. Das bedeutet zunächst für den Widerruf: Ist dem zuständigen Richter
das Vorhandensein aller notwendigen Widerrufsvoraussetzungen
bekannt, so kann er nicht nur, sondern er muß auch den Widerruf
aussprechen (oder nach § 56 f Abs. 2 vorgehen) - und zwar ohne ver-
meidbare Verzögerung.
Aber auch das Umgekehrte gilt: D e r Widerruf (oder die nachträgliche
Verlängerung der Bewährungszeit, die ihrerseits erst einmal durch das
Vorhandensein sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen bedingt ist), darf
und muß unterbleiben, wenn und solange es an den jeweiligen gesetzli-
chen Voraussetzungen fehlt. Das ist in den - hier allein interessierenden -
Fällen des § 56 f Abs. 1 Nr. 1 immer der Fall, wenn das Gericht schon
nicht sicher ist, ob in der Bewährungszeit tatsächlich eine den Widerruf
begründende neue Straftat begangen worden ist. Ein Gericht, das vom
Vorhandensein eines i. S. des § 56 f Abs. 1 N r . 1 tatbestandsmäßigen
„Bewährungsbruchs" nicht überzeugt ist, darf die Vollstreckungsausset-
zung nicht widerrufen.
Ein Widerruf ist ihm aber auch dann untersagt, wenn es - im
Zeitpunkt seiner Entscheidung - das Vorhandensein von (neuen)
Umständen feststellt, die jetzt eine günstige Prognose tragen (etwa, weil
sich der Delinquent nach der neuen Straftat bis zum Entscheidungszeit-
punkt deutlich positiv geändert hat). Denn Widerrufsbedingung ist in
den Fällen des § 56 f Abs. 1 N r . 1 nicht allein die neue Straftat, sondern -
bei richtiger Auslegung dieser Vorschrift 24 - auch das Fehlen von
Umständen, deren es für eine günstige Prognose bedarf.

24
Horn SK, §56f Rdn. 13.
.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 551

Weist der Delinquent im Zeitpunkt der Entscheidung über die Wider-


rufsfrage eine günstige Prognose auf, so wird sich so mancher zunächst
als kritisch empfundene Fall des Ablaufs einer überlangen Zeit zwischen
dem Begehen der neuen Straftat und der Entscheidung der Widerrufs-
frage25 in Wohlgefallen auflösen: Ist der Delinquent in dieser langen Zeit
nicht mehr weiter aufgefallen - und Umstände dieser Art dürfen und
müssen Berücksichtigung finden! 2 '-, wird er also jetzt günstig beurteilt,
so ist auch ein Widerruf nach § 56 f Abs. 1 Nr. 1 trotz der neuen Straftat
jetzt nicht mehr möglich. Da es insoweit an einer Widerrufsvorausset-
zung fehlt, scheidet auch die Möglichkeit einer Verlängerung der
Bewährungszeit nach § 56 f Abs. 2 aus27.

2. Daß auch der (obligatorische) Straferlaß unverzüglich ergehen muß,


wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür dem zuständigen
Gericht vorliegen, ist zwar dem § 56 g Abs. 1 („Straferlaß, wenn kein
Widerruf") zu entnehmen. Eine simple Umsetzung des Bedingungssat-
zes in einen Befristungssatz (also: „Straferlaß ist geboten, wenn und
sobald kein Widerruf erfolgt") scheitert jedoch daran, daß an einen
schlichten Nichtakt keine Zeiten anknüpfen können. Soll der Nichtwi-
derruf eine Rechtsfolge (den Straferlaß) auslösen können, so bedarf er
einer inhaltlichen Qualifikation. Es kommt darauf an, ob der Widerruf
ausbleibt „wegen fehlender Widerrufsmöglichkeit" oder „trotz beste-
hender Widerrufsmöglichkeit".

a) Was die erste Fallgruppe (Nichtwiderruf mangels Widerrufsmöglich-


keit) angeht, so ist am wenigsten problematisch folgende Konstellation:
Das Gericht erkennt nach Ablauf der Bewährungszeit, daß es an den
Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf fehlt - sei es, daß diese
gar nicht entstanden (kein „Bewährungsbruch"), sei es, daß sie wieder
weggefallen (inzwischen günstige Prognose) sind - : Hier muß es die
Strafe unverzüglich erlassen.

b) Im Prinzip nichts anderes gilt, wenn sich die Uberzeugung des


Gerichts vom Fehlen der notwendigen Widerrufsvoraussetzungen nicht
sofort, sondern erst (u.U. sehr viel) später einstellt (das Gericht kann
einen widerrufsbegründenden Bewährungsbruch zwar noch nicht zu
seiner Uberzeugung feststellen, muß aber z. B. angesichts eines laufen-
den Ermittlungsverfahrens in dieser Sache mit entsprechenden Erkennt-
nissen rechnen): Geboten ist unverzüglicher Straferlaß, sobald sich der
Zweifel über das Vorhandensein der Widerrufsvoraussetzungen für den

25 S.'dazu a. u. IV.
26 Vgl. O L G Karlsruhe Justiz 1976, 436: Die weitere Entwicklung des Täters zeigt
„neue und günstige . . . Aspekte auf, die nicht unberücksichtigt bleiben können."
27
Horn SK, § 5 6 f Rdn.30.
552 Eckhard H o r n

zuständigen Richter als endgültig unbehebbar darstellt 28 . Solange es an


den Voraussetzungen sowohl für den Widerruf als auch für den Strafer-
laß fehlt, schwebt der Verurteilte mithin in Ungewißheit darüber, ob er
die verhängte Freiheitsstrafe denn nun nach Aussetzungswiderruf verbü-
ßen muß oder ob sie ihm erlassen wird.
O b dieser Schwebezustand vom Verurteilten - u. U . bis zum Eintritt
der Vollstreckungsverjährung - zu Recht erduldet werden muß, kann
zweifelhaft werden dort, wo bei der Aufklärung der notwendigen
Voraussetzungen für den Widerruf (also des tatbestandsmäßigen Bewäh-
rungsbruchs) Verzögerungen auftreten, die den den Widerruf vorberei-
tenden Stellen anzulasten sind. D a aber ein Widerruf nur erfolgen kann,
wenn dem zuständigen Widerrufsrichter das Vorhandensein der Wider-
rufsvoraussetzungen zu seiner Uberzeugung bekannt ist, bedeutet das
„objektive" Gegebensein etwa des Bewährungsbruchs insoweit gar
nichts. Es genügt auch nicht, daß ein anderes Gericht diesen bereits
(rechtskräftig) abgeurteilt und auch die den Widerruf vorbereitende
Staatsanwaltschaft davon Kenntnis hat. Für die Frage, von welchem
Zeitpunkt an eine Widerrufsmöglichkeit besteht, kann nicht auf ein
hypothetisches Datum („Wann hätte die Widerrufsentscheidung bei
fehlerfreiem Procedere der beteiligten Justizorgane ergehen können?")
abgestellt werden. Es kommt vielmehr allein auf den tatsächlichen
Kenntnisstand des Widerrufsrichters an. Erst wenn sein Tatsachenzweifel
nach der einen oder anderen Richtung gelöst ist, darf er auf Widerruf
oder auf Straferlaß entscheiden. Auch in den Fällen, in denen bei der
Vorbereitung der Widerrufsentscheidung „geschlampt" worden ist,
bleibt der Widerruf mithin aus (muß er ausbleiben) mangels (und nicht
trotz) vorhandener Widerrufsmöglichkeit. Verzögerungen bei der Vor-
bereitung einer Widerrufsentscheidung erlauben grundsätzlich (s. aber
unten IV.) keinen vorzeitigen Straferlaß.

c) Der Fall liegt jedoch anders, wenn dem zuständigen Richter das
Vorhandensein sämtlicher Widerrufsvoraussetzungen bekannt ist: Er
kann nicht nur, sondern er muß unverzüglich widerrufen. Tut er es
nicht, läßt er die Sache liegen, überzieht er deutlich", so ist der gesetzli-
che Widerrufszeitpunkt „verpaßt". D a „trotz bestehender Widerrufs-
möglichkeit" nicht unverzüglich widerrufen worden ist, ist jetzt Strafer-
laß geboten.

28 Ähnl. K G J R 1967, 307: spätestens, „wenn keine begründete Aussicht besteht, daß

weitere Erkenntnisse über die Lebensführung des Verurteilten gewonnen werden


können".
29 Vgl. den Fall O L G H a m m StV 1985, 199: über 9 Monate nach der Mitteilung, „daß

gegenwärtig die Frage des Widerrufs geprüft werde".


.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 553

IV. Modifikationen durch das „Beschleunigungsgebot"?

Nun kann es aber Fälle geben, in denen das Auslegungsergebnis


(Straferlaß weder zulässig noch geboten, solange die Zweifel des Wider-
rufsrichters behebbar scheinen) als zu rigoros (bis hin zur „Rechtsstaats-
widrigkeit") erscheint, weil der Abstand zwischen der die Bewährungs-
strafe auslösenden Tat und der Entscheidung über die Vollstreckung der
hierfür verhängten Strafe nur noch schwer nachvollziehbare Dimensio-
nen gewinnt.

1. Zunächst muß jedoch auch in diesem Zusammenhang noch einmal30


darauf hingewiesen werden, daß mit zunehmender Länge des Widerrufs-
verfahrens der Delinquent immer größere Chancen für einen Straferlaß
schon dadurch erhält, daß die (über ihn bei Widerruf abzugebende)
Prognose sich dauernd verbessert, wenn und weil er sich - nach dem
Bewährungsbruch und auch nach Ablauf der Bewährungszeit - bewährt.
Schon hierher gehört mithin der gelegentliche Hinweis der Gerichte
darauf, daß sich der allzu lange ausgebliebene Widerruf verbiete, weil
der Delinquent inzwischen wieder „Fuß gefaßt" habe31.
Die kritischen Fälle beschränken sich danach auf jene, in denen trotz
einer auch noch im Laufe eines längeren Widerrufsverfahrens nicht
verbesserten Prognose Zweifel daran, daß in der Bewährungszeit eine
widerrufsbegründende Straftat begangen worden ist, (auch) aus „justiz-
verschuldeten" Gründen für längere Zeit nicht ausgeräumt werden
können. Hier ist zu erwägen, ob der Zeitpunkt für den Straferlaß nicht
vorverlegt werden muß - vor die Erkenntnis, daß die Widerrufsvoraus-
setzungen wohl nicht mehr beweisbar sein werden.

2. Für die Lösung dieser Problemfälle lassen sich die Darlegungen des
BVerfG32 zu den Kriterien einer rechtsstaatswidrigen Verletzung des
Beschleunigungsverbots im Erkenntnisverfahren fruchtbar machen.
Danach soll von Bedeutung sein nicht nur die Gesamtdauer des
Verfahrens, sondern auch „der durch die Verzögerung der Justizorgane
verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung" 33 . Die Frage der
„Verzögerung der Justizorgane" hat sich zwar zu orientieren an
„Umfang und Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes"; aber dieser
Gesichtspunkt spielt für die Widerrufsentscheidung im Vollstreckungs-
verfahren jedenfalls nach der rechtskräftigen Aburteilung des Bewäh-
rungsbruchs - die immer abgewartet werden darf! - kaum noch eine
Rolle.
50 S. bereits o. III. 1.
" Vgl. O L G Karlsruhe Die Justiz 1976, 436.
52N J W 1984, 967.
33D e r Aspekt des Rechtsstaats erlaubt mithin die Verwendung von Fakten, die unter
dem Aspekt des StGB (o. I I I . 2 . b) als unzulässig erkannt worden sind!
554 Eckhard Horn

Schließlich sind auch Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit zwi-


schen der Verfahrensdauer und der „Schwere des Tatvorwurfs" (hier:
der Schwere des noch nicht zur Überzeugung des Widerrufsrichters
feststehenden Bewährungsbruchs 34 ) sowie das „Ausmaß der mit dem
Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen" des Verurteilten zu
bedenken. Dabei sollte das Gewicht der von den Gerichten häufig
angesprochenen „Unsicherheit" des Delinquenten über Fortgang und
Ausgang des Widerrufsverfahrens aber nicht allzu hoch veranschlagt
werden. Schließlich weiß er am besten, ob er die Bewährung gebrochen,
also den Widerruf jedenfalls insoweit eigentlich zu erwarten hat35. Er
kann also allenfalls in seiner Hoffnung enttäuscht werden - auf „Voll-
streckungsdefizit" oder „Gnade".
Der Bemühung „des allgemeinen Gebots der Rechtssicherheit" 36
bedarf es übrigens auch dort nicht, wo man es für geboten hält, den
Delinquenten in die Lage zu versetzen, „sich rechtzeitig auf die Konse-
quenzen einzustellen, die sich daraus (seil.: aus einem Widerruf) für
seinen persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Lebensbereich
ergeben können": Diese Möglichkeiten kann man ihm auch noch durch
schlichte vollstreckungs- und vollzugsrechtliche Maßnahmen einräu-
men. Es ginge deshalb einfach zu weit, wenn der Widerruf schon dann
ausgeschlossen würde, wenn der wegen eines Bewährungsbruchs rechts-
kräftig Verurteilte nicht „alsbald Mitteilung" darüber bekommt, „ob die
Bewährung widerrufen oder andere Maßnahmen des § 56 f StGB gegen
ihn ergriffen werden sollen".

V. Ergebnisse

1. Ein Widerruf (bzw. nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit)


nach Ablauf der Bewährungszeit ist zulässig nur und erst - dann aber
auch unverzüglich geboten - , wenn die Widerrufsvoraussetzungen zur
Uberzeugung des zuständigen Gerichts feststehen. Daraus folgt:
Widerruf ist unzulässig, wenn der Verurteilte zum Zeitpunkt der
Entscheidung eine günstige Prognose aufweist.
Widerruf ist unzulässig, wenn und solange sich das zuständige Gericht
über das Vorhandensein der Widerrufsvoraussetzungen im Zweifel be-
findet.

2. Straferlaß ist zulässig nur und erst - dann aber auch unverzüglich
geboten - , wenn das Fehlen einer der Widerrufsvoraussetzungen zur
Uberzeugung des zuständigen Gerichts feststeht. Daraus folgt:

34 S. den Fall O L G Hamm NStZ 1984, 363.


35 KG JR 1958, 189.
36 L G Hamburg MDR 1977, 159.
.Vertrauensschutz" contra Aussetzungswiderruf? 555

Straferlaß ist unzulässig, wenn und solange sich das zuständige


Gericht über das Vorhandensein oder Fehlen der Widerrufsvorausset-
zungen im Zweifel befindet.
3. Wird der zulässige Widerruf durch das zuständige Gericht ungebühr-
lich verzögert, so ist ohne weitere Umstände Straferlaß geboten.
4. Ist die Verzögerung der Entscheidung über Widerruf oder Straferlaß
durch andere Justizorgane verursacht, so kann in extremen Fällen und
unter bestimmten Voraussetzungen Straferlaß geboten sein.
Die .Strafzumessung
in der spanischen Strafrechtsreform
ENRIQUE BACIGALUPO

I.
Jeder Gesetzgeber steht vor der Alternative: „freies Ermessen inner-
halb enger Strafrahmen oder weite Strafrahmen mit konkreten Richtli-
nien zur Ausübung des rechtlich gebundenen Ermessens" 1 . In der
Bundesrepublik Deutschland gab es vor der Reform von 1969 Stimmen,
die eine radikale Verengung der Strafrahmen verlangten 2 , während in
Spanien, wo der Gesetzgeber 1848 die Freiheit der Richter im Bereich
der Strafzumessung stark beschränken wollte, verlangt wird, daß der
Richter mehr Freiheit haben sollte. Der deutsche Gesetzgeber von 1969
ist jenen Stimmen nicht gefolgt; der spanische Entwurf eines StGB von
1980 will auch an dem traditionellen System von 1848 festhalten. Die
Erkenntnis dieser Situation rechtfertigt eine rechtsvergleichende Unter-
suchung der tatsächlichen Unterschiede beider legislatorischen Systeme:
dies soll Gegenstand meines Aufsatzes sein.

II.
Das legislatorische System der Strafzumessung ist ein Punkt, in dem
die iberoamerikanische und die spanische Gesetzgebung voneinander
abweichen. Seit 1921, als das geltende argentinische StGB in Kraft trat,
orientieren sich die iberoamerikanischen Länder an schweizerischen und
deutschen Modellen, zu deren Einführung die spanische Rechtsge-
schichte viele Anregungen gab3. In der Familie der spanischsprachigen
Rechtsordnungen wirken also zwei legislatorische Strafzumessungssy-
steme nebeneinander, eine Situation, die wahrscheinlich auch die
Zukunft kennzeichnen wird; allerdings wird das alte spanische System
von 1848 im Laufe der Zeit zur Ausnahme werden.

1
Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 75.
2
Sarstedt, ZStW 69 (Sonderheft 1957), S. 133 ff.
5
Vgl. Lardizabal, „Discuso sobre las penas", Hrg. Francisco Bueno Arüs, 1976.
Bacigalupo, ZStW 91 (1980), S. 747 ff.
558 Enrique Bacigalupo

Das herkömmliche spanische Strafzumessungssystem, das aus dem


StGB von 1848 stammt, strukturiert den Strafzumessungsvorgang in drei
Phasen:
Erstens muß der Richter eine unter den vier möglichen, im Gesetz
fixierten Strafen bestimmen, die anzuwenden ist. Die einzelnen Strafar-
ten enthalten eine Abstufung sowohl hinsichtlich des Strafrahmens als
auch hinsichtlich der Schwere der Straftat. Für den Fall, daß die Straftat
nicht vollendet wurde oder der Angeklagte nur als Teilnehmer handelte,
bestimmt das Gesetz, daß die Strafe gemildert werden muß.
Zweitens muß der Richter entscheiden, ob strafschärfende oder -mil-
dernde Umstände, die das StGB in Art. 9 und 10 anführt, gegeben sind.
Das Gericht muß die Gesamtdauer der Strafrahmen in drei Stufen
einteilen, innerhalb derer die endgültige Strafe gefunden werden soll.
Das Gesetz enthält die Regeln, nach denen die strafschärfenden oder
-mildernden Umstände rechnerisch eine der drei Stufen des Strafrah-
mens bestimmen.
Drittens bestimmt das Gesetz die Dauer der Strafe innerhalb der
gewonnenen Stufe des Strafrahmens; Strafzumessungstatsachen nennt
das Gesetz hier nicht.
Wenn keine strafschärfenden oder -mildernden Umstände vorliegen,
wird die Strafe innerhalb des vollen Strafrahmens fixiert. Hier nennt das
Gesetz die Strafzumessungstatsachen: „die Schwere der Tat und die
Persönlichkeit des Täters" (Art. 61, 4).
Diese Regelung findet nur auf vorsätzliche Straftaten (Art. 565, III)
Anwendung; bezüglich der fahrlässigen Handlungen gelten besondere
Bestimmungen, die prinzipiell auf dem Handlungsunwert basieren,
ausnahmsweise aber auch den Erfolgsunwert als strafschärfenden Grund
heranziehen (Art. 565, V).
Beschränken wir uns nur auf die Strafzumessung im Bereich der
vorsätzlichen Taten, dann wird deutlich, daß dieses System zwei ver-
schiedene Untersysteme enthält. Man muß unterscheiden, ob strafschär-
fende oder -mildernde Gründe eingreifen oder nicht. Das Eingreifen
derartiger Umstände bestimmt die Weite des Strafrahmens sowie das
Ermessen des Gerichts bei den Strafzumessungstatsachen. Greifen die
im Gesetz genannten Gründe ein, dann wird die Weite des Strafrahmens
entsprechend kleiner, während die Freiheit des Gerichts bei der Bestim-
mung der Strafzumessungstatsachen keine Schranken findet. Wenn
dagegen kein solcher Umstand gegeben ist, sind die Strafzumessungstat-
sachen im Gesetz fixiert, während die Weite des Strafrahmens größer ist,
d. h. das Gericht bestimmt die Dauer der Freiheitsstrafe, der Aberken-
nung von Rechten oder den Betrag der Geldstrafe innerhalb des allge-
meinen Strafrahmens dieser Strafarten, ohne den Strafrahmen in drei
Stufen zu teilen.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 559

Das Vorliegen mildernder Umstände eröffnet sogar die Möglichkeit,


eine Strafe unter dem Minimum des allgemeinen Strafrahmens auszu-
werfen, wenn zwei bzw. ein besonders schwerwiegender Milderungs-
grund gegeben sind. Eine solche Möglichkeit ist nicht vorhanden, wenn
es sich um nicht unter strafmildernden Umständen begangene Straftaten
handelt. Hier darf die Strafe nicht unter dem Minimum des allgemeinen
Strafrahmens liegen, auch wenn die Schwere der Tat und die Persönlich-
keit des Täters für eine solche Milderung sprechen.
Der Entwurf 1980 hat diese Regelung vereinfacht. Vorsätzliche und
fahrlässige Straftaten werden in einem einzigen System geregelt; im
übrigen bleibt der Entwurf aber beim alten System, wie ich anfangs
bereits erwähnt habe.
Die erste Frage, die sich aus diesem legislatorischen System ergibt,
bezieht sich auf seine kriminalpolitischen Gründe. Warum soll der
Gesetzgeber zwei verschiedene Systeme für die Strafzumessung bei den
vorsätzlichen Straftaten anbieten, je nachdem, ob die Tat mit oder ohne
strafschärfende bzw. -mildernde Umstände begangen wird? Man könnte
zunächst der Versuchung nachgeben, den Unterschied durch die Straf-
zwecklehre zu erklären. Dafür spricht vor allem die Geschichte dieses
zweifachen Systems. Der theoretische Geist der Reform von 1944, durch
die die besondere Regelung eingeführt wurde, orientierte sich stark an
spezialpräventiven Gesichtspunkten", um die sich der Gesetzgeber von
1848 kaum gekümmert hatte. Deshalb bestimmt die 1944 eingeführte
Regelung (Art. 6 1 , 4 ) als Strafzumessungstatsachen die „Schwere der Tat
und die Persönlichkeit des Täters". Da diese Strafzumessungstatsachen
nicht gemeint sind, wenn strafschärfende oder -mildernde Gründe gege-
ben sind, könnte das zweigliedrige System dadurch erklärt werden, daß
die Strafe verschiedene Zwecke in den beiden Kategorien von Straftaten
verfolgt. Dies wäre nichts anderes als eine Folge der allgemein anerkann-
ten Prämisse, nach der die Strafzumessungstatsachen ihre Relevanz der
Strafzwecklehre verdanken 5 . Die h. M. sollte sich diesen Gesichtspunk-
ten anschließen, soweit sie davon ausgeht, daß die „Beziehung auf die
Persönlichkeit des Täters kontradiktorisch zu dem ganzen System der
richterlichen Strafzumessung" ist6. Jedoch wäre diese Erklärung des
Systems nur dann richtig, wenn überhaupt ein logisches Verhältnis
zwischen den Strafzwecken und der Berücksichtigung von schärfenden
oder mildernden Gründen bestünde. Daß die Strafzwecklehre aber

4 Vgl. Juan del Rosal, „La personalidad del delincuente en la técnica penal", 2. Aufl.
1953.
5 Vgl. Bruns, a. a. O., S. 196 ff, 357.
6 Vgl. Mir Puig, „Introducción a las bases del Derecho Penal", 1976, S. 100ff; J.R.
Casabó Ruiz, in „Comentarios al Código Penal", II, 1973, S. 16.
560 Enrique Bacigalupo

bisher eine solche Beziehung nie für sinnvoll gehalten hat, bedarf hier
keiner besonderen Begründung. Aufgrund der Strafzwecklehre hat es
keinen Sinn, die Spezialprävention davon abhängig zu machen, ob der
Täter sich maskiert hat oder nicht, um die Straftat zu begehen, ob also
ein strafschärfender Grund des Art. 10 zu berücksichtigen ist. Niemand
hat bisher diese Meinung vertreten. Das spricht für das richtige Ver-
ständnis von Lehre und Praxis; aber das Gesetz hindert eine solche
Unterscheidung nicht.
Die Unvereinbarkeit des Gesetzeswortlauts mit einer sinnvollen kri-
minalpolitischen Begründung sowie die Uberzeugung, daß die Einfüh-
rung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungstatsache ein Feh-
ler des Gesetzgebers war, hat in der Theorie zu einer berichtigenden
Auslegung des Gesetzes geführt 7 . Auf der anderen Seite neigt die Praxis
zu Lösungen, die eine gewisse Unabhängigkeit dem Gesetz gegenüber
zu begründen versuchen 8 . Die Ablehnung der heutigen Situation ist
übrigens bemerkenswert 9 und nicht neu10.
Die dogmatische Aufgabe, die diese Problematik stellt, besteht darin,
den Text des Gesetzes mit einer kriminalpolitischen Erklärung, die die
Wissenschaft für plausibel hält, zu versehen.
Ein Teil der Lehre hat versucht, diese dogmatische Aufgabe zu lösen,
indem sie auf die Analogie verwies (z. B. Rodríguez Devesa). Sie will die
ohne strafschärfende bzw. -mildernde Umstände begangenen Taten auch
aufgrund der Schwere der Tat und der Persönlichkeit des Täters bewer-
ten. Aber auf diese Weise kann man nur einen Aspekt des Problems
lösen, denn die Analogie ist im spanischen Strafrecht nur in „bonam
partem" zulässig". Wie sollte in den Fällen der mit strafschärfenden oder
-mildernden Gründen begangenen Handlungen entschieden werden,
wenn die Betrachtung der Persönlichkeit des Täters als Strafzumessungs-
tatsache zu einer schärferen Strafe führt? Außerdem erheben sich auch
logische Bedenken gegen diese Lösung, da die Analogie hier in zwei
verschiedenen Richtungen wirken könnte: Man kann die Fälle der mit
schärfenden oder mildernden Gründen begangenen Straftaten aufgrund
der spezialpräventiven Klausel des Art. 61,4 entscheiden wie auch
umgekehrt, also kann die sowohl auf die Vergeltung wie auf die General-
prävention abstellende Klausel des Art. 61, 7 auch auf die Fälle, die ohne
strafschärfende oder -mildernde Umstände begangen worden sind, ange-

7Vgl. Rodríguez Devesa, „Derecho Penal Español", 7. Aufl. 1979, S.878.


8Vgl. Córdoba Roda, in „Rev. Jur. de Cataluña", 1974, S. 119 ff.
' Vgl. Quintero Olivares, in „Cuadernos de Política Criminal", 4 - 1978, S.49ff.
10 Vgl. Silvela, El Derecho Penal, II, 1903, S. 311 ff; Jiménez de Asúa, „AI servicio del
Derecho Penal", 1930.
11 Rodríguez Devesa, a . a . O . , S.243, 878.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 561

wandt werden. In der Tat handelt es sich hier nicht um die Anwendung
der Analogie, sondern um die einfache Eliminierung einer Regel ohne
weitere Begründung. Man bevorzugt eine bestimmte Straflehre und
macht diese Auffassung zur Gesetzesauffassung. Gleich berechtigt wäre
es aber, das Gegenteil zu behaupten. Analogie setzt voraus, daß das
Gesetz nur einen Teil der möglichen Fälle geregelt hat, während ähnliche
Fälle nicht geregelt wurden. Die Möglichkeit der Analogie fällt aber
weg, wenn das Gesetz ähnliche Fälle aufgrund verschiedener Kriterien
geregelt hat. Mit der Analogie kann ein Prinzip ausgedehnt werderj,; was
man mit der Analogie nicht kann, ist ein Prinzip auslöschen.
Dagegen könnte man argumentieren, daß diese Problematik nichts
anderes als ein Einzelfall der Antinomie der Strafzwecke ist, die jede
Vereinigungstheorie kennzeichnet 12 . Hierum handelt es sich jedoch
nicht. Will man von einer Vereinigungstheorie ausgehen, dann wird die
Frage der Antinomie der Strafzwecke in beiden Systemen der Strafzu-
messung des vorsätzlichen Verbrechens auftauchen. Die Problematik
der spanischen Strafzumessung bezieht sich auf die schwer zu begrün-
dende zweifache Auffassung von der Strafe, nicht auf die Antinomie der
Strafzwecke.
Eine andere Möglichkeit wäre die folgende: Man kann eine Auffas-
sung von der Strafe als vorgesetzliche Theorie der Strafe verstehen,
nämlich eine Theorie, die nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes induziert
worden ist. Die strafschärfenden und -mildernden Umstände werden
dann aufgrund eines einzigen Kriteriums erklärt. Diese Ansicht könnte
damit begründet werden, daß das Gesetz weder über die Vergeltung
noch über die Prävention ein Wort gesagt hat. Neigen wir z. B. zur
spezialpräventiven Auffassung von der Strafe, dann wären die strafschär-
fenden und -mildernden Gründe Symptome eines bestimmten Ausma-
ßes an Asozialität in der Persönlichkeit des Täters. Aber durch diese
Methode läßt sich nicht erklären, warum das Ermessen des Richters
unterschiedliche Grenzen hat, wenn strafschärfende oder -mildernde
Umstände gegeben sind oder diese nicht eingreifen. Anders gesagt:
Wenn die Interpretation von einer einzigen Auffassung über die Strafe
ausginge, dann bliebe das zweifache System ohne Erklärung.
Zusammenfassend: Weder die Analogie noch eine einzige Straflehre
ermöglichen es, die oben beschriebene dogmatische Aufgabe zu erfüllen.
Das System ist mit einer sinnvollen kriminalpolitischen Auffassung nicht
vereinbar.

12
Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1978, S. 103 ff.
562 Enrique Bacigalupo

III.
Das spanische System der Strafzumessung wurde aber in der Zeit der
Kodifizierung (1848) nicht wegen seiner kriminalpolitischen Plausibilität
in das Gesetz aufgenommen, sondern weil man glaubte, auf diese Weise
das Ermessen des Richters zugunsten der Rechtssicherheit wesentlich
begrenzen zu können. Stehen wir nicht vor einem Fall, in dem kriminal-
politische Gesichtspunkte vor Bedürfnissen der Rechtsstaatlichkeit wei-
chen müssen? Um die tatsächliche Weite des Richterermessens im
spanischen System untersuchen zu können, müssen wir von der logi-
schen Struktur des richterlichen Strafzumessungsakts ausgehen. Ist die
Strafzumessung auch eine Form der Rechtsanwendung, dann sollten die
intellektuellen Operationen des Richters in den Rahmen eines kontrol-
lierbaren Systems eingegliedert werden. Dabei hat die moderne deutsche
Dogmatik die Strafzumessungslehre als eine mehrschichtige Problematik
gekennzeichnet. Solche Mehrschichtigkeit ist nicht nur ein Charakteri-
stikum des deutschen Gesetzes; sie kennzeichnet die Tätigkeit des
Richters bei der Strafzumessung unabhängig vom anzuwendenden Ge-
setz.
Diese verschiedenen Schichten, in denen sich diese Problematik ent-
faltet, sind folgende:
1. die Bestimmung des Strafzwecks: es handelt sich um die Entscheidung
zugunsten der Vergeltung, der General- bzw. der Spezialprävention
oder einer konkreten Strukturierung aller dieser Zwecke innerhalb einer
Vereinigungstheorie. O b die Generalprävention angesichts der spani-
schen Verfassungsbestimmungen in der Strafzumessung eine legitime
Rolle spielen kann, soll hier dahingestellt bleiben. Auch das Problem der
Kriterien gehört hierher, nach denen die Vereinigungstheorien die Anti-
nomie der Zwecke entscheiden;
2. aus dem Strafzweck lassen sich die Strafzumessungsfaktoren oder
-tatsachen ableiten. Von diesen, auch reale Gründe der Strafzumessung
genannt, müssen sich die Tatbestände der strafschärfenden und -mil-
dernden Umstände, die das spanische StGB ausdrücklich in einem
ausführlichen Katalog aufstellt, unterscheiden;
3. die Bestimmung der Bewertungsrichtung, nach der die Strafzumes-
sungstatsachen zu bewerten sind;
4. die Umwertung dieser Bewertung der Strafzumessungsfaktoren in die
Quantität der Strafe, also in Gefängnisjahre, Betrag der Geldstrafe usw.
Versuchen wir jetzt zu prüfen, ob das spanische System die Weite des
richterlichen Ermessens mehr als andere Systeme reduzieren kann.
a) Der erste Vorgang, die Definition der Strafzwecke, besteht darin: der
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 563

Strafzweck wird aus dem strafschärfenden und -mildernden gesetzlichen


Gründekatalog „induziert". Das Ergebnis ist aber nicht befriedigend, da
diese Umstände sich sowohl aus absoluten als auch aus relativen Theo-
rien erklären lassen. Die mildernden Umstände werden, wenn wir von
einer absoluten Theorie ausgehen, als beträchtliche Beschränkung der
Freiheit des Täters zu einer normalen Motivation zur Zeit der Handlung
verstanden. Sie könnten aber auch vom Standpunkt einer spezialpräven-
tiven Straflehre aus als Situationen definiert werden, die die Motivation
des Täters so stark beeinflußt haben, daß die begangene Handlung
symptomatisch weniger als sonst wiegt. Und letztlich ist auch eine
Erklärung aufgrund der Generalprävention möglich, da - so kann
argumentiert werden - die Nichtbeachtung dieser mildernden Umstände
bedeuten würde, daß sich das Strafrecht in Terror verwandelt hat.
Nichts anderes geschieht bei den strafschärfenden Gründen. Vom
Standpunkt der absoluten Theorien aus sind diese Umstände Ausdruck
einer größeren Vorwerfbarkeit. Auch der Rückfall kann in diesem Sinne
verstanden werden, wenn man, wie das deutsche StGB, die erhöhte
Vorwerfbarkeit in der Einstellung des Täters sieht, der sich die früheren
Strafen nicht hat zur Warnung dienen lassen. Außerdem lassen sich die
strafschärfenden Gründe bruchlos aus dem Gedanken der Spezialprä-
vention erklären, weil nämlich der Täter bei der Tatbegehung eine
größere kriminelle Energie aufgewandt hat. Und auch die Generalprä-
vention ermöglicht ein Verständnis der strafschärfenden Umstände, weil
eine schärfere Strafe größere abschreckende Wirkung auf die Allgemein-
heit ausübt. Wenn alle Theorien zu gleichen Ergebnissen der „Induktio"
führen, bleibt nur eine rationale richterliche Entscheidung als Vorausset-
zung der Gesetzesanwendung.
Diese Entscheidung wird von der spanischen Verfassung nicht einge-
schränkt. Nach Art. 25.2 der Verfassung soll der Vollzug der Spezial-
prävention dienen. Die Lehre13 sieht darin keinen Grund, andere für die
Strafzumessung relevanten Gesichtspunkte auszuschließen; die Vereini-
gungstheorie muß nicht aufgegeben werden. Der relative Freiraum des
Richters bei der Formulierung der Vereinigungstheorie ist in Spanien
nicht kleiner als in der Bundesrepublik Deutschland oder in Frankreich,
da nichts außer den anerkannten methodologischen Prinzipien den
spanischen Richter hindert, eine bestimmte Koppelung der Repression
und Prävention zu bestimmen, wie es auch im legislatorischen System
der Fall ist, wo die Strafzumessung den Anspruch einer Mathematisier-
barkeit nicht erhebt.

13
Vgl. Gimbernat Ordeig, in „Doctrina Penal" 7 - 1979, S.581.
564 Enrique Bacigalupo

b) Die zweite Ebene der Überprüfung des Ermessensspielraums eines


spanischen Gerichts ist die Bestimmung der Strafzumessungsfaktoren.
Eine solche Bestimmung ist abhängig von der Strafzwecklehre, da die
Frage, welche Strafzumessungsfaktoren relevant sind, nur innerhalb des
theoretischen Rahmens irgendeiner Straftheorie beantwortet werden
kann. Das Gesetz nennt Strafzumessungstatsachen nur dann, wenn
keine strafschärfenden oder -mildernden Gründe eingreifen (Art. 61, 4):
in diesem Fall sind Grundlage der Strafzumessung die Persönlichkeit des
Täters und die Schwere der Tat. Wenn dagegen ein schärfender oder
mildernder Umstand gegeben ist, dann schweigt das Gesetz. Dabei
entspricht der Spielraum des Ermessens der relativen dogmatischen
Freiheit, mit der der Richter die Strafzwecke festgesetzt hat.
Die Strafzumessungsrelevanz eines Umstands wird aus der Straf-
zwecklehre abgeleitet, und die Strafzwecklehre setzt die Grenzen fest,
innerhalb derer beispielsweise die Persönlichkeit des Täters für die
Strafzumessung bedeutsam ist. O b w o h l die Lehre, wie gesagt, hier ein
entscheidendes Argument für die Spezialprävention sieht, dürfte die
Persönlichkeit des Täters auch im Rahmen einer Vergeltungslehre gel-
tend gemacht werden. Dies ist gerade der Sinn der sog. „Persönlichkeits-
schuld". Solange der Schuldbegriff auch abhängig von einer Feststellung
des Richters ist, braucht die Persönlichkeit des Täters in einem reinen
Schuldstrafrecht nicht aufgegeben zu werden. Dieses Beispiel zeigt uns
also, daß der Freiraum des Richters im Bereich der Strafzumessungstat-
sachen in Spanien so weit wie in der Bundesrepublik Deutschland ist.
c) In der dritten Phase der Strafzumessung sollen die Strafzumessungs-
faktoren für oder gegen den Angeklagten bewertet werden. Dazu erge-
ben sich aus dem spanischen StGB keine Kriterien. Wiederum sind die
Grenzen des Ermessens eines spanischen Richters also nicht enger als die
eines deutschen Gerichts. Bruns14 meint dagegen, daß sich das deutsche
Recht „in diesem Punkt von zahlreichen ausländischen Gesetzen unter-
scheidet, die eine Normierung der Strafschärfungs- und Strafmilde-
rungsgründe enthalten und in den einschlägigen Katalogen die Bewer-
tung der einzelnen Strafzumessungstatsachen genau festlegen, z. B. in
Osterreich, in der Schweiz und vor allem in Italien". Bezüglich der
spanischen und italienischen Rechte trifft diese Meinung m. E. nicht zu:
Die sog. strafschärfenden und -mildernden Umstände sind nämlich
sowohl im spanischen als auch im italienischen Recht nichts anderes als
Tatbestandsmerkmale, die ebenso wie andere in einzelnen Straftatbe-
ständen genannte besondere Umstände auf den Strafrahmen wirken.
Diese Strafschärfungsgründe beziehen sich auf die Gesinnung des

14
Vgl. Bruns, a . a . O . , S.618.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 565

Täters, seine Beweggründe und die Art der Begehung der Tat, sind also
nichts anderes als Teile des Tatbestands. N u r der Rückfall hat wohl eine
eigene Bedeutung, die hier aber nicht zu untersuchen ist.
Unterscheiden sich nun die Strafschärfungsgründe von den Strafzu-
messungsfaktoren nicht, dann dürfte das Verbot der Doppelverwertung
nicht gelten, weil die Bestimmung der Strafe innerhalb des Strafrahmens
wieder aufgrund einer Verwertung der Strafschärfungsgründe erfolgen
soll, die bereits vorher den Strafrahmen bestimmt haben. Das Verbot der
Doppelverwertung gilt aber im spanischen S t G B , wo es in Art. 59
ausdrücklich formuliert ist. Mit anderen Worten: Die Strafzumessungs-
faktoren sollten mit den Strafschärfungs- und Milderungsgründen nicht
verwechselt werden, die nur die Funktion haben, den Strafrahmen zu
bestimmen, wie es im spanischen und italienischen Recht geschieht. Bei
diesen Systemen gehören die Strafschärfungsgründe sowie die Milde-
rungsgründe nämlich eher in die gesetzliche Strafzumessung als in die
richterliche Strafzumessung 15 .

d) Schließlich ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz kein Kriterium,


das die Umwertung der Strafzumessungsfaktoren in die Quantität der
Strafe bestimmt. Auch hier richtet sich das Gericht nach allgemeinen
Prinzipien, die eine gewisse Konkretisierung der abstrakten Strafrahmen
ermöglichen. Das Ermessen eines spanischen Richters kennt hier diesel-
ben Grenzen, denen sich auch der deutsche Richter gegenübersieht.
Wenn wir nun eine Bilanz ziehen, läßt sich feststellen, daß das
spanische System keine besondere Limitierung des richterlichen Ermes-
sens kennt, abgesehen von dem allgemeinen Grundsatz, nach dem das
Ermessen nicht in Willkür ausarten darf16. Die Folge ist somit deutlich:
die kriminalpolitischen Mängel des spanischen Strafzumessungssystems
können durch rechtsstaatliche Argumente nicht gerechtfertigt werden.
Die kriminalpolitische Aufgabe des Gesetzgebers ist es daher, nach
Alternativen zu suchen.

IV.

Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft und der Gesetzgebung


liegt die Alternative zu diesem Strafzumessungssystem in der Richtung,
die das argentinische S t G B 1921 bereits eingeschlagen hat. Dieses System
unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen, das in der Bundes-
republik Deutschland seit 1975 gilt. Wie anfangs gesagt wurde, ist diese
Orientierung seit mehr als 50 Jahren die herrschende Meinung in der
Wissenschaft und auch in den iberoamerikanischen Strafrechtsreformor-

15 Vgl. Bacigalupo, in „Rev. de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense


de Madrid", Nr. 3 - 1981, S. 55 ff.
16 Vgl. Bacigalupo, a.a.O.
566 Enrique Bacigalupo

ganen. Die Adaption eines solchen Systems in Spanien würde zunächst


eine entsprechende Modernisierung der legislatorischen Technik der
Tatbestandsbildung erforderlich machen. Die Strafschärfungsgründe
müßten in die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils aufgenom-
men werden. Dies ist in der Tat nur eine Folge des Mangels an
Allgemeingültigkeit, die diese Umstände in der Regel zeigen. Es handelt
sich überwiegend um begleitende Umstände, die nur in Beziehung auf
besondere Tatbestandsgruppen ihre Funktion sinnvoll ausüben können.
N u r der Rückfall dürfte eigentlich als ein allgemeiner Strafschärfungs-
grund angesehen werden. Bei den anderen 16 im spanischen S t G B
geregelten Strafschärfungsgründen ist das nicht der Fall. U m nur ein
Beispiel zu geben: Der Gebrauch von Presse oder Rundfunk (Art. 10,
N r . 4) wird eigentlich als strafschärfender Umstand vor allem bei den
Äußerungsdelikten relevant. Die Ausführung der Handlung im Dunkeln
hat nur einen Sinn für die Strafschärfung, wenn auf diese Weise die
Verteidigung des Opfers erschwert wird, was beim Hochverrat oder der
Hingabe eines nicht gedeckten Schecks wohl nicht der Fall ist; die
Verkleidung des Täters sollte eine strafschärfende Funktion haben, wenn
es um eine Handlung geht, bei der die Täuschung ein Tatbestandsmerk-
mal ist oder die Begehung erleichtert. Der E 1980 hat diese Situation
zum Teil geändert, indem er den Katalog der Strafschärfungsgründe
stark reduziert hat. M. E. ist dies aber nicht die richtige Lösung, wenn
der Gesetzgeber eine moderne Technik einsetzen will, wie es aus den
Motiven ersichtlich ist.
Die legislatorische Technik des geltenden Rechts und des E 1980
bringt auf der anderen Seite keine erhöhte Rechtssicherheit. Wann ein
Strafschärfungsgrund zu Lasten des Täters geht, ist eine Frage, deren
Beantwortung der Gesetzgeber dem Gericht überläßt. Die Praxis hat
bisher eine in der Regel einwandfreie Ergänzung der einzelnen Tatbe-
stände durch „allgemeine" Strafschärfungsgründe vorgenommen. Das
Gesetz schließt aber keineswegs absurde Entscheidungen aus, wie z. B.
die Schärfung der Strafe wegen einer Beleidigung, weil sie während eines
Schiffbruchs begangen wurde (Art. 10, Nr. 11). Solche falsche Tatbe-
standsbildung kann das Gesetz ausräumen, indem es die Strafschär-
fungsgründe in die einzelnen Tatbestände einführt und auf einen allge-
meinen Katalog verzichtet.
Anders sieht die Zukunft der Straimilderungsgrüride aus. Das deut-
sche Publikum ist davor zu warnen, diese mit den besonderen gesetzli-
chen Milderungsgründen des § 49 S t G B zu verwechseln. Im spanischen
S t G B geht es auch um die Aufstellung eines Katalogs mit begleitenden
Umständen im Allgemeinen Teil, die eine Milderung jeder Straftat
bewirken. Die praktische Bedeutung besteht in folgendem: wenn ein
Milderungsgrund eingreift, dann soll das Gericht die Strafe innerhalb des
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 567

unteren Drittels des Strafrahmens festsetzen. D a der Katalog aber auch


eine Klausel enthält, nach der allen weiteren ähnlichen Umständen
dieselbe Bedeutung zuerkannt wird (Art. 9, Nr. 10), stellt der ganze
Katalog nur eine Reihe von Beispielen dar, aus denen die Milderungskri-
terien zu induzieren sind. Der indirekte Weg, den der Gesetzgeber
durch diese kasuistische Methode eingeschlagen hat, ist aber nicht
überzeugend. Dabei wird häufig die Ambivalenz der begleitenden
Umstände verkannt, indem sie nur abstrakt betrachtet werden. Der
Affekt z. B., der durch gewaltsame Reizung hervorgerufen wird (Art. 9,
Nr. 8), sollte sich im Rahmen einer Vergeltungstheorie nur dann straf-
mildernd auswirken, wenn die Reaktion des Täters auf nicht vorwerfba-
ren Motiven beruht. Diese Voraussetzung verlangt das Gesetz aber
nicht. Unter spezialpräventiven Gesichtspunkten dürfte dieser Umstand
wohl eher als Strafschärfungsgrund angesehen werden, da es sich norma-
lerweise um einen Täter handelt, der seine Reaktionen im Sozialleben
nicht völlig beherrschen kann.
Genauso wie die meisten Strafschärfungsgründe sollten einige Straf-
milderungsgründe in die einzelnen Tatbestände des Besonderen Teils
eingebaut werden; die restlichen Strafmilderungsgründe sollten durch
Richtlinien zur Bewertung der Tat ersetzt werden.
Die Frage, die diese Modernisierung des Strafzumessungssystems
aufwirft, betrifft die Gesichtspunkte, nach denen diese Richtlinien zu
formulieren sind. In der spanischen Strafrechtsentwicklung des 19. Jahr-
hunderts war nicht die Prävention problematisch, sondern das Schuld-
prinzip. Deshalb mußte sich die Darstellung zunächst auf den Gegensatz
von Schuldprinzip und Prävention in der Strafzumessung konzentrieren.
Seit der Kodifizierung (1848) wird der Lehre von der Schuld in Spanien
nur als Strafvoraussetzung Bedeutung zuerkannt. In der Strafzumessung
dagegen spielte sie keine Rolle. Da die Schuld - so wie sie in Spanien in
der Zeit der Kodifizierung verstanden wurde - zu einer Präsumtion
geführt hat, die in der Praxis übermäßige Strafen erlaubte, haben die
Reformisten Anfang dieses Jahrhunderts auch kein rechtsstaatliches
Argument gefunden, um diese Begründung des Strafrechts beizube-
halten.
Nach dem Schulenstreit, in dessen Verlauf die Meinungen zu einer
spezialpräventiven Begründung des Strafrechts neigten, die sich in der
Gesetzgebung kaum widerspiegelte, hat die Lehre zur Generalpräven-
tion zurückgefunden. Der Trend beginnt ganz deutlich mit zwei Mono-
graphien von José Anton Oneca". Einmal versuchte Anton Oneca eine
Begründung der Zweispurigkeit des Strafrechtsfolgensystems auf der
Grundlage der Prävention: nach seiner Arbeit basiert die Strafe auf der

17 „La utopia penai de Dorado Montero", 1951.


568 Enrique Bacigalupo

Generalprävention, die Maßregel auf der Spezialprävention. Auf der


anderen Seite hielt er die stark auf die Spezialprävention gerichteten
Lehren des spanischen Correccionalismo, die vor allem Pedro Dorado
Montero vertrat, für utopisch. Inzwischen sieht die herrschende Mei-
nung die Generalprävention als einzige Rechtfertigung der Strafe an18,
und der Schuld wurde kürzlich sogar als Voraussetzung der Strafe jede
Funktion abgesprochen. Diese Tendenz lehnt jede Bezugnahme auf die
Schuld in der Strafzumessung aus zwei Gründen ab: erstens, weil sie
davon ausgeht, daß das Schuldprinzip überflüssig sei, da das richterliche
Ermessen nur durch das Legalitätsprinzip begrenzt werden sollte. Zwei-
tens, weil die Grenzen, die sich aus der Schuld ergeben könnten, aus der
Generalprävention selbst zu entnehmen seien.
Das erste Argument, also die Uberflüssigkeit der Grenzen, die sich
aus der Schuld ergeben, weil sie mit denen des Legalitätsprinzips über-
einstimmen, nämlich mit den Grenzen des Strafrahmens, setzt voraus,
daß Schuldprinzip und Legalitätsprinzip dieselbe Bedeutung haben.
Und gerade dies ist falsch. Während das Schuldprinzip die Ausschöp-
fung des vom Gesetzgeber gegebenen Strafrahmens limitiert, weil die
konkrete Strafe als Obergrenze die Schwere der Schuld nicht überschrei-
ten darf, obwohl der Strafrahmen darüber hinausgeht, begrenzt das
Legalitätsprinzip nur den Strafrahmen selbst. Gerade die Versuche, den
Wirkungsbereich des Legalitätsprinzips aus dem Schuldprinzip abzulei-
ten", wären logisch unmöglich, wenn es sich nicht um verschiedene
Prinzipien handelte. In Wirklichkeit bedeutet das Legalitätsprinzip die
Bindung des Richters an den gesetzlich gegebenen Strafrahmen. Das
Schuldprinzip ist also dann überflüssig, wenn man ausschließlich von
der Generalprävention ausgeht, nicht aber weil Schuldprinzip und Lega-
litätsprinzip dasselbe bedeuten. Es ist klar, daß das Schuldprinzip nur
eine Rolle in der Strafzumessung spielen kann, wenn die Schuld allein
oder mit anderen Zwecken die Strafe legitimiert, es sei denn, daß die
schuldangemessene Strafe für eine Voraussetzung der präventiven Wir-
kung gehalten wird. Aber eine solche Argumentation schuldet bisher
den empirischen Beweis, ohne den ihre Uberzeugungskraft praktisch
gleich Null ist.
Das zweite Argument, das die h. M. gegen die Funktion der Schuld in
der Strafzumessung anführt, lautet: Die Generalprävention bedarf kei-
ner Grenzen, weil sie selbst nach ihrer inneren Gesetzlichkeit die
unerwünschten Konsequenzen ausschließen könne. In diesem Sinne sagt

" Gimbernat Ordeig, in: Festschrift für Henkel, 1974, S. 151 ff; Luzón Peña, „Medi-
ción de la Pena y sustitutivos penales", 1979.
" Vgl. Sax, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Handbuch der Grundrechte, III, 2,
S. 909 ff.
Strafzumessung in der spanischen Strafrechtsreform 569

man: „Allen Verbrechen mit der äußersten Strafe zu begegnen und damit
von der Ungleichheit der von ihnen herbeigeführten sozialen Erschütte-
rung - die schwerer wiegt, je wertvoller das verletzte Rechtsgut ist, und
bei gleichen Rechtsgütern, je nachdem, ob es sich um ein vorsätzliches
oder fahrlässiges Verhalten handelt - abzusehen, ist unannehmbar, weil
es in der Natur der Sache liegt, daß die Strafe nicht verschwenderisch,
sondern nur behutsam angewandt werden kann; denn sonst würde man
Verwirrung in die menschlichen Kontrollmechanismen bringen, was zur
Folge hätte, daß die Auswirkung der Strafe auf die soziale Verhaltens-
steuerung verlorenginge" 1 ' 1 . Hier stehen wir wiederum vor einer empiri-
schen Aussage, die aber nicht zu verifizieren bzw. bisher nicht verifiziert
worden ist. Jedenfalls scheint sie mir als bloße Vermutung unrichtig;
gleich strenge Strafen für alle Verbrechen bringen keine Verwirrung in
den Kontrollmechanismus des Menschen. Die Anpassung der Kontroll-
mechanismen hängt nicht von der Differenzierung der Härte der Strafen,
sondern nur von der Androhung bzw. der Verhängung der Rechtsfolgen
ab. Auch wenn ein „gesichertes Wissen" über die Strafe und andere
Kriminalsanktionen gering ist20, erlaubt uns die einfache Beobachtung,
hier zu sagen, daß die Abschreckungswirkung einer angedrohten bzw.
verhängten Strafe mit ihrer Gerechtigkeit nicht zusammenfällt. Und
wenn man nur auf die menschlichen Kontrollmechanismen abstellt,
dürfte die Definition der Generalprävention nur auf der Abschreckung
basieren. Was dagegen von einer Differenzierung der Strenge abhängig
sein könnte, ist die Erziehung des Gerechtigkeitsgefühls der Bürger.
Aber eine solche Begründung der Generalprävention durch eine Erzie-
hungsfunktion des Strafrechts wurde bisher in Spanien nicht postuliert.
Sie kann auch nicht implizit in dem hier kritisierten Gesichtspunkt
stecken, weil sie die Relevanz der Schuld für die Generalprävention
ablehnt.
Andererseits haben die Autoren, die die Schuld als Rechtfertigung der
Strafe verfechten, die Folgerungen des Schuldprinzips für die Strafzu-
messung nicht gezogen. Vielmehr werden solche Konsequenzen in die
Auseinandersetzung mit der Auffassung einer letztlich auf die General-
prävention gerichteten Straftheorie nicht einbezogen 21 . Die Diskussion
beschränkt sich vielmehr auf die dogmatischen Aufgaben der Schuld im
Bereich der Strafvoraussetzungen, so daß die Frage einer äußeren
Limitierung der Prävention durch die Schuld noch außerhalb der Dis-
kussion der Strafrechtsreform bleibt: Eine Klausel also, wie sie sich im

1,1Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), S. 379 ff (397).


20 Vgl. Kaiser, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 923 ff.
21 Vgl. Córdoba Roda, Culpabilidad y Pena, 1977; Cerezo Mir, in: Anuario de Derecho
Penal Ciencias Penales, Madrid, 1980.
570 Enrique Bacigalupo

deutschen StGB (n. F.) in § 46 findet, nach der die Schuld des Täters
Grundlage für die Zumessung der Strafe ist, wird in das zukünftige
spanische StGB wahrscheinlich nicht eingeführt werden, wenn es erlaubt
ist, aus dem Stand der strafrechtlichen Diskussion über diese Frage die
entsprechende Voraussage zu wagen.
Es bleibt noch die verfassungsrechtliche Frage kurz zu erörtern, ob
die 1978 in Kraft getretene Verfassung die Schuld als Rechtfertigung der
Strafe bestimmt. Die Verfassung erklärt die Würde des Menschen für
unantastbar und dies für die Grundlage der politischen Ordnung und des
sozialen Friedens (Art. 10). Nach Art. 9 garantiert die Verfassung auch
die Rechtssicherheit. Obwohl die Verhältnismäßigkeit der Strafe zur
Straftat nicht erwähnt wird, kann sie aus dem Schutz der Würde des
Menschen abgeleitet werden. Jedenfalls erfordert der Schutz der Men-
schenwürde nicht zwangsläufig, daß sich die Strafe nach dem Schuldmaß
richtet. Wenn begrifflich die Schuld durch ihre allgemein anerkannte
unsichere Bestimmbarkeit und ihren höchst kontroversen Inhalt gekenn-
zeichnet ist22, dürfte es kein Gebot der Rechtssicherheit sein, die Ver-
hältnismäßigkeit auf ihr aufzubauen. Die unsichere Bestimmung der
Präventionsbedürfnisse wird durch die unsichere Grenze der Schuld
nicht geringer.
Trotzdem schließt die Verfassung eine Begründung der Strafe aus der
Schuld nicht aus. Art. 25.2 der Verfassung spricht in erster Linie nur
über den Vollzug von Strafen und Maßnahmen, die die Wiedererziehung
und Resozialisierung des Verurteilten zum Ziel haben. Diese Bestim-
mung ist mit einer Vereinigungslehre vollkommen vereinbar.
Dieses Verständnis entspricht nicht der üblichen Interpretation der
gleichlautenden Klausel der deutschen Verfassung (GG Art. 1), was aber
nicht bedeuten soll, daß es sich um gegensätzliche Auslegungen dersel-
ben Bestimmung handelt. In der Auslegung der Verfassungen spielen
auch die nationalen Traditionen eine Rolle, die zu berücksichtigen sind.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Idee der Würde des Men-
schen von der Tradition des deutschen Idealismus so sehr geprägt, daß
Menschenwürde und Prävention nur unter bestimmten Voraussetzun-
gen vereinbar sind (z.B. Spielraumtheorie oder Stellenwerttheorie). Das
ist aber in Spanien nicht der Fall, wo sich eine Philosophie durchgesetzt
hat, die die Zwecklosigkeit der Strafe als Verletzung der Menschen-
würde versteht.

22
Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6.
La libertad religiosa como derecho fundamental de
los internos en instituciones penitenciarias
A N T O N I O BERISTAIN

I. Importancia y ambivalencia del derecho a la libertad religiosa


El derecho a la libertad religiosa en las instituciones penitenciarias
(algo así como el derecho a la libertad religiosa en general) es uno de los
derechos fundamentales más importantes y más necesitados de estudio.
Pero, uno de los que menos se habla, menos se discute y menos se
fomenta, por varios motivos. Entre otros, por la dificultad en definir la
religión, por su extraordinario poder, y por su ambivalencia en cuanto a
los efectos sociales que produce.
Algunos especialistas en derechos humanos ven y hacen ver la reli-
gión, a lo largo de la historia y en nuestros días, como autora de
execrables crímenes contra la humanidad, como obstáculo frente al
avance de la cultura y de la ciencia, como fomentadora de sentimientos
vengativos, represivos, sadistas y masoquistas . . . Además, desde otro
punto de vista, el nacional-catolicismo se opone frontalmente al derecho
que aquí comentamos. La politización excesiva, obcecante y unilateral,
de lo sacro amenaza con frecuencia a las sociedades de todos los tiempos
y lugares. Actualmente en las Escuelas de Berlin (Oeste), este año de
1985, se teme una politización parcial de la enseñanza religiosa1.
Estas y otras críticas brotan tanto desde fuera de las diversas religiones
como desde dentro de ellas. Y, desde dentro de la más admitida en
nuestro mundo cultural: el cristianismo. Recordemos, como ejemplo", el
documento preparado por más de veinte instituciones (católicas muchas
de ellas) en Brasil, presentado al Romano Pontífice para protestar y
recurrir contra la sanción impuesta recientemente al teólogo Leonardo
Boff, sin haber observado (según el documento) las más elementales
normas procesales exigidas por la justicia (»Deux avocats brésiliens
presentent un recours en gráce pour Leonardo Boff«, en L'actualité
réligieuse dans le Monde, N°25, julio-agosto 1985, pp. 16ss.).
Las sombras, las manchas y los crímenes de las religiones no obstan
para que se pueda y se deba reconocer que la religión (bien entendida)

1 Cfr. Bildung und Wissenschaft, Bonn, 1985, n° 1-2 (sp) p . 6 .


572 Antonio Beristain

significa uno de los valores más nobles y beneficiosos para la humanidad,


aunque con frecuencia haya contribuido a causarle graves daños.
Como indica Erich Fromm2, un mapa no basta para guiarnos en la
acción, también necesitamos una meta que nos señale a dónde ir. Los
animales no tienen esos problemas. Sus instintos les ofrecen un mapa y
también metas; pero, ya que nosotros no somos determinados por los
instintos y tenemos un cerebro que nos permite pensar en muchas
direcciones a donde podemos ir, necesitamos un objeto de devoción
total, un punto para enfocar todos nuestros esfuerzos y una base para
nuestros valores efectivos, y no sólo declarados. Necesitamos ese objeto
de devoción para dirigir nuestra energías en una dirección, para trascen-
der nuestra existencia aislada, con todas sus dudas e inseguridades, y
para satisfacer nuestra necesidad de darle sentido a la vida.
Desde parecida problemática Julio Caro Baroja considera también la
importancia de dar un sentido trascendente a la vida, por ejemplo,
cuando afirma: «¿Cuáles son los ideales del hombre de hoy?. Yo creo
que el hombre contemporáneo sufre un acondicionamiento por una
misión acaso rebajada y empobrecida que le atribuye el materialismo
histórico. Reducir la existencia del hombre a una lucha de clases me
parece mucho reducir, . . .
El mundo utilitario en el que vivimos - sea capitalista o marxista - es
un mundo bastante soberbio y bastante asqueroso. Es un mundo sin
horizontes para hacer una vida rica«3.
Por lo tanto, el derecho a la libertad religiosa merece ser estudiado y
desarrollado en la sociedad carcelaria y en la sociedad extracarcelaria.
Pero, sin dogmatismos, sin fanatismos; con una cosmovisión humana y
mistérica, como la presentan, por ejemplo, el Concilio Vaticano II, el
penalista protestante, Ministro de Justicia de Alemania, G. Radbruch, el
escultor y escritor Jorge Oteiza, Erich Fromm ... Según el jurista
alemán, «Religión es la última afirmación de lo existente, el risueño
positivismo, el formular un sí y un amén sobre todas las cosas, el amor
sin consideración al valor o desvalor del amado, la felicidad más allá de la
suerte o la desgracia, el perdón más allá de la culpabilidad o justicia, la
paz, el más que es superior a todo sentido común y sus problemas, la
alegre y metafísica «ligereza-ingenuidad» de los hijos de Dios a los cuales
todo coopera para su bien» 4 .

2 Erich Fromm, ¿Tener o ser?, Trad. de Carlos Valdés, Ed. Fondo de Cultura
Económica, México-Madrid, 1980, p. 135.
5 Julio Caro Baroja, Emilio Temprano, Disquisiciones antropológicas, Madrid, 1985,
p. 192.
4 Gustav Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit, Ed. Vandenhoeck Sí Ruprecht,
Góttingen, 1963, pp. 86 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 573

El Concilio Vaticano II, en su Constitución «Sobre la iglesia en el


mundo de hoy», Números 21 y 27, ha afirmado: «La iglesia sabe
perfectamente que su mensaje está de acuerdo con los deseos más
profundos del corazón humano, cuando reivindica la dignidad de la
vocación del hombre, devolviendo la esperanza a quienes desesperan ya
de sus destinos más altos. Su mensaje, lejos de empequeñecer al hombre,
difunde luz, vida y libertad para el progreso humano.
. . . Numerosos mártires dieron y dan preclaro testimonio de esta fe,
lo cual debe manifestar su fecundidad imbuyendo toda la vida, incluso la
profana, de los creyentes, e impulsándolos a la justicia y al amor, sobre
todo respecto al necesitado».
. . .«cuanto viola la integridad de la persona humana, como, por
ejemplo, las mutilaciones, las torturas morales o físicas, los conatos
sistemáticos para dominar la mente ajena; cuanto ofende a la dignidad
humana, como son las condiciones infrahumanas de vida, las detenciones
arbitrarias, las deportaciones, la esclavitud, la prostitución, la trata de
blancas y de jóvenes; o las condiciones laborales degradantes, que
reducen al operario al rango de mero instrumento de lucro, sin respeto a
la libertad y a la responsabilidad de la persona humana: todas estas
prácticas y otras parecidas son en sí mismas infamantes, degradan la
civilización humana, deshonran más a sus autores que a sus víctimas y
son contrarias al honor debido al Creador».
El antes citado Erich Fromm (p. 133) entiende por religión «cualquier
sistema de pensamiento (en sentido amplio) y acción compartido por un
grupo, que ofrece al individuo un marco de orientación y un objeto de
devoción». En este sentido, ninguna cultura del pasado, del presente, y
parece que del futuro, puede considerarse como carente de religión . . .
El dilema no es ¿religión o no religión? sino ¿qué tipo de religión?. ¿Es
algo que fomenta el desarrollo humano, los poderes humanos
específicos, o que los paraliza? . . . Cuanto más un animal asciende por
las etapas de la evolución, menos se determina su conducta por los
instinctos programados filogenéticamente.
En todas las capas de la vida humana, desde la más elemental biológica
de comer y dormir, hasta la más noble de la estética, aparece la religión
como elemento indispensable, como catalizador de integración. Atina-
damente escribe a este respecto Jorge de Oteiza5:
. . .«el arte consiste, en toda época y en cualquier lugar, en un proceso
integrador, religador, del hombre y su realidad, que parte siempre de

5 J. de Oteiza, Quousque tándem . . . ! 4' ed. Editorial Hordago, Zarauzt, 1983, n° 77 s.

Cfr. Ana M' Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). Un modelo de análisis
sociológico de la práctica pictórica contemporánea. Ed. Akal, Madrid, 1985, pp. 210 ss.
K.Brunner, sub voce «Religión», en Staatslexikon T. 6, Freiburg, 1961, columnas 820 ss.
574 Antonio Beristain

una nada que es nada y concluye en otra Nada que es Todo, un


Absoluto, como respuesta límite y solución espiritual de la existencia.
Todo el proceso del arte prehistórico europeo acaba en la Nada trascen-
dente del espacio vacío del cromlech neolítico vasco . . .
. . . Sin esta sensibilidad religiosa que trasciende directamente de lo
estético a todo lo humano, ni las ciencias se integran en la vida (las
ciencias, donde sus más grandes hipótesis y descubrimientos han sido
producto de intuición de naturaleza estética), ni las religiosas, los
diversos tipos de creencias y de fe, en el hombre, ni el propio religioso en
su religión, ni el artista mismo en la realidad. Pues esta realidad de la
vida, que es la del arte, es una realidad política, trascendente, religiosa».
Acertadamente afirmó Charles Darwin que la pérdida del gusto por la
dimensión religiosa y estética en la vida puede llevar a los investigadores
a una pérdida de la felicidad y a un daño para el intelecto, y más
probablemente para la moral, al debilitarse la parte emocional de la
persona.
El proceso descrito por Darwin acerca de sí mismo ha continuado6
desde su época a un ritmo rápido; la separación de la razón y de los
sentimientos (y de la religión) es casi completa. Pero, llama la atención
que no han sufrido este deterioro de la razón gran parte de los principales
investigadores en la mayoría de las ciencias más revolucionarias y
exigentes (por ejemplo, la física teórica) y que se han sentido profunda-
mente preocupados por las cuestiones filosóficas y espirituales, prime-
ras figuras como K.Einstein, N. Bohr, L.Szillard, W. Heisenberg y
E. Schródinger.
En resumen, aunque la religión no cabe en un concepto formal, pero sí
podemos decir que es lo transcendente, lo que desde más allá de la lógica
da sentido a todo, incluso a la muerte y al crimen, desvela que en el alma
del hombre hay más mundos que en el Universo galaxias y que de su
mirada, hoy, ignoramos continentes enteros. Estamos todavía en la mera
entrada de la famosa cueva, en la prehistoria de la integración metaperso-
nal, más allá del dolor7.
Lo mismo que arte no es representar una cosa bella, sino representar
bellamente una cosa, así también, religión no es cumplir los mandamien-
tos para disfrutar de Dios y estar con Dios en el cielo, sino disfrutar de
Dios, estar con Dios en la tierra y en el cielo para cumplir los manda-
mientos (o, en cierto sentido no cumplirlos, pues Dios tiene por oficio el

6 Erich Fromm, ¿Tener o ser?, p. 145.


7 Agustín Andreu, La noche y el día, en El Ciervo, Barcelona, julio-agosto 1985, p. 6.
Dietrich Rüschemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 ss. Annie
Wellens, Joseph Thomas, Claude Viard, Pierre Vallin, en Christus, n° 111, Paris, 1981,
pp. 340 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 575

perdonar siempre) 8 . Así, la espiritualidad es un derecho fundamental de


todos, tanto de los que vivimos en libertad como de los que yacen en las
cárceles.

II. La libertad religiosa como derecho (y valor) fundamental de todas


las personas. Paradójica situación actual
El derecho de todo ciudadano a la libertad religiosa figura entre los
derechos fundamentales reconocidos legalmente en el ámbito internacio-
nal y nacional (español); pero, no suficientemente conocido, ni recono-
cido, ni respetado en la práctica; ni suficientemente desarrollado en
«cantidad y calidad». Debe, pues, ser formulado, comentado y practi-
cado más de acuerdo con las exigencias dinámicas de nuestros valores
culturales de la postmodernidad.
Como todos los derechos elementales de la persona, el derecho a la
libertad de conciencia no brota de las declaraciones legales sino que las
precede. Brota de la dignidad ínsita en toda persona y de la realidad
social; no surge de las leyes, ni de los detentadores del poder. Surge
como imprescindible institución para cumplir la función social integra-
doral.
Autorizadas investigaciones sociológico-jurídicas evidencian que la
religión prima actualmente, no menos que en otras épocas históricas,
entre los valores más apreciados en Europa y fuera de Europa 10 . En esta
línea se manifiestan, entre otros, tanto el libro »Les valeurs du temps
présent: l'Europe au Carrefour«, de Jean Stoetzel, catedrático de Psico-
logía Social de la Sorbona (y de J . L i n z junto con otros especialistas
internacionales), como la investigación, fundamentada en encuestas a
veinte mil personas, presentada y comentada en la Conferencia de la
Asociación Americana de Investigación de la Opinión Pública, celebrada
en Wisconsin, el año 1984.
Según el estudio norteamericano, la inmensa mayoría de las personas
dan notable importancia a Dios en la vida; concretamente, el grado de
esta vivencia oscila en los diversos países entre 4 y 8 en la escala de 1 a 10.

8 Hilde Kaufmann, „Schuld" und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, en Theolo-
gische Quartalschrift, München, 1980, pp. 177ss.
9 Dietrich Riischemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 y ss.
10 En sentido parecido (no idéntico), también podían citarse algunas investigaciones

criminológico-teológicas como la antes indicada de Hilde Kaufmann, „Schuld" und


„Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, en la revista Theologische Quartalschrift (1980).
576 Antonio Beristain

Tab. 1 : Importancia de Dios en la vida

Países europeos de la C E E Escala de 1 a 10

Bélgica 5,9
Dinamarca 4,5
España 6,4
Francia 4,7
Reino Unido 5,7
Holanda 5,3
Irlanda 8,0
Italia 7,0
R. F. de Alemania 5,7
Otros países
EE UU 8,2
Canadá 7,4
Finlandia 6,2
Suecia 4,0
Noruega 5,3

Merecen conocerse también algunas páginas, al menos las básicas para


nuestro tema, del libro de Stoetzel". Por ejemplo, el gráfico sobre la
práctica religiosa en los países Europeos que varía según se indica en la
figura siguiente (p. 311).

Tab.2: Proporción, en tanto por ciento, de diversas actitudes entre los católicos, protes-
tantes y los sin religión

Católicos Protestantes Sin religión


Dedican algunos momentos a rezar, meditar 68 51 26
Importancia de Dios (índices) 669 553 239
Encuentran en la religión fuerza y apoyo 61 42 7
Encuentran en la religión una respuesta . . .
A los problemas morales 45 30 10
A los problemas familiares 41 31 8
A las necesidades espirituales 51 43 14
No existe más que una religión verdadera 33 18 4
Confían en la Iglesia 64 46 10
La religión se hará más importante 20 18 9
Posición en la escala política (índice) 529 572 412

Los índices varían de 100 a 1000

11 Jean Stoetzel, ¿Qué pensamos los Europeos?. Encuesta sobre los valores morales,
sociales, políticos, educativos y religiosos, en: Alemania Federal, Bélgica, Dinamarca,
España, Francia, Gran Bretaña, Holanda, Irlanda e Italia. Prólogo de Juan J . Linz.
[Colaboran Elizabeth Noelle-Neumann, del Institut für Demoskopie, Allensbach, Repú-
blica Federal Alemana; Juan J.Linz, de Data, Madrid; Helene Riffault, de Faits et
Opinions, París; y Gordon Heald, de Social Surveys, Gallup, Londres]. Madrid, Mapfre,
1982.
L a libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 577

IR
977

E.
516

IT.
4 64

B
H 361
349
R.FA.
304

GB
202
F
157

0
85

(Este gráfico, si se compara con los datos del informe norte americano, vemos que coincide
casi en su totalidad).

Tab. 3: Carácter político o religioso dominante en los grupos paradójicos (Extremistas de izquierda
religiosos, extremistas de derecha irreligiosos)

Extremistas Extremistas
Término de izquierda Término de derecha
Extremistas Extremistas medio religiosos Extremistas Extremistas medio irreligiosos
políticos en cuanto a 0 ) + (2) políticos en cuanto a (l) + (2)
de la importancia Carácter de la importancia Carácter
izquierda de Dios 2 Datos dominante derecha de Dios 2 Datos dominante
o) (2) (3) (4) (5) m (7) (8) « (10)

Asiduidad
religiosa 122 570 346 388 R 501 66 284 26 RR
Creen en un
Dios personal 18 54 36 57 RR 50 10 30 9 RR
Rezan o meditan 41 86 64 81 R 70 25 48 30 R
578 Antonio Beristain

Aun personas que se consideran sin religión adoptan algunas actitudes


religiosas como la meditación, los rezos, el encuentro en la religión de
respuestas a los problemas morales, familiares, y a las necesidades
espirituales, la confianza en la institución eclesial, la esperanza de que a
la religión se dará con el tiempo más importancia, la dedicación de
algunos momentos a prácticas cultuales, como aparece en la página 134
del citado libro.

También los grupos paradójicos ofrecen algunos datos dignos de


consideración respecto a las creencias, la oración y la asiduidad religiosa
(p. 126).

Las actitudes y comportamientos religiosos, entendiendo por tales la


práctica cultual, la creencia en Dios, la importancia que se reconoce a la
Divinidad, el sentimiento de fuerza y amparo en la vida espiritual, la
frecuencia o no frecuencia de rezos o meditaciones, varían según los
países (p. 123).

La importancia de Dios va en proporción con la colaboración gratuita,


como indica el gráfico siguiente, que refleja el tanto por ciento de los
entregados a actividades gratuitas según la importancia que atribuyen a
Dios (p. 217).

De modo similar, el sentimiento de la importancia de Dios aparece


también unido proporcionalmente a la búsqueda del sentido de la vida,
como lo muestra este último gráfico (p. 112).

Tab. 4: Indices de algunas actitudes y comportamientos religiosos por profesiones, basa-


dos en medias en el conjunto europeo

Direct, y Trabajad. Tra- Tra-


Actitudes y Agri- profesio. manuales bajad. bajad.
comportamientos cul. liberales no cualif. no Parados manuales
manual. cualif.

Asiduidad religiosa 113 97 75 77 57 55


Se declaran religiosos 103 98 94 89 78 76
Creen en Dios 117 97 96 93 87 79
Importancia de Dios 111 99 95 83 84 79
Encuentran fuerza y
amparo en la religión 122 98 84 82 63 59
Rezan o meditan 102 109 81 97 74 69

Media 111 100 88 87 79 70


Coeficiente de
variación (X 100) 6.4 4.2 9.1 7.9 13.7 13.7
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 579

Con claridad e insistencia importantes normas legales reconocen y


exigen el respecto a (y desarrollo de) la libertad religiosa. Recordemos,
como paradigma, el artículo 18 del Pacto Internacional de Derecho
Civiles y Políticos que dice12:
«1. Toda persona tiene derecho a la libertad de pensamiento, de
conciencia y de religión; este derecho incluye la libertad de tener o de
adoptar la religión o las creencias de su elección, así como la libertad de
manifestar su religión o sus creencias, individual o colectivamente, tanto
en público como en privado, mediante el culto, la celebración de los
ritos, las prácticas y la enseñanza,
2. Nadie será objeto de medidas coercitivas que puedan menoscabar
su libertad de tener o de adoptar la religión o las creencias de su elección.

12 Pacto Internacional de Derechos Civiles y Políticos. Adoptado por la Asamblea

General el 16 de diciembre d e l 966, y que entró en vigor en España conjuntamente con el


Protocolo el día 23 de M a r z o de 1976. Cfr. B. O . E . del 30 de Abril 1977.
580 Antonio Beristain

3. La libertad de manifestar la propia religion o las propias creencias


estará sujeta únicamente a las limitaciones prescritas por la ley que sean
necesarias para proteger la seguridad, el orden, la salud o la moral
públicas, o los derechos y libertades fundamentales de los demás.
4. Los Estados Partes en el presente Pacto se comprometen a respetar
la libertad de los padres y, en su caso, de los tutores legales, para
garantizar que los hijos reciban la educación religiosa y moral que esté de
acuerdo con sus propias convicciones».
A pesar de las repetidas declaraciones en todos los cuerpos legales en
pro de la libertad religiosa, todavía hoy en muchos países los poderes
políticos, económicos y religiosos13 violan frecuente y gravemente este

13 Con más frecuencia de lo debido, algunas autoridades religiosas anteponen a los

derechos fundamentales del otro, su subjetiva idea de caridad en beneficio del otro (contra
la justa voluntad de éste). Cfr. Antoine Garapon, L'âne portant des reliques. Essai sur le
rituel judiciaire, Le Centurion, Paris, 1985, pp. 197 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 581

derecho elemental, según lo constatan datos y documentos fehacientes


de personas particulares y de instituciones dignas de crédito (véase
Amnistía Internacional, en sus informes anuales y en otros informes
monográficos sobre este problema, por ejemplo: el informe titulado
Encarcelamiento político en la República Popular China, Barcelona,
1979)14.
El artículo editorial de la revista América (de Estados Unidos) del 14
mayo 1983, informa entre otros datos que: El 22 de marzo de 1983 en
Shanghai, dos jesuítas, Vicente Zhu Hongsheng (67 años) y José Chen
Yung-tang (75), han sido condenados respectivamente a 15 y 11 años de
prisión, por supuestas «actividades contrarevolucionarias», es decir, por
vivir como sacerdote de la Iglesia católica (Romana). Días después otros
dos jesuítas, Esteban Chen Cai-jun (66 años) y Estanislao Shen Bai-shun
(80 años), serían también condenados a dos años y medio y a 10 años de
cárcel. Según otras informaciones15, el P. Francisco Javier Chu murió el
28 de diciembre de 1983 en un campo de trabajo poco distante de
Shanghai. Los últimos 23 años había estado en la cárcel, 7 de los cuales
en un campo de «reforma». La causa de estas condenas y sanciones es el
«delito» contrarevolucionario de pertenecer a la Compañía de Jesús, en
otras palabras, su profesión religiosa.
En diciembre de 1983 aparecieron en la prensa noticias de que durante
ese año 90 dirigentes religiosos habían sido detenidos en China; pero, no
se brindaron detalles sobre las personas en cuestión. No obstante se
informó posteriormente sobre datos concretos de algunos de ellos, que
fueron procesados, acusándoles de «mantener vínculos con el Vaticano»
(Amnistía Internacional, Informe 1984, p.214).

III. El derecho a la libertad religiosa de las personas en las institu-


ciones penitenciarias. Realidad sociológica y legislación
Si la legalidad internacional y nacional de los países pertenecientes a
nuestro ámbito cultural reconocen el derecho a la libertad religiosa a
todos los ciudadanos, lógicamente han de reconocer este derecho tam-
bién a las personas obligadas a permanecer internadas en instituciones
penitenciarias. En este campo se están dando importantes pasos hacia
adelante en la teoría, en la legislación y en la práctica, aunque todavía
queda mucho por avanzar y conquistar.

14 Amnistia Internacional, Informe 1984, Madrid, 1984, pp. 211 ss. y pp. 326 ss. Amnis-

tía Internacional considera que la única razón de encarcelamiento, de muchas de estas


personas, sons sus creencias religiosas consideradas heréticas por las autoridades iraníes.
Cfr. Der Spiegel, 1 0 . 1 . 1 9 8 3 , p p . 9 3 0 s s .
15 Revista Jesuítas, Anuario de la Compañía de Jesús, Roma, 1985, p. 117.
582 Antonio Beristain

Como escribe Elias Neumanu, «en pleno luminoso auge de los


derechos humanos habría que destacar que los presos conservan
derechos que hay que garantizar, especialmente el derecho a intensificar
sin trabas sus sentimientos espirituales».
Las normas legales intentan corregir la lamentable realidad social, pero
encuentran dificultades que surgen dentro y fuera de la cárcel.
Los estudios modernos de los teólogos y de los juristas (en sentido
amplio, incluyente también de los criminólogos, de los sociólogos, etc.)
coinciden en prestar atención especial a tres posibilidades-facilidades
para la vida religiosa: 1° en la cárcel, 2° desde la cárcel hacia afuera, y 3 o
desde fuera hacia la cárcel.
En y desde la cárcel la vida religiosa puede desarrollar una fuerza
inmensa17, puede significar un «espacio vacío» pero prepotente, que
parte de los mass media y parte de la sociedad posmoderna desean negar
y anegar. El poder totalizador de ciertos Estados modernos no ve bien
esos «espacios libres» alejados de su control. Control que desean exten-
der hasta los cuerpos, hasta las almas, principalmente en la cárcel
arreligiosa.
No basta reconocer a los internos su derecho a vivir su espiritualidad
en la cárcel; es necesario reconocer también su derecho a vivir su
espiritualidad en conviviencia con los de fuera de los muros carcelarios.
Esta convivencia crece en doble dirección - centrífuga y centrípeta -
pues, parece indudable que los internos pueden y deben enriquecerse
ellos y enriquecer a los demás, con las visitas «de los de fuera». N o
menos enriquecedoras, para ambas partes, resultan las salidas de los
internos a las comunidades religiosas de fuera.
Todos los Congresos de las Naciones Unidas sobre prevención del
delito y tratamiento del delincuente han destinado una sección especial al
estudio exclusivo de las Reglas Mínimas para el tratamiento de los
reclusos. Dos de las cuales dicen así:
«Religión.
41.1. Si el establecimiento contiene un número suficiente de reclusos que pertenez-
can a una misma religión, se nombrará o admitirá un representante autorizado de ese
culto. Cuando el número de reclusos lo justifique, y las circunstancias lo permitan,
dicho representante deberá prestar servicio con carácter continuo.
41.2. El representante autorizado nombrado o admitido conforme al párrafo 1.
deberá ser autorizado para organizar periódicamente servicios religiosos y efectuar,
cada vez que corresponda, visitas pastorales particulares a los reclusos de su religión.

16 Elias Neuman, Crónica de Muertes Silenciadas. Villa Devoto, 14 de marzo de 1978,

Buenos Aires, marzo 1985.


17 Aumónerie genérale catholique des prisons, Prison, Ma Paroisse, Fayard, París,

1984. Cardenal S.Wyszynski, Diario de la Cárcel, Trad. de José Luis Legaza, B A C


Popular, Madrid, 1984. Hilde Kaufmann, Ejecución penal y terapia social, tradución del
alemán por Juan Bustos, Ed. Depalma, Buenos Aires, 1979, pp. 113 ss., 339 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 583

41.3. N u n c a se negará a un recluso el derecho de comunicarse con el representante


autorizado de una religión. Y , a la inversa, cuando un recluso se oponga a ser visitado
por el representante de una religión, se deberá respetar en absoluto su actitud.
42. Dentro de lo posible, se autorizará a todo recluso a cumplir los preceptos de su
religión, permitiéndole participar en los servicios organizados en el establecimiento y
tener en su poder libros piadosos y de instrucción religiosa de su confesión».
Para el Séptimo Congreso de las Naciones Unidas sobre prevención
del delito y tratamiento del delincuente (Milán, 26 de agosto - 6 de
setiembre de 1985) el Secretario General de las Naciones Unidas ha
preparado un Informe sobre la aplicación de las Reglas Mínimas. Tiene
en cuenta las investigaciones anteriores sobre el tema y la Consulta hecha
a todos los Gobiernos, a la cual contestaron 58 países (también España),
De los 58 países que respondieron cinco países no utilizaron el cuestio-
nario que se les envió previamente. De los 53 países que lo utilizaron, 46
países dicen que aplican las Reglas 41 y 42 sobre la religión, 4 países
dicen que las aplican parcialmente, un país contesta que las reconoce en
principio, y dos países contestan que no las aplican. En general, en las
contestaciones se admite la necesidad de respetar las creencias y prácticas
religiosas, incluso el conceder dietas alimenticias especiales por motivos
(preceptos) religiosos. Un país (el Informe no dice su nombre) hace una
referencia especial a estas Reglas 41 y 42, subrayando que la expresión
religiosa es libre y, por lo tanto, una cuestión privada. La religión se
considera un tema de la Iglesia separada del Estado. Por consiguiente, a
pesar de lo dispuesto en la Regla 41(1), este país no se siente obligado a
organizar servicios religiosos en la prisión.
El Consejo de Europa, en la Resolución (73) 5, adoptada por el
Comité de Ministros, el 19 de enero de 1973, recomendó a los Gobiernos
de los Estados miembros de dicho Consejo que su legislación y práctica
(nacional) penitenciaria se inspire en las Reglas Mínimas para el trata-
miento a los reclusos que se formulan en el Anexo a dicha Resolución, y
que siguen casi al pie de la letra, salvo algunas modificaciones, la
orientación marcada en las Reglas de las Naciones Unidas (Véase A. Be-
ristain, Crisis del Derecho represivo (Orientaciones de organismos
nacionales e internacionales), Madrid, Edicusa, 1977, pp. 179 ss.).
En las dos Reglas que se refieren a nuestro tema, sólo se cambian
algunas palabras sin importancia mayor. Ahora en el texto europeo el
título dice «Asistencia religiosa y moral», y la Regla 41 (correspondiente a
la 42 de las Naciones Unidas) establece que «Cada recluso deberá estar
autorizado, dentro de lo posible, a cumplir las exigencias de su vida
religiosa, espiritual y moral, permitiéndole participar en los servicios o
reuniones organizados en el establecimiento, y tener en su poder los
libros necesarios».
En España la libertad religiosa de las personas en instituciones peni-
tenciarias aparece reconocida en el artículo 54 de la Ley Orgánica 1/
584 Antonio Beristain

1979, de 26 de septiembre, General Penitenciaria ( B O E . n°239, de 5 de


octubre), según el cual «La Administración garantizará la libertad reli-
giosa de los internos y facilitará los medios para que dicha libertad pueda
ejercitarse».
Este breve artículo se desarrolla en los artículos 180,181,292 y 293 del
Reglamento Penitenciario de fecha 9 de mayo de 1981 (BOE. nos
149-151, de 23-25 de junio).
Parecidas normas establecen Bélgica, Francia, Italia, Portugal, Reino
Unido de Gran Bretaña, República Federal de Alemania, Suecia, etc.
Tanto dentro de las cárceles como fuera de ellas, la vida religiosa va
avanzando en el sentido concreto que ahora estudiamos, aunque todavía
se necesitan cambiar muchas ideas y muchos sentimientos y muchas
instituciones.
Actualmente en España los capellanes penitenciarios18 se reúnen con
relativa frecuencia y trabajan en colaboración con sacerdotes y laicos de
fuera de la cárcel; ejercitan su ministerio en un sentido menos exclusiva-
mente «interno» que antes; se preocupan por colaborar a la crítica seria
(pero constructiva) de las instituciones penitenciarias en general, etc.
Las conclusiones formuladas en la última reunión de los capellanes
españoles (enero de 1985, en Madrid) patentizan esta orientación progre-
siva, en la línea del Concilio Vaticano II. Por ejemplo, cuando afirman:
«La Iglesia en libertad no puede desentenderse de la Iglesia en prisión.
El preso salió un día de la comunidad, pero un día tendrá que
reintegrarse de nuevo en ella. La comunidad no debe olvidarse de él,
debe acompañarlo y acogerlo luego con generosidad y con amor.
Dentro del campo de la «Pastoral General de la Diócesis», la Pastoral
Penitenciaria debe ser parcela preferida, a la que el Obispo debe atender
como a la parte más necesitada de su servicio pastoral.
Que el Sr. Obispo haga la «Visita Pastoral» a la prisión y que, en
fechas señaladas (Navidad, Fiesta de Nuestra Señora de la Merced, etc.),
vaya a visitar a los reclusos, manifestando así su celo pastoral por esta
comunidad eclesial, que vive entre rejas y que es como un sacramento
vivo de la presencia de Jesucristo en el mundo.
En todas las Diósesis se debería crear un Secretariado de Pastoral
Penitenciaria, con conexión con Cáritas Diocesana y que tendría como
misión la programación de la Pastoral Penitenciaria en sus diversos
aspectos (atención al recluso y a sus familiares, asistencia postcarcelaria,
concienciación de la sociedad y de las comunidades cristianas) y la
formación de los agentes de la Pastoral Penitenciaria integradores del
Consejo Pastoral Penitenciario.

18 Afortunadamente ni los capellanes, ni sus colaboradores laicos en la España de hoy se

parecen en nada a aquellos de la postguerra civil, de los años 1 9 3 6 - 1 9 3 9 y siguientes.


La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 585

La Iglesia local es el marco más apropiado para las actividades de la


Iglesia concernientes a la reducción y prevención de la criminalidad.
Debe unirse a otros grupos locales para estudiar los problemas de la
delincuencia y luchar contra ella y alentar a abogados, psicólogos,
psiquiatras, sociólogos y otros especialistas católicos para que ofrezcan
sus servicios a los delincuentes y a sus familiares.
La Parroquia debe acompañar en todos sus pasos a los feligreses que
sufran pérdida de libertad».
En realidad, actualmente los laicos de las diversas iglesias entran más
que antes en las prisiones españolas para convivir la religión en comuni-
dad con los internos. Y, aunque todavía poco, también algunos laicos
individualmente y en grupo acogen a los internos y ex-internos en las
parroquias y en instituciones clericales extracarcelarias, en actos cultura-
les, cultuales, litúrgicos y en acciones de fe y justicia.
Las Memorias anuales de la Dirección General de Instituciones Peni-
tenciarias españolas reflejan sólo una parte de lo religioso-espiritual-
social que se hace-vive dentro de los muros carcelarios (y fuera de ellos).
C o m o indica la Memoria de Instituciones Penitenciarias publicada en
Madrid, el año 1965", la labor principal de los capellanes (y de los
seglares) es callada y oculta; por lo tanto, difícil de reflejar en estadísti-
cas. Muchas entrevistas y conversaciones serían computables en núme-
ros; pero, no en importancia. A veces, una charla con el capellán y/o con
el seglar que visita frecuentemente la cárcel en nombre de la Iglesia puede
abrir la puerta a la recuperación y / o a la intensificación de la vida
espiritual del recluso. Más fácilmente pueden darse cifras acerca de los
sacramentos y otras formas de vida religiosa dentro de las instituciones
penitenciarias; pero, esos datos sólo reflejan la parte externa, la menos
importante de la vida que, por antonomasia, podemos llamar interna.
Durante el año 1964 hubo un total de 34 niños y 11 adultos bautizados
en las cárceles del Estado. Durante el mismo período de tiempo se
celebraron 45 matrimonios como Sacramento litúrgico, y 143 primeras
comuniones. H u b o 29 visitas pastorales o de prelados: en la prisión
central Sanatorio Antituberculoso de Guadalajara, en las prisiones pro-
vinciales de Albacete, Badajoz, Burgos, Cádiz, Córdoba, Granada,
Huelva, Huesca, León, Lérida, Lugo, Murcia, Orense, Palma de Ma-
llorca, San Sebastián, Sevilla, Tarragona, Teruel y Valencia (hombres),
así como en la prisión de Partido del Ferrol del Caudillo, de Vigo y de
Orihuela.
Dentro del Nacional-Catolicismo imperante en aquellos años, la
Memoria da cuenta de que ha habido en las Instituciones penitenciarias

" Dirección General de Prisiones, Memoria, Madrid, 1965, pp. 61 ss.


586 Antonio Beristain

nueve conversiones, e informa a continuación acerca del porcentaje de


los internos que han cumplido con pascua. Es el siguiente20:

C U M P L I M I E N T O PASCUAL Idem de Logroño 85


Idem de Lugo 60
Prisiones Centrales: % P. reclusa Idem de Madrid (Hombres) 18
Idem de Madrid (Mujeres) 50
Sanatorio Antituberculoso Penitenciario de Idem de Málaga 86
Guadalajara 40,1 Idem de Murcia 62
Centro de Maternología y Puericultura de Idem de Orense 100
Madrid 95 Idem de Oviedo 33
Sanatorio Psiquiátrico Penitenciario de Idem de Palencia 93,93
Madrid 92 Idem de Palma de Mallorca 60
Hospital Penitenciario de Madrid 40 Idem de Pamplona 89
Reformatorio de Adultos de Ocaña 18 Idem de Pontevedra 62
Central de Mujeres de Segovia 77 Idem de Salamanca 97
Instituto Geriátrico Penitenciario de Málaga . 74 Idem de San Sebastián 45
Talleres Penitenciarios de Alcalá de Henares . 38 Idem de Santander 80
Central de Mujeres de Alcalá de Henares . . . 90 Idem de Segovia 50
Central de Burgos 25 Idem de Sevilla 50
Central de Gijón 27 Idem de Soria 93
Central de Puerto de Santa Maria 11 Idem de Tarragona 10
Central de San Miguel de los Reyes Idem de Tenerife 50
(Valencia) 26 Idem de Teruel 75
Idem de Toledo 100
Prisiones Provinciales: Idem de Valencia (Hombres) 40
Provincial de Albacete 100 Idem de Valencia (Mujeres) 75
Idem de Almería 88 Idem de Valladolid 54
Idem de Badajoz 100 Idem de Vitoria 72
Idem de Barcelona (Hombres) 22 Idem de Zamora 96
Idem de Barcelona (Mujeres) 48 Idem de Zaragoza (Hombres) 65
Idem de Bilbao 65 Idem de Zaragoza (Mujeres) 100
Idem de Burgos 80
Idem de Cáceres 69 Prisiones de Partido y Colonias:
Idem de Castellón 30 Alcázar de San Juan 10
Idem de Ciudad Real 82 Prisión de Partido de Algeciras 76
Idem de Córdoba 53 Preventiva de Cartagena 80
Idem de Cuenca 100 Idem de Ceuta 100
Provincial de Gerona 25 Idem de El Ferrol del Caudillo 100
Idem de Granada 85 Idem de Jerez de la Frontera 100
Idem de Guadalajara 60 Idem de Melilla 100
Idem de Huelva 80 Colonia Agrícola Penitenciaria de Nanclares
Idem de Huesca 50 de la Oca 45
Idem de Jaén 98 Idem Agrícola de Tefía (Fuerteventura) . . . . 70.58
Idem de La Coruña 51 Idem Penitenenciaria de El Dueso (Santoña) . 20
Idem de Las Palmas de Gran Canaria 90 Prisión de Partido de Santiago de Compos-
Idem de León 76 tela 100
Idem de Lérida 70 Idem de Santa Cruz de la Palma 90
Idem de Vigo 50

20 Dirección General de Prisiones, Memoria, Madrid, 1965, p.63.


La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 587

U n cambio radical empieza a experimentar la asistencia religiosa y la


figura del capellán en la cárcel a lo largo del año 1978, como aparece en el
Informe General 1979, de Carlos García. Valdés (con la colaboración de
Joaquín Rodríguez Suárez y Ricardo Zapatero Sagrado). Este informe 21
acierta al constatar que «Es un hecho claro que el Capellán, en estos
últimos tiempos, ha visto muy mermada su catergoría y prestigio. Su
presencia en el establecimiento penitenciario resulta a veces atractiva, a
veces repulsiva, y con frecuencia, indiferente, cuando no contestada. La
figura del Capellán ha sufrido un proceso de desmitificación, que, en
último análisis, le ha resultado muy beneficioso . . . El Capellán no debe
amparerse en las estructuras oficiales para imponer su doctrina, porque,
además, la religión no es ni siquiera una doctrina o una ideología, es, más
bien, una vida, algo que ha de encarnar en la propia persona y hacer
normativa de conducta.»
Pocos años después, concretamente el Informe General respecto a los
12 meses de 1982, que apareció publicado el año 1984, ofrece los
porcentajes respecto a los internos católicos, no católicos y que no
profesan religión alguna en los establecimientos penitenciarios 22 .

También se informa que se han celebrado 8 bautismos y 21 matrimo-


nios por el rito eclesial. El bautismo que se celebró en el Dueso, fué por
el rito de la Iglesia Adventista del 7° día.
En el mismo Informe General 1982 (pp.68ss.) aparece una nueva
orientación de la asistencia religiosa más abierta que en años anteriores,
pues, se comenta que iglesias, confesiones y comunidades religiosas no
católicas prestan asistencia también en diversos establecimientos, por
ejemplo, en Cartagena, Córdoba, Puerto de Santa María, San Sebastián,
Santa Cruz de Tenerife y Toledo por los miembros de la Asociación
Testigos de Jehová; en los de Lugo, Puerto de Santa María, Santa C r u z
de Tenerife y Santoña por las Iglesias Cristianas Adventistas del 7° día,
de España; en el complejo femenino de Madrid, por la Comunidad
Cristiana del Evangelio Eterno y por la Iglesia de Cristo en Madrid; en el
establecimiento de Murcia p o r la Iglesia Evangélica Bautista de Murcia;
en el de Málaga por la Comisión de Defensa Evangélica Española; en los

21
Carlos Garría Valdes, Informe General 1979, Dirección General de Instituciones
Penitenciarias, Alcalá de Henares (Madrid), 1979, p. 175.
22
Dirección General de Instituciones Penitenciarías, Informe General 1982, Madrid,
1984, pp.223ss. En diciembre de 1985 aparece el Informe General, publicado por la
Dirección General de Instituciones Penitenciarias, correspondiente a los años 1983-1984.
Los datos relativos a la asistencia religiosa, pp.599ss., son prácticamente parecidos a los
que se citan en el texto; en concreto, en el año 1983 se celebraron 16 Bautismos Católicos y
uno por la Iglesia Evangélica, en 1984, 7 Bautismos Católicos, el año 1983, 17 matrimo-
nios, y el año 1984, 19 matrimonios por el rito Católico.
Tab. 5: Internos católicos, no católicos y que no profesan religión alguna en los
Establecimientos Penitenciarios

Centros Internos no Internos que Internos


católicos no profesan católicos
% religión alguna %
%

Albacete 3,55 2,39 94,07


Algeciras 3,00 - 97,00
Alicante 14,22 4,00 81,78
Alcalá, Cumplimiento - - 100,00
Alcázar de San Juan - - 100,00
Burgos 8,00 7,00 85,00
Cáceres, I 5,40 - 94,60
Cáceres, II 5,00 - 95,00
Cartagena 2,20 2,80 95,00
Castellón 5,00 3,00 92,00
Ciudad Real 2,00 - 98,00
Cuenca 9,61 1,93 88,46
El Dueso 13,95 0,69 85,36
Figueras 6,00 8,00 86,00
Gijón 3,82 1,18 95,00
Granada 4,30 1,00 94,70
Huelva 5,75 1,75 92,50
Huesca 20,00 - 80,00
La Coruña 12,00 2,00 86,00
León 3,00 - 97,00
Logroño 5,00 5,00 90,00
Madrid, Hombres 9,00 2,00 89,00
Madrid, Psiquiátrico 10,50 3,00 86,50
Melilla 71,40 5,30 23,30
Nanclares de la Oca - 15,00 85,00
Ocaña, I 2,00 - 98,00
Ocaña, II 2,00 - 98,00
Orense 12,00 8,00 80,00
Oviedo - - 100,00
Palencia 4,00 26,00 70,00
Palma de Mallorca 12,00 5,90 82,10
Pamplona 8,00 2,00 90,00
Pontevedra 29,00 6,00 65,00
Salamanca 9,00 2,00 89,00
San Sebastián 2,00 - 98,00
Santa Cruz de la Palma - - 100,00
Santander 10,00 4,00 86,00
Segovia, Cumplimiento 2,00 8,00 90,00
Segovia, Ebrios - - 100,00
Sevilla 2,00 - 98,00
Soria - - 100,00
Tarragona 10,00 2,00 88,00
Teruel 0,92 - 99,08
Toledo - - 100,00
Valencia, Hombres 7,00 3,00 90,00
Valladolid 1,00 11,00 88,00
Vigo 4,00 2,00 94,00
Zaragoza 4,00 5,00 91,00
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 589

de Algeciras, Jerez de la Frontera y Puerto de Santa María por la


Federación de Iglesias Evangélicas Independientes de España; en el del
Puerto de Santa María por la Iglesia de Cristo en Rota; y en el de Léon
por la Iglesia Evangélica.
El número de sacerdotes que forman el cuerpo de capellanes para
atender a los internos católicos el año 1982 eran 39, como funcionarios
de carrera, a los que se añadían 42 sacerdotes autorizados a ejercer la
asistencia religiosa en los establecimientos penitenciarios23.
Estos capellanes realizan además de los actos de culto, administración
de sacramentos, catequesis, obras en el área social-asistencial penitencia-
ria, tratando de elevar el nivel cultural del interno especialmente, en el
aspecto religioso. Su tarea tiene horizontes muy abiertos24.
En la «Memoria-Circular de las actividades de esta Dirección General
en 1983 y Proyectos de actuación en 1984» no hay referencias a la
asistencia religiosa. Esta multicopiada (no impresa) Memoria circular, de
109 páginas, de la Dirección General de Instituciones Penitenciarias, está
fechada en Madrid el 13 de febrero de 1984.
En otros países, por ejemplo en México, frecuentemente grupos de
cristianos se internan voluntariamente un par de días en la cárcel, para,
con los presos, hacer cursillos de cristianidad u otras jornadas eclesiales
(en el sentido amplio de la palabra) y no eclesiales.

IV. La religión en favor de las libertades del preso


Hasta hace pocos años, generalmente, la mayoría de los juristas y de
los gobiernos entendían la religión como un instrumento al servicio del
poder político para «dominar», para «convertir», a los privados de
libertad. Baste leer algunos documentos oficiales de las autoridades
estatales francesas del siglo pasado. En sentido parecido escribían no
pocos penitenciaristas españoles.
Todavía hoy, entienden equivocadamente el derecho a la libertad
religiosa del interno quienes la consideran como instrumento para
«domesticar», para «catequizar», etc.
En países musulmanes, por ejemplo en Egipto y en Irán, la religión
dentro de las instituciones penitenciarias sirve ciegamente al Estado y
coopera eficientemente con él para coaccionar la libertad psicológica del
preso25.
23 Cuando escribo estas páginas (Octubre 1985) hay en España 36 capellanes funciona-

rios y 48 capellanes designados directamente por el Obispo y aceptados por la Administra-


ción. Evaristo Martin Nieto, en Vida Nueva, n° 1502, 1985, pp. 23 ss.
24 François Haumesser, »L'aumônier de prison, porteur d'une courageuse espérance«,
en Le Supplément. Revue d'éthique et de théologie morale, Intervenir en prison, N ° 151
(décembre 1984), pp. 49 y ss.
25 Amnistía Internacional, Informe 1984, Madrid, 1984, p p . 3 2 2 s s .
590 Antonio Beristain

Desde nuestro punto de vista, una de las principales metas de las


religiones es precisamente insistir en la necesidad ineludible de que las
instituciones penitenciarias deben pretender (y facilitar efectivamente) la
personalización, la integración social, es decir, la liberación interna y
externa del preso26.
A pesar de las críticas que merecen los abusos pasados (y presentes) de
la mal programada dimensión resocializadora de las instituciones peni-
tenciarias, debemos caer en la cuenta de que la religión entendida a la luz
del evangelio (por ejemplo) exige que la persona en la cárcel no quede
reducida a un objeto de castigo, ni mucho menos. La religión coloca a la
persona en el centro de todo el sistema, y de todos los sistemas, y
concretamente la religión por medio de sus teólogos, de sus capellanes
penitenciarios, y de su jerarquía, insiste en la necesidad de luchar en
favor de los internos hasta lograr la justicia, e incluso por encima de la
justicia (legal, internacional, formal).
Hace ya más de 20 años, en 1961, Karl Rabner escribió ampliamente
acerca de la necesidad radical para el bautizado de encontrar a Cristo el
Señor en los presos: «Nosotros encontramos a Cristo en los presos,
todavía más, debemos encontrarle allí, pues allí es donde realmente está,
y donde más fácilmente le encontramos como Salvador y como Re-
dentor»27.
Los capellanes de las instituciones penitenciarias aunque a veces, sobre
todo en la época del nacional-catolicismo, en diversos países y en
diversas épocas han colaborado más con el poder que con los internos,
sin embargo, siempre han levantado su voz y han luchado prácticamente
en favor de los internos, especialmente destacan hoy los trabajos de los
Capellanes en Norteamérica28, en Alemania29, Inglaterra30, Francia",
Bélgica32, Suiza33 y, últimamente, también España34.

26 Dietrich Rüschemeyer, en Staatslexikon, T. 6, Freiburg, 1961, columnas 824 ss.


27 Karl Rahner, Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, 3" ed., Tyrolia,
Innsbruck, 1961, p. 448: Wir finden Christus den Herrn in den Gefangenen; wir sollen ihn
finden, er ist da wirklich so zu finden, daß wir ihm selbst für uns zu unserem Heil und
unserer Seligkeit begegnen.
28 A. Beristain, «Liberación religiosa en y desde las cárceles» en Cuadernos de Política
Criminal, N° 21 (1983) pp. 648 y ss.
29 Gudrun Diestel, Peter Rassow, Otto Schäfer, Ellen Stuhbe: Kirche für Gefangene -
Erfahrungen und Hoffnungen der Seelsorgepraxis im Strafvollzug, München, Chr. Kaiser,
1980.
30 Canon L. Lloyd Rees, "Setting the Scene", en The Chaplaincy Contribution to Penal

Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of Europe, London,
1981, pp. 2 y ss.
31 Aumônerie générale catholique des prisons, Prison, Ma Paroisse, Fayard, Paris,

1984.
32 François Villon, Prisons, en Pro Mundi Vita: Dossiers, revista trimestral, Bruselas,

noviembre, 3/1984, pp.3ss.


La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 591

En el Congreso organizado por el Consejo de Europa y los capellanes


en el Reino Unido, Agustine Harris insistió que el homo-pius debe
calificar de inhumanas las cárceles que no pretendan la repersonalización
con medios y límites legítimos y éticos, y que debe luchar para conse-
guirlo; él formuló en este sentido frases sumamente severas como cuando
calificó de inmoral e injusta toda cárcel que no contenga un elemento real
y eficaz de resocialización o, al menos, un deseo auténtico de lograr ese
fin. Desgraciadamente el sistema penal de nuestras sociedades, afirmó,
prescinde y desconoce la belleza, la poesía, el humor y la cordialidad
(sensitiviti). Estos rasgos, estas dimensiones esenciales de lo humano
están desterradas de nuestras cárceles35.
Las conclusiones y observaciones de este Congreso celebrado en
Londres, en 1980, coinciden, principalmente, en que todos los ciudada-
nos deben respetar al preso y esforzarse para permitirle que pueda
disfrutar (también dentro de la cárcel) de todos sus derechos, y pide a los
fieles que aprecien y amen a los presos como a Jesucristo. Este mensaje
evangélico está muy lejos de haber fermentado toda la masa de la
sociedad.
Los capellanes de 15 Naciones Europeas y de Argentina reunidos en el
Congreso Internacional celebrado en Madrid, en septiembre de este año
1985, han escrito atinadamente que los «Obispos no están informados de
la realidad de las prisiones . . . tendríamos que hacer también una
catequesis a los Obispos sobre estos problemas 36 .
Los capellanes deben estar debidamente formados acerca de esos
problemas jurídico-teológico-criminológicos, para no caer en posturas
demagógicas superficiales, para no confundir el derecho con la caridad,
ni confundir el cristianismo con el humanismo, para no tratar a los laicos
con trasnochado paternalismo . . . Algunos críticos confunden el derecho
del Juez a juzgar y sancionar un hecho delictivo, con el abuso del poder
cuando pretende sancionar y castigar el mal ontològico.

33 «Caritas Suiza y la Ayuda a la población penal», en A. Beristain, «La reforma penal


también desde la Universidad», en Reformas penales en el mundo de hoy, Edersa, Madrid,
1984, pp. 279 y ss.
54 E.Martín Nieto, «Congreso Internacional de Capellanes Generales de prisiones»,
Madrid 1985, en Vida Nueva, N° 1502 (9 noviem. 1985), pp. 2259 y ss. Véase también el
libro La Cárcel, A. Beristain, «Liberación religiosa en las cloacas carcelarias», pp. 229 y ss.
Idem, Cfr. «Asistencia religiosa. Comentario al art. 54 de la Ley Orgánica General
Penitenciaria», en Varios, Comentarios a la legislación penal, Tomo VI, Edersa, Madrid,
1986, pp. 803-855.
35 Augustine Harris, The Penal System - A Theological Assessment, en The Chaplaincy

Contribution to Penal Thought and Practice, Seminar in co-operation with the Council of
Europe, Londres, 1981, pp. 6ss.
36 Evaristo Martín Nieto, en Vida Nueva, n° 1502, 1985, pp.23ss.
592 Antonio Beristain

Del mensaje final del Congreso Internacional de capellanes generales


de prisiones, merece destacarse ahora una de las peticiones que dirigen a
los responsables de la Iglesia, concretamente cuando piden que, las
comunidades cristianas parroquiales sean conscientes de su responsabili-
dad con las comunidades cristianas que existen «intra muros», pues las
dos son células del mismo cuerpo de Jesucristo, que es la Iglesia37.
Esta responsabilidad de las Comunidades cristianas de fuera de la
cárcel debe atender a las peculiaridades temporales y geográficas de los
internos. En cada época, la libertad espiritual del preso ha de tomar en
consideración algunos datos concretos. Por ejemplo, hoy en día entre las
libertades especialmente en peligro dentro de las cárceles, en el último
tercio del siglo X X (y que la religión ha de respetar y fomentar)
recordemos la libertad del preso a no ser objeto de experimentos médicos
cosificantes, la libertad del preso frente a ciertos desarrollos de la ciencia
y de la tecnología. Merece leerse, a este respecto, el Informe presentado
en el Consejo de Europa por la delegación de Francia sobre «La
protección de la persona humana y de su integridad física e intelectual en
el contexto de los progresos de la biología, de la medicina y de la
bioquímica» (Estrasburgo, 1985).
Como indicábamos antes, las Comunidades externas deben también
tener en cuenta las peculiaridades de cada lugar.
Actualmente en Euskadi la mujer (no menos que el hombre) puede y
debe jugar un papel decisivo en la vida religiosa de y con las personas
privadas de libertad pues nuestra tradición ha insistido en la importancia
básica de la «señora de la casa», la Etxekoandre, y la «sacerdotisa»,
Andereserora, como ministros principales de la religión, de la casa, del
culto doméstico. La casa es templo (cementerio) cuyo culto corre a cargo
de los que en la casa viven.
Todo esto ha contribuido a elevar el aprecio y consideración en que ha
sido tenida la mujer, y proviene de la situación o condición (contraria al
derecho germánico) en nuestros tiempos forales que conceden la elección
del heredero según el orden de la naturaleza al primogénito, varón o
hembra, y este primogénito sucedía a los padres en el gobierno de la casa
(si bien, los padres podían alterar este orden)38.
Si, con Oteizase puede afirmar que la nueva labor del artista es la
puesta del arte al servicio de todo comportamiento para la vida y la

37 E. Martín Nieto, en Vida Nueva, pp. 23 ss.


" Marcel Nussy Saint-Saéns, Contribution a un essai sur la coutume de Soule, pág. 69
(Bayonne, 1942). Cfr. José Miguel de Barandiarán, Mitología Vasca, Ed. Txertoa, San
Sebastián, 1983, p. 71.
3 ' Jorge de Oteiza, Quousque tándem . . . ! , 4' ed., Ed. Hordago, Zarautz, 1983, núms.

109 ss. Miguel Pelay Orozco, Oteiza. Su vida, su obra, su pensamiento, su palabra, La
Gran Enciclopedia Vasca, Bilbao, 1978, pp. 79 y ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 593

ciudad, de modo semejante y quizás con más motivo, se puede y debe


decir que la labor del homo pius es la puesta de la religión al servicio de
todo comportamiento para la vida y la ciudad dentro y/o fuera de la
cárcel (en cuanto liberadora del complejo edipiano egocéntrico-centrí-
peto).
Si para Don José Miguel de Barandiarán los cromlechs vascos son
recintos sagrados40, si el cromlech vacío es la anticipación del espacio
religioso . . . para muchos la celda carcelaria puede ser (desgraciada-
mente?) como el cromlech vasco primitivo, un espacio de reflexión para
la conciencia íntima.
La jerarquía católica y protestante de diversos países, por desgracia no
tanto la del Estado Español, se ha hecho eco de este problema en sus
orientaciones escritas y en el dato de destinar a capellanes penitenciarios
a personas de especial valía. N o podemos menos de recordar aquí la
declaración de la Comisión Social del Episcopado Francés que escribió a
las comunidades cristianas y a los prisioneros, el 7 de Abril de 1981,
doliéndose del hacinamiento en las cárceles, protestando por la situación
deshumanizante de la mayoría de los internos, especialmente de los
jóvenes, protestando de que los que vivimos en libertad exageramos
nuestro deseo de seguridad y llegamos incluso a justificar sanciones que
destrozan al hombre y pidiendo que se imite en Francia (yo diría que
también en España y en el País Vasco), lo que ciertos países Europeos ya
están introduciendo, es decir, sanciones más orientadas hacia la repara-
ción de los daños causados a las víctimas (demasiado olvidadas) más que
hacia la sanción, más que hacia el castigo41.
Por fin, en sentido todavía más fuerte se ha declarado en varios de sus
escritos el Arzobispo de Milán, el jesuita Cardenal Carlo M' Martini.

V. La «libertad» religiosa del interno ayuda


a la espiritualidad del externo
A pesar del reconocimiento legal de la libertad espiritual dentro de la
cárcel, en verdad la religión entre los muros carcelarios sufre continua-
mente - como todo lo prisional — mermas importantes de libertad. Por
eso, al titular este apartado entrecomillamos la palabra «libertad». Esta
lamentable realidad no obsta para que el desenvolvimiento espiritual
dentro de la cárcel alcance - paradójicamente - altas cotas en algunos

40
Ana M" Guasch, Arte e ideología en el País Vasco (1940-1980). U n modelo de análisis
sociológico de la práctica pictórica contemporánea, Ed. Akal, Madrid, 1985, p.208.
41
»Comme en certains pays européens, des sanctions plus orientées vers la réparation
des dommages causés aux victimes, par trop oubliées, que vers le châtiment«. Commission
Sociale de l'Episcopat, »Communautés chrétiennes et prisonniers«, en La Documentation
Catholique, N°37, Paris 1981.
594 Antonio Beristain

aspectos. Tantas que en determinados campos se llega a darnos lecciones


a los que estamos fuera, y se llega a lograr frutos de mejor calidad42.
En este marco, hoy que tanto se habla en favor de la moral social, de la
moral pública43, podemos pedir: «Dejémonos moralizar por los presos».
Esta frase, «Dejémonos moralizar por los presos», produce en la
mayoría de las personas que la oyen una reacción de extrañeza y de
rechazo. Sin embargo, en quienes la escuchan con atención y la ponen en
práctica hace brotar una nueva cosmovisión del sistema penitenciario,
del mundo prisional y del mundo libre. Hace brotar también una nueva
cosmovisión del mensaje evangélico.
Muchos al escuchar esta petición («dejémonos moralizar por los
presos») se escandalizan o se sonríen negativamente. Los que no hemos
estado presos, ni hemos frecuentado el trato con los privados de libertad,
pensamos y sentimos como indiscutible algo que no es del todo cierto,
que dista mucho de la realidad. Vemos a los presos como personas
diferentes que nosotros, como personas sin corazón, sin amigos, como
lobos entre lobos . . . Instintivamente rechazamos la idea de que frutos
evangélicos puedan crecer dentro de los muros carcelarios. Allí se
encuentran, pensamos, los residuos de la sociedad; allí está el sumidero
de la criminalidad; allí lo opuesto al espíritu. Debemos, pues, alejarnos
de esos antros de suciedad y corrupción.
Otra impresión muy distinta brotará en nosotros si estudiamos obje-
tiva y seriamente la realidad, si nos acercamos a los presos de hoy y/o si
nos acercamos a los presos de ayer. Entonces palparemos, sentiremos
como evidente algo muy distinto. Comprenderemos que debemos dejar-
nos moralizar por los presos. Todavía más, constataremos que ya antes
de ahora, sin caer en la cuenta, nos estábamos dejando moralizar por los
presos. Sobre todo, por algunos de ellos.
Se trata, en el fondo, de otro planteamiento epistemológico del mundo
prisional y del mundo espiritual. Conviene, pues, insinuar aquí algo
acerca de ambos mundos desde una perspectiva epistemológica metarra-
cional, personal, histórica, universal y omnijetiva44.
El mundo prisional abunda en rasgos y caracteres fundamentalmente
opuestos al mundo libre (recordemos la criminalidad no-convencional,
la injusticia estructural, etc.). Ahora nos limitamos a considerar parte de

42 Card. S. Wyszynski, Diario de la cárcel, tradución de J. L. Legaza, BAC popular,


Madrid, 1984.
43 José Luis L.Aranguren, Talante, juventud y moral, Madrid, Ed. Paulinas, 1975.
Idem, Propuestas morales, Madrid, Tecnos, 1985, especialmente págs. 105 ss. Idem, Etica,
3a ed., Madrid, Alianza Ed., 1983, especialmente págs. 210 ss. Atinadamente escribió
Ortega «No es posible vivir desmoralizado, sin moral«.
44 Michael Talbot, Mysticisme et Physique Nouvelle. Traducido del americano por
A. Kielce, Le Mail, Mercure de France, 1984, pp.9ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 595

esos rasgos, esos ambientes carcelarios, apoyándonos en personas con-


cretas que han estado presas.
Una persona contemporánea nos sale al encuentro en nuestro caminar
por este campo: Dietrich Bonhoeffer. Pasó el primer año y medio de su
cautiverio en la sección militar de la cárcel de Berlin-Tegel, desde el 5 de
abril de 1943 hasta el 8 de diciembre de 1944; después fué trasladado a
otra cárcel y por fin fué ejecutado el 9 de abril de 1945.
Entresacamos algunos párrafos de las cartas que Bonhoeffer pudo
mandar a sus amigos desde la prisión45. Allí se le abren los ojos al valor y
a la necesidad de aceptar y abrazar a todos: «El encuentro con Jesús
significa ciertamente la inversión de todas las valoraciones humanas. Así
ocurrió en la conversión de Pablo . . . Cierto es que Jesús atendió a seres
que vivían al margen de la sociedad humana, a prostitutas y publicanos;
pero, no únicamente a ellos puesto que vino para la entera humanidad.
Jesús no puso nunca en duda la salud, la fuerza, la felicidad humanas, ni
las consideró jamás como un fruto podrido. De lo contrario, ¿por qué
habría curado a los enfermos y devuelto la fuerza a los débiles?» (p. 201).
La experiencia carcelaria ayuda a Bonhoeffer para comprender «el
elemento esencial de la revelación de Cristo según los evangelios y San
Pablo» (p. 198), elemento esencial que lo encuentra en el «vivir hasta el
fin su vida terrena» (p. 198), pues «La esperanza cristiana en la resurrec-
ción se diferencia de la esperanza mitológica por el hecho de que remite
al hombre de un modo totalmente nuevo . . . a su vida en la tierra». El
centro de gravedad para nuestro preso no se halla más allá de la muerte,
en la resurrección, sino que se halla en la vida terrena.
Pocas páginas después (p.209) insiste: «Dios nos hace saber que
hemos de vivir como hombres que logran vivir sin Dios». Etsi Deus non
daretur, incluso si Dios no existiera. Sobre esta base logra Bonhoeffer
una «interpretación no religiosa de los conceptos bíblicos» (p.208), y
hace entrar en juego la «interpretación mundana» (p.210) desde la
pregunta clave «¿Quién soy?», a la que responde rebosante de esperanza
más que blochniana «sea quien sea, tú me conoces, tuyo soy, ¡Oh Dios!»
(P-211)-
Desde los primeros siglos de la Iglesia han influido en la cosmovisión
cristiana las ideas y los sentimientos de personas encarceladas: Desde
Jesucristo privado de libertad por Pilatos, pasando por las epístolas que
escribe San Pablo en la cárcel, y los fundadores-modelos de las órdenes
religiosas que estuvieron presos como Ignacio de Loyola, Juan de la
Cruz, etc.
45 Dietrich Bonhoeffer, Resistencia y sumisión. Cartas y apuntes desde el cautiverio, 2'
ed. Traductor M. Faber-Kaiser, Ariel, Barcelona, 1971. René Marle, Dietrich Bonhoeffer.
Testigo de Jesucristo entre sus hermanos, Mensajero, Razón y Fe 1968, versión castellana
de A. Morales, especialmente págs. 200 y ss.
596 Antonio Beristain

Nos moralizan desde la cárcel no sólo las palabras y los escritos de los
presos, también sus hechos cotidianos y sus hechos no cotidianos. Aquí
recordaré un dato reciente. Me refiero al ofrecimiento de Maximiliano
Kolbe para morir en sustitución de su compañero de cautiverio, que
ocurrió el día 14 de agosto de 1941, hacia las dos de la tarde, en
Auschwitz 46 .
Alguién puede objetar que todo lo anteriormente indicado se refiere a
presos políticos, no a presos comunes. A tal objeción respondemos:
I o . También los presos políticos son presos. Y su número total supera
cifras que nos debían abochornar, como lo muestran los informes
anuales de Amnesty Internacional, de otras asociaciones nacionales e
internacionales, privadas, eclesiásticas, etc.
2 o . También los presos comunes brindan acciones y mensajes (orales
y escritos) parecidos a los de sus colegas políticos, aunque quizá menos
llamativos y menos «ilustrados» y, desde luego, menos difundidos. En
este punto los capellanes y los ex-prisioneros pueden hablar más y mejor
que yo carente de esta cercanía a los «hechos» y a los protagonistas.
Quizás sus lecciones hablan un lenguaje tan elevado que no llegamos a
captarlo. Con frecuencia se constata en los oprimidos y en los margina-
dos una mayor sensibilidad a la nueva evangélica que pide respetar al
distinto, amar al enemigo, reconocer sus derechos, pensar en el otro más
que en sí mismo, también invitarles a levantar su cabeza y su dignidad47.
Cuando se ha perdido todo (o se ha dado todo), cuando alguien se
siente profundamente destrozado, arruinado, sólo queda una de estas
dos salidas: o se repliega sobre sí mismo, se cierra a los demás, se agria,
se desespera, se suicida . . . o, al contrario, se abre de par en par
totalmente al perdón, al consuelo 48 , a la comprensión intuitiva y apasio-
nada de toda la finitud y desolación de los otros y, así, se autorrealiza en
el nivel más alto y noble de lo humano, de lo amoroso gratuito. Como
escribió Welzel: las situaciones límite (muerte-delito-cárcel) despiertan
energías insospechadas en la víctima.
Quien aprecie el mensaje y el ejemplo de Jesús de Nazaret tiene que
asombrarse continuamente si reflexiona sobre el programa que formula
para el juicio definitivo, para el juicio sobre el amor. Según Jesús, ama de

46 Giulio Masiero, P. Maximiliano M" Kolbe, Misionero y «víctima de la caridad» en el

sótano del hambre en Auschwitz, Segunda edición, 1975, Elizondo (Navarra), pp. 196 ss.
47 Jean-Yves Calvez, »Faut-il vraiment associer foi et justice?«, en Christus, N°127,
julio 1985, pp. 281 ss. Michael Anquetil, »La prison comme communauté de vie«, en Le
Supplément. Intervenir en prison, n° 151 (diciembre 1984) pp. 112ss.
„Befreiung von dem Knüppel des Schuldbegriffes, . . . den Zuspruch." Hilde Kauf-
mann, „Schuld" und „Sünde", Eine Anfrage an die Theologie, en Theologische Quartal-
schrift, München, 1980, pp. 183 ss.
La libertad religiosa en los instituciones penitenciarias 597

verdad quien visita y acoge a los presos. La frase evangélica formula con
una claridad rotunda la identificación de Jesús con los presos. Ante la
extrañeza de los justos que le preguntan ¿Cuándo te vimos y te visitamos
en la cárcel?, Jesús les responde: «cuando visitaste a un preso me visitaste
a mí»49.
Si la religión pretende la integración social que aboca en el encuentro
con Dios 50 , uno de los mejores caminos de lograrlo (en la cosmovisión
evangélica) es la cercanía - identificación agápica - con los presos.
Amplia y seriamente argumenta Karl Rahney51 que donde mejor se
encuentra a Cristo es en el preso (am besten) y lo explica especialmente
en un párrafo (pp.455s.) en el que repite media docena de veces la
palabra vacío (Leere) y casi otras tantas la palabra morir (Sterben) y
nuestra nada (Nichts) . . . Reconoce esa negación radical como el mejor
camino para encontrar a Cristo y dar el salto (del vacío) a la totalidad del
encuentro (en comunidad, en «ecclesia») con Dios, todos en Dios.

Zusammenfassung

In seinem Aufsatz über die Religionsfreiheit als Grundrecht der


Strafgefangenen stellt der Verfasser zunächst die zwei Dimensionen der
Religion dar, die gleichermaßen Gefangene wie die in Freiheit Lebenden
betreffen, nämlich die repressive auf der einen und die kritische, be-
freiende und integrierende auf der anderen Seite. Anschließend wird ein
Uberblick über Einschätzung und Bedeutung der Religion in den Gesell-
schaften mehrerer Länder gegeben. Die von den Vereinten Nationen
und dem Europarat geforderten Mindestregelungen für die Religions-
ausübung in Gefängnissen werden geschildert. Es folgt die Darstellung
der gesetzlichen Ausgestaltung der Religionsausübung im spanischen
Strafvollzug, wobei andere Länder rechtsvergleichend mitberücksichtigt
werden. Schließlich wird auch die Praxis der Religionsausübung und der
geistlichen Betreuung in den Haftanstalten untersucht.
Der Autor fordert, daß die Religionsfreiheit zur Verteidigung und
Durchsetzung aller Menschenrechte von Gefangenen dienen muß, die
immer noch regelmäßig verletzt werden. Er gelangt zu dem Schluß, daß
die Religionsfreiheit in den Gefängnissen - sofern dabei sowohl die
transzendentalen Bezüge wie die Alltagsprobleme beachtet als auch die

4 ' Evangelio según Mateo, Cap. 25, versículos 37ss. «Entonces los justos le replicarán:

Señor, ¿cuándo estuviste en la cárcel y fuimos a verte?, y el Rey les contestará: os lo


aseguro, cada vez que lo hicisteis con un hermano mío de esos más humildes lo hicisteis
conmigo«.
50 Dietrich Rüschemeyer, Staatslexikon, Tomo 6, Freiburg, 1961, columnas 825 ss.
51 Karl Rahner, Sendung und Gnade, Beiträge zur Pastoraltheologie, 3' ed. Tyrolia,
Innsbruck, 1961, pp.455ss.
598 Antonio Beristain

Agape und Vergebung Gottes vermittelt werden - auch zur Reinigung


und Kräftigung der geistigen Werte der in Freiheit lebenden Menschen
beitragen kann und muß, indem sie ihnen hilft, Trost und Befreiung
sowie Vergebung ihrer Schuld zu finden. (Vgl. H . K a u f m a n n , „Schuld"
und „Sünde". Eine Anfrage an die Theologie, in: Theologische Quartal-
schrift 1980, 183 ff.).
Strafvollzug im internationalen Vergleich
GÜNTHER KAISER

I.
Nach Theorie und Praxis heutiger Verbrechenskontrolle wird dem
Strafvollzug als Vollziehung freiheitsentziehender Kriminalsanktionen
noch immer eine wichtige Aufgabe zugewiesen. Dies gilt für das In- und
Ausland. Alle kritischen Einwände oder gar Forderungen nach Abschaf-
fung haben an der Existenz des Strafvollzugs substantiell nichts zu
ändern vermocht. Hat sich diese Institution auch behauptet, so ist sie
doch unverändert problematisch. Dies kann gar nicht anders sein, wenn
und soweit in ein so wichtiges Rechtsgut wie die Freiheit eingegriffen
wird. Wieviel durch die Erneuerung des Strafvollzugs inzwischen
erreicht sein mag, die bestehenden oder wieder aufgebrochenen Mängel
verdeutlichen die fortdauernde Problemlage, das labile Gleichgewicht
und die Notwendigkeit zur wissenschaftlichen Beobachtung.
Dieser Forschungsaufgabe und damit der „Verwissenschaftlichung der
Strafvollzugslehre, die stets in Gefahr ist, zur Vollzugskunde abzusin-
ken, oder ideologisches Residuum zu werden", fühlte sich Hilde Kauf-
mann verpflichtet1; dazu hat sie vor allem mit dem dritten Band ihres
kriminologischen Lehrwerks „Strafvollzug und Sozialtherapie" über-
zeugend beigetragen2. Die Erfahrung, daß „mißlingende Reformen...
regelmäßig in Rückschritte umzuschlagen" pflegen3, veranlaßte die
Autorin zur unnachsichtigen Kritik an realitätsfernen Auffassungen 4 und
zu einem behutsamen schrittweisen Vorgehen. Sie wandte sich aber
nicht weniger deutlich gegen die „unbekümmerte Verwendung des
Strafbegriffs und herkömmlicher Strafpraxen, die weithin aus den Augen
verloren hatten, daß Objekt des Strafens immer Menschen mit ihrer
jeweiligen Lebens- und Problemgeschichte sind" 5 . In Grundfragen
ebenso entschieden wie engagiert der Hilfe am straffälligen Menschen

1 Vgl. Hilde Kaufmann: Eine Antwort. MschrKrim. 61 (1978), 263-266 (265).


2 Kriminologie III: Strafvollzug und Sozialtherapie. Stuttgart 1977.
5 Vgl. Fn. 1.

4 Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik? J Z 1972, 78-81.

5 Kaufmann, H. (Hrsg.): Jugend - Kriminalität und wir. Repression oder Vorbeugung


durch Erziehung. Oeffingen 1974, Vorwort S.8.
600 Günther Kaiser

zugewandt, vernachlässigte sie weder die vergleichende Vergewisserung


über die ausländische Praxis der Kriminalsanktionen noch Alternativen
zur Freiheitsstrafe wie die Strafaussetzung zur Bewährung. Gerade ihr
zwei Jahrzehnte zurückliegendes Plädoyer für die Erweiterung des
Anwendungsbereichs der Strafaussetzung - wie die Gesetzgebungsge-
schichte zeigt, eine kriminalpolitisch noch immer aktuelle Frage -
stützte sich auf den Blick ins Ausland, die sorgfältige Analyse des dort
gewonnenen Erfahrungswissens und die vorsichtige Prüfung der Uber-
tragbarkeit ausländischer Problemlösungen auf das deutsche Sanktio-
nenrecht6. Die komparative Analyse, sei es im historischen oder im
internationalen Vergleich, ist darüber hinaus vorzüglich geeignet, die
Ortsbestimmung des nationalen Strafvollzugs zu erleichtern und über
Soll und Haben bei vergleichbaren kriminalpolitischen Vollzugsformen
zu unterrichten.
Die Vollzugsvergleichung ist wegen der unterschiedlichen Vorgaben
des nationalen Strafrechts und der unverzichtbaren Einbeziehung der
Vollzugswirklichkeit stets mit außerordentlichen Schwierigkeiten bela-
stet7. Überdies kann der Freiheitsstrafvollzug nicht isoliert betrachtet
werden. Er befindet sich vielmehr eingebettet in den übergreifenden
Zusammenhang vergleichender Pönologie und Kriminalpolitik. Dies
leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß innerhalb der Gesamt-
systeme zur Verbrechenskontrolle einzelne Subsysteme wie die Frei-
heitsstrafe teilweise austauschbar und durch funktionale Äquivalente
ersetzbar sind8. Ob und inwieweit Austauschbarkeit bei einer als im
wesentlichen gleichbleibend unterstellten Verbrechenslage möglich ist,
kann vor allem der internationale Vergleich zeigen. Nur bei solch
weitgesteckten komparativen Perspektiven lassen sich der Grad der
Implementierung rechtlicher Programmvorgaben und die Beachtung der

6
Kaufmann, H.: Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt
bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? In: Erinnerungsgabe für Max
Grünhut. Stuttgart 1965, 61-91.
7 Dazu schon Müller-Dietz, H.: Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems.
Heidelberg u.a. 1979, 248, 251 f; zum Handicap der Rechtsvergleichung..., das darin
begründet ist, daß von den Anregungen am meisten die Länder profitieren (könnten), die
international am weitesten hinten liegen, und daß Anregungen dort fehlen, wo ähnliche
Regelungen „vorliegen"; Walter, M.: Stellung und Bedeutung der Freiheitsstrafe aus
rechtsvergleichender Sicht. ZfStrVo. 34 (1985), 325 ff (327).
8 Vgl. dazu Dünkel, F., Spieß, G. (Hrsg.): Alternativen zur Freiheitsstrafe - Strafaus-
setzung zur Bewährung im internationalen Vergleich. Freiburg i. Br. 1983; Heinz, W.:
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik
Deutschland. In: Festschrift für H.-H. Jescheck. Berlin 1985, 955 ff; Walter, M.: Ambu-
lante Behandlung im Kriminalrecht. In: Festschrift für D.Oehler. Köln u.a. 1985, 693ff;
Jescheck, H.-H.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender Darstel-
lung. In: Jescheck (Hrsg.): Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und
ausländischen Recht. Baden-Baden 1984, 1939-2163.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 601

fundamentalen Grundsätze wie Humanität, Gerechtigkeit, Freiheit,


Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, aber auch Erfolge und Miß-
erfolge sowie die Bedeutung von unterschiedlichen Gefangenenraten
abschätzen.
Interesse und Bedürfnis zur vergleichenden Betrachtung der Strafvollzugssysteme
reichen weit zurück. Entscheidender Beweggrund für die komparative Sicht war stets,
nicht nur etwas über die Nachbarstaaten zu wissen, sondern auch von ihnen zu lernen,
um die eigenen Verhältnisse distanzierter zu sehen und möglichst zu verbessern. Diese
Antriebskraft wird nicht dadurch gelähmt oder auch nur geschwächt, daß die Skepsis
gegenüber der Freiheitsstrafe in der Gegenwart erneut gewachsen und mit ihr die
tragende Kriminalpolitik geradezu in eine Krise geraten ist'. Obgleich man heute im In-
und Ausland wiederum daran zweifelt, ob durch Freiheitsentziehung Menschen über-
haupt „gebessert", d.h. wirksam befähigt werden können, ein Leben in Freiheit ohne
Straftaten zu führen, bleibt der Freiheitsstrafvollzug auf absehbare Zeit eine herausra-
gende Tatsache, welche auch die vergleichende Erörterung rechtfertigt. Ferner verdeut-
lichen national übergreifende Belastungen wie das Rauschgiftproblem, die Überfüllung
der Strafanstalten und der fast chronische Mangel an öffentlichen Finanzmitteln nicht
nur das Fehlen einer deutschen Sondersituation, sondern machen zugleich die Frage
danach dringlich zu erfahren, wie andere Vollzugssysteme derartige Belastungen bewäl-
tigen.
Vergleichende Analyse von Strafvollzugssystemen kann in diesem Rahmen freilich
keinen weltweiten Vergleich meinen. Nur die für die beabsichtigte Vergewisserung
relevanten Systeme können in die komparative Betrachtung eingeschlossen werden. Als
bedeutsam gelten in erster Linie die allgemein prägenden Systeme der Niederlande und
Skandinaviens. Aber auch die benachbarten Vollzugssysteme Österreichs und der
Schweiz verdienen wegen räumlicher Nähe und Verwandtschaft im Recht besondere
Beachtung. Ferner können Orientierungen über einschlägige Problemlösungen in
England, Frankreich, den USA und Japan nicht außer Betracht bleiben.
Ist damit die relevante Bezugsgruppe der für den Vergleich in Frage kommenden
Strafvollzugssysteme annähernd umrissen, so bedarf der Begründung, nach welchen
Kriterien sich der Strafvollzugsvergleich richten soll10. Eine ergiebige Analyse muß
sicherlich ebenso Aussagen über Ziele und Aufgaben des Strafvollzugs, über Rechtsstel-
lung und Rechtsschutz des Strafgefangenen wie über Organisation, Arbeit, Fortbildung
und Behandlung sowie über die Erfolgsabschätzung enthalten. Auf diese Weise kann
der Vollzugsvergleich dazu befähigen, sachkundig und kritisch-distanziert die inländi-
schen Reformergebnisse an ausländischen Lösungsversuchen zu messen. Schließlich
kann der Strafvollzug künftig nur dann seine Aufgabe sinnvoll erfüllen, wenn er nicht
erstarrt, sondern sich für Neuerungen des In- und Auslandes offenhält".

Belangvolle Vergleichskriterien liefern danach die rechtlichen Pro-


grammvorgaben und deren Einlösung, also Vollzugsrecht und Vollzugs-

' Jescheck, H.-H.: Die Krise der Kriminalpolitik. ZStW 91 (1979), 1037ff; dazu
Schultz, H.: Krise der Kriminalpolitik? In: Festschrift für H.-H. Jescheck (Fn. 8), 791 ff
(810), mit dem Hinweis, daß eine Krise der Kriminalpolitik erst eintrete, wenn sich die
zweihundertjährige Tendenz umkehren würde.
10 Vgl. Müller-Dietz, H.: Probleme der Strafvollzugsvergleichung. In: Festschrift für
Günter Blau. Berlin u. a. 1985, 515-535 (531 ff).
11 Blau, G. (Hrsg.): Die Reform des Strafvollzugs im Lichte internationaler Reformten-

denzen. Bochum 1981, 3 f.


602 Günther Kaiser

Wirklichkeit. Da Strafvollzug weltweit, jedenfalls aber in Europa, recht-


lich normiert und organisiert ist, liegt es nahe, zunächst dem Grad seiner
Verrechtlichung sowie dem Rechtsschutz des Strafgefangenen besondere
Aufmerksamkeit zu widmen12.

II.
Der Strafvollzug beruht international verbreitet auf einer gesetzlichen
Grundlage. Obwohl in neuerer Zeit in vielen Staaten spezielle Vollzugs-
gesetze entstanden sind (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland, der
DDR, Italien, den Niederlanden, Osterreich und Ungarn; in Spanien
wurde sogar eine Regelung in die neue Verfassung aufgenommen),
herrschen im ganzen noch Strafprozeß- und vollstreckungsrechtliche
Lösungen (z. B. Frankreich und Skandinavien sowie in den sozialisti-
schen Staaten) vor. Aber auch die Regelung der grundsätzlichen Fragen
des Strafvollzugs im materiellen Strafrecht (z. B. in der Schweiz) ist nicht
ungewöhnlich. Gegenüber dem überall sichtbaren Prozeß der Verrecht-
lichung des Strafvollzugs tritt die formale Zuordnung zu den einzelnen
Rechtsgebieten zurück.
Auf das einzelstaatliche Handeln im Strafvollzug hat sich vor allem die am 4 . 1 1 . 1 9 5 0 in
R o m unterzeichnete europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten ausgewirkt. Sie gilt nach entsprechenden Ratifikationen der Unter-
zeichnerstaaten als nationales Recht. Allerdings haben die europäischen Staaten das
Recht auf Individualbeschwerde ihrer Bürger und die Zuständigkeit der Europäischen
Menschenrechtskommission erst allmählich und zum Teil sehr zögernd anerkannt 13 .
Ferner hat die Europäische Menschenrechtskommission in den ersten fünfzehn Jahren
ihrer Tätigkeit nur wenige Individualbeschwerden für zulässig befunden. Immerhin hat
sich die Sachlage im Laufe der siebziger Jahre insofern gewandelt, als nunmehr die
überwiegende Zahl der Individualbeschwerden von Gefangenen gegen Großbritannien
und nicht mehr gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben wird. Auffällig wenig
Individualbeschwerden werden von Bürgern skandinavischer Staaten vorgebracht,
relativ viele von Bürgern der Schweiz. E t w a 10 Prozent dieser Beschwerden wurden für
zulässig erklärt.

Die Abänderung oder gar legislative Neuschöpfung des Strafvollzugs-


rechts in vielen Staaten während des letzten Jahrzehnts hat sich jedoch
weitgehend unabhängig von dieser Spruchpraxis entwickelt. Immerhin
sollen die anerkannten Mindestgrundsätze für die Behandlung der Straf-
gefangenen überall in Europa berücksichtigt werden. Dennoch ist dieser
Aufnahme- und Umsetzungsprozeß unter rechtsstaatlichen Gesichts-

12 Zur Rechtslage bis Anfang der achtziger Jahre Kaiser, G.: Strafvollzug im europäi-
schen Vergleich. Darmstadt 1982, 208 ff.
13 Nachweise bei Mikaelsen, L.: European Protection of H u m a n Rights. Alphen aan
den Rijn / Germantown / Md. 1980, 20 f; ferner Kaiser, G.: Zweckstrafe und Menschen-
rechte. SJZ 80 (1984), 3 2 8 - 3 4 2 .
Strafvollzug im internationalen Vergleich 603

punkten nicht stets gleichermaßen befriedigend verlaufen. So herrschen


z . B . in England weithin Verwaltungsvorschriften vor, welche klare
Vorgaben im Hinblick auf strafrechtliche Grundgedanken vorsehen. In
der Schweiz hat man angesichts der Fülle von Verordnungen und
unveröffentlichten Bestimmungen noch 1983 von einem „skandalösen
Maß an Rechtsunsicherheit" gesprochen 14 . Freilich wird die Beachtung
der Mindestgrundsätze in den Berichten und Stellungnahmen der einzel-
nen Regierungen durchweg behauptet, auch in Osteuropa. Wie jedoch
Erfahrungsberichte des Europarats oder der Vereinten Nationen erken-
nen lassen, erfolgt die Durchsetzung der Mindestgrundsätze noch immer
nicht problemlos.
In verstärktem Maße trifft dies für die Frage des Rechtsschutzes zu,
insbesondere für die gerichtliche Kontrolle. W o diese gesetzlich nicht
vorgesehen ist, springt gelegentlich auch die Rechtsprechung ein, wie
etwa im Fall der englischen „Board of Visitors", welchem vom Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 1984 in einem Urteil die
Stellung eines unabhängigen Gerichts zugeschrieben wurde15, was
sicherlich Lage und Aussichten des sich dorthin wendenden Strafgefan-
genen verbessert. Selbst Frankreich - wo Maßnahmen im Vollzug als
verwaltungsinterne Maßnahmen gelten und damit nach traditioneller
Auffassung nicht gerichtlich überprüfbar sind - scheint sich nach einem
Urteil des „tribunal des conflits" aus dem Jahr 1983 eine - wenn auch
zögernde - Wandlung anzudeuten 16 .
Verschiedene Modelle und Lösungen suchen den Rechtsschutz der
Gefangenen zu gewährleisten. Neben verwaltungsinterner Kontrolle
(z. B. in England und Frankreich, hier trotz eines Strafvollzugsgerichts)
oder Uberprüfung durch unabhängige Aufsichtskommissionen (z. B. in
den Niederlanden 17 ) und dem sogenannten Ombudsman (etwa in Schwe-
den) besteht auch die Zulassung gerichtlicher Kontrolle (in der Bundes-
republik Deutschland, der Schweiz, in Osterreich und Schweden).
Außerdem kommt wie erwähnt die Anrufung der Europäischen Men-
schenrechtskommission in Betracht, zwar zahlenmäßig mit abnehmen-
der, jedoch qualitativ mit erheblicher „generalpräventiver" Bedeutung.
Nach dem Grad der Verrechtlichung des Strafvollzugs und der gerichtli-
chen Uberprüfung nimmt das westdeutsche Vollzugssystem fraglos

14 Stratenwerth, G. / Bernoulli, A.: Der schweizerische Strafvollzug. Ergebnisse einer


empirischen Untersuchung. Aarau u.a. 1983, 6f.
15 Entscheidung vom 2 8 . 6 . 1 9 8 4 , EuGRZ 1985, 534.

" Spartiol, M.: Frankreich. In: Eser, A. / Huber, B. (Hrsg.): Strafrechtsentwicklung in


Europa. Freiburg i.Br. 1985, 277 ff (296 f).
17 Vgl. dazu Vinson, T.: Impressions of the Dutch Prison System. Publication No.

L X X X I V of the Research and Documentation Centre, Ministry of Justice. The Hague


1985, 36 ff.
604 Günther Kaiser

einen der vorderen Plätze ein. Darin mögen Stärke und Schwäche
zugleich liegen, wie es bereits die alte Kontroverse zwischen Freudenthal
und v. Liszt zur Rechtsstaatlichkeit und Resozialisierung vor mehr als 70
Jahren erkennen läßt18. Ist der Prozeß der Verrechtlichung auch im
Bereich des Strafvollzugs weitgehend geboten, jedenfalls aber unaufhalt-
sam, so bedeutet dies gleichzeitig die Einschränkung des Spielraums für
kriminalpädagogische und -therapeutische Interventionen sowie für die
Experimentierfreudigkeit und schöpferische Phantasie. Diese Spannung
besteht unverändert fort. Schon der neuere Streit über Ziel und Aufga-
ben des Strafvollzugs läßt dies erkennen.

III.
Unter dem Einfluß der Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen
und der neuen Sozialverteidigung, teilweise auch aufgrund psycho- und
verhaltenstherapeutischer Fortschritte, herrschte bis in die jüngste Zeit
international die Resozialisierung als Vollzugsziel ungebrochen vor19.
Diese Zielsetzung wurde 1978 sogar in die neue spanische Verfassung
übernommen. Die Niederlande, Dänemark und Schweden galten vor
allem als Schrittmacher einer derartigen Bewegung. Nachhaltig hat sich
diese Richtung besonders im Strafvollzug der sozialistischen Staaten
niedergeschlagen, aber auch im Vollzugsrecht Österreichs, der Schweiz
und der Bundesrepublik Deutschland, ferner abgeschwächt in England
und Frankreich.
Seit den siebziger Jahren hat bekanntlich in Skandinavien, England und den USA die
Abkehr von der sogenannten Behandlungsideologie eingesetzt20. Dieser Auffassungs-
wandel setzte sich am radikalsten in den USA durch. Dort heißt es zu den bisherigen
Resozialisierungsbemühungen lapidar: „nothing works".

Neuerdings werden vor allem die Vermeidung von Haftschäden und


die Vorbereitung zur Entlassung als vorherrschende Vollzugsaufgaben
propagiert. So setzt man sich z . B . in England für „humane Contain-
ment" oder neuerdings in Verbindung mit der Resozialisierung für
„positive custody" ein21. Die Beachtung derartiger Gesichtspunkte als
Gestaltungsprinzipien ist für den Vollzug fraglos wichtig. Doch die

18 Dazu Kaiser, G. / Kerner, H.-J. / Schöch, H.: Strafvollzug. 3. Aufl. Heidelberg 1982,
53.
" Böhm, A.: Zum Einfluß von Vollzugstheorien auf internationale Vereinbarungen zur
Behandlung Gefangener. In: Festgabe für W.Preiser, Baden-Baden 1983, 183ff (194ff).
20 Dazu Kaiser, G.: Resozialisierung und Zeitgeist. In: Festschrift für Th. Würtenber-

ger, Berlin 1977, 359 ff.


21 Mott,].: Adult Prisons and Prisoners in England and Wales 1970-1982: a review of
the findings of social research. London 1985, 9ff.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 605

V e r s e l b s t ä n d i g u n g s o l c h e r A u f g a b e n z u H a u p t z i e l e n des Strafvollzugs
erscheint f r a g w ü r d i g . Sollte n ä m l i c h darin d e r H a u p t z w e c k des Straf-
vollzugs liegen, so w ä r e es einfacher, ökonomischer und humaner,
ü b e r h a u p t auf d e n s t a t i o n ä r e n Strafvollzug z u v e r z i c h t e n . V o r n e h m l i c h
die F r e i h e i t z u entziehen, um Haftschäden zu vermeiden und zur
E n t l a s s u n g v o r z u b e r e i t e n , erschiene widersinnig.
K a n n dies a b e r p r i m ä r nicht gewollt sein, d a n n stellt sich die F r a g e
n a c h d e m ü b e r g e o r d n e t e n Z w e c k , d e m d e r Strafvollzug letztlich dient.
In d e r n e u e r e n T h e o r i e d i s k u s s i o n w e r d e n neoklassische Ziele, insbeson-
dere G e n e r a l p r ä v e n t i o n u n d V e r g e l t u n g , häufiger g e n a n n t . Derartige
R ü c k g r i f f e u n d ihre B e g r ü n d u n g e n bleiben j e d o c h unbefriedigend.

Die sogenannte Renaissance der Strafe, also das Postulat, wonach die Freiheitsstrafe als
ein Übel erlebt werden soll, vermittelt allein noch keine zureichende, eindeutig
konkretisierbare und widerspruchsfreie Zielsetzung für den Strafvollzug, ganz abgese-
hen von einem gestaltenden Einfluß auf die Vollzugsrealität. Denn trotz der neoklassi-
schen Ausrichtung in mancher Theorie (vor allem in den USA), möchte kaum jemand
ernsthaft den Weg zurückgehen.
Vor allem liefert die Generalprävention keine Begründung dafür, warum gerade
kurze Freiheitsstrafen mit einem hohen Grad an Vollzugslockerungen und einer
geringen Gefangenenzahl abschrecken oder zur Rechtstreue motivieren sollen.
Auch die Vergeltung vermag eine derartige Vollzugspraxis (geringe Gefangenenzahl,
kurze Freiheitsstrafen, zahlreiche Vollzugslockerungen) nicht zu rechtfertigen. Ein
genau abgestuftes System von Strafen und Rechtspositionen (Vergünstigungen) im
Strafvollzug würde dem unterschiedlichen Schweregrad des Unrechts weit besser
entsprechen. Aber gerade diese folgerichtigen Konsequenzen sind offenbar nicht
gewollt oder werden kaum für belangvoll erachtet22.
Die Sicherung oder Unschädlichmachung („incapacitation") wird zwar neuerdings
überwiegend im englischsprachigen Schrifttum propagiert, gleichwohl unabhängig
davon trotz vielfältiger Kritik weithin mitberücksichtigt und angewandt. Die ver-
gleichsweise hohen Gefangenenzahlen in den sozialistischen Staaten und der Anstieg
langer Freiheitsstrafen in Osteuropa belegen dies, obschon der ausdrückliche Rückgriff
auf die Unschädlichmachung selten ist. Soweit dieser unumgänglich ist wie z. B. bei der
Sicherungsverwahrung, sucht man verschämt davon abzurücken.
Allerdings wird dieser Auffassungswandel mehr deklaratorisch bekundet oder ver-
bal geäußert. Denn die alte Vollzugspraxis dauert nahezu unverändert fort. Teilweise
weist wie in Dänemark und Schweden sogar das Behandlungsvokabular verräterisch
darauf hin. Deshalb erscheint selbst die verbale Abkehr als äußerst zweifelhaft25.
Gleichwohl trifft zu, daß die Behandlung als Strategie der Verbrechenskontrolle
(„treatment against crime") ihre Bedeutung verloren, jedoch innerhalb des Strafvollzugs
und - wie man hinzufügen muß - auch in einem weiten Bereich der ambulanten

22 Vgl. etwa Naucke, W.: Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbe-
griff. Stuttgart 1985, 40, mit dem Vorschlag, „wirkliche Verbrechen und vergeltende
Strafen in einem Strafgesetzbuch, abweichendes Verhalten und soziale Kontrolle in einem
Interventionsgesetzbuch zu sammeln".
23 Kritisch Christie, N.: Limits to Pain. Oxford 1981, 14; neuerdings Löfmarck, M.:
Neo-Klassizismus in der nordischen Strafrechtslehre und -praxis: Bedeutung und Auswir-
kungen. Vortrag anläßlich des Deutsch-skandinavischen Strafrechts-Kolloquiums im Max-
Planck-Institut Freiburg i. Br., Mai 1985, 10.
606 Günther Kaiser

Sanktionierung wie bei Strafaussetzung und Bewährungshilfe weithin behalten hat.


Denn es ist nicht zu verkennen, daß sich die von der Behandlungsideologie getragene
jahrzehntelange Vollzugsreform nachhaltig auf die europäische Vereinheitlichung, auf
die Humanisierung, Lockerung und die Hilfsangebote im Strafvollzug ausgewirkt hat.

Weder die Praxis in Skandinavien mit Ausnahme Finnlands noch jene


der Niederlande fügt sich daher einem der neoklassischen Ziele. Wie
bereits in den fünfziger und sechziger Jahren ist dort der Strafvollzug
weithin pragmatisch an dem orientiert, was dem Geist der Mindest-
grundsätze der Vereinten Nationen nahekommt und man in der Bundes-
republik Deutschland „Resozialisierung" oder in der Schweiz „Erzie-
hung" nennt. Selbst die Differenzierung des Strafvollzugs entspricht
weder der Vergeltung noch der Generalprävention, aber auch generell
nicht der Unschädlichmachung, sondern am ehesten der vermuteten
Gefährlichkeit, den unerwünschten Sozialisationseinflüssen und den po-
tentiellen Behandlungsbedürfnissen.
Dennoch bleibt die Zielsetzung ebenso wichtig wie problematisch.
Wegen ihrer Eingriffsintensität bedarf die Freiheitsstrafe gesteigerter
Rechtfertigung der staatlichen Strafe. Darüber hinaus ist die Bestim-
mung des Vollzugsziels für die Auslegung des Gesetzes und die Handha-
bung des Vollzugs von weitreichender Bedeutung. Man braucht hierbei
nur an die anfechtbare Rechtsprechung zu den Vollzugslockerungen in
der Bundesrepublik Deutschland zu erinnern. Trotz beachtlicher
Anstrengungen und Erfolge in der Nachkriegszeit ist der Strafvollzug
und mit ihm die Kriminalpolitik unversehens in eine Sinnkrise geraten 24 .
Zwar ist der neueren Kritik darin zu folgen, wenn sie darauf beharrt, für
mehr Ehrlichkeit in der Setzung von Strafzielen und ihren Verwirk-
lichungsmöglichkeiten im Strafvollzug zu sorgen. Insofern begegnen
sowohl der Behandlungsideologie als auch dem progressiven Vollzug,
der als vorzügliches Disziplinierungsinstrument weithin praktiziert
wird, überzeugende Bedenken. Allerdings spricht nichts dafür, daß man
„konventionelle Lügen" nur bei der Resozialisierung fände, aber Gene-
ralprävention oder Vergeltung davon verschont blieben. Vor „falscher
Rhetorik" sind keine kriminalpolitische Richtung und kein Strafzweck
gefeit. Hier hilft nur die Insistenz auf wacher Beobachtung, unnachsich-
tiger Analyse und wissenschaftlicher Kritik.

IV.
Obwohl anerkannte Gestaltungsgrundsätze im Vollzugswesen wie
Differenzierung, Klassifikation und Vermeidung von Haftschäden
inzwischen zum festen Bestand internationalen Vollzugswissens zählen

24 Dazu jedoch kritisch Schultz (Fn. 9) und Schwind, H.-D.: Unsichere Grundlagen der

Kriminalpolitik. In: Gedächtnisschrift für H.Kaufmann. Berlin 1986, 95ff.


Strafvollzug im internationalen Vergleich 607

und außerdem eine gewisse Vereinheitlichung der Praxis erreicht ist,


sind die verbleibenden Unterschiede im Strafvollzug noch immer erheb-
lich. Erwartungsgemäß werden die Programme nicht stets verwirklicht.
So ist z. B. in Frankreich wegen der Überbelegung oft nicht einmal die Trennung von
Straf- und Untersuchungsgefangenen gewährleistet. Dasselbe gilt für Italien und vor
allem auch Spanien, wo - trotz gesetzlich vorgeschriebener Klassifizierung und deren
wiederholter Uberprüfung alle sechs Monate - oft keinerlei Klassifizierung im Voll-
zugsalltag stattfindet.

Teilweise beruhen die Divergenzen schon auf den national geprägten


Strafgesetzbüchern, insbesondere den strafrechtlichen Sanktionensyste-
men, ferner auf der unterschiedlichen Handhabung der Freiheitsstrafen,
teilweise aber auch auf der nur allmählich beeinflußbaren Infrastruktur
des Strafvollzugs. Schon die Zahl (z.B. Schweiz: 160; England: 112;
Schweden: 70 lokale zu je 20 bis 60 Plätzen und 20 Reichsanstalten),
Größe und Ausstattung der Vollzugsanstalten sind verschieden. Man
vergegenwärtige sich nur, daß die Schweiz über fast genausoviele Straf-
anstalten (rd. 160) verfügt wie die zehnmal volkreichere Bundesrepublik
Deutschland. Nicht minder große Divergenzen bestehen im Zahlenver-
hältnis zwischen dem Personal und den Gefangenen sowie in dem
Kostenaufwand25.
Der Personalschlüssel liegt in Westeuropa durchschnittlich zwischen 1 : 3 und 1 :2,
wobei allerdings Dänemark, Irland, Schweden (1 :1,5) und die Niederlande (fast 1 : 1 )
mit einem wesentlich günstigeren Verhältnis herausragen. Immerhin weisen die Nieder-
lande und die Schweiz bei annähernd gleichem Bestand an Gefangenen einen Unter-
schied auf, wonach in den Niederlanden mehr als doppelt soviel Vollzugspersonal als in
der Schweiz tätig ist.

Auch die Unterbringung von Gefangenen wird unterschiedlich


gehandhabt. Während die sozialistischen Staaten ebenso wie Japan die
gemeinschaftliche Unterbringung der Strafgefangenen favorisieren,
herrscht in Westeuropa nach Zielsetzung und weitgehender Praxis die
Einzelunterbringung vor. Nur die Uberbelegung des Strafvollzugs steht
der Verwirklichung dieses Ziels entgegen. Dieser Schwierigkeit suchen
eine Reihe von Ländern wie die Niederlande, neuerdings auch die
Schweiz, durch Einführung und Praktizierung sogenannter Wartelisten
zu mildern. Die Ermächtigung zu einer derartigen Handhabung wird
dem Vollstreckungsrecht oder entsprechenden vollstreckungsrechtlichen
Verwaltungsvorschriften entnommen.
Ferner werden in Europa die Öffnung und Lockerung des Vollzugs
durch Einrichtung offener Anstalten, Freigang und Hafturlaub höchst
unterschiedlich gehandhabt. Ländern mit weitgehender Öffnung des

25 Van der Linden, B.: Enquiry Concerning the Cost of Prisons. In: Prison Information

Bulletin No. 4/1984, lff.


608 Günther Kaiser

Vollzugs (z. B. die skandinavischen Staaten) stehen andere mit sehr


restriktiver Gewährung von Vollzugslockerungen gegenüber (z.B. die
sozialistischen Staaten). Selbst ähnliche Regelungsmöglichkeiten und
entsprechende Gestaltungsprinzipien wirken sich nicht selten verschie-
den aus. Im ganzen scheinen Dänemark und Schweden am weitesten den
Vollzug gelockert zu haben. Demgegenüber ist der offene Vollzug in
Frankreich, Osterreich, den Niederlanden und in den sozialistischen
Staaten, obschon aufgrund sehr unterschiedlicher Sanktionsstile, Kon-
zeptionen und Rahmenbedingungen, nachrangig. Die Bundesrepublik
Deutschland und die Schweiz nehmen eine mittlere Position ein, wobei
die Schweiz in jüngster Zeit erheblich aufgeholt hat. Dies ist um so
erstaunlicher, als die schweizer Sanktionspraxis in der Verhängung
kurzer Freiheitsstrafen den Niederlanden und Schweden kaum nach-
steht. Uberall jedoch zeigen die Erfahrungen, daß sich der gelockerte
und offene Vollzug in beträchtlichem Umfang verwirklichen läßt, ohne
daß Sicherheit und Generalprävention übermäßigen Schaden erleiden
müssen.
Hingegen tritt die Behandlung von alten Gefangenen, von Auslän-
dern und psychisch Kranken oder abnormen Persönlichkeiten an Auf-
merksamkeit noch immer zurück, obgleich die hier auftretenden Pro-
bleme teilweise einen beachtlichen Aufwand zur Bewältigung erfordern.
Man denke nur an das differenzierte Angebot von Speisen verschiedener
Konfessionen oder gesundheitliche Bedürfnisse. Der Maßnahmenvoll-
zug an psychisch Abnormen wird teils innerhalb des Justizvollzugs, teils
außerhalb dessen rechtlich organisiert und durchgeführt, ohne daß
eindeutig zu erkennen wäre, welcher Problemlösung der Vorzug
gebührte. Dies gilt vor allem für die Gruppe der vermindert zurech-
nungsfähigen Verurteilten, die zu verwahren sind. Auch der Strafvoll-
zug an Frauen, international kaum 3 bis 5 Prozent an allen Gefangenen
übersteigend, findet in Investition und Reformanstrengungen lediglich
geringe Beachtung.

V.
Uberall in Europa, ja in der ganzen Welt, bildet die Arbeit den
zentralen Vollzugsinhalt. So besteht denn auch in vielen Ländern
Arbeitspflicht (neben der Bundesrepublik Deutschland z.B. in Öster-
reich, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden). Dies gilt selbst
dann, wenn für sie keine gesetzliche Programmvorgabe besteht. Sie
macht vor allem einen beachtlichen Teil der Vollzugswirklichkeit aus
und hilft, den Alltag zu bewältigen. Die Bedeutung der Arbeit wird
namentlich dort erkennbar, wo die Gefangenen arbeits- und beschäfti-
gungslos sind. Ein Beispiel hierfür ist Frankreich, wo oft erhebliche
Strafvollzug im internationalen Vergleich 609

Probleme bestehen, geeignete Arbeitsplätze z . B . für Freigänger zu


finden, und die Arbeitslosigkeit überhaupt schon sehr hoch ist. Auch in
Osterreich sind etwa 21 Prozent der Gefangenen arbeitslos26, in Groß-
britannien etwa 25 Prozent. In den Niederlanden dagegen scheint es
keine Probleme zu geben27. Vor allem Außenbeschäftigung und Freigang
sind belangvoll und in ihrer Bedeutung in Ost und West anerkannt,
obschon unterschiedlich häufig praktiziert.
So wichtig aber auch die Arbeit betrachtet wird, die Gewährung von Arbeitsvergütung
ist weithin noch problematisch. Oftmals besteht diese lediglich in einer geringen
Vergütung, wie z. B. in Osterreich 2,70 bis 4,50 S. pro Stunde. Demgegenüber erhält
der Gefangene beispielsweise im finnischen offenen Vollzug normalen Arbeitslohn, von
dem ihm allerdings nur 25 Prozent zur Verfügung stehen. Selbst in den Niederlanden
ist diese Aufgabe kaum befriedigend gelöst. Allerdings scheint man im Ausland die
Frage nicht überall als so entscheidend zu betrachten, wie man dies nach der innerdeut-
schen Diskussion annehmen könnte.

Demgegenüber gelten staatliche Betreuung, Hilfen, Überwachung


und kaum nachstehend Aus- und Fortbildung als vorrangige Gesichts-
punkte. Doch ist nur ein kleiner Teil der Gefangenen bereit und in der
Lage, die entsprechenden Bildungsprogramme mit Ausdauer und Erfolg
zu durchlaufen. Uberforderungssituationen und Enttäuschungen
machen sich alsbald bemerkbar.

VI.
Mittel zur Stützung der Gefangenen und zur Hilfe der Entlassenen
gelten überall als bedeutsam. Dennoch halten sich die entsprechenden
Anstrengungen allgemein in engen Grenzen. Am weitesten reicht die
soziale Unterstützung in Skandinavien und den Niederlanden. Dort sind
die Strafgefangenen und -entlassenen den Sozialhilfebedürftigen im
wesentlichen gleichgestellt. Hingegen kennt z . B . Japan keinerlei soziale
Hilfe durch Sozialarbeiter. Hier verläßt man sich offenbar auf die
Stützung durch informelle Gruppen. Geringe Straffälligkeit und Gefan-
genenzahl zeigen, daß dieser Weg in der japanischen Gesellschaft gang-
bar und sinnvoll erscheint, während westliche Gesellschaften in diesem
Bereich durch gemeindliche Initiativen oder ehrenamtliche Helfer tätig
werden müssen.
Die Behandlung im Sinne der Anwendung therapeutischer Mittel ist,
soweit überhaupt vorhanden, überall selten. Selbst in den Niederlanden
wird nur ein kleiner Prozentsatz der Gefangenen von Therapieprogram-
men erfaßt, in der Bundesrepublik Deutschland noch weniger. Auch in

26
Osterr. Bundesregierung: Sicherheitsbericht 1983. Wien 1984.
27
Ancel, M. / Chemithe, P.: Les systèmes pénitentiaires en Europe occidentale. Paris
1981, 144, 147; siehe ferner Schölten, H.-J.: Niederlande. In: Eser/Huber (Fn. 16), 489 f.
610 Günther Kaiser

der Epoche der sogenannten Behandlungsideologie war es kaum anders,


wenn man von der Umwandlung der ehemals therapeutischen Einrich-
tung Herstedtvester in Dänemark absieht. In diesen Zusammenhang
paßt die Abschaffung der Sozialtherapie als Maßregel durch den Gesetz-
geber im Jahr 1984, eine Bestimmung, welche bekanntlich niemals in
Kraft gesetzt worden war28. Man wird davon ausgehen müssen, daß
heute wie ehemals mehr verwahrt als behandelt wird, selbst wenn man
die untergebrachten Straffälligen in psychiatrischen Kranken- und Ent-
ziehungsanstalten mit einbezieht.
Der Begriff der Behandlung ist allerdings nicht eindeutig. Schon die
Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1955 verwen-
den den Behandlungsbegriff im weiten Sinne und schließen dabei den
betreuenden, helfenden Umgang mit dem Gefangenen mit ein. Dieser
weiten Auffassung folgen nicht nur das westdeutsche Strafvollzugsge-
setz, sondern auch die große Zahl der ausländischen Regelungen. Locke-
rung und Öffnung des Vollzugs sowie bedingte Entlassung gelten über-
all als wichtige Instrumente wirksamer Vollzugs- und Vollstreckungspo-
litik, obschon mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Dabei erscheint
erwähnenswert, daß die bedingte Entlassung quantitativ sehr unter-
schiedlich gehandhabt wird, in Osterreich z.B. nur in 11 Prozent der
Fälle. Dagegen ist in Schweden die gesetzliche Voraussetzung 1983
erleichtert worden, so daß die bedingte Entlassung schon nach der
Hälfte der Haftzeit möglich ist; außerdem wurde die „Kann"- zur
„Sol^'-Bestimmung29. Das Spektrum der Behandlung schließt einerseits
die Fortsetzung des disziplinierenden Progressiwollzugs ein - so z. B. in
Italien das Instrument der Strafkürzung sowie in Spanien die Straftilgung
bei Arbeit oder sonstigem positiven Auffallen des Gefangenen30, die
beide eindeutig Belohnungscharakter haben - , andererseits den bewußt
gewollten, obgleich riskanten Versuch zur Wiedereingliederung der
Gefangenen31. In der Praxis mögen die Ziele ineinander übergehen, da
primär auf den Erfolg, d.h. formal auf das äußere Legalverhalten
abgestellt wird. Die Gründe für die erfolgreiche oder mißglückte soziale
Integration treten oftmals zurück. So gilt z. B. die Schuldenproblematik
und ihre Bewältigung bei entlassenen Strafgefangenen im Ausland nur
28 Hingegen soll nach Schultz, H.: Bericht und Vorentwurf zur Revision des Allgemei-

nen Teils des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Bern 1985, 243 ff; die Einführung einer
sozialtherapeutischen Anstalt als Einrichtung des Maßnahmenvollzugs vorgeschlagen
werden.
29 Cornils, K.: Schweden. In: Eser/Huber (Fn. 16), 663ff (673).
30 Vgl. Maurer, M.: Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Spanien. In: Jescheck

(Fn. 8), 929 ff (978).


31 Dazu kritisch vor allem Böhm, A.: Probleme der Strafvollzugsforschung, insbeson-

dere bezüglich Vollzugslockerungen. In: Kury, H. (Hrsg.): Kriminologische Forschung in


der Diskussion: Berichte, Standpunkte, Analysen. Köln 1985, 575-603.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 611

selten (z.B. in der Schweiz) als ein Thema, dem hohe Priorität zuer-
kannt wird.

VII.
Die Strafvollzugssysteme, insbesondere jene Westeuropas, weisen
nach alledem beachtliche Übereinstimmung, aber auch erhebliche Diver-
genzen auf. Gemeinsamkeiten in der Behandlung der Gefangenen, in der
Struktur des Vollzugsstabs sowie in der Organisation und Verwaltung
des Vollzugs beruhen entweder auf Tradition oder Angleichungsprozes-
sen, die wiederum durch die sogenannten Mindestgrundsätze und die
Europäische Menschenrechtskonvention ausgelöst und getragen wer-
den. Unabhängig davon kennt fast jedes der nationalen Systeme heraus-
ragende Vollzugsleistungen und weiterführende Experimente, aber auch
Schwächen. Wir begegnen also verschiedenen Vollzugsmodellen mit
unterschiedlichen Kriterien und Schwerpunkten.
Die Gefangenenrate liefert dafür fraglos einen wichtigen Anhaltspunkt. Sie kann aber
nicht als alleiniger Maßstab gelten. Andernfalls nähmen Griechenland, Island oder
Zypern und nicht die Niederlande oder Schweden eine Spitzenstellung ein. Würde man
hingegen lediglich auf die geringe Verurteilungsrate zu Freiheitsstrafen abstellen, so
rückte international Japan an die Spitze; legte man schließlich den Grad der Verrechtli-
chung als entscheidend zugrunde, hätte die Bundesrepublik Deutschland gute Chan-
cen, einen der oberen Ränge einzunehmen.

Wir begegnen also nicht einer einseitigen Häufung negativer oder


positiver Merkmale bei den einzelnen Ländern, obschon Vollzugsprofile
in der einen oder anderen Richtung deutlich werden. Doch internationa-
ler Bekanntheitsgrad, Anziehungskraft und tatsächliche Fortschrittlich-
keit des Strafvollzugs müssen keinesfalls stets zusammentreffen.
Obgleich die Hindernisse nicht verkannt werden sollen, die der
Würdigung aufgrund internationalen oder interkulturellen Vergleichs
entgegenstehen, kann man Strafvollzugssysteme sowohl nach ihrem
repressiven Gehalt, nach der Reichweite ihrer Überwachung, nach ihrer
rechtsstaatlichen Qualität als auch nach ihrem Sozialisationspotential zu
messen suchen und einander gegenüberstellen. Doch immer steht die
Frage im Mittelpunkt, wieviele Strafen in welcher Art und Höhe im
Sinne eines präventiven Optimums notwendig sind. Als Vergleichs- und
Beurteilungskriterien sollen danach Punitivität, Rechtsstaatlichkeit und
Rechtsschutz sowie Sozialisation und Humanisierung dienen.
Hinweise auf den Grad der Punitivität können in erster Linie der
vergleichenden Sanktionenstatistik und den vergleichenden Gefangenen-
raten entnommen werden. Um die Intensität der Strafen zu messen, ist
es erforderlich, nach mindestens zwei Aspekten zu unterscheiden:
- Erstens nach der Häufigkeit in der Verhängung von bestimmten
Kriminalsanktionen und
612 Günther Kaiser

- zweitens nach der tatsächlichen Ausgestaltung ihrer Vollstreckung.


Als das verbreitete Maß, die Strafliärte zu erfassen, dient herkömm-
lich die durchschnittliche Zahl der von Strafgefangenen verbüßten
Monate. Danach schneiden etwa die skandinavischen Staaten (mit Aus-
nahme von Finnland) und die Niederlande, aber auch die Schweiz sehr
günstig ab. Dieses Maß sagt allerdings nichts über die Größe der
Population aus, welche Freiheitsstrafen überhaupt und gegebenenfalls
wiederholt unterworfen ist. Deshalb verfehlen auch Maße wie die
Gefangenenziffer die Möglichkeit, allein die Strafintensität zureichend
auszudrücken.
Um dies zu veranschaulichen, ist es hilfreich, sich zwei Staaten vorzustellen, von denen
der eine kurze Freiheitsstrafen gegenüber einem relativ großen Bevölkerungsteil aus-
spricht (etwa Schweden) und der andere lange Freiheitsstrafen gegenüber nur einem
kleinen Prozentsatz seiner Bürger verhängt (etwa die Bundesrepublik Deutschland).

Welche Lösung den Vorzug verdient, ist wegen der Wertentscheidun-


gen schwierig zu beantworten. Die vergleichende Analyse sollte aber für
beide Aspekte genügend empfindlich bleiben. Dies bedeutet wiederum,
sowohl die Verurteilungshäufigkeit zu Freiheitsstrafen als auch die Höhe
der Gefangenenrate zu berücksichtigen.
Darüber hinaus müßte wohl die gesamte Breite der Verbrechenskon-
trolle miterfaßt werden, um auszudrücken, wieviele Bürger zeitweilig
mit strafrechtlichen Mitteln sanktioniert oder überwacht werden. Die
Weite des Kontrollnetzes spielt bekanntlich in Wissenschaft und Krimi-
nalpolitik zunehmend eine Rolle. Man denke etwa an den umstrittenen
sogenannten Net-widening-Effekt im Rahmen der Diversion 32 .
Deshalb müssen strenggenommen auch Intensivüberwachung durch Bewährungshilfe
und Führungsaufsicht, ferner Vollzugslockerung und Sanktionenverzicht sowie weitere
formelle Kontrollstrategien wie Sanktionen der Staatsanwälte, Anordnung von Geldbu-
ßen, Verfahren der Konfliktkommissionen und Untersuchungshaft mitbeachtet und in
den Schutz der Mindestgrundsätze einbezogen werden. Der größte Erkenntnisfort-
schritt wird denn auch in dem möglichst reichen Einsatz von unterschiedlichen
Messungen und Methoden vermutet. Diese Erwartung deckt sich methodologisch mit
jener zur Messung von Kriminalität.

Vergleicht man in Europa die Verurteilung zur Freiheitsstrafe bezogen


auf die Zahl derjenigen Personen, die in der Bevölkerung von Freiheits-
strafen überhaupt betroffen sind, dann werden in den Niederlanden und
in Schweden durchschnittlich erheblich mehr Personen pro 100000 der
jeweiligen Bevölkerung zu Freiheitsstrafen verurteilt, als dies etwa im
Bundesgebiet oder in England und Wales, geschweige in Japan, der Fall
ist.

32 Vgl. Heinz (Fn.8), 976; Kerner, H.-J. (Hrsg.): Diversion statt Strafe? Heidelberg
1983.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 613

A u c h andere e u r o p ä i s c h e L ä n d e r wie F r a n k r e i c h , Italien, Ö s t e r r e i c h


u n d die S c h w e i z verurteilen w e s e n t l i c h häufiger z u Freiheitsstrafen,
w e n n m a n d e r e n Z a h l e n jeweils auf die B e z u g s g r u p p e n der e n t s p r e c h e n -
den B e v ö l k e r u n g bezieht. D a ß sie m i t A u s n a h m e Ö s t e r r e i c h s - b e z o g e n
auf die jeweilige B e v ö l k e r u n g - d e n n o c h kleinere G e f a n g e n e n p o p u l a t i o -
n e n aufweisen, w i r f t die Frage auf, w i e diese Staaten es fertigbringen,
solche vergleichsweise geringen G e f a n g e n e n r a t e n z u e r r e i c h e n . O f f e n b a r
dient eine g e m i s c h t e Strategie v o n k u r z e n Freiheitsstrafen, bedingten
Entlassungen, Strafverkürzung, Gnadenerlassen und sonstigem Sank-
t i o n s v e r z i c h t dieser Z i e l s e t z u n g . D i e s w i r d anschaulich, w e n n m a n sich
vergegenwärtigt, d a ß die d u r c h s c h n i t t l i c h e D a u e r der Freiheitsstrafe
1 9 8 3 in d e r S c h w e i z 1,8, j e d o c h i m B u n d e s g e b i e t 6 , 4 M o n a t e b e t r u g .
N a c h N o r d i r l a n d w e i s t die B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d n e b e n G r i e -
c h e n l a n d den h ö c h s t e n D u r c h s c h n i t t in der I n h a f t i e r u n g s d a u e r a u f " .
D e r internationale Vergleich der Gefangenenzahlen veranschaulicht,
daß e u r o p ä i s c h , ja w e l t w e i t b e t r a c h t e t die N i e d e r l a n d e m i t e t w a 3 4 p r o
1 0 0 0 0 0 d e r B e v ö l k e r u n g i m J a h r 1 9 8 5 n o c h i m m e r die niedrigste G e f a n -
g e n e n q u o t e aufweisen, w e n n m a n v o n Island, M a l t a u n d Z y p e r n ab-
sieht.
Allerdings spiegelt auch die Entwicklung in den Niederlanden die allgemeine Bewegung
im Gefängniswesen wider. Denn Anfang der siebziger Jahre betrug die Gefangenenrate
in den Niederlanden noch etwa 22 pro 100 000 der jeweiligen Bevölkerung. Das von
dem niederländischen Justizministerium 1985 vorgelegte Strategiepapier über „Gesell-
schaft und Verbrechen" sieht im Hinblick auf den Verbrechensanstieg und den befürch-
teten Vertrauensverlust in der Öffentlichkeit für die nächsten Jahre eine Erweiterung
der Vollzugskapazität um 5 neue Anstalten mit 2250 Plätzen vor. Dies bedeutet eine
weitere Erhöhung der Vollzugskapazität um rd. 50 Prozent. Dieser Planung liegt nicht
zuletzt ein erheblicher Anstieg in der Durchschnittsdauer der verhängten Freiheitsstra-
fen zugrunde. Entfielen 1970 noch 3 Prozent der unbedingten Verurteilungen auf
Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr, so 1983 schon 12 Prozent. Seit Mitte der
siebziger Jahre mußte daher die Strafvollzugskapazität um mehr als die Hälfte auf 4800
Plätze im Januar 1985 erhöht werden. Mit den für das Jahr 1990 angestrebten 7070
Plätzen wird der Strafvollzug - verglichen mit den ersten siebziger Jahren - voraussicht-
lich mehr als die doppelte Kapazität erreicht haben. Die Niederlande bewegen sich mit
34 Anstalten an der unteren Grenze Europas3*. Auch England will z. B. bis Ende dieses
Jahrzehnts 11 neue Anstalten errichten.

I m ü b r i g e n b e t r a g e n die Gefangenenraten in Japan 3 5 e t w a 4 5 , in


S c h w e d e n 5 8 , d e r S c h w e i z 6 8 , F r a n k r e i c h 8 0 , G r o ß b r i t a n n i e n 8 5 , der

33 Vgl. Tournier, P.: Statistics Concerning Prison Populations in the Member States of

the Council of Europe. In: Prison Information Bulletin No. 5/1985, 16ff; speziell zur
Schweiz Riklin, F.: Zur Diskussion über die kurzen Freiheitsstrafen und die Alternativen
im europäischen Ausland. In: Der Strafvollzug in der Schweiz 1985, 122 ff.
34 Ministry of Justice Netherlands (Ed.): Society and Crime. A Policy Plan for the
Netherlands. The Hague 1985, 4, 15 ff.
35 Government ofJapan, Research and Training Institute, Ministry of Justice: Summary
of the White Paper on Crime 1984, 109.
614 Günther Kaiser

Bundesrepublik Deutschland 100 und Österreich 112 pro 100000 der


Bevölkerung. Finnlands Gefangenenrate ist von 99 (1978) auf 86 (1982)
gesunken36. Für die USA wird die Gefangenenrate bezogen auf das Jahr
1983 gar mit 270, für die D D R mit 274 (1978), Polen mit 305 (1980) und
die UdSSR mit 350 bis 660, jeweils pro 100 000 der Bevölkerung,
angegeben37.
Immerhin läßt der historische Rückblick bezüglich der Population der Gefangenen
Anfang der dreißiger Jahre erkennen, daß damals Deutschland nach der H ö h e der
Gefangenenrate „unter den europäischen Großmächten" eine Spitzenstellung einnahm,
gefolgt von Polen und Italien, während England und Wales, Schweden, Belgien und die
Niederlande relativ gesehen einen der unteren Ränge einnahmen 3 '.

Aufgrund der genannten Befunde und der vergleichenden Betrach-


tung hat die niederländische Theorie der Verbrechenskontrolle auf dem
Gebiet des Strafvollzugs zunehmend Modellcharakter gewonnen. Auch
wenn, wie gegenwärtig beabsichtigt, die Vollzugskapazität um weitere
50 Prozent erhöht werden soll, ist die niedrige Gefangenenpopulation in
den Niederlanden noch immer erstaunlich, zumal die dortige Verbre-
chensentwicklung und Kriminalitätsbelastung den entsprechenden
Befunden in den übrigen westeuropäischen Staaten kaum nachstehen.
Das pönologische Modell der Niederlande beruht bisher vor allem auf
der Praxis, kurze Freiheitsstrafen zu verhängen. Der Durchschnitt aller
vollstreckten Freiheitsstrafen liegt daher ähnlich wie in der Schweiz bei
etwa 2 Monaten verglichen mit 3—4 Monaten in Schweden und 21
Monaten in den USA. Allerdings muß man dabei berücksichtigen, daß
die Niederlande neben der Praktizierung kurzer Freiheitsstrafen auch
von Zeit zu Zeit zum Mittel eines kollektiven Gnadenerlasses greifen,
um die Gefängnispopulation niedrig zu halten, daß sie ferner ebenso wie
Schweden und die Schweiz potentielle Gefangene auf eine sogenannte
Warteliste setzen, bis der erforderliche Platz in den Vollzugsanstalten
frei wird, und daß schließlich die Bevölkerung bis in die achtziger Jahre
hinein eine derartige Praxis auch weitgehend toleriert hat. Daß sich dies
inzwischen etwas geändert haben dürfte, läßt das erwähnte kriminalpoli-
tische Strategie-Papier des niederländischen Justizministeriums er-
kennen.
Wie sehr es nämlich bei einer derartigen Handhabung auf die verständnisvolle Bereit-
schaft der Bevölkerung ankommt, zeigen Untersuchungen und Diskussionen zum
Beziehungsfeld „Strafvollzug und Öffentlichkeit". Wenn aber die Bevölkerung wegen
rigider Wertvorstellungen oder aus Verbrechensangst nicht geneigt ist, eine auf Reso-

36 Lahti, R.: Kriminalität, Kriminologie und Kriminalpolitik in den nordischen W o h l -


fahrtsstaaten. In: K u r y ( F n . 3 1 ) , Tab. S. 167, 169ff.
37 Nachweise bei Kaiser (Fn. 12), 231 f; sowie Christie ( F n . 2 3 ) , 32.
38 Vgl. Kaiser (Fn. 12), 231 ff.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 615

zialisierung oder Mitverantwortung angelegte Vollzugspolitik mitzutragen oder zumin-


dest ohne ernstliche Proteste hinzunehmen, dann dürfte es kaum möglich sein, mit
niedrigen Gefangenenzahlen auszukommen. Dies veranschaulichen nicht nur die ver-
gleichende Betrachtung kollektiver Gnadenerlasse in den Niederlanden und im Bundes-
gebiet während der letzten zwanzig Jahre, sondern auch die einschneidenden Wandlun-
gen in den Niederlanden selbst 39 . Wirft man in diesem Zusammenhang einen Blick auf
die Vereinigten Staaten, so zeigt sich die hohe Kriminalitätsbelastung in den städtischen
Ballungszentren als einer der Einflußfaktoren auf den vollzogenen Stimmungswandel.
In Extremfällen führt die Reaktion der Bevölkerung sogar zur Selbstjustiz.

VIII.
Bei alledem geht es nicht nur um Sicherheit und Generalprävention,
sondern auch um Grundeinstellungen zu Schuld und Strafverbüßung
sowie um die Gewährleistung von Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit.
Notwendigkeit und Bedeutung derartiger Ziele werden jedoch interna-
tional unterschiedlich eingeschätzt. Solche Divergenzen beeinflussen
auch Art und Inhalt der Strafe sowie Umfang und Struktur des Strafvoll-
zugs. Erwartungsgemäß werden dazu verschiedene Meinungen vertre-
ten. Keinesfalls aber kann man, wie gelegentlich gefordert40, Strafrechts-
pflege und Strafvollzug von Bewegung und Belastung der Kriminalität
völlig „abkoppeln" in der Annahme, daß es auf die Anstrengungen der
Strafrechtspflege gar nicht ankomme. Bezüglich der sogenannten Kon-
trolldelikte, die also von der Verfolgungsintensität stark abhängig sind,
wäre eine solche Hypothese ohnehin fehlerhaft.
Für den Vergleich der Strafvollzugssysteme ist ferner das Potential an
Sozialisation und Humanisierung zu beachten. Bedeutsam ist hierfür das
weltweit verbreitete Bekenntnis zu den Mindestgrundsätzen in der
Behandlung der Strafgefangenen. Die Anerkennung eines Mindeststan-
dards im Strafvollzug wird sicherlich nicht nur verbal geäußert, sondern
auch in der Praxis, obschon regional unterschiedlich, zu verwirklichen
gesucht. Als Beispiel dafür, was Humanisierung leisten kann, könnte auf
Italien verwiesen werden: Dort soll das neue Strafvollzugsgesetz erst-
mals eine „Bresche in die Mauer jahrhundertelanger Abgeschlossenheit
geschlagen" haben41. In der Durchsetzung der Mindestgrundsätze

39 Ministry of Justice (Fn. 34), 1, 21.


40 Etwa von Christie ( F n . 2 3 ) ; Balvig, F.: Crime in Scandinavia: Trends, Explanations
and Consequences. In: Bishop, N . ( E d . ) : Scandinavian Criminal Policy and Criminology
1 9 8 0 - 8 5 . Copenhagen 1985, 7ff, mit Graphik: Wright, M.: In Place of Punishment.
Vortrag gehalten am Max-Planck-Institut Freiburg i. Br. am 4. O k t o b e r 1985; zurückhal-
tend hingegen Burgstaller, M.: Empirische Daten zum neuen Strafrecht. Ö J Z 38 (1983),
6 1 7 f f (626) und ders. mit Csäszär, F.: Ergänzungsuntersuchungen zur regionalen Strafen-
praxis. Ö J Z 4 0 (1985), 4 1 7 ff (426 f).
41 So Grevi, V.: Das italienische Strafvollzugsgesetz. Eine Bilanz fünf Jahre nach der
Reform. Z S t W 94 (1982), 4 9 7 ff.
616 Günther Kaiser

scheint der stärkste Motor für die weitere Humanisierung sowie Verein-
heitlichung des Strafvollzugs zu liegen, und zwar über die politische
Spaltung Europas oder anderer Regionen hinaus.
Gleichwohl bleibt die Strafvollzugsphilosophie, oder genauer das
konkret anzustrebende Vollzugsziel problematisch. Wenn, wie in Skan-
dinavien, England und einigen anderen Staaten das Ziel des Strafvollzugs
hauptsächlich darin bestehen soll, zur Entlassung vorzubereiten, dann
drängt sich sogleich die Frage auf, wozu man den Straftäter überhaupt in
den Strafvollzug schickt. Denn ließe man ihn in Freiheit, könnte man
sich die Entlassungsvorbereitung sparen. Die Angleichung des Vollzugs
an die Außenwelt oder die Vermeidung von Haftschäden würde dann
entbehrlich. Diese paradox erscheinende Situation ist bislang nicht über-
zeugend bewältigt. Doch so grundsätzlich und tiefgreifend dieser theore-
tische Streit auch sein mag, in der Praxis ist man sich über den Vollzug
und über seine Reformrichtung weitgehend einig.
Plädiert etwa Schweden für die Öffnung der Strafanstalten und die Ausweitung der
Kontakte des Gefangenen mit der Außenwelt einschließlich Hafturlaub, so verspricht
es sich davon einen ebenso wichtigen wie normalen Beitrag zur Verbesserung der
Haftbedingungen und für die Humanisierung der Gefängnisse42. Hingegen begreift die
Gefängniskommission der Beneluxländer den Hafturlaub als Teil individueller Behand-
lung, indem er als ein Mittel die erwünschten Kontakte mit der Außenwelt ermöglicht.
Demgemäß schlägt man vor, daß die Behandlung auch den Kontakt mit der Außenwelt
einschließen und zu diesem Zweck Hafturlaub soweit wie möglich als ein Teil der
Behandlung verstanden werden soll43. Sachlich also besteht selbst in den Reformvorstel-
lungen, wie dieses Beispiel veranschaulicht, kein Unterschied; nur die Bezeichnung ist
verschieden. Was die einen als „Behandlung" zu nennen pflegen, möchten die anderen
lieber als „Humanisierung" bezeichnet wissen.

Vergleicht man die Niederlande und Schweden oder Dänemark, so


können die skandinavischen Staaten mit den Niederlanden zwar noch
nicht mit der Gefangenenrate, wohl aber im Personalbestand ernsthaft
konkurrieren. Der Kostenaufwand ist in Skandinavien durchweg dop-
pelt so hoch wie in den Niederlanden. Im übrigen vertraut man in
Schweden und Dänemark hauptsächlich auf den offenen Vollzug, und
zwar erheblich mehr als andernorts in Europa, sowie auf den Einsatz
und die Arbeit freiwilliger Helfer.
Als ebenso aktuelles wie ungelöstes Problem gilt nicht nur in Europa,
sondern weltweit die Frage nach der Behandlung und ernstlichen Beein-
flussung von Rückfalltätern. Hier sind zwar die Lösungs- oder Reak-

42 Vgl. Martinsson, B. / Bishop, N.: Current Problems in Prison Administration.


Information Paper to the Vllth United Nations Congress on the Prevention of Crime and
the Treatment of Offenders., Norrköping 1985.
43 Vgl. Council of Europe (Ed.): Report of the Standard Minimum Rules for the
Treatment of Prisoners. Strasbourg 1980, 88.
Strafvollzug im internationalen Vergleich 617

tionsansätze vielfältig, die Fortschritte und Erfolge aber recht begrenzt.


Bei der Würdigung der Vollzugsmodelle wird man denn auch diesen
Aspekt mit zu berücksichtigen haben, obschon der Strafvollzug sicher-
lich in seiner Bedeutung für die Kriminalitätsbekämpfung nur einen
schwachen Beitrag leisten kann. Ihn in diesem Zusammenhang aber
gänzlich zu ignorieren 44 , erschiene im Hinblick auf die Erfolge der
Verbrechenskontrolle in Japan und in den sozialistischen Staaten als
verfehlt. Auch die deutschen Erfahrungen mit der sozialtherapeutischen
Behandlung in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten unterstreichen
die Bedeutung. Eine jüngst vorgelegte Meta-Evaluation sozialtherapeu-
tischer Behandlung anhand von 15 Begleitforschungsprojekten weist im
ganzen immerhin einen moderaten Effekt sozialtherapeutischer Behand-
lung bei schwierigen Karrieretätern aus45.
Sonderprobleme ergeben sich vor allem durch den Drogenkonsum, der fast überall in
Westeuropa erhebliche Schwierigkeiten im und außerhalb vom Strafvollzug aufwirft,
ohne daß sich bereits überzeugende Lösungen abzeichneten. Insbesondere in Schweden
hat Drogenmißbrauch in Strafanstalten schon aufgrund der Gesetzesänderung von 1984
zu haftverschärfenden Maßnahmen geführt44. Außergewöhnliche Aufgaben stellt aber
auch der Vollzug an Ausländern und Minoritätenangehörigen sowie Jugendlichen,
Frauen, an geisteskranken und alten Menschen. Angesichts der übermächtigen allge-
meinen Vollzugsprobleme erscheinen aber diese Sonderfragen als nachrangig und treten
in der Diskussion stark zurück.

IX.
In der vergleichenden Längsschnittbetrachtung erscheint als eines der
Problemschwerpunkte die langfristige Inhaftierung. Zum Beispiel in
Osterreich haben die Strafen von über einem Jahr überdurchschnittlich
zugenommen. Auch die Mehrzahl der in Italien verhängten Freiheits-
strafen liegt zwischen 1 bis bzw. über 5 Jahren 47 . In Schweden dagegen
liegen nur wenige Strafen über einem Jahr und fast keine über 4 Jahre 48 .
Weitere Problemschwerpunkte bilden die sichere Unterbringung gefähr-
licher Straftäter, intensivere Durchsetzung der Mindestgrundsätze und

44 So z.B. Christie (Fn.23), 33.


45 Vgl. Lösel, F., u. a.: Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Qualitative und quantitative
Analysen und Vorschläge zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten
des Justizvollzugs. Abschlußbericht. Universität Bielefeld 1985, 371, 373, 389, 414 f; siehe
ferner Schüler-Springorum, H.: Die sozialtherapeutischen Anstalten - Ein kriminalpoliti-
sches Lehrstück? In: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann. Berlin 1986, 178 ff; anders
jedoch Göppinger, H.: Kriminologie. 4. Aufl. München 1980, 411 ff.
46 Vgl. National Prison and Probation Administration (Ed.): Kriminalvärd 1983/84.
Norrköping 1984, 7, 45 und 56 mit Tabellen.
47 HEUNI (Helsinki Institute for Crime Prevention and Control Affiliated with the
United Nations): Criminal Justice Systems in Europe. Helsinki 1985, 108.
48 Kriminalvärd (Fn. 45), 84.
618 Günther Kaiser

Rechtsschutz, teilweise auch Drogenkonsum und Überbelegung der


Strafvollzugsanstalten. Mag im Längsschnitt der Strafvollzug in der
Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz an quantitativer
Bedeutung erheblich verloren haben, so trifft dies für andere Länder wie
für Großbritannien oder die USA nicht in entsprechendem Umfang zu.
Qualitativ jedoch hat der Freiheitsstrafvollzug erheblich an Gewicht
gewonnen. Der Bedeutungszuwachs liegt vor allem in der Einschätzung
der Freiheit und der Freiheitsentziehung sowie im Schutz der Menschen-
rechte.
Aufgrund der Bilanzierung von Soll und Haben im internationalen
Strafvollzug zeigt sich, daß nicht nur größere Staaten experimentierfreu-
dig und innovativ sind. Im Gegenteil. Gerade bei kleineren Staaten
lassen sich unabhängig von den Niederlanden oder den skandinavischen
Ländern herausragende Leistungen erkennen, erscheinen eine oder zwei
Institutionen besonders vorbildlich. Dies gilt etwa für Mittersteig in
Osterreich oder für Saxerriet in der Schweiz. Auch darüber hinaus
vermag die Schweiz einige vorbildliche Anstalten im Erwachsenen- und
Jugendvollzug vorzuweisen, zumal der Jugendvollzug dort nur ein
Bruchteil jenes anderer Länder ausmacht. Dennoch gilt die Schweiz
international im allgemeinen nicht als ein Modell für einen zukunftswei-
senden Strafvollzug - zu Unrecht. Offenbar spielt die Werbung, das
Image, also das Sich-gut-verkaufen-Können auch in diesem Bereich eine
wichtige Rolle.
Danach stellt sich die Frage, wo denn die deutschen Vorbilder bleiben.
Oder trifft etwa die vernichtende Kritik Conrads49 am deutschen Straf-
vollzug noch immer zu? Eine solche Annahme wäre allerdings verfehlt,
auch wenn die Suche nach einem eigenständigen deutschen Modell
vergeblich bleibt. Immerhin werden Öffnung und Lockerung des Straf-
vollzugs im Bundesgebiet weithin praktiziert50, ohne allerdings neu zu
sein. Selbst an den sozialtherapeutischen Experimenten ist wenig Neues
zu entdecken, obschon die Voraussetzungen der Anweisung und Bedin-
gungen der Durchführung ganz andere sind als in den früheren Vorbild-
anstalten Dänemarks und der Niederlande. Am ehesten könnte die
Sicherung der Rechtsstellung von Strafgefangenen durch Gesetz und
gerichtliche Kontrolle als mustergültig erscheinen. Dieser Eindruck
drängt sich jedenfalls dann auf, wenn man sich die Beschwerdesysteme
in Österreich, der Schweiz, in Frankreich, England oder sogar in
Skandinavien vor Augen führt.

49 Conrad, C. P.: Crime and its Correction. An International Survey of Attitudes and
Practices. Berkeley 1965, 146 f.
50 Dazu Dünkel, F. / Rosner, A.: Die Entwicklung des Strafvollzuges in der Bundesre-

publik Deutschland seit 1970. 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1982.


Strafvollzug im internationalen Vergleich 619

Obschon sich gemeinsame Profile der Vollzugssysteme in West- und


Osteuropa abzeichnen, lassen sich die Unterschiede in Konzept, Gestalt
und Wirklichkeit des Strafvollzugs nicht verkennen. Schon die Gefange-
nenrate streut erheblich: nach den verfügbaren Informationen zwischen
270 und 660, jeweils bezogen auf 100 000 Einwohner. Sie ist in den
Staaten Osteuropas durchweg um das Mehrfache höher. Die wahrnehm-
baren Unterschiede beschränken sich aber nicht auf den stationären
Vollzug. Sie folgen vielmehr aus den jeweiligen Eigentümlichkeiten des
Gesamtsystems der Sozialkontrolle nach Strafgesetz, Strafzumessungs-
praxis, Strafvollzug und Einstellung der Öffentlichkeit zum Strafvollzug
sowie zur Kriminalität.
Dementsprechend lassen sich im westeuropäischenBereich die verschiedenen Konzepte
und Stile des Vollzugs nach einem skandinavisch-niederländischen Modell unterschei-
den, mit der Favorisierung kurzer Freiheitsstrafen. Diese werden zwar auch in der
Schweiz bevorzugt verhängt, jedoch häufig in Verbindung mit bedingter Verurteilung.
D e m stehen Länder wie England und Italien gegenüber, bei denen sich der Strafvollzug
offensichtlich in einer Krise befindet. D e r verbreitete Kriminalitätsanstieg in Westeu-
ropa während der letzten Jahrzehnte führte erneut zu härteren sowie längeren Freiheits-
strafen und wiederum zum Anstieg der Vollzugspopulation mit all seinen Begleit- und
Folgeproblemen. Verglichen damit pflegt man im osteuropäischen Bereich ohnehin
längere Freiheitsstrafen zu verhängen, während der Bereich kürzerer und mittlerer
Freiheitsstrafen zunehmend durch zur Bewährung ausgesetzte Sanktionen und Geld-
strafen ersetzt wird. Besserung, ja Umerziehung des Strafgefangenen gilt aber für die
sozialistischen Staaten unverändert als Vollzugsziel 51 .

Die Situation in den Vereinigten Staaten wiederum ist völlig anders


gelagert. Seit einigen Jahren ist unter dem Stichwort der „Privatization
of Corrections" eine Übernahme von Haftanstalten durch Privatunter-
nehmen in der Diskussion. Modellcharakter besitzt dabei ein Projekt in
Florida, das von den Befragten immerhin als ein „less desirable place"
bezeichnet wird. Dagegen ist die behauptete Kostenersparnis anschei-
nend nicht sehr gravierend 52 . Uberhaupt scheint dieses Modell mehr
ideologisch begründet zu sein (parallel zur derzeitigen Privatisierungs-
philosophie in der amerikanischen Politik). Denn es gibt vielerlei Pro-
blemkreise, deren Lösung bisher nicht überzeugend gelungen ist ( L e v i n -
son nennt z. B. solche gesetzlicher, wirtschaftlicher, ethnischer Art
u.a.). Dennoch ist der Trend augenblicklich ungebrochen: Im Januar
1985 gab es bereits 26 „private sector prison industries" 53 . Ferner lassen

51 Lammich, S.: Die Freiheitsstrafe und deren Vollzug in den sozialistischen Ländern
unter besonderer Berücksichtigung Polens. In: 8. Strafverteidigertag v. 1 8 . - 2 0 . Mai 1984.
München 1985, 184 ff.
52 Vgl. Levinson, R.B.: Privatization in Corrections: The Issues. The Prison Journal,
Juli 1 9 8 6 ; National Institute ofJustice ( E d . ) : The Privatization of Corrections. Washington
/ D . C . 1985.
53 National Institute of Justice ( E d . ) : The Private Sector and Prison Industries.
W a s h i n g t o n / D . C . 1985, 6.
620 Günther Kaiser

der erhebliche Anstieg der offiziell registrierten Kriminalität, eine


äußerst hohe Gefangenenrate54 - wobei sich vor allem Farbige unter den
Inhaftierten befinden - sowie die Einrichtung von Großanstalten die
Verwirklichung des Behandlungskonzepts von vornherein kaum aus-
sichtsreich erscheinen, zumal in den USA im Gegensatz zu Westeuropa
- z.B. wurde 1983 auch in den Niederlanden der Anwendungsbereich
der Geldstrafe mit dem Ziel der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen
erweitert55 - von der Geldstrafe verhältnismäßig wenig Gebrauch
gemacht wird. Gerade dieser Aspekt unterstreicht die Notwendigkeit,
die Interventionsmöglichkeiten mit Hilfe der Freiheitsstrafe in den
Zusammenhang mit der allgemeinen Sanktionspraxis zu rücken.

X.
In der Gegenwart werden nicht nur hierzulande wieder mehr Strafen
verhängt und häufiger lange Freiheitsstrafen ausgesprochen als vor
einem Jahrzehnt. So zählt man heute fast wieder ebensoviele Strafgefan-
gene wie Mitte der sechziger Jahre. In England wurden 1981, als ein
Spitzenwert von 45 500 Inhaftierten erreicht war, sogar zwei Behelfsge-
fängnisse eröffnet. Wiederum sind Justizvollzugsanstalten überbelegt
und Strafgefangene teilweise unwürdig untergebracht.
Für Frankreich werden besonders die baulichen Mängel hervorgehoben. Aber auch
Italien und Spanien sind hier zu nennen. Für Spanien wird der Gedanke an eine
erfolgreiche Resozialisierung unter den zum Teil katastrophalen Vollzugsbedingungen
als geradezu grotesk bezeichnet. Die USA kennen ähnliche Probleme: Der 112. Kon-
greß der American Correctional Association hat sich 1982 unter dem Leitmotiv
„Managing Overcrowding with Limited Resources" mit der Situation befaßt. Allein
10000 Petitionen betreffen die Haftsituation in den amerikanischen Gefängnissen56.

Erneut rügen die Gerichte die Rechtswidrigkeit derartiger Unterbrin-


gung, und müssen die Justizverwaltungen ihre Vollstreckungspolitik
ändern. In solcher Zeit hat es der Behandlungsgedanke erwartungsge-
mäß schwer, sich zu behaupten. Doch gibt es andere, bessere Strategien?
Ambulante Sanktionen allein kommen bei wiederholt Rückfälligen in
der Regel nicht mehr in Betracht. Damit entfallen für diese Tätergruppe
auch Sanktionsformen, die im Ausland unter der Bezeichnung des
„community service" oder im deutschsprachigen Bereich unter dem

54 Austin, J. / Krisberg, B.: Incarceration in the United States: The Extent and Future of

the Problem. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences
No. 478 / March 1985, 15 ff.
55 Schölten (Fn.27), 489 ff.
56 Vgl. Evans, D. C.: Managing Overcrowding with Limited Resources. In: American

Correctional Association (Ed.): Proceedings of the 112th Annual Congress of Correction.


Toronto 1982. College Park / Md. 1983, 173 ff (174).
Strafvollzug im internationalen Vergleich 621

Begriff der gemeinnützigen Arbeit erörtert werden. Das Modell der


kurzen Freiheitsstrafen erscheint für Mehrfach- und Intensivtäter als
überlegene Problemlösung kaum akzeptabel, und zwar auch dann nicht,
wenn es im Ausland empfohlen und unter Hinweis auf Hegel zu
legitimieren versucht wird57. Die bloße Verlängerung der Freiheitsstrafe
zum Zwecke der Abschreckung und Unschädlichmachung führt nicht
nur zu höheren Gefangenenzahlen, sondern widerspricht auch der Mit-
verantwortung und Sozialstaatlichkeit. Unter diesem Aspekt gibt es, wie
schon Hilde Kaufmann gesehen hat58, „keine Alternative zur Sozialthe-
rapie, wie langsam auch immer die Verbesserung über Methoden vor sich
gehen mag".

57 Heijder, A.: Can we Cope with Alternatives? Crime and Delinquency 26 (1980), 1 ff.
58 Kaufmann (Fn.2), 202.
Aufgaben und Arbeitsweise
der Justizvollzugsämter
im Lande Nordrhein-Westfalen
KARL PETER ROTTHAUS

Ende der sechziger Jahre hat die Strafvollzugskommission Fragen der


Dienstaufsicht im Strafvollzug, insbesondere die nach der Notwendig-
keit und Zweckmäßigkeit von Mittelbehörden, ausführlich und streitig
erörtert. Stellt die Mittelbehörde nicht eine schädliche Distanz zwischen
Anstalt und Zentrale her? Sind mehrere dezentrale Bezirke einem zen-
tralen Landesamt vorzuziehen? Sollen diese Vollzugsämter weiterhin
von den Generalstaatsanwälten oder aber von Vollzugsfachleuten gelei-
tet werden?1 Im Ergebnis neigte die Kommission zu der Empfehlung,
auf die Mittelinstanz zu verzichten. Sie wollte jedoch größere Bundes-
länder nicht dazu nötigen, die in den preußischen Nachfolge-Ländern
überkommene Dreistufigkeit der Vollzugsorganisation aufzugeben.
Dementsprechend ermöglicht §151 Abs. 1 S.2 StVollzG den Landes-
justizverwaltungen, „Aufsichtsbefugnisse auf Justizvollzugsämter (zu)
übertragen". Die streitige Frage selbst wurde für Nordrhein-Westfalen -
lange vor dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes im Jahre 1977 -
beantwortet, als durch das Gesetz über die Einrichtung selbständiger
Justizvollzugsämter 2 zum 1.4.1970 eine von der Staatsanwaltschaft
unabhängige Mittelinstanz geschaffen wurde. Das Land Niedersachsen
folgte zwei Jahre später mit einem landeszentralen Justizvollzugsamt in
Celle3. Die anderen Bundesländer kennen keine Mittelinstanz. Sie sind
entweder, wie Baden-Württemberg und Bayern, bei der überkommenen

' Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, VI. Band: Chudoba, Zur Frage der
Organisation des Strafvollzugs, S. 22-36; Ruprecht, Organisation der Strafvollzugsverwal-
tung, S. 37—47; XII. Band: Müller-Dietz (Berichterstatter), Vollzugsgemeinschaften und
Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten, S. 103-122; Bund der Strafvollzugsbediensteten
Deutschlands, Stellungnahme zu Fragen der Neuorganisation des Strafvollzuges, 1968;
Derselbe, Denkschrift über die Neuorganisation des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfa-
len, Hövelhof o . J .
2 Gesetz vom 24.2.1970 G V N W S. 168.

3 A V des Nieders. Ministers der Justiz v. 7.6.1972 - 4400 - 305.6 - Verwaltungsanord-

nung zur Durchführung des Niedersächs. Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfas-
sungsgesetzes ( A G G V G Ns).
624 Karl Peter Rotthaus

Zweistufigkeit geblieben oder haben, wie Hessen, Rheinland-Pfalz und


Schleswig-Holstein, den Generalstaatsanwälten diesen Aufgabenbereich
entzogen und den Justizministerien übertragen. Die in Niedersachsen
und Nordrhein-Westfalen heute bestehenden Justizvollzugsämter sind
indessen keine neue Einrichtung. Erstmals wurden selbständige Auf-
sichtsbehörden für den Strafvollzug im Jahre 1923 unter der Bezeich-
nung ,Strafvollzugsamt' in Preußen eingerichtet". Die Amter haben sich
in der Weimarer Zeit bewährt, auch wenn sie - gerade innerhalb der
Justiz - zum Teil kritisch gesehen wurden5. Nach der Machtergreifung
machten die Nationalsozialisten die Verselbständigung des Vollzugs
gegenüber den Generalstaatsanwaltschaften für den ihnen unerwünsch-
ten ,Erziehungsvollzug' verantwortlich. Die Strafvollzugsämter wurden
noch im Jahre 1933 aufgehoben und ihre Aufgaben wiederum den
Generalstaatsanwälten übertragen6. Seit der Zeit der Einrichtung der
heutigen Justizvollzugsämter ist von ihnen in der fachlichen Diskussion
kaum noch die Rede gewesen. Deshalb soll hier im Zusammenhang mit
Problemen der Dienstaufsicht im Strafvollzug im allgemeinen der Frage
nachgegangen werden, wie sich die für Nordrhein-Westfalen gefundene
Lösung bewährt hat. Zur Veranschaulichung sei die eine der beiden
Mittelbehörden kurz beschrieben:

Das Justizvollzugsamt Köln


Dieses Amt ist die Mittelbehörde der Vollzugsverwaltung für die
Bezirke der Oberlandesgerichte Köln und Düsseldorf. Sein Amtsbezirk
entspricht damit etwa dem des Landschaftsverbandes Rheinland. Ein
zweites Justizvollzugsamt - zuständig für den westfälischen Landesteil -
hat seinen Sitz in Hamm. Dem Justizvollzugsamt Köln unterstehen 17
selbständige Justizvollzugsanstalten, darunter 2 Jugendstrafanstalten,
mit insgesamt 11 Zweiganstalten und 4 weiteren Nebenstellen sowie 5
Jugendarrestanstalten. In diesen Anstalten waren 1984 im Jahresdurch-
schnitt knapp 8000 Insassen untergebracht:
7385 Männer
454 Frauen
125 Jugendarrestanten
7964
Zu den Einrichtungen des Geschäftsbereichs gehört auch die Justiz-
vollzugsschule des Landes Nordrhein-Westfalen in Wuppertal. Dort

4 Preußisches Gesetz v. 2 0 . 1 0 . 1 9 2 2 - GS S.309; Hasse, Die Gefangenenanstalten in

Deutschland und die Organisation ihrer Verwaltung, S. 38 ff, in: Bumke (Hrsg.), Deut-
sches Gefängniswesen, Berlin 1928.
5 Anm. 1 Chudoba S. 25 ff.
6 Preußisches Gesetz v. 1 . 8 . 1 9 3 3 GS S.293.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 625

werden die Anwärter des mittleren Dienstes ausgebildet. Außerdem


finden in der Schule Fortbildungsveranstaltungen statt.
Das Justizvollzugsamt beschäftigt etwa 65 Mitarbeiter. Zehn Dezer-
nate werden von Beamten des höheren Vollzugs- und Verwaltungsdien-
stes mit der Befähigung zum Richteramt geleitet. Die interdisziplinäre
Natur vollzuglicher Arbeit findet darin ihren Ausdruck, daß bei dem
Vollziigsamt außerdem eine Arztin, ein Diplom-Psychologe, ein Schul-
rat und ein Sozialarbeiter als Fachdezernenten 7 tätig sind.
In dem Bezirk des Justizvollzugsamts sind insgesamt etwa 3570
Bedienstete beschäftigt. Die größte Gruppe bilden die Beamten des
allgemeinen Vollzugsdienstes mit 2530 Angehörigen, denen neben ihrer
überkommenen Aufgabe im Zuge der Strafvollzugsreform eine Vielzahl
von betreuerischen Aufgaben übertragen worden ist. Außerdem sind im
Geschäftsbereich des Vollzugsamts folgende Laufbahnen vertreten:
55 Beamte des höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienstes
49 Psychologen (einschl. Soziologen)
20 Ärzte
27 Geistliche
59 Pädagogen
135 Beamte des gehobenen Vollzugs- und Verwaltungsdienstes
104 Sozialarbeiter
301 Beamte des mittleren Verwaltungsdienstes (einschl. Schreib- und
Telefondienst)
188 Beamte des Werkdienstes und
104 Sonstige Mitarbeiter
Das Justizvollzugsamt ist Einstellungsbehörde für den mittleren und
gehobenen Dienst.
Dem Justizvollzugsamt ist die unmittelbare Dienst- und Fachaufsicht
über die Justizvollzugsanstalten und die Jugendarrestanstalten seines
Bezirks übertragen. Am anschaulichsten geschieht das durch die regel-
mäßige Besichtigung dieser Einrichtungen. Daneben sind zahlreiche
Beschwerden und Eingaben der Gefangenen zu bearbeiten. Das Voll-
zugsamt vertritt das Land in bürgerlichrechtlichen, arbeitsrechtlichen
und verwaltungsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten. An Rechtsbeschwer-
desachen, die aus Vollzugsangelegenheiten entstanden sind und für

7 Die Notwendigkeit der Besetzung der Aufsichtsbehörden mit „eigenen Fachkräften"

folgt aus § 1 5 1 Abs. 2 StVollzG:


„An der Aufsicht über das Arbeitswesen sowie über die Sozialarbeit, die Weiterbil-
dung, die Gesundheitsfürsorge und die sonstige fachlich begründete Behandlung der
Gefangenen sind eigene Fachkräfte zu beteiligen; soweit die Aufsichtsbehörde nicht über
eigene Fachkräfte verfügt, ist fachliche Beratung sicherzustellen."
626 Karl Peter Rotthaus

deren Entscheidung im Lande N W das O L G Hamm8 allein zuständig


ist, ist es beteiligt (§111 Abs. 2 StVollzG).
Die oberste Dienst- und Fachaufsicht für den Justizvollzug liegt beim
Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, bei dem eine
besondere Strafvollzugsabteilung besteht. Personal- und Haushaltsange-
legenheiten des Vollzugs werden allerdings in der Verwaltungsabteilung
des Justizministeriums bearbeitet. Die bei den Beratungen der Strafvoll-
zugskommission geäußerte Forderung, auch diese für die personelle und
sachliche Ausstattung der Anstalten und damit für die Gestaltung des
Vollzuges bedeutsamen Angelegenheiten der Vollzugsabteilung zuzu-
weisen, blieb unberücksichtigt'.
Erinnert man sich daran, daß die Aufgaben des Justizvollzugsamts
Köln in den fünfziger Jahren von den beiden Generalstaatsanwälten in
Köln und Düsseldorf im „Nebenamt" mit bis zu etwa 50 % ihrer
Arbeitskraft10 und je einem Vollzugsdezernenten erfüllt wurden, so
scheint das den schon in der Weimarer Zeit erhobenen Vorwurf .ver-
meidbaren Aufwands'11 zu bestätigen. Es entsteht der Verdacht, als
hätten die Justizvollzugsämter Parkinsons Gesetz12 in besonders konse-
quenter Weise befolgt. Doch ist der Personalbedarf der Justizvollzugs-
ämter des Landes Nordrhein-Westfalen bereits vor Gründung der
Amter sehr genau13 geschätzt worden. Später im Jahre 1978 hat eine,
vom Justizminister beauftragte, nicht nur aus Vollzugsfachleuten gebil-
dete Arbeitsgruppe Geschäftsumfang und Geschäftsverteilung der Voll-
zugsämter geprüft und die personelle Ausstattung für sachgerecht befun-
den. Die Entwicklung der Vollzugsämter ist eine Folge der durch die
Strafvollzugsreform notwendig gewordenen Personalvermehrung in den
Justizvollzugsanstalten.

Die Entwicklung des Vollzugssystems


Bis in die Mitte der sechziger Jahre gab es in Nordrhein-Westfalen
kein differenziertes System von Vollzugseinrichtungen, sondern eine
zufällig zustande gekommene Ansammlung von Vollzugsanstalten
unterschiedlicher Art und Größe. Diese Anstalten waren Teil des preu-
ßischen Vollzugssystems gewesen, das großräumig, die Grenzen des
neugeschaffenen Bundeslandes überschreitend, angelegt war. Die Ein-
weisung erfolgte ausschließlich durch die Staatsanwaltschaften als Voll-

8 Vgl. § 1 7 9 Ziff. 4 c StVollzG = §121 Abs. 3 GVG.

' Chudoba a.a.O. S. 22.


10
Chudoba a.a.O. S.33.
11
Meyer, Zur Justizreform, J W 1930/746 zitiert nach Chudoba a.a.O. S. 25 f.
12
Parkinson, Parkinsons Gesetz u. a. Untersuchungen über die Verwaltung, deutsch
1958.
13 Tagungsberichte a.a.O. VI. Band: Bendel (Niederschrift) S. 6.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 627

streckungsbehörden. Neben den vom Strafgesetz vorgegebenen Grup-


pierungen (Haft, Gefängnis, Zuchthaus) gab es nur noch die Grobsortie-
rung nach Erstbestraften und Gefangenen des Regelvollzugs. In Ost-
westfalen und im Münsterland wurden Gefangene mit Außenarbeit im
gelockerten Vollzug, überwiegend aber als sogenannte Arbeitskomman-
dos in der Landwirtschaft und der Landeskultur unter Aufsicht durch
bewaffnete Beamte beschäftigt. Im Regelfall blieb der Gefangene bis zu
seiner Entlassung in der Anstalt, in die er bei Strafbeginn aufgenommen
worden war. Schulische Fortbildung fand in der Freizeit in den größeren
Anstalten statt, in denen ein Lehrer tätig war. Berufsausbildung gab es
als Nebenprodukt in einzelnen Anstalten mit auf die Bedürfnisse des
Vollzugssystems, nicht auf die der Fortbildung ausgerichteten Versor-
gungsbetrieben ( z . B . Schreinerei, Schlosserei, Druckerei). „Fürsorger"
waren nicht einmal in allen großen Anstalten eingesetzt. Nur in den
beiden geschlossenen Jugendstrafanstalten des Landes gehörte je ein
Psychologe zum Personal. Eine offene Jugendstrafanstalt war unter dem
Einfluß der Britischen Besatzungsmacht eingerichtet worden, hatte aber
keine Ausstrahlung auf das System. - Die Entwicklung des Vollzugs
wird anschaulich, wenn man die Personalvermehrung im Bezirk des
Justizvollzugsamts Köln in den wichtigsten Laufbahnen betrachtet:

1970 1985
27 Höherer Vollzugs- und Verwaltungsdienst 55
8 Psychologen 49
22 Pädagogen 59
30 Sozialarbeiter 104
1002 Allgemeiner Vollzugsdienst 2530
49 Werkdienst 188

Mit Hilfe dieses Personalzuwachses konnte das Justizministerium ein


Einweisungsverfahren nach Behandlungsbedürfnissen 14 und ein System
von schulischen und beruflichen Fortbildungsmaßnahmen 15 einrichten,
die sich an den Bedürfnissen der Gefangenen orientieren. Vor allem aber
gelang es in Nordrhein-Westfalen, der Vorgabe des Strafvollzugsgeset-

14 Altenhain, Organisation des Strafvollzuges in den einzelnen Bundesländern, in:


Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, Berlin 1976, S. 35 ff; Diepolder, Das
Einweisungsverfahren nach §152 Abs. 2 StVollzG im Lande Nordrhein-Westfalen und
Einwirkungsmöglichkeiten des Verteidigers darauf, ZfStrVo 1982/200 ff; Koepsel, Das
Auswahlverfahren für langstrafige männliche erwachsene Gefangene in Nordrhein-West-
falen, ZfStrVo 1976/125 ff; jOers., 10 Jahre Einweisungsanstalt Hagen/Westfalen - Beson-
dere Probleme zentraler Diagnosezentren, ZfStrVo 1982/195 ff; Thole, Die Klassifizierung
der Gefangenen im Erwachsenenstrafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen, Mschr-
Krim 1975/261 ff.
15 Justizministerium N R W : Das Berufsbildungsangebot in Justizvollzugsanstalten des

Landes N R W .
628 Karl Peter Rotthaus

zes entsprechend (§10), den offenen Vollzug so auszubauen, so daß


heute mehr als ein Drittel der Strafgefangenen in offenen Einrichtungen
untergebracht ist16. Bei der Steuerung und Koordination dieses Systems
haben die Vollzugsämter wichtige Aufgaben zu erfüllen.
Weitere Aufgaben der Justizvollzugsämter sind die Verteilung der
Haushaltsmittel im Rahmen der Mittelzuweisung durch das Justizmini-
sterium, Verteilung der Personalstellen im Rahmen der Bezirksstellen-
pläne, Planung der Neubauten und der Bauunterhaltung, zentrale
Beschaffung wichtiger Investitions- und Konsumgüter, Koordination
des Arbeitsbetriebswesens, um eine möglichst behandlungsfreundliche
und wirtschaftlich ergiebige (§37 Abs. 2 StVollzG) Beschäftigung der
Gefangenen zu erreichen. Für die letztgenannten Aufgaben sind beim
Vollzugsamt Köln ein Jurist, der zugleich Diplom-Ingenieur der
Fachrichtung Bauingenieurwesen ist, als Dezernent und ein weiterer
Diplom-Ingenieur als Sachbearbeiter tätig17.

Das Justizvollzugsamt als Beschwerdeinstanz


Entsprechend der allgemeinen Entwicklung hat auch im Strafvollzug
die Zahl der Dienstaufsichtsbeschwerden, der Widerspruchsverfahren
und der Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach §§109 ff StVollzG
erheblich zugenommen. Im Jahre 1960 betrug die Fallzahl im Bezirk des
Oberlandesgerichts Düsseldorf mit Einschluß der Eingaben an den
Petitionsausschuß 120 bei einer Durchschnittsbelegung von 4782. Dar-
aus errechnet sich eine Häufigkeitsziffer von 25 auf tausend Gefangene.
Im Jahre 1984 betrug die Zahl der im Justizvollzugsamt Köln zu
bearbeitenden Dienstaufsichtsbeschwerden, Widerspruchsverfahren,
Anträge auf gerichtliche Entscheidungen und Petitionen 2627 bei einer
Durchschnittsbelegung von 7964; das ergibt eine Häufigkeitsziffer von
335 wiederum auf tausend Gefangene. Diese Zunahme hängt weniger
damit zusammen, daß Gefangene heute Mißstände im Vollzug eher beim
Namen nennen. Sie ist vielmehr eine Folge der Differenzierung des
Vollzuges. Gegenstand der Anträge und Eingaben sind nämlich nicht die
vollzugsüblichen Beschränkungen, sondern die Nichtgewährung von
Lockerungen (offener Vollzug, Ausführung, Ausgang, Urlaub, §§11-13
StVollzG), die Ablehnung von Wünschen, die den Verkehr mit der
Außenwelt (§§ 24—33 StVollzG) und den Besitz von Gegenständen zur
Freizeitgestaltung im weitesten Sinne (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher,
Hörfunk, Fernsehen, Bastelwerkzeug, Sportgerät u. ä. §§68, 69, 70, 83

16 Justizministerium N R W (Inge Donnepp): Offener Strafvollzug in N R W .


17 Vgl. o. Anm. 7.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 629

StVollzG) zum Gegenstand haben18. Hier geht es jeweils um schwierige


Ermessensentscheidungen. Den Vollzugsbehörden scheint es oftmals
nicht zu gelingen, ihre Entscheidungen für die Gefangenen nachvoll-
ziehbar zu begründen. Das kann seine Ursache haben in der kaum
vermeidbaren Verknappung der Begründung bei Ablehnung der massen-
haft beantragten Vollzugslockerungen und sonstigen Erlaubnisse, aber
auch in dem wirklichkeitsfremden Selbstbild der Gefangenen, die die
Gegengründe nicht zu erkennen oder wenigstens nicht zu akzeptieren
vermögen.

Keine Untersuchungen zur Frage der Zweckmäßigkeit


von Mittelbehörden
Nach der Einrichtung der Justizvollzugsämter ist die Zweckmäßigkeit
dieser Institution für die Bundesrepublik Deutschland oder einzelne
Bundesländer nicht mehr untersucht worden. Es blieb bisher die Frage
unbeantwortet, ob die Distanz zur Praxis, die eine Mittelbehörde für das
Justizministerium bewirkt, die Arbeit der zentralen Behörde erschwert.
Umgekehrt ist bisher nicht untersucht worden, welche Vorteile es für
die Mittelbehörden in Nordrhein-Westfalen hat, daß sie nur einen
Bezirk in der Größe des halben Vollzugssystems des Landes zu über-
schauen und zu steuern haben. Demgegenüber ist die zusätzliche Arbeit
zu bedenken, die durch die Notwendigkeit der Abstimmung der Tätig-
keit der beiden Vollzugsämter entsteht. Die beiden Amtsbezirke stellen
kein abgeschlossenes, autarkes System dar, sondern sind in vielfältiger
Weise aufeinander angewiesen. So befindet sich die Mehrzahl der offe-
nen Haftplätze im westfälischen Amtsbezirk. Dort gibt es das „Pädago-
gische Zentrum" für das ganze Land. Die Berufsförderungsstätte im
geschlossenen Bereich gehört zum rheinischen Landesteil, die des offe-
nen Bereichs liegt in Westfalen. Die Justizvollzugsschule - Josef-Neu-
berger-Haus - ist in Wuppertal, also im Rheinland gelegen. Das im
Aufbau befindliche zentrale Justizvollzugskrankenhaus entsteht in
Fröndenberg in Westfalen. Alle diese Einrichtungen dienen dem gesam-
ten System. Die Aufgabe der Koordination wird zum großen Teil vom
Justizministerium geleistet, das manche Angelegenheiten abschließend
regelt, so daß sich die Arbeit der Vollzugsämter auf die Weitergabe von
Weisungen beschränkt. Außerdem müssen die Vollzugsämter in man-
chen Bereichen ihre Arbeit untereinander abstimmen. Als unmittelbar
Betroffener kann ich zur Frage der Zweckmäßigkeit dieser Regelung
kein objektives Votum abgeben. Ich neige zu der Auffassung, daß sich
die heutige Organisation in Nordrhein-Westfalen bewährt hat und sehe

18 Vgl. Rotthaus (Sammelbesprechung der) Kommentare zum StVollzG, NStZ 1984,


109.
630 Karl Peter Rotthaus

die Vorteile darin, daß die Ämter ihren Bezirk leichter überblicken, daß
sie weniger zur Unfehlbarkeit verpflichtet sind als ein Ministerium und
deshalb experimentieren und auch Fehler machen können. Im Verhältnis
zum Anstaltsleiter ist der Präsident des Justizvollzugsamts eher ein
älterer Kollege, so daß ein unbefangenes Gespräch möglich ist. Die
Vollzugsämter stehen zudem auch weniger im Blickpunkt der Politik
und sind weniger als Ministerien dem Druck politischer Strömungen
ausgesetzt. Das erleichtert eine beständige und gleichmäßige Arbeit.

Die Praxis der Dienstaufsicht durch das Justizvollzugsamt


Art und Umfang der Dienstaufsicht in früherer Zeit und heute durch
eine große differenzierte Behörde sind kaum miteinander zu vergleichen.
Der einzige Dezernent bei der Generalstaatsanwaltschaft konnte nur ein
begrenztes Maß von Informationen über die Anstalten seines Bezirks
verarbeiten. Die Beziehung zwischen Aufsichtsbehörde und Anstalt war
durch große Distanz gekennzeichnet. Die Bereitschaft, Fehler innerhalb
des Systems festzustellen und damit zuzugestehen, war geringer als
heute. Interventionen der Aufsichtsbehörde waren selten. Für die
Anstaltsleiter ungewöhnlich, lösten sie oft leidenschaftliche Emotionen
aus. Heute dagegen gibt es einen ständigen, immer wieder auch kriti-
schen Dialog zwischen den verschiedenen Ebenen der Vollzugsverwal-
tung. Das zeigen die Mappen der täglichen Posteingänge und die
Abrechnungen über Fernsprech- und Telexgebühren. Die Dezernenten
kennen die Anstalten, außer den Anstaltsleitern auch die leitenden
Mitarbeiter und wenigstens diejenigen von den übrigen Mitarbeitern wie
von den Gefangenen, die als Sorgenkinder besonderen Arbeitsaufwand
verursachen.
Besteht auf diese Weise aber nicht die Gefahr, daß der Dezernent sich
zu sehr mit „seiner Anstalt" identifiziert, die Zustände dort kritiklos
gutheißt und vielleicht sogar Hemmungen entwickelt, von ihm erkannte
Mängel zu rügen. Die Besorgnis ist nicht völlig unbegründet. Sie gilt
aber nicht nur für den Vollzug, da jede Aufsichtsbehörde ja auch ihre
eigene Arbeit kontrolliert. Tatsächlich sind aber kritische Hinweise an
die Anstalten sehr viel häufiger als früher. Außerdem lassen sich Fehl-
entscheidungen durch Erörterungen im Vorfeld vermeiden.

Die Dienstauf sieht durch das Justizministerium


Trotzdem hält es das Justizministerium des Landes Nordrhein-West-
falen für notwendig, die Anstalten - zwar nicht wie für die Justizvoll-
zugsämter vorgeschrieben Jahr für Jahr flächendeckend - aber doch
schwerpunktmäßig zu besichtigen. Diese Besichtigungen haben eine
doppelte Wirkung. Einmal bekommen Vertreter des Justizministeriums
auf diese Weise einen unmittelbaren Eindruck von den Justizvollzugsan-
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 631

stalten. Außerdem schärft die Tatsache der Besichtigungen durch das


Ministerium den Blick der Beamten der Justizvollzugsämter. Die Ämter
möchten nicht gern vom Ministerium auf Fehler hingewiesen werden,
die sie übersehen haben. Doch gilt auch für das Justizministerium, daß
es seine eigene Arbeit kontrolliert. Tendenziell möchte es seine Grund-
satzentscheidungen bestätigt finden. Es mag der Zentrale nicht immer
leicht fallen zu hinterfragen, ob sich in einem langwierigen Entschei-
dungsprozeß erarbeitete Neuregelungen wirklich bewähren und ob
bewährte Regelungen bei sich schnell verändernden gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen heute noch gültig sind.

Dienstaufsicht über Justizvollzugsanstalten -


kein Thema wissenschaftlicher Erörterungen
In der zu einem breiten Strom angeschwollenen Literatur zum Straf-
vollzug wird das Thema der Dienstaufsicht kaum behandelt. Krebs, der
jahrzehntelang den hessischen Strafvollzug leitete, hat - soweit ich sehe -
niemals näher über diese Tätigkeit berichtet. Auch die ihm gewidmete
Festschrift würdigt ihn in dieser Rolle nicht19. In Helga Einseies Bericht
über ihre Arbeit im Vollzug20 finden sich allerdings Hinweise auf ihre
Beziehung zu den Aufsichtsbehörden. Ihre Erfahrungen hängen eng mit
den Personen zusammen, die in für die Entwicklung ihrer Anstalt
wichtigen Jahren in den Aufsichtsbehörden tätig waren: Fritz Bauer und
Albert Krebs. Trotzdem ergibt sich aus ihren knappen Bemerkungen,
daß sie die Neuerungen in eigener Verantwortung, unter wohlwollender
Beobachtung durch die Aufsichtsbehörden einführte. Meine eigenen
Erfahrungen als Leiter einer sozialtherapeutischen Anstalt waren ähn-
lich21. In beiden Fällen handelte es sich freilich um besondere Anstalten.
Frau Einsele hatte sich das Ziel gesetzt, dem in Deutschland vernachläs-
sigten Frauenvollzug ein eigenes menschlicheres Gesicht zu geben, die
sozialtherapeutischen Anstalten haben den gesetzlichen Auftrag, neue
Formen des Vollzuges zu entwickeln. Eine Aufsichtsbehörde muß dage-
gen alle Einrichtungen des Bezirks im Blick behalten. Die gleichmäßige
kontinuierliche Entwicklung aller Anstalten wird ihr deshalb wichtiger
sein als Neuerungen in einer einzelnen, wenn von vornherein feststeht,
daß sie sich auf die anderen kurzfristig nicht übertragen lassen. Uberein-

19 Heinz Miiüer-Dietz (Hrsg.) Freiheitsentzug - Entwicklung von Praxis und Theorie


seit der Aufklärung - von Albert Krebs, Berlin 1978; dort nur eine knappe Bemerkung in
dem Beitrag „Lothar Frede, Leiter des Gefängnisses in Thüringen von 1912-1933" S. 242;
Busch/Edel (Hrsg.) Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug, Neuwied 1969.
20 Helga Einsele / Gisela Rothe, Frauen im Strafvollzug, Reinbek 1982, S.29, 42 f, 71.

21 Rotthaus, Die Zusammenarbeit zwischen Oberbehörde und Sozialtherapeutischer


Anstalt, ZfStrVo SH Sozialtherapie und Behandlungsforschung, S. 18 ff.
632 Karl Peter Rotthaus

stimmend findet sich in beiden Berichten die Erkenntnis, daß es mög-


lich, aber auch notwendig ist, der Aufsichtsbehörde aufrichtig und offen
zu berichten. Der Versuch, eine Anstalt gegen die Aufsichtsbehörde zu
reformieren, kann nicht gelingen.
Recht ausführlich, wenn auch skeptisch und kritisch, befaßt sich
Koepsel in seiner Erläuterung zu § 151 StVollzG mit Fragen der Dienst-
aufsicht22. Er bezweifelt, daß die Aufsichtsbehörden der Verpflichtung
nach Nr. 1 Abs. 1 W zu § 151 StVollzG gerecht werden können, „stets
über den gesamten Vollzug unterrichtet" zu bleiben. Zum Beleg kann er
in schonender Zurückhaltung darauf hinweisen, „daß die Aufsichtsbe-
hörden von deutlichen Fehlentwicklungen im Vollzug ( z . B . Hamburg,
Köln, Mannheim) stets ,überrascht' wurden" 23 . Böhm empfiehlt den
Aufsichtsbehörden Zurückhaltung und Beschränkung „auf die Rahmen-
planung und Globalsteuerung" des Vollzuges. Er stellt dabei die Frage,
„ob es zulässig und richtig ist, wenn Nr. 4 W zu § 11 und Nr. 7 Abs. 3
zu § 1 3 Lockerungen und Urlaub bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe
Verurteilten von der Zustimmung der Aufsichtsbehörde abhängig
machen" 24 . Die Rechtsfrage ist inzwischen hinreichend geklärt. Die
Aufsichtsbehörde hat kein „Selbsteintrittsrecht", kann also nicht anstelle
des Anstaltsleiters handeln, wohl aber diesen anweisen, in einem
bestimmten Sinne zu entscheiden (Durchgriffsrecht) 25 . Diese Differen-
zierung hat eher prozessuale Bedeutung für die Zuständigkeit der Straf-
vollstreckungskammer. Sachlich ist die Frage zu beantworten, ob das
von Böhm abgelehnte Erfordernis der Zustimmung der Aufsichtsbe-
hörde, das im Wege von Richtlinien in Nordrhein-Westfalen noch auf
weitere Risikogruppen von Gefangenen ausgedehnt wurde, sinnvoll zu
begründen ist. Dabei ist zunächst einzuräumen, daß Aufsichtsbehörden
die Zweckmäßigkeit von einzelnen Behandlungsmaßnahmen aus der
Ferne weniger gut beurteilen können als die Behandler in der Anstalt,
die den Gefangenen persönlich kennen. Die durch das Zustimmungser-
fordernis bewirkte Kontrolle kann die Anstalt aber dazu zwingen, ihre
Entscheidung sorgfältig abzuwägen und zu begründen. Die Verteilung
der Verantwortung auf mehrere Schultern bedeutet zugleich einen
Schutz des Anstaltsleiters gegenüber Angriffen der Öffentlichkeit bei
Fehlschlägen von Lockerungen. Eine sachliche Hilfe kann die Regelung
in den Fällen sein, wo die Behandler durch den Gefangenen unter Druck
gesetzt werden oder wo sie sich selbst unter Erfolgszwang setzen, wenn
z . B . frühe Lockerungen als Behandlungserfolg mißverstanden werden.

22 in: Schwind/Böhm (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz.


23 Rdn.8 zu §151.
24 Böhm, Strafvollzug, Frankfurt 1979, S. 42.
25 Koepsel a.a.O. Rdn.5 zu §97, Rnd.2 vor §§151 ff.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 633

Die Schwierigkeit, Behandlung zu beaufsichtigen


Zwischen nachgeordneten Behörden und Aufsichtsbehörden besteht
ein natürliches Spannungsverhältnis. Nachgeordnete Behörden halten
die aufsichtliche Tätigkeit meist für entbehrlich, während Aufsichtsbe-
hörden immer wieder bestätigt finden, daß sie durch ihre Intervention
das Schlimmste gerade noch verhindern konnten. Die Spannungen ver-
schärfen sich, wenn die Arbeit der beiden Ebenen unterschiedliche
Inhalte hat. Die Vollzugsanstalten sind hier neben Schulen ein typisches
Beispiel, sie haben es eher mit Menschenbehandlung, die Aufsichtsbe-
hörden eher mit Aktenvorgängen zu tun. Koepsel spricht deshalb von
einem „Unbehagen hinsichtlich der Tätigkeit der Aufsichtsbehörden",
das bei einem großen Teil der Bediensteten in den Justizvollzugsanstal-
ten vorhanden sei und das er auf grundlegende Strukturmängel der
Aufsichtsbehörden, die Vorherrschaft juristischer Kontrolle und die
Vernachlässigung helfender Fachberatung, zurückführt 26 . Ich zögere,
dieser Annahme zuzustimmen. Als Anstaltsleiter habe ich mich zwar
ebenfalls öfter erfolglos um Hilfen durch die Aufsichtsbehörde bemüht.
Im Nachhinein kam ich dann meist zu dem Ergebnis, daß es richtiger
war, die Lösung auf der Ebene der Anstalt zu suchen. Freilich gibt es in
den Anstalten - besonders in denen, die sich auf therapeutische Behand-
lung hin orientieren - Konflikte, die sich intern nicht lösen lassen. Es
treten dort störende Interaktionen auf zwischen den beteiligten Perso-
nen - Leiter, Mitarbeiter und Gefangenen - , die so fein gesponnen sind,
daß sie sich von der Leitung nicht klären lassen. Hier kann, weil
Amtsautorität hinderlich ist, auch ein Fachberater der Aufsichtsbehörde
nicht helfen. Das Team der Anstalt braucht Supervisión, eine fachliche
Beratung von außerhalb des Behördensystems 27 .

Die parlamentarische Verantwortung für den Strafvollzug


Obwohl die Aufsicht über die Justizvollzugsanstalten vielschichtig
und schwierig ist, kommt ein Verzicht auf sie und die Beschränkung der
Kontrolle auf den Rechtsweg nach § 109 StVollzG nicht in Betracht. Das
ergibt sich aus § 151 Abs. 1 StVollzG, der den Landesjustizverwaltungen
diese Aufgabe überträgt, aber auch aus der parlamentarischen Verant-
wortung des Ministers für sein Ressort nach Art. 55 Abs. 2 LV NW 28 .

26 a.a.O. Rdn. 20 zu § 151; Zu demselben Ergebnis kommt das ,Committee of Inquiry


into the United Kingdom Prison Services' in dem sogenannten May-Report, London 1979,
S. 75 f f : many ofthose employed in the Service feel a deep sense of dissatisfaction grown
up hetween the establishments in the field on the one hand and headquarters at the Home
O f f i c e in London on the other" (S. 76).
27 Driehold u.a., Die Sozialtherapeutische Anstalt, Göttingen 1984, S.94ff.
28 Rotthaus in: Schwind/Böhm, Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, Rdn. 6 zu §156.
634 Karl Peter Rotthaus

Diese verfassungsmäßige Vorgabe ist eine Realität, nicht eine bloß


theoretische Möglichkeit. Ein Gefängnisskandal kann den Chef der
Justizverwaltung eines Bundeslandes nach den Erfahrungen der Vergan-
genheit eher gefährden als fehlerhafte Tätigkeit der Anklagebehörden.
Die Schwierigkeit und Vielschichtigkeit des Problems steht in merkwür-
digem Gegensatz zu seiner spärlichen Behandlung in der Literatur. Die
streitigen Erörterungen in der Strafvollzugskommission beschränkten
sich im wesentlichen auf die Frage, ob es einer Mittelbehörde bedürfe
und ob es geboten sei, die in den preußischen Nachfolge-Ländern
überkommene Eingliederung der Vollzugsämter in die Generalstaatsan-
waltschaften aufzugeben. Die Tagungsberichte2' vermitteln den Ein-
druck eines Schlagabtausches unter Juristen. Obwohl es auch damals
Länder mit und ohne Mittelbehörde gab, werden die Auswirkungen
dieser unterschiedlichen Organisation von Aufsicht nicht deutlich.
Gewiß, der Untersuchungsgegenstand ist schwierig, doch zeigt der
Bericht der Mzj-Kommission, daß er sich untersuchen und darstellen
läßt. Die Untersuchungskommission hat die Mängel der Tätigkeit der
zentralen englischen Aufsichtsbehörde anschaulich dargestellt und
äußerst kritisch gewürdigt30. Reformvorschläge beginnen folgerichtig
mit Anregungen für eine neue Organisation der Aufsichtsbehörden,
unter denen als eine mögliche Lösung die Empfehlung einer Stärkung
der Mittelinstanzen, der Regional Offices, bemerkenswert ist31.

Die Dienstaufsicht durch eine unabhängige Stelle


Verfolgt man den Gedanken, daß eine unabhängige Stelle den Vollzug
beaufsichtigen soll, konsequent weiter, so gelangt man zu der Forde-
rung, die Besichtigung der Justizvollzugsanstalten - nach englischem
Vorbild - einem Chef-Inspekteur des Vollzugswesens zu übertragen.
Auf diese Weise lassen sich Vollzugsgestaltung und Kontrolle vollstän-
dig trennen. Der Chef-Inspekteur muß dann nach Qualifikation und
Besoldung dem Leiter der Vollzugsabteilung gleichstehen und wie dieser
Zugang zum Minister haben32. Damit der Chef-Inspekteur die Anstalten
wirksam kontrollieren und Anregungen für die Fortentwicklung des
Vollzuges geben kann, muß er mit seinen Mitarbeitern einen großen Teil
der Informationen verarbeiten, die von der Vollzugsabteilung bereitge-
halten werden. Diese Organisation der Aufsicht ist sehr aufwendig und
deshalb nicht empfehlenswert. Eine andere Lösung, die eine unabhän-

29 Anm.l.
50 Anm. 26, Kap. 5 Organisation S. 74 ff.
31 a.a.O. S. 99 Nr. 573.
32 a.a.O. S. 92 ff.
Justizvollzugsämter im Lande Nordrhein-Westfalen 635

gige Kontrolle sicherstellt, ist die unter anderem von K e r n e t vorge-


schlagene Einführung eines Ombudsmans für das Vollzugswesen. Auch
eine solche Erweiterung des Kontrollsystems wäre jedoch mit erheb-
lichem zusätzlichen Aufwand verbunden. Zur Zeit befassen sich in
Nordrhein-Westfalen bereits zwei parlamentarische Ausschüsse, der
Eingabenausschuß und der Rechtsausschuß, regelmäßig mit Vollzugsan-
gelegenheiten. Die Einführung eines Ombudsmans, eines parlamentari-
schen Beauftragten für den Vollzug, erscheint mir deshalb nur dann
sinnvoll, wenn bei ihm die parlamentarische Behandlung von Einzelfra-
gen aus diesem Sachgebiet zusammengefaßt würde. Eine entsprechende
Ausgestaltung des verfassungsmäßig garantierten Petitionsrechts dürfte
durch Gesetz möglich sein, wenn die abschließende Behandlung der an
die Volksvertretung gerichteten Eingaben durch diese sichergestellt
bleibt und der Ombudsman insoweit nur Vorarbeit leistet. Es wären
freilich große organisatorische Umschichtungen erforderlich, die den
Abschied von vertrauten und in der Praxis bewährten Einrichtungen und
Verfahrensweisen bedeuten. Doch sollte die erfolgreiche Arbeit des
Wehrbeauftragten dazu ermutigen, über diese Möglichkeiten nachzu-
denken.

Ausblick
Die vorstehenden Überlegungen sind zwangsläufig fragmentarisch,
weil es an Vorarbeiten fehlt. Die Regelung der Dienstaufsicht im Justiz-
vollzug ist aber keine bedeutungslose Randerscheinung, sie verdient die
Aufmerksamkeit empirischer Untersuchung und kritische Würdigung.
Zum einen ist die bestmögliche Nutzung der beschränkten personellen
und sachlichen Mittel im Vollzug von einer planmäßigen überörtlichen
Steuerung abhängig. Zum anderen hat die Aufsichtsbehörde den gesetz-
lichen Auftrag, die Respektierung der Rechte der Gefangenen zu ge-
währleisten.

33
Kerner, in: Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug, 3. Aufl., Heidelberg 1982, §8
R d n . 5 , §12 Rdn.10.
IV.
Strafrecht
Die integrierende Lehre vom Tatbestand
I G O R ANDREJEW

I.
Karl Peters hat einmal darauf verwiesen, daß die Lehre vom materiel-
len Strafrecht sich immer mehr von den Prozeßfragen entfernt1. Dies
bezieht sich vorab auf die deutsche Wissenschaft. Aber es betrifft
ebenfalls die Theorie des Strafrechts in allen Ländern Osteuropas, wo
sich der Einfluß der deutschen Doktrin geltend machte, darunter auch in
Polen, wo ich diese Gedanken niederschreibe2. Die Zersplitterung der
Lehre vom Strafrecht in zwei Disziplinen (und sogar in drei, wenn der
Strafvollzug hinzukommt) tritt durch die Gründung getrennter Lehr-
stühle mit Fachkundigen, die wenig Interesse daran finden, was in
Nachbardisziplinen vor sich geht, immer mehr in Erscheinung. Zwi-
schen der Lehre vom materiellen Recht und der Lehre vom Prozeß kam
es zur Spaltung, die die Grenzen einer vernünftigen Spezialisierung bei
weitem überschreitet.
Es sei daran erinnert, daß viele strafrechtliche Probleme nicht gehörig
beleuchtet werden können, falls ihren sowohl prozessualen als auch
materiellen Aspekten nicht gebührende Beachtung geschenkt wird.
Zahlreiche Beispiele liefert die Fachliteratur aus verschiedenen Ländern.
Es fällt aber auch nicht schwer, Beispiele für die integrierende Erfassung
vieler Institutionen zu finden. Ein hervorragendes Vorbild eines solchen
Herangehens an die Institution des Strafrechts liefert das Schaffen von
Hilde Kaufmann, und ganz besonders ihre Monographie „Strafanspruch
- Strafklagrecht", herausgegeben 1968 in Göttingen.
In letzter Zeit trat ein weitergehendes Phänomen zutage, nämlich das
integrierende Herangehen nicht nur an die einzelnen Institutionen,
sondern auch an die allgemeinen Hauptbegriffe des Strafrechts wie
Verbrechen, Handlung, Schuld, Strafe. Man kann die Feststellung
wagen, daß es bereits Anzeichen einer Wende in der strafrechtlichen

1
K.Peters: Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, 1963 („Recht und
Staat").
2
Das Problem der Desintegration der Lehre vom materiellen und prozessualen Straf-
recht habe ich in einem Aufsatz unter diesem Titel in der poln. Monatsschrift „Staat und
Recht" 12/1984 behandelt.
640 Igor Andrejew

Denkweise sind3. Wir lassen uns nicht mehr mit der Behandlung des
Strafrechts als einer Gesamtheit von Gedanken- oder Seinsstrukturen
zufriedenstellen. Wir wollen wissen, wie Bestimmungen und Institutio-
nen dieses Rechts funktionieren, wie und mit welchem Erfolg sie
angewendet werden. Ein solches Herangehen ließe sich als dynamisch
bzw. dialektisch bezeichnen, unter Berücksichtigung dessen, daß es mit
der prozessualen Praxis eine Bindung nicht nur im Sinne des Inhalts von
rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, sondern auch im Sinne des
Weges, den die Entscheidung im Strafverfahren durchläuft, bevor sie
rechtskräftig wird, aufweist. Ein Beispiel für ein solches Herangehen ist
die Theorie des gesetzlichen Straftatbestands, die die Aspekte des mate-
riellen und des prozessualen Rechts integriert, kurzum - die integrie-
rende Theorie des Straftatbestands. Die Grundthese dieser Theorie
lautet: Der gesetzliche Tatbestand bestimmt, worin der Deliktstypus
dieser oder jener Art besteht; somit bestimmt er, welche Sachverhalte im
Strafverfahren zu beweisen sind, sollte die Verurteilung wegen eines
solchen Delikts erfolgen. Dieser Beweisaspekt der Tatbestandsmerkmale
ist in Betracht zu ziehen, sowohl dann, wenn es um die Formulierung
des Begriffs des gesetzlichen Tatbestands geht, als auch dann, wenn die
Gesetzgebungspraxis untersucht wird, die in der Formulierung der
gesetzlichen Tatbestandsmerkmale besteht, und letztlich auch dann,
wenn die Anwendung der Strafrechtsvorschriften in der Praxis der
Verfolgungs- und Justizorgane unter die Lupe genommen wird4.

3 Vgl. K. Lüderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts, ZStW 85 (1973).


W.Naucke: Grundlinien einer rechtsstaatlich-praktischen allgemeinen Straftatlehre, 1979.
H.Jäger, Subjektive Verbrechensmerkmale als Gegenstand psychologischer Wahrheitsfin-
dung, in: Kriminologie im Strafprozeß, 1980. G.Arzt, Der Einfluß von Beweisschwierig-
keiten auf das materielle Strafrecht, in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart, 1980.
K. Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, 1984.
4 Die Konzeption solcher integrierenden Lehre vom Tatbestand wurde in der Mono-

graphie von I. Andrejew, Gesetzliche Tatbestandsmerkmale, Warschau 1959, umrissen. In


der Zusammenfassung dieses Buches in deutscher Sprache (S. 259) sind folgende Sätze zu
finden: „Die gesetzlichen Merkmale bestimmen, welche Eigenschaften ein Ausschnitt der
konkreten Wirklichkeit aufweisen muß, um als ein Verbrechen (Vergehen) gemäß dieser
oder jener Vorschrift des Strafgesetzes qualifiziert werden zu können." „In der Praxis
besteht die Bedeutung der Merkmale einer Straftat darin, daß sie im Strafgerichtsverfahren
bewiesen werden müssen." Vgl. denselben Autor: Erkennung des Tatbestands (poln.),
Warschau 1968. Zur Integrierung der Lehre vom materiellen Recht mit den Prozeßproble-
men vgl. auch I. Andrejew, Entwicklung der Lehre vom Tatbestand des Verbrechens in
sozialistischen Ländern, Archivum Iuridicum Cracoviense, Vol. X I X / X V . Text der
ursprünglich am 27.10.1978 im Max-Planck-Institut in Freiburg gehaltenen Vorlesung.
Integrierende Lehre vom Tatbestand 641

II.
Auf der erwähnten Grundthese fußend, gelangt man zur Stellung-
nahme zu zahlreichen, in der Vergangenheit des öfteren umstrittenen
Fragen. Es fällt z.B. der Begriff des allgemeinen Tatbestands ab, der
noch im XIX. Jahrhundert so lebhaft erörtert wurde. Heute wird nur
vom besonderen Tatbestand gesprochen, d. h. von den nach der gesetzli-
chen Bestimmung der erkennbaren Straftat zu beweisenden Sachverhal-
ten. Dieser Begriff ist nötig sowohl in der Rechtssetzung wie auch in der
Rechtsanwendung. Sein Hauptanliegen ist eine derartige Sensibilisierung
des Gesetzgebers auf die Formulierung des von ihm zu verabschieden-
den Gesetzes, daß diese auf den Umfang der Designate nach Möglichkeit
eindeutig hinweist. Der gesetzliche Tatbestand ist für denjenigen ver-
bindlich, der ihn im konkreten Tatgeschehen erkennt. Wichtig ist für
beide, sich im klaren zu sein über den Unterschied zwischen den im
Sinne des Gesetzes feststellbaren Wirklichkeitsmerkmalen und anderen
Tatsachen, die womöglich ebenfalls sehr bedeutend, aber im Gesetz
nicht bestimmt sind.
Aus der Grundthese ergibt sich, daß Rechtswidrigkeit und Schuld
zum Tatbestand nicht gehören. Rechtswidrigkeit und Schuld werden
indirekt festgestellt, indem der gesetzliche Tatbestand festgestellt wird,
falls zugleich Umstände, die die Rechtswidrigkeit (z. B. Notwehr) oder
Schuld (z. B. Befehl des Vorgesetzten) ausschließen, nicht nachzuweisen
sind.
In diesem Zusammenhang sei die Konzeption der sog. negativen
Tatbestandsmerkmale erwähnt, die in der Fachliteratur zu Recht kriti-
siert wird 5 . Die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließenden Gründe
werden nur in bestimmten Fällen erkannt, die Tatbestandsmerkmale -
immer.
Die Bewußtmachung des Situationsunterschiedes, wann die gesetzli-
chen Tatbestandsmerkmale zu beweisen sind und wann die Umstände,
die Rechtswidrigkeit und Schuld ausschließen, verweist auf die Unver-
hältnismäßigkeit zwischen der praktischen Bedeutung des Tatbestandes
und diesen Sonderumständen. Diese UnVerhältnismäßigkeit wird spür-
bar, wenn man bestrebt ist, in der verbreiteten deutschen Triade Tatbe-
stand - Rechtswidrigkeit - Schuld die aufeinander folgenden Phasen der
Verbrechenserkennung zu sehen. Meistens nämlich kommt der Nach-
weis der Verwirklichung des Tatbestandes der Feststellung der Tat-
rechtswidrigkeit und Täterschuld gleich. In der Praxis erfolgt der

5 Vgl. die wissenschaftliche Kritik an dieser Konzeption in der Monographie von H.J.

Hirsch: Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960.


642 Igor Andrejew

Schuldnachweis gleichzeitig mit der dem betreffenden Menschen6 zuge-


rechneten Tatbestandsverwirklichung.
Es ließe sich die Frage stellen, ob unter dem gesetzlichen Tatbestand
lediglich die äußerliche Charakteristik der Strafhandlung zu verstehen
wäre, oder auch die dem Täter zuzumutenden psychischen Tatsachen.
Es dürfte keinen Zweifel geben, daß zu den gesetzlichen Tatbestands-
merkmalen diejenigen gehören, die die in den Sonderbestimmungen des
Gesetzbuches verankerten psychischen Tatsachen bestimmen, z.B.
Zueignungsabsicht nach §242 StGB der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn es hingegen um allgemeine Formeln geht, die dolus und sonstige
sog. Schuldformen charakterisieren, so sei betont, daß sie nicht in jedem
Rechtssystem gesetzlich bestimmt sind. Ohne weiter zu greifen: Solche
allgemeinen Formeln sind im österreichischen Strafgesetzbuch (§§5, 6)
verankert, nicht aber im StGB der Bundesrepublik Deutschland, wo ihre
Bestimmung der Rechtsprechung und der Doktrin überlassen ist. Der
Unterschied in den Gesetzbüchern dürfte nach dem Grundsatz, daß die
Funktion des gesetzlichen Tatbestands in der Sensibilisierung auf das
Gesetz liegt, keinesfalls übergangen werden.
Weiter: Falls in den Vorschriften des Gesetzbuches die Bestimmung
der sog. Schuldformen verankert ist, gibt es keinen Grund dafür, von
den Tatbestandsmerkmalen solche auszuschließen, die sich aus derarti-
ger Bestimmung in Verknüpfung mit der Bestimmung der äußerlichen
Deliktseite ergeben. Daß die Bestimmungen der Schuldform „vor die
Klammer", die den besonderen Teil des Gesetzbuches umfaßt, gesetzt
werden, gehört zur legislativen Technik, die nicht darüber zu entschei-
den hat, ob eine Tatsache Tatbestandsmerkmal ist, sofern diese Tatsa-
chen im Strafverfahren zu beweisen sind.
Die Tatbestandsmerkmale sind ein dankbarer Gegenstand der Klassi-
fizierung. Man kann sie in zahlreiche Arten gliedern. Vom Standpunkt
der Straftatbestimmtheit aus dürfte am wesentlichsten die Gliederung in
scharf umrissene Merkmale sein und in jene, die flexibler umrissen sind,
je nach Einschätzung der deutenden bzw. gesetzanwendenden Person.
Eine solche Gliederung ist selbstverständlich relativ: selbst ein anschei-
nend am schärfsten umrissenes Merkmal wie z.B. „Mensch" (der in der
Regel in der Vorschrift über Tötung vorkommt) hört auf, scharf zu sein,
wenn es um die Grenze zwischen „Mensch" und „Leibesfrucht" geht.

6
In dieser Wahrnehmung dürfte man eine Art Anlehnung an die verklungene psycho-
logische Schuldtheorie sehen. Dies wäre allerdings nur scheinbar. Der Verfasser des
vorliegenden Aufsatzes ist für das prozessuale Verständnis der Schuld als Vorwerfbarkeit
der Tat, die die gesetzlichen einer konkreten Person zugerechneten Tatbestandsmerkmale
verwirklicht. Gemeinsam mit sog. die Schuld ausschließenden Umständen entfällt die
Vorwerfbarkeit der zugerechneten Tat.
Integrierende Lehre v o m Tatbestand 643

Im Hinblick auf den vom Tatbestand erfaßten Stoffumfang sind


solche Merkmale auszusondern, die das Schutzobjekt bestimmen,
andere, die die äußerliche Seite der Straftat, ferner solche, die deren
Subjekt, und nicht zuletzt solche, die dessen psychische Seite umreißen.
Während das Schutzobjekt nicht immer im Gesetz bestimmt wird (in der
Vorschrift selbst bzw. im Gesetztitel), werden andere Merkmalsarten in
der Regel mehr oder weniger bestimmt.

III.
Die Verbindung des Tatbestands mit der Praxis umfaßt sowohl die
Gesetzgebungspraxis als auch die Strafverfolgungs- und Justizpraxis. In
der Gesetzgebungspraxis macht sich dieser Zusammenhang bei der
Typisierung der Straftat, d. h. bei der Wahl der Tatbestandsmerkmale
zur Beschreibung der Straftat bemerkbar. In der Strafverfolgungs- und
Justizpraxis erfolgt die Erkennung des gesetzlichen Tatbestandes im
konkreten Ereignis. Diese Erkennung beruht auf der Subsumtion der
Tat unter die Vorschrift des Strafgesetzes, oder - wird der Fall nicht von
der Seite des Gesetzes, sondern des konkreten Tatgeschehens her
betrachtet - auch auf der Zuordnung der Tat zum Tatbestand. Die
Subsumtion oder eine solche Zuordnung wird auch in anderen Sprachen
die juridische Qualifizierung der Tat genannt7. Um Mißverständnisse zu
vermeiden, werde ich die Termini Typisierung und Subsumtion gebrau-
chen.
Die Fragen der Typisierung sind recht unterschiedlich. An Beispielen
der Gesetzgebung in verschiedenen Ländern könnte man Wahrnehmun-
gen sammeln, welche Argumente verwendet werden, um diese oder jene
Erfassung der Deliktstypisierung zu verwenden, z . B . bei Totschlag,
Körperverletzung, Diebstahl, Betrug, Erschleichung einer Leistung und
ähnliches mehr. Im vorliegenden Aufsatz gibt es allerdings keinen Platz
für solche allgemeinen Bemerkungen 8 .
Indessen halte ich es für angebracht, zwei wesentliche Voraussetzun-
gen für eine gute Typisierung hervorzuheben: zum ersten - die Typisie-
rung hat darauf zu verweisen, worin das Verbrechen besteht; und zum
anderen - die Straftat soll so bestimmt werden, daß die Beweisführung in
einem redlich durchgeführten Strafverfahren möglich ist.

7 Das W o r t Qualifikation wird in diesem Sinne unter anderem in französischer und

polnischer Sprache verwendet. In deutscher Sprache dagegen wird das W o r t Qualifizie-


rung, wie es scheint, lediglich im Sinne des qualifizierten Typus, d . h . eines mit einer
strengeren Strafe im Hinblick auf zusätzliche Merkmale im Vergleich zum Grundtypus
bedrohten Deliktstypus gebraucht.
' Dieser Fragenkreis verfügt über eine umfangreiche Fachliteratur zu einzelnen
Deliktsarten. Vgl. z. B. A. Eser zur Abgrenzung von Mord, Totschlag und Kindestötung
in seinem Gutachten D zum 53. Deutschen Juristentag, 1980.
644 Igor Andrejew

Die theoretische Erarbeitung der Typisierung schafft Grundlagen für


die Einschätzung der Deliktstypen aus der Sicht ihrer Bestimmtheit.
Nebst den gebührendermaßen bestimmten und sogar übertrieben steifen
Deliktstypen kommen mittlerweile sehr flexible und manchmal gar
ungenügend bestimmte vor. Somit gibt es traditionelle, aus der Vergan-
genheit ererbte und gegebenenfalls so an Interpretation reich gewordene
Deliktstypen, daß der Umfang ihrer Designate keinem Zweifel unter-
liegt. Selbstverständlich kann sich der Umfang dieser Typen je nach
Bedarf der Strafpolitik verändern. Es kommen neue Typen hinzu, deren
Umfang wenig überschaubar und deren Interpretation noch nicht festge-
legt ist. Offensichtlich sind in der Strafgesetzgebung eines jeden Landes
Beispiele für unterschiedlich bestimmte Deliktstypen zu finden.
Diese Beispiele dürften zu der Überlegung bewegen, welche die
Ursachen für eine derart unterschiedliche Bestimmtheit sind. Sie kann
sich aus politischen Gründen ergeben, aber die Ursachen dafür können
auch in ungenauer Arbeit oder in den eigenartigen Schwierigkeiten, die
bei der Typisierung auftreten, liegen. Diese Schwierigkeiten haben zur
Folge, daß die Verfasser der Gesetze, um der übertriebenen Kasuistik
nicht zu verfallen, auf die Bestimmung der Folge als Tatbestandsmerk-
mal einer vollendeten Tat verzichten. Fällt die synthetische Erfassung
der Tatfolge schwer oder ist es nicht völlig klar, worauf die Straftat-
schädlichkeit beruht, wenn die Tatauswirkung im Bereiche der feinfühli-
gen, in der Rechtssprache schwerlich auszudrückenden Empfindlichkeit
des Geschädigten liegt, kann der Gesetzgeber dazu greifen, die Straftat
als ein formelles oder ein Gefährdungsdelikt zu erfassen 9 .
Geht es um die zweite Voraussetzung, so kann festgestellt werden,
daß für ihre Erfüllung die Gründer der Strafgesetzbücher sorgten, sie
war auch die Anregung zur Entstehung mancher Vorschriften. Ein
klassisches Beispiel für den Deliktstypus, der in das Gesetzbuch in
Voraussicht der Schwierigkeiten bei der Uberführung eines Hehlers, daß
er sich dessen bewußt war, daß die von ihm erworbenen Güter vom
Verbrechen herrühren, eingeführt wurde, ist die fahrlässige Hehlerei.
Die Typisierung ist gleichbedeutend mit der Kriminalisierung im
Sinne der Entscheidung der Staatsmacht, deren Inhalt die Bestimmung
einer Verhaltensweise als Verbrechen oder Vergehen ist. Aber Typisie-
rung und Kriminalisierung sind keine Synonyme. Ein neues Gesetz kann
eine Tat, bereits als Straftat bezeichnet, typisieren, aber es kann auch
anders typisieren. Es kann die mehr kasuistischen Bestimmungen durch
eine mehr synthetische Vorschrift ersetzen. U n d umgekehrt: Die einen
weiteren Kreis von Designaten umfassende Vorschrift kann durch eine

' Vgl. L. Gardocki, Vereinfachte Typisierungsformen, in der Sammlung „Probleme der


Straftatentypisierung", Warschauer Universität „Studia Iuridica", Vol. 10/1982.
Integrierende Lehre vom Tatbestand 645

mehr kasuistische Typisierung ersetzt werden. Mit anderen Worten: Die


Typisierung (oder Enttypisierung) kann mit neuer Kriminalisierung
(oder Entkriminalisierung) in Erscheinung treten; dies kann allerdings
auch bei nicht veränderter Kriminalisierung geschehen.
Welche sind die häufigsten Gründe für eine neue Typisierung? Einige
dieser Gründe lassen sich verhältnismäßig leicht anführen. Natürlicher-
weise kann zu solchen Ursachen die Entscheidung über eine neue
Kriminalisierung gehören. Aber die Aussonderung einer Tatgruppe in
Form eines neuen Deliktstypus kann sich auch aus der (wirklichen oder
angeblichen) Notwendigkeit ergeben, in der Rechtsprechungspraxis eine
besondere Deliktsart zu verdeutlichen und deren härtere (oder mildere)
Strafbarkeit herbeizuführen, sowie nicht zuletzt aus der Notwendigkeit
heraus, diese Tatgruppe mit einer gesonderten juridischen Zuordnung
zu erfassen sowie sie in Statistiken, Repertorien usw. einzutragen.
Die Strafgesetzgebung Kontinentaleuropas ist heutzutage im allgemei-
nen mehr synthetisch als vor zwei oder anderthalb Jahrhunderten. In der
Strafrechtsdoktrin wurde seinerzeit eine umfangreiche Argumentation
gegen die übermäßige Kasuistik der Strafgesetzbücher entwickelt. Heute
kommen auch umgekehrte Vorgänge vor, zumal manche Deliktstypen
schwerlich synthetisch erfaßbar sind und dadurch entweder in einige
parallele bzw. qualifizierte und privilegierte Deliktstypen gegliedert
sind, oder auch sie werden in einer gesetzlichen Vorschrift mit alternativ
bestimmten Tatbestandsmerkmalen verankert. Das bundesdeutsche
Gesetzbuch von 1975 hat noch eine Typisierungsart aufgenommen: sog.
Regelbeispiele besonders schwerer Fälle. Aus Platzmangel kann ich mich
nicht in eine detaillierte Einschätzung dieses Typisierungsverfahrens
einlassen.

IV.
Die Klarheit über die Zusammenhänge zwischen Straftattypizität und
der Erkennungspraxis der Tatbestandsmerkmale, die durch die Tatzu-
ordnung zur Gesetzesvorschrift gekrönt wird, läßt eine nüchternere
Einsicht in das Funktionieren dieser Typizität und der sie bildenden
Merkmale zu. Heute begnügen wir uns nicht mehr mit der Feststellung,
daß die Subsumtion sich auf den Syllogismus zurückführen läßt. Wir
interessieren uns für den Subsumtionsmechanismus, d. h. für die kom-
plizierten Denktätigkeiten, die letzten Endes darauf schließen lassen,
daß eine bestimmte Straftat begangen worden ist. Und in diesem Denk-
operationenablauf kompliziert ist sowohl die Wahl der Vorschrift wie
auch die Klarstellung des Sachverhalts, wobei, ähnlich wie die Vor-
schriftswahl mit der fortschreitenden Erkenntnis des Sachverhalts
erfolgt, es zur Präzisierung des Sachverhalts kommt, oder mit anderen
646 Igor Andrej ew

Worten zu dessen vereinfachter Beschreibung unter dem Blickwinkel


einer oder mehrerer Vorschriften, die die Straftat bestimmen. Wir
können sagen, daß die Straftatzuordnung eine solche Annäherung der
Gesetzesvorschrift und der vereinfachten Tatgeschehensbeschreibung
bedeutet, daß die beiden Elemente (Vorschrift und Beschreibung) so
sehr einander entsprechen, daß die in beiden verwendeten Wörter
Synonyme oder gar die gleichen sind.
Der enge Rahmen meines Referats erlaubt mir nicht, die Problematik
der juridischen Zuordnung zum gesetzlichen Tatbestand weiterzuent-
wickeln. Ihr Bereich ist äußerst umfangreich. Sie betrifft sowohl die
Eigenart der Erkennung verschiedener Tatbestandskategorien wie auch
die Unterschiede bei ihrer Erkennung in den aufeinander folgenden
Phasen des Strafverfahrens. Einen besonderen Platz in der Zuordnungs-
theorie nehmen die Sonderarten der Subsumtion in Fällen sogenannter
Idealkonkurrenz ein oder wenn die Zulässigkeit der Wahlfeststellung
erwogen wird. Bemerkenswert ist ebenfalls eine merkwürdige Erschei-
nung, die ich „Abgleiten" der Subsumtion von der strengeren Vorschrift
auf eine mildere nenne, die scheinbar u. a. dazu bestünde, um die
Anwendung zu finden, wenn das Ausschöpfen der in der strengeren
Vorschrift bestimmten Tatbestandsmerkmale nicht zu beweisen ist10.
Vom umfassenden Fragenkreis des Subsumtionsumfangs möchte ich
noch ein Problem herausgreifen, das bereits in der Fachliteratur reichlich
behandelt wurde 11 ; es geht nämlich um die Erkennung der psychischen
Vorgänge, die das ausmachen, was im Strafrecht mit Schuldformen
bezeichnet wird, folglich vor allem Vorsatz (dolus), im konkreten
Tatgeschehen. Die Feststellung psychischer Vorgänge bei einem anderen
Menschen erfolgt aufgrund äußerer Tatsachen, zu denen auch die Äuße-
rungen des Täters selbst gehören. Doch diese Aussagen können unauf-
richtig sein, und manchmal ist auch der Einzelmensch nicht imstande
festzustellen, welche psychischen Vorgänge sein Verhalten begleitet
haben.
In diesem Zusammenhang sei eines hervorgehoben. Wenn wir die mit
dem Verhalten des Täters einhergehenden psychischen Vorgänge (richti-
ger wäre zu sagen: Wenn wir dem Täter zumuten, daß in seiner Psychik
zur Tatzeit bestimmte Vorgänge aufgetreten sind) bestimmen, beziehen
wir diese Vorgänge auf konkrete äußerliche Tatsachen, in denen wir die
Verwirklichung der äußeren Seite der Straftat wahrnehmen. Diese Fest-
stellung, vielleicht banal, bildet den Ausgangspunkt zu Erwägungen

10 Die Vorschrift, auf die die Qualifizierung gewöhnlich „abgleitet", hat in der deut-

schen Doktrin - wie ich erfahren habe - die Benennung Auffangtatbestand.


11 Angefangen mit W. Platzgummer: Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964.
Integrierende Lehre vom Tatbestand 647

über psychische Vorgänge, die zu unterschiedlichen Abarten des dolus


gehören. Gegenüber der äußeren Wirklichkeit verwendet der Täter in
der Regel keinesfalls den Wortlaut des Strafgesetzes, in der Tatzeit
vermag er diese Wirklichkeit sogar überhaupt nicht zu verbalisieren. Es
genügt, daß er sich über diese Wirklichkeitsmerkmale im klaren ist, in
denen der Richter die Verwirklichung des Deliktstypus sieht. Dies dehnt
sich auf sämtliche Wirklichkeitsmerkmale aus, nicht nur auf diejenigen,
welche im Gesetz in der spezifischen Rechtssprache ausgedrückt wer-
den, wie z. B. „ U r k u n d e " oder „Beamte" 1 2 . Wer eine Uhr stiehlt, muß
die auszuführenden Handlungen nicht unbedingt verbalisieren, denn der
Einzelne denkt in seinem Handeln mit Konkreten. In seinem Bewußt-
sein dürfte sogar das Wort „Sache" überhaupt nicht erscheinen, der Täter
dürfte es sogar nicht „ U h r " genannt haben, aber wenn er sich bewußt
ist, daß „das", was er nimmt, irgendwelchen Wert darstellt und ihm
nicht gehört, dann können wir sagen, daß sein Verhalten von psychi-
schen Vorgängen begleitet wurde, die den dolus ausmachen.
Die Feststellung, daß das psychische Verhältnis des Täters sich nicht
auf den Gesetzestext, sondern auf die Wirklichkeit ausrichtet, die diesem
Text entspricht, kann Zweifel klären, falls bei der Tatbeschreibung
Zahlen vorkommen (z. B. § 176 I S t G B der Bundesrepublik Deutsch-
land).

V.
Die Lehre vom Tatbestand konzentriert sich folglich nicht nur auf den
Begriff der Tatbestandsmerkmale selbst, auf deren Umfang und Arten,
sondern sie dehnt sich ebenfalls auf den umfangreichen Fragenkreis der
gesetzlichen Typisierung der Straftat als Gesamtheit intellektueller
Tätigkeiten und als deren Ergebnis aus; sie umfaßt ferner die Anpas-
sungspraxis der die Straftat bestimmenden Vorschriften an die konkrete
Wirklichkeit. Von einer solchen Lehre darf gesagt werden, daß sie die
rechtsmateriellen und prozessualen Aspekte des gesetzlichen Tatbe-
stands integriert.

12 Daher ist die Formulierung „die Parallelwertung in der Laiensphäre" der Wirklich-

keit nicht adäquat, denn sie bezieht sich auf die bei weitem allgemeineren Vorgänge.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz
WOLFGANG SCHÖNE

Es ist der Erinnerung wert, daß Hilde Kaufmann in einer frühen


Arbeit1 auf ein strafrechtsdogmatisches Thema eingegangen ist, das
heute - etwas anders gewendet - erneut Interesse beansprucht: das
Verhältnis von Strafgesetz und Tatbestand und seine Konsequenzen für
die Strafbarkeit. Damals ging es um die Überprüfung der These, daß eine
Strafvorschrift wie §240 StGB der Schuldtheorie entgegenstehe. Das
Ergebnis dieser Untersuchung gilt, wie mir scheint, auch heute noch:
Die Schwierigkeiten beruhen darauf, daß der Gesetzgeber mit seinem
Strafgesetz die Aufgabe der Beschreibung des tatbestandsmäßigen Ver-
haltens nur unvollkommen gelöst und es der Rechtsanwendung überlas-
sen hat, die Festlegung der Tatbestandsgrenzen nachzuholen. Wird aber
ein derartiger „offener" Tatbestand vom Einzelfall ausgehend und mit
Wirkung für alle Fallgestaltungen gleicher Prägung „geschlossen", so
kann unschwer die fehlende Vorstellung vom Vorliegen der Umstände
des gewissermaßen „nachgearbeiteten" Tatbestands als Vorsatzmangel
( = Tatbestandsirrtum) und die fehlende Vorstellung vom Unerlaubtsein
seiner Verwirklichung als Mangel des Unrechtsbewußtseins ( = Verbots-
irrtum) eingestuft und der Schuldtheorie gemäß behandelt werden.
Allgemeiner formuliert: Manche Probleme bei der Erfassung und Hand-
habung von Strafbarkeitsvoraussetzungen sind nicht dogmatischer, son-
dern legislatorischer Art; es geht um die Folgen der Schwierigkeit,
strafrechtlich relevantes Verhalten so zu beschreiben, daß das Strafgesetz
den Einsichten in die Struktur des Verbrechens - im Sinne Bindings
verstanden - ebenso entspricht wie den Anforderungen des Verfassungs-
satzes „nullum crimen sine lege stricta".
Die Stichworte „offener Tatbestand", „Gesetzesbestimmtheit" und
„Irrtumsregelung" markieren ein Spannungsfeld, das sich nicht auf die
vorsätzlichen Verbrechen beschränkt. Vielmehr umfaßt es auch und
gerade die Fahrlässigkeitstaten. Um zwei neuere Beispiele zu nennen: So
zieht Arzt nicht zuletzt aus dem Fehlen einer tatbestandsmäßigen Verty-
pung regelmäßig verbotener Gefährdungen den Schluß, daß bei den
Fahrlässigkeitsverbrechen Tatbestands- und Verbotsirrtum ineinander
übergehen und daß deshalb (wenigstens) hier die Vorsatztheorie zu

1 Vianden-Grüter, G A 1954, S. 359 ff.


650 Wolfgang Schöne

gelten habe 2 . Und Bohnert versucht, die Klippen einer Verfassungswid-


rigkeit der Fahrlässigkeitsbestrafung dadurch zu umschiffen, daß er an
die Stelle vieler, allenfalls teilumschriebener Tatbestände (nur) einen
Tatbestand setzt, der mit demjenigen der Vorsatztat identisch und
mithin ebenso „geschlossen" ist3.
Diese Denkanstöße bieten Anlaß genug, die gesamte Dogmatik der
Fahrlässigkeitsverbrechen einschließlich ihrer normtheoretischen
Grundlagen aufzurollen und alle Tiefen des Dilemmas auszuloten, in das
die divergierenden Ansprüche von Verfassung und Kriminalpolitik die
Strafgesetzgebung stürzen. Dennoch muß dieser Beitrag sich auf zwei
Fragen beschränken: Tragen die skizzierten Gedanken wirklich die mit
ihnen verbundene Kritik an einer (bestimmten) Fahrlässigkeitskonzep-
tion, die auf dem Boden der finalen Handlungslehre entwickelt worden
ist und der auch Hilde Kaufmann4 nahegestanden hat? Und was vermag
diese Prüfung zur Verifizierung oder Falsifizierung der abweichenden
Auffassungen über die Voraussetzungen eines Fahrlässigkeitsverbre-
chens beizutragen?

I.
Auf dem Prüfstand steht eine Konzeption der Fahrlässigkeitsverbre-
chen, deren dogmatischer Gehalt sich erst aus ihren normentheoreti-
schen Grundlagen 5 voll erschließt.
a) Will die Rechtsordnung ihre Güter davor schützen, von Menschen
beeinträchtigt zu werden, so darf sie nicht nur den Eintritt einer
Verletzung oder Gefährdung mißbilligen; vielmehr muß sie den Einfluß
des Menschen auf die Ereignisse steuern: sein Verhalten. Die Mittel zur
Steuerung menschlichen Verhaltens sind an dessen Natur gebunden.
Folglich bestehen sie in Sollsätzen, die allen oder bestimmten Menschen
aufgeben, entweder eine finale Handlung vorzunehmen oder von einer
solchen abzusehen: „allgemeine" oder „besondere" (Bestimmungs-)
Normen jeweils in der Form eines Gebotes oder Verbotes. Aliud non
datur.
Die Rechtssätze, die die Struktur von Geboten oder Verboten aufwei-
sen, unterscheiden sich untereinander nur durch den Inhalt der Finalität,
die verwirklicht werden oder unterbleiben soll. Immer dann, wenn -
gemessen an diesem Kriterium - eine andere finale Handlung anbefohlen

2
ZStW 91, S. 857 ff.
3
ZStW 94, S. 68 ff.
4
Hilde Kaufmann, Die ungewollte Straftat, Rundfunkvortrag RIAS, März 1975
(ungedrucktes Manuskript).
5
Vgl. zum Folgenden Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 30 ff, 37 f;
Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 3 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 651

oder verboten wird, handelt es sich um eine eigenständige Bestimmungs-


norm; dabei ist mit der „anderen" finalen Handlung die Gesamtheit aller
Handlungen mit derselben Finalität gemeint.
Unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes kommen für den Erlaß
eines Verbotes alle finalen Handlungen in Betracht, die rechtsgutsschäd-
lich sind, und für den Erlaß eines Gebotes alle finalen Handlungen, die
rechtsgutsförderlich sind. Dazu gehören einmal (und in erster Linie) alle
diejenigen finalen Handlungen, deren Finalität die Beeinträchtigung
oder Erhaltung des betreffenden Gutes umfaßt. Zum anderen können
das aber auch alle Handlungen sein, bei denen die Rechtsgutsbeeinträch-
tigung oder -erhaltung nicht im Finalzusammenhang steht, sondern
lediglich eine unfinale Folge ist; denn bleibt eine solche wegen ihrer
Auswirkung schädliche finale Handlung aus oder wird die wegen ihrer
Auswirkung nützliche Handlung vorgenommen, so entfällt damit ja -
gewissermaßen automatisch - auch der unerwünschte Erfolg.
Je wertvoller und/oder anfälliger ein Rechtsgut ist, desto mehr finale
Handlungen gerade auch der zweiten Fallgruppe müßten verboten oder
geboten werden. Indessen beschneidet jede Bestimmungsnorm die Ver-
haltensspielräume des einzelnen und mittelbar auch der Rechtsgemein-
schaft. Schon wenn es um Handlungen geht, die finale Rechtsgutsbeein-
trächtigungen darstellen, ist dieser Preis nicht selten zu hoch; das zeigen
manche Rechtsguts Verletzungen und noch mehr Rechtsgutsgefährdun-
gen, deren Herbeiführung trotz entsprechender Finalität nicht verboten
ist6. Erst recht gilt das für finale Handlungen, die eine Rechtsgutsbeein-
trächtigung zur unfinalen Folge haben oder gar nur haben können; sie
samt und sonders zu verbieten, hieße das Sozialleben zum Erliegen
bringen. Und was für Verbote zu sagen ist, trifft für Gebote in noch
höherem Maße zu; denn Gebote lassen dem Betroffenen keine Verhal-
tensalternativen.
Bestimmungsnormen sind also immer auch das Ergebnis einer Aus-
wahl. Dafür gibt es kein Patentrezept. Vor allem aber werden die
Auswahlkriterien selbst nicht zu Normmerkmalen; sie stehen hinter der
Norm. Damit läßt sich sagen: Wenn eine Norm existiert, dann steht fest,
daß sie ihre Existenz dem Anliegen der Vermeidung einer Rechtsgutsbe-
einträchtigung verdankt und daß ihr Gegenstand eine finale Handlung
ist, deren Charakter bei Verboten rechtsgutsfeindlich und bei Geboten
rechtsgutsförderlich ist; das kann sich im Normgegenstand deutlich
widerspiegeln, muß es aber nicht. Dagegen läßt sich nicht sagen: Schon
deshalb, weil ein Rechtsgut schutzwürdig ist und weil eine finale Hand-

6 So ist weder die „einfache" vorsätzliche Beschädigung noch die vorsätzliche Gefähr-

dung fremden Vermögens (bei Strafe) verboten.


652 Wolfgang Schöne

lung seiner Existenz feindlich oder seiner Erhaltung förderlich ist, gibt es
auch eine entsprechende Bestimmungsnorm.
Die Feststellung, welche Verbote und Gebote existieren, ist schwie-
rig, weil das Gesetz die Bestimmungsnormen nur selten so formuliert,
wie dies ihrem Wesen entspricht. Zwar gibt es Beispiele dafür, daß
verbotene oder gebotene Handlungen beschrieben werden7. In aller
Regel wird aber nicht die Norm selbst, sondern eine Norm Verletzung
angegeben und mit einer Rechtsfolge verknüpft. Aus einem solchen
klassischen Vollstrafgesetz - „wer die Handlung a vornimmt, wird mit x
bestraft" - muß also auf die Verhaltensnorm zurückgeschlossen werden:
„Du sollst die Handlung a unterlassen (vornehmen)!". Dieser Rück-
schluß ist einfach, wenn das Strafgesetz ein Verhalten beschreibt; er ist
schwer bis unmöglich, wenn es dafür lediglich Indizien gibt.
Daß der Gesetzestext lediglich Hinweise auf die gemeinten Handlun-
gen enthält, gilt nicht nur8, wohl aber insbesondere dort, wo „das Gesetz
fahrlässiges Handeln... mit Strafe bedroht" (§ 15 StGB). Bei Vorschrif-
ten, die immerhin diejenigen finalen Handlungen beschreiben, aus denen
die fahrlässige Verursachung der Rechtsgutsbeeinträchtigung hervorge-
gangen sein muß9, mag das nicht ganz so deutlich sein; bei Strafgesetzen
wie §222 StGB, die lediglich eine Rechtsgutsbeeinträchtigung, die Kau-
salität und das Fahrlässigkeitserfordernis nennen, ist das unübersehbar.
Ein Rückgriff auf §276 B G B hilft da nicht weiter. Die Definition
fahrlässigen Handelns als „Außerachtlassen der im Verkehr erforderli-
chen Sorgfalt" leidet unter dem Widerspruch, daß eine Handlung nicht
ihr Gegenteil - die Unterlassung der Anwendung von Sorgfalt - sein
kann. Eine Interpretation, daß fahrlässig handelt, wer bei einer Hand-
lung Sorgfalt außer acht läßt, liefe auf denselben Widerspruch hinaus:
Handeln strictu sensu kann nicht Handlung plus Unterlassung sein. Soll
die Normlogik gewahrt bleiben, so müßte der Gesetzestext schon so
gelesen werden, daß fahrlässig handelt, wer eine Handlung vornimmt,
die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt; aber damit
wird die Frage, welche finalen Handlungen diese Eigenschaft aufweisen
und Gegenstand eines Verbotes sind, noch nicht beantwortet.
Das verlockt, den Widerspruch im Text des §276 B G B nach der
anderen Seite hin aufzulösen. Wird die Aussage darüber, wann jemand
fahrlässig „handelt", nicht auf ein Handeln im Sinne des Handlungsbe-
griffs, sondern untechnisch auf fahrlässiges „Verhalten" bezogen,
scheint es möglich, die gesuchten Verhaltensbeschreibungen normlo-
gisch bruchlos in der Unterlassung von Sorgfalt zu sehen.
7 Vgl. z.B. § 6 Arzneimittelgesetz.
8 Vgl. z.B. §185 StGB.
9 Vgl. z.B. §315 StGB: fahrlässige Verursachung einer Gefahr durch Führen eines

Fahrzeugs - „Delikt mit finalem Kern" (Armin Kaufmann).


Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 653

Der Gedanke wird gewöhnlich in das Wort von der „gebotenen


Sorgfalt" gekleidet; das Recht erwarte Sorgfalt bei der Auswahl und
Anwendung der Handlungsmittel, wenn der Mensch seine Ziele ver-
wirkliche10. Die Attraktivität dieses Ansatzes beruht darauf, daß er auf
jedes Handlungsprojekt paßt. Die Bedenken beginnen jedoch schon
damit, daß das Außerachtlassen von „Sorgfalt" nur dann eine Unterlas-
sung ist, wenn es um die Nichtvornahme einer dem Subjekt möglichen
finalen Handlung geht. In diesem Sinne mag es durchaus Fälle de?
Unterlassung von Prüfungshandlungen und Vorsichtsmaßnahmen und
mit ihnen entsprechende Gebote geben". Wenn aber jemand bei jeder
Handlung in bewußten Akten alle Folgen analysieren müßte, käme jede
menschliche Tätigkeit zum Erliegen. Es kommt hinzu: Die Einhaltung
der - angeblich - gebotenen Sorgfalt durch Bedenken aller Folgen der
Verwirklichung eines Handlungsprojekts würde als solche nichts zum
Rechtsgüterschutz beitragen: es geht ja nicht darum, daß das Hand-
lungsprojekt nunmehr „sehenden Auges" verwirklicht wird, sondern
darum, daß es von vornherein ein Projekt bleibt, wenn das Recht es
nicht akzeptieren kann - und das heißt, wenn es gegen die Regeln des
Rechts verstößt! Damit weist die fälschlich so genannte Sorgfalts-
„pflicht" auf die Bestimmungsnormen zurück, die unmittelbar an die
Handlungsprojekte anknüpfen und deren Unterbleiben oder Vornahme
sicherstellen. Das „quidquid agis, prudenter agas et respice finem" der
Römer ist kein eigenständiges Gebot, weil ein Befehl, Normbefehle zu
beachten, überflüssig ist. Dennoch hat die Lebensweisheit durchaus
ihren Sinn: als Hinweis auf einen Weg, wie (eine Haftung für) die
Verletzung von Bestimmungsnormen vermieden werden kann.
Pointiert und metaphorisch zugleich: Nicht Sorgfalt ist geboten,
sondern die Sorgfalt gebietet, daß bestimmte finale Handlungen unter-
bleiben und andere vorgenommen werden! Man mag die entsprechenden
Verbote und Gebote Sorgfaltsnormen nennen, solange man sich dessen
bewußt bleibt, daß „Sorgfalt" ihre raison d'etre, nicht aber ihr Gegen-
stand ist. Die Gegenstände der Bestimmungsnormen - die finalen Hand-
lungen, die zu unterlassen oder vorzunehmen sind - werden mit dem
Hinweis auf die Sorgfalt bestenfalls bestimmbar, sind aber damit -
leider! - noch nicht bestimmt.
b) Die Elemente eines Fahrlässigkeitsverbrechens folgen aus den norm-
logischen Grundlagen: Das Verbrechen ist ein strafbares Delikt, und das
Delikt seinerseits ein Verhalten, das eine Bestimmungsnorm verletzt,
nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt ist und vorgeworfen werden
kann.
10
Wekel, Strafrecht, S.37f.
" Struensee, JZ 1977, S.217ff; Schöne, J Z 1977, S. 150ff, 158.
654 Wolfgang Schöne

1. Bestimmungsnormen werden verletzt durch die Vornahme der ver-


botenen und die Nichtvornahme der gebotenen Handlung, und eben
damit stehen die zentralen Merkmale des (Leitbild-)Tatbestands fest.
Wohlgemerkt: Da es immer um finale Handlungen geht, gehören stets
auch „subjektive" Komponenten dazu.
Sobald das letzte Teilstück der verbotenen Handlung gesetzt oder der
letzte Zeitpunkt zur Verwirklichung der gebotenen Handlung verstri-
chen ist, ist das Verhalten im vollen Umfang normwidrig/tatbestands-
mäßig; der Eintritt der Handlungs/o/ge«, die der Handelnde nicht mehr
beeinflussen kann, ohne erneut zu handeln, gehört auf ein anderes Blatt
mit dem Rubrum „objektive Bedingung der Strafbarkeit".
Das tatbestandsmäßige Verhalten widerspricht der einzelnen Bestim-
mungsnorm. O b es auch der gesamten Rechtsordnung zuwiderläuft und
mithin nicht nur normwidrig, sondern auch rechtswidrig ist, entscheidet
sich an Hand der Erlaubnissätze.
Die Vorwerfbarkeit rechtswidrigen Verhaltens hängt ab von der
Fähigkeit zur Pflichtbefolgung; der Täter muß in der Lage sein, das
Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Bei
Fahrlässigkeitsdelikten bedeutet das häufiges Fehlen aktueller Unrechts-
einsicht und gemäß § 1 7 S t G B Rekurs auf die Vermeidbarkeitsfrage:
konnte der Täter in der gegebenen Situation zu der fehlenden Einsicht
kommen? In diesem Zusammenhang spielen vorhergesehene oder vor-
hersehbare Folgen des Verhaltens eine Rolle, die für die Unterscheidung
von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit bedeutsam sind.
W o das Gesetz die Strafbarkeit einer vorwerfbaren Normverletzung
von der Realisierung der Rechtsgutsbeeinträchtigung - dem „Erfolgs-
sachverhalt" - abhängen läßt, steht dieses Merkmal außerhalb der
Deliktsvoraussetzungen. Solange deren logisch zwingendes Verhältnis
zueinander berücksichtigt bleibt, ist die Einordnung der schuldindiffe-
renten Bestrafungsvoraussetzungen in den Verbrechensaufbau im übri-
gen eine Frage der Zweckmäßigkeit 14 . Bei den Fahrlässigkeitsdelikten
sprechen derartige Erwägungen für eine Behandlung vor dem Tatbe-
stand. Der Erfolgssachverhalt ist nämlich bei der Prüfung der Strafbar-
keitsvoraussetzungen in zweifacher Weise von Bedeutung. Zum einen
geht es um die Subsumtion der tatsächlichen Ereignisse unter denjenigen
Teil des Strafgesetzes, der über die Strafbarkeit deliktischen Verhaltens
entscheidet. Zum anderen handelt es sich um einen - häufig den einzigen

12 Vgl. auch Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982,
S. 147.
13 Vgl. z.B. Welzel, Strafrecht, S. 131 ff; Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik,
S. 132 ff.
14 Dazu näher Schöne, Cuadernos de Politica Criminal (Madrid) 1977, S. 63 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 655

- Anhaltspunkt für die Auffüllung des Beschreibungsdefizits bezüglich


des normwidrigen/tatbestandsmäßigen Verhaltens - eine Aufgabe, die
gelöst sein muß, ehe der Blick, wie bei der Rechtsanwendung üblich,
zwischen den Fakten und dem Strafgesetz hin- und herpendeln kann.
2. Bei der Rechtsanwendung im Zusammenhang mit Fahrlässigkeitsta-
ten verquicken sich Subsumtion und Suche nach dem subsumtionsfähi-
gen Strafgesetz. Wird diese Verquickung unter Beachtung der Vorgabe
aufgelöst, daß einerseits nur die Vornahme (Nichtvornahme) einer
finalen Handlung tatbestandsmäßig sein kann und andererseits der Tat-
bestand der Strafgesetze ein so strukturiertes Verhalten beschreiben
muß, so erscheinen einige Phänomene, die auf den ersten Blick wie
Tatbestandsmerkmale aussehen, in einem anderen Licht; sie sind - cum
grano salis - Tatbestandsermittlungsmerkmale:
Wenn ein Tatbestand existiert, so beruht er auf einer N o r m , deren
Gegenstand mangels Beschreibung nur so aufzufinden ist, daß die zum
Normerlaß führenden Erwägungen (nach)vollzogen werden. Ausgangs-
punkt ist dabei die Rechtsgutsbeeinträchtigung , um deren Vermeidung
willen die N o r m existiert. Weil die Beeinträchtigung vermieden wird,
wenn Handlungen unterbleiben, die sie zur Folge haben können, oder
Handlungen vorgenommen werden, die die Erhaltung bewirken kön-
nen, sind nur solche Handlungen betroffen, die eine entsprechende
Eignung aufweisen; insofern ist die „objektive Vorhersehbarkeit" der
Folgen ein Auswahlkriterium. D e m Vorteil der Rechtsgutserhaltung,
den der Normerlaß mit sich brächte, stehen Belastungen der N o r m -
adressaten gegenüber, so daß nicht jede zur Beeinträchtigung oder
Erhaltung des Gutes geeignete Handlung ver- oder geboten sein kann.
Die normativen Erwägungen, die hier zur Entscheidung notwendig
sind, werden mit dem Stichwort „erlaubtes Risiko" nur wenig treffend
beschrieben, weil sie in Wahrheit der Bestimmung des „verbotenen
Risikos" dienen; dabei spielen beispielsweise die Bedeutung des Rechts-
guts, der Grad der Eignung und die Häufigkeit der Handlung und die
Auswirkungen eines Ver- oder Gebots auf das Sozialleben eine Rolle,
ohne daß ein fester Maßstab angegeben werden könnte. Auch die
Überlegungen, die zum (sog. Rechtswidrigkeits-)Zusammenhang zwi-
schen Verhalten und Beeinträchtigung angestellt werden, betreffen einen
Aspekt der Normsetzung: es ist nicht nur und so sehr das „ob", sondern
vielmehr das „wie" von Beeinträchtigung und Kausalverlauf, das mit
dem „Schutzzweck der N o r m " korrespondiert.
Alles dies läuft auf die von Welzel's herausgearbeitete Fragestellung
hinaus, ob ein vorausschauender und sich seiner Verantwortung gegen-

15
Strafrecht, S. 131 ff.
656 Wolfgang Schöne

über den Belangen des Gemeinschaftslebens bewußter Angehöriger des


Verkehrskreises, in den die jeweilige finale Handlung oder ihre Unter-
lassung fällt, sich so, wie geschehen, verhalten hätte. Daß es dabei um
Tatbestandsbildung und nicht um Subsumtion geht, zeigt sich daran,
daß es auf „objektive Vorhersehbarkeit", „erlaubtes Risiko" und
„Schutzzweck der N o r m " gar nicht mehr ankommt, wenn einmal über
den Normerlaß Einigkeit besteht; unter die Leitsätze der höchstrichterli-
chen Rechtsprechung, die das sorgfaltswidrige Verhalten konkretisieren,
läßt sich trefflich subsumieren.

II.
Aber eben nicht unter die Strafgesetze. Muß dann nicht Art. 103
Abs. 2 G G die Bestrafung von Fahrlässigkeitstaten wenigstens in aller
Regel unmöglich machen?

a) Der „Verdacht der Verfassungswidrigkeit", den Bohnert gegen die


„ihrer Definition nach offenen Tatbestände" richtet16, hat durchaus seine
Berechtigung, wenn auch der Adressat etwas anders lauten müßte: es
sind die bestehenden Strafgesetze. In der Tat - wo die Strafgesetze die
Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht oder nur unvollständig beschrei-
ben, kann der Mangel nicht ohne weiteres dadurch behoben werden, daß
die Rechtsprechung die fehlenden Merkmale nach einem bestimmten
methodischen Prinzip aus den gesetzlichen Anhaltspunkten 17 entwickelt;
denn es würde weiterhin an der Grundlage einer lex scripta et stricta
fehlen, nicht nur für die jeweils ersten Verurteilungen, die sich -
vielleicht - zu einer ständigen Rechtsprechung entwickeln, sondern auch
für eine solche ständige Rechtsprechung selbst.
Richtig ist auch, daß es kaum denkbar ist, alle Verhaltensweisen, die
dem Recht sorgfaltswidrig erscheinen, zum Gegenstand von Ver- oder
Geboten zu machen und die entsprechenden Strafgesetze zu formulie-
ren. Die Einführung abstrakter - dann vorsätzlicher - Gefährdungsde-
likte nach dem Vorschlag Radbruchs18 und selbst eine kontinuierliche
Uberführung gefestigter Rechtsprechung in Gesetzesform wäre lediglich
eine Teillösung - gemessen an der faktischen Reichweite der bestehen-
den und an Zahl ständig zunehmenden Regelungen. Die Frage ist nur,
was daraus folgt. Sicher die Notwendigkeit, die normlogischen und
strafrechtsdogmatischen Grundlagen des Befundes immer wieder neu zu

16 ZStW 94, S. 71.


17 Mißverständlich Bohnert, ZStW 94, S. 79. Selbstverständlich geht es Welzel nicht um
eine Ableitung von Pflichten allein aus methodischen Prinzipien, sondern um das methodi-
sche Prinzip, Pflichten aus den gesetzlichen Anhaltspunkten zu entwickeln.
'» VDB V (1905), S. 201.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 657

überdenken. Vorbehaltlich neuer Einsichten dazu ist ebenso sicher aber


auch, daß der Befund nicht gegen „offene" Tatbestände spricht; die
Unmöglichkeit, eine Lücke zu schließen, ist kein Einwand gegen deren
Vorhandensein! Mit dem Hinweis auf die Erfordernisse, die an ein
Vollstrafgesetz zu stellen sind, und auf die Schritte, die bis zu seiner
subsumtionstauglichen Formulierung noch getan werden müssen, ver-
deutlicht die Lehre von den offenen Tatbeständen lediglich einen Sach-
verhalt, der verfassungsrechtlich problematisch werden kann - mehr
nicht! Der Lehre deshalb verfassungsrechtliche Bedenklichkeit zu
bescheinigen, liefe auf das „Argument" hinaus, daß nicht sein kann, was
nicht sein darf - der Folgen wegen. Indessen: Strafrechtsdogmatik hat
nicht nur die Aufgabe, die Struktur der Strafbarkeitsvoraussetzungen
abzuklären, sondern auch, eben dadurch die normativen Hintergründe
aufzuhellen und so Art wie Ausmaß von Regelungsdefiziten aufzu-
decken.
N u n Gesteht insofern kein Regelungsdefizit, als Art. 103 Abs. 2 G G
unzweideutig sagt, welche Rechtsfolge es hat, „wenn die Strafbarkeit
nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde": es darf
nicht bestraft werden. Wohl aber eitsteht ein Defizit, wenn das Straf-
recht sich mit dieser Rechtsfolge nicht abfinden kann oder will, etwa
weil im Falle der Unanwendbarkeit derjenigen Gesetze, die fahrlässiges
Verhalten unter Strafe stellen, ein Instrument zur Erhaltung von Rechts-
gütern entfiele.
Es wäre falsch, diesen Konflikt zwischen Gesetzeslage, Verfassungs-
anspruch und Kriminalpolitik durch juristische Konstruktionen zu ver-
schleiern, weil die normativen Probleme sich auf die Dauer doch als
stärker erweisen als jedes Harmoniebedürfnis. Es reicht wohl auch nicht
aus, sich auf den Charakter des Strafrechts als einer praktischen Wissen-
schaft zurückzuziehen 19 und die Spannungen zwischen Kriminalpolitik
und Verfassungsgarantie einseitig zu Gunsten der ersten zu lösen.
Dagegen ist es legitim, allen Möglichkeiten nachzugehen, den Konflikt
von beiden Seiten her wenigstens zu begrenzen.
1. Wenn die bestehenden Strafgesetze die Voraussetzungen der Fahrläs-
sigkeitsverbrechen unvollständig beschreiben, kann die Rechtsfolge des
Art. 103 Abs. 2 G G nur noch durch den Nachweis ausgeschlossen
werden, daß der Verfassungssatz an gesetzlicher Bestimmtheit in Wahr-
heit gar nicht mehr verlangt. Es geht also nicht um die Forderung, daß
die Verfassung vor der Kriminalpolitik zu kapitulieren habe, sondern
um die immanenten Grenzen des Grundsatzes „nullum crimen sine

" Vgl. Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht,
1965, S. 10 f; dazu richtig Bohnert, ZStW 94, S. 70 f.
658 Wolfgang Schöne

lege". Ihnen nachzugehen ist Sache des Verfassungsrechts. Das Straf-


recht liefert dazu lediglich die Fragen - beispielsweise, ob eine „prinzi-
pielle" Unmöglichkeit des Erlasses subsumtionsfähiger Strafgesetze, wie
sie im Zusammenhang mit den Fahrlässigkeitstaten allenthalben ange-
nommen wird, die Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit so zu
mindern erlaubt, daß die Rechtsfolge des Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr
greift. Verfassungswidrigkeit dort, wo der Gesetzgeber mehr leisten
könnte, aber nicht geleistet hat, und keine Verfassungswidrigkeit, wo er
nicht mehr leisten kann?!
Allerdings - die Behauptung der Impotenz des Gesetzgebers hat auch
ihre Tücken: sie bezieht sich nur auf die Summe aller potentiellen,
kriminalpolitisch wünschenswerten Strafgesetze, nicht aber auf die
jeweilig einzelne Strafbestimmung. Vom Standpunkt der Verfassung aus
läßt sich ebenso gut verlangen, nur die wichtigsten Regelungen zu
treffen und im übrigen auf die Mittel des Strafrechts zu verzichten. Der
„schwarze Peter" läge damit wieder beim Strafrecht, das - vielleicht gar
nicht zu Unrecht - gezwungen wäre, sich über seine kriminalpolitischen
Bedürfnisse schärfer Rechenschaft abzulegen.
Vielleicht wäre es auch akzeptabel, an die Reaktion des Strafgesetzge-
bers auf die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Bestrafung
unterlassener Erfolgsabwendungen anzuknüpfen? Wenn es schon
„unmöglich" ist, alle wünschenswerten Strafgesetze so auszuformulie-
ren, wie es ihrer Verbrechensstruktur entspricht, sollten dann nicht
wenigstens die Vorgaben für die Bildung der Strafvorschriften gesetzlich
bestimmt sein? § 13 StGB ist ein Beispiel für ein solches „Rezept", an das
sich auch der Gesetzgeber halten müßte, wenn er selbst die einzelnen
Strafbestimmungen über Unterlassungsverbrechen in die übliche Form
von Vollstrafgesetzen gießen wollte, statt dafür die Rechtsprechung in
Anspruch zu nehmen20. Die genannte Vorschrift entspricht gewiß noch
nicht dem Maximum des insoweit Erreichbaren. Das mag hier auf sich
beruhen. Im Bereich der Fahrlässigkeit interessiert lediglich der Denkan-
stoß, der aus der Sicht der Verfassung wenigstens eine gewisse Berechen-
barkeit der Gesetzesbildung sichern und dem Strafrecht eine Möglich-
keit der Bestrafung eröffnen würde, wo die Bestimmungsnorm und das
entsprechende Strafgesetz sich mit hoher normativer Plausibilität auf-
drängt, wenn die Richtlinie eingehalten wird.
Ob eine solche Konzession an die Kriminalpolitik überhaupt zulässig
wäre, ist - wie gesagt - Sache des Verfassungsrechts. Wenn ja, dürfte
freilich nicht bei §276 BGB stehengeblieben werden. Vielmehr müßte

20 Dazu näher Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974,


S. 324 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 659

man in Richtung auf eine Fixierung des methodischen Prinzips weiter-


denken, das Welzel für die Ermittlung der Sorgfaltswidrigkeit eines
Verhaltens entwickelt hat, und es noch stärker auf seine Funktion hin
präzisieren, Strafgesetze bilden zu helfen.
2. Wenn die Spannungen zwischen Verfassung und Strafrecht gemildert
werden sollen, darf nicht nur über eine - teleologische? - Reduktion des
Art. 103 Abs. 2 G G nachgedacht werden. Auch das Strafrecht muß
seinen Beitrag leisten durch eine selbstkritische Revision seiner Mittel
und seiner kriminalpolitischen Anliegen; je weniger Regelungsbedarf
„angemeldet" wird, desto mehr Kräfte sind frei für eine verfassungskon-
forme Strafgesetzgebung.
Die Bedeutung der Fahrlässigkeitsproblematik ist in den letzten Jahr-
zehnten fast explosionsartig gewachsen. Das liegt zu einem guten Teil an
immer neuen Gefahrenpotentialen, die eine mechanisierte und industria-
lisierte Welt mit sich bringt und auf deren Anwachsen das Strafrecht
keinen Einfluß hat. Es gibt aber auch eine Tendenz, nachgerade automa-
tisch in fast jedes neue Gesetz Straf- oder Bußgeldandrohungen für
fahrlässige Zuwiderhandlungen aufzunehmen. Dieses Bemühen um lük-
kenlosen Rechtsgüterschutz birgt die Gefahr unnötiger oder übermäßi-
ger Reaktionen. Das gilt einmal für Details wie den Gedanken, Freisprü-
che wegen mangelnden Vorsatznachweises zu verhindern, oder das
Anliegen, unwillkommene Ergebnisse der sog. eingeschränkten Schuld-
theorie zu korrigieren, oder den Wunsch, die sog. „Rechtsfahrlässig-
keit" in den Griff zu bekommen. Das gilt aber auch ganz allgemein: Das
Instrument der Fahrlässigkeitsbestrafung wird um so stumpfer, je häufi-
ger der Bürger das Gericht mit dem Gefühl verläßt, der Staat hätte ihn
nicht erst „hinterher" durch den Richter über richtiges und falsches
Verhalten aufklären dürfen und verhänge eigentlich keine Strafe für
vorwerfbares Fehlverhalten, sondern erhebe eine Risikosteuer auf die
Teilnahme am Gemeinschaftsleben.
Dasselbe anders und mit leichter Blickwendung vom Gesetzgeber
zum Richter formuliert: Der entscheidende Beitrag des Strafrechts liegt -
so paradox das klingt - in der „Lehre von den offenen Tatbeständen"
selbst. Die Einsicht nämlich in die unabweisbare Konsequenz, daß die
Rechtsprechung de lege lata gezwungenermaßen im Gewände der
Rechtsanwendung Recht setzt, birgt die Chance des Bewußtseins erwei-
terter Verantwortung und damit größerer Zurückhaltung - geht es doch
jeweils nicht um einen Einzelfall bloßer „Zurechnung einer irrtumsbe-
dingten Erfolgsverursachung" 2 ', sondern erst einmal um die Kreation

21
Vgl. Bohnert, ZStW 94, S. 77: „Das Irrtumsmoment ist der Fahrlässigkeit wesent-
lich«.
660 Wolfgang Schöne

von Verhaltensanweisungen für jedermann und dann erst um den Vor-


wurf ihrer Verletzung durch Fehlverhalten. Je ungenauer, je „überra-
schender" diese Leitlinien sind, desto häufiger müßte dem Täter nicht
nur ein Verbotsirrtum, sondern auch dessen Unvermeidbarkeit beschei-
nigt werden - ein Ergebnis, das praktisch auf die Rechtsfolgen des
Art. 103 Abs. 2 GG hinausliefe und theoretisch auf das „Versagen" des
Gesetzgebers zurückführt, sobald die Gründe für die Unfähigkeit des
Täters zur Pflichtbefolgung analysiert werden: der Mensch kann nicht
durch Verhaltensanweisungen motiviert werden, die nicht existieren.
b) Da weder die Verfassung das Feld völlig räumen noch das Strafrecht
auf Fahrlässigkeitsstrafbestimmungen gänzlich verzichten wird, ist der
Wunsch verständlich, das Heil in dem Nachweis zu suchen, daß die
Tatbestände der Fahrlässigkeitsverbrechen gar nicht „offen" sind, son-
dern ganz im Gegenteil „geschlossen". Für Bohnert folgt dies daraus,
daß sich vorsätzliche und fahrlässige Verbrechen nur durch die innere
Beziehung des Täters zu dem verursachten Erfolg unterschieden und
somit die Tatbestände der Fahrlässigkeitsverbrechen identisch seien mit
denjenigen der vorsätzlichen Verbrechen, deren gesetzliche Bestimmt-
heit außer Frage stehe22.
Der gemeinsame Tatbestand von Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat ist
für Bohnert zunächst einmal die Verursachung des Erfolges. Ob diese
Rückkehr zu einem allein am Erfolgsunwert orientierten Tatbestandsbe-
griff dogmatisch richtig ist, mag zunächst dahinstehen; in bezug auf „das
Bestimmtheitserfordernis im (?) Fahrlässigkeitstatbestand" jedenfalls ist
Skepsis angebracht. Das Wort „Tatbestand" ist bekanntlich vieldeutig
und zwingt je nach der Funktion, in deren Dienst es eingesetzt wird, zur
Unterscheidung zwischen dem „Garantietatbestand" (Lang-Hinrichsen)
als Summe aller derjenigen Voraussetzungen der Rechtsfolge, die dem
Grundsatz „nullum crimen sine lege" unterliegen, und anderen Tatbe-
standsbegriffen, die aus der Gesamtheit aller Rechtsfolgevoraussetzun-
gen jeweils diejenigen herausheben, die z.B. den Gegenstand des
Unrechtsurteils oder der Rechtfertigungsfrage oder des Tatbestandsirr-
tums ausmachen23. Dementsprechend müßte gezeigt werden können,
daß der Fahrlässigkeitstatbestand i. S. von Bohnert mit dem Garantietat-
bestand identisch ist, ehe aus der gesetzlichen Bestimmtheit seiner
Merkmale auf eine Erledigung der verfassungsrechtlichen Problematik
geschlossen wird.
Hier muß freilich schon der Wortlaut der Verfassung hellhörig
machen. Das Postulat der gesetzlichen Bestimmtheit gilt der „Strafbar-
keit" und damit allen Voraussetzungen, von denen eine Bestrafung
22 ZStW 94, S. 74 ff, 80.
25 Vgl. Engisch in: Festschrift für Edmund Mezger, 1954, S. 1 2 7 f f , 130 ff.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 661

abhängt. Dazu gehört selbstverständlich auch für Bohnert mehr als nur
die Verwirklichung des Erfolgssachverhalts: erst die Sorgfaltswidrigkeit
und „andere tatbestandliche Prüfungsgegenstände (objektive Zurech-
nung, erlaubtes Risiko, Erfolgseintritt auch bei rechtmäßigem Alterna-
tiwerhalten und dergleichen)"24 entscheiden darüber, ob die Erfolgsver-
ursachung Gegenstand eines Vorwurfs sein kann. Die Zugehörigkeit
dieser Merkmale zu den einzelnen Aufbaustufen des Verbrechens mag
streitig und ihre Ausklammerung aus einem engen Tatbestand(sbegriff)
durchaus möglich sein; wenn es sich einmal um „Schwachstellen" han-
delt, so bewirken Verlagerungen innerhalb des Verbrechensaufbaus qua
Gesetzesbestimmtheit der Strafbarkeit nichts. Und um Schwachstellen
geht es - nicht nur bei der Sorgfaltswidrigkeit! Das Gesetz sagt nichts zu
der normativen Frage, wann eine Verknüpfung von Handlung und
Erfolg als Zufall zu behandeln (!) ist oder wann die Grenze vom
erlaubten zum verbotenen Risiko überschritten wird25.
Dennoch ist ein gewisser, freilich gedämpfter26 Optimismus zu beob-
achten, den einschlägigen Vorschriften auf dem skizzierten Weg zur
Verfassungskonformität verhelfen zu können. Dabei wirkt die Vorstel-
lung mit, die Fahrlässigkeitsbestimmungen seien an Klarheit nicht zu
übertreffen, weil sie jede Erfolgsverursachung einbezögen; wenn den-
noch stets geprüft werden müsse, ob die strafrechtliche Haftung an
weiteren normativen Hürden scheitert, so handele es sich um Ausnah-
men, die zu Gunsten des Täters wirkten und deshalb ihrerseits nicht
gesetzlich bestimmt zu sein brauchten27. Allerdings: O b die Strafbar-
keitsgrenzen unmittelbar und positiv - gewissermaßen vom Punkt
„Null" aus - beschrieben werden oder indirekt und negativ - durch
partielle Zurücknahme weitergehender Aussagen, deren Vorläufigkeit
und Korrekturbedürftigkeit von vornherein feststeht - , ist eine Frage der
Regelungsiec/?«z&. Wenn das Ergebnis auf beiden Wegen zu gewinnen
ist, so kann es keinen Unterschied machen, welcher Weg gewählt wird;
anderenfalls ließe sich die Verfassungskonformität des Ergebnisses durch
die bloße Wahl des einen oder des anderen Weges beliebig manipulieren.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Das Problem, ob die Strafbar-
keit fahrlässigen Verhaltens so geregelt ist, daß sie das Prädikat „gesetz-
lich bestimmt" verdient, ist mit der Reduktion des Tatbestands der
Fahrlässigkeitsverbrechen auf die Erfolgsverursachung nicht gelöst, mag
diese noch so präzis umschrieben sein. Auf den Nachweis, daß Vorsatz-
und Fahrlässigkeitsverbrechen entsprechend eng definierte Tatbestände

24 ZStW 94, S. 68 f.
25 Eben deshalb lassen sich diese Fragestellungen auch nicht einfach aus der Betrachtung
ausklammern; so aber Bohnert, ZStW 94, S.77.
26 Bohnert, ZStW 94, S. 80.
27 A. a. O.
662 Wolfgang Schöne

gemeinsam haben, kann insoweit also verzichtet werden. Daher geht es


bei der weiteren Auseinandersetzung mit der „Konkordanzthese" vor-
rangig nur noch um diejenigen Aspekte, die auch für die Dogmatik der
Fahrlässigkeitsverbrechen eine Rolle spielen.
1. Bohnert bezweifelt, daß Welzel „die Fassung der Tatbestände im
Strafgesetzbuch gemeint" haben könne, wenn er die Vorsatztatbestände
„geschlossen" und die Fahrlässigkeitstatbestände „offen" nenne. Die
bloße Anfügung der „Strafbarkeit der fahrlässigen Begehung" könne die
Beschreibung der Vorsatztat nicht derart weitreichend modifizieren,
und auch die Wendung „durch Fahrlässigkeit" habe „keinen besonderen
Inhalt" 28 .
Die Antwort darauf verlangt vor der sachlichen Klarstellung den
Versuch einer terminologischen Verständigung. Das Wort „Tatbestand"
ist vieldeutig. Deshalb sollte an seiner Stelle nur von „Strafgesetz" die
Rede sein, wenn es um den Text der gesetzlichen Bestimmung geht. Das
erlaubt es, die Sachfrage im Zusammenhang mit den sog. „offenen
Tatbeständen" dahin zu formulieren, ob das Strafgesetz die Vorausset-
zungen der Strafbarkeit hinreichend genau beschreibt. Die Antwort
hängt nicht nur von der Fassung des Strafgesetzes ab, wie Bohnert ganz
zu Recht bemerkt, sondern auch von der Art und Zahl der Merkmale,
die nach rechtswissenschaftlicher Erkenntnis die Strafbarkeit auslösen.
Die Abhängigkeit des jeweiligen Ergebnisses von den Vorgaben der
Fragestellung wird besonders deutlich, wenn bestimmte Strafbarkeits-
voraussetzungen wie Vorwerfbarkeit und Nichteingreifen von Rechtfer-
tigungsgründen ausgeklammert und unter dem Stichwort „Tatbestand"
je nach dem wissenschaftlichen Standort unterschiedliche Merkmals-
gruppen daraufhin überprüft werden, ob das Strafgesetz sie nennt.
Strenggenommen wird dabei immer von einem geschlossenen Tatbestand
aus gedacht und untersucht, ob alles das, was nach dem jeweiligen
Tatbestandsbegriff im Strafgesetz geregelt sein müßte, tatsächlich auch
geregelt ist, und strenggenommen kann dann auch nur das Strafgesetz als
„offen" bezeichnet werden - wenn es zu einem dieser Merkmale
schweigt.
In der Sache überrascht es nicht, daß Welzel und Bohnert den
Regelungsinhalt der Strafgesetze, die vorsätzliches und fahrlässiges Ver-
halten unter Strafe stellen, schon auf der Ebene des Tatbestandes gegen-
sätzlich beurteilen; denn sie gehen von Tatbestandsbegriffen aus, die mit
der Orientierung am Erfolgsunwert (Kausalität) und Handlungsunwert
(Finalität) unterschiedlich weit gefaßt sind. Angesichts dessen spielen
aber auch schon - zugegeben - geringe Abweichungen im Text der

28
ZStW 94, S. 74.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 663

Strafgesetze eine entscheidende Rolle. Wenn ein Strafgesetz von Erfolg,


Kausalität und Vorsatz spricht, so stehen damit alle gemeinten Handlun-
gen fest. Wird in einem solchen Strafgesetz das Wort „vorsätzlich"
durch „fahrlässig" ersetzt, so steht nur noch fest, daß ein Verhalten
beschrieben wird, das in bezug auf die Erfolgsverursachung unvorsätz-
lich ist. Eine abschließende Verhaltensbeschreibung liegt darin nicht, es
sei denn, man wollte sich mit Handlungen beliebiger Finalität und so der
Sache nach doch mit bloßen Erfolgsverursachungen im Tatbestand
begnügen. Eben das aber ist ein Regelungsgehalt, den kein Finalist und
im Ergebnis - qua Verbrechen - auch sonst niemand akzeptiert!
Es bleibt also dabei: die Strafgesetze, die Fahrlässigkeitstaten zum
Gegenstand haben, enthalten keine abschließende Beschreibung der
Strafbarkeitsvoraussetzungen. Ob die Merkmale, deren Beschreibung
offen bleibt, Tatbestandsmerkmale im dogmatischen Sinne sind und ob
dann nicht nur von „offenen Strafgesetzen", sondern auch von „offenen
Tatbeständen" gesprochen werden kann, wie Welzel dies von seiner
Position aus zwar friktionsfrei, aber vielleicht auch mißverständlich
getan hat, ist qua Gesetzesbestimmtheit unerheblich. Umgekehrt sagen
die divergierenden Aussagen über die Offenheit der Tatbestände nichts
über die Richtigkeit des jeweiligen Tatbestandsbegriffs.
2. Bohnert stützt seine Konkordanzthese weiterhin auf die Identität der
Norm und ihre Schutzrichtung: „Rechtsgut und Verhaltensanweisung
sind prinzipiell gleich"29.
So richtig die erste Aussage ist, so wenig überzeugt die zweite; die in
der Tat gemeinsame Zielvorgabe, die Beeinträchtigung eines Rechtsguts
zu verhindern, läßt sich nicht in eine einzige Verhaltensanweisung
umsetzen, die diese Bezeichnung auch verdient. Selbst wenn z.B. der
Satz „du sollst nicht töten!" umgewandelt wird in „du sollst nicht den
Tod eines anderen verursachen!", kann dieser Befehl nicht mehr bewir-
ken als das Abstandnehmen der Adressaten von allen Handlungsprojek-
ten, die die Todesverursachung zum Gegenstand haben - im Verlet-
zungsfall die Grundlage der strafrechtlichen Haftung wegen einer Vor-
satztat! Das wird dem Anliegen des Rechtsgutsschutzes natürlich nicht
gerecht, und so bedarf es weiterer Anweisungen bezüglich solcher
Handlungsprojekte, die etwas anderes zum Gegenstand haben als die
Realisierung des Erfolges, diesen gleichwohl aber mit sich bringen
können. Ein jeder Rechtsbefehl dieser Art aber belegt, daß die Ahndung
einer Zuwiderhandlung an eine andere Bestimmungsnorm anknüpft als
das Tötungsverbot.

29 ZStW 94, S. 75.


664 Wolfgang Schöne

A propos Bestimmungsnorm! Bohnert spricht von dem „verbotenen


Erfolg" oder von der „verbotenen Beziehung (sc. der Handlung) auf den
Erfolg" 30 . Das legt nahe, daß „die (!) Norm", auf deren Grundlage
Bohnert seinen Tatbestandsbegriff entwickelt, entgegen seinem eigenen
Ausgangspunkt gar keine Verhaltensanweisung ist, sondern ein Rechts-
satz, der zum Unterschied von einer Bestimmungsnorm als Bewertungs-
norm bezeichnet zu werden pflegt. Ob das Wort „Norm" im Zusam-
menhang mit einem negativen Werturteil über eine Rechtsgutsbeein-
trächtigung glücklich gewählt ist, mag dahinstehen; entscheidend ist,
daß dieses - als solches selbständige - Werturteil erst „weiterverarbeitet"
werden muß, ehe daraus Wirkungen für den Rechtsgüterschutz erwach-
sen können; das Verbot eines Erfolges oder einer Kausalkette geht an
dem einzig sinnvollen Adressaten vorbei31.
Vielleicht werden die zitierten Formulierungen aber auch nur mißver-
standen. Dann ginge es in der Tat um eine Verhaltensanweisung, aber
um eine solche, die sich auf jede Handlung bezieht, die eine Erfolgsver-
ursachung zur Folge auch nur haben kann. Gegen die Existenz einer
solchen Bestimmungsnorm aber spricht die Weite des Regelungsbe-
reichs: jede Handlung, die einen Erfolg ausgelöst hat, wäre normwidrig
- Unglück und Zufall eingeschlossen. Alle Bemühungen um objektive
Zurechnung, erlaubtes Risiko usw. sprechen dagegen, daß dieser Aus-
gangspunkt zu halten ist.
3. Die Konkordanzthese soll die „Geschlossenheit" und Gesetzesbe-
stimmtheit der Fahrlässigkeitstatbestände nachweisen: Besitzt der Tat-
bestand einer vorsätzlichen Tat diese Eigenschaft, kann das beim Tatbe-
stand der entsprechenden fahrlässigen nicht anders sein, wenn beide
miteinander übereinstimmen. Das Bild der Identität ist solange unge-
trübt, als beide Tatbestände nur aus dem Erfolgssachverhalt - der
Verursachung der Rechtsgutsbeeinträchtigung - bestehen. Das ändert
sich sofort, wenn in einem Tatbestand ein weiteres Element erscheint,
wie dies für die Fahrlässigkeitsverbrechen allgemein angenommen wird.
Es geht um die - wie Bohnert sagt - „Sorgfaltspflicht".
Dieses Merkmal soll der Konkordanz jedoch nicht abträglich sein:
Wenn die Sorgfaltspflicht zum Tatbestand der fahrlässigen Verbrechen
gerechnet werde, gelte dies auch für den Tatbestand der Vorsatztaten.
Die gewissermaßen subsidiäre Existenz dieses Elements falle dort nur
nicht auf: Beim fahrlässigen Verbrechen sei die Sorgfaltspflicht eine
notwendige Voraussetzung für den Vorwurf der Erkennbarkeit der
Gefahr. Diese Warnfunktion werde bei der Vorsatztat dadurch über-

30 ZStW 94, S. 78, 79 und passim.


31 Vgl. Welzel, Strafrecht, S. 37.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 665

spielt, daß der Täter den Erfolg herbeiführen wolle und über die
Gefährlichkeit seines Verhaltens nicht unterrichtet werden müsse32.
Die Analyse dieses Ansatzes wird durch einen gewissen Widerspruch
in den Äußerungen über die Sorgfaltspflicht erschwert. Einerseits wird
dieses Element als die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und
Erfolg" definiert. Andererseits soll der „Inhalt des Verstoßes gegen die
Sorgfaltspflicht" darin liegen, „trotz (sc. einer) erkennbaren Gefahr
gehandelt zu haben". Beide Formulierungen werfen Fragen auf: Wie
kann die Sorgialtspflicht in einer vorhersehbaren Beziehung von Hand-
lung und Erfolg bestehen, wenn doch sonst von Pflichten immer nur im
Zusammenhang mit einem Verhalten gesprochen wird? Wie ist das
Verhältnis der Pflichtverstöße, wenn ihr Inhalt einmal in der Erfolgsver-
ursachung und einmal darin besteht, trotz einer erkennbaren Gefahr
gehandelt zu haben? Die Beantwortung dürfte auf sich beruhen, wenn es
nur um terminologische Unschärfen ginge. Doch das ist nicht so.
Um unter Vernachlässigung der Bezeichnung als „Pflicht" zunächst
auf die „vorhersehbare Beziehung von Handlung und Erfolg" einzuge-
hen, so soll es sich um ein objektives, von den Tätervorstellungen
unabhängiges Merkmal handeln, nämlich die „objektive Gefährlichkeit
des Verhaltens für den Erfolg". Das bedeutet: Der Tatbestand erfaßt
nicht mehr alle Erfolgsverursachungen, sondern nur noch, und zwar
von vornherein nur noch, einen Teil. Dabei wird dieser Ausschnitt nicht
an unmittelbar subsumtionsfähigen Seinskriterien festgemacht, wie dies
bei der Kausalität i. S. der Bedingungstheorie geschieht, sondern an
durch und durch normativen Vorgaben hinsichtlich der Bedingungen
der Prognoseentscheidung; das wird am ersten derjenige bestätigen, der
mit der Einbeziehung der sog. objektiven Vorhersehbarkeit in den
Tatbestand aus einem auch im eigenen Selbstverständnis juristischen
„sozialen" Handlungsbegriff4 (etwa i. S. von Eberhard SchmidtJ5 oder
Engisch16) die systematischen Konsequenzen für den Verbrechensaufbau
zieht.

32 ZStW 94, S. 78. Gewisse, meist nicht bemerkte Überlagerungen von Vorsatz- und

Fahrlässigkeitstatbeständen gibt es in der Tat. Sie kommen aber nicht dadurch zur
Entstehung, daß in beiden Fällen zwingend eine Sorgfaltspflicht existiert und verletzt wird,
sondern dadurch, daß im Einzelfall - zufällig - in einem Sachverhalt mehrere Gesetzesver-
letzungen zusammentreffen. Wer einen anderen vorsätzlich erschießt, verletzt nicht nur
das Tötungsverbot hinter §212 StGB, sondern u.U. auch vorher schon ein Verbot hinter
§ 222 StGB, mit einer geladenen Waffe auf einen Menschen anzulegen.
35
Bohnert, ZStW 94, S. 78.
34 Vgl. Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau?, 1973,
S. 37 ff, 69 ff, 74 ff; Bloy, ZStW 90, S. 609 ff.
35 Der Arzt im Strafrecht, 1939, S. 75 f, 78.

36 In: Probleme der Strafrechtserneuerung (Kohlrausch-Festgabe), 1944, S. 141 ff,


S. 161.
666 Wolfgang Schöne

Es ist hier nicht der Ort, eine kritische Auseinandersetzung37 damit


fortzusetzen, daß diese Entwicklung unter dem Stichwort „objektive
Zurechnung" auch auf das vorsätzliche Verbrechen übergreift. Sich ihr
aber um der Konkordanzthese willen anschließen, hieße einen viel zu
hohen Preis dafür zahlen; denn es ginge ja gerade die „Geschlossenheit"
und „Gesetzesbestimmtheit" der Vorsatztatbestände verloren, die die
Übernahme des Tatbestandsbegriffs in den Bereich der Fahrlässigkeit
überhaupt erst so verlockend macht.
Wäre es dann nicht besser, die Konkordanz durch einen Verzicht auf
das Erfordernis der objektiven Vorhersehbarkeit zu retten? Die Einfüh-
rung des Merkmals wird mit seiner „Warnungsfunktion"38 erklärt; es sei
notwendig, „um den Vorwurf der Erkennbarkeit der Gefahr an den
Täter richten zu können". Indessen ist das genannte Element bei den
Vorsatztaten - auch für Bohnert — wenigstens praktisch überflüssig, weil
der Täter, „der den Erfolg will, . . . bezüglich der Gefährlichkeit seines
Verhaltens nicht erst unterrichtet werden"39 muß. Bei den Fahrlässig-
keitstaten dürfte Bohnert aber auch nicht auf dieses Merkmal angewiesen
sein. Der Fahrlässigkeitsvorwurf soll nämlich lauten, „die Handlung
vorgenommen zu haben, obwohl der Handelnde die verbotene Bezie-
hung auf den Erfolg hätte erkennen können"40. Damit ist das subjektive
Element der individuellen Fähigkeit zur Voraussicht des nachmals reali-
sierten Erfolges angesprochen. Diese Fähigkeit kann aber für jede und
nicht nur für eine wegen ihrer Eignung zur „Vorwarnung" ausgewählte
Kausalkette erfragt werden; nur wird im Ergebnis die Verursachung
eines Erfolges um so seltener vorgeworfen werden können, je weniger
Anhaltspunkte für den Eintritt der Täter gehabt hat.
Allerdings wird hier auch mit dem „Vorwurf der Erkennbarkeit der
Gefahr" argumentiert. Darin liegt gegenüber dem Vorwurf der Erfolgs-
verursachung eine erhebliche Akzentverschiebung, die schon bei der
Frage nach dem Verhältnis von Erfolgsvermeidungs- und Sorgfalts-
pflicht angeklungen ist. Unter dem Aspekt einer Warnungsfunktion
spielt dann möglicherweise die Vorstellung mit, daß die Verursachung
eines Erfolges, die mangels Vorsatzes keine Vorsatztat ist, qua Fahrläs-
sigkeitsstrafdrohung nur dann vorgeworfen werden kann, wenn dem
Täter der Irrtum ( = das Fehlen einer Strafbarkeitsvoraussetzung im
Sinne einer ganz anderen Vorschrift!?!) zum Vorwurf gereicht - wegen
Verstoßes gegen die (Sorgfalts-)Pflicht, einsehbare Gefahren zu erken-
nen. Dabei geht es nicht um die Verletzung immerhin denkbarer eigen-

57 Vgl. Armin Kaufmann, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S.251 ff.
38 Bohnert, ZStW 94, S. 78.
39 Bohnert, a . a . O .
40 A.a.O.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 667

ständiger Vorschriften, die die Aufklärung gefährlicher Situationen usw.


zum Gegenstand haben, sondern um eine Voraussetzung für den Schuld-
vorwurf bezüglich der Erfolgsverursachung. Von den bekannten Ein-
wänden 41 gegen den regressus ad infinitum, der sich damit unvermeidbar
anbahnt, ganz abgesehen: um ein Tatbestandsmerkmal, wie es hier
interessiert, handelt es sich nicht!
Ginge es wirklich nur um die behauptete Warnungsfunktion, so
könnte auf das Element der „Sorgfaltspflicht" oder der „objektiven
Vorhersehbarkeit" bei den Fahrlässigkeitstaten also verzichtet werden.
Indessen geht es der herrschenden Meinung, deren Ergebnisse Bohnert
übernimmt, mit Recht um ein anderes Problem: Wo die Folgen eines
Tuns nicht nur für den Täter unvorhersehbar sind oder das Verhalten
sich im Rahmen der für ein Leben in Gemeinschaft unumgänglichen
Risikoverteilung hält, soll die Fahrlässigkeitshaftung nicht erst auf der
Ebene des Vorwurfs von Fehlverhalten, sondern schon auf der Ebene
des Fehlverhaltens selbst beschränkt werden können. Die Umsetzung
dieses Anliegens durch ein Merkmal des Fahrlässigkeitstatbestands ist
jedoch unumgänglich: Wenn ein Verhalten mit unfinalen Folgen trotz
deren Eigenschaft als Rechtsgutsbeeinträchtigung kein fe/j/verhalten zu
sein braucht, so hat auch die allgemeine Prognose, daß die Handlung die
unerwünschte Folge haben kann, nicht mehr die notwendige Leitfunk-
tion. Erst eine beschreibende Unterscheidung der erfolgsträchtigen, aber
teils „richtigen", teils „falschen" Verhaltensweisen schließt die Tatbe-
standsgrenzen - oder ganz genau: die Grenzen der Tatbestände der
einschlägigen Strafgesetze.
c) Als Ergebnis ist festzuhalten: Der Versuch, die Fahrlässigkeitsstraf-
bestimmungen mit Hilfe eines Konkordanznachweises bezüglich der
Tatbestandsmerkmale an der Gesetzesbestimmtheit derjenigen Strafge-
setze teilhaben zu lassen, die Vorsatztaten unter Strafe stellen, ist - leider
- gescheitert. „Das Unbehagen über die geringe Bestimmungswirkung
der Fahrlässigkeitstatbestände" 42 bleibt also weiterhin bestehen.
Gleichwohl ist die erneute Auseinandersetzung mit der Offenheit der
Strafgesetze nicht ohne Gewinn. Die Rückbesinnung auf die Struktur
der Fahrlässigkeitsverbrechen ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für Ziel
und Methode der Tatbestandsbildung und schafft außerdem Klarheit
über die allgemeinen Regeln, die für die Bestrafung fahrlässigen Verhal-
tens gelten.

41
Vgl. Armin Kaufmann, Strafrechtsdogmatik, S. 91 f.
42
Bohnert, ZStW 94, S.71.
668 Wolfgang Schöne

III.
Als Beispiel dafür ein skizzenhafter Hinweis auf die Frage, inwieweit
die allgemeinen Irrtumsregelungen der §§16, 17 StGB auch bei den
Fahrlässigkeitsverbrechen anwendbar sind.
a) Für die Auffassung, die das Rückgrat eines fahrlässigen Verbrechens
in einer finalen Handlung sieht, liegt die Antwort auf der Hand. Ebenso
wie in bezug auf die sorgfaltswidrige ( = tatbestandsmäßige) finale
Handlung andere dogmatische Kategorien wie z.B. Versuch/Vollen-
dung auszumachen sind, gilt dies auch für die Irrtumsfälle. Das kommt
deshalb wenig zu Bewußtsein, weil die Bemühungen um die Fahrlässig-
keit sich in der Praxis auf die Ermittlung von Sorgfaltswidrigkeit im
Einzelfall konzentrieren und das Ergebnis weniger unter dem Gesichts-
punkt einer tatbestandlichen Typenbildung gesehen wird. Denkt man
sich aber das unsorgfältige Verhalten als in der üblichen Gesetzes- oder
Leitsatztechnik beschrieben, läßt sich zwischen der Unkenntnis der
Merkmale, die zum objektiven Teil des so „geschlossenen" Tatbestandes
gehören, und dem Fehlen der Einsicht, durch das Verhalten Unrecht zu
tun, ebenso leicht oder schwer unterscheiden wie bei einer Vorsatztat.
Gesetzt, die „Schließung" des §222 StGB ergebe u.a., daß tatbe-
standsmäßig handelt, wer einen trunkenen Radfahrer mit einem Seiten-
abstand von weniger als 2 m überholt. Dann erfüllt der Fahrer, der um
alle Umstände bis auf die Trunkenheit des späteren Unfallopfers (und
natürlich die weitere Entwicklung des Geschehens bis zu dessen Tod)
weiß, mit einem Uberholen im Abstand von 1,5 m den objektiven Teil
dieses Tatbestandes, nicht aber den subjektiven - eine unmittelbare
Parallele zu §16 Abs. 1 Satz 1 StGB43. Kennt der Fahrer die Trunken-
heit, so erfüllt er den Tatbestand und es kommt nur noch ein Verbotsirr-
tum in Betracht, wenn nämlich die Einsicht fehlt, daß dieses Uberhol-
manöver Unrecht ist. Das mag daran liegen, daß F sich über das
Verbotensein seines Verhaltens keine Vorstellungen macht oder daß er
der Leitsätze der Rechtsprechung zum „normalen" Uberholen einge-
denk den von ihm eingehaltenen Seitenabstand auch beim Überholen
Trunkener für rechtlich unbedenklich hält. Worauf auch immer der
Mangel an Unrechtseinsicht beruht, über den Vorwurf des Verhaltens
entscheidet nunmehr nur die Fähigkeit des Täters, in der konkreten
Situation zu der richtigen Einsicht zu gelangen und sich danach auch zu
richten (§17 StGB).

43 § 1 6 Abs. 1 Satz 2 StGB ist dann so zu lesen, daß dieses Subsumtionsergebnis nicht

daran hindert, das Verhalten auch unter dem Gesichtspunkt anderer (Sorgfalts-)Tatbe-
stände zu prüfen.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 669

b) Die skizzierte Lösung, die von Armin Kaufmann44 inauguriert wor-


den ist, stützt sich auf die strenge Schuldtheorie und ihre gesetzliche
Umschreibung in § 17 StGB. Demgegenüber möchte Arzt4i diese Lehre
soweit einschränken, daß sie Fahrlässigkeitstaten nicht mehr erfaßt.
Für diese partielle Rückkehr zur Vorsatztheorie plädiert Arzt vor
allem mit drei Argumenten: UnUnterscheidbarkeit von Tatbestand und
Rechtswidrigkeit, Mangel einer für die Schuldtheorie wesentlichen
Warnfunktion der Fahrlässigkeitstatbestände und Schlechterstellung des
Täters durch eine pauschale Verdrängung der Fahrlässigkeit durch den
Verbotsirrtum.
Es ist nicht nur aus sprachlichen Gründen reizvoll, daß auf Fahrlässig-
keitstaxen eine Vorsatztheorie angewendet werden soll; denn es stellt sich
sofort die Frage, wie denn die geforderten identischen Rechtsfolgen für
Tatbestands- und Verbotsirrtum aussehen sollen. Ginge es um einen
Vorsatztatbestand, so wäre als Antwort nur dessen Unanwendbarkeit
sicher, während im übrigen Probleme entstünden: theoretische wegen
der Frage, ob im Verbotsirrtumsfall auf einen Fahrlässigkeitstatbestand
ausgewichen werden darf, der möglicherweise nur auf die sog. Tatfahr-
lässigkeit gemünzt ist, und praktische, wenn es an entsprechenden
Strafbestimmungen fehlt. Ist die Parallele hier die Unanwendbarkeit der
Fahrlässigkeitsbestimmung, innerhalb derer die Irrtümer spielen? Und
muß man dann nicht in aller Regel vergeblich nach „Ausweichbestim-
mungen" Ausschau halten?
Natürlich will Arzt die Bestrafungsmöglichkeiten nicht in derart
rigoroser Weise kappen; strafrechtliche Haftung soll - qua Rechtsfahr-
lässigkeit?! - durchaus sein, aber eben nach Fahrlässigkeits- und nicht
nach Verbotsirrtumsmaßstäben.
Während über das kriminalpolitische Anliegen, das Arzt verfolgt,
relativ schnell Einigkeit zu erzielen sein wird, soll zu den dogmatischen
Überlegungen eine Gegenthese formuliert werden: Statt Wende zur
Vorsatztheorie Verwirklichung der Schuldthorie!
1. Arzt wendet sich mit Recht dagegen, daß die Rechtsprechung dann,
wenn die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums zu beurteilen ist, schär-
fere Maßstäbe anlegt als bei der Einstufung eines Verhaltens als fahrläs-
sig46. Diese Praxis geht auf ein Mißverständnis in bezug auf den Kern des
Schuldvorwurfs - das „Andershandeln&öranew" - zurück, das sich
bereits in die grundlegende Entscheidung BGHSt. 2, 194 ff eingeschli-
chen hat: So richtig es ist, daß ohne Unrechtseinsicht keine Entscheidung

44
Strafrechtsdogmatik, S. 146 f.
45
ZStW 91, S. 857 ff, 884.
46
Vgl. z.B. BGHSt. 4, S.236ff.
670 Wolfgang Schöne

gegen das Unrecht fallen kann, so unrichtig ist der Schluß von dem
Fehlen der Unrechtseinsicht auf deren Unmöglichkeit. Weil das Gericht
aber dennoch - also nach der eigenen Prämisse trotz Unfähigkeit zur
Entscheidung strafen will 4 " tritt praktisch an die Stelle des vermeidba-
ren Verbotsirrtums der verschuldete, und aus der Frage, ob der Täter auf
dem Wege der Gewissensanspannung oder Erkundigung zur Unrechts-
einsicht gelangen konnte, wird die andere, ob er in vorwerföarer Weise
die Gewissensanspannung oder Erkundigung unterlassen hat. Obwohl
die Wortwahl des § 17 StGB dieser Entwicklung entgegensteuern sollte,
muß sich in der Praxis noch der Gedanke durchsetzen, daß der einzige
„Maßstab" im Zusammenhang mit der Behandlung eines Verbotsirrtums
die Fähigkeit des Täters ist, zur richtigen Einsicht zu gelangen. Das ist -
noch dazu im Zusammenhang mit dem Grundsatz „in dubio pro reo" -
eine viel schärfere Bremse für überzogene Strafbarkeitsgrenzen als eine
Zurechnung von Rechtsirrtümern nach einem Fahrlässigkeitsmaßstab.

2. Auch in einem zweiten Punkt verdient Arzt zunächst Zustimmung:


Wo die Rechtsprechung ihren gegenüber der Fahrlässigkeit verschärften
Maßstab für die Beurteilung der Vermeidbarkeit von Verbotsirrtümern
auf die „Warnfunktion" stützt47, die von der zuvor konstatierten Tatbe-
standserfüllung ausgehe, ist die Prämisse in der Tat angreifbar, soweit
zwischen Erfüllung des Tatbestandes und Warnung eine Art gesetzmäßi-
ger Zusammenhang gesehen wird. Je weiter der Täter sich außerhalb des
Kernstrafrechts oder im Bereich der Fahrlässigkeit bewegt, desto weni-
ger vermag ihn - in aller Regel, aber eben auch nicht immer - das Wissen
um das Vorliegen der Tatumstände zu einem Weiterdenken in Richtung
auf eine Einsicht in die Rechtswidrigkeit seines Handlungsprojekts zu
veranlassen48.
Indessen, und nun ist Widerspruch angebracht, darf daraus nicht
geschlossen werden, daß die Schuldtheorie in Fällen sozialethischer
Farblosigkeit (oder Offenheit) des Tatbestandes nicht angewandt wer-
den kann49. Sie kann nicht nur, sie muß sogar angewendet werden, aber
so, wie § 17 StGB dies mit dem Erfordernis der Vermeidbarkeit des
Verbotsirrtums verlangt: wenn die Tatbestandserfüllung im konkreten
Einzelfall eine geringe oder gar keine indizielle Wirkung hat, spricht
vieles für die Unfähigkeit des Täters zur normgemäßen Motivation und
für Freispruch! Die Schuldtheorie darf nicht nur unter dem Aspekt

BGHSt. 2, S. 194 ff, 200 f.


47 BGHSt. 4, S. 236 ff, 243.
41
Kohlrausch/Lange, StGB, 42. Aufl., 1959, Anm. IV4b vor §1; Tiedemann, Tatbe-
standsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 281 ff.
49 So aber ausdrücklich Arzt, ZStW 91, S. 885 Anm. 65.
Fahrlässigkeit, Tatbestand und Strafgesetz 671

gesehen werden, Vorsatzstrafe auch in Verbotsirrtumsfällen möglich zu


machen; vielmehr muß auch ihr anderer Aspekt berücksichtigt werden,
Schuldzuweisungen jenseits der individuellen Fähigkeit zur Unrechts-
einsicht zu verhindern. Gerade diese Gefahr aber kann nicht ausge-
schlossen werden, wenn in bezug auf die Vermeidbarkeit eines Verbots-
irrtums normative Fahrlässigkeitsmaßstäbe eingesetzt werden.
3. Nicht nur wegen der Irrtumskonsequenzen bedeutsam ist die These,
daß bei der Schließung der Fahrlässigkeitsstrafbestimmungen Tatbe-
stands- und Rechtswidrigkeitsüberlegungen in einem situationsbezoge-
nen Sorgfaltsmaßstab untrennbar miteinander verschmolzen werden.
Träfe das zu, gäbe es in der Tat weder unterschiedliche Gegenstände für
Wissen und Irrtum noch das normale Zusammenspiel von Verbotsnorm
und Erlaubnissatz.
Angesichts der von Arzt zitierten Beispiele - erste Hilfe am Unglücks-
ort mit unzureichenden Mitteln, Flugzeuglandung auf der zu kurzen,
schneefreien statt auf der ausreichend langen, aber verschneiten Piste -
will es wirklich als Komplikation erscheinen, „wenn man im Tatbestand
mit einer von der konkreten Situation gelösten und deshalb irrealen
Sorgfaltswidrigkeit argumentiert und die Rechtfertigung dann auf die
Einhaltung der angesichts der realen Situation erforderlichen Sorgfalt
stützt" 50 . Indessen fließen in diese Argumentation mehrere Aspekte ein,
die besser getrennt werden sollten. Dabei ist weniger daran gedacht, daß
die Auswahl der Beispiele insofern eine Rolle spielen könnte, als bei der
Beurteilung des Verhaltens nicht nur eine Berechtigung, sondern auch
eine Verpflichtung zur Operation oder zur Landung bedeutsam ist; Arzt
und Pilot dürften ja nicht einfach untätig bleiben (§§ 323 c, 212, 13
StGB). Eher handelt es sich darum, ob manche Komplikationen sich
dadurch erledigen, daß Gedanken zum erlaubten Risiko, die im Zusam-
menhang mit den Beispielen angestellt worden sind, in Wahrheit nicht in
den Bereich der Rechtfertigung, sondern schon zur Ermittlung der
allgemeinen und von Notsituationen unabhängigen Verhaltensstandards
gehören, die dann in den Tatbestandsbeschreibungen ihren Niederschlag
finden. Noch wichtiger erscheint, daß die Kritik am Vorgehen an Hand
des Schemas „Regel/Ausnahme" nicht schon dann zwingend ist, wenn es
sich als unnötige Komplikation erweist, sondern erst, wenn es unmög-
lich ist. Entscheidend aber ist folgendes: Auch wenn man die Lösung
eines Einzelfalles ganz konkret aus den Umständen der Situation heraus
entwickelt und jede Verschiebung der Situation wieder eine andere
Lösung erforderlich machen würde, gilt sie, sobald die Entscheidung
einmal gefallen ist, jedenfalls für alle identischen Situationen! Darin liegt

50
ZStW 91, S. 870.
672 Wolfgang Schöne

der Beginn einer Typenbildung, die in Verhaltensnormen mündet, -


unabhängig von Erlaubnissätzen. Die Trennung von Tatbestand und
Rechtswidrigkeit setzt sich also in der Sache durch, auch wenn die
Arbeit am Einzelfall sofort auf die Unrechtsfrage zielt.
c) Die Forderung nach einer Einschränkung der strengen Schuldtheorie
für den Bereich der Fahrlässigkeit findet also, wie sich zeigt, in der
Offenheit der entsprechenden Strafbestimmung keine Stütze; die besse-
ren Gründe sprechen nicht nur für eine Beibehaltung der gesetzlichen
Regelung, sondern darüber hinaus auch für eine noch striktere Anwen-
dung des § 1 7 StGB.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser
und bei Bagatellangriffen
F R I E D R I C H - W I L H E L M KRAUSE

„Hatte die ältere Strafrechtsdiskussion zumeist ganz einseitig nur den


Schutz von potentiellen und wirklichen Opfern vor Augen, so besteht
heute gelegentlich die Gefahr, nunmehr die Probleme der Täterpersön-
lichkeit zu sehen und darüber das Opfer aus den Augen zu verlieren",
schrieb Hilde Kaufmann 19741. Mit dem Opfer sollen sich auch die
folgenden Ausführungen beschäftigen, ist doch der Umfang seiner
Befugnis, sich in Notwehr zu verteidigen, in den letzten Jahrzehnten „in
den Strudel der Kontroverse" geraten2 und zu besorgen, daß aus Furcht
vor allzu schneidiger Verteidigung das Notwehrrecht in seiner Substanz
tangiert wird.
Die „Gretchen-Frage" der heutigen Notwehrdiskussion ist die einer
sinnvollen Notwehreinschränkung3. Alle Autoren sind sich darüber
einig, daß zumindest bei „ganz außergewöhnlicher" Unverhältnismäßig-
keit der kollidierenden Güter das Notwehrrecht einzuschränken ist4.
Auch die Rechtsprechung hält eine Verteidigung dann für unzulässig,
wenn sie „völlig maßlos" erscheint5. Man denke etwa an den berühmten
Schulfall, daß der gelähmte Eigentümer den kindlichen Obstdieb mit
dem Jagdgewehr aus dem Kirschbaum schießt6. Die Frage ist nur, wo
aus der durch Notwehr gerechtfertigten eine strafbare Handlung wird.
Wie aber auch immer man die Grenze ziehen mag, unmittelbar aus dem
Wortlaut des § 32 StGB läßt sie sich wohl schwerlich herleiten, will man
ihn nicht recht willkürlich und subjektiv auslegen. Und allemal bleibt
das Problem der Vereinbarkeit einer solchen einschränkenden Interpre-
tation mit Artikel 103 Abs. 2 GG, weil damit die Strafbarkeit für die
jenseits dieser - wie auch immer gedachten - Grenze liegenden Fälle

1 Die Kriminalität Jugendlicher und wir; Repression oder Vorbeugung durch Erzie-

hung. Reihe: Psychologisch gesehen - 20, Oeffingen 1974, S. 10f.


2 Maurach, Deutsches Strafrecht, AT (4.), 1971, S.307.
3 Wagner, Individualistische oder überindividualistische Notwehrbegründung, 1984,
S. 38.
4 S. hierzu die Ausführungen von Spendet, LK (10.), §32 Rdn. 318 mit Nachweisen.

5 Spendet, a. a. O.

6 S. Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 314 mit Anm. 602.


674 Friedrich-Wilhelm Krause

postuliert wird, eine Strafbarkeit, die doch offenbar aus dem Wortlaut
des Gesetzes nicht zu entnehmen ist7.
Es allein der Rechtsprechung im Einzelfall zu überlassen, ob sie eine
Verteidigung - noch - als Notwehr anerkennt oder bereits als unzulässig
ansieht, ist wenig hilfreich, würde in Grenzfällen die Ausführung der
Notwehr zu einem Lotteriespiel machen. Der Bürger jedoch muß
wissen, was strafbar ist und was nicht.
So sind namentlich in neuerer Zeit viele Überlegungen angestellt
worden, Kriterien für eine vernünftige Einschränkung der Notwehr zu
finden, sei es mit Hilfe der Gedanken des Rechtsmißbrauchs, der
Güterabwägung, der Verhältnismäßigkeit oder der Zumutbarkeit 8 .
Hierauf sei an dieser Stelle nicht näher eingegangen. Die folgenden
Ausführungen sollen sich vielmehr auf einen Teilausschnitt beschrän-
ken, wobei von bestimmten Prämissen ausgegangen wird, die freilich
ihrerseits heftig umstritten sind und von deren näherer Begründung an
dieser Stelle ebenfalls abgesehen werden soll.
Zum einen: Entsprechend ihrer historischen Entwicklung sieht man in
der Notwehr einmal das Recht des einzelnen auf Selbstschutz, bzw. in
der Variante der Nothilfe das Recht, dem rechtswidrig Angegriffenen
mit dessen wirklichem oder zumindest mutmaßlichem Willen zu Hilfe
zu kommen. Schon bei den Digestenjuristen seit Hadrian dürfte der Satz
anerkannt gewesen sein „nam adversus periculum naturalis ratio permit-
tit se defendere'". Später wird dann die bekannte Formel entwickelt
„vim vi repellere licet" 10 . Es wäre lebensfremd, dieses quasi Urrecht des
Menschen, sich in Notwehr verteidigen zu dürfen, antasten zu wollen
angesichts der Tatsache, daß die Polizei als Repräsentant der Staatsge-
walt nicht allgegenwärtig sein kann (wie schrecklich auch, wenn sie es
wäre!). Der Satz, daß „als .Kampfmittel der Allgemeinheit gegen das
Unrecht' (H. Mayer) . . . § 53 StGB (§ 32 heutiger Zählung) in einer
Gesellschaft, deren Zivilisation auf der Errichtung eines staatlichen
Gewaltmonopols beruht, ein sozialer Atavismus" sei", begegnet erhebli-

7 Anders Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT (3.), 1978, S. 276, weitere Nachweise
bei Suppert, Studien zur „notwehrähnlichen Lage", 1973, S. 56 Anm. 75. S. hierzu Hirsch,
Festschrift für Dreher, 1977, S. 216, ders., L K (10.) vor § 32 Rdn. 35, Spendel, a. a. O., § 32
Rdn.308 mit Nachweisen und F. W. Krause, GA 1979, 330.
' Zur Fülle der Literatur s. die Nachweise bei Spendel, a. a. O., Rdn. 254 ff.
' S. Pernice, Labeo, Römisches Privatrecht im ersten Jahrhundert der Kaiserzeit,
Neudr. Aalen 1963, II 1 (2.) S. 75. Gai. 1. 7 ad ed. prov. = D 9, 2, 4 pr.; s. auch D 9, 2, 45,
4; D 43, 16, 3, 9.
10 D 1, 1, 3; D 9, 2, 45, 4; D 43, 16, 1, 27. Zum ganzen s. F. W. Krause, Festschrift für

Bruns, 1978, S. 71 f.
11 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S.373.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 675

chen Bedenken. Das kriminalpolitische Ziel ist weder eine dem Verbre-
chen gegenüber permissive oder gar resignierende, noch eine einer
„wahren Totschlagsmoral"12 huldigende Gesellschaft13, sondern ein
erträgliches Leben unter der Werteordnung des Grundgesetzes.
Darüber hinaus dient die Notwehr der Bewährung der Rechtsord-
nung. Das wird zwar teilweise bestritten, kann aber, wie mir scheint,
nicht fraglich sein. Es kommt nicht darauf an, ob bei der Notwehr der
Angegriffene subjektiv den Kampf des Rechts gegen das Unrecht führt14,
ob er sich dessen bewußt oder ob es ihm völlig gleichgültig ist, sondern
entscheidend ist allein die Existenz des Instituts der Notwehr: Das Recht
braucht dem Unrecht nicht zu weichen, der Verbrecher soll wissen, daß
ihm erheblicher, unter Umständen gefährlicher Widerstand entgegenge-
setzt werden kann, und er weiß es auch! Damit erfüllt schon die bloße
Existenz des Notwehrrechts eine unerläßliche kriminalpolitische Funk-
tion. Wo beides zusammentrifft, Selbstschutz plus Bewährung der
Rechtsordnung, sollte die uneingeschränkte Notwehrbefugnis nicht ange-
tastet werden. Im Interesse der Rechtssicherheit sind ihre Voraussetzun-
gen jedoch tunlichst exakt zu normieren, einer Aufweichung und Verun-
sicherung des Notwehrrechts ist entgegenzutreten15.
Wie aber ist die Forderung, das Notwehrrecht in den Fällen „völlig
maßloser" Verteidigung einzuschränken, in Einklang zu bringen mit
dem Postulat, eine Verunsicherung des Notwehrrechts zu vermeiden?
Sicherlich kann bei einer Einschränkung in derart extremen Fällen von
einer Aufweichung des Notwehrrechts kaum die Rede sein. Doch
enthält selbst die Formel von der „ganz ungewöhnlichen" Unverhältnis-
mäßigkeit der kollidierenden Güter16 einen Unsicherheitsfaktor, der eine
verschiedenartige subjektive Auslegung zuläßt.
Da sich eine umfassende, an objektiven Kriterien orientierte Formel
zur Einschränkung der Notwehr schwerlich finden läßt, generalklausel-
artige Formulierungen letztlich doch immer unbefriedigend bleiben, soll
der Versuch unternommen werden zu prüfen, ob sich nicht jedenfalls in
bestimmten Teilbereichen solche zu einer sinnvollen Einschränkung
tauglichen Kriterien aufzeigen lassen. Das kann geschehen durch eine
spezifische, auf die Bedürfnisse der Notwehr im System unserer Rechts-

12 Geyer, Handbuch des deutschen Strafrechts, hrsg. von v. Holtzendorff, 4. Bd. 1877,
S. 94.
13 Man denke an den amerikanischen Spielfilm Death Wish („Ein Mann sieht rot") mit

Charles Bronson.
14 Was Frank, StGB (18.), § 5 3 A n m . I 2 (S. 161) für eine weltfremde Auffassung hält.

15 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.308.

16 Spendel, a . a . O . , §32 Rdn.318.


676 Friedrich-Wilhelm Krause

Ordnung zugeschnittene Interpretation des Begriffs des rechtswidrigen


Angriffs im Sinne des § 32 StGB 17 .
Während die Durchsetzung des Rechts um des Rechtsfriedens willen
nach Maßgabe der jeweils in Betracht kommenden Prozeßordnung in
einem unter Umständen langwierigen Verfahren zu erfolgen hat, darf
der Bürger den „gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff" sofort und
gegebenenfalls unter Verletzung der Rechtsgüter des Angreifers von sich
oder einem Dritten abwenden, soweit dies zur Verteidigung erforderlich
ist. Damit wird der Angriff zum „Zentralbegriff des Notwehrrechts" 18 :
das Recht braucht dem angreifenden Unrecht nicht zu weichen.

Vom angreifendem Unrecht etwa bei einem reinen Tierangriff zu


sprechen, wäre wenig sinnvoll19. Gegen die in den letzten Jahren nahezu
einhellig vertretene Meinung, daß Notwehr gegen Tierangriffe nicht in
Betracht komme - hier reichten die Notstandsvorschriften aus - hat sich
neuerdings Spendel gewandt20: Das Ergebnis sei ganz unbefriedigend, ja
geradezu sinnwidrig, zum einen, weil damit der in seinen Sachgütern
Angegriffene Tieren gegenüber ein schwächeres Abwehrrecht hätte als
gegenüber Menschen, sodann, weil §228 B G B nur Angriffe fremder,
nicht jedoch herrenloser Tiere auf andere Sachgüter decken würde, und
es schließlich „wenig einleuchtend (sei), wieso man zum Schutze des
eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des Nachbarn
niederschießen darf, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht aber töten
dürfen soll, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen
anfällt"21.
Abgesehen von dem prinzipiellen Einwand, daß ein „rechtswidriger"
Angriff von einem Tier ohnehin nicht ausgehen kann: Gar so sinnwidrig
dürfte die herrschende Meinung aber doch nicht sein. Ist das Ergebnis
wirklich unbefriedigend, um das von Spendel gebrachte Beispiel aufzu-
greifen22, daß dem Landwirt auf Grund des §228 B G B eine unverhältnis-
mäßige (obgleich notwendige) Abwehr versagt ist, wenn sein Feld von
einem wildgewordenen Rennpferd oder einem ausgebrochenen Zirkus-
elefanten zertrampelt wird, weil das kostbare (z.B. mit 300000 D M
gehandelte) Pferd oder der dressierte (z. B. 50 000 D M kostende) Dick-
häuter ungleich mehr wert wäre, als die einen Verkaufserlös von weni-

17 S. hierzu F. W. Krause, GA 1979, 330 ff mit weiteren Nachweisen. Grundsätzlich

hierzu Hirsch, Die Notwehrvoraussetzung der Rechtswidrigkeit des Angriffs, in: Fest-
schrift für Dreher, S. 211 ff.
18 Hellmuth Mayer, Strafrecht, AT, 1967, S.96.
19 Vgl. Hirsch, Festschrift für Dreher, S.214.

20 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.39ff.

21 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.40 u. 41.

22 Spendel, a . a . O . , § 3 2 Rdn.40.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 677

gen tausend Mark einbringende Ernte? Hier ist nicht willkürlich von
einem Rechtsbrecher Schaden verursacht worden, sondern es handelt
sich um ein unglückliches Ereignis, das durch zivilrechtliche Möglich-
keiten z . B . der §§833 BGB, 29 f BJagdG befriedigend ausgeglichen
werden kann. Ist demgegenüber die Situation nicht eine ganz andere,
wenn etwa, um ein weiteres von Spendel in diesem Zusammenhang
verwendetes Beispiel aufzugreifen, Rocker mit ihren Motorrädern mut-
willig das Feld des Landwirts verwüsten wollen? Liegt hier nicht ein
Angriff vor, bei dem sich für ihre Taten verantwortliche Täter bewußt
über das Recht hinwegsetzen?
Auch der Hinweis, daß §228 B G B nur zum Zuge komme, wenn die
Gefahr von fremden Sachen drohe, nicht jedoch von herrenlosen, ist
nicht zwingend. Soweit nicht Sonderregelungen des Jagdrechts entge-
genstehen - die für die hier interessierenden Fragen ohnehin kaum von
Belang sein dürften - , wird in der zivilrechtlichen Literatur doch offen-
bar einhellig angenommen, daß §228 B G B zumindest analog in bezug
auf herrenlose, dem Jagdrecht unterliegende Tiere23 oder solche Tiere,
deren Aneignung verboten ist24, gilt. Und es wäre auch kein Grund
ersichtlich, weshalb das nicht so sein sollte. Theoretisch wäre sogar der
Fall denkbar, daß § 228 B G B - entsprechend - zur Verteidigung gegen
eigene Sachen in Betracht käme, von denen eine Gefahr droht, wenn
diese Sachen dem Pfand-, Nutzungs- oder Nießbrauchsrecht eines Drit-
ten unterliegen. Erst recht muß das gelten etwa bei der Tötung eines
angreifenden herrenlosen, nicht dem Jagdrecht unterliegenden Tieres.
Die Tötung eines solchen Tieres an sich enthält ohnehin keine Rechts-
gutverletzung, und es ist nicht einzusehen, weshalb in derartigen Fällen
eine Güterabwägung nach §228 B G B unangebracht sein soll. Möglicher-
weise in Betracht kommende Verletzungen von Tier- oder Naturschutz-
bestimmungen oder dgl. können gegebenenfalls unter dem Gesichts-
punkt des § 34 StGB gerechtfertigt sein.
Zum Argument schließlich, es sei wenig einleuchtend, wieso man zum
Schutz des eigenen alten Hundes den viel wertvolleren Rassehund des
Nachbarn niederschießen dürfe, falls ihn sein Eigentümer hetzt, nicht
aber, falls der fremde Hund bösartig von selbst den eigenen anfalle: Das
Problem liegt hier doch offensichtlich in der Wertung. Der Schaden darf
bei §228 B G B nicht „außer Verhältnis" zur Gefahr stehen. Der angrei-
fende Hund darf zwar getötet werden, wenn er zumindest ebenso
wertvoll oder auch wertvoller, in der Regel aber nicht „unverhältnismä-

23 Vgl. etwa Enneccerus/Nipperdey, §241 Fn. 7; Ermann/Hefermehl (7.), §228 Rdn. 1;


RGRK-Jobannsen, §228 Rdn.5; Soergel/Fahse (11.), §228 Rdn. 15; Staudinger/Dilcher
(12.), Rdn. 11.
24 Enneccerus/Nipperdey, a. a. O.
678 Friedrich-Wilhelm Krause

ßig" wertvoller ist als der angegriffene. Und weiter, bei §228 B G B kann
das Affektionsinteresse sehr wohl mit berücksichtigt werden25, und das
läßt vernünftige Ergebnisse zu26. Der Fall müßte sonach schon ganz
extrem liegen, wenn der angreifende Hund des Nachbarn nicht unter
Notstandsgesichtspunkten zum Schutz des eigenen Hundes getötet wer-
den könnte.
Es dürfte daher, wie mir scheint, keine Notwendigkeit bestehen, von
der überwiegenden Auffassung abzugehen, daß es der Notwehrregelung
zur Verteidigung gegen Tierangriffe nicht bedarf - hier führen die
Notstandsregelungen mit ihrer jeweiligen Güterabwägung zu angemes-
senen Ergebnissen - , daß Notwehr immer einen von Menschen ausge-
henden Angriff voraussetzt.

Neben den eingangs erwähnten Fällen „völlig maßloser" Verteidi-


gung, bereiten Fragen der Notwehr gegen Schuldlose Schwierigkeiten,
scheut man sich doch offenbar, die rigorose Ausübung des Notwehr-
rechts gegen Kinder und Geisteskranke - zumindest uneingeschränkt -
zuzulassen. Hingegen wird es als unbefriedigend empfunden, die Not-
wehrbefugnis gegen Betrunkene einschränken zu wollen27. Zwar sind sie
ihrer Sinne nicht mächtig und man darf ihr Tun nicht mit denselben
Maßstäben messen wie das Nüchterner, nur eben, sie haben ihre feh-
lende oder verminderte Schuldfähigkeit selbst zu vertreten28.
Die von einigen Autoren geforderte Beschränkung des Notwehrrechts
bei Angriffen Schuldloser29 wird daher unter anderem hauptsächlich
deshalb abgelehnt, weil man nicht bereit ist, eine Privilegierung betrun-
kener Angreifer hinzunehmen30.

25 Palandt/Danckelmann (36.), §228 Rdn.2; Jauernig u.a. (3.), §228 Rdn.2; Soergel/
Fahse (11)., §228 Rdn. 18 mit weiteren Nachweisen.
26 Vgl. das Beispiel bei Soergel/Fahse (11.), §228 Rdn. 19: „Läuft ein fremdes Reitpferd
über meinen Hof und droht meinen Rassehund zu zertrampeln, so bin ich zur Tötung des
Pferdes berechtigt, weil der Wert des Rassehundes nicht außer Verhältnis steht zum Wert
des Pferdes..." Man bedenke, daß man heute normalerweise den Wert eines Reitpferdes
zwischen 2000 bis 100000 DM, den eines Rassehundes zwischen 250 und 2500 DM
ansetzen kann!
27 Als Beispiel einer das Rechtsgefühl wenig befriedigenden Entscheidung sei B G H

N J W 62, 308 genannt. S. hierzu F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 85.


28 Auf die praktisch gänzlich unbedeutenden Fälle des unverschuldeten Rausches

braucht nicht näher eingegangen zu werden, es handelt sich dann um Angriffe Schuldloser
(s. dazu den folgenden Text).
29 Vgl. die bei Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 63 Anm. 125 zitierten Autoren; ferner Bertel,

ZStW 84 (1972), S. 11; Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 234 ff., 356; Jakobs,
Strafrecht AT, 1983, S.316 Rdn. 16; Otto, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 140 ff.
30 Vgl. etwa Spendet, § 3 2 Rdn. 63.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 679

Bevor daher im folgenden die Frage erörtert werden soll, ob es eines


uneingeschränkten Notwehrrechts zur Verteidigung gegen Angriffe
Schuldloser wirklich bedarf, sei die Besonderheit des Angriffs durch
Betrunkene angesprochen.
Hat der betrunkene Angreifer, wie es die Regel sein wird, fahrlässig
oder gar vorsätzlich den Rausch herbeigeführt, dann mag zwar ein in
actu schuldloser Angriff vorliegen, aber sicherlich nicht der Angriff eines
Schuldlosen! Durch seine Trunkenheit hat der Angreifer schuldhaft den
Gefährdungszustand, die Gefahr einer unkontrollierten Handlungs-
weise, hier die Gefahr eines möglichen Angriffs auf fremde Rechtsgüter
herbeigeführt. In dem rechtswidrigen Angriff (der Rauschtat) hat sich
die Gefährdung konkretisiert. Und um dieser Gefährdung willen, die
der Betrunkene hätte vermeiden können und die ihm vorgeworfen
werden kann, trifft ihn auch das Risiko einer möglicherweise drastischen
Verteidigung, die sich nur an der Erforderlichkeit zu orientieren hat,
nicht aber auf die Verhältnismäßigkeit der in Frage stehenden Rechtsgü-
ter Rücksicht zu nehmen braucht. Es sind dieselben Erwägungen, auf
denen die Strafbarkeit des Vollrausches, §323a StGB, beruht. Wenn
dort die Strafe nicht schwerer sein darf als die, die für die im Rausch
begangene Tat angedroht ist, und generell die Höchststrafe auf 5 Jahre
Freiheitsstrafe beschränkt ist, so kann daraus für eine Einschränkung der
Notwehr nichts hergeleitet werden, denn Notwehr hat keinen Strafcha-
rakter, Notwehr und Strafe sind disparate Dinge51. Es besteht sonach
generell kein Anlaß, die Notwehrbefugnis gegenüber Betrunkenen ein-
zuschränken. Gleiches gilt für den unter dem Einfluß von Drogen
stehenden oder den auf Grund des Rauschmittels nur vermindert schuld-
fähigen Angreifer.

Hingegen ist es angebracht, die Notwehrbefugnis gegenüber schuld-


los Handelnden einzuschränken. In der Sache stimmt man weitgehend
darin überein, nur eben sieht man darin keine prinzipielle Einschrän-
kung der Notwehrbefugnis, sondern argumentiert - wie auch in den
Gesetzesmaterialien - , daß in derartigen Fällen die sozialethisch gebo-
tene Einschränkung bereits im Merkmal der Gebotenheit der Verteidi-
gung enthalten sei32.
Man könnte in der Tat die praktische Bedeutung dieses Streits als
gering ansehen33, wenn es nur um die Frage ginge, ob die für erforderlich
gehaltene Einschränkung den „Angriff" im Sinne des § 32 StGB entfallen

31 Das dürfte heute allgemeiner Auffassung entsprechen.


52 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 83.
35 Roxin, a. a. O., S. 82.
680 Friedrich-Wilhelm Krause

lasse, diesem den Charakter des Rechtswidrigen nehme34 oder sich dies
bereits aus der Gebotenheit der Verteidigung ergebe. Die Rechtsdogma-
tik jedoch darf die Frage der Zuordnung der Einschränkung nicht offen
lassen. Sie ist im übrigen auch keineswegs ohne Bedeutung im Hinblick
auf Artikel 103 Abs. 2 GG.
Scheidet man - folgt man der hier vertretenen Auffassung - die
Rauschtat nach § 323 a StGB aus, verbleiben nach allgemeinen Regeln als
schuldlos Handelnde im wesentlichen die Kinder, § 19 StGB, die
Jugendlichen, denen die Reife gemäß § 3 JGG fehlt, die gemäß § 20 StGB
Schuldunfähigen, die im entschuldigenden Verbotsirrtum, § 17 StGB, im
entschuldigenden Notstand, §35 StGB, oder unter den Voraussetzun-
gen des § 33 StGB in Notwehrüberschreitung Handelnden 35 .
Die Frage ist, ob gegenüber Angriffen Schuldloser die oben angestell-
ten Erwägungen bezüglich des „Selbstschutzes plus Bewährung der
Rechtsordnung" einer Einschränkung der Notwehrbefugnis entgegen-
stehen.
Sicherlich hat der Angegriffene einen solchen Angriff nicht schutzlos
hinzunehmen, mangelnde Schuld kann kein Freibrief für den Angreifer
sein. Das Recht auf Selbstschutz steht außer Zweifel. Aber der Geistes-
kranke, das Kind oder der schuldlos Irrende stellt mit seinem Angriff die
Rechtsordnung nicht in Frage, weil er sie entweder nicht erfassen kann
oder weil er, ohne daß man ihm einen Vorwurf daraus machen kann,
nicht erkennt, daß sein Tun objektiv gegen das Recht gerichtet ist.
Gegenüber ihrem Tun bedarf es nicht der „Bewährung" der Rechtsord-
nung36. So wird denn auch von einer Mindermeinung im Schrifttum die
Auffassung vertreten, daß ihnen gegenüber das „schneidige" Notwehr-
recht nicht vonnöten sei37, die Notstandsbestimmungen einen zureichen-
den Schutz böten und die Fälle, in denen der Verteidiger die Schuldlosig-
keit des Angreifers nicht erkenne, über die Irrtumsregelungen angemes-
sen zu lösen seien.
Dieser Weg hätte unbezweifelbar den Vorteil, auf der einen Seite den
Gedanken der Bewährung der Rechtsordnung zu unterstreichen, auf der
anderen Seite böte er eine wünschenswerte Einschränkung der Notwehr:

34 Zur Literatur s. Roxin, a . a . O .


55 Weitere mögliche Fälle der Entschuldigung mögen im folgenden außer Betracht
bleiben, da sie für die hier interessierenden Fragen keine wesentlich andere Betrachtung
erfordern.
" Hierzu instruktiv Hirsch, Festschrift für Dreher, S. 2 1 7 u. 222 ff.
37
Otto, Grundkurs Strafrecht, Allg. Strafrechtslehre (2.), 1982, S.94; ders., Festschrift
für Würtenberger, S. 138 f f ; Samson in SK StGB, § 3 2 R d n . 2 1 ; Schmidhäuser, Strafrecht
A T , Lehrbuch (2.), 1975, S.348 (9/95); ders., Strafrecht A T (2.), 1984, S . 1 5 6 (6/67);
Stratenwerth, Strafrecht A T I (3.), 1981, Rdn.435; F. W. Krause, Festschrift für Bruns,
S. 83 f f ; ders., G A 1979, S.335; s. ferner die in oberer A n m . 2 9 zitierten Autoren.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 681

durch das den Notstandsregelungen immanente Prinzip der Güterabwä-


gung würden für das Rechtsempfinden unerträgliche Ergebnisse vermie-
den. Auf Notwehr könnte sich nicht berufen, wer auf den kindlichen
Obstdieb schießt, auf Notwehr könnte sich nicht berufen, wer, wie in
dem vom O L G Hamm N J W 77, 590 = J Z 77, 195 entschiedenen Fall,
den anderen in den Irrtum versetzt, es liege ein Angriff vor, und sich
dann gegen dessen vermeintliche Verteidigung selbst zur Wehr setzt38.
Bedenken gegen diesen Lösungsweg können sich ergeben, wenn der
Verweis auf die Notstandsregelungen unzulässig wäre, das Schutzbe-
dürfnis des Angegriffenen nicht befriedigen würde oder Lücken auf-
wiese.
Wenn vereinzelt die Auffassung vertreten wird, daß § 32 StGB eine
abschließende Regelung für von Menschen ausgehende Angriffe dar-
stelle, so kann dem nicht gefolgt werden 3 ': Es kann sehr wohl Not-
standssituationen gegenüber „rechtmäßigen" Angriffen geben, nur
kommt dann nicht das „schneidige" Notwehrrecht, sondern das Not-
standsrecht mit seinen wohlabgewogenen Güterabwägungs- und
Zumutbarkeitserfordernissen zur Anwendung. Und wenn das sogar
schon in bestimmten Fällen rechtmäßiger Angriffe gilt, muß es um so
mehr gelten bei rechtswidrigen Angriffen Schuldloser, sofern man mit
den Autoren übereinstimmt, die bei Angriffen Schuldloser die Notwehr-
befugnis einschränken wollen.
§228 B G B berechtigt nur zur Beschädigung oder Zerstörung einer
fremden Sache, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem
anderen abzuwenden, gibt jedoch keine Befugnis zur Verteidigung
unmittelbar gegen Menschen40. §34 StGB rechtfertigt Notstandshand-
lungen, „wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, nament-
lich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden
Gefahren das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich über-
wiegt" 41 . Damit wäre aber eine nicht unbedeutende Körperverletzung
oder gar Tötung bei nicht anders abwendbaren Angriffen auf Sachwerte
(bei Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung, Brandstiftung oder dgl.)
ebensowenig gedeckt wie etwa die Tötung eines Geisteskranken, der

38 Der Angriffene hatte schuldhaft den Eindruck erweckt, er stehle in seinem Betrieb,

und wehrte sich heftig, als ein von der Geschäftsleitung Beauftragter ihn am Verlassen des
Werksgeländes hindern wollte, bevor nicht der Kofferraum seines Wegens durchsucht
worden war. Das O L G Hamm hat hier die Ausübung des Notwehrrechts als rechtsmiß-
bräuchlich angesehen.
35 S. hierzu eingehend Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn.93 und Sch.-Schr.-Lenckner (21.),
§ 34 Rdn. 6 am Ende. Anderer Ansicht Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu
anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S.64f.
40 Vgl. Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn. 72.

41 S. hierzu Hirsch, L K (10.), § 3 4 Rdn. 77.


682 Friedrich-Wilhelm Krause

sich in seinen Wahnvorstellungen verfolgt glaubt und zur Schußwaffe


greift, oder die des Amokläufers, da im rechtlichen Sinne jedenfalls nicht
Menschenleben gegen Menschenleben abgewogen werden kann ange-
sichts der Tatsache, daß „jedes Leben für das Recht einen absoluten
Höchstwert darstellt" 42 .
Die Frage ist, ob in derartigen Fällen über § 35 StGB ein zureichender
Schutz gewährt werden kann. Abgesehen davon, daß hiernach die
Handlung nur entschuldigt wird - gegen sie damit unter Umständen
Notwehr zulässig wäre - , bezieht sich § 35 StGB nur auf Gefahren für
Leib, Leben oder Freiheit und entschuldigt lediglich die eigene Gefah-
renabwehr oder die zugunsten eines Angehörigen oder einer sonst
nahestehenden Person. Die Handlung zum Schutz eines anderen Dritten
wäre somit nicht entschuldigt, auch nicht die zum Schutz anderer
Rechtsgüter als Leben, Leib oder Freiheit.
Auch die in der Literatur erörterten Gedanken eines übergesetzlichen
entschuldigenden Notstands, wie sie im Anschluß an die „Euthanasie"-
Prozesse der Nachkriegszeit ( O H G 1, 335 und 2, 126) oder an die in
BVerfGE 32, 98 angestellten Überlegungen zu der in Art. 4 G G garan-
tierten Glaubens- und Gewissensfreiheit entwickelt worden sind, lassen
sich auf die hier erörterten Fragen nicht übertragen. Es erscheint auch
unbillig, gegen denjenigen, der den schuldunfähigen Amokläufer
erschießt, weil anders die Rettung weiterer, dem Retter allerdings frem-
der Menschenleben nicht möglich ist, den Vorwurf zu erheben, er habe
sich über die Rechtsordnung hinweggesetzt, gegen das Recht verstoßen,
jedoch auf Grund der Notstands- oder notstandsähnlichen Situation
Nachsicht verdient, so daß man gegen ihn den Schuldvorwurf nicht
erhebe oder zumindest auf Strafe verzichte43.
So wird man einräumen müssen, daß es Ausnahmesituationen bei der
Verteidigung gegen Angriffe Schuldloser geben kann, in denen die
Versagung der Notwehrbefugnis und die Verweisung auf das Notstands-
recht nicht zu befriedigen vermag. Die beiden Extremsituationen sind
gekennzeichnet durch das Beispiel des Gelähmten, der das Kind aus dem
Kirschbaum schießt, weil er anders den Kirschendiebstahl nicht verhin-
dern kann einerseits, und desjenigen, der zur Rettung weiterer Men-
schenleben den schuldunfähigen Amokläufer erschießt andererseits. Im
ersten Fall wäre die Gewährung, im zweiten Fall die Versagung der
uneingeschränkten Notwehrbefugnis in hohem Maße unbefriedigend.
Angesichts dieses Dilemmas wäre zu überlegen, ob man bei Angriffen
Schuldloser - sofern die Verteidigung nicht ohnehin aus §34 StGB
gerechtfertigt ist - Notwehr nur im Rahmen einer Güterabwägung

42
Sch.-Schr.-Lenckner (21.), §34 Rdn.23.
43
Grundsätzlich zu diesem Fragenkreis Hirsch, LK (10.) vor §32 Rdn. 200 ff.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 683

zuläßt, wie sie sinnvoll in § 228 B G B vorgesehen ist, nämlich nur, soweit
der Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr steht. Damit wäre, da es
hier einer Bewährung der Rechtsordnung nicht bedarf, dem Schutzbe-
dürfnis des einzelnen in zureichender Weise Rechnung getragen; soweit
er Einschränkungen erleidet, wären diese zumutbar: Das Kind dürfte
nicht aus dem Kirschbaum geschossen werden, und wenn zivilrechtlich
kein Ersatz für das gestohlene Obst zu erlangen wäre, müßte der
Schaden hingenommen werden. Der geisteskranke Amokläufer dürfte in
dem angeführten Beispiel erschossen werden, denn anders als bei §34
StGB wäre jetzt nicht abzuwägen, ob das geschützte Interesse das
verletzte wesentlich überwiegt, eine Abwägung, die, wie ausgeführt,
nicht zulässig wäre, wenn Menschenleben gegen Menschenleben steht,
sondern es wäre jetzt nur zu prüfen, ob der Schaden (Tod des Amokläu-
fers) außer Verhältnis zur Gefahr steht (Tod weiterer Dritter). Und eine
solche Frage wäre eindeutig zu beantworten. Auch der der erwähnten
Entscheidung des O L G Hamm (NJW 77, 590 = J Z 77, 195) zugrunde
liegende Fall könnte auf diese Weise befriedigend gelöst werden: Der in
vermeintlicher Notwehr handelnde schuldlos Irrende dürfte nicht durch
mit Körperverletzungen verbundener Gewalt daran gehindert werden,
den Kofferraum des Wagens zu öffnen, um kontrollieren zu können, ob
hier im Betrieb gestohlenes Gut versteckt ist: Verletzung der Körperin-
tegrität steht außer Verhältnis zur Verletzung der in §240 StGB
geschützten Freiheit der Willensentschließung (nämlich den Kofferraum
zu öffnen).
Im allgemeinen wird dem sich Verteidigenden die fehlende Schuld des
Angreifers erkennbar sein. Weder vergibt er sich dann etwas, wenn er
seine Verteidigung an der Güterabwägung orientiert, noch nimmt das
allgemeine Rechtsbewußtsein Schaden, wenn in derartigen Fällen das
Notwehrrecht nicht in seiner Härte und Schneidigkeit, sondern nur
abgewogen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwen-
dung kommt. Irrtumsfälle könnten in entsprechender Anwendung der
Regelungen der §§ 16 und 17 StGB angemessen gelöst werden.

Abgesehen von den soeben erörterten Fällen der Angriffe Schuldloser


bedarf es noch in einem weiteren Bereich der Einschränkung der Not-
wehrbefugnis. Es sind dies die Fälle der Behandlung der Notwehr bei -
von schuldfähigen Tätern ausgehenden - Angriffen auf geringwertige
Güter. Im wesentlichen stimmt man in der Sache darin überein, daß es
hier irgendwo eine Grenze für die uneingeschränkte Ausübung der
Notwehr geben muß. Wohl kaum ein Autor dürfte bei „ganz außerge-
wöhnlicher Unverhältnismäßigkeit" das harte Notwehrrecht zulassen
wollen. Das Problem ist nur, objektive Kriterien aufzuzeigen, in wel-
chem Bereich die Notwehr in welcher Weise zu beschränken ist.
684 Friedrich-Wilhelm Krause

Daß es sich hierbei um Abwehr angreifenden Unrechts handelt, ist


nicht zu bestreiten, ebensowenig, daß auch hier das Recht dem Unrecht
grundsätzlich nicht zu weichen braucht, daß man sich auch gegen
Bagatellangriffe wehren darf.
Aus diesem Grunde wäre es auch nicht gerechtfertigt, selbst bei
Bagatellangriffen die Notwehrbefugnis völlig ausschließen zu wollen.
Jedoch muß eine Grenze gefunden werden, wo die Anwendung der zur
erfolgreichen Abwehr an sich erforderlichen Verteidigung gänzlich maß-
los erscheint angesichts des krassen Mißverhältnisses zwischen dem
Wert des Angriffsobjekts und des durch die Verteidigung verletzten
Rechtsguts44. Nur eben, „wo soll überhaupt die Grenze zwischen dem
noch verteidigungsfähigen wertvolleren und dem nicht mehr verteidi-
gungswürdigen geringerwertigen Rechtsgut gezogen werden"45? Spendet
ist beizupflichten, daß - von ganz krassen Ausnahmefällen abgesehen -
die heutige Tendenz abzulehnen sei, das Notwehrrecht mit dem Hin-
weis auf die Nichtverhältnismäßigkeit der kollidierenden Güter einzu-
schränken oder sogar, soweit eine unter Umständen zielgerichtete
Tötung zur Verteidigung von Sachgütern rundweg für unzulässig erklärt
wird, ganz auszuschließen46. Aber um diese „ganz krassen Ausnahme-
fälle" gerade geht es hier, um den Versuch, die Grenze des Notwehr-
rechts berechenbar zu machen, Notwehr auch im Bereich der kleinen,
der Alltagskriminalität nicht zum Glücksspiel werden zu lassen. Wollte
man dem gebrechlichen Alten das Recht nehmen, auf den kräftigen
jungen Wohnungseinbrecher, der es nur auf Bargeld abgesehen hat, und
seien es auch nur 50 DM, zu schießen und ihn unter Umständen zu
töten, wenn er sich anders nicht wehren kann, dann würde sich in der
Tat die Rechtsordnung selbst aufgeben, das wäre geradezu eine Einla-
dung an den Verbrecher.
Im Anschluß an Oetker argumentiert H. Mayer47, wenn der angegrif-
fene Wert allzu gering sei, so werde der Angriff zum bloßen Unfug,
gegen welchen nur die Unfugabwehr zulässig sei; diese dürfte sich nur
unblutiger Mittel bedienen. Niemand bezeichne es als Angriff, wenn der
ungezogene Zechgenosse einem anderen dessen Bier austrinken wolle.
Richtig ist, daß zwar unangenehme, aber sozial übliche Belästigungen
wie Schieben oder Stoßen in einer Menschenmenge oder dergleichen48 in

44 Dieses Problem nimmt in der Literatur seit langem einen breiten Raum ein. Verwie-

sen sei auf Spendet, a. a. O., § 32 Rdn. 307-320 und die dort Zitierten.
45 Spendel, a. a. O., § 32 Rdn. 319 unter Hinweis auf M. E. Mayer und Schmidhäuser.
46 A . a . O . , § 3 2 Rdn.320; anders neuerdings Frister, GA 1985, 553ff.

47 Strafrecht AT, Stuttgart 1953 S.204 mit weiteren Nachweisen S.209 A n m . 4 0 ; s.

ferner Maurach/Zipf, AT 1 (6.), S.340 Rdn. 17 und Sch.-Schr.-Lenckner (21.), § 3 2


Rdn. 49.
48 Weitere Beispiele bei Sch.-Schr -Lenckner, a. a. O., Rdn. 49.
Notwehr bei Angriffen Schuldloser 685

der Regel ebensowenig einen „Angriff" im Sinne des § 32 StGB darstel-


len wie etwa als Scherz gemeinte 'Plumpheiten. Hier wird man angesichts
der Gesamtumstände mehr auf die Intention des Belästigenden abstellen
müssen. Hingegen dürfte allein die Berücksichtigung des materiellen
Werts des angegriffenen Rechtsguts kein zureichendes Kriterium zur
Abgrenzung gegenüber dem Unfug sein. Nimmt der Stadtstreicher dem
Passanten eine Mark weg, um sich ein weiteres Bier leisten zu können,
so ist das Raub und kein Unfug. Verteidigt der auf frischer Tat betrof-
fene Dieb, der dem Passanten eine Mark gestohlen hat, diesem gegen-
über seine Beute, so ist das ebenfalls kein Unfug, sondern ein Verbre-
chen nach §252 StGB. Verabreden sich Schüler, in der Pause in einem
Geschäft Waren zu stehlen, um sich gegenseitig ihre Geschicklichkeit
und ihren Mut zu beweisen, so ist ihr Tun kriminell, nämlich Diebstahl,
selbst wenn die Beute noch so klein ist, und nicht bloß Unfug.
Ist dem zwar zuzustimmen, daß sich die bloße Unfugabwehr nur
unblutiger Mittel bedienen dürfe, so wird sich doch eine allgemein
akzeptierte, an objektiven Kriterien orientierte Definition des „Unfugs"
im Gegensatz zum „rechtswidrigen Angriff" im Sinne des §32 StGB
nicht finden lassen. Auch bleibt die Frage offen, ob bei der Unfugab-
wehr die Verteidigung mit Hilfe nur unblutiger Mittel an Proportionali-
tätserwägungen gebunden ist. Zwar wird wohl kaum jemand H. Mayer
widersprechen, um dessen scherzhaftes Beispiel aufzugreifen49, daß nie-
mand eine zänkische Ehefrau erschlagen darf, weil er anders ihren
Redefluß nicht zu hemmen vermag. Aber darf man sie in den Keller
sperren? Wohl kaum! Darf man die wertvolle Stereoanlage seines Nach-
barn oder die teure Verstärkerausrüstung einer in der Nähe gastierenden
Band zerschlagen, wenn man sich in seiner Nachtruhe gestört fühlt und
die Polizei wegen anderweitiger Einsätze verhindert ist, für Ruhe zu
sorgen? So vermag die prinzipiell richtige Unterscheidung von „Angriff"
und bloßem „Unfug" und dessen unblutiger Abwehr in Grenzfällen
auch nicht weiterzuhelfen.
Einerseits kann es keine Frage sein, daß man sich auch im Bagatellbe-
reich gegen Angriffe wehren darf, hier jedoch eine zur erfolgreichen
Abwehr zwar erforderliche, aber in ihren Auswirkungen völlig maßlose
Verteidigung nicht hingenommen werden kann. Andererseits ist eine
exakte, an Hand objektiver Kriterien festlegbare und allseits akzeptierte
abstrakte Abgrenzung gegenüber diesem Bagatellbereich nicht möglich.
So bleibt zu überlegen, ob sich nicht aus der diesen Ausführungen
vorangestellten These, daß jedenfalls dort, wo die Gedanken des Selbst-

49 A. a. O., S. 204.
686 Friedrich-Wilhelm Krause

schutzes und der Bewährung der Rechtsordnung zusammentreffen, die


Notwehrbefugnis nicht angetastet werden darf, eine Lösung auch für das
hier anstehende Problem ableiten läßt.
Das Selbstschutzinteresse kann auch bei Bagatellangriffen nicht
bestritten werden. Es läßt sich aber darauf verweisen, daß der Gedanke
der Bewährung der Rechtsordnung immerhin dort Einschränkungen
hinnehmen kann, wo selbst das staatliche Verfolgungsinteresse, das im
Legalitätsprinzip seinen Niederschlag findet, wegen des Bagatellcharak-
ters des Angriffs auf die Rechtsordnung eingeschränkt ist. Und das trifft
zu auf die Fälle „absoluter" Geringfügigkeit 50 nach § 153 StPO, ferner
auf die des §383 Abs. 2 StPO, jedoch nicht auf die anderen Fälle der
§§ 153 äff StPO, bei denen von Strafverfolgung oder von Strafe abgese-
hen werden kann51. Innerhalb dieses Bereiches ist es vertretbar und
angemessen, die Notwehrbefugnis in der Weise zu beschränken, daß
eine „völlig maßlose Verteidigung" durch § 32 StGB nicht mehr gedeckt
wird. Es kommt also nicht auf die Relation der in Frage stehenden
Rechtsgüter an, sondern auf die Gesamtwürdigung des Geschehens,
wobei die konkreten Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. In
diesem Rahmen kann naturgemäß auch die Frage der Verhältnismäßig-
keit eine Rolle spielen. Die Wegnahme einiger Kartoffeln in Zeiten der
Hungersnot oder Lebensmittelbewirtschaftung wäre sonach anders zu
bewerten als in Zeiten allgemeinen Wohlstandes.
Allerdings ist es nicht zu verkennen, daß dem Kriterium der „geringen
Schuld" in §153 StPO eine juristische Wertung zugrunde liegt, über
deren Auslegung Zweifel bestehen können und gerade in plötzlich
auftretenden Notwehrsituationen kaum Zeit für eine gelassene Abwä-
gung aller Umstände bleiben kann. Auf der anderen Seite jedoch besteht
auch für die Strafverfolgungsorgane bezüglich der Anwendung des § 153
StPO kein unbeschränktes Ermessen, sondern es handelt sich bei dem
Begriff der „geringen Schuld" im Sinne dieser Bestimmung um einen
unbestimmten Rechtsbegriff 52 , hinsichtlich dessen sich eine gewisse Pra-
xis eingependelt hat; Literatur und Rechtsprechung sind um seine Kon-
kretisierung bemüht 53 . Und damit liegt bereits mehr vor als eine bloß
unbestimmte Allgemeinklausel, ist immerhin eine gewisse Objektivie-
rung angebahnt und dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 G G

50
Roxin, Strafverfahrensrecht (18.), 1983, S.67; s. auch Montenbruck, JR 1985, 117.
51
Vgl. F. W. Krause, Festschrift für Bruns, S. 86 f.
52
LR-Meyer-Goßner (23.), § 153 Rdn. 37 u. 38 mit weiteren Nachweisen.
53
S. Meyer-Goßner, LR (23.), § 153 Rdn. 38 sowie die dort § 153 vor Rdn. 1 Zitierten
sowie Warda, Dogmtische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962,
S.96 und Bloy, Zur Systematik der Einstellungsgründe von Strafverfahren, GA 1980,
S. 161 ff., 172.
N o t w e h r bei Angriffen Schuldloser 687

etwas entgegengekommen. Verbrechen würden schon auf Grund des


ausdrücklichen Wortlauts des §153 StPO ausscheiden, Vergehen mit
höherer Mindeststrafe zumindest regelmäßig nicht unter § 153 StPO
fallen, weil das Gesetz durch die erhöhte Strafuntergrenze zum Aus-
druck gebracht hat, daß es das Verschulden nicht als gering erachtet54.
So wäre es eine Möglichkeit, auf §153 StPO - und Gleiches gilt
insoweit für § 383 Abs. 2 StPO - zu verweisen und zu sagen, daß in den
Fällen, in denen die Strafverfolgungsorgane wegen absoluter Geringfü-
gigkeit nicht zu verfolgen brauchen, auch für den Bürger die Notwehr-
befugnis eingeschränkt ist, hier dem an sich harten Notwehrrecht Gren-
zen gesetzt sind. Völlig maßlose Verteidigung kann in diesem Bereich
nicht mehr als „dem Recht gemäß", als „gerechtfertigt" akzeptiert
werden.
Meist wird der Angriffene oder der ihm zu Hilfe Eilende aus seiner
Laiensphäre - und mehr kann nicht verlangt werden - die Umstände
bewerten können, die den Angriff als geringfügig im Sinne des § 153
StPO erscheinen lassen. Irrt er sich, kommt man allemal über die
Irrtumsregelungen der § § 1 6 und 17 StGB zu angemessenen Ergebnis-
sen. Der Unsicherheitsfaktor der Zuordnung eines Angriffs als „gering-
fügig" wäre bei dem Verweis auf die entsprechenden Kriterien des § 153
StPO auf ein erträgliches Maß reduziert.
Stimmt man dem zu, dann liegt es nahe, auch in dem Bereich des so
beschriebenen Bagatellangriffs - in gleicher Weise wie bei Angriff
Schuldloser - die Notwehrbefugnis gemäß der Verhältnismäßigkeits-
klausel des § 2 2 8 B G B einzuschränken: Verteidigung nur so weit, als der
durch sie zu erwartende Schaden nicht außer Verhältnis zur Gefahr
steht55.

Die vorgetragenen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfas-


sen: Notwehr kann es nur gegen von Menschen ausgehende Angriffe
geben. An dem Satz, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen
braucht, sollte nicht gerüttelt, die Notwehr als Bestandteil unserer
Rechtsordnung - allen Zeitströmungen zum Trotz - nicht in Frage
gestellt werden. Unerträglich jedoch wäre eine Pervertierung dieser
Institution zur Rechtfertigung einer zur erfolgreichen Abwehr zwar
notwendigen, in ihrem Ergebnis aber maßlosen Verteidigung bei Baga-
tellangriffen. Ferner bedarf es der Bewährung der Rechtsordnung mit

54 KMR-Müller (7.), § 1 5 3 R d n . 5 .
55 D e r Verfasser hatte früher einmal vorgeschlagen, im Bereich der Bagatellangriffe die
Notwehrbefugnis entsprechend den Kriterien des § 3 4 StGB einzuschränken (Festschrift
für Bruns, S. 87 f.). Diese Auffassung wird aufgegeben, weil sie die Verteidigungsbefugnis
zu sehr einschränkt.
688 Friedrich-Wilhelm Krause

Hilfe dieses den Angreifer unter Umständen hart treffenden Rechts nicht
gegenüber Angriffen Schuldloser, zu denen die Betrunkenen nicht zäh-
len. Um aber auch in diesem Bereich - bei Bagatellangriffen und
Angriffen Schuldloser - den Umfang der Verteidigungsbefugnis nicht
zufälliger Interpretation zu überlassen, wird vorgeschlagen, hier den
Umfang der Verteidigung nach den Kriterien des §228 B G B zu
beschränken. Als Bagatellangriff wäre ein Angriff anzusehen, der nach
den Gesamtumständen ein solcher von geringer Schuld im Sinne des
§153 StPO ist. Ein Irrtum des Angriffenen oder ihm zu Hilfe Eilenden
über den Bagatellcharakter des Angriffs oder über die mangelnde Schuld
des Angreifers kann durch die entsprechende Anwendung der §§16 und
17 StGB angemessen berücksichtigt werden.
Grundlage und Rechtsnatur des Notstands
im spanischen Strafgesetzbuch*
JOSÉ CEREZO M I R

Es ist für mich nicht nur eine Ehre, sondern auch ein tiefes inneres
Bedürfnis, Hilde Kaufmann durch die Mitwirkung an dieser Gedächt-
nisschrift zu danken. Ich lernte sie Ende der fünfziger Jahre an der
Universität Bonn kennen, und mich verband mit ihr seither eine enge
kollegiale Freundschaft. Ihr großes wissenschaftliches Können verei-
nigte sich mit außergewöhnlichen menschlichen Qualitäten. Als Beitrag
zu der Gedächtnisschrift widme ich ihr einen Ausschnitt des noch
unveröffentlichten Kapitels über den Notstand meines „Curso de
Derecho penal español. Parte General". Der Text wurde hierzu an
einigen Stellen etwas gekürzt.
Die Regelung des Notstands im spanischen Recht ist völlig anders als
die des deutschen Rechts. Unser Zivilgesetzbuch enthält keine Bestim-
mungen über den Notstand, und das Strafgesetzbuch kennt nur den
Ausschließungsgrund + der Ziff. 7 des § 8. Diesem zufolge ist von
strafrechtlicher Verantwortung befreit: „Wer, veranlaßt durch einen
Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechts-
gut eines anderen verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausge-
setzt daß folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens. Das zugefügte
Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Zweitens. Die
Notstandslage darf nicht absichtlich durch den Täter herausgefordert
worden sein. Drittens. Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines
Berufs oder Amts die Verpflichtung haben, sich zu opfern."
Bis zu der anläßlich der Teilreform des Strafgesetzbuchs von 1944 in
§ 8, Ziff. 7 erfolgten Einbeziehung der Fälle, in denen das zugefügte
Übel gleich groß wie das zu vermeidende ist, sah die herrschende
Meinung den Notstand als einen Rechtfertigungsgrund an, der in dem

* Übersetzung von cand. iur. Anke Voswinkel.


+ = eximente (span.) = Ausschließungsgrund als allgemeine Bezeichnung für alle
Gründe, welche eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen (Anmerkung der
Übersetzerin).
690 José Cerezo Mir

Prinzip des überwiegenden Interesses begründet war1. Bis dahin war für
die Annahme dieses Ausschließungsgrundes erforderlich, daß das zuge-
fügte Übel kleiner als das zu vermeidende war. Mit der Einbeziehung
der Fälle einer Kollision gleichgewichtiger Interessen in denselben Aus-
schließungsgrund glaubten Antón Oneca und Rodríguez Muñoz, sich
vor der Alternative zu befinden, die Gesamtheit des Ausschließungs-
grunds entweder als einen einfachen Schuldausschließungsgrund zu
begreifen oder anzunehmen, daß die Vorschrift trotz der formalen
Einheit einen Rechtfertigungsgrund und einen Schuldausschließungs-
grund beinhaltet2. Die Möglichkeit, die Gesamtheit des Ausschließungs-
grunds als einfachen Schuldausschließungsgrund anzusehen, lehnten
Antón Oneca und Rodríguez Muñoz ab. „Es widerstrebt uns jedoch zu
glauben", sagte Antón Oneca, „daß jedes Notstandsdelikt bloß schuldlos
ist: Wenn wir uns eines fremden Boots bemächtigen, um jemanden, der
zu ertrinken droht, zu retten, oder einen halb Erstickten, um ihn
wiederzubeleben, auf der Suche nach Wärme und Kleidung gegen den
Willen des Eigentümers in ein fremdes Haus bringen, darf man keine
Notwehr gegen unser wohltätiges Tun zulassen3." Antón Oneca und
Rodríguez Muñoz kamen deswegen zu der Ansicht, daß der Notstand
im Fall einer Kollision ungleichgewichtiger Interessen, bei dem das
zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, einen auf dem Prinzip
des überwiegenden Interesses fußenden Rechtfertigungsgrund darstellte,
während der Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger Interes-
sen ein bloßer Schuldausschließungsgrund wäre4. Diese Beurteilung fand
starken Anklang und bildet noch heute die herrschende Meinung in
unserem Land5. Der Grund der Schuldausschließung in den Fällen einer

1 Siehe z . B . P.Jerónimo Montes, Derecho penal español, Parte General, I, Madrid


1917, S. 455 ff; Cuello Calón, Derecho Penal, I, Parte General, 3. Aufl., Barcelona, 1935,
S. 371 ff; Castejón, Derecho penal, Parte general, Madrid, 1931, S. 123; Rodríguez Muñoz,
Bemerkungen zu seiner Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal von Ed. Mezger, I,
Ed. Rev. de Derecho Privado, Madrid, 1935, S. 378 f; I. Sánchez Tejerina, Derecho Penal
Español, I, 3. Aufl., Madrid, 1942, S.235; und Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho
Penal, IV, Buenos Aires, 3. Aufl., 1976, S.358.
2 Siehe Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, Madrid, 1949, S.266 und 271 f

und Rodríguez Muñoz, Bemerkungen zu seiner Ubers, des Tratado de Derecho Penal von
Ed. Mezger, I, Madrid, 1955, S. 450 f.
3 Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266.

4 Antón Oneca forderte zur Anerkennung des Rechtfertigungsgrunds, daß das zu


vermeidende Übel schwer und offenkundig höherwertig als das verursachte ist; siehe
a. a . O . , S.266 und 271.
5 Siehe Cuello Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , 18. Aufl.,
Barcelona, 1980, S. 407 ff; Ferrer Sama, Comentarios al Código Penal, I, Murcia 1946,
S.200ff; Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S.359, 368 ff und 394; Díaz
Palos, Estado de necesidad, Sonderdruck von la N . E . J . Seix, Barcelona, S. 32 ff; Sáinz
Cantero, La exigibilidad de conducta adecuada a la norma en Derecho Penal, Universidad
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 691

Kollision gleichgewichtiger Interessen liegt nach Meinung unserer Straf-


rechtler in der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens. Einige
Autoren äußerten Vorbehalte oder Kritik an der übermäßigen Weite des
Ausschließungsgrunds in den Fällen der Nothilfe bei der Kollision
gleichwertiger Interessen6. Antón Oneca schlug eine einschränkende
Auslegung des Schuldausschließungsgrunds in diesen Fällen vor: „Nur
wenn zwischen dem Helfenden und dem Hilfsbedürftigen eine solche
Verbindung besteht, daß jener gezwungen ist, die fremde Notlage als
eigene anzusehen, ist die Nothilfe möglich. Diese wird zwischen den
engsten Verwandten oder ganz ausnahmsweise zwischen durch ähnliche
Gefühle verbundenen Personen vorliegen 7 ."
Die herrschende Meinung sieht sich in ihrer Ansicht, daß der Not-
stand dann, wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist,
einen Rechtfertigungsgrund bilde, nicht durch die Regel 2 des §20
gehindert, die die zivilrechtliche Verantwortung in den Anwendungsfäl-
len des § 8, Ziff. 7 bestimmt. Nach dieser Vorschrift werden die Perso-
nen zivilrechtlich haftbar gemacht, zu deren Gunsten das Übel verhütet
wurde. Diese Verantwortlichkeit ist also nicht Folge einer unerlaubten
Handlung, sondern folgt aus dem Prinzip der Geschäftsführung ohne
Auftrag oder der ungerechtfertigten Bereicherung8.
Von der herrschenden Meinung in der spanischen Strafrechtswissen-
schaft über die Rechtsnatur des Ausschließungsgrunds des Notstands
weicht Gimbernat ab. Er meint, daß der Notstand sowohl in den Fällen
eines Konflikts ungleichwertiger Güter als aus bei der Kollision gleich-
wertiger Güter die Natur eines Rechtfertigungsgrundes besitze9. Entge-

de Granada, 1963, S. 122 ff und Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, Ley penal.
El delito, Barcelona, 1982, S. 377 ff und III, Culpabilidad, Punibilidad, Formas de
aparición, Barcelona, 1985, S. 106 f; ]. Bustos, Manual de Derecho Penal Español, Parte
General, Barcelona, 1984, S.246f und 405 f; und die Urteile des Obersten Gerichtshofs
(Tribunal Supremo) vom 29. September 1965 (A.4018), 15. Juni 1971 (A.2877), 6. Juli
1971 (A. 3443), 5. Februar 1974 (A. 380), 24. September 1974 (A.3404), 5. Oktober 1974
(A. 3910), 26. November 1975 (A.4591), 26. Oktober 1979 (A.3753), 21. Juni 1982
(A. 3564), 22. April 1983 (A.2300) und 11. Oktober 1983 (A.4733).
6 Siehe in diesem Sinn Ferrer Sama, Comentarios al Código Penal, I, S. 202; Cuello
Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 414; und Jiménez de Asúa,
Tratado de Derecho Penal, IV, S. 395 ff.
7 Siehe Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 272, dessen Kriterium Cuello
Calón-Camargo, Derecho Penal, I, Parte General, vol. I o , S. 415 und Díaz Palos, Estado
de necesidad, S.55f beipflichten.
8 Siehe in diesem Sinn Antón Oneca, Derecho Penal, Parte General, S. 266; Jiménez de
Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 374 f; Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 69 ff;
und Sáinz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General, II, S. 378.
' Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, in
Estudios de Derecho Penal, 2. Aufl., Madrid, 1981, S. 155 ff und besonders S. 162 ff
(Gimbernat veröffentlichte diese Arbeit zuerst in deutscher Sprache in der Festschrift für
692 José Cerezo Mir

gen der Differenzierungstheorie10 hält er also eine Einheitstheorie auf-


recht. Gimbernat ist der Ansicht, daß das Recht in der Rechtswidrigkeit
entscheide, was es in allgemeiner Weise allen gegenüber verbieten will,
während es in der Schuld nur gegenüber solchen Personengruppen auf
die Strafe verzichten muß wegen des Mangels an Abschreckungs- und
Hemmungswirkung. Es handelt sich hierbei nicht um eine Frage des
Wollens, sondern des Könnens. Nach Gimbernat betrifft der Notstand
gleichermaßen wie die Notwehr Handlungen, die das Recht nicht ver-
bieten will, obwohl es das könnte, denn die Strafe könnte eine Hem-
mungswirkung entfalten. Dies sei hingegen nicht der Fall beim Strafaus-
schluß für Unzurechnungsfähige oder beim unvermeidbaren Verbotsirr-
tum. In diesen Fällen könne die Strafe ihre Abschreckungswirkung nicht
entfalten. Hier strafe das Recht nicht, und zwar nicht, weil es nicht
wolle, sondern weil es nicht könne11. Diese Unterscheidung zwischen
Rechtswidrigkeit und Schuld und folglich zwischen Rechtfertigungs-
gründen und Schuldausschließungsgründen danach, ob die Strafe Hem-
mungswirkung besitzt oder nicht, überzeugt mich nicht12. Obwohl es im
allgemeinen richtig ist, daß die Strafe Hemmungswirkung entfalten
kann, gibt es sowohl bei der Notwehr als auch beim Notstand Fälle, in
denen das nicht so ist oder dies zumindest fraglich erscheint: Man denke
an die Fälle des rechtswidrigen Angriffs auf das Leben oder die körperli-
che Unversehrtheit bei der Notwehr und die Fälle des Konflikts zwi-

H.Welzel zum 70. Geburtstag, 1974, S. 485 ff), Introducción a la Parte General del
Derecho penal español, Universidad Complutense, Madrid, 1979, S.62f, und Vorwort
zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho penal, Madrid, 1984,
S. 13ff. Beigetreten sind dieser These Gimbernats seine Schüler D.M. Luzón Peña,
Aspectos esenciales de la legítima defensa. Barcelona, 1978, S. 243 ff und A. Cuerda Riezu,
La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 288, 299 ff und besonders 311 ff.
10 Die spanische Differenzierungstheorie über die Rechtsnatur des Notstands deckt sich

nicht mit der deutschen Theorie gleichen Namens. Im deutschen Recht weist man dem
§228 BGB die Natur eines Rechtfertigungsgrunds zu, obwohl das zugefügte Übel größer
als das zu vermeidende sein kann. Im entschuldigenden Notstand des § 35 des deutschen
Strafgesetzbuchs kann das verursachte Übel größer als das abzuwendende sein. Zur
Verhinderung einer Körperverletzung z.B. ist es möglich, eine andere Person des Lebens
zu berauben; siehe in dieser Hinsicht Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch,
21. Aufl., 1982, §35 Nr. 38, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat,
3. Aufl., 1981, S. 181 und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl.,
§35 Nr. 62 f.
11 Siehe E. Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 162 ff.
12 Abgesehen davon, daß, worauf Küper hinweist, das Verbot aller von Rechtferti-

gungsgründen umfaßten Verhaltensweisen den Rahmen einer zweckmäßigen und gerech-


ten Prävention überschreiten würde; siehe W. Küper, Der entschuldigende Notstand - Ein
Rechtfertigungsgrund?, Bemerkungen zur kriminalpolitischen „Einheitstheorie" Gimber-
nat Ordeigs, JZ 1983, S.92 und die Erwiderung Gimbernats im Vorwort zum Buch von
Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal, S. 14 ff.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 693

sehen zwei menschlichen Leben oder der körperlichen Unversehrtheit


zweier Personen beim Notstand13. Gimbernat erkennt dies an, meint
aber, man müsse sich bei der Bestimmung der Rechtsnatur eines Aus-
schließungsgrunds an das halten, was im größten Teil der Fälle
geschieht14. Konsequent wäre jedoch, jedem der genannten Ausschlie-
ßungsgründe eine Doppelnatur beizumessen; in den Fällen, in denen die
Strafe Abschreckungs- oder Hemmungswirkung hätte, würde es sich um
einen Rechtfertigungsgrund handeln und in den Fällen, in denen die
Strafe der besagten Wirkung beraubt wäre, läge ein reiner Schuldaus-
schließungsgrund vor. Andererseits ist die Abschreckungs- oder Hem-
mungswirkung der Strafe bei einigen Unzurechnungsfähigen nicht völlig
ausgeschlossen15 und, was den unvermeidbaren Verbotsirrtum betrifft,
könnte man zugunsten der Unbeachtlichkeit des Verbotsirrtums Erwä-
gungen der Generalprävention vorbringen. Die Auferlegung einer Strafe
in den Fällen des unvermeidbaren Verbotsirrtums könnte als Antrieb
dienen, in jedem Fall die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines
Verhaltens mit größerer Sorgfalt zu prüfen16.
Andererseits bliebe bei der Ansicht, derzufolge das Verhalten des
Notstandstäters im Fall einer Kollision gleichwertiger Interessen recht-
mäßig ist, gegenüber diesem kein Raum für die Notwehr. Gimbernat ist
der Meinung, dies führe zu gerechteren Ergebnissen, denn die Notwehr
als Reaktion auf einen rechtswidrigen Angriff sei nicht dem Erfordernis
der Verhältnismäßigkeit unterworfen. Gegenüber dem Verhalten eines
Notstandstäters im Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Güter kann
man sich hingegen nach Gimbernat seinerseits auf Notstand berufen.
Seiner Meinung nach führt das zu gerechteren Ergebnissen, denn beim
Notstand herrsche ja das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, und das
zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein. Der sich
an die berühmte Planke des Karneades klammernde Schiffbrüchige
könne sich gegenüber dem, der sie ihm entreißen will, nicht auf Not-
wehr berufen, aber natürlich auf Notstand. Damit würden beide gleich-
gestellt, was zu einer gerechteren Lösung führe17. Das ist jedoch nicht

13 Uber die erhebliche Verminderung und gegebenenfalls den Ausschluß der Hem-

mungswirkung der Strafe in den vom entschuldigenden Notstand umfaßten Fällen, siehe
Küper a. a. O., S. 93 f.
14 Siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes
en Derecho Penal, S. 23, Anmerkung 26.
15 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamen-

tales del Derecho Penal, Madrid, 1982, S. 183 f und die dort angeführten Autoren.
16 Siehe meinen Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamen-

tales del Derecho Penal, S. 182 f und die dort angeführten Autoren.
17 Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 168 ff.
Luzón Peña schlägt hingegen de lege ferenda die Schaffung des defensiven Notstands vor,
der die Verursachung eines etwas größeren Übels als das zu vermeidende erlauben soll,
694 José Cerezo Mir

richtig, denn mit der Ansicht, die Handlungen beider seien rechtmäßig,
würde sich das Recht selbst enthalten, den Konflikt zu lösen, und die
Lösung desselben würde dem Recht des Stärkeren übertragen18. Die von
Gimbernat vorgeschlagene Lösung schließt außerdem die Möglichkeit
ein, sich auf Notstand gegenüber einem durch einen Rechtfertigungs-
grund gedeckt Handelnden zu berufen. Danach wäre es möglich, den
Notstand zum Beispiel gegenüber einem Notwehrtäter anzuführen.
Gimbernat versucht, diese Schwierigkeit zu vermeiden, indem er aus-
führt, daß alle anderen Rechtfertigungsgründe (Notwehr, Handlungen
in Erfüllung einer Pflicht oder in rechtmäßiger Ausübung eines Rechts,
Berufs oder Amts, etc.) eine positive Bewertung der von ihnen erfaßten
Verhaltensweisen mit sich brächten, während der Notstand im Fall eines
Konfliktes gleichwertiger Rechtsgüter keine positive Verhaltensbewer-
tung einschließe. Diese Notstandshandlung sei erlaubt und befinde sich
in Ubereinstimmung mit dem Recht, aber sie werde von der Rechtsord-
nung nicht positiv bewertet19. Positive Wertschätzung erfahre hingegen

wenn die Notstandshandlung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht. Wie
Luzón Peña sagt, „würde es sich um die Verallgemeinerung des Gedankens handeln, der
dem §228 des deutschen B G B für den konkreten Fall der durch Tiere oder Sachen
verursachten Gefahren zugrunde liegt"; siehe Luzón Peña, Aspectos esentiales de la
legítima defensa, S. 249 f Anm. 438. In seiner neuen Arbeit „Legítima defensa y estado de
necesidad defensivo" in Comentarios a la legislación penal, V, vol. I o , Madrid, 1985,
S. 269 f schlägt Luzón sogar schon die Anwendung eines übergesetzlichen Rechtfertigungs-
grunds des defensiven Notstands durch Analogie zu den Rechtfertigungsgründen der
Notwehr und des Notstands vor. Einmal abgesehen von der Frage der Zweckmäßigkeit
der Einführung dieser neuen Notstandsfigur in unserem Recht (siehe in dieser Hinsicht
Anmerkung 63) bekundet der Vorschlag Luzóns deutlich die Unzulänglichkeit der
Lösung, die die Möglichkeit der Notwehr gegenüber der Handlung des Notstandstäters im
Fall eines Konflikts gleichgewichtiger Interessen ablehnt, oder anders gesagt, die Unzuläs-
sigkeit der Einschränkung, die in diesem Fall das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit bei
der Reaktion auf die Notstandshandlung aufstellt, d. h. daß das verursachte Übel nicht
größer als das zu vermeidende sei.
18 Siehe auch in diesem Sinn Küper, a.a.O., S.94f. Der Einwand ist auch gegenüber

der These von Carboneil gültig, nach welchem der Notstand im Fall eines Konflikts
gleichwertiger Interessen nur dann ein Rechtfertigungsgrund ist, wenn keine Aufteilung
der Güter vorausgegangen ist, die durch die Notstandshandlung geändert werden könnte;
er führt das Beispiel der Planke des Carneades an, wenn die zwei Schiffbrüchigen sie
gleichzeitig ergreifen; siehe / . C. Carbonell Mateu, La justificación penal, Madrid, 1982,
S. 60.
19 Dies ist nach Gimbernat der wahre Inhalt der Neutralitätstheorie, die er ablehnt.
Nach ihr sind die Tathandlungen im Notstand im Fall einer Kollision gleichgewichtiger
Rechtsgüter weder rechtmäßig noch rechtswidrig, sondern rechtlich neutral, gleichgültig
oder bloß unverboten. In der Bundesrepublik Deutschland vertritt sie zur Zeit H. Mayer,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 189ff und Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1967, S.92f
und 133 und Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entschei-
dung, Festschrift für R. Maurach, 1972, S. 327ff. Siehe Gimbernat, El estado de necesidad:
un problema de antijuridicidad, S. 166 ff. Gegen die Theorie der Neutralität oder vom
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 695

die Notstandshandlung im Fall einer Kollision ungleichwertiger Güter,


wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende sei. Darum
könne man sich auf Notstand gegenüber einem Notstand in den Fällen
des Widerstreits zwischen gleichgewichtigen Rechtsgütern berufen, aber
nicht in denen eines Konflikts ungleichgewichtiger Güter. Diese Unter-
scheidung unter den Rechtfertigungsgründen entbehrt meines Erachtens
der Grundlage. Bei den Rechtfertigungsgründen (Erlaubnissätze) erlaubt
das Recht ein tatbestandsmäßiges Verhalten dann, wenn bestimmte
Umstände vorliegen20, und wenn das so ist, dann weil es dieses Verhalten
unter den besagten Umständen positiv bewertet. Wenn ein Verhalten
von einem Rechtfertigungsgrund erfaßt ist, wenn es erlaubt ist, dann
liegt der Grund in seiner positiven Bewertung durch das Recht. In den
Fällen eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter bliebe daher kein
Raum für eine Berufung auf den Notstand gegenüber einem Notstand,
wenn der Ausschließungsgrund auch in solchen Fällen die Rechtsnatur
eines Rechtfertigungsgrundes hätte21.
Nach Auffassung von Gimbernat führt die Differenzierungstheorie in
den Fällen einer Kollision gleichwertiger Rechtsgüter auf den Gebieten
der Teilnahme und des Irrtums zu unzulässigen Konsequenzen. Die
Teilnehmer müßten bestraft werden, da die Handlung des Täters nur
schuldlos und damit rechtswidrig sei22, und der Irrtum über die den
Notstand begründenden Umstände ebenso unbeachtlich sein müsse wie
die irrtümliche Annahme des Täters, schuldlos zu sein23. Die Argumen-
tation erscheint mir nicht überzeugend, denn die Bestrafung der Teil-
nehmer ist möglich und gerecht, vorausgesetzt, es liegt nicht auch bei
ihnen ein Schuldausschluß vor. In unserem Strafgesetzbuch gibt es keine

rechtsfreien Raum siehe insbesondere Hirsch, Strafrecht und rechtsfreier Raum, Festschrift
für P. Bockelmann zum 70. Geburtstag, 1979, S. 89 ff und bei uns A. Cuerda Riezu, La
colisión de deberes en Derecho Penal, S. 158 ff.
20
Siehe mein Curso de Derecho Penal Español, Parte General, I, Introducción. Teoría
jurídica del delito/1, 3. Aufl., Madrid, 1985, S.403.
21
Der Versuch Cuerda Riezus, die besagte Möglichkeit gangbar zu machen, vermag
auch nicht zu überzeugen. Nach Cuerda Riezu erteilt das Recht beim Notstand im Fall
eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter dem Täter eine Befugnis (oder eine Pflicht) zur
Verletzung des Rechtsguts einer anderen Person; aber besagter Befugnis (oder Pflicht)
entspricht keine Duldungspflicht seitens der Person, die die Notstandshandlung trifft, die
sich auch auf die gleiche Befugnis berufen kann; siehe Cuerda Riezu, La colisión de
deberes en Derecho Penal, S. 311 ff. Wenn der Notstand im Fall einer Kollision gleichge-
wichtiger Güter ein Rechtfertigungsgrund wäre, würde das Verhalten rechtmäßig sein und
die Verletzung des Rechtsguts der von der Notstandshandlung betroffenen Person wäre
kein Übel, denn der Begriff des Übels ist ein normatives Element des Ausschließungs-
grunds des Notstands, das einen Bezug auf die Wertungen des Rechts mit sich bringt.
22
Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 160.
23
Siehe Gimbernat, El estado de necesidad: un problema de antijuridicidad, S. 161 f
und 165 f.
696 José Cerezo Mir

Irrtumsregelung über die Schuldausschließungsgründe, aber meiner


Meinung nach sollte man die Regelung über den Verbotsirrtum in § 6 bis
a), Abs. 3, analog (Analogie „in bonam partem") anwenden. Das würde
für die Differenzierungstheorie keine Inkonsequenz bedeuten24, denn
bei unvermeidbarem Irrtum schließt die irrtümliche Annahme des Vor-
liegens von Umständen, die einen Schuldausschließungsgrund begrün-
den, die Schuld aus, d. h. die persönliche Vorwerfbarkeit des rechtswid-
rigen Verhaltens. Und bei vermeidbarem Irrtum mindert sie die
Schuld25. Nur der Irrtum über die Schuldfähigkeit, d. h. die irrtümliche
Annahme des Vorliegens von Unzurechnungsfähigkeit begründenden
Umständen (Wahnsinn, vorübergehende Geistesstörung, Minderjährig-
keit etc.) muß logischerweise unbeachtlich sein, denn sie beeinträchtigt
die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seines Verhaltens zu verstehen
oder dieser Kenntnis entsprechend zu handeln, tatsächlich nicht26.
Roldan lehnt ebenfalls die Auffassung ab, derzufolge der Notstand im
Fall eines Konflikts zwischen gleichgewichtigen Rechtsgütern im spani-
schen Strafgesetzbuch als Schuldausschließungsgrund anzusehen sein
soll. Für ihn ist der Notstand in unserem Strafgesetzbuch in jedem Fall
ein Rechtfertigungsgrund. Er hält es für unhaltbar, die Annahme eines
Schuldausschließungsgrundes mit dem Gedanken der Unzumutbarkeit
normgerechten Verhaltens zu begründen. Beim Notstand im Fall eines
Widerstreits gleichwertiger Güter werde die Nothilfe, d.h. das Ein-
schreiten Dritter, ohne jede Einschränkung zugelassen. Das zu vermei-
dende Übel kann nicht nur das Leben, die körperliche Unversehrtheit
oder die Freiheit betreffen, sondern sogar irgendein Rechtsgut vermö-
gensrechtlicher Art. Der Gedanke der Zumutbarkeit, der auf dem
Selbsterhaltungstrieb beruht, könne nicht den Ausschluß der Verant-
wortlichkeit in allen Fällen eines Konflikts gleichwertiger Rechtsgüter

24 Wie Gimbernat (a. a. O.) und Roldan Barbero, Estado de necesidad y colisión de
intereses, Cuadernos de Política Criminal, Nr. 20, 1983, S. 545 annehmen.
25 Siehe dazu Küper, a. a. O., S. 94. Für den Schuldausschluß in den Fallen der auf
einem unvermeidbaren Irrtum beruhenden Annahme des Vorliegens von einen Schuldaus-
schließungsgrund begründenden Umständen ist es meiner Meinung nach ebenso wie beim
tatsächlichen Vorliegen eines Schuldausschließungsgrundes unbeachtlich, daß der Täter in
einigen Fällen in irgendeinem Maß noch fähig wäre, sich durch die Norm motivieren zu
lassen. Wenn die Fähigkeit zur Motivierung durch die Norm oder zu rechtskonformem
Handeln erheblich beeinträchtigt ist, kann die Rechtsordnung keinen Vorwurf machen.
Anderseits würde dem Schuldausschluß in den Fällen des vermeidbaren Irrtums die
Grundlage genauso wie beim vermeidbaren Verbotsirrtum fehlen. Die Erwiderung Gim-
bernats auf die Einwände Küpers erscheint mir deshalb in diesem Punkt nicht überzeu-
gend; siehe Gimbernat, Vorwort zum Buch von A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes
en Derecho penal, S. 24 ff.
26 Siehe in diesem Sinn Küper, a. a. O. S. 94.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 697

begründen27. Da für Roldan die Tathandlung im Notstand im Fall einer


Kollision gleichwertiger Rechtsgüter rechtmäßig ist, besteht seiner
Ansicht nach dieser gegenüber für Notwehr kein Raum, sondern nur für
den Notstand. Das Verhalten der Teilnehmer ist immer straflos und der
Irrtum über die den Ausschließungsgrund begründenden Umstände
wäre ein Verbotsirrtum28.
Gegen die Kritik Roldans läßt sich einwenden, daß, wenn schon die
Schuldausschließung in allen Fällen eines Konflikts gleichgewichtiger
Rechtsgüter unbefriedigend bleibt, der Ausschluß der Rechtswidrigkeit
noch weniger annehmbar ist. Die Tathandlung im Notstand im Fall
einer Kollision gleichwertiger Rechtsgüter wäre rechtmäßig, im Ein-
klang mit dem Recht. In den Fällen der Nothilfe wäre jede beliebige
Person befugt, einzugreifen und sich die Rolle des Schiedsrichters
anzumaßen, und ihr Verhalten wäre rechtmäßig, ohne daß man sich ihm
gegenüber also auf Notwehr berufen könnte29. Man könnte wegen der
oben gegenüber der These Gimbernats vorgebrachten Gründe auch den
Notstand nicht anführen. Die Teilnehmer wären auf jeden Fall straflos.
Nur mittels einer restriktiven Auslegung des Notstands im Fall eines
Konflikts gleichgewichtiger Interessen auf der Grundlage des Schuldbe-
griffs ist es, wie wir sehen werden, möglich, zu befriedigenden Ergebnis-
sen zu kommen.
Mir Puig weicht ebenfalls von der herrschenden Meinung ab, obwohl
er die Existenz eines rechtfertigenden und eines entschuldigenden Not-
stands einräumt. Er hält den Ausschließungsgrund des Notstands in § 8,
Ziff. 7 des spanischen Strafgesetzbuchs für einen Rechtfertigungsgrund.
Die Fälle des entschuldigenden Notstands muß man seiner Meinung
nach als von dem Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst in
§ 8, Ziff. 10 umfaßt betrachten30, und wenn das nicht möglich ist, soll ein
Ausschließungsgrund durch Analogie anzuerkennen sein31. Der Aus-

27 In seiner Arbeit „Estado de necesidad y colisión de intereses" (S. 525) meint Roldan

sogar, daß die Idee der Unzumutbarkeit normadäquaten Verhaltens verbunden ist mit der
Vorstellung vom Notstand als Konflikt von Rechtsgütern und nicht von Interessen.
28 Siehe H. Roldan Barbero, La naturaleza jurídica del estado de necesidad en el Código

Penal Español: crítica a la teoría de la exibilidad de la conducta adecuada a la norma,


Fundación Juan March, Serie Universitária, n° 124, Madrid 1980, S. 34 ff und Estado de
necesidad y colisión de intereses, S. 509 ff.
29 Siehe in diesem Sinn auch J, Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español,
Parte General, S. 245.
30 Nach der Ziff. 10 des § 8 ist von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit, „wer

veranlaßt durch eine unüberwindliche Angst vor einem gleich großen oder größeren Übel
handelt."
31 Siehe Mir Puig, Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte

General, von Jescheck, I, Barcelona, 1981, S. 505 ff, Problemas de estado de necesidad en
el art. 8, 7°, C. P., in Estudios Jurídicos en honor del profesor Octavio Pérez-Vitoria, I,
Barcelona, 1983, S. 505 ff und Derecho Penal, Parte General, Barcelona P.P.U., 1984,
698 José Cerezo Mir

schließungsgrund des § 8, Ziff. 7 könne nicht den rechtfertigenden und


den entschuldigenden Notstand einschließen, denn in ihm wird eine
einheitliche Behandlung verlangt, und andererseits passen die Weite der
erlaubten Nothilfe, das Fehlen einer Beschränkung der geschützten
Rechtsgüter auf die höchstpersönlicher Art und das Erfordernis eines
objektiven Vergleichs der Übel nur für eine Regelung des Notstands als
Rechtfertigungsgrund32. Mir Puig besteht darauf, daß im Ausschlie-
ßungsgrund des Notstands nicht die kollidierenden Rechtsgüter, son-
dern das verursachte und das zu vermeidende Übel zu vergleichen seien.
Auch bei Gleichwertigkeit der Güter werde das zugefügte Übel trotz-
dem fast immer größer sein, denn jede tatbestandsmäßige Handlung
bringe eine Störung der Rechtsordnung mit sich, und, wenn es sich bei
dem verletzten Rechtsgut um ein individuelles handele, werde es
zugleich eine anomale Einmischung in die Sphäre des Rechtsgutsträgers
bedeuten. Nur wenn das zu vermeidende Übel gleichfalls in einem
tatbestandsmäßigen Verhalten bestehe und deshalb auch eine Störung
der Rechtsordnung bedeute, könnten die Übel gleichgroß sein. Für die
Anwendung des Notstands als Rechtfertigungsgrund reiche es daher
nicht aus, daß die Rechtsgüter gleichen Wert haben, und auch nicht, daß
das zu rettende Gut gegenüber dem verletzten nur geringfügig höherran-
gig sei, denn der Unterschied zwischen den Gütern werde in diesem Fall
normalerweise ausgeglichen durch die Störung der Rechtsordnung. Es
sei daher erforderlich, daß das gerettete Gut das verletzte wesentlich
übertreffe".
Wie Mir Puig ins Gedächtnis ruft, ist es richtig, daß nach der
Notstandsregelung des § 8, Ziff. 7 unseres Strafgesetzbuchs nicht das
gerettete und das verletzte Rechtsgut zu vergleichen sind, sondern das
verursachte und das zu vermeidende Übel. Einwände können dagegen
erhoben werden, daß Mir Puig in die Gewichtung der Übel die Störung
der Rechtsordnung einbezieht, denn diese wird in ihrem Bestand und
Ausmaß durch das Ergebnis der Interessenabwägung bedingt sein34.
S. 389 f und 401 f, dessen These Silva Sánchez, Sobre el estado de necesidad en Derecho
penal, español, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1982, fase. 3 o , S. 664
beipflichtet.
32 Siehe Bemerkungen zur Übersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General,

von Jescheck, I, S. 505 f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 und
Derecho Penal, Parte General, S. 389.
53 Siehe Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte General,

von Jescheck, I, S.507f, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P., S. 506 ff
und 515 ff und Derecho Penal, Parte General, S. 389 f und 401 f.
34 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 69, der

die von Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 21. Aufl., 1982, § 3 4 Nr. 22 und
Nr. 40, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 113f, 123 ff und G. Jakobs, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 351 vertretene Gegen-
meinung zurückweist.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 699

Wenn das verursachte Übel kleiner als das abzuwendende ist, stimmt das
Verhalten mit den Zielen der Rechtsordnung überein. Eine Störung der
Rechtsordnung ist nur dann anzunehmen, wenn das zugefügte Übel
gegenüber dem zu vermeidenden größer oder gleich groß ist, und im
letzteren Fall wird der Eingriff in die Rechtsordnung ausgeglichen durch
den Schutz, den sie durch die Abwendung des gleich großen Übels
erfährt". Andererseits darf man bei der Interessenabwägung nicht nur
den Wert der Rechtsgüter und den anomalen Eingriff in die Sphäre des
Verletzten berücksichtigen, sondern auch, ob die Rechtsgüter verletzt
oder nur gefährdet wurden, die Schwere der Verletzung oder der
Gefahr, ob die Verletzung wiedergutzumachen ist oder nicht, sowie
gegebenenfalls den Handlungsunwert. Im Ergebnis hält Mir Puig den
Notstand für einen Rechtfertigungsgrund, wenn das zugefügte Übel
kleiner als das zu vermeidende ist und wenn beide Übel gleich groß sind.
Ist das verursachte Übel größer als das abzuwendende, wird das Verhal-
ten von dem Ausschließungsgrund des § 8, Ziff. 7 nicht erfaßt, aber man
wird es auch nicht, wie Mir Puig vorschlägt, als unüberwindbare Angst
i. S. d. Ziff. 10 desselben Paragraphen verstehen können, denn danach ist
nur derjenige entschuldigt, der auf Veranlassung einer unüberwindlichen
Angst vor einem gleich großen oder größeren Übel handelt. N a c h der
herrschenden Meinung erfolgt die Bewertung der Übel beim Ausschlie-
ßungsgrund der unüberwindbaren Angst wie bei dem des Notstands
nach objektiven, von der Wertung des Handelnden unabhängigen Krite-
rien3'. Auch Mir Puig ist der Ansicht, daß die Bewertung nach objekti-
ven Kriterien zu erfolgen hat, aber er hält eine Unterscheidung für
möglich: „Während man sich im rechtfertigenden Notstand fragen muß,
ob das Übel aus der Sicht eines Durchschnittsbürgers, der den kollidie-
renden Rechtsgütern unparteiisch gegenübersteht, gleich groß oder grö-
ßer ist, ist diese Frage bei der unüberwindlichen Angst aus der Sicht
eines Durchschnittsbürgers in der Situation des Täters zu beantworten.
Hier ist zu fragen: Welches Übel würde ein Durchschnittsbürger, der
sich der gleichen Bedrohung ausgesetzt sieht wie der Täter, für größer
erachten? Während zwischen Leben und körperlicher Unversehrtheit
der unparteiische Durchschnittsbürger ersterem höheren Wert beimes-
sen muß, kann er den Verlust einer Extremität als schwerwiegender für
ihn ansehen als das Übel, das die Tötung eines anderen Menschen auch
für ihn darstellen muß." „Damit der angenommene Durchschnittsbürger

55
Siehe in diesem Sinn J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español, Parte
General, S.250.
36
Siehe, was den Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst betrifft, meinen
Aufsatz „Culpabilidad y pena" in meinem Buch Problemas fundamentales del Derecho
Penal, Madrid, 1982, S. 193.
700 José Cerezo Mir

(normative Annahme) seine Unparteilichkeit verlieren kann, ist es,"


nach Mir Puig, „notwendig, daß das ihn bedrohende Übel eines seiner
höchstpersönlichen Rechtsgüter, wie das Leben, die körperliche Unver-
sehrtheit... gefährdet." „Deshalb wird sich der entschuldigende Not-
stand, der durch den Ausschließungsgrund der unüberwindbaren Angst
des §8, Ziff. 10 erfaßt werden kann, beschränken müssen auf die Fälle,
in denen sich höchstpersönliche Rechtsgüter in Gefahr befinden37." Das
Unterscheidungskriterium, das Mir Puig zwischen der Bewertung der
Übel im Ausschließungsgrund des Notstands und dem der unüberwind-
lichen Angst vorschlägt, erscheint mir nicht überzeugend. In beiden
Fällen muß die Abwägung der Interessen und folglich der Übel anhand
der Wertungen des Rechts vollzogen werden. Es handelt sich um eine
Interessen- und Übelabwägung durch die Rechtsordnung3S. Außerdem
ist es möglich, daß der Täter nicht auf Veranlassung einer unüberwind-
baren Angst handelt, obwohl er sich im Notstand befindet39. Man
könnte einen Ausschließungsgrund auch nicht aus einer Analogie zu § 8,
Ziff. 10, wegen der Existenz einer abnormen Motivation ähnlich der
unüberwindlichen Angst herleiten, da diese Vorschrift ausdrücklich
erfordert, daß die Angst durch Drohung eines gleich großen oder
größeren Übels hervorgerufen worden ist.
Um das Problem der Grundlage und Natur des Ausschließungsgrunds
des Notstands im spanischen Strafgesetzbuch einer befriedigenden
Lösung zuzuführen, ist vor allem die Annahme der herrschenden Mei-
nung einer Überprüfung zu unterwerfen, derzufolge der Notstand unter
der Voraussetzung, daß das zugefügte Übel kleiner als das zu vermei-
dende ist, immer einen Rechtfertigungsgrund bildet40. Wenn ein Chirurg
einer gesunden Person ohne ihre Einwilligung eine Niere entfernt, damit

37 Siehe seine Bemerkungen zur Ubersetzung des Tratado de Derecho Penal, Parte

General, von Jescheck, I, S. 507, Problemas de estado de necesidad en el art. 8, 7°, C. P.,
S. 508 f und Derecho Penal, Parte General, S. 529 und 531 f.
38 Siehe in diesem Sinn auch Cobo del Rosal-Vives Antón, Derecho Penal, Parte
General, Universidad de Valencia, 1984, S.579.
39 Siehe in diesem Sinn auch J. Bustos Ramírez, Manual de Derecho Penal Español,
Parte General, S. 246 und A. Cuerda Riezu, La colisión de deberes en Derecho Penal,
S. 251 (Anmerkung 11).
40 Cobo de Rosal-Vives Antón fordern, damit das Verhalten rechtmäßig ist, daß die

Tathandlung geeignet ist, das höherrangige Interesse zu retten: siehe Derecho Penal, Parte
General, S . 4 3 3 f und 572. Das zugunsten ihrer These angeführte Argument, daß beim
Versuch das Unrecht „außer dem verbrecherischen Entschluß die Geeignetheit der Aus-
führungshandlung fordert", entbehrt der Grundlage in unserem Strafgesetzbuch, wo im
2. Absatz vom § 5 2 der untaugliche Versuch bestraft wird. Andererseits ist es keine
Notstandshandlung, wenn das Verhalten ungeeignet zur Abwendung des Übels ist, und
der Notstand als Grundvoraussetzung des Ausschließungsgrunds dürfte schon deshalb
fehlen.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 701

ein K o l l e g e eine O r g a n t r a n s p l a n t a t i o n m i t d e m Ziel, e i n e m P a t i e n t e n das


L e b e n z u r e t t e n , d u r c h f ü h r e n kann 4 1 , ist das v e r u r s a c h t e Ü b e l kleiner als
das a b z u w e n d e n d e . O b w o h l er sich einer K ö r p e r v e r l e t z u n g 4 2 u n d eines
Freiheitsdeliktes 4 3 strafbar g e m a c h t hat, unterliegt es k e i n e m Zweifel,
daß in u n s e r e r R e c h t s o r d n u n g das m e n s c h l i c h e L e b e n ein h ö h e r e s G u t
darstellt als die k ö r p e r l i c h e U n v e r s e h r t h e i t u n d die F r e i h e i t . U m sich
dessen z u v e r g e w i s s e r n , g e n ü g t es, die S t r a f d r o h u n g e n der D e l i k t e gegen
das L e b e n ( A r t . 4 0 5 ff), der K ö r p e r v e r l e t z u n g s d e l i k t e ( A r t . 4 1 8 ff) u n d
der D e l i k t e gegen die F r e i h e i t u n d Sicherheit ( A r t . 4 8 0 ff) z u vergleichen.
In d e r V e r f a s s u n g w i r d ebenfalls das R e c h t auf L e b e n als das erste d e r
G r u n d r e c h t e in T i t e l I, K a p . 2 , 1. A b s c h n i t t angesehen 4 4 4 5 . W e n n eine

41 Wenn der Chirurg, der die Niere entnimmt, derselbe wäre, der die Transplantation

bei seinem Patienten durchführen sollte, ständen wir vor einer Pflichtenkollision: der
Pflicht, den Patienten zu heilen und der von der Vornahme einer verbotenen Handlung,
der Herbeiführung der Körperverletzung, Abstand zu nehmen. Nach meinem Urteil ist
die Pflichtenkollision im spanischen Strafgesetzbuch nicht vom Ausschließungsgrund des
Notstands, sondern von §8, Ziff. 11 erfaßt: „Wer in Erfüllung einer Pflicht oder in
rechtmäßiger Ausübung eines Rechts, Berufs oder Amts handelt." Siehe meinen Aufsatz
„Noción del estado de necesidad, como requisito básico de la eximente del n° 7 del art. 8o
del Código penal español. Estado de necesidad y colisión de deberes", der demnächst in
der neuen Festschrift für Luis Jiménez de Asúa anläßlich seines 15. Todestages erscheinen
wird.
" Es würde sich um die absichtliche Verstümmelung eines Hauptorgans, die vom §419
mit Zuchthaus von 12 Jahren und 1 Tag bis 20 Jahren (reclusión menor) bestraft wird,
handeln.
43 Ein Nötigungsdelikt des 1. Absatz des §496, mit Haftstrafe von 1 Monat und 1 Tag

bis 6 Monaten (arresto mayor) und Geldstrafe von 30 000 bis 300 000 pesetas bestraft, das
von dem Körperverletzungsdelikt konsumiert würde.
44 Siehe in diesem Sinn Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en tensión
(¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en contra de la
voluntad del paciente?), in Poder Judicial, N° 13, Dicbre. 1984.
45 Ein Fall der Pflichtenkollision ist meiner Meinung nach der berühmte Fall, der durch

Beschluß des 2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 14. März 1979 entschieden wurde,
und in dem ein Richter einen Arzt zur Vornahme einer Bluttransfusion ermächtigte, der
diese zur Rettung des Lebens einer Patientin für notwendig erachtete, an der man einen
chirurgischen Eingriff vorgenommen hatte und die sich der Transfusion wegen ihrer
religiösen Uberzeugungen als Mitglied der Vereinigung der Zeugen Jehovas widersetzte. In
Konflikt traten die Pflicht, einer hilflosen, sich in offenkundiger und schwerer Gefahr
befindlichen Person (§489 bis) Hilfe zu leisten, gepaart mit einer Garantenpflicht, und die
Pflicht, ein Delikt gegen die religiöse Freiheit nach §205 zu unterlassen. Das Verhalten des
Richters könnte erst von dem Ausschließungsgrund des § 8 Ziff. 11 als Handlung in
Erfüllung einer Pflicht umfaßt werden. Siehe zu dem besagten Beschluß des Obersten
Gerichtshofs die aufschlußreiche Anmerkung von Miguel Bajo Fernández, La intervención
médica contra la voluntad del paciente, Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales,
1979, fase. 2°, S.491 ff. Siehe auch Lorenzo Martín Retortillo, Derechos fundamentales en
tensión (¿Puede el juez ordenar una transfusión de sangre en peligro de muerte aún en
contra la voluntad del paciente?), a.a.O., über den Beschluß der zweiten Abteilung des
1. Senats des Verfassungsgerichts vom 20. Juni 1984, der eine gegen die Beschlüsse des
702 José Cerezo Mir

Person eine andere tötet, um mehrere menschliche Leben zu retten, z.B.


wenn sie den Besitzer eines Motorboots tötet, der sich gewaltsam
dagegen widersetzt, daß man dieses zur Rettung Schiffbrüchiger
benutzt, ist das zugefügte Übel geringer als das zu vermeidende"6. Nach
der herrschenden Meinung wäre das Verhalten rechtmäßig, wenn die
übrigen Voraussetzungen des Ausschließungsgrunds des Notstands vor-
lägen. Dennoch ist es nicht möglich, diese Verhaltensweisen als rechtmä-
ßig zu betrachten, da sie einen schweren Anschlag auf die Menschen-
würde darstellen. In beiden Fällen wird ein menschliches Wesen als
reines Werkzeug für die Verfolgung anderer Ziele benutzt, und das
bedeutet einen schweren Angriff gegen seine Würde47. Meines Erachtens
bedarf die herrschende Meinung jedoch einer Einschränkung: Auch
wenn das zugefügte Übel kleiner als das zu vermeidende ist, ist der
Notstand nur dann als Rechtfertigungsgrund anzusehen, wenn die Tat-
handlung nicht einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde
bedeutet48. Man könnte einwenden, daß die Achtung der Menschen-
würde ein weiteres Interesse ist, das in der Abwägung der Interessen und
folglich in der der Übel berücksichtigt werden soll49. Es scheint mir

2. Senats des Obersten Gerichtshofs vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 einge-
legte Verfassungsbeschwerde ablehnte, die die Zurückweisung der gegen einen Richter
wegen der Delikte der Nötigung, gegen die religiöse Freiheit und der groben Fahrlässigkeit
mit tödlichem Ausgang erhobene Klage betraf. Der Richter hatte eine Bluttransfusion „zur
Lösung verschiedener Blutungsprobleme aufgrund vorangegangener Niederkunft" gegen
den Willen der Patientin und ihres Mannes, beide Zeugen Jehovas, genehmigt. In den
Beschlüssen vom 22. Dezember 1983 und 25. Januar 1984 verneinte der Oberste Gerichts-
hof, daß in dem Verhalten des Richters die Tatbestandselemente der Delikte, derer man ihn
beschuldigte, vorlagen, während er in dem Beschluß vom 14. März 1979 das Vorliegen des
Notstands aus dem § 8, Ziff. 7 anerkannte.
46 In der deutschen Strafrechtswissenschaft lehnt der größte Teil der Strafrechtler

hingegen jede quantitative Abwägung menschlichen Lebens ab; siehe z . B . Jescheck,


Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 291, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, I, Die Straftat, S. 143 (der jede quantitative Abwägung höchstpersönlicher Rechtsgü-
ter wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Ehre ablehnt), Lenckner, in
Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, §34 Nr. 23 f, Der rechtfertigende Notstand, S. 27 ff,
insbesondere S. 30 f und Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., §34
Nr. 65. Bei uns hält J. Bustos, Manual de Derecho Penal Español, Parte General, S. 249
diesen Gesichtspunkt aufrecht.
47 Siehe in diesem Sinn Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178, der Kant

heranziehend sagt: „Denn der Mitmensch darf niemals bloß als Sache, sondern muß stets
auch als Selbstzweck betrachtet werden."
48 Siehe in diesem Sinn auch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl.,

1973, S. 26 ff, Rodrigues Devesa-Serrano Gómez, Derecho Penal Español, Parte General,
9. Aufl., Madrid, 1985, S. 579 und G. Rodríguez Mourullo, Consideraciones generales
sobre la exclusión de la antijuridicidad, in Estudios Penales, Libro Homenaje al Prof. J.
Antón Oneca, Ediciones Universidad de Salamanca, 1982, S. 513.
49 So Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 33 ff und besonders
Nr. 47, Der rechtfertigende Notstand, S. 111 ff, Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 703

j e d o c h n i c h t richtig z u sein, die G e l t u n g eines materiellen G e r e c h t i g -


keitsprinzips, das eine i m m a n e n t e S c h r a n k e des positiven R e c h t s d a r -
stellt, b l o ß als ein w e i t e r e s in die A b w ä g u n g e i n z u b e z i e h e n d e s Interesse
z u betrachten 5 0 . Die Heranziehung dieses P r i n z i p s im R a h m e n der
I n t e r e s s e n a b w ä g u n g w ü r d e diese i n s o w e i t i h r e r genauen G r e n z e n u n d
klaren K o n t u r e n b e r a u b e n , als d a m i t ein W e r t u r t e i l w e s e n t l i c h a n d e r e r
A r t eingeführt w ü r d e 5 1 . W e n n das z u g e f ü g t e Ü b e l kleiner als das z u
v e r m e i d e n d e ist, a b e r ein s c h w e r e r V e r s t o ß gegen die M e n s c h e n w ü r d e
b e g a n g e n w u r d e , sollte das V e r h a l t e n r e c h t s w i d r i g u n d i h m g e g e n ü b e r
die N o t w e h r zulässig sein. D e r N o t s t a n d k ö n n t e in diesen F ä l l e n n u r die
N a t u r eines S c h u l d a u s s c h l i e ß u n g s g r u n d s h a b e n .
U m eine befriedigende L ö s u n g in diesen F ä l l e n z u erreichen, f o r d e r n
einige spanische Strafrechtler u n t e r d e m E i n f l u ß d e r d e u t s c h e n Straf-
r e c h t s w i s s e n s c h a f t für die A u s g e s t a l t u n g des N o t s t a n d s als R e c h t f e r t i -
g u n g s g r u n d , d a ß das v e r u r s a c h t e Ü b e l kleiner als das a b z u w e n d e n d e
u n d die H a n d l u n g a u ß e r d e m ein angemessenes (billiges) Mittel zur
Erreichung eines billigen Zwecks sein müsse 5 2 . E s handelt sich u m eine
V o r a u s s e t z u n g , die in d e r R e g e l u n g des r e c h t f e r t i g e n d e n N o t s t a n d s in
§ 3 4 des d e u t s c h e n S t r a f g e s e t z b u c h s v e r a n k e r t ist u n d die die V o r s t e l l u n -
gen Graf zu Dohnas z u m V o r b i l d hat 53 . I h r e R e i c h w e i t e w i r d in d e r

Kommentar, 10. Aufl., §34 Nr. 53 ff und besonders Nr. 68 und 79 ff, Carboneil, La
justificación penal, S. 54, Cobo-Vives, Derecho Penal, Parte General, S. 432 Anmerkung
22 und S.433 und Mir Puig, Bemerkungen zur Übersetzung des Tratado de Derecho
Penal, Parte General, von Jescheck, I, S. 508, Problemas de estado de necesidad en el art. 8,
T, C.P., S. 516 f und Derecho Penal, Parte General, S.402.
50 Siehe meinen Curso de Derecho Penal Español, Parte General, Introducción, Teoría

Jurídica del delito/1, S. 19 f und die dort aufgeführte Literatur, insbesondere Welzel, Vom
irrenden Gewissen, 1949, S.28, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962,
S. 239 f und Derecho natural y positivismo jurídico, in Más allá del Derecho natural y del
positivismo jurídico (trad. y notas de Ernesto Garzón Valdés), Cordoba, Argentina, 1962,
S. 41 ff.
51 Siehe in dieser Hinsicht Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStrW

80, 1968, S.27.


52 Siehe C. M* Romeo Casabona, El médico y el Derecho Penal, I, La actividad
curativa, S. 379 ff, Muñoz Conde, Teoría general del delito, Bogotá, 1984, S. 109 und
E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Español, II, El hecho punible, Madrid, 1985,
S. 80. Miguel Bajo Fernández meint, daß das zugefügte Übel größer als das zu vermeidende
sei und es deshalb nicht möglich sei, den Ausschließungsgrund des Notstands anzuwenden
(weder als Rechtfertigungsgrund, noch als Schuldausschließungsgrund), wenn das Verhal-
ten „den grundlegenden Werten der Rechtsgemeinschaft" nicht angepaßt ist; siehe La
intervención médica contra la voluntad del paciente, a. a. O., S. 494 f.
53 Siehe A. Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., 1950, S. 35, der

die sogenannte Zwecktheorie („ein richtiges Mittel für einen richtigen Zweck", d.h. in
Übereinstimmung mit dem Recht) gegenüber dem Prinzip der Güterabwägung aufstellte
zur Begründung eines rechtfertigenden Notstands (damals übergesetzlich). Siehe in dieser
Hinsicht Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 288.
704 José Cerezo Mir

modernen deutschen Strafrechtswissenschaft stark diskutiert. Nach


Jescheck bedeutet das Erfordernis, daß die Handlung mit den sozial-
ethischen Wertungen und den grundlegenden Prinzipien, die die Rechts-
ordnung gestalten, in Einklang stehen muß. Es würde also ein zusätzli-
ches Erfordernis zu dem der Interessenabwägung darstellen, d.h. zu
dem, daß die bewahrten Interessen erheblich über den verletzten stehen
müssen54. Lenckner hingegen meint, daß diese Wertungen und Grund-
prinzipien in der Interessenabwägung berücksichtigt werden können,
wenn man diese in der gebührenden Weite auslegt. Die Voraussetzung
der Angemessenheit der Handlung zur Vermeidung der Gefahr wäre
folglich überflüssig. Die Handlung wäre immer und nur angemessen,
wenn die verletzten Interessen wesentlich geringer als die bewahrten
wären55. Für Hirsch stellt das Erfordernis der Angemessenheit nur eine
Kontrollklausel dar, die als Warnsignal dazu dient, das Ergebnis der
Interessenabwägung sorgfältig zu prüfen56. Meinerseits bin ich der Auf-
fassung, daß diese Voraussetzung, die im Ausschließungsgrund des
Notstands in § 8, Ziff. 7 des spanischen Strafgesetzbuchs nicht festge-
schrieben ist, rein formaler Natur ist und daß alle sozial-ethischen
Wertungen und die die Rechtsordnung gestaltenden Prinzipien in der
Interessenabwägung berücksichtigt werden können. Einzige Ausnahme
stellt die Achtung der Menschenwürde dar, weil es sich in diesem Fall
um ein materielles Gerechtigkeitsprinzip, das a priori gilt, handelt, und
das dem positiven Recht eine immanente Schranke setzt. Außerdem ist
zu berücksichtigen, daß einige der Erfordernisse, die von den deutschen
Autoren in das der Angemessenheit einbezogen werden, im Ausschlie-
ßungsgrund der Ziff. 7 des § 8 unseres Strafgesetzbuchs ausdrücklich
aufgeführt werden: daß die Notstandslage nicht absichtlich von dem
Täter herbeigeführt wurde und daß der Notstandstäter nicht wegen
seines Berufs oder Amts verpflichtet ist, sich zu opfern.
Wenn das zugefügte Übel gleich groß wie das zu vermeidende ist, ist
es aus der bei der Analyse der Meinungen Gimbernats, Roldans und Mir
Puigs dargelegten Gründen unmöglich, die Handlung als rechtmäßig zu
betrachten. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß jeder beliebi-

5< Siehe Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 291 f. Eine unabhän-
gige Bedeutung der Voraussetzung der Angemessenheit erkennen auch an z . B . Straten-
werth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 144, Gallas, Der dogmatische Teil
des Alternativ-Entwurfs, a . a . O . , S.26ff, Mauracb-Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1,
6. Aufl., 1983, S. 364 ff und Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl., 1982, S. 74 ff.
55 Siehe Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, § 34 Nr. 46 f, Der rechtferti-
gende Notstand, S. 70 f, 111 ff und 128 ff. Das Erfordernis der Angemessenheit sehen
ebenfalls als überflüssig an z. B. Baumann/Weber, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl.,
1985, S. 351 und Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 1966, S. 51.
56 Siehe Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 3 4 Nr. 79 ff.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 705

gen Person die Rolle des Schiedsrichters bei der Konfliktlösung einge-
räumt würde. Ihre Handlung wäre rechtmäßig, und ihr gegenüber wäre
weder für die Notwehr noch für den Notstand Raum. Aber es ist auch
nicht möglich, wie die herrschende Meinung anzunehmen, daß die
Handlung in jenen Fällen immer schuldlos sei57. Notwendig ist vielmehr
eine einschränkende Auslegung des Ausschließungsgrunds des Not-
stands im Fall eines Konflikts gleichwertiger Interessen vorzunehmen.
Vor allem ist zu berücksichtigen, daß bei der Kollision gleichwertiger
Interessen das Unrecht schon vermindert ist. Auf jeden Fall gilt dies für
den Handlungsunwert, denn der Täter begeht die tatbestandsmäßige
Handlung zur Wahrung anderer, rechtlich geschützter Interessen von
gleicher Bedeutung, und wenn es ihm gelingt, diese Interessen zu
bewahren, dürfte der Erfolgsunwert ebenfalls geringer sein58. Um einen
Schuldausschließungsgrund anzuerkennen, ist es notwendig, daß sich
mit der Verminderung des Unrechts - was schon eine Verringerung der
Schuld bedeutet, denn diese besteht in der persönlichen Vorwerfbarkeit
des rechtswidrigen Verhaltens - ein Ausschluß oder eine erhebliche
Verminderung der Fähigkeit des Täters, in Ubereinstimmung mit den
Normen zu handeln, verbindet. Nur wenn diese Fähigkeit erheblich
verringert ist, wird man von ihm keinen Gehorsam gegenüber dem
Recht fordern können und seine Handlung deshalb entschuldigt sein59.

57
Bacigalupo ist der Ansicht, daß beim Notstand im Fall eines Konflikts gleichgewich-
tiger Interessen oder, wenn das gerettete Interesse nicht wesentlich höher als das verletzte
ist, die Zurechenbarkeit (Jiménez de Asúa) oder die Tatverantwortung (Maurach), ein
mittleres Element zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld, ausgeschlossen wird; siehe
E. Bacigalupo, Principios de Derecho Penal Español, II, El hecho punible, S. 89 ff und 93.
58
In der modernen deutschen Strafrechtswissenschaft wurde herausgestellt, daß beim
entschuldigenden Notstand (heute geregelt im § 35) auch eine Verringerung des Unrechts
liege, und zwar sowohl des Handlungsunwerts von dem Moment an, in dem der Täter die
tatbestandsmäßige Handlung zur Rettung eines eigenen oder fremden Rechtsguts (Leben,
körperliche Unversehrtheit oder Freiheit) verwirklicht, als auch des Erfolgsunwerts; siehe
in diesem Sinn Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 156 ff,
Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178 f, Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts,
Allgemeiner Teil, S.388, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat,
S. 178 f, Lenckner, in Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, Vor §32 Nr. 111 und §35 Nr. 5,
Hirsch, in Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., Vor §32 Nr. 183 und §35
Nr. 4, 53 und Rudolphi, in Rudolphi, Horn, Samson, Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch, 1, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 1983, §35 N r . 1 ff.
59
Der größte Teil der deutschen Strafrechtler unterscheidet zwischen Schuldausschlie-
ßungsgründen, die wirklich die Schuld ausschließen, und Entschuldigungsgründen, bei
denen eigentlich das Recht eine vorhandene, aber wenig schwere Schuld entschuldigt. Zur
ersten Gruppe würden die Unzurechnungsfähigkeit und der unvermeidbare Verbotsirrtum
gehören, während in der zweiten Gruppe der Notstand und alle übrigen, auf dem
Grundsatz der Unzumutbarkeit fußenden Schuldausschließungsgründe (die ihrerseits eine
Verminderung des Unrechts in sich tragen) umfaßt sind; siehe Armin Kaufmann, Die
Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 151 ff, Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 178f,
706 José Cerezo Mir

Diese einschränkende Auslegung findet eine feste Stütze in der Forde-


rung des § 8, Ziff. 7, wonach die Handlung des Täters durch einen
Notstand veranlaßt sein muß. Der Täter muß daher das Vorliegen eines
Notstands kennen, und dieser muß das ausschlaggebende Motiv seines
Handelns sein. Wenn man eine Gefahr von sich selbst fernhalten will,
wird sich der Schuldausschließungsgrund normalerweise ergeben, wenn
das gefährdete Rechtsgut persönlicher Art ist. Es ist jedoch möglich, daß
er auch vorliegt, wenn Vermögensgüter von im Verhältnis zur wirt-
schaftlichen Kapazität des Täters beachtlichem Wert gefährdet sind. In
den Fällen der Nothilfe dürfte der Schuldausschluß nur möglich sein,
wenn das Übel einem Rechtsgut droht, dessen Träger ein Vewandter,
Freund oder eine nahestehende Person des Täters ist60. Nur in solchen
Fällen könnte das einem Dritten drohende Übel die Fähigkeit des Täters,
entsprechend den Forderungen der Rechtsordnung zu handeln, aus-
schließen oder erheblich mindern. Für die Feststellung, ob das normge-
rechte Handeln dem Täter zumutbar ist oder nicht, sollte man das
Verhalten berücksichtigen müssen, das eine einsichtige, die Forderungen
der Rechtsordnung achtende Person in der jeweiligen Situation an den
Tag legen würde61.
Der Notstand wird auch dann einen Schuldausschließungsgrund bil-
den können, wenn das verursachte Übel kleiner als das zu vermeidende
ist, aber das Verhalten einen schweren Verstoß gegen die Menschen-
würde darstellt. Jedoch ist auch dafür erforderlich, daß sich mit der
Verminderung des Unrechts ein Ausschluß oder eine erhebliche Vermin-
derung der Fähigkeit zu normgerechtem Handeln beim Täter derart
verbindet, daß ihm die Rechtsbefolgung nicht zuzumuten ist. In den
erwähnten Beispielen der Entfernung der Niere für eine Organtrans-
plantation oder der Tötung eines Bootsbesitzers dürfte die Anwendung
des Ausschließungsgrunds des Notstands als Schuldausschließungs-
grund unter der Bedingung stehen, daß aus irgendeinem Grund (Ver-
wandtschaft, Freundschaft etc.) die Fähigkeit zu normgerechtem Han-
deln ausgeschlossen oder erheblich vermindert war.

Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 385 ff, Lenckner, in Schönke-
Schröder, Strafgesetzbuch, Vor zu §32, Nr. 108 und §35 Nr. 5 und Wessels, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, S.98f. Diese Unterscheidung scheint mir eigentlich unnötig zu sein,
denn wenn die Schuld von sehr geringer Schwere ist, kann man annehmen, daß sie das
Niveau der strafrechtlichen Schuld nicht erreicht; siehe in dieser Hinsicht Stratenwerth,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, S. 179 und 180 ff und Hirsch, in Strafgesetz-
buch, Leipziger Kommentar, Vor zu §32 Nr. 182.
60 Siehe in diesem Sinn schon Antön Oneca und die in Anmerkung 7 zitierten Autoren.
61 Ein normatives Kriterium entsprechend dem Vorschlag von Eb. Schmidt: Verhalten

des „loyalen Staatsbürgers"; siehe dazu H. Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als
regulatives Rechtsprinzip, Festschrift für Ed. Mezger zum 70. Geburtstag, 1954, S.307.
Der Notstand im spanischen Strafgesetzbuch 707

Wenn die Tathandlung im Notstand nur schuldlos ist, ist ihr gegen-
über die Notwehr möglich, und das Verhalten der Teilnehmer wird
strafbar62, letzteres allerdings nur, wenn auch bei ihnen nicht ein Aus-
schluß oder eine erhebliche Verringerung der Fähigkeit zu normgemä-
ßem Handeln festzustellen ist.
De lege ferenda wäre es meiner Meinung nach empfehlenswert, den
Notstand als Rechtfertigungsgrund und als Schuldausschließungsgrund
getrennt zu regeln in der Weise, daß man die Nothilfe ohne irgendeine
Einschränkung im ersten Fall annimmt und im zweiten nur, wenn das
Übel ein Rechtsgut bedroht, dessen Träger ein Verwandter, Freund oder
eine nahestehende Person des Täters ist. Zweckmäßig wäre auch, den
Notstand als Schuldausschließungsgrund auf jene Fälle zu beschränken,
in denen sich ein Rechtsgut persönlicher Art oder ein Vermögensgut von
solchem Wert derart in Gefahr befindet, daß man von dem Täter nicht
verlangen kann, sich der Gefahr auszusetzen oder vom Eingriff bei der
Nothilfe Abstand zu nehmen. Das zugefügte Übel dürfte beim schuld-
ausschließenden anders als beim rechtfertigenden Notstand größer als
das zu vermeidende sein, es sei denn, es steht ganz außer Verhältnis63,64.

62 Siehe in diesem Sinn Jiménez de Asúa, Tratado de Derecho Penal, IV, S. 369 und
Díaz Palos, Estado de necesidad, S. 34.
63 Mir erscheint der Vorschlag von Luzón Peña nicht überzeugend, einen neuen
Ausschließungsgrund des defensiven Notstands zu schaffen, der die Herbeiführung eines
etwas größeren Übels als des zu vermeidenden erlauben würde, wenn die Notstandshand-
lung die Person oder Sache trifft, von der die Gefahr ausgeht; siehe Anmerkung 17; ein
Vorschlag, dem Silva Sánchez beipflichtet für die aus Angriffen von Tieren oder Sachen
hervorgegangenen Gefahren, aber nicht für die, die von Menschen herrühren, aber nicht
die Voraussetzungen einer Handlung erfüllen; siehe Sobre el estado de necesidad en
Derecho Penal español, S. 672 ff. Wenn das verursachte Übel größer als das zu vermei-
dende ist, steht das Verhalten nicht im Einklang mit den Zielen der Rechtsordnung und
darf deshalb nicht als rechtmäßig angesehen werden.
64 In dem vom spanischen Justizministerium unterbreiteten Vorschlag des Vorentwurfs

eines neuen Strafgesetzbuchs von 1983 (§22 Nr. 6) wird dennoch die Fassung des Aus-
schließungsgrunds des Notstands praktisch unverändert beibehalten: „Wer veranlaßt
durch einen Notstand, um ein eigenes oder fremdes Übel zu vermeiden, ein Rechtsgut
verletzt oder einer Pflicht zuwiderhandelt, vorausgesetzt, daß folgende Voraussetzungen
vorliegen: Erstens. - Das zugefügte Übel darf nicht größer als das zu vermeidende sein.
Zweitens. - Die Notstandslage darf nicht absichtlich vom Täter herausgefordert worden
sein. Drittens. - Der Notstandstäter darf nicht aufgrund seines Berufs oder Amts die
Verpflichtung haben, sich zu opfern."
Der Rücktritt mit Delikts vorbehält
ROLF DIETRICH HERZBERG

I. Ausgangsfall: BGHSt. 33, 142


Der Bundesgerichtshof hat kürzlich ein Urteil1 gefällt, das der
undurchsichtigen Diskussion unseres Themas neue Impulse geben
könnte. Dogmatisch über den konkreten Fall hinaus bemüht, macht es
gleich mehrere Aussagen von theoretischem Interesse und nutzt ein
vergleichsweise solide scheinendes Kriterium für eine Folgerung, die
verblüfft und Zweifel weckt, ob die bisherigen Lösungsversuche über-
haupt eine richtige Grundlage haben.
Der Angeklagte A wollte in seiner Wohnung der Zeugin P sexuelle
Gewalt antun. Nach einem Messerstich, der sie gefügig machen sollte,
floh P ins Bad. A folgte ihr, stieß sie auf den geschlossenen Toilettendek-
kel und packte ihren Kopf, um sie zum Mundverkehr zu nötigen. Davon
nahm er schnell wieder Abstand, blieb aber zur gewaltsamen Befriedi-
gung seines Geschlechtstriebs entschlossen und zerrte P an den Haaren
zurück ins Wohnzimmer, wo er, ständig mit dem Messer drohend,
schließlich den Geschlechtsverkehr erzwang.
L G und B G H gehen übereinstimmend davon aus, daß P den Versuch
des gewaltsamen Mundverkehrs, für sich betrachtet, freiwillig aufgege-
ben habe. Man fragt sich bei der Lektüre zunächst, warum die Gerichte
dies betonen und verhältnismäßig eingehend begründen. Da der Ange-
klagte den auf der Toilette unternommenen Versuch der sexuellen
Nötigung (§178 StGB) in der qualifizierten Form der Vergewaltigung
bis zur Vollendung getrieben hat, läuft es ja so oder so auf die bloße
Bestrafung nach §177 StGB hinaus; eine Anwendung des §178 StGB,
die der Rücktritt verbieten könnte, kommt, so scheint es, ohnehin nicht
in Betracht. Klarheit verschaffen die Gründe des B G H am Ende (unter
III): Beide Gerichte geben dem die P besonders entwürdigenden Angriff
auf der Toilette Eigengewicht und fragen, ob er für die Strafzumessung
(§ 177 II StGB!) berücksichtigt werden dürfe. Das L G verneint das, weil
wegen des freiwilligen Rücktritts das fragliche „Teilgeschehen als den

1 v. 13.2.1985 - 3 StR 481/84 ( L G Mannheim), B G H S t . 33, 142 = N S t Z 1985, 358

(mit Anm. von Streng).


710 Rolf Dietrich Herzberg

Angekl. aus Rechtsgründen nicht belastend ausgeschieden"2 werden


müsse. Der B G H dagegen bejaht die Frage. Er meint, die Freiwilligkeit
der Abstandnahme von der Erzwingung des Mundverkehrs könne dem
A nicht nützen, weil kein Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat
i. S. von § 24 I I , 1. Alt. StGB vorliege. Es geht, argumentiert der Senat,
hier nicht „um zwei selbständige T a t e n . . . Der bereits vor und dann
wieder mit Abbruch des Versuchs, den Mundverkehr zu erzwingen,
gefaßte bestimmte Entschluß zur Vergewaltigung faßt beide Akte zu
einer Handlung zusammen". Vorsorglich mißt der B G H seine Lösung
an dem besonders rücktrittsfreundlichen Kriterium von Lenckner3 und
stellt fest, nach dessen Beurteilung sei der Rücktritt „bei mehreren
zeitlich aufeinanderfolgenden A k t e n . . . ausgeschlossen, wenn die weite-
ren Akte mit dem zunächst begonnenen Versuch in so engem zeitlichen
und räumlichen Zusammenhang stehen, daß alle Akte sich als eine
Einheit darstellen". So liege es hier; der Versuch des Mundverkehrs
müsse deshalb den Angeklagten bei der Strafzumessung belasten.
Merkwürdig, für das Strafmaß soll es also keine Rolle spielen, ob A
vom Mundverkehr freiwillig oder gezwungenermaßen abgelassen hat. Er
mag aus Scham und Mitleid oder nur deshalb aufgehört haben, weil ein
schmerzhafter Biß ihn das Fürchten lehrte, der Teilversuch zählt und
belastet ihn. Nicht, daß der B G H hier etwas mißverstanden hätte. Die
sexuellen Attacken des A sind zweifellos als eine tatbestandliche („natür-
liche") Handlungseinheit zu werten, und dies ist das Kriterium der
Lehre, auf deren Zustimmung das Urteil Wert legt: Nach ihr soll auch
das freiwillige Abbrechen eines Einzelaktes kein wirksamer Rücktritt
sein, wenn der Täter - wie hier - entschlossen bleibt, das Delikt durch
Akte zu vollenden, die mit dem abgebrochenen eine Handlungseinheit
bilden würden4. Aber eben diese Prämisse wird durch die im Urteil
stringent gezogene Folgerung, durch die strafschärfende Zurechnung
eines freiwillig aufgegebenen Versuchs so, als sei der Täter gescheitert
oder zum Aufhören gezwungen worden, erschüttert und diskreditiert.
Weiteres zu diesem Punkt sei hier noch zurückgestellt. Für die
genauere Nachprüfung ist es zweckmäßig, die Fragen des Rücktritts mit

2 BGHSt. 33, 147. - Natürlich kann v o m L G hier nur gemeint sein, daß die
sexuelle Nötigung ausscheide, soweit A sie (freiwillig) unterlassen hat; nach der Sachver-
haltsschilderung erfüllt bereits das, was A auf der Toilette realisiert hat (Entblößung,
Ziehen des Kopfes „in Richtung seines Unterleibs"), den § 178 StGB.
5 Vgl. Festschrift für Gallas, 1973, S. 303 f.

4 Vgl. neben Lenckner, a . a . O . ( F n . 3 ) , etwa Jakobs, A T , 1983, 2 6 / 1 0 ; Küper, J Z 1979,


7 7 9 f ; Stratenwerth, A T I, 3. Aufl. (1981), R d n . 7 1 4 : „Der Täter hat auf die Ausführung
der Tat solange nicht verzichtet, wie er sich Handlungen vorbehält, die nur einen
unselbständigen Teilakt der Begehung desselben Delikts darstellen w ü r d e n . . . der Auf-
schub enthält (dann) keinen Rücktritt."
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 711

Deliktsvorbehalt, ausgehend von den einzelnen Aussagen des lehrrei-


chen Urteils, in sachlich gebotener Reihenfolge abzuhandeln. Im Licht
der sich dabei ergebenden Lösungen wird es leichter fallen, zu entschei-
den, wer in der Kernfrage des konkreten Falles recht hat: das Landge-
richt oder der Bundesgerichtshof.

II. Wegfall des Problems bei unfreiwilligem Aufschub


Zur Bereinigung des Problemfeldes scheint es mir zunächst wichtig,
die fallspezifische Schrittfolge im Gedankengang des B G H auch auf der
abstrakt-dogmatischen Ebene zu beherzigen. Der Senat läßt sich auf die
Frage, ob und inwieweit der Vergewaltigungsvorbehalt des Angeklagten
einen relevanten Rücktritt ausschließe, erst ein, nachdem er (gegen die
Staatsanwaltschaft!) die Freiwilligkeit des Teilverzichts bejaht hat. Das
ist vorbildlich und schärft den Blick für einen Argumentationsfehler, der
viele literarische Beiträge vorschnell einen (mehr oder minder) vorbe-
haltsfreien Rücktritt fordern läßt. Das Schrifttum will diese Notwendig-
keit meistens mit Beispielen einleuchtend machen, in denen der Täter die
Tat wegen einer „Störung"5 aufschiebt oder ein unerwartetes Hemmnis
ihn einen Umweg einschlagen läßt. Bei Ebert etwa liest sich das so: „Der
Täter muß von der Tat endgültig Abstand nehmen. Ein vorübergehendes
Innehalten genügt nicht. Beispiel: Dieb T unterbricht die Suche nach den
zu stehlenden Sachen und geht in Deckung, weil er im benachbarten
Zimmer Geräusche hört. Noch bevor er die Suche, wie geplant, fortset-
zen kann, wird er entdeckt... Kein strafbefreiender Rücktritt, da T die
weitere Tatausführung nicht aufgegeben hat"6. Solch ein Fall beweist
nicht, was er beweisen soll. Selbst wenn die Geräusche den T statt nur
zum Abwarten zur Flucht und endgültigen Aufgabe veranlaßt hätten,
läge kein strafbefreiender Rücktritt vor. Denn risikoerhöhende Störun-
gen, wirkliche oder vermeintliche, machen den Rückzug, wenn er
stattfindet, fraglos unfreiwillig. Daß er nicht notwendig war, daß der
Täter sich vielleicht auch für bloßes Abwarten hätte entscheiden können,
ändert daran nichts. Kurzum: Anpassungsreaktionen bei ernsthaften
Störungen und Hemmnissen, übertriebene sowohl wie - erst recht
natürlich - angemessene und notwendige (Sichverstecken und Abwar-
ten), sind allemal unfreiwillig7. Daß der Täter nicht „endgültig" Abstand

5 Vgl. Roxin, ZStW 77, 99.


6 AT, 1985, S. 112. - Vgl. ferner etwa Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik
und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten,
1979, S.381; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 22. Aufl. (1985), § 2 4 Rdn.38 (der Dieb will
warten, bis die Bewohner das Haus verlassen haben).
7 Eingehend zu diesen Fällen und im Randbereich differenzierend Walter, Der Rück-

tritt vom Versuch als Ausdruck des Bewährungsgedankens im zurechnenden Strafrecht,


1980, S. 86-88.
712 Rolf Dietrich Herzberg

nimmt, ist in solchen Fällen für die Verneinung eines rechtlich relevan-
ten Rücktritts gar nicht entscheidend8. Die Plausibilität der Lösung ist
darum dogmatisch eher eine Gefahr als ein Argument: Sie suggeriert die
Maßgeblichkeit eines Erfordernisses, das dann an Beispielen, für die es
sich erst bewähren könnte, nicht mehr genügend überprüft wird. Wer
die Wahrheit sucht, sollte also ganz bewußt immer von Fällen ausgehen,
in denen die Freiwilligkeit des Aufschubs außer Zweifel steht, deutlicher
noch als im BGH-Fall. Ein aufschlußreicher Sachverhalt wäre etwa der
einer versuchten Tötung auf Verlangen, die der Täter hinausschiebt, weil
er es im Augenblick „einfach nicht übers Herz bringt". Er zieht bei
seiner unheilbar kranken Frau die tödliche Injektionsspritze in letzter
Sekunde zurück, bleibt aber fest entschlossen, die Tat auszuführen,
sobald er mehr Kraft hat. Später kommt es dann nicht mehr zur Tat, weil
die Kranke sich unbemerkt selbst den Tod gibt. Hier käme es wirklich
allein darauf an, ob das Entschlossenbleiben des Versuchstäters seinem
Aufhören die Qualität eines „Aufgebens der weiteren Ausführung der
Tat" i.S. von §24 StGB nimmt.
Es mag sich freilich herausstellen, daß es manchmal leichter ist, die
strafbefreiende Wirkung des Innehaltens wegen des Deliktsvorbehaltes
zu verneinen als wegen der Unfreiwilligkeit des Unterbrechungsent-
schlusses. So vielleicht im bekannten Fall BGHSt. 7, 296. Der Täter
brach den auf Vergewaltigung gerichteten Angriff ab, weil die Überfal-
lene ihm widerstandslose Hingabe nach kurzem Ausruhen in Aussicht
stellte, blieb aber (möglicherweise) mißtrauisch entschlossen, nötigen-
falls doch noch gewaltsam sein Begehren zu stillen; als Spaziergänger
auftauchten, mußte er fliehen. Der Streit um die Freiwilligkeit des vom
Täter geübten vorläufigen Verzichts ist hier so schwer zu entscheiden',
daß es ökonomischer sein könnte, ihn auf sich beruhen zu lassen und auf
die (logisch ohnehin vorrangige) Frage, ob überhaupt ein Aufgeben der
weiteren Tatausführung vorliegt, eine vielleicht allgemein überzeugende
Antwort zu suchen.

8 Das entwertet für unser Problem auch den von den meisten als Beispiel herangezoge-

nen Fall RGSt. 72, 349: Das Opfer bemerkte den schlechten Geschmack des zyankaliver-
gifteten Kaffees. Daß es ihn dennoch trinken würde, schien noch nicht ausgeschlossen,
doch mußte die Täterin fürchten, mit ihrem Anschlag gescheitert zu sein und belangt zu
werden. Deshalb goß sie den Kaffee aus. Daß sie „nach wie vor bestrebt" war, „denselben
Erfolg auf anderem Wege zu erreichen" (RGSt. 72, 351), ist unerheblich; auch bei
endgültigem Verzicht wäre der Mordversuch unfreiwillig aufgegeben oder gar als fehlge-
schlagen anzusehen und deshalb strafbar; vgl. hierzu auch Bottke (Fn. 6), S. 394 f.
9 Vgl. einerseits das Urteil, andererseits Roxin, in: Festschrift für Heinitz, 1972,
S. 258 ff. Hier wie dort beruhen die Erwägungen zur Freiwilligkeit auf der Annahme, daß
dem Täter der Vorbehalt, wieder Gewalt zu üben, nicht nachzuweisen sei; vgl. BGHSt. 7,
297 und Roxin a. a. O., Fn. 30.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 713

III. Umstellung des Tatentschlusses auf ein anderes Deliktsverhalten


als wirksamer Rücktritt
Obwohl der B G H konkret am Ende einen (strafmaß-)relevanten
Rücktritt verneint, macht er in abstracto beachtliche Aussagen, die das
auch von der Judikatur bislang behauptete Erfordernis eines „endgülti-
gen und vollständigen" Rücktritts einschränken, also dem strafbefreien-
den Rücktritt Räume öffnen, die andere ihm verweigern.

1. Der Übergang zu einem anderen Straftatbestand


Überraschend ist zunächst das Sichbescheiden mit einem Aufgeben
der „Straftat im Sinne eines materiellrechtlichen Straftatbestandes"
(unter I 2 b, aa). Der Versuch eines tatbestandlich spezifizierten Deliktes
soll also jedenfalls dann strafbefreiend getilgt sein, wenn der Täter
freiwillig auf die Weiterführung dieses Deliktes verzichtet - mag er auch
im selben Augenblick in die Planung und Vorbereitung oder gar schon in
den Versuch eines anderen Delikts hinüberwechseln. Dem zuzustimmen
muß denen schwerfallen, die die Strafbefreiung an eine wie immer
gemeinte „Rückkehr zur Legalität"10 oder „Rückkehr in die Bahnen des
Rechts" 11 binden wollen. Streng widerspricht von diesem Verständnis
der ratio legis her dem Urteil mit Entschiedenheit. „Für einen Rücktritt
fehlt es bei Steigerungen des Unwerts, d. h. bei nahtloser Fortführung
des Rechtsgutsangriffs auf höherem Niveau, folglich immer an der
wichtigsten Grundvoraussetzung. Die . . . Differenzierung allein da-
nach, ob durchgängig gegen denselben Straftatbestand verstoßen wird,
ist somit schon im Ansatz verfehlt". Das betont Streng besonders für
den Fall, in dem das Zweitdelikt schon in der Vorbereitung stecken-
bleibt, der Rücktritt nach dem B G H also folgerichtig totale Straffreiheit
bewirkt: „Ohne Rücksicht auf die ratio der Rücktrittsprivilegierung
würde allein ein Tatbestandswechsel in extremer Form prämiert"12.
Das Schrifttum hat sich bislang diesen für alle Rücktrittstheorien
unbequemen Fall kaum vorgelegt: Die Konstellation eines Täters, der
selbstherrlich, ohne irgendeine ihm dies nahelegende Änderung der
äußeren Lage, auf ein anderes Delikt umsteigt. Eine Ausnahme macht
Wessels, der, ganz i. S. von Streng, die Lösung aus dem Gesetzessinn
ableitet und von daher einen wirksamen Rücktritt bedenkenfrei vernei-
nen zu dürfen glaubt: „Daß nach dem Sinn und Zweck des §24 auch

10 So vor allem Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973), S.37;


Festschrift für Heinitz (Fn.9), S.256; ZStW 80, 708.
11
Ulsenheimer, Grundfragen des Rücktritts vom Versuch in Theorie und Praxis, 1976,
S. 314, mit zahlreichen Nachweisen sinngleicher Äußerungen bei anderen Autoren.
12 NStZ 1985, 359 f. Beispiel bei Streng: Der Tresorknacker stellt seine nächtliche
Arbeit aus Bequemlichkeit ein, um am Morgen die Öffnung zu erpressen.
714 Rolf Dietrich Herzberg

derjenige keine Strafbefreiung verdient, der an Ort und Stelle vom


Betrugsversuch zur Beraubung des in seiner Wohnung aufgesuchten
Opfers übergeht, beim Angriff auf das fremde Vermögen somit nur das
Mittel der Täuschung durch das brutalere Mittel der gewaltsamen Weg-
nahme ersetzt, dürfte einleuchten"13.
Dem BGH hat das anscheinend nicht eingeleuchtet, und ich meine, er
hat recht. Man vergleiche die kontroversen Standpunkte sogleich anhand
der beiden Sachverhalte, für die der Streit seine volle Relevanz hätte,
weil er über die Strafbarkeit schlechthin entschiede: Der Täter in Wes-
sels' Beispiel beginnt schon mit seiner Täuschung, bricht sie dann aber
ab, weil er sich seiner Hinterlist schämt, und beschließt, sich den
erstrebten Gewinn allein durch offenehrliche Beraubung seines
Gesprächspartners zu verschaffen. Und nun entweder: Noch ehe er
dazu ansetzt, erscheinen Skatfreunde des Opfers, und das deliktische
Vorhaben zerschlägt sich insgesamt; oder: Der Täter setzt zum Raub an,
läßt sich aber vom Opfer „zur Vernunft bringen" und verzichtet freiwil-
lig auch auf dieses Delikt.
Im ersten Fall liegt eine Straftat allein in Gestalt des Betrugsversuchs
vor. Was den Raub betrifft, so befindet sich der Täter in der Situation
eines Besuchers, der ohne Raubentschluß das Haus betreten hat und erst
im Sessel sitzend einen solchen Entschluß faßt, ihn aber noch durch
keine Handlung zu verwirklichen begonnen hat. Mag man auch schon in
der Entschließung als solcher eine erste „Vorbereitung" sehen, als
Versuchsanfang genügt sie - selbstverständlich - nicht. Somit kommt für
die Bestrafung alles auf die Frage an, ob der Besucher von seinem
Betrugsversuch wirksam zurückgetreten ist. Hier scheint es mir nun
rundum einleuchtend und allein haltbar, die Frage mit dem BGH zu
bejahen. Der Täter hat den Betrug aus Scham aufgegeben. Wer wegen
des gleichzeitig gefaßten Raubentschlusses entweder das „Aufgeben der
weiteren Tatausführung" oder die „Freiwilligkeit" verneint, setzt die
eigene Hypothese, was der Sinn des Gesetzes zu sein habe, über das
Gesetz selbst. Ein Verbrechensentschluß ist strafrechtlich ein nullum,
solange der Planende mit ihm im Stadium strafloser Vorbereitung bleibt.
Er rechtfertigt für sich allein weder die Bestrafung wegen eines Versuchs
des geplanten Verbrechens, noch darf er herangezogen werden, um
einen vorangegangenen Rücktritt zu entwerten. Die Versagung der
Straffreiheit wäre geradezu eine Rechtsverweigerung. Wer ohne äußeren

13 AT, 14. Aufl. (1985), § 14 IV 4. - Eingehende Erörterung des Problems anhand eines

Examensklausurfalles bei Seier, JA-Übungsblätter 1978, 199; 1979, 9 f. Seier bejaht im


Einklang mit der hier vertretenen Ansicht einen wirksamen Rücktritt vom Betrugsversuch,
obwohl der Täter ohne Unterbrechung auf eine räuberische Erpressung umsteigt.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 715

Druck, nur weil er sich schämt, aus einem Betrugsversuch aussteigt und
im Hinblick auf den nunmehr geplanten Raub die Schwelle zum Versuch
noch nicht überschritten hat, ist zunächst einmal freiwillig in den
straffreien Bereich zurückgekehrt. Die Lösung von Streng und Wessels
ist eine getarnte Bestrafung des bösen Willens.
Die Kluft zwischen Theorie und sachrichtiger Beurteilung eines kon-
kreten Verhaltens wird vielleicht noch größer und deutlicher im zweiten
Fall. Ihn müßte, wer eine „Rückkehr in die Legalität" oder „hinrei-
chende Normbefolgungsbereitschaft" fordert, folgerichtig gleichfalls
i. S. einer Bestrafung nach §§263, 22 StGB entscheiden. Denn das
strafbefreiende Aufgeben der Betrugstat kann nur im Fallenlassen eines
aktuell vorhandenen Täuschungsentschlusses, d.h. hier im Ubergang
zum Raubentschluß liegen. Wer den Willen zur Unrechtssteigerung
„bestraft", indem er dem Rücktritt die Wirksamkeit abspricht, schneidet
sich nun selbst den Rückweg ab. Er kann, wenn später der Raub
freiwillig und ohne Deliktsvorbehalt aufgegeben wird, die stehengelas-
sene Betrugsstrafbarkeit nicht mehr wegkonstruieren und muß bestra-
fen, obwohl der Täter aus Scham und Besinnung schrittweise, aber
vollständig zur Legalität zurückgekehrt ist. Natürlich sind solche Fehl-
beurteilungen nicht ernsthaft zu befürchten. Aber verräterische Konse-
quenzen verschwinden nicht dadurch, daß man sie nicht zieht oder den
Fall verschweigt, der sie ans Licht brächte.
Man kann sich solche Steigerungsentschlüsse noch schrecklicher vor-
stellen: Jemand will seinem Feind schaden und setzt zur Zerstörung von
dessen Mobiliar an. Ihm tut es aber um die schönen Sachen leid, und er
beschließt, doch lieber die Heimkehr des Eigentümers abzuwarten und
dann ihn selbst totzuschlagen. Wird der Mord tatsächlich begangen oder
versucht, so ist allein nach §211 StGB zu strafen, scheitert der Plan
schon vorher oder kommt es zum freiwilligen Rücktritt, entfällt Strafe
ganz. Denn wer aus Achtung vor dem Vermögenswert fremder Sachen
von ihrer Zerstörung absteht, gibt autonom und rechtzeitig seinen
realisierbaren Zerstörungsversuch auf und muß deshalb insoweit nach
dem klaren Wortlaut des § 24 StGB straffrei werden. Alles andere ist eine
Frage seines zukünftigen Handelns, das vielleicht in Sekundenschnelle
eine neue, andere Versuchsstrafbarkeit begründen wird, aber in jedem
Fall abzuwarten bleibt. Wer zweifelt, führe sich nur einmal die Gegenlö-
sung vor Augen: Sie ignoriert einfach, daß unsere Täter die Deliktsvoll-
endung aus Scham bzw. aus Achtung vor wirtschaftlichen Werten
unterlassen haben, und tut, als seien ihre Versuche fehlgeschlagen oder
unfreiwillig abgebrochen worden.
Für die Rücktrittslehren haben die Fälle des frei beschlossenen
Umstiegs auf ein anderes, vielleicht schwereres Delikt etwas bitter
Enttäuschendes. Von einem „Ausdruck des Willens zur Rückkehr in die
716 Rolf Dietrich Herzberg

Legalität"14 oder einem „Durchbrach der Normbefolgungsbereitschaft"


als hinreichendem Zeichen der „Bewährung des Täters" 15 kann hier wohl
kaum sinnvoll die Rede sein, und schulterklopfende Belobigung der
„Reaktion eines im entscheidenden Augenblick anständigen Men-
schen" 16 oder kriminalpolitische Beschwichtigung, der Täter habe sich
„als ungefährlich erwiesen", so daß „Strafe weder aus spezial- noch aus
generalpräventiven Gründen erforderlich" sei17, würde sarkastisch wir-
ken; auch denkt der Täter gar nicht daran, eine „goldene Brücke zum
Rückzug" zu beschreiten. Trotzdem liegt in seinem Umstieg zum
schlimmeren Unrecht ein strafbefreiender Rücktritt. Wie so oft zeigt
sich auch hier: Aus der dem Gesetz unterstellten ratio die Entscheidung
zweifelhafter Einzelfälle abzuleiten ist so beliebt und bequem wie
unfruchtbar und irreführend. Umgekehrt wird es richtiger: Erst aus
sachgerechten Lösungen von Fall zu Fall, die streng am Gesetzeswort-
laut zu messen sind, kann man, unter dem Vorbehalt jederzeitiger
Korrektur, die ratio langsam erschließen und genauer bestimmen18. Für
§24 StGB jedenfalls muß man sich eingestehen, daß die verbreitetste
Formulierung des Grundes der Strafbefreiung, die „Rückkehr des Täters
in die Legalität", die Fälle der Gesetzesanwendbarkeit nicht auf den
gemeinsamen Nenner bringt und dort, wo es darauf ankommt, die
Rechtsfindung nicht zuverlässig anleitet, ja mitunter verfälscht. Beibe-
halten kann man die Redeweise allenfalls in einem so formalen Sinne,
daß sie nahezu wertlos erscheint. Denn gewiß, ein bißchen sind die Täter
unserer Beispiele zur Legalität zurückgekehrt, weil sie speziell auf den
Betrug und die Sachzerstörung verzichtet haben. Bedenkt man, daß
andere vielleicht erst diese Delikte vollendet und dann außerdem noch
geraubt und getötet oder diese Entschlüsse gefaßt hätten, verhalten sie
sich vergleichsweise legal, was man denn auch mit Blick auf die §§263,

14
Roxin, ZStW 80, 708.
15 Walter (Fn. 7), S. 23 f. Walters eher beiläufige Beurteilung des für seine Gesamtkon-
zeption gefährlichen Falles ist aufschlußreich. Der Einbrecher, der „vor Ort" das Werk-
zeug wieder einpackt, weil ihm eine Kränkung nachgeht und er „nun doch erst einmal
seinen Widersacher verprügeln möchte", lasse „keine hinreichende Normbefolgungsbe-
reitschaft erkennen" (S. 78, 79). Das ist ein halbherzig gebildetes Beispiel. Anscheinend
scheut "Walter die Zuspitzung, daß der Täter um der vorrangigen Rache willen sich von
seinem nur heute durchführbaren Diebstahlsprojekt endgültig verabschiedet. So verändert
hätte der Fall den Widerspruch zwischen dem Gesetz und der eigenen Theorie offen
hervortreten lassen: Der Verzicht ist autonom beschlossen und unbestreitbar „freiwillig",
hat aber den ausschließlichen Sinn unverzüglicher Deliktsbegehung.
16
Roxin, in: Festschrift für Heinitz (Fn. 9), S.266.
17
Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Samson, Systematischer Kommentar zum StGB (SK),
Bd. 1, AT, Stand Sept. 1984, § 2 4 Rdn. 18.
18 Mein eigener Deutungsversuch erscheint 1987 als Aufsatz unter dem Titel „Grund

und Grenzen der Strafbefreiung beim Rücktritt vom Versuch - von der Strafzwecklehre
zur Schulderfüllungstheorie."
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 717

303 StGB als Zeichen ihrer Ungefährlichkeit nehmen mag. Gerettet


allerdings wären so die fraglichen Theorien nicht. Denn die angebotenen
Ratio-Erklärungen sollen ja die Entscheidung leiten, ob i. S. von §24
StGB ein freiwilliges Aufgeben der Tatausführung anzunehmen ist. Nun
ginge es andersherum: Immer dann wären „hinreichende Normbefol-
gungsbereitschaft" und „Rückkehr zur Legalität" zu konstatieren, wenn
man zuvor erkannt hat, daß ein freiwilliges Aufgeben der Tatausführung
vorliegt.
Einen ganz eigentümlichen Versuch, hier die Theorie mit der stimmi-
gen Fallentscheidung zu versöhnen, hat Jakobs unternommen 1 '. Einer-
seits bestätigt er den heute meistgewählten Ansatz der „Bewertung des
Beweggrundes zum Rücktritt" und die bekannten Leitformeln. Andrer-
seits will er aber doch einen strafbefreienden Rücktritt bejahen, wenn
der Täter z. B. den Versuch einer nach § 315 c StGB strafbaren Trunken-
heitsfahrt abbricht, um seine Beifahrerin „an Ort und Stelle zu vergewal-
tigen", oder, in derselben Absicht, die zunächst mit Tötungsabsicht ins
Wasser gestoßene Frau wieder herauszieht. Das erklärt er so: „Die Frage
lautet, warum der Täter den Versuch nicht mehr will, nicht aber, was er
statt dessen will". Es geht bei der Freiwilligkeit „um den Beweggrund
für das Scheiternlassen des Versuchs der konkreten Tat, nicht aber um
den Beweggrund dessen, was der Täter anstelle des Versuchs plant. Also
kann ihn das Unrechtliche der neuen Planung nicht belasten". Das ist
eine Begründung, die auf andere Fälle zielt. Jakobs' Unterscheidungen
greifen nur, wenn der Täter für den Rücktritt einen anderen Beweg-
grund hatte als den, die Frau zu vergewaltigen, er diesen Entschluß also
erst nach dem Rücktritt gefaßt hat. Es versteht sich, daß dann die
Bewertung des einsichtigen Aufhörens oder des mitleidigen Rettens als
„Rückkehr in die Bahnen des Rechts" keine Schwierigkeiten macht. So
liegen die kritischen Fälle aber nicht. Gerade wenn man mit Jakobs allein
nach „dem Beweggrund für das Scheiternlassen des Versuchs" fragt,
ergibt sich, daß der Täter ausschließlich zum Zweck der Verbrechensbe-
gehung zurückgetreten ist und sein Rücktritt das Gegenteil einer Besin-
nung auf die Rechtstreue offenbart. So liefert Jakobs die Beispiele, die
die von ihm für richtig befundene Theorie am allerschlechtesten verkraf-
tet. Denn während in unseren Fällen dem Täter wenigstens noch zu
bescheinigen war, daß er das erste Delikt (den Betrug) unnötigerweise
zugunsten des zweiten (des Raubes) geopfert hat, ist die Notzucht nur
durchführbar, wenn der Täter auf die Autofahrt bzw. auf die Tötung
(einstweilen) verzichtet. In Wahrheit, so muß man folgern, ist die
herrschende, d.h. die normativ-kriminalpolitische Deutung der „Frei-
willigkeit" gar nicht Jakobs' Standpunkt. Das zeigt sich auch durchaus in

19 AT (Fn.4), 26/34, 35, 41.


718 Rolf Dietrich Herzberg

dessen abstrakter Darstellung. Denn zu Anfang lehnt Jakobs die Mes-


sung des Rücktritts an der Legalität im ganzen, wie die h. A. sie fordert,
ausdrücklich ab. Hier fragt Jakobs, m. E. ein vortrefflicher Ansatz, ob
„die Erfüllung des Rücktrittstatbestandes dem Zurücktretenden als seine
Leistung zuzurechnen" sei20. So gesehen geht die konkrete Fallösung
natürlich glatt auf: Wie die böse Tat der Vergewaltigung ist auch der gute
Verzicht, den sie voraussetzt, dem Täter nicht abgezwungen worden
und ihm darum als sein Werk zuzurechnen.

2. Tatbestandsinterne Entschlußumstellung
Wer unsere Gründe für die Anerkennung eines wirksamen Rücktritts
überzeugend findet, wird schon bemerkt haben, daß sie nicht dort
liegen, wo der B G H sie sieht: Die Beachtlichkeit auch eines Verzichtes
mit Deliktsvorbehalt erklärt sich nicht daraus und ist nicht darauf
beschränkt, daß die versuchte Tat und das neu beschlossene Delikt
verschiedenen Straftatbeständen unterfallen. Der Ablauf: Versuch -
freiwillige Aufgabe mit gleichzeitiger Rückkehr in die straflose Vorbe-
reitung - neuer Versuch oder vorheriges Scheitern, ist genausogut in der
Form denkbar, daß beide Deliktsentschlüsse sich auf denselben Straftat-
bestand beziehen. Ein Beispiel: Verbittert wegen ihrer Kündigung,
ergreift Putzfrau P bei der Arbeit im Schlafzimmer ein Schmuckstück,
um es zu stehlen. Als ihr Gewissen sie mahnt, etwas so Persönliches der
Hausherrin nicht zu entwenden, legt sie es zurück, beschließt aber
zugleich, sich für ihre Anständigkeit zu belohnen und im Laufe des
Tages bei günstiger Gelegenheit ein paar Geldscheine aus der Kassette im
Schreibtisch wegzunehmen. Auch hier muß man auf der Hut sein, sich
durch Hypothesen zum Grundgedanken des §24 StGB, die es ja gerade
zu überprüfen gilt, das Urteil vorschreiben zu lassen. Wer das beachtet,
kann an der Lösung eigentlich kaum zweifeln. Die Skrupel beim ersten
Ansetzen zum Diebstahl haben P freiwillig in den straffreien Bereich
bloßer Tatentschlossenheit und damit auch (zwar nicht der Gesinnung,
wohl aber) dem äußeren Verhalten nach „in die Legalität" zurückkehren
lassen. Was immer nun geschieht, es kann allenfalls eine neue Strafbar-
keit begründen. Dies müßte man, wie vorgreifend festgestellt sei, selbst
dann so sehen, wenn Schmuck- und Geldwegnahme ggf. eine Hand-
lungseinheit bilden würden; denn diese Rechtsfigur löst nicht die nach
Kategorien der Versuchslehre zu beantwortende Frage, ob der Täter
nach einem Einzelakt sofort neu ansetzt oder ein Stadium bloßer Pla-
nung und Vorbereitung durchschreitet.
Die Richtigkeit unserer Lösung beweisen auch hier die Ergebnisse.
Findet sich die erhoffte „günstige Gelegenheit" nicht, scheitert P also,

20 AT (Fn. 4), 26/30.


Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 719

ohne ihren Entschluß zur Geldwegnahme auch nur ansatzweise zur Tat
gemacht zu haben, dann müßte, wer P wegen des Vorbehaltes auf ihren
Versuch festnageln will, vor der Tatsache des vom Gewissen motivierten
Verzichtes die Augen schließen und die P behandeln, als ob sie erwischt
und an der Vollendung gehindert worden wäre. Man könnte dagegen-
halten, wer einen Versuch erst einmal strafbar begangen habe, dürfe sich
nicht wundern, daß er ihn nicht schon durch Ubergang in erneute
(gedankliche) Deliktsvorbereitung tilge; er müsse vielmehr die Delikts-
entschlossenheit überhaupt aufgeben. Aber das heißt doch im Grunde
nichts anderes, als daß unter dem Deckmantel der Bestrafung eines
vergangenen Versuchs ein übriggebliebener böser Wille bestraft wird,
der sich in keiner Handlung manifestiert hat. Kommt es dagegen tatsäch-
lich zum zweiten Versuch oder gar zum vollendeten Gelddiebstahl, so
würde die „natürliche Handlungseinheit" oder der „Fortsetzungszusam-
menhang" die Ungereimtheiten vermutlich verwischen. Folgerichtig
wäre es aber für die Gegenansicht, bei der Gewichtung der Gesamttat
beide Objekte in Ansatz zu bringen, d. h. die P so zu bestrafen, als habe
sie Geld und Schmuck gestohlen oder zu stehlen versucht - eine offen-
kundig falsche Basis für die Strafzumessung.

IV. Die Handlungseinheit als Kriterium der Wirksamkeit


des vorbehaltsbelasteten Rücktritts?
1. Ausformungen im Schrifttum
Das letzte Beispiel hat uns ins Zentrum des Problems geführt. So, wie
dieses sich in der gegenwärtigen Diskussion darstellt, geht es vor allem
um Fälle, in denen der den Versuch abbrechende Täter entschlossen
bleibt, denselben Straftatbestand später doch noch zu verwirklichen,
und zwar so, daß der neue Anlauf sich nach Zeit, Angriffsrichtung und
Begehungsweise vom ersten nicht allzu sehr unterscheidet. Auffallend
viele Äußerungen sind freilich kaum zu verwerten, weil sie sich in
formelhafter Betonung der Notwendigkeit eines „endgültigen und voll-
ständigen" Rücktritts erschöpfen201 oder nur vage andeuten, daß nicht
jedweder Deliktsvorbehalt den Rücktritt unbeachtlich mache20b. Geht
man jedoch die präziseren Stellungnahmen durch, so erkennt man eine
ihnen gemeinsame Basis der Problemformulierung und, daraus entwik-
kelt, zwei Hauptansichten.

Vgl. etwa Baumann-Weber, AT, 9. Aufl. (1985), S.504; Geilen, AT, 5. Aufl. (1980),
S. 177; Welzel, AT, 11. Aufl. (1969), S. 198.
20b Vgl. etwa Jescheck, AT, 3. Aufl. (1978), S.439; Lackner, StGB, 16. Aufl. (1985), §24
Anm. 3 a, aa; Schmidbauer, AT (Studienbuch), 2. Aufl. (1984), 11/82.
720 Rolf Dietrich Herzberg

D e n A u s g a n g s p u n k t teilt a u c h der B G H . E r fragt, o b „die z u n ä c h s t


beabsichtigte sexuelle H a n d l u n g u n d die später geplante z w e i selbstän-
dige Straftaten i. S. des § 5 3 S t G B w ä r e n " 2 1 . D a s ist angelehnt an die
b e s o n d e r s genaue, ihrerseits Lenckner folgende P r o b l e m k e n n z e i c h n u n g
v o n Küper, auf den sich d e r B G H a u s d r ü c k l i c h b e r u f t : „ H a t der T ä t e r
seinen Deliktsplan n i c h t endgültig aufgegeben, s o geht es e n t s c h e i d e n d
d a r u m , o b ( u n d w a n n ) das geplante spätere V e r h a l t e n m i t d e m bisheri-
gen n o c h eine einheitliche T a t bildet, o d e r o b es bereits eine , n e u e '
andere T a t darstellt" 2 2 . D i e s e g e m e i n s a m e F r a g e s t e l l u n g , die m a n in
g r o b e r U n t e r s c h e i d u n g oft als die „ k o n k r e t e " der „ a b s t r a k t e n " e n t g e -
gensetzt 2 3 , hat allerdings nicht a u c h einen einheitlichen M a ß s t a b für die
P r ü f u n g der T a t i d e n t i t ä t h e r v o r g e b r a c h t . W ä h r e n d v o r allem Lenckner,
Stratenwertb u n d tendenziell a u c h das B G H - U r t e i l allein auf die „ t a t b e -
standliche H a n d l u n g s e i n h e i t " abstellen 2 4 , w o l l e n Küper u n d andere den
w i r k s a m e n R ü c k t r i t t a u c h d a n n v e r n e i n e n , w e n n bei d e r v o r b e h a l t e n e n
T a t „ A n g r i f f s o b j e k t u n d A u s f ü h r u n g s w e i s e gleichartig sind u n d der
T ä t e r Z e i t u n d O r t des späteren H a n d e l n s bereits k o n k r e t ins A u g e

21 BGHSt. 33, 145.


22 Küper, J Z 1979, 779; sachlich übereinstimmend Lenckner (Fn.3), S.303f; Ebert
(Fn.6), S. 112; Otto, AT, 2. Aufl. (1982), S.211; Stratenwertb (Fn.4), Rdn.714.
23 Vgl. etwa Streng, JZ 1984, 652; Bottke (Fn.6), S.373-378. Man gewinnt bei
genauerem Studium allerdings den Eindruck, daß es bei den der abstrakten Betrachtungs-
weise zugeordneten Autoren lediglich an der Präzisierung dessen fehlt, was ihnen als
„endgültiges und vollständiges Aufgeben" genügt, und daß bei solcher Nachbesserung die
Differenz weitgehend verschwände; lehrreich dazu die vergleichende Bestandsaufnahme
bei Bottke, a. a. O. Stratenwertb (Fn. 4), Rdn. 714, nennt das Ganze, vermutlich zu Recht,
„eine Scheinkontroverse". - Eine deutlich abgesetzte „abstrakte" Sichtweise verficht
lediglich Walter (Fn. 7), S. 100 f: Auch wenn das vorbehaltene Handeln eine neue Tat wäre
(der Täter also „die weitere Ausführung der Tat aufgibt") und z. B. Mitleid (!) das Motiv
des Aufhörens ist („weil das Opfer gar zu fröhlich des Weges kommt"), soll im Licht der
ratio legis der Mangel an Endgültigkeit der Aufgabe die Strafbefreiung verhindern können.
Hier verdrängt eine selbstgemachte Ratio-Hypothese offen das Gesetz. Walter verzichtet
ausdrücklich darauf, durch anpassende Deutung eines Merkmals beides halbwegs in
Einklang zu bringen (S.67: „Ob Freiwilligkeit... als hinreichende Normbefolgungsbe-
reitschaft interpretierbar erscheint, darf letztlich dahinstehen"; wieso?). Er tut einfach so,
als käme es statt auf die Freiwilligkeit darauf an, daß im Aufgeben der weiteren Tatausfüh-
rung „hinreichende Normbefolgungsbereitschaft" hervortrete. Aber selbst als Vorschlag
de lege ferenda scheint mir das nicht praktikabel. Es wird hier besonders deutlich, wie
beliebig ausfüllbar Walters Schlüsselbegriff ist: Wie weit muß die Normbefolgungsbereit-
schaft „hinreichen"? Genügt es, wenn der Täter sein fröhliches Opfer ein Jahr, einen
Monat, einen Tag lang in Ruhe lassen will?
24 Vgl. Lenckner (Fn.3), S.304; Stratenwertb (Fn.4), Rdn.714, 711, 1210ff, 1219;
übereinstimmend wohl auch Krauß, JuS 1981, 884. BGHSt. 33, 146 referiert zwar
die auch die Fortsetzungstat einbeziehende Rspr. des BGH, läßt die eigene Zustimmung
aber in der Schwebe und verneint den wirksamen Rücktritt aufgrund des Lencknerschen
Kriteriums.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 721

gefaßt hat" 25 . Die Differenz der Standpunkte kann man wohl dahin
beschreiben, daß Küper den von Lenckner ausdrücklich verworfenen
„Fortsetzungszusammenhang" als zweiten einheitsstiftenden Gesichts-
punkt anerkennt, um die Diskrepanz mit dem eigenen Verständnis der
ratio legis abzuschwächen26. Denn schon Lenckner selbst hatte ange-
sichts der Konsequenzen seiner Lehre („strafbefreiender Rücktritt,
wenn der Täter den Tötungsversuch abbricht, um dem Opfer noch eine
letzte Schonfrist bis zum nächsten Tag zu geben") ein Mißbehagen nicht
unterdrücken können und sie für §24 Abs. 1 StGB als vielleicht „weni-
ger einleuchtend" bezeichnet27.
Den Standardfall zur Veranschaulichung liefert der Dieb, der die Tat
abbricht und aufschiebt: A ist in ein urlaubsleeres Haus eingestiegen und
beschließt angesichts der reichen Beute großherzig, seinen Freund B zu
holen und partizipieren zu lassen. Ohne schon etwas mitzunehmen, geht
er wieder hinaus. Will er in wenigen Minuten zurück sein, weil er B in
einer nahen Kneipe weiß, würden wohl beide Ansichten den wirksamen
Rücktritt verneinen. Anders, wenn A das Unternehmen in die nächste
Nacht verschiebt; dann würde der Rücktritt nach Lenckner zählen,
während er nach Küper unbeachtlich bliebe.

2. Kritik
Hier kann es nicht um die Entscheidung für die eine oder andere
Ansicht gehen; fragwürdig ist vielmehr schon ihr gemeinsamer Ansatz.
Das wertende Zusammenfassen zeitlich getrennter Einzelakte zu juristi-
schen Handlungseinheiten und die sie bezeichnenden dogmatischen
Begriffe haben, jedenfalls primär und von Hause aus, den Sinn, realgetä-
tigte Einzelakte zu einer Handlung zu verschmelzen; also etwa den Sinn
der Vermeidung von Tatmehrheit (§53 StGB), wenn ein zunächst
gescheiterter Versuch alsbald - erfolglos oder erfolgreich - wiederholt
worden ist oder im Beispiel A und B Stück für Stück ihre Beute
hinausgetragen haben. Man blickt sozusagen in die Vergangenheit und
sieht einzelne Akte, die sich in ihr realisiert haben. Diese ihnen gemein-

25 So Ebert (Fn. 6), S. 112, deutlich im Anschluß an Küper, J Z 1979,780; ähnlich Vogler,

in: Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), StGB, Leipziger Kommentar (LK), 10. Aufl. (1983),
§ 2 4 Rdn.79; Scbönke/Schröder/Eser (Fn.6), § 2 4 Rdn.40.
26 Vgl. Küper, J Z 1979, 780: Der die Durchführung nur vertagende Versuchstäter
„manifestiert in seinem Verhalten... deutlich den Willen, nicht in die Legalität zurückzu-
kehren, und bleibt für die Rechtsordnung weiterhin aktuell gefährlich"; daß er zur
Eingrenzung der Sache nach die Figur des Fortsetzungszusammenhangs heranzieht, deutet
Küper freilich nur an (in Fn. 48).
27 A . a . O . (Fn.3), S.305.
722 Rolf Dietrich Herzberg

same Eigenschaft stellt von vornherein eine gewisse Einheitlichkeit her,


die die juristisch-wertende Zusammenfassung erleichtert. Sub specie der
Rücktrittsfrage stellt sich das Problem der Verklammerung völlig
anders. Man m u ß für A im Augenblick seiner Entschlußänderung und
U m k e h r mit Blick in die Zukunft entscheiden, ob man einerseits den
verwirklichten Versuch und andererseits noch ausstehendes, möglicher-
weise sogar auf Dauer unterbleibendes Handeln als eine „ T a t " i. S. von
§ 24 S t G B bewerten darf. D a ß für die A n t w o r t nicht die in der K o n k u r -
renzlehre entwickelten Kriterien der Handlungseinheit maßgeblich sein
sollen, mag man schon im Wechsel des gesetzlichen Terminus angedeu-
tet sehen: Idealkonkurrenz wird durch „dieselbe Handlung" (§ 52 S t G B )
geschaffen, Rücktritt setzt das Aufgeben weiterer Ausführung „der Tat"
voraus. Das kann indes Zufall sein. M e h r Gewicht hat die Überlegung,
daß die Teile, die man zur normativen Einheit machen will, hier ja schon
deshalb schwer zusammenzufügen sind, weil sie auf den verschiedenen
Ebenen der Aktualität und der Potentialität liegen. Man kann daraus,
daß ein real getätigter Einzelakt eventuell, d. h. im Fall der Realisierung
auch des geplanten weiteren Handelns, seine Eigenbedeutung verlieren
würde, nicht schließen, daß er schon jetzt nur unselbständiger Teil einer
Handlungseinheit ist.
Die Mißachtung dieses Befundes durch die, die ihre Lösungen aus
dem herrschenden Ansatz ableiten, rächt sich in schweren Mängeln an
Sachgerechtigkeit und prozessualer Praktikabilität. Man gebe sich doch
einmal Rechenschaft über Sinn und Gewinn des Festhaltens an der
Strafbarkeit trotz des freiwilligen Zurückweichens! Entweder verwirk-
licht der Versuchstäter seinen Deliktsvorbehalt. D a n n interessiert sich
kein Mensch mehr für den abgebrochenen ersten Anlauf; daß er, wie
behauptet wird, trotz des Abbruchs als Versuch strafbar geblieben sei,
kann gegenüber der Endtat, sei diese nun das vollendete Delikt oder
auch wieder nur Versuch, überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Eine
etwaige Strafzumessung dürfte ihn gerechterweise nicht erschwerend
berücksichtigen, ein etwaiger Rücktritt würde ihn selbstverständlich
miterfassen. O d e r der Täter überschreitet nicht abermals die Delikts-
schwelle, weil sich schon vorher sein Erneuerungsvorhaben zerschlägt.
D a n n hängt nach der h. A . , was in unserem Zusammenhang merkwürdi-
gerweise kaum beachtet wird, die prozessuale Strafberechtigung im
Grunde allein von der Einlassung des Täters ab.
Sagt er, er sei zu einem neuen Anlauf nur (mehr oder weniger stark)
geneigt, aber noch nicht „entschlossen" gewesen, so wird die Bestrafung
fast immer daran scheitern, daß die Grundvoraussetzung für die
Annahme eines Versuchs, die Tatentschlossenheit, unbeweisbar ist.
D e n n es ist ja unbedingt lebensnah und glaubwürdig, daß jemand, der,
räumlich und zeitlich von der geplanten Tat entfernt, nur vorbereitend
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 723

agiert, sich die eigentliche Entschließung noch offenhält28. Dies zu


berücksichtigen und den Beweis des Gegenteils dem Richter gar nicht
erst aufzubürden ist geradezu der Sinn der Straflosigkeit bloßer Planung
und Vorbereitung. Wird also im Beispiel der A, nachdem er sich aus
freien Stücken zunächst ohne Beute zurückgezogen hat, außerhalb des
Hauses gestellt, so ist es fast sinnlos, nach einem etwaigen Erneuerungs-
vorbehalt zu forschen. Dasselbe gilt für Lenckners Fall des Mordver-
suchstäters, der seinem Opfer noch einen Tag schenkt. Solange der Täter
den Versuch nicht wirklich erneuert hat, wird ihm niemand nachweisen
können, daß er dazu (in einem der Versuchslehre genügenden Sinne)
„entschlossen" war.
Gibt er dies aber (törichterweise) zu oder kann es ihm (ausnahms-
weise) nachgewiesen werden, dann würde nach h. A. (in umstrittenen
Grenzen) die Bestrafung möglich. Doch fordert das den noch schwerer
wiegenden Einwand materieller Ungerechtigkeit heraus. Denn ein Ver-
suchstäter, der freiwillig in den Bereich bloßer Vorbereitung zurückge-
kehrt ist29, würde behandelt wie jemand, der mit seinem Versuch
gescheitert ist oder ihn unfreiwillig abgebrochen hat.

V. Das richtige Kriterium: Verlassen der Versuchssituation


Das richtige Kriterium hat sich im Fortgang der Untersuchung schon
vollkommen herausgebildet. Ob trotz Wiederholungsvorbehalts ein
freiwilliges Aufgeben Strafbefreiung bewirkt, hängt nicht ab von einem
mehr oder minder eng zu fassenden Zusammenhang des getätigten
Versuchs mit der potentiellen Deliktsbegehung, die sich der Täter
vorbehalten hat. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob der Rückzug
den Täter aus der Versuchssituation wieder herausführt. Daß das gedank-
liche Umdisponieren bei verbliebener Tatentschlossenheit den gleichzei-
tigen Eintritt in ein neues Versuchsvorfeld (Vorbereitungsstadium)
bedeuten mag, ist unerheblich. Die Strafbarkeit muß auch dann durch
neues unmittelbares Ansetzen neu begründet werden. Dieses Kriterium
gewährleistet nicht nur, wie dargelegt, gerechtere Entscheidungen, es ist
ersichtlich auch dem sachlichen Problem, das es lösen soll, angemesse-
ner. Denn der Rücktritt ist gewissermaßen die Umkehrung des Ver-
suchs. So, wie trotz fester Deliktsentschlossenheit erst das „Ansetzen"

28 Mag man für diese auch die Bildung eines die Unterlassungstendenz nur überwiegen-
den Handlungswillens genügen lassen (wie es Roxin, in: Gedächtnisschrift für H . S c h r ö -
der, 1978, S. 159 f, einleuchtend fordert).
29 U n d damit, wenn es denn darauf ankommen soll, im entscheidenden Sinne auch „in

die Legalität". Küpers entgegengesetzte Wertung (oben Fn. 26) übersieht, daß jemand, der
sich vom aktuellen Versuch in den Bereich bloßer Vorbereitung wieder zurückzieht, nur
noch in legaler Weise Böses plant.
724 Rolf Dietrich Herzberg

den Verlust der Straffreiheit bewirkt, so muß umgekehrt das freiwillige,


die unmittelbare Gefahr beendende „Absetzen" auch die Wiedererlan-
gung der Straffreiheit bedeuten. Höhere Anforderungen ethisieren oder
kriminalpolitisieren das Gesetz über seinen Wortlaut hinaus und führen
zu verkappter Bestrafung eines nur planenden bösen Willens sowie zur
Anwendung sachfremder Maßstäbe, die ganz anderen Regelungsbedürf-
nissen zu dienen bestimmt sind.
Um die strafbefreiende Wirkung eines Umkehrens oder Aufhörens
mit Deliktsvorbehalt zu ermitteln, muß man also immer den Täter allein
nach seinem neuen Plan beurteilen und fragen, ob er sich mit ihm in der
Versuchs- oder Vorbereitungsphase befindet. Verdeutlicht an den letz-
ten Beispielen: Wer in einem fremden Haus steht und entschlossen ist,
hinauszugehen und nach einigen Minuten oder 24 Stunden mit einem
Freund zum Stehlen zurückzukehren, oder wer sich mit seinem gekid-
nappten Opfer unterhält und dabei gewillt ist, es am nächsten Tag zu
töten, befindet sich noch außerhalb der Zone des strafbaren Versuchs;
das „unmittelbare Ansetzen" zur Tatbestandsverwirklichung ist im Plan
schon zeitlich fixiert, aber noch nicht durch Handeln realisiert.
Dagegen hat das freiwillige Abbrechen einer konkreten Versuchs-
handlung keinen strafbefreienden Effekt, wenn der Versuch ungebro-
chen weiterläuft. Der Einbrecher, der die Zerstörung einer teuren
Fensterscheibe zur Schonung des Eigentümers im letzten Augenblick
doch noch unterläßt und sogleich einen anderen, unschädlichen Einstieg
wählt, kehrt hinsichtlich des schweren Diebstahls keine Sekunde lang ins
Vorbereitungsstadium zurück. Mithin wird insoweit auch nicht die
Versuchsstrafbarkeit aufgehoben und neubegründet, sondern sie bleibt
durchlaufend bestehen.
Dieser Unterschied ist freilich rein dogmatisch und praktisch belang-
los. Ginge der rücksichtsvolle Einbrecher zuerst noch einmal zum Auto,
um eine Zigarette zu rauchen und eine Taschenlampe zu holen, so wäre
der Versuch und mit ihm die Strafbarkeit durch eine Zwischenphase der
Abwendung und neuen Vorbereitung kurz unterbrochen, aber die Straf-
zumessung für den danach vollendeten schweren Diebstahl würde das
nicht im geringsten beeinflussen.
Interessant wird es erst, wenn der Täter nach dem freiwilligen U m -
disponieren unfreiwillig aufgibt oder die Planverwirklichung schlicht
unmöglich wird. Hier kommt dann alles darauf an, ob wertende Beurtei-
lung ihn nach seinem freiwilligen Aufschub noch in der Versuchs- oder
in einer neuen Vorbereitungssituation sieht. Als Beispiel diene B G H S t .
7, 296. Geht man hier mit dem Gericht davon aus, daß der durch die
Bitte des Opfers motivierte Verzicht auf die sofortige Vergewaltigung als
freiwillig zu bewerten sei, und unterstellt man weiter, daß der Täter nach
Ablauf der Galgenfrist den etwaigen Widerstand gewaltsam zu brechen
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 725

fest entschlossen war, so wäre zu fragen: Begeht schon einen Versuch,


wer eine Frau durch Drohung zu bleiben zwingt und vor die Alternative
stellt, sich ihm aus eigener Lust binnen kurzer Frist hinzugeben oder
vergewaltigt zu werden? Die Antwort kann wohl nicht zweifelhaft sein.
Der Deliktsentschluß liegt vor, nur die Ausführung ist abhängig
gemacht vom Fristablauf und von der Verweigerung freiwilliger Hin-
gabe; das unmittelbare Ansetzen ist bei dieser Planung schon in der
Begründung von Gewalt über das Opfer zu sehen.
Ein Gegenbeispiel bietet der oben gebildete Fall der versuchten
Tötung auf Verlangen, die aufgeschoben wird, weil der Täter es im
Augenblick „einfach nicht übers Herz bringt", und die sich dann wegen
des unerwarteten Selbstmordes erübrigt. Wer tödliches Gift bereithält,
dieses dem Opfer aber erst nach Stunden injizieren will, bewegt sich
noch in der Zone strafloser Vorbereitung. Der Versuchstäter ist also
durch Absetzen der Spritze wirksam zurückgetreten.
Die beiden letzten Beispiele zeigen die Notwendigkeit der Differen-
zierung innerhalb einer Konstellation, die unter dem Rücktrittsaspekt
meistens gleichmäßig beurteilt wird. Otto bildet den Fall, daß A beim
Einbruchsversuch das Haustürschloß des B schon gelockert hat und nun
beschließt, heimzukehren und den Diebstahl erst am nächsten Abend zu
begehen. Einer schon immer verbreiteten Ansicht folgend30, macht Otto
(als Verfechter der „konkreten" Betrachtungsweise) die Strafbefreiung
hier davon abhängig, ob A später durch Herausstoßen des Schlosses „an
die bisher geleistete Arbeit anknüpfen" oder von vorn beginnen, z. B.
durchs Fenster steigen will31. Indes ist so die Frage falsch gestellt und
geeignet, den zutreffenden Ansatz der konkreten Sichtweise praktisch
wiederaufzuheben. Irgendeine Erleichterung, die der freiwillig aufschie-
bende Täter später auszunutzen gedenkt, wird nach dem ersten Anset-
zen fast immer zurückbleiben, sei es auch nur die genauere Kenntnis
tatrelevanter Umstände. Richtigerweise muß man fragen, ob schon ein
Versuch vorläge, wenn A von Anfang an vorgehabt hätte, erst am
nächsten Abend die halb geleistete Einbruchsarbeit zu vervollständigen
und den Diebstahl zu begehen. Die heute klar herrschende Ansicht
würde die Frage wegen des großen zeitlichen Abstandes zwischen der
realisierten Schutzminderung und der geplanten Wegnahme verneinen32.
Sie sähe den A bis zum „Ansetzen" am zweiten Abend noch in der
Vorbereitungsphase. Dem muß sich die Beurteilung des Rücktrittsfalles
gerechterweise anpassen. A hat dort zwar schon einen Versuch began-
gen, aber danach freiwillig so umdisponiert, daß ihn die h. A. folgerich-
30 Vgl. die Zusammenstellung bei Bottke (Fn.6), S. 374 f.
31
Otto (Fn. 22), S. 211 f.
32 Vgl. nur Roxin, JuS 1979, 6 f (mit eingehender Begründung und zahlreichen Nach-
weisen).
726 Rolf Dietrich Herzberg

tig jetzt wieder im straffreien Vorfeld der Deliktsausführung sehen muß.


Gleiches gilt in unserem Beispiel des Versuchstäters, der die von seiner
kranken Frau verlangte Tötung im letzten Augenblick doch nicht begeht
und um Stunden aufschiebt. Läßt er das Gift in der Spritze, so hält er
damit zwar ein Stück schon geleisteter Arbeit fest, doch stellt es sich in
der neuen Situation nur als straffreie Vorbereitung künftiger Ausführung
dar.
Der gegen Ottos Lösung gerichtete Vergleichsfall ist freilich umstrit-
ten. Mag auch die Annahme des späten Versuchsbeginns den Vorzug
verdienen, so zeigt die schwankende Beurteilung doch an, daß neben
dem zeitlichen Aspekt auch der Umstand des schutzmindernden Ein-
bruchs in die Opfersphäre nicht ganz ohne Bedeutung ist und daß er die
zeitliche Entferntheit der eigentlichen Tatausführung bis zu einem
gewissen Grade aufwiegen kann. Wer auf der Straße vor dem Haus, in
das er gleich durch ein zufällig offenes Fenster einsteigen will, ein paar
Minuten stehenbleibt, um die Lage zu sondieren, ist noch nicht strafbar.
Wer aber dasselbe tut, nachdem er zuvor das Fenster zerstört hat, hat
mit diesem Handeln das Versuchsstadium schon betreten, selbst wenn
das nachfolgende Abwarten von Anfang an eingeplant war. Entspre-
chend wäre ein spontan beschlossener taktischer Rückzug so geringen
Ausmaßes auch nicht geeignet, den Täter strafaufhebend aus der Ver-
suchssituation herauszuführen. N u r diese Begründung trägt die Bestra-
fung des Täters, der für den Fall, daß das O p f e r sein Versprechen
freiwilliger Hingabe nicht bald einlöst, zur Vergewaltigung entschlossen
bleibt. Die zeitliche Distanz, die den Täter nach der Umstellung seines
Planes von der Tat wieder trennt, stünde der Annahme eines andauern-
den Versuches an sich entgegen. Da der Täter aber durch den Uberfall
die Tabuschranke schon durchbrochen hat und das Opfer in seiner
Gewalt festhält, ist der Aufschub nicht entscheidend. Allerdings hat
solcher Ausgleich frühe Grenzen. Wer ein Mädchen mit dem Entschluß
gefangensetzt, es zu vergewaltigen, falls binnen einer Stunde zärtliche
Werbung nicht zum Ziel führt, begeht Freiheitsberaubung, aber noch
keinen Notzuchtsversuch. Entsprechend wieder die Beurteilung des
Rücktrittsfalles: Auch wenn der Täter von einem anfänglichen Verge-
waltigungsversuch aus Scham zur zärtlichen Werbung hinüberwechselt,
bewegt er sich während dieser friedlichen Stunde außerhalb des sexual-
deliktischen Bereichs, was hier für §24 StGB den Ausschlag geben muß.
Die herrschende Strafzwecklehre ist es vor allem, die so mäßige
Anforderungen zu großzügig findet. In umfassender Auseinanderset-
zung mit ihr ein anderes Verständnis der ratio legis zu begründen, ist
hier nicht der Ort 33 . Doch sei immerhin aufgezeigt, wie angreifbar die

33
Ich verweise auf meine in Fn. 18 angekündigte Studie.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 727

strengen Lösungen dieser Lehre von ihrem eigenen Kriterium her


erscheinen. Roxin hält es für „ohne weiteres e i n l e u c h t e n d . . d a ß der
Täter seinen Plan endgültig aufgegeben haben muß, wenn er die Straf-
freiheit erlangen will". Denn es bedeute „das Verschieben der Ausfüh-
rung auf die nächste, günstigere Gelegenheit natürlich keine Rückkehr in
die Legalität" 34 . Aber einleuchtend und natürlich scheinen eher die
gegenteiligen Annahmen. Wer aus freien Stücken aus einem Versuch
aussteigt und das Delikt jetzt nur noch für einen späteren Zeitpunkt
vorhat und vorbereitet, verstößt nicht mehr gegen das Gesetz. Der
aufschiebende Täter verbleibt in deliktischer Entschlossenheit, aber in
die Legalität kehrt er zurück. Entgegen üblicher Beteuerung begnügen
sich die Verfechter des Kriteriums in derartigen Fällen gerade nicht mit
einer Rückkehr zu legalem Verhalten, sondern sie fordern ein innerliches
Abschwören, einen Wandel zu rechtstreuer Gesinnung. Diese innere
Widersprüchlichkeit ist leicht erklärlich. Da die Strafzwecklehre fragt,
ob unter Präventionsaspekten die Bestrafung des Versuchstäters trotz
des autonom beschlossenen Aufschubs noch angezeigt ist, kann es ihr
nicht reichen, daß der Täter in die Legalität zurückgekehrt ist. Vielmehr
muß sein Rücktritt beweisen oder wenigstens indizieren, daß er die
Gesellschaft mit Delikten vom Typus der Versuchstat vorläufig nicht
mehr bedroht. Es ist unmöglich, das materielle Kriterium präventiver
Bedürfnisse mit dem formellen der Rückwendung zu legalem Verhalten
zur Deckung zu bringen. Man muß sich entscheiden, und zwar für das
formelle. Andernfalls wäre der Freispruch nicht einmal mehr gesichert,
wenn z. B. ein Heranwachsender seine ersten Notzuchtsversuche aus
Scham und Anstandsgefühl noch aufgegeben hat. Schwinden erkennbar
seine Hemmungen und nimmt seine Gefährlichkeit von Mal zu Mal
deutlich zu, so kann aus spezialpräventiven Gründen die Strafbehand-
lung, die §24 StGB hier eindeutig verbietet, dringlich geboten er-
scheinen.

VI. Wirkung des Rücktritts bei durchlaufendem Versuch -


Lösung des Ausgangsfalles

Der Satz, es komme für die Strafbefreiung darauf an, ob das freiwillige
Abbrechen den Täter aus der Versuchssituation wieder herausführe,
bedarf aber noch klarstellender Ergänzung. Die nahtlose Fortführung
des strafbaren Versuchs nach einem freiwilligen Handlungsverzicht
bedeutet nicht, daß der Verzicht schlechthin unbeachtlich wäre. Genau-
genommen hat jede freiwillige Preisgabe einer konkreten Handlung, die
den Versuchstatbestand erfüllt, strafbefreiende Wirkung, nämlich inso-

34 Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (Fn. 10), S.38.


728 Rolf Dietrich Herzberg

fern, als jedenfalls sie die Versuchsstrafe nicht mehr tragen und bei der
Bemessung der Strafe für das sogleich weiterversuchte bzw. vollendete
Delikt nicht mehr zählen kann. Denn natürlich muß es einen Unter-
schied machen, ob im Beispiel der Einbrecher sich umbesinnt, weil es
ihm um die schöne Scheibe leid tut oder weil er das Fenster vergittert
vorfindet. Selbst wenn der Diebstahlsversuch nicht unterbrochen wird,
tritt der Täter im ersten Fall von ihm insoweit wirksam zurück, als der
Versuch im Bemühen liegt, durch das Fenster ins Haus zu gelangen".
Zum Ausgangsfall zurückkehrend, können wir also nach allem sagen,
daß der B G H recht hat mit der Annahme, der Angeklagte habe durch
den freiwilligen Verzicht auf den Oralverkehr seine Strafbarkeit nach
§§ 178, 22 StGB nicht getilgt. Der Maßstab der Handlungseinheit (zwi-
schen aufgegebenem und geplantem Handeln) ist zwar der falsche, aber
er führt hier zufällig zum richtigen Ergebnis, weil A entschlossen und
mit permanenter Gewaltanwendung auch tätig bemüht blieb, sich an P
geschlechtlich zu befriedigen; der Versuch zur sexuellen Nötigung lief
also ununterbrochen weiter und wurde in der gesteigerten Form der
Vergewaltigung sogar zur Vollendung geführt. Fehlerhaft ist aber der
Schluß, daß ein Rücktritt, der gegebene Versuchsstrafbarkeit nicht
aufhebe, deshalb schlicht unbeachtlich und gänzlich unwirksam sei.
Wenn das Aufgeben des Versuchs, der P den Mundverkehr aufzuzwin-
gen, freiwillig war (was beide Gerichte annahmen), dann hat das Land-
gericht die richtige Konsequenz gezogen: Dieses Teilgeschehen mußte
bei der Strafzumessung „als den Angeklagten aus Rechtsgründen nicht
belastend ausgeschieden" werden.

VII. Anwendung des Kriteriums auf den beendeten Versuch


Das Problem des Rücktritts mit Deliktsvorbehalt stellt sich, vielleicht
entgegen dem ersten Anschein, nicht nur für den unbeendeten Versuch.
Der Arzt, der seine Frau vergiftet hat, den Anblick ihrer gräßlichen
Schmerzen aber nicht erträgt und ihr deshalb den Magen auspumpt, mag
dabei entschlossen bleiben, den Anschlag alsbald mit einem schneller
wirkenden Mittel zu wiederholen. Die oben abgelehnte Lehre müßte
also auch hier fragen, ob die vorbehaltene Erneuerung im Falle ihrer
Realisierung mit dem ersten Versuchsakt eine Handlungseinheit bilden

35 Vgl. auch Streng, N S t Z 1985, 3 6 0 f, der in solchen Fällen von einem „untechnischen
Rücktritt" spricht; das ist aber eine unnötige Abschwächung, die die unmittelbare
Anwendbarkeit des § 2 4 StGB verdunkelt. Ganz übersehen wird diese bei Bottke (Fn. 6),
S. 381 ff. E r betrachtet einseitig die Fälle „zweckdienlichen" Änderns der Vorgehensweise
und sieht deshalb mit Verneinung des „Aufgebens der weiteren Tatausführung" die
Sachfrage beantwortet. Wie aber, wenn der Umstieg zweckwidrig ist und der Schonung
des Opfers dienen soll?
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 729

würde36, und sähe deshalb ihre Lösungen allen schon vorgetragenen


Einwänden ausgesetzt. Ja, diese Kritik gewinnt in solchen Fällen sogar
zusätzliche Kraft. Denn daß beim beendeten Versuch kaum jemand
fragt, ob der Zurücktretende seinen Versuch denn auch nicht wiederho-
len wolle, kommt nicht von ungefähr. Aktive Erfolgsabwendung führt
den Versuchstäter besonders augenfällig aus der Versuchssituation her-
aus. Man kann nicht gleichzeitig sich gegen die Tatbestandserfüllung
anstemmen und auf sie zusteuern. Nur dort, wo der Deliktsvorbehalt
eines schlicht innehaltenden Täters die optische Täuschung eines sozusa-
gen „schwebenden" Versuchs erzeugt (obwohl der Täter in Wahrheit in
das Vorbereitungsstadium zurückgekehrt ist), hat es auf den ersten Blick
etwas Einleuchtendes, daß die Strafbefreiung so noch nicht erobert sein
kann. Ja, es mag sogar sein, daß diejenige Lehre, die die Lösung
besonders rücktrittsfreundlich an das Kriterium der natürlichen Hand-
lungseinheit binden will, dabei überhaupt nur Fälle der andauernden
Versuchssituation vor Augen hat37. Da diese überdeutlich ein Ende
findet, wenn der Täter aktiv die Vollendung verhindert, hat die Verwei-
gerung des Privilegs hier nie so recht Fuß fassen können; ein kaum
beachteter Umstand, der indirekt anzeigt, worauf es für die Strafbefrei-
ung auch beim unbeendeten Versuch in Wahrheit ankommt. Hier ist
auch der Grund zu suchen für die früher sogar gesetzliche Besserstellung
dessen, der durch Gegenaktivität besonders deutlich und entschieden
aus dem Versuch aussteigt: §46 Nr. 2 StGB a. F. forderte beim beende-
ten Versuch statt Freiwilligkeit nur das Nichtentdecktsein der Hand-
lung. Daß eine entsprechende Regelung in §310 StGB heute noch gilt,
bewirkt Friktionen mit dem neuen §24 StGB, die man durch dessen
kriminalpolitische Aufladung nicht noch verschärfen sollte. So muß, wer
bei §24 StGB auf dem „Durchbruch der Normbefolgungsbereitschaft"
oder ähnlichem besteht, die Strafbefreiung verweigern, wenn der Täter,
etwa durch Auspusten des Streichholzes, schon vom unbeendeten oder
beendeten Versuch zurücktritt, weil er demnächst oder anderswo eine
noch größere Feuersbrunst entfachen will38. Dagegen müßte man einem
eindeutigen Gesetzeswortlaut gehorchen, wenn der Täter aus demselben

56 So folgerichtig Lenckner (Fn. 3), S. 301 f; Küper, JZ 1979, 779.


37 In diesem Sinne fast schon emdeutigjakobs (Fn. 4), 26/10, der auf die Handlungsein-
heit des neuen Ansetzens nicht mit dem ersten Versuch, sondern mit dessen Unterbre-
chung (!) abhebt und mit Blick auf den Vorbehalt des Täters vollkommen zutreffend
betont: „Nicht mindestens in das Versuchsstadium getretene deliktische Pläne sind irrele-
vant".
38 Ausdrücklich so lösen Ulsenheimer (Fn. 11), S.341, und Bottke (Fn.6), S. 501 f
(Fn.291), den Fall; ein nachdenklich stimmendes Beispiel dafür, daß nach vermeintlich
erreichtem Wissen um die ratio legis das Gesetz selbst der Rechtsfindung kaum noch Zügel
anlegen kann: §310 StGB wird von keinem der beiden auch nur erwähnt.
730 Rolf Dietrich Herzberg

Grund nach der Deliktsvollendung den noch unentdeckten Brand im


Anfangsstadium löscht.
Es versteht sich nach dem Gesagten, daß es Fälle des Rücktritts vom
beendeten Versuch sein müssen, die sich den für die Strafzwecklehre
folgerichtigen Lösungen am stärksten widersetzen. Wenn ein Terrorist
zurück ins Gerichtsgebäude läuft und die von ihm gelegte Zeitbombe
entschärft, weil er aus Rücksicht auf eine Besuchergruppe (deren
Gefährdung ihm anfangs gleichgültig gewesen war) die Explosion doch
lieber auf einen anderen Tag verschieben will, dann kann solcher Auf-
schub natürlich nicht reichen, dem Täter zu bescheinigen, er habe sich
als ungefährlich erwiesen und den rechtserschütternden Eindruck seiner
Tat aufgehoben. Es ist ja weiterhin von ihm das Schlimmste zu befürch-
ten. Daß er die konkrete Tat aus einer Mitleidslaune heraus zurückge-
nommen hat, wirkt zufällig und kann angesichts der festen Wiederho-
lungsabsicht niemanden beruhigen. Andrerseits erfüllt das dramatische,
mit eigener Gefährdung verbundene Verhindern der Tatvollendung so
eindeutig den Wortlaut des § 24 StGB, daß unverhohlen vom Gesetz sich
lösen müßte, wer hier die von der Strafzwecktheorie geforderte Ent-
scheidung fällen wollte. Bottke, einer ihrer engagiertesten Anhänger, hat
sich durch Bildung eines ähnlichen Beispiels in diese Zwickmühle hin-
einbegeben39. Mit Spannung liest man, wie er aus ihr wohl herausfinden
will. Sein Weg ist der, daß er die Theorie verbal anwendet und in der
Sache verrät, indem er so tut, als sprächen gerade Strafzweckerwägungen
für die Strafbefreiung (trotz der im Deliktsvorbehalt sich offenbarenden
„beträchtlichen kriminellen Energie"!).
Höchst aufschlußreich führt Bottke uns hier also das prinzipielle
Dilemma der herrschenden Strafzwecktheorie vor. Daneben ist es ver-
gleichsweise unwichtig, daß der getarnte Verzicht auf die theoretische
Konsequenz in dem konkreten Beispiel, das Bottke gebildet hat, die
richtige Lösung nicht bewirkt, sondern verfehlt. Bottke stellt sich näm-
lich vor, daß der Terrorist zur Rettung seines überraschend eintretenden
Vaters die Bombe entschärft, die er andernfalls hätte explodieren lassen.
Bei solcher Motivation stellt sich der Meinungsstreit um die Frage des
Wiederholungsvorbehaltes gar nicht. Der Rücktritt ist jedenfalls deshalb
unwirksam, weil T die Vollendung nicht freiwillig verhindert. Wer
seinen Vater in Lebensgefahr sieht, trifft ja nach rechtlichem Maß nicht
einmal dann eine zurechenbar-freie Entscheidung, wenn er ihn durch
eine Straftat rettet (vgl. §35 StGB). Um wieviel weniger kann man sie

39 A . a . O . (Fn.6), S.395ff.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 731

dann als freiwillig bewerten, wenn er nur tut, was zu tun er sowieso
verpflichtet war40!

VIII. Der Rücktritt bei verwirklichter Handlungseinheit


Die Reihenfolge, daß nach einem freiwilligen Verzicht das erneute
Handeln unfreiwillig unterbleibt, kann sich umkehren: Putzhilfe P
öffnet schon die Schublade, um einen Hundertmarkschein zu stehlen, als
die Hausfrau H ins Zimmer kommt und dadurch unwissentlich die Tat
verhindert. P will sie nun irgendwann im Lauf des Vormittags begehen,
und sie greift später auch unbeobachtet nach dem begehrten Geldschein.
Ihr Gewissen und die Angst, verdächtigt zu werden, lassen sie aber dann
doch zurückweichen.

1. Die Relevanz realisierter Handlungseinheit


Auch diese Konstellation fällt in den Bereich des Themas, denn es
setzt nicht voraus, daß der unter dem Vorbehalt der Deliktserneuerung
stehende Rücktritt ein freiwilliger ist. Auf den ersten Blick scheint es
nun, als müsse man vom hier eingenommenen Standpunkt aus den Fall
so engherzig wie den umgekehrten großzügig entscheiden. Denn weil P
nach dem ersten Versuch unfreiwillig ins Vorbereitungsstadium zurück-
fällt, legt unser Kriterium es nahe, die Strafbarkeit dieses Versuchs
endgültig zu bejahen - wie ja auch umgekehrt dieser Versuch bei
freiwilligem Abbruch endgültig straffrei geworden wäre. Hruschka hält
es für eine unausweichliche Konsequenz der „konkreten", auch vorläu-
fige Abstandnahme als wirksamen Rücktritt akzeptierenden Betrach-
tung, daß ein freiwilliger Rücktritt niemals einen früher verübten,
unfreiwillig aufgegebenen Versuch tilgen könne41.
a) Diese Annahme (die Hruschka sachwidrig findet und als Indiz für die
Unrichtigkeit der konkreten Sichtweise nimmt) ist jedoch vorschnell.
Gibt P den ersten Versuch freiwillig auf, so muß man für diesen
Zeitpunkt entscheiden, ob sie sich trotz ihres Wiederholungsvorbehalts
Strafbefreiung verschafft. Denn die Wiederholung (die die Frage uner-
heblich machen würde) kann sich zerschlagen, und spätestens dann muß
man Farbe bekennen, welche Rechtswirkung der vorbehaltsbelastete,
aber freiwillige Verzicht gehabt hat. Bricht P dagegen den ersten Anlauf
unfreiwillig ab, dann steht fest, daß dieser Versuch jedenfalls bis auf
weiteres strafbar ist. Darüber hinaus zu sagen, daß er dies nun unabän-

40 Näher begründet wird die Anwendung rechtlicher Zurechenbarkeitskriterien zur

Bestimmung der Freiwilligkeit des Rücktritts in meinem noch unveröffentlichten Aufsatz


(vgl. Fn. 18).
41 J Z 1969, 499.
732 Rolf Dietrich Herzberg

derlich sei, besteht kein Anlaß, denn eine Rechtswirkung schreibt §24
StGB ja nur demfreiwilligen Rücktritt zu. Entschieden werden muß hier
also erst, wenn P einen Verzicht übt, der als freiwilliger Rücktritt zu
bewerten sein könnte. Er ist im Beispiel darin zu sehen, daß P beim
zweiten Mal die begonnene Wegnahme doch noch unterläßt. Dieser
Verzicht tilgt sicher die unmittelbar voraufgegangene Versuchshand-
lung, aber möglicherweise auch die erste und deren Strafbarkeit.
So ansetzend erkennt man leicht, daß P's Rückkehr in die Vorberei-
tungssituation nach dem unfreiwilligen Abbruch nicht die Bedeutung
haben kann, die sie nach freiwilligem Verzicht gehabt hätte. Der erste
und der spätere Versuchsakt liegen nun nicht auf den getrennten Ebenen
des Aktuellen und des Potentiellen (vgl. oben IV 2), sie sind vielmehr
beide real geworden und lassen sich dank dieser Gemeinsamkeit zu einer
wirklichen Handlungseinheit zusammenfügen42 - in den Grenzen natür-
lich, die die Lehre von den Konkurrenzen zieht. Die Berechtigung und
Reichweite der dort angebotenen Figuren stehen hier nicht zur Debatte.
Geht man für das Beispiel davon aus, daß die beiden Versuchsakte
zusammen einen einheitlichen Versuch bilden, dann bietet sich natürlich
die Lösung an, den zweiten freiwilligen Rücktritt vom Versuch des
Gelddiebstahls auf den Gesamtversuch zu erstrecken, weil dieser sich ja
auf nicht mehr richtete, als P zuletzt freiwillig hat liegenlassen: einen
Hundertmarkschein; Gesamtversuch und endlicher Verzicht decken sich
nach Gegenstand und Umfang43.
b) Diese rücktrittsfreundliche Lösung wird auch vom B G H und im
Schrifttum vertreten44; Gegenstimmen gibt es, soweit ersichtlich, nicht.
Das ist erstaunlich, denn wer weiter nachdenkt, stößt auf einen gewich-
tigen Zweifel. Man denke sich, P nähme, weniger kaltblütig, beim
Eintreten der Hausfrau vor Angst und Schreck von ihrem Vorhaben
endgültigen Abstand. Dann bliebe es bei dem einen Versuchsakt und bei
dem einen, zweifellos unfreiwilligen, Rücktritt. P wäre nach §§242, 22
StGB zu bestrafen. Soll sie der Strafe dadurch entgehen können, daß sie,
42 Während man sich oben mit der konditionalen Feststellung begnügen mußte, daß sie

gegebenenfalls eine solche bilden würden,


43 Nicht präjudizieren würde die Lösung die ganz andere Frage, ob der Verzicht auf

den letzten Teilakt eines Versuchskomplexes auch dann auf die voraufgegangenen Ein-
zelakte zurückwirkt, wenn der Täter mit diesen bereits den Wendepunkt des beendeten
Versuchs erreicht hatte (Verzicht auf den letztmöglichen Schuß nach mehreren Fehlschüs-
sen); eingehend dazu Herzberg, in: Festschrift für Blau, 1985, S. 97ff.
44 Vgl. vor allem BGHSt. 21, 319: Der Täter hatte den Versuch eines Einbruchsdieb-

stahls zunächst unfreiwillig abgebrochen, zugleich aber die Wiederholung beschlossen.


Den zweiten Versuch, den der B G H in Fortsetzungszusammenhang mit dem ersten sieht,
gab er dann freiwillig auf. Vgl. ferner Bottke (Fn.6), S. 400 ff; Hruschka, J Z 1969, 495 ff;
Maurach/Gössel/Zipf, AT, Teilb. 2, 6. Aufl. (1984), §41 V c ; Vogler, in: L K (Fn.25), § 2 4
Rdn. 81.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 733

statt sofort endgültig aufzugeben, zunächst noch zur Wiederholung


entschlossen bleibt und abermals einen Versuch begeht?
Das Argument, der kaltblütig planende und nach Stockungen unge-
rührt weiterhandelnde Täter dürfe im Vergleich mit dem zaghaften, der
nach einem Fehlschlag die Flinte ins Korn wirft, keine Rücktrittsvorteile
gewinnen, begegnet uns auch in anderen Zusammenhängen. Es ist aber
nirgendwo stichhaltig, weil die jeweils nebeneinander gestellten Fälle in
Wahrheit nicht vergleichbar sind45. Nur im Ausgangsfall vollzieht P
einen vollwertigen Rücktritt. Sie gibt den Diebstahl auf in einer Situation
höchster Versuchung und leichtester Ausführbarkeit. Damit beweist sie
ihre Fähigkeit zur Umkehr auch dort, wo sie praktisch schon am Ziel ist.
Im Vergleichsfall bleibt P diesen Beweis schuldig. Sie kehrt nicht um,
sondern zeigt nur, daß sie in einer Lage der Verhinderung ihren Delikts-
plan nicht auf die Zukunft umstellt. Das ist gewiß auch schon etwas, vor
allem bei guten Wiederholungschancen, und kann für die Strafzumes-
sung ins Gewicht fallen. Als strafbefreiender Rücktritt genügt es aber
nicht, weil P die weitere Diebstahlsausführung eben nicht freiwillig,
sondern unter dem Zwang plötzlich veränderter Umstände aufgegeben
hat.

2. Folgerungen
a) Rücktritt nur bei neuer Versuchssituation
Aus den genannten Grundsätzen kann man Weiteres ableiten.
Zunächst ergibt sich die harte, aber wohl unverzichtbare Rücktrittsein-
schränkung, daß nach unfreiwilligem Abbruch auch der zur Wiederho-
lung gewillte Täter sich die Strafbefreiung nur verschaffen kann, indem
er in einer (handlungseinheitlichen) neuen Versuchssituation freiwillig
zurücktritt. Daß P ihren zunächst gefaßten Entschluß, den Diebstahl
später doch noch auszuführen, irgendwann schlicht fallen läßt, genügt
nicht. Sie muß ihn schon aufgeben, nachdem sie zuvor neu angesetzt hat.
Das scheint die kriminalpolitische Logik auf den Kopf zu stellen, ist aber
in Wahrheit gerade aus praktischen Gründen schlechterdings zwingend.
Denn „da könnte ja jeder kommen" und behaupten, daß er nach seinem
strafbaren Versuch und unfreiwilligen Rückzug anfangs zu einem neuen
Anlauf fest entschlossen gewesen sei, sich jedoch später eines Besseren
besonnen habe. Der Wille, nach einem Fiasko es neu zu versuchen, ist
immer schwankend und anfällig. Wahrheit und Lüge einer solchen
Verteidigung sind nicht aufklärbar. Wäre etwa der Angeklagte im Fall
BGHSt. 21, 319 beim gescheiterten Einbruchsversuch beobachtet und in
der Wirtschaft, wo er einen Mittäter suchte, gestellt worden, so wäre die
45
Zu anderen Streitpunkten und der dortigen Verwendung des Arguments Herzberg,
in: Festschrift für Blau (Fn.43), S. 113, 116 f.
734 Rolf Dietrich Herzberg

Behauptung: „Zuerst wollt' ich noch, dann hab ich's drangegeben",


durchaus glaubwürdig oder jedenfalls unwiderleglich. Aber auch abgese-
hen von der Unmöglichkeit der Aufklärung kann solches Vorbringen,
selbst wenn es die Wahrheit ist, nicht beachtlich sein. Das Aufgeben des
Wiederholungsentschlusses im Vorbereitungsstadium ist nun einmal
kein „Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat", weil die Versuchstat,
die wahlweise weiter ausgeführt oder aufgegeben werden könnte, z. Z.
gar nicht läuft.

b) Rücktritt durch Verzicht auf aussichtsreiche Umstellung?


Weiterhin ist zu betonen, daß ein durch ungünstige oder sogar die
Vollendung momentan unmöglich machende Umstände veranlaßtes
Aufgeben des Deliktsentschlusses nicht deshalb zum strafbefreienden
Rücktritt wird, weil der Versuchstäter zugleich wissentlich auf aus-
sichtsreiches Abwarten oder Suchen nach anderen Angriffswegen ver-
zichtet. Der Einbrecher, der die Hausbewohner im Schlaf anzutreffen
hoffte und nun bemerkt, daß der Hausherr noch dem ARD-Nachtkon-
zert lauscht, hält sich zwar den Rücktritt offen, wenn er in seinem
Versteck wartet, bis der Musikliebhaber ins Bett gegangen ist. Trotz des
unfreiwilligen Aufschubs würde er also seinen Versuch tilgen, wenn er,
um das rührende Beispiel von Bottke aufzugreifen, „auf dem Tisch eine
Todesanzeige liegen sieht" und daraufhin weggeht, „weil er nicht noch
mehr Kummer bereiten will"46. Dagegen bleibt der Versuch strafbar,
wenn das Hemmnis den Täter sofort vertreibt, weil ihm das Abwarten
zu unsicher oder zu lästig ist. Das gleiche müßte gelten, wenn er die Lust
verliert, weil von seinen Schlüsseln keiner ins Schloß der Kellertür paßt,
mag er sich auch der Möglichkeit bewußt sein, auf anderem Weg
vielleicht doch ins Haus zu können. Anders wiederum, wenn er wäh-
rend des Scheiterns an der Kellertür ein offenes Fenster sieht, das
Versagen der Schlüssel aber als Zeichen des Himmels nimmt und auf den
leicht möglichen Einstieg verzichtet.

c) Entsprechung von Gesamtversuch und Rücktritt


Abschließend sei noch auf einen Punkt hingewiesen, der in den
ohnehin spärlichen Beiträgen zum Rücktritt vom handlungseinheitlichen
oder fortgesetzten Versuch kaum herausgestellt wird. Wie schon ange-
deutet, kann es zur Straftilgung nicht genügen, daß mehrere Einzelakte
einen einheitlichen unbeendeten Versuch bilden und der Täter nach dem
Ansetzen zum letzten Teilakt dessen Durchführung freiwillig aufgibt.
Vielmehr muß hinzukommen, daß dieser Verzicht umfänglich dem
entspricht, was der Täter insgesamt zu erreichen versucht hat. Ein

44 A . a . O . (Fn.6), S.403.
Rücktritt mit Deliktsvorbehalt 735

Beispiel: A tastet im Umkleideraum einer Turnhalle Jacken und Mäntel


nach Portemonnaies ab. Als er die Hoffnung fast schon verloren hat,
wird er beim allerletzten Mantel doch noch fündig. Nach kurzem
Besinnen steckt er das Portemonnaie aber wieder zurück, weil er die
Verdächtigung seiner Person und etwaige Strafe doch lieber vermeiden
will. Hier bilden viele Einzelakte, die (bis auf den letzten) je für sich
genommen fehlgeschlagene unbeendete Versuche darstellen, eine Hand-
lungseinheit. Bei der Frage, ob A sich durch den freiwilligen Verzicht
insgesamt straffrei gemacht hat, muß man unterscheiden. Ging der Plan
dahin, ein einziges Portemonnaie zu stehlen und mit dem erstbesten zu
verschwinden, so wirkt die Tataufgabe auf alle Versuchsakte zurück;
denn A hat auf das, was er an deliktischem Schaden anrichten wollte,
vollen Umfangs verzichtet. Hingegen bleibt A wegen der gescheiterten
Versuche strafbar, wenn er so viel wie möglich stehlen wollte. Denn ein
großes, auf viele Objekte gerichtetes und in das Versuchsstadium voran-
getriebenes Deliktsvorhaben kann man nicht dadurch annullieren, daß
man auf die allein greifbare Beute eines einzigen Objektes verzichtet.
Der Täter erbringt so nicht den Beweis, daß er auch im Falle eines von
Anfang an verheißungsvoll-ergiebigen Tatverlaufs die weitere Ausfüh-
rung freiwillig aufgegeben hätte.

IX. Ergebnisse
Die hauptsächlichen Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt um-
reißen:
1. Der freiwillige Rücktritt wirkt auch bei fortdauernder Deliktsent-
schlossenheit strafbefreiend, wenn er die Versuchssituation aufhebt. Zu
beurteilen ist das allein nach dem neuen, veränderten Vorhaben des
Täters. Wenn und solange er die nunmehr konkret gewollte Deliktsbe-
gehung noch nicht i. S. des „unmittelbaren Ansetzens" begonnen hat,
sondern sie nur plant oder vorbereitet, ist er straffrei. Das gilt auch,
wenn die geplante Tat im Fall ihrer Ausführung mit dem abgebrochenen
Versuch eine Handlungseinheit bilden würde.
2. Fehlschlag des Versuchs oder unfreiwilliger Rücktritt lassen die Straf-
barkeit des Versuchstäters unberührt. Ihre Aufhebung durch einen
späteren freiwilligen Rücktritt ist aber nicht schlechthin ausgeschlossen.
War der erste Versuch noch unbeendet, bildet er mit dem zweiten eine
Handlungseinheit und entspricht der nun freiwillig geleistete Verzicht
im Umfang dem ursprünglichen Erstrebten, dann wirkt der Rücktritt
hinsichtlich der gesamten Versuchstat strafbefreiend.
On Punishing and Individual Rights
JAIME MALAMUD GOTI"'

1. For those of us who knew Professor Hilde Kaufmann, her unquest-


ionable scholarly values were only overshadowed by a humanitarian and
generous sense of friendship. The following lines pursue to shed some
light on questions that I have dwelled on for some time; they are but a
pretext to contribute to the memory of Professor Kaufmann.

2. There are several ways of characterizing a punitive measure. How-


ever, a definition of a sanction that takes into account its goals and the
ways these goals are pursued, would not draw much criticism from
scholars.
It may be asserted from this point of view that punishment - in the
broadest of all senses - consists in deterring potential agents of undertak-
ing a certain conduct and that deterrence is based on depriving the
"responsible" person of a "good" 1 .
In my view the term "good" is ambiguous and, in consequence, both
theorists and judges are being usually lead into a confusion. This
confusion surfaces when administrative sanctions are applied, especially
if the agent and the person "responsible" are frequently not identical.
It is well known that even among those legal systems that are most
concerned with individual rights it is a common practice to impose
punitive measures on objective basis. Objectivity implies here not only
the lack of intent or negligence but, further, that the punished party has
not even - objectively - infringed a legal norm. Everyday examples of
these sanctions are found among car owners fined for illegal parking or
proprietors of warehouses where dangerous or contaminating substances
are found.
Criminal law theorists are quite familiar with positions that rely either
on the quality of the illegal action or the importance of the sanction
exacted upon somebody in order to distinguish between administrative

* I am thankful to Professor Carlos Nino for discussing this paper with praiseworthy
patience; I also profited from Carlos Rosenkrantz who has usefully contributed to this
work.
1 This criterion has been chosen by the Argentinian Supreme Court to define a punitive
sanction (see "Fallos", vol.184 p. 162; vol.185, p. 188; vol.200, p . 4 9 5 ; vol.202, p . 2 9 3 ;
vol.205, p. 173, etc.).
738 Jaime Malamud Goti

faults and criminal offenses. This has not much to do with the subject
with which I deal here. What I intend to demonstrate is that although the
agent must have done something in particular - and with a certain state
of mind - to justify the deprivation of certain "goods", other "goods" do
not require that such circumstances are present. Some sanctions might
consist in restraints that do not demand the same justification. The
distinction between both types of sanctions depends on two topics: first,
if there is an - irrestricted - right to property or to freedom. Second, if
by rights we refer to entities that have always the same weight in a
political scheme.
1 propose to clarify three questions that seem decisive to me: (a) If
there is a right to freedom; (b) If it is possible to draw a clear distinction
between moral and legal rights; (c) If some constitutional clauses that
protect property and basic liberties as the ones concerning cults, expres-
sion and association, have some special status in a legal system.
3. Conservatives tend to think, in the first place, that property rights
possess the quality of providing a platform on which individual freedom
is possible. They also claim that there is a right to freedom, in general.
As a corolary, property rights should be almost unlimited; any act that
imposes restraints upon said rights requires of a strong justifying
reason2. Dworkin has given excellent grounds for maintaining that there
is no such an unrestricted right to freedom3. His argument is, in essence,
the following: citizens, who prize their rights highly will surely chal-
lenge any attempt to suppress their freedom to express themselves or to
worship a god. None of these citizens would be ready to impugn rules
imposed by city authorities to restrict automobile access to some areas
confined only to pedestrians, or regulations placing time limits on
banking activity.
The reason to repel the first class of prohibitions and not the second
does not depend - as many have thought - on the amount of liberty
involved. It is visible that people must refrain more often from things
they want to do because of traffic regulations than for legal restraints on
the things they wish to say in public, or publish their political points of
view. If we were to determine what kind of rules impose more stringent
limits upon our actions it will be obvious that liberty is far more
restrained by rules that hardly anyone would think of challenging.
To begin with, very few people will find in their interest to do
something that is prohibited by the first class of norms as those related to
publishing rebelious ideas or practice a religion considered by the state as

2 The best known thesis in this sense is that of Nozick's (Anarchy, State & Utopia,
Oxford, 1974).
3 Taking Rights Seriously, Harvard University Press, 1977.
On Punishing and Individual Rights 739

opposing a general feeling. Those who have an interest in either spread-


ing out their antigovernmental views or worship their god, will find that
the law very seldom restraints these practices in a minimally civilized
country. The opposite happens to drivers who find that they are
permanently obliged to perform certain conducts and refrain from other
practices by traffic regulations that pervade daily life.
Dworkin's explanation of why certain legal prohibitions seem to us
tolerable and others do not, is the following: he claims that the distinc-
tive characteristic lies in a certain conception of individual autonomy.
For a political morality concerned with individual rights, persons
deserve respect and consideration on the side of public officials. It is,
then, essential that the government abstains from interfering with those
liberties that give sense to each one's life as a whole: To speak in public,
worship a god, elect a job. Prohibiting any such activity would mean a
denial of the aforementioned commitment to autonomy.
In other words, a political or ethical conception that places individual
rights as having a fundamental place in a political arrangement should
prescribe that all individuals be worthy of respect and consideration.
This does not imply that officials that create or enforce legal rules should
give up thinking that there are correct and incorrect plans of life, the fact
is that the impartial attitude on their part is the correct attitude4.
For the reasons shown it can be asserted that there is no such right to
freedom as Mill claimed5, but rights concerning certain liberties con-
nected with autonomy. The latter relate narrowly to the recognition by
the government of each individual's plans of life.
4. Individual rights are characterized in many ways that depend on the
context in which they are mentioned. It is here worth-while distinguish-
ing between legal rights and moral rights (or rights derived from
reason)6. While the former depend o each country's normative system,
the latter are originated in relationships among individuals and are
indépendant of positive law.
The existence of moral rights remains intact even if the country's laws
negate them; it can be asserted, for instance, that one should not be
treated rudely although no positive rule forbids such treatment. In fact,
it is legitimate to impugn positive rules that restrain moral rights such as
the right to associate or to practice a cult.

4 Scheffler, Natural Rights, Equality and the Minimal State, in Reading Nozick, Essays

on Anarchy, State & Utopia, edited by Jeffrey Paul, Basil Blackwell, Oxford, 1981, p. 148.
5 Mill, On Liberty, in Utilitarianism, etc., edited by Mary Warnock, Massachussets,

1974, p. 126.
6 For an example see Scanlon, Nozick on Rights, Liberty and Property, in Philosophy

and Public Affairs 6, p. 3.


740 Jaime Malamud Goti

For those who reject the existence of objective moral rules, valid to
judge any positive system, the distinction I made is fictitious. Ethical
relativists for example, will claim that there is no more to morality than
the generalized beliefs of members of a community and that no system of
rules escapes this narrow relationship with a particular society 7 .1 cannot
here tackle this complicated subject; it may be suggested, however, that
we are often critical towards the law imposed by Khomeini for consider-
ing it abhorrent. This type of attitude is a consequence of an assumption
that there are normative standards by which any conduct or social
arrangement could be validly assessed, including positive legal systems.
Moral rights are, thus, intimately related to the subject of a right to
freedom dealt with in the previous para-graph. There is a moral right to
certain liberties that constitute a cluster of interests whose satisfaction
provide sense to our existence according to each one's conception of the
meaning of life.
5. It is worthy of consideration, within the constraints of this brief
essay, the status of constitutional individual rights and liberties. I shall
start by pointing out that it does not seem reasonable to suppose that
members of any religious congregation are entitled to invoke their
freedom of cult against a legal prohibition of performing loud musical
sessions in residential quarters after midnight. The validity of this
retraint could hold against such claims, not only because of the possibil-
ity that third parties' rights could be affected if the music went on until
late, but also because it makes sense to assert that such regulation does
not stand in the way of anybody's willingness to worship a god. One can
easily distinguish the time limiting rule from others that prescribe that
certain cults be practiced in a way such that would alter the very sense
that worshipers attach to that practice.
There is a critical difference, in my view, between being entitled to do
something by a rule that places limits upon a prohibitive norm (such as
assaulting someone during a rugby match) and challenging a legal rule
because it places restraints upon constitutional rights as would be the
case of somebody being discriminated because of his race or religion.
The first case shows the way in which different rules place limits to
one another. When worshipers of a cult invoke a right the Constitution
grants them, they are in fact challenging certain norms for reasons based
on principle. What provides grounds for such claim is that due respect
and consideration are deemed violated by the statute.

7 Against this position see Bustos Ramires, in Doctrins Penal, Buenos Aires, 1984,
p. 405, in "Bases Críticas de un N u e v o Derecho Penal" Respuesta a algunos "equívocos" of
Jaime Malamud Goti; see also Buchanan, The Marxian Critique of Justice an Rights,
Canadian Journal of Philosophy, Supplementary Volume VII, 1981, p. 269.
On Punishing and Individual Rights 741

The point is that such constitutional clauses as those that protect


religious and political freedom should be understood as the acknow-
ledgement of moral rights8.
When a rugby player invokes specific regulations to legitimize the
violence he applies upon another person, he appeals to the rules of the
same positive system that prohibits assaults. When a Jehova witness
impugns draft regulations on the basis that he has a right to remain loyal
to his creed as the Constitution entitles him to, the case is different. The
latter example aims to show that constitutional clauses like the ones
concerning freedom of cult should be taken to be - an construed as -
primarily moral rights.
6. Not very long ago American president Ford opposed gun control
legislation favored by less conservative politicians'. The main reason to
take such stand, as the president declared, derived from the belief that if
controlling meassures were enforced, the government would be "pun-
ishing" innocent citizens as a consequence of offenses committed by
others.
The arguments developed above aim to show a confusion that leads
conservatives to equate criminal punishment with regulation. This con-
fusion consists in failing to distinguish between "goods" that are moral
rights and "goods" that are not. As a consequence, any deprivation of a
"good" performed for a legal violation is considered a criminal sanction.
The kind of justification we require for stripping someone of a "good"
depends on whether such "good" involves a moral right. If it does, the
appeal to a social benefit does not suffice as a reason; if it does not, then
reasons stemming from social utility will serve the purpose. Although it
is clear that punishment should be useful in deterring certain conducts,
such usefulness proves unsatisfactory to give due account of the alloca-
tion of the sanction. In fact, there could be good reasons for punishing
an innocent party for deterring a certain behaviour under given cir-
cumstances. It becomes evident, however, that the question of adjudica-
tion requires justifying reasons other than the sole social usefulness of
the legal measure10.
Moral rights place stringent limits upon grounds for justification.
While it is accepted that every rational political decision should be based
on its social utility, the existence of moral rights renders that reason

' See, Is there a Right to Disobey the Law on Moral Grounds?, Jaime Malamud Goti,
in Rechtstheorie (in press).
' Dworkin, Liberalism, in Public and Private Morality, edited by Stuart Hampshire,
1980, p. 113.
10 Hart, Punishment and Responsibility, Oxford 1968; Nino, A Consensual Theory of

Punishment, in Philosophy & Public Affairs, Fall 1983, Volume 12, Number 4.
742 Jaime Malamud Goti

insufficient. Social utility will not be enough to override a conflicting


interest protected by a moral right11.
A political doctrine concerned with individual rights must consider
that the existence of such rights imply "entrenching" some individual
interests from policies based on collective benefits.
The preceeding assertion can only make sense if it is restricted to
moral rights. If it were referred to legal rights a vicious circularity seems
inevitable: we would be testing the justifiability of political arrangements
and social institutions choosing to the wrong path. The procedure will
consist in appealing to rules that flow from that very same positive
system insofar as rules bestow liberties and immunities upon individuals.
The fact that legal rights spring from constitutional clauses does not
alter this scheme because we will not be able to escape an obvious
alternative. Either such clauses acknowledge moral rights or they consti-
tute only highly ranked legal rights. In the former case their being moral
rights will be the decisive feature; in the latter case we would be seeking
for justification grounds to legitimize the positive system from within
the same system.
Reasons grounded solely on collective utility cannot suffice to impose
punitive sanctions that affect (moral) rights; a stronger justification
reason is needed in these cases. This reason consists in that the right
suppressed by the prescribed sanction be relinguished by its holder (we
conceive this as culpability or assumption of the sanction, as it has been
recently expounded12).
The aforementioned requirement does not apply when sanctions
involve nothing more than the deprivation of a mere interest. The
difference between a simple interest and an interest shielded by a right
could be explained this way: While one may conceive the first one as
based on improving certain standards of life - such as comfort or passing
wants - rights are connected to important parts of plans of life13. The
first kind may be overriden by more important interests, even if they
originate in different individuals. We do not attach these interests so
narrowly to a person that we would find it unfair to cancel them for the
sake of other persons. Reasons of general welfare or collective interests
will tip the balance against the preservation of such an interest. A ban
imposed on selling beef on mondays on economic grounds seems
plausible although it might frustrate individual's passing wants to purch-
ase that commodity. There does not seem to be a sensible reason to

11 Nino, Los límites de la responsabilidad penal, Astrea, Buenos Aires, 1980,


p. 218 y ss.
1! Nino, see footnotes 10 and 11 above.

13 Feinberg, Harm to Others, Oxford University Press, 1984.


On Punishing and Individual Rights 743

morally impugn the governmental decision to shift its financial aid from
one sector to another if it is done on welfare basis.
It may be argued against the expounded stand that sometimes we
would be dealing with vested rights, and that punishment should require
more to affect these rights. This could be true even if vested legal rights
that sanctions restrain are not moral ones. If the bearer of a vested right
has been duly warned that he might jeopardize it if a certain result is not
averted, there seem to be enough reasons to cancel this right should the
transgression be commited 14 .
7. If the "good" upon which the sanction is applied is a legal property
right its justifiability will vary with our political stand. If a conservative
point of view is endorsed, then any restraint upon property is also one
that affects (moral) rights, as Nozick has claimed15. O n such basis,
Nozick has gone as far as to maintain that the government should confine
its activity to protect the life and limb of individuals and enable parties to
a contract to enforce it. Any other function vested upon the state would
transgress the Kantian principle of inviolability of persons, that pros-
cribes to utilize an individual in the furtherance of anybody else's
interest.
Although there is much more to Nozick's Anarchy than I intend to
deal with here, it is interesting to notice how some important distinc-
tions are overlooked. The following hypotheses might show the point:
(a) There is a critical difference between stripping somebody of those
things that constitute a part of his or her goals in life - or of means
for the furtherance of such goals - or things contingent to such
aims - or their promotion. In fact the law often provides control
over resources that are neither enjoyed nor utilized by their
owner.
(b) It is essential to distinguish between that ownership that is
imaginable in a state of nature and the ownership that consists in
entitlements that spring from formal legal extension of the former
kind (once again, it is necessary to see the difference between
moral and legal rights). It is necessary to delineate the boundry
between the right we have over commodities that constitute a
relevant part of our lives and other things on which the state might
bestow a right on the grounds of an institution such as inheri-
tance. In this last case one could only conceive an additional
welfare to the beneficiary that would not originate claims against
the government if it chose to disregard such arrangement.
14
It could be also argued that rights are vested under several conditions. The concres-
sion. Ex post fact rules should always be ruled out.
15
See Footnote 2, above.
744 Jaime Malamud Goti

For a political conception based on individual rights there is no such


unrestricted property right as there is not either an unlimited right to
freedom". It must be therefore pointed out that in some political
schemes more control over things is granted than moral rights would
demand. As only a view based on the general interest can give an account
for the extension of legal institutions, it follows that overriding collective
interests may lead to the cancellation of such legal rights without the
consent of the party involved. It is therefore conceivable that regulatory
sanctions restrain people's property (or even liberty) without basing
liability on consent. The utility of such measures is a necessary condition
of their rationality which leads to the requisite of the evitability of the
corresponding conduct17.
The state could impose fines on corporations for the purpose of
cutting down on the earnings of the shareholders. This could prove to be
a good means to encourage either a change of the firm's policy, or
choosing other directors when the opportunity arrives. On the same
grounds car owners are usually fined for traffic offenses commited by
other users to whom the automobile was entrusted. This could promote
a better judgement from the owner the next time someone wants to
borrow the car.
It is claimed that both shareholders and car owners were not even
negligent. However, if sanctions are effective to some extent, the reasons
based on collective interest will suffice to justify them.
Administrative or regulatory sanctions may be imposed on the
grounds shown only where the interests involved are not those one
would relate to each one's plans of life or to the amount of respect and
concern persons must be treated with. These considerations will prevent
the state from appealing to collective benefits for imposing meaningful
restraints upon individual freedom or property. A stigmatizing sanction
should also be ruled out on the same principles.
8. I think the questions posed at the beginning of this article have been
answered. The conclusion derives from the distinction between rights
and liberties that spring from positive law (based on collective welfare)
and those others that originate in the autonomy of persons.
When legal rights consist solely in the protection of general welfare
interests, reasons based on the same social welfare will suffice to cancel
such rights. A conservative political conception that assigns property the

" See above, note 6.


17
Malamud-Goti, Review of the United Nations Latin American Institute for the
Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, Ilanud, 1985, Numbers 15 and 16,
p. 98.
O n Punishing and Individual Rights 745

rank of an unrestricted moral right must reject this solution. Such


doctrine will find it hazardous to maintain that a meaningful life is the
basis of (moral) rights. How could it consistently be claimed - as Nozick
does - that rights are means to guarantee a significant life and that, as a
consequence of the sanctity of private property, people have only a right
to some distributable commodities among all those that are necessary to
lead a meaningful life? My answer to this question is the following: only
a system of rights that protect not only liberty but also the welfare of
citizens, can the government secure a reasonably well off life to a
reasonable number of the people.
Bemerkungen zum strafrechtlichen Staatsschutz
aus der Sicht der Identitätstheorie
JOACHIM HELLMER

I.

Wenn man die Entwicklung des Strafrechts in den letzten 80 Jahren


sieht, kann man nur staunen, in welcher Weise sich hier der Staat als
eigenes Schutzobjekt breitgemacht und gegen alle möglichen und
unmöglichen Risiken abgesichert, ja in welcher Weise er das ursprüng-
lich auf unmoralische oder schwer sozialschädliche Verhaltensweisen
beschränkte Strafrecht mißbraucht hat, seine - meist recht kurzlebigen -
politischen Ziele zum Gegenstand von Gerechtigkeits- und Sicherheits-
erfordernissen zu machen, und zwar über die Jahrzehnte hinweg in
erstaunlicher Kontinuität und wachsender Intoleranz gegen alle seine
Absichten und Aktivitäten nur im entferntesten störenden Verhaltens-
weisen 1 . Auch der demokratische Rechtsstaat macht hier keine Aus-
nahme. Die „pluralistische" Gesellschaft hat diese Entwicklung nicht
etwa unterbrochen. Dafür legt die Nachkriegsgeschichte ein beredtes
Zeugnis ab. Nach einem kurzen Zwischenspiel der Bescheidung mit
einem einzigen Paragraphen (Art. 143 a. F. G G ) ist der Staatsschutz seit
dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz (StAG) von 1951 immer weiter
ausgebaut worden, und zwar weit über das hinaus, was es je vorher in
Deutschland gegeben hat. Diese Entwicklung ist unter dem heutigen
Aspekt besonders verwunderlich, weil das sogenannte klassische Straf-
recht mehr und mehr entkriminalisiert wurde. Aus zwei Tatbeständen,
mit denen sich das Kaiserreich geschützt hat - Hochverrat und Landes-

1 Unter Staatsschutz wird hier in erster Linie der Schutz von Bestand und Sicherheit des

Staates verstanden, wie es auch in der Uberschrift zum ersten Abschnitt des Besonderen
Teils des S t G B zum Ausdruck kommt. Eine scharfe Trennung zum Schutz der Verfassung
hin ist nicht möglich, weil der Staat sich meist auch dort schützt, wo er die Verfassung zu
schützen vorgibt (zum Beispiel schon in § 80 StGB), wie er denn überhaupt den Begriff
„Verfassungsschutz" gern dort anwendet, wo es um reinen Staatsschutz geht, zum Beispiel
bei den „Verfassungsschutzämtern", die nicht etwa die Aufgabe haben, über die Einhal-
tung der Grundrechte durch den Staat zu wachen, sondern im Gegenteil reines Instrument
zur Überwachung der Bürger sind.
748 Joachim Hellmer

verrat2 - sind inzwischen über 60 Tatbestände geworden, die fast ein


Drittel des besonderen Teils des Strafgesetzbuches ausmachen und im
Umfang des Verbotenen das ursprüngliche, klassische Strafrecht, das
den einzelnen Bürger schützen soll, überholt haben. Dazu trägt nicht
nur die Anzahl der Bestimmungen bei, sondern auch ihre mehr oder
weniger schwammige und leicht ausdehnbare Fassung, die für den
Bürger nicht mehr einwandfrei erkennen läßt, wann er die Grenze des
Erlaubten überschreitet.
Noch bedenklicher als diese Entwicklung scheint mir die Tatsache zu
sein, daß die Strafrechtswissenschaft gegen diese gefährlichen Tendenzen
nicht Sturm gelaufen ist, sondern daß man sie einfach hingenommen und
sich mehr oder weniger darauf beschränkt hat, die Bestimmungen zu
kommentieren, als handele es sich bei der ständigen Erweiterung des
Gesetzes um einen ganz normalen Vorgang, dessen rechtsethische Beur-
teilung außerhalb der Kompetenz der Strafrechtswissenschaft liegt3. Man
hat die bedenkliche Entwicklung sogar damit zu rechtfertigen versucht,
daß eine Demokratie verletzlicher sei als ein autoritärer Staat und daß sie
daher auf mehr Schutz angewiesen sei als dieser4. Dies allerdings ist
wenig logisch. Die Diktatur rechtfertigt erhöhten strafrechtlichen Staats-
schutz mit der notwendigen Wachsamkeit gegenüber Andersdenkenden,
und die Demokratie, die sich rühmt, auch Andersdenkenden Raum zu
geben, braucht erhöhten Staatsschutz, um durch sie nicht gefährdet zu
werden? Das gibt keinen Sinn.
Eines steht doch fest: je umfangreicher der strafrechtliche Staats-
schutz, um so geringer die Bewegungsfähigkeit des Bürgers. An dieser
Tatsache führt keine Überlegung vorbei. Wenn der Staat die Freiheit des
Bürgers sich selbst (dem Staat) gegenüber nicht glaubte, in diesem Maße
einschränken zu müssen, wären doch alle Verbote, durch die er sich
schützen will, überflüssig. Also dokumentiert er mit diesem Ubermaß
an Verboten seine Furcht vor (berechtigter oder unberechtigter) Kritik
und sein Mißtrauen gegenüber dem Bürger. Man kann sogar einen

2 Zur historischen Entwicklung in den letzten 100 Jahren Eduard Kern, Der Strafschutz

des Staates und seine Problematik, Tübingen 1963; Zur Entwicklung insbesondere seit
1945 u. a. F.-C. Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970; ders.,
Das Strafrecht zum Schutz von Verfassung und Staat, in „Verfassungsschutz und Rechts-
staat", hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Köln usw. 1981, S. 219 ff.
5 Kritisch allerdings z. B. Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art,

1967 und Grünwald, Meinungsfreiheit und Strafrecht, kritische Justiz 1979, S. 291 ff.
Grundsätzliche Kritik wird vor allem von politischer Seite geübt, nicht von strafrechtli-
cher, s. z. B. S. Cobler, Die Gefahr geht von den Menschen aus (der vorverlegte Staats-
schutz), Berlin (Rotbuch-Verlag) 1976.
4 Th. Basten, Von der Reform des politischen Strafrechts bis zu den Antiterrorgesetzen,

Köln 1983, S. 33 ff.


Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 749

Circulus vitiosus feststellen: je größer das Mißtrauen, um so mehr


Gesetze; und je mehr Gesetze, um so mehr wächst das Mißtrauen weiter
an. Das gilt für jede Form von Staat, für die Diktatur ebenso wie für die
Demokratie; und es gilt auch, daß er, je höher er sich selbst einschätzt,
um so eher geneigt ist, jede gegen sich gerichtete Tätigkeit als kriminelles
Unrecht zu betrachten und mit um so empfindlicheren Mitteln zu
reagieren. Insofern ist der Umfang des strafrechtlichen Staatsschutzes
wahrscheinlich auch ein Indiz für das in einem Staat herrschende Klima
der Meinungsfreiheit5.
Daß unsere Politiker den heutigen Umfang unseres strafrechtlichen
Staatsschutzes für unbedenklich halten, ist nicht verwunderlich; denn sie
haben diesen Staatsschutz ja so geschaffen, wie er ist, die Sozialliberalen
ebenso wie die Christdemokraten. Schließlich hält jeder Politiker sein
Werk für das beste und ist daran interessiert, die Macht in Händen zu
behalten, weil er unterstellt, daß sie bei ihm am besten aufgehoben ist.
Daß aber die Strafrechtswissenschaftler nicht warnend darauf hingewie-
sen haben, daß das Strafrecht keine Metze ist, die der Politik zu dienen
hat, erscheint mir unverständlich, vor allem in Anbetracht der Über-
macht des Staates, an der wir in den letzten hundert Jahren gelitten
haben und die für die krasse Unterdrückung der Bürgerrechte in unse-
rem Land und schließlich die kriegerischen Auseinandersetzungen, in
die wir mehrmals verwickelt waren, gesorgt hat. Hilde Kaufmann, der
wir mit dieser Schrift gedenken, hat einmal - wie ich meine, nicht zu
Unrecht - gerügt, daß manche Kriminologen ihre Wissenschaft zum
Zwecke der Gesellschaftskritik betreiben6. Genauso muß man aber auch
feststellen, daß politische Parteien, die den Staat tragen, das Strafrecht
benutzen, um ihre Macht gegenüber dem Bürger (auf undemokratische
Weise) zu festigen und abzusichern. Politisierung des Strafrechts - nicht
diejenigen tun das, die sich gegen eine solche Verfestigung der Staats-
macht im Strafrecht wenden, sondern die, die das Strafrecht mißbrau-
chen, ihre politische Auffassung vom Staat durchzusetzen.

5 Ein Vergleich des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik mit dem in anderen

westlichen Staaten ist kaum möglich, weil der historische Hintergrund, vor dem jede
gesetzliche Regelung zu sehen ist, von Land zu Land verschieden ist. Diese Abhandlung
hätte ich nicht geschrieben, wenn sich nicht gerade unser Staat mehrmals zu einer den
Bürger erdrückenden und alles Leben bedrohenden Macht aufgeschwungen hätte. Im
übrigen ist aber festzustellen, daß sich der Staat auch in westlichen Demokratien mit einem
viel zu starken strafrechtlichen Schutz versehen hat, z.B. in Italien und in Frankreich
(anders in England), vgl. Jescheck/Mattes (Hrsg.), Die strafrechtlichen Staatsschutzbestim-
mungen des Auslandes, 2. Aufl., Bonn 1968, S. 105 ff, 161 ff, 405 ff. In diesen Ländern
stellen aber die althergebrachten Bürgertraditionen ein genügendes Gegengewicht dar, und
es ist in ihnen bisher zu keinen solchen Exzessen des Staates gegen den Einzelnen
gekommen wie bei uns.
6 Hilde Kaufmann, JZ 1972, S. 78 ff.
750 Joachim Hellmer

II.
In politischen Kreisen herrscht offenbar weitgehend Unkenntnis dar-
über, was eigentlich Strafrecht ist, insbesondere was man mit ihm
„anfangen" kann und was nicht. Hierzu einige Bemerkungen, wofür wir
zur Verdeutlichung die Identitätstheorie heranziehen, die wir in langjäh-
riger Forschungsarbeit entwickelt haben. Die Identitätstheorie besagt:
Jeder Mensch ist hinsichtlich seiner Rechtsposition in der Gesellschaft
mit jedem anderen Menschen identisch 7 . Die Verletzung eines anderen
ist also eine Identitätsverletzung, verursacht durch einen Mangel an
Identitätsbewußtsein, der im allgemeinen mit abnehmendem zwischen-
menschlichen Vertrautheitsgrad wächst, weshalb in kleinen Gemein-
schaften die Kriminalität im Prinzip gering, in großen und größer
werdenden Gesellschaften dagegen umfangreich ist und wachsende Ten-
denz hat8. Diese Erkenntnis legt auch dem Strafrecht und seinem
Gebrauch gewisse inhaltliche Verpflichtungen auf. Wenn das Strafrecht
nämlich Mittel zur Bekämpfung der Kriminalität sein will - und das ist
unbestritten der Fall - muß es auch zur Bewußtmachung der Identität
beitragen, darf jedenfalls nicht dem bereits weit verbreiteten Mangel an
Identitätsbewußtsein weiter Vorschub leisten. Unter diesem Aspekt sind
besonders bedenkenswert:
Die ständige Änderung der Gesetze,
Die besondere Situation des Staatsschutzes und seine Vorverlegung in
strafrechtsfreie Gebiete,
Die freie Verantwortung und Kommunikationsfähigkeit des Bürgers.
1. Was sich die Politiker bei der ständigen Änderung der Gesetze, hier
vor allem der Strafgesetze, denken, ist unerfindlich'. Wahrscheinlich
gehen sie von der Annahme aus, daß nicht mehr oder nur noch seltener

7 Näher Hellmer, Identitätstheorie und Gemeindekriminalität, Arch. Krim. 161


(1978), S. 1 ff; den., Verdirbt die Gesellschaft?, Kriminalität als zwischenmenschliches
Verhalten, Zürich (Edition Interfrom) 1981.
8 Aus dem gleichen Grunde haben z. B. Städte eine größere Kriminalität als das Land,

Hafen-, Durchgangs- und Industriegebiete mit stark fluktuierender Bevölkerung eine


größere als Gebiete mit alteingesessener Bevölkerung und Norddeutschland im allgemei-
nen eine größere als Süddeutschland ( H e l l m e r , Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik
Deutschland und West-Berlins, Bundeskriminalamt 1972). Das gleiche ist übrigens hin-
sichtlich der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung der Fall, näher Hellmer, Kriminalität
und Anzeigeverhalten aus der Sicht der Identitätstheorie, Der Kriminalist 1981, S. 492 ff.
' Innerhalb von 6 Jahren (1975-1981) ist das StGB zwölfmal geändert worden, davon
allein durch acht Strafrechtsänderungsgesetze (13.-20. StAG), nachdem gerade kurz vor-
her eine grundsätzlich neue Basis gefunden worden war (durch das 8. StAG vom
25.6.1968 und das EGGStGB vom 2.3.1974). Baumann, Festschrift für Wassermann,
S. 247 ff (252) spricht von der unseligen Praxis von ad-hoc-Gesetzen, die mit dem sogen.
Freiheitsschutzgesetz von 1951 begonnen worden sei.
Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 751

getan wird, was sie verbieten. Diese Annahme hat aber gewisse Voraus-
setzungen, die mindestens seit Anselm v. Feuerbach fester Bestandteil
jeder Kriminalpolitik sind, nämlich daß das Gesetz für jedermann klar
und verständlich ist, daß es feste Grenzen zwischen Erlaubtem und
Verbotenem zieht und daß es allgemein bekannt ist. Daran fehlt es heute
ganz und gar, vor allem durch die ständigen Gesetzesänderungen. Sind
schon die meisten Tatbestände des politischen Strafrechts, zum Beispiel
ein so wichtiger Tatbestand wie Landfriedensbruch (§125 StGB) so
verklausuliert abgefaßt, daß sie kaum einem Juristen ständig gegenwärtig
sind, vor allem nicht im entscheidenden Augenblick der Handlung,
geschweige denn einem juristischen Laien (wie anders zum Beispiel bei
Diebstahl oder Sachbeschädigung!), so wird die rechtliche Situation
noch undurchsichtiger, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale neu hinzu-
kommen oder bisher geltende Tatbestandsmerkmale ablösen oder wenn
die gleichen Tatbestandsmerkmale abwechselnd gelockert und wieder
verschärft werden, wobei sich die Diskussionen allein auf den Ebenen
der Parteijuristen abspielen und es zum Schluß nicht mehr deutlich
genug ist, ob nun eine Änderung erfolgt ist und wenn ja, welche. In
welcher Weise gerade im strafrechtlichen Staatsschutz die Paragraphen
dauernd hin- und hergeschoben, neu eingeführt, wieder gestrichen,
geändert, erweitert und wieder eingeschränkt worden sind, ist geradezu
unbeschreiblich10.
Es gibt einige neue Literatur über Gesetzgebungslehre, die Frage der
ständigen Änderung von Gesetzen und ihrer Voraussetzungen ist aber
stark vernachlässigt". Meines Erachtens muß man zwei Arten von
Gesetzesänderungen unterscheiden: eine wird durch grundlegende
Wandlung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlich, die andere ist
einfach durch Änderung der herrschenden politischen Richtung bedingt.
Um Letztere handelt es sich in den meisten Fällen, auch zum Beispiel bei
§ 125 StGB. Hinzu kommt noch die Änderung oder Erweiterung der
Rechtsprechung aufgrund ein und desselben Tatbestandes. Hier handelt
es sich m. E. nicht nur um ein Ubersehen der notwendigen Vorausset-
zungen wirksamer Abschreckung, sondern auch um einen Verstoß
gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn bisher straffreie Verhaltensweisen
plötzlich als kriminelles Unrecht angesehen werden, wie zum Beispiel
bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt" in §240 StGB 12 .

10 Vgl. F.-C. Schroeder, a . a . O . , S.220ff.


11 Bei H.Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, Heidelberg, 1982 (UTB 1204)
habe ich allerdings auf S. 19 den Vermerk gefunden, daß Rechtsnormen dauerhaft sein
sollen, damit sich der Bürger auf sie verlassen kann.
12 Vgl. Zipf, Kriminalpolitik, 2.Aufl. Heidelberg/Karlsruhe 1980, §5, 2.12 (S.llOf).

Zur Diskussion über das Verbot der Rückwirkung vgl. auch Nancke, Die Mißachtung des
strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933-1945, in: N.Horn (Hrsg.), Europäisches
752 Joachim Hellmer

Der „Änderungswirbel", vor allem im politischen Strafrecht, wider-


spricht nicht nur in eklatanter Weise rechtsstaatlichen Grundsätzen,
nach denen der Bürger die Normen des Rechts, insbesondere die des
Strafrechts kennen muß, damit er sein Verhalten nach ihnen richten kann
(ein Strafrecht, das ihn hierüber im Unklaren läßt, wirkt lediglich als
Falle und kommt staatlichem Terror gleich), sondern er verhindert auch
die Bildung von Identitätsbewußtsein, da ja die Rechtsposition, hin-
sichtlich derer alle Bürger identisch miteinander sind, nicht genügend
bestimmt ist, ja schlechthin unbestimmbar wird. Damit steht er auch
jedem kriminalpolitischen Bemühen, die Kriminalität zu verringern,
entgegen. Wer nicht weiß, was verboten ist, tappt hinsichtlich der
Rechtsposition der eigenen Person und damit auch des andern im
Dunkeln. Das betrifft nicht nur die aktuelle Situation, sondern die
gesamte Bedeutung des Strafrechts. Gerade dieses Rechtsgebiet, das über
so einschneidende Möglichkeiten der Persönlichkeitseinschränkung ver-
fügt, muß ganz eindeutige Bestimmungen enthalten". Denn nicht
zuletzt wegen dieser weitreichenden Möglichkeiten der Persönlichkeits-
einschränkung trägt es ja den Charakter eines ethischen Dekalogs, dem
der Bürger entnehmen können soll, wo die unübersteigbaren Grenzen
seines Freiheitsraumes sind. Ein oft und schnell geändertes Gesetz
verliert diesen Charakter automatisch und gibt zu erkennen, wie flach es
ethisch verwurzelt ist.
2. Damit sind wir beim inhaltlichen Aspekt. Der Staatsschutz hat es
nämlich besonders schwer, in der Bevölkerung durchzudringen, weil es
sich bei dem „Anderen", um dessen Verletzung es geht, nicht um eine
physische Person handelt, die man erkennen kann, sondern um ein
abstraktes, juristisches Gebilde, das nicht faßbar ist. Identitätsbewußt-
sein bildet sich in der Regel durch Identifizierung mit jemandem oder
etwas. Sich mit jemandem zu identifizieren, der als Person nicht erkenn-
bar ist, stößt schlechthin auf Schwierigkeiten. Hier gibt es allenfalls den
Umweg über die Person, die für den Staat da ist, die ihm dient. Im
Zeitalter der Bürokratie und der unübersichtlichen, anonymen Vermö-
gensmassen bestehen aber auch hier Hindernisse.
Eine Identifizierung des Bürgers mit dem Staat ist natürlich auch
heute möglich, aber nur auf der Grundlage der Erkenntnis, daß der Staat
für den Bürger da ist, nicht der Bürger für den Staat. Der Bürger ist der
eigentliche Souverän, nicht der Staat. Der Staat kann sich ja heute nicht
mehr darauf berufen, daß er die höchste Verkörperung des Sittlichen sei,

Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Coing, Band I, 1982, S. 225 ff
und Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, passim.
13 Vgl. Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht (Recht und

Staat 417), Tübingen 1973.


Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 753

wie bei Hegel14 und manchen, die sich heute noch auf ihn berufen15,
sondern er hat diese Auffassung durch sein eigenes Verhalten längst
widerlegt und muß sich heute in jedem Akt neu beweisen, er muß mit
jedem seiner Akte nachweisen, daß er notwendig ist, und notwendig ist
er eben nur, soweit er den einzelnen Bürger schützt. Wir wollen und
können hier keine staatsrechtliche Diskussion führen, nur muß auf die
Voranstellung der Grundrechte in unserer Verfassung und auf Art. 20
Abs. 2 Satz 1 G G hingewiesen werden, aus denen diese Konzeption klar
hervorgeht 16 . Insofern drängt die Identitätstheorie zu einer Durchset-
zung des demokratischen Gedankens auch im Strafrecht: Die Politiker
müssen sich heute bei jedem neuen Gesetz, das sie machen, überlegen,
ob dieses unbedingt notwendig ist, den Bürger zu schützen, sie müssen
sich an die Souveränität des Bürgers halten, und sie müssen deshalb, weil
sich das Gesetz zugleich an die Bürger richtet, dieses auch so abfassen,
daß es den Bürgern jederzeit gegenwärtig sein kann.
Dem widerspricht der heutige strafrechtliche Staatsschutz nicht nur
durch seinen Umfang und seine Position an erster Stelle im Besonderen
Teil des StGB (er belegt dort gleich die ersten sieben Abschnitte),
sondern auch durch die Verletzung allgemeiner dogmatischer Grund-
sätze, zum Beispiel des Grundsatzes, daß eine Tat - wenn schon nicht
vollendet, so doch mindestens - versucht sein muß, um strafrechtliche
Folgen zu zeitigen. Dieser Grundsatz gilt ja auch hinsichtlich des
Schutzes des Individuums. Der strafrechtliche Staatsschutz ist aber voll
von Strafdrohungen schon für Versuche des Versuchs (§§ 80 a, 83,
89-90 b, 98, 99) und sogar schon für Vorbereitungen auf den Versuch
des Versuchs (§§ 84-86 a, 87 Nr. 1-6, 88, 100, 129, 129 a)17. Eine solche
Vorverlegung des Staatsschutzes in an sich strafrechtsfreies Gebiet
bedeutet einen eindeutigen Bruch mit strafrechtlichen und rechtsstaatli-
chen Traditionen und darüber hinaus eine Bevorzugung des strafrechtli-
chen Staatsschutzes gegenüber dem strafrechtlichen Individualschutz,
die das Bemühen um Identifizierung des Bürgers mit der Rechtsposition

14 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§257 ff.


15 Z. B. F.-C. Schroeder, der sich gegen eine Abwertung des strafrechtlichen Staats-
schutzes als „politisches Strafrecht" wendet und sich dabei auf ]. F. H. Ahegg und dessen
Auffassung beruft, daß der Staat „wesentlich eine sittliche Natur und Existenz" habe
(a.a.O., S.219).
16 Ebenso Zipf, a.a.O., S.35. Bei Heller, Staatslehre, 6.Aufl. 1983, kommt die
Stellung des Bürgers gegenüber der Staatsmacht, historisch bezeichnend, noch sehr
undeutlich zum Ausdruck (das Buch wurde 1932 verfaßt); ganz anders jetzt Stein,
Staatsrecht, 9. Aufl. Tübingen 1984, S. 213 ff (214). Vgl. auch Callies, Theorie der Strafe im
demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974.
17 Th. Basten, a.a.O., S.81.
754 Joachim Hellmer

des Staates noch weiter erschwert18. Der Gesetzgeber der letzten Jahr-
zehnte läßt mit solchen Übertreibungen die Erfordernisse der Bildung
von Identitätsbewußtsein, die gerade heute in der Massengesellschaft
strengstens beachtet werden sollten, nicht nur außer acht, sondern er
stellt sich sogar schroff gegen sie, d.h. er erweist sich als schlechter
Kriminalpolitiker, der das Gegenteil von dem schafft, was er erreichen
will19: Mißtrauen und Entfremdung statt wachsendes Vertrauen; Angst,
in eine Falle zu treten, statt sich auf sicherem (erlaubtem oder unerlaub-
tem) Boden zu bewegen.

3. Verunsichernd wirken sich insbesondere die §§90, 90 a, 90 b und


353 b StGB aus. Hier ist schon einmal der Grundsatz der Bestimmtheit
verletzt: Was heißt „verunglimpfen"? Hierunter kann man notfalls auch
jede Kritik an bestimmten Zuständen in unserem Staat verstehen, die den
Politikern nicht gefällt (zum Beispiel, daß sich faschistoide Tendenzen in
ihm ungehindert breitmachen können)20. Es ist sicher schwierig, für
„Verunglimpfen" einen bestimmteren Begriff zu finden, der das gleiche
ausdrückt. Aber das ist eben das Fatale am politischen Strafrecht, daß es
präzisen Begriffen schwer zugänglich ist, weil lediglich politische Vor-
stellungen, die oft auch noch rasch wechselnd sind, durchgesetzt werden
sollen. Auf solche, schon wertende Begriffe gebaute Vorschriften wir-
ken, was eben gerade rechts staatlich bedenklich ist, als Einschüchterung,
an sich erlaubte, aber unerwünschte Verhaltensweisen an den Tag zu
legen. Ahnlich wie im Verwaltungsrecht hängt es hier vom Ermessen der
zuständigen Beamten, im Strafrecht also vom Staatsanwalt ab, ob er

18 Dafür sprechen übrigens auch die Zahlen. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik

(hrsg. v. Bundeskriminalamt Wiesbaden) wurden 1975: 3596 Staatsschutzdelikte (meist


Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats) registriert, 1976: 5085; 1977: 7220; 1978:
7376; 1979: 7580; 1980: 9078; 1981: 16545; 1982: 14364; 1983: 14766. Innerhalb von
8 Jahren ist also eine Vervierfachung eingetreten (die Nötigungsfälle waren bisher nur mit
geringen Zahlen dabei, auch sie steigen aber in den letzten Jahren stark an, von 1982 auf
1983 allein von 278 auf 1026 Fälle; es ist sicher nicht falsch anzunehmen, daß dieser mit
äußerster Skepsis zu betrachtende Tatbestand seine erneute Bedeutung nur auf politischem
Feld gewonnen hat).
" Wer sich zur Rechtfertigung des extensiven Staatsschutzes auf die Verbrechen und -
noch mehr - auf die Absichten der R A F beruft (z. B. F.-C. Schroeder, der sogar Texte der
R A F zitiert, a. a. O., S. 227 ff) möge daran denken, daß das Gefühl des Bedrohtseins noch
nie ein guter Ratgeber für die Gesetzgebung war (erinnert sei an das Schicksal des
l.StÄG!) und daß die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik noch niemals
ernstlich in Gefahr war (was nicht an den Strafgesetzen liegt!).
20 So etwa das Vorwort der 47 Hochschullehrer zur Nachveröffentlichung des
„Buback-Nachrufs", das vom KG Berlin im Eröffnungsbeschluß vom 10.5.1978 als
Staatsverunglimpfung angesehen wurde (zitiert nach Grünwald, a. a. O., S. 294).
Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 755

Sanktionen für erforderlich hält, also Anklage erhebt oder nicht21. In


einer solchen Unsicherheit dürfte in einem Rechtsstaat eigentlich kein
Bürger schweben. Die Einsicht hierfür scheint dem Gesetzgeber der
Bundesrepublik abhanden gekommen zu sein.
Zur Unsinnigkeit und Unnötigkeit gerade dieser Vorschriften in
kriminalpolitischer Hinsicht hat bereits Grünwald ausführlich Stellung
genommen22. Die Vorschriften der §§ 90-90 b StGB, vor allem §90a,
sind ein typisches Beispiel dafür, wie übertrieben ernst sich unser Staat
nimmt und mit welcher Arroganz und Empfindlichkeit er auf Äußerun-
gen des Bürgers reagiert. In einem französischen Film sah man kürzlich,
wie die Marseillaise gespielt wurde, während zwei Männer sich im
Pissoir unterhalten, und in einem amerikanischen Film, wie zu einer
wilden Schießerei in einer Kneipe die Nationalhymne ertönt. Von einem
deshalb eingeleiteten Strafverfahren ist nichts bekannt. Bei uns dagegen
haben sich elf Richter, darunter fünf Bundesrichter, mit der Frage
befaßt, ob eine „bildlich mit Urin besprenkelte Bundesfahne die Freiheit
der Kunst aus dem Feld schlagen und zu einer Bestrafung wegen
Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole führen kann"23. Sind die
Franzosen und Amerikaner schlechtere Patrioten als wir, gefährden sie
ihren Staat mehr als wir? Und nächste Frage: Wenn es so wäre, hätten
wir dann Grund, nach allem, was unser deutscher Staat in den letzten
50 Jahren angerichtet hat, patriotischer zu sein als die Bürger anderer
westlicher Völker? Und schließlich die dritte und entscheidende Frage:
Ist das Strafrecht das richtige Mittel, Patriotismus durchzusetzen? Wir
meinen, daß das nicht der Fall ist und daß ein hierzu mißbrauchtes
Strafrecht nicht zur Bildung von Identitätsbewußtsein des Bürgers
gegenüber dem Staat beiträgt, sondern im Gegenteil Mißtrauen und
Ablehnung gegenüber dem Staat fördert.

III.
Der beste Staatsschutz ist die Verfassungstreue der Bürger, wie ich
meine. „Halt, so einfach ist das nicht!" werden manche Politiker sagen:
„Was hilft die Verfassungstreue der Bürger, wenn ein paar unbelehrbare
und zu allem entschlossene Staatsfeinde das System umstürzen wollen?"
Diese Fragestellung ist aber irreführend. Jeder unserer Politiker weiß,
daß die überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung hinter dem Staat
steht, wie er in unserem Grundgesetz von 1949 konzipiert ist. Das

21 Einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die hier für die Rechtsprechung entstehen,

vermitteln Träger! Mayer/Krauth, Das neue Staatsschutzstrafrecht in der Praxis, in: „25
Jahre Bundesgerichtshof" ("Hrsg. Krüger-Nieland), München 1975, S. 227 ff (242 ff).
22 Grünwald, a.a.O., S.295.
23 Vgl. „Die Zeit" Nr. 38 vom 13.9.1985.
756 Joachim Hellmer

Problem ist ein ganz anderes, nämlich ob die sogenannte schweigende


Mehrheit der Bevölkerung nicht auch zu staatsfeindlichen Umtrieben
schweigen könnte. Davor haben unsere Politiker nicht zu Unrecht
Angst. Aber hier kann nicht das Strafrecht helfen, sondern hier liegt ein
Versäumnis unserer Politiker vor, das den Staat in der Tat leicht ins
Wanken bringen kann: Eine Regierung, die die schweigende Mehrheit
liebt und pflegt, weil sich mit ihr leichter regieren läßt, darf sich nicht
wundern, wenn diese Mehrheit auch in bezug auf staatsfeindliche Tätig-
keiten nicht zu den notwendigen Gegenaktivitäten bereit und fähig ist".
Unser Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit zu allem geschwie-
gen, was Hitler getan hat, und nach 1945 hat es in seiner überwiegenden
Mehrheit zur Wiedereinführung der Wehrpflicht, zur Wiederaufrü-
stung, zur Notstandsverfassung und zu vielem anderen geschwiegen,
was das ursprüngliche Staatskonzept von 1949 nicht unwesentlich geän-
dert hat. Ein Staat, der sich auf die schweigende Mehrheit der Bevölke-
rung stützt, ist immer auf ein umfangreiches strafrechtliches Staats-
schutzrecht angewiesen.
Wenn wir also sagen: Der beste Staatsschutz ist die Verfassungstreue
der Bürger, so geht es uns vor allem um eine aktive Verfassungstreue,
und d.h.: Die Mehrheit der Bürger muß zu einem kritischen, auf die
Grundsätze der Verfassung gegründeten politischen Bewußtsein und der
Staat muß zu einer strikten Einhaltung von Buchstaben und Geist der
Verfassung angehalten werden 25 . Aus der Sicht der Identitätstheorie:
Dem Bürger muß dauernd Gelegenheit gegeben werden, sich mit dem
Staat zu identifizieren und dadurch Identitätsbewußtsein ihm gegenüber
zu bilden. Wenn dies geschieht, braucht der Staat keine Angst zu haben,
daß er durch ein paar Abenteurer gefährdet wird.
Dies wäre Programmpunkt Nr. 1 auch einer wirksamen Kriminalpoli-
tik. Es ist bedauerlich, daß die Strafrechtswissenschaft dies infolge der
strikten Trennung zwischen Strafrecht einerseits und (empirischer)
Staatslehre und öffentlichem Recht andererseits und aus Furcht, den
Staatsrechtlern ins Handwerk zu pfuschen, nicht sieht. Im übrigen

24 Kennzeichnend ist auch, daß unsere Politiker das Widerstandsrecht des Art. 20

Abs.4 GG nur als Staatsnotstandsrecht auslegen, d.h. als Recht, allenfalls für die
Regierung Widerstand zu leisten, nicht gegen sie. Näher G. F. Rühe, Widerstand gegen die
Staatsgewalt?, Berlin 1958, S. 80; v. Münch, Widerstand als Verfassungsproblem, in:
„Widerstand in der Demokratie", Landesverband für politische Bildung, Hamburg 1983,
S. 21 ff.
25 Vgl. Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen, insbesondere Kap. VIII und IX (Reclam-Ausgabe, S. 114 ff).
Unmittelbar nach 1945 waren diese Dinge auch erheblich bekannter als heute, vgl. z.B.
H. Rauschning, Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt, in: „Bericht über die
Tagung der Hochschule für Politische Wissenschaften München und der Evangelischen
Akademie Tutzing, Berlin 1956.
Strafrechtlicher Staatsschutz und Identitätstheorie 757

lassen sich auch praktische Folgerungen aus dem vorangestellten theore-


tischen Grundkonzept ableiten. Ein strafrechtliches Staatsschutzrecht,
das mithilft, Identitätsbewußtsein zu bilden, müßte sich zunächst einmal
streng an die interpersonalen Grundsätze des menschlichen Verkehrs
halten, d.h. vom Dekalog der hergebrachten strafrechtlichen Verbote
ausgehen, also vom Verbot der Tötung, der Körperverletzung, der
Freiheitsberaubung, der Schädigung fremden Eigentums usw. und sich
auch in den Grenzen der für diese Verbote in Jahrhunderten entwickel-
ten allgemeinen Regeln (über Versuch, Teilnahme, Irrtum pp) halten.
Begriffe und Verhaltensdefinitionen, die nicht klar verständlich sind und
auf denen die übertrophierten Teile des Staatsschutzes beruhen, wirken
einer Identifizierung mit dem Staat und damit der Bildung von Identi-
tätsbewußtsein entgegen 26 , zum Beispiel das „Zuwiderhandeln" nach
§84 Abs. 3, das „Verunglimpfen" nach § 9 0 a Abs. 1 Ziff. 2, das „Verra-
ten von Staatsgeheimnissen" nach §§ 93 ff, die „landesverräterische Fäl-
schung" nach § 100 a usw. Der Staat ist zunächst über seine (verantwort-
lichen) Personen und sein Eigentum und Vermögen angreifbar. Warum
genügt da nicht die Verwendung der allgemein bekannten Begriffe wie
Sachbeschädigung, Beleidigung, Betrug, Diebstahl, vor allem Mord und
Totschlag und Körperverletzung? Bezeichnend ist auch, daß bei den
Anschlägen auf Ponto, Buback und Schleyer nicht in erster Linie von
Mord und Geiselnahme gesprochen wurde, sondern von Staatsgefähr-
dung. Und während Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich des
klassischen Strafrechts und des Individualschutzes ständig daran arbei-
ten, neue Techniken der Abolition und der Bagatellisierung zu entwik-
keln27, werden in Verfahren, in denen der Staat berührt ist, immer
strengere Maßstäbe angelegt 28 .
Wo der Staat aber wirklich auf Schutz angewiesen erscheint, ist zu
fragen:
(1) Ist das Strafrecht das richtige Mittel, um Schutz zu gewähren?
(2) Lassen sich die Tatbestandsmerkmale so abfassen, daß der Bürger
sie versteht und in sein Bewußtsein aufnimmt?
(3) Ist die Bestimmung geeignet, Identitätsbewußtsein (im Verhältnis
zum Staat) zu fördern oder zerstört sie womöglich im Gegenteil Ansätze

26 Vor allem bei der Jugend, vgl. Baumann, a. a. O., S. 247 ff (249).
27 Zuletzt sogar bei Mord, wo der Strafrahmen bekanntlich nach unten durchbrochen
worden ist, vgl. BGHSt. 30, 105.
28 Bezeichnenderweise ist die ausdehnende Rechtsprechung zum Gewaltbegriff in § 240

StGB überwiegend anhand von Fällen entwickelt worden, in denen es sich nicht um eine
Verletzung des zwischenmenschlichen Verhältnisses, sondern der „öffentlichen Ordnung"
handelte (vgl. NJW 1969, 63, 1127, 1543, 1776; BGHSt. 8,102; 23, 46). S. auch Baumann,
a.a.O., S.253.
758 Joachim Hellmer

zur Bildung eines solchen Bewußtseins (zum Beispiel durch zu weit


gehende Abstraktheit oder Obrigkeitlichkeit)?
Bedingung eines gesunden strafrechtlichen Staatsschutzes ist auch,
daß man das Ganze der gesellschaftlichen Wirkkräfte im Auge behält.
Basten hat versucht, diese Kräfte in ein System zu bringen29. Er unter-
scheidet zunächst zwischen Normalzustand und Bürgerkrieg bzw.
Revolution. Im letzteren Fall greife die Notstandsverfassung ein. Im
ersteren gäbe es dagegen drei Stufen, zunächst die allgemeine Gesell-
schaftspolitik, die auf Beseitigung bzw. Eindämmung der sozialen Span-
nungen ausgerichtet sein müsse; sodann die polizeiliche Gefahrenab-
wehr, die mit kriminologischer Forschung beginne und schließlich mit
Zwangsrechten und Zwangsmaßnahmen ende, und die dritte Stufe mit
individuellen und kollektiven Sanktionen, wie „Berufsverbot" und Straf-
recht, und zwar nach dem Ultima-ratio-Prinzip. Die Stufenfolge ist nach
unserer Auffassung richtig gesehen, nur die Inhalte nicht. Basten legt die
Betonung vor allem auf eine Gesellschaftspolitik, die in staatlicher
Globalsteuerung und politischer Korrektive an der Einkommensvertei-
lung besteht. Das aber würde unserer Auffassung nach den Staat noch
stärker machen, als er schon ist, und damit dem identitätstheoretischen
Erfordernis der gleichberechtigten Partnerschaft und Selbstverantwor-
tung des Bürgers, auf die allein eine aussichtsreiche Kriminalpolitik (und
auch ein wirksamer Staatsschutz) gegründet werden können, widerspre-
chen. Entscheidend ist auf der gesellschaftlichen Ebene u.E., daß mit
Gemeinde-, Jugend-, Bevölkerungs- und kulturpolitischen Maßnahmen
eine Atmosphäre hohen Identitätsbewußtseins (der Bürger untereinan-
der und zwischen Bürger und Staat) hergestellt wird (was viel umfassen-
der ist als die Beseitigung sozialer, aus Einkommensunterschieden her-
rührender Spannungen), und daß Zwang und Strafe wirklich auf ein nur
unterstützendes Minimum beschränkt werden.
Ich glaube, von dieser Sicht ist der Staat, sei er von CDU oder SPD
regiert, heute noch weit entfernt. Vielleicht ist es aber noch Zeit, ihn vor
weiterer, im wesentlichen selbstverschuldeter Entfremdung vom Bürger
und vor dem Gebrauch von Ersatzmitteln, vor allem strafrechtlicher
Art, zu bewahren.

29
Th. Basten, a.a.O., S. 337 ff.
Zur strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB)
beim „Kampf um das gemeinsame Kind"
Überlegungen de lege lata und de lege ferenda

KLAUS G E P P E R T

„Wenn Täter und Opfer", schreibt Ulrich Weber\ „gleichermaßen


das Beste des Kindes wollen, ist die Tragödie perfekt. Kindesentziehung
wird zur Verzweiflungstat." Hinsichtlich der „Opfer" ist hier die Rede
von jenen Elternteilen, die nach zerbrochener Ehe den gerichtlichen
Kampf um das gemeinsame Kind endgültig oder nur vorläufig gewonnen
und das alleinige Personensorgerecht zugesprochen bekommen haben,
und „Täter" meint den anderen Eltern teil, erfahrungsgemäß sehr oft:
den Vater, der sich mit der gerichtlichen Entscheidung nicht abfinden /
ihr zuvorkommen will und sein Kind dem Zugriff des „Siegers" ent-
zieht, bei gemischt-nationalen Ehen sehr oft: ins Ausland verbringt. In
solchen Fällen ist das Mitgefühl der Mitmenschen zunächst deutlich
beim Opfer, also bei der Mutter, der der Vater das Kind weggenommen
hat; der Ruf nach harten Reaktionen des Strafrechts ist dann nicht zu
überhören. Ist das Kind freilich wieder glücklich in der Obhut der
Mutter, so kann sich erfahrungsgemäß auch der Täter wieder des
Mitgefühls der gleichen Zeitgenossen sicher sein - und zwar um so
mehr, je näher der Tag der strafgerichtlichen Hauptverhandlung rückt.
Die Forderung, das Strafrecht habe hier das Feld zu räumen, ist jetzt
nicht selten. Im übrigen ist dieses Verlangen durchaus nicht neu. Wir
können davon lesen schon in einer Entscheidung aus dem Jahre 1916, wo
es vom Reichsgericht freilich nachdrücklich zurückgewiesen worden
ist2. Ansonsten finden wir in der einschlägigen Kommentarliteratur
übereinstimmend die de lege lata sicherlich zutreffende Feststellung, daß
Täter einer strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) auch die Eltern
selbst sein können, insbesondere ein Elternteil gegenüber dem anderen3.

' In: Arzt-Weber, Strafrecht Besonderer Teil: Lehrheft 1 (Delikte gegen die Person),
2. Aufl. 1981, S. 195.
2 Urteil vom 29.2.1916 - V 17/16: Leipz. Zeitschrift 1916, 693.

3 Siehe statt vieler: SchönkeJSchröder/Eser, StGB Kommentar, 22. Aufl. 1985, Rdn. 14,
LK-Vogler, StGB, 10. Aufl. (August 1979), Rdn. 26, SK-Horn, StGB II, 3. Aufl. (Septem-
ber 1981), Rdn. 10, Dreher/Tröndle, StGB, 42. Aufl. 1985, Rdn. 3 und Lackner, StGB,
16. Aufl. 1985, Anm.2 - jeweils zu §235.
760 Klaus Geppert

Man findet im Schrifttum freilich auch Bemerkungen wie die, daß die
Strafvorschrift des §235 StGB 4 bisher keine besondere Bedeutung
erlangt habe5 und „kaum ein Komplex in der Praxis eine geringere Rolle
spiele"6. Wieder andere stellen sogar fest, bei Neuregelung der Entfüh-
rungstatbestände durch das Erste Strafrechtsreformgesetz des Jahres
1969 sei „bedauerlicherweise versäumt worden, sich die Frage nach der
kriminalpolitischen Berechtigung... grundsätzlich neu" zu stellen7.
In dieser Situation scheint die Frage nicht ganz abwegig zu sein, ob
§235 StGB zwischenzeitlich nicht in eine Dimension hineingewachsen
ist, die dem Gesetzgeber des vergangenen Jahrhunderts so vielleicht doch
nicht vorgeschwebt hat und angesichts deren der Gesetzgeber von heute
korrigierend eingreifen sollte.

I.

Bevor ich - bezogen und beschränkt auf den hier interessierenden


Täter- und Opferkreis - auf dem Hintergrund des geltenden Rechts und
aus dessen möglichen Schwächen Überlegungen de lege ferenda anstellen
möchte, gilt es zunächst, das soziale Umfeld dieses strafrechtlichen
Problems etwas näher zu erhellen.
1. Bleiben wir zunächst bei der s£ra/rechtlichen Perspektive unseres
Themas und werfen wir,
a) da wir mit eigenem Zahlenmaterial nicht aufwarten können 8 , vorweg
einen Blick in die amtlichen Kriminalstatistiken. Dieser Blick bestätigt
schnell, daß unserem Problem zumindest zahlenmäßig offenbar keine
kriminalstrafrechtlich große Bedeutung zukommt 9 . So berichtet schon

4 Die Vorschrift ist zusammen mit den § § 2 3 6 bis 238 StGB durch das l . S t r R G vom

2 5 . 6 . 1 9 6 9 (BGBl. 1/645) geändert und neugefaßt worden - was unser Thema angeht,
freilich nur in geringfügiger Weise: die angedrohten Strafen haben sich geändert, das
Schutzalter wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt und das Vergehen zu einem Antragsde-
likt (§238 I StGB) umgestaltet. Einschlägige Gesetzesmaterialien: vor allem Protokolle des
Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Band V, S. 2375 ff
sowie Bundestagsdrucksache V/4094, S. 34 ff; weitere Nachweise bei LK-Vogler, zu §235
oder bei Dreher/Tröndle, § 2 3 5 Rdn. 1.
5 LK-Vogler, zu §235.
6 So, freilich bezogen auf die Entführungstatbestände insgesamt, wörtlich Eberhard
Schwarz, Entwicklung und Reform der Entführungsdelikte (§§235-238 StGB), 1972,
S. 129.
7 So beispielsweise Eser (Scb/Schr, Vorb. zu §§235 bis 238).
8 Ein suchender Blick in die kriminologische und kriminalistische Lehr- und Hand-

buchliteratur läßt den Verf. freilich auch nicht fündig werden: kriminalphänomenologisch
scheint - soweit mir ersichtlich - unser Thema noch nicht behandelt.
' Mit statistischem Material bis zum Stand des l.StrRG (1969) siehe vor allem
Eberhard Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 116 ff. Danach ergeben sich keine
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 761

Horstkotte bei den B e r a t u n g e n des 1. S t R G 1 0 , d a ß w e g e n K i n d e s e n t z i e -


h u n g ( § 2 3 5 S t G B ) i m J a h r e 1 9 6 6 insgesamt n u r 4 2 E r w a c h s e n e v e r u r t e i l t
w o r d e n sind, w o b e i die V e r u r t e i l u n g z u G e l d s t r a f e deutlich ü b e r w o g
u n d in d e n a c h t z e h n Fällen v o n Freiheitsstrafe alle diese Strafen u n t e r
9 M o n a t e n lagen u n d z u r B e w ä h r u n g h ä t t e n a u s g e s e t z t w e r d e n k ö n n e n .
N i c h t signifikant anders lagen die diesbezüglichen Z a h l e n in d e r Z e i t
davor 1 1 .
W e r f e n w i r einen e t w a s detaillierteren B l i c k auf das kriminalstatisti-
sche Z a h l e n m a t e r i a l , w i e es uns beispielsweise ab 1 9 8 0 bis ( a u g e n b l i c k -
lich) 1 9 8 3 vorliegt 1 2 :

So wurden ausweislich der vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden jährlich herausge-


gebenen Strafverfolgungsstatistik in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich
Berlin (West) im Jahre 1980 wegen Kindesentziehung (§235 StGB) insgesamt 98
Personen abgeurteilt:
- von diesen abgeurteilten 98 Personen (100%) waren 73 Männer (74,5%) und 25
Frauen (25,5 %).
- Verurteilt wurden 24 Personen (100 %), und zwar 18 Männer (75 %) und 6 Frauen
(25 %).
- Freigesprochen wurden 14 Personen (100%), und zwar 10 Männer (71,4%) und 4
Frauen (28,6 %).
- Ohne weitere Sanktionen eingestellt wurden 56 Fälle (100%), und zwar gegenüber
42 Männern (75 %) und 14 Frauen (25 %).
Für das Jahr 1981 lauten die entsprechenden Zahlen wie folgt:
- Von insgesamt 111 Abgeurteilten (100%) waren 83 Männer (74,8%) und 28 Frauen
(25,2 %).
- Verurteilt wurden 36 Personen (100 %), und zwar 28 Männer (77,7 %) und 8 Frauen
(22,3 %).
- Freigesprochen wurde nur 1 Person (ein Mann).
- Eingestellt schließlich wurden 65 Verfahren (100%), und zwar gegenüber Männern
45 (69,3%) und gegenüber Frauen in 20 Fällen (30,7%).
Im Jahre 1982 wurden
- 123 Personen abgeurteilt, und zwar 93 Männer (75,6%) und 30 Frauen (24,4%).
- Verurteilt wurden nur 47 Personen, und zwar 37 Männer (78,7%) und 10 Frauen
(21,3%).
- Freispruch erfolgte gegenüber 4 Männern (66,6 %) und gegenüber 2 Frauen (33,4 %).
- Einstellung erfolgte in insgesamt 66 Fällen, und zwar gegenüber 51 Männern
(77,3 %) und gegenüber 15 Frauen (22,7%).

wesentlich anderen Aburteilungsziffern, als sie nachfolgend im Text für die Jahre 1980 bis
1983 aufgeschlüsselt werden.
10 Protokolle Band V, S.2379.

11 Siehe E.Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6), S. 122f.


12 Die nachfolgenden Zahlen entstammen der amtlichen Strafverfolgungsstatistik, wie
sie alljährlich vom Stat. Bundesamt Wiesbaden herausgegeben wird (veröffentlicht in:
Rechtspflege Fachserie 10, Reihe 3 - Strafverfolgung). Die vom Bundeskriminalamt
herausgegebene „polizeiliche Kriminalstatistik" ist für unseren Beitrag unergiebig, weil die
dort aufgeführten Zahlen einheitlich für alle Entführungsdelikte (§§234, 235, 236 und 237
StGB) gelten.
762 Klaus Geppert

Auf weitestgehend gleicher Linie liegen die zuletzt veröffentlichten Zahlen. So


wurden im Jahre 1983
- insgesamt 105 Personen abgeurteilt: 75 Männer (71,4%) und 30 Frauen (28,6%).
- Verurteilt wurden 30 Männer (76,9%) und 9 Frauen (23,1 %).
- Freispruch erfolgte in 4 Fällen, und zwar dreimal gegenüber Männern (75%) und
einmal gegenüber einer Frau (25 %).
- Nochmals abschließend die interessanten Zahlen zur Einstellung: von insgesamt 60
Einstellungen waren 41 gegen Männer (68,3 %) und 19 gegen Frauen gerichtet
(31,7%).

Diese nackten Zahlen lassen alle einen einheitlichen Trend erkennen:


Bei nicht signifikant sich ändernden Aburteilungsziiiem dominieren
die Männer mit durchschnittlich 72 und 75 % ebenso wie bei den
entsprechenden Verurteilungszahlen (75 bis 78 % ) . Damit deckt sich
auch die Relation der Freisprüche, und damit deckt sich auch - nicht
unwichtig - zumindest in etwa die Zahl der Einstellungen, bei denen die
Männer mit durchschnittlich 69 bis 78 % ebenfalls vorneliegen. Insoweit
können zumindest diese Zahlen die von „scheidungsgeschädigten"
Vätern bzw. ihren Verbänden gelegentlich zu hörende Klage nicht
erhärten, Strafanzeigen wegen Kindesentziehung führten gegenüber
Müttern in aller Regel zur Einstellung, gegenüber Vätern hingegen in
umgekehrter Regelmäßigkeit zur Anklage.

b) Freilich ist in allen diesen Zahlen nicht aufgeschlüsselt, ob es sich


dabei um jenes soziale Konfliktfeld handelt, für das schlagwortartig
„Kampf um das gemeinsame Kind" steht. Nun bemißt sich aber die
Relevanz eines Delikts immerhin teilweise auch nach seinem Echo in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung, und insofern ist - mit aller Vor-
sicht - der Freigabe obergerichtlicher Entscheidungen zur Veröffentli-
chung eine gewisse Indizwirkung wohl nicht abzusprechen. Daher soll
der Versuch unternommen werden, aus der Veröffentlichung einschlägi-
ger Entscheidungen unterschiedliche Fallgruppen herauszufiltern, um
auf diesem Weg ein etwas genaueres Bild von der sozialen Wirklichkeit
dessen zu erhalten, was man seit langem „Muntbruch" nennt:
Von jeher erkennbar am Rande lagen jene Fallgruppen, bei denen
Hintergrund einer „Kindesraub"-Anklage entweder der Streit der leibli-
chen Eltern, früher meist der nichtehelichen Mutter mit einem Amtsvor-
mund13 oder der Kampf der Eltern um die „richtige" konfessionelle
Erziehung bildet14. Selten geworden sind inzwischen Entscheidungen,
bei denen ein Alterer (meist: ein Mann) dadurch in den Bereich strafba-
rer Kindesentziehung geraten ist, daß er mit einer jüngeren Person

13 Vgl. insofern RG, GA 53 (1906), 287 und RGSt. 29, 199 sowie BGHSt. 1, 364 und

OLG Bremen, JR 1961, 107.


14 Vgl. RGSt. 15, 340 (Urt. v. 28.1.1887) und RGSt. 24, 133 (Urt. v. 27.4.1893).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 763

beispielsweise zum „Schmied nach Gretna Green" geflüchtet oder „nur


so" von zu Haus abgehauen und auf Trebe gegangen ist15. Seit langen
Jahrzehnten und bis heute sind es - jedenfalls, was die bekanntgeworde-
nen obergerichtlichen Entscheidungen angeht - zahlenmäßig etwa
gleichgewichtig zwei Fallgruppen, die im Bereich des § 2 3 5 StGB krimi-
nalphänomenologisch dominieren. Es sind dies einmal jene Fälle, die
gesetzessystematisch eigentlich „hinter" § 2 3 5 StGB stehen, bei denen
nämlich ein Außenstehender in das Personensorgerecht der Eltern ein-
greift, eine Bestrafung wegen §§236 und 237 StGB jedoch - meist aus
Beweisgründen - an dort genannten weiteren Tatbestandserfordernissen
scheitert16; eine Bestrafung aus §235 StGB wirkt hier manchmal wie eine
Art „Verlegenheitslösung". Zum andern sind es aber immer wieder eben
die Fälle von Kindesentziehung im innerfamiliären Bereich, bei denen
also vor/in/nach einer familiengerichtlichen Auseinandersetzung ein
Elternteil im „Kampf um das gemeinsame Kind" dem anderen Elternteil
dieses Kind wegnimmt17.

c) Einen sicheren Beweis für die zahlenmäßige Relation dieser beiden


Fallgruppen liefert dieser Befund freilich auch nicht. Daher habe ich

15 Siehe insofern schon früher RGSt. 18, 273 (Urt. v. 30.11.1888) sowie BGH, MDR

1968, 728. - Keine obergerichtliche Judikatur fand sich übrigens, das sei am Rande
vermerkt, zum Stichwort Jugendsekten" und „Jugendsektenunwesen", wo Vogler (LK,
zu §235) künftig die besondere kriminalpolitische Bedeutung dieser Strafvorschrift ver-
mutet.
16 Siehe diesbezüglich schon RG, DR 1940, 2060 sowie insbesondere BGHSt. 1, 199,

BGHSt. 16, 58 und BGHSt. 32, 183. Siehe darüber hinaus auch BGH, MDR 1962, 750 (4
StR 21/62), NJW 1963,1412 (1 StR 90/63), MDR 1968, 728 (5 StR 164/68), J R 1971,511 (2
StR 247/71) sowie NJW 1981, 2015 (1 StR 487/80); siehe insofern auch drei unveröffent-
lichte Entscheidungen des Bundesgerichtshofes: 21.11.1958 - 5 StR 501/58; 20.12.1960 -
1 StR 553/60; 1.12.1970 - 5 StR 516/70. Siehe schließlich O L G Hamm, JMB1. NRW
1966, 236 (5.4.1966 - 3 Ss 32/66) sowie O L G Hamm (25.5.1978 - 5 Ws 50/78).
17 Aus der Judikatur schon des Reichsgerichts siehe RGSt. 17, 90 (27.1.1888), RGSt.

22, 166 (15.10.1891), RGSt. 48, 325 (22.5.1914), RGSt. 48, 427 (27.10.1914), RG
(29.2.1916), Leipz. Zeitschrift 1916, 693 sowie RGSt. 66, 254 (30.5.1932).
Der Bundesgerichtshof hat - soweit ersichtlich - zu dieser Fallgruppe expressis verbis
nur in zwei Entscheidungen Stellung bezogen: vgl. die umstrittene Entscheidung BGHSt.
10, 376 (13.9.1957 - 1 StR 269/57) sowie zuvor schon B G H (21.5.1951 - 3 StR 196/51) =
LM Nr. 1 zu §235 StGB.
Aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte vgl. in zeitlicher Reihenfolge:
(1) O L G Stuttgart (13.3.1968 - 1 Ss 95/68) NJW 1968, 1341.
(2) O L G Hamm (Beschl. v. 20.1.1970 - 3 Ss 1188/69) NJW 1970, 578.
(3) O L G Schleswig (22.7.1980 - 1 Ws 237/80) MDR 1980, 1042.
(4) O L G Düsseldorf (29.10.1980 - 2 Ss 393/80) J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke S. 387)
= NStZ 1981, 103.
(5) O L G Hamm (7.5.1981 - 1 Ws 221/82) MDR 1982, 1040 = J R 1983, 513 (mit
Anm. Oehler S.514).
764 Klaus Geppert

mich bei einigen mir bekannten Berliner Jugendstaatsanwälten, die nach


hiesiger Übung für alle § 2 3 5 StGB-Verfahren zuständig sind, nach ihrer
persönlichen Erfahrung und Einschätzung erkundigt. Die Antworten
können natürlich nicht zwingend auf Bundesdurchschnitt „hochgerech-
net" werden, lassen aber zumindest für andere großstädtische Ballungs-
räume vergleichbare Schlußfolgerungen zu. U m die Antworten richtig
einschätzen zu können, muß daran erinnert werden, daß im Bundes-
durchschnitt in den letzten Jahren nur etwa 100 bis 125 Personen
strafgerichtlich abgeurteilt worden sind. Im Bereich der Berliner Justiz
sind - um diese Zahl nachzuliefern - im Jahre 1983 insgesamt nur fünf
Personen - vier Männer und eine Frau - wegen Kindesentziehung (§ 235
StGB) abgeurteilt worden, wobei sogar nur eine Person (ein Mann)
verurteilt wurde; in den restlichen Fällen ist das Verfahren eingestellt
worden 18 .
Aus dem Arbeitsbereich Berliner Jugendstaatsanwälte wurde mir auf
diesem Hintergrund berichtet18*:
- daß jene Fallgruppe „Kindesentziehung durch Außenstehende" in der Praxis keine
nennenswerte Rolle spiele; das seien allenfalls Einzelfälle.
- Es wird bestätigt, daß die Verfahren wegen Kindesentziehung praktisch ausnahmslos
jener innerfamiliären Auseinandersetzung zuzuordnen sind und daß dabei die Män-
ner - in Berlin vor allem aus dem Bereich moslemischen Glaubens und Südeuropäer -
zahlenmäßig sehr deutlich dominieren.
- Es wird berichtet, daß es in den letzten Jahren durchschnittlich bis zu 50 Strafverfah-
ren nach Anzeige und auf Strafantrag des Personensorgeberechtigten Verletzten
(meist: der Mutter) und immerhin durchschnittlich doch zehn bis fünfzehn Anklagen
gegeben habe. Die geringe Zahl der jährlichen yliurteilungen wird - was einleuchtet -
mit dem „Strafantrag" (§238 Abs. 1 StGB) und damit erklärt, daß der Strafantrag
vom Verletzten bewußt als taktische Waffe eingesetzt wird, um auch mit Hilfe der
Strafverfolgungsbehörden das Kind zurückzubekommen. Sobald die Mutter ihr Kind
wieder in ihrer Obhut habe, würde der Strafantrag in der Mehrzahl aller Fälle wieder
zurückgenommen - was bekanntlich „bis zum rechtskräftigen Abschluß des Strafver-
fahrens" zulässig ist (§ 77 d Abs. 1 Satz 2 StGB).

2. Nach alledem können wir feststellen, daß die kriminalpolitische


Bedeutung des § 2 3 5 StGB - in Berlin wie entsprechend wohl auch im
Bundesdurchschnitt - jedenfalls für den uns beschäftigenden Bereich

18 Zitiert nach dem Sonderheft 348 (6/84) des Statistischen Landesamtes Berlin:
„Rechtskräftig abgeurteilte Personen in Berlin (West) 1983, S. 20.
181 Mit diesen Erfahrungen decken sich übrigens auch jene Zahlen, von denen wir in

einer (nach Abschluß des vorliegenden Manuskripts veröffentlichten) Berichtsserie in der


„Berliner Morgenpost" - freilich ohne belegte Quellen - lesen können:
- ausweislich des Berichts vom 19. Januar 1986 seien in Berlin seit 1975 etwa 625 bis
1000 Fälle von „legalem Kidnapping" (Entführung durch die eigenen Eltern) ins
Ausland bekanntgeworden,
- im Bundesgebiet gebe es jährlich schätzungsweise 1000 Fälle von Kindesentführun-
gen durch die eigenen Eltern (Bericht vom 2. Februar 1986).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 765

auch zahlenmäßig gewichtiger ist, als die nackten v4&urteilungs- oder gar
Verurteilungsziffern dies vermuten lassen. Wir können zugleich aber
auch erkennen, daß das Strafrecht diesbezüglich offenbar nur einen
„Nebenkriegsschauplatz" darstellt. U m bei diesem martialischen Bild
(das freilich angesichts der schlimmen Wunden, die in diesem Bereich
letztlich allen Beteiligten zugefügt werden, nicht fehl am Platze ist) zu
bleiben: der „Hauptkriegsschauplatz" liegt bei den Familiengerichten,
wo die Eltern scheiternder/gescheiterter Ehen den Kampf um das Recht
der „elterlichen Sorge" (§ 1626 Abs. 1 B G B ) bezüglich ihres Kindes in
erster Linie auszutragen haben.
Die Eltern haben die elterliche Sorge - das Gesetz spricht seit der
Sorgerechtsnovelle des Jahres 1979 nicht mehr von „elterlicher Gewalt",
um mit dem neuen Begriff mehr als bisher den Gedanken der Elternver-
antwortung und den Pflichtcharakter der elterlichen Rechtsstellung zum
Ausdruck zu bringen" - grundsätzlich „in eigener Verantwortung und
in gegenseitigem Einvernehmen" auszuüben (§ 1627 Satz 1 BGB). Die
Personensorge umfaßt insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht
(§ 1631 Abs. 1 Satz 1 BGB), in das bei Kindesentziehungen typischer-
weise eingegriffen wird. Nach § 1 6 3 2 Abs. 1 B G B erwächst hieraus das
„Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es den
Eltern oder einem Elternteil widerrechtlich vorenthält". Kommt es zur
Scheidung oder zum Getrenntleben der Eltern, so ist die Situation der
Personensorge folgende:
(1) Bei Scheidung der Eltern bestimmt das Familiengericht zugleich, „welchem Eltern-
teil die elterliche Sorge für ein gemeinschaftliches Kind zustehen soll" (§ 1671 Abs. 1
BGB). Bei Anfechtung lediglich der Sorgerechtsentscheidung ist Beschwerde möglich
(§§629a Abs. 2 Satz 1, 621 e Abs. 1 ZPO); sofern das O L G die weitere Beschwerde
zugelassen hat, ist auch diese zulässig (§621 e Abs. 2 ZPO). Die Gestaltungswirkung
der Sorgerechtsentscheidung tritt erst nach formeller Rechtskraft ein, frühestens nach
Rechtskraft auch des Scheidungsausspruchs (§ 629 d ZPO).
Demgemäß kommt vorläufigen Regelungen der Personensorge besondere Bedeu-
tung zu. Nach Maßgabe von § 620 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 ZPO kann das Gericht - auf
Antrag oder ggf. von Amts wegen - über das elterliche Sorgerecht eine einstweilige
Anordnung treffen. Erging dieser Beschluß auf Grund mündlicher Verhandlung, ist
gegen ihn sofortige Beschwerde zulässig (§ 620 c ZPO); sofern die von einem Elternteil
beanstandete Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erging, eröffnet ihm § 620 b
Abs. 2 ZPO die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung (wichtig: und mit ihr die
Möglichkeit einer sofortigen Beschwerde) herbeizuführen. Nach Verstreichenlassen der
zweiwöchigen Notfrist (§ 577 Abs. 2 ZPO) bzw. mit der Beschwerdeentscheidung des
O L G ist die einstweilige Anordnung formell rechtskräftig, d.h. das Personensorge-
recht ist - das kann natürlich auch für § 235 StGB besonders bedeutsam werden (siehe
insofern die Konstellation von RGSt. 48, 325) - für die Dauer der einstweiligen
Anordnung wirksam dem einen oder dem anderen Elternteil übertragen. Nach § 620 f

" Mit weiteren Nachweisen, auch zur Entstehungsgeschichte, vgl. diesbezüglich vor
allem M K - H w , Ergänzung zu § 1626 BGB, Rdn. 1 ff.
766 Klaus Geppert

Abs. 1 ZPO verlieren einstweilige Anordnungen ihre Wirksamkeit erst „beim Wirk-
samwerden einer anderweitigen Regelung".
(2) Bei dauerndem Getrenntleben20 gilt nach Maßgabe von § 1672 Satz 1 B G B materiell-
rechtlich Entsprechendes; auch verfahrensrechtlich ergeben sich keine Besonderheiten.
Freilich ergeht eine familiengerichtliche Sorgerechtsentscheidung in aller Regel nur auf
Antrag eines Elternteils; nur wenn „andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre",
entscheidet das Gericht von Amts wegen (§ 1672 Satz 2 BGB).

D a s „Wohl des Kindes" ist i m ü b r i g e n die L e i t s c h n u r , a n d e r die


Gerichte ihre Sorgerechtsentscheidung auszurichten haben (§ 1671
A b s . 2 B G B ) . D a ß d i e s e r Begriff 2 1 a u c h d a n n , w e n n m a n ihn als „ R e c h t
auf E r z i e h u n g z u leiblicher, seelischer u n d gesellschaftlicher T ü c h t i g -
keit" (§ 1 A b s . 1 J W G ) verdeutlicht22, m e h r rechtspolitisches Ziel und
programmatische Idee denn einzelfall-praktikables Wertungs- und
A b g r e n z u n g s k r i t e r i u m ist, liegt a u f d e r H a n d . E s w i r d a u c h n i e m a n d
bestreiten wollen, daß dieser Begriff „ K i n d e s w o h l " eher schönfärberisch
ist u n d i m Z u s a m m e n h a n g m i t S o r g e r e c h t s e n t s c h e i d u n g e n m i t gutem
G r u n d d u r c h die B e z e i c h n u n g des „ k l e i n e r e n Ü b e l s " z u e r s e t z e n w ä r e ,
g e h t es bei d e r S o r g e r e c h t s e n t s c h e i d u n g n a c h z e r b r o c h e n e r E h e doch
d a r u m , die F o l g e n d e s Z u s a m m e n b r u c h s d e r E l t e r n e h e f ü r d a s K i n d
m ö g l i c h s t g e r i n g z u h a l t e n u n d diejenige L ö s u n g z u f i n d e n , die d a s K i n d
- w e n n es s c h o n eine v o n z w e i g r u n d s ä t z l i c h g l e i c h w i c h t i g e n t ä g l i c h e n
B e z u g s p e r s o n e n v e r l i e r e n m u ß - a m w e n i g s t e n b e l a s t e t . N u n g e h t es in
v o r l i e g e n d e m B e i t r a g a b e r n i c h t d a r u m , d a s „ K i n d e s w o h l " als r i c h t e r l i -
c h e n E n t s c h e i d u n g s m a ß s t a b n ä h e r z u p r ä z i s i e r e n u n d die R e c h t s p r e -
chung der Familiengerichte dahin z u überprüfen, ob sie V a t e r und
M u t t e r in d i e s e m S i n n w i r k l i c h g l e i c h b e r e c h t i g t b e h a n d e l n 2 3 - a u c h w e n n

20 Die Legaldefinition des § 1567 Abs. 1 B G B legt die Voraussetzungen des Begriffs

„Getrenntleben" nunmehr einheitlich für den Bereich des gesamten Familienrechts fest
(vgl. MK-Hinz, Ergänzung zu §1672 B G B , Rdn.3).
21 Zu diesem Begriff siehe - jeweils mit weiterführenden (Literatur- und vor allem

Rechtsprechungs-)Nachweisen - monographisch vor allem Michael Coester, Das Kindes-


wohl als Rechtsbegriff. Die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge beim Zerfall
der Familiengemeinschaft (1983) sowie Luthin, „Elterliche Sorge, Umgangsbefugnis und
Kindeswohl. Neueres aus Rechtsprechung und Schrifttum", FamRZ 1984, 114ff und
Kropholler, „Das Kindeswohl als Rechtsbegriff", J Z 1984, 164ff. Vgl. auch M M k ,
Ergänzung zu § 1666 Rdn. 24 ff und zu § 1671 Rdn. 19 ff sowie Palandt-Diederichsen, BGB
(44. Aufl. 1985), §1671 Anm.3.
22 Vgl. WL-Hinz, Ergänzung zu § 1666 Rdn. 24.
23 Der weithin bekannten Klage der geschiedenen/getrennt lebenden Väter, sie würden

auf Grund traditioneller, doch überholter Rollenvorstellungen von den Familiengerichten


bei der Sorgerechtsentscheidung benachteiligt, steht neuerdings die Gegenklage der
Frauen, sie würden in Wahrheit langsam aber sicher im Recht der Eltern-Kind-Beziehung
von den Familiengerichten „diskriminiert" (siehe insofern Zenz und Salgo in ihrem
Gutachten „zur Frage der Diskriminierung der Frau im Recht der Eltern-Kind-Bezie-
hung": herausgegeben in Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 767

die kriminalstatistischen Zahlen zu §235 StGB einen Abbau des traditio-


nellen „Mutter-Bonus" und einen anwachsenden Trend „zum Vater"
bislang jedenfalls nicht bestätigen. Ungeachtet all dessen ist mit dem
Begriff „Kindeswohl" immerhin negativ die eindeutige Feststellung ver-
bunden, daß es jedenfalls nicht Eigeninteressen der Eltern sein dürfen,
an denen die Sorgerechtsentscheidung auszurichten ist, daß die Sorge-
rechtsentscheidung somit auch nicht Mittel personaler Selbstbehauptung
nach zerbrochener Ehe sein darf. Im Hinblick auf unser Thema in
diesem Zusammenhang im übrigen drei Bemerkungen:
a) Zur Verdeutlichung des unscharfen „Kindeswohl"-Begriffes dienen
der Rechtsprechung als Orientierungshilfen bekanntlich das „Förde-
rungsprinzip" einerseits, wonach derjenige Elternteil die Sorge erhält,
von dem das Kind für den Aufbau seiner Persönlichkeit zukünftig die
bessere Unterstützung zu erwarten hat, und das sog. „Kontinuitätsprin-
zip" andererseits24. Diesem Kontinuitätsprinzip zufolge ist für die Ent-
wicklung eines Kindes in der Regel die Lösung am vorteilhaftesten, die
die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Erziehung am wenigsten
stört; für diesen Grundsatz kann das Gesetz selbst in Anspruch genom-
men werden, hat das Gericht bei seiner Sorgerechtsentscheidung nach
Maßgabe des § 1671 Abs. 2. / 2. Halbsatz BGB doch „die Bindungen des
Kindes, insbesondere an seine Eltern und Geschwister, zu berücksichti-
gen". Im Hinblick darauf können wir bei Hinz lesen25:
„Ein Wechsel des Sorgeberechtigten wird im allgemeinen dem Wohl des Kindes
abträglich sein und kann nur durch das Vorliegen triftiger Gründe gerechtfertigt
werden. Das bedeutet zunächst, daß die elterliche Sorge in der Regel demjenigen
Elternteil zu übertragen ist, der das Kind bereits längere Zeit vor der Scheidung allein
betreut hat, wenn das Kind dort in geordneten Verhältnissen lebt, einwandfrei versorgt
wird und ein Wechsel der so entstandenen Bindungen und Umweltbedingungen eher
schädlich wirken müßte. Im Ergebnis gibt also bei annähernd gleicher Eignung zur
Erziehung und Betreuung des Kindes das Stetigkeitsprinzip den Ausschlag."

Von dieser Aussage her, die man wohl als Trend unserer Familienge-
richte verallgemeinern darf26 und der an sich auch gar nicht widerspro-
chen werden soll, gewinnen natürlich alle vorläufigen Regelungen des
Sorgerechts ihren besonderen Stellenwert. Die Familiengerichte können
nicht nachdrücklich genug immer wieder darauf hingewiesen werden, im

Gesundheit, Band 133, Stuttgart 1983). Zu diesem Streit und den dabei ausgetauschten
Zahlen siehe mit weiterführenden Nachweisen neuerdings Luthin, FamRZ 1984, 115.
24 Weiterführend zu beiden Prinzipien: MK-Hinz, Ergänzung zu § 1671 Rdn.23 bis 26

und Palandt-Diederichsen, §1671 Anm.3a und 3 b; speziell zum Kontinuitätsgrundsatz


siehe M. Coester, Kindeswohl (Fn.21), S. 176 ff.
25 UK-Hinz, Ergänzung zu §1671 Rdn.26.
26 Vgl. Kropholler, JZ 1984, 165.
768 Klaus Geppert

Hinblick auf die sprichwörtlichen „vollendeten Tatsachen" (sprich: im


Hinblick auf das Gewicht des Kontinuitätsprinzips bei der späteren
endgültigen Sorgerechtsentscheidung) den Sachverhalt auch bei „nur"
vorläufiger Sorgerechtszuteilung besser aufzuklären, als dies bislang
gelegentlich zu geschehen scheint27.
b) Von diesem Kontinuitätsgrundsatz aus kann natürlich auch eine
Kindesentführung besondere Bedeutung erlangen. Man mag dies rechts-
politisch bedauern, für den verletzten Elternteil im Einzelfall sogar als
zutiefst ungerecht empfinden und auch davon sprechen, daß hier „faust-
rechtartige Elemente" ins deutsche Familienrecht eingeführt seien und
daß der ohnehin „fragwürdige Satz von der normativen Kraft des
Faktischen auf die Spitze" getrieben worden sei28. Es bleibt die fast schon
resignierende, gewiß aber doch konsequent „kindeswohl"-ausgerichtete
Feststellung, daß sich Kindesentziehung personensorgerechtlich letzt-
lich oft auszuzahlen scheint. Denn ebenso wie Eheverfehlungen nicht
mehr als taugliches Kriterium für Sorgerechtsentscheidungen anerkannt
werden29, die gleiche Ansicht scheint sich bei unseren Familiengerichten
zunehmend auch für (jedenfalls: längere Zeit zurückliegende) Kindes-
entführungen durchgesetzt zu haben. Insofern erst jüngst das OLG
Düsseldorf, freilich bezogen auf einen Fall, in dem eine (deutsche)
Mutter ihr Kind aus dem Ausland gegen den Willen des Vaters ins Inland
zurückgebracht hatte30:
„Da es allein auf das Kindeswohl ankommt, ist jedoch eine Sanktion gegen die Mutter
auf diesem Wege nicht zulässig. . . . Es kann zwar unterstellt werden, daß der Vater zur
Ausübung der elterlichen Sorge ebenfalls geeignet ist; aber gleichwohl verbietet es der
Gesichtspunkt der Risikovermeidung, ohne plausiblen Grund eine tiefgreifende Ände-
rung in den Lebensumständen des Kindes herbeizuführen."

27 Besonders problematisch erscheint mir in diesem Zusammenhang die nicht selten

anzutreffende „Großzügigkeit" der (hier: Vormundschafts-)Gerichte, einem Antrag eines


Elternteils auf Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts im Wege einstweiliger
Anordnung Folge zu leisten (vgl. §1631 Abs. 1 und Abs. 3 BGB). In den allermeisten
Fällen ist ein solcher Antrag der geplante erste Schritt im harten Kampf der Eltern um das
Personensorgerecht; mehr Sachverhaltsaufklärung als bisher erscheint hier geboten:
„audiatur et altera pars!"
28 So Schlosshauer-Selbach, FamRZ 1981, 536 (freilich bezogen auf den Fall einer
Kindesentführung aus dem Ausland zurück in die Bundesrepublik).
29 Mit weiterführenden Nachweisen dazu vor allem M. Coester, FamRZ 1977, 217 ff:

Eheverfehlungen seien allenfalls dort - mit gebotener Vorsicht! - auch bei der Sorgerechts-
entscheidung zu berücksichtigen, wo sich aus der Eheverfehlung ein Hinweis für zukünftig
(!) fehlende Eignung zur Erziehung herleiten lasse.
30 Beschluß vom 16.12.1983 - 1 WF 336/83 = FamRZ 1984, 194 (195): unter Hinweis

auf die einschlägige Grundsatzentscheidung BGHZ 78, 293 (29.10.1980 - IVb ZB 586/80)
= NJW 1981, 520 = MDR 1981, 215 = FamRZ 1981, 135.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 769

c) Auf dieser Linie liegt auch eine Entwicklung, die bei Kindesentfüh-
rung mit Auslandsberührung - meist bei Scheitern gemischt-nationaler
Ehen, indem gemeinsame minderjährige Kinder entweder vom In- ins
Ausland oder umgekehrt entführt {aktive Entführungen) oder anläßlich
eines Besuches im In- bzw. Ausland dem sorgeberechtigten Elternteil
nicht zurückgegeben werden (passive Entführungen) - zu erheblicher
praktischer Relevanz und Komplikationen vielfacher Art und im übrigen
zu besonderer rechtlicher Brisanz mit umfangreicher (international-
privatrechtlicher) Judikatur geführt hat31. So versuchen Eltern verschie-
dener Staatsangehörigkeit nicht zuletzt deshalb, mit dem Kind in den
Anwendungsbereich des eigenen Rechts zu kommen, weil sie nach aller
praktischer Erfahrung darauf bauen können, daß der Richter ein Kind
lieber dem eigenen Recht unterwirft als einem fremden. In diesem
Zusammenhang nun gewinnt das „Haager Abkommen über die Zustän-
digkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des
Schutzes von Minderjährigen" (im folgenden: MSA) vom 5.10.1961,
das für die Bundesrepublik Deutschland am 17.9.1971 in Kraft getreten
ist32 und in seinem Anwendungsbereich die allgemeinen Regeln des
internationalen Privat- und Verfahrensrechtes verdrängt33, besondere
Bedeutung. Denn nach Art. 1 MSA sind für Sorgerechts- und andere
dem Schutz des Kindes dienende Regelungen die Gerichte/Verwaltungs-
behörden desjenigen Staates zuständig, in dem der Minderjährige seinen
„gewöhnlichen Aufenthalt" hat, wobei die Gerichte nach dem sog.
Grundsatz des Gleichlaufs bei dieser Entscheidung dann ihr eigenes
Recht anzuwenden haben (Art. 2 MSA). Ein „gewöhnlicher Aufenthalt"
in diesem Sinn ist nach anerkannter Rechtsprechung dann zu bejahen,
wenn der Minderjährige eine gewisse Zeit an einem Ort verweilt und

31 Weiterführend und mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen siehe diesbezüglich

vor allem Wuppermann, „Zum Haager Minderjährigenschutzabkommen. Einige Grund-


probleme aus der Sicht der Rechtsentwicklung", in: FamRZ 1974, 414 ff (speziell zu den
Fällen der Kindesentführungen: a . a . O . S.416ff) und Siehr, „Kindesentführungen ins
Ausland", in: Amtsvormund 1977, 219ff sowie schon Siehr, „Kindesentführungen ohne
Ende - aber: II y a des juges ä Accra!" in: FamRZ 1976, 255 ff.
Speziell zur „Herausgabe eines vom nichtsorgeberechtigten Elternteil oder einem
Dritten entführten Kindes (In- und Auslandsfälle)" siehe den gleichnamigen Beitrag von
Ingeborg Christian in „Der Amtsvormund" (AV) 1983, 417-440 und 689-696.
Rechtsvergleichend siehe insbesondere die verdienstvolle Monographie von Rainer
Hüßtege, „Der Uniform Child Custody Jurisdiction Act. Rechtsvergleichende Betrach-
tungen zu internationalen Kindesentführungen". Schriftenreihe der Wiss. Gesellschaft für
Personenstandswesen und verwandte Gebiete, neue Folge Band 20, Frankfurt 1982. Zu
„neuen rechtlichen Möglichkeiten bei Kindesentführung in die USA" siehe die Redak-
tionsmitteilungen im Amtsvormund 1984, 805 ff.
32 BGBl. 1971 11/217 und 1150 ( = veröffentlicht auch in FamRZ 1972, 57 ff). Zur

Erläuterung siehe den Kommentar von Helga Oberloskamp (1983).


33 Vgl. B G H Z 60, 68 (71).
770 Klaus Geppert

sozial integriert ist; als Faustregel nimmt die Rechtsprechung an, daß
hierfür eine Dauer von sechs Monaten in der Regel ausreicht. Ein
„gewöhnlicher Aufenthalt" sei ferner dann vorhanden, wenn ein länge-
res Verweilen an einem Ort zwar noch nicht vorliegt, jedoch beabsich-
tigt ist und diese Absicht durch entsprechende Handlungen verdeutlicht
wird34.
O b diese Grundsätze auch im Fall vorangegangener Entführung
gelten, war in Literatur und Rechtsprechung lange Zeit heftig umstrit-
ten. Noch vor einigen Jahren ging die wohl überwiegende Ansicht
dahin, eine Änderung des „gewöhnlichen Aufenthaltes" in solchen
Fällen mit der Begründung abzulehnen, daß Kindesentführung und
Rechtsbruch nicht sanktioniert werden dürfen35. Seit der Entscheidung
des Bundesgerichtshofes vom 29. Oktober 198036 ist diesbezüglich frei-
lich eine deutliche Kehrtwende zu erkennen. Unter Hinweis auf Sinn
und Zweck des Haager Minderjährigen-Schutzabkommens, das „auf den
Schutz des Minderjährigen und nicht in erster Linie auf die Wahrung der
Elternrechte ausgerichtet" sei, wird jetzt auch in den Entführungsfällen
ganz überwiegend ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt' im Aufnahme-
staat dann angenommen, „wenn es zu einer sozialen Einbindung des
Minderjährigen in die Lebensverhältnisse am neuen Aufenthaltsort und
damit zu einer tatsächlichen Verlegung des Daseinsmittelpunktes
gekommen ist". Der entführende Elternteil hat es zwar nicht in der
Hand, gegen den Willen des anderen sorgeberechtigten/mitsorgeberech-
tigten Elternteils einen sofortigen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthal-
tes' zu bewirken, wohl aber nach einer Dauer von in aller Regel schon
sechs Monaten. Damit können Entführungen nach relativ kurzer Zeit
zum gerichtlich bestätigten „legal kidnapping" werden, wobei sich — mit
dieser hier ganz wertfrei zu verstehenden Feststellung sei die kleine
Bestandsaufnahme sozialer Wirklichkeit heutiger Kindesentziehung
abgeschlossen - Entführung für den entführenden Elternteil wiederum
meist „gelohnt" haben dürfte 37 .

34 Mit entsprechenden Nachweisen siehe Oberloskamp (Fn. 32), Art. 1 MSA


Rdn. 119 ff.
35 So vor allem O L G Karlsruhe, FamRZ 1976, 708 und BayObLG, FamRZ 1972, 578

(579); vgl. im Schrifttum vor allem Wuppermann, FamRZ 1972, 247 und 1974, 416 sowie
Schlosshauer-Selbach, FamRZ 1981, 536 ff. Weitere Nachweise für diese Rechtsansicht bei
B G H , FamRZ 1981, 135 (136) und bei Oberloskamp (Fn.32), Art. 1 MSA Rdn. 131.
36 IVb ZB 586/80 = B G H Z 78, 293 (Fn. 30): eben hier und bei Oberloskamp (Fn. 32),
Art. 1 MSA Rdn. 130 und 133 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Judikatur und
Schrifttum. Aus jüngster Zeit siehe insofern noch B G H ( 1 3 . 7 . 1 9 8 3 - IVb ZB 31/83)
FamRZ 1983,1008 = N J W 1 9 8 3 , 2 7 7 5 sowie O L G Düsseldorf ( 1 6 . 1 2 . 1 9 8 3 - 1 W F 336/83)
FamRZ 1984, 194.
37 Wörtlich denn auch der B G H in seiner Grundsatzentscheidung (FamRZ 1981,

135, 138): „Dem Umstand, daß die Mutter mit dem Kind gegen den Willen des (mit-)
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 771

II.
1. Beginnen wir unseren Gang durch das geltende Recht mit der Klä-
rung des geschützten Rechtsgutes, hängt davon doch der tatbestandliche
Anwendungsbereich strafbarer Kindesentziehung maßgebend ab:
Entgegen anerkanntermaßen verfehlten systematischen Standorts
wird Kindesentziehung (§235 StGB) heute38 nicht mehr als Freiheitsde-
likt, sondern als Angriff auf die sog. „muntgewalt" verstanden. Als
geschütztes Rechtsgut sieht man nicht (mehr) die Freiheit des Minder-
jährigen, sondern eben die „munt", d.h. das familienrechtliche Sorge-
recht, wie es in § 1626 B G B den Eltern bzw. in § 1705 B G B der Mutter
eines nichtehelichen Kindes, gemäß §§1773, 1793 und 1800 B G B dem
„Vormund" und nach Maßgabe der §§1909 ff B G B einem „Pfleger"
gesetzlich zusteht 39 . Die literarische Kontroverse, ob § 2 3 5 S t G B dane-
ben „auch" 40 oder sogar „mittelbar" 41 den Schutz des Minderjährigen
bezweckt, scheint mir mehr ein Streit um Worte denn in der Sache
berechtigter Gegensatz zu sein. Denn man ist sich allenthalben einig,
daß jedenfalls die Einwilligung des Minderjährigen die Tatbestandsmä-
ßigkeit der Kindesentziehung nicht beseitigen kann 42 . Ansonsten will der
Hinweis, §235 S t G B habe „auch" oder „mittelbar" den Schutz des
Minderjährigen im Auge, nichts anderes zum Ausdruck bringen, als
schon der Gesetzgeber der Sorgerechtsnovelle mit dem Verzicht auf den
Begriff ,elterliche Gewalt' und dem neuen Terminus ,elterliche Sorge*
zum Ausdruck bringen wollte - nämlich deutlich machen, daß das
elterliche Sorgerecht nicht im Interesse der Eltern und nicht um seiner

sorgeberechtigten Vaters in die Bundesrepublik verzogen ist, mußte das O L G auch in


diesem Zusammenhang keine ausschlaggebende Bedeutung zumessen. Nach deutschem
Recht war diejenige Regelung zu treffen, die dem Wohl des Kindes am besten entsprach.
Wenn daher das O L G aufgrund einer rechtsfehlerfreien Abwägung der gesamten
Umstände zu dem Ergebnis gelangte, daß das Kind am besten unter der Obhut der Mutter
verblieb, mußte es ihr die elterliche Sorge auch dann übertragen, wenn die Mutter bei der
Trennung das Kind gegen den Willen des Vaters mit sich genommen hatte."
58 Mit älteren Nachweisen und zum Diskussions- und Streitstand früherer Jahre siehe

Wolfgang Regel, „Entziehen" und „Entführen" Minderjähriger. Zur Auslegung der §§ 235,
236 StGB. Diss. jur. Münster 1975, S.7ff.
39 Siehe insofern statt vieler: Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 1, LK-Vogler, Rdn. 1, Dre-
her/Tröndle, Rdn. 2, SK-Horn, Rdn. 2, Lackner, Anm. 1 - jeweils zu § 235, Maurach/
Schroeder, Strafrecht Besonderer Teil: Teilband 1, 6. Aufl. 1977, S. 119, Blei, Strafrecht II,
12. Aufl. 1983, S. 81, Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.330, Otto,
Grundkurs Strafrecht: Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S.313 und Haft, Strafrecht
Besonderer Teil, 2. Aufl. 1985, S. 119.
40 So beispielsweise Otto, GK II (Fn.39), S.313, Blei, StR II (Fn.39), S.81 und

Kohlhaas, Unsere Jugend (UJ) 1958, 320.


41 So beispielsweise L K - Vogler, Rdn. 1 und Dreher/Tröndle, Rdn. 2 - jeweils zu § 235.
42 . . .und allenfalls für die Strafzumessung bedeutsam werden kann: vgl. schon RGSt.

24, 133 ff.


772 Klaus Geppert

selbst willen, sondern im Interesse des Minderjährigen geschützt ist.


Eben dies hat schon im Jahre 1887 das Reichsgericht gesehen, wenn es
im Hinblick auf den Zweck des §235 StGB in Band 15, 340 (343) in fast
schon klassischer Form formulierte:
„Als solcher ist der Schutz der elterlichen oder vormundschaftlichen Erziehungs- und
Aufsichtsrechte zu bezeichnen, durch deren Beeinträchtigung zugleich die Persönlich-
keit des Minderjährigen vermöge der jenen Rechten entsprechenden Pflichten gegen
denselben betroffen wird."

Geschützt ist also das elterliche/familienrechtliche Sorgerecht als sol-


ches und nicht nur die tatsächlich ausgeübte elterliche Gewalt, was
natürlich für die Frage des tatbestandlichen „Entziehungs"-Erfolges von
Bedeutung sein wird. Und da eben das Sorgerecht als solches geschützt
wird, wird sein Bestand vorausgesetzt. Das OLG Stuttgart hat demnach
zu Recht den Tatbestand des § 235 StGB in einem Fall verneint, wo ein
Vater durch falsche Angaben vor dem Vormundschaftsgericht erreicht
hatte, daß seiner geschiedenen Ehefrau das Sorgerecht über ein gemein-
sames Kind gerichtlich entzogen wurde 43 . Wer diese Entscheidung mit
dem Hinweis kritisiert, vom Gesetzeszweck her müßten gerade solche
Fälle in den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB gezogen
werden 44 , verkennt, daß es bei dieser Strafvorschrift nicht um die
Interessen der Personensorgeberechtigten um ihrer selbst willen, son-
dern um der Erziehungsfürsorge für das Kind willen geht. §235 StGB
will nicht die Usurpation eines personensorgerechtlichen Herrschafts-
verhältnisses pönalisieren, sondern im Interesse des minderjährigen Kin-
des ein Auseinanderfallen von Sorg erecht und Sorgepflicht verhindern 45 .
2. Auf diesem Hintergrund läßt sich nun weiter klären, wer als mögli-
cher Täter strafbarer Kindesentziehung in Betracht kommt und wer zum
Kreis möglicher Opfer gehören kann:
a) Die Frage nach dem Kreis tauglicher Täter ist leicht zu beantworten -
nämlich: grundsätzlich jeder außer dem Minderjährigen selbst und damit
prinzipiell auch Eltern gegen den anderen Elternteil 46 . Der Minderjäh-
rige selbst kann, wie schon aus dem Wortlaut des §235 StGB folgt,
selbstverständlich weder Täter noch, da die Vorschrift auch seinem
(eines Minderjährigen!) Schutz dient, Teilnehmer sein47. Damit aber ist

43 NJW 1968, 1341 (1342). Dazu weitestgehende Zustimmung in der Literatur: vgl.

L K - V o g l e r , Rdn. 9, Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 8, Dreber/Tröndle, Rdn. 7 und Lackner,


Anm.3 - je zu §235 StGB.
44 So Otto, GK II (Fn. 39), S.314 und SK-Horn, §235 Rdn. 2.
45 So LK -Vogler, §235 Rdn. 9: unter Hinweis auf die überzeugenden Ausführungen
von W.Regel, Diss. Münster (Fn.38), S.80ff.
46 Siehe insoweit schon die Nachweise in Fn. 3.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 773

auch ein Dritter - Außenstehender oder im Einzelfall auch ein Elternteil


gegenüber dem anderen - straflos, wenn er einem Minderjährigen bei der
Se/^stentziehung Hilfe leistet48. Nachdem das Reichsgericht die Frage,
wann in diesem Sinn von einer Se/&5ientziehung gesprochen werden
dürfe, auf der Basis der damals herrschenden subjektiven Theorie schon
früh (RGSt. 18, 273 ff) nach dem Täterwillen beurteilt hat, wird es nach
heutigen Abgrenzungskriterien für die Strafbarkeit des Dritten in diesem
Punkt darauf ankommen, ob sein Tatbeitrag die täterschaftlichen Vor-
aussetzungen des §235 StGB erfüllt oder ob nicht in Wahrheit der
Minderjährige selbst den „animus auctoris" hat oder die „Zentralfigur"
ist, von der die Initiative zur Tat ausgeht45. Mit Hilfe dieses - soweit
ersichtlich - allenthalben anerkannten Lösungsansatzes lassen sich denn
offenbar meist die uns beschäftigenden Problemfälle lösen, sofern ein
von den Eltern umkämpftes minderjähriges Kind nur ein gewisses Alter
der Reife erreicht hat und der Wunsch zum Wechsel von einem zum
anderen Elternteil dominierend vom Kind selbst ausgeht. Jedenfalls
werden aus der Praxis diesbezüglich keine besonderen Schwierigkeiten
geschildert; die Praxis scheint - sicherlich insoweit nicht zuletzt dank
der Hilfe des § 1671 Abs. 3 Satz 2 BGB 5 0 - in diesem Bereich auch ohne
gesetzlich festgeschriebene Schutzaltersgrenze einigermaßen zurechtzu-
kommen.
b) Nach alledem kann - daran ist de lege lata kein Zweifel möglich -
Täter einer strafbaren Kindesentziehung (§235 StGB) grundsätzlich
auch ein Sorgeberechtigter gegenüber einem mitsorgeberechtigten ande-
ren Elternteil sein. Die in §196 Abs. 1 des StGB-Entwurfes von 1962
vorgesehene Tatbestandseinschränkung „wer . . . ohne selbst zur Perso-

47 Je zu § 2 3 5 StGB L K - Vogler R d n . 2 7 , Schönke/Schröder/Eser Rdn. 14, SK-Horn


Rdn. 10 und Dreher/Tröndle Rdn. 2; so jedenfalls auch im Ergebnis Maurach/Schroeder,
B T 2, S.90.
48 Siehe mit weiteren Nachweisen E. Schwarz, Entführungsdelikte (Fn. 6), S. 152 ff und
Regel, Diss. Münster ( F n . 3 8 ) , S. 109ff; vgl. auch Otto, Festschrift für Richard Lange
(1976), S. 197 (210 ff).
- In § 86 J W G (Vereitelung der Fürsorgeerziehung/Freiwilligen Erziehungshilfe)
begegnet uns auch eine F o r m strafbarer Teilnahme an Selbstentziehung. § 86 J W i j dient
freilich nicht dem Schutz der Muntgewalt ( § 2 3 5 StGB hätte gesetzeskonkurrierenden
Vorrang), sondern der Wirksamkeit öffentlicher Fürsorgeerziehung: vgl. BGH, NJW
1981, 2015.
49 Vgl. L K - V o g l e r , § 2 3 5 Rdn. 28.

50 Nach dieser durch die Sorgerechtsnovelle 1979 neu eingefügten Vorschrift gewinnt

der Kindeswille dann besondere Bedeutung, wenn das über 14jährige Kind einen vom
elterlichen (gemeinsamen) Vorschlag abweichenden Vorschlag macht. Siehe M K - H i n z ,
Ergänzung zu § 1 6 7 1 B G B Rdn. 54 ff.
774 Klaus Geppert

nensorge berechtigt zu sein"51 hat als negatives Tatbestandsmerkmal


gerade keinen Eingang in die Neufassung des §235 StGB gefunden52.
Wohl aber muß, um nunmehr vom möglichen Opfer strafbarer Kindes-
entziehung zu reden, dieses Opfer notwendig Inhaber bzw. Mitinhaber
des elterlichen oder des entsprechenden sonstigen familienrechtlichen
Sorgerechtes sein. Entscheidend ist dabei die formelle Wirksamkeit des
(vollen) Personensorgerechts, mag dieses endgültiger oder nur vorläufi-
ger Natur sein. Stellt man hinsichtlich des geschützten Rechtsgutes auf
das familienrechtliche Personensorgerecht ab, wie es gesetzlich in den
§§1626 ff B G B den „Eltern", in den §§1754 Abs. 1, 1626 ff B G B den
Adoptiveltern53, in §§ 1705,1626 ff B G B der Mutter eines nichtehelichen
Kindes, nach Maßgabe der §§1773, 1793, 1800, 1631 ff B G B dem
„Vormund" und gemäß §§1909 ff, 1666 B G B schließlich einem „Pfle-
ger" zusteht bzw. zugesprochen werden kann, so war es nur konse-
quent, daß das OLG DüsseIdorf Pflegeeltern nur dann in den tatbestand-
lichen Schutzbereich des §235 StGB gezogen hat, wenn diesen z . B .
gemäß § 1666 B G B auch formal das Personensorgerecht übertragen
worden war54. Diese Entscheidung hat denn auch in der Literatur -
soweit ersichtlich - allenthalben nur Zustimmung gefunden55, zumal
dadurch jedenfalls bei Eingriffen durch Außenstehende in aller Regel
auch keine Strafbarkeitslücken entstehen; denn im Entziehen eines
Kindes aus dem tatsächlichen Macht- und Fürsorgebereich dieser Perso-
nen wird zugleich meist auch ein Eingriff in die Rechtsstellung des/der
formal Personensorgeberechtigten liegen56. Auf der gleichen Linie tatbe-
standlicher Einschränkung liegt im übrigen auch das OLG Hamm",

51 Mit Begründung a. a. O. S. 350. Die gleiche tatbestandliche Einschränkung sah

insoweit auch §131 Abs. 1 Alternativ-Entwurf eines StGB: Besonderer Teil, Straftaten
gegen die Person / erster Halbband (1970) vor.
52 Ausführlich und mit entsprechenden Nachweisen dazu Schwarz, Entführungsdelikte

(Fn.6), S. 150 ff; vgl. auch Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 180 ff.
53 Nach §1755 Abs. 1 Satz 1 BGB erlischt für die abgebenden Eltern das rechtliche

Verwandtschaftsverhältnis - mit der Folge, daß die abgebenden Eltern auch den Schutz des
§ 2 3 5 StGB verlieren: vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, § 2 3 5 Rdn. 13.
54 Urt. v. 2 9 . 1 0 . 1 9 8 0 - 2 Ss 393/80 = J R 1981, 386 (mit Anm. Bottke a . a . O . S.387ff)

= NStZ 1981, 103.


55 Vgl. vor allem Bottke, J R 1981, 387 ff und denselben, Strafrechtlose Pflegekinder? -
§ 2 3 5 StGB und seine Grenzen; in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt
(ZblJugR) 1981, 426ff. Siehe ferner (u.a.) Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 13, LK-Vogler,
Rdn. 14, Lackner, Anm. 2, Dreher/Tröndle, Rdn. 5 und SK-Horn, Rdn. 7 - jeweils zu
§ 2 3 5 StGB.
56 So ausdrücklich auch B G H (23.4.1963 - 1 StR 90/63), N J W 1963, 1412 (1413) und

O L G Düsseldorf, J R 1981, 386 (387); vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, Rdn. 13 und LK-
Vogler, Rdn. 8 und 17 - je zu § 2 3 5 StGB und mit weiteren Nachweisen.
57 Beschl. v. 2 8 . 6 . 1 9 8 2 - 1 Ws 221/82 = MDR 1982, 1040 = Amtsvormund 1982, 926

= J R 1983, 513 (mit Anm. Oehler S. 514).


Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 775

wenn es erst jüngst - und zwar sehr zu Recht - ausdrücklich darauf


hinweist, daß strafbare Kindesentziehung tatbestandlich nur dann vor-
liegt, wenn der betroffene Elternteil Inhaber des Personensorgerechts
ist.
Damit aber schlechterdings unvereinbar scheint mir eine Rechtsan-
sicht zu sein, wie sie - soweit ersichtlich: mit einer einzigen Ausnahme58
- in Rechtsprechung und Literatur weitestgehend übereinstimmend
vertreten wird und derzufolge der Inhaber eines elterlichen Besuchs- und
Verkehrsrechts auch dann in den tatbestandlichen Schutzbereich des
§ 235 StGB fällt, wenn dieser Elternteil nicht (mehr) personensorgebe-
rechtigt ist. So jedenfalls hat das Reichsgericht zum damaligen Besuchs-
und Verkehrsrecht nach Maßgabe von §§ 1636,1635 BGB a. F. entschie-
den und in der einschlägigen Entscheidung RGSt. 66, 254 (255) zur
Begründung dafür ausgeführt, das Besuchs- und Verkehrsrecht des
schuldig geschiedenen Ehegatten sei für diesen trotz des Verlustes des
Personensorgerechts „kein bloßer Ausfluß der Blutsverwandtschaft,
sondern... in der elterlichen Gewalt begründet". Diese Ansicht wurde
mit gleicher Begründung durch eine Entscheidung des Bundesgerichts-
hofes aus dem Jahre 1957 und zwischenzeitlich durch weitere oberge-
richtliche Entscheidungen bekräftigt59, und eben diese Ansicht hat im
strafrechtlichen Schrifttum offenbar ebenso breite Zustimmung gefun-
den wie in der Familienrechtsliteratur60. Gleichwohl, diese Rechtsansicht

58 Siehe insofern Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 3. Aufl. 1980, Fn. 6 auf
S. 828. Freilich hat Gernhuber nicht recht, wenn er a. a. O. im nächsten Satz bemerkt, die
für die Gegenansicht in Anspruch genommene Entscheidung BGH NJW 1957, 1642
( = BGHSt. 10, 376) betreffe einen „erziehungsberechtigten Elternteil". Das stimmt nicht;
die genannte Entscheidung betrifft exakt den uns beschäftigenden Fall, daß Opfer ein Vater
ist, dem nur das Besuchsrecht (und nicht mehr das Personensorgerecht) zusteht.
Unklar, jedenfalls ohne überzeugende Begründung insoweit Maurach/Schroeder, B T 2,
S. 89: „Jedoch kann die bloße Vorenthaltung des persönlichen Verkehrs zwischen dem
Kinde und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil nicht nach §235 StGB beurteilt werden;
anders bei ,Vereitelung', d. h. bei positiver Entziehung des bereits eingeräumten Verkehrs
(RGSt. 66, 254; BGHSt. 10, 376)."
59 BGHSt. 10, 376 = NJW 1957, 1642. Aus neuerer Judikatur ferner O L G Bremen, J R

1961, 107 und O L G Hamm, MDR 1982, 1040.


60 Aus dem strafrechtlichen Schrifttum siehe zustimmend u.a. LK-Vogler Rdn. 1 und
14, SK-Horn Rdn. 5, Dreher/Tröndle Rdn. 3; Lackner Anm.2 - jeweils zu §235 StGB;
siehe ferner Blei, Strafrecht II (Fn. 39), S. 83, Bockelmann, Strafrecht Besonderer Teil/2
(1977), S. 94, Wessels, Strafrecht Besonderer Teil/1 (9. Aufl. 1985), S. 89, Welzel, Strafrecht
(Fn. 39), S. 330 und recht ausführlich, teilweise mit vorsichtiger Skepsis, schließlich Regel,
Diss. Münster (Fn.38), S. 28 ff.
Im zivilrechtlichen Schrifttum findet BGHSt. 10, 376ff Zustimmung u.a. bei Erman-
Ronke Rdn. 5, Soergel-Lange, BGB (11. Aufl. 1981), Rdn. 5 und bei Staudinger-Schwoe-
rer, B G B (10./11. Aufl. 1966), R d n . 8 f f - jeweils zu §1634 BGB; siehe insoweit auch
Dolle, Familienrecht Band II (1965), S.320.
776 Klaus Geppert

läßt sich nicht zuletzt für die „Befugnis zum persönlichen Umgang mit
dem Kind", wie sie § 1634 Abs. 1 Satz 1 B G B n. F. auch dem Elternteil
zugesteht, „dem die Personensorge nicht zusteht" (!), weder mit der
Überlegung, dieses Recht sei Ausfluß oder jedenfalls Restbestandteil der
Personensorge61, noch dadurch halten, daß man darauf abstellt, das
Sorgerecht umfasse auch die Befugnis zum persönlichen Verkehr, also
sei auch diese Befugnis allein als quasi 7e*7personensorgerecht durch
§235 StGB mitgeschützt62. Die Ansicht läßt sich auch nicht mit den
Überlegungen stützen, wie wir sie noch in BGHSt. 10, 376 (378) finden
können. Dort nämlich hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, auch das
Besuchs- und Verkehrsrecht des «zcÄfsorgeberechtigten Elternteils ent-
halte, eben weil die Befugnis zum persönlichen Verkehr aus dem Sorge-
recht folge, ein Erziehungsrecht, und mit dem weiteren Hinweis, daß es
„gerade der Zweck des §235 StGB (sei), dieses Erziehungsrecht zu
schützen", den tatbestandlichen Schutzbereich des §235 StGB von hier
aus auch auf das bloße Besuchs- und Verkehrsrecht erstreckt.
Alles dies stimmte m. E. schon vor der Personensorge-Novelle des
Jahres 1979 nicht, und es ist vor allem und jedenfalls nach Inkrafttreten
des neuen Personensorgerechts (1. Januar 1980) schon familienrechtlich
einfach nicht (mehr) richtig. So geht der Zweck des persönlichen
Umgangsrechtes nach § 1634 B G B alter wie neuer Fassung anerkannter-
maßen nur dahin, „dem Verkehrsberechtigten zu ermöglichen, sich von
dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Ent-
wicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend
zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kinde
aufrechtzuerhalten und einer Entfremdung vorzubeugen, aber auch dem
Liebesbedürfnis beider Teile Rechnung zu tragen"63. Selbst die Autoren,
die das Recht zum persönlichen Umgang nach wie vor als Restbestand-
teil des Personensorgerechts begreifen, stellen ausdrücklich klar, daß der
verbliebene Rest an Personensorge ausschließlich der Pflege verwandt-
schaftlicher Beziehungen und gegenseitigem Liebesbedürfnis, doch kei-
nesfalls der Erziehung dient und damit weder ein Erziehungsrecht noch
eine Erziehungspflicht beinhaltet64. Im übrigen ist es heute nur noch eine
Minderheit, die auch die ,Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem
Kind' (§1634 B G B n. F.) - wie einst noch das Reichsgericht65 das

61 So vor allem RGSt. 66, 254 ff und BGHSt. 10, 376 ff.
62 In dieser Richtung wohl LK-Vog/er, § 2 3 5 Rdn. 1.
63 So wörtlich schon B G H Z 42, 364 (371). Siehe auch B G H Z 51, 219 (222), B G H N J W

1984, 1951 (1952) sowie BVerfG 31, 194 (206).


64 So nachdrücklich Gernhuber, Familienrecht, S. 830 und MK-Hinz, §1634 Rdn. 13;
vgl. auch Palandt-Diederichsen, § 1634 Anm. 1 b.
65 Siehe vor allem RGZ 153,238 (241 ff); zuvor schon RGZ 141,319 (320) und R G Z 64,

47 (49).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 777

damalige Besuchs- und Verkehrsrecht des nichtsorgeberechtigten


Elternteils - als Restbestandteil des Personensorgerechts begreift66. Man
sollte sich in diesem Zusammenhang zudem vor Augen führen, daß es
dem Reichsgericht bei Herleitung des Besuchsrechts aus der Personen-
sorge vor allem darum ging, angesichts fehlender spezialgesetzlicher
Möglichkeiten erziehungs-ungeeignete Eltern auch vom Umgang mit
dem Kind ausschließen zu können. Dieser Konstruktion bedarf es heute
nicht mehr, da §1634 BGB n. F. ausdrücklich Einschränkungen des
Rechts zum persönlichen Umgang aus Gründen des „Kindeswohles"
vorsieht67. Nach alledem wird die Befugnis des nichtsorgeberechtigten
Elternteils zum persönlichen Umgang mit dem Kind - so jedenfalls die
herrschende Meinung im Schrifttum und so vor allem die Rechtspre-
chung68 - heute überwiegend aus dem natürlichen Elternrecht abgeleitet.
Im übrigen erscheint dieser Streit um die rechtstheoretische Begründung
des Verkehrsrechtes eher müßig69 - und zwar /<zw»7ie»rechtlich vor allem
deshalb müßig, weil doch erkennbar auch jene, die das Besuchs- und
Verkehrsrecht aus dem natürlichen Recht der Eltern herleiten, den
verfassungsrechtlichen Charakter (Art. 6 Abs. 2 GG) nicht verkennen
und den Gedanken fortbestehender Elternverantwortung nicht aus dem
Auge verlieren70. Müßig ist dieser Streit letztlich auch strafrechtlich im
Hinblick auf den tatbestandlichen Anwendungsbereich des §235 StGB.
Die Darstellung dieses Streites hatte vorwiegend den Zweck zu verdeut-
lichen, (1) weshalb RGZ 153, 238 ff und zuvor schon Vorläuferentschei-

66 So vor allem Gernhuber, Familienrecht, S. 830 und MK-Hinz, § 1634 Rdn. 2 und
Ergänzung zu § 1634 Rdn. 6 - je mit weiteren Nachweisen.
67 Zu diesem (m. E. sehr erhellenden) Einwand siehe Dölle, Familienrecht II, Fn. 1 auf

S. 319.
Siehe insofern vor allem BGHZ 42, 364 (370 ff) und 51, 219 (222) sowie erst jüngst
BGH NJW 1984, 1951 (1952), hier mit weiteren Nachweisen; siehe darüber hinaus vor
allem auch BVerfG 64, 180 (187 ff).
Im familienrechtlichen Schrifttum siehe (mit weiterführenden Nachweisen) vor allem
Soergel-Lange Rdn. 3, Erman-Ronke Rdn. 3; Staudinger-Schwoerer Rdn. 4 - jeweils zu
§1634 sowie Dölle, Familienrecht II, S.319 und Beitzke, Familienrecht (24. Aufl. 1985),
S. 262.
" Ebenso halten den Streit eher für müßig Soergel-Lange Rdn. 3, Palandt-Diederichsen
Anm. 1 a und Staudinger-Schwoerer Rdn. 4 - jeweils zu §1634 BGB. Diesbezüglich
nachdrücklich gegenteiliger Ansicht Gernhuber (Familienrecht S. 828) mit der Bemerkung,
„die Qualität des Rechts bestimmt seine Dichte"; ähnlich MK-Hinz, § 1634 Rdn.2.
70 Nachdrücklich in diesem Sinn, insofern frühere Äußerungen wiederholend (vgl.

BVerfG 31, 194, 206), erst jüngst wieder BVerfG 64, 180 (187/188): „Das Umgangsrecht
des Nichtsorgeberechtigten nach § 1634 Abs. 1 BGB steht ebenso wie die elterliche Sorge
des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Beide Rechtsposi-
tionen erwachsen aus dem natürlichen Elternrecht und der damit verbundenen Elternver-
antwortung, die auch auf Seiten des nichtsorgeberechtigten Elternteils grundsätzlich
fortbesteht."
778 Klaus Geppert

dung R G Z 64, 47 (49), auf die RGSt. 66, 254 Bezug genommen hat, das
Verkehrsrecht des Nichtsorgeberechtigten aus dem Personensorgerecht
abgeleitet haben und (2) wie in Abhängigkeit dazu die beiden einschlägi-
gen Strafrechtsentscheidungen RGSt. 66, 254 und BGHSt. 10, 376, auf
die man sich heute - manchmal hat man den Eindruck: unbesehen -
stützt, zustandegekommen sind.
Sieht man in §235 StGB - wie ansonsten doch allenthalben anerkannt
und worauf neuerdings OLG Düsseldorf (JR 1981, 386) und OLG
Hamm (MDR 1982, 1040), auch hier unter Billigung des Schrifttums,
eigens hinweisen - das volle Personensorgerecht des § 1626 Abs. 1 BGB
als geschützt an, ist für das Besuchs- und Verkehrsrecht des § 1634 BGB
der Weg zu §235 StGB verbaut. Die bisher herrschende gegenteilige
Ansicht ist nicht nur unvereinbar mit dem Wortlaut des §1634 BGB,
wonach dem Inhaber der dort geregelten Umgangsbefugnis „die Perso-
nensorge" eben gerade „nicht zusteht", sondern auch nicht durch den
besonderen Zweck des § 1634 BGB zu rechtfertigen. Der Schutz des
§235 StGB gilt dem vollen Personensorgerecht und nicht etwa nur
einem Teilrecht davon, wobei es sich - das sei nochmals betont - bei dem
Besuchs- und Verkehrsrecht des § 1634 BGB ja nicht einmal um ein
Teilrecht (wenn man will: um ein quantitatives Minus), sondern um eine
völlig andere Rechtsqualität, eben: um ein qualitatives Aliud handelt. Zu
Recht betont der Familienrechtssenat des Bundesgerichtshofes immer
wieder, daß Personensorgerecht einerseits und Besuchs- und Verkehrs-
recht (§ 1634 BGB) andererseits sich gegenseitig ausschließende selbstän-
dige Rechtspositionen darstellen und das Personensorgerecht „nicht
etwa in dem Umfang (ruht), wie das Verkehrsrecht besteht" 71 .
Abschließend: Ebenso wie hier scheint auch der StGB-Entwurf von
1962 schon im Hinblick auf das geltende Recht davon ausgegangen zu
sein, daß nur das volle „Recht zur Sorge für die Person eines Minderjäh-
rigen" oder - wie in der amtlichen Begründung ebenfalls zu lesen ist72 -
das „ R e c h t . . . der Erziehungsgewalt" dem tatbestandlichen Schutz
strafbaren Muntbruches unterfällt. Sonst wäre es nicht zu verstehen, daß
nach dem Vorschlag des § 196 Abs. 1 E 1962 die dort vorgesehenen
beiden Tathandlungsmöglichkeiten („entführen" einerseits und „mit
Gewalt, D r o h u n g . . . oder List entziehen" andererseits) jeweils „dem
zur Personensorge Berechtigten" (!) gegenüber erfolgen sollten73.

71
Siehe nur B G H Z 42, 364 (372).
72
Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB): E 1962 (mit Begründung) - Bundestagsvor-
lage - ( = Bundestagsdrucksache IV/650), S. 350 f.
73
Die Amtliche Begründung (S. 350 f) hat dies - obgleich sie sonst Änderungen
gegenüber dem bisherigen Rechtszustand als solche zu bezeichnen pflegte! - hier bezeich-
nenderweise gerade nicht getan.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 779

3. Die Tathandlung strafbaren Kindesraubes (§235 StGB) besteht im


„Entziehen", wobei die Entziehung „durch List, Drohung oder Gewalt"
zu erfolgen hat. Beide Erfordernisse sollten, was zum Nachteil tatbe-
standlicher Klarheit in der allgemeinen Diskussion leider nicht immer
getan wird, deutlich auseinandergehalten werden:
a) Beginnen wir mit dem Begriff des „Entziehens"7\ durch den §235
StGB deutlich als Erfolgsdelikt charakterisiert ist. Eine „Entziehung" in
diesem Sinn liegt vor, wenn das minderjährige Kind ( = Tatobjekt) dem
Personensorgeberechtigten ( = Rechtsgutinhaber) in der Weise vorent-
halten wird, daß für diesen „die Ausübung des Elternrechts in seinem
wesentlichen Inhalt beeinträchtigt wird"75. Weil aber das Personensorge-
recht nach Maßgabe von § 1631 Abs. 1 B G B mehrere Teilrechte (Recht
zur Erziehung, zur Beaufsichtigung oder zur Aufenthaltsbestimmung)
enthält und das Sorgerecht insgesamt im Einzelfall auch durch Vereite-
lung solcher Einzelbefugnisse verletzt sein kann76, bedarf die Definition
der „Entziehung" und insbesondere des Entziehungs-£r/o/ges im Inter-
esse sinnvoller Tatbestandseinschränkung weiterer Verdeutlichung.
Betrachten wir die immer wiederkehrende Standardformel der Recht-
sprechung, derzufolge eine Entziehung des Minderjährigen dann gege-
ben ist, „wenn das Erziehungsrecht der Eltern auf eine gewisse Zeit
tatsächlich unwirksam gemacht oder doch so wesentlich beeinträchtigt
wird, daß es nicht ausgeübt werden kann"77, so erkennen wir deutlich
zwei Elemente. Wir erkennen
aa) zunächst ein „tatsächliches" Element, das vorwiegend auf eine
räumliche Dimension hinweist. Diese räumliche Dimension ist in der
Vergangenheit freilich häufig mißverstanden worden und wird offenbar
auch heute noch gelegentlich fehlverstanden:
Damit ist jedenfalls nicht - um ein mögliches Mißverständnis vorweg
auszuräumen - gemeint, daß §235 StGB neben einem Eingriff in die
elterliche Gewalt tatbestandlich zusätzlich noch die Begründung eines
neuen Abhängigkeitsverhältnisses verlangt, wie es insbesondere der
Begriff „entführen" erfordert. Diese Frage war für §235 StGB früher in
der Tat heftig umstritten78, ist aber heute - soweit ersichtlich - geklärt.
Heute besteht Ubereinstimmung dahin, daß ein solches zusätzliches

74 Weiterführend dazu monographisch W. Regel, Diss. Münster (Fn. 38).


75 So wörtlich Scbönke/Schröder/Eser, § 2 3 5 Rdn.5; ähnlich LK-Vog/er, § 2 3 5 Rdn.4.
76 Ebenso LK-Vog/er a . a . O . (unter Hinweis auf BGHSt. 1, 199, 200).

77 So (statt vieler) BGHSt. 16, 58 (61).

78 Weiterführend und mit entsprechenden Belegen W.Regel, Diss. Münster (Fn.38),


S. 75 ff.
780 Klaus Geppert

Tatbestandserfordernis bei §235 StGB zu verneinen ist79. Was zur


Begründung dafür schon das Reichsgericht in seiner frühen einschlägi-
gen Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 188880 unter minutiöser
Einbeziehung entstehungsgeschichtlichen Materials und unter Zuhilfe-
nahme aller anerkannten Auslegungsmethoden ausgeführt hat, dem ist
auch heute nichts hinzuzufügen. Es steht fest, daß „zur Anwendung des
§235 StGB nicht gefordert werden (kann), daß der Minderjährige der
Gewalt des Täters oder eines anderen Unberechtigten unterworfen
werde" (RGSt. 18, 281).
Zur Einschränkung des tatbestandlichen Anwendungsbereiches von
§235 StGB fordert die heute ganz herrschende Ansicht im Schrifttum81
für das Merkmal „entziehen" die räumliche Trennung in der Weise, daß
entweder das Kind räumlich aus dem Fürsorge- und Machtbereich des
Personensorgeberechtigten entfernt oder umgekehrt der Personensorge-
berechtigte daran gehindert wird, räumlich zu seinem Kind (zurück) zu
kommen. Ich sehe den Sinn dieses Erfordernisses mit der h. M. nicht
zuletzt darin, rein seelisch-geistige Eingriffe in die Erziehungsgewalt82
oder sonstige Eingriffe ohne diese räumliche Dimension wie z . B .
Abkappen von Telefonanschlüssen83 aus dem Anwendungsbereich kri-
mineller Kindesentziehung herauszunehmen; mit dieser tatbestandlichen
Einschränkung scheinen im übrigen auch die (wenigen) Stimmen über-
einzustimmen, die dem Erfordernis der räumlichen Trennung eher
ablehnend gegenüberstehen84. Von diesem Erfordernis räumlicher Tren-
nung aus ist es im übrigen auch unerheblich, ob das Kind direkt aus dem
tatsächlichen Macht- und Fürsorgebereich des Personensorgeberechtig-
ten entfernt wird oder nicht, sofern durch diese räumliche Trennung der
Minderjährige vom Personensorgeberechtigten (oder umgekehrt dieser

79 So ist im Anschluß an die einschlägige Grundsatzentscheidung RGSt. 18, 273 ff

schon das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung (vgl. noch RGSt. 24, 133, 136 ff und
48, 325, 326).
Im neueren Schrifttum siehe diesbezüglich u.a. Schönke/Schröder/Eser Rdn.6, LK-
Vogler Rdn. 5 und Dreher/Tröndle Rdn. 6 - je zu §235 (mit weiteren Nachweisen).
80 RGSt. 18, 273 ff.
81 Statt vieler: Schönke/Schröder/Eser Rdn. 5 und 8, SK-Horn Rdn. 4 und Lackner
Anm. 3 - je zu §235 sowie Maurach/Schroeder, BT 2, S. 89, Wessels, BT 1, S. 89, Welzel,
Strafrecht (Fn. 39), 330 und Bockelmann, BT 2, S. 95. In seiner Stellungnahme nicht ganz
klar insofern LK-Vogler, §235 Rdn. 4.
82 Vgl. Bockelmann, BT 2, S.95 und Kohlhaas UJ 1958, 324.
85 Vgl. Maurach/Schroeder, BT 2, S. 89.
84 So Dreher/Tröndle, §235 Rdn.6 und vor allem W.Regel, Diss. Münster (Fn.38),
S. 67 ff.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 781

vom Kind) nur in der Weise ferngehalten wird, daß der Berechtigte seine
Personensorge auszuüben nicht mehr in der Lage ist85.

bb) Doch ist es für den uns interessierenden Täter- und Opferkreis nicht
diese räumliche Dimension, die in der praktischen Rechtsanwendung
Schwierigkeiten macht, als vielmehr jenes oben erwähnte normative
Element „wesentlicher" Beeinträchtigung der Ausübungsmöglichkeit
der Personensorge. In diesem Zusammenhang kommt natürlich dem
Element der Dauer eine wichtige Bedeutung zu; doch wäre der mit
diesem normativen Kriterium intendierte Sinn sehr verkürzt und letzt-
lich geradezu verfehlt, wollte man zur Beurteilung des „Entziehungs"-
Erfolges zu sehr auf die zeitliche Dimension oder gar auf bestimmte
Zeiteinheiten abstellen. Es kommt hinzu, daß einzelne höchstrichterli-
che Entscheidungen diesbezüglich mit außerordentlich kurzen Fristen
arbeiten - nach BGHSt. 10, 376 (378) kann schon das Vorenthalten eines
Kindes „auch nur für einige wenige Stunden" eine vollendete Kindesent-
ziehung darstellen86; BGHSt. 16, 58 ff läßt sogar zehn Minuten genügen!
- und nur zu leicht zur Verallgemeinerung drängen. Auch mir erscheint
das Merkmal ,entziehen' gelegentlich „bis zur Unkenntlichkeit erwei-
tert" 87 ; doch ist hier nicht der Platz, sich mit dieser Rechtsprechung
generell kritisch auseinanderzusetzen. Immerhin so viel: Diese nicht
immer unbedenkliche zeitliche Strenge begegnet uns meist in jenen
Fällen von Kindesentziehung mit „Sexualbezug". Hier nun kann ich
mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß nicht selten Beweisnot im
Hinblick auf den Vorsatz eines Sexualdeliktes durch dogmatische Uber-
interpretation im Bereich des objektiven Tatbestandes anderer Delikte,
die an sich einen ganz anderen kriminalphänomenologischen Hinter-
grund haben, überspielt wird88. Ist also diese starre zeitliche Fixierung
im Einzelfall schon bei jener Fallgruppe „Kindesentziehung durch
Außenstehende" immerhin oft nicht unproblematisch89, so ist weiter
fraglich, ob diese Strenge auf die Fallgruppe der Kindesentziehung im
innerfamiliären Bereich übertragen werden darf und ob sie hier über-
haupt sinnvoll ist. Ich möchte beides nachdrücklich verneinen:

85 Dazu vor allem BGHSt. 16, 58 (61 f). - Nebenbei: Dieses Tatbestandserfordernis der

quasi .räumlichen' Dimension liefert uns im übrigen ein weiteres Argument, mit O L G
Stuttgart das Erschleichen des Personensorgerechts durch Falschangaben vor Gericht nicht
in den tatbestandlichen Anwendungsbereich von § 2 3 5 StGB zu ziehen (NJW 1968, 1341).
" In der Entscheidung D R 1940, 2060 ließ auch schon das Reichsgericht diesbezüglich
„einige Stunden" und der Bundesgerichtshof in seiner unveröffentlichten Entscheidung
vom 1.12.1970 (5 StR 516/70) schon „eineinhalb Stunden" genügen.
87 So mit deutlicher Kritik Bohnert, GA 1978, 356.

88 Siehe insofern die berechtigte Kritik und überzeugende Analyse bei Hillenkamp,
Beweisnot und materielles Recht, Festschrift für Rudolf Wassermann (1985), S. 870 ff.
8 ' Deutlich skeptisch insofern auch Martin, LM Nr. 4 zu § 235.
782 Klaus Geppert

Zunächst einmal fällt auf, daß der Bundesgerichtshof in Fällen, in


denen das Kind vom Sorgeberechtigten nur relativ kurze Zeit ferngehal-
ten wurde, den Tatrichter mehrfach dazu aufforderte, „die innere Tat-
seite sorgfältig zu prüfen"90. Mit derartigen revisionsgerichtlichen Hin-
weisen können erfahrene Tatrichter sehr wohl umgehen, und man
plaudert als Richter dem Kundigen gegenüber wohl kaum aus der
Schule, wenn man mitteilt, daß der neue Tatrichter als Ergebnis der
neuen Beweisaufnahme erfahrungsgemäß sehr häufig keinen einschlägi-
gen Kindesentziehungswrsiiiz mehr feststellen kann. Wenn aber solche
Aufforderung um besonders sorgfältige Feststellung der inneren Tatseite
dem Tatrichter - übrigens: auch dem Angeklagten, der die revisionsge-
richtliche Urteilsbegründung spätestens mit Hilfe seines Verteidigers
richtig zu deuten in der Lage sein wird! - nicht nur die gewissermaßen
„Goldene Brücke" zum Freispruch bauen will, muß man sich fragen,
wie eigentlich nach vielzitierter ,Parallelwertung in der Laiensphäre' ein
typischer Kindesentziehungsfors^iz aussehen muß. Hat man freilich
diesen typischen Kindesentziehungsvorsatz gefunden, hat man doch
wohl zugleich den Ansatz entdeckt, mit dessen Hilfe schon der objektive
Tatbestand strafbarer Kindesentziehung sinnvoll beschränkt werden
kann. So ist es natürlich im Verhältnis von Eltern untereinander schlicht
sinnlos und kein vernünftiger Mensch wird dafür plädieren, Meinungs-
verschiedenheiten über die Ausübung der gemeinsamen Personensorge —
überspitzt: Vater geht mit dem Kind ins Kino oder auch allein in den
Winterurlaub, Mutter will das nachdrücklich nicht - in den tatbestandli-
chen Anwendungsbereich kriminellen Unrechts zu bringen oder von der
Zeitdauer abhängig zu machen. Es ist nach meinem Dafürhalten aber
gleichermaßen kriminalpolitisch sinnlos und die Strafandrohung des
§ 235 StGB fehlgenutzt, wenn sie dazu mißbraucht wird, z. B. den nicht-
sorgeberechtigten Vater, dem nur das Umgangsrecht des § 1634 B G B
geblieben ist, z. B. dafür zu bestrafen, daß er das ihm eingeräumte
Besuchs- und Verkehrsrecht zeitlich um einige Stunden, einen halben
oder auch ganzen Tag oder im Einzelfall sogar mehr überzogen hat91.
Blei weist völlig zu Recht darauf hin, daß die erforderliche Dauer
letztlich überhaupt nicht nach Zeiteinheiten, sondern von Fall zu Fall
nach der ratio legis zu bestimmen ist92. In der innerfamiliären Auseinan-

90 Siehe diesbezüglich (bezeichnenderweise?) zwei unveröffentlichte Entscheidungen:

U r t . v. 2 0 . 1 2 . 1 9 6 0 - 1 StR 5 5 3 / 6 0 sowie U r t . v. 1 . 1 2 . 1 9 7 0 - 5 StR 5 1 6 / 7 0 .


91 Eine ganz andere Sache ist, daß sich der Personensorgeberechtigte Elternteil gegen

derartige Rechtsverletzungen muß wehren k ö n n e n . . . doch eben mit familien- und


zivilrechtlichen Mitteln und nicht mit der harten Waffe des Kriminalstrafrechts.
92 Strafrecht II, S. 82. In diesem Sinn siehe im übrigen ausführlich und weiterführend

auch W. Regel, Diss. Münster (Fn. 38), S. 51 ff.


Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 783

dersetzung der Eltern im „Kampf um das gemeinsame Kind" liegt nun


aber nach der ratio legis kriminal-strafwürdiges Verhalten eines Eltern-
teiles gegen den anderen weniger in der Vereitelung einzelner Erzie-
hungs-, Beaufsichtigungs- oder auch Aufenthaltsbestimmungsmaßnah-
men als vielmehr nur in der familienrechtswidrigen Inanspruchnahme
der personensorgerechtlichen Stellung insgesamt. Nur wenn ein Eltern-
teil diese Stellung insgesamt und auf Dauer für sich usurpiert, ist in
diesem (!) Täter- und Opferkreis das Anwendungsfeld strafbarer Kin-
desentziehung erreicht. Das objektive Merkmal vollendeter „Entzie-
hung" läßt sich demnach - so gesehen weist der Bundesgerichtshof mit
seiner Aufforderung um besonders sorgfältige Prüfung der inneren
Tatseite sehr wohl den richtigen Weg - nur durch Rückgriff auf die
Vorstellung fassen, die den Täter bei seiner Tat subjektiv bewegt hat.
Unter diesen (strengen) Voraussetzungen ist es dann freilich unerheb-
lich, ob die Entziehung des Kindes drei Stunden, drei Tage oder gar drei
Wochen gedauert hat. Um mit einem Beispiel zu schließen93:
Will sich der (gleichgültig: ob nicht oder noch mit-sorgeberechtigte) Vater mit dem
Kind ins Ausland oder an einen unbekannten Ort im Inland absetzen, so ist die
Kindesentziehung bereits in dem Augenblick vollendet, in dem er abredewidrig die
Flug-, Bahn- oder Autoreise angetreten hat.

b) Zum andern kann man aber auch nicht sagen, daß - auch wenn auf
Negierung fremden Personensorgerechts insgesamt gerichtet - allein
schon die Nichtherausgabe eines Kindes, allein schon ein „widerrechtli-
ches Vorenthalten" des Kindes, wie es nach Maßgabe von § 1632 Abs. 1
B G B einen Herausgabeanspruch begründet, oder auch das bloße Nicht-
befolgen einer gerichtlichen Herausgabeanordnung94 schon zwingend
eine strafbare Kindesentziehung darstellt. In diesem Zusammenhang
zeigt sich nun die besondere Bedeutung der Tatmodalitäten „List, Dro-
hung oder Gewaltvon deren zusätzlicher (!) Verwirklichung der
Gesetzgeber das Vorliegen krimineller Kindesentziehung (§235 StGB)
abhängig gemacht hat. Treffend diesbezüglich schon das Reichsgericht95,
wenn es nachdrücklich der Ansicht widerspricht,
„daß schon durch die bloße Nichtbefolgung dieser gerichtlichen Anordnung... zur
Herausgabe der Kinder das Vergehen gegen §235 StGB begangen worden sei. Denn die

93 Nach O L G Hamm, Amtsvormund 1982, 926 (927).


94 Zur „Kindesherausgabevollstreckung" siehe weiterführend den gleichlautenden Bei-
trag von Joachim Schüler im Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 1981, 173
bis 185. Zur „Herausgabe eines vom nichtsorgeberechtigten Elternteil oder einem Dritten
entführten Kindes" siehe den Beitrag von Ingeborg Christian in Der Amtsvormund 1983,
417-330 und 689-696. Zu den Anerkennungsvoraussetzungen einer ausländischen Ent-
scheidung bezüglich der Kindesherausgabe siehe neuerdings auch BGH (13. 7.1983 - IVb
ZB 31/83) = NJW 1983, 2775 ff.
95 Urteil vom 27.11.1896 = RGSt. 29, 199 (200).
784 Klaus Geppert

Vereitelung des Erziehungs- oder Aufsichtsrechtes der Eltern, welches das Gesetz mit
.Entziehen' bezeichnet, ist nur strafbar, sofern sie durch List, Drohung oder Gewalt
geschieht."

Es bedeuten also erst die Entziehungsmodalitäten „List, Drohung


oder Gewalt" den Ubergang von lediglich zivilrechtlicher Pflichtwidrig-
keit zu kriminellem Unrecht. Dabei ist in Literatur und Rechtsprechung
seit langem anerkannt, daß List, Drohung oder Gewalt sowohl gegen-
über dem Kind wie gegenüber dem Sorgeberechtigten wie vor allem auch
gegenüber Dritten möglich ist, sofern der Dritte zugunsten des Minder-
jährigen nur obhutsbereit ist oder - insoweit freilich nicht unbestritten 96
- aus der Sicht des Täters jedenfalls obhutswillig erscheint97. Der Erläu-
terung bedarf vorliegend nur die Tatmodalität „List", wird doch gerade
dieses Merkmal seit RGSt. 17, 90 ff in der Praxis täglich so weit ausge-
legt, daß nach Ansicht kritischer Stimmen im Schrifttum kaum mehr ein
Fall von Kindesentziehung denkbar ist, der nicht durch „List" zustande-
gekommen wäre98.
In der Tat hat das Reichsgericht diesbezüglich mit seiner Grundsatz-
entscheidung aus dem 17. Band der amtlichen Entscheidungssammlung
entscheidende Weichen gestellt, indem „List" nicht mehr notwendig mit
„Täuschung" gleichgesetzt, sondern neben der „Anwendung eines
gewissen Grades von Klugheit, Schlauheit, Fertigkeit" schon ein „geflis-
sentliches Verbergen der Absicht oder der zur Erreichung der Absicht
gebrauchten Mittel" für ausreichend angesehen wurde - wichtig: „ohne
daß es darauf ankommt, ob bei dem Uberlisteten irrige Vorstellungen
wirksam waren oder doch nach dem Willen des Täters wirksam werden
sollten"99. Auch wenn im Schrifttum die Kritik an diesem weiten
Lösungsansatz zunimmt, halte ich es mit dem Reichsgericht und inso-
weit auch mit dem Bundesgerichtshof nicht zuletzt vom Ergebnis her
(und mit dem Wortlaut des Gesetzes noch durchaus vereinbar!) für
sinnvoll, auf das Mehr einer ,Täuschung' (im Sinn der erfolgreichen
Herbeiführung einer konkreten Fehlvorstellung) zu verzichten und
stattdessen schon ,List' (im Sinne listigen Vorgehens, d. h. „planmäßiger
Ausschaltung der Beobachtungsmöglichkeit einer anderen Person"100)
genügen zu lassen. Andernfalls würden praktisch besonders wichtige
Fälle wie beispielsweise jene, bei denen ein Elternteil mit dem Kind,

%
Siehe diesbezüglich SK-Horn, §235 R d n . 9 und Bohnert, G A 1978, 362 f.
97
Siehe insofern - je zu § 235 und mit weiteren Nachweisen - statt vieler: Schönke/
Schröder/Eser Rdn. 12, LK-Vogler Rdn. 12 und Dreher/Tröndle Rdn. 7.
98
Siehe hierzu die kritische Abrechnung durch Bohnert in G A 1978, 353 ff; deutliche
Kritik auch bei SK-Horn, §235 Rdn.9.
99
RGSt. 17, 90 (93): seither in ständiger Rechtsprechung, so auch zuletzt BGHSt. 16,
58 (62) und B G H , M D R 1962, 750 (751).
100
O L G Hamburg HESt. 2, 300 (301).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 785

nachdem dieses hinter dem Rücken des anderen Elternteils in der Schule
/ im Kindergarten abgemeldet wurde und nachdem klammheimlich die
Koffer gepackt wurden, ebenso heimlich die Wohnung verläßt, aus dem
Tatbestand des §235 StGB herausfallen. Freilich gewinnt man bei der
Lektüre einschlägiger Entscheidungen gelegentlich den Eindruck, als
würde die Rechtsprechung bezüglich der Annahme von ,Uberlisten' des
kriminalpolitisch noch Sinnvollen hin und wieder doch zu viel tun101.
Damit meine ich - um dies klarzustellen - aber nicht jene Judika-
tur102, wie sie im Schrifttum weitgehend gebilligt wird103 und derzufolge
strafbare Kindesentziehung im Einzelfall auch durch Unterlassen, näm-
lich durch Verschweigen des Aufenthaltsortes des Kindes möglich ist.
Diesbezüglich sind freilich zwei Dinge streng auseinanderzuhalten, was
in den einschlägigen Entscheidungen häufig nicht getan und was auch in
manchen literarischen Äußerungen vernachlässigt wird. Die Frage nach
der Garantenpflicht im Hinblick auf die Abwendung des tatbestandli-
chen Erfolges ist nämlich strikt zu trennen von der völlig andersgearte-
ten Frage nach spezifisch „listigem" Vorgehen104. Wie bei jedem erfolgs-
bezogenen Delikt geht auch beim Erfolgsdelikt des § 235 StGB die erste
Frage dahin, ob jemand nach den anerkannten Regeln des unechten
Unterlassungsdeliktes als Garant für den Bestand des in §235 StGB
geschützten Rechtsgutes in Frage kommt. Eine solche Garantenpflicht -
sei es zur Abwendung eines erst drohenden „Entziehungs"-Erfolges
oder aber zur Aufhebung einer bereits eingetretenen räumlichen (!)
Entfernung - wird meist nur bei (sozialinadäquater, rechtswidriger!)
Ingerenz oder auf Grund gesetzlicher Vorschriften wie beispielsweise
der Herausgabeverpflichtung nach Maßgabe von § 1632 BGB bejaht
werden können105.

101 Zweifelhaft insofern OLG Hamm, JMB1NRW 1966, 236 (237). Andererseits halte

ich es aber auch für einen Fehlschluß, aus der Ablehnung eines „Täuschungs"-Erfordernis-
ses nun bei ganz plumpen und leicht durchschaubaren Lügen auch „List" verneinen zu
wollen; so aber RG JW 1924, 305 und OLG Bremen JR 1961, 107 (108). Auch Bohnert als
engagiertester Verfechter eines engeren „List"-Begriffes verlangt durchaus keine erfolgrei-
che Täuschung (GA 1978, 364).
102 Siehe schon RGSt. 24, 133, RGSt. 37, 162 (165) und RG HRR 1942 Nr. 131 sowie

BGH MDR 1968, 728 sowie BGH (unveröffentlicht: 14.7.1981 - 1 StR 385/81). Vgl. auch
OLG Hamburg HESt. 2, 300 (301) und OLG Bremen JR 1961, 107 (108).
103 Siehe Dreher/Tröndle Rdn. 6, Schönke/Schröder/Eser Rdn.5, Lackner Anm. 3,
Kohlrausch-Lange, StGB (43. Aufl. 1961) Anm. IV - je zu §235 und Kohlhaas UJ 1958,
324; ausführlich dazu auch W.Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 131 ff. Deutlich restriktiv
hingegen und eher ablehnend insofern SK-Horn Rdn. 9, LK- Vogler Rdn. 11 und Bohnert,
GA 1978, 359 f.
104 Methodisch korrekt insoweit vor allem SK-Horn Rdn. 12 ff und LK-Vogler

Rdn. 10 f, jeweils zu §235.


105 Ausführlich dazu W. Regel, Diss. Münster (Fn.38), S. 131 ff.
786 Klaus Geppert

Dogmatisch heikler ist die Frage nach der „Gleichwertigkeit" (§13


Abs. 1 StGB) einer solchen Unterlassung, wobei diese Frage vorliegend
auf das Problem der Modalitätenäquivalenz spezifisch „listigen" Vorge-
hens hinausläuft. N u n ist ein „listiges" Unterlassen eigentlich kaum
vorstellbar, und wenn in diesem Zusammenhang (über das reine Ver-
schweigen der verlangten Auskunft hinausgehende) zusätzlich unwahre
Angaben verlangt werden 106 , so liegt dann kein Fall von „List durch
Unterlassen", sondern in Wahrheit aktives Tun vor' 07 . Es gibt nach
meinem Dafürhalten hier nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ver-
neint in diesen Fällen der Entziehung durch Unterlassen mangels
„Gleichwertigkeit" die Möglichkeit der List schlechthin oder aber man
geht davon aus, daß „List" allemal weniger ist als „Täuschung", und
zieht von hier aus - vom Gesetzeswortlaut m. E. noch gedeckt - eine
Parallele zur ,Täuschung durch Unterlassen'. Dann ist „List" auch beim
bloßen Verschweigen des Aufenthaltsortes zu bejahen, wenn der dem
Schutz des §235 StGB verpflichtete Garant dem Sorgeberechtigten /
einem in dessen Auftrag tätigen Dritten (Polizei, Gerichtsvollzieher)
gegenüber nach allgemeinen Regeln des Zivilrechts zu entsprechender
Auskunft verpflichtet ist. Ich gebe der zweiten Ansicht den Vorzug 108 -
und zwar nicht zuletzt vom Ergebnis her und deshalb, weil ich für die
Strafwürdigkeit keinen maßgeblichen Unterschied zu sehen vermag, ob
ein Garant auf ausdrücklichen Befragen eines Auskunftsberechtigten
nun antwortet „ich sage nichts" oder lügt „ich kenne den Aufenthalt
nicht"...
4. Eine Bemerkung abschließend zur Rechtswidrigkeit:
Man kann in einschlägigen Strafverfahren immer wieder die Einlas-
sung (und denselben Gedanken auch häufig im juristischen Beratungsge-
spräch mit potentiellen Tätern als deren Frage) hören, man habe in einer
existentiellen Ausnahmesituation zugunsten des durch den sorgeberech-
tigten/mitsorgeberechtigten Elternteil an Leib und Seele gefährdeten
Kindes eingreifen müssen und sei folglich durch N o t w e h r (§ 32 StGB),
durch Notstand (§34 StGB) oder doch jedenfalls durch Selbsthilfe
(§§229ff BGB) oder dergleichen g e d e c k t . . .
Demgegenüber mit unmißverständlicher Klarheit 109 :
Dies kann natürlich einmal so sein; selbstverständlich ist nach allge-
meinen Regeln strafrechtlicher Rechtfertigungslehre im Einzelfall eine

104
Siehe insofern sowohl RGSt. 37, 162 (166) wie B G H , M D R 1968, 728.
107
So richtig gesehen von SK-Horn, §235 Rdn. 13.
108
Expressis verbis anderer Ansicht insofern aber LK-Vogler, §235 Rdn. 11 (unter
Hinweis auf O L G Bremen, JR 1961, 107).
109
Siehe in diesem Sinn schon das Reichsgericht (Recht 14, 1792 und 16, 1653); vgl.
auch LK-Vogler Rdn. 24 und Dreher/Tröndle Rdn. 8 - je zu §235.
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 787

kurzfristige Eilmaßnahme rechtens, wenn die Gefahr für das Kind


„nicht anders abwendbar" ist. Darum wird es den Betroffenen in diesem
Zusammenhang freilich meist nicht gehen. Es geht ihm doch nicht um
eine nur kurzfristig wirkende Notmaßnahme, sondern in Wahrheit
darum, eine für falsch und dem Wohl des Kindes nicht nur abträglich,
sondern vielleicht sogar extrem schädlich gehaltene Entscheidung des
Familiengerichtes nachträglich zu „korrigieren" oder ihr zuvorkommen
zu wollen. Eben dies ist schlicht nicht rechtens oder wäre nicht rechtens
und ist - insofern gewiß auch im Interesse des Kindes - durch §235
StGB aus guten Gründen pönalisiert. Die Betroffenen müssen den zur
Konfliktregelung gesetzlich gewiesenen Weg zu den Familiengerichten
beschreiten und sind, wenn sie deren justizförmig zustandegekommene
Entscheidung nicht für richtig halten, auf die gesetzlich vorgesehenen
Rechtsmittel und Rechtbehelfe angewiesen. „Selbstjustiz", die immer
nur weitere Selbstjustiz nach sich zieht, kann auch hier nicht rechtens
sein!

III.
Mit Blick auf die soziale Wirklichkeit heutigen „Muntbruchs" und auf
dem Hintergrund des geltenden Rechts, wie es für § 235 StGB in seinen
für unser Thema zentralen Stellen im Vorangegangenen erläutert wurde,
erscheint mir nach alledem de lege ferenda ein Eingreifen des Gesetzge-
bers im Hinblick auf den uns beschäftigenden Täter- und Opferkreis110
nicht zwingend geboten. Abschließend in aller Kürze:
(1) Der Ruf nach dem Gesetzgeber unterbleibt - das sei vorweg noch-
mals betont - nur auf der Basis der restriktiven Auslegung, wie ich sie im
Vorangegangenen für Kindesentziehungen durch Mitsorgeberechtigte /
ehemals Sorgeberechtigte gegenüber dem sorgeberechtigten Elternteil
insbesondere für das Merkmal „entziehen" schon de lege lata vertreten
und begründet habe. Rein innerfamiliärer Streit um die Ausübung der
Personensorge fällt schon nach geltendem Recht nicht in den tatbestand-
lichen Schutzbereich des §235 StGB.
(2) Das Besuchs- und Verkehrsrecht des nicht-sorgeberechtigten Eltern-
teils fällt nach hier vertretener Ansicht ebenfalls bereits de lege lata nicht

110 Insoweit eher am Rande: Eindeutig änderungsbedürftig ist §235 StGB allenfalls im

Hinblick auf den häufig zitierten reinen „Diebstahl" eines Säuglings ( = nach geltendem
§235 in der Tat nicht strafbar, sofern keine „List" gegenüber einer Aufsichtsperson
konstruiert werden kann). Für diesen Fall - der freilich mehr akademischer Schulfall (vgl.
denn auch Bohnert, JuS 1977, 746: „Der entwendete Säugling") denn reale Verbrechens-
wirklichkeit ist - hat der StGB-Entwurf 1962 in § 196 Abs. 1 eine weitere Tatmodalität
(„entführt") vorgesehen (vgl. auch Amtliche Begründung S.351).
788 Klaus Geppert

in den tatbestandlichen Schutzbereich strafbarer Kindesentziehung


(§235 StGB). Auch die „Befugnis zum persönlichen Umgang mit dem
Kind" nach Maßgabe des neuen § 1634 B G B wird nach mancher Erfah-
rung (leider) oft dazu benutzt, nach wie nicht aufgearbeitete eheliche/
partnerschaftliche Konflikte ohne Rücksicht auf das Wohl des Kindes
fortzusetzen 111 . Weil Sinn und Zweck des §235 StGB aber nicht die
Pönalisierung innerfamiliärer bzw. nach-ehelicher Streitigkeiten ist,
empfiehlt sich eine Einbeziehung dieses Rechts in den Schutzbereich des
§235 S t G B nicht 112 .
(3) Schutz gerade durch das Strafrecht ist jedoch - und in diesem Punkt
ist meine anfängliche vorsichtige Skepsis im Laufe der Beschäftigung mit
diesem Thema nachdrücklich gewichen! — auch in diesem innerfamiliä-
ren Bereich bei (noch) bestehender Ehe und bei (noch) fortbestehender
Mit-Personensorgeberechtigung sinnvoll, ja dringend geboten. Kindes-
entführungen sind auch hier keine Seltenheit, und wir haben gesehen,
daß sich „legal kidnapping" in diesem Bereich familien- und internatio-
nalprivatrechtlich aus unterschiedlichsten Gründen lohnt. Bei solchem
Befund kann ich insbesondere bei Kindesentführungen mit Auslandsbe-
zug die Einschätzung nicht teilen, daß innerhalb (noch) mit-sorgebe-
rechtigter Eltern „ein Eingreifen mit strafrechtlichen Mitteln nicht gebo-
ten" sei 1 "; und ich kann auch nicht der Wertung beipflichten, daß diese
Fälle „nicht vor den Strafrichter" gehören, sondern „der familienrechtli-
chen Auseinandersetzung vorbehalten bleiben" sollen114. Nach meinem
Dafürhalten hat der Gesetzgeber des 1. Strafrechtsreformgesetzes richtig
daran getan, § 196 Abs. 1 E 1962 mit seiner im Schrifttum damals
weitgehend gebilligten115 täterschaftlichen Einschränkung „ w e r . . . ohne
selbst zur Personensorge berechtigt zu sein" 116 nicht Gesetz werden zu

111 Von dieser Erfahrung geht auch BVerfG 64, 180 (189) aus; vgl. auch Diederichsen,
N J W 1980, 9.
1,2 Damit sei der Wert und die Notwendigkeit solchen Besuchsrecht für Elternteil und

Kind keineswegs geringgeachtet, sondern diesbezüglich nur - insofern anders als beim
Personensorgerecht - die Sfra/würdigkeit einer entsprechenden Beeinträchtigung verneint.
Hier reichen eben auch andere Sanktionsmodelle.
113 So Amtliche Begründung zu §196 Abs. 1 E 1962 ( a . a . O . S.350).

114 So Horstkotte in der Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform


(Protokolle V, S.2379).
115 Siehe vor allem Bottke, J R 1981, 390, E.Schwarz, Entführungsdelikte (Fn.6),
S. 151 f und W. Regel, Diss. Münster (Fn. 38), S. 179 ff.
116 Die gleiche tatbestandliche Einschränkung findet sich im übrigen im Gesetzes-

Vorschlag des Alternativ-Entwurfes (vgl. § C 2 A E - Besonderer Teil: Sexualdelikte (1968)


sowie § 131 Abs. 1 A E - Besonderer Teil: Straftaten gegen die Person - erster Halbband
[1970]).
Zur Kindesentziehung beim „Kampf um das gemeinsame Kind" 789

lassen 1 1 7 . E n t f ü h r u n g e n - a u c h ins A u s l a n d - sind v o r b e u g e n d nur


s c h w e r z u v e r h i n d e r n . U m so g r ö ß e r e B e d e u t u n g k o m m t in der P r a x i s
allein s c h o n m i t B l i c k auf die V e r h i n d e r u n g einer erfolgreichen F l u c h t
ins A u s l a n d o d e r jedenfalls i m H i n b l i c k auf den E r f o l g v o n R ü c k f ü h -
r u n g s b e m ü h u n g e n d e n M ö g l i c h k e i t e n z u , w i e sie m i t e i n e m strafrechtli-
c h e n V e r f a h r e n eben v e r b u n d e n sind ( F a h n d u n g , F e s t n a h m e , ggf. H a f t ) .
V o n b e s o n d e r e m W e r t sind in diesem Z u s a m m e n h a n g a u c h die - wie ich
m e i n e : legitimen - taktischen C h a n c e n , die sich für d e n V e r l e t z t e n aus
d e m S t r a f a n t r a g s e r f o r d e r n i s u n d d e r M ö g l i c h k e i t ergeben, diesen bis
z u m r e c h t s k r ä f t i g e n A b s c h l u ß des V e r f a h r e n s z u r ü c k n e h m e n z u k ö n -
nen 1 1 8 . E s steht z u b e f ü r c h t e n , d a ß a u c h die v o m B u n d e s j u s t i z m i n i s t e r
a n g e k ü n d i g t e V e r b e s s e r u n g des S c h u t z e s v o r K i n d e s e n t f ü h r u n g e n ins
Ausland 1 1 9 den S c h u t z d u r c h das S t r a f r e c h t n i c h t überflüssig m a c h e n
kann.

1,7 . . . obgleich den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen ist, weshalb schließlich

diese (zuvor nicht erkennbar umstrittene) Tatbestandseinschränkung dann doch nicht die
Mehrheit im Ausschuß gefunden hat. Siehe dazu Eberh. Schwarz, Entführungsdelikte
(Fn.6), S. 150 ff.
118 Bezeichnenderweise wird auch im familienrechtlichen Schrifttum bei Entführung

eines Kindes ins Ausland „als erstes die Erstattung einer Strafanzeige wegen des Verdachts
der Kindesentziehung" empfohlen (so wörtlich Ingeborg Christian, Amtsvormund 1983,
696) und auf die Bedeutung des Strafantrages als taktischer Waffe beim Kampf um die
Rückführung eines entführten Kindes hingewiesen (vgl. DIV-Gutachten vom 21.9.1983 -
Az. J 2.124, veröffentlicht im Amtsvormund 1984, 565, 567).
Vorbereitet werden insbesondere Gesetzentwürfe zu zwei internationalen Verträ-
gen, die eine schnelle Rückschaffung entführter Kinder sicherstellen sollen. Es handelt sich
um das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von
Sorgerechtsentscheidungen und das Haager Ubereinkommen über die zivilrechtlichen
Aspekte von Kindesentführungen. Näheres dazu in „Recht. Informationen des Bundesmi-
nisters der Justiz" 1985, 68 f.
Nötigung durch Gewalt
G Ü N T H E R JAKOBS

Ein früher Aufsatz von Hilde Kaufmann beschäftigt sich mit Irrtums-
problemen bei §240 Abs. 2 StGB 1 . In diesem Absatz der Vorschrift
vermutete man seinerzeit den Sitz der Probleme des Nötigungsdelikts,
bei deren Lösung sich die Strafrechtsdogmatik zu bewähren habe. Diese
Lokalisierung ist mittlerweile passé. Die Konfusionen zur Verwerflich-
keitsklausel haben sich längst mit den - inzwischen nicht geringeren -
Konfusionen zum Gewaltbegriff zu einem Knäuel verwirrt. Die nachfol-
genden Bemühungen gelten dem Versuch, §240 Abs. 1 StGB so zu
interpretieren, daß sich eine Verlegenheitslösung nach Art des Absatzes
2 der Vorschrift erübrigt. Im Mittelpunkt steht die strafrechtsdogmati-
sche Entwicklung des Begriffs der Gewalt, die vielleicht auf ein breiteres
Interesse stößt, weil auch in der Kriminologie der Gewaltbegriff nicht
als sonderlich gesichert gilt2.

I.
1. Die Nötigung, §240 StGB , hat unterschiedliche Wurzeln4. Dieser
3

Mangel an Homogenität ist der Grund dafür, daß die Interpretation der
Gewalt Schwierigkeiten bereitet, seitdem es das Delikt einer Gewaltnöti-
gung gibt. Eine der Wurzeln ist die Entwicklung der allgemeinen
persönlichen Verhaltensfreiheit als Schutzgut, die - nach dem Vorgang
des ALR in II 20 § 1077 - um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
erfolgte5. Es handelt sich um einen strafrechtstheoretischen oder, wie zu
seiner Zeit formuliert wurde, philosophischen Ansatz6. Bei der Durch-

1 H. Vianden-Grüter, Der Irrtum über Voraussetzungen, die für § 240 II beachtlich


sind, G A 1954 S. 359 ff.
2 Kaiser, Kriminologie, 7. Aufl., 1985, S.294f, 299 f.

3 Wörtlicher Vorläufer des Tatbestands des §240 StGB a. F. ist §240 Strafgesetzbuch

für den Norddeutschen Bund; Nachweise der landesrechtlichen Vorläufer bei Hälschner,
System des Preußischen Strafrechts, 2. Theil, 1868, S. 178 Fn.4.
4 Hälschner (Fn. 3), S. 177f; Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrecht, Bd.2, hrsg.
von Th. Geßler, 1858, S.417ff; v. Liszt/Schmidt, Strafgesetzbuch, 25. Aufl., 1927, §99.
5 Grolman, Grundsätze der Kriminalrechts-Wissenschaft, 1797, §§ 230 f (zu Grolmans

Lehre siehe Schaff stein, Lange-Festschrift, 1976, S. 983 ff, 997); Tittmann, Beiträge zu der
Lehre von den Verbrechen gegen die Freiheit, insbesondere von dem Menschenraube und
der Entführung, 1806, S. 1-6.
6 Tittmann (Fn. 5), Vorrede.
792 Günther Jakobs

führung dieses Ansatzes wurde der Schutz der Verhaltensfreiheit freilich


aus zwei naheliegenden Gründen beschränkt. Der erste Grund ist die
äußerliche Unauffälligkeit des Deliktserfolgs 7 : Dieser indiziert nicht
regelmäßig einen Deliktsverdacht. Gewiß gibt es Delikte gegen die
Freiheit, bei denen dies anders ist - etwa Vergewaltigung oder Freiheits-
beraubung haben häufig verdachtsindizierende Erfolge (und sind auch
älter, als es die Nötigung ist) - , aber wenn etwa eine Person genötigt
wird, zu Hause zu bleiben oder ein Schriftstück zu unterzeichnen oder
ein ähnliches Verhalten zu vollziehen, so sind diese Erfolge per se nicht
gerade sinnenfällig deliktisch. Deshalb wurde der Schutz der allgemei-
nen Verhaltensfreiheit an sinnenfällig verdachtsindizierende Mittel
gekoppelt, nämlich an Drohung mit massivem Unrecht und an Gewalt,
die, will man sie für die damalige Zeit auf eine knappe Formel bringen,
am ehesten als vollzogener oder zumindest tätlich angekündigter Kampf
bezeichnet werden kann. Zweitens bestand (und besteht) die Gefahr, bei
einem umfassenden Schutz der Verhaltensfreiheit zu einem schlechthin
uferlosen Delikt zu gelangen: In jedem Unrecht bis hin zu jeder Ver-
tragswidrigkeit steckt Mißachtung dessen, was anderen zukommt, also
Mißachtung von rechtlich anerkannter Freiheit. Auch dieser Umstand
drängte zur Beschränkung des Freiheitsschutzes über die Angriffsmittel.
Aber die beschränkenden Mittel waren bei diesem Ansatz nicht konsti-
tutiv für das Unrecht, sondern machten es nur sichtbar und filterten
leichtere Fälle aus. Der Ansatz verleitete deshalb dazu, die Bedeutung
der Mittel nach und nach zugunsten eines umfassenderen Schutzes der
Verhaltensfreiheit zu generalisieren. Es ist leicht zu sehen, daß sich der
weite Gewaltbegriff aus dieser Wurzel herleitet.

2. Die zweite Wurzel wirkte der Tendenz zur Generalisierung der


Nötigungsmittel weit mehr als ein Jahrhundert lang entgegen und ver-
stärkte die Bindung an spezifizierte Tatmittel: Es handelt sich um das
crimen vis. Dieses crimen vis war der Mantel, in den der neue Tatbe-
stand der Nötigung schlüpfte, um sich als geltendes Recht ausgeben zu
können. Das römische Recht hatte das crimen vis mit diversen Inhalten
entwickelt, und zwar zunächst in dem Bestreben, Exzesse im Parteien-
kampf des Adels um Staatsämter zurückzudrängen. Das crimen vis
wurde dann freilich auf andere und auch nicht politische Taten erweitert,

7
Glaser, Abhandlungen aus dem Oesterreichischen Strafrecht, 1858, erkennt, daß die
Hinderung von „Launen" und „Willkür" ein forensisch nicht demonstrierbarer Erfolg ist,
weil er „fast jedem überwachenden Auge sich entzieht" (S. 169); seine Lösung, auch
deshalb müsse es um die Kränkung eines „concreten Rechts" (S. 170, passim) gehen, hilft
freilich nur vordergründig weiter; denn der durch Beeinträchtigung des- „konkreten
Rechts" entstehende Verlust besteht ja auch darin, nicht mehr mittels des Rechts nach
„Laune" und „Willkür" verfahren zu können.
Nötigung durch Gewalt 793

insbesondere auf Störungen der öffentlichen Sicherheit und auf Fälle


unerlaubter Selbsthilfe8, blieb aber stets ein Delikt, dessen Unrecht in
der Verletzung öffentlicher Interessen bestand9; der Schutz von Verhal-
tensfreiheit war allenfalls ein Schutzreflex.
Zur Veranschaulichung: Wächter10, der maßgebliche Dogmatiker des
crimen vis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nennt als dessen
mutmaßliche Fälle nach der lex Julia de vi publica et privata11 unter
anderem: (vis publica) unzulässige Strafvollstreckung; Gewalt gegen
Gesandte; Hinderung eines Angeklagten, vor Gericht in Rom zu
erscheinen; Richternötigung; bewaffnetes Erscheinen in der Volksver-
sammlung, um Gewalt auszuüben; (vis privata) überhaupt bewaffnetes
Erscheinen an öffentlichen Orten; bewaffnet den Besitz eines Grund-
stücks an sich Reißen; Freiheitsberaubung; Bewirken von Aufruhr;
Störung von Begräbnissen (wohl auch der Totenruhe); Aufnehmen oder
Verbergen von Verbannten; Teile der Erpressung; Raufhandel; Selbst-
hilfe an nicht verpfändeten Sachen. Im gemeinen Recht wurde allerdings
- insbesondere von Wächter - versucht, aus den diversen Varianten des
crimen vis auch das Unrecht eines Delikts gegen die Person zu destillie-
ren12. Dieses Unternehmen konnte freilich nur erfolgreich sein, weil man
das crimen vis mit einem neuzeitlichen Vorverständnis interpretierte,
nämlich mit der Intention, so etwas wie eine Nötigung müsse dabei
herauskommen13.
Während die Gewalt beim strafrechtstheoretischen Ansatz das Nöti-
gungsunrecht beschränkte, war sie beim crimen vis des römischen wie
auch des gemeinen Rechts Kern des Unrechts: Nicht der Verlust indivi-
dueller Verhaltensfreiheit interessierte, sondern die falsche Art und

8 Eingehend Wächter, NArch 11 S. 635 ff; den., NArch 12 S. 341 ff, 13 S.44ff, siehe
insbesondere die Kataloge NArch 13 S . 4 4 f und 209 f.
9 Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, Neudruck 1955, S. 652 ff, 655; Mayer-Maly,
Artikel vis, in: Pauly/Wissowa, Realenzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft,
2. Reihe, 17. Halbband, 1961, Sp.310ff, 332 ff; siehe auch die F n . 4 Genannten.
10 NArch 13 S. 44 ff, 209 f; siehe auch Mommsen (Fn.9), S.657f, 662 ff.
11 Der Unterschied zwischen der vis publica und der vis privata ist umstritten, jedenfalls

aber unabhängig von der Unterscheidung zwischen dem Schutz öffentlicher und privater
Interessen; so für das römische Recht Mommsen (Fn.9), S.655; Mayer-Maly (Fn.9),
Sp. 334; für das gemeine Recht Schaffstein (Fn. 5), S. 983 ff, 989 mit Nachweisen.
12 Grundlegend Wächter, NArch 11 S. 635 ff, 640, 647 und ders., NArch 12 S. 341 ff, 13

S. 1 ff, 195 ff, 226, 374 ff: Erfaßt sein soll das Bestimmen wider den Willen jdurch
„unmittelbar physische oder compulsive Gewalt gegen die Person" oder ein Vorgehen,
aufgrund dessen die „Absicht, etwaigen Widerstand durch solche persönliche Gewalt
auszuschließen, unzweifelhaft ist"; dagegen („psychischen Zwang" ausklammernd und
ansonsten das crimen vis nicht für verallgemeinerungsfähig haltend) John, Arch n. F. 1854
S. 60 ff, 71 f, 89 ff. - Zur früheren Entwicklung im gemeinen Recht eingehend Schaffstein
(Fn. 5), S. 983 ff, 985 ff, 998.
13 Siehe die Kritik an Wächter bei Köstlin (Fn.4), S.419; Hälschner (Fn.3), S. 174.
794 Günther Jakobs

Weise des Vorgehens, und zwar „falsch" nicht im Blick auf die Erforder-
nisse eines Freiheitsschutzes, sondern „falsch" für die öffentliche Sicher-
heit und Ordnung. Hälschner14 konstatierte zum gemeinen Recht:
„ . . .selbst da, wo das crimen vis sich lediglich gegen die Persönlichkeit
richtet, (erscheint) dennoch die Beschränkung der Willensfreiheit kei-
neswegs in allen Fällen als das alleinige, oder auch nur vorwiegende und
das Verbrechen besonders charakterisierende M o m e n t . . . Das wesentli-
che des crimen vis . . . bleibt die Form der Rechtsverletzung, die
Gewaltthätigkeit, während das Objekt der Rechtsverletzung unbe-
stimmt bleibt."

3. a) Gewalt, soweit sie sich vom crimen vis herleitet (das freilich auch
Ordnungsstörungen durch abstrakte Gefährdungen umfaßte), ist sicht-
bare Friedensstörung, also Kampf oder durch Taten verdeutlichte
Kampfansage. Die Auswirkungen dieses Ansatzes werden dort beson-
ders anschaulich, wo es um das Problem geht, ob zur Gewalt eine
Kraftentfaltung und eine Körperwirkung gehören. Was die Kraftentfal-
tung angeht, so hat das Reichsgericht Einsperren stets als Gewalt
behandelt, auch wenn es ohne besondere Kraft durch Schließen eines
Schlosses geschieht 15 . Hingegen soll die heimliche Eingabe eines Narko-
semittels nach dem Reichsgericht keine Gewalt sein16. Der Grund liegt in
der Art und Weise des Vorgehens: Einschließung ist wie jede Gefangen-
nahme als Kampfhandlung oder als Selbsthilfe („Privatkerker") geläufig;
aber heimliches Narkotisieren gehört jedenfalls zur Zeit des gemeinen
Rechts und der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht zu den
Tricks, die man der Kriegskunst zuordnet. Das Reichsgericht argumen-
tiert zur Frage, ob ein heimliches Narkotisieren zum Zweck einer
Sachwegnahme Raub ist, wie folgt: „Ein Kampf um die Sache soll
vermieden, nicht aber durch offene Uberwindung des Gegners durchge-
führt werden 17 ." Dabei ist „offene" Uberwindung als sichtbar unange-
messene Uberwindung zu verstehen; auch der hinterrücks und überra-
schend erfolgende Schlag ist Gewalt 18 . Heimliche Schläge sind noch
sichtbar kriegsähnlich, heimliche Gabe von Narkosemitteln hingegen
nicht.
Entsprechende Probleme zeigen sich bei der Frage, ob eine Gewalt-
wirkung notwendig Körperwirkung sein muß. Beim Einsperren hat sich

14 (Fn. 3) S. 174 f; der Sache nach unstreitig; siehe heute Schaffstein (Fn. 5), S. 983 ff,
988.
15 Schon R G 13 S. 49 ff; das war nicht stets außer Streit; Tittmann (Fn.5), S. 6 will
„bloß todte Kraft, wie z . B . bei der Gefangenhaltung", nicht hinreichen lassen.
16 R G 56 S. 87 ff.

17 (Fn. 16) S. 89.

18 Nicht stets unstreitig; Wächter, NArch 13 S. 7 sieht heimliche Tötung nicht als
Gewalt an.
Nötigung durch Gewalt 795

das Reichsgericht nie daran gestoßen, daß die Körperwirkung in denje-


nigen Fällen, in denen sich der Eingesperrte einsichtsvoll in das Schicksal
fügt, psychisch vermittelt ist: Der Eingesperrte muß nicht erst gegen
Wände und Türen wüten, um gewaltsam eingesperrt zu sein. Entspre-
chend verhält es sich beim Wegeversperren, das vom Reichsgericht als
Gewalt behandelt wird19. Anders entscheidet das Reichsgericht beim
Aussperren; dieses ist nicht so typischerweise Kampf wie das Einsperren
oder Wegeversperren, sondern ist ein zumindest ambivalentes Mittel,
typischerweise wohl eher noch ein Indiz für den Willen, friedlich zu
bleiben (wer sein Land verteidigt oder auch nur seine Wohnung schließt,
sperrt aus). Nun ist evident, daß ein unberechtigtes Aussperren das
Opfer ebenso am Gebrauch seiner Rechte hindern kann wie ein Einsper-
ren oder Wegeversperren, und natürlich wird auch der Ausgesperrte,
wenn er nicht einsichtig ist, gegen die Sperre angehen, also körperlich
mit ihr kollidieren. Trotzdem hat das Reichsgericht in seiner frühen
Rechtsprechung Aussperren nicht als Gewalt angesehen20, und zwar mit
der Begründung, der Ausgesperrte empfinde „die Gewalt" (!) nicht
„physisch", sondern sie wirke nur auf sein „Gemüt" und auf seine
„Entschließungen" - als wenn das beim Einsperren oder Wegeversper-
ren anders wäre!
b) Die Vereinigung des Schutzes vor öffentlichen Frieden störender
Gewalt durch das crimen vis mit dem Schutz von privater Verhaltens-
freiheit hat ein Delikt ergeben, bei dem das Tatmittel, die Gewalt, in
einem spannungsvollen Verhältnis zum Schutzzweck steht. Die Span-
nungen mögen kaum spürbar gewesen sein, solange der Inhalt der
Gewalt beim crimen vis noch geläufig und der Schutz von Verhaltens-
freiheit noch eine Neuheit war. Das Dilemma mußte freilich aufbrechen,
sobald der Schutz von Verhaltensfreiheit als selbstverständlich empfun-
den wurde und der Inhalt von Gewalt seine Ausrichtung am crimen vis
verloren hatte; denn von diesem Zeitpunkt an mußte die Gewalt im
Funktionszusammenhang der Nötigungsdelikte interpretiert werden. Es
ist leicht erklärbar, daß die damit notwendig werdende Entscheidung
zwischen einerseits der beschränkenden Angriffsform Gewalt und ande-
rerseits einem möglichst umfassenden Freiheitsschutz auf Dauer gesehen
zu Lasten der Gewalt ausfallen mußte, jedenfalls was Gewalt als Kampf
oder Kampfansage angeht: Mit der Gewalt als Kampf hatte man ein
Tatbestandsmerkmal gewählt, das seine Konturen in einem anderen
funktionalen Zusammenhang gewonnen hatte. Wollte man diese Gewalt
kontinuierlich interpretieren, so müßte man das crimen vis weiterent-

" R G 45 S. 153 ff; R G D J Z 1923 S.371.


20R G 20 S. 354ff, 356; anders dann R G 69 S. 327ff, 330f.
796 Günther Jakobs

wickeln; denn beim crimen vis hatte dieser Gewaltbegriff seine Kontu-
ren erhalten. Wenn das Reichsgericht21 in einer Entscheidung formuliert,
„das deutsche Recht" habe „in seiner geschichtlichen Entwicklung von
den ältesten Bestimmungen an bis zur Gegenwart" unter Gewalt immer
dasselbe verstanden, nämlich Einsatz von „Körperkraft" gegen einen
„Widerstand", so ist dies weder richtig22 noch erheblich; denn die älteren
Bestimmungen stehen in einem anderen Interpretationszusammenhang
als diejenigen der Gegenwart (um einen allgemeinen Nötigungstatbe-
stand geht es überhaupt erstmals im ALR).
Es mutet fast wie eine Kuriosität an, daß sich der Bundesgerichtshof
in seinen beiden viel gescholtenen Urteilen, die den extensiven Gewalt-
begriff entwickeln, auf die Tradition vor der Schaffung eines generellen
Nötigungstatbestands hätte berufen dürfen. Er hätte die in Aussicht
genommene Gewalt der einen Generalstreik planenden FDJ-Sekretäre 23
oder die Gewalt der Straßenbahnschienen massenhaft besetzenden Stu-
denten und Schüler24 nicht allein auf die Zwangswirkung des Verhaltens
stützen, sondern auch das generell Unangemessene und die öffentliche
Ordnung Störende der Vorgehensweise berücksichtigen können. Gene-
ralstreik und Straßenblockade sind ja von den Taten, um die es beim
crimen vis ging, nicht weit entfernt, jedenfalls weniger weit als manche
Nötigungen, die sich als Kraftentfaltung mit Körperwirkung erfassen
lassen. Wer sich gegen die genannten Urteile auf einen „alten" oder gar
„klassischen" Gewaltbegriff beruft, sollte also erläutern, welches Alter
er meint und wieso die teleologische Aspekte vernachlässigende Begriffs-
jurisprudenz des frühen Reichsgerichts eher klassisch sein soll als das
gemeine Recht.

II.
1. Daß der Gewaltbegriff bei der Nötigung nach und nach zerfallen
mußte, heißt nicht, mit dem übriggebliebenen Trümmerstück, nämlich
mit dem Begriff der Zwangswirkung, habe man ein Zaubermittel in der
Hand. Der Begriff leistet nichts, solange man ihn - einer verbreiteten
Interpretation entsprechend - nur psychologisierend oder nach den
Regeln der Physik deutet. Zwangswirkungen gibt es bei diesem Ver-
ständnis beispielsweise als Effekt der Triebe des Menschen, als Angst vor

21 RG 56 S. 87 ff, 88.
22 Der vom crimen vis abgeleitete Gewaltbegriff hatte immer auch einen anderen Inhalt;
ansonsten war zumindest der Einsatz von Pseudokraft streitig, und auch unabhängig vom
Widerstand einer Person stattfindende Gewalt gegen Sachen ist immer diskutiert worden;
siehe ferner oben I 3 a zum Einsperren und Wegeversperren.
23 B G H 8 S. 102 ff.

24 B G H 23 S. 47 ff.
Nötigung durch Gewalt 797

Gefahren wie als Verlockungen des Glücks, als Hindernisse und als
Fehlen der Mittel, um Hindernisse zu überwinden, als Folgen physi-
scher und psychischer Bande, und letztere können insbesondere dann
zwingen, wenn man sie umgangssprachlich als zart bezeichnet. Ein so
ubiquitär vorkommendes Ereignis, wie es eine solche Zwangswirkung
ist, kann nicht das Unrecht eines Tatbestands begründen25.
2. Bei der Suche nach einer tauglichen Begründung des Unrechts lassen
sich Verwirrungen vermeiden, wenn die zwei folgenden Problemkreise
getrennt werden, die in der Tradition des crimen vis immer wieder
vermengt worden sind und heute innerhalb der - bei exakter Interpreta-
tion von Nötigungsgewalt und Nötigungserfolg restlos überflüssigen -
Verwerflichkeitsklausel häufig vermengt werden. Erstens geht es darum,
welches erzwungene Verhalten überhaupt tatbestandsmäßiger Erfolg
eines Nötigungsdelikts ist, zweitens muß bestimmt werden, wie der
Zwang zum Verhalten gestaltet sein muß, um von Gewalt (oder Dro-
hung) sprechen zu können. Beim ersten Problemkreis geht es nicht um
den Gewaltbegriff, sondern um das abgenötigte Verhalten; aber es
entlastet die Diskussion um den Gewaltbegriff, wenn präzise bestimmt
wird, was für ein Verhalten nicht erzwungen werden darf.
Was den ersten Problemkreis angeht, so ist die simple Erkenntnis
hilfreich, daß das Recht, ohne sich selbst zu widersprechen, nicht
zugleich die Freiheit zu einem bestimmten Verhalten anerkennen und
eine Pflicht zu einem gegenteiligen Verhalten aufstellen kann. Wenn die
Nötigung Verhaltensfreiheit schützt, kann dies nur solche Freiheit sein,
die dem Opfer auch rechtlich zusteht, die also nicht vom Recht an
anderer Stelle dem Opfer genommen wurde. Nur der Verlust rechtlich
anerkannter Freiheit (genauer: rechtlich allgemein anerkannter Freiheit;
in besonderen Zusammenhängen - Rechtfertigungslagen — mag die
Freiheit verlorengehen) kann Erfolg der Nötigung sein26.

25 v. Heintschel!Heinegg, Die Gewalt als Nötigungsmittel im Strafrecht, Diss. Regens-


burg 1975, S. 123ff mit eingehenden Nachweisen; Giehring in: Lüderssen u.a. (Hrsg.),
Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, Bd. 2, 1980,
S. 513 ff, 522; Brink und Keller, KJ 1983 S. 107 ff, 114.
26 Jakobs, Peters-Festschrift, 1974, S. 69 ff (freilich unter Vermischung der Definition
des Erfolgs mit derjenigen des Mittels); hauptsächlich übereinstimmend SK-Horn,
3. Aufl., 1985, § 240 Rdn. 1 f, 14, 40 ff; Horn, NStZ 1983 S. 497 ff mit weiteren Nachwei-
sen S. 497 Fn.l; v.Heintschel/Heinegg (Fn.25), S. 124 ff, 217 ff; schon Glaser (Fn. 7)
verfährt so bei der Interpretation der Drohung S. 13, 15, ferner passim S. 148 bis 232,
freilich mit Erweiterungen S. 19 ff; - teils zustimmend Schönke/Schröder/Eser, 21. Aufl.,
1982, §240 Rdn. 1 a. - Gegen die normative Bestimmung des abgenötigten Verhaltens wird
von Bergmann, Das Unrecht der Nötigung (§240 StGB), 1983, S.37, vorgebracht, der
„Rechtsgutsbegriff" müsse „dem Rechtsnormbereich vorgelagert sein". Dies ist zu bestrei-
ten. Bei zahlreichen Delikten (je nach Perspektive: bei allen) schützt das Recht rechtliche
798 Günther Jakobs

Schon durch diese Präzisierung des tatbestandsmäßigen Erfolgs ver-


liert der Bereich sozialer Konflikte, bei dem die Frage nach dem Nöti-
gungsmittel gestellt werden muß, drastisch an Umfang. So scheiden
zahlreiche Fälle des Zwangs zur Duldung oder Unterlassung schon
wegen einer bestehenden Hinnahmepflicht aus dem Tatbestand der
Nötigung aus. Beispielhaft: Schließen Bürger ihre eigenen Wohnungstü-
ren oder umzäunen sie ihre Grundstücke, so bringt dies zwar einen
absolut wirkenden Zwang, ist aber ganz abgesehen vom Gewaltproblem
schon deshalb keine Nötigung gegenüber all denjenigen fremden Perso-
nen, die nunmehr die Wohnung oder das Grundstück nicht betreten
können, weil diese Personen verpflichtet sind, dieses Verhalten zu
unterlassen. - Weitere Beispiele: Wer eine Parklücke besetzt, zwingt alle
anderen Autofahrer absolut, diese Lücke nicht zu nutzen. - Wer sein
Vorfahrtsrecht gebraucht, zwingt die Wartepflichtigen bei Gefahr eines
Unfalls zu warten. - In allen Fällen fehlt - abgesehen davon, ob die
Zwangswirkung überhaupt als Gewalt zu qualifizieren ist - ein abgenö-
tigtes Verhalten; denn es liegt keine Rechtskränkung vor. Es gibt eben
massenhaft Zwangswirkungen mit rechtlich unerheblichen Folgen. So
verhält es sich insbesondere bei den alltäglichen Zwängen, die sich aus
der Verschachtelung der Organisationskreise der Menschen unvermeid-
bar ergeben. Entsprechendes gilt, wenn ein Zwang zu einer Handlung
hervorgerufen wird, soweit der Gezwungene zur Vornahme der Hand-
lung verpflichtet ist. Beispiele: Wer sein Vorfahrtsrecht gebraucht,
zwingt schnell Herannahende bei Gefahr eines Unfalls dazu, zu brem-

Zuordnungen (etwa Eigentum). Man darf den zuordnenden Normenkomplex nicht mit
dem die Zuordnung schützenden konfundieren. - Weiterhin heißt es, sehe man nur
rechtlich anerkannte Freiheit als Gut an, so werde bei der Nötigung die Tatbestandsmäßig-
keit mit der Rechtfertigung vermengt: Ein Rechtfertigungsgrund zugunsten des Nötigen-
den lasse beim „Opfer" schon das Gut entfallen (S. 34). Ob nicht für die Behandlung von
Tatbestand und Rechtfertigung auf einer Ebene beim Schutz der Verhaltensfreiheit gute
Gründe sprechen, mag dahinstehen; denn die Lösung läßt sich auch mit einer Trennung
von Tatbestand und Rechtfertigung vereinbaren. So wie Leben allgemein ein rechtlich
anerkanntes Gut ist, aber im besonderen Zusammenhang einer Rechtfertigungslage, etwa
einer Notwehrlage, den Schutz verlieren kann, so auch die Freiheit. Insoweit heißt die
rechtliche Anerkennung eines Guts also: allgemein, abgesehen von besonderen Zusam-
menhängen, rechtlich anerkannt. Bei der Freiheit besteht freilich die Eigenheit, daß in
besonderen Zusammenhängen auch Freiheiten zu rechtlich geschütztem Verhalten entste-
hen können, eben die Freiheiten zu gerechtfertigtem Verhalten. Auch diese Freiheiten
genießen Schutz. Der Tatbestand der Nötigung ist also bei Verletzung sowohl der
allgemeinen als auch der in besonderen Zusammenhängen entstehenden Freiheiten ver-
letzt. Beispiel: Ein Angegriffener wird von einem Dritten bei dem Versuch gehindert, sich
im Rahmen der Notwehr durch Wegstoßen des Angreifers zu wehren; - der Angegriffene
versucht, den Angreifer zu nötigen (abgesehen von besonderen Rechtfertigungslagen ist
jedermann garantiert, nicht weggestoßen zu werden), aber gerechtfertigt; der Dritte nötigt
den Angegriffenen rechtswidrig.
Nötigung durch Gewalt 799

sen. - Wer seinen säumigen Schuldner durch Prügel zur Zahlung zwingt,
begeht zwar Körperverletzung, aber keine Nötigung (jedenfalls was die
Zahlung als abgenötigtes Verhalten angeht), da das Recht dem Schuldner
kein Recht zur Nichtzahlung einräumt. Gewiß mag man in diesem Fall
ein Unrecht darin sehen, daß der Gläubiger das zugehörige Verfahren
umgeht, aber dies ist kein Unrecht eines Delikts gegen die Verhaltens-
freiheit.

3. a) Aus dieser Präzisierung des Nötigungserfolgs als Verlust rechtlich


allgemein geschützter Freiheit läßt sich ein Schluß auf den Umfang der
Gewalt ziehen, der den Gewaltbegriff normativiert27: Ist nur rechtlich
allgemein anerkannte Freiheit geschützt, so ist es nutzlos, ein Verhalten,
das allgemein (d. h. hier, nicht nur in Rechtfertigungslagen) rechtmäßig
ist, als Gewalt anzusehen; denn ein solches Verhalten ist von jedermann
zu dulden, nimmt also keine rechtlich geschützte Freiheit und ist somit
kein taugliches Nötigungsmittel. Der weitestmögliche, aber nutzlose
Deklarationen vernachlässigende Gewaltbegriff umfaßt also alles allge-
mein (d.h. hier, abgesehen von Rechtfertigungslagen) rechtswidrige
Verhalten. Gegen einen solchen Gewaltbegriff wäre trotz seiner immer
noch immensen Weite der Vorwurf der Uferlosigkeit nicht mehr ange-
bracht; denn nicht jeder, der ein bestimmtes Verhalten anderer Men-
schen durchkreuzte, verhielte sich gewaltsam28, sondern nur, wer dies
rechtswidrig unternähme, und zwar unter Verletzung einer zugunsten
des Gezwungenen bestehenden Pflicht.

b) Der Umfang der Gewalt wäre aber immer noch viel zu weit:
Schlechthin jede Pflicht wäre per Nötigung strafrechtlich für den Fall
abgesichert, daß sich der durch die Pflicht Begünstigte auf die Erfüllung
einstellt. Ein solches Ergebnis, also eine kaum noch steigerbare Straf-
rechtshypertrophie, versuchen die Vertreter des extensiven Gewaltbe-
griffs entweder über die Verwerflichkeitsklausel oder dadurch zu korri-
gieren, daß besondere Anforderungen an die Intensität der Zwangswir-

27 Im Ansatz entsprechend Haff~ke, ZStW 84 S.37ff, 58 ff; v. HeintscheilHeinegg


(Fn. 25), S. 223. - Durch die Normativierung wird der Gewaltbegriff akzessorisch zur
Rechtsordnung. „Strukturelle Gewalt" innerhalb einer Ordnung (siehe Galtung, Struktu-
relle Gewalt, 1975, S. 7 ff) ist keine Nötigungsgewalt innerhalb dieser Ordnung. Natürlich
kann - und das ist Galtungs Intention - von einer als höherrangig gedachten Ordnung her
eine nachrangige Ordnung Gewalt sein. Insoweit argumentiert Galtung parallel dem
extensiven Gewaltbegriff, und zwar mit zutreffenden normativen Beschränkungen; denn
er versteht die potentielle Verwirklichung (die von der strukturellen Gewalt gehindert
wird) als jemandem zustehende Verwirklichung.
28 So kritisch Geilen, H. Mayer-Festschrift, 1966, S. 445 ff, 461 gegen den extensiven

Gewaltbegriff.
800 Günther Jakobs

kung gestellt werden 2 9 . Beides ist verfehlt. M i t der Verwerflichkeitsklau-


sel läßt sich kein P r o b l e m lösen, weil sie z u u n b e s t i m m t ist 3 0 ; m a n kann
P r o b l e m e nur dorthin verschieben. D i e Intensität der Z w a n g s w i r k u n g
ist - z u m i n d e s t der F o r m u l i e r u n g n a c h - ein z u naturalistisches Krite-
rium 3 1 . E s gibt, wie s c h o n ausgeführt w u r d e , h ö c h s t intensiv wirkende
Zwänge, für die der G e z w u n g e n e selbst zuständig ist, u n d in der
U m k e h r u n g kann v e r m u t e t w e r d e n , daß es bei der N ö t i g u n g wie bei
schlechthin jedem anderen Delikt auch Bagatellfälle, also a u c h tatbe-
standsmäßige, j e d o c h n u r s c h w a c h e Z w a n g s w i r k u n g e n gibt. - Aber
auch die B e s c h r ä n k u n g e n der Z w a n g s w i r k u n g d u r c h die älteren G e w a l t -
begriffe kleben an Äußerlichkeiten. D i e Kampfsituation beim crimen vis
wie die (angebliche) Kraftentfaltung und die (angebliche) K ö r p e r w i r -
kung bei der R e c h t s p r e c h u n g des Reichsgerichts treffen ausschnitthaft
einige Fälle zweifellos vorliegender Zuständigkeit des Täters für eine
Z w a n g s w i r k u n g , aber der A u s s c h n i t t wird nicht n a c h der Q u a l i t ä t der
Zuständigkeit g e w o n n e n , sondern nach sinnenfälligen Kriterien wie
K a m p f , Kraft, K ö r p e r , w o b e i K ö r p e r heißt: L e b e n , Leib, Freiheit 3 2 .

25 BGH 23 S.47ff, 50, 54.


50 Dazu mit Nachweisen Calliess, NJW 1985 S. 1506 ff.
51 Der Begriff der Zwangswirkung wird häufig dahin verstanden, eine Nötigung liege

nur vor, wenn sich das Opfer ungern, innerlich widerstrebend oder sich-genötigt-fühlend
auf die Situation einlasse. Das ist ein psychologistisches Mißverständnis. Es kommt
vielmehr darauf an, ob das Opfer sein Verhalten an der Gewalt ausrichtet, weil es das muß.
Das kann auch der Fall sein, wenn es nach seinen Wertungen - die ohne Gewalt freilich
nicht verhaltensbestimmend wären - die Konsequenzen der Gewalt erfreulich findet.
Hierbei ist weniger an Masochisten zu denken, als an Personen, die das verhinderte
Verhalten nur ungern vollzogen hätten, aber keinen hinreichenden Grund fanden, es nicht
zu vollziehen. Beispiel: Wenn die Soldaten einer blockierten Kaserne froh sind, nicht
ausrücken zu müssen, so sind sie dennoch genötigt, wenn sie aufgrund der Blockade in der
Kaserne bleiben (a.A. Schroeder, NJW 1985 S.2392f). Dies gilt nicht nur bei offen
fremdbestimmter Tätigkeit. Beispiel: Auch wenn dem Marathonläufer eine Straßensperre
ein willkommener Grund zum Abbruch der Selbstquälerei ist, bleibt der Abbruch abgenö-
tigt, falls der Läufer nur aufgrund der Sperre aufhört. Zwang ist normativ zu bestimmen,
nicht per Innerlichkeit. - Irrelevant ist nicht nur das empfundene Maß an Zwang, sondern
auch, ob das Geschehen „als nicht nur seelischer, sondern auch körperlicher Zwang
empfunden" wird (BGH 23 S. 126 ff, 127). Es geht nicht um ein Delikt, dessen Erfolg oder
Mittel sich adäquat durch Empfindungen beschreiben ließen, schon gar nicht durch die im
Zitat genannte diffuse Empfindung (wenn nicht gar: Empfindungstäuschung). Schlagender
als jede Widerlegung der Empfindungslehre wirken die Versuche, sie anzuwenden; siehe
OLG Köln StV 1985 S. 171 ff (insbesondere S. 372 rechte Sp., wo das Gericht in seiner Not
„als körperlich" gegen „wie körperlich" vertauscht; ebenso OLG Köln StV 1985 S.457
rechte Sp.); wie die Polizei Blockaden zu seelischem Zwang sublimieren kann (diese
Verwechslung von Ruhe und Ordnung mit Zwanglosigkeit bringt eine die sogenannte
Vergeistigung des Gewaltbegriffs konterkarierende Vergeistigung der Zwangswirkung
durch die Exekutive), zeigen OLG Köln NJW 1983 S.2206f; LG Münster StV 1985
S.417f.
12 Daß Gewalt verübt, wer eine Person gegen ihren Willen an eine abgelegene Stelle

fährt und dort auch noch verhindert oder zumindest erheblich erschwert, daß die Person
Nötigung durch Gewalt 801

c) W a r u m sind E i n g r i f f e in die s o e b e n g e n a n n t e n G ü t e r überhaupt


G e w a l t ? Sie sind es n i c h t deshalb, weil sie gefährlich sind o d e r weil
nichts anderes geschieht, als daß sie die K ö r p e r i n t e g r i t ä t oder die
Fortbewegungsfreiheit zerstören - d a n n läge n u r das U n r e c h t eines
G e f ä h r d u n g s d e l i k t s o d e r eines D e l i k t s gegen L e b e n , L e i b o d e r F o r t b e -
w e g u n g s f r e i h e i t v o r , n i c h t aber g e r a d e G e w a l t - ; diese E i n g r i f f e sind
v i e l m e h r G e w a l t , weil der T ä t e r die angegriffene P e r s o n diminuiert, so
daß sie - a b s o l u t z w a n g s l ä u f i g o d e r jedenfalls u n t e r der V o r a u s s e t z u n g ,
daß sie sich v e r n ü n f t i g verhält - ihre A n g e l e g e n h e i t e n n i c h t m e h r o d e r
n u r n o c h e i n g e s c h r ä n k t organisieren k a n n . W e r eingesperrt ist, k a n n
A n g e l e g e n h e i t e n a u ß e r h a l b seines Gefängnisses n i c h t organisieren, w e r
z u s a m m e n g e s c h l a g e n w u r d e , k a n n keine s o f o r t i g e V e r t e i d i g u n g seiner
G ü t e r organisieren, w e r sein v o m T ä t e r in B r a n d gesetztes H a u s z u
l ö s c h e n h a t , k a n n , s o er sich v e r n ü n f t i g verhält 3 3 , n i c h t ins T h e a t e r gehen
etc. G e w a l t liegt jeweils v o r , weil das D e f i z i t in der O r g a n i s a t i o n d a r a u f
b e r u h t , d a ß O r g a n i s a t i o n s m i t t e l des O p f e r s z e r s t ö r t , weggenommen
oder gebunden wurden.
Dieses V e r s t ä n d n i s v o n G e w a l t , das insoweit (also auf L e b e n , L e i b
u n d F r e i h e i t b e z o g e n ) n u r w e n i g in Streit steht 3 4 , ist freilich n i c h t an

das Fahrzeug verläßt, sollte nicht in Frage gestellt werden. Wenn der Bundesgerichtshof in
einer Entscheidung zu § 177 StGB (BGH NJW 1981 S. 2204 ff, 2205 f) anders formuliert,
so hat dies - soweit ersichtlich - einen besonderen Grund: Das Landgericht hatte offenbar
die Frage, ob das abgenötigte Verhalten auf der Gewalt beruhte, mit wenig überzeugenden
Gründen (wenn überhaupt mit Gründen) bejaht. Zur Skepsis war Anlaß geboten, weil
einiges dafür sprach, daß schon die Autorität des Täters, der Lehrherr des Opfers war, das
Opfer zur Duldung gebracht haben konnte. Die Kritik an der Uberzeugungsbildung der
Tatrichter hat der Bundesgerichtshof in das - freilich unpassende - Gewand einer Ein-
schränkung des Gewaltbegriffs gesteckt. Auch die nachgeschickte Presseerklärung des
Bundesgerichtshofs vermengt den Gewaltbegriff mit der Kausalität von Gewalt (a.a.O.
S.2206).
53 Die Unterscheidung von absoluter und compulsiver Gewalt ist wenig ertragreich.

Phänotypisch kann man zwischen zwei Fallgruppen unterscheiden: (a) Ein Bereich des
freien Verhaltens ist definitiv verloren (vom Opfer nicht variierbare Gewaltwirkung).
Beispiel: Ein Auto wird zerstört, und deshalb kann eine Fahrt nicht stattfinden, (b) Ein
Bereich freien Verhaltens ist definitiv verloren, wenn das Opfer den Verlust nicht in einen
anderen Bereich umschichtet (vom Opfer variierbare Gewaltwirkung). Beispiel: wie zu a,
aber das Opfer kann durch Aufwendung von Zeit und Geld ein Ersatzfahrzeug beschaffen
oder sich zu Fuß zum Zielort begeben. Auch in dieser Fallgruppe ist Freiheit definitiv
verloren, nur hängt noch von der Umschichtung durch das Opfer ab, welche Freiheit das
sein wird. - Beide Fallgruppen können zusammentreffen. Beispiel: Von der Vorgehens-
weise, insbesondere vom Aufwand beim Löschen hängt es ab, wieviel und was von einer
brennenden Wohnung erhalten werden kann (aber jedenfalls nicht alles).
34 Köhler, Leferenz-Festschrift, 1983, S. 511 ff, 516 ff verneint Nötigung bei allen
Zwangsmitteln, die nicht (auch) Drohung sind, selbst wenn sie sich gegen Leben, Leib und
Freiheit richten; Köhler sieht den „Erfolgsunwert" des Zwangs einzig „darin, daß die aus
autonomer Vernünftigkeit an sich freie Selbstbestimmung des Subjekts instrumentalisiert
802 Günther Jakobs

Leben, Leib und Freiheit gebunden. Einer Person stehen in aller Regel
auch andere Organisationsmittel als die soeben genannten aktuell zur
Verfügung, etwa soziale Kontakte, Eigentum (insbesondere Werkzeuge
und sonstige Arbeitsmittel), Hausrecht, Recht zum Gemeingebrauch
u. a. m. Der enge Gewaltbegriff, der sich an die Bedrohung oder Verlet-
zung von Leben, Leib und Freiheit anhängt, verkürzt die Person auf ein
biologisch bestimmtes Minimum. Person ist aber nicht nur Leib. Es gibt
eine Fallgruppe, an der man die Verkürzung der Person auf ihre biologi-
sche Existenz ad absurdum führen kann. Es handelt sich um Fälle der
Wegnahme und der Zerstörung von Körperersatzteilen, also Brillen,
Hörgeräten, Prothesen, Krücken u. a. m. O b man einen Menschen
lahmschlägt oder die Krücken eines lahmen Menschen zerbricht, führt
nicht nur zu einer äquivalenten Zwangswirkung (was, allein genommen,
nichts besagt), sondern auch auf äquivalente Weise, nämlich durch
Eingriff in die Organisationsmittel der Person. Was aber für den Lah-
men seine Krücken sind, ist für den Handelsvertreter sein Automobil,
für den Fischer sein Schiff etc.; Differenzierungen wären hier ganz
willkürlich. Es ist eben falsch, sich bei der Bestimmung der Gewalt das
Opfer nur als beseelten Leib in einer ihm ansonsten nicht gehörenden
Umwelt vorzustellen; das Opfer ist Person und deshalb ein Subjekt, zu
dem auch Außerleibliches gehören kann und - vom Neugeborenen
abgesehen - praktisch auch immer gehört.

und gegen sich selbst . . . gerichtet wird" (S. 517). Das wäre richtig, wenn es um die
Beurteilung des Genötigten ginge: Nachgeben ist im Gegensatz zum Nicht-Können
unheroisch. Ansonsten freilich kann fremde Freiheit nicht nur aufheben, wer sie instru-
mentalisiert, sondern auch, wer ihre Bedingungen zerstört. Es geht nicht um die Pervertie-
rung aktuell stattfindender Motivationsprozesse, sondern um einen Eingriff in zustehende
Freiheitsbedingungeh. Wie Köhler wohl auch Marxen, KG 1984 S. 54 ff, 57. - Zur
Darstellung des Stands der Rechtsprechung und Literatur siehe Bergmann (Fn.26),
S. 65 ff, 81 ff; ders., Jura 1985 S.457ff; Wolter, NStZ 1985 S. 193 ff, 245ff; zu Bergmanns
eigener Lösung siehe Jakobs, ZStW 95 S. 690 ff, 694 f. Zu Calliess, Der Begriff der Gewalt
im Systemzusammenhang der Straftatbestände, 1974, und Keller, Strafrechtlicher Gewalt-
begriff und Staatsgewalt, 1982 (siehe auch Brink und Keller, Fn. 25, S. 107 ff; ders., JuS
1984 S. 109 ff), siehe Jakobs, ZStW 91 S. 657 ff und 95 S. 684 ff. - Nach den Bemühungen
von Calliess und Keller, auch eine besondere Qualität der Beeinträchtigung von Leben,
Leib und Freiheit auszumachen (was freilich auf den hier kritisierten naturalistischen
Personbegriff hinausläuft; siehe zur Kritik auch Giehring Fn. 25, S. 525), faßt Wolter,
a.a.O. S. 196f, die Beeinträchtigung nunmehr eher quantitativ: „Die Gewaltanwendung
als Typisierung eines schwerwiegenden Angriffs auf das Rechtsgut Freiheit zielt auf primär
körperliche Einwirkungen gegenüber dem Tatopfer" (S. 196). Es ist dann von einer
„besonderen .Tabuzone'" des Bereichs der Körperintegrität sowie von erhöhter Gefähr-
dung der Existenz die Rede. Aber weshalb dies nicht schon beim Hausfrieden oder erst
beim Leben so ist, weshalb also der Schnitt gerade zwischen Körper und Nicht-Körper
verläuft (Eigentum wird ja auch nicht nur gegen Raub geschützt etc.), bleibt ebenso offen
wie die Frage, ob die Bedingungen der Freiheit überhaupt in direkter Relation zu den
Bedingungen der physischen Existenz (und nur zu diesen) stehen.
Nötigung durch Gewalt 803

D e m restriktiven G e w a l t b e g r i f f liegt eine naturalistische V o r s t e l l u n g


vom Nötigungsopfer z u g r u n d e ; das O p f e r soll n i c h t ein B ü r g e r in
seinem O r g a n i s a t i o n s k r e i s u n d in seinen sozialen B e z i e h u n g e n sein,
s o n d e r n z u m O p f e r soll n u r g e h ö r e n , w a s v o n d e r H a u t an innen liegt.
D a ß diese Sicht für das R e c h t a n g e m e s s e n sei, ist bislang n i c h t b e g r ü n d e t
w o r d e n u n d w o h l a u c h f ü r eine Gesellschaft d e r g e g e n w ä r t i g e n G e s t a l t
n i c h t b e g r ü n d b a r . W e n n es aber n i c h t u m das b i o l o g i s c h - p s y c h o l o g i s c h e
P h ä n o m e n M e n s c h geht, s o n d e r n u m eine juristische G r ö ß e , n ä m l i c h
u m eine P e r s o n , v e r ü b t nicht n u r G e w a l t , w e r das b i o l o g i s c h - p s y c h o l o -
gische G e f ü g e d u r c h e i n a n d e r b r i n g t , s o n d e r n a u c h , w e r andere Teile d e r
Rechtsperson35 zerstört.

d) N u n liegt der E i n w a n d nahe, eine solche L ö s u n g sei v o n d e r o b e n


skizzierten strafrechtshypertrophischen Lösung nicht unterschieden;
d e n n bei jeder P f l i c h t v e r l e t z u n g lasse sich sagen, d e m d u r c h die Pflicht
Begünstigten 3 6 w ü r d e n O r g a n i s a t i o n s c h a n c e n v o r e n t h a l t e n . Beispielhaft

35 Verhaltensfreiheit ist ein Recht, dessen Ausübung faktische Grundlagen hat; sie ist

aber nicht voll im Faktischen auflösbar. Inhalt des Rechts ist die Garantie ungestörter
Organisation. Jede Person kann genötigt werden, die ein Recht auf Organisation haben
und - selbst oder durch andere - ausüben kann, also auch eine juristische Person. Beispiel:
Wer den Geschäftsführer einer GmbH einsperrt, damit er ein bestimmtes Geschäft für die
GmbH nicht tätigen kann, nötigt nicht nur die natürliche Person, sondern auch die
Gesellschaft (wenn der Geschäftsführer deren Geschäfte effektiv zu führen begonnen hat,
siehe dazu Fn. 39). Das ist insbesondere für die Bestimmung des Unrechtsquantums
bedeutsam: Dessen Hauptmasse kann bei der juristischen Person (oder bei einer natürli-
chen Person, deren Geschäfte besorgt werden sollen) liegen und nicht bei demjenigen, der
ihre Geschäfte besorgen wollte; so verhält es sich etwa, wenn im Beispielsfall das
Einsperren nur Minuten dauert, der GmbH aber ein Millionengeschäft verlorengeht. Im
Fall B G H 23 S. 46 ff wäre also auch darauf abzustellen gewesen, daß neben den Straßen-
bahnfahrern und den Mitgliedern des Rats der Stadt jedenfalls die Stadt selbst in ihrer
Freiheit betroffen war, Verkehrsbetriebe durchzuführen (a. A. wohl die ganz überwie-
gende Ansicht; siehe auch Fn.31).
36 Das Problem der Gewalt gegen Dritte brachte keine Schwierigkeiten, solange die

Gewalt noch im Blick auf das crimen vis bestimmt wurde: Sie war das jedenfalls
unangemessene und deshalb unrechtsbegründende Mittel (RG 17 S. 82 ff, 83). So wie das
Mittel hinter den Nötigungseffekt zurücktrat, wurde diese Lösung problematisch, und
man versuchte, eine Zwangswirkung per „Sympathie" mit dem Dritten (also dem Gewalt-
opfer) zu konstruieren (schon besser B G H 8 S. 102 ff, 104: nicht Sympathie, sondern
Pflicht; etwas kurios BGH 23 S.47ff, 50: der „räumliche Abstand" soll neben anderem
relevant sein). Die Fälle einer Sorgepflicht sollten außer Streit sein (Eltern - Kinder;
Ehegatten; Regierung - Bevölkerung etc.). Aber eine Pflicht ist keine notwendige Bedin-
gung; denn der Täter muß es gelten lassen, wenn andere Personen ihre Organisationskreise
vereinigen, solange die stattfindenden Vereinigungen, möglicherweise auch als Ad-hoc-
Maßnahmen, vom Recht gebilligt werden. Für die praktisch relevanten Fälle heißt das:
Soweit das Recht die Leistung, die zugunsten des Dritten erfolgt, gemäß den Regeln der
Geschäftsführung ohne Auftrag als vernünftig anerkennt, sind die Güterhaushalte des
Dritten und des Leistenden rechtmäßig vereinigt. Die garantierten Rechte des Dritten sind
insoweit auch diejenigen des Leistenden. In der Terminologie von § 239 a StGB: Es kommt
804 Günther Jakobs

gesprochen: Wenn der Schuldner nicht pünktlich zahle, sei er dafür


zuständig, daß der Gläubiger mangels Geld nichts organisieren könne.
Diesem Einwand kann nur durch eine präzisere Formulierung dessen
begegnet werden, was zu einer Person gehört.
Wenn es nicht nur um die Verletzung von Leben, Leib und Freiheit
geht, heißt dies nicht, schlechthin jede Rechtskränkung sei einem Ein-
griff in die genannten Güter gleichzustellen. Vielmehr gehören die
genannten Güter zu den absoluten Rechten, was heißt, daß im Grundfall
jeder andere dafür zu sorgen hat, daß er durch sein Verhalten diese
Güter nicht beeinträchtigt. Solchermaßen gesicherte Rechte werden
nachfolgend in einem bestimmten und noch zu erläuternden Sinn garan-
tierte Rechte genannt. Es wird noch zu zeigen sein, daß nicht nur
absolute Rechte garantiert sind, aber zunächst soll die Garantie an einem
Beispiel zu den Grenzen absoluter Rechte verdeutlicht werden: Wer eine
fremde Sache findet, hat dies anzuzeigen (§965 Abs. 1 B G B ) . Zwar ist
Eigentum ein absolutes Recht, aber die Erfüllung der Anzeigepflicht ist
dem Eigentümer nicht garantiert; es handelt sich um eine Pflicht zur
Leistung allgemeiner Mindestsolidarität, vergleichbar der Pflicht zur
Hilfeleistung in Notfällen, § 3 2 3 c StGB. Führt die Verletzung der
Pflicht zur Beschädigung der Fundsache, etwa wenn die Sache nicht
lagerfähig ist und schnell verdirbt, so haftet der Finder so wenig wegen
Sachbeschädigung, § 303 StGB, wie eine Person, die bei einem Unglück
oder gemeiner N o t die Pflicht nach § 323 c S t G B versäumt, wegen
Verletzung der in der Katastrophe verlorengegangenen Güter haftet.
Der Freiheitsverlust, den der Verderb für den Eigentümer mit sich
bringt - er kann die Sache nicht mehr nutzen - , ist mangels Garantie kein
Verlust, der auf Gewalt beruht, wie auch bei der unterlassenen Hilfelei-
stung der Täter sich nicht gewaltsam gegenüber den von der Katastrophe
Betroffenen verhält. Zerstört aber der Finder das Objekt oder eignet er
es sich zu oder nutzt er es in substanzbeeinträchtigender Weise, so greift

nicht darauf an, o b sich der Leistende sorgt, sondern ob er sich so verhält, daß dies
Gesch'ihsbesorgung ist. - Wird zugunsten des Dritten mehr geleistet, als nach rechtlichen
Maximen angebracht ist, so wird immerhin auch das Angebrachte geleistet; also ist zwar
die Leistung des Uberschusses nicht abgenötigt, wohl aber die Basisleistung. - D e r
Nötigende selbst kann durch die Geschäftsbesorgung begünstigt werden: Gewiß kann
niemand gegen sich selbst ein garantiertes Recht verletzen, aber soweit ein anderer seinen
Güterhaushalt mit demjenigen des Täters wirksam verbinden kann, richtet sich eine
Obliegenheitsverletzung nicht mehr nur gegen den Täter selbst. Beispiel: Blockiert jemand
die Ausfahrt eines Lastwagens unter Umständen, bei denen es per N o t w e h r gerechtfertigt
wäre, ihn zu überfahren, so besorgt, wer nicht N o t w e h r übt (also auf die Ausfahrt
verzichtet), ein Geschäft des Blockierenden, wird also genötigt. - Die üblichen Blockade-
fälle bieten weniger Probleme: Abgesehen davon, ob der Blockierte überhaupt faktisch
„durchkommen" kann, scheitert N o t w e h r regelmäßig an der Übernahme der Abwehr
durch die Polizei (siehe Jakobs, A T , 1983, 12/45).
Nötigung durch Gewalt 805

er in das Eigentum ein, und dem Eigentümer ist garantiert, daß dies
unterbleibt; deshalb sind dem Täter dann auch die Nötigungsfolgen
zuzurechnen, mit anderen Worten, dieser Eingriff ist Gewalt.
Freilich ist unverkennbar, daß diese Differenzierungen an den Gren-
zen der absoluten Rechte material nicht mehr zu legitimieren sind. Das
muß aber auch so sein: Da es keine Person im Recht losgelöst von den
Gestalten und den Techniken des Rechts gibt, müssen die Nötigung und
damit auch die Gewalt akzessorisch gebildet werden, was heißt, daß die
Grenzfälle der Freiheit gestaltenden Rechtsgebiete auch zu Grenzfällen
des strafrechtlichen Freiheitsschutzes werden37.
Es gibt zum absoluten Recht funktionale Äquivalente, und auch diese
führen zu einer garantierten Position beim Inhaber des Rechts. Einige
Äquivalente sollen genannt werden. Offenbar äquivalent sind die
Rechte, die als Kehrseite der Garantenpflichten beim begehungsgleichen
Unterlassungsdelikt entstehen. Die Funktion dieser Garantenpflichten
liegt gerade darin, daß dem Begünstigten eine Leistung normativ so
sicher zugeordnet wird, als könnte er sie selbst erbringen, das heißt, als
könnte er eigene Organisationsmittel einsetzen. Deshalb ist die Verlet-
zung dieser Garantenpflichten gleichfalls Gewalt. Beispiel: Wer auf
einen Polizisten mit einem Kraftwagen zufährt, um diesen zum Beiseite-
springen zu bewegen, nötigt ihn mit Gewalt, gleich ob er aktiv handelnd
Gas gibt oder garantenpflichtwidrig nicht bremst.
Ein weiteres funktionales Äquivalent sind Eingriffsrechte, also
Rechtspositionen bei Rechtfertigungsgründen. Durch einen Rechtferti-
gungsgrund wird dem Begünstigten die Befugnis erteilt, seine Organisa-
tionen bis in einen fremden Organisationskreis hinein auszudehnen; die
Verhinderung solcher Organisationen ist deshalb wie die Verhinderung
der Nutzung eigener Organisationsmittel zu behandeln.
Ein nahezu von jedermann alltäglich benötigtes Äquivalent der abso-
luten Rechte ist das Recht auf Gemeingebrauch. Die funktionale Äqui-
valenz wird deutlich, wenn man statt des Gemeingebrauchs ein Mitei-
gentum aller Bürger denkt. Dieses Recht ist ein Anspruch, aber mit der
Besonderheit, daß ihn jedermann jederzeit im Rahmen des rechtlich
Zulässigen selbst realisieren darf. Wer das Selbst-Realisieren verhindert,
haftet demgemäß wie bei einem Eingriff in fremde Organisationsmittel.
Als Beispiel sei auf das viel behandelte rechtswidrige Versperren eines
öffentlichen Wegs verwiesen. Zwar ist niemandem garantiert, daß er eine
Straße frei von denjenigen Beschränkungen nutzen kann, die ein recht-
mäßiges Verhalten anderer Benutzer nun einmal mit sich bringt. Eine

37 Die Ergebnisse werden bei den Eigentumsdelikten partiell über die Rechtswidrigkeit

der Zueignung korrigiert und bei der Nötigung dadurch, daß ein Verhalten, zu dem der
Gezwungene verpflichtet ist, kein tatbestandsmäßiger Nötigungserfolg ist, siehe oben II 2.
806 Günther Jakobs

Verkehrsstauung, die durch ein Verkehrsunglück entsteht (bei einem


Unfall durch ein rechtswidriges Verhalten eines Beteiligten liegt Gewalt
vor, aber es fehlt regelmäßig der Vorsatz) oder durch sonst ordnungsge-
mäße Nutzungen der Straße, sei es durch eine Demonstration, sei es
durch einen Fronleichnamszug, bringt also keine Verletzung garantierter
Rechte. Anders verhält es sich, wenn Demonstranten ohne Berechtigung
auf einer Verkehrskreuzung Friedensrituale vollziehen38, und zwar auch
dann, wenn es nur um Sekunden geht; letzteres wird zwar regelmäßig
ein Bagatellfall sein, aber auch Bagatellfälle können einen Tatbestand
verwirklichen (wie auch der Diebstahl eines Pfennigs Diebstahl ist).
Ein Anspruch darauf, daß Gemeingebrauchsobjekte gestellt und
erhalten werden, ist gegenüber öffentlichen Stellen nur in denjenigen
Fällen über die N o r m gegen Nötigung abgesichert, in denen eine
Garantenpflicht des Staats zur Leistung besteht. - Eine dritte Person, die
ein gestelltes Gemeingebrauchsobjekt rechtswidrig sperrt, wegnimmt
oder zerstört, nötigt die aktuellen wie die potentiellen Benutzer aber
auch dann, wenn eine Leistungspflicht der Behörde fehlt; denn jeder-
mann hat ein Recht, das zu nutzen, was ihm gestellt worden ist, auch
wenn er auf die Gestellung keinen Anspruch hat 3 '.

e) Die Verletzung von Rechten, die nicht so stark wie garantierte Rechte
sind40, ist keine Gewalt, weil diese Rechte nicht den eigenen Organisa-

38 So der Sachverhalt bei O L G Koblenz StV 1985 S. 151 f.


39 Entsprechendes gilt bei sonstigen Ansprüchen des öffentlichen oder privaten Rechts:
Organisationsmittel, die eine Person mit Billigung des Rechts besitzt, sind ihr auch dann
gegen jedermann garantiert, wenn sie keinen garantierten Anspruch hatte, sie zu empfan-
gen. Noch zu leistende Mittel sind zugunsten des Empfängers geschützt, wenn der
Leistende Garant zur Leistung ist. Beispiel: Wer den Garanten, der einen Eingeschlosse-
nen befreien will, hindert, nötigt auch den zu Befreienden. - Bei einem nicht garantierten
und noch nicht erfüllten Anspruch kann es nicht befriedigen, wenn die Hinderung jeder
leistungsbereiten Person als Delikt am in Aussicht genommenen Empfänger mit der
Begründung angesehen wird, ein rettender Kausalverlauf werde durch die Hinderung
unterbrochen (zu pauschal auch Jakobs, Fn. 36, 29/110, siehe auch 29/30); denn die
Hinderung kann keine Haftung gegenüber dem Destinatär der Rettungsmaßnahme auslö-
sen, wenn die Beibehaltung des rettenden Verlaufs nur dem Retter, nicht aber auch dem
Destinatär garantiert ist. Das heißt freilich nicht, vor Abschluß einer nicht garantierten
Leistung sei dem Empfänger überhaupt nichts Garantiertes zugeflossen. Vielmehr beginnt
die Garantie beim Empfänger, wenn der Leistende sich in dessen Organisation einpaßt
oder die Führung der Geschäfte effektiv begonnen, sich also gleichsam selbst als menschli-
ches Organisationsmittel geleistet hat. Man mag also formulieren, daß ein einvernehmlich
stattfindender sozialer Kontakt gegenüber dritten Personen wie ein absolutes Recht zu
behandeln ist. Beispiel: Wer einen Nichtgaranten hindert, der auf dem Weg ist, um einen
aus eigenem Verschulden Eingeschlossenen zu befreien (das heißt, der dessen Geschäft
führt), nötigt den Eingeschlossenen.
40 Zahlreiche nicht garantierte Rechte und nicht als Rechte ausgestaltete Chancen sind

solchermaßen lebenswichtig, daß ein Äquivalent für das Fehlen der Garantie bestehen
muß. Abgesehen von der Möglichkeit, Schadensersatz zu verlangen, ist das wichtigste
Nötigung durch Gewalt 807

tionsmitteln des Täters gleichgestellt werden können41. Die Absicherung


nicht-garantierter Rechte erfolgt dadurch, daß dem Inhaber im Fall
drohender oder geschehener Rechtsverletzung eine Klagemöglichkeit im
Zivil- oder Verwaltungsverfahren oder sonst zugehörigen Streitverfah-
ren eingeräumt wird (wenn nicht ausnahmsweise Selbsthilfe erlaubt ist,
aber dann geht es um ein garantiertes Recht!). Eine strafrechtliche
Absicherung dadurch, daß dem säumigen Schuldner die Einbußen an
den Gütern des Gläubigers zugerechnet würden, erfolgt gerade nicht
(sonst wären die Rechte garantiert).
f ) Die Verhaltensfreiheit ist kein selbständiges, sondern ein abgeleitetes
Rechtsgut. Unabhängig von den sie konstituierenden Rechten hat sie
keinen rechtlichen Bestand. Aber nicht nur der Bestand, sondern auch
die Stärke der rechtlichen Anerkennung hängt von den konstituierenden
Rechten ab. Die strafbewehrte Norm gegen Nötigung begründet also
keine Freiheit, die nicht sowieso schon bestünde, und wertet keine nicht
garantierte Freiheit zu einer garantierten Freiheit auf, sondern sichert die
auf garantierten Rechten beruhende Freiheit durch eine Strafdrohung,
mehr nicht. Gewiß ist dies ein Stück „Zementierung des gesellschaftli-
chen Status quo"42, aber nicht nur der Privilegien, sondern auch der
Freiheiten, die der Status enthält.
4. Ob das Ergebnis auch auf den (nicht fiskalisch tätigen) Staat paßt,
bedarf einer eigenen Untersuchung. Immerhin ist zweifelhaft, ob sich
die wesentlichen Bestandsbedingungen des Staats als diesem garantierte
Rechte adäquat darstellen lassen. Im heiklen Fall eines rechtswidrigen
Generalstreiks müßte sich eine Garantenpflicht der Streikenden zur
Leistung einer „Grundversorgung" herleiten lassen etc. Zur Vermeidung

Äquivalent die institutionalisierte (Markt, Vertragsfreiheit) Möglichkeit, sich beim Mißlin-


gen von Kontakten abzuwenden und anderen Partnern zuzuwenden. Werden die Regeln
der Institutionen von allen potentiellen Partnern mißachtet, so trifft dies wie der Verlust
garantierter Rechte. Beispiel: Wer beim Erwerb von Nahrungsmitteln überall boykottiert
wird, steht nicht besser da als ein Bestohlener. Ob das Versagen solcher Äquivalente bei
der Bildung des Gewaltbegriffs wie eine Beeinträchtigung garantierter Rechte berücksich-
tigt werden muß (oder als Verletzung eines Rechts auf Teilnahme am Markt, entsprechend
dem Recht auf Gemeingebrauch, schon berücksichtigt ist), wird hier nicht mehr unter-
sucht, aber auch nicht ausgeschlossen. - Bei Nötigungen gegenüber dem Staat ist die
Notwendigkeit, den Schematismus garantierter Rechte zu verlassen, evident; dazu unten
114.
41 Ein mittelbarer Schutz nicht garantierter Rechte besteht freilich, soweit sie über

garantierte Rechte angegriffen werden können (darauf beruht die Möglichkeit von Erpres-
sung und Betrug; zur List als Gewalt unten 115). Ferner kann die Inhaberschaft eines
Anspruchs als absolutes Recht behandelt werden (dies erfolgt etwa beim Mißbrauchstatbe-
stand der Untreue).
42 So Däubler in Baumann u.a. (Hrsg.), Studien zum Wirtschaftsstrafrecht, 1972,
5. 91 ff, 99, der im übrigen die Ambivalenz nicht verkennt, S. 119.
808 Günther Jakobs

solcher Konstruktionen dürfte beim Gewaltbegriff insbesondere der


§§ 80 f StGB stärker auf die Störung von Verfahren abzustellen sein als
bei der Nötigung; dies wird hier nicht weiter verfolgt. Ebenso muß
dahinstehen, ob alle gegen den Staat gerichteten Fälle, die sich als
Nötigung erfassen lassen, allein damit auch adäquat erfaßt sind; so
dürfte bei zahlreichen politisch motivierten Sitzblockaden (oder ähnli-
chem) die Zerstörung etwa des Repräsentationsprinzips (oder allgemei-
ner: die Mißachtung von Verfahren) mehr wiegen als die Nötigung
einiger Personen, eine Straße nicht zu passieren.

5. Mit der Deutung der Gewalt als Verletzung garantierter Rechte klärt
sich auch das intrikate Verhältnis von Gewalt und List. Üblicherweise
entnimmt man der Formulierung des Gesetzes, bei Freiheitsberaubung
sei jedes Mittel, auch List, tatbestandsmäßig, bei Nötigung scheide List
hingegen aus. Letzteres wird freilich meist partiell zurückgenommen:
Nicht allein die nur vorgeblich ernsthafte Drohung - also die listige
Vorspiegelung einer ernsthaften Drohung - soll bei Nötigung hinrei-
chen, sondern zur Nötigungsgewalt rechnet man den Einsatz von Pseu-
dokraft mit der Vorspiegelung, Widerstand sei zwecklos. Noch mehr
verwickelt sich das Verhältnis von Gewalt und List, wenn man darauf
schaut, daß Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit Gewalt sein sollen,
obgleich diese Eingriffe jedenfalls bei der Freiheitsberaubung nach §239
StGB auch durch List erfolgen können, und zwar nicht nur mit List
beginnend und zur Gewalt übergehend (listiges Locken in einen Raum,
der dann abgesperrt wird), sondern auch durchgehend listig (Fesseln ans
Haus durch die Lüge, um das Haus herum schwebe eine Giftgaswolke).
Die Gründe für die Verwirrungen liegen nicht nur beim Gewaltbe-
griff, sondern auch bei einer zu sorglosen Ausdehnung der List. Setzt
man List mit jeder Täuschung und jeder Lüge gleich, so ergeben sich
zahlreiche Fälle, in denen nicht ersichtlich ist, weshalb der listig Vorge-
hende für das Ergebnis als Garant zuständig sein soll; denn daß jemand
lügt oder sonstwie täuscht, heißt nicht schon, der Adressat habe ein
Recht auf Wahrheit. In denjenigen Bereichen, in denen es keine Garantie
der Wahrheit gibt, kann List überhaupt keine Tatmittel sein, auch nicht
bei Freiheitsberaubung. Beispielhaft gesprochen: Wer im Hausflur sei-
nen Wohnungsnachbarn, der soeben zu einem Spaziergang aufbrechen,
will, belügt, es herrsche besonders übles Wetter oder wegen einer
Demonstration komme man nirgends durch, hindert den Adressaten
listig daran, das Haus zu verlassen. Dies ist freilich ebensowenig Nöti-
gung, wie es Freiheitsberaubung ist; denn im Bereich der alltäglichen
Gelegenheitsgespräche besteht kein Recht auf Wahrheit, da der Sinn
solcher Kontakte so diffus ist, daß sich Haftung im Fall mangelnder
Korrektheit damit nicht verträgt. Also bleibt der Adressat für die
Nötigung durch Gewalt 809

Richtigkeit der Information selbst zuständig. Anders verhält es sich,


wenn der objektive Sinn einer Information nur in ihrer Richtigkeit liegen
kann. Dann muß sich jeder, der sich auf den Informationsaustausch
einläßt, auch auf die Verbindlichkeit einlassen, also Wahrheit garantie-
ren. In diesem Bereich läßt sich freilich kein Grund mehr finden, mit
dem List und Gewalt getrennt werden könnten: Wer eine Wahrheitsga-
rantie verletzt, zwingt mit Gewalt; denn wie einer Person Leben, Leib,
Freiheit, Eigentum, soziale Beziehungen und anderes mehr garantiert
werden müssen, um ihr eine Entfaltungschance zu geben, so muß
bereichsweise auch Wahrheit garantiert werden. Bereichsweise Kenntnis
der Wahrheit ist ein unverzichtbares Organisationsmittel. In einem
Nötigungstatbestand ist die Differenzierung zwischen etwa Gewalt als
Körperverletzung und Gewalt als Verletzung der Wahrheitsgarantie fehl
am Platz, da die genannten Güter äquivalente Bedingungen für die
Nutzung der Verhaltensfreiheit sind. Beispiel: Wenn eine Person die
wahrheitsgemäße oder lügenhafte Nachricht des wirklichen oder vor-
geblichen Ordnungsamts erfährt, die Bürger eines Ortsteils sollten
wegen einer Giftgaswolke bei ansonsten bestehender Lebensgefahr zu
Hause bleiben, muß sie - jedenfalls bis sie sich weitere Informationen
verschafft hat - darauf vertrauen. Ansonsten könnte sie ihr Leben zwar
immer noch heroisch planen, nicht aber rational im Sinn einer Erhaltung
ihrer Güter. Bei wirklichen oder vorgeblichen amtlichen Auskünften
von existentieller Bedeutung besteht also ein Recht auf Wahrheit. Nicht
das Verständnis solcher garantiewidriger List als Gewalt ist problema-
tisch, sondern problematisch ist, wo die Grenzen des Rechts auf Wahr-
heit und damit auch die Grenzen der Gewalt liegen. Dies kann hier nicht
weiter verfolgt werden43.

III.
Das gewonnene Ergebnis - Gewalt als Verletzung garantierter Rechte
- kann nicht ohne Auswirkungen auf die Interpretation der nötigenden
Drohung44 bleiben. Wenn Gewalt nur die Beeinträchtigung der garan-

43 Einige mögliche Ansätze sind formuliert bei Jakobs, Jescheck-Festschrift, 1985,


S. 627 ff, 633 Fn. 29. Erstaunlich gering ist das Problembewußtsein bei der Behandlung der
Nachkommen des gemeinrechtlichen falsum ausgeprägt, insbesondere beim Betrug und bei
der Urkundenfälschung (§§ 263, 267 StGB). Üblicherweise wird argumentiert, als sei hier
ein umfassendes Recht auf Wahrheit garantiert; das mag im Ergebnis auch stimmen, ist
aber nicht gerade selbstverständlich, z. B. nicht im Fall OLG Frankfurt NJW 1971 S. 527 f.
44 Die Drohung ist ein Unterfall der Gewalt, und zwar der Gewalt mit variierbarer

Wirkung (oben Fn. 33). Auch wenn der Drohende nur vorgeblich in der Lage oder willens
ist, die angedrohte Verletzung garantierter Rechte durchzuführen, handelt es sich um
aktuelle Gewalt, denn schon der Bedrohungseffekt ist ein Einbruch in dem Opfer
garantierte Rechte (siehe §241 StGB); mit anderen Worten, eine Drohung nimmt der
810 Günther Jakobs

tierten Organisationsmittel einer Person ist, so daß insbesondere die


Verletzung nicht-garantierter Ansprüche vertraglicher oder sonstiger
Art, geschehe sie durch eine Handlung oder eine Unterlassung, keine
Gewalt ist, fehlt jeder Grund, die Ankündigung des Bruchs nicht-
garantierter Rechte (oder gar die Ankündigung rechtmäßigen Verhal-
tens) als Nötigungsmittel zu behandeln. Es ist also genau umgekehrt zu
argumentieren, als es bei der Entwicklung des sogenannten modernen
Gewaltbegriffs geläufig geschah: Es darf nicht aus der uferlosen Fassung
des Tatbestands, nach der jede Drohung mit irgendeinem empfindlichen
Übel als Tatmittel hinreicht, der Schluß gezogen werden, jede vollzo-
gene nachteilige Änderung der Welt sei Gewalt45; vielmehr ist aus der
Beschränkung der Gewalt auf den Bruch garantierter Rechte der Schluß
zu ziehen, daß auch das empfindliche Übel als Bruch garantierter Rechte
qualifiziert werden muß. Wenn die Nichterfüllung eines nicht-garantier-
ten Anspruchs, insbesondere eines Anspruchs vertraglicher Art, keine
Gewalt ist, kann die Drohung mit Nichterfüllung auch nicht als Nöti-
gungsmittel durchgehen.
Wer auf die Erfüllung nicht-garantierter Ansprüche vertraut, erhält
keinen Strafrechtsschutz, wenn er aufgrund seines Vertrauens Einbußen
an seinen Gütern erleidet, handele es sich um Einbußen an Leben, Leib,
Eigentum oder eben auch Verhaltensfreiheit. Es ist, wie schon zur
Gewalt ausgeführt wurde, gerade der Witz dieser nicht-garantierten
Ansprüche, daß ihre Absicherung durch Klagemöglichkeit im zugehöri-
gen Streitverfahren erfolgt, aber sonst nicht. Dies würde unterlaufen,
wenn die Ankündigung der Nichterfüllung strafrechtliche Konsequen-
zen hätte; sie ist ein Grund zur Klageerhebung, aber kein Grund, dem
Drohenden die Einbußen an Gütern strafrechtlich zuzurechnen, die der
Bedrohte erleidet, wenn er auf die Drohung hin Güter opfert, um doch
noch Erfüllung zu erhalten. Beispiel: Droht der Schuldner, nur zu

bisherigen Organisationsplanung des Opfers die kognitive Grundlage. Ob die zwischen


der Gewalt im üblichen Sinn und der Drohung im üblichen Sinn angesiedelten Fälle der
täuschenden Warnung (ein Recht auf Wahrheit unterstellt) und der nicht revozierbar
installierten „Drohmaschinerien" (Beispiel: Anzünden eines Hauses, so daß alles nieder-
brennt, wenn der Inhaber nicht löscht; Zufahren auf einen Menschen, ohne noch bremsen
zu können, so daß dieser überfahren werden wird, wenn er nicht beiseite springt) zur
Drohung im engeren Sinn oder sogleich zur Gewalt geschlagen werden, ist gleichgültig:
Jedenfalls sind sie Gewalt, und jedenfalls ist es falsch, sie - wie es zur täuschenden
Warnung überwiegender Ansicht entspricht - straffrei zu lassen. - Eingehender Jakobs
(Fn. 26), S. 84.
45 Knodel, Der Begriff der Gewalt im Strafrecht, 1962, S. 64 und passim; Schönke/
Scbröder/Eser (Fn.26), Rdn.6, 9 vor § § 2 3 4 f f ; Maurach/Schroeder, BT Bd. 1, 6.Aufl.,
1977, § 1 4 II A I a; kritisch, aber ohne die Notwendigkeit eines Schlusses in entgegenge-
setzter Richtung zu erkennen LK-Schäfer, 9. Aufl., 1974, § 2 4 0 Rdn.50; Wolter (Fn.34),
S. 195.
Nötigung durch Gewalt 811

erfüllen, falls der Gläubiger mehr als den vereinbarten Preis zahlt, so ist
dies ein Vertragsbruch, aber weder Nötigung noch Erpressung, es sei
denn, der Schuldner wäre Garant dafür geworden, daß die Leistung
erbracht wird.

IV.
Die bisherigen Ausführungen betreffen die Frage, wie (der Nöti-
gungserfolg und) die Nötigungsmittel zu interpretieren sind. Damit ist
freilich nicht auch entschieden, ob es immer dann, wenn mit einem
Nötigungsmittel ein Nötigungserfolg herbeigeführt wird, erforderlich
ist, zu strafen. Die Verhaltensfreiheit ist über zahlreiche strafbewehrte
Rechtsgüter, von denen sie verdinglicht wird, abgesichert, hauptsächlich
über die Organisationsmittel Leben, Leib, Fortbewegungsfreiheit und
Eigentum. Die Ausgestaltung der Nötigung hat von den Schutzbedin-
gungen dieser Verdinglichungen abzusehen und sich an den Bedingun-
gen der Verhaltensfreiheit selbst zu orientieren; eine so orientierte
Ausgestaltung wurde hier für den objektiven Tatbestand entworfen. Für
den subjektiven Tatbestand ist damit nur präjudiziert, worauf sich der
Vorsatz mindestens beziehen muß. Was die Vorsatzform betrifft, so
spricht wegen des starken Schutzes der Verdinglichungen einiges dafür,
daß eine Pönalisierung derjenigen Beeinträchtigungen garantierter Frei-
heiten, die als Nebeniolge eines Angriffs auf Verdinglichungen eintreten,
verzichtbar ist. Aber auch über weitere Spezifizierungen des Vorsatzge-
genstandes ist noch zu befinden, insbesondere über eine Beschränkung
der Absicht dahin, die Freiheit nicht nur zu zerstören, sondern das
Defizit zu nutzen („Freiheitsverschiebung"). Ein gesonderter Schutz der
Verhaltensfreiheit mag sogar noch weiter reduziert werden, wenn der
Schutz der Verdinglichungen komplettiert wird und der Freiheitsverlust
bei der Strafzumessung für Angriffe auf die Verdinglichungen berück-
sichtigt werden kann.
Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach
griechischem Recht aus der Sicht des Mediziners
N I K O L A O S S. FOTAKIS

Nach der seit jeher in Griechenland herrschenden Lehre erfüllt der


therapeutische Eingriff, auch wenn er aus medizinischer Sicht indiziert
ist, lege artis durchgeführt wird, und selbst wenn er erfolgreich ist, den
Tatbestand der Körperverletzung1. Zur Aufhebung der Rechtswidrigkeit
der Handlung und Vermeidung der Bestrafung des Arztes argumentie-
ren die Autoren mit verschiedenen Rechtskonstruktionen. So wurde
z. B. erklärt, daß die ärztliche Handlung nicht rechtswidrig ist, weil sie
dem „wahren Interesse" des Kranken dient (Choraphas), oder auch
aufgrund ihrer „Sozialadäquanz" (Katsantonis).
Später entwickelte sich in der griechischen Literatur und in der
Rechtspraxis eher die Tendenz zur Loslösung der therapeutischen Maß-
nahmen von dem Begriff der Körperverletzung.
Eindeutig spricht sich Philippides, als erster in Griechenland, dafür
aus, daß „der zu therapeutischen Zwecken vorgenommene Eingriff, der
medizinisch indiziert ist und gemäß den Regeln der ärztlichen Wissen-
schaft und Kunst durchgeführt wird, in keinem Falle eine Körperverlet-
zung darstellt, selbst wenn das damit bezweckte therapeutische Ergebnis
nicht erreicht wird"2. In seiner Habilitationsschrift besteht er außerdem
darauf, daß der Arzt, damit der therapeutische Eingriff nicht die Tatbe-
standsmerkmale der Körperverletzung oder der (vorsätzlichen) Tötung
erfüllt, außer unter den obigen Voraussetzungen auch mit Einwilligung
des Patienten handeln muß3. Androulakis4 ist ebenfalls der Ansicht, „daß

' Siehe Iliopoulos, T.: System des griechischen Strafrechts. Athen 1927, 4. Aufl., Bd. A,
S.453, Choraphas, N.: a) Griechisches Strafrecht. Allgemeiner Teil. Athen 1943, Bd. A,
S. 74 und b) Strafrecht. Allgemeine Grundsätze. Athen 1966, 8. Aufl., Bd.A, S.227,
Katsantonis, A.: Die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht. Athen 1972, Bd.A,
S. 158 u. 201, Bouropolos, A.: Kommentar zum StGB. Allg. Teil. Athen 1959, Bd. A, S. 54,
Karanikas, D.: Grundriß des Strafrechts, Allg. Teil. Thessaloniki-Athen 1960, Ausg. B,
Bd.A, S.84, Sissiadis, / . : Strafrecht. Allg. Teil. Thessaloniki-Athen 1971, Bd.A, S.257
und Tsarpalas, A.B.: Die strafrechtliche Bewertung der therapeutischen Eingriffe. Athen
1976, S. 301 u. 303 ff.
2
Philippides, T. G.: Strafrecht. Sonderteil. Sakkoula 1981, Bd.b, S. 185.
3
Philippides, T. G.: Die Einwilligung des Verletzten. Habilitationsschrift. Thessaloniki
1951, S. 150.
814 Nikolaos S. Fotakis

der indizierte, lege artis durchgeführte medizinisch-therapeutische Ein-


griff nicht einmal annähernd den Tatbestand der Körperverletzung
erfüllt, sondern strafrechtlich irrelevant ist". Die Indikation der Heilbe-
handlung und ihre Ausführung lege artis sind nach Psarouda-Benaki5 die
Voraussetzungen dafür, daß sie keine körperliche „Mißhandlung" dar-
stellt und den Tatbestand der Körperverletzung nicht erfüllt. Nach
Manoledakis1" schließlich erfüllt die therapeutische Handlung nicht den
Tatbestand der Körperverletzung - bzw. ihre Rechtswidrigkeit wird
aufgehoben - sofern drei Voraussetzungen gegeben sind, nämlich a) die
Einwilligung des Patienten, b) die Notwendigkeit des Eingriffs aufgrund
des wahren Interesses des Kranken und c) die Durchführung gemäß den
Regeln der medizinischen Wissenschaft und Kunst.
Zu den Vorbedingungen für die Nichterfüllung des Tatbestandes der
Körperverletzung, d. h. für die strafrechtliche Irrelevanz des therapeuti-
schen Eingriffs, gehören demnach, außer der Indikation und seiner
Durchführung lege artis, auch der Erfolg der Behandlung nach Androu-
lakis und die Einwilligung des Patienten nach Philippides und Manoleda-
kis. Diese zwei Voraussetzungen sollen nachstehend näher beleuchtet
werden.
Der Mißerfolg des therapeutischen Eingriffs mit dem Ergebnis der
Verschlechterung oder der nicht eintretenden Besserung des Zustandes
des Kranken führt nach einer Auffassung7 dazu, daß die durchgeführte
Behandlung den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und macht die
Findung eines Weges zur Aufhebung der Rechtswidrigkeit und zum
Schutz des Arztes erforderlich. Diese Auffassung blieb jedoch nicht
ohne Widerspruch8, wonach der Arzt, sofern er nach den Regeln seiner
Wissenschaft gehandelt hat, eindeutig nicht verantwortlich ist für den
erfolglosen Ausgang der Behandlung. Nach Androulakisder das juri-
stische Problem der erfolglosen therapeutischen Eingriffe näher unter-
sucht hat, erfüllt die Behandlung, wenn sie indiziert ist, lege artis und
mit Sorgfalt durchgeführt wird, selbst wenn sie mißlingt, nicht den
Tatbestand der Körperverletzung, weil sie nicht auf eine solche abzielt,
keinen Vorsatz zur Verletzung beinhaltet und deswegen nicht nach

4 Androulakis, N.K.: Strafrecht. Sonderteil. Athen-Thessaloniki 1974, Bd. A,


S. 116-117.
5 Psarouda-Benaki, A.: Die ärztliche Pflicht zur Aufklärung des Patienten als Voraus-
setzung für seine Einwilligung. Poinika Chronika XIV. (1974), 642, Anm. 1.
6 Manoledakis, L: Das rechtliche Wesen der medizinisch-chirurgischen Eingriffe. In:
Strafrechtliche Studien. 1978, S. 107.
1 Gaphos, I.: Strafrecht. Allg. Teil. Thessaloniki 1973, Ausg. 2 a, S.227.

8 Kotsianos, S.A.: Die ärztliche Verantwortung, zivil- und strafrechtlich. Thessaloniki


1977, Ausg. B, S. 76-77.
' Androulakis, N. K.: a. a. O., S. 120-122.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 815

ihrem Ergebnis beurteilt werden darf. Bei fahrlässiger Körperverletzung


besteht der strafrechtliche Tatbestand nicht in der Verursachung des
Ergebnisses auf irgendeine Weise, sondern in seiner Verursachung durch
ein äußerlich fahrlässiges Verhalten, d.h. durch ein Vergehen bei der
Durchführung einer ansonsten legalen Maßnahme, in diesem Falle also
der therapeutischen Behandlung.
Seine nachstehend dargestellten Auffassungen rufen jedoch beim
Mediziner Vorbehalte hervor:
Der Mißerfolg der Heilbehandlung ist gewöhnlich verbunden mit
dem ärztlichen Fehler während ihrer Ausführung. Mangels eines solchen
mißlingt ein Eingriff, außer bei unvorhersehbaren unglücklichen Zufäl-
len, nur, wenn von vornherein ein Risiko besteht, d. h. wenn er beson-
dere Gefahren enthält, zusätzlich zu denen, die bei jedem unternomme-
nen Eingriff drohen. Wobei das „Risiko" seine „Indikation" in Frage
stellt. Die strafrechtliche Bewertung der mißlungenen Operationen mit
(erlaubtem) Risiko stellt nach Androulakis das am schwersten zu bewäl-
tigende Problem des gesamten diesbezüglichen Komplexes dar, dessen
Lösung er wie folgt sieht: Eingriffe der beschriebenen Art erfüllen nur
dann nicht den Tatbestand der Körperverletzung, wenn a) keine andere
Maßnahme zur Therapie des Kranken verblieben ist und b) der Patient
(oder - im Falle seiner Unfähigkeit - sein Vormund) sein Einverständnis
gegeben hat. Andernfalls hört der Eingriff auf, „indiziert" zu sein,
wodurch seine Unternehmung, selbst lege artis durchgeführt, einen
ärztlichen Fehler an sich darstellt („Fehlen der erforderlichen Sorgfalt")
und zur Bestrafung des Arztes gem. Art. 314 griech. StGB führen kann.
Es wurde von juristischer Seite dazu bemerkt10, daß die obige Auffas-
sung die Einwilligung des Patienten von einem Element des Ausdrucks
der Selbstbestimmung umwandelt in einen Maßstab für die Sorgfalt der
betreffenden Handlung, und so in gewisser Weise die Kriterien der
Bestimmung und Prüfung, ob eine Operation indiziert ist oder nicht,
verfälscht. O b ein riskanter Eingriff „indiziert" ist, wenn er das einzig
verbleibende Mittel zur Rettung des Patienten ist, aber mit einer hohen
Mißerfolgsquote verbunden (die jedoch nicht auf schlechte Durchfüh-
rung der Operation zurückzuführen ist), darf nicht von dem Ja oder
Nein des Patienten abhängen. Auf diese Weise wird die Einwilligung des
Patienten zu einem Faktor für die Bestimmung der „Indikation" (aus
welchem Grunde sollte man sie dann nur auf die riskanten und in ihrem
Ausgang unsicheren Eingriffe beschränken?) und somit zu einer Kom-
ponente der Verankerung der Haftung „für Körperverletzung" auf dem
Wege der (äußerlichen) Fahrlässigkeit. Die vorsätzliche Verletzung der
persönlichen Freiheit — nicht strafbar mangels entsprechender Vorschrif-

10 Psarouda-Benaki, A.: a . a . O . , S.643, Anm.2.


816 Nikolaos S. Fotakis

ten - wird folglich verwandelt in eine fahrlässige Schädigung der körper-


lichen Unversehrtheit. Der Vorteil dabei ist sicherlich, daß der Arzt so
nicht mit dem Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung belastet
wird, es wird jedoch immerhin unterstellt, daß er eine „körperliche
Mißhandlung" vorgenommen hat.
Nach Uberzeugung des Mediziners müssen die „Indikation" und das
„erlaubte Risiko" des therapeutischen Eingriffs nach rein objektiven
Kriterien beurteilt werden, die ausschließlich die Natur des Leidens, die
Art des Eingriffs, die Bedingungen seiner Durchführung und den
Zustand des Organismus des jeweiligen Kranken betreffen, unabhängig
von seinem Einverständnis. Wenn sich nur ein therapeutischer Ausweg
zur Besserung des Zustandes des Kranken anbietet und dieser auch nur
geringe Erfolgsaussichten hat, ist es die Pflicht des Arztes, diesen zu
beschreiten, und er muß erwarten können, daß die von ihm angewandte
Behandlungsmethode nicht nach ihrem Ergebnis beurteilt wird, sondern
nach ihrer Ausführung mit der gebührenden Sorgfalt und entsprechend
den wissenschaftlich gültigen Regeln. Bieten sich mehrere therapeutische
Wege an, wird zu den obigen Kriterien der Sorgfalt und wissenschaftlich
korrekten Ausführung noch die Beurteilung im Zusammenhang mit der
Wahl der für den konkreten Fall angezeigten Methode hinzugefügt.
Diese Wahl sollte wiederum nach rein medizinischen Gesichtspunkten
geschehen, unter Abwägung der positiven und negativen Konsequen-
zen, die jeder der sich anbietenden Wege nach sich zieht. Die Auffas-
sung, daß der Mißerfolg des therapeutischen Eingriffs gewöhnlich mit
dem ärztlichen Fehler verbunden ist und daß ohne diesen der Eingriff,
außer bei unvorhersehbaren unglücklichen Zufällen, nur mißlingt, wenn
er von vornherein mit einem Risiko behaftet ist, entspricht außerdem
nach ärztlicher Erfahrung nicht den Tatsachen. Der Mißerfolg kann
wohl Folge eines Fehlers des Arztes sein, es ist aber ebenso möglich, daß
er mit dem Zustand des kranken Organismus und der Schwere und
sonstigen Besonderheiten der Erkrankungen im Zusammenhang steht,
aber auch mit anderen Faktoren, die während ihrer Entwicklung auftau-
chen und nicht von Anfang an vorhersehbar sind. All dieses ist nicht
immer durch den Arzt beeinflußbar. Nach Ansicht des Mediziners darf
der wissenschaftlich indizierte, lege artis und sorgfältig durchgeführte,
selbst hoch riskante Eingriff daher nicht den strafbaren Tatbestand der
Körperverletzung erfüllen, unabhängig von seinem Ergebnis; eine Auf-
fassung, die auch von juristischer Seite Unterstützung gefunden hat.
Philippides" schreibt dazu: „Auch der erfolglose, lege artis vorgenom-
mene therapeutische Eingriff erfüllt strafrechlich nicht den Tatbestand
der vorsätzlichen Körperverletzung oder Tötung, da der Vorsatz des

11
Philippides, T. G.: Die Einwilligung des Verletzten. S. 186 A n m . 2 u. S. 150 Anm.3.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 817

Arztes (seine Kenntnis und sein Wille) nicht auf die Hervorrufung einer
Körperverletzung oder des Todes gerichtet ist, sondern im Gegenteil auf
die Vermeidung bzw. Abwendung der negativen Folgen. Noch wird der
Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung erfüllt, da der therapeuti-
sche Eingriff, lege artis vorgenommen, nicht die im Verkehr erforderli-
che Sorgfaltspflicht verletzt." Und an anderer Stelle betont er, daß nur
wenn der Arzt diese Regeln verletzt, d. h. die Vorschriften der ärztlichen
Wissenschaft und Kunst nicht eingehalten hat und nicht mit Einwilli-
gung des Patienten und dem Ziel, ihn zu heilen, gehandelt hat, entweder
vorsätzlich oder fahrlässig, sich die Frage seiner Verantwortung ergibt.
Die Einwilligung des Kranken hebt nach dem Gesetz (Art. 308, Par. 2
griech. StGB) die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung auf, allerdings
nur, wenn es sich um eine „einfache" Körperverletzung handelt, nicht
im Falle der „gefährlichen", der „schweren" und derjenigen „mit Todes-
folge". Wenn aber die Einwilligung das Unrecht nur der einfachen
Körperverletzung aufhebt, es ihr also an Gewicht gegenüber der gefähr-
lichen und schweren fehlt, ergibt sich von selbst, daß die schweren
Gesundheitsschäden selbst gegen den Willen des Kranken abgewandt
werden können und müssen. Denn die eventuelle Verweigerung der
Einwilligung zum Eingriff käme ganz einfach einer rechtlich unbedeu-
tenden Einwilligung zur Schädigung der Gesundheit durch Unterlassen
gleich. Dennoch, wenn die Entscheidung zum Eingriff die Akzeptanz
des wahrscheinlichen Todes oder schwerer Schädigung der Gesundheit
in sich birgt, versteht sich von selbst, daß niemandem verziehen wird,
der diese Entscheidung für einen anderen trifft. Die Wahrheit dieses
Satzes bestätigt sich ebenfalls bei der Betrachtung des umgekehrten
Falles. Wenn der Arzt es unterläßt, eine Operation der hier besproche-
nen Art vorzunehmen, ist er nicht verantwortlich zu machen für eine
Tötung oder Körperverletzung wegen unterlassener Hilfeleistung, weil
die mit dem Eingriff verbundene Wahrscheinlichkeit des Todes oder der
schweren Körperverletzung aus dem Sachverhalt heraus und angesichts
des Prinzips „in dubio pro reo" die Annahme ausschließt, daß der
Unterlassende das Ergebnis „nicht abgewandt" hat. Bemerkenswert ist
auch, daß je größer das Risiko, um so intensiver und klarer auch die
Einwilligung des Patienten sein muß. Bei einem hochgradigen Risiko
muß die Einwilligung sich den Grenzen des „ernstlichen und dringenden
Verlangens" gem. Art. 300 griech. StGB („Tötung auf Verlangen")
nähern 12 . Es gibt ebenfalls die Auslegung13, da der gesamte Komplex der
Einwilligung des Patienten in den Rahmen der persönlichen Freiheit und
Selbstbestimmung gestellt wird, und wenn wir akzeptieren, daß der

12
Androulakis, N.K.: a . a . O . , S. 119 A n m . 4 3 u. S. 121.
13
Psarouda-Benaki, A.: a . a . O . , S.643 A n m . 2 .
818 Nikolaos S. Fotakis

indizierte und erforderliche medizinische Eingriff keine Form der Kör-


perverletzung darstellt, daß er dann - als Eingriff in den Körper, welcher
Schwere auch immer - unabhängig ist von dem Vorliegen der Einwilli-
gung. Die indizierte ärztliche Maßnahme ohne die Einwilligung oder
auch gegen den Willen des Kranken ist danach nur problematisch in
bezug auf die Verantwortung, die sie im Rahmen der Verletzung der
persönlichen Freiheit schafft. Nach einer dritten Auffassung14 wird
schließlich von den drei Voraussetzungen, deren Vorhandensein zur
Folge hat, daß die therapeutischen Eingriffe nicht den Tatbestand der
Körperverletzung erfüllen bzw. daß ihre Rechtswidrigkeit aufgehoben
wird - d.h. der Einwilligung, dem Dienst am wahren Interesse des
Patienten und der Durchführung lege artis - der erstgenannten gegen-
über den beiden anderen in den letzten Jahren allmählich eine geringere
Bedeutung zugesprochen. In einer Zeit, in der die Gesundheit keine
Angelegenheit des Einzelnen darstellt - zumindest nicht darstellen
sollte - , sondern Sache der gesamten Gesellschaft, scheint, so der Ver-
fasser, die Einwilligung des Kranken kein entscheidendes Kriterium für
den Ausschluß der Rechtswidrigkeit der medizinisch-chirurgischen Ein-
griffe zu sein. Aus systematischer Sicht kann sie nicht einmal den
Tatbestand der Straftat der Körperverletzung ausschließen, da die Ver-
letzung des Körpers oder der Gesundheit objektiv feststellbar und
keinesfalls abhängig von der Existenz oder Nichtexistenz der Einwilli-
gung des Kranken ist, die ja nach ihrem Tatbestand ein konstitutives
Merkmal der Straftaten gegen die persönliche Freiheit darstellt.
Im Gegensatz dazu betrachtet Tsarpalas15 in seiner sehr ausführlichen
Monographie über die strafrechtliche Bewertung der therapeutischen
Eingriffe die Einwilligung als unabdingbare Voraussetzung für den
Ausschluß des Tatbestandes der Körperverletzung; er unterscheidet
zwischen Einwilligung, die den Tatbestand der obigen Straftat aus-
schließt, und Einwilligung, die die Rechtswidrigkeit der Handlung
aufhebt und bemerkt schließlich, und in diesem Fall stimmt der Autor
ihm zu, daß die Fähigkeit zur Einwilligung von den psychischen und
geistigen Eigenschaften der Person abhängt, jedoch im Zusammenhang
gesehen mit ihrem Objekt, d.h. mit der Art des therapeutischen Ein-
griffs.
Der Kranke kann häufig über die erforderlichen Maßnahmen nicht
frei entscheiden, da ihm einerseits die Fachkenntnisse fehlen, die ihm die
richtige Einschätzung sichern würden, zum anderen aber auch weil er
sich in einer für die rechte Urteilsbildung ungünstigen psychosomati-

14 Manoledakis, I.: a.a.O., S. 108-109.


15 Tsarpalas, B.A.: a.a.O., S.524-525 u. 536.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 819

sehen Verfassung befindet, meint ebenfalls Manoledakis^, indem er sich


auch auf Daskalopoulos" beruft. Die obigen Ansichten, die die Bedeu-
tung der Einwilligung mindern, finden zweifellos den Beifall des Arztes,
der mit der Psychologie des Kranken vertraut ist. Nicht selten sind
Zustimmung oder Ablehnung des Patienten nicht das Ergebnis tatsäch-
lich freier Willensbildung.
Der Einwilligung geht die Aufklärung des Patienten voraus; was ihren
Umfang und Inhalt anbetrifft, besteht in der griechischen Fachliteratur
keine Einigkeit. Der Arzt ist nach einer Auffassung18 zu dieser Aufklä-
rung verpflichtet, damit sich der Patient ein eindeutiges und klares Bild
seines Gesundheitszustandes machen kann, d.h. das Wesen seiner
Erkrankung, die Bedeutung und Wichtigkeit des geplanten Eingriffs und
die ihm immanenten Gefahren sowie Erfolgs- und Mißerfolgsaussichten
begreifen kann, mit dem Ziel, ihn in die Lage zu versetzen, frei zu
entscheiden, ob er den Eingriff akzeptiert oder ablehnt. Nach Androula-
kis19 muß dem Arzt die Freiheit gewährt werden zu bestimmen, ob und
in welchem Maße er den Patienten bezüglich der Art seiner Krankheit
unterrichtet; es ist aber erforderlich, daß ihm die Art des Eingriffs und
seine voraussichtlichen Folgen, angesichts derer sein Einverständnis
gefordert wird, nicht verborgen werden. Nicht notwendig ist es dage-
gen, ihm Einzelheiten zu offenbaren, besonders wenn ihre Bekanntgabe
sich zum Schaden des Kranken auswirken kann. Auch Psarouda-
Benaki20 hält die Unterrichtung des Kranken über die Art des Eingriffs
mit seinen Folgen und Risiken für unabdingbar. Bezüglich der mögli-
chen Folgen oder Komplikationen bleibt offen, ob und wieweit der Arzt
aufklärt. Nicht eindeutig geklärt sind ebenfalls die Kriterien, auf die sich
seine eventuelle spätere gerichtliche Beurteilung hinsichtlich dieser Frage
stützt. Der Umfang der Aufklärung, so wird es in der Wissenschaft und
der Rechtsprechung formuliert, muß der erforderlichen Information
eines imaginären „durchschnittlich vernünftigen Patienten" entsprechen.
Eine Forderung, die nach Ansicht des Verfassers in der Praxis dem Arzt
keinerlei Anhaltspunkt bietet. Er muß, so betont die Autorin, nach
seinem Gewissen handeln, um dem Dilemma zu begegnen, das aus dem
Konflikt seiner Pflichten hervorgeht, und im weiteren seine juristische
Rechtfertigung dem Verständnis des Gerichts überlassen. Der Verfasser
ist der Meinung21, daß der Arzt die Aufklärung des Patienten in die

" Manoledakis, I.: a . a . O . , S. 108.


17 Daskalopoulos, I.: Psychologische Motive für die gerichtliche Fehlentscheidung.
Athen 1965, S. 95 ff u. 101 ff.
18 Tsarpalas, B.A.: a . a . O . , S.562-563.
" Androulakis, N.K.: a . a . O . , S. 121-122.
20 Psarouda-Benaki, A.: a . a . O . , S.644ff.
21 Fotakis, N. S.: Die Aufklärung des Patienten. Medizinrecht 1986 (im Druck).
820 Nikolaos S. Fotakis

gesamte therapeutische Behandlung eingliedern muß, mit dem Ziel


seiner Anpassung an die Gegebenheiten seines Krankheitszustandes und
der Vermeidung von Angst- und sonstigen psychopathologischen Reak-
tionen, die selbstverständlich die therapeutischen Bemühungen erschwe-
ren würden. Daraus folgt, daß die Aufklärung in ihrem Umfang und
Inhalt mit dem Maßstab der Persönlichkeit und des psychischen Zustan-
des des jeweiligen Patienten, und nicht der juristischen Absicherung des
Arztes, vorgenommen werden muß. Letztere ist Werk des Juristen,
zumal der Wert der Einwilligung des Patienten unter diesen Bedingun-
gen in der Realität unterschiedlich ist.
Die eigenmächtige Heilbehandlung des Arztes, ohne oder auch gegen
den Willen des Kranken, ist ständiger Gegenstand von Diskussionen.
Nach einer Auffassung verletzt der Arzt, der eigenmächtig handelt,
das Rechtsgut nicht der Gesundheit sondern der persönlichen Freiheit,
und seine Bestrafung ist nur möglich nach den Bestimmungen des
Art. 330 griech. StGB (Nötigung), und zwar auch hier nur in sehr
seltenen Ausnahmefällen. D. h. die eigenmächtige Heilbehandlung,
sofern sie indiziert ist, kann eine strafbare Verletzung der persönlichen
Freiheit nur darstellen, wenn sie a) abzielte auf die Abwendung einer
„einfachen" (nicht schweren) Gesundheitsschädigung oder b) zwar die
Abwendung ernsterer Gefahren betraf und unmöglich ohne Schaden
aufschiebbar war, der Patient aber ihren Aufschub gefordert hatte22. Es
wurde überdies die Ansicht vertreten, daß die indizierte und erforderli-
che Heilbehandlung auch von der Schwere der Gesundheitsschädigung,
zu deren Abwendung sie durchgeführt wird, unabhängig gemacht wer-
den muß23, und daß der Arzt das Recht hat, zum Wohle des Kranken,
der möglicherweise kein klares Bild über seinen Zustand hat, eigenmäch-
tig zu handeln 24 .
Die gegenteilige Meinung stützt sich u. a. auf ein älteres Urteil des
Höchsten Gerichtshofs (Areopag), nach dem „jedem Arzt bei jeglicher
Behandlung, auch wenn diese von ihm als dringend und absolut notwen-
dig zur Abwendung einer möglichen Lebensgefahr beurteilt wird, jeder
medizinische Eingriff, welcher Art auch immer (Strahlenbehandlung,
radioaktive Therapie, pharmazeutische Therapie, operative Behandlung
etc.), ohne das diesbezügliche Einverständnis der kranken Person"
verboten ist. Dieses Urteil stieß auf scharfe Ablehnung (Kotsianos)15.
Nach dieser Betrachtungsweise ist es für die Bestrafung des eigenmächtig
handelnden Arztes irrelevant, ob die zum Zwecke der Heilung des

22
Androulakis, N.K.: a.a.O., S. 118-119.
25
Psarouda-Benaki, A.: a.a.O., S.643, Anm.2.
24
Sissiadis, /.: a.a.O., S.259.
25
Areopag 541/1958. Nomikon Vima 7 (1959), S. 61-62.
Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 821

Kranken unternommene Behandlung seinen Gesundheitszustand ver-


bessert hat, ihn geheilt oder ihm sogar das Leben gerettet hat. Wenn die
Einwilligung fehlt, wird der Arzt stets wegen Körperverletzung
bestraft26. Aus ärztlicher Sicht ist dies natürlich inakzeptabel.
Die eigenmächtige Heilbehandlung, unabhängig vom Einverständnis
des Patienten, ist nicht nur Recht des Arztes, sondern sogar seine
Pflicht. Diese Verpflichtung geht hervor aus Art. 8, Abs. a) des Kgl.
Dekrets 15-6/1955 „über die Ordnung der ärztlichen Standesethik",
erlassen kraft Ges. 1515/1939, nach dem „nicht erlaubt sind jegliche
nicht indizierten therapeutischen oder chirurgischen Eingriffe oder
Experimente, die das Gefühl der persönlichen Freiheit und den freien
Willen eines Kranken bei gesundem Geisteszustand verletzen könnten."
Nach der am besten begründeten Auslegung27 ist demnach die Durch-
führung eines indizierten Eingriffs dem Arzt selbst gegen den Willen des
Kranken geboten, während nach der entgegengesetzten Auffassung28 der
Wille des Kranken für den Arzt verbindlich ist. Zur Untermauerung
seiner Ansicht beruft sich Androulakis29 auch auf Art. 9 der obigen
Ordnung über die Standesethik, nach dem „der Arzt zur unbegrenzten
Sorge um die Erhaltung und Rettung des Lebens" verpflichtet ist und
betont, daß die allgemeine Pflicht zur Lebensrettung des Nächsten sogar
im Gesetz mit Strafandrohung verankert ist (Art. 307 griech. StGB),
während überdies der behandelnde Arzt als „Träger einer besonderen
Rechtspflicht", als Garant des Lebens und der Gesundheit des Kranken
eingesetzt ist und im Falle der Vernachlässigung seiner Pflichten mit
Bestrafung nach Art. 15 griech. StGB - Tötung oder Körperverletzung
durch Unterlassen - rechnen muß. In seinem Gutachten bezieht sich der
Staatsanwalt des Strafgerichts Athen, Sp. Kaninias30, auf den Wert des
Lebens und der Persönlichkeit des Menschen und betont, daß der Arzt
im Falle des Konflikts zwischen seinen Pflichten - der „Rettung des
Lebens" und der „Achtung der Persönlichkeit" des Patienten - die
erstgenannte voranstellen und zum indizierten therapeutischen Eingriff
schreiten muß, selbst ohne die Einwilligung des Kranken.
Die Handlungsmöglichkeit des Arztes unabhängig vom Willen des
Patienten wird auch auf dem Wege der mutmaßlichen Einwilligung
gegeben, wie ihn Philippides, gestützt auf die Lehre von Mezger, uns in
seiner Habilitationsschrift vorgeschlagen hat31. Wenn es dem Arzt nicht

26 Tsarpalas, A. B.: a. a. O., S. 394 u. 4 0 9 ^ 1 0 .


27 Androulakis, N.K.: a . a . O . , S. 118, Psarouda-Benaki, A.: a . a . O . , S.642 Anm.2.
28 Tsarpalas, A. B.: a. a. O., S. 367-368 Anm. 6.

25 Androulakis, N.K.: a . a . O . , (Anm.6).


30 Kaninias, S.: Staatsanwaltliches Gutachten 17/7.7.1976. Poinika Chronika XVI.
(1976), S. 507-508.
51 Philippides, T.G.: a . a . O . , S. 157-158 u. 160-161.
822 Nikolaos S. Fotakis

möglich ist, den Patienten aufzuklären, sei es weil dieser nicht in der
Lage ist, die Vorgänge klar zu begreifen, sei es weil die Aufklärung ihm
wegen seines Zustandes schaden würde, handelt der Arzt therapeutisch,
indem er annimmt, „daß der Kranke sicher seine Einwilligung gäbe,
wenn er den Stand der Dinge kennen würde". Folglich, so schließt der
Autor, müssen obige Fälle beurteilt werden, als wäre die Einwilligung
tatsächlich vom Kranken gegeben worden, und die Rechtswidrigkeit der
Handlung muß ausgeschlossen werden. Dies gilt natürlich nur, wenn
durch die Maßnahme des Arztes dem Wohle des Kranken gedient wird
und nicht dessen ausdrücklich ausgesprochener gegenteiliger Wille vor-
liegt. Nach Tsarpalas liegt das Hauptanwendungsgebiet der Theorie
über die mutmaßliche Einwilligung bei den therapeutischen Eingriffen.
Der Arzt muß allerdings jeweils vermuten, welcher der Wille des
konkreten Patienten ist und sich danach richten; er darf nicht handeln
aufgrund dessen, was ein beliebiger Kranker generell „wollen müßte" 32 .
O b es möglich ist, daß der Arzt dieser letzten Forderung in der Praxis
immer entspricht, ist zumindest zweifelhaft.
Die Betrachtung der obigen Ausführungen veranlaßt den Mediziner
zu verschiedenen Kommentaren.
Die Tatsache, daß die therapeutischen Eingriffe als Körperverletzung
angesehen werden, deren Rechtswidrigkeit in der Folge auf dem einen
oder anderen juristischen Wege abgewandt werden muß, ist für den Arzt
unbegreiflich. Die Medizin hat das Wohl und nicht den Schaden des
Kranken zum Ziel.
Der therapeutische Eingriff darf nicht nach seinem Ergebnis beurteilt
werden, weil dieses zwar einerseits abhängig ist von der ärztlichen
Maßnahme, andererseits aber von verschiedenen Faktoren, die im
Zusammenhang stehen mit den Besonderheiten der Krankheit und dem
Organismus des Kranken und nicht immer vom Arzt beeinflußbar sind.
Die richtige Abwägung und Auswahl der indizierten Heilbehandlung,
die Sorgfalt und die Durchführung lege artis, so daß die Therapie dem
gültigen Stand der Wissenschaft und den speziellen Bedürfnissen des
jeweiligen Falles entspricht, müßten die einzigen Kriterien für die recht-
liche Bewertung des Verhaltens und der Verantwortlichkeit des Arztes
sein, natürlich unter Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen er
gehandelt hat und der Möglichkeiten, die ihm im gegebenen Fall zur
Verfügung standen.
Es stellt sich außerdem die Frage, ob jede oder nur die grobe Fahrläs-
sigkeit strafrechtlich zu verurteilen ist. Der Verfasser plädiert für die
zweite Auffassung.

32 Tsarpalas, A.B.: a.a.O., S.613 u. 624-625.


Strafrechtliche Verantwortung des Arztes nach griechischem Recht 823

Die Schaffung der Möglichkeit zur eigenmächtigen Heilbehandlung


des Arztes ist zum Nutzen des Kranken geboten, in bestimmten Fällen
selbst gegen seinen Willen. Das Werk des Arztes ist sicher erfreulicher
und gibt ihm größere ethische Befriedigung, wenn er nach Aufklärung
des Kranken und dessen Einwilligung handelt. Unter dem Einfluß seiner
Krankheit jedoch und wegen des unvollkommenen Bildes, das er über
seinen Zustand hat, dessen Komplexität und Gefahren er nicht begreifen
kann, und schließlich auch unter dem Einfluß der Angst- oder sonstigen
psychopathologischen Reaktionen, die er im Rahmen seines Leidens
entwickelt hat, ist es dem Patienten nicht selten unmöglich, wirklich eine
unabhängige Meinung zu bilden. Wie es jedem, der sich mit der Psycho-
logie des Leidenden befaßt, wohl bekannt ist, gibt oder verweigert er
sein Einverständnis aus den verschiedensten Motiven. Der Arzt ist daher
verpflichtet, das wahre Interesse des Patienten zu verteidigen, und Werk
des Gesetzgebers ist es, ihm diese Möglichkeit zu gewähren, indem er
die Androhung strafrechtlicher Folgen seiner eigenmächtigen Handlung
aufhebt, sofern der Arzt „gebührend" handelt. Die Betrachtung der
eigenmächtigen therapeutischen Maßnahmen als strafbare Handlung
nicht gegen die Gesundheit, sondern gegen die persönliche Freiheit stellt
bereits einen bedeutenden Schritt dar, jedoch nicht die Lösung, da sie die
Strafandrohung für den Arzt nicht aufhebt, selbst wenn er zum Wohle
des Kranken gehandelt hat. O b der Weg der mutmaßlichen Einwilligung
die Antwort auf das Problem sein könnte, kann der Mediziner nicht
entscheiden.
Die Wichtigkeit der Rechtsgüter (Leben, Gesundheit), die die thera-
peutischen Eingriffe verteidigen, rechtfertigt - besonders in Anbetracht
der besonderen Natur und Komplexität dieser Eingriffe - die Frage nach
der Einrichtung von Sonderverfahren für ihre strafrechtliche Bewertung.
Bei der Beurteilung der Verantwortung des Arztes muß die Meinung der
Fachkollegen entscheidendes Gewicht haben, entweder durch verstärkte
Beteiligung des Sachverständigen während der gesamten gerichtlichen
Untersuchung oder sogar durch die Berufung von im Arztrecht speziali-
sierten Medizinern auf den Richterstuhl.
D a s Erscheinen des Arztes als Angeklagter vor Gericht hat, auch
wenn er freigesprochen wird, die Behaftung mit einem Makel und die
ethische Herabsetzung seiner Person zur Folge, darüber hinaus aber
auch die Beeinträchtigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in den
Arztberuf; das Ergebnis ist also schließlich die Schädigung des Allge-
meinwohls. Aus diesem sozialen Grunde wäre es zweckmäßig, wenn die
Untersuchung derartiger Fälle während des vorgerichtlichen Verfahrens
so stattfindet, daß nur diejenigen vor Gericht gelangen, in denen der
Arzt tatsächlich belastet wird.
Zusammenfassend soll bemerkt werden, daß durch die übermäßige
824 Nikolaos S. Fotakis

gesetzliche Überwachung des Arztes, die ihn zwingt, ständig die straf-
rechtlichen Folgen seiner Handlungen abzuwägen, seine Aktivität und
Handlungsfreiheit eingeschränkt werden; sie behindert ihn in seiner
Bereitschaft, die Behandlung an die Erfordernisse des jeweiligen Falles
anzupassen, weil ihre Individualisierung Abweichungen von standardi-
sierten Methoden und Änderungen von Therapieschemata mit sich
führen kann, die medizinisch zwar sinnvoll, juristisch jedoch möglicher-
weise riskant wären, und wirkt sich schließlich zu Lasten desjenigen aus,
um dessen Schutz das Gesetz bemüht ist, nämlich des Kranken.
El fenómeno de la droga en España
A s p e c t o s penales

MARINO BARBERO SANTOS

I.

E l f e n ó m e n o d e la d r o g a c o n s t i t u y e en la a c t u a l i d a d u n p r o b l e m a
g r a v e . S o n e n o r m e s sus c o s t o s s o c i a l e s , en m e n o s c a b o d e la s a l u d física o
mental, internamientos hospitalarios, absentismo laboral, r e d u c c i ó n de
productividad, accidentes de trabajo, d o m é s t i c o s o de tráfico, mayor
c o m i s i ó n d e d e l i t o s , a u m e n t o d e la d e s v e r t e b r a c i ó n c o m u n i t a r i a , a nivel
familiar o c o l e c t i v o , e, i n c l u s o , en p é r d i d a s d e vidas h u m a n a s 1 . E n algún
E s t a d o es tal la m a g n i t u d d e sus e f e c t o s s o b r e la e c o n o m í a d e la n a c i ó n ,
sus v i n c u l a c i o n e s con el p o d e r p o l í t i c o y su e l e v a d o c o n s u m o que
a d q u i e r e el c a r á c t e r d e p r o b l e m a n a c i o n a l 2 . E l r e c i e n t e C o n g r e s o d e las
N a c i o n e s U n i d a s p a r a la P r e v e n c i ó n del d e l i t o y el T r a t a m i e n t o del
d e l i n c u e n t e , q u e a c a b a d e c e l e b r a r s e en M i l á n , h a m o s t r a d o q u e , p o r su
d i f u s i ó n e n la g e n e r a l i d a d d e los paises, el f e n ó m e n o h a c o b r a d o u n a
p r e o c u p a n t e d i m e n s i ó n universal 3 .

1 Barbero Santos: Los marginados ante la ley penal (La Ley de Peligrosidad y
Rehabilitación Social de lege ferenda) en «Libro Homenaje al profesor José Antón Oneca»,
Salamanca, 1982, p. 77 y ss.
2 Hurtado Pozo: Terrorismo y tráfico de drogas, en «La droga en la sociedad actual»,
San Sebastian, 1985, p. 172.
3 Le trafic de drogues - con palabras de Gerhard O. W. Mueller- a pris de proportions
si gigantesques dans le monde entier qu'il constitue une veritable dimension nouvelle de la
criminalité. La producción de drogas, añade, echape quasiment au contrôler ( . . . ) Ce
problème concerne ( . . . ) la stabilité du monde, puisqu'il cause la déstabilisation de
gouvernements, la corruption des administrations, une criminalité importante et la misère
et l'incapacité sociale de millions de gens (Rapport Général de la Association Internationale
de Droit Pénal, en «New Dimensions of Criminality and Crime Prévention in the Context
of development: Challenges for the future», Documents submitted to the Saint-Vincent
Congress, 1965 (A/CONF. 121 / N G O 3), p. 28. Tan solo en E E U U el valor de las drogas
consumidas ¡legalmente se estima en 80 mil millones de dólares. Según el Libro blanco
sobre la droga (publicado por Alianza Popular, Madrid, 1986, p. 19) la droga mueve en
España aproximadamente 127 mil millones de pesetas al año.
El rapport de la Comisión sobre narcóticos de las Naciones Unidas de 6 de enero de
1984 estima que en Italia hay 30 000 adictos a la heroína, en la República Federal Alemana
13300; en Gran Bretaña, 3000 etc. De interés la Relazione di base de Pino Arlacchi al 1°
tema del VII Congreso de las Naciones Unidas Prevenzione del Delito y el Tratamiento del
Delincuente, Milán, 1985, en «Quaderni della Giustizia» (49), 1985, p. 3 y ss.
826 Marino Barbero Santos

Esta gravedad y esta universalidad se ha alcanzado en muy breve


tiempo.
Las drogas, conocidas desde la antigüedad, se han usado durante
siglos en ceremonias religiosas, bacanales, rituales bélicos, experiencias
metafísicas, medicina, ingrediente de la dieta alimenticia y alivio del
cansancio en los lugares de producción, etc., es decir, su uso tradicional
cumplía una función socio-cultural 4 . En Occidente, desde principios del
X I X , como consecuencia de la expedición de Napoleón a Egipto 5 , sus
consumidores, en particular de cannabis, solían ser sectores minoritarios
de personas de edad media alta, pertenecientes a determinados círculos,
«artistas o escritores malditos», médicos, militares, etc., que acudían a
ellas en la búsqueda solitaria de placer o de fuente de inspiración.
Es cierto que desde principios de siglo se reconoció que el tráfico de
drogas planteaba un problema internacional que no podía resolverse en
un marco puramente interno. Y se fué consciente de que la adicción a los
estupefacientes llevaba a la desintegración social, como mostraba el
ejemplo de China, donde el pasado siglo, como consecuencia de la
«guerra del opio» y los tratados de Nanking (1842) y Tien-Tsin (1858),
de un 30 a un 40 % de la población era consumidora de opio. O el de
Indochina, donde del 15 al 3 0 % de las tropas francesas también lo
fumaban. Asimismo se sabía que el contrabando no conocía fronteras.
La Comisión Internacional del Opio, en su reunión de Shangai, de 1909,
inició, por ello, el camino de la fiscalización del empleo y de la
exportación de este producto y de sus derivados. Vía continuada
respecto a esta y a otras drogas por tratados varios de 1912 (La Haya),
1925 (Ginebra), 1931 (Bangkok y Ginebra), 1936 (Ginebra) etc.6
Desvinculado de su contexto cultural, el consumo de droga no era, sin
embargo, un fenómeno socialmente trascendente7. La pura disponibili-
dad, la oferta de droga, carecía de poder para creaer en Occidente una
demanda importante.
En los años sesenta, se originó en el mundo anglosajón, y se extendió a
otros paises con fuerza arrolladora, el movimiento juvenil de la cultura
alternativa hippy, de la Contracultura. La droga adquiere el valor de

4
Hutyra de Paula, Marie Madeleine: Funcoes sociais dos farmacos, «Justitia», Sao
Paulo, 1981 (vol 115), p , 1 8 y s s .
5 Florio: Réaction au phenoméne de la drogue, en «Etudes relatives a la rechérche

criminologique», vol. XIII (L'importance des stupefiants par rapport á la criminalité),


Consejo de Europa, Estrasburgo, 1975, p. 10 y ss.
6 Florio: Rapport citado en nota anterior, p. 16 y ss.

7 De 1939 a 1949, fueron hospitalizados en el Serivico de Psiquiatría del Hospital

Provincial de Madrid - única institución psiquiátrica pública a la sazón de la capital de


España - sesenta y siete morfinómanos. Ha de advertirse que el morfinismo era el mis
grave problema psiquiátrico relacionado con el consumo de drogas (González Duro:
Consumo de drogas en España, Madrid, 1979, págs. 15-16.
El fenómeno de la droga en España 827

símbolo de la unión de los jóvenes que se oponen a la familia, a la


sociedad, a los vicios de la civilización occidental. El joven que se droga
logra la consideración de rebelde a la totalidad del sistema establecido: El
consumo de droga es la manifestación de la contestación, del progre-
sismo, pero, lo que es paradógico, desde dentro del sistema. El joven
más que marginado, se automargina. La contestación, con la elección de
la vía de la droga, fué en parte un desarrollo ludico de la sociedad
capitalista.
Aranguren, profesor a la sazón de la Universidad de California, ha
descrito los aspectos estimados constructivos: la droga blanda significaba
una apertura hacia la convivialidad, hacia la convivencia, hacia un cierto
sentido de la comunidad. El alcohol, el tabaco, el café, estimulantes,
tienden a convertir al hombre en extravertido, a sacarlo de sí mismo. Por
eso su consumo es tan eficaz para el trabajo, para la acción, para la
producción. La droga blanda, por el contrario, acertaba a unir la
convivialidad con el quedarse uno dentro de sí, con los otros, pero
ensimismado. Mientras con la droga dura se buscaba un éxtasis, es decir,
una experiencia más bien religiosa8.
Arrastrados por estos presupuestos se llegó a abogar por la liberación
de la droga, total o parcialmente, como manifestación del derecho que el
sujeto tiene a elegir, incluso, su autodestrucción, a rechazar cualquier
clase de vínculo, a romper todo tipo de control social. Por ello, a pesar
de que puede llegarse al auto-aniquilamiento, en las infracciones penales
vinculadas a la droga se habló de delitos sin víctima.
En esta misma línea, incluso años después - mitad de los setenta - , un
criminòlogo tan avisado como Antonio Beristain, a guisa de orientación
para «una política criminal que respete al máximo la libertad individual y
pretenda educar a los ciudadanos para usar y disfrutar (homo ludens) de
todos los bienes hasta el límite que permita la convivencia», proponía
reformar el art. 344 del Código penal, y darle esta formulación: «Quie-
nes fomenten el uso indebido de drogas que producen dependencias
física (o psicológica) y son nocivas para la salud física o mental, y por ello
pongan en peligro concreto la salud de alguna persona, serán sanciona-
dos con la pena de privación de libertad o multa de un mes a un año. Las
penas de este artículo se impondrán en su grado máximo: I o Si los
destinatarios son menores de 18 años. 2° Al facultativo que prescribiere o
despachare tales drogas, sin cumplir los requisitos legales».
Y lo que es más sorprendente, a los reos de tráfico de drogas proponía
sancionarles: «I o Con la pena de multa de un mes a un año, y privación

8
Aranguren: El problema de las drogodependencias en el momento actual, desde una
perspectiva ética, en Beristain-De La Cuesta «La droga en la sociedad actual», San
Sebastian 1985, p.24 y ss.
828 Marino Barbero Santos

de libertad de un mes a seis meses (sic) si producen a otra persona natural


o jurídica un perjuicio de 50 000 a 500 000 pesetas, o si obtienen beneficio
económico en las mismas cantidades. 2° Con la pena de multa de uno a
dos años y privación de libertad de seis meses a un año si el perjuicio o el
beneficio económico es de 500 000 pesetas a un millón. Al triplicarse o
cuadriplicarse, etc., los perjuicios o los beneficios, se triplicarán o
cuadriplicarán, etc., las penas» 9 .
Poco tiempo ha transcurrido desde entonces, diez, doce años, y
España ha pasado desde el no consumo de drogas, al consumo masivo,
sin pasar apenas por el consumo limitado del periodo de la contestación.
Los mayores consumidores hoy no son los jóvenes automarginados de
los años sesenta en búsqueda de experiencias nuevas, por medio de la
droga, convertida en símbolo de su libertad. Son, por el contrario, los
jóvenes del paro, los que consumen masivamente droga sin demasiada
conciencia de por qué. Mayoritariamente encuadrados fuera del sistema,
del que en gran parte son sus víctimas trágicas, desarraigados familiar-
mente, marginados socialmente, empobrecidos cultural y afectivamente,
su ociosidad y su desencanto son aprovechados por las grandes multina-
cionales de la droga, la cual se convierte en símbolo de su esclavitud 10 .
Diversas encuestas y estudios verificados desde finales de los años
setenta evidencian la magnitud que el fenómeno ha adquirido en España.
La investigación llevada a cabo por las entidades C I D U R - E D I S , por
encargo del Ministerio de Cultura, en 1979, publicado en 1980 - primer
estudio de ámbito nacional sobre el consumo de drogas ilegales por la
juventud española - mostró que el 35 % de los jóvenes había consumido
drogas ilegales; el 1 2 % de manera habitual. En 1981 se publicaba en
«Documentación Social» un estudio elaborado por el Equipo de Investi-
gación Sociológica ( E D I S ) , según el cual el 41,4 por 100 de los jóvenes
entre 15 y 20 años habían usado hachís; y un 15 por 100, anfetaminas; un
7,7 por 100, cocaina; y un 2,9 por 100, opiáceos, entre los jóvenes de 15
a 17 años.

9 Beristain, en «Las drogas», Bilbao (Ediciones Mensajero), 1974, págs. 127-128.


10 Aranguren, estudio citado, págs. 26-27. Neumann: La sociedad de la droga, Buenos
Aires, 1979. Labin: El mundo de los drogados (traducción castellana de Carlos Mir Puig),
Barcelona, 1979. Los obispos de Bilbao, Pamplona, San Sebastian y Vitoria, en Carta
Pastoral de noviembre de 1984: El oscuro mundo de la droga juvenil, estiman que la droga
ha venido a «llenar el vacio dejado por la decadencia de los antiguos ideales religiosos,
sociales, políticos, que constituían un horizonte de realizaciones, un estímulo de supera-
ción y un cauce de servicio generoso. La droga, escriben, se impone por defecto. Nada
tiene sentido, no hay causas nobles por las que merezca la pena vivir. El horizonte de
futuro se nubla. N o queda sino vivir el presente intensamente y deprisa.
Entre las grandes complicidades del mundo de las drogas los obispos citan los intereses
de las grandes potencias y de los grandes traficantes internacionales.
El fenómeno de la droga en España 829

En 1980, por encargo de Cáritas Española, se realizó una muestra


nacional sobre 2000 personas de 16 a 65 años, conforme a la cual el 3,3
por 100 de la población había consumido drogas. Si estos datos fuesen
extrapolados a la población total los resultados serían que consumían
cannabis, 500 000 personas; opiáceos, 80000; cocaina, 60000; anfetami-
nas, 100000; barbitúricos, 160000.
Según el Estudio sobre Consumo de Drogas en España, realizado por
el equipo de Investigación Sociológica (EDIS) en enero de 1985, el
número de españoles que había consumido las sustancias que a continúa-
ción se indican una o más veces al día eran:11
Cannabis 900 000 3,29 % de la población
Tranquilizantes 794 000 2,64 % de la población
Hipnóticos 784 000 2,61 % de la población
Anfetaminas 339000 1,13 % de la población
Heroina 103 000 0,34 % de la población
Analgésicos 93 000 0,31 % de la población
Cocaina 29000 0,10 % de la población
Cifras no adicionables porque no pocos adictos son politoxicó-
manos12.
Asimismo muestran la difusión del fenómeno los sigiuentes datos:
En 1976 fueron 3354 las personas detenidas por tráfico o tenencia de
drogas; en 1978, 8858; en 1980, 9166; en 1982, 11076; 10125 en 1983;
11 561, en 1984. Por sólo tráfico, las cifras son aún más expresivas: 1726
en 1976; 4573 en 1978; 6455 en 1980; 8669 en 1982; 8724 en 1983.
Respecto a las sustancias decomisadas, estos son los datos:
Opiáceos: 0'102 kilogramos (1976); 8'500 kilogramos (1978); 34
(1981); 67'5 (1982); 109,3 (1983); 203 (heroina) (1984); 216 (heroina)
(1985).
Cocaina: 6'7 kilogramos (1976); 14'9 (1978); 58 (1980); 113,6 (1982);
275 (1983); 277 (1984); 271 (1985).
Cáñamo (marihuana, grifa, hachís): 5474 kilogramos (1976); 6812
(1978); 11 381 (1980); 27626 (1982); 23 346 (1983); 34319 (hachís)
(1984); 63 002 (hachís) (1985).
L.S.D.: 1616 dosis (1976); 4332 (1978); 14 868 (1980); 30538 (1982);
16458 (1983); 17781 (1984). En sólo 3 días de enero (21 a 23) se
incautaron 36495 dosis.

11
Por la no coincidencia entre las diferentes encuestas, las cifras son fundamentalmene
indicadoras de la gravedad de la situación.
12
En la Cart Pastoral El oscuro mundo de la droga juvenil, citada, los obispos estiman
qué en la Comunidad Autonoma Vasca son ya 11000 los heroinómanos, y 1000 en
Navarra. Mientras ascienden a 150000 el número de consumidores de hachís en el Pais
Vasco y a 14 000 en Navarra.
830 Marino Barbero Santos

Los fallecidos por sobredosis de drogas, o suicidio por su causa, han


sido: 34 (1981); 48 (1982); 93 (1983); 150 (1984); 120 (hasta noviembre
de 1985)13.
De la generalización del fenómeno es prueba que, de acuerdo con una
encuesta realizada, en 1983, por la Comisión de Prevención de la Droga
en el Ejército, un 57'13 por cien de los reclutas que se incorporan a filas
han consumido algún tipo de droga.
En lo que a Madrid afecta, según un estudio efectuado para la
Consejería de Educación y Juventud de la Comunidad de Madrid, casi
6000 jóvenes consumen habitualmente heroina y un 15 por 100 fuma
porros.
Más expresiva, sin duda, de lo alarmante de la situación, es la
investigación llevada a cabo por María Nieves Muñoz de la Nava y
Chacón durante los meses de febrero, marzo y abril de 1985 en las
Secciones de Medicina y Cirugía de la Unidad de Urgencias del Hospital
Provincial de Madrid.
Durante este periodo hubo 427 demandas asistenciales por parte de
381 sujetos. E ingresaron tres cadáveres por sobredosis. N o todas las
demandas fueron voluntarias (57%). El 67'50% fueron varones, el
32'50 hembras. Un 75'10 % solteros; 19'50 % casados; un 5'4 % separa-
dos. La edad media de los varones fué de 24'30 años y de las hembras
23'10 años. Un 34'40% no poseía profesión determinada; 21'60%
obreros; 14'90 %, empleados y funcionarios; 11 % estudiantes; 10'90 %,
profesiones liberales; 7'80 %, prostituidas. Un 76 % no ejercen actividad
remunerada; 14'90% laboralmente activos; 8'30%, actividades ilegales.
Un 86'10% poseen nivel de escolaridad primario; un 12% BUP o
Bachillerato superior; 1 '71 grado medio, lo que se explica porque el
hospital cubre en su mayor parte población adscrita a la beneficencia. De
los 210 sujetos que respondieron a la pregunta, un 48'10% habían sido
detenidos alguna vez por la policía; 21 % habían estado en prisión.
Tuvieron el primer contacto con la droga (190 sujetos) antes de
cumplir 13 años, el 15'80 %; entre 13 y 17 años, el 44'20 %; entre 17 y 21
años, el 28'90%, después de los 21 años, el 11'10%. La primera
sustancia consumida fué cannabis, en un 84'70%; opiáceos, en un
8'90 %; anfetaminas, en un 4'70%; inhalantes, en un 1'60 % (190
casos). El motivo de la iniciación fué la curiosidad o imitación en un
89'50%; la evasión, en un 10%, la yatírogenia, en un 0'50% (190
casos). De 375 personas, 59, 20% eran monotoxicómanos; un 40'80%
15
Agradezco estos datos al Fiscal Especial contra la droga, Sr. Jiménez Villarejo.
Según Mato Reboredo, fundador de la Brigada Especial de Estupefacientes, tan solo en
el Pais Vasco se contabilizaron, en 1981, como seguras 80 muertes. Por lo que calcula un
mínimo de 500 fallecimientos por drogas en la totalidad del Estado español (Droga y
Menores), Madrid, 1984, p.255.
El fenómeno de la droga en España 831

politoxicómanos. La principal sustancia consumida durante la investiga-


ción fué la heroína, 9 4 ' 2 0 % de los casos, seguida de cannabis, 3 ' 9 0 % ;
anfetaminas, Í'IO % e inhalantes, 0'50 %. Como segunda droga, consti-
tuyó la cocaina el 50'00 % del total. Un 88'10 % de los toxicómanos más
antiguos se han sometido a curas previas de desintoxicación.
Entre las conclusiones de la investigación selecciono las siguientes: el
elevado porcentaje de sujetos que no ha trabajado nunca, quizá por su
incorporación temprana al mundo de la droga. El progresivo descenso en
la edad de iniciación, un 60 % tuvo el primer contacto antes de cumplir
17 años. La alarmante modalidad de comenzar la toxicomanía, un 9 % de
los casos, acudiendo a la heroina por vía intravenosa. La sospecha de un
acortamiento progresivo entre la iniciación en la droga y el acceso a los
opiáceos. El enorme porcentaje de toxicómanos que han intentado una
desintoxicación seria, sin lograrlo14.
En otra investigación llevada a cabo en el primer trimestre de 1985
sobre demandas de asistencias (125) realizadas por heroinómanos en el
Servicio de Urgencias del Hospital Psiquiátrico de Madrid, fueron estas
algunas de sus conclusiones:
1) Claro predominio de demandas de asistencia por parte de varones
heroinómanos respecto a cualquier otra patología psíquica.
2) Neta relación entre mujeres adictas con compañeros o cónyuges
toxicómanos. Por el contrario ésta no se ha encontrado en el colectivo
masculino.
3) Mayor frecuencia de mujeres casadas que de varones.
4) La sustancia consumida en segundo lugar por el hombre fué
alcohol; en la mujer, cocaina.
5) Los pacientes con trabajo fijo consumen en un mayor porcentaje
dosis mínimas de heroina. Los adictos sin trabajo consumen dosis altas
con mayor frecuencia15.

II. Concepto penal de droga


El Código penal español, tras la reforma de 25 de junio de 1983, al
regular el fenómeno, emplea por vez primera junto a los de drogas
tóxicas y estupefacientes el término de «sustancias psicotrópicas», que

14 María de las Nievas Muñoz de la Nava: Demanda asistencial de drogadictos en


urgencias de un Hospital general, Tesina de Licenciatúra. Facultad de Medicina de la
Universidad Complutanse de Madrid, 1985.
Respecto al fenómeno del consumo de heroina en Alemania véase Kreuzer y colabora-
dores: Drogenabhángigkeit und Kontrolle, Wiesbaden, 1981.
15 María José Martínez Arevalo: Heroina y Hospital Psiguiátrico, Tesina de Licencia-
tura, Facultad de Medicina de la Universidad Complutense de Madrid, 1985.
Respecto al fenómeno del consumo de heroina en Alemania véase Kreuzer y colabora-
dores: Drogenabhángigkeit und Kontrolle, Wiesbaden, 1981.
832 Marino Barbero Santos

había sido sugerido por la Comisión Especial para la Reforma de la Ley


de Peligrosidad y Rehabilitación Social, que tuve el honor de presidir,
con el fin de abarcar las sustancias incluidas en el Convenio de Viena de
este nombre, de 1971, vigente en España desde 197615.
Ni los convenios internacionales ni las leyes internas reguladoras de
esta materia determinan qué se entiende por estas expresiones. Siguen un
sistema enumerativo. Así, la ley española sobre estupefacientes de 8 de
abril de 1967 establece que: «A los efectos de la presente ley se consi-
deran estupefacientes las sutancias naturales o sintéticas incluidas en las
listas I y II de las anexas al Convenio Unico de 1961 de las Naciones
Unidas sobre estupefacientes, y las demás que adquieran tal considera-
ción en el ámbito internacional» con ciertos requisitos. Asimismo los
incluidos en la lista IV. Igual sistema adoptan el Convenio Unico de 1961
de Nueva York (art. 1°) y el Convenio de Viena de 1971. El último
indica, v. gr., (art. l , d ) , que «Por <sustancia sicotrópica> se entiende
cualquier sustancia, natural o sintética, o cualquier materia natural de las
listas I, II, III o IV» que se publican en anexo, con la posibilidad de
incluir otras conforme a lo prescrito en el artículo 2.
Tanto porque la ley española de 1967 remite expresamente al Conve-
nio Unico de 1961, y porque la Exposición de Motivos de la Ley de 15 de
noviembre de 1971 manifiesta que la nueva redacción dada al artículo 344
del Código penal se verifica con la finalidad de acomodar las conductas
que prevé al citado Convenio, como porque sea el Convenio de Nueva
York, sea el Convenio de Viena, ratificados y publicados en España
forman parte - en virtud del art. 96,1° de la Constitución y del art. 1,5° del
Código civil - de nuestro ordenamiento interno, los productos incluidos
en las listas I, II y IV del Convenio de 1961, y en las listas I, II, III y IV
del Convenio de 1971, han de estimarse que constituyen las «drogas
tóxicas, estupefacientes y sustancias psicotrópicas» del art. 344 del
Código español.
Pero no solamente los productos que se registran en los elencos
citados. A mi juicio, también - mientras el legislador no determine de
manera precisa qué entiende por droga - toda sustancia que posea iguales
caracteres y que se declare expresamente tal dentro de España a tenor del
art. 3 o del Convenio y del art. 3 o de la Ley de 8 de abril de 1967 (SS. de
14-2-1974; 4-4-1975; 22-11-1978; 22-3-1984 y muchas más). El Tribunal
al hacerlo no viola el principio de legalidad. Quedaría, en otro caso, sin
posibilidad de condena el sujeto que traficase con un nuevo producto

16
Por ello, el Tribunal Supremo, en jurisprudencia constante, había negado la posibili-
dad de que el anterior texto del art. 344, que sólo sancionaba de modo expreso el tráfico de
estupefacientes, se aplicase a los productos psicotrópicos (Sentencias de 11-10-1974,
3-5-1980, 2-5-1981).
El fenòmeno de la droga en España 833

que probadamente posea efectos más deletéreos que los de otros que se
incluyen. H a de subrayarse, en este sentido, que las listas citadas no son
cerradas, sino abiertas, lo que a veces se olvida. El art. 3,3° de la
Convención Unica de 1961 sobre estupefacientes citado establece, v. gr.,
que «Si la Organización Mundial de la Salud comprueba que dicha
sustancia (es decir, una nueva sustancia) se presta a uso indebido o puede
producir efectos nocivos parecidos a los de los estupefacientes de las
listas I o II, o que puede ser transformada en un producto que se preste a
uso indebido similar o que pueda producir efectos nocivos semejantes
comunicará su dictamen a la Comisión, la cual podrá, de conformidad
con la recomendación de la Organización Mundial de la Salud, decidir
que se incluya dicha sustancia en la Lista I o en la Lista II16*.
El término droga suele emplearse, no sólo en castellano, como expre-
sión común a las sustancias (drogas) tóxicas, estupefacientes o psicótro-
pas. Y así se hace, junto a múltiples ejemplos, en el volumen «Aspects
pénaux de l'abus des drogues» (Estrasburgo, 1974), que contiene los
estudios y deliberaciones del Comité de expertos nombrado por el
Comité de Ministros del Consejo de Europa, en 1969, para investigar en
particular el fenómeno del abuso de drogas en diversos Estados miem-
bros del Consejo. Para estos fines la palabra droga se utilizó para
denominar a una sustancia (excluidos el café y el tabaco) que, a causa de
sus propiedades psico-activas u otras, puede arrastrar (est de nature á
entrainer) a un uso abusivo y, a veces, a la dependencia17.
De forma más circunstanciada son drogas sustancias naturales o
sintéticas que alteran las sensaciones, la actividad mental, la conciencia o
la conducta, y producen sea dependencia psíquica (necesidad imperiosa
de seguir consumiéndola con el fin de obtener sensaciones placenteras o
de disipar una situación de malestar); sea dependencia física (necesidad
fisiológica de la droga, sin la cual se origina un grave trastorno orgánico
o la muerte; síndrome de abstinencia, por alterarse el quilibrio bioquí-
mico del organismo del sujeto). Estos estados pueden acompañarse o no
de tolerancia, o exigencia de aumentar las dosis para conseguir el efecto
inicial. Tolerancia que tampoco acompaña siempre a la drogodependen-
cia, que consiste en un estado psíquico, y a veces también físico,
resultado de la interacción entre un organismo vivo y una droga que se
caracteriza por modificaciones del comportamiento u otras reacciones

161 Véase, Consulta num. 12/1985, del Fiscal General del Estado, en «Memoria elevado
al Gobierno de S.M. . . . por el Fiscal General del Estado», Madrid, 1986, p.521 y ss.
17 Conforme a la Resolución (73) 6 del Consejo de Europa sobre «Los aspectos penales

del abuso de drogas», Véase: Conseil de l'Europe Comité Européen pour les problèmes
criminels: Aspects pénaux de l'abus des drogues, Estrasburgo, 1974.
834 Marino Barbero Santos

que lleva consigo un impulso a consumir droga de manera continua o


periódica con el fin de recobrar sus efectos psíquicos o de evitar a veces el
malestar de la privación.
El hachís y la marihuana son drogas alucinógenas, es decir, que
producen «percepción sin objeto». Ambas son producto de la misma
planta: el cáñamo indio. De la mezcla comprimida de las hojas, las flores
o los frutos se obtiene la marihuana. De la resina, el hachís. De las flores,
la grifa. De las hojas, el kifi. De acuerdo con Kaiser/Sack/Schelhoss, el
consumo de drogas tipo cannabis se caracteriza por: 1) grave o leve
dependencia psíquica, según se produzcan o no los efectos deseados;
2) ninguna dependencia física; 3) escasa tendencia al aumento de las
dosis18. La acción de los derivados del cáñamo indio (drogas blandas)
sobre el sistema nervioso central es similar a la que causa el alcohol:
alternancia de excitación y depresión. N o suelen producir amnesia.
Originan una fatiga extrema. El consumo crónico produce alteraciones
más graves. En todo caso reducen las inhibiciones, debilitan el carácter,
disminuyen las defensas inmunológicas y acaban por producir efectos
maníacos19.
Las restantes drogas se suelen denominar drogas duras, y en la extensa
lista se incluyen el LSD 25, las anfetaminas, los opiáceos20. La mayoría
de ellas originan a la vez las dos dependencias, física y psíquica. Algunas,
empero, sólo crean dependencia psíquica, lo que no significa que sean
menos nocivas que las primeras. Así el LSD y la cocaína, que no crean
dependencia física, originan impulsos homicidas y graves enfermedades
mentales; mientras que el opio y la heroína, que no producen estos
impulsos, causan una terrible dependencia física. Como la cocaína
deteriora el organismo con mucha más rapidez que la heroína, durante
" Kaiser-Sack-Schelhoss: Rauschgiftskriminalität en «Kriminologisches Wörterbuch»,
Friburgo de Brisgovia, 1974. Schmidbauer-Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, 1981,
p. 93. Koemer: Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz, 1982, Anhang c 1, Anm. 10 c. El
Tribunal Supremo español reconoce en numerosas sentencias (29 septiembre 1983,
4 octubre 1983) que el hachís es una droga blanda. Y que también lo son el aceite de hachís
(Sent. de 4 de octubre de 1983, 20 febrero 1984); las semillas de cannabis (Sent de 24 de
enero de 1984) y las plantas (Sent. de 3 de diciembre 1983).
" Barbero Santos: Los marginados ante la ley penal (La Ley de Peligrosidad y
Rehabilitación social de lege ferenda), en «Libro Homenaje al Prof Antón Oneca»,
Ediciones Universidad de Salamanca, 1982, p.51. Langer: Increase of the supply and
demand for drugs during the last decade: a general overview, en «Drogodependencias»,
Madrid, 1980, p. 211 y ss. En sentido contrario; Arnao: Erba proibita Rapporto su hashis e
marihuana, Milán, 1980 (5* ed.). Gisbert Calabuig: Las drogas y su problemática actual.
Drogas, estupefacientes y alucinógenos, en «Estudios penales y criminológicos», Universi-
dad de Santiago de Compostela, 1981 (IV), p. 56 y ss. Astolfi y colaboradores: Toxicoma-
nías, Buenos Aires, 1981.
10 Así lo reconocen numerosas sentencias del Tribunal Supremo. Respecto a la heroina

(29 enero 1983, 17 marzo 1984); a la cocaina (11 noviembre 1983, 23 marzo 1984), a las
sustancias psicotrópicas (5 octubre 1983, 7 mayo 1984), etc.
El fenómeno de la droga en España 835

mucho tiempo se ha pensado equivocadamente que creaba dependencia


física.
El alcohol y el tabaco tendrían, por lo expuesto, que considerarse
drogas. N o se estiman jurídicamente tales por formar parte de las
socialmente aceptadas en nuestro mundo cultural21. Parece aconsejable
en todo caso, por exigencias de seguridad jurídica, que el legislador
defina de forma precisa, o enumere taxativamente, las sustancias objeto
de incriminación. Y mientras se reprima de forma distinta las que causen
o no causen grave daño a la salud, ha de diferenciar asimismo ambas
clases de estupefacientes.
En el ámbito represivo el fenómeno de la droga se prevé en tres
cuerpos legales distintos: Código Penal, la Ley de Contrabando y la Ley
de Peligrosidad y Rehabilitación social.

III. Drogas y Código Penal


La regulación de las drogas en el texto fundamental punitivo (art. 344)
ha sufrido en 1983 cambios significativos: consagrar la no punición del
consumidor, limitar la punición de la tenencia a la finalidad del tráfico,
distinguir entre sustancias que causen o no grave daño a la salud, revisar
la configuración de los tipos.
La punición o no punición del consumidor se prevé de forma diversa
en los diferentes ordenamientos punitivos, habiendo iniciado algunos
paises occidentales la vía de la despenalización22.

21 Por ello su tráfico no es ilegítimo (Luzon Peña: Trafico y consumo de drogas, en

Barbero Santos y otros: «La reforma penal», Madrid, 1982, p. 67. Por lo demás, sus efectos
sobre el entorno son distintos. El adicto siempre busca compartir y en quienes reflejarse.
Los alcohólicos y fumadores de tabaco no necesariamente (Neumann: La sociedad de la
droga, Buenos Aires, 1979, p. 79).
22 De interés el estudio en policopia del Prof. Hulsman - a quien agradezco habérmelo

facilitado - La política de drogas: fuente de problemas y vehículo de colonización y


represión. Rotterdam, 1984 (trad. de Politoff). De acuerdo con mi admirado colega de
Rotterdam acerca de que el consumo de drogas no debe constituir conducta delictiva,
estimo, por el contrario, que no es llegado aún el momento de la despenalización de su
tráfico. En el mismo sentido Kreuzer: Las drogas en la República Federal de Alemania,
Problemática y aspectos politico-criminales, en Barbero Santos y otros: «La reforma
penal», Madrid, 1982, p. 82 y ss. Ley: Dépénalisation du cannabis? Pour et le contre, en
«Revue de Droit Pénal et de Criminologie», 1980, pp.224 y ss. Alonso Fernandez: Las
drogas y el Código Penal, en «El Pais», de 9 de mayo de 1983. La eficacia del control del
tráfico depende de que los diversos paises aumenten la cooperación entre ellos y armonicen
sus legislaciones (Resolución 73) 6, adoptada por el Comité de Ministros del Consejo de
Europa el 19 de enero de 1973, y Note de la Dirección General de Asuntos Económicos y
Sociales de 16 de febrero de 1983, en respuesta a la decisión tomada en la 347 reunión
(mayo 1982) por los Delegados de Ministros. Y Recomendación n. R. (82) 5 y 6 de estos,
de 16 de marzo de 1982; también depende que se logre de que las naciones productoras de
estupefacientes sustituyan su cultivo por el de otros productos (con esta finalidad se ha
creado por las Naciones Unidas el UNFDAC).
836 Marino Barbero Santos

En España se ocupó por vez primera del tema, en el ámbito legislativo,


la Ponencia Especial para la Reforma de la Ley de Peligrosidad y
Rehabilitación Social23, con el resultado de proponer de lege ferenda una
distinción neta entre actos de cultivo, fabricación, elaboración, trans-
porte, venta, donación o tráfico, en general, de drogas, y el hecho de su
consumo. Los primeros - mientras una profunda investigación multidis-
ciplinar determine la conveniencia de su despenalización respecto de
determinadas drogas - debían seguir siendo punibles; mientras el último
- consumo y posesión en cantidades mínimas - , debía quedar exento de
pena.
Apenas cabe duda de que, de acuerdo con las concepciones hoy
imperantes en España, el consumo de drogas es un acto ético socialmente
reprochable, pero ello sólo no fundamenta que se sancione penalmente.
El Derecho Penal ha de intervenir cuando el acto contra la ética colectiva
suponga una lesión o puesta en peligro para bienes o intereses jurídica-
mente protegidos. N o en otro caso. Y esa lesión o puesta en peligro para
bienes jurídicos no se da en el supuesto citado (aunque sí en otros con él
relacionados), dado que nuestro ordenamiento punitivo no considera
penalmente ilícitas las autolesiones, salvo que persigan fines ajenos a la
incolumidad personal. La utilización de la pena para conseguir la cura-
ción de los drogadictos excede las posibilidades del Estado, aunque sólo
sea por falta de suficientes establecimientos. Pena que, por lo demás, no
podría imponerse al sujeto que no pueda sobreponerse a la adicción a la
droga24. También excede la función del Derecho Penal evitar los compor-
tamientos perjudiciales para la propia persona que los realiza; y para
mostrarlo basta el ejemplo de los alcohólicos. Asimismo, ha de tenerse
en cuenta que los costos sociales de impedir el uso de drogas mediante la
pena pueden ser más elevados que si se utilizan otros medios, por
ejemplo, servicios sociales de asistencia. La creación de subculturas,
siempre antisociales y en la generalidad de los casos, criminógenas, es
una razón más para negar la punición de estas conductas. O el «etiqueta-

23 Integrada por el autor de estas líneas y el magistrado Dr. Morenilla Rodríguez.

Véase: Barbero Santos: Problemática jurídicopenal de las drogas, en «Revista de Estudios


de Juventud», Madrid, 1985, pag. 82.
24 Recientemente Nuvolone aboga de iure condendo por considerar imputable al
drogadicto que no se encuentre en estado de intoxicación crónica en el supuesto de cometer
infracciones no previstas en la regulación sobre drogas, y no imputable cuando actúe con la
finalidad de obtener estupefacientes. (Le toxicomane dans le cadre du droit pénal, en
«Cahiers de défense sociale», 1983, p.34). Con carácter más general Polaino-Lorente y
Polaina Navarrete sostienen (Comentarios médico-psiquiátricos y jurídico penales a la
legislación vigente sobre toxicomanías, en «Rev. de Psiquiatría y Psicología Médica», 1972,
p.435) que «determinadas manifestaciones de las drogodependencias integran auténticas
alteraciones patológicas de carácter médico prevalentemente psicòtico».
El fenómeno de la droga en España 837

miento» de los drogadictos jóvenes, que son los consumidores que en la


actualidad más preocupan. El no castigo de la posesión en cantidades
módicas de drogas destinadas al propio consumo consagra la constante
jurisprudencia del Tribunal Supremo al interpretar el concepto de «te-
nencia» de drogas. Y constituye la consecuencia lógica de no sancionar
su consumo.
Este fué el tenor literal del precepto legal por el que abogó la Ponencia
Especial para la Reforma de la Ley de Peligrosidad y Rehabilitación
Social: «El que ilegítimamente posee estupefacientes o sustancias psico-
trópicas que excedan de las cantidades mínimas que personalmente
utilice». O sea, se propuso que no solamente el consumo, sino también
la tenencia en cantidades mínimas, debía quedar exento de pena. Es
decir, que sólo debía castigarse la posesión de drogas por el no consumi-
dor habitual, y la posesión de drogas, en cantidad no módica, por el
consumidor habitual25.
Es obligado manifestar que la despenalización citada se encuentra en la
línea de las investigaciones recientes. El magistrado Florio, sostuvo ya en
el rapport presentado en la undécima Conferencia de Directores de
Institutos de Investigación Criminológica celebrada en Estrasburgo en
1974 que el sistema de confundir bajo el mismo título de imputación, e
imponer idéntica pena, a los traficantes y a los consumidores se sustituye
hoy por una neta distinción entre las dos clases de comportamiento26.
La eventual despenalización del uso de la droga es uno de los
problemas que preocupa al Comité Europeo para los problemas crimina-
les, habiendo sostenido el profesor Wiersma, en un informe presentado
al mismo, que el consumo de cualquier tipo de drogas debe dejar de ser
delito.
Alguna legislación ha iniciado ya este camino al permitir sustituir la
pena impuesta por medidas terapéuticas, al prescindir del procedimiento
penal si el drogadicto se somete a una cura de desintoxicación; al
despenalizar la tenencia de módicas cantidades de droga, etc. Esto ha
ocurrido, v. gr., en Francia (ley de 31 de diciembre de 1970), Luxem-
burgo (ley de 19 de febrero de 1973), Austria (ley de 24 de junio de
1971), República Federal de Alemania (ley de 22 de julio de 1981)27, Italia

25
Barbero Santos - Morenilla Rodríguez: La Ley de Peligrosidad y Rehabilitación
social: su reforma, en Barbero Santos: «Marginación social y Derecho represivo», Barce-
lona, 1980, pp. 155 y ss.
26
Florio: Réactions au phenomene de la drogue, en «Etudes relatives a la recherche
criminologique» Conseil de l'Europe, Estrasburgo, 1975, p.41.
27 Ha entrado en vigor el 1 de enero de 1982. Véase, Hirsch: Die strafrechtliche
Behandlung der Betäubungsmitteldelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland vor dem
Hintergrund der gegenwärtigen Drogensituation, en «The Hokkaigakanen Law Journal»
(XX), 1985, p. 592 y ss.
838 Marino Barbero Santos

(ley de 22 de diciembre de 1975), varios Estados de Estados Unidos de


Norteamérica, etc.
Más lejos llega el Código penal vigente que, tras la reforma de 1983,
no prevé - y por tanto deja impunes - no ya el consumo o la posesión en
cantidades módicas de drogas fio que estimamos correcto), tampoco
reprime la posesión en cantidades ingentes (no destinadas al tráfico) o su
donación28.
El Tribunal Supremo, para evitar llegar a ese resultado, verifica una
interpretación correctiva de ambos términos.
Respecto a «posesión» distingue: a) la posesión de drogas, cualquiera
sea su cantidad, por quien no es habitual al consumo, la estima posesión
destinada al tráfico y, por tanto, punible (Sentencias de 26-9-1983,
26-12-1983,16-3-1984). En Sentencia de 7 de diciembre de 1982 expresa-
mente manifiesta que la ocupación de estupefacientes o psicotrópicos a
un poseedor no consumidor conlleva una presunción ex lege de destino
al tráfico que solo puede ser destruida por la prueba en contrario del
imputado; interpretación que opera una significativa inversión de la
carga de la prueba29.
La posesión de estupefacientes por un consumidor habitual es o no
tráfico para el Tribunal Supremo, es decir, es posesión impune (sólo para
consumir); o posesión delictiva (también para traficar) a través de la
teoría que la Fiscalía del Alto Tribunal denomina «actos concluyentes»,
que se acoge en numerosas Sentencias (23-2-1984; 20 marzo 1984 etc.).
Entre los actos concluyentes es determinante «la cantidad superior a la
normal», otros son la naturaleza de la droga, el estado del sujeto, los
utensilios utilizados, etc.30.

Kreuzer: Las drogas en la República Federal de Alemania, Problemática y aspectos


político-criminales, en Barbero Santos y otros «La reforma penal. Cuatro cuestiones
fundamentales«, Madrid, 1982, p. 73 y ss.
28
Arroyo Zapatero: Aspectos penales del tráfico de drogas, en «Poder Judicial», 1984
(11), p. 23. Para los comentaristas del Código Penal, C O L E X , Madrid, 1984 (2a ed.), la
donación puede suscitar problemas de tipicidad (p. 169). Sobre la cesión gratuita de
cantidades módicas de estupefacientes entre toxicómanos, de interés la Nota de Maura
Benicasa a la Sentencia del Tribunal de Parma, de 29 de febrero de 1980 (Riv. italiana di
diritto e procedura penale, 1981, pp. 420 y ss.). La donación, al menos de drogas duras a un
no drogadicto, no puede ser un acto impune, ya que una vez iniciado, el consumo continúa
(Conseil de l'Europe: Le traitement de la pharmacodépendence, Estrasburgo, 1980, p. 5).
Las primeras dosis suelen ofrecerse gratuitamente. El objetivo es «crear» la dependencia.
Etablecida esta, llega el momento de explotar a la víctima (Astolfi-Gotelli-Kiss-Lopez
Bolado-Maccagno-Poggi: Toxicomanías, Buenos Aires, 1981, p. 10). Es menester hacer
notar que cuando el destinatario es un menor, algún país prevé (v. gr., Luxemburgo) la
pena de trabajos forzados perpetuos.
25 Véase, Memoria elevada al Gobierno de SM . . . por el Fiscal General del Estado . . . ,

Madrid, 1985, p.317.


30 Memoria, cit. en nota anterior, pgs. 317 y 318.
El fenómeno de la droga en España 839

La Circular de la Fiscalía del Tribunal Supremo, de 4 de junio de 1984,


se acompañaba de un cuadro donde se reflejaban las características del
consumo de drogas, distinguiéndose entre las dosis propias de los
consumidores moderados y las de los consumidores altos31. Estas dosis
tienen, sin duda alguna, mero valor indicativo y tienen que ser revisadas
de acuerdo con una investigación médica seria.
Jimenez Villarejo, Fiscal Especial contra la droga, sugiere como dosis
módica - no delictiva - la posesión de una cantidad que podría oscilar
entre el doble de la cantidad que suele servir de dosis y la que puede ser
consumida entre tres días como máximo.
Respecto a la «donacion» la interpretación, a mi juicio, es menos
convincente. Según el Tribunal Supremo introducir en la expresión legal
«actos de tráfico» a la donación no supone interpretación extensiva
porque el giro tráfico no debe valorarse en sentido estrictamente mercan-
til. Numerosas sentencias acogen esta concepción (24 enero 1984,
13 marzo 1984, 13 mayo 1985). Una, de primero de diciembre de 1983,
entiende por tráfico «todo desplazamiento jurídico de la droga de una a
otra persona». Mientras otra, de 3 de diciembre del mismo año, establece
que la palabra tráfico ha de entenderse «como sinónima de actos de
difusión o facilitación a terceros de la droga a título oneroso (venta o
permuta) o gratuito (donación).
Interpretación que no se acomoda a lo que se entiende por tráfico en
sentido gramatical, popular o jurídico del término.
Ha de añadirse que la reforma de 1983 ha distinguido, por vez primera
en nuestra legislación, entre drogas que causen o no grave daño a la
salud. En el primer supuesto, la pena a imponer es de 6 meses y un día a 6
años; y multa de 30 000 a 1 millón y medio de pesetas. En el segundo, de
1 mes y 1 día a 6 meses32.
En la Propuesta de Anteproyecto de Nuevo Código Penal del Mini-
sterio de Justicia, de 1983, las penas se atenúan. En el supuesto de tráfico
de sustancias que no causen grave daño a la salud la sanción prevista es
arresto de ocho a catorce fines de semana o multa de seis a doce meses.
Pena que será de arresto de cuatro a ocho fines de semana o de multa de
tres a seis meses si el tráfico se realiza para atender el propio consumo.
Deja de constituir conducta agravada la difusión en centros docentes,
unidades militares o establecimientos penitenciarios. Se prescinde, asi-
mismo, de la circunstancia agravante de la cuantía notoria. Regulación
prácticamente sin parangón en el Derecho comparado 33 .

31
Memoria, citada en nota 29, p. 338.
32
Véanse las notas 18 y 20.
33
Y que viola las Convenciones internacionales signadas por España. Así el art. 33 del
Convenio de 1961 establece, v. gr., que «Las Partes sólo permitirán la posesión de
840 Marino Barbero Santos

E l legislador español p a r e c e h a b e r o l v i d a d o q u e el p r o b l e m a d e la
d r o g a n o es, c o m o en los años sesenta, u n p r o b l e m a de c o n q u i s t a de la
libertad, sino, c o n palabras de E n r i c o B e r l i n g u e r , d e caida «en efectiva
tiranía y esclavitud» 3 4 o , c o n e x p r e s i ó n de Julián M a r í a s , de desprestigio
d e la r a z ó n .
E s de e s p e r a r que en la p r e p a r a c i ó n del n u e v o C ó d i g o penal se tenga
c o n c i e n c i a de la m a g n i t u d y c o m p l e j i d a d del f e n ó m e n o de la d r o g a y se
t o m e n en c u e n t a las experiencias de o t r o s paises y las e n s e ñ a n z a s del
Derecho comparado.

IV. Drogas y legislación de contrabando


L a e n t r a d a en v i g o r de la L e y 7 / 1 9 8 2 , d e 13 de julio, que m o d i f i c a la
legislación vigente en m a t e r i a d e c o n t r a b a n d o y regula los delitos e
infracciones administrativas en la m a t e r i a , plantea dificultades en su
aplicación, p o r incluir la tenencia de d r o g a s y estupefacientes e n t r e los
c o m p o r t a m i e n t o s q u e s a n c i o n a en el artículo p r i m e r o .
E l p r o b l e m a n o surgía c o n la legislación d e r o g a d a , y a q u e el D e c r e t o
de 16 de julio d e 1 9 6 4 tenía s ó l o c a r á c t e r administrativo, p o r l o que la

estupefacientes con autorización legal». Por supuesto, los Estados pueden definir, perse-
guir y castigar los delitos previstos en el Convenido «de conformidad con su legislación
nacional» (art. 36.4). Pero lo que no pueden es no definirlos o no sancionarlos, con
independencia de que se admita la suspensión del fallo o de la ejecución de la pena en
determinadas circunstancias.
34 Berlinguer: Per cambiare la vita. La droga deve esser combattuta e sconfita, discurso

pronunciado en la manifestación contra la droga organizada por la Federación de Rávena y


por el Comité regional del Partido Comunista italiano de Emilia-Romagna el 8 de enero de
1983. Edición separada. Por ello un partido tan progresista como el comunista italiano,
presentó a la Cámara, el 9 de abril de 1984, una Propuesta de ley en cuyo Preámbulo se
afirma que los proponentes pertenecen a un partido que tiene como ideal la liberación del
hombre de la sumisión, del sometimiento, de la esclavitud. Las drogas en medida más o
menos amplia, según sus características, originan sumisión. Quienes se baten por la
libertad, no pueden tolerar nuevas formas de esclavitud.
Consecuentemente, se proponen penas de 4 a 15 años para el tráfico de estupefacientes,
y de 20 a 30 anóos para la asociación para el tráfico. Y se sugieren determinados criterios
para determinar con precisión el concepto de «dosis personal», cuya posesión no será
punible; sí la que exceda de la citada dosis. Se castiga en todo caso como tráfico la posesión
de drogas duras por el no toxicómano (incluso en cantidades exiguas) y la donación de
cualquier clase de droga a menores de 18 años.
(Cfr. Direzione P. C. I. Gruppo P. C. I. Al Parlamento Europeo, Federazione Comuni-
sta di Modena: Convegno europeo. Una politica dell'Europa contro la droga, Módena
9-11 de marzo de 1984, Atti, Módena, passim).
Vías aún más radicales son seguidas por alguna legislación reciente. Suecia, v. gr., por
ley 1982/83: 141, llega hasta sancionar el transporte de estupefacientes, sin conocimiento
del que lo efectúa, si podía haberlo previsto.
El fenómeno de la droga en España 841

imposición de las sanciones en él previstas, junto a las penas, no


quebrantaba el postulado ne bis in idems\
Hoy la situación ha cambiado. La ley reguladora del contrabando
tiene carácter penal y administrativo, siendo competentes para conocer
los delitos que establece (art. 10) los juzgados y Tribunales ordinarios
¿Quid iuris?
Tres caminos se proponen: 1) La prevalencia de la Ley de Contra-
bando, por ser ley especial e imponer penas más graves (de acuerdo con
lo establecido en el art. 7 del Código Penal36. 2) La prevalencia del
art. 344 del Código Penal, tanto por ser un precepto más reciente, como
por su especialidad, en el sentido de comportar un programa político
criminal más preciso y especial de tutela de la salud pública que el
implícito en la Ley de Contrabando 37 . 3) Diferenciar tres supuestos: a)
concurso aparente de leyes: prevalece la norma que tiene asignada mayor
sanción (art. 68); b) concurso ideal de delitos, si en una figura existe un
plus de incriminación: se ha de aplicar el art. 7138; c) conductas ajenas a
cualquier modalidad de concurso (o porque no son punibles: consumo;
o constituyen sólo delito del art. 344; cultivo y tráfico ilegítimo de
estupefacientes de producción nacional; o constituyen sólo delito de
contrabando: exportación, sin cumplir los requisitos prevenidos, de
productos estupefacientes producidos lícitamente en España)39.
Aceptable la distinción realizada por la Fiscalía del Tribunal Supremo
en lo que se refiere a los supuestos b) y c), no satisface tanto el resultado
a que llega en el a), porque desconoce el carácter innovador en política de
drogas instaurado por la reforma de 1983. La tesis de Arroyo, no menos
aguda, tampoco convence: los concursos de leyes surgen precisamente
por la existencia de dos normas, sin que tenga por que prevalecer una
más moderna que desconoce la existencia de otra anterior más especial.
En todo caso, únicamente sería utilizable para resolver el concurso
aparente de leyes, no las otras dos hipótesis.
Es de augurar que, cuando se regule en el futuro esta materia, no se
olvide que el ordenamiento jurídico es un todo armónico, que posee una

35 Hernández Gil, Félix: El tráfico de estupefacientes en la Jurisprudencia del Tribunal


Supremo, en «La Ley», de 30 de octubre de 1981, pp. 4 y 5. Véase Barbero Santos, art. cit.
en nota 23, p. 88.
36 Marín Castan: Acerca de la doble tipicidad del tráfico de drogas, en «La Ley», de 17

de julio de 1984, p. 2.
37 Arroyo Zapatero: Aspectos penales del tráfico de drogas, en «Poder Judicial», 1984

(11), pags. 24 y 25.


3 ! La Sentencia de 17 de abril de 1985 admite concurso ideal por existir un aliud etre la

tenencia del art. 344 y el tráfico del art. 1' de la Ley de Contrabando.
19 Circular del Fiscal General del Estado, de 1 de diciembre de 1983, véase: «Memoria

elevada al Gobierno de S. M. Presentada al inicio del año judicial por el Fiscal General del
Estado, Madrid, 1985, p . 3 3 4 y ss.
842 Marino Barbero Santos

lógica interna, unas reglas, que no pueden quebrantarse si se desea que


cumpla los altos fines de organizar justamente la humana convivencia.

V. Drogas y ley de Peligrosidad y Rehabilitación Social


Su abrogación no se ha efectuado aún, a pesar de estar prevista tanto
en el Proyecto de Código Penal de 1980, como en la Propuesta de
Anteproyecto de 1983. Algún estado peligroso, incluido en el art. 2°, se
suprimió sin embargo en 1978, de acuerdo con las sugerencias de la
Ponencia Especial citada40. No los vinculados al consumo (n° 7), fomento
o tráfico de drogas (n°8) ni tampoco, en consecuencia, las correlativas
sanciones.
Es posible, por tanto, imponer al toxicómano que no ha cometido
delito alguno - si se aprecia en él peligrosidad social - aislamiento
curativo en casas de templanza hasta lograr su curación41. A mi juicio esta
disposición viola, junto a otros postulados, el principio de legalidad
consagrado por el art. 21,1 de la Constitución, ya que el consumo de
drogas no constituye delito y la sanción, materialmente, es penal. Su
derogación es, pues, urgente42.
Para que la adicción tenga trascendencia punitiva es necesario de lege
ferenda que se acompañe de la comisión de un hecho delictivo (que
puede ser el tráfico de drogas). En tal supuesto, al toxicómano peligroso,
declarado exento de responsabilidad, se le ha de imponer una medida
adecuada a su estado; medida y pena (atenuada), en cambio, si actuó en
un estado de intoxicación que no excluya su imputabilidad. Medida que
ha de cumplirse antes que la pena, descontándose de esta el tiempo de
cumplimiento de aquélla, sin perjuicio de dar por extinguida la condena

40 La Ponencia especial propuso la abrogación de la entera ley de Peligrosidad y

Rehabilitación Social, integrándose en el futuro Código penal los supuestos de peligrosidad


postdelictual (Barbero Santos - Morenilla Rodríguez, art. cit. en la nota 25, p. 163.
41 Mir Puig: Psychisch abnorme und drogenabhängige Rechtsbrecher im Spanischen

Strafrecht, en «Psychisch abnorme und drogenabhängige Rechtsbrecher», Diessenhofen,


1984, p. 105 y ss.
42 Según M' Jesús Coronado el aislamiento curativo en casa de templanza supone el

ingreso del sujeto en el Hospital Penitenciario de Carabanchel (Aspectos legales de las


drogas, en «Droga y menores», Madrid, 1984, p. 157. Además del departamento para
alcohólicos y toxicómanos del Hospital General Penitenciario, el establecimiento de
mujeres de Yeserías (Madrid) cuenta con pabellones separados para toxicómanas (Véase
Garcia Valdes: La droga y la institución penitenciaria, Madrid, 1983, pags. 6 y 7. Debe
señalarse que, de acuerdo con el Informe Oficial remitido al Congreso de los Diputados
por el Ministerio de Justicia en 1981, entre el 60 y el 90 % de la población reclusa española
consume droga. De interés, respecto a Italia: Indagine su 371 tossicodipendenti detenuti
trattati nella casa circondariale di Regina Coeli (Roma), publicada en el n* 16 de «Quaderni
dell'Ufficio Studi, Ricerche e Documentazione della Direzione Generale per gli Istituti di
Prevenzone e Pena, Roma, 1983.
El fenómeno de la droga en España 843

o reducir su duración en atención al éxito del tratamiento43. La medida


puede sustituirse, al menos en determinados casos, por la aceptación de
un tratamiento voluntario44.
También han de suprimirse las medidas de seguridad previstas por la
Ley de Peligrosidad para los traficantes drogadictos; a los que se ha de
imponer las penas que para estos comportamientos commina el Código
Penal, acompañadas en su caso de las relativas medidas, si se apreciase en
el sujeto peligrosidad criminal45.
De acuerdo con las conclusiones de la investigación comparada sobre
la efectividad de las medidas legales preventivas y de control en varios
paises en la interacción entre la conducta criminal y el abuso de drogas,
llevada a cabo por el United Nations Social Defence Research Institute
(UNSDRI), uno de los factores que pueden influir más positivamente es
la percepción pública de la severidad del sistema, que deriva más que del
rigor de la sanción prevista, de la certeza de su imposición, de la rapidez
de su aplicación y de la existencia de valores morales y culturales que el
sujeto está infringiendo. Existe, se añade, una estrecha relación entre
abuso de drogas y conducta criminal, a pesar de ello, la mera sanción
penal no sólo fracasa en el intento de evitar el comportamiento criminal
del sujeto, sino que puede incrementarlo por el estigma que la prisión
produce. La sanción penal - en lo posible medidas alternativas - , debe
asociarse a medidas terapéuticas y rehabilitadoras aptas para modificar la
adicción del sujeto46.
Ha de advertirse que el Derecho Penal es sólo un medio, junto a otros,
alternativos y preventivos, en la estrategia de disminuir la expansión del
fenómeno del abuso de drogas47. No constituye la panacea para solucio-
nar en su plenitud problema alguno, Tampoco este.

43
Barbero Santos - Morenilla Rodríguez, art. cit. en nota 25, p. 171.
44
Koemer: Bekämpfung von Drogensucht und internationalem Drogenhandel, en
«Zeitschrift für Rechtspolitik», 1980, Heft 3, p.59.
45
Luzon Peña, art. cit., p. 69.
46 Véase UNSDRI: Combating abuse and related crime, Roma, 1984, pags. 164-165.
Hanack: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, en «Strafgesetzbuch, Leipziger Kom-
mentar», Berlin-Nueva York, 1978, ed. 6 Lieferung.
47
Hirsch, art. cit. p. 577. Hacker: Drogen verhüten statt behandeln, behandeln statt
strafen. Viena-Munich-Zurich-Nueva York, 1981. UNSDRI: Combating drug abuse and
related crime, Roma, 1984. Travaux de la Commission interministerielle de stupéfiants: La
drogue (Revue française des Affaires sociales, 1981, avril). Entre les multiples Recomenda-
ciones del Consejo de Europa en este sentido, citaremos la n° (82) 5, Sur la prévention de la
toxicomanie et le rôle particulier de l'éducation pour la santé, y la n° (82) 6, Concernent le
traitement et la resocialisation des toxicomanies.
844 Marino Barbero Santos

Zusammenfassung
Das Drogenphänomen in Spanien. Strafrechtliche Aspekte
Der Autor untersucht das Drogenphänomen in Spanien, das im
Gegensatz zur Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern oder
in Nordamerika (USA) gekennzeichnet ist durch den Ubergang vom
fehlenden Drogenkonsum zum Massenkonsum, fast ohne daß das Sta-
dium eines begrenzten Verbrauches durchlaufen wurde. Zudem erlangte
die Jugendbewegung der Hippies in den sechziger Jahren mit ihrer
Gegenkultur in Spanien keine Bedeutung, die in dem jugendlichen
Drogenkonsumenten einen seine Freiheit suchenden Progressiven sah,
der - allerdings von einem Standort innerhalb des Systems - gegen das
gesamte Establishment aufbegehrte.
Heute sind die Drogenkonsumenten in Spanien hauptsächlich arbeits-
lose Jugendliche, die außerhalb des Systems stehen und sozial entwurzelt
sind, eine ökonomische Randgruppe bilden, kulturell verarmt sind, für
die die Droge in keiner Weise ein Freiheitssymbol bedeutet.
Die heutige Situation ist gekennzeichnet durch das immer geringere
Einstiegsalter (nach verschiedenen Untersuchungen hatten 60 % ihren
ersten Kontakt mit der Droge vor Vollendung des 17. Lebensjahres); den
Einstieg in die Rauschgiftsucht bei 9 % der Jugendlichen mittels intrave-
nösen Spritzens von Heroin; die hohe Prozentzahl von Drogensüchti-
gen, welche sich einer ernsthaften Entziehungskur ohne Erfolg unterzie-
hen; die beträchtliche Zunahme der Drogenabhängigen.
Angesichts dieser alarmierenden Situation kritisiert der Autor die
Unzulänglichkeiten der im Jahre 1983 in diesem Bereich des Strafgesetz-
buches durchgeführten Reform. Gleiches gilt für den Vorschlag eines
Vorentwurfs für ein neues Strafgesetzbuch durch das Justizministerium
im Jahre 1983, und der Autor rät an, daß das neue Strafgesetzbuch die
spanischen Gegebenheiten, die Erfahrungen anderer Länder und die aus
der Rechtsvergleichung gewonnenen Erkenntnisse beachten sollte.
Schließlich wird aus dogmatischer Sicht die Regelung der Drogende-
likte im Strafgesetzbuch, im Schmuggelgesetz und dem Gesetz über
soziale Gefährlichkeit und Rehabilitation untersucht.
V.
Strafverfahrensrecht
Zur Entstehung des strafrechtlichen
Inquisitionsprozesses
DIETRICH OEHLER

I. Entstehung des Inquisitionsprozesses allein in Italien


Im Jahre 1940 stellte Eberhard Schmidt1 die These zur Diskussion,
daß der Inquisitionsprozeß sich auf deutschem Boden autochthon ohne
Einfluß aus Italien entwickelt habe. Er wollte später auf die Begründung
wieder zurückkommen, tat es aber nicht mehr, sondern wiederholte nur
noch die These in seiner Geschichte des Strafverfahrens2.
Die These gilt heute als widerlegt3. Leider folgten ihr viele Darstellun-
gen unbesehen, obwohl Eberhard Schmidt sie ausdrücklich nicht als
fertige Ansicht hingestellt hatte. Zweifel, Bedenken und Widerlegungen
finden sich schon in einer juristischen Dissertation 1952 von W. Schünke,
Münster, bei Trusen4, bei G. Kleinheyer5, vor allem bei H. Rüpingi und
dann ausführlich in der in Anm. 3 erwähnten Arbeit von Trusen.
Es sind wesentlich drei Gründe negativer Art, die gegen Schmidts
These sprechen. Die Hauptquelle für die frühe Folter in Deutschland ist
das angebliche Recht von Wiener Neustadt, das aber erst Ende des
13. Jahrhunderts, entgegen der Annahme von Eberhard Schmidt, ent-
standen ist und nicht schon 1221. Das war schon im vorigen Jahrhundert
von den Historikern festgestellt worden. Das Wiener Privileg von 1238
für die Juden bringt keinen Beweis für die Folterung von Juden vor
diesem Jahre, ebenso wenig zeigt eine Urkunde für Geldern vom 12. Mai
1233, daß hier die Folter im weltlichen Prozeß angewendet wird. Die
Erwähnung der Folter im Schwabenspiegel geht auf einen späteren

1 Inquisitionsprozeß und Rezeption. Studien zur Geschichte des Strafverfahrens in

Deutschland vom 13. bis 16. Jahrhundert, Festschrift der Leipziger Juristischen Fakultät
für H.Siber, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien 124 (1940).
2 Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, zuletzt in 3. Auflage.

3 Trusen, Winfried, Strafprozeß und Rezeption, in: Strafrecht, Strafprozeß und Rezep-

tion, Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, hrsg.
von Peter Landau und Friedrich-Christian Schroeder, S. 29 ff. Juristische Abhandlungen,
Bd. X I X , 1984.
4 In: Recht und Geschichte, Bd. 1, 1962, 7.
5 Gedächtnisschrift für H.Conrad, 1979, S.367.

6 JuS-Schriftenreihe 73, 1981, 19 u. 46.


848 Dietrich Oehler

Einschub zurück. Überall, wo zudem in Deutschland die Folter erwähnt


wird, liegen spätere Entwicklungen vor. Das Wort tortura ist überhaupt
nicht entscheidend, was man schon früher bemerkte. Tortura bedeuteten
auch die Zwangsmittel der Polizei, bereits zu einer Zeit, als an den
Inquisitionsprozeß noch gar nicht zu denken war. Man muß also sehr
genau hinsehen, was mit dem Wort tortura gemeint ist, und nur dort
diese mit dem Inquisitionsprozeß in Verbindung bringen, wo zugleich
die typischen Kennzeichen dieser Prozeßart auftreten. Die richterlich
angeordnete Tortur ist zum ersten Mal in Verona 1228 nachzuweisen.
Sie steht mit dem Aufleben des justinianischen Rechts in dieser Zeit
(heute ohne Zweifel) in engstem Zusammenhang 7 .
Es ist übrigens vollkommen unwahrscheinlich, daß sich der Inquisi-
tionsprozeß selbständig in Deutschland entwickelt haben soll. An der
Wende des 12. und 13. Jahrhunderts waren einmalige Umstände und
Verhältnisse in der Kirche und in Italien vorhanden, die den Inquisi-
tionsprozeß hervorbrachten. Entscheidend waren die Abschaffung des
Gottesurteils um die Jahrhundertwende 8 , das Verbot für Priester, an
ihnen teilzunehmen, die Skandale in der hohen Geistlichkeit bezüglich
des Amterkaufs, die Erstarkung der italienischen republikanischen
Kommunen und damit die Stärkung der Stadtautorität, vor allem gegen
die Adeligen: alle diese Erscheinungen und weitere, speziell italienische
Verhältnisse, bedingten das Entstehen des Inquisitionsprozesses'. Diese
Umstände waren in Deutschland für das weltliche Recht gar nicht
gegeben, und trotzdem soll sich der Inquisitionsprozeß in der gleichen
Form wie in Italien selbständig hier entwickelt haben. Das kann man
schon aus allgemein historischer Sicht nicht annehmen.

II. Geschriebene Quellen des Inquisitionsprozesses


Uns soll nun die Entwicklung des Inquisitionsprozesses in Deutsch-
land nicht weiter interessieren, sondern unser Augenmerk lenkt sich um
so genauer auf die kanonischen Quellen, die den Ursprung des Inquisi-
tionsprozesses - wir sprechen hier, um es zu unterstreichen, nur von
dem strafrechtlichen, nicht ketzerischen Inquisitionsprozeß - überhaupt
ausmachen. Ich glaube, daß eine ausführliche Wiedergabe in deutsch den
faßbaren geschriebenen Ursprung des Inquisitionsprozesses klarer und
auch die Prozeßart für viele verständlicher macht. Eine solche genauere

7
P.Fiorelli, L a tortura giudiziaria nel diritto commune, I., J u s nostrum I, 1953, p. 67,
71.
' C . j . c . C a p . 1 X 5, 14 (für Zweikampf), cap. 8 X 5, 34 (Kaltwasserprobe), cap. 1-3 X
5, 35 (allgemein).
' A. Malinveri, Lineamenti di storia del processo penale, Ed. Giappichelli, Torino
1972, p. 27 ff, 31 f.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 849

Darstellung zeigt vor allem, daß ohne jede sichtbare unmittelbare Vor-
bereitung, aber durch die kirchlichen Verhältnisse bedingt, dieses Pro-
zeßverfahren entstanden ist.
Innozenz III., der juristisch gebildet war, schreibt10 im Jahre 1199 an
den Erzbischof in Sens (Frankreich) anläßlich der Entscheidung eines
Rechtsfalles durch diesen: „... so wollen wir doch nicht tadeln, daß Du,
obwohl kein bestimmter Ankläger gegen ihn [sc. den Geistlichen]
aufgetreten ist, dennoch aus seinem Amt gesetzt hast, weil sich ein
öffentliches Gerücht erhoben hatte, und daß Du die Wahrheit genau
untersucht (inquirere) hast. [Es folgt jetzt die Weisung, daß dem
Beschuldigten der Reinigungseid nebst 14 Mitvereidigten nicht hätte
verweigert werden dürfen. Er sei nachzuholen.] Wir verweisen ihn an
Dich zurück, damit er sich dort reinige, wo er das Verbrechen begangen
hat."
Der Geistliche war zwar der Verbindung mit Ketzern angeklagt, es
handelt es sich aber nicht um einen Ketzerprozeß, sondern um einen
normalen Strafprozeß, wie auch aus dem weiteren hervorgeht.
Im selben Jahr gibt Innozenz eine weitere Weisung für ein Strafver-
fahren gegen den Abt von Pomposa (bei Ravenna)11: „... ein Prälat muß
umso eifriger die Delikte verfolgen, als es unkorrekter wäre, den Scha-
den der Verbrechen ungerügt zu lassen. Gegen solche Personen - zu den
notorischen Verbrechen soll hier geschwiegen werden - ist dreifach
vorzugehen, nämlich entweder durch Anklage (per accusationem),
durch Anzeige (per denunciationem) oder durch Inquisition der Betref-
fenden. Es muß jedoch für die Verfahren die Kautele beachtet werden,
daß der Ankläger sich der inscriptio [d. h. der Anklageschrift, in der die
Beweise genannt sind, und bei Fehlgehen der Anklage sich der Ankläger
verpflichtet, sich der auf das Delikt stehenden Strafe zu unterwerfen12]
unterwerfen muß, daß der Anzeige (denunciatio) eine hilfreiche Unter-

10 Aufgenommen in: Corpus juris canonici, in: Liber Extra Decretalium Gregor I X . :

cap. 10 X (Liber extra), 5 (über), 34 (tit.) unter dem Jahr ca. 1214. In Zukunft zitiere ich,
wie meist üblich, kurz in dieser Reihenfolge. Diese Zitierweise ist einsichtiger als diejenige
von der größten Einheit zur kleinsten.
11 Cap. 31 X 5, 3 unter dem Jahr 1213 aufgenommen.

12 Diese inscriptio kommt aus dem römischen Recht, D 48, 16, 1, 1, C 9, 1, 1 (3) und C

9, 2, 13 (16, 17). Die letzte Stelle (17) sagt ausdrücklich, daß diese Regelung von alters her
besteht. Übrigens weist das Kirchenrecht nirgends auf die Herkunft aus dem römischen
Recht hin. Zu der Frage der inscriptio auch Hübner, Heinz, Zur injuria in der Gesetzge-
bung Friedrich II. von Hohenstaufen in Satura Roberto, Feenstra, Sexag. Quintum annum
aetatis complenti etc., hrsg. von Ankum, Spruit, Wobbe, Universitätsverlag Freiburg/
Schweiz, 1985, p. 322. Vgl. dazu Cap. 16 X 5, 1 und zeitlich etwas später Tancred, in
Pillius, Tancredus, Gratia, Libri de judiciorum ordine, hrsg. von Friedrich Christian
Bergmann, Neudruck der Ausgabe Göttingen 1842, 1965 (Scientia-Verlag, Aalen) Tan-
credi Bononiensis, Ordo judiciarius, P. 2, Tit. 7, § 5.
850 Dietrich Oehler

Weisung und der Inquisition ein allgemein verbreitetes Gerücht vorange-


hen muß. Vor den Prälaten kommt das Geschrei (clamor), wenn er
durch ein allgemeines Gerücht (fama) oder durch häufige und eindringli-
che Mitteilung der Untergebenen von dem Verbrechen erfährt. Dann
soll er zugreifen und sich umsehen, das bedeutet, ausschicken und
untersuchen (inquirere), ob das Gerücht der Wahrheit entspricht. Denn
nach den kirchlichen Vorschriften darf der Prälat, wenn ihm irgendetwas
zu Ohren kommt, dem, was ihm auffällt, nicht leichtfertig Glauben
schenken oder von einer unbekannten Tatsache zum Zorn sich hinreißen
lassen, sondern er muß vor den Kirchenältesten die Wahrheit genau
erforschen, damit, je nach Lage, die Bestrafung für das kanonische
Vergehen nur die Schuld des Delinquenten treffe. Es seien dabei Anklä-
ger und Richter nicht der gleiche, sondern gleichsam das üble Gerücht
und die Denunziation würden ihn zur Erfüllung seiner Amtspflicht
veranlassen. Er habe im Verfolg dieser Weisung immer darauf zu achten,
daß er gemäß den gegebenen Umständen seine Entscheidung der Form
des Verfahrens anpasse. Nachdem uns nun über den Abt von Pomposa
öfters Mitteilungen zugekommen waren, die mit der Ehre nicht zu
vereinbaren waren, kamen auch die Mönche und beschuldigten ihn der
Simonie, des Meineides, der Vergeudung und Unmäßigkeit. Gegen sie
führte der Abt aus, daß der Anzeige keine brüderliche Ermahnung nach
der Regel des Evangeliums vorangegangen wäre. Jene versicherten, daß
diese erfolgt sei. Zwei Mönche schwuren darüber einen Eid. Weil jedoch
die Mönche weiteres behaupteten, haben wir, wie wir gesagt haben,
durch häufig auftretendes Gerücht (clamoribus) veranlaßt, von Amts
wegen (ex officio nostro) angeordnet, über die Gegebenheiten (praemis-
sis) alle Mönche, welche entweder für oder gegen ihn erschienen waren,
unter Eid zu befragen (inquirere), was sie alles über die Vorwürfe unter
Darlegung der Wahrheit wüßten. Nachdem nun die Aussagen schriftlich
festgehalten und publiziert waren, begannen sie von neuem zu streiten.
Weil wir teils aus den Bezeugungen der Mönche, teils aus dem Geständ-
nis des Abtes selbst erfuhren, daß dieser eine nicht unwesentliche
Geldsumme, die ihm vom Vorgänger hinterlassen worden war, vergeu-
det hatte und eine größere Summe auf Kosten des Klosters geliehen
hatte, haben wir uns gezwungen gesehen, ihn, als der Verschleuderung
des Klostervermögens verdächtig, von der Verwaltung der Abtei zu
entheben. Weil er auch der Simonie durch Beweis schuldig erschien,
stellte er viele Einreden gegen die Zeugen auf, über die wiederum sehr
gestritten wurde. Dabei behaupteten einige, daß bei Simonie, wie beim
crimen laesae majestatis, alle gleichartig, sowohl Kinder als auch in
Untersuchungshaft befindliche Personen, nicht nur zur Anklage (accus-
andum), sondern auch zum Zeugnis zugelassen werden müßten, weil
Simonie einem öffentlichen Verbrechen gleich und wie das Verbrechen
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 851

der laesae majestatis zu behandeln sei. Andere dagegen behaupteten, daß


zwar die beiden Delikte hinsichtlich der Anklageerhebung (accus.) fast
gleich zu behandeln seien, aber doch sich in vielem unterschieden. Die
Strafen wichen auch voneinander ab. Zwischen den Personen der Anklä-
ger und der Zeugen sei genau zu unterscheiden. Nicht die Ankläger,
sondern die Zeugen beweisen die Verbrechen. Es soll nicht die Unschuld
unterliegen, auch nicht die scheußliche Simonie unbestraft bleiben,
deshalb haben wir unter Beachtung der Billigkeit den Beweis nur solcher
Einwendungen zugelassen, welche aus Eifer für die Gerechtigkeit und
nicht aus Böswilligkeit zu stammen schienen."
Eine dritte, die entscheidende Dekretale gibt Innozenz III. auf dem
4. Laterankonzil, das diese ausdrücklich billigt".
„Wann und wie ein Prälat zum Inquirieren und Bestrafen der Verge-
hen seiner Untergebenen schreiten muß, ergibt sich nur aus dem Alten
und Neuen Testament, woher auch die kirchlichen Satzungen kommen.
Wie wir schon früher entschieden, bestätigen wir die Entscheidung unter
der Zustimmung des Konzils. Es ist im Evangelium zu lesen, daß jener
Verwalter, der bei seinem Herrn der Untreue beschuldigt wird, von
diesem hörte: ,Was höre ich von dir? Lege mir Rechnung über deine
Verwaltung, sonst kannst du nicht mehr dein Amt innehaben'. Und in
der Genesis sagt der Herr: ,Ich werde herabsteigen und sehen, ob sie
Anlaß zu dem Geschrei, das zu mir gedrungen ist, gegeben haben'. Aus
diesen Stellen ergibt sich, daß wenn ein Verbrechen von einem Unterge-
benen oder Prälaten begangen worden ist und das Geschrei und Gerücht
zu den Ohren des Oberen gelangt ist - nicht von Böswilligen und übel
Beleumdeten, sondern von vorsichtigen und ehrenhaften Personen - ,
und dieses nicht nur einmal, sondern öfters geschieht und dadurch sich
das Geschrei verdichtet und die Beschuldigung erhärtet wird, der Obere
vor den Kirchenältesten die Wahrheit genauestens suchen soll, damit-je
nach der Art der Angelegenheit - das kirchliche Verfahren die Schuld des
Delinquenten treffe. Es sei dann Ankläger und Richter nicht der gleiche,
sondern gleichsam das üble Gerücht und die Denunziation forderten ihn
zur Ausführung der Amtspflicht auf. Wenn dies alles [sc. die Vorsicht]
gegen Untergebene schon zu beachten ist, um so genauer dann auch
gegen Prälaten, die gerade zur Zielscheibe von solchem Verhalten wer-
den können. Sie können nicht allen gerecht werden, da sie kraft ihres
Amtes andere zur Rede stellen, sogar auch schelten müssen, ja vom
Amt entheben und öfters Bußen auferlegen, und ihnen schlägt dadurch
oft von vielen Seiten Haß entgegen, und sie werden von Nachstellungen
betroffen. Deshalb haben die heiligen Väter vorsorglich angeordnet, daß
eine Anklage gegen einen Prälaten nicht leichtfertig zugelassen werden

13
Cap. 24 X 5, 1.
852 Dietrich Oehler

soll, damit nicht durch Einsturz der Säulen das Haus einfällt. Eine
behutsame Bestimmung muß dafür sorgen, daß nicht falsche und bös-
willige Verdächtigungen Eingang finden. Selbstverständlich wollten sie
[die heiligen Väter], daß die Prälaten nur vor ungerechten Inkriminatio-
nen geschützt werden, daß sie sich selbst jedoch vor schweren Zuwider-
handlungen vorsehen. Gegen beiderlei Arten von Anklagen gaben sie ein
entsprechendes Mittel: eine offensichtlich auf Todesstrafe - wir nennen
das Degradation - zielende strafrechtliche Anklage ist nur bei rechtmäßi-
ger inscriptio [siehe oben, Anm. 12] zulässig. Aber wenn jemand wegen
seiner Untaten so bezichtigt wird, daß schon ein Geschrei (clamor)
entstanden ist, welches ohne Skandal nicht mehr länger unbeachtet
bleiben oder ohne Gefahr nicht weiter geduldet werden kann, so muß
ohne weitere Zweifel zur Untersuchung (inquirendum) und zur Bestra-
fung geschritten werden, was aber nicht aus Zorn, sondern aus Antrieb
christlicher Liebe geschehen soll. Handelt es sich um ein schweres
Verbrechen, so ist der Täter zwar nicht seiner geistlichen Weihen, aber
der Verwaltung seines geistlichen Amtes für immer zu entsetzen. Das
entspricht dem Satz des Evangeliums, daß der Verwalter, der nicht
ordnungsgemäß Rechnung legen kann, entlassen werden kann. Derje-
nige, gegen den die Untersuchung (inquisitio) durchgeführt werden soll,
muß, wenn er sich nicht böswillig abgesetzt hat, gegenwärtig sein, und
es sind ihm alle jene Punkte, über die er befragt werden soll, auseinan-
derzusetzen, so daß er die Möglichkeit sich zu verteidigen hat. U n d
nicht allein die Aussagen, sondern auch die Namen der Zeugen sind ihm,
damit er weiß, wer und von wem ausgesagt worden ist, bekanntzugeben.
Es sind auch die rechtmäßigen Einreden und Erwiderungen (exceptiones
et replicationes legitimae) zuzulassen, damit es nicht aussieht, als ob
jemand mit Hilfe der Unterdrückung der Namen den anderen diffamie-
ren dürfe oder durch Ausschluß der Einreden zu falscher Aussage
veranlaßt worden sei. Der Prälat muß sehr sorgfältig auf die Verbrechen
seiner Untergebenen achten, damit er sie verfolgen kann, um so schädli-
cher wäre es, die Delikte unverfolgt zu lassen. Gegen sie - zu den
notorischen Delikten sagen wir nichts - kann er auf dreifache Weise
vorgehen, durch Anklage offensichtlich, durch Denunziation und durch
Inquisition derselben. In allen diesen Fällen muß sorgfältig vorgegangen
werden, damit nicht durch leichtfertige Kürze ein großer Nachteil
entsteht. Es muß der rechten Anklage die inscriptio [s. o. Anm. 12], der
Denunziation die liebevolle Ermahnung und der Inquisition ein allge-
mein verbreitetes Gerücht vorangehen. Gemäß jener Weisung habe der
Richter entsprechend den gegebenen Umständen die Entscheidung der
Form des Verfahrens anzupassen. Diese Ordnung soll nicht auf Ordens-
mitglieder angewendet werden, weil sie, wenn es nötig ist, leichter und
formloser von ihren Amtern entbunden werden können."
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 853

III. Würdigung der drei entscheidenden Quellenstellen und


unmittelbare Weiterwirkung in Italien
Derjenige, der am nächsten zu den Beschlüssen des 4. Laterankonzils
unter Innozenz III. steht, ist der Kanonist TancredEr arbeitete wohl
auch an der Beschlußfassung mit. Enttäuschend ist aber die Prüfung
seines ordo iudiciarius für die Frage der Herkunft des Inquisitionspro-
zesses. Da dieser wie ein deus ex machina ohne jegliche Vorbereitung,
irgendeinen Hinweis, ohne Klagen über den Akkusationsprozeß und
Verlangen seiner Änderung um die Wende des 12./13. Jahrhunderts in
den beiden Sendbriefen des Papstes auftritt, ist es für uns nur schwer
verständlich, daß in einer solchen Schrift von Tancred sich nichts, aber
nicht einmal die Andeutung einer grundsätzlichen Neuerung im kanoni-
schen Strafverfahren findet. Er gibt einige Angaben zu den Prozeßarten
und führt dann den Inquisitionsprozeß unter Stellenangabe im kanoni-
schen Recht auf.
Es heißt dort15: „Es gibt vier Arten, über Verbrechen zu verhandeln -
um über die notorischen Verbrechen zu schweigen die Art der
Denunziation, der Inquisition, der Einwendung (exceptio) und
Anklage". Er sagt dann etwas über die notorischen Delikte, über die
Denunziation - das wichtigste hierbei war, daß keine inscriptio" nötig
war - , über die Anklage, und zu der Inquisition führt er aus17: „Wenn
wirklich nach der Art der Inquisition verhandelt wird, dann ist keine
inscriptio nötig. Der Richter kann in der Sache mit einem Ankläger der
Inquisition (prosecutor inquisitionis), aber auch ohne diesen vorgehen.
Allerdings muß das Gerücht (fama) der Inquisition vorangehen, nicht
nur einmal, sondern öfters, bei Vermögens- und schweren Delikten.
Anderenfalls darf keine Inquisition durchgeführt werden. Es soll der
übel Beleumdete geladen werden, seine Einwendung gehört werden,
wenn er eine hat, wie es in den Dekretalen steht etc. Die Strafe dieses
Prozesses soll, wenn es um einen Prälaten sich handelt, Entfernung aus
der Verwaltung, wenn es sich um einen Tiefergestellten handelt, Entset-
zung seines Amtes sein, auch der Verlust der Benefizien tritt ein, und der
Betreffende soll dem Richter nach Art der Tat, der Person und den
Umständen überliefert werden. Und bemerke, daß wenn eine Inquisi-

14 S. o. Anm. 12, vor allem p. 5. In dieser Ausgabe - auch die Einleitung dieser Ausgabe

ist lateinisch geschrieben - wird die Beschlußfassung für die juristischen Bestimmungen in
die Zeit vom 11.-30. November 1215 (Anm. 10) gelegt, so daß sie Tancred von da ab zur
Verfügung hatte. Die Publikation der Beschlüsse des Laterankonzils erfolgte über eine
Zwischenkompilation anscheinend erst 1229.
15 P 2 , T l , §1.
" Oben, Anm. 12 und zugehöriger Text.
17 §3.
854 Dietrich Oehler

tion gegen jemanden stattfindet und gegen ihn irgendein Verbrechen


durch Zeugenaussagen bewiesen wird, dessen er nicht übel beleumdet
ist, darf er nicht dafür bestraft werden, wie in der Dekretale der
Inquisition bestimmt wird, wo vieles zu der Inquisition gesagt wird".
Aus dem Text könnte man entnehmen, daß zur Zeit, als Tancred sein
Buch schrieb, der Inquisitionsprozeß eine völlig übliche Prozeßart
gewesen wäre. Das war jedoch gerade nicht der Fall. Der Text der
Dekretalen war zwar schon - wie bereits gesagt - in einer Kompilation
erschienen18. Übrigens lesen sich vor allem die beiden letzten Dekretalen
auch, als ob es sich um eine schon einige Zeit eingeführte Prozeßart
handelt.
Seltsam ist der Ansatz dieser beiden Dekretalen. Sie geben sich wie
eine Einführung in das Strafprozeßrecht mit ihrer auffallenden systema-
tischen Gliederung der Verfolgungsarten, die als feststehend erscheint:
Anklage, Denunziation, Inquisition. Zwar werden viele Kautelen für
den Inquisitionsprozeß gesetzt, auch soll er nur bei schweren Taten
angewendet werden, er bleibt eine Ausnahme zum Akkusationsprozeß,
er wird in den Beispielen gerade gegen Prälaten, Äbte usw. - also die
hohe Geistlichkeit - angeführt, trotz allem ist die päpstliche Aussage in
den drei Dekretalen sicher und nicht etwa fragend, tastend oder
zögernd. Es wird auch nicht etwa die Autorität des römischen Rechts
angerufen, sondern nur die der Bibel, wobei diese Stellen eigentlich
nichts Wesentliches aussagen.
In dem großen Gesetzgebungswerk Kaiser Friedrichs II. von Hohen-
staufen, den Konstitutionen für Sizilien von 1231" taucht die Inquisition
wieder, wenn auch in veränderter Gestalt, auf. Das Werk ist in kurzer
Zeit, etwa in zwei Jahren, hergestellt worden, die Kirche arbeitete in
Gestalt des Erzbischofs von Capua20 mit, dem jedoch im Juli 1231 der
Papst von weiterer Mitarbeit abriet. In Buch I, Tit. LH, LIII, spricht der
Gesetzgeber von Inquisition. Die Justitiare sollen auf ihren Reisen in
den Provinzen die schweren Delikte aufspüren und sie „sollen sie mit der
Strenge der gesetzlichen Strafe aus der Provinz vertilgen, ohne - sofern
es an Anzeigenden und Anklägern mangelte - förmliche Anzeigen und
Anklagen abzuwarten" ( X X I I [I]). Daß es sich um einen außerordentli-
chen Rechtsgang handelt, ergibt sich aus dem folgenden Titel. Von der
Anstellung von Inquisitionen handelt der weiter folgende Titel. Die
Justitiare werden angewiesen, in der Provinz Generalinquisition anzu-

18 Kantorowicz, Studien zum altitalienischen Strafprozeß, ZStW 44 (1924), S.98.


" Ich benutze die Ausgabe und den Kommentar dazu: Die Konstitutionen Friedrichs
II. von Hohenstaufen, hrsg. u. übersetzt von Hermann Conrad f , Theo von der Lieck-
Buyken und Wolf gang Wagner, 1973.
20 Vgl. Hübner, Heinz, Staat und Untertan in der Gesetzgebung Friedrichs II., in:
Einigkeit und Recht und Freiheit, Festschrift für Karl Carstens, Band 2, 1985, S.630.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 855

stellen, die Schuldigen abzuurteilen, die nur Berüchtigten, denen die Tat
nicht nachzuweisen ist, zu verweisen, usw. Uber eine Spezialinquisition
finden sich vorsichtige wenige Anweisungen.
Dem Gesetzgeber der Konstitutionen war das römische Recht und das
langobardische Recht gegenwärtig. Er meinte häufig mit dem Wort des
ius commune beide, manchmal nur das römische Recht21. Inwieweit die
Dekretalen des Laterankonzils auf die Einführung der Inquisition einge-
wirkt haben, ist nicht einfach zu beantworten22. Bei einem Vergleich der
in Frage kommenden Stellen ist ohne weiteres nichts Ahnliches in der
Ausdrucksweise zu finden. Selbst die Anzeige wird durch verschiedene
lateinische Worte ausgedrückt. Die Systematisierung in den Dekretalen
findet keinen Widerspiegel in den Konstitutionen. Die Generalinquisi-
tion der Konstitutionen, die hier den wesentlichen Teil der Inquisition
ausmacht, ist in dieser Art in den Dekretalen kaum vorgezeichnet. Das
in den Dekretalen erkannte Problem der Vereinigung von Richter und
Ankläger in einer Person wird in den Konstitutionen nicht angespro-
chen, obwohl diese öfters der Gerechtigkeit ausdrücklich den Vorrang
vor der Zweckmäßigkeit geben. Gerade weil dem Verfasser der Konsti-
tutionen die Dekretalen bekannt waren, wird man annehmen müssen,
daß sie für die ausführlichen Regelungen der Generalinquisition des
Justitiars aus zusätzlichen weiteren Quellen - und zwar germanischer
Art - geschöpft haben als den Dekretalen23. Offensichtlich hatte der
Akkusationsprozeß zu dieser Zeit - vor allem durch Wegfall der Orda-
lien - so einseitig und beschränkt sich erwiesen, daß der Inquisitionspro-
zeß gleichsam als notwendige Ergänzung erschien. Jedenfalls war die
Inquisition in den früheren normannischen Assisen nicht vorgebildet
gewesen24. Wir verfolgen diese Frage für die Konstitutionen hier nicht
weiter.
Roffredus von Benevent - von Kaiser Friedrich II. schon 1224 als
hervorragender Rechtsgelehrter für das ius civile gepriesen25 - beschäftigt
21 Dilcher, Hermann, Normannische Assisen und römisches Recht im sizilianischen
Stauferreich, in: Aktuelle Fragen aus modernem Recht und Rechtsgeschichte, Gedächtnis-
schrift für Rudolf Schmidt, 1966, S. 474 f. Auch Hühner, a. a. O. (vor Anm.), S. 629 f; 633,
Conrad in: Die Konstitutionen etc., a . a . O . , S.L. Dilcher in: Die sizilianische Gesetzge-
bung Kaiser Friedrichs II., Studien und Quellen zur Welt Kaiser Friedrichs II., Band III,
1975, S.37ff, zeigt besonders die normannischen und langobardischen Vorbilder auf.
22 Dilcher sieht für die Generalinquisition langobardische und normannische, aber auch

kanonistische Vorbilder, in: Die Bedeutung der Laterankonzilien für das Recht im
normannisch-staufischen Sizilien, Z. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt.
87, 1970, S.247ff. Auch Hühner a . a . O . (Anm.20), S.632, meint, daß die Gesetzgebung
insoweit nicht eigenständig sei.
23 So wohl auch Kantorowicz, ob. Anm. 18, S. 98.
24 Dilcher, Normannische Assisen etc. (ob. Anm. 21), S. 471.

25 Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit, hrsg. u. übersetzt von

Heinisch, 1968, Wiss. Buchgesellschaft, S.68.


856 Dietrich Oehler

sich 1234 mit der Herkunft des Inquisitionsprozesses, aber sehr allge-
mein. Er verweist für die Entstehung auf das ius civile, das römische
Recht und das italienische Gewohnheitsrecht und spricht den Kanoni-
sten die Ehre der Erfindung des Inquisitionsprozesses ab. Die Ausgestal-
tung des Prozesses komme allerdings aus dem kanonischen Recht26. Die
Stellen lauten: „.. .Und wenn irgendjemand aus der Familie als getötet
bezeichnet wird, . . . soll zur Inquisition geschritten werden. Wenn aber
jemand durch Gift oder ohne Gewalt getötet sein soll, soll keine
Inquisition stattfinden nach dem senatus consultum fillanianum. Jedoch
findet nach dem Gesetzgeber [eine Ulpianstelle mit SC wird angeführt]
doch auch wieder eine Inquisition statt... An diesen und anderen
Fällen... ist evidenter zu zeigen, daß die Inquisition im iure civili
erfunden worden ist... Erfolglos dagegen behaupten die Gelehrten des
kanonischen Rechts, daß in deren Recht die Inquisition erfunden wor-
den sei. Ich gestehe, daß der Modus, die Form der Inquisition, wie und
wann durch diese vorgegangen werden kann, im kanonischen Recht
erfunden worden ist, jedenfalls ist das evidenter dort festzustellen als im
iure civili." Roffredus gehörte übrigens auch zu dem Hofgericht Kaiser
Friedrichs II.
Wilhelmus Durands schrieb als Kanonist um 1271 ein umfangreiches
Speculum iudiciale27 und dabei ungewöhnlich ausführlich über den
Inquisitionsprozeß. Auf S. 30 unter § 2 verknüpft er diesen so eng mit
dem römischen Recht, daß man daraus entnehmen kann, er führte die
Inquisitionsmaxime auf das römische Recht zurück, obwohl er es wohl
nirgends ausdrücklich sagt.
Dagegen verweist Gandinus 1299 - er war lange Richter in Perugia -
in seinem umfangreichen Tractatus de maleficiis28 (1. Fassung 1287) auf
weitere Quellen. Ich gebe die Stellen wieder. In dem Kapitel, wie man
über Strafsachen durch Inquisition erkennt, wird zunächst der Ort der
Befragung auseinandergesetzt. Dann heißt es weiter29 „der Richter kann
und darf auch nicht über jedes Verbrechen inquirieren, weil geschrieben
steht, daß ohne Ankläger die gerichtliche Untersuchung nicht und nicht
einmal deren Einleitung durchgeführt wird [Digestenstelle]. So ist es
sowohl nach kanonischem Recht wie nach ius civile. Welches aber die
Fälle sind, in denen nach ius civile inquiriert werden kann, wurde oben

26 Roffredus von Benevent, Libelli super iure pontificio, 1234, ed. Lugduni 1561,
angeheftet sein Tractatus aureus ordinis iudicarii, p. 6 6 7 (pars sept., De inquisitionibus).
" Wilhelmus Durantis, Speculum iudiciale, 2 tomi, tomus 2, pars III et IV, Neudruck
Ausgabe Basel 1574, Aalen 1975.
28 T e x t : Albertus Gandinus etc. von Hermann Kantorowicz 2. Band etc., Kritische
Ausgabe des Tractatus de maleficiis, 1926.
29 A . a. O . , S. 37, Z. 27.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 857

erwähnt. Es sind folgende: [Es werden schwere Verbrechen aufgeführt]


. . . Auch nach dem Recht der Lombarden wird bei jedem Verbrechen
inquiriert, wie in der Lombarda Titel de officio judicis 1. ut judex30 zu
finden ist. Über dieses alles sprach ich vollständig, wie ich o b e n . . .
ausgeführt habe." Etwas später sagt er 31 : „.. .Aber heute erkennen nach
ius civile die Richter der öffentlichen Gewalten über jedwedes Verbre-
chen durch Inquisition von Amts wegen, was sie nach folgenden Vor-
schriften machen können [es folgen Stellen aus dem Kodex, aus den
Digesten und aus den Novellen, die sich auf bestimmte Delikte bezie-
hen]. So gehen die Richter aus Gewohnheit vor, wie Guido [manche
lesen hier Guil. Durantis] bemerkt, und wie ich es beobachtet habe,
obgleich das gegen das ius civile ist. Denn nach dem Recht der Lango-
barden kann bezüglich jedes Verbrechens durch Inquisition procediert
werden, „wie in der Lombarda de officio etc steht". Nach einigen Sätzen
heißt es: „Aber der Kaiser Friedrich [gemeint ist wohl Friedrich II.], von
den Gelehrten (doctoribus) befragt, sagte in Bologna 32 , daß der Richter
per se über ein Verbrechen nur teilweise inquirieren33 könne; wenn das
öffentliche Gerücht und viele Menschen des Landes einen anderen als
schlechten Rufes und als einen Bösewicht bezeichnen, dürfe die inquisi-
tio nicht verkündet werden, und so solle die Inquisition gegen ihn, der
der Bösewicht und sonst schlechten Rufes ist, nicht möglich sein.
Anders, wenn jemand behauptet, daß dieser etwas besonderes oder ein
bezeichnetes Verbrechen begangen habe 34 ."

30 Es ist die Stelle L 2 , 52, 15, Monumenta Germaniae Historica, Legum, Tomus III,

Hanoverae 1868, p.633, 516 (Pip. 8, Leges Pippini regis), (s. unten im Text). Schon in
Quid sit accusatio führt Gandinus denselben Satz aus, p.5.
31 A . a . O . , S.39.

32 Der Kaiser befand sich im Oktober nur 1220 in Bologna, Kaiser Friedrich II. etc.

(ob. Anm. 25, S. 57).


33 In drei Handschriften ist non, d. h. also ,nicht', eingefügt. Das würde nichts machen,

weil dann nur absque parte, teilweise, etwas anders übersetzt werden müßte, um doch
wieder den obigen Sinn zu ergeben, Was gemeint ist, ist klar.
34 Die Quelle des Gandinus für das Interview des Kaisers ist nicht zu finden. Vorausge-
setzt, der Kaiser habe so geantwortet - Petrus von Vinea hatte in Bologna studiert, die
differenzierte Antwort ist sicherlich von kaiserlichen Räten vorformuliert worden - so
ergibt sich daraus, daß der Inquisitionsprozeß durch die Beschlüsse auf dem Laterankonzil
als modern und neuartig galt, jedoch nicht gänzlich ohne ähnliche weltliche Erscheinungen
entstanden ist, sonst hätte die Frage an den Kaiser keinen rechten Sinn. Diese setzt gerade
voraus, daß der aus dem kirchlichen Recht stammende Inquisitionsprozeß auch schon im
weltlichen Recht benutzt wurde, aber noch Zweifeln unterlag. Geschrieben hatte über den
Prozeß schon der oben genannte Kanonist Tancred, die normannischen Assisen gaben
dazu für Kaiser Friedrich II. nichts her (ob. Anm. 24). In Bologna war selbstverständlich
die Lombarda (weiter unten beschrieben, im Text) bekannt. Da der Kaiser diese rechtli-
chen Zusammenhänge kaum gekannt hat - er war 26 Jahre erst alt - müssen seine
Rechtsberater ein Interesse an der Einführung des Inquisitionsprozesses in das weltliche
858 Dietrich Oehler

Zur Erklärung des Bezugs auf die ca. von 1100 stammende Lombarda,
die in den Liber Papiensis die karolingische Inquisition aufgenommen
hatte, will ich zunächst den angezogenen Text in deutsch wiedergeben:
„Jeder einzelne Richter lasse in der Gemeinde (civitas) bei Gott christli-
che Menschen, bei denen er sich im voraus umschauen muß, und die
draußen in den Höfen und Orten wohnen, schwören, wie weit ihnen
Morde, Diebstähle, Ehebrüche und etwas über verbotene Vereinigungen
bekannt sei, damit sie niemand verhehle. Wir ordnen an, daß, wenn
jemand sich an das Gericht bezüglich irgendeines Menschen wendet, den
er des Totschlages, Diebstahls oder Raubes bezichtigt, und dieser leug-
net, jener, wenn er kann, das beweisen solle, und wenn er es gar nicht
beweisen kann und der Betroffene selbst geleugnet hat, daß er oder seine
Leute das Übel begangen haben, und eine Einrede erhoben wird und er
gesagt hat: ,Nenne mir meine Leute, welche Dir das Übel antaten, und
ich gebe Dir Gerechtigkeit', jener Anzeiger die Namen jener Menschen
aber nicht weiß, noch sie dartun kann, (daß) der Richter, der sich an dem
Ort befindet, diejenigen, die sie kennen, aber nicht aussagen, und wenn
der Anzeigende ausruft: ,jener Mensch weiß die Wahrheit', (jene Men-
schen) schwören lasse, seien es Franken oder Langobarden, welche er
benennt, daß sie nunmehr die Wahrheit sagen sollen; und wenn sie
Christen sind, sollen sie es in die Hand des Grafen tun. Und wenn die
Räubereien oder Diebstähle oder Plündereien aufgedeckt sind, soll in
gleicher Weise, wie das Gesetz es sagt, demgegenüber das Übel began-
gen ist, dieses ausgeglichen werden. Der Richter soll an dem Ort, an
dem er ist, über Räuber und Diebe Erkundigungen einziehen, damit das
Volk, das dort wohnt oder hinkommt, in Frieden leben könne35."

IV. Bewertung der Herkunftsangaben


Die Frage, woher der kirchliche Inquisitionsprozeß der Wende vom
12. zum 13. Jahrhundert und der dann folgende weltliche Inquisitions-
prozeß stammt, ist bis heute nicht voll zu klären, weil vielleicht die
Frage zu einseitig gestellt worden ist.

Recht gehabt haben, und zwar unter Anschluß an bestehende Rechtstatsachen. Sind Frage
und kaiserliche Antwort erfunden, muß Gandinus oder sein Gewährsmann bereits ein
Interesse daran gehabt haben, dem Inquisitionsprozeß eine möglichst frühe, hoheitliche
Bestätigung für den weltlichen Bereich zu geben. Dabei muß die Lombarda, die kurz
vorher im Text von Gandinus erwähnt wird, ein willkommener Anknüpfungspunkt
gewesen sein.
35 Unter der lateinischen Anmerkung zu der Ausgabe (oben, Anm. 30) heißt es, es

handele sich um ein Kapitular Lothars. Der letzte Satz sei aus einem Kapitular Pippins. Ein
Kapitular Wides' und Karls würden dasselbe besagen. Dazu Dilcher, Die Bedeutung der
Laterankonzilien etc., S. 249.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 859

Zwei Meinungen treten sich schon seit der Jahrhundertwende gegen-


über.
Richard Schmidt36 wollte zeigen, daß der Inquisitionsprozeß von dem
Rügezeugeverfahren des karolingischen und normannischen Rechts, also
des germanischen Rechts, abstammte37. Dagegen nimmt Kantorowicz
eine römische Wurzel an, die über die Inquisition des norditalienischen
Stadtrechts - wenn auch diese von der Lombarda angeregt wurde - , auf
die Entstehung des Inquisitionsprozesses Innozenz III. gewirkt hat38.
Gegen die kühne Beweisführung Richard Schmidts erhob schon Binding
große Bedenken in seinem Grundriß des Strafprozeßrechts. Kantoro-
wicz überzeugte allerdings auch nicht. Die Entscheidung liegt bis heute
im Zweifel39, weil beide Versuche nicht völlig beweiskräftig sind. Die
Beziehungen der Lombarda zur Entstehung des päpstlichen Inquisi-
tionsprozesses, desgleichen welche Wirkung die entscheidende Stelle der
Lombarda tatsächlich in Italien gehabt hatte, müssen noch genauer
geklärt werden. Das ,missing link' in der Kette, das zum päpstlichen
Inquisitionsprozeß Innozenz III. führt, konnte bisher noch nicht voll
offengelegt werden.
Erstaunlich ist die Äußerung von Roffredus von Benevent. Diese
Stadt, deren Gebiet das südlichste Herzogtum der Langobarden gewesen
war, hatte ihm offensichtlich keinen Anlaß gegeben, nach germanisch-
rechtlichen Quellen des Inquisitionsprozesses zu forschen. Die Lom-
barda war ihm zweifellos auch im einzelnen geläufig, zumal doch
langobardisches, römisches und normannisches Recht in einer Synthese
gerade in diesem süditalienischen Gebiet galt40.
Die Kanonisten sahen den Inquisitionsprozeß für eine Erfindung des
kanonischen Rechts an, die Legisten sahen im ius civile, bzw. commune,
d.h. im römischen Recht und italienischen Gewohnheitsrecht, die
Quelle, wenn sie für die Ausgestaltung dieser Prozeßform auch dem
kanonischen Recht den Vorzug ließen.
Da das Inquisitionsverfahren als Ketzerverfahren auf anderen Voraus-
setzungen beruhte, darf es hier nicht herangezogen werden, obwohl

36 Die Herkunft des Inquisitionsprozesses, 1902, in: Festschrift etc. für Großherzog

Friedrich, Freiburg.
37 Dagegen Salvioli, Note per la storia del processo penale (estratto dagli Atti della R

Academia di Napoli, vol. XLV, 1,1918) p. 1 ff, auch in Rev. di Storia del diritto ital., 1925,
vol. III, p. II, p. 360 e seg., der zu beweisen sucht, daß keinerlei germanischer Einfluß
vorliege. Die Meinung ist heute nicht mehr haltbar.
38 Ob. Anm.18, S.97ff.
39
Kolmer, Lothar, Ad capiendas Vulpes, Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in
der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens,
Pariser Historische Studien, hrsg. vom Deutschen Historischen Institut in Paris, Band 19,
1982, p. 113.
40 Ob. Anm. 21.
860 Dietrich Oehler

seltsamerweise die erste Dekretale Innozenz III. gerade einen ketzeri-


schen Kleriker betrifft. Da es sich aber um einen Kleriker handelt, ist das
gegen ihn eingeleitete Verfahren nicht als Ketzerinquisition aufgezogen.
Das strafrechtliche Inquisitionsverfahren Innozenz III. war gegen Kleri-
ker wirksamer.
Das bisherige Ergebnis der Forschung wird man folgendermaßen
kennzeichnen können: Die germanisch-rechtliche Wurzel des karolingi-
schen Rechts - jedenfalls als eine wesentliche - wird nicht mehr zu
leugnen sein41, seit Kantorowicz in gewisser Weise auf diese Linie
eingeschwenkt war, wenn er auch im germanischen Recht nur eine von
zwei Wurzeln sieht. Zu römisch-rechtlichen Einflüssen ist zu sagen, daß
im antiken römischen Recht kein Inquisitionsverfahren sich findet.
Selbstverständlich darf man sich den Schöpfungsvorgang bezüglich
des Inquisitionsprozesses nicht so vorstellen, daß die Rechtsgelehrten
des päpstlichen Hofes sich die Lombarda vorgenommen haben, um
daraus den Inquisitionsprozeß herzuleiten. Vielmehr war die Möglich-
keit der Einleitung des Verfahrens von Amts wegen im Bewußtsein
erhalten geblieben, gerade durch das städtische Gewohnheitsrecht.
Infolge der Abschaffung der Gottesurteile mußte man nach einer Ände-
rung des bisherigen Verfahrens suchen. Hinzu kam eine eigenartige
Umkehr der Interessenlage für den päpstlichen Rechtsetzer. Der Akku-
sationsprozeß hatte selbstverständlich diejenigen begünstigt, die infolge
ihres Standes kaum eine Anklage zu gewärtigen brauchten. An sie war
mittels des Akkusationsprozesses sehr schwer heranzukommen. Dazu
war das Verfahren viel zu verwickelt, kostspielig und gefährlich für den
Kläger selbst, wenn er mit seiner Klage nicht Erfolg hatte. Der Papst
hatte aber gerade ein Interesse daran, hohe und höchste Kleriker - vor
allem wegen der sehr verbreiteten Simonie - strafrechtlich verfolgen zu
können. Die kleineren Delikte konnte er ruhig dem Akkusationsprozeß
überlassen. Mußten sonst die Herrschenden auf die Männer ihres Stan-
des Rücksicht nehmen, so brauchte das gerade der Papst nicht, er wollte
die hohen Kleriker gar nicht schützen, er brauchte das auch nicht zu tun.
Es ist nicht zu verkennen, daß der Inquisitionsprozeß auf dem Konzil
beschlossen wurde, als er Papst sich auf der höchsten Höhe der Macht -
die er überhaupt je erreicht hatte - befand. Innozenz wollte die Kirche
straff organisieren. Als ein geeignetes Mittel erschien ihm die neue
Prozeßart. Einmal ihm vorgeschlagen, wird er nicht nach dem Woher
gefragt haben, sondern sie als nunmehr notwendig angesehen haben.
War zwar die Jurisprudenz auf das römische Recht seit einiger Zeit
ausgerichtet, so war die damalige Gegenwart nicht wissenschaftlich-

41
Trusen, ob. Anm. 3, geht ausdrücklich in seiner ganzen Arbeit davon aus. Kolmer,
a . a . O . , S. 113f.
Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses 861

historisch orientiert. So kommt es, daß wir so wenige historische


Hinweise aus dem 13. Jahrhundert zum Inquisitionsprozeß haben. Gan-
dinus gab denjenigen auf die Lombarda erst am Ende des Jahrhunderts.
Aus dieser Überlegung wird es kaum Zweck haben, nach weiteren
faßbaren geschichtlichen Quellen des Inquisitionsprozesses zu forschen,
sondern die Entstehungsfrage ist mehr auf die Faktoren der Zeit - die
kirchliche Lage, die wirtschaftlichen (Simonie war im wesentlichen ein
wirtschaftliches Delikt), soziologischen und persönlichen Verhältnisse,
die Machtstrukturen usw. - auszurichten, die die Prozeßneuschöpfung
bedingten4".
Daß es im späten römischen Recht die Folter gab, ergibt sich aus den
Digesten und dem Kodex ganz klar, so daß die mittelalterliche Folter
geistig einen Anschluß an das antike römische Recht findet42. Aber der
von Eberhard Schmidt wiederholt aufgestellte Satz, die Geschichte des
Inquisitionsprozesses sei zugleich die Geschichte der Folter43, ist so
nicht richtig. Mindestens vermittelt er einen falschen Eindruck. Dieser
Satz hat ihn sich selbst täuschen lassen. Trusen sagt richtig, daß die
Folter nirgends ohne direkten oder indirekten Einfluß des römischen
Rechts eingeführt worden sei, auch nicht in Deutschland44, und zwar -
wie schon gesagt - zuerst in Verona 1228, in der Bulle „Ad exstirpanda"
Innozenz IV. 1252 („mäßige Folterung") gegen Ketzer, in Deutschland
- viel später, als Eberhard Schmidt annimmt - erst im 14. Jahrhundert45.
Inquisitionsprozeß und Folter sind nicht fest verbunden miteinander zu
sehen, zumal der ursprüngliche kanonische Inquisitionsprozeß Inno-
zenz III. keine Folter kannte. Das kommt eben daher, daß beide
Rechtsinstitute des Inquisitionsprozesses und der Folter auf verschie-
dene Entstehungsvorgänge zurückzuführen sind.
Offensichtlich haben nur diese außerordentlich komplizierten Rechts-
entwicklungen und Zeiterscheinungen in Italien den Inquisitionsprozeß
entstehen lassen und auch lassen können. Die Frage an den Kaiser in
Bologna 1220 zeigt die noch nicht gefestigte Meinung der Zeit über diese
Prozeßart im weltlichen Recht, die kaiserliche Antwort offenbart aber
die Reife der Zeit für diese.

41a Foucault, M. (deutsche Übersetzung), Überwachen und Strafen. Die Geburt des
Gefängnisses. Frankfurt/M. 1977, 289, auch in dieser Richtung.
42 Trusen, a.a.O., S.43f.
43 Eberhard Schmidt, die maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und
Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Strafrechtspflege, 1949, S. 52
44 A . a . O . , S.43f.
45 Trusen, a. a. O., S. 57.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung
im strafprozessualen Ermittlungsverfahren
Rechtsdogmatische Randbemerkungen zu einem politischen Thema:
„Vorverurteilung" und „Vorfreispruch"

HANS-JÜRGEN BRUNS

I. Die Vorverlagerung abschließender Entscheidungen in ein


früheres, von der Staatsanwaltschaft beherrschtes Prozeßstadium
1. In den letzten Jahren hat sich - primär veranlaßt durch staatsanwalt-
schaftliche Ermittlungen gegen „prominente" Beschuldigte - ein gewis-
ser Wandel1 in der Funktion und der Bedeutung des Vorverfahrens
herausgebildet und zu Änderungen in der Rechtswirklichkeit geführt,
die in der gesetzlichen Regelung so nicht programmiert und rechtsdog-
matisch bisher nicht genügend gewürdigt worden sind. Die genannten -
über Ansehen und Machtmittel verfügenden - Beschuldigten wollen aus
naheliegenden Gründen unter keinen Umständen „vor Gericht gestellt"
werden und bemühen sich mit allen Mitteln und über hochqualifizierte
Verteidiger, eine für sie günstige Entscheidung schon im Vorverfahren
zu erreichen, das dafür in den verschiedenen Möglichkeiten der Einstel-
lung2 bis zur Nichteröffnung des Hauptverfahrens auch eine gesetzliche
Grundlage bietet.
Das ist nicht nur dann verständlich, wenn sich die Beschuldigten
„unschuldig" oder „zu Unrecht" verfolgt fühlen und die mit der Einlei-
tung des Hauptverfahrens verbundenen Nachteile fürchten, sondern
kommt auch vor, wenn mit einer gerichtlichen Verurteilung zu rechnen
ist, die deshalb durch eine andere Entscheidung im Vorverfahren3 ver-
hindert werden soll. In beiden Fällen will man einen möglichen Frei-
spruch nicht abwarten, auf dessen Rehabilitierungswirkung verzichten,
und zwar schon deshalb, weil mit der sonst drohenden Durchführung
der Hauptverhandlung in der Öffentlichkeit zusätzliche kompromittie-
rende Auswirkungen verbunden sind. Dahinter steht aber auch der

1 Auch Dabs spricht in N J W 1985, 1113 von einem Bedeutungswandel des Vorverfah-

rens und einer Vorverlagerung bestimmter Sachaufklärungen, wenngleich in anderer


Beziehung; vgl. Richter, StrVert. 1985, 382.
2 Nach §§172, 153, 153 a, 204 StPO.

3 D . h. schon durch die Staatsanwaltschaft.


864 Hans-Jürgen Bruns

Gedanke, daß eine möglichst frühe Entscheidung durch die Staatsan-


waltschaft häufig die nach Lage der Sache „relativ beste" sei und die
betroffenen Personen vor der zunehmenden Verschärfung der Lage, der
Verschlechterung ihrer prozessualen Position, bewahre, wie sie beim
Fortschreiten des Verfahrens schon in den entsprechenden Bezeichnun-
gen des mutmaßlich Schuldigen als Verdächtiger, Beschuldigter, Ange-
schuldigter und Angeklagter sinnfällig zum Ausdruck kommt: Die
Entscheidungsphase soll vorverlegt werden.
2. Einen gewissen Höhepunkt hat diese Entwicklung in den zahllosen
Verfahren wegen steuerhinterziehender Parteispenden erreicht, die
wegen der Härte und des Umfangs der Auseinandersetzung als das
„wohl umstrittenste und widerspruchvollste, aber auch brisanteste"
Kapitel der Nachkriegsgeschichte bezeichnet worden sind4. Als Gegner
standen sich zunächst die Presse, einschließlich der Massenmedien, die
über angebliche Verfehlungen ausführlich und mitunter tendenziös
berichteten5, und die Verteidiger der Beschuldigten gegenüber, die jene
Vorwürfe als verfrüht publiziert' und sachlich unbegründet zurückwie-
sen. Beide Gruppen machten sich wechselseitig den juristisch schwer
greifbaren Vorwurf unzulässiger „ Vorverurteilung " und ebenso bedenk-
lichen „Vorfreispruchs"7, weil die einen ungestüm auf die Durchführung
der Strafverfahren drängten, die anderen ebenso stark sich bemühten, sie
möglichst bald einzustellen. Die zeitliche Reihenfolge in der diese
Auseinandersetzungen eingeleitet oder fortgesetzt wurden8, spielt in
diesem Zusammenhang keine Rolle und mag deshalb unterschiedlich
beurteilt werden. Wesentlich bleibt, daß beide Seiten trotz gegensätzli-
cher Standpunkte insoweit einen gemeinsamen Adressaten hatten, näm-
lich die Strafjustiz, vor allen die Staatsanwaltschaft, die jeweils in eine
bestimmte Richtung „gedrängt" werden sollte.
3. Sie hat sich korrekt nicht an der öffentlichen Auseinandersetzung
beteiligt, die stark von Emotionen geprägt wurde und ein noch nie
dagewesenes Ausmaß erreichte: Von Angriffen auf die Pressefreiheit und
den Rechtsstaat ist die Rede, von Beeinträchtigung der Funktionsfähig-
keit der Strafjustiz, von gekauften Experten mit honorargetrübtem

4 So Felix, M D R 1985, 458, der von einer politischen Eruption spricht und dessen

Ausführungen für eine bestimmte Art der Auseinandersetzung typisch sind. Vgl. auch
Ulsenheimer, N J W 1985, 1929: Überforderung der Strafjustiz?!
5 Vgl. die fortlaufenden Berichte im Spiegel, im Stern und in anderen Illustrierten.

' Dabei ging es auch um die unzulässige Veröffentlichung von Strafakten (§ 353 d Nr. 3
StGB).
7 So der Titel des Spiegelgesprächs 1984, Heft 27, S. 28 mit Hassemer.
' Es scheint so, als hätte die Presse zuerst, aber aus triftigen Gründen, die betreffenden
Vorgänge ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 865

Intellekt, von industrieverpflichteten Wissenschaftlern und einem Sezes-


sionskrieg parteiregierter Bundesländer'. Lassen wir solche Auswüchse
beiseite, so bleibt immerhin die einmalige Tatsache festzustellen, daß in
mehr als 1000 Ermittlungsverfahren den Staatsanwälten entsprechend
viele, meist hochqualifizierte Verteidiger gegenüberstehen, die sich
durch eine Flut von Veröffentlichungen vorzeitig zu dem im wesentli-
chen gleichen Themenkreis geäußert haben mit dem offensichtlichen
Ziel, durch vorweggenommene, einseitige Plädoyers zugunsten ihrer
Mandanten die Staatsanwaltschaft „unter Druck" zu setzen.
Die Stichworte Vorverurteilung und Vorfreispruch bilden ferner, was
ebenfalls ungewöhnlich erscheint, die Themen von Anwalts- und
Arbeitstagungen in interessierten Studienkreisen10, von denen der für
Presserecht und Pressefreiheit zu dem Ergebnis gelangt ist, daß es sich
bei der Vorverurteilung, dem Vorgriff auf das Ergebnis eines rechtlichen
Verfahrens mit öffentlicher Wirksamkeit, primär nicht um ein rechtli-
ches Phänomen handele, sondern um eine Frage der politischen Kultur,
daß aber ein „Vorfreispruch" die gleichen Gefahren für alle Beteiligten
mitsichbringe11. Inwieweit das gerade für die Frage der Parteispendenaf-
fären zutrifft, braucht hier nicht nochmals dargelegt zu werden; der
politische Hintergrund der Auseinandersetzungen ist jedenfalls nicht zu
übersehen. Andererseits kann es nicht das Ziel der nachfolgenden Aus-
führungen sein, in einem Zeitpunkt, in dem die Gerichte gerade eben
erst mit der Aufarbeitung der anhängigen Strafsachen begonnen haben,
zur sachlichen Berechtigung des Vorwurfs strafbarer Steuerhinterzie-
hung Stellung zu nehmen, zu dem nicht nur Tatbestandsfragen gehören,
sondern bei dem auch Rechtfertigungs- und Schuldausschließungs-
gründe wahrscheinlich eine Rolle spielen12, deren Prüfung erst nach
abschließender Feststellung des Sachverhalts möglich ist. Es wäre auch
-wenig sinnvoll, den unzähligen Lösungsvorschlägen noch einen weiteren
hinzuzufügen; entscheidend bleibt, daß darüber die zuständigen Strafge-
richte das letzte Wort sprechen13 werden, den Meinungsstreit auf die
rechtlich wesentlichen Probleme zurückführen.
4. Auch in einer anderen Beziehung ist eine Rückkehr zu nüchternen
juristischen Gesichtspunkten geboten: Es geht um die zusätzliche, bis-

' Belege dafür dürften sich erübrigen. Es gab noch schlimmere Entgleisungen.
10 Vgl. N J W 1985, 2465 und 1945 sowie die Beratungen im Kölner und Münchener

Forschungsinstitut.
11 Ebenso Hassemer a. a. O. zum Vorfreispruch.
12 Das gilt vor allem für die Einwendungen, die Finanzverwaltung habe weitgehend die

heute beanstandete Praxis lange Zeit gebilligt und viele Beschuldigte seien „gutgläubig"
gewesen.
15 Also nicht die Finanzgerichte eingeschaltet werden (vgl. BVerfG N J W 1985, 1950).
866 Hans-Jürgen Bruns

her kaum erörterte Frage, ob es aufgrund der gesetzlichen Regelung des


Vorverfahrens überhaupt möglich und sinnvoll ist, vorgezogene Ent-
scheidungen i. S. von Vorverurteilung oder Vorfreispruch zu fordern
oder zu treffen, obwohl sie beide in gleicher Weise als sehr bedenklich
erkannt worden sind. Der neueste Vorschlag, ein Prozeßhindernis nach
Art des Contempt of Court gegen Vorverurteilung einzuführen, scheint
dafür zu sprechen, daß das geltende Recht zu ihrer Bekämpfung keine
wirksame Handhabe biete. Gleichwohl braucht dieser Gesichtspunkt
hier nicht weiter verfolgt zu werden. Denn er verspricht, wie Hassemer14
überzeugend dargelegt hat, keinen Erfolg: Es sei „ganz unsinnig, ein
solches Rechtsinstitut (aus anderen Ländern) in unsere Rechtsordnung
zu transportieren", die vorhandenen gesetzlichen Vorschriften hätten
sich bislang als hinreichend tauglich erwiesen, es bestehe kein Anlaß,
Vorverurteilungen durch die Medien mit neuen gesetzlichen Vorschrif-
ten zu begegnen, zumal eine bessere Informationspolitik der Ermitt-
lungsbehörden manche Mißverständnisse verhüten könne. „Vorverur-
teilungen" i. S. einer mittelbaren Beeinflussung der Öffentlichkeit oder
gar der Richter müßten wegen der Bedeutung von Meinungs- und
Pressefreiheit hingenommen werden, könnten allenfalls in extremen
Fällen zur Ablehnung der Richter wegen Befangenheit führen. Abhilfe
gegen „Vorfreisprüche", insbesondere durch bedenkliche Einstellungen
des Verfahrens, ist ohnehin nur beschränkt im Rahmen des gesetzlichen
Anfechtungssystems möglich. Unsere Kritik an den Bestrebungen, die
gegebene Situation zu Vorverurteilungen oder Vorfreisprüchen auszu-
nutzen, muß deshalb bei anderen, rechtlichen Ansatzpunkten beginnen.

II. Die gesetzlichen Voraussetzungen abschließender


Entscheidungen im Vorverfahren
1. Die allgemeine Situation im Vorverfahren wird durch das Stichwort
„Tatverdacht" gekennzeichnet, das in der StPO in verschiedenen
Varianten vorkommt und im Rahmen des §152 StPO als Anfangsver-
dacht i. S. des Vorliegens zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte
umschrieben wird. Auf Gradabstufungen, z.B. des „hinreichenden"
oder „dringenden" Verdachts15 ist hier nicht weiter einzugehen; es
genügt zu betonen, daß der Verdacht es nach kriminalistischer Erfah-
rung als „möglich" erscheinen läßt, daß eine strafrechtlich verfolgbare
Tat vorliegt. Die Prüfung, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte
gegeben sind, betrifft also die sog. Tatfrage, bei deren Entscheidung ein
gewisser, nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum besteht. Er gründet

14 A.a.O. und in NJW 1985, 1921.


15 Vgl. §§111 a, 112, 203 StPO und Dahs, a.a.O., S. 1114, der einen „höheren"
Verdachtsgrad fordert.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 867

sich auf prognostische Erwägungen und begnügt sich mit einer deutlich
herabgesetzten Wahrscheinlichkeit (Möglichkeit) der späteren Verurtei-
lung des Beschuldigten. Alle Verdachtsgründe unterscheiden sich ein-
deutig von der „Uberzeugung" des Gerichts i. S. des §261 StPO, die für
die abschließende gerichtliche Beweiswürdigung ein nach der Lebenser-
fahrung ausreichendes Maß an „Sicherheit" voraussetzt, demgegenüber
vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Die Bejahung eines bloßen
Verdachts durch die Staatsanwaltschaft orientiert sich nicht an jenen
gesteigerten Voraussetzungen des §261 StPO und kann deshalb nur
schwer, meist gar nicht, erfolgreich beanstandet werden.
2. Das Merkmal „Tatverdacht" umfaßt aber auch eine rechtliche Kom-
ponente: Der Verdacht muß sich nämlich auf eine (Straf-)Tat beziehen,
d. h. auf eine Handlung, die unter ein Strafgesetz fällt und eine spätere
Verurteilung ermöglicht. Zu dieser „Rechtsfrage" gehört primär die
Tatbestandsmäßigkeit in objektiver und subjektiver Hinsicht, die u. U.
auch eine Heranziehung von Rechtfertigungs- oder Schuldausschlie-
ßungsgründen notwendig macht", also eine (rechtliche) Schlüssigkeits-
prüfung, deren Ergebnis im Gegensatz zum bloßen Verdacht an „Sicher-
heit" der Uberzeugung nichts zu wünschen übrig lassen darf. Ein bloßer
(vermuteter) „Schlüssigkeitsv erdacht" genügt also nicht! Im Gegenteil,
die zu treffende Beurteilung der Rechts-, insbesondere der Tatbestands-
frage erscheint dem Gericht so wichtig, daß in dem sog. Anklagesatz der
Staatsanwaltschaft die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzu-
wendenden Strafvorschriften zu bezeichnen sind (§200 StPO). Aber das
Gericht ist - ebenso wie bei der Beweiswürdigung — nicht an die
rechtliche Beurteilung der Staatsanwaltschaft gebunden (§206 StPO). Es
hat vor dem Erlaß des Eröffnungsbeschlusses beides, insbesondere die
Tatbestandsfrage, zu überprüfen, kann sie auch abweichend von ihrer
Qualifizierung in der Anklageschrift fixieren (§ 207 StPO) und muß im
Nichteröffnungsbeschluß angeben, ob er auf tatsächlichen oder auf
Rechtsgründen beruht (§204 StPO). In dem Gesetzesmerkmal „Tatver-
dacht" sind also zwei verschiedene Gesichtspunkte sprachlich miteinan-
der verwoben: Der „Verdacht" auf der Ebene der tatsächlichen Feststel-
lungen und die Tat i. S. der Verwirklichung eines Tatbestandes, der
Klärung einer Rechtsfrage. Die Entscheidung beider Fragen hat nach
unterschiedlichen Maßstäben zu erfolgen. Die Schlüssigkeitsprüfung
betrifft die Rechtsfrage und ist an strengere Voraussetzungen gebunden
als die Tatfrage, die hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen (zurei-
chende Anhaltspunkte) bloßen Verdacht, wenn auch in sich abgestuft,
genügen läßt. Ein rechtlicher „Schlüssigkeitsverdacht" reicht dagegen
nicht aus.

" Vgl. oben Fn. 12.


868 Hans-Jürgen Brans

3. Auf die Notwendigkeit einer solchen „Doppelprüfung" in tatsächli-


cher und rechtlicher Hinsicht mit erheblich unterschiedlichen Maßstä-
ben (Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Sicherheit) wird im Schrifttum
meist nicht genügend hingewiesen. Man muß schon die strafprozessuale
Literatur sorgfältig auf diesen Gesichtspunkt überprüfen, bis man von
Schlechter17 bestätigt bekommt, daß in der Aussage „Verdacht einer
Straftat" (§160 I StPO) „zwei Erfordernisse kumuliert sind": Zunächst
bedarf es einer tatsächlichen Prognose wie bei jedem Verdacht, außer-
dem muß eine rechtliche Prüfung hinzutreten, ob das in Frage stehende
Verhalten tatbestandsmäßig (rechtswidrig und schuldhaft) ist, und das
hängt von „eindeutigen" materiell-rechtlichen Überlegungen ab:
„Besteht also aus-tatsächlichen Gründen, d.h. mangels einer auch nur geringen
Wahrscheinlichkeit kein Verdacht, daß der Beschuldigte die Handlung begangen hat, so
fehlt es an einer Voraussetzung des Ermittlungsverfahrens. Besteht dagegen ein - auch
nur geringer - Verdacht und ergibt sich aus diesem schlüssig die strafrechtliche
Relevanz der Handlung, so sind die Ermittlungen (fort-)zuführen 17 ."

Ist die Schlüssigkeit zu verneinen, so hat Einstellung nach §170 II


StPO zu erfolgen, und damit taucht ein Konkurrenzproblem im Verhält-
nis zu den Einstellungen nach §§ 153, 153 a StPO auf, dessen Kern darin
besteht, mit welchem Verdachts- und Sicherheitsgrad die Frage der
Tatbestandsmäßigkeit dort jeweils geprüft werden muß, und wie bei
zweifelhafter Beurteilung der Rechtslage (!) zu entscheiden ist. Kann
dann auch eine non-liquet-Situation auftauchen und etwa (auch in
rechtlicher Hinsicht?) nach dem Prinzip in dubio pro reo - statt zu einer
Einstellung nach § 170 II StPO - zu einer solchen aus Opportunitäts-
gründen (§§ 153, 153 a StPO) führen? Das wird in anderem Zusammen-
hang zu erörtern sein, in dem erneut die Schlüssigkeit eine interessante
Rolle spielt18.
4. All das beruht auf der Erkenntnis, daß auch im Ermittlungsverfahren
Tat- und Rechtsfragen zu trennen und nach unterschiedlichen Maßstä-
ben zu beurteilen sind. Die damit verbundenen Schwierigkeiten der
„Abgrenzung" beider Gesichtspunkte kennen wir vor allem aus der
Lehre von der Revisibilität des Strafurteils1'. In einfacherer Form tritt
das Problem im Rahmen des §353 II StPO in Erscheinung, wenn
bestimmte tatsächliche Feststellungen, weil durch die Gesetzesverlet-
zung nicht betroffen, vom Revisionsgericht aufrecht erhalten und damit
bindend werden20. Besondere Bedeutung erlangt jene Unterscheidung

17 Das Strafverfahren, S.380, 388, 390, 415, 417.


18 Vgl. unten III 2, 3.
" Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl., S. 297.
20 Vgl. B G H 32, 84 mit Anm. von Bruns in NStZ 1984, 129 und Maiwald in
J R 1984, 478.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 869

neuerdings im Auslieferungsrecht, nachdem B G H S t . 32, 314 klargestellt


hat, daß eine Prüfung des hinreichenden Tat-(Schuld-)Verdachts nach
§ 10 II I R G im Auslieferungsverkehr nach dem EuAbUbk grundsätzlich
ausgeschlossen ist. Hier geht es um die Anwendung des sog. materiellen
oder formellen Prüfungsprinzips. Der B G H hat sich für die letztere
Alternative entschieden, d. h. die deutschen Auslieferungsgerichte müs-
sen sich bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung auf die
materiell-rechtliche Schlüssigkeitsprüfung beschränken 21 , und zwar auch
dann, wenn Anlaß zu der Annahme besteht, daß das ausländische
Gericht den Tatverdacht zu Unrecht bejaht hat. Der Schlüssigkeitsprü-
fung kommt hier also noch eine erhöhte Bedeutung zu.
Diese Erwägungen, die aus speziellen - hier nicht zu erörternden -
Gründen im Auslieferungsrecht so deutlich in den Vordergrund treten,
dürfen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren nicht zurück-
gedrängt werden. Tat-(Schuld-)Verdacht und Schlüssigkeitsprüfung
haben hier selbständige Bedeutung, und es scheint deshalb ein legitimer
Ansatzpunkt zu sein, wenn die Verteidiger möglichst früh die Tatbe-
standsmäßigkeit des Verhaltens ihres Mandanten bestreiten und schon
im Vorverfahren eine Einstellung des Verfahrens nach den einschlägigen
Gesetzesbestimmungen fordern. Die (angeblich) rechtlichen Schwierig-
keiten bei der Beurteilung der Parteispendenaffären 22 dürften eine ver-
stärkte Schlüssigkeitsprüfung geradezu nahelegen und bei Zweifeln an
der Tatbestandsmäßigkeit energische Bemühungen um einen frühzeiti-
gen „Vorfreispruch" in dem zu erörternden weiteren und übertragenen
Sinn rechtfertigen. Als Einstellungsalternative käme dann primär ein
Beschluß nach § 170 II StPO in Betracht 23 .

III. Die Steigerung der gesetzlichen Regelung


in der Rechtswirklichkeit

Die bisherigen Überlegungen waren wegen ihrer heuristischen Bedeu-


tung notwendig und rechtlich interessant, aber sie stellen reine Theorie
dar, die jedenfalls in schwierigeren und zweifelhaften Fällen wenig
einbringt, oft sogar versagt. Im Frühstadium der Ermittlungen hat die
Staatsanwaltschaft nämlich zunächst andere Sorgen, hinsichtlich der
Feststellung des Sachverhalts. Sie kann die Frage der Tatbestandsmäßig-
keit nur grob und vorläufig anpeilen und tut das im Bewußtsein, daß sie

21 Im Fall BGH 32, 314 auf die nicht zweifelhafte Strafbarkeit nach dem BtMG im

Gegensatz zur Glaubwürdigkeit des einzigen ausländischen Belastungszeugen.


22 Dabei geht es innerhalb des § 370 AO auch um die Anwendung der Umgehungsbe-

stimmungen der §§6 StAnpG, 41 AO; vgl. Bruns, GA 1986, 1.


23 Vgl. Hilger, JR 1985, 93 mit interessanten Beispielen, z. B. zu I Nr. 5: Hoffnung auf

einen Wandel der Rechtsprechung und Schlüssigkeitsprüfung.


870 Hans-Jürgen Bruns

bis zur Hauptverhandlung noch mehrmals kontrolliert, und u. U. sogar


geändert (berichtigt) wird. Praktisch muß sich die Staatsanwaltschaft bei
dieser zwangsläufig oberflächlichen rechtlichen Qualifizierung der Tat
mit einer Art von „Schlüssigkeitsverdacht" begnügen. Das folgt aus der
Natur der Sache:
1. In vielen Fällen ist die Rechtsfrage nach der Tatbestandsmäßigkeit
zweifelhaft und bestritten. Die Staatsanwaltschaft kann sich dann für die
ihrer Meinung nach plausibelste Lösung entscheiden, sich auch den
Thesen der Minderheitsmeinung anschließen, sie variieren oder erst
später in der Hauptverhandlung endgültig fixieren. In diesem Zusam-
menhang spielt die Frage nach der Bindung der Staatsanwaltschaft an die
gefestigte Rechtsprechung eine Rolle, die im einzelnen hier nicht weiter
zu verfolgen ist. Wie Schlüchter24 näher darlegt, kann die Staatsanwalt-
schaft auch dann Anklage erheben, wenn nur sie von der Strafbarkeit des
Beschuldigten überzeugt ist, dessen Verhalten aber nach der Rechtspre-
chung straffrei sein soll; anderenfalls könnte auch eine verfehlte gefe-
stigte Rechtsprechung niemals berichtigt werden. In verschiedenen
Richtungen anders ist die Lage dann, wenn die Rechtsprechung ein
Verhalten als strafbar ansieht, während die Staatsanwaltschaft es für
straflos hält. Auch in diesem schwierigeren Fall muß die Staatsanwalt-
schaft Anklage erheben, u. U. sogar gegen ihre Uberzeugung. Das sind
nur einzelne Beispiele, die zeigen, wie groß auch bei der Schlüssigkeits-
prüfung der Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft sein kann,
obwohl es sich bei den steuerhinterziehenden Parteispenden nicht unbe-
dingt um besonders schwierige Tatbestandsfragen handeln muß22. Es
geht gar nicht um eine endgültige Deliktsqualifizierung, sondern - nach
der Entwicklungsstufe der Ermittlungen - um eine vorläufige rechtliche
Stellungnahme, die mit dem Vorbehalt späterer Präzisierung (Richtig-
stellung) nach den jeweiligen Erkenntnissen des fortschreitenden Ver-
fahrens verbunden ist und manchmal ziemlich oberflächlich abgegeben
oder bis zum Ende der Hauptverhandlung zurückgestellt wird.

2. Mit noch verschwommeneren Tatbestandskonturen begnügen sich


die Prozeßbeteiligten, wenn es um Einstellung aus Opportunitätsgrün-
den geht. § 153 StPO setzt zwar ein Vergehen, also eine Straftat voraus,
bei der „die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre". Aber die
damit angesprochene Schlüssigkeitsprüfung verflacht hier noch mehr,
denaturiert innerhalb der hypothetischen Frageformulierung bis zu
einer, oft an Unterstellung grenzenden Vermutung und läßt die Abgren-
zung zur (rehabilitierenden) Einstellung nach § 170 II StPO völlig unklar

24 A.a.O., S.56ff.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 871

erscheinen, obwohl schon aus Gründen der Fürsorgepflicht die für den
Beschuldigten günstigere Erledigungsart vorgehen muß, denn die Ein-
stellung nach §153 I StPO stellt den Beschuldigten „nicht makelfrei".
Auch das öffentliche Verfolgungsinteresse kann grundsätzlich nicht mit
dem Justizinteresse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entschei-
dung aus reinen Rechtsgründen gerechtfertigt werden. Was soll also
geschehen, wenn die Tatbestandsfrage unklar und zweifelhaft ist, sie nur
bei grobem über-den-Daumen-peilen bejaht werden kann? Hat dann der
Beschuldigte in dieser non-liquet-Situation nicht einen Anspruch auf
Einstellung des Verfahrens nach § 170 II StPO, der eine Einstellung nach
§153 StPO ausschließt?
Nach den Erläuterungen jener Bestimmungen setzt ihre Anwendung
nicht voraus, daß die Schuld nachgewiesen ist. Es soll genügen, daß für
sie eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, jedenfalls die Unwahr-
scheinlichkeit eines Freispruchs, falls das Verfahren fortgeführt würde.
Das aber läuft auf einen bloßen Schlüssigkeitsverdacht hinaus, dessen
Bedenklichkeit kaum durch die notwendige Zustimmung des Gerichts
gemildert wird, weil auch das Gericht in solchen Fällen - im Hinblick
auf die bekannte Zielsetzung der einschlägigen Normen - es mit einer
dezidierten Tatbestandsprüfung nicht sonderlich ernst nimmt und die
Zustimmung des Angeschuldigten nur im Rahmen des § 153 II StPO
erforderlich ist.
3. Ähnlich herabgemilderte Voraussetzungen hinsichtlich der Schlüssig-
keitsprüfung gelten für die Einstellung nach § 153 a StPO, die zwar nur
mit Zustimmung des Beschuldigten möglich ist, aber eigentlich auch eine
Schlüssigkeitsprüfung des „Vergehens" voraussetzt. Sie läßt sich aber bei
diesem „zweckmäßigen vereinfachten Erledigungsverfahren" noch
weniger durchführen. Der Sache nach handelt es sich um einen Freikauf
vom Strafverfolgungsrisiko. In dem Erfordernis des Tatverdachts geht
der Nachweis der Tatbestandsmerkmale weitgehend unter, obwohl dem
Beschuldigten nur dann die freiwillige Übernahme besonderer Pflichten
zugemutet werden kann, mit der sich ja doch er als tatbestandsmäßig
schuldig bekennt. Näher auf sorgfältige rechtliche Erwägungen einzuge-
hen, lohnt sich hier nicht mehr25. Die Gerichtspraxis geht ihre eigenen
Wege reiner Zweckmäßigkeit, sie hat den Rahmen des §153a StPO
längst ins Unermeßliche gesprengt, bei (noch nicht nachgewiesenen)

25 Es handelt sich um einen viel erörterten Fragenbereich. Vgl. zuletzt die Besprechung

der Habilitationsschrift von Kunz durch Baumann, NJW 1985, 1948, wo von „Täuschung
der Öffentlichkeit durch Aufrechterhaltung der Fassade materiellrechtlicher Strafbarkeit"
die Rede ist und ein „förmlicher Schuldnachweis", freilich in einem vereinfachten Verfah-
ren gefordert wird; vgl. ferner Rieß, ZRP 1985, 212.
872 Hans-Jürgen Bruns

schwersten Straftaten werden Geldauflagen in unbeschränkter Höhe26


angeordnet, um schwierige und lange andauernde Prozesse zu vermei-
den27. Eine genauere Schlüssigkeitsprüfung wird durchweg durch die
Zustimmung des Beschuldigten ersetzt, der selbst im Gefühl völliger
Unschuld eine summarische Erledigung durch eine ihn belastende Ein-
stellung dem Risiko einer Durchführung der Hauptverhandlung vor-
zieht.
Vor hier aus ist es i. S. unseres Themas nur ein kleiner Schritt bis zur
Erledigung des Verfahrens durch Strafbefehl. Auch dort geht das
Gericht durchweg bei der notwendigen Qualifizierung der Tat von der
rechtlichen Beurteilung durch die Staatsanwaltschaft aus und wartet ab,
ob der Beschuldigte durch Einsprucheinlegung auf die Schlüssigkeit des
Vorwurfs zurückkommt, sie etwa beanstandet. Uberall wird bei der
Verlagerung derartiger Entscheidungen ins Vorverfahren die beschleu-
nigte Erledigung durch eine Herabsetzung der rechtlichen Prüfungsvor-
aussetzungen erkauft.

IV. Ergebnis
Der ungewöhnlich heftige Streit um die Strafbarkeit steuerhinterzie-
hender Parteispenden läßt sich also durch die Vorverlegung der Ent-
scheidung in das staatsanwaltschaftliche Vorverfahren nicht abschließend
entscheiden; dazu fehlt es an einer hinreichenden gesetzlichen Grund-
lage, an einem geeigneten Instrumentarium. Die Voraussetzungen für
eine Einstellung oder für die Fortführung des Prozesses kreisen zwar um
das Merkmal des Tatverdachts und der Schlüssigkeit in tatbestandsmäßi-
ger Hinsicht, aber deren Konturen bleiben notgedrungen in der Praxis
so vage, daß sie als Ansatzpunkte für eine Kritik in der einen oder
anderen Richtung nicht geeignet sind, deshalb die Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft auch nicht wesentlich beeinflussen können. Gegen
die Annahme oder Ablehnung eines bloßen Verdachtes, daß der
Beschuldigte einschlägige Handlungen vorgenommen habe, ist ohnehin
kein juristisches Kraut gewachsen. Die Bemühungen einflußreicher
Kreise, auf die Entschließungen der Staatsanwaltschaft einzuwirken,
müssen sich deshalb auf die Rechtsfrage, in erster Linie die Tatbestands-
mäßigkeit konzentrieren. Aber die an sich gebotene Schlüssigkeitsprü-
fung wird im Vorverfahren, namentlich bei Einstellungen, nur in groben

2t Man hört von Geldauflagen von mehreren hunderttausend DM, sogar in Millionen-
höhe.
27 Mit Recht rügt Kleinknecht/Meyer zu § 153 a StPO Nr. 6, daß auf diese Weise die
Möglichkeit des „Freikaufs" von der Strafverfolgung unter Mißachtung des Gleichheits-
grundsatzes vor allem zahlungskräftigen Wirtschaftsstraftätern zur Verfügung gestellt
wird.
Tatverdacht und Schlüssigkeitsprüfung im Ermittlungsverfahren 873

Zügen und mit gewissen Änderungsvorbehalten durchgeführt, die


jedenfalls in schwierigeren Sachen durchgreifende Einwendungen nicht
zulassen.
Die Flexibilität der Staatsanwaltschaft bei der Beurteilung der Straf-
barkeit gründet sich auf die besondere Situation des Vorverfahrens, das
grundsätzlich auf eine später abschließende Hauptverhandlung ausge-
richtet ist, sofern es nicht aus Opportunitätsgründen vorher eingestellt
wird. Die abschließende rechtliche Würdigung der Tat bleibt damit den
strafgerichtlichen Urteilen vorbehalten. Bei den vorhergehenden Ein-
stellungen denaturiert die Tatbestandsprüfung zum bloßen „Schlüssig-
keitsverdacht", der danach in der Anklageschrift und im Zwischenver-
fahren nur etwas mehr konkretisiert wird. Die Bemühungen der Vertei-
diger und anderer interessierter Kreise, auf der geschilderten Basis in
irgendeiner rechtlichen Form zu einem „Vorfreispruch" zu gelangen,
waren deshalb m. E. von vornherein zum Scheitern verurteilt, zumal die
vorweggenommenen Plädoyers mancher Anwälte ihre einseitige Vorein-
genommenheit nicht verbergen konnten. Das „pseudojuristische Spekta-
kel" zwischen ihnen und der Presse und den Medien wurde deshalb in
einem dafür ungeeigneten Vorgelände ausgetragen und konnte jedenfalls
in den Fällen von grundsätzlicher Bedeutung keinen Erfolg haben. Es
entspricht dem Gesetz, daß auch prominente Beschuldigte, gerade weil
ihnen vorläufig die Unschuldsvermutung zur Seite steht, sich vor
Gericht verantworten und die Nachteile hinnehmen müssen, die nun
mal mit der Durchführung des Hauptverfahrens verbunden sind. Ob
sich die Vorstöße zahlreicher Anwälte mit der „rechtsdogmatischen
Brechstange" eine Art von „Vorfreispruch" zu erreichen, stets zugun-
sten ihrer Mandanten auswirken, muß füglich bezweifelt werden. Aber
auch von einer Vorverurteilung kann keine Rede sein, weil die Presse
und die Medien im wesentlichen wahre Tatsachen verbreitet und zur
Erreichung eines legitimen Zwecks beigetragen haben, daß die Endent-
scheidung von den ordentlichen Strafgerichten gefällt wird, nachdem
sichergestellt ist, daß dabei keine „befangenen" (vorbeeinflußten) Rich-
ter mitwirken. Eine Vorverurteilung liegt nämlich nur vor, wenn ein
faires Verfahren nicht mehr erwartet werden kann, und für eine derartige
Annahme fehlen, wie die bisher bekannt gewordenen Hauptverhandlun-
gen zeigen, hinreichende Anhaltspunkte.
Strafantrag - Strafantragsrecht
Zur Frage der Funktion des Strafantrages
und seinen Wirksamkeitsvoraussetzungen

DIETHART ZIELINSKI

I.

1. „Der Strafanspruchsbegriff ist dogmatisch unhaltbar... - Der Straf-


klagrechtsbegriff ist ein dogmengeschichtliches Requisit aus dem Aktio-
nendenken, das im modernen Rechtsdenken unverwendbar geworden ist
mit der Preisgabe des Aktionenbegriffs." Dieses Fazit zog Hilde Kauf-
mann in ihrer Habilitationsschrift 1 aus der dogmengeschichtlichen Ana-
lyse des Begriffspaares „Strafanspruch" und „Strafklagrecht" und ver-
warf sie beide als geeignete Bezugsbegriffe zur Bestimmung der Grenzli-
nie zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozeßrecht. Der Streit um
die materiell-rechtliche oder prozeßrechtliche „Rechtsnatur" einer Be-
strafungsvoraussetzung mutet nur auf den ersten Blick als ein akademi-
scher an, soll doch dadurch zugleich entschieden werden über für die
Strafjustizpraxis so wichtige Fragen, ob bei Fehlen einer bestimmten
Bestrafungsvoraussetzung das Verfahren durch Einstellung oder Frei-
spruch zu beenden sei (§§ 206 a, 260 Abs. 3 StPO), ob deren Vorliegen
außerhalb der Hauptverhandlung im Wege des Freibeweises oder nach
den Regeln des Strengbeweises zu prüfen sei2, ob die Beschlußfassung
durch das Gericht hierüber mit einfacher Stimmenmehrheit nach § 196
Abs. 1 G V G oder mit Zweidrittelmehrheit nach §293 StPO zu erfolgen
habe, ob bei offen gebliebenen Zweifeln der Grundsatz in dubio pro reo
anzuwenden sei, und schließlich ob insoweit der Verfassungsgrundsatz
des Rückwirkungsverbots gelte5.

1 Strafanspruch, Strafklagerecht, 1968, S. 130.


2 Vgl. dazu die Nachweise jüngst bei Maria-Katbarina Meyer, Zur Rechtsnatur und
Funktion des Strafantrags, 1984, S. 17 Anm. 87, 88, 89.
3 Vgl. auch insoweit Maria-Katharina Meyer (Anm. 2), S. 16 und 12 jeweils mit w. N .
Freilich belegt gerade diese Ubersicht, daß keineswegs Einigkeit darüber besteht, daß die
Qualifizierung eines Merkmals als „Prozeßvoraussetzung" bereits die Beantwortung der
oben aufgeworfenen Fragen präjudiziere. Vgl. hierzu ausführlich Volk, Prozeßvorausset-
zungen im Strafrecht, 1978, S. 23 ff, 54 ff, 249.
876 Diethart Zielinski

Praktisch bedeutsam sind diese Kontroversen jedoch nur für vier


Bestrafungsvoraussetzungen:
- die Frage der Strafmündigkeit, § 19 StGB (§ 1 Abs. 3 J G G a. F.)
- den Eintritt der Verjährung
- das Vorliegen des Strafantrages
- die Wirkung einer Amnestie.
Im übrigen besteht hinsichtlich der „Rechtsnatur" von Bestrafungs-
voraussetzungen als „Prozeßvoraussetzung" oder materiell-rechtliche
„objektive Bedingung der Strafbarkeit" Einigkeit4.
Hilde Kaufmann entschied die Abgrenzungsfrage nicht mittels eines
präzise definierten Begriffs der „Prozeßvoraussetzung", sondern
glaubte, die Lösung mit Hilfe einer Testfrage finden zu können: „Müßte
der Eintritt bzw. Nichteintritt der Strafe, falls er ohne Prozeß möglich,
wäre, von diesem in seiner Rechtsnatur fraglichen Umstand abhängen,
oder wäre dieser Umstand dann irrelevant?" Die danach straf-relevanten
„Umstände seien dem materiellen Strafrecht, die irrelevanten dem Pro-
zeßrecht zuzurechnen5.
Volk hat die Methode Hilde Kaufmanns zur Abgrenzung von Prozeß-
voraussetzungen kritisch unter die Lupe genommen6. Ihr Verfahren gebe
kein inhaltliches überprüfbares Kriterium zur Bestimmung von Prozeß-
voraussetzungen an, sondern rekurriere auf das Evidenzerlebnis, daß es
„nun doch ganz offensichtlich sei", „daß Verjährung, Amnestie, Strafan-
trag auch dann berücksichtigt werden müßte, wenn die Strafe sich ohne
Prozeß verwirklichte"7. Daß sich mit Hilde Kaufmanns Methode den-
noch weitgehend brauchbare Ergebnisse erzielen lassen, erklärt Volk
damit, daß die von ihrer „Leerformel" vorausgesetzten „Maßstäbe für
,Relevanz' und ,Sinn' anderswo bereitgestellt werden"8. Und in der Tat,
legt man sich die Testfrage Hilde Kaufmanns kontextfrei, d. h. unvor-
eingenommen durch die zuvor ausgebreitete dogmengeschichtliche Ana-
lyse und Kritik, vor, so will keineswegs spontan als offensichtlich
einleuchten, daß das Seinsollen von Strafe - auch ohne Strafprozeß -
vom Vorliegen eines Strafantrages oder Nichteintritt der Verjährung
abhänge, wohingegen das Fehlen einer (An-)Klage oder eine vorgängige
Bestrafung in derselben Sache nur vor dem Hintergrund eines Strafpro-
zesses „Sinn" gewinnen können. Die Testfrage wird erst beantwortbar,
wenn man bereits weiß, was „Seinsollen von Strafe ohne Prozeß" (wohl
i. S. einer objektiven, ontisch-gegebenen „Strafbarkeit") bedeutet und

4 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Volk, a. a. O. (Anm. 3), S. 219 ff m. w. N.


5 A.a.O. (Anm. 1), S. 134.
6 A.a.O. (Anm.3), S.12ff.

7 Hilde Kaufmann, a. a. O. (Anm. 1), S. 135, 134.


« Volk, a.a.O. (Anm.3), S. 15.
Strafantrag - Strafantragsrecht 877

was demgegenüber der Strafprozeß für eine Funktion (wohl i. S. eines


Verfahrens zur Erkenntnis dieser Entität „Strafbarkeit") hat. Weiß man
aber, was „Strafbarkeit" einerseits und „Strafprozeß" andererseits ist,
bedarf es - wie Volk zutreffend feststellt9 - der Testfrage nicht mehr.
2. Volk hat versucht, diesem Dilemma dadurch zu entrinnen, daß er als
obersten Prozeßzweck des Strafprozesses die „Sicherstellung des
Rechtsfriedens" postuliert10, - wofür er ähnlich wie Hilde Kaufmann auf
einen breiten Evidenz-Konsens hoffen kann - , um sodann die These zu
formulieren: „Bezogen auf den Prozeßzweck sind die Prozeß Vorausset-
zungen typisierte Voraussetzungen der Sicherung des Rechtsfriedens;
. . . bei ihrem Fehlen besteht von Rechts wegen kein Anlaß zur Bewäh-
rung der Strafrechtsordnung"11.
Die Tauglichkeit dieses Kriteriums zur Qualifizierung von Bestraf-
ungsvoraussetzungen als „typisierte Voraussetzungen zur Sicherung des
Rechtsfriedens" erscheint jedoch nicht minder zweifelhaft als die Evi-
denz-Formel Hilde Kaufmanns. Denn Volk versteht seinen Begriff von
„Rechtsfriedenstörung" gerade nicht i. S. eines „empirisch feststellbaren
Zustandes, etwa als sozialpsychologisches Phänomen", vielmehr sei der
Begriff „normativ" zu bilden; man müsse „daher den Begriff des Rechts-
friedens so präzisieren, daß „von der Gemeinschaft vernünftigerweise
erwartet werden kann", sich über den Verdacht einer Straftat zu beruhi-
gen"12. Folglich reiche die friedensstiftende Funktion des Strafprozesses
soweit, daß nach abgeschlossenem Verfahren „kraft normativer Dezi-
sion davon ausgegangen wird, es herrsche nunmehr Rechtsfriede"13.
Damit aber beraubt sich Volk des begrifflichen Instrumentariums, um
gesetzlich definierte Bestrafungsvoraussetzungen am „Prozeßzweck" zu
messen, da die „typisierten Voraussetzungen der Sicherung des Rechts-
friedens" wiederum vom Gesetzgeber ( = „normativ") definiert werden.
So gilt im Fall der res judicata die „Entstörung" der Rechtsordnung kraft
normativer Dezision als vollzogen, mag es dem realen Prozeß auch nicht
entfernt gelungen sein, die tatsächlich entstandene Beunruhigung zu
absorbieren14. Volk räumt deshalb selbst ein, daß mit Hilfe seiner These
keine präzise Scheidung der „Prozeßvoraussetzungen" von materiell-
rechtlichen Bestrafungsvoraussetzungen möglich sei, sie ermögliche

' A . a . O . (Anm.3), S. 16.


10 A . a . O . (Anm.3), S. 173ff, 183ff.

11 A . a . O . (Anm.3), S.204.

12 A . a . O . (Anm.3), S.201 im Anschluß an Detlef Krauß, Der Grundsatz der


Unschuldsvermutung im Strafverfahren, in: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik,
1971, S. 167f und Schmidhäuser, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 146.
13 A . a . O . (Anm.3), S.204.

14 A . a . O . (Anm.3), S.222f.
878 Diethart Zielinski

lediglich „eine teleologische Kontrolle" 15 . Die A n t w o r t darauf, wie der


zu kontrollierende Vorbegriff der Prozeßvoraussetzung zustande-
kommt, bleibt Volk freilich schuldig. Wenn die Rechtsnatur der Verjäh-
rung als Prozeßvoraussetzung teleologisch evident sein soll, weil „mit
ihrem Eintritt kein Anlaß mehr besteht, den Willen zur Bewährung der
Rechtsordnung des Rechtsfriedens wegen zu manifestieren" 16 , so ließe
sich mit der gleichen Begründung die Evidenz der prozessualen Rechts-
natur der Konkurseröffnung bei den Konkursdelikten, ja sogar des
Rücktritts vom Versuch oder gar des Erfolges bei den Fahrlässigkeitsde-
likten bzw. bei den als Versuch nicht strafbedrohten Verletzungsdelik-
ten begründen; denn auch hier fehlte es dann am „Anlaß zur Bewährung
der Rechtsordnung des Rechtsfriedens wegen". Diese Konsequenz will
freilich auch Volk nicht ziehen, weshalb er die materiell-rechtlichen
schuldunabhängigen Bestrafungsvoraussetzungen erst gar nicht „teleolo-
gisch kontrolliert".
Rechtsfrieden sichernde Funktion hat - wenn dieser Begriff überhaupt
etwas leistet - nicht nur der (Straf-)Prozeß, sondern ebenso das mate-
rielle (Straf-)Recht 17 : der durch das Delikt entstandene soziale Konflikt
soll durch Versöhnung oder Strafe bereinigt werden; für letztere bedarf
es eines rechtlich geregelten Verfahrens. Rechtsfriedenssicherung ist
daher kein Kriterium zur Bestimmung der materiell-rechtlichen oder
prozeßrechtlichen „Rechtsnatur" einer Bestrafungsvoraussetzung 18 .
3. Die „Rechtsnatur" des Strafantrags läßt sich weder mit der Testfrage
Hilde Kaufmanns noch mit Hilfe des Prozeßzwecks Rechtsfriedenssi-
cherung i. S. Volks bestimmen. Maria-Katharina Meyer teilt in ihrer
differenzierten Untersuchung zur Rechtsnatur des Strafantrags die hier
vertretene Skepsis über die Tragfähigkeit des Volk 'sehen Ansatzes",
kommt aber nach eingehender Analyse der Gesichtspunkte, die f ü r den
materiell-rechtlichen Charakter des Strafantrags sprechen, zu dem
Ergebnis, es handele sich um eine Prozeßvoraussetzung. Für die
„bedingten" Antragsdelikte, bei denen der fehlende Strafantrag durch
die Erklärung der Staatsanwaltschaft über das Vorliegen eines besonde-
ren öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ersetzt werden kann
(z. B. §§ 232, 248 a StGB), besteht Einigkeit darüber, daß diese Erklä-
rung eine echte Prozeßvoraussetzung ist20. Der Streit darüber, ob das

15
A . a . O . (Anm.3), S.204f.
16
A. a. O. (Anm. 3), S. 225.
17
Vgl. Coing, vom Sinngehalt des Rechts, in: Die ontologische Begründung des
Rechts, 1965, S.43.
18
Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 36 m. w. N .
" A . a . O . (Anm.2), S.36.
20
Vgl. Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 42 ff m. w. N .
Strafantrag - Strafantragsrecht 879

Gericht lediglich das Vorliegen dieser Erklärung zu prüfen hat oder aber
auch deren inhaltliche Richtigkeit21, kann hier außer Betracht bleiben.
Die Prozeßvoraussetzung des besonderen öffentlichen Interesses ist
insoweit funktionales Äquivalent zum Strafantrag: als Bestrafungsvor-
aussetzung sind beide Rechtsinstitute in Funktion und Wirkung gleich-
wertig. - Diesen Schluß zieht Maria-Katharina Meyer nicht ausdrück-
lich, er dient ihrer Argumentation jedoch als Bezugsrahmen. Sie inter-
pretiert die materiale Legitimation der Antragsdelikte von der Paralleli-
tät zu dem von der Staatsanwaltschaft zu erklärenden besonderen öffent-
lichen Verfolgungsinteresse her22. Da der Strafzweck staatlicher Strafe es
verbiete, sich privaten Rache- und Genugtuungsbedürfnissen verfügbar
zu machen23, müsse durch den Strafantrag des Verletzten in gleicher
Weise die Notwendigkeit der „Befriedung" des Gemeinschaftslebens
durch strafende Reaktion manifestiert werden wie durch die Feststellung
des besonderen Strafverfolgungsinteresses seitens der Staatsanwalt-
schaft24. Damit das private Strafverlangen aber friedenssichernde Ein-
griffe rechtfertigen kann, wird es mittels des schon von Volk bemühten
normativen Begriffs der Friedensstörung uminterpretiert in die Manifes-
tation einer „(individualisierten) Rechtsfriedensstörung der Allgemein-
heit", über die sich freilich die angeblich gestörte Allgemeinheit so lange
nicht zu beunruhigen hat, wie der individuell Verletzte dieselbe für nicht
strafwürdig hält. Das Gesetz werte die so manifestierte Individualfrie-
densstörung zugleich als eine Friedensstörung der Gemeinschaft und
mache sie zum Anlaß zu friedenssichernden Maßnahmen25. Wenn man
diese normative Wortakrobatik26 mitmacht und somit das reale Rechts-
phänomen „privates Strafverlangen" umwertet in ein Strafbedürfnis der
Allgemeinheit, d. h. in ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung,
ist das Ergebnis - der Strafantrag ist Prozeßvoraussetzung27 - zwingend.
Nur - hier wird keine „Rechtsnatur" erkannt, sondern fingiert.

II.
1. Die Praxis und weitgehend auch die Kommentarliteratur zeigen sich
von dem aufwendigen monographischen Theorienstreit um die Rechts-

21 Vgl. hierzu Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 43 f m. w. N.


22 A . a . O . (Anm.2), S.46.
23 A. a. O. (Anm. 2), S. 39.

24 A . a . O . (Anm.2), S.44f.

25 A . a . O . (Anm.2), S.47.

26 Mir scheint zweifelhaft, ob die verwendeten Wörter noch inhaltlich definierbare

Begriffe bezeichnen, wenn der verletzte einzelne eine Friedensstörung der Allgemeinheit
manifestiere, diese aber eine individualisierte sein soll.
27 A. a. O. (Anm. 2), S. 48.
880 Diethart Zielinski

natur des Strafantrags wenig beeindruckt. In ständiger Rechtsprechung28


wird der Strafantrag als Prozeßvoraussetzung bezeichnet29; und fast
ebenso einmütig wird trotz dieses Lippenbekenntnisses diese angebliche
Sachurteilsvoraussetzung dann nicht für erforderlich gehalten, wenn
trotz Fehlens des Strafantrags die Voraussetzungen für ein freisprechen-
des Urteil gegeben sind30. Soweit hierfür Gründe angegeben werden,
sind diese eher pragmatischer als dogmatischer Natur: das Verfahrens-
hindernis habe hinter der Justizgewährungspflicht zurückzutreten31, die
Fürsorgepflicht des Gerichts gebiete die für den Angeklagten günstigere
Entscheidung32. Nirgends aber findet sich eine Erklärung dafür, wie ein
Sachurteil ergehen könne, obwohl es angeblich gerade an einer Sachur-
teilsvoraussetzung fehle. Schon Hilde Kaufmann hatte auf diesen unlös-
baren Widerspruch hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß
dieser Widerspruch keineswegs bei allen Verfahrenshindernissen in Kauf
genommen werde, sondern solche „unzulässigen" Freisprüche nur bei
den „Prozeßvoraussetzungen" Strafantrag, Verjährung, Amnestie, deren
prozessualer Charakter gerade streitig sei, in der Judikatur nachzuwei-
sen seien33. Soll der Begriff der „Prozeßvoraussetzung" die Bestimmung
derjenigen Bestrafungsvoraussetzungen ermöglichen, ohne die ein
Sachurteil nicht ergehen kann, dann ist der Strafantrag entweder keine
(ernst genommene) Prozeßvoraussetzung oder der Begriff der Prozeß-
voraussetzung leistet nicht, was er leisten soll.
Diese scharfe Alternative ist jedoch nur solange zwingend, wie sämtli-
che Bestrafungsvoraussetzungen ausnahmslos in die zwei Kategorien
„Prozeßvoraussetzung" und „materiell-rechtliche Strafbarkeitsbedin-
gung" einteilbar sind, - tertium non datur. Gerade das aber scheint auch
dogmatisch nicht zwingend. Schon die dogmengeschichtliche Analyse
Hilde Kaufmanns hat die Herkunft der streitigen „Prozeßvoraussetzun-
gen" Strafantrag, Verjährung, Amnestie aus den Exzeptionen des

2! RGSt. 66, 53; 75, 306; BGHSt. 1, 231; 7, 261; 13, 268.
29 Wohl h.M., vgl. Schönke/Schröder/Stree, StGB, 22. Aufl. 1985, §77 Rdn.8; Lack-
ner, StGB, 16. Aufl. 1985, §77 Anm.lb; Dreher/Tröndle, StGB, 41. Aufl. 1983, Rdn.2
vor § 77; Jescbeck, Lehrbuch, 3. Aufl. 1978, S. 722; Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 10/12.
30 Vgl. RGSt. 70, 193; BGHSt. 13, 272 ; 20, 333; OLG Celle NJW 1968, 2119; OLG

Oldenburg NJW 1982, 1166; Löwe/Rosenberg/Schäfer, Strafprozeßordnung, 23. Aufl.


1976, Einl. Kap. 11 Rdn. 54; KMR-5«c, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 6. Aufl.
1966, §260 Anm.9a; KMK-Paulus, 7.Aufl. 1981, §260 Rdn.67; Kleinknecbt/Meyer,
StPO, 37. Aufl. 1985, §260 Rdn.41; Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl. 1985, S.295;
Volk a.a.O. (Anm. 3), S. 243 ff; KK -Hürxtbal, Strafprozeßordnung, 1982, §260
Rdn. 49 f; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, 1957, §260 Anm. 27.
31 BGHSt. 20, 335.

32 Löwe/Rosenberg/Schaf er, a.a.O. (Anm. 30), Einl. Kap. 11 Rdn. 54.


53 A.a.O. (Anm. 1), S . 1 1 3 f m . w . N .
Strafantrag - Strafantragsrecht 881

gemeinrechtlichen Prozesses nachgewiesen 34 , die sie von den echten


Prozeßvoraussetzungen unterscheiden. Auch Volk bestätigt die höchst
heterogenen Entwicklungslinien zur Ausbildung von Prozeßvorausset-
zungen mit dem Ziel der Trennung von Prozeßurteil und Sachurteil, die
keineswegs die sachliche Notwendigkeit dieser Zweiteilung erweisen";
insbesondere erweisen sie nicht die „Unzulässigkeit" eines freisprechen-
den Sachurteils bei Fehlen einer prozessualen Bestrafungsvorausset-
zung 36 , zwingend ausgeschlossen ist lediglich eine Verurteilung zu
Strafe. Strafantrag und Verjährung sind keine „ProzeßVoraussetzun-
gen", sondern Verurteilungsvoraussetzungen.
2. Wenn die Praxis sich die Entscheidungsalternativen Einstellung oder
Freispruch offenhält, dann ist das nichts anderes als die Reduzierung von
„ProzeßVoraussetzungen" auf „Bestrafungsvoraussetzungen"; und die
Entscheidung darüber, welcher Mangel an Bestrafungsvoraussetzungen
zur Prozeßbeendigung führt, hat sich an der je materiellen Bedeutung
des fehlenden Elements zu orientieren 37 . Und je nachdem wäre dann auf
Freispruch oder - ohne Prävalenz - auf Einstellung zu erkennen.
Ob freilich die gängige und in der Literatur weitgehend gebilligte
Praxis, „Verfahrenshindernisse", die lediglich „Verurteilungs-" aber
nicht „Freispruchshindernisse" sind, unter §260 Abs. 3 StPO zu subsu-
mieren, mit Sinn und Wortlaut des Gesetzes zu vereinbaren ist, muß
bezweifelt werden. Gewiß ließe sich dafür ein Analogieschluß begrün-
den. Unerfindlich ist jedoch der rechtliche und praktische Sinn und
Nutzen unterschiedlicher Formen der Prozeßbeendigung je nachdem,
ob es an einer prozessualen oder materiell-rechtlichen Verurteilungsvor-
aussetzung fehlt. Wenn das freisprechende Urteil - wie allgemein assozi-
iert wird 38 - tatsächlich „die Bestätigung der Unschuldsvermutung nach
Art. 6 Abs. 2 MRK" 3 ' bedeuten würde, dann müßte allerdings jede
Prozeßbeendigung, die zu Unrecht und Schuld des Anklagevorwurfs
nicht Stellung nimmt, auf Einstellung des Verfahrens lauten. Es ist aber
völlig unstreitig, daß der Freispruch lediglich die Feststellung der
Nichtstrafbarkeit enthält, selbst wenn an Unrecht und Schuld des Ange-
klagten nicht der leiseste Zweifel besteht. Wenn der Prozeßzweck
„Sicherung des gestörten Rechtsfriedens" durch Freispruch erreichbar

34 A.a.O. (Anm.l), S.9ff, 114.


55 A.a.O. (Anm.3), S. 106ff, 160ff, 218.
56 A.a.O. (Anm.3), S.206ff.
57 Erste Ansätze hierzu bei Volk a. a. O. (Anm. 3), S. 243 f.
38 Schon Hilde Kaufmann hat auf diese fehlerhafte und die juristische Argumentation
verwirrende Assoziation bei der Bezeichnung „Freispruch" hingewiesen, a. a. O. (Anm. 1)
S. 115 f; vgl. auch Kristian Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch, Einstellung, 1983,
S. 75 f.
" So ausdrücklich Kleinknecht/Meyer, a.a.O. (Anm.30), §260 Rdn. 19.
882 Diethart Zielinski

ist auch dann, wenn die Verurteilung nur deshalb nicht möglich ist, weil
- trotz Unrechts und Schuld - der Konkurs nicht eröffnet wurde (§ 283
Abs. 6)40, der Täter Verwandter des Begünstigten ist (§ 258 Abs. 6)41, weil
der Angestiftete die Haupttat nicht versucht hat (§ 26), weil ein eindeuti-
ger Beweis nicht verwertet werden darf (§§ 136 a, 252 StPO) 42 , weil der
Täter vom Versuch zurückgetreten ist (§24), weil die Vermeidbarkeit
des fahrlässig verursachten Erfolges nicht sicher nachgewiesen werden
kann43, wenn in all diesen Fällen „Befriedung der Gemeinschaftsstö-
rung" durch Freispruch (wohl nur „normativ") bewirkt wird, dann gibt
es keine überzeugenden Gründe, wieso diese „Befriedung" nicht auch
veranlaßt und möglich sein soll, wenn der Strafantrag fehlt, Verjährung
eingetreten ist, der Täter schuldunfähig i. S. §19 ist (bei §20 ist Frei-
spruch zwingend!)44, die Tat unter eine Amnestie fällt.
Für keine der genannten schuldunabhängigen Bestrafungsvorausset-
zungen gibt es einen aus der „Rechtsnatur" des jeweiligen Merkmals
herleitbaren zwingenden Grund, auf sein Fehlen mit Freispruch oder
mit Einstellung zu reagieren. Es kann insoweit kein Zweifel bestehen,
daß durch einen Federstrich des Gesetzgebers alle „Bibliotheken" über
die Unterscheidung materiell-rechtlicher objektiver Bedingungen der
Strafbarkeit von - unechten (weil lediglich eine Verurteilung hindern-
den) - Prozeßvoraussetzungen45 zu Makulatur würden. Aber schon de
lege lata besteht keine Notwendigkeit für diese Unterscheidung, wie die
Praxis der Austauschbarkeit von Freispruch und Verfahrenseinstellung
zeigt. Die rechtliche Notwendigkeit einer Verfahrenseinstellung redu-
ziert sich - wegen der Rechtskraftwirkung eines Freispruchs - auf

40 Seit der Neufassung durch das l . W i K G unstreitig, vgl. Schönke/Schröder/Stree,


§ 2 8 3 Rdn.59 m . w . N .
41 Dieser persönliche Strafausschließungsgrund soll nach verbreiteter Ansicht sogar

unabhängig von jeder tatsächlichen persönlichen notstandsähnlichen Lage gelten, vgl.


Lackner, §258 A n m . 8 ; Ruß-LK, 10.Aufl. 1983, §258 Rdn.37.
42 Dieser Verurteilungsmangel ist nur mittelbar ein Mangel am Schuldnachweis, in

Wahrheit eine prozeßrechtliche Sanktion gegen rechtsstaatswidrige Verfahrensweisen, vgl.


Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 59 ff.
43 Hierher gehören sachlich auch die Fälle eindeutig deliktischen Verhaltens, das rein

zufällig zu keinem Verletzungserfolg geführt hat, wie z . B . die folgenlose Fahrlässigkeit


und der nicht-strafbedrohte Versuch.
44 Für diese unterschiedliche Behandlung der „absoluten" und „krankheitsbedingten"

Schuldunfähigkeit scheinen vorwiegend historische Gründe in Anlehnung an die Formu-


lierung in § 1 Abs. 3 J G G a. F. zu sprechen; vgl. Daliinger/Lackner, Jugendgerichtsgesetz,
2.Aufl. 1965, § 1 Rdn.38ff m . w . N . einerseits und Hilde Kaufmann, a . a . O . (Anm. 1)
S. 143 f andererseits.
45 Vgl. außer Hilde Kaufmann (Anm. 1), Volk (Anm. 3), Maria-Katharina Meyer
(Anm. 2), Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, 1957;
Schmidhausen ZStW 71 (1959) 545 ff; Stratenwerth, ZStW 71 (1959) 565 ff.
Strafantrag - Strafantragsrecht 883

diejenigen seltenen Fälle, in denen das Verurteilungshindernis behebbar


ist, also etwa der Strafantrag noch nachgeholt werden kann46.

III.
Hat die theoretisch viel untersuchte Frage nach der „Rechtsnatur" des
Strafantrags für die Praxis - wie gezeigt - keine Konsequenzen, hängt
von der in der Theorie vernachlässigten Frage nach der Wirksamkeit des
Strafantrags für den Angeklagten alles ab: Verurteilung oder Freispruch
(bzw. Einstellung).
1. Die Verfolgung von Straftaten durch den Staat geschieht zur Wah-
rung des Rechts, im Interesse der Allgemeinheit (im öffentlichen Inter-
esse), und zwar auch dann, wenn die einzelne Straftat Individualrechts-
güter verletzt. Die rechtsstaatlich monopolisierte Strafgewalt in der
Hand des Staates unterliegt deshalb notwendig dem Legalitätsprinzip
und der Offizialmaxime. Die Durchbrechung beider Prinzipien bei den
Antragsdelikten zugunsten weitreichender Einflußnahme des Straftatbe-
troffenen auf die Geltendmachung des staatlichen Strafanspruchs legiti-
miert sich aus einer höchstpersönlichen Beziehung zwischen Opfer und
Täter, - sei es wegen der Personengebundenheit des verletzten Rechts-
guts (§§123, 182, 183, 194, 205, 232, 238), sei es wegen der personalen
Bindung zwischen beiden (§§247, 294), - aus der prinzipiellen Staats-
freiheit der Persönlichkeitssphäre, in der die Durchsetzung des Rechts
gegen den Willen des Berechtigten eher Schaden stiften könnte als zur
Wahrung bzw. Wiederherstellung des Rechtsfriedens beitragen. Man-
gels Betroffenheit der Allgemeinheit oder Dritter soll es deshalb dem
Opfer überlassen bleiben, wie es den Konflikt mit dem Täter aufarbeitet:
durch Versöhnung in personaler Interaktion, durch Genugtuung in pri-
vatrechtlicher Interaktion oder durch justizförmige Sozialisierung des
Konflikts 47 ; ebenso soll es dem Opfer mit Rücksicht auf andere persönli-
che Interessen freistehen, auf eine Aufarbeitung des Konflikts zu ver-
zichten48.

46 Vgl. die seltene Fallkonstellation in BGHSt. 32, 1, 10; ähnliches ist auch denkbar für

die „Verurteilungsvoraussetzung" Eröffnung des Konkursverfahrens (§283 Abs. 6), wenn


die angeklagte Tat sich zwar als Bankrotthandlung darstellt, aber - bei komplizierten
Schachtelfirmen - eine der beteiligten Firmen betrifft, hinsichtlich deren Vermögen das
Konkursverfahren noch nicht eröffnet ist. Der nach h. M. notwendige Freispruch verhin-
dert eine später durchaus mögliche Bestrafung.
47 In diesem Sinn Maiwald, GA 1970, 33, 57; Bloy, Die dogmatische Bedeutung von

Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen, 1976, S. 114£; Volk, a . a . O . (Anm.3),


S.233; Rudolphi-SK Rdn.2 vor § 7 7 ; vgl. auch BGHSt. 29, 56.
48 Vgl. Schönke/Schröder/Stree, § 7 7 Rdn.4; Maiwald, GA 1970, 34 m . w . N .
884 Diethar: Zielinski

2. Auf ganz anderer Ebene liegen die Antragsdelikte mit Bagatellcba-


rakter (§§248a, 248 b, 248 c, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3, 288,
289, 303). Deren Massenhaftigkeit einerseits und Geringfügigkeit des
individuellen Schadens andererseits lösen — auch mit Rücksicht auf die
begrenzte Leistungsfähigkeit des staatlichen Strafverfolgungssystems -
kein öffentliches Interesse an deren Verfolgung von Amts wegen aus.
Das Antragserfordernis hat in diesem Bereich primär Entlastungs-49 und
Entkriminalisierungsfunktion, die freilich erkauft wird mit dem Risiko
unerwünschter - d. h. von nicht-personalen Interessen geleiteter - Will-
kür, die zur Kommerzialisierung der kleinen Vermögenskriminalität
(„Fangprämien" beim Ladendiebstahl, „erhöhtes Fahrgeld" beim
Schwarzfahren) oder umgekehrt zu Pressionen gegenüber dem Opfer
vandalistischer Sachbeschädigung führen kann. Die Diskussion um die
Entkriminalisierung50 hat der Strafrechtsreformgesetzgeber mit der gene-
rellen Einführung des Opportunitätsprinzips für die Bagatellkriminalität
(§§ 153, 153 a StPO) beantwortet. Dem entspricht konsequent die Wie-
derherstellung der Offizialmaxime, wenn die Strafverfolgung dieser
Delikte im öffentlichen Interesse liegt, wie das bei Körperverletzung
(§232), Exhibitionismus (§183), kleinen Vermögensdelikten (§248a)
und neuestens auch bei Sachbeschädigung (§303) und Urheberrechtsver-
letzungen (§ 103 UrhG) der Fall ist, so daß einem Mißbrauch durch
Unterlassen des Strafantrags ausreichend gegengesteuert werden kann51.
Zwar hat der Gesetzgeber die Offizialmaxime nur für solche Fälle
wieder eingeführt, in denen ein „besonderes öffentliches Interesse" an
der Strafverfolgung besteht. In der Literatur wird überwiegend die
Auffassung vertreten, daß es sich hierbei um eine echte Prozeßvorausset-
zung handelt, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat52, doch
scheitert diese Forderung nach rechtlicher Kontrolle der staatsanwalt-
schaftlichen Willkür an zwei wohl unüberwindlichen Rechtstatsachen:

49 So schon Binding, Handbuch des Strafrechts Bd.I, 1985, S.660; Naucke, H.Mayer-
Festschrift S. 579 f.
50 Vgl. hierzu A E eines Gesetzes zur Regelung des Ladendiebstahls, 1974; A E eines

Gesetzes zur Regelung der Betriebskriminalität, 1975.


51 Vgl. hierzu Maiwald, GA 1970, 4 3 f ; Naucke, H.Mayer-Festschrift S.581, 583;
Wolter, GA 1974, S. 165 Anm.37.
52 Vgl. Vogel, N J W 1961, 761; v. Weber, M D R 1963, 170; Thierfelder, N J W 1962, 116;
Strubel/Sprenger, N J W 1972,1737; Havekost, D A R 1977, 289\ Karlsbach, Die gerichtliche
Nachprüfung von Maßnahmen der Staatsanwaltschaft, 1967, S. 52; Keller, GA 1983, 511;
Schönke/Schröder/Stree, §232 Rdn.3; Hirsch-LK, §232 Rdn. 12, 22; Horn-SK, §232
Rdn.4.
Strafantrag - Strafantragsrecht 885

- Es ist weder aus dem Gesetz noch sonst sichtbar, wodurch sich das
„besondere öffentliche Interesse" vom „normalen" öffentlichen
Strafverfolgungsinteresse unterscheiden soll53.
- Die Rechtsprechung weigert sich konstant - wohl auch aus dem
eben genannten Grund - und mit Billigung des Bundesverfassungs-
gerichts, die Erklärung der Staatsanwaltschaft über das besondere
öffentliche Interesse inhaltlich zu prüfen54.
Mangels Justiziabilität des „besonderen öffentlichen Interesses" sind
die insoweit „bedingten Antragsdelikte"55 faktisch Offizialdelikte, für
die der Strafantrag tatsächlich und rechtlich nicht weiterreicht als jede
Strafanzeige sonst auch: die Staatsanwaltschaft verfolgt bei Bejahung des
öffentlichen Interesses, andernfalls stellt sie nach §§ 153, 153 a StPO ein
bzw. verweist auf den Privatklageweg56. Der staatliche Strafanspruch ist
bei diesen Antragsdelikten durch das Antragsrecht des Verletzten nicht
eingeschränkt; man sollte sie deshalb unechte Antragsdelikte nennen.

IV.
1. Verurteilungsvoraussetzung ist der Strafantrag nur bei den echten
Antragsdelikten, bei denen die Befugnis, das Strafverfahren in Gang zu
setzen, ausschließlich beim Verletzten liegt. Der Staat hat hier zwar
nicht sein Monopol der Strafgewalt aufgegeben, wohl aber die Entschei-
dungsmacht über das O b des Einsatzes der Strafgewalt „privatisiert".
Für diese Privatisierung des staatlichen Strafanspruchs gibt es vielfältige
und hinlänglich bekannte Gründe57. Es besteht jedoch kein Zweifel, daß
der vom Antragsberechtigten geltend gemachte Strafanspruch ein staatli-
cher Anspruch auf Rechtsbewährung, auf Wiederherstellung des Rechts-
inedens ist, und der so eingeleitete Strafprozeß niemals nur der Austra-
gung privater Streitigkeiten oder gar nur der Befriedigung privater
Rachebedürfnisse dienen darf58. Die staatliche Strafgewalt kann deshalb
nicht allein abhängig sein von der formalen Stellung eines fristgerechten
Strafantrages, sondern der Strafantrag muß sich darstellen als die Gel-

53 Die Hinweise in Nr. 234, 243 Abs. 3 RiStBV geben keine überprüfbaren oder gar in

alle Delikte verallgemeinerungsfähigen Kriterien. Die Forderung nach konkretisierenden


Richtlinien durch die Landesjustizverwaltungen ( M i d d e n d o r f f , J Z 1976, 252; Havekost,
D A R 1977, 289; Rebmann, DAR 1978, 296, 304) haben bislang keine Früchte getragen.
Vgl. auch Roxin, Strafverfahrensrecht (Anm. 30), S. 71.
54 Vgl. BGHSt. 16, 225; BVerfGE 51, 177.

55 So bezeichnet von Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 42.


56 Erst für das Privatklageverfahren erlangt der Strafantrag seine Bedeutung.

57 Vgl. zusammenfassend Maria-Katharina Meyer, a. a. O. (Anm. 2), S. 2 m. w. N.


58 Vgl. Maiwald, GA 1970, 35 ff; H, Mayer, Strafrecht AT, 1967, S. 167; Schmidhausen
Strafrecht Allgemeiner Teil, 2.Aufl. 1975, 3 / 1 8 f ; Maria-Katharina Meyer, a . a . O .
(Anm. 2), S.45f.
886 Diethart Zielinski

tendmachung eines Rechts durch den Antrags berechtigten. Die Prozeß-


handlung Stellung des Strafantrags ist nur wirksam, wenn sie in Aus-
übung eines materiell (noch) bestehenden Antragsrechts erfolgt59. Der
Staat hat seinen prinzipiell bestehenden Strafanspruch dem Interesse des
Verletzten untergeordnet, den individuellen Konflikt zwischen Opfer
und Täter nur dann justizförmig aufzuarbeiten, wenn der Verletzte dies
verlangt. Der Verletzte hat demzufolge ein Wahlrecht, ob er seinen
Konflikt überhaupt mit dem Täter bereinigen und ob er dies gegebenen-
falls auf einer rechtsfreien personalen Ebene i. S. von Verzeihung oder in
privatrechtlicher Form der Genugtuung und Versöhnung60 oder aber
strafrechtlich durch staatliche Strafgewalt erreichen will.
2. Behält man im Auge, daß es auch bei den Antragsdelikten um die
Wiederherstellung des Rechtsfriedens geht, dann erhellt, daß die Wahl-
möglichkeiten dem Verletzten nicht kumulativ zur Verfügung stehen,
sondern nur alternativ: hat der Verletzte sich mit dem Täter versöhnt,
indem er eine Entschuldigung angenommen oder ausdrücklich auf
gerichtliche Maßnahmen verzichtet hat, oder hat der Verletzte vom
Täter Genugtuung erhalten und angenommen, indem er Schmerzensgeld
bekam oder andere freiwillige Leistungen (z.B. öffentliche Ehrenerklä-
rung nach Beleidigung, persönliche Krankenpflegedienste nach Körper-
verletzung) akzeptierte, dann besteht kein „Anlaß mehr zur Bewährung
des Rechts durch friedenssichernde strafrechtliche Reaktion"61. Privat-
strafe und staatliche Strafe sind - was die Befriedungsfunktion betrifft -
austauschbare Äquivalente62. Das wird nicht nur darin deutlich, daß der
Privatstrafe eindeutig Sanktions- und Genugtuungsfunktion zugeschrie-
ben wird63, sondern daß auch die Strafgerichte bereits erlangte Genugtu-

59 Dieser Gedanke liegt wohl auch den Lehren von der sogenannten Doppelnatur des

Strafantrags zugrunde, vgl. H. Mayer (Anm. 58), S. 167; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1980,
S. 10; Schmidhausen Strafrecht AT (Anm. 58), 13/10, 12.
60 Vgl. hierzu insbesondere Maiwald, GA 1970, 35 f mit Hinweisen auf ein formalisier-

tes Prinzip der Verzeihung bzw. Versöhnung im preußischen ALR und preußischen StGB.
61 Vgl. Volk, a. a. O. (Anm. 3), S. 204.

62 Schon Mittermaier (Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland

gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl., S. 477) und Binding (a. a. O. [Anm. 49] S. 662) waren
dieser Auffassung. Aus neuerer Zeit vgl. Hellmer, H.Mayer-Festschrift S.671 ff, 680;
Hirsch, Engisch-Festschrift S.318, 325; Stall, Verhandlungen des 51.DJT (1976), II/N
S. 32, 35; ähnlich schon 45. DJT (1968) I / C S. 155ff; Köndgen, Haftpflichtfunktionen und
Immaterialschaden, 1976, S.62, 99; Deutsch, Haftungsrecht Bd. 1, 1976, S.473; ders. JuS
1969, 197.
63 Vgl. Grossfeld, Die Privatstrafe, 1961, S. 123; BGHZ 18, 149; auch BGHZ 75, 230

(„Fangprämie"); im übrigen die Nachw. in Anm. 62.


Strafantrag - Strafantragsrecht 887

ung (etwa durch Schmerzensgeld) bei der Strafzumessung berücksich-


tigen64.
Man mag diese Vermengung von Zivil- und Strafrecht beklagen65, sie
ist aber notwendiger Ausfluß einer „Privatisierung" des Strafrechts
durch echte Antragsdelikte66, zivilrechtliche Vertragsstrafe und immate-
rielle Genugtuung durch Schmerzensgeld.
3. Daß nach erfolgter privater oder zivilrechtlicher Sanktion einer Kri-
minalstrafe das Doppelbestrafungsverbot entgegensteht67, wird man
angesichts der feststehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts zum Verhältnis Disziplinarstrafe/Kriminalstrafe68 nicht überzeu-
gend ins Feld führen können. Wohl aber wird man die Ausübung des
Wahlrechts des Antragsberechtigten an denselben rechtlichen Maßstä-
ben messen müssen, denen das gleiche Wahlrecht der Staatsanwaltschaft
bei Wahrnehmung ihres Strafverfolgungsauftrags unterliegt.
a) Einer dem Legalitätsprinzip vergleichbaren Verpflichtung zur Straf-
verfolgung unterliegt der Antragsberechtigte nicht. Nur der Staat als
Wahrer des Rechts ist verpflichtet, auf Rechtsfriedensstörungen zu
reagieren. O b der Verzicht auf einen Strafantrag rechtsmißbräuchlich
ist, unterliegt keiner rechtlichen Überprüfung 69 ; die Mißbrauchsmög-
lichkeit von Freiheit ist der Preis der Freiheit und kann niemals Grund
für die rechtliche Mißachtung von freien Entscheidungen sein. Wenn
dem Staat dieses Mißbrauchsrisiko zu groß ist, muß er es durch Ein-
schränkung der echten Antragsdelikte begrenzen70.

b) Wohl aber bestehen Parallelen zum Opportunitätsprinzip. Die Staats-


anwaltschaft kann aus Gründen, die in ihrem Ermessen liegen, ihr (d. i.
das öffentliche) Interesse an einer Strafverfolgung verneinen und deshalb
auf die Strafverfolgung durch Einstellung nach § 153 StPO oder
Beschränkung auf bestimmte Straftataspekte nach §§154, 154 a StPO
verzichten. Dieser „Verzicht" verbraucht zwar nicht die Strafklage,

64 Vgl. O L G Celle J Z 1972, 548; O L G Düsseldorf N J W 1974, 1289, - Umgekehrt legt

die Zivilrechtsprechung bei der Bemessung des Schmerzensgeldes die für die Geldstrafen-
zumessung geltenden Maßstäbe zugrunde, vgl. B G H Z 18, 149; bzw. rechnet die Genugtu-
ung durch Kriminalstrafe auf den Schmerzensgeldanspruch an, vgl. O L G Düsseldorf N J W
1974, 1289.
65 Vgl. Hirsch, Engisch-Festschrift S.327; Köndgen, a . a . O . (Anm.62), S.99, 119f;
Jescheck, Lehrbuch (Anm.29), S.611.
66 Schon Binding verlangte deshalb ihre Abschaffung ( a . a . O . [Anm.49] S.603
Anm. 5); vgl. auch Henkel, ZStW 56 (1937), S. 234f.
67 So aber Bamstorf, NStZ 1985, 68.
68 Vgl. BVerfGE 21, 391; 27, 184; 43, 101, 105.

" Für eine solche Rechtskontrolle plädieren Naucke, H. Mayer-Festschrift S. 581, 583;
Maiwald, GA 1970, 40.
70 Wie jüngst geschehen bei §303 StGB, § 109 UrhG.
888 Diethart Zielinski

bindet die Strafverfolgungsbehörde aber im Rahmen des Vertrauens-


schutzes an die ihrer Entscheidung zugrundeliegenden Erwägungen, so
daß eine Weiterverfolgung derselben Tat nur auf der Basis neuer Tatsa-
chen und Beweismittel möglich ist71. In gleicher Weise schafft ein
Verzicht des Antragsberechtigten auf strafrechtliche Verfolgung einen
Vertrauenstatbestand, der das Recht zur Ausübung der Antragsbefugnis
nur bei Vorliegen solcher nova Wiederaufleben läßt, die auch eine
Einstellung nach §§153, 154, 154 a StPO hinfällig werden ließen. Ein
dennoch gestellter Strafantrag ist mangels noch bestehenden Antrags-
rechts unwirksam; das Strafgericht hat dies unmittelbar zu berücksichti-
gen, es bedarf nicht erst einer zivilrechtlichen Klage des Beschuldigten
gegen den Verletzten auf Rücknahme des Strafantrags72.
c) Hat der Täter dem Verletzten Genugtuung (nicht nur Schadensersatz)
geleistet und hat der Verletzte dies akzeptiert, dann ist sein „privater
Strafanspruch" erfüllt und er hat über sein Wahlrecht verfügt mit der
Folge, daß das Strafantrags recht erloschen ist73; ein dennoch gestellter
Strafantrag ist mangels Knimgsberechtigung unwirksam. Die Bindungs-
wirkung dieser außerstrafrechtlichen Erledigung ist entsprechend der
Regelung in § 153 a StPO endgültig75.
d) Das materielle Antragsrecht kann schließlich auch durch Verwirkung
untergehen. Die Ausübung eines Rechts ist grundsätzlich unzulässig,
wenn dieses Recht durch unredliches, insbesondere rechtswidriges Ver-
halten erlangt wurde76. Das dürfte insbesondere dann der Fall sein, wenn
der Antrags-,,berechtigte" an der Tat beteiligt war oder sie schuldhaft
provoziert hat77. Dieser Gedanke ist im Zusammenhang mit der Proble-
matik des Einsatzes von V-Leuten und polizeilichen Lockspitzeln wie-
derholt artikuliert worden mit dem Ziel, staatliche Strafverfolgung dann
für unzulässig zu erklären, wenn unter Verletzung rechtsstaatlicher
Grundsätze Strafverfolgungsorgane an der Begehung schwerer Straftaten

71 H.M., vgl. Kleinknecht/Meyer, §153 Rdn.37f.


72 So aber RGZ 42, 60, 64; BGH JZ 1974, 394; OLG München MDR 1967, 223; wie
hier das schweizerische Recht, vgl. Noll, Schweiz. Strafrecht, AT Bd. 1,1981, S.233; BGE
104 IV 94f; 106 IV 178; vgl. §46 Abs. 1 österr. StPO.
73 Vgl. die Nachw. in Anm. 62.
74 Ebenso Barnstorf NStZ 1985, 68 f, die als weiteres Argument auf das zivilrechtliche

Schikaneverbot (§ 226 BGB) verweist.


75 Der Fall des § 153 a Abs. 1 S.4 StPO unterliegt nicht der Antragskompetenz des

Verletzten.
76 Vgl. für das Zivilrecht Palandt/Heinrichs, BGB, 45. Aufl. 1986, §242 Anm.4 Ca, b
m. w. N.; für das öffentliche Recht BVerwGE 3, 297; 16, 262; BVerfGE 27, 231, 236; 32,
305, 308 f; 33, 265, 293.
77 So Naucke, H. Mayer-Festschrift S. 574 ff; Roxin, ZStW 75 (1963) 556 ff; Neumann,

Zurechnung und „Vorverschulden", 1985, S. 161 ff; 269 ff und passim.


Strafantrag - Strafantragsrecht 889

mitgewirkt haben78. O b dieser Gedanke der Verwirkung materieller


Rechte durch den Rechtsträger übertragbar ist auf den Staat als Institu-
tion und seine Funktion als Garant und Wahrer des Rechts 79 , braucht
hier nicht entschieden zu werden. Die neuerdings insoweit vom BGH 8 0
in den Vordergrund gestellten Gesichtspunkte sind jedenfalls nicht
stichhaltig gegenüber dem sich unredlich verhaltenden Verletzten, der
als Person ein ihm höchstpersönlich zustehendes Recht verwirkt,
wodurch der staatliche Strafanspruch als Funktion des Staates in keiner
Weise berührt wird. - Wegen unzulässiger Rechtsausübung ist demnach
ein gestellter Strafantrag unwirksam, wenn der Verletzte/An tragsteiler
für die Tat unter Verletzung von Rechtspflichten oder unter vorwerfba-
rer Mißachtung von Schutzpflichten gegen sich selbst mitursächlich
geworden ist81. Jedenfalls dürfte in diesen Fällen stets das öffentliche
Interesse an der Strafverfolgung zu verneinen sein.

V.
Als Ergebnis ist festzuhalten:
1. Der Strafantrag hat praktische Bedeutung nur bei den echten An-
tragsdelikten.
2. Bei den unechten Antragsdelikten ist der Strafantrag nur im Privat-
klageverfahren von Bedeutung. Im übrigen sind diese Delikte man-
gels begrifflicher Kontur und Justiziabilität des „besonderen öffentli-
chen Interesses" normale Offizialdelikte.
3. Die „Rechtsnatur" des Strafantrags ist irrelevant; er ist keine Prozeß-
voraussetzung i. S. einer Sachurteilsvoraussetzung, sondern lediglich
Verurteilungsvoraussetzung.
4. Die Notwendigkeit einer Einstellung bei fehlendem Strafantrag ist
nur begründbar für den Fall der Nachholbarkeit. Im übrigen ist die
„Einstellung des Verfahrens" nach §260 Abs. 3 StPO funktional
äquivalent einem Freispruch und mangels eines „Verfahrenshinder-
nisses" vom Gesetz nicht gefordert.

7» Vgl. B G H N J W 1980 1761; 1981, 1626; Strafverteidiger 1981, 163, 276; 1982, 221;

Bruns, NStZ 1983, 49, 53 ff; Lüdensen, Peters-Festschrift S.349, 353 f; Dencker, Dünne-
bier-Festschrift S. 447 ff, 456, 459.
" So neuestens BGHSt. 32, 345, 350 ff unter äußerster Zurückhaltung gegenüber
einschneidenden Konsequenzen bei rechtswidrigem Verhalten von Strafverfolgungsper-
sonen.
80 Wie Anm. 79.

81 Das dürfte von praktischer Bedeutung sein insbesondere bei provozierten Beleidi-

gungen, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüchen sowie bei leichtfertigem Sich-in-


Gefahr-Begeben. - Die Fälle dürften oftmals auch rechtfertigende Einwilligung nahelegen.
890 Diethart Zielinski

5. Der Strafantrag als Prozeßhandlung entfaltet nur Wirkung, wenn er


in Ausübung eines materiellen Antragsrechtes gestellt wird.
6. Das Strafantragsrecht erlischt, wenn der Berechtigte darüber durch
Verzicht oder Verzeihung verfügt. Es kann nur im Rahmen der für
§153 StPO entwickelten Grundsätze - neue Tatsachen und Beweis-
mittel - Wiederaufleben.
7. Das Strafantragsrecht erlischt unwiderruflich entsprechend §153a
StPO, wenn der Verletzte vom Täter Genugtuung erhält und an-
nimmt.
8. Das Strafantragsrecht ist verwirkt, wenn der Verletzte an der Tat
rechtswidrig oder unter vorwerfbarer Verletzug von Selbstschutz-
pflichten mitgewirkt hat.
Öffentlichkeit -
Niedergang eines Verfahrensgrundsatzes?*
HEIKE JUNG

I. Einführung
Kaum ein Grundsatz des Strafverfahrens zieht derzeit so viel Auf-
merksamkeit auf sich wie der der Öffentlichkeit. Der Deutsche Juristen-
tag hat sich in unmittelbarer Abfolge zweimal damit befaßt1. Die Alter-
nativ-Professoren sind gleichfalls zweimal mit Vorschlägen auf den Plan
getreten, bei denen der Grundsatz der Öffentlichkeit unmittelbar ange-
sprochen ist: nämlich mit dem Alternativ-Entwurf über ein Strafverfah-
ren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung 2 und dem Alternativ-Ent-
wurf zur Reform der Hauptverhandlung 3 . Im Gefolge dieser Ereignisse
haben sich die Stellungnahmen in der Literatur gehäuft 4 . Auf der Ebene
der Gesetzgebung nehmen die Anderungsvorschläge mit der Vorlage
eines Gesetzentwurfs zur Verbesserung der Stellung des Verletzten 5 im
Strafprozeß nunmehr konkrete Gestalt an.

* Der Beitrag knüpft an einen Vortrag an, den der Verf. im Oktober 1985 an den
Universitäten in Kattowitz und Krakau (Polen) gehalten hat. Die Vortragsfassung wird in
polnischer Sprache veröffentlicht.
1 Vgl. die Gutachten von Zipf, Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlich-

keit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung der Rechtsstel-
lung des Beschuldigten weitere nichtöffentliche Verfahrensgänge zu entwickeln?, Ver-
handlungen des 54. DJT, Band I (Gutachten) Teil C, 1982, sowie von Rieß, Die Rechtsstel-
lung des Verletzten im Strafverfahren, Verhandlungen des 55. DJT, Band I (Gutachten)
Teil C, 1984.
2 Baumann u. a., Alternativ-Entwurf. Novelle zur Strafprozeßordnung. Strafverfahren

mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, 1980 (im folgenden zitiert: AE-StPO-NÖV).


3 Baumann u. a., Alternativ-Entwurf. Novelle zur Strafprozeßordnung. Reform der
Hauptverhandlung, 1985 (im folgenden zitiert: AE-StPO-HV).
4 Vgl. nur Kohlmann, Die öffentliche Hauptverhandlung - überflüssig, zweckmäßig
oder geboten?, JA 1981, 581; Beulke, Neugestaltung der Vorschriften über die Öffentlich-
keit des Verfahrens, JR 1982, 309; Meyer-Goßner, Verbesserung der Rechtsstellung des
Beschuldigten durch weitere nichtöffentliche Verfahrensgänge, ZRP 1982, 237; Schüler-
Springorum, Ein Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, NStZ 1982, 305;
Baumann, Die Reform der Vorschriften über die Öffentlichkeit der Strafverfahren, NJW
1982, 1558; Rengier, Der Grundsatz der Öffentlichkeit im Bußgeldverfahren, NJW 1985,
2553.
5 BT-Dr. 10/5305.
892 Heike Jung

Der reformerische Wind bläst dem Grundsatz der Öffentlichkeit ins


Gesicht. Bei aller Unterschiedlichkeit der Vorschläge im einzelnen
macht man sich - jedenfalls für den Bereich des Strafprozesses' - daran,
den Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, jene stolze
Errungenschaft der Aufklärungszeit, zurückzustutzen. Dies kann nur
auf Anhieb verwundern. Es trifft zwar zu, daß der Grundsatz der
Öffentlichkeit bei der Diskussion der Reichsjustizgesetze vor über hun-
dert Jahren völlig unangefochten war. Inzwischen haben sich die
Akzente in der Strafrechtspflege aber ein wenig verlagert. Der Sieg des
Grundsatzes der Öffentlichkeit schuf paradoxerweise erst die Vorausset-
zungen, sich die Prangerwirkung des Strafverfahrens wieder stärker
bewußt zu machen. Ein stärker täterorientiertes materielles Strafrecht
verlangt zudem eine intensivere Erforschung der Persönlichkeit;
zugleich gebietet der Grundsatz der Resozialisierung mehr Rücksicht-
nahme auf die Intimsphäre des Beschuldigten 7 . Auch die Viktimologie
fordert im Interesse des Opfers eine Schadensbegrenzung. Sie hat unse-
ren Blick dafür geschärft, daß das Strafverfahren namentlich - aber nicht
nur - bei Sexualdelikten nicht nur den Konflikt perpetuiert, sondern oft
zu einem erneuten Opfergang wird 8 . War es früher die Sorge vor der
geheimen Kabinettsjustiz, die die Reformer stimuliert hat, so ist es jetzt
der Schutz der Privatsphäre, der sie in die entgegengesetzte Richtung zu
treiben scheint'.
Rückblickend betrachtet läßt sich nicht mehr mit Gewißheit feststel-
len, wann dieser Erosionsprozeß eingesetzt hat, wann sich der Eindruck
breitgemacht hat, daß wir eigentlich zuviel Öffentlichkeit im Strafpro-
zeß haben. Sicher dürfte dabei auch eine gewisse Verstärkerwirkung
durch die Medienöffentlichkeit mitgespielt haben. Die Medienöffent-
lichkeit hat nicht nur der „normalen" Saalöffentlichkeit faktisch den
Rang abgelaufen10. Die Medien projizieren - zumindest bei spektakulä-
ren Fällen - das Verfahren auf eine nationale, bisweilen gar internatio-

' Im Zivilprozeß spielt die Frage längst nicht diese Rolle, was damit zusammenhängen
dürfte, daß dort faktisch NichtÖffentlichkeit in dem Sinne herrscht, daß „von der Zugäng-
lichkeit der Verhandlung für beliebige, am Verfahren nicht beteiligte Personen (...) seit
jeher nur äußerst geringer Gebrauch gemacht wird", so Köhl, Die Öffentlichkeit des
Zivilprozesses - eine unzeitgemäße Form, in: Festschrift für Schnorr von Carolsfeld, 1973,
S. 235. Köhl fordert als einer der wenigen aus zivilprozessualer Sicht weitere Einschrän-
kungen zum Schutz der Persönlichkeit.
7 Grdl. dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 35, 202.
8 Vgl. dazu nur Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer, 1982.

' Hassemer, Vorverurteilung durch die Medien?, NJW 1985, 1921, 1925, sieht zutref-
fend das Dilemma „progressiver" Autoren darin, daß beide Ziele, Öffentlichkeit und
Schutz der Intimsphäre, rechtspolitisch positiv bewertet werden.
10 Vgl. zu diesen Zusammenhängen statt vieler Zipf (Fn. 1), S. C21 ff.
Öffentlichkeit 893

nale Bühne. Diese „Steigerungsform" der Öffentlichkeit potenziert


naturgemäß die Probleme des Persönlichkeitsschutzes.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit ruht auf mehreren Pfeilern. Da geht
es um Informationsbedürfnisse, um Transparenz, um Kontrolle, um
Mitbestimmung. Da geht es aber auch um die Frage, wie das Recht sich
darstellt, um Zeremoniell und Symbol. Diese Begriffe erinnern in ihrer
Allgemeinheit auch daran, daß wir Öffentlichkeit nicht als ein aus-
schließlich strafjustizielles Phänomen betrachten dürfen. Freilich läßt
sich nicht bestreiten, daß der Verfahrensgrundsatz gerade im Strafver-
fahren seine Bedeutung voll entfaltet. Zugleich treten im Strafverfahren
auch die Begleitschäden, die seine konsequente Anwendung verursachen
können, besonders deutlich hervor. Sie werden mit dem Stichwort
„Persönlichkeitsschutz" im Grunde nur verkürzt umschrieben. Denn da
geht es auch um Druck auf die Entscheidungsträger, um die Gefahr, daß
eine Welle von Vorurteilen überschwappen könnte. Da geht es schließ-
lich um den Vorzug informeller, persönlicherer Verfahrensformen, die
uns eine Justiz hinter verschlossenen Türen nicht mehr als völlig inak-
zeptabel erscheinen lassen.
Mein Versuch einer Standortbestimmung wird zunächst die histori-
sche Dimension der Fragestellung in Erinnerung rufen. Er wird einige
prototypische Konstellationen aufzeigen und vor diesem Hintergrund
kriminalpolitische Perspektiven entwickeln, die die verfassungsrechtli-
chen und sozialwissenschaftlichen Vorgaben gleichermaßen in Rech-
nung stellen. Am Ende stehen Vorschläge für einzelne Gestaltungsbe-
reiche.

II. Die historische Dimension der Fragestellung


Die Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit erschließt sich uns
erst vor dem Hintergrund seiner historischen Entwicklung. Ohne an
dieser Stelle die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes der Öffent-
lichkeit im einzelnen nachzeichnen zu wollen, seien mir einige Anmer-
kungen dazu gestattet, warum gerade der Grundsatz der Öffentlichkeit
sich zu einer der Existenzgrundlagen einer geordneten Justiz herausbil-
den mußte.
Die mittelalterliche Vorstellung von Recht lebte von dessen öffentli-
chem Vollzug. Dabei spielte sicher der Gedanke der Inszenierung, des
Schauspiels, aber auch ganz allgemein die Tatsache mit, daß Recht, um
eine gewisse Bestandskraft zu erhalten, für die Öffentlichkeit erfahrbar
sein mußte". Zunächst sind denn auch Öffentlichkeit und Gericht

" Allg. zu dieser Problematik van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis
und Strafrituale der frühen Neuzeit, 1985; ders., Das Schauspiel des Todes, Hinrichtungs-
894 Heike Jung

nachgerade identische Größen. Der Urteilsvorschlag wird durch die Zu-


stimmung der Gerichtsgemeinde, des „Umstandes", zum Urteil12. Die
Distanzierung von Gericht und Öffentlichkeit läßt sich unmittelbar an
Äußerlichkeiten, am Gerichtsort, nachvollziehen. Man tagt nicht mehr
unter freiem Himmel. Die Gerichtslaube hält den Schein noch aufrecht.
Schließlich zieht man in geschlossene Gebäude um. Der Siegeszug des
Inquisitionsprozesses auf dem Kontinent brachte uns das geheime Ver-
fahren. Freilich: Der Vorstellung vom öffentlichen Vollzug des Rechts
zollte man selbst im Inquisitionsprozeß noch Tribut. Das geheime
Vorverfahren, Aktenversendung und die dominierende Stellung des
gelehrten Richters haben die Öffentlichkeit zwar in eine marginale Rolle
abgedrängt, jedoch nicht ganz verdrängt. Sie hielt sich in der Figur des
„entlichen Rechtstages", in dem die öffentliche Bestätigung des Urteils
erfolgte13. Das Urteil stand zwar schon fest; es hat jedoch Fälle gegeben,
in denen die Entscheidung abgewandelt worden ist. Eigenartigerweise
hielten sich solche Elemente von Gerichtsöffentlichkeit bis in die Auf-
klärungszeit hinein.
Sicher gewinnt die Forderung der Öffentlichkeit in der Aufklärungs-
zeit eine andere Qualität. Im Verein mit dem Anklagegrundsatz, der
Mündlichkeit und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung steht sie
für eine völlige Veränderung der Struktur des Verfahrens. Dennoch zeigt
die Zählebigkeit öffentlicher Zeremonielle unter der Geltung des Inqui-
sitionsprozesses - mögen sie auch in aller Regel bloße Farce gewesen
sein-, daß wir es mit einem tief verwurzelten sozialpsychologischen
Phänomen zu tun haben, das jener Gemengelage von Dabeiseinwollen,
Anteilnahme, Miterleben der Gerechtigkeit, Sensationslust und Kon-
trolle entspringen dürfte14. Für die Aufklärungszeit wird „Öffentlich-
keit" zur politischen Grundkategorie, geraten die Anforderungen an das
Gerichtsverfahren zum Indikator politischer Kultur und demokratischer
Durchdringung der Justiz. „Öffentlichkeit überhaupt", heißt es etwa bei
Siebenpfeiffer15, „ i s t . . . eine Grundlage und zugleich eine Gewähr jeder

rituale in der frühen Neuzeit, in: van Dülmen/Schindler (Hrsg.), Volkskunst. Zur
Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), 1984, S. 203 ff.
12 So Albers, Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, 1974,
S. 12; vgl. auch Fügen, Der Kampf um Gerichtsöffentlichkeit, 1974, S.58.
13 Näher dazu Schild, Der „entliche Rechtstag" als Theater des Rechts, in: Landau/
Scbroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, 1984, S. 119 ff; van Dülmen,
Theater des Schreckens (Fn. 11), S. 54 ff.
14 Anschaulich eingefangen in Heinrich Manns Schilderung der Hinrichtung eines
Edelmannes unter Heinrich IV. Vgl. Heinrich Mann, Die Vollendung des Königs Henri
Quatre, rororo 1964 (1975), S. 210 ff.
15 Siebenpfeiffer, Über die Frage unserer Zeit in Beziehung auf die Gerechtigkeits-
pflege, 1823, S. 179 ff.
Öffentlichkeit 895

constitutionellen freyen Verfassung; in ihr besteht die Stärke und die


Würde der Regierung, die Einsicht, Kraft und Mäßigung des Parla-
ments, die Unabhängigkeit der Gerichte, das ergiebigste Mittel für die
verfassungsmäßige und Rechtsbildung des Volks; denn sie ist die Quelle
der öffentlichen Moral, worauf am Ende die ganze Verfassung beruht,
wenn sie nicht ein Spielzeug in der Hand des Regenten oder eine Faction
sein soll." Die Verquickung der Forderung nach Publizität mit staats-
und verfassungsrechtlichen Positionen wie der Gewaltenteilungslehre
und dem Demokratiegebot ist offenkundig16. Dabei ist durchaus typisch
für die Debatte, daß der Grundsatz der Öffentlichkeit in einem Atem-
zuge mit Mündlichkeit und Schwurgerichtsverfassung genannt wird17.
Vorreiter für den deutschen Strafprozeß ist damals trotz mancher
Vorbehalte, die weitgehend der allgemeinen politischen Lage entspran-
gen, der französische Strafprozeß gewesen. Schon vor dem Inkrafttreten
des Code d'instruction criminelle (1808) hatte sich der öffentliche Ver-
fahrensgang in Frankreich Geltung verschafft. Er hielt in Deutschland
Einzug in die unter französischem Einfluß stehenden Gebiete. Eher
unerwartet überlebte - wenn auch nicht unangefochten und uneinge-
schränkt - das französische Modell die Zeit der französischen Hegemo-
nie und bot damit für die reformpolitische Diskussion lebendiges
Anschauungsmaterial18. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung war
längst zu einer der politischen Fragen geworden. Die Paulskirchenver-
fassung ist die nächste Station auf dem Wege zur Realisierung des
Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit der Rechtspflege
wurde diskussionslos als Grundrecht gebilligt. In Preußen sollte kein
Geringerer als Friedrich C. v. Savigny die Frage der öffentlichen Rechts-
pflege zu einer definitiven Entscheidung bringen". Der erste Schritt des
Gesetzgebers erfolgte freilich nicht aus wohlmeinender reformerischer
Absicht, sondern unter dem Druck der sog. Polenprozesse, einem

16 Zu diesem Zusammenhang näher Fögen (Fn. 12), S. 37 ff.


17 Typisch insoweit Mittermaiers zumeist verkürzt zitierte Schrift: Die Mündlichkeit,
das Anklageprinzip, die Öffentlichkeit und das Geschworenengericht in ihrer Durchfüh-
rung in den verschiedenen Gesetzgebungen dargestellt und nach den Forderungen des
Rechts und der Zweckmäßigkeit mit Rücksicht auf die Erfahrung der verschiedenen
Länder geprüft, 1845.
" Auf das in der Auseinandersetzung auch durchaus Bezug genommen wurde: so bei
Mittermaier (Fn. 7), S. 349. Vgl. zu der Kontroverse um die Beibehaltung des „fremden"
Rechts allg. Wadle, Die Anfänge der Zivilstandsregister, in: 150 Jahre Landgericht
Saarbrücken, 1985, S. 141, 159 m. w. Nachw. sowie speziell im Hinblick auf die Gerichts-
verfassung Fügen (Fn. 12), S. 19 f. Fögen verweist im übrigen darauf, daß der Schritt zur
allgemeinen Öffentlichkeit in der deutschen Verfahrensgeschichte schon angelegt war.
Auch sie mißt freilich der rheinischen (französischen) Gerichtsverfassung eine katalysatori-
sche Wirkung zu (vgl. S. 21).
" Albers (Fn. 12), S. 73.
896 Heike Jung

Verfahren gegen 254 Angeklagte, das mit der bis dahin geltenden
Kriminalordnung nicht zu bewältigen gewesen wäre20.
Bei Schaffung des Gerichtsverfassungsgesetzes galt die Frage als aus-
diskutiert. I m Für und Wider der Argumente war der Grundsatz der
Öffentlichkeit unangefochten hervorgegangen. Man darf jedoch nicht
übersehen, daß die Wegstrecke von der politischen Streitschrift bis zur
umfassenden rechtlichen Geltung relativ lang gewesen ist. Das Ziel
wurde in Etappen erreicht. Die Politisierung, die diese Frage erfahren
hatte, hat dazu beigetragen, daß wir auf einen ausgesprochen reichhalti-
gen literarischen Fundus zurückgreifen können, in dem wir alle promi-
nenten Rechtslehrer, angefangen von Feuerbach2i über Mittermaier22 bis
Welckerwiederfinden.
Manche der damals gegen die Öffentlichkeit vorgebrachten Argu-
mente24 muten heute schon seltsam an, so z. B. Befürchtungen für die
Gesundheit der Richter. Freilich war auch damals schon von der Pran-
gerwirkung die Rede, sah man durchaus die Problematik des Schutzes
der Intimsphäre von Beschuldigten und Zeugen, beklagte man, daß die
öffentliche Hauptverhandlung nichts anderes sei als ein kostenfreies
Schauspiel. Die politische Entscheidung der Zeit fiel dennoch klar und
eindeutig aus. Die Verletzung des Publizitätsgrundsatzes wurde als
absoluter Revisionsgrund ausgestaltet. Nur die Gefährdung der öffentli-
chen Ordnung und der Sittlichkeit rechtfertigt danach den Ausschluß
der Öffentlichkeit. Das Vorverfahren blieb freilich nichtöffentlich.

III. Einige Fallkonstellationen


Das Konfliktpotential, das der Grundsatz der Öffentlichkeit für den
heutigen Betrachter bietet, läßt sich am ehesten an einigen Fallkonstella-
tionen verdeutlichen. Da ist zunächst die Betroffene eines Vergewalti-
gungsfalles. Sie war mit dem Beschuldigten vorher befreundet und muß
sich deswegen zahlreiche Fragen zu ihren sexuellen Beziehungen gefallen
lassen. Die Nachbarn und Freunde des Angeklagten sitzen auf den
Zuschauerbänken und kommentieren die Aussage tuschelnd. Die ohne-
hin schüchtern wirkende junge Frau „versteinert" immer mehr.
Andererseits erleben wir es immer wieder, daß der Beschuldigte eines
spektakulären Tötungsdeliktes vor den Augen eines dicht gedrängten

20 Dazu Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S.65.


21 Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtig-
keitspflege, Bd. 1, 1821, Bd. 2, 1825.
22 Mittermaier (Fn. 17).
2J Vgl. dazu Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor
Welcker, 1968, S. 4 ff.
24 Vgl. die Zusammenstellung bei Albers (Fn. 12), S. 36 ff, 77 ff.
Öffentlichkeit 897

Auditoriums im Rahmen der Persönlichkeitserforschung sinnbildlich


„ausgezogen" wird. Die Konstellation der Betroffenheit kann sich noch
anders darstellen: Geht es um organisierte Kriminalität, ist der Zeuge
unter Umständen durch eine öffentliche Verhandlung vitalen Bedrohun-
gen ausgesetzt. Der gefährdete Zeuge gibt zwar zu Überlegungen Veran-
lassung, die weit über den Grundsatz der Öffentlichkeit hinausreichen.
Immerhin gilt er aber inzwischen als Prüfstein der Frage, bis zu welchem
Punkt sich der Kreis der Verfahrensbeteiligten legitimerweise reduzieren
läßt.
Und wie soll das Gericht eigentlich auf das Ansinnen des Pressebe-
richterstatters reagieren, der - nehmen wir an, die Öffentlichkeit ist
ausgeschlossen worden - der Verhandlung weiter beiwohnen möchte?
Soll er als Pressevertreter eine Sonderstellung beanspruchen dürfen?
Oder was ist von der Anregung zu halten, doch künftig statt der
konstruierten und belehrenden Sendungen über Strafrechtsfälle das reale
Leben sprechen zu lassen und die Fernsehübertragung von Strafrechts-
fällen, etwa von Mordprozessen, amerikanischen Vorbildern folgend25,
zuzulassen? Dieses Begehren scheint dem allgemeinen Strickmuster der
kriminalpolitischen Diskussion stracks zuwiderzulaufen, und dennoch
sollte es in einer Zeit, in der die Medienwirklichkeit gerne für die
Wirklichkeit genommen wird, nicht überraschen, daß z. B. in Teilen der
USA und in Polen das Fernsehen in der Hauptverhandlung zugelassen
ist.
Mag bei Kapitaldelikten, die ja auch eine besondere soziale Erschütte-
rung auslösen, das Informationsinteresse noch einleuchten, so fragt es
sich doch, ob jeder kleine Ladendiebstahl coram publico abgehandelt
werden muß. Aber auch bei Kapitaldelikten stellt sich das Problem der
Dosierung. Soll man etwa, weil das Interesse so groß ist, vom Gerichts-
saal in eine Kongreßhalle ausweichen?
Wie soll man es bei dem Verfahren gegen einen prominenten Politiker
handhaben, das schon im Stadium der Ermittlungen viel Staub aufgewir-
belt hat? Er wird vielleicht gar selbst an einem großen Forum interessiert
sein, weil ja die öffentliche Hauptverhandlung von ihrer Struktur her auf
Klärung des Verdachtes angelegt ist. Auf derselben Linie, nur in die
andere Richtung gewendet: Darf man ein Verfahren im Zusammenhang
mit einer Antiatomkraft-Demonstration in den kleinsten Saal verlegen,

25 In den U S A hat der Supreme C o u r t in Chandler v. Florida U . S . 560 (1981)


festgestellt, daß Fernsehübertragungen die Durchführung des Verfahrens nicht „automati-
cally" als „unfair" erscheinen lassen, und hat damit die Praxis vieler Einzelstaaten, unter
gewissen Voraussetzungen das Fernsehen in der Hauptverhandlung entweder auf experi-
menteller Basis oder dauerhaft zuzulassen, sanktioniert; näher dazu Franklin, Cases and
Materials on Mass Media Law, 2nd edition, N e w Y o r k 1982, S. 598 ff.
898 Heike Jung

weil man Ausschreitungen befürchtet? Allgemeiner: Welches Maß an


Sicherheitsvorkehrungen durch das Gericht ist mit dem Grundsatz der
Öffentlichkeit noch vereinbar26?
Angesichts der Brisanz derartiger Fälle erscheint der prozessuale
Alltag des Grundsatzes der Öffentlichkeit auf den ersten Blick trivialer.
Da wird die Tür versehentlich zugesperrt oder aber das Gericht begibt
sich auf einen Ortstermin, ohne dies auf der Termintafel anzukündigen.
Das Gericht tagt in einer Strafvollzugsanstalt, die nicht ohne weiteres
zugänglich ist27. Im Grunde freilich handelt es sich auch hierbei um
Testfälle für unser Prinzip und damit für die Frage, wie ernst wir
heutzutage diesen durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 6
StPO28 gesicherten Grundsatz nehmen wollen.

IV. Auf der Suche nach einer neuen Balance


Die verfassungspolitische Tragweite der Grundsätze des Strafverfah-
rens führte im Verein mit einer prinzipienfreudigen Jurisprudenz zu
einer strengen Durchsetzung der Verfahrensgrundsätze im ^.Jahrhun-
dert. Im 20. Jahrhundert erkennt man die Grenzen einer prinzipiellen
Betrachtung, treten die Begleitschäden einer vergleichsweise rigorosen
Durchsetzung stärker in den Vordergrund, werden Gesichtspunkte, die
vordem nicht so hoch im Kurs standen, unter dem Einfluß des verfas-
sungsrechtlichen Wandels ihrerseits auf die Grundsatzebene gehoben.
Die Markierungen verschieben sich. Uberhaupt gewinnt - nicht zuletzt
gefördert von Rechtstheorie und Methodenlehre - eine „Fall zu Fall"-
Betrachtungsweise zunehmend die Oberhand, der eine Verabsolutierung
von Prinzipien ohnehin suspekt ist. Sozialwissenschaftliche Erkennt-
nisse haben zudem unsere Wahrnehmung dafür, welche Folgen von
einem allzu prinzipiellen Procedere ausgehen, geschärft. Fazit: Die
Prinzipien werden relativiert, auf einige wenige Grundformen zurückge-
führt.
All dies gilt in geradezu typischer Weise für den Grundsatz der
Öffentlichkeit. Die Dynamik eines täterorientierten Strafrechts, aber
auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein humanes Straf-
verfahren haben den Persönlichkeitsschutz immer mehr zu einer Art
gegenläufigem Prinzip werden lassen.
Freilich sollten wir nicht in den Fehler verfallen, nunmehr diesen
Gedanken absolut zu setzen. Öffentlichkeit zählt ähnlich wie die Laien-
beteiligung zu den vertrauensbildenden Maßnahmen, ohne die die

26 Dazu Kohlmann (Fn.4), S.683.


27 Vgl. B G H , J R 1979, 261 ff.
28 Für den Zivilprozeß: §551 N r . 6 ZPO.
Öffentlichkeit 899

Rechtspflege in einem demokratischen Rechtsstaat nicht akzeptiert


wird2'. Die empirischen Sozialwissenschaften bestätigen uns, daß nach
wie vor ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber einer von Berufsrichtern
getragenen Rechtspflege besteht30, die uns zur Zurückhaltung gegenüber
einer allzu großzügigen Einschränkung der Öffentlichkeit mahnt. Zwar
haben sich gegenüber dem Inquisitionsprozeß klassischer Prägung die
gesellschaftlichen, staatspolitischen und rechtlichen Rahmenbedingun-
gen völlig verändert. Dennoch trifft Zipf den Kern, wenn er meint:
„Denn selbst wenn wir nicht positiv nachweisen können, ob und in
welchem Umfang die Öffentlichkeit der Gerichtstätigkeit Vertrauen in
die Institution schafft, können wir doch umgekehrt - schon aufgrund
historischer Erfahrungen - als sicher annehmen, daß Heimlichkeit des
Verfahrensgangs Mißtrauen hervorrufen und begünstigen würde"31.
Insofern kommt es auch nicht in Betracht, die Öffentlichkeit vollends
durch die mittelbare Öffentlichkeit der Medien zu ersetzen32. Ein derar-
tiges Konzept verbietet sich schon deswegen, weil es der weiteren
Verdrängung der Wirklichkeit durch die Medienwirklichkeit Vorschub
leisten würde. Es kollidiert auch mit dem demokratischen Grundanlie-
gen, wonach der einzelne sich grundsätzlich selbst ein Bild über die
Emanation öffentlicher Gewalt muß machen können33. Die ständige
Gegenwart eines mehr oder weniger großen Teils der Bevölkerung in
den Verhandlungssälen ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr - so
Luhmann - „ein allgemeines und unbestimmtes Wissen, daß solche
Verfahren laufend stattfinden und daß sich jedermann bei Bedarf dar-
über genau unterrichten kann"34.
Was heißt das nun konkret: Zipf hebt immer wieder die Zweiseitigkeit
des Grundsatzes der Öffentlichkeit hervor und verweist auf die konkrete
Abwägung an Hand eines Topoikataloges35. Daran ist sicher richtig, daß

29 Ebenso Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl., 1985, S.282; vgl. zu den verschiede-

nen Ansätzen zur Funktionsbestimmung des Öffentlichkeitsprinzips Franke, Die Bildbe-


richterstattung über den Angeklagten und der Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren,
1978, S.26ff. Franke selbst greift zu kurz, wenn er die Funktion der Öffentlichkeit
ausschließlich in der Befriedigung des Informationsinteresses sieht (a. a. O., S. 65 ff).
30 Nähere Hinweise bei Jung, Die Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege, in:
150 Jahre Landgericht Saarbrücken, 1985, S.317, 324 m . w . N .
31 Zipf (Fn. 1), S. C 4 2 f . Vgl. auch Köhl (Fn.6), S.246, sowie Luhmann, Legitimation
durch Verfahren, 1969, S. 123 f.
32 In diese Richtung aber Scherer, Justiz und Massenmedien, Zeitschrift für ausländi-

sches öffentliches Recht und Völkerrecht 1979, 38, 81.


33 „Das Volk", heißt es etwa bei Siebenpfeiffer (Fn. 15), S. 181, „ist im höchsten Grade
betheiligt, zu wissen, daß Recht und Gerechtigkeit im Staate bestehe, was ohne Selbstan-
schauung der Gerichtsverhandlungen nicht denkbar ist."
34 Luhmann (Fn.31), S. 124.
35 Vgl. z . B . Zipf (Fn. 1), S . C 4 6 , C 5 6 , C 9 6 .
900 Heike Jung

die Einzelfallösung nicht abstrakt vorgegeben ist, sondern daß sie in dem
Parallelogramm divergierender Interessen konkret bestimmt werden
muß. Trotzdem scheint es mir lohnenswert zu sein, nach einem überge-
ordneten Bezugspunkt zu suchen, in dem beide Gesichtspunkte zusam-
menfließen. Hier bietet sich der Begriff des „fairen Verfahrens"36 an.
Denn daraus erwachsen Anforderungen im Umgang mit Beschuldigten
und Zeugen. Im fairen Verfahren finden sich Öffentlichkeit und Persön-
lichkeitsschutz wieder, weil die Öffentlichkeit im Sinne rational gefilter-
ter gesellschaftlicher Interessen eben auch den Schutz der Betroffenen
gegen Eingriffe in ihre Persönlichkeit erwartet, eine Öffentlichkeit um
jeden Preis und in allen Fällen also gar nicht erwünscht ist37.
Damit sind wir in puncto konkreter Interessenabwägung zwar nicht
viel weiter. Es verdient jedoch festgehalten zu werden, daß die wach-
sende Bedeutung des Persönlichkeitsschutzes keine „Erfindung" der
Juristen, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Entwicklungspro-
zesses ist, der sich allenthalben bemerkbar macht und dessen verfas-
sungsrechtliche Relevanz sich zuletzt im sog. Volkszählungsurteil nie-
dergeschlagen hat, mit dem das Bundesverfassungsgericht das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung statuiert hat38.
Prinzipien verleiten immer wieder zu einer Betrachtung nach Art des
Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Nur darf dies nicht im Sinne eines
gesteigerten Begründungszwangs für die Ausnahme gehandhabt werden.
Vielmehr konkurriert die Öffentlichkeit als eine klar konturierte Rah-
menbedingung staatlicher Konfliktentscheidung im demokratischen
Rechtsstaat mit diffuseren Interessen, vor allem, aber nicht nur, mit
denjenigen des Persönlichkeitsschutzes, Interessen, die freilich in
bestimmten Konstellationen ein Übergewicht erhalten können und die
auch in der Vergangenheit durchaus schon stärker gewichtet worden
sind. Man denke nur daran, daß das schriftliche Strafbefehlsverfahren,
für das vor allem Gründe der Arbeitsökonomie streiten, eine ebenso
lange Tradition hat wie die Konsolidierung des Öffentlichkeitsprinzips.
Auch sei daran erinnert, daß zahlreiche Verfahrensarten - wie z.B. seit
jeher das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder neuerdings das
strafvollzugsrechtliche Rechtsschutzsystem der schnelleren und leichte-
ren Erledigung wegen - keine mündliche Verhandlung kennen und damit

36 Vgl. aus der Diskussion um diesen Grundsatz nur Heuhl, Der „fair-trial" - ein
Grundsatz des Strafverfahrens?, 1981; Dörr, Die Gewährleistung des Rechts auf ein faires
Verfahren im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 1983.
37 Zutreffend klassifiziert Kleinknecht, Schutz der Persönlichkeit des Angeklagten
durch Ausschluß der Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung, in: Festschrift für Schmidt-
Leichner, 1977, S. 111, 113, das Interesse am Schutz des persönlichen Lebensbereichs als
ein „öffentliches".
38 BVerfG, NJW 1984, 419.
Öffentlichkeit 901

auch dem Gebot des § 169 G V G entzogen sind. Die eigentliche Schwie-
rigkeit bietet die Umsetzungsebene. Sobald wir nämlich auf eine Einzel-
fallentscheidung verwiesen werden, müssen wir Spielräume der Ent-
scheidung eröffnen. Dabei können wir aber nicht sicher sein, daß die
Entscheidungsträger in der Umsetzung den gewünschten Punkt treffen.
Den Richtern, so will mir scheinen - und dies müssen wir bei
reformpolitischen Überlegungen berücksichtigen - , ist der Grundsatz
der Öffentlichkeit derart „heilig", daß sie mit dem Ausschluß eher
zögerlich sind. Entgegen einer verbreiteten Annahme" dürfte diese
Zurückhaltung nicht so sehr der Angst vor dem absoluten Revisions-
grundsatz entspringen als vielmehr einer sehr prinzipiellen Betrach-
tungsweise, vielleicht sogar einem tief empfundenen Bedürfnis, sich der
Öffentlichkeit „stellen" zu müssen. Diese richterliche Zurückhaltung
mag man als Mahnung vor einer allzu großzügigen Beschränkung der
Öffentlichkeit nehmen. Vielleicht spiegelt sich darin eben eine instink-
tive Abwehrreaktion gegen den Vorwurf der „Mauschelei". Man mißt
der Öffentlichkeit insoweit eine Entlastungsfunktion zu und akzeptiert -
wenn auch vielleicht widerwillig - , daß man auf diese Art auf dem
Prüfstand öffentlicher Kritik steht. Dies klingt auch bei Hassemer an,
wenn er davon spricht: „Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ist also
die den besonderen Bedingungen szenischen Verstehens entsprechende
Möglichkeit der Kontrolle für jedermann und die Möglichkeit der
Selbstrechtfertigung für den agierenden Rechtsstab" 40 . Dies bestätigt im
Grunde auch, daß - entgegen der Annahme Scherers - 4 1 der Rückgriff
auf den Gesichtspunkt der „Schaffung von Vertrauen" einerseits und die
demokratietheoretische Fundierung von kontrollierender Gerichtsöf-
fentlichkeit andererseits keine rivalisierenden, einander ausschließenden,
sondern komplementäre Begründungsansätze für den Grundsatz der
Öffentlichkeit darstellen.
Es wird immer wieder darauf verwiesen, daß die Medienöffentlichkeit
uns in puncto Grundsatz der Öffentlichkeit vor eine neue Situation
gestellt hat. Diese Fragestellung reicht weit über unser Thema hinaus42.

39 Etwa auch von Odersky in seinem Referat auf dem 55. DJT; vgl. Verhandlungen des

55. DJT, Bd. II, Teil L, 1984, S. L 2 9 , 35. Wie hier Schöch, in: Verhandlungen des 54. DJT,
Band II (Sitzungsberichte), 1982, S.K 115; vgl. auch den differenzierten Katalog von
Ursachen für den seltenen Ausschluß der Öffentlichkeit aus Gründen des Persönlichkeits-
schutzes bei Rieß, Zeugenschutz durch Änderung des § 338 Nr. 6 ZPO, in: Festschrift für
Wassermann, 1985, 969, 975.
40 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 152 f.
41 Scherer (Fn. 32), S. 66 ff.

42 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Aufl., 1971, S.271, bringt es auf


die Formel: „Die Umfunktionierung des Prinzips der Öffentlichkeit basiert auf einer
Umstrukturierung der Öffentlichkeit als Sphäre, die am Wandel ihrer vorzüglichsten
Institution, der Presse, dingfest zu machen ist."
902 Heike Jung

Sicher hat die Justiz- und Kriminalitätsberichterstattung dazu beigetra-


gen, daß das Interesse am Besuch von Gerichtsverhandlungen stark
zurückgegangen ist. Bevor wir uns bei weiteren Einschränkungen des
Grundsatzes der Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf die Medienöffent-
lichkeit beruhigen, sei jedoch daran erinnert, daß es Gerichtsberichter-
stattung gegeben hat, solange Zeitungen existieren. Niemand wird
daher so weit gehen wollen, die Saalöffentlichkeit durch die Medienöf-
fentlichkeit ersetzen zu wollen. Eher dürfte es darum gehen zu klären, in
welchem Umfang den Medien kommunikative Privilegien eingeräumt
werden können und wie die besondere Medienverantwortung gesichert
werden soll. Die Medien stellen im System moderner Massenkommuni-
kation Medium und Faktor der öffentlichen Meinung zugleich dar43.
Ihre Hervorhebung im Grundgesetz und ihre Funktion in der Demokra-
tie rechtfertigen sicher eine unterschiedliche Behandlung von allgemei-
ner Öffentlichkeit und Medienvertretern44. Diese Vorzugsstellung der
Multiplikatoren darf freilich nicht zu einer Monopolstellung werden. Sie
vermittelt auch keinen Anspruch der Presse auf Teilnahme an nichtöf-
fentlichen Sitzungen. Auch der prinzipielle Ausschluß eines Mediums,
des Fernsehens, erscheint danach nicht per se unzulässig. Vielmehr ist
durchaus denkbar und verfassungsrechtlich unproblematisch, daß Kolli-
sionen mit dem Persönlichkeitsschutz oder dem Verfahrensschutz zu
Lasten der Medienfreiheit ausgehen. Nur sollte man nicht meinen, die
allgemeine Problematik der Kriminalitätsberichterstattung45 über die
Ausgestaltung der Vorschriften über die Öffentlichkeit der Gerichtsver-
handlung entscheidend beeinflussen zu können. Das Stichwort
„Medienverantwortung" signalisiert das ungelöste und vielleicht auch
unlösbare Problem46, wie man Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz
miteinander versöhnen kann.

43 So BVerfGE 12, 205, 260.


44 Vgl. zu den möglichen Medienprivilegien in diesem Zusammenhang auch die Unter-
suchung von Hoffmann-Riem/Rubbert, Atomrechtlicher Erörterungstermin und Öffent-
lichkeit, 1984, S. 85, sowie zur Legitimationsbedürftigkeit von Medienprivilegien allg.
Hoffmann-Riem, Massenmedien, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungs-
rechts, 1983, 389, 397.
45 Allg. zur Kriminalitätsberichterstattung Jung, Kriminalität und Massenmedien, in:
Kaiser/Sack/Kerner/Schellhoss (Hrsg.), Kleines kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl.,
1985, S. 294.
46 Sie ist in letzter Zeit mehrfach Gegenstand von umfassenden Arbeiten gewesen. Vgl.

nur Kühler (Hrsg.), Medienwirkung und Medienverantwortung, 1975; Franke (Fn. 29);
v.Becker, Straftäter und Massenmedien: Die Frage der Rechtmäßigkeit identifizierender
Kriminalberichte, 1979; Kerscher, Gerichtsberichterstattung und Persönlichkeitsschutz,
1982; Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Die Freiheit der Medien und ihre
Verantwortung im System der Grundrechte, 1982; Zillemann, Der Tatverdächtige als
Person der Zeitgeschichte, 1982.
Öffentlichkeit 903

Es ist also ohne Zweifel schwieriger geworden, die Prinzipien gegen-


einander auszutarieren. Es klingt zwar ganz versöhnlich, daß wir alles
unter dem Dach des Meta-Grundsatzes „faires Verfahren" vereinen
können. Nur: Hilfen für die konkrete Entscheidung können wir daraus
nicht entnehmen. Hin- und hergerissen bleibt uns nur die Zuflucht zu
einer Je-desto-Betrachtungsweise. Wir werden darin bestärkt durch die
methodologische Erkenntnis, daß das Korsett der Prinzipien längst zu
einem verschlungenen Geflecht von einander überlagernden, sich kreu-
zenden und in Teilen auch gegenläufigen Orientierungslinien geworden
ist. Dies ist kein Freibrief für dezisionistische Beliebigkeit, sondern
bedeutet nur, daß wir das konkrete Interessenkalkül um so gewissenhaf-
ter aufmachen müssen47. Kissels Plädoyer48, sich im Konfliktfall „Öffent-
lichkeit contra Menschenwürde sprich Persönlichkeitsschutz" für letz-
tere zu entscheiden, wird man zwar im Grundsatz zustimmen können.
Nur helfen derartige Losungen erst weiter, wenn man die Zweifelslage
erreicht hat, also der Versuch einer rational nachvollziehbaren Ausdiffe-
renzierung der Interessen keine Klarheit erbracht hat.

V. Konkrete Gestaltungsvorschläge
1. Wieviel Öffentlichkeit?
Aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit lassen sich keine Bauvorschrif-
ten ableiten, geschweige denn eine konkrete Raumverteilung. Nun ist
sicher das öffentliche Interesse an Verfahren ganz unterschiedlich. Die
Verfahren bergen unterschiedliches Konfliktpotential. Bei einem ratio-
nalen Umgang mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit wird man dem
unterschiedlichen Bedeutungsgehalt für die Öffentlichkeit in gewissem
Umfang auch Rechnung tragen müssen. Nur: Soll man das Verfahren
des großen Andrangs wegen in einem Fußballstadion durchführen
dürfen?
Der psychologische Druck, der von einer allzu großen Menschen-
menge auf den Angeklagten ausgeht, dürfte dies verbieten. Insofern hat
sich das Landgericht Saarbrücken, als es im „Lebach-Prozeß" vom
Gerichtssaal des Landgerichtsgebäudes in eine Kongreßhalle umgezogen
ist, sicher schon der Grenze des Zulässigen genähert49. Sensibel sollten

47 In diesem Sinne spricht das Bundesverfassungsgericht im Lebach-Urteil von der

„falltypischen Gestaltung"; BVerfGE 35, 202, 225; vgl. auch Zipf (Fn. 1), S . C 5 0 f .
48 Kissel, 100 Jahre Gerichtsverfassungsgesetz, N J W 1979, 1953, 1958.

49 Die Grenzziehung ist freilich schwierig. Auch die prozessuale Anknüpfung für eine

Revision ist in derartigen Fällen nicht einfach zu finden. § 338 Nr. 6 StPO greift sicher
nicht. Unter den absoluten Revisionsgründen käme allenfalls § 338 Nr. 8 StPO - unzuläs-
sige Beschränkung der Verteidigung durch Gerichtsbeschluß - in Betracht. Im „Lebach-
Prozeß" selbst ist die Revision der Angeklagten durch Beschluß verworfen worden, ohne
daß die Stellungnahme des Gerichts zu dieser Frage erkennbar wird.
904 Heike Jung

wir auch reagieren, wenn man meint, den befürchteten Störungen durch
die Auswahl eines möglichst kleinen Saales begegnen zu müssen. Auf
einem anderen Blatt und als solche unbestritten steht die Notwendigkeit
von Sicherheitskontrollen, wenn der konkrete Fall hierzu Veranlassung
gibt. Inakzeptabel wäre freilich, wenn in Verfahren, die als besonders
heikel gelten, Polizisten - sei es auch in Zivil - allein die Öffentlichkeit
darstellten.
Im Kern geht es also darum, eine manipulationsfreie Ableitungskette
zu jedem einzelnen Bürger als potentiellem Zuhörer zu gewährleisten.
Dem Grundsatz der Öffentlichkeit widerstreitet es daher, eine Auswahl
unter den Besuchern zu treffen50. Dies läuft auf ein striktes Prioritäts-
prinzip hinaus. Es gilt selbst dann, wenn eine Schulklasse geschlossen
zum Besuch einer Verhandlung erscheint. Andererseits kann die Schul-
klasse keine bevorzugte Behandlung beanspruchen. Das Gebot der
manipulationsfreien Ableitungskette impliziert auch, daß das Gericht
sich nicht einfach irgendwo anders hin „absetzen" darf. Erweist sich ein
Weiterverhandeln außerhalb des Gerichtssaales als erforderlich, so
genügt es deswegen nicht, wenn dies in öffentlicher Sitzung verkündet
wird; vielmehr ist es erforderlich, im Gerichtsgebäude selbst einen
entsprechenden Hinweis anzubringen, oder durch andere geeignete
Maßnahmen (z.B. Benachrichtigung des Pförtners) sicherzustellen, daß
Neuankömmlinge erfahren, wo die Sitzung fortgesetzt wird51. Ansätze
in der Rechtsprechung52, von diesen Erfordernissen im Ordnungswid-
rigkeitenverfahren Abstriche zu machen, ist Rengiera mit Recht entge-
gengetreten.
Hebt man auf den Gedanken der manipulationsfreien Ableitungskette
ab, wird man andererseits nicht jede objektive Beeinträchtigung der
Öffentlichkeit genügen lassen können, so daß dem Gericht nicht zure-
chenbare Beschränkungen der Öffentlichkeit durchaus aus dem Gel-
tungsbereich des §338 Nr. 6 StPO herausgenommen werden könnten54.

2. Öffentlichkeit contra Persönlichkeitsschutz


von Beschuldigten und Zeugen
Beschuldigter und Zeuge erbringen im Verfahren ein Sonderopfer,
dessen Dimension durch die Notwendigkeit umschrieben ist, an der

50 Pikart, in: Karlsruher Kommentar, 1982, §338 Nr. 6, Rdn. 88.


51 Zu großzügig daher Roxin (Fn. 29), S. 283, der bei kurzfristiger Abwesenheit die
Verkündung in öffentlicher Sitzung genügen lassen will.
52 O L G Düsseldorf, N J W 1983, 2514.

53 Rengier (Fn. 4).

54 Vgl. aus der Rechtsprechung z . B . BGHSt. 21, 72; 22, 297; krit. gegenüber einer

Einschränkung des Grundsatzes der Öffentlichkeit in diese Richtung Kohlmann (Fn. 4),
S. 582 f.
Öffentlichkeit 905

Klärung des Verdachts mitzuwirken55. Zwar kann den Interessen des


Persönlichkeitsschutzes nicht allgemein der Vorrang eingeräumt wer-
den, wohl müssen sie aber im Einzelfall stärker als bisher berücksichtigt
werden. Nicht jede Peinlichkeit - darin ist Baumann sicher zuzustim-
men56 - rechtfertigt den Ausschluß der Öffentlichkeit. Andererseits geht
es allzu oft ungeniert und ungeschützt bei Beschuldigten und Zeugen an
die Substanz, läßt sich aus der „Sonderopferthese" mit Krauß ableiten,
daß jede Maßnahme zu unterbleiben hat, die zu irreparablen oder sonst
unzumutbaren Schädigungen der Persönlichkeit des Betroffenen führt57.
Auf den Beschuldigten bezogen bedeutet dies, daß vor allem die
Persönlichkeitserforschung regelmäßig in nichtöffentlicher Hauptver-
handlung erfolgen sollte. Dies ließe sich im Rahmen des §172 Nr. 2
G V G schon jetzt praktizieren. Bei Einführung einer Zweiteilung der
Hauptverhandlung sollte man vorsehen, daß dieser Teil der Hauptver-
handlung nicht öffentlich durchgeführt wird. Es bleibt freilich der
berechtigte Einwand, daß eine Diskussion der rechtsfolgenrelevanten
Umstände im Kämmerlein sich als Bumerang für den Beschuldigten und
die Justiz erweisen könnte, weil die Justiz - so Volk - geradezu darauf
angewiesen sei, die Gerechtigkeit der Einzelfallentscheidung sichtbar zu
machen und für die kriminalpolitische Abkehr vom reinen Tatvergel-
tungsstrafrecht zu werben. Dies spricht dafür, den Schutz des Privaten
in diesen Fällen nicht absolut zu setzen58. Der Vorschlag des §243 Abs. 6
AE-StPO-HV greift dies auf. Danach soll nämlich die Öffentlichkeit bei
berechtigten Belangen der öffentlichen Information zugelassen sein.
Zwar soll ein Sensationsinteresse nicht ausreichen, wohl aber soll die
Rechtspflege in kritischen Fällen deutlich machen können, daß auch die
Entscheidung über die Schuldfähigkeit und die Rechtsfolgen nach ratio-
nal nachprüfbaren Kriterien und in einem sachlichen und fairen Verfah-
ren erfolgt59. Der Vorschlag der Alternativ-Professoren impliziert frei-
lich die Gefahr, daß dann doch wieder jede Schwurgerichtssache von
Anfang bis zum Ende in öffentlicher Verhandlung abgewickelt wird.
Nun ist unbestreitbar, daß gerade Straftaten gegen das Leben eine
besonders starke soziale Erschütterung auslösen und daher bis hin zu der
Frage der Behandlung der Schuldfähigkeit zwangsläufig das öffentliche
Interesse auf sich ziehen. Der Nachteil des Vorschlages besteht jedoch

55 Hierzu grdl. Krauß, Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, in:


Müller-Dietz (Hrsg.), Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, S. 153 ff.
56 Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, 4. Aufl.,
1979, S. 77.
57 Krauß, Rechtsstaat und Strafprozeß im Vergleich, in: Festgabe zum Schweizerischen
Juristentag, 1985, S. 171, 198.
58 Volk, in: Verhandlungen des 5 4 . D J T (Fn.39), S . K 3 9 .

59 Vgl. A E - S t P O - H V (Fn.3), S . 7 4 f .
906 Heike Jung

darin, daß die Öffentlichkeit der Verhandlung über die Rechtsfolgen


speziell von den Belangen der öffentlichen Information abhängig
gemacht wird. Der allgemeineren Grundierung des Offentlichkeitsprin-
zips würde es eher entsprechen, wenn im Sinne eines Vorschlages von
Schöch eine öffentliche Hauptverhandlung dann stattfinden müßte,
wenn das Vertrauen in die Rechtsordnung dies gebietet60.
Der Vorschlag der Alternativ-Professoren, Bagatellsachen unter
gewissen Voraussetzungen prinzipiell nichtöffentlich zu behandeln,
stößt wegen seiner Rigorosität auf Bedenken61. Es ist zwar sicher zutref-
fend, daß im Bagatellbereich das Kontrollinteresse der Öffentlichkeit
schwächer ausgeprägt ist und es insofern leichter fällt, dem Gedanken
der Resozialisierung den Vorzug zu geben. Nur muß man sich vergegen-
wärtigen, daß eine solche Konzeption die nichtöffentliche Konflikterle-
digung zur Regel machen würde mit der Konsequenz, daß die Öffent-
lichkeit sozusagen von Rechts wegen auf den Sensationsprozeß verwie-
sen würde. Denn eine nichtöffentliche Hauptverhandlung soll nach den
Vorstellungen des §407a AE-StPO-NÖV selbst dann möglich sein,
wenn immerhin ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist.
Nimmt man den Schutz des Zeugen^ hinzu, dessen Gewährleistung
derzeit die Diskussion beherrscht, so erscheint es vom Ansatz her
überzeugender, die an sich gut gemeinte, aber in der Konstruktion
mißlungene Regelung des §172 Nr. 2 GVG, die den Persönlichkeits-
schutz aller Beteiligten im Auge hat, zu verselbständigen und ihr damit
mehr Stoßkraft zu verleihen. § 171 b GVG in der Fassung des Entwurfs
eines 1. Gesetzes zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Straf-
verfahren ist daher von der Zielsetzung her zuzustimmen62. Richtig ist
es, die Balance auch in der Formulierung stärker zugunsten des Persön-
lichkeitsschutzes zu verschieben, eine Zielsetzung, in der der Regie-

60 Schöch (Fn.39), S.K 117.


61 Kohlmann (Fn. 4), S.587, geht er dagegen nicht weit genug. Sein Vorschlag, bei
Vergehen die Öffentlichkeit weitgehend in die Disposition der Verfahrensbeteiligten zu
stellen, birgt jedoch die Gefahr, daß damit das Interesse sich erst recht auf Kapitaldelikte
verlagert.
62 Der Regelungsvorschlag lautet wie folgt:

4171b
(1) Kommen Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozeßbeteiligten,
Zeugen oder durch eine rechtswidrige Tat (§11 Abs. 1 Nr. 5 des Strafgesetzbuches)
Verletzten zur Sprache, so entscheidet das Gericht auf Antrag der Person, deren Lebensbe-
reich betroffen ist, darüber, ob die Öffentlichkeit auszuschließen ist. Es schließt die
Öffentlichkeit aus, wenn die öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen
würde und nicht das Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt.
(2) Unter den Voraussetzungen des Absatz 1 Satz 2 kann die Öffentlichkeit auch ohne
Antrag ausgeschlossen werden.
(3) Die Entscheidungen nach den Absätzen 1 und 2 sind unanfechtbar."
Öffentlichkeit 907

rungsentwurf mit dem Vorschlag des Entwurfs eines Opferschutzgeset-


zes der SPD-Fraktion 63 tendenziell übereinstimmt. Falsch wäre es dage-
gen, den Ausschluß an Anträge der Betroffenen zu binden. Der
Gedanke der Privatheit legt dieses Prozedere zwar nahe. Verkannt wird
dabei jedoch, daß die Relevanz dieser Privatheit nicht in der Disposition
des Betroffenen allein stehen kann. So weit geht denn auch § 171 b Abs. 1
G V G in der Fassung des Entwurfs nicht64. Das dort vorgesehene
Antragsrecht bedeutet nur, daß es dem Betroffenen in die Hand gegeben
wird, eine Entscheidung des Gerichts über den Ausschluß herbeizufüh-
ren; es bleibt dem Gericht im übrigen unbenommen, von Amts wegen
über den Ausschluß zu entscheiden (§ 171 b Abs. 2 G V G in der Fassung
des Entwurfs). Verfehlt erscheint dagegen die vorgesehene Unanfecht-
barkeit der gerichtlichen Entscheidung und damit die partielle Abkehr
vom absoluten Revisionsgrund des §338 Nr. 6 StPO ( § 1 7 1 b Abs. 3
G V G in der Fassung des Entwurfs). Rieß hat zutreffend herausgearbei-
tet, daß die Mängel des Persönlichkeitsschutzes ihre Ursache im Zustand
der gerichtsverfassungsrechtlichen Vorschriften und nicht im Revisions-
recht haben und Remedur daher auch dort, wo es „hakt", geschaffen
werden sollte65. Ohne an dieser Stelle in die Details des Streites über
Revisibilität bei zu weiter Öffentlichkeit eintreten zu wollen66, sei doch
angemerkt, daß eine revisionsrechtliche Betrachtungsweise im Hinblick
auf den Zeugen ohnehin eine Verengung der Perspektive darstellt. Man
muß sich fragen, ob diesem Personenkreis überhaupt Gerechtigkeit
widerfährt, wenn man ihn zum Garanten für den Grundsatz der Öffent-
lichkeit deklariert. Hier stellt sich bei unzulässiger Erweiterung der
Öffentlichkeit doch eher die Frage einer Entschädigung. Unser geltendes
Recht sieht hierfür freilich keine Möglichkeit vor. Daß ein derartiger
Sanktionierungsmechanismus prinzipiell möglich ist, zeigt die Regelung
des Art. 50 E M R K . In der Tat läßt sich eine Entschädigungslösung noch
am ehesten auf der Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention
realisieren, wenn es gelingt, dem Anspruch auf Schutz des Privatlebens
durch Art. 8 E M R K für den Schutz des Zeugen gegenüber einer unver-
hältnismäßigen Bloßstellung durch die öffentliche Verhandlung frucht-
bar zu machen67.

63 BT-Dr. 10/3636, S.5.


64 Wohl aber der Vorschlag der SPD-Fraktion im Hinblick auf Sexualdelikte.
65 Rieß (Fn. 39), S. 979.

" Dazu statt vieler Kühne, Strafprozeßlehre, 2. Aufl., 1982, S.230 m. w . N .


67 Ansätze dazu bei Peukert, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskon-
vention, 1985, § 6 Rdn. 87.
908 Heike Jung

3. Sonderstellung der Medien


Die verfassungsrechtliche Stellung der Medien schlägt sich auch in
unserem Zusammenhang nieder. Das GVG spricht die Medien freilich
nur an zwei Stellen ausdrücklich und dann negativ an (§§ 169 Satz 2, 174
Abs. 2 GVG). Allerdings werden Medienvertreter auch von der Rege-
lung des §175 Abs. 2 G V G erfaßt, wonach einzelnen Personen der
Zutritt zu nichtöffentlichen Verhandlungen gestattet werden darf. Ein
Anspruch auf Zulassung wird über Art. 5 G G zwar nicht vermittelt. In
grundrechtsfreundlicher Interpretation des §175 Abs. 2 GVG sollte die
Zulassung der Medienvertreter aber großzügig gehandhabt werden.
Dem entspricht die Leitlinie der Praxis, Pressevertretern den Zutritt nur
zu verwehren, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen68. Den Schutz-
interessen der Prozeßbeteiligten kann durch ein entsprechendes
Geheimhaltungsgebot (§174 Abs. 3 GVG) Rechnung getragen werden.
Dabei erscheint es durchaus erwägenswert, die Möglichkeit einer nur
vorübergehenden Veröffentlichungssperre vorzusehen".
Der Sonderstellung der Medien entspricht auch, daß ihnen bei der
Platzvergabe je nach Art des Verfahrens eine bestimmte Quote zugebil-
ligt werden muß. Hier kommt die bevorzugte Rolle der Multiplikatoren
zum Tragen. Allerdings darf dies die Saalöffentlichkeit nicht völlig
aushöhlen. Alle Plätze an Pressevertreter zu vergeben, wäre danach
sicher unzulässig.
Man wird sich im übrigen fragen können, ob der völlige Ausschluß
des Fernsehens von der Hauptverhandlung, wie ihn das deutsche Recht
vorsieht, heutzutage noch sachgerecht ist. Gegen die Zulassung des
Fernsehens wird vor allem die Gefahr einer Beeinträchtigung der Wahr-
heitsfindung ins Feld geführt. Nur wird man sub specie Wahrheitsfin-
dung sicher eine Reihe von anderen Rahmenbedingungen des Strafver-
fahrens aufs Korn nehmen können (Zeremoniell, Robe etc.). Zuzugeben
ist allerdings, daß der Verfremdungseffekt, der zusätzlich durch die
Fernsehübertragung eintritt, einstweilen unkalkulierbar ist. Würde man
Fernsehaufnahmen von der Zustimmung aller Prozeßbeteiligten abhän-
gig machen, so wäre sicher dem Schutzbedürfnis in gewissem Umfang
Rechnung getragen. Indessen beschwört dies nicht nur die Gefahr der
Kommerzialisierung herauf; es würde weiter den „run" der Medien auf
den Sensationsprozeß verfestigen. Manche Beschuldigte würden sicher
geradezu Wert auf ein derartiges Prozedere legen, weil ihnen dies ein
breites Forum der Rechtfertigung eröffnete, eventuell gar eine Plattform
für politische Deklamationen böte. Der Strafprozeß findet jedoch nicht
„for show" statt. Ihm wird zwar immer ein Anflug von „Theater des

68Vgl. Mayr, in: Karlsruher Kommentar, 1982, §175 GVG, Rdn.4.


" Einzelheiten bei Volk (Fn.58), S.K33.
Öffentlichkeit 909

Schreckens" anhaften. Nur sollte man dies nicht noch zusätzlich ver-
stärken.
Die gelegentliche Skepsis der Justiz gegenüber der Gerichtsberichter-
stattung ist nicht unser Thema. Sie ist es nur insoweit, als durch die
Medien das Verfahrensklima vorstrukturiert werden könnte. Die Anteil-
nahme der Presse an Verfahren differiert. Die Presse neigt freilich dazu,
den Standpunkt der Verbrechensbekämpfung zu verabsolutieren70. Dies
gilt wohlgemerkt nicht nur für spektakuläre Verfahren, in deren Zusam-
menhang der Begriff „Vorverurteilung" neuerdings in aller Munde ist.
Konkrete legislatorische Maßnahmen sind hier für die Bundesrepublik
Deutschland freilich nicht angezeigt71. Im Grunde handelt es sich dabei
nur bedingt um ein durch Rechtsnormen steuerbares Phänomen, eher
um eine Frage der politischen Kultur72.

4. Öffentlichkeit nur der Hauptverhandlung?


Der Grundsatz der Öffentlichkeit zählt zu den Grundsätzen unseres
Strafverfahrens, obwohl er bekanntlich nur die Hauptverhandlung
regiert und auch literarisch allein in diesem Kontext behandelt wird.
Sieht man den Grundsatz der Öffentlichkeit in erster Linie als eine Art
vertrauensbildende Maßnahme, so will diese Beschränkung auf die
Hauptverhandlung nicht recht einleuchten. Sie ist historisch betrachtet
durchaus nicht selbstverständlich. In Frankreich hatte ein Dekret aus
dem Jahre 1789 eine repräsentative Öffentlichkeit der Voruntersuchung
statuiert, eine Regelung, die allerdings schon zwei Jahre später wieder
aufgehoben worden ist. Auch in der deutschen Reformdiskussion gab es
schon damals einzelne Stimmen, die sich für die Publizität des Vorver-
fahrens einsetzten73. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verla-
gerte sich die Kontroverse um die Öffentlichkeit sogar mehr und mehr
auf diesen Punkt. Der 11. Deutsche Juristentag 1873 setzte sich für die
Öffentlichkeit der gerichtlichen Voruntersuchung ein74. Diese Bestre-
bungen, die vor allem an angelsächsische Vorbilder anknüpften, ver-
mochten sich jedoch nicht durchzusetzen. Die Gegner der Öffentlich-

70 Näher dazu Jung (Fn.45), S.295.


71 Den Versuch, das Phänomen durch gesetzliche Regelung - wenn auch nicht in Form
eines Straftatbestandes - in den Griff zu bekommen, hat Polen unternommen; dazu
Waltos, Die Presseberichterstattung im polnischen Strafprozeß, Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft, 1986, 272. Die breit angelegte rechtsvergleichende Untersuchung
von Eser/Meyer (Hrsg.), Öffentliche Vorverurteilung und faires Strafverfahren, 1986,
konnte nicht mehr berücksichtigt werden.
72 So die Feststellung Müllers (Bern) auf der Tagung des Studienkreises für Presserecht

und Pressefreiheit: Vorverurteilung durch die Medien, berichtet von Kohl, 1985, 1945,
1946.
73 So z. B. Siebenpfeiffer (Fn. 15), S. 276 f.
74 Zur damaligen Diskussion Albers (Fn. 12), S. 150.
910 Heike J u n g

keit ließen sich nicht nur von der Überlegung leiten, daß Öffentlichkeit
in diesem Stadium den Untersuchungszweck vereiteln könne, sondern
machten auch geltend, daß die öffentliche Voruntersuchung eine unver-
antwortliche Härte für den Beschuldigten mit sich bringe.
Letztlich blieb es bei dem inquisitorischen geheimen Vorverfahren,
und daran hat sich bis heute nichts geändert. Nun ließe sich dies
natürlich mit dem Argument rechtfertigen, daß der deutsche Strafprozeß
strukturell eben auf die Klärung in der Hauptverhandlung setze, vorher
also für Öffentlichkeit kein Bedarf sei. Nur muß man sich fragen, ob
diese Ausgangsbasis noch zutrifft75. Die Realität geht doch dahin, daß
das Vorverfahren gegenüber der Hauptverhandlung immer mehr an
Bedeutung gewonnen hat. Längst ist anerkannt, daß das Ermittlungsver-
fahren eine die Hauptverhandlung und ihr Ergebnis prägende Kraft76
hat. Um so gewichtiger erscheint danach die Feststellung, daß dem
Zuviel an Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung ein Zuwenig an
Transparenz im Ermittlungsverfahren entspricht. Die unterschiedlichen
Begriffe signalisieren,^daß es nicht darum gehen kann, den Grundsatz
der (Saal-)Öffentlichkeit einfach auf das Ermittlungsverfahren zu
erstrecken. Vertrauen läßt sich auch in anderer Form herstellen, in einer
Form, die den speziellen Bedürfnissen des Ermittlungsverfahrens
gerecht wird. Die Schritte reichen von einer stärker kontradiktorischen
Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens77 bis hin zur Vorlage eines
Jahresberichts durch die Staatsanwaltschaft nach niederländischem Vor-
bild78. Daß die vertrauensbildenden Maßnahmen den strukturellen
Besonderheiten des Teilbereichs der Strafrechtspflege angepaßt werden
müssen, daß auf sie aber nicht verzichtet werden kann, belegt im übrigen
nichts deutlicher als die Diskussion um die „Öffnung" des Strafvollzu-
ges79 und die institutionellen Vorkehrungen, die das Strafvollzugsgesetz
zum Beispiel in Form der Anstaltsbeiräte (§§ 162-165 StVollzG) hierfür
zur Verfügung stellt. Auf die Diskussion um den Grundsatz der Öffent-
lichkeit rückbezogen folgt daraus: Man hat für die Akzeptanz der Justiz
bislang vielleicht zu sehr auf die Öffentlichkeit speziell der Hauptver-

75 Angesprochen etwa bei Richter II, Zum Bedeutungswandel des Ermittlungsverfah-


rens, Strafverteidiger 1985, 382.
76 Richter II (Fn. 75), S. 385.

77 Richter II (Fn. 75), S. 387.

78 Dazu Jung, Legalität oder Opportunität im Strafverfahren?, in: Prutting (Hrsg.),


Recht und Gesetz im Dialog III, Band 120, Annales Universitatis Saraviensis, 1986, S. 55.
79 Grundlegend dazu Mäller-Dietz, Strafvollzug und Gesellschaft, 1970. Vgl. zu den
Möglichkeiten einer Öffnung im Vollzugsalltag Rotthaus, Partner im sozialen Umfeld des
Vollzuges - Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit, in: Kury (Hrsg.), Strafvoll-
zug und Öffentlichkeit, 1980, S. 155.
Öffentlichkeit 911

handlung gesetzt. Sie ist sicher ein wichtiger Garant für die Transparenz
der Justiz. Das Vertrauen in die Justiz lebt aber nicht vom öffentlichen
Vollzug der Hauptverhandlung allein.

VI. Ausblick
Am Ende betrachtet man die eigene Bilanz ohne große Begeisterung.
Zu vieles mußte in der Schwebe bleiben, manches konnte nur angedeutet
und nicht entfaltet werden. Wieder anderes blieb gänzlich ausgespart.
Zusammenfassend läßt sich aber immerhin feststellen, daß die Notwen-
digkeit von Persönlichkeitsschutz im Verfahren das Öffentlichkeitsprin-
zip auf seinen sozialpsychologischen Kern zurückführt: Es darf nicht
der Eindruck entstehen, daß Justiz sich im geheimen abspielt, daß man
etwas zu verbergen hat. Strafrechtler neigen dazu, den Grundsatz der
Öffentlichkeit mit generalpräventiven Gesichtspunkten zu unterlegen.
Dabei wird freilich nur allzu leicht übersehen, daß wir es mit einem
Grundsatz zu tun haben, der für alle Verfahrensordnungen gilt und
dessen Rechtfertigung daher nicht primär in der Begriffswelt eines
Rechtsgebietes gegründet werden darf. Freilich läßt sich durchaus eine
Verbindung zwischen dem allgemeineren Gedanken des Vertrauens in
die Rechtspflege und dem Gedanken der Normverdeutlichung - sprich
der positiven Generalprävention - herstellen. Auch liegt auf der Hand,
daß die negativen Begleiterscheinungen eines öffentlichen Verfahrens-
ganges speziell in der Strafrechtspflege am nachhaltigsten spürbar wer-
den. An der Grundanforderung, das Vertrauen in die Justiz zu erhalten,
darf auch der durchaus notwendige Ausbau des Persönlichkeitsschutzes
nicht rütteln. Die Erkenntnis, daß die Mechanismen zur Durchsetzung
des Persönlichkeitsschutzes durchaus vielgestaltig sein können, ver-
pflichtet uns überdies, auch die Alternativen zu einem Ausschluß der
Öffentlichkeit ins Kalkül einzubeziehen. Persönlichkeitsschutz im Ver-
fahren ist nicht nur eine Sache von Öffentlichkeit oder Nichtöffentlich-
keit. Erinnert sei nur an die Zeugnisverweigerungsrechte, den Zeugen-
anwalt und das Abtretenlassen des Angeklagten.
Das Verhältnis der „Medienöffentlichkeit" zur „Saalöffentlichkeit"
spiegelt letztlich nur das Verhältnis des unmittelbaren Erlebens zur
massenmedialen Uberformung des Lebens wider. Beide, Medienöffent-
lichkeit und Saalöffentlichkeit, erfüllen nur in Teilen dieselben, anson-
sten komplementäre Funktionen. Insofern dürfen wir den Grundsatz
der Öffentlichkeit auch nicht allein durch die Brille der Medienöffent-
lichkeit betrachten, weil dadurch eine einseitige Färbung hineinkäme.
Sicher stellt auch das Öffentlichkeitsprinzip nur eine der vertrauens-
bildenden Maßnahmen dar. Die Garantie der Unabhängigkeit der
Gerichte dürfte in diesem Zusammenhang eine viel bedeutsamere Rolle
912 Heike Jung

spielen80. Solche Formen der Absicherung haben Freiraum für größere


Flexibilität in der Handhabung des Grundsatzes der Öffentlichkeit
geschaffen. Trotzdem dürfen wir den Grundsatz der Öffentlichkeit
nicht beliebig aushöhlen, weil die Justiz sich ständig in der öffentlichen
Auseinandersetzung bewähren muß.

80 Ähnlich Kleinknecht (Fn. 37), S. 113. Allg. zur richterlichen Unabhängigkeit Herr-
mann, Die Unabhängigkeit des Richters?, DRiZ 1982, 286.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung
im Strafprozeß
K A R L PETERS

I.
Das Wiederaufnahmerecht erfüllt seinen Zweck, die Gerechtigkeit
wiederherzustellen, nur unvollkommen. Selbst sorgfältig begründete
und aussichtsreiche Wiederaufnahmeanträge werden regelmäßig schon
im Zulassungsverfahren verworfen, so daß es zu einer neuen Beweisauf-
nahme und deren Erörterung nicht mehr kommt. Die Praxis hat in einer
dem ursprünglichen Willen des Gesetzes widersprechenden Weise das
Wiederaufnahmeverfahren so weit eingeengt, daß es zur Beseitigung
selbst eindeutiger oder doch wenigstens vermutlicher Fehlurteile nicht
kommt. Vergeblich wird immer wieder das Bundesverfassungsgericht
um Abhilfe ersucht. Mit der Begründung, das Bundesverfassungsgericht
sei kein Superrevisionsgericht, bei der Auslegung der Wiederaufnahme-
bestimmungen handele es sich nur um einfaches Recht und erst bei
Willkür könne das Bundesverfassungsgericht eingreifen, werden Verfas-
sungsbeschwerden nicht angenommen. Der Gedanke, daß es sich im
Strafprozeßrecht weithin um ins einzelne umgesetztes Verfassungsrecht
handelt und die Wiederherstellung von Ehre und Freiheit Ausfluß der
Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts ist, hat nicht die Zustim-
mung des Verfassungsgerichts gefunden. Das Willkürverbot ist wir-
kungslos, weil bei noch so schwerwiegenden Fehlern und unhaltbaren,
subjektiv getragenen Ansichten der Gerichte das Vorliegen von Willkür
verneint wird.
Ebenso unergiebig ist der Versuch, bei noch nicht vollstreckten
Strafen im Gnadengang einen Ausgleich herbeizuführen. Mit dem
durchaus fragwürdigen Hinweis auf die Unabhängigkeit der Gerichte
werden Gnadenanträge zurückgewiesen.
Die nahezu völlige Aussichtslosigkeit, ein Fehlurteil oder doch wenig-
stens seine Folgen zu beseitigen, macht es erforderlich, das Grundver-
fahren stärker abzusichern, als es in der Strafrechtspflege der Fall ist. Es
gibt typische Fehlerquellen aufzuzeigen, die entweder nicht erkannt
oder, selbst wenn sie erkannt werden, nicht genügend beachtet werden.
Die Absicherung vor Fehlurteilen ist nicht nur ein kriminalistisches,
sondern auch ein rechtliches Problem. Sicherlich kommt es darauf an, im
914 Karl Peters

S t r a f p r o z e ß die kriminalistischen E r k e n n t n i s s e u n d E r f a h r u n g e n s o w o h l
auf d e m G e b i e t des Sachbeweises als a u c h des P e r s o n a l b e w e i s e s zu
b e r ü c k s i c h t i g e n . A b e r a u c h die H a n d h a b u n g des G e s e t z e s , v o r allem die
A u s f ü l l u n g v o n F r e i r ä u m e n ' u n d die A u s l e g u n g der gesetzlichen B e s t i m -
mungen2, k ö n n e n die aus den F e h l e r q u e l l e n e n t s t e h e n d e n Gefahren
verstärken oder verringern. Ergibt sich aus den Fehlerquellen eine
B e d r o h u n g d e r G e r e c h t i g k e i t , der R e c h t s s i c h e r h e i t u n d der R e c h t s s t a a t -
lichkeit, so b e d a r f es einer A n w e n d u n g u n d A u s l e g u n g des G e s e t z e s , die
die G e f a h r ausschließt o d e r w e n i g s t e n s v e r m i n d e r t . Z u den üblichen
Auslegungsgesichtspunkten tritt die S i c h e r u n g der Wahrheitsfindung
hinzu.
E s soll an einigen h e r v o r r a g e n d e n Fehlerquellen, v o n denen v o r n e h m -
lich g r ö ß e r e V e r f a h r e n b e t r o f f e n w e r d e n , aufgezeigt w e r d e n , welche
Rechtshandhabung geboten ist, um der Gefahr wirklich Herr zu
werden3.

1 Daß es keine völligen Freiräume in der Anwendung des Rechts gibt, ist das Ergebnis

der Ermessenslehre im Verwaltungsrecht. Sie entwickelte den Begriff des gebundenen


Ermessens. Diese Lehre hat Eingang in das Strafrecht und Strafverfahrensrecht gefunden.
Vgl. K.Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters 1932, ferner Engisch in:
Peters-Festschrift 1974, S. 15 und Päffgen in: Peters-Festgabe 1984, S. 61.
2 Zur Gesetzesauslegung: aus dem strafprozessualen Schrifttum: Beling, Das deutsche

Reichsstrafprozeßrecht 1928, S. 20; Gerlach, Der deutsche Strafprozeß 1927, S. 26; Hau-
ser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts 1978, S. 20 ff; Henkel, Strafver-
fahrensrecht 1968, S.67; K.Peters, Strafprozeß 4.Aufl. 1985, §14 mit weiteren Schrift-
tumsangaben; aus dem materiell-strafrechtlichen Schrifttum: R. von Hippel, Deutsches
Strafrecht Bd. 2 (1930) §37; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978,
S. 105, 118 ff; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Bd. 1, 5. Aufl. 1977, S. 119 ff.
Weiterhin grundlegend: Sauer, Juristische Methodenlehre 1940, §§35-37.
3 Das deutschsprachige Schrifttum hat sich seit 75 Jahren unter Darstellung äußerst

zahlreicher Einzelfälle mit dem Fehlurteil befaßt. Es liegt daher umfangreiches Anschau-
ungs- und Unterrichtsmaterial vor, das aber offenbar nur wenig Eindruck auf die Praxis
gemacht hat. Es seien in zeitlicher Reihenfolge genannt: Sello, Das Fehlurteil im Strafpro-
zeß 1911; Alsberg, Justizirrtümer und Wiederaufnahme 1913; Hellwig, Justizirrtümer
1914; K.Peters, Zeugenlüge und Prozeßausgang 1939; Hirschberg, Das Fehlurteil im
Strafprozeß 1960; Kiwit, Fehlurteile im Strafrecht, Diss. Münster 1960; K. Peters, Fehler-
quellen im Strafprozeß, 3 Bde. 1970-1974; Suttermeister, Summa iniuria, Ein Pitaval der
Justizirrtümer, Basel 1976; Regine Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren 1980;
K.Peters, Justiz als Schicksal. Ein Plädoyer für die andere Seite 1979; Schöneborn,
Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik. Eine Analyse von Aktenmaterial, insbe-
sondere gescheiterter Wiederaufnahmeverfahren 1980; Heinz, Fehlerquellen forensisch-
psychiatrischer Gutachten 1982; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens
1984, S.361. Häufig werden Einzelfälle auch in den einschlägigen Zeitschriften behandelt.
Zum ausländischen Schrifttum vgl. K.Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß Bd.I, S.33ff;
ferner Jescheck/Meyer, Das Wiederaufnahmeverfahren im deutschen und ausländischen
Recht 1974. Zur Situation in Japan: Nose in der Peters-Festgabe 1984, S. 399.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 915

II.
1. Die „Isolierung der Hauptverhandlung", d.h. die Annahme, die
Hauptverhandlung sei der selbständige, die Entscheidung allein begrün-
dende Abschnitt, führt zu einer Verdrängung der Einheitlichkeit des
Untersuchungsvorgangs vom Beginn der Ermittlungen bis zur richterli-
chen Überprüfung des Sachverhalts im Hauptverfahren. Die Beweisauf-
nahme der Hauptverhandlung beruht zu wesentlichen Teilen auf den
Ermittlungen der Polizei und ihrer Bearbeitung und Bewertung durch
die Staatsanwaltschaft. Das bedeutet, daß Fehler im Ermittlungsverfah-
ren und in der Stoffauswahl durch die Staatsanwaltschaft in der Haupt-
verhandlung fortwirken. Fehler im Ermittlungsverfahren sind in der
formal gebundenen Hauptverhandlung nur schwer korrigierbar4. Das
gilt vor allem dann, wenn die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung
autonom durchgeführt wird. Namentlich in umfangreichen, undurch-
sichtigen und strittig durchgeführten Verfahren ist es unumgänglich, auf
das Vorverfahren zurückzugreifen. Es muß geklärt sein, wie es zu den
Anschuldigungen gekommen ist, wie die Zeugen in die Ermittlungen
hineingelangt sind, welche Sachbeweise (Umfang, Auswahl) herangezo-
gen worden sind, wie sich die Zeugenaussagen entwickelt haben, wie die
Grundeinstellung der Sachverständigen ist und auf welchen Unterlagen
und Vorstellungen ihr Gutachten zustande gekommen ist, welche weite-
ren Spuren vorgelegen haben, inwieweit ihnen nachgegangen worden ist
und warum sie ausgeschlossen worden sind. Das Gericht muß in der
Hauptverhandlung wissen, welche Möglichkeiten in Betracht gezogen
worden sind und ob etwa näherliegende Abläufe vorhanden sind. Die
Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung macht ein Einanderabwä-
gen verschiedener Möglichkeiten notwendig.
Sicherlich gilt der Grundsatz des § 261 StPO, daß das Gericht aus dem
Inbegriff der Verhandlung seine Überzeugung gewinnt. Was verwertet
wird, muß zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden.
Der Umfang des Gegenstandes ergibt sich jedoch nicht aus dieser
Vorschrift, sondern aus der Aufklärungspflicht des Gerichts. Diese
gebietet gerade in den umstrittenen Fällen die Einbeziehung aller in der
Entwicklung des Verfahrens sich ergebenden Vorgänge. Sie erfordert
unter Umständen auch eine eingehende Behandlung der Spurenakten. Es
interessieren eben nicht nur die angebliche Schuld des Angeklagten,
sondern auch die von ihm losgelösten, in andere Richtung gehenden
Sachvorgänge.

4 Zu den Auswirkungen unzulänglicher Ermittlungen vgl. K. Peters, Fehlerquellen im

Strafprozeß Bd. II, S. 195-213; ferner: Regine Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfah-


ren 1980.
916 Karl Peters

Daraus ergibt sich auch die Lösung des Problems der Spurenakten.
Spurenakten sind Teil des dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgangs.
O b man sie von den Hauptakten trennt oder nicht, sie müssen dem
Gericht zur Einsichtnahme offengelegt werden und sind von der Vertei-
digung einsehbar.
Die Auffassung, daß die Staatsanwaltschaft über die dem Gericht zur
Verfügung zu stellenden Akten nach pflichtgemäßem Ermessen zu
bestimmen habe, kann im Hinblick auf die umfassende Aufklärungs-
pflicht der Gerichte nicht als richtig anerkannt werden5. Vielmehr hat die
Polizei der Staatsanwaltschaft und diese dem Gericht die etwa vorhande-
nen Spurenakten kenntlich zu machen und zur Verfügung zu stellen.
Auch der Verteidiger muß sich seiner Verpflichtung, sich mit den
Vor- und Nebenakten vertraut zu machen, bewußt sein. Er muß Vorer-
mittlungen durch Beweis- und Beweisermittlungsanträge, durch Hin-
weise auf die das Gericht treffende Aufklärungspflicht zum Gegenstand
der Hauptverhandlung machen. Das gilt für den Pflichtverteidiger6 wie
für den Wahlverteidiger. Etwa dadurch entstehende Spannungen und
Verstimmungen müssen in Kauf genommen werden.
2. „Auflockerungen im gegenseitigen Kontrollsystem" können zu einer
Uberdeckung von Fehlerquellen führen. Die Strafprozeßordnung hat im
Interesse von Rechts- und Wahrheitsfindung ein ausgedehntes Kontroll-
system, durch das fehlerhafte Entwicklungen gehemmt werden sollen,
errichtet. Die Polizei untersteht der Verfahrenskontrolle der Staatsan-
waltschaft, die die Ermittlungen der Polizei überprüft, ergänzt, für die
Anklage für ausreichend oder nicht hinreichend erachtet. Die Staatsan-
waltschaft unterliegt der gerichtlichen Entscheidung im Zwischen- und
Hauptverfahren. Der Richter unterliegt der Kontrolle im Rechtsmittel-
und Rechtsbehelfsverfahren. Das Gutachten des Sachverständigen
bedarf der selbstverantwortlichen Übernahme durch das Gericht. Das
Kontrollsystem dient dem Schutz des Beschuldigten vor falschem
Gebrauch der Strafverfolgungsgewalt. Es funktioniert nur, wenn jedes
Organ an der ihm zugewiesenen Stelle sachgemäß, fremd- und selbstkri-
tisch handelt. Eine Gefährdung des Systems ergibt sich aus der Fronten-
bildung zwischen Verfolgungs- und Abwehrseite, zwischen den zur
Durchsetzung des Strafanspruchs berufenen Organen und dem Beschul-
digten und seinem Verteidiger. Daraus ergibt sich eine Strafverfolgungs-
einheit, d,ie die Gefahr des Uberspringens von Verfolgungsmängeln in

5 Zum Stand des Spurenaktenproblems s. mein Lehrbuch Strafprozeß 4. Aufl. 1984,

S.231.
6 Die Gefahr der Abhängigkeit des Pflichtverteidigers vom Gericht ist durchaus ernst

zu nehmen. Zu dem Vorschlag, die Bestellung zwar vom Vorsitzenden anordnen, jedoch
von einem Anwaltsgremium durchführen zu lassen, vgl. mein Lehrbuch S.215.
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 917

sich birgt. Jedes Kontrollorgan m u ß seine Selbständigkeit und Unabhän-


gigkeit gegenüber dem tätig gewordenen Organ wahren und sichern.
Das gilt auch für das Verhältnis Staatsanwalt-Richter. Die berufliche,
räumliche und personale N ä h e kann zu einer ungenügenden Kritik
führen. D e r in manchen Bundesländern geübte Wechsel von Staatsan-
waltschaft zum Gericht fördert sicherlich die Kenntnis der beiderseitigen
Aufgaben, kann aber auch zu einer bedenklichen Annäherung der
beiden gesetzlich scharf geschiedenen Aufgaben führen. D i e richterliche
Kontrolle kann selbstverständlich nur Richtern überlassen werden. Sie
fördert einerseits das Verständnis für die Aufgaben des vom Rechtsmittel
oder Rechtsbehelf betroffenen Richter, hindert andererseits aber auch
die Loslösung von dessen Vorstellung und die innere Öffnung gegen-
über dem Vorbringen des Beschwerdeführers. Gerade das zu Anfang
erläuterte Wiederaufnahmeverfahren zeigt, daß dieser Ausgleich oftmals
nicht gelingt.
Die Zwitterstellung, in die der Sachverständige durch die Kennzeich-
nung als „Richtergehilfe" hineingerät, verdunkelt die Tatsache, daß der
Sachverständige nicht anders als der Zeuge Beweismittel 7 ist. Als Beweis-
mittel unterliegt er der richterlichen Beurteilung. Ist der Gutachter
ständiger Berater des Gerichts, erhält er unter Umständen als Haus-
oder gar Wunschsachverständiger 8 ein verhängisvolles Ubergewicht.
Dieser wird allzu leicht zum Strafverfolgungsorgan.

3. Gefährdungen für die Wahrheitsfindung können vom Richteramt


selbst ausgehen. D e m Strafrichter sind äußerst schwere Aufgaben zuge-
teilt, die zudem in verschiedene Richtungen weisen. E r soll dem Straf-
recht Wirksamkeit verleihen. E r soll die dem Strafrecht zugrunde lie-
gende Gesellschaftstechnik zum Ausdruck bringen. E r soll seine Auf-
gabe mit M u t und Engagement erfüllen. Gleichzeitig soll er dem vor ihm
Stehenden gerecht werden. E r soll ihm gegenüber die Unschuldsvermu-
tung und den Grundsatz in dubio pro reo zur Geltung bringen. E r soll
vorsichtig und objektiv sein. Diese Doppelaufgabe hat er in einer
Gerichtswelt zu verwirklichen, in der er ständigen Widerstand erfährt.
E r erlebt den Beschuldigten, der die Tat bestreitet und Ausflüchte sucht,
den Verteidiger, der Schwierigkeiten über Schwierigkeiten häuft. E r
muß erleben, wie der von ihm für schuldig Gehaltene dem „gerechten
U r t e i l " entzogen werden soll. Seine Erfahrungen können ihn zu einer

7 Bedenken gegen die Kennzeichnung des Sachverständigen als Richtergehilfe in mei-

nem Lehrbuch des Strafprozesses § 421.


8 Die Gefahr gegenseitiger Anpassung besteht vor allem bei dem mit dem Gericht

verbundenen Amtsarzt. Dazu Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß Bd. II, S. 131 ff, und an
vielen anderen Stellen. Vgl. ferner Heinz, Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gut-
achten 1982.
918 Karl Peters

Grundeinstellung führen, die, soweit es eben möglich ist, sich über


Einwände und Gegenvorstellungen hinwegsetzt, sie als „Schutzbehaup-
tungen" abtut, und somit eine für den Beschuldigten unüberwindliche
Haltung einnimmt. Das Gewicht negativer Erfahrungen darf nicht
gering eingeschätzt werden. Es führt zur Verkürzung von Gegenerwä-
gungen und zum Uberspringen von Beweislücken und zu voreiligen und
ungesicherten Schlüssen. Gestützt wird diese Haltung durch die Vorbe-
lastung, durch die Anklage und den Eröffnungsbeschluß. Die Abwehr-
mechanismen werden von dem Gedanken der Funktionsfähigkeit der
Justiz mitgestützt.
Erfahrungen bedeuten aber, so oft sie auch gemacht werden, nicht
mehr als Erkenntnisse in Einzelfällen, unter die aber der gerade neu zu
behandelnde Fall unter Umständen gerade nicht einzureihen ist.
Es gehört sicherlich zu den schwierigsten Persönlichkeitsleistungen
des Richters, seine früheren negativen Erfahrungen bei dem neuen Fall
nicht zum Zuge kommen zu lassen, sondern ihn unter Anwendung der
Schutz- und Verteidigungsgrundsätze objektiv, d. h. nach Maßgabe der
kriminalistischen Erkenntnisse und Erfahrungen zu beurteilen und sich
dem non liquet zu beugen. Ohne diese Grundeinstellung ist ein zuverläs-
sig abgesichertes Urteil zuungunsten des Angeklagten nicht zu verhindern.
Diese Aufgabe ist um so weniger leicht zu erfüllen, als die Juristenaus-
bildung in aller Regel keine Kenntnisse der Kriminalistik und der
Aussagepsychologie vermittelt.
Die Abwehr der sich hier ergebenden Gefahren erfolgt durch Stellung
von Beweisanträgen, durch die Rüge im Falle deren Ablehnung, durch
die Aufklärungsrüge und durch Geltendmachung der Verletzung der
Unschuldsvermutung mangels Stichhaltigkeit der zu ihrer Widerlegung
vorgebrachten Gründe. Soweit eine Verletzung der Grenzen der freien
Beweiswürdigung in Betracht kommt, ist auf spätere Erörterungen zu
verweisen.

4. Die „Überbetonung des Formalen" führt zu einer eingeengten


Berücksichtigung des Inhaltlichen. Selbstverständlich gibt es Formvor-
schriften, die dem Schutz des Beschuldigten und der Ermöglichung eines
gesicherten und geordneten Verfahrens dienen. Durch eine formal kor-
rekt durchgeführte Strafverfolgung ist aber noch keineswegs ein gerech-
tes, sachentsprechendes Urteil gewährleistet. Neben der Beobachtung
der Formen liegt dem Gericht die Sorge für die inhaltliche Richtigkeit
der Feststellungen ob. Der Jurist ist immer wieder in der Gefahr -
vielleicht gerade aus Gründen der Skepsis - , das Hauptgewicht auf ein
formal ordnungsgemäß durchgeführtes Verfahren zu legen. Diese Ver-
suchung tritt vor allem an die Revisionsgerichte heran. Dazu kommt,
daß der Gedanke der Leistungsfähigkeit der Gerichte Tendenzen zur
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß

Aufrichtung von Schranken führt, die eine Ausdehnung der formalen


Bestimmungen über die Notwendigkeiten der gesetzlichen Auslegung
hinausführt. Damit wird die Rechtsposition des Beschuldigten und des
Verteidigers im Hinblick auf die sachlichen Erfordernisse einer Urteils-
überprüfung eingeschränkt. Zu denken ist hier an eine formal vielleicht
noch mögliche Ablehnung von Anträgen und Anregungen, an die vom
Gesetz aus keineswegs erforderte, möglicherweise sogar ausdehnend
aufgestellte Anforderungen an die Revisionsbegründung wegen Verfah-
rensverletzung oder an die weite Ausdehnung der Beschlußverwerfung
der Revision als unbegründet (§ 349 II StPO) oder die Verlagerung des
Schwerpunktes des Wiederaufnahmeantrags in das Zulassungsverfahren.
Solche Verkürzungen des Interesses des Beschuldigten sind für das
Bestehenbleiben von Fehlurteilen von erheblicher Bedeutung9.

5. Die „Unterschätzung der Gegenkräfte" eröffnet Beweisverfälschun-


gen den Weg zum Erfolg. Zwar findet in der Praxis die Tatsache, daß
durch falsche Zeugen und sonstige gefälschte Beweismittel dem Beschul-
digten oft genug geholfen wird, um ihn der Bestrafung zu entziehen,
durchaus Beachtung. Der umgekehrte Fall, daß der Beschuldigte durch
falsche Zeugen und gefälschte Beweisstücke zu Unrecht belastet wird,
findet dagegen keine genügende Berücksichtigung. Von außen her
bewußt falsch gelenkte Prozesse, auch Strafprozesse zuungunsten des
Beschuldigten, sind keineswegs eine Seltenheit. Ich kann mir schwer
vorstellen, daß gerade nur mir während meiner dreizehnjährigen staats-
anwaltschaftlichen Tätigkeit und meiner langen wissenschaftlichen
Arbeit solche schwerwiegenden Fälle begegnet sind.
Auffallend wenig befaßt sich die neuere Kriminologie, im Gegensatz
zu der älteren Lehre10, mit der bewußt falschen Aussage und dem
„Drauflosreden" im Prozeß. Die Aussagepsychologie behandelt das
Thema ausführlich nur im Bereich der Sittlichkeitsdelikte, vor allem bei
der Aussage von Kindern, Jugendlichen und Frauen. Das Problem der

' Zu beachten ist, daß Aufhebungen von Urteilen aus formellen Gründen in der neuen
Hauptverhandlung zu anderen tatsächlichen Feststellungen führen können. Uber die
Folgen revisionsgerichtlicher Zurückverweisungen in die Tatsacheninstanz auf Grund von
formalen Verletzungen vgl. die instruktive Arbeit von Haddenhorst, Die Einwirkung der
Verfahrensrüge auf die tatsächlichen Feststellungen im Strafverfahren. Eine Untersuchung
anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung eines Jahres 1971. Auf diesem Wege
kommt es zu Freisprüchen, die im Wiederaufnahmeverfahren kaum zu erreichen wären.
10 Vgl. etwa Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung 1923, 3. Aufl.,
S. 72, 74, 76; Exner, Kriminologie 1949, 3. Aufl., S.211; Plaut, Der Zeuge und seine
Aussage im Strafprozeß 1931, S.35, 37, 134 ff; Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S. 463—469.
Von Sauer und von Weber sind zahlreiche Doktorarbeiten zur Erforschung der Meineids-
kriminalität veranlaßt worden. Von besonderem Wert auch heute noch die von Exner
angeregte Arbeit von Teichmann, Meineidige und Meineidssituationen 1925.
920 Karl Peters

falschen Aussage findet fast nur beim Geständnis nähere Behandlung.


Ein ungenaues Bild ergeben die Verurteilungsziffern bei bewußt falschen
eidlichen und uneidlichen Aussagen (1983: noch nicht 3000 bei etwa
zwei Millionen Gerichtsverfahren). Aber die günstigen Verhältniszahlen
trügen. Vor etwa 80 Jahren hat ein Staatsanwalt allein in Strafsachen die
Zahl der geleisteten Meineide auf jährlich über 40000 geschätzt unter
Annahme eines (eher zu gering angenommenen) Verhältnisses von 2 zu 1
(Strafprozeß zu Zivilprozeß auf insgesamt jährlich 60 000 Meineide11).
Der Reichsjustizminister Emminger hat in einer Sitzung des Straf-
rechtsausschusses des Reichstags im Jahr 1928 die Anzahl mit schät-
zungsweie 35 000 Meineiden beziffert12. Ich selbst kam in meinem Buch:
Zeugenlüge und Prozeßausgang (1939) zu dem Schluß, daß Tausende
von Prozessen jährlich infolge von bewußt falschen Aussagen zu fal-
schen Ergebnissen kommen (S. 172). Liegen die Schätzungen auch Jahr-
zehnte zurück, so besteht keinerlei Grund zur Annahme, daß die
bewußt falschen Aussagen heute eine günstigere Bewertung zulassen. Im
Gegenteil muß angesichts des ethischen Verlusts und der unverkennba-
ren Ausbreitung von Lüge, menschlicher Rücksichtslosigkeit und der
Verringerung der Autorität der Justiz eine Zunahme der Unwahrhaftig-
keit vor Gericht angenommen werden.
Auffallend ist, welche Rolle der Zeugenbeweis in der Rechtspflege
spielt, obwohl seit Jahrzehnten allgemein der Zeugenbeweis als die
schlechteste Art des Beweises gilt. Das liegt wohl sicherlich daran, daß
diese Beweisart unentbehrlich ist. Offenbar ist auch die Meinung in
Theorie und Praxis verbreitet, daß „Lügen nur kurze Beine" haben und
daß sie in Verfahren meist aufgespürt würden13. Weiterhin wird die
Problematik der bewußt falschen Aussage vereinfacht. Als Beispiel sei
eine zeitlich weit zurückliegende Äußerung eines Richters angeführt14.
Er meint: „Die Fälle, in denen ein Schwörender absichtlich die Wahrheit
verfälscht, sei es, daß er wahre Tatsachen bestreitet, sei es, daß er
Umstände, die zur Beurteilung des von ihm geschilderten Gesamtvor-
gangs von Erheblichkeit sind, unterdrückt, oder solche Behauptungen
bei der Darstellung eines Vorfalls hinzudichtet, sind unter psychologi-
schen Gesichtspunkten von geringer Bedeutung. Dieses Verhalten ist im
allgemeinen entweder mit der Verbundenheit oder mit der Gegensätz-
lichkeit zu erklären, die zwischen den Interessen des Aussagenden und

11 Kloß, Eine Zählung der Zeugenmeineide im Strafprozeß Monatsschrift für Krimino-

logie Bd. 2 (1906) S. 667 ff.


12 Vgl. den amtlichen Bericht über die 53. Sitzung des Strafrechtsausschusses vom

2 7 . 1 . 1 9 2 8 , S.2.
13 Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S. 467.

14 Unger, Art. Eidesdelikte HdK l.Aufl. 1933, S.258 (259).


Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 921

den Belangen der sonst am Verfahren beteiligten Personen besteht."


Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß die wirklichen Interessen der
Aussageperson häufig im dunkeln bleiben. Sodann läßt sich das Problem
der bewußt falschen Aussage nicht allein mit der These der Interessen-
hilfe bewältigen. Schließlich ist es auch nicht richtig, von einem psycho-
logisch untergeordneten Problem zu sprechen.
Die Ursachen der bewußt falschen Aussagen im Strafprozeß sind
vielfältig. Die Wahrhaftigkeit ist eine Haltung und Einstellung von
hohem sittlichen Rang. Sie setzt voraus, daß der einzelne Mensch sich zu
ihr überhaupt geneigt fühlt. Die äußerst geringe Wahrscheinlichkeit,
wegen einer unwahren Aussage vor Gericht gestellt zu werden, mindert
die Schwelle zur Unwahrhaftigkeit 15 . Der Zeuge hat nicht selten eine
prozeßbeherrschende Stellung. Er kann Macht ausüben. Er kann das
Gericht zum Spielball machen. Er kann den Richter unter Umständen
lenken, wohin er will. Mit der Aussage zuungunsten eines Beschuldigten
kann er sehr persönliche Ziele verfolgen. Vorteile jeglicher Art, Vorbe-
reitung oder Unterstützung von Zivilprozessen, Beseitigung einer
unliebsamen Person, Rache, Abneigung, Sich-wichtig-Tun, Lust am
Machtspiel, Kritiklosigkeit und Kombinationsfreude können so zu
bewußt falschen oder doch wenigstens zu ungesicherten Aussagen füh-
ren16. Für den Außenstehenden sind sowohl motiviertes als auch motiv-
loses Handeln des Aussagenden schwer erkennbar und nachvollziehbar.
Der Gedanke, daß jemand als Zeuge zu ungunsten des Beschuldigten
bewußt im Prozeß falsch aussagt, somit andere schädigt, widerspricht
den richterlichen Vorstellungen. Bei manchen Fällen besteht eine Paral-
lele zu dem falschen Geständnis.
Der Falschaussagende kann Einzelgänger sein. Es können sich aber
auch mehrere zusammentun. Dabei kann der wirklich Treibende im
Hintergrund bleiben. Es können aber ganze Gruppen von bewußt falsch
Aussagenden sich zusammentun 17 . Dabei braucht der Zusammenhang
für den Beurteilenden keineswegs offenzulegen. Die Aussagen von
Gruppenangehörigen werden nicht selten durch Verfälschungen anderer
Beweismittel unterstützt.
Zuweilen liegen die Gefahrenpunkte offen. Das ist z. B. der Fall bei
Mitbeschuldigten. Die Rechtsauffassung, daß die Rolle des Mitbeschul-

15
N a c h Kloß a . a . O . und Heindel, Berufsverbrecher, kommt auf 100 Meineide eine
Verurteilung. Vgl. Sauer, Kriminalsoziologie 1933, S.465 Anm. 1.
16
Zur Lüge im Strafprozeß Bahrs, Die Vulgärlüge in der forensischen Praxis; K. Peters,
Zeugenlüge und Prozeßausgang 1939; K.Peters, Strafprozeß 1984, S . 3 8 3 f f ; Plaut, Der
Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß 1931; Seelig, Schuld-Lüge-Sexualität 1933;
Teichmann, Meineidige und Meineidssituationen 1925.
17
Zur Gruppenaussage vgl. mein Buch: Zeugenlüge und Prozeßausgang; ferner meinen
Strafprozeß S.406, 408.
922 Karl Peters

digten von der Sache her festliegt und nicht durch prozessuale Handlun-
gen (Abtrennung, Verbindung) geändert werden kann (materielle
Beschuldigtenstellung), dient dazu, zu verhindern, durch Rollenvertau-
schung einen Beschuldigten zu einem Zeugen zu machen und ihm damit
den Schein eines vom Gesetz als unbeteiligt angenommenen Beobachters
zu verleihen18.
Nicht selten ergeben sich die Hintergründe erst im Laufe des Verfah-
rens. Dabei ist es vor allem die Aufgabe der Verteidigung, die Zusam-
menhänge aufzuklären. Das kann unter Umständen zu Konflikten mit
Gericht und Zeugen führen. Aber die Verteidigung macht es unter
Umständen nötig, daß der Verteidiger die Interessen des Zeugen und
angeblichen Opfers zurückstellt.
Ist der Gruppenzusammenhang dargetan, so wird die Mehrheit der
Aussagen zu einer Einheit. Dieser Umstand ist von äußerster Wichtig-
keit. Ergeben sich bei einem oder gar mehreren zusammengehörigen
Zeugen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Aussagen oder werden sie gar
der Unwahrheit überführt, so bricht der Wert der Aussagen der ganzen
Gruppe zusammen. Das sollte eigentlich ganz klar sein. Tatsächlich'
verfahren Gerichte aber anders. Es werden die bedenklich gewordenen
Zeugen einfach ausgeschieden und man stützt sich auf die übrigen, oder
aber man erklärt die Unrichtigkeiten für belanglos, da sie nicht das
Kerngeschehen, sondern nur Randfragen betreffen.
Beide Wege sind nicht gangbar. Das einfache Beiseiteschieben des
einen oder anderen Zeugen der Gruppe übersieht die Zusammengehö-
rigkeit. Die Trennung von Kern- und Randgeschehen ist nicht selten
willkürlich, da es keineswegs eindeutig ist, was zu dem einen oder dem
andern gehört. Im übrigen zeigt die Verfolgung von Meineiden und
bewußt falschen Aussagen, daß der Unwert der Aussage in aller Regel
vom „Rand" aus erkannt wird, da hier nicht selten der Sachverhalt
nachprüfbar ist.
Als ein Beispiel völlig verfehlter Einstellung des Tatrichters (große Strafkammer), des
Bundesgerichtshofs als Revisionsgericht, der Wiederaufnahmerichter und des Bundes-
verfassungsgerichts sei auf folgenden, jüngst abgelaufenen Fall verwiesen: Zwei in
Sozietät arbeitende Rechtsanwälte werden von zwei Ehepaaren und mit ihnen verbun-
denen vorbestraften Randzeugen verschiedener Straftaten bezichtigt. Beide Angeklag-
ten werden verurteilt. Beide legen Revision ein. D e r B G H hebt beide Urteile auf. Das
Verfahren gegen den einen Anwalt bleibt beim ursprünglichen Landgericht, das andere
wird an ein anderes Landgericht verwiesen. Das Landgericht A verurteilt den einen
Anwalt erneut. Es scheidet zwar das hauptbelastende Ehepaar aus. Die Revision gegen
dieses Urteil hat nur im Strafmaß Erfolg. Das Landgericht B spricht den Sozius frei. E s
hält auch nach eingehender Untersuchung das andere Ehepaar für unglaubwürdig. Das

18 Zum Problem der Prozeßstellung des Mitbeschuldigten und dem dazu erschienenen

umfangreichen Schrifttum s. meinen Strafprozeß 1985, § 4 2 1 1 .


Fehlerquellen und Rechtsanwenduqg im Strafprozeß 923

Wiederaufnahmeverfahren des verurteilten Rechtsanwalts bleibt ergebnislos. Die über-


raschende Begründung geht dahin, daß auch, wenn beide Ehepaare unglaubwürdig
wären, noch immer Indizien vorhanden wären. Hier wird in krasser Weise der
Gruppenzusammenhang außer acht gelassen. Es fehlt die notwendige Beweisabsiche-
rung. D i e Entscheidung der Wiederaufnahmegerichte ist willkürlich, zumal mit Sicher-
heit gesagt werden kann, daß im Falle der Erkennung der Unglaubwürdigkeit der vier
Hauptzeugen niemals Anklage erhoben worden wäre. D i e Verfassungsbeschwerde
blieb erfolglos.

Es gibt Prozeßsituationen, in denen eine rechtsstaatlich gesicherte


Uberzeugung nicht mehr zu gewinnen ist. Diese Situation herauszuar-
beiten, wird die Aufgabe künftigen Beweisrechts sein. Es ist nicht zu
verkennen, daß diese Forderung eine Annäherung an das frühere System
der negativen Beweisregeln bedeutet. Aber diese sind ja nicht aus der
Luft gegriffen worden, sondern beruhen auf menschlichen Erfahrungen,
die im Falle der Verurteilungsgefahr zu warnenden Vorsichtsregeln
geworden sind und auch heute noch insoweit ihre Geltung haben.
6. Die Auskunftsperson ist häufig ein „unbekanntes Wesen". Das
Gericht weiß oft nichts oder nur sehr wenig von der Persönlichkeit des
Zeugen, von seiner Lebenshaltung und Lebenseinstellung, von seiner
allgemeinen und speziellen Wahrhaftigkeit, von seinem Aussagewillen,
seiner Aussagebereitschaft und seiner Aussagefähigkeit. Es kennt nur
unvollkommen die Situation, aus der die Aussage entstanden ist. Eine
Vermutung der Zuverlässigkeit eines Zeugen gibt es nicht". Die Persön-
lichkeitsrechte des Zeugen verbieten, falls nicht besondere Gründe sich
für die Notwendigkeit ergeben, keine Durchleuchtung.
Das Gericht ist auf eine Summierung von selbständigen Beweisum-
ständen, deren Einzelüberprüfung kein Anlaß zur Skepsis bietet, ver-
wiesen. Es bedarf der Unterstützung durch die kritische Arbeit der
Verteidigung. Unsicher ist es, sich auf ein persönliches „natürliches"
Gefühl bzw. auf den „Eindruck" oder auf „Alltagstheorien" 20 zu verlas-
sen. Es gibt warnende Beispiele, in denen der Eindruck über die völlige
Unzuverlässigkeit des Zeugen und die Unwahrhaftigkeit seiner Aussage
hinweggetäuscht hat. Der geübte Verfälscher der Wahrheit findet nicht
nur im Alltagsleben, sondern auch vor Gericht Glauben. Die Aussage als
solche muß sich als gesichert erweisen. Eindruck und Alltagstheorien
können nur in negativer Hinsicht eine Warnung sein, dem Zeugen

" Die Warnungen von Bender, Tatsachenforschung vor Gericht 1981, Bd. I im Vor-
wort, und von Döhring, Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß 1964, S . 2 , sollten
nicht ungehört bleiben.
20 Auch für den Strafprozeß wichtige Fragen behandelt Birkle, Richterliche Alltags-
theorien im Bereich des Zivilrechts - mit einer Analyse amtsrichterlicher Urteile in
Zivilsachen zu richterlichen Theorien für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugen-
aussagen 1984 - .
924 Karl Peters

Vertrauen zu schenken, sofern nicht aus der übrigen Beweislage seine


Darstellung gesichert ist.
Ist schon der wenigstens den Prozeßbeteiligten nach seiner äußeren
Person bekannte Zeuge häufig ein Unbekannter, so bleibt es erst recht
derjenige Zeuge, der seiner Person nach dem Gericht, dem Verteidiger
und dem Beschuldigten vorenthaltene Zeuge. Hier liegt die Problematik
des V-Mannes 21 . Uber seine kriminalpolizeiliche Verwendung sollte es
keinen Streit geben. Eine andere Sache ist aber seine verdeckte Verneh-
mung als Zeuge im Strafprozeß. Sie läßt keine wirksame Verteidigung
zu. Sie stellt mangels hinreichender Klärung der Persönlichkeit und ihrer
Beziehungen zu dem Beschuldigten eine Gefährdung einer zuverlässigen
Sachverhaltsfeststellung dar. Von hier aus ist die rechtliche Lösung
(Unzulässigkeit einer gefahrvollen Beweislage) zu finden. Rechtliche
Grundfragen sind: uneingeschränkte Verteidigung, Unzulässigkeit des
Rollenaustausches (Zuverlässigkeitsbeurteilung maßgeblich in der Hand
der Polizei), Verstoß gegen die Unmittelbarkeit und Vollständigkeit der
Hauptverhandlung.

7. Eine falsche Aussage entsteht nicht nur originär bei der aussagenden
Person, sondern kann auch durch „fehlerhafte Vernehmungsmethoden"
verursacht werden. Falsche Geständnisse sind häufig die Folge des
Verhaltens des Vernehmenden. Dabei ist nicht allein an die schwerwie-
genden Mittel des § 136 a S t P O zu denken. Schon der bloße Verfahrens-
druck kann die Aussage fehlleiten. Bemerkungen und Gesten des Ver-
nehmenden können die Richtung der Aussage bestimmen. Falsche
Befragungen, etwa Fangfragen und Suggestivfragen, ironische Bemer-
kungen, am falschen Platz zum Ausdruck gebrachte Zweifel können den
Aussagenden und seine Aussage negativ beeinflussen. Bei derartigen
Verhaltensweisen kommt es beim Beschuldigten zu falschen Geständnis-
sen und bei Zeugen zu unrichtigen Bekundungen. Es wird bald mehr,
bald weniger ausgesagt, als es den Tatsachen entspricht. Es kommt zu
falschen Belastungen, aber auch zu ungenügenden Entlastungen. Ver-
nehmungen können den Beschuldigten und den Zeugen so bedrängen,
daß es zu falschen Aussagen kommt. Der Vernehmende ist sich dessen
vielfach gar nicht bewußt. U m so weitreichender sind die Folgen.
Das Aussageergebnis ist nicht nur eine Folge der Persönlichkeits-
struktur des Aussagenden und des persönlichen Fertigwerdens mit der
Vernehmenssituation, sondern auch der Persönlichkeitsstruktur des
Aussageempfängers und seiner Vernehmungsfähigkeit. Erschwert wird
die Lage auch hier dadurch, daß der zu Vernehmende dem Vernehmen-
den oftmals ein unbekanntes Wesen ist.

21 Zum Stand der V-Mann-Problematik s. meinen Strafprozeß.


Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 925

Wie sehr Aussagen von der Vernehmungsperson abhängen, zeigt


deutlich ein Fall, in dem ein geistig schwacher Beschuldigter vor densel-
ben Polizeibeamten dreimal gestand, während er vor anderen Beamten
dreimal die Geständnisse widerrief. Er wurde in der Hauptverhandlung
trotz sonstiger fehlender Beweise auf Grund der Geständnisse wegen
Doppelmordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt22. Das offen-
sichtliche Fehlurteil ist weder im Grundverfahren noch im Wiederauf-
nahmeverfahren zu beseitigen gewesen. Auch Gnadenanträge waren
ohne Erfolg. Einmal gemachte Falschaussagen zu Ungunsten des
Beschuldigten sind in aller Regel nicht mehr aus der Welt zu schaffen.
Es ist die Aufgabe des Vernehmenden, sich der Gefahr der Fehllen-
kung einer Aussage bewußt zu sein. Er bedarf der Kenntnis der Verneh-
mungsmethoden und der psychologischen Grundlagen der Aussageent-
stehung. Das erfordert angesichts des natürlichen Bestrebens, den Straf-
prozeß zu einem erfolgreichen, d. h. verurteilenden Erkenntnis zu füh-
ren, Zurückhaltung und Selbstzucht der Richter. Eine Hilfestellung
durch den Verteidiger ist nur wenig aussichtsreich. Sicherlich kann er
Fragen beanstanden, aber er kann die möglichen Auswirkungen, die
zudem auch für ihn schwer zu übersehen sind, nicht mehr ungeschehen
machen. Als Folge solcher Beanstandungen kommt der Klimaver-
schlechterung im Verfahrensgang eine auch für den Betroffenen ungün-
stige Wirkung zu.
8. Die Auswirkungen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung
können verhängnisvoll sein, wenn deren sachgebotene Schranken nicht
beachtet werden. Die Beweiswürdigung ist mehr als subjektives Meinen
und Glauben23. Sie unterliegt vom Objektiven her zu gewinnenden
Schranken. Scheinschlüsse und Lückenüberspringung widersprechen
der Forderung nach rationaler Begründung. Eine Folgerung darf nicht
nur möglich sein, sie muß vielmehr auf Grund kriminalistischer
Erkenntnisse und Erfahrungen rechtsstaatlich hinreichend abgesichert
sein. Nicht weniger als das Vorhandensein bestimmter Indizien ist das
Fehlen naheliegender objektiver Umstände von Bedeutung. Ein durch-
gearbeitetes System der Beweiswürdigung ist aus rechtsstaatlichen, aber
auch menschlichen Gründen erforderlich. Die Beweiswürdigung bedarf
der Inbezugstellung zu anerkannten kriminalistischen Erkenntnissen
und Erfahrungen. Die subjektive Uberzeugung bedarf eines objektiven
Fundaments. Die Beweiswürdigung ist ein objektiv-subjektiv gemisch-
ter Vorgang.

22 Zu diesem Fall eingehend Peters, Justiz als Schicksal, 1979, S. 92 ff; Wasserburg,
Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1984, S. 361 ff.
23 Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur freien Beweiswürdi-

gung ist des näheren in meinem Strafprozeß S. 644 ff dargestellt.


926 Karl Peters

Wenn nicht alles täuscht, wird in der höchstrichterlichen Rechtspre-


chung in neuerer Zeit eine sachliche Begründung der freien Beweiswür-
digung gefordert. Revisionen, die sich auf fehlerhafte Beweiswürdigung
stützen, sind jedenfalls nicht mehr von vornherein aussichtslos.

III.
Es ist versucht worden, anhand einiger beispielsweise aufgezählter
Fehlerquellen die Notwendigkeit der Beachtung bei der Rechtsanwen-
dung und Rechtsauslegung darzutun. Auch der Gesetzgeber muß bei der
Einführung von Neuerungen bedenken, ob er damit nicht die Gefahr
fehlerhafter Urteile erhöht. Was hier im Hinblick auf die Sachverhalts-
feststellung an Problematik aufgezeigt ist, würde sich an dem Thema:
„Persönlichkeitsfeststellung und Prognoseentscheidung" noch in einem
erhöhten Maß darlegen lassen.
Freilich läßt sich die Frage nicht umgehen, ob zu hohe Anforderungen
an die Beweissicherheit nicht zu einer Lähmung der Strafrechtspflege
führen könnten. Es könnten das Engagement für das Strafrecht und der
Mut zum strafrechtlichen Richten verlorengehen. Man könnte den Weg
zum Urteil durch das Gestrüpp der Fehlermöglichkeiten nicht mehr
finden.
So ernst solche Einwände zu nehmen sind, so sind sie doch nicht
durchschlagend. Es kann nur gut sein, wenn der Strafrichter die Schwie-
rigkeiten seines Amts in vollem Umfang sieht. Es kann nicht schaden,
wenn der Strafrichter das Defizit der strafprozessualen und allgemein
strafrechtlichen Ausbildung spürbar empfindet. Es ist überdies sogar
notwendig, daß die für die Ausbildung Verantwortlichen erkennen, daß
die rein juristische Ausbildung des Strafjuristen nicht genügt; sie erfolgt
in hohem Maße doch auch durch den Repetitor. Die einzelnen Sparten
juristischer Tätigkeit erfordern verschiedene Kenntnisse. So ergibt sich
die Frage nach getrennter Ausbildung im Laufe der Referendarzeit,
allerdings mit dem Abschluß eines für alle Sparten gültigen zweiten
Staatsexamens.
Die Bedenken, die gegen die „übermäßige Betonung" von Fehlent-
scheidungen geltend gemacht werden, schlagen aber auch im Hinblick
auf grundsätzliche Erwägungen zum Strafrecht und zu seiner Wirksam-
keit nicht durch. So sehr wir bei schweren Delikten bemüht sein müssen,
sie aufzuklären und strafrechtlich zu beantworten, so wenig dürfen wir
die Grenzen, die durch die praktischen Aufklärungsmöglichkeiten einer-
seits und die tragenden verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen
Grundsätze (Freiheit der Persönlichkeit, rechtsstaatliches faires Verfah-
ren, ausreichende Verteidigung und Unschuldsvermutung) andererseits
gesetzt sind, nicht übersehen. Das Strafrecht kann nur anhand einwand-
Fehlerquellen und Rechtsanwendung im Strafprozeß 927

frei überführter Verbrechen zum Ausdruck gebracht werden. Damit ist


die Wirksamkeit des Strafrechts begrenzt. Es bleibt fragmentarisch. In
seiner begrenzten Wirksamkeit bringt es die ethische Grundordnung
unserer Gesellschaft zum Ausdruck. Nichtsichtbarwerden des Verbre-
chens (Dunkelziffer) und Nichtnachweisbarkeit im Verfahren bedeuten
nicht Unwirksamkeit oder gar Verzicht auf das Strafrecht. Uns bleibt
nichts anderes übrig, als uns nach besten Kräften um eine rechtsstaatlich
abgesicherte Strafverfolgung zu bemühen.
Grundprobleme des Beweisverfahrens
CHRISTOS DEDES

A. Grundbegriffe des Beweisverfahrens


I. Die Beweissysteme
1. Einleitung
a) Die historische Entwicklung hat zwei Methoden zur Sachverhalts-
feststellung1 einander gegenübergestellt: Das System der legalen Beweise
und das System der ethischen Beweise2. Der Inhalt eines jeden Systems
ist bis heute nicht in allen Einzelheiten dargestellt worden3. Man begnügt
sich zumeist mit ihrer Gegenüberstellung4. Während das eine dem
Richter Freiheit in der Beweisführung und Beweiswürdigung gibt, ist
das andere durch gesetzliche Regeln gekennzeichnet, die Beweismittel
und Beweiswürdigung bestimmen5.
b) Die genannten Systeme wechseln einander ab6. Auch begegnet man -
jedoch nicht sehr oft - einer gemischten Figur. In der Gesetzgebung ist
zumeist das System der ethischen Beweise übernommen worden.
Der Grund hierfür liegt in der Vielfalt der zu erfassenden Wirklich-
keit, die eine genaue Beschreibung aller einschlägigen Fälle schwierig
oder sogar unmöglich macht7, was zur Abschaffung vorgegebener
Beweisregeln geführt hat8. Auch hat das unaufhörliche Voranschreiten

1 Dedes, Strafverfahrensrecht, 6. Aufl. 1983, S. 265 ff; Vidal-Magnol, Cours de Droit


Criminel II, 1949, S. 887.
2 Preuves légales - preuves morales.

3 Vielleicht wegen der Verschiedenartigkeit der Bestimmungen einer jeden Epoche.

Vgl. Meurer, Beweis und Beweisregel, FS für Oehler, 1985, S. 357 ff, 374.
4 Gerhard Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 5 spricht von Methoden zur
Sachverhaltsfeststellung, vereinzelt aber auch vom Beweissystem, so auf den Seiten 7, 68,
69. Mir erscheint der Begriff Beweissystem zutreffender zu sein. Dazu Gillieroti, L'évolu-
tion de la preuve pénale, SchweizZStr. 60, S. 198 ff. Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl.,
S. 73, spricht von gesetzlichen Beweisregeln.
5 Dedes, op. cit., S. 267; Gillieron, op. cit., S. 198 ff; Patarin, Le particularisme de la
théorie des preuves en droit pénal, im Band Quelques aspects de l'autonomie du droit
pénal, Paris 1956, S. 7ff, 37, 45, 47.
6 Dazu haben gewiß auch andere Gründe beigetragen.

7 Gillieron, S. 199.
8 Nagel, S. 85; vgl. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 1974, S. 449 ff.
930 Christos Dedes

der Technisierung9 zur Eliminierung einer genauen oder auch nur


restriktiven Aufzählung10 von Beweismitteln11 beigetragen, so daß zur
Beweisführung nunmehr auf alle12 Beweismittel13 zurückgegriffen wer-
den kann14. Der Aspekt der Beweismittel wird von Walter15 zwar als eine
von der Beweiswürdigung zu trennende Frage angesehen, aber nicht als
eine solche behandelt; doch bildet die Verwertungsfreiheit den ersten
Teil des „neuen" Beweissystems, dessen zweiter die Würdigungsfrei-
heit16 ist17. Die bereits angeführten Betrachtungen sind auch hinsichtlich
der Würdigung benutzter Beweismittel vorgenommen worden, die von
Fall zu Fall sehr differenziert sein kann.

c) Die parallele Entwicklung der oben genannten Probleme stellt den


Grund dafür dar, daß heute die große Mehrzahl der Gesetzgeber das
System der ethischen Beweise akzeptiert hat, was Freiheit18 für die
Beweisführung19 und Beweiswürdigung20 bedeutet21.

2. Die Benennung der Systeme


a) Die Namensgebung erscheint für beide Systeme nicht immer einfach,
was insbesondere für das im folgenden zweitgenannte System zutrifft.
Gesetzliche Bestimmungen, die das Beweisverfahren regeln, werden

9 Grünwald, JZ 1966, S.489.


10 Nach Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, 1967,
S. 86 fragt es sich, „ob darüber hinaus noch andere Beweismittel anerkannt werden
müssen".
11 Patarin, S. 37, 45, 47.
12 So nun ausdrücklich Art. 179 der griech. StPO.

13 So z. B. der Streit um den Charakter des Tonbandes als Beweismittel.


14 Gillieron, op. cit., S. 198; Patarin, S. 51, spricht von der «double règle de la liberté de

la preuve et la règle de l'intime conviction». Vgl. Lévy-Bruhl, La preuve judiciaire, Paris


1964, S. 47.
15 G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 286 ff.

16 So Art. 427 des französischen Code de procédure pénale. Richtig Meurer, FS für

Oehler, S. 364 ff, 370.


17 Da andererseits das Beweisrecht besonders vom Strafverfahren her wissenschaftlich

untersucht worden ist, . . . wird der Strafprozeß in einem weiteren Umfang als sonst in die
Darstellung mit einbezogen. So treffend Grunsky, S.411.
18 Nur prinzipiell, denn es gibt Ausnahmen unter dem Begriff der Beweisverbote etc.

Vgl. Meurer, S. 360 ff.


" Im Sinne von Verwertungsfreiheit. Verwertungsverbote erscheinen als Ausnahmen
von den Grundsätzen, die das Beweissystem konstituieren, Patarin, S. 54.
20 So auch G. Walter, S. 286, der selbst zugesteht, „daß grundsätzlich jedes Beweis-

thema mit grundsätzlich jedem Beweismittel bewiesen werden konnte". Deshalb braucht
man nicht den Ausweg beim „Recht auf Beweis" (Walter, S. 302 ff) zu suchen. Es gibt
nämlich keine Aufzählung einzelner Beweismittel, keinen numerus clausus, sondern nur
„typische Beweismittel", Walter, S. 303.
21 Dedes, S.267; Patarin, S.37.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 931

ohne Schwierigkeiten als legales Beweissystem gekennzeichnet. Der


Richter hat diesen gesetzlichen Bestimmungen bei der Beweisführung
und Beweiswürdigung zu folgen.

b) Die Abschaffung der Bestimmungen über die (restriktive) Angabe


der Beweismittel und deren Würdigung sowie die positive Erteilung der
Verwertungs- und Würdigungsfreiheit, die das andere System kenn-
zeichnen 22 , werden gewöhnlich als System der ethischen Beweise oder
der freien Beweiswürdigung 23 bezeichnet 24 .
Mit dem Begriff der freien Beweiswürdigung und insbesondere mit
dem W o r t „frei" wird auf die Freiheit des Richters zur Verwertung und
Würdigung der Beweise hingewiesen. Dagegen wird der Begriff
„Beweiswürdigung" verschieden ausgelegt. Die in der Bundesrepublik
Deutschland herrschende Meinung folgt der wörtlichen Auslegung 25 , so
daß die Freiheit nur die i>eweiswürdigung betrifft. Es ist aber unzweifel-
haft, daß das System der freien Beweiswürdigung 26 auch die freie
Beweisführung 27 gewährleisten soll und gewährleistet 28 . In der Lehre
wird beim Gebrauch des Begriffs der freien Beweiswürdigung dann,
wenn er zur Bezeichnung des entsprechenden Beweissystems dient, sehr
oft - zur Vermeidung von Mißverständnissen - betont, dieser Begriff
bezeichne dasjenige Beweissystem, in dem der Richter bei der Beweis-
führung und der Beweiswürdigung frei ist.

c) Das den Begriff des „ethischen Beweissystems" kennzeichnende


Wort „ethisch" 29 läßt - abstrakt gesehen - keine genaue Inhaltsbestim-
mung zu. Der Kenner der historischen Entwicklung versteht darunter
aber die Abschaffung legaler Beweisregeln, die Gewährung einer richter-
lichen Bewegungsfreiheit bei der Beweisführung etc. Das Wort
„ethisch" verdeutlicht insofern die Überlassung der Verantwortung für

22 Beide Freiheiten gehören zum neuen System (siehe oben 1 b, c), Patarin, S. 51.
23 Dieser Begriff wird im deutschen Raum vorgezogen. G. Walter, Freie Beweiswürdi-
gung, 1979, S.3 spricht vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung und kennzeichnet
seine Arbeit als „allgemein verfahrensrechtlich angelegt". Einen vergleichenden Uberblick
gibt Nagel, S. 72 ff.
24 Dedes, S. 267.

25 So z.B. versteht G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S.323ff, den Begriff der

Beweiswürdigung.
26 Es ist auch bemerkenswert, daß das Gesetz von „freier Überzeugung" und nicht von

„freier Beweiswürdigung" spricht. Obwohl Walter dies auf S. 86 ff richtig betont, baut sein
Gedankengang auf der grammatischen Auslegung des Begriffs „Beweiswürdigung" auf.
27 Nobili, II principio del libero convincimento del giudice, 1974, S.38. S. auch in
Spanien, Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozeß, 1979, S. 133 ff.
28 Patarin, S.51; Meurer, S. 364 ff.
2 ' Meiner Meinung nach ist das Wort „ethisch" besser am Platze. Walter S. 69, spricht

von den „moralischen" Beweisen.


932 Christos Dedes

eine geordnete Durchführung des Beweisverfahrens an den Richter.


Dieses Wort spielt insoweit eine wichtige Rolle, als damit Inhalt und
Reichweite der richterlichen Freiheit angegeben werden und klargestellt
wird, daß die Verantwortung von den gesetzlichen Bestimmungen auf
den Richter übertragen ist30. Richtiger scheint nach dem oben Gesagten
der Begriff „ethische Beweise" 31 zu sein, um den Kern des Beweissy-
stems anzugeben 32 . Der Begriff der freien Beweiswürdigung ist dagegen
zutreffender, wenn man nur die eigentliche Beweis Würdigung vor
Augen hat.

d) Man könnte auch den Begriff der freien Beweisführung und Beweis-
würdigung einführen 33 , der das gesamte Beweisverfahren umfassen
würde. Jedoch dürfte dieser Begriff mancherorts als zu weitgehend
betrachtet werden.

II. Die freie Überzeugung

1. Die historischen Grundlagen

a) Die freie Uberzeugung als Interpretation des Begriffs der conviction


intime ist - für unsere Epoche 34 - durch die Gesetzgeber der französi-
schen Revolution geschaffen worden 35 , die die Geschworenenbank ein-
geführt haben. Die conviction intime sollte den Geschworenen 36 die
Möglichkeit geben, zutreffend Recht zu sprechen. Die Geschworenen
waren als nicht-beamtete Richter nicht in der Lage, gesetzliche Bestim-
mungen auszulegen und anzuwenden. Die conviction intime sollte ihnen
diese Möglichkeit gewähren.
Nach Art. 342 37 des Code d'instruction criminelle 38 von 180839 «la loi
ne demande pas compte aus jurés des moyens par lesquels ils se sont
convaincus; elle ne leur prescrit point de règles desquelles ils doivent
faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d'une
p r e u v e . . . La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute

30 Für die Verbindung des Beweissystems mit dem Prinzip der Wahrheitserforschung:

Nobili S. 32, 40, 450 ff.


31 So auch der Titel des Art. 177 der griechischen StPO.

32 Dedes, S.268.
33 Dazu führt die Auffassung von Patarin, S. 51, der von einer zweifachen Regel
spricht, deren Bestandteile die Freiheit der Beweise und die conviction intime sind.
34 In einer älteren Epoche war sie im altgriechischen Recht bekannt. Vidal-Magnol,
Cours de droit criminel II, 1949, S. 886; Gillieron, S.201.
35 Gillieron, S. 198, identifiziert les preuves morales mit der intime conviction.

36 Patarin, S. 37.

37 G. Walter, S. 1 m. w. Nachw.

38 So auch der Inhalt des entsprechenden Artikels des Dekrets von 1791.

39 Zur Entwicklung im Schweizerischen Recht: Gillieron, S. 201 ff.


Grundprobleme des Beweisverfahrens 933

la mesure de leurs devoirs. Avez-vous une intime conviction». Die


conviction40 intime deckt nach dem Wortlaut dieser Bestimmung das
ganze Beweisverfahren ab, denn darunter fallen «les moyens, la pléni-
tude et la suffisance d'une preuve».
b) Es ist also nicht nur die historische Herkunft der conviction intime
(die das System der legalen Beweise ersetzt hat), sondern auch der Text
der entsprechenden Bestimmungen, die uns klar machen, daß die con-
viction intime Beweismittel41, ordnungsgemäße Beweisaufnahme und
Beweiswürdigung42 einschließt43. Die Hervorhebung dieser Punkte, die
sich auf das gesamte Beweis verfahren beziehen, zwingt zu der
Annahme, daß die conviction intime nunmehr das neue Beweissystem44
sein sollte45.

2. Die weitere Entwicklung


Diese anfängliche Figur des „neuen" Beweissystems hatte nicht lange
Gültigkeit.
Erstens, weil die Geschworenengerichte nur einen kleinen Teil der
Straffälle aburteilten, während der größte Teil von den Gerichten mit
beamteten Richtern46 verhandelt wurde, deren Aufgabe eben die Ausle-
gung und Anwendung gesetzlicher Bestimmungen war.
Zweitens, weil die Verpflichtung zur Begründung der Urteile den
Charakter einer pauschalen Begründung überschritten hat, um die Uber-
prüfung durch höhere Gerichte zu ermöglichen47.
Drittens, weil nach fast allgemeiner Ansicht die Sachverhaltsaufklä-
rung nicht dem freien Ermessen der Geschworenen oder Richter unter-
liegt. Die ordnungsgemäße Sachverhaltsaufklärung bildet einen Haupt-
punkt in der Uberprüfung durch die höheren Gerichte und wird hierfür
von erheblicher Bedeutung bleiben48.

40 Über diesen Begriff Levy-Bruhl, La preuve judicidaire, Paris 1964, S.21 ff.
41 Nach Vidal-Magnol II, S. 1043; Patarin, S.37, wird nach dem neuen System die
Zulässigkeit und Würdigung der Beweismittel nicht vorausbestimmt. Vgl. Volkmann-
Schluck S. 136, 146/7.
42 Also alle diejenigen Punkte, die von den Bestimmungen des legalen Beweissystems

geregelt waren, Vidal-Magnol II, S. 1042 Anm. 3; Patarin, S. 37.


43 Walter hat daher auf den Text der beiden Zitate zu Beginn seiner Arbeit nicht genau

geachtet.
44 Von System sprechen: Vidal-Magnol II, S. 1037; Gillieron, S. 198 ff; Patarin, S.51.
45 Dies hat G. Walter, S. 68 ff, übersehen, mit der Folge, daß seine historische Darstel-

lung lückenhaft ist.


46 Eine Sonderfrage stellen die gemischten Gerichte dar.

47 Über die ursprüngliche Figur und die nachfolgende Entwicklung: Vidal-Magnol II,
S. 1043, Anm. 3; Nagel, S. 72ff.
41 Niese, Zur Frage der freien richterlichen Überzeugung, GA 1954, S. 148 ff.
934 Christos Dedes

3. Die Einschränkungstendenzen
Durch diese Aspekte war die weitere Entwicklung vorausbestimmt.
Lehre und Rechtsprechung haben nach den Regeln gesucht, die die
richterliche Tätigkeit bestimmen sollten. Ergebnis dieser Bemühungen
ist die Einschränkung richterlicher Freiheit und die Errichtung von
Grenzen, die dem allgemeinen Rechtsgefühl nach einem geordneten
Verfahrensablauf besser entsprechen. Es ist auffallend, daß diese Ein-
schränkungen ein Phänomen in all den Ländern darstellen, die das
„neue" System übernommen haben. Dies beweist die Notwendigkeit
solcher Prinzipien49, die das Beweisverfahren - wenn auch elastischer -
regeln sollen50.
Die Einschränkungstendenzen sind zwei Richtungen gefolgt: Einer
gemäßigteren, der französischen, die Einschränkungen in der Erweite-
rung der Begründungsanforderungen gesucht hat51. Einer strengeren,
der deutschen, die jegliche Freiheit im Bereich der Beweisführung
negiert und nur im Bereich der Beweiswürdigung eine Art von Freiheit
akzeptiert, deren Charakter allerdings sehr umstritten ist.
Die freie Uberzeugung als Begriff eines Beweissystems ist kein ein-
deutiger Begriff und läßt viele Deutungen zu52. Zur Untersuchung und
Uberprüfung dieser Auffassungen ist die Analyse des Beweisverfahrens
erforderlich, denn die Unterschiede innerhalb der Auffassungen beruhen
auf Kontroversen über die Gestalt des Beweisverfahrens. Vorher sind
aber einige Ausführungen über den Begriff der freien Beweiswürdigung
selbst angebracht.

III. Die freie Beweiswürdigung


1. Die historischen Grundlagen
Die trotz des auch damals erhobenen Widerstands erfolgte Abschaf-
fung des legalen Beweissystems durch die französische Revolution sollte
zu einer völligen Entbindung des Richters von jeglichen Einschränkun-

4
' Gillieron, S. 208, meint, daß damit zum System der legalen Beweise zurückgekehrt
werde.
50
Die Frage wird auch von Patarin, S. 53 ff, behandelt. Er ist der Meinung, daß gewisse
Bestimmungen der wissenschaftlichen Erkenntnis nützlich sein können.
51
Es ist außerdem darauf hinzuweisen, daß, obwohl Art. 342 des Code d'instruction
criminelle von 1808 inzwischen nicht mehr in Kraft ist, Lehre und Rechtsprechung in
Frankreich dennoch die allgemeine Geltung des Prinzips der conviction intime anerkannt
haben. Vgl. Patarin, S.37; siehe aber auch Art. 427 des Code de Procédure Pénale (seit
1958).
52
Eingehende Darstellung bei C. Walter, S. 68 ff.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 935

gen führen. Das einzige, was von ihm verlangt wurde, war die Bildung
einer conviction intime53.
Dieser Gedanke ist für die Geschworenengerichte angemessen, für die
die Abschaffung ja auch erfolgt ist54. Für die übrigen Gerichte geht sie zu
weit, da die Beweisführung und Beweisaufnahme nicht von sämtlichen
Regeln entbunden werden können55.
Auch die Verpflichtung zu einer eingehenden Urteilsbegründung hat
langsam aber sicher zur Einschränkung der anfänglich zu weit gehenden
richterlichen Freiheit geführt56. Am stärksten vertritt diese Einschrän-
kungstendenzen die deutsche Wissenschaft 57 , die den Begriff der freien
Beweiswürdigung geschaffen hat. Die deutsche Lehre hat, wie bereits
erwähnt worden ist, von Anfang an einen eigenen Weg eingeschlagen.
Obwohl alle Gesetzestexte den Begriff der freien Uberzeugung brau-
chen, hat die Wissenschaft den der freien Beweiswürdigung vorgezogen.
Dies hat mehrere Gründe:
Erstens die anfänglich rein subjektive Auslegung des Begriffs der
Uberzeugung.
Zweitens die Ablehnung der Auffassung, wonach der Begriff der
Uberzeugung das gesamte Beweisverfahren erfaßt.

2. Die Ansichten in der deutschen Wissenschaft


Von der deutschen Wissenschaft wird das Beweisverfahren in zwei
oder mehr Bereiche unterteilt, deren wichtigste die Beweisführung und
Sachaufklärung einerseits sowie die Beweiswürdigung andererseits sind.
Im erstgenannten Bereich wird ein Ermessensspielraum mit Aus-
nahme einiger Grenzfälle nicht zugestanden. Vielmehr hat der Richter
die Tat umfassend aufzuklären (Aufklärungspflicht) 58 .
Im zweiten Bereich wird ein solcher Ermessensspielraum angenom-
men, wobei über dessen Ausgestaltung jedoch viele gegensätzliche
Ansichten bestehen. Die deutsche Wissenschaft hat daher den Begriff
der freien Beweiswürdigung vorgezogen, den sie wörtlich auslegt, so
daß er nur die Würdigung der Beweise selbst erfaßt59. Nicht überzeu-

53 Zur historischen Entwicklung: Nobili, II principio del libero convincimento del


judice, 1974, und Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979; auch Kässer, S. 166ff.
54 Patarin, S. 37.
55 G. Walter, S. 69 ff; Kässer, S. 38 ff.
5i G. Walter, a. a. O.
57 Die Reichweite dieses Problems kann man erst erfassen, wenn man die beiden

Arbeiten von Walter und Kässer, S. 57 ff, studiert. Zu den Auffassungen von Peters, Roxin
und Stree vgl. G. Walter, S. 136 ff.
58 Peters, 3. Auflage, S.610; Hahn, Materialien zur StPO I, II (1885/6), S.28, 29, 52 f,
2431, 1900, Fn.5; Köhler, NJW 1979, S.349; Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, §29.
59 Hierin ist meines Erachtens der Grund für die deutsche Auffassung zu finden.
936 Christos Dedes

gend erscheint deswegen die Ansicht, daß dieser Begriff, wie er im


deutschen Recht ausgelegt wird, gleichbedeutend mit der freien Uber-
zeugung60 (der conviction intime der französischen Gesetzgebung) sei61.
Die weitere Untersuchung des Problems hängt daher von der Analyse
der Einzelheiten des Beweisverfahrens ab, die ein Beweissystem abdek-
ken sollen62.

IV. Umfang, Gestalt und Phasen des Beweisverfahrens


1. Der Umfang des Beweisverfahrens
Das Beweisverfahren der Hauptverhandlung beginnt mit der Anfüh-
rung des ersten Beweismittels63 und endet mit dem Beginn der Verkün-
dung64 des Urteils. Es umfaßt also weitgehend die gesamte Verhandlung,
denn außerhalb des Beweisverfahrens stehen lediglich der Aufruf zur
Sache und die Verkündung des Urteils.

2. Die Gestalt des Beweisverfahrens


Das Beweisverfahren wird vom Gesetz als „Verhandlung" bezeichnet.
Es enthält die Einführung der Beweismittel, die Angabe der Beweistatsa-
chen, die Stellungnahme der Prozeßbeteiligten etc.
Die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen setzen voraus, daß
die Beweismittel bereits gesammelt sind und nur ihre Einführung und
Uberprüfung der Verhandlung vorbehalten bleiben. In den meisten
Fällen wird sich jedoch ergeben, daß diese Sammlung infolge mangeln-
der Sorgfalt oder auf Grund fehlender Kenntnisse nicht vollständig ist.
Diese Feststellung hat die Unterbrechung oder Vertagung65 der Sache
und die Fortführung der Verhandlung mit sämtlichen Beweismitteln zur
Folge.
Ein korrektes Beweis verfahren setzt die Einführung der (wichtigsten)
Beweismittel und die ständige Uberprüfung ihrer Vollständigkeit
voraus.

60 So aber wiederum G. Walter, S. 86 ff, obwohl er selbst auf S. 2 von zwei Polen
spricht, zwischen denen das Prinzip der freien Beweiswürdigung angesiedelt sei.
61 So zutreffend Nagel, S. 79.
62
Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S. 73 spricht zwar nicht von einem System,
betont aber, daß der Grundsatz „im ganzen Verfahren und für alle Organe gilt". G. Walter,
S. 350 f, sagt gegen Ende seiner Arbeit: Das Beweisrecht insgesamt, da sich der Grundsatz
freier Beweiswürdigung nicht isoliert von seiner Umhüllung durch das ganze Beweissy-
stem betrachten läßt; vgl. auch Patarin, S.37.
6J So nach Art. 350, 351 der griechischen StPO.

64 Zu dieser Problematik Dedes, Strafverfahrensrecht, 6. Aufl., S. 483, 504.


65 Sie ist nicht immer notwendig.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 937

3. Phasen des Beweisverfahrens


Das Beweisverfahren bietet eine kontinuierliche Abwechslung von
Eindrücken, vorläufigen Urteilen und vorläufigen Überzeugungen, die
den Gang des Verfahrens unaufhörlich abändern. Hierfür gibt es vielfäl-
tige Beispiele: Im Laufe der Vernehmung eines Zeugen wird festgestellt,
daß ein bislang unbekannter Kronzeuge existiert, der vorgeladen und
vernommen werden muß. Die Vernehmung eines weiteren Zeugen
widerlegt bisherige Eindrücke und nötigt zu einer erneuten Uberprü-
fung bereits erhobener Beweise. Die Feststellung einer Tatsache wider-
legt eine bisherige Beweiswürdigung usw. Diese unaufhörliche Abände-
rung" könnte zu dem Schluß führen, daß eine Unterteilung des Beweis-
verfahrens in Teile oder Phasen nicht zu befürworten ist. Trotz aller
Bedenken erscheint eine Unterteilung wegen der Verschiedenartigkeit
der Funktionen einer jeden Phase jedoch nötig und begrüßenswert.
Eine systematische und logische Ordnung des Beweisverfahrens führt
zu folgenden Ergebnissen:
Die Verhandlung über die Beweismittel setzt deren sachgerechte
Sammlung voraus. Die Verantwortung hierfür trägt das erkennende
Gericht. Die Uberprüfung der gesammelten Beweismittel auf Vollstän-
digkeit und ihre eventuelle Vervollständigung stellt nun die erste Phase
des Beweisverfahrens dar.
Die zweite Phase wird durch die Erhebung der Beweise gebildet, die
unter den Grundsätzen der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit, der
Unmittelbarkeit sowie der Konzentration erfolgt67. Sie ist eine der
schwierigsten und wichtigsten Aufgaben innerhalb des Beweisverfah-
rens.
Die dritte Phase wird durch die Würdigung der erhobenen Beweise
gekennzeichnet und als vierte folgt die Phase der Uberzeugungsbildung.
Nach einer anderen Auffassung sind die erste und zweite sowie die
dritte und vierte Phase zu konzentrieren, so daß man zu einer Zweitei-
lung gelangt. Die logische Basis und die funktionelle Verschiedenheit der
vier Phasen sind jedoch ernsthafte Gründe, die für eine Vierteilung
sprechen. Die mit einer zeitlichen Trennung eventuell verbundenen
Schwierigkeiten oder sogar mögliche Überschneidungen der verschiede-
nen Phasen können - wie mir scheint - die Verschiedenartigkeit ihrer
Funktion nicht widerlegen. Die Eigenständigkeit der Problematik jeder
dieser Phasen68 ist übrigens seit geraumer Zeit allgemein anerkannt".

66 Vgl. Grunsky, S. 4 4 7 ff.


67 Zu deren Bedeutung: Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen
Zivilprozeß, 1967, S. 53 ff; Gössel § 2 0 C , § 2 2 A .
68 In Art. 177 der griech. S t P O kann man unterscheiden zwischen a) Feststellung von

Tatsachen, b) Würdigung der Beweise, c) Bildung der Überzeugung. Gössel, § 30, spricht
von freier Beweiswürdigung und Überzeugung.
938 Christos Dedes

V. Ergebnis
1. Die Phasen des Beweisverfahrens
und der Begriff der freien Uberzeugung
a) Die Existenz dieser vier Phasen des Beweisverfahrens ist der Grund
dafür, daß der Begriff der freien Uberzeugung von der Wissenschaft zur
Kennzeichnung des Beweisverfahrens nicht akzeptiert wird. Wer einen
komplexen Beweisverfahrensbegriff bejaht, kann mit dem Terminus der
freien Überzeugung hauptsächlich nur die vierte Phase bezeichnen.
Auch wer einen gemäßigteren Weg einschlägt und eine Zweiteilung des
Beweisverfahrens vornimmt, kann hiermit wiederum nur dessen zweiten
Teil kennzeichnen.
Der Begriff der freien Uberzeugung könnte das gesamte Beweisver-
fahren nur dann wiedergeben, wenn dieses einphasig wäre und die freie
Uberzeugung die Rolle eines allgemeinen Prinzips spielte. Dieser
Gedanke war in der Zeit der französischen Revolution das eigentliche
Motiv für die Übernahme des Begriffs, dergestalt, daß die Wahrheit
nicht durch vorgegebene Beweisregeln gefunden und erzielt werden
kann, sondern auf die Verantwortung und das Gewissen der Richter
gestützt werden soll70.
b) Die Erkenntnis der mit dieser Lösung verbundenen Gefahren hat in
kurzer Zeit zu einer Einschränkung der erteilten Befugnisse geführt71.
Die verschiedenen Phasen des Beweisverfahrens zwingen nun dazu, den
Begriff der freien Überzeugung auf seinen eigentlichen Bereich zu
beschränken, d. h. auf den Bereich, in dem die Überzeugung die wich-
tigste Rolle spielt.
c) Die Unmöglichkeit der Erfassung des gesamten Beweisverfahrens
durch den Begriff der freien Überzeugung hat manche Wissenschaftler
zur Schaffung eines ergiebigeren Begriffes veranlaßt. So ist der Begriff
der freien Beweiswürdigung72 entstanden73. Wir werden uns im folgen-
den diesem Begriff zuwenden.

" So ist zu erklären, daß Aufklärung und Würdigung getrennte Fragen darstellen,
obwohl sie beide dem Bereich der freien Beweiswürdigung unterfallen. Ein Rückgriff auf
diesen Grundsatz ist daher nicht immer „fälschlicherweise" gemacht oder sogar fehlerhaft,
wie dies G. Walter, S. 295, meint.
70
Patann, S.37; Gillieron, S. 199 ff.
71 Eine weitere Einschränkung wird in Frankreich von Patarin, S. 53 ff, gefordert. Vgl.

Levy-Bruhl, S. 49. Für die Schweiz vgl. Gillieron, S. 205 ff.


72 G. Walter behandelt diese Frage nicht, denn er folgt der Ansicht, die für eine

Identifizierung beider Begriffe eintritt.


75 Im Vergleich zum Begriff der freien Uberzeugung deckt die freie Beweiswürdigung

eine zentralere Phase des Beweisverfahrens ab, obwohl sie die Rolle eines allgemeinen
Prinzips nicht so gut erfüllen kann wie die freie Uberzeugung.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 939

2. Die Phasen des Beweisverfahrens


und der Begriff der freien Beweiswürdigung
a) Das System der legalen Beweise hat durch seine Regeln das gesamte
Beweisverfahren abgedeckt, d. h. sowohl die Beweisführung und Auf-
nahme der erlaubten Beweismittel als auch die Beweiswürdigung mit der
nachfolgenden Entscheidungsfindung. Die Abschaffung dieser Regeln
durch das System der freien Uberzeugung schafft den Eindruck einer
völligen Freiheit für alle Phasen des Beweisverfahrens. So entsteht die
Frage nach der Grenze dieser Freiheit innerhalb der einzelnen Phasen.
b) Die Antwort der deutschen Wissenschaft geht dahin, für die erste
und zweite Phase des Beweisverfahrens viele Zulässigkeitsschranken 74
abzuschaffen. Dies bedeutet aber keine eigentliche Freiheit, da die
Verpflichtung des Richters zur Aufklärung der Tat seine Verantwortung
erhöht hat.
c) Im System der legalen Beweise konnte der Richter so vorgehen, wie
es ihm die vom Gesetz vorgenommene Würdigung der Beweise vor-
schrieb75 und allein auf ein Geständnis oder die Aussage zweier Zeugen
sein Urteil stützen. Im System der freien Beweiswürdigung wird dage-
gen (zumindest) auf die sorgfältige Sammlung der wichtigsten Beweis-
mittel entscheidender Wert gelegt76.
d) Die Aufklärungspflicht des Richters findet ihre Grenze in den
Bestimmungen der StPO über die Ablehnung 77 von Beweisanträgen78.
Die Ablehnung eines Beweisantrags muß sich auf diese Bestimmungen
stützen 79 . Die freie Uberzeugung kann dort nur bei sehr spezifischen
Auslegungsproblemen als letzte Stütze, als Richtschnur 80 , wieder eine
Rolle spielen81.
e) Für die dritte und vierte Phase des Beweisverfahrens, die Beweiswür-
digung und die Überzeugungsbildung, genießt der Richter größere
74
Wenn man von einer Abschaffung eines numerus clausus der Beweismittel nicht
sprechen will.
75
Gillieron, S. 199.
76
Deshalb ist der Gedanke einer Trennung der Aufklärungs- von der Würdigungsfrage
angebracht.
77
Art. 333, §2, 334, §2 der griech. StPO und §244 III, IV der deutschen StPO; Gössel
§29B.
78
Grunsky, S.441, demzufolge „ein Beweisantrag nur unter gewissen, sehr engen
Voraussetzungen abgelehnt werden darf".
79
Grünwald, Honig-Festschr., 1970, S. 53 ff.
80
Sie spielt also bei Grenzfällen noch immer eine Rolle.
81
Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S. 73, sagt z.B.: „Der Grundsatz der freien
Beweiswürdigung hat zwar in erster Linie für die Entscheidung Bedeutung, die aufgrund
der Hauptverhandlung ergeht; er gilt aber im ganzen Verfahren und für alle O r g a n e . . . " .
940 Christos Dedes

Bewegungsfreiheit, da die Würdigung der Beweise, mit einigen Ausnah-


men, ihm obliegt. Doch sind auch gegen diese Freiheit manche Stimmen
laut geworden 82 .
f ) Der Beweiswürdigung folgt die Uberzeugungsbildung. Sie ist so eng
mit der Würdigung verbunden, daß sie sehr oft als identisch mit ihr
betrachtet wird. Hierzu verleitet vielleicht auch der Begriff der freien
Beweiswürdigung82".
Die Identifizierung der zwei Phasen scheint mir aus mehreren Grün-
den nicht richtig zu sein, denn
- der systematische Aufbau des Beweisverfahrens erfordert die analy-
tische Figur, d. h. die Differenzierung in Sammlung, Verhandlung,
Würdigung und Uberzeugung;
- die methodische Betrachtung des Beweisverfahrens führt zu dem-
selben Ergebnis, da die Würdigung logische Voraussetzung der
Uberzeugung ist;
- die Uberprüfung der Gerichtsurteile, insbesondere durch das Revi-
sionsverfahren, differenziert zwischen Mangel der Begründung und
mangelhafter Uberzeugung. Die erstere stellt einen verfahrens-
rechtlichen Revisionsgrund dar, während die zweite einen mate-
riell-rechtlichen Grund abgibt;
- die theoretische Unterscheidung der Phasen ist für die Einordnung
der entsprechenden Probleme und folgerichtig auch für ihre Lösung
notwendig.
Diese Feststellungen ergeben die Antwort auf die Frage, warum der
Begriff der „freien Beweiswürdigung" 83 nicht das gesamte Beweisverfah-
ren abdecken kann (obwohl er im Vergleich zum Begriff der freien
Uberzeugung vielleicht aussagekräftiger ist). Zur Kennzeichnung des
Beweissystems ist der Begriff der ethischen Beweise ergiebiger, denn er
umfaßt ohne Schwierigkeiten das gesamte Beweisverfahren.

3. Schlußbetrachtungen
Dieses Ergebnis setzt voraus, daß ein einheitlicher Begriff eines
Beweissystems noch notwendig ist. Die Differenzierung in vier Phasen
des Beweisverfahrens ermöglicht demgegenüber eine andere Lösung,
und zwar die gegenwärtig im deutschen Schrifttum vertretene, derzu-
folge eine selbständige und differenzierende Antwort für jede einzelne
Phase vorgezogen wird. Diese Lösung entspricht der wissenschaftlichen

82
G. Walter, S. 68 ff; Gössel, §30 C III.
82
" Vgl. Gössel, § 3 0 C .
83
Man kann auch nicht behaupten, daß die Würdigung der Beweise den zentralen oder
wichtigsten Teil des Beweisverfahrens ausmacht, da die sachgerechte Aufklärung einen
ebenso wichtigen Gegenstand des Beweisverfahrens bildet.
Grundprobleme des Beweisverfahrens 941

Entwicklung, die eine vertiefende Problematisierung des Beweisverfah-


rens ermöglicht und deswegen zu begrüßen ist.

B. Prinzipien des Beweisverfahrens


I. Die allgemeinen Bestimmungen des Beweisverfahrens
1. Einleitung
Das Hauptgewicht des Strafverfahrens liegt auf der Hauptverhand-
lung, in der die angeklagte Tat abgeurteilt wird84. Den wichtigsten Teil
der Hauptverhandlung bildet wiederum das Beweisverfahren85 als ihr
Schwerpunkt86. Diese Bewertung des Beweisverfahrens unterstreicht die
Bedeutung, die dem Beweis in der Hauptverhandlung zukommt 87 . Wenn
das gesamte Verfahren einen fair trial88 darstellen soll, dann muß ein
wesentlicher Teil dieser Verpflichtung sich auf den wichtigsten Teil der
Hauptverhandlung, das Beweisverfahren, beziehen. Oder umgekehrt:
das Beweisverfahren in der Hauptverhandlung muß ein faires Verfahren
garantieren, damit das ganze Verfahren als ein fair trial bezeichnet
werden kann. Dies setzt Prinzipien voraus, die das Beweisverfahren
normieren 8 '.

2. Die allgemeinen Bestimmungen


a) Prinzipien, die das Beweisverfahren normieren, sind gewöhnlich die
allgemeinen, einleitenden oder sonstigen Bestimmungen, die als Prinzi-
pien bezeichnet werden können. Ein erster Blick in die einschlägigen
Bestimmungen der Strafprozeßordnungen beweist deren Inhaltsarmut.
Die Bestimmungen der ZPO enthalten hinsichtlich des Beweissystems,
der Beweismittel und der Beweislast generelle Aussagen90. Ahnliches gilt
für die entsprechenden Bestimmungen der StPO". Diesen allgemeinen

84 Roxin, Strafverfahrensrecht, 18. Aufl., S . 2 3 6 .


85 Oben IV 1, 2 ; Levy-Brubl, L a preuve judiciaire, 1964, S. 7, 23, gibt dem Beweis die
Bezeichnung „Seele des Verfahrens".
86 Abgesehen von einigen Ausnahmen wie der Beendigung einer Sache durch Gerichts-

beschluß im Zwischenverfahren.
87 G. Walter, S. 7; Lüderssen, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Beweisrechts, Z S t W
85, S. 288 ff und Kässer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 1, betonen die
grundsätzliche Bedeutung des Beweises als Voraussetzung einer richtigen Entscheidung.
88 B V e r f G E 26, 71 = N J W 1969, 1423; B G H S t . 24, 131; X I I . Internationaler Kongreß

für Strafrecht, Thema 3 N r . 1; Gössel, § 2 0 B .


89 Levy-Bruhl, S. 7, bringt sein Erstaunen zum Ausdruck über die ungenügende
Erforschung der Probleme und Grundsätze des Beweisverfahrens.
90 Art. 3 3 5 (351) ff für die griech. Z P O . Die geklammerten Zahlenangaben enthalten die

alte Nummerierung, die man in dem W e r k der Professoren Baumgärtel/Rammos „Das


griechische Zivilprozeß-Gesetzbuch", 1969, findet.
91 Art. 177 ff der griech. StPO.
942 Christos Dedes

folgen besondere Regelungen92 über die Verwendung der betreffenden


Beweismittel".
b) Ein oberflächliches Lesen dieser Bestimmungen erweckt den Ein-
druck eines breiten Spielraums: für die Parteien des Zivilprozesses
wegen der dort geltenden Verhandlungsmaxime94, und für den Richter
im Strafprozeß wegen der Geltung des Grundsatzes der freien Überzeu-
gung95.
c) Dieser Eindruck ist trügerisch und zumindest so nicht richtig, da der
Richter auch im Zivilprozeß trotz Geltung der Verhandlungsmaxime
nicht völlig von der Erforschung der materiellen Wahrheit96 entbunden
ist97 und er im Strafprozeß, in dem die Inquisitionsmaxime gilt, von
dieser Verpflichtung nicht entbunden werden kann.
d) Prinzipien, die als Grundvoraussetzungen eines geregelten Beweis-
verfahrens zu dienen haben, werden vom Gesetz für das Beweisverfah-
ren unmittelbar nicht aufgestellt98. Sie werden als Prinzipien der Haupt-
verhandlung aufgeführt, deren Bedeutung aber hauptsächlich im
Beweisverfahren liegt99.
e) Lehre und Rechtsprechung bemühen sich seit geraumer Zeit, solche
Prinzipien mittels Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu ermit-
teln100 oder selbständig zu erstellen. Einen Beweis hierfür liefert die
umfangreiche Literatur und Rechtsprechung101 zur Aufklärungspflicht102
in der Bundesrepublik Deutschland103.

92 Art. 180-238 der griech. StPO und Art. 3 5 2 ^ 6 5 (368-482) der griech. ZPO.

"Allgemeine Grundsätze oder Prinzipien, die speziell das Beweisverfahren betreffen,


werden nicht aufgeführt.
94 Art. 106 (107) der griech. Z P O (obwohl der Richter aufgrund von Art. 107 (108)

auch eigene Initiative ergreifen kann. Dasselbe gilt eigentlich für alle europäischen Gesetz-
gebungen, Nagel, S. 40 ff.
95 Art. 177 der griech. StPO.

% Vgl. Krauss, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, Festschr. für

Schaffstein, 1975, S. 411; Nagel, S. 83 ff.


97 Nagel, Die Grundzüge des Beweisrechts im europäischen Zivilprozeß, 1967, S. 40 ff

und § 139 ZPO.


9« Vgl. Grunsky, S.411, 435, 449.

99 Vgl. Nagel, S. 53 ff.

100 Uber die Verfahrensgrundsätze vgl. Grunsky, S. 16.

101 Die kaum noch zu überschauen ist.

102 Wessels, JuS 1969, S. 1 ff; Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilpro-
zesses, 1976; Engels, Aufklärungspflicht, 1979.
103 Die Aufklärungspflicht wird nur beispielhaft erwähnt. Diese Bemerkung trifft auch

für andere Probleme zu.


Grundprobleme des Beweisverfahrens 943

II. Die Überprüfung des Beweisverfahrens


1. Die Überprüfung in zweiter Instanz
Die Beweisführung und Beweiswürdigung des ersten Rechtszuges 104

werden durch die Berufungsinstanz überprüft105 und nötigenfalls vervoll-


ständigt106, korrigiert oder sogar vollständig107 neu durchgeführt108.

2. Die Überprüfung durch die Revisionsgerichte


a) Der ordnungsgemäße Verlauf des Beweisverfahrens wird in der Revi-
sionsinstanz expressis verbis überprüft. In der Bundesrepublik Deutsch-
land, wo die nicht richtige Auslegung oder Anwendung der Bestimmun-
gen der StPO oder der ZPO 109 eine Gesetzesverletzung darstellen,
bereitet dies keine Schwierigkeiten. In Griechenland wird diese Uber-
prüfung in der Form von fünf Revisionsgründen im Zivilprozeßgesetz-
buch ausdrücklich vorgesehen.
b) In Art. 559 (577) des griechischen Zivilprozeßgesetzbuches110 werden
unter den Nummern 8 bis 13 als Revisionsgründe aufgeführt, daß
(8.) das Gericht unter Verletzung des Gesetzes nicht vorgebrachte
Tatsachen berücksichtigt oder vorgebrachte und für den Ausgang des
Prozesses wesentliche Tatsachen nicht berücksichtigt hat,
(9.)...
(10.) das Gericht Tatsachen, die für den Ausgang des Prozesses
wesentlich sind, unter Verletzung des Gesetzes ohne Beweis als wahr
angenommen oder über diese Tatsachen keinen Beweis angeordnet hat,
(11.) das Gericht Beweismittel, die nach dem Gesetz nicht zugelassen
sind, oder nicht vorgebrachte Beweise unter Verletzung des Gesetzes
berücksichtigt oder Beweismittel, auf die sich eine Partei berufen hat,
nicht berücksichtigt hat.
(12.) das Gericht die Vorschriften über die Beweiskraft der Beweis-
mittel verletzt hat,
(13.) das Gericht die Vorschriften über die Beweislast verletzt hat und
infolgedessen eine Behauptung der Partei, welcher die Beweislast aufer-
legt worden war, als nicht bewiesen zurückgewiesen hat.

104 Ü b e r die Phasen dieses Verfahrens oben A IV 1, 2, 3.


105 Nagel, S. 79 ff.
106 Grunsky, S. 436/7, 449.
107 Vgl. Grunsky, S. 436/7.
108 Dies gilt für das Strafverfahren, weil den Berufungsgerichten eine eigene und
selbständige Verantwortung zur Erforschung des Sachverhalts und der Wahrheit obliegt.
109 § § 3 3 7 , 338 S t P O , § § 5 5 0 , 551 Z P O .
110 Baumgärtel/Rammos, S. 175 und Rammos, Kurzlehrbuch des Zivilprozeßrechts,
S. 1041, 1045 ff; Beys, Zivilprozeßrecht, S. 2176 ff.
944 Christos Dedes

Diese Revisionsgründe unterstreichen zweifellos die Bedeutung des


Beweisverfahrens und widerlegen jegliche Behauptung eines breiten
Spielraums oder einer Ermessensfreiheit des Richters.
c) Aus den erwähnten Bestimmungen geht der Standpunkt des Gesetz-
gebers klar hervor. Der Gesetzgeber betrachtet als wesentliche Gesetzes-
verletzungen, daß
- kein Beweis über erhebliche Tatsachen angeordnet ist,
- Tatsachen ohne Beweis als wahr erachtet sind,
- vorgebrachte Beweismittel nicht berücksichtigt sind,
- nicht vorgebrachte Beweismittel berücksichtigt sind,
- Vorschriften über die Beweislast verletzt werden,
- Vorschriften über die Beweiskraft verletzt werden.

III. Die Beweisgrundsätze


1. Die Beweisgrundsätze der ZPO
a) Die Grundsätze des Beweisverfahrens, die aus den vorerwähnten
Bestimmungen hervorgehen, kann man wie folgt zusammenfassen:
- Über die erheblichen Tatsachen des Falles soll das Gericht Beweis
anordnen, denn ohne Beweis darf (von wenigen Ausnahmen abge-
sehen) keine Tatsache als wahr angenommen werden.
- In der Beweisaufnahme sollen alle vorgebrachten Beweismittel" 1
berücksichtigt werden.
- In der Entscheidung dürfen keine Beweise berücksichtigt werden,
die in der (Haupt-)Verhandlung nicht vorgebracht werden.
- Die Erforschung der Wahrheit soll die Beweislast- und Beweis-
kraftregeln berücksichtigen.
b) Der oben aufgestellte Katalog von Beweisgrundsätzen, die aus den
Vorschriften des Revisionsverfahrens hervorgehen, könnte als zufrie-
denstellend betrachtet werden, würde man noch einen Grundsatz hinzu-
fügen. Es handelt sich dabei um einen dem zweiten verwandten Grund-
satz, der die Pflicht des Richters betrifft, für die gewissenhafte Suche
und Sammlung der Beweismittel Sorge zu tragen112.
Dieser Grundsatz wird in den Revisionsgründen der griechischen
Z P O nicht erwähnt113, da die Geltung der Verhandlungsmaxime einer
solchen Regel prinzipiell im Wege steht und er nur in den wenigen
Fällen, in denen der Richter unter Berufung auf Art. 107 (108) selbst

111 Mit einigen wenigen Ausnahmen.


112Oben IV 2, 3.
113F ü r das deutsche Recht stellt jede Verletzung einer Rechtsnorm einen Revisions-
grund dar, § 337 S t P O .
Grundprobleme des Beweisverfahrens 945

eingreifen kann, in Erscheinung tritt. Gerade diese Bestimmung des


Art. 107 der griechischen ZPO beweist jedoch die Existenz einer solchen
Verpflichtung des Richters, deren Reichweite lediglich diskutiert werden
kann" 4 .

2. Die Beweisgrundsätze der StPO


a) In der StPO gilt die Inquisitionsmaxime, derzufolge die Pflicht zur
Beweismittelsammlung den Richter trifft. Lehre und Rechtsprechung
betonen diese „Aufklärungspflicht" genügend. §244 Abs. 2 der deut-
schen StPO weist klar auf diese Pflicht des Richters hin und die
Uberprüfung der richtigen Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift
durch die Revisionsinstanz hat bedeutend zur Klärung dieser Frage
beigetragen.
Art. 351 der griechischen StPO betont ausdrücklich die Pflicht des
Richters zur Klärung der Sache, ohne sie jedoch ebenso ausdrücklich auf
die Verpflichtung zur Sammlung aller Beweismittel zu erstrecken, wie
dies in §244 Abs. 2 der deutschen StPO vorgesehen ist. Art. 327 der
griechischen StPO verpflichtet die Staatsanwaltschaft, alle „wesentli-
chen" Zeugen zu laden. Art. 340 (356) der griechischen Z P O und
Art. 177 der griechischen StPO postulieren die freie Beweiswürdigung,
ohne eine direkte Verbindung zu der Pflicht zur Aufklärung der Sache
herzustellen. Meiner Meinung nach ist zu fordern, daß diese Befugnis
des Richters erst im Anschluß an die Sammlung der (zumindest wichtig-
sten)115 Beweismittel116 Platz greifen117 darf118.

b) Eine Gesetzesverletzung bildet in der griechischen StPO einen Revi-


sionsgrund nur dann, wenn sie sich gegen eine Vorschrift des materiellen
Strafrechts richtet. Die Verletzung strafverfahrensrechtlicher Vorschrif-
ten kann direkt gerügt werden, wenn sie unter die wenigen strafprozes-
sualen Gründe zu subsumieren ist.
Die in das Gesetz aufgenommenen Revisionsgründe nennen die Ver-
letzung einer Beweisregel nicht direkt; dasselbe gilt für eine Verletzung
der Aufklärungspflicht. Die Bedeutung dieser letztgenannten Pflicht
nötigt meines Erachtens jedoch zur ausdrücklichen Einführung eines

114 Was ähnlich auch für die Bundesrepublik Deutschland gelten soll, Grunsky,
S. 165 ff.
115 F ü r den Strafprozeß: aller, der bedeutendsten und wichtigsten.
116 Derjenigen, die von den Parteien vorgebracht oder durch den Richter angeordnet
worden sind.
117 O b e n C II.

118 Kässer, S. 88, Kirsch, Entscheidungsprozesse, 1970, S . 6 4 , die die vorherige Samm-
lung aller Informationen als Voraussetzung einer richtigen Feststellung betrachten.
946 Christos Dedes

Revisionsgrundes der Verletzung der Aufklärungspflicht11'. Gegenwär-


tig versuchen Lehre und Rechtsprechung, alle bedeutenden Verletzun-
gen bei den wenigen vorhandenen Revisionsgründen, die zudem einen
unscharfen Charakter aufweisen120, unterzubringen. Das Beweisverfah-
ren und die Anwendung der Grundsätze über die Hauptverhandlung,
die auch für das Beweisverfahren gelten, werden unter den Revisions-
grund der Verletzung der Öffentlichkeit 121 subsumiert und unter diesem
Gesichtspunkt überprüft122.

3. Ergebnis

a) Für den Strafprozeß gelten demnach ähnliche Prinzipien wie für den
Zivilprozeß, die man zusammenfassend wie folgt formulieren kann:
- Der Richter soll Beweis über alle rechtserheblichen Tatsachen des
Falles erheben, da ohne Beweisaufnahme keine Tatsachen als wahr
angenommen werden können.
- Der Richter soll gewissenhaft und vollständig123 alle Beweismittel
sammeln, die von Bedeutung sind124.
- Die Beweismittel sollen der Uberprüfung in der Hauptverhandlung
unterzogen werden (Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlich-
keit125 usw.).
- In der Entscheidung dürfen nur diejenigen Beweise berücksichtigt
werden, die in der Verhandlung erhoben worden sind.
b) Von diesen Grundsätzen oder Prinzipien können - wie von allen
Prinzipien - unabhängig davon, ob sie dem gesetzten oder nicht
gesetzten Recht angehören126, selbstverständlich Ausnahmen gemacht
werden127.

Oder nach anderen Beweisgrundsätzen, wie dies für den Zivilprozeß gilt.
120 Wie z. B. der Revisionsgrund der absoluten und relativen Nichtigkeit, Art. 170, 171,
173 der griech. StPO.
121 Vgl. §338 Abs. 6 der deutschen StPO und §551 Abs. 6 der deutschen ZPO.

122 Darüber hinaus kann man sich auf die Revisionsgründe der absoluten und relativen

Nichtigkeit oder der mangelhaften Begründung berufen.


123 Über die Vollständigkeit Grunsky, S. 180.
124 Oder alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel ausschöpfen, wie Roxin,
S. 253, sagt.
125
Grunsky, S.213.
126
Kässer, S.31.
127
Nagel, S. 85.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung
DIETER MEURER

Hilde Kaufmann hat ihren wissenschaftlichen Ruf mit der 1968


erschienenen Monographie „ Strafanspruch, Strafklagrecht" begründet.
An die strafprozessualen Anfänge der hier zu ehrenden Strafrechtlerin
und Kriminologin erinnert mein Beitrag zu ihrem Gedächtnis.

I.
Beweiserhebung und abschließende Beweiswürdigung sind einander
folgende Stationen auf dem Weg zum Strafurteil. Im Rahmen des
Strengbeweises unterliegen sie nicht austauschbaren Maximen: Die
Beweiserhebung ist gebunden; die Beweiswürdigung ist frei. Das ergibt
sich schon aus dem Gesetz. Gemäß §261 StPO entscheidet das Gericht
über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem
Inbegriff der Verhandlung geschöpften Uberzeugung. Die Vorschrift
besagt nichts über den Gegenstand der Beweisaufnahme. Dieser
bestimmt sich nicht nach freier Uberzeugung, sondern aufgrund der
Anwendung von §§244 Abs. 2, 264 Abs. 1, 243 Abs. 3, 265, 266 StPO.
Auch über den Umfang der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht
nicht nach Uberzeugung, sondern aufgrund seiner Aufklärungspflicht
(§ 244 Abs. 2 StPO) und unter Umständen sogar gegen seine Uberzeu-
gung, wenn nach den gesetzlichen Voraussetzungen ein Beweisantrag
nicht abgelehnt werden kann (§244 Abs. 3-5 StPO) oder die Vorausset-
zungen der §§245, 246 StPO vorliegen. Was endlich das Tatbestands-
merkmal „Inbegriff der Verhandlung" angeht, so ist es in §264 Abs. 1
StPO als „Ergebnis der Verhandlung" enthalten und wird im übrigen
durch die §§226 ff StPO konkretisiert, die als spezielle Normen der
Regelung des §261 StPO insoweit vorgehen.

II.
Dennoch werden in Rechtsprechung und Schrifttum unter Bezug-
nahme auf die Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung" und
„Ergebnis der Beweisaufnahme" prozessuale Zweifelsfragen erörtert, die
auch ohne Rückgriff auf §261 StPO beantwortet werden könnten.
1. Das belegt in aller Deutlichkeit die bislang noch nicht vorfindliche
Durchsicht amtlicher Sammlungen der Entscheidungen des Reichsge-
948 Dieter Meurer

richts, des O b e r s t e n G e r i c h t s h o f s für die britische Z o n e u n d des B u n -


desgerichtshofs 1 . Die Revisionsgerichte gehen d a v o n aus, daß §261
StPO nicht nur dann verletzt sein k a n n , w e n n der Tatrichter die
juristische B e d e u t u n g des U b e r z e u g u n g s b e g r i f f s v e r k a n n t hat, s o n d e r n
a u c h d a n n , w e n n das T a t s a c h e n m a t e r i a l auf p r o z e ß r e c h t l i c h fehlerhaf-
t e m W e g e g e w o n n e n w o r d e n ist u n d deshalb G e g e n s t a n d richterlicher
U b e r z e u g u n g n i c h t hat sein dürfen. A n d e r e r s e i t s w i r d klargestellt, w a n n
B e w e i s r e c h t s n o r m e n n i c h t v e r l e t z t sind o d e r u n t e r w e l c h e n V o r a u s s e t -
z u n g e n p r o z e s s u a l e F e h l e r die U b e r z e u g u n g s b i l d u n g u n b e r ü h r t lassen 2 .

1 Erfolgreiche Revisionen, die in den amtlichen Sammlungen unter §261 StPO ausge-
wiesen werden:
RGSt.: 1, 81 ff (Glaubwürdigkeit eines Geständnisses aufgrund „anderweit ermittelter
Umstände"); 2, 76 ff (Verwertung einer Urkunde, die nicht Gegenstand der Verhandlung
war); 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der Verhandlung
gemacht); 17, 287ff (Vernehmung des Sachverständigen im Beratungszimmer); 20, 321 ff
(Verlesung eines polizeilichen Protokolls); 33, 319 f (Freispruch wegen Beihilfe, weil
Haupttäter freigesprochen wurde); 40, 54 f (Nichtverlesung eines Buches); 57, 264 f
(Ausschluß der Öffentlichkeit ohne Anhörung der Beteiligten); 67, 417ff (Verwertung des
Ergebnisses einer früheren Hauptverhandlung); 71, 326 ff (Privatgespräch des Richters mit
Zeugen); 71, 341 ff (Nicht aufgeklärte Tatumstände);
OGHSt.: 2, 334 f (Urkundenverwertung ohne Verlesung in der Hauptverhandlung);
BGH St.: 2, 99 ff (Verstoß gegen §252 StPO); 2, 163 ff (Kinderaussage; Sachkunde von
Lehrerinnen zweifelhaft); 3, 213ff (Ablehnung eines Beweisantrags); 3, 218ff (Nichtbe-
rücksichtigung des Mitverschuldens bei Strafzumessung); 5, 34 ff (Unzulässige Ablehnung
erbkundlichen Vergleichs); 5, 278 ff (Verwertung eines nichtverlesenen Briefes); 6, 70 ff
(Abweichung von Blutgruppengutachten); 7, 238ff (Keine Würdigung des Gutachtens);
10, 65ff (Vorlage); 12, 311 ff (Verstoß gegen §244 StPO); 13, 1 ff (Verwertung eines
Gutachtens, das nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war); 13, 73 ff (Einsichtnahme
eines Schöffen in Anklageschrift); 14, 162ff (Widersprüchliche Würdigung); 20, 281 ff
(Verstoß gegen §163 a StPO); 21, 157ff (BÄK 1,3%); 22, 26ff (Vernehmungsprotokoll
nicht Gegenstand der Hauptverhandlung); 22, 113 ff (Verwertung eines Zeugnisverweige-
rungsrechts); 24, 170ff (Keine neue Beratung); 25, 365 ff (Vorlage: Haltereigenschaft); 28,
310 ff (Wahrunterstellung und Beweiswürdigung); 29,18 ff (Beurteilung eines Radarfotos);
29, 109 ff (Verwertung der Aussage eines Zeugen vor der Polizei, der für das Gericht nicht
erreichbar ist); 30, 74ff (Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten); 30, 131,
141 (Nichtbeiziehung von „Spurenakten"); 30, 172, 176 (Anordnung des persönlichen
Erscheinens); 30, 317ff (Aussage nach Vorhalt eines abgehörten Telefongesprächs); 31,
395, 401 (Fehlende Belehrung bei polizeilicher Beschuldigtenvernehmung); 32, 32 ff
(Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung); 32, 140ff (Teilweise Mitwir-
kungsverweigerung eines Zeugen).
2 Erfolglose Revisionen, die unter §261 StPO angeführt sind:
RGSt.: 25, 134ff (Verwertung einer unbeeideten Zeugenaussage); 28, 171 (Gerichts-
kundige Tatsache ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung gemacht); 31, 185 ff
(Allgemeinkundige Tatsachen ordnungsgemäß zum Gegenstand der Verhandlung
gemacht); 33, 303 (Abweichung von rechtskräftigem Urteil zulässig; Gegenstand der
Beweiswürdigung nur Inbegriff der Verhandlung); 36, 371 ff (Verlesung einer amtlichen
Urkundenübersetzung); 39, 62ff (Prüfungskompetenz des Strafgerichts auch für öffent-
lichrechtliche Fragen); 40, 48 ff (Keine Pflicht zur Vornahme von Experimenten); 45, 403 ff
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 949

Je nach Zuordnungsgesichtspunkt können zwei Fallgruppen unterschie-


den werden:

a) In der ersten geht es um die Auslegungsfrage, welche Eigenschaften


und Verhaltensweisen von Richtern es ausschließen, daß Uberzeugung
„aus dem Inbegriff der Verhandlung" gewonnen wird. Hierher gehören
die Fälle blinder, tauber, schlafender3 und sich selbst ablenkender Rich-
ter4. Diskutiert wird die Verwendung entgegen den Prinzipien des
Strengbeweises außerhalb der Hauptverhandlung gewonnenen persönli-
chen Wissens durch Privatgespräche, besonderer Ortskenntnis aus frü-

(Schriftversuche im Beratungszimmer; Sachverständigen aber in der Hauptverhandlung


vernommen); 47, 235 (Kein numerus clausus der Beweismittel; unzulässige Protokoll-
rüge); 47, 2 7 0 f f (Kein Verfahrensfehler bei Feststellung des inneren Tatbestandes); 48,
269ff (Fehlerhafte Belehrung von Ärzten über Schweigepflicht); 50, 154ff (Urteil beruht
nicht auf privater Inaugenscheinnahme); 52, 69 ff (Zulässigkeit selbständiger Uberprüfung
der Buchführung); 55, 20 (Verwertung zulässiger Zeugnisverweigerung); 57, 264 f (Keine
neue Bildung der Geschworenenbank, da reine Rechtsfragenentscheidung); 61, 3 5 9 f
(Verwertung einer als wahr unterstellten Tatsache); 65, 434 ff (Verwertung stenografischer
Aufzeichnungen); 67, 279ff (Gespräch eines Geschworenen mit Sachverständigen außer-
halb der Verhandlung);
OGHSt.: 1, 110 ff (Vorhalt aus polizeilichem Geständnisprotokoll);
BGHSt.: 2, 25 ff (Sachverständiger außerhalb der Hauptverhandlung über deren Ergeb-
nis informiert); 2, 248ff (Rüge des § 2 6 7 StPO); 4, 191 ff (Blinder Richter); 6, 292ff
(Offenkundigkeit ordnungsgemäß verwertet); 10, 6 5 f f (Unvereidigter Zeuge); 11, 74ff
(Niederschrift der Urteilsformel während Plädoyer); 11, 213 ff (Verletzung der Beleh-
rungspflicht nach § 5 5 Abs. 2 StPO); 13, 250 ff (Nichtberuhen des Urteils auf unzulässiger
Gutachtenführung); 15, 347ff (Keine Verletzung von §252 StPO); 17, 337ff (Vorbera-
tung); 17, 382 ff (V-Mann-Aussage); 19, 193 ff (Tonbandaufnahme zur Gedächtnisstütze);
21, 170 ff (Verstoß gegen § 136 a StPO); 22, 268 ff (Verwertung von Befundtatsachen); 22,
372ff (Verlesung richterlichen Protokolls); 23, 156ff (Ermüdungserscheinungen beim
Kraftfahrer); 23, 213 ff (Aussage eines Polizeibeamten); 26, 5 6 f f (Offenkundigkeit); 27,
355ff (Verwertung von Tonbändern); 31, 86ff (Abstandsmeßverfahren); 33, 83 ff (Verle-
sung polizeilicher Vernehmungsniederschrift ohne Personalangaben); 33, 119ff (Vorüber-
gehende Abtrennung des Verfahrens); 33, 178 ff (Zeuge vom Hörensagen); 33, 217, 221 ff
(Auskunftsperson beim Augenschein).
3 Vgl. z . B . B G H S t . 4, 191 ff; 5, 354ff; 11, 74ff; 18, 51 ff (Teilnahme blinder Richter

nur bei Augenscheinseinnahme unzulässig); RGSt. 60, 63, 64 (Keine Teilnahme tauber
Richter); R G J W 1936, 3473; B G H S t . 2, 14 ff (Unzulässigkeit der Teilnahme festschlafen-
der Richter; unerheblich, wenn Richter nur „vorübergehend in ihrer Aufmerksamkeit
durch Ermüdungserscheinungen beeinträchtigt" sind, „nicht sehr lange" schlafen, „einen
Moment einnicken" oder „einen einmaligefn] oder gelegentliche[n] .schnarchenden T o n ' "
von sich geben; RGSt. 60, 63, 64). Vgl. auch B G H NStZ 1982, 41.
4 Vgl. z . B . B G H N J W 1962, 2212 (Unterhaltung zweier Richter und Briefzensur des

dritten Richters während der Schlußausführungen des Verteidigers); B G H S t . 11, 74ff


(Niederschrift der Urteilsformel während der Schluß Vorträge); O L G Hamburg VRS 10,
374; O L G Hamm D A R 1956, 254; O L G Köln N J W 1955, 1291; O L G Celle VRS 12,
446 ff.
950 Dieter Meurer

heren Verfahren usw. 5 Auch inhaltliche Probleme der Offenkundigkeit,


Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit von Tatsachen und Erfah-
rungssätzen 6 im Zusammenhang mit deren prozeßordnungsgemäßer
Einführung 7 werden unter dem Gesichtspunkt freier Beweiswürdigung
erörtert.

b) Die zweite, eine reiche Kasuistik bildende Fallgruppe betrifft alle


sonstigen Sachverhalte prozeßordnungswidriger Beweisgewinnung und
Verwendung. Eine nicht unerhebliche Rolle spielt die Frage, ob und
inwieweit berechtigte, vollständige oder teilweise Aussageverweigerung
(Schweigen) des Beschuldigten 8 oder eines zur Zeugnisverweigerung

5 Vgl. z . B . RGSt. 50, 154ff (Private Augenscheinseinnahme); 67, 279ff (Privatge-

spräch eines Geschworenen mit einem Sachverständigen außerhalb der Hauptverhand-


lung); RGSt. 69, 120 ff (Einsichtnahme des Ermittlungsergebnisses in Anklageschrift durch
Laienrichter); B G H S t . 2, 25 ff (Information des Sachverständigen außerhalb der Hauptver-
handlung); B G H S t . 13, 73 ff (Einsicht eines Schöffen in Anklageschrift); O L G Karlsruhe
VRS 12, 450 (Gespräch Vorsitzender/Staatsanwalt in Gegenwart von Schöffen); O L G
Hamm D A R 1958, 140 (Gespräch des Amtsrichters mit anderem sachverständigen Rich-
ter); K G VRS 17, 285 ff; O L G Hamburg N J W 1952, 1271; O L G Hamm V R S 12, 448 ff
(Besondere Ortskenntnis des Richters, die nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung
gemacht wurde); O L G Zweibrücken VRS 30, 312 f (Kenntnis des Richters aus anderen
Verfahren); O L G Oldenburg J R 1954, 70 (Wissen aus früheren Verfahren gegen denselben
Angeklagten, ohne ordnungsgemäße Einführung in Verhandlung); O L G Frankfurt N J W
1952, 638 (Privates Wissen eines Beisitzers über Zeugen); O L G Köln JMB1NW 1954, 167
(Probefahrt); O L G Hamm J M B 1 N W 1966, 213 (Erörterung des Verfahrensgegenstandes
in Gegenwart von Laienrichtern); O L G Hamm JMB1NW 1953, 165f (Aussageverweige-
rung eines Zeugen in vertagter Hauptverhandlung); ferner noch O L G Koblenz M D R
1980, 689 (Kommissarische Zeugenvernehmung).
6 Vgl. z . B . RGSt. 58, 308ff (Feldzug während des Baltikumkrieges 1919); RGSt. 22,

239ff (Reliquieneigenschaft des heiligen Rockes in Trier); RGSt. 28, 171 ff (Charakter
einer Zeitung); RGSt. 31, 185 ff (Erregter und lebhafter Nationalcharakter der Polen); R G
J W 1888, 178 (Börsenordnung); R G D J Z 1900, 362 (Offenkundigkeit, daß Luther nicht
durch Selbstmord gestorben ist); R G Recht 1913, Nr. 1547 (Lage und Entfernung von
Örtlichkeiten); R G GA 39, 342 f (Geschichte einer politischen Bewegung; moralische
Verkommenheit einer Person); B G H S t . 6, 292 ff (Offenkundigkeit, daß die FDJ-West mit
den Zielen der S E D übereinstimmt); B G H S t . 26, 56 ff, 59 (Offenkundigkeit der Preis- und
Rabattgestaltung als Geschäftsgeheimnis); O L G Düsseldorf M D R 1980, 869 (Offenkun-
digkeit der wesentlichen Abläufe des Geschehens in Mogadischu 1977).
7 Vgl. z . B . RGSt. 16, 327ff (Gerichtskundige Tatsache nicht zum Gegenstand der

Verhandlung gemacht); 28, 171 (Gerichtskundige Tatsache ordnungsgemäß zum Gegen-


stand der Verhandlung gemacht); 31, 185 ff (Allgemeinkundige Tatsache und Gegenstand
der Verhandlung); B G H S t . 6, 292ff (Offenkundigkeit ordnungsgemäß verwertet); 26,
56 ff (Gerichtskundige Erfahrungssätze der Wirtschaftswissenschaften ordnungsgemäß
verwertet); B G H StrVert. 1981, 223 (Offenkundige Tatsachen müssen zum Gegenstand
der Hauptverhandlung gemacht werden).
8 Vgl. z . B . B G H S t . 20, 281, 283 (Schweigen bei polizeilicher Vernehmung); B G H S t .

32, 140, 144 (Schweigen zu einer von mehreren Taten in der Hauptverhandlung); B G H
M D R 1971, 18 (Schweigen in der Hauptverhandlung).
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 951

b e r e c h t i g t e n Z e u g e n 9 bei d e r Ü b e r z e u g u n g s b i l d u n g v e r w e r t e t w e r d e n
darf. Diskutiert wird die B e u r t e i l u n g von Sachverhalten, in denen
A n g e k l a g t e o d e r Z e u g e n in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g b e r e c h t i g t s c h w e i -
gen, im V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r gerichtlichen V o r u n t e r s u c h u n g aber
A n g a b e n z u P r o t o k o l l gegeben h a b e n . P r o b l e m e fehlender o d e r u n z u -
länglicher B e l e h r u n g i m V o r v e r f a h r e n o d e r in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g ,
d e r V e r l e s u n g r i c h t e r l i c h e r P r o t o k o l l e , des V o r h a l t s aus polizeilichen
Aufzeichnungen und der Verwertung von Privaturkunden werden erör-
tert. A u c h W i r k u n g e n r e c h t s w i d r i g e r B e w e i s e r z w i n g u n g u n d E r m i t t -
lung s o w i e F r a g e n d e r U m g e h u n g des U n m i t t e l b a r k e i t s p r i n z i p s d u r c h
V e r n e h m u n g m i t t e l b a r e r T a t z e u g e n sind G e g e n s t a n d d e r Rechtspre-
c h u n g z u d e m P r o b l e m , w a n n ein p r o z e ß o r d n u n g s w i d r i g gewonnenes
„Ergebnis der Beweisaufnahme" die z u r V e r u r t e i l u n g erforderliche
Ü b e r z e u g u n g ausschließt 1 0 .

2. K o m m e n t a r e d e h n e n den A n w e n d u n g s b e r e i c h des § 2 6 1 S t P O n o c h
w e i t e r aus, b e z i e h e n j e d o c h a u c h die in d e r R e c h t s p r e c h u n g gebildeten
F a l l g r u p p e n in ihre E r l ä u t e r u n g e n ein. Diese w e r d e n - je n a c h K o m m e n -
t i e r u n g s t e c h n i k - v e r s c h i e d e n e n P r o z e ß m a x i m e n w i e den P r i n z i p i e n d e r
U n m i t t e l b a r k e i t 1 1 , Mündlichkeit 1 2 u n d des r e c h t l i c h e n Gehörs 1 3 u n t e r -

9 Z.B. BGHSt. 22, 113f (Zeugnisverweigerung eines Angehörigen); BGHSt. 32, 140,

142 (Verweigerung einer Blutprobe ohne Berufung auf Zeugnisverweigerungsrecht).


10 Vgl. ferner BayObLGSt. 1958, 84 ff (Grundlage der Uberzeugungsbildung nur

Erklärung auf Vorhalt, nicht Vorhalt selbst); OLG Köln VRS 21, 444 ff (Notwendigkeit
der Erörterung eines beim „letzten Wort" abgelegten Geständnisses); OLG Stuttgart DAR
1957, 243 (Verwertung ungeprüfter Schutzbehauptungen zu Lasten des Angeklagten);
BGH bei Daliinger MDR 1971, 15, 18 (Schweigen in Ausübung des Aussageverweige-
rungsrechts); O L G Oldenburg MDR 1969, 501 f (Wertung des Schweigens zum Nachteil
des Angeklagten); O L G Hamm JMBlNW 1970, 71 f (Schweigen im Vorverfahren und
„Schutzbehauptung" in der Hauptverhandlung); O L G Hamm JMBlNW 1970, 238 f
(Schweigen eines „forensisch erfahrenen" Angeklagten im Hauptverfahren); BGH GA
1969, 307f (Schweigen bei polizeilicher Erstvernehmung); O L G Braunschweig VRS 30,
300 ff („Widerlegung" von Angeklagteneinlassung durch Hinweis auf Schweigen im Vor-
verfahren); BGH bei Daliinger MDR 1972, 16, 18 („Teilschweigen" des Angeklagten);
O L G Hamm NJW 1970, 821 f (Zeuge vom Hörensagen); BGH GA 1968, 305 ff (Verwer-
tung von Tatortskizzen und Lichtbildern); BayObLGSt. 1958, 84 ff (Verlesung erstin-
stanzlicher Urteile anstelle von Beweisaufnahme); B G H bei Dallinger MDR 1973,190, 192
(Verwertung von Vorstrafakten); O L G Hamm VRS 27, 286f (Vorhalt von Vorstrafen);
O L G Bremen GA 1959, 308 ff (Verwertung eines abgehörten Telefongesprächs ohne
Wissen des Teilnehmers); KG NJW 1966, 605 f (Verwertung berechtigter Zeugnisverwei-
gerung); ferner z.B. noch BGH NStZ 1981, 296 (teilweise Aussageverweigerung von
Angehörigen); BGH StrVert. 1984, 233 (Auskunftsverweigerung eines Zeugen).
11 Z.B. Löwe/Rosenberg/Gollwitzer, StPO 23.Aufl. 1978, §261 Rdn. 1; Karlsruher
KommentiT-Hürxthal, StPO, 1982, §261 Rdn. 1.
12 Z.B. LR-Gollwitzer, a.a.O.; KK-Hürxthal, a.a.O.; Kleinknecht/Meyer, StPO,
37. Aufl. 1985, §261 Rdn. 1, 7.
13 Vgl. z.B. KMR-Paulus, StPO, 7.Aufl. 1980, §261 Rdn.5; KK-Hürxthal ( F n . l l )
Rdn. 1.
952 Dieter Meurer

stellt, die ihrerseits aus §261 StPO abgeleitet werden. Verwiesen wird
u.a. auf §§24414, 26415, 267 StPO 16 , auf das Revisionsrecht 17 , die Lehre
von den Beweisverboten 18 , auf „forensische Wahrheit" 19 und auf die
Unterscheidung zwischen Strengbeweis und Freibeweis20. Auch einzelne
Beweismittel werden erörtert 21 oder es wird auf entsprechende Ausfüh-
rungen verwiesen22. Darüber hinaus sollen sich aus §261 StPO Erkennt-
nisse über den „Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung" 23 , die
Unterscheidung von Befund- und Zusatztatsachen beim Sachverständi-
genbeweis24, das Problem unerreichbarer Beweismittel25, die Verwen-
dung stenografischer Protokolle, Mitschriften oder Tonbandaufnahmen
bei der Beratung26 sowie zu Spezialproblemen des Indizienbeweises 27
ergeben28.
3. Im monographischen Schrifttum und in der Aufsatzliteratur zum
Prinzip der freien Beweiswürdigung wird die Rechtsprechung, aber auch
Kommentierungen zu den Begriffen „Ergebnis der Beweisaufnahme"
und „Inbegriff der Verhandlung" überwiegend nicht erwähnt 2 '. Umge-
kehrt erörtern Einzelschriften und sonstige Abhandlungen zu den in
Kommentaren und Lehrbüchern angeführten, aus §261 StPO „abgelei-
teten" oder „übergeordneten" Prozeßmaximen zwar die Rechtspre-

14
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6.
15
Kleinknecht/Meyer, a . a . O . Rdn. 7.
16
Z.B. LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn.50.
17
Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 38; LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.51; KK-
Hürxthal (Fn. 11) Rdn. 51 ff; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn. 30 f.
18
LR-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn. 107; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 13; K K - H ü r x -
thal (Fn. 11) Rdn. 34 ff.
19
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 1.
20
Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.40.
21
Z.B. KMK-Paulus (Fn. 13) R d n . 2 2 f f ; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.24ff.
22
Z.B. LK-Gollwitzer ( F n . l l ) Rdn.20.
23
Z. B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 6.
24
LR-Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 20; KK-Hürxthal (Fn. 11) Rdn.26.
25
Z.B. Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 12.
26
Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) Rdn. 10; LR -Gollwitzer (Fn. 11) Rdn. 46.
27
Z.B. KK-Hürxthal (Fn. 11) R d n . 6 4 f f ; KMK-Paulus (Fn. 13) Rdn.28.
28
Zur Verwertung der Rechtsprechung vgl. ferner noch Eh. Schmidt, Lehrkommentar,
Teil II, 1957, §261 Rz.2-9, 19-25; Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfah-
ren, 37. Aufl. 1961, §261 Anm.2.
29
Vgl. zunächst die Nachw. in meinen Beiträgen: Beweis und Beweisregel im deut-
schen Strafprozeß, Oehler-Festschr. 1985, S. 357ff sowie: Beweiswürdigung und Strafur-
teil, Kirchner-Festschr. 1985, S. 249 ff sowie schließlich: Denkgesetze und Erfahrungsre-
geln, Ernst Wolf-Festschr. 1985, S. 483 ff. Siehe aber auch Kunert, GA 1979, 401 ff, 413,
der zutreffend ausführt: „Etwas überspitzt könnte man geradezu sagen: Je freier die
Würdigung, desto gebundener muß die Präsentation der Beweismittel sein." Ferner die
vorzüglichen Beiträge von Herdegen, NStZ 1984, 97ff, 200 ff, 337ff und Niemöller,
StrVert. 1984, 431 ff.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 953

chung; Zusammenhänge mit freier Beweiswürdigung aber werden folge-


richtig nicht weiter vertieft30. Das Gleiche gilt für Urteilsanmerkungen
und Aufsätze zu Spezialproblemen, die ihrer Zwecksetzung entspre-
chend weitgehend fallbezogen argumentieren31.

III.
Der Wortlaut der Tatbestandsmerkmale „Inbegriff der Verhandlung"
und „Ergebnis der Beweisaufnahme" des §261 StPO dient also Recht-
sprechung und Kommentierungen als Anknüpfungspunkt der Erörte-
rung unterschiedlichster prozessualer Probleme, deren Zuordnung zu
§261 StPO nicht zwingend ist, weil sie die Beweiserhebung, deren
personelle und sachliche Voraussetzungen, nicht aber Fragen der
Beweiswürdigung betreffen. So werden diese Problemlagen denn auch
im Spezialschrifttum unter dem Gesichtspunkt der jeweils verletzten
Einzelvorschrift oder Verfahrensmaxime erörtert32.
1. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, es sei unerheblich,
unter welchen rechtlichen Oberbegriffen die angeführten Probleme dis-
kutiert werden, sofern dies mit der Systematik des Strafverfahrensrechts
vereinbar ist und eine sachgerechte Beantwortung von Einzelfragen
ermöglicht. Die unterschiedliche Schwerpunktbildung in Rechtspre-
chung und Schrifttum beruht so gesehen möglicherweise nicht auf
grundsätzlichen Gegensätzen, sondern auf einer abweichenden Klassifi-
zierung des gleichen Problemkreises. Das ist der Fall, wenn jede Verlet-
zung einer das Beweisverfahren betreffenden Norm zugleich als Verstoß

50 Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls neuere Monographien, die ihrerseits umfas-

sende Schrifttumsangaben enthalten. Vgl. z.B. Lohr, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit
im deutschen Strafprozeßrecht, 1972, S. 73 ff; Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen
Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren, 1976, S. 112 ff; Dencker, Verwertungsver-
bote im Strafprozeß, 1977, S. 14 ff; Kuckuck, Zur Zulässigkeit von Vorhalten aus Schrift-
stücken in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, 1977, S. 97 ff; Rogall, Der Beschul-
digte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.34f; Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im
Strafprozeß, 1984; siehe aber auch die vorzügliche Monographie von Geppert, Der
Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979.
31 Vgl. etwa Eb. Schmidt, Anm. zu BGHSt. 13, 73 J R 1961, 31 (Einsichtnahme von
Schöffen in Anklageschrift); Sarstedt, Anm. BGH J R 1958, 350 f, a. a. O. 351 f (Besondere
Fachkunde); Marr, Anm. zu BGH NJW 1962, 2212, a.a.O. 1963, 309f; Sarstedt, Anm.
zu O L G Hamburg J R 1966, 273 f, a . a . O . 274; Swarzenski, Anm. zu BGH JZ 1958, 30 f,
a. a. O. 31 f; Hoffmann, NJW 1959, 1526; Baudisch, NJW 1960, 135 f; Lienen, NJW 1960,
136 f; Seibert, NJW 1965, 2282 ff; Schmidt-Leichner, NJW 1966, 169 ff; Stree, JZ 1966,
593ff; Güldenpfennig, Anm. zu O L G Oldenburg NJW 1969, 806 a.a.O. 1867; Oster-
mayer, Anm. zu O L G Oldenburg a. a. O. S. 1187; Wessels, JuS 1966, 169 ff, vgl. aber auch
z.B. Geppert, Oehler-Festschr. 1985, S.323ff und Geerds, Blau-Festschr. 1985, S.67ff
sowie die Nachw. aus neuerer Zeit in den angeführten Kommentierungen.
32 Vgl. die Nachw. in Fn.30, 31.
954 Dieter Meurer

gegen §261 StPO angesehen werden könnte: Wenn also ein in welcher
Verfahrenslage und aus welchen Gründen auch immer prozeßordnungs-
widrig gewonnenes „Ergebnis der Beweisaufnahme" oder eine verfah-
renswidrig nicht nur „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte
Uberzeugung" stets die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung zur Folge
hätte. Ist dies richtig, so kann die einheitliche Problemzuordnung unter
dem Gesichtspunkt des §261 StPO nicht beanstandet werden. Berech-
tigt wäre dann aber auch, daß das Schrifttum zur freien Beweiswürdi-
gung die hier geschilderten Probleme weitgehend ausklammert, weil
diese Frage unter den spezielleren Aspekten der Unmittelbarkeit, Münd-
lichkeit, des rechtlichen Gehörs", der Unterscheidung von Strengbeweis
und Freibeweis usw. beantwortet wird. Umgekehrt bestünde bei der
Behandlung dieser „Spezialgebiete" im Schrifttum keine Notwendigkeit,
jeweils vertieft auf Probleme der freien Beweiswürdigung einzugehen.
2. Solche und ähnliche Erwägungen mögen neben dem Wortlaut des
§261 StPO zu der dargestellten Problemhäufung geführt haben. Sie sind
indes schon deshalb wenig hilfreich, weil sie den wesentlichen Unter-
schied zwischen gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdi-
gung außer acht lassen, mithin Voraussetzungen und Gegenstand der
Sachverhaltsgewinnung ohne Begründung unter einem Aspekt behan-
deln. Sie führen letztlich zu der Konsequenz, §261 StPO sei als eine Art
Generalermächtigung zur Beweiserhebung und -Würdigung anzusehen,
der gegenüber das gesamte Beweisrecht der Strafprozeßordnung als
mehr oder weniger überflüssig erscheinen muß. Auch lassen sich durch
freie Beweiswürdigung nicht Beweiserhebungsfehler heilen34. Gegen
eine solche Denkweise spricht bereits § 337 StPO, der Zulässigkeit und
Begründetheit der Revision von einem Gesetzesverstoß, auf dem das
Urteil beruht, abhängig macht, nicht aber davon, welche Auswirkungen
Verfahrensfehler auf die Beweiswürdigung gehabt haben. Wissenschaft-
liche Betrachtungsweise hat deshalb danach zu fragen, welche Gründe
zu einer Diskussion im Rahmen der Beweiswürdigungsproblematik
geführt haben.

33
Vgl. z. B. nur Prittwitz (Fn. 29), der den Beweismittelcharakter des Beschuldigten als
Auskunftsperson ablehnt und die Probleme über den Grundsatz des rechtlichen Gehörs
löst (S. 219 ff).
34
Die Heilung von Verfahrensmängeln ist in der StPO nur unvollkommen normiert.
Sie kann z. B. durch Zeitablauf (arg. §§ 16, 25 Abs. 1 StPO) oder Nachholung (arg. § 33 a
Satz 1 StPO) erfolgen. Der Problemkreis ist im Schrifttum nur ausschnittsweise untersucht
worden; vgl. z.B. LR-Hanack, 24. Aufl. 1986, §338 Rdn.3; Kleinknecht/Meyer (Fn. 12)
§337 Rdn.39. Grundlegend immer noch Scbmid, JZ 1969, 757ff.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 955

IV.
Die Erörterung von Beweiserhebungsproblemen im Rahmen des § 261
StPO hat eine lange Tradition. Sie beruht auf einer gesetzlichen Rege-
lungslücke, die erst 73 Jahre nach Verkündung der Strafprozeßordnung
endgültig geschlossen wurde.
1. In der ursprünglichen Fassung enthielt die Strafprozeßordnung keine
§244 Abs. 2 StPO entsprechende Vorschrift, nach der das Gericht von
Amts wegen alle zur Erforschung der Wahrheit bedeutsamen Umstände
aufzuklären hat35. Auch der Beweiserhebungsanspruch der übrigen Pro-
zeßbeteiligten war nur unvollkommen geregelt. Festgelegt war lediglich,
daß zur Ablehnung von Beweisanträgen ein Gerichtsbeschluß erforder-
lich sei (§ 243 Abs. 2 RStPO), daß das Gericht auf Antrag oder von Amts
wegen die Ladung von Zeugen oder Sachverständigen sowie die Herbei-
schaffung anderer Beweismittel anordnen könne (§243 Abs. 3 RStPO)
und daß eine Beweiserhebung nicht deshalb abgelehnt werden dürfe,
weil das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache zu spät vorge-
bracht worden sei (§245 Abs. 1 RStPO). Vor diesem gesetzlichen Hin-
tergrund entwickelte das Reichsgericht unter Bezugnahme auf die zu
keinem Zeitpunkt abgeänderten §§153 Abs. 2 RStPO (heute §155
Abs. 2 StPO), 260 RStPO (§261 StPO) 36 das später gesetzlich normierte
Beweiserhebungsrecht37. Das oberste Gericht gab zu erkennen, daß die
nicht normierte Wahrheitserforschungspflicht den Umfang der Beweis-
erhebung, umgekehrt aber auch die Ablehnung von Beweisanträgen
bestimme38. Es trat der Vorwegnahme der Beweiswürdigung (Beweisan-
tizipation) nachdrücklich entgegen und legte dar, daß nach der Erfah-

55 D e r Entwurf zur Strafprozeßordnung enthielt in § 2 0 7 die dem Prinzip der freien

Beweiswürdigung entsprechende Maxime der freien Beweiserhebung: „Den Umfang der


Beweisaufnahme bestimmt das Gericht, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder
frühere Beschlüsse gebunden zu sein." ( H a h n / S t e g e m a n n , Die gesamten Materialien zur
S t r a f p r o z e ß o r d n u n g . . . , 2 . A u f l . 1885, S . 2 8 ) . Das Gesetz aber normierte das Gegenteil,
indem es grundsätzlich das Gericht verpflichtete, den Beweis in dem von den Prozeßbetei-
ligten gewollten Umfang zu erheben (§ 245 i. V. mit § 2 2 0 Abs. 1 StPO). Die Reichstags-
kommission sah in der Vorschrift des Entwurfs eine ungerechtfertigte Beschränkung von
Anklage und Verteidigung in der Durchführung der Beweisaufnahme und einen Wider-
spruch zu § 2 2 0 S t P O . Z u den Einzelheiten der Auseinandersetzung vgl. Hahn/Stege-
mann, a . a . O . , S . 8 4 7 f f , 1180, 1357ff, 1 5 8 2 f , 1621, 1 6 5 7 f , 1898ff, 2014, 2019.
Beide Vorschriften wurden 1924 ( R G B l . I, S . 3 2 2 ) lediglich neu numeriert.
36

N a c h w . zu der Rspr. des R G finden sich bei Alsberg/Nüse/Meyer,


17 D e r Beweisantrag
im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, unter den jeweiligen Stichworten.
31 Vgl. dazu und zum folgenden die umf. N a c h w . aus der reichsgerichtlichen Recht-

sprechung bei Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich,


17. Aufl. 1927, § 2 4 4 A n m . 8 - 1 5 . § 2 4 4 Abs. 2 R S t P O lautete 1927: „Es bedarf eines
Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die V o r -
nahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht."
956 Dieter Meurer

rung der Gebrauch eines zur Verfügung stehenden nicht offensichtlich


untauglichen Beweismittels das Bild des zu beurteilenden Geschehens-
ablaufs selbst dann wider Erwarten verändern könne, wenn das Gericht
glaubt, die Feststellung einer Tatsache unbedenklich auf bisher erhobene
Beweise stützen zu können. Von diesem Grundgedanken ausgehend
bezeichnete das Reichsgericht die Umstände, die es ausnahmsweise
rechtfertigen, einen Beweisantrag, sei es als unzulässig, sei es als unbe-
gründet zu verwerfen: Unzulässig ist ein Beweisantrag, wenn feststeht,
daß der Antragsteller seinen Beweiserhebungsanspruch mißbraucht,
indem er ihn in Verschleppungsabsicht geltend macht oder andere
verfahrensfremde Zwecke verfolgt. Die absolute Unerheblichkeit der
behaupteten Tatsache, der totale Mangel an Beweisbedürftigkeit,
Unbrauchbarkeit und Unerreichbarkeit des angegebenen Beweismittels
hingegen haben die Ablehnung als unbegründet zur Folge. Beim Beweis
durch Sachverständige und durch Augenschein gilt aus der Eigenart
dieser Beweisarten als Besonderheit, daß das Gericht nach pflichtgemä-
ßem Ermessen darüber zu entscheiden hat, ob es Grund hat, sich ihrer
zu bedienen.

2. Mit der ausdrücklichen Übernahme der Wahrheitserforschungs-


pflicht in das Gesetzesrecht (1935) 39 war indes die Notwendigkeit,
Probleme der Beweiserhebung im Rahmen des §261 S t P O zu erörtern,
keineswegs entfallen. Durch gesetzgeberische Maßnahmen und durch
Verordnungen wurde nämlich seit 1924 das Beweiserhebungsrecht der
Parteien, das gemäß § 2 4 4 Abs. 2 R S t P O a. F. lediglich für Übertre-
tungs- und Privatklagesachen nicht galt, immer weiter abgebaut 40 und

" Gesetz v. 28.6.1935 (RGBl. I, S.44). §244 Abs. 2 RStPO lautete nunmehr: „Das
Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig
ist."
40 Die Emminger-Reform (VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v.

4.1.1924, RGBl. I, S. 11) führte, obwohl der Wortlaut des §244 Abs. 2 RStPO: „In den
Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Laiengerichten in der Berufungsin-
stanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene
Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei
durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein" (Hervorhebungen
vom Verf.) nahezu unverändert in §245 Abs. 2 RStPO übernommen wurde, zu einer
ersten Veränderung. Infolge der Beseitigung der erstinstanzlichen Strafkammern, deren
Zuständigkeit auf die Schöffengerichte überging, und der vergrößerten Zuständigkeit des
Einzelrichters wurde stillschweigend der Bereich erweitert, in dem das Ermessen des
Gerichts den Umfang der Beweisaufnahme bestimmte. Nachdem dies durch Gesetz v.
22.12.1925 (RGBl. I, S. 475) wieder rückgängig gemacht worden war, trat das Gesetz v.
27.12.1926 (RGBl. I, S. 529) „Auswüchsen des Parteibestimmungsrechts" durch erstma-
lige Normierung des Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppung entgegen.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 957

schließlich vollends abgeschafft. 1932 4 1 w u r d e das B e w e i s a n t r a g s r e c h t in


allen S a c h e n v o r d e m A m t s g e r i c h t u n d d e m L a n d g e r i c h t als B e r u f u n g s -
instanz beseitigt, 1 9 3 9 schließlich i m V e r o r d n u n g s w e g e v o r g e s c h r i e b e n ,
daß jedes G e r i c h t in jeder Sache einen B e w e i s a n t r a g ablehnen k ö n n e ,
„ w e n n es n a c h s e i n e m freien E r m e s s e n die E r h e b u n g des B e w e i s e s z u r
E r f o r s c h u n g der W a h r h e i t n i c h t für e r f o r d e r l i c h hält" 4 2 . D e r z u n e h m e n -
den R e c h t l o s i g k e i t des B e s c h u l d i g t e n t r a t das R e i c h s g e r i c h t u n t e r B e r u -
fung auf § § 2 4 4 A b s . 2 n . F . , 2 6 1 R S t P O entgegen 4 3 . D e n Mißbrauch
t a t r i c h t e r l i c h e r B e w e i s e r h e b u n g s f r e i h e i t sahen die R e v i s i o n s g e r i c h t e als
V e r s t o ß gegen die Pflicht z u r materiellen W a h r h e i t s e r f o r s c h u n g d u r c h
u m f a s s e n d e B e w e i s w ü r d i g u n g an, die u n a b h ä n g i g v o n den B e w e i s a n t r ä -
gen der P a r t e i e n existiere 4 4 . V o n diesem Z u s t a n d w a r m a n g e l s gesetzli-
c h e r R e g e l u n g a u c h in den ersten N a c h k r i e g s j a h r e n auszugehen 4 5 .

3. E r s t 1 9 5 0 w u r d e das strenge B e w e i s a n t r a g s r e c h t in der v o m R e i c h s g e -


r i c h t e n t w i c k e l t e n F o r m d u r c h § § 2 4 4 ff S t P O o h n e w e s e n t l i c h e E i n -

41 Not-VO v. 14.6.1932 (1. Teil Kap.I Art. 3 §1) (RGBl. I, S.285). Das Gesetz v.

28.6.1935 (Fn.39) normierte sodann erstmalig die reichsgerichtliche Rechtsprechung,


behielt jedoch die Beschränkung des Beweiserhebungsrechts der Parteien bei. So lautete
§245 RStPO Abs.l: „In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht
und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag
ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erfor-
schung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen
für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige."
Abs. 2: „Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem
Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur
abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offen-
kundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden
soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel
völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der
Prozeßverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entla-
stung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die
behauptete Tatsache wahr."
Abs. 3: „Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses."
42 §24 der Vereinfachungs-VO v. 1.9.1939 (RGBl. I, S. 1685).

43 Dazu und zur Geschichte der Aufklärungsrüge Sarstedt/Hamm, Die Revision in


Strafsachen, 5. Aufl. 1983, S. 197ff mit Nachw. aus Rspr. und Schrifttum.
44 Siehe dazu die Kommentierung des § 261 RStPO von Niethammer in dem 1940 unter
dem Titel „Neues Strafverfahrensrecht" erschienenen zweiten Nachtrag zur 19. Aufl. des
Kommentars von Löwe/Rosenberg (1934) sowie Niethammers beschwörende Mahnungen,
die Wahrheitserforschungspflicht und das Beweisantragsrecht mit größtem Ernst wahrzu-
nehmen, die die Einleitung der ersten Nachkriegsauflage dieses Kommentars in beeindruk-
kender Weise durchziehen (20. Aufl. 1958, S.57ff).
45 Umf. Nachw. zur strafprozessualen Nachkriegsgesetzgebung bei LK-Schäfer,
23. Aufl. 1976, Einl. Kap. 3, Rdn.45ff.
958 Dieter Meurer

schränkung in das Gesetzesrecht46 eingefügt. Es gilt abgesehen von


Privatklagesachen (§384 Abs. 3 StPO) und Ordnungswidrigkeiten ver-
fahren (§77 OWiG) heute ohne Ausnahme. Seitdem aber sind die
historischen Gründe entfallen, personelle Mängel von Berufsrichtern
und Schöffen sowie Probleme der Beweiserhebung im Rahmen des §261
StPO zu erörtern.

V.
Systematische Betrachtungsweise hat somit danach zu fragen, welcher
Einzelnorm oder Prozeßmaxime die jeweiligen Problemlagen nach heute
geltendem Strafprozeßrecht zuzuordnen sind.
1. Personelle Mängel von Berufsrichtern und Schöffen werden nach
richtiger Ansicht als absoluter Revisionsgrund i. S. des § 338 Nr. 1 StPO
behandelt47. Diese Norm setzt voraus, daß „das erkennende Gericht
nicht vorschriftsmäßig besetzt war". Nun enthalten aber weder die
Strafprozeßordnung noch das Gerichtsverfassungsgesetz Vorschriften
darüber, ob und ggf. welche körperlichen Beeinträchtigungen die Teil-
nahme von Richtern an Verhandlungen ausschließen. Diese Regelungs-
lücke wird zutreffend dadurch geschlossen, daß Rechtsprechung und
Schrifttum problematische Sachverhalte nach abgeleiteten Verfahrens-
maximen beurteilen, die u.a. in §261 StPO zum Ausdruck kommen,
aber auch aus den übrigen Vorschriften der §§226 ff StPO gefolgert
werden können. So verstößt die Teilnahme blinder, tauber und stummer
Richter letztlich gegen das Unmittelbarkeitsprinzip und die Mündlich-
keitsmaxime, die gebieten, Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu
befragen, anzuhören und zu beobachten, Urkunden zu verlesen sowie
Beweise in Augenschein zu nehmen (z.B. arg. §§238, 240, 243, 249ff,
264 Abs. 1 StPO) 48 . Vorübergehende Erkrankung, Schlaf und Unauf-
merksamkeit sind ebenfalls danach zu beurteilen, inwieweit sie nach der
konkreten Fallgestaltung gegen die angeführten Verfahrensprinzipien

44 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit v. 2 0 . 9 . 1 9 5 0 (BGBl. S.455). In

diesem Zusammenhang wurde das Verfahren zur Behandlung von Beweisanträgen auf
Vernehmung von Sachverständigen erstmalig in § 244 Abs. 4 StPO ausdrücklich geregelt.
47 Vgl. dazu z . B . die umfassende Übersicht bei LR-Hanack (Fn.34) Rdn.38ff. Nach
der älteren Rspr. des R G lag der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO nur vor,
wenn Richter an Urteilen mitgewirkt hatten, die nicht in gesetzlicher Weise berufen waren
(RGSt. 22, 106 ff. - Geschworene - ; ferner R G J W 1925, 1007; R G GA 68, 360; R G L Z
1920, 804). Die Änderung der Rspr. setzte mit RGSt. 60, 63 ff (schlafender Schöffe) ein
und wurde bis heute (BGHSt. 4 , 1 9 1 ff - blinder Richter - ) beibehalten (vgl. die Nachw. in
Fn. 3).
48 Einzelheiten bei LR-Hanack, a. a. O.
Beweiserhebung und Beweiswürdigung 959

verstoßen49. Diese Abwägung wie auch die freibeweisliche Feststellung


andauernder körperlicher Mängel haben ohne jede Rücksicht darauf zu
erfolgen, ob die Beweiswürdigung im konkreten Fall beeinträchtigt
worden ist: Gemäß § 338 StPO wird unwiderleglich vermutet, daß das
Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Schon diese Erwägung zeigt,
daß die Erörterung körperlicher Mängel von Richtern im Rahmen des
§261 StPO nicht auf den inneren Zusammenhang mit Problemen der
Beweiswürdigung zurückzuführen ist.
2. Probleme des privaten richterlichen Wissens, von Offenkundigkeit,
Allgemeinkundigkeit und Gerichtskundigkeit betreffen das Unmittel-
barkeitsprinzip und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
a) Keine Beweiswürdigung ist ohne allgemeines „privates Wissen des
Richters" möglich. Darum geht es jedoch hier nicht. Die Zweifelsfragen
beziehen sich vielmehr auf besondere, Schuld und Strafe betreffende
außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Kenntnisse sowie auf die
Übernahme „amtlichen Wissens" aus den Akten ohne prozeßordnungs-
gemäße Einführung 50 unter Umgehung des rechtlichen Gehörs.
b) Um die gleiche Problematik geht es bei Offenkundigkeit, Allgemein-
kundigkeit und Gerichtskundigkeit. Derartige Tatsachen und Erfah-
rungssätze betreffen das Unmittelbarkeitsprinzip, das insoweit durch-
brochen wird, als eine Beweiserhebung, die zur Anwendbarkeit des
§261 StPO gerade vorausgesetzt wird, überflüssig erscheint. Was die
Verpflichtung angeht, offenkundige, allgemeinkundige und gerichtskun-
dige Tatsachen und Erfahrungssätze zum Gegenstand der Hauptver-
handlung zu machen, handelt es sich letztlich um ein Problem des
rechtlichen Gehörs, das gebietet, die Prozeßbeteiligten nicht dadurch zu
überrumpeln, daß der Verhandlung entzogene Tatsachen bei der Fest-
stellung von Schuld und Strafe berücksichtigt werden51.
3. Um Probleme der Beweiserhebung und nicht der Beweiswürdigung
handelt es sich letztlich auch bei Schweigen von Angeklagten (§§136
Abs. 1 Satz 2, 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) und Zeugen (§§52 ff StPO),
Zweifelsfragen forensischer Wahrheit (§244 Abs. 2 StPO), der Unter-
scheidung von Strengbeweis und Freibeweis und von Befund- und
Zusatztatsachen beim Sachverständigenbeweis. Gleiches gilt für Pro-
bleme unerreichbarer Beweismittel (§244 Abs. 3 Satz 2 StPO), der
Verwendung stenografischer Protokolle bzw. von Tonbandaufnahmen

49 Das kommt bei Kleinknecht/Meyer (Fn. 12) § 338 Rdn. 14 f sowie bei KMR-Paulus
(Fn. 13) §338 Rdn. 31 ff nicht hinlänglich zum Ausdruck.
so Vgl. die Nachw. in Fn. 1 und 2.

51 N a c h w . in Fn. 1 f sowie 6 f.
960 Dieter Meurer

und auch für die Grundlagen des Indizienbeweises52. Zweifelsfragen sind


unter Berücksichtigung der jeweiligen Verfahrensmaxime bzw. Vor-
schrift zu beantworten, die eine entsprechende Regelung enthalten. Ist
danach die Beweiserhebung rechtens und prozeßordnungsgemäß durch-
geführt, sind die Ergebnisse nach freier Uberzeugung unter Berücksich-
tigung des Inbegriffs der Verhandlung zu würdigen.

VI.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß §261 StPO in Rechtsprechung
und Schrifttum als eine Art „Auffangtatbestand" Verwendung findet,
dem die Funktion zugeschrieben wird, Regelungslücken aufzufüllen.
Ein Großteil der in diesem Zusammenhang erörterten Zweifelsfragen
sind vor dem Hintergrund des derzeitigen Gesetzesstandes richtiger
Ansicht nach als Probleme der Beweiserhebung anzusehen und demge-
mäß in diesem Zusammenhang zu untersuchen und zu entscheiden. Das
gilt insbesondere für die gesetzlich normierte Wahrheitserforschungs-
pflicht und für das Recht der Beweiserhebung (§§244 ff StPO), deren
Erörterung im Rahmen des §261 StPO aus systematischen und histori-
schen Gründen abzulehnen ist. Nur so kann dem Eindruck entgegenge-
wirkt werden, daß §261 StPO (wiederum)53 mangels ausdrücklicher
gesetzlicher Regelung stillschweigend oder unbewußt die Funktion
zugeschrieben wird, Beweiserhebungsfehler durch „Beweiswürdigung"
zu heilen. Die strikte Trennung von gebundener Beweiserhebung und
freier Beweiswürdigung in Anerkennung vielfältiger Wechselwirkung ist
eine unverzichtbare Errungenschaft des modernen Strafprozesses.

52 Die angeführten Vorschriften enthalten keine Beweiswürdigungsregeln, sondern


Bewe'iserhebttngsregeln. Zu dieser Unterscheidung vgl. meinen Beitrag in Oehler-Festschr.
1985, S. 357 ff m. weit. Nachw.
53 Vgl. sub IV.
Beschränkung der Verteidigung
durch Daueranwesenheit des Sachverständigen
zur Schuldfähigkeitsbegutachtung
in der Hauptverhandlung?
FRITZ LOOS

In dem vielfältigen publizistischen Echo auf das Strafverfahren gegen


den früheren FDP-Landesvorsitzenden von Rheinland-Pfalz Hans-Otto
Scholl ist eine Verfahrensepisode nicht sonderlich beachtet worden:
Anfang August 1985 beschloß das Gericht, einen Sachverständigen zur
Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu bestellen und den
Gutachter zur Beobachtung des Angeklagten während der weiteren
Beweisaufnahme dauernd an der Hauptverhandlung teilnehmen zu las-
sen; Scholl lehnte es damals noch strikt ab, sich hinsichtlich seiner
Schuldfähigkeit psychiatrisch untersuchen zu lassen. Nach der Verkün-
dung des Beschlusses erklärte Scholl, der bis dahin seine Verteidigung in
der Hauptverhandlung selbst aktiv betrieben hatte, er werde von nun an
nichts mehr sagen1. An dieser Reaktion des Angeklagten Scholl soll uns
natürlich weder die konkrete Motivation interessieren noch die Tatsa-
che, daß er sich nicht konsequent an seinen Plan zu schweigen gehalten
hat; auch ist die weitere Entwicklung des Verfahrens für uns unerheb-
lich. Vielmehr soll diese Reaktion, die ja auf den ersten Blick ganz
unabhängig von den Umständen im einzelnen nicht ganz unverständlich
erscheint, nur Anlaß sein, einer allgemeinen Prozeßrechtsfrage nachzu-
gehen. Ist es strafverfahrensrechtlich unproblematisch, einen Sachver-
ständigen in der Hauptverhandlung anwesend sein zu lassen, damit er
dort Material für die Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten
sammelt2? Die Frage stellt sich mit etwas anderen Akzenten grundsätz-

1 Vgl. F A Z vom 8.8.1985.


2 Soweit ich der Tagespresse (vgl. F A Z vom 8.8.1985 und SZ vom 7. und 8.8.1985)
entnehmen konnte, betraf der Streit in der damaligen Hauptverhandlung gegen Scholl die
Frage, inwieweit die Entscheidung des Gerichts, die Schuldfähigkeit des Angeklagten
begutachten zu lassen, eine Vorentscheidung über die Täterschaft enthielt, nicht aber die
im Text aufgeworfene Rechtsfrage. Selbstverständlich geht es im folgenden nicht darum,
ob im Verfahren gegen Scholl in concreto korrekt prozessiert worden ist, zumal man
annehmen kann, daß durch den weiteren Verlauf der Hauptverhandlung (vgl. F A Z vom
30.11.1985) die hier interessierende Frage zumindest an Bedeutung verloren hat.
962 Fritz Loos

lieh auch, wenn der Beschuldigte vor der Hauptverhandlung psychia-


trisch oder psychologisch untersucht und/oder in einem psychiatrischen
Krankenhaus beobachtet worden ist (§81 StPO). Unter zwei Gesichts-
punkten drängen sich Bedenken auf: Der Angeklagte kann sich in seinen
Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt sehen, aber auch die Aufklä-
rungsmöglichkeiten für das Gericht können tangiert sein.
Ohne die Problematik näher juristisch zu qualifizieren, kann man
einsehen, daß ein Angeklagter die Sorge hat, bei seinen Einlassungen,
Erklärungen und Fragen dem psychiatrischen oder psychologischen
Sachverständigen Anhaltspunkte für eine ihn belastende Begutachtung
zu liefern, und er daher lieber schweigt; diese Sorge kann bestehen,
gleichgültig ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist, ob er eher
das Gutachterergebnis, schuldfähig zu sein, oder aber eine Exkulpation
oder Dekulpation fürchtet. Der Entschluß zu schweigen kann zugleich
die Verteidigung und die Aufklärungsmöglichkeiten zum Tathergang
beeinträchtigen: Das Gericht, das mit der Zuziehung des Sachverständi-
gen zur Beobachtung der Beweisaufnahme seine Aufklärungspflicht
hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Angeklagten erfüllen will, kann sich
damit Erkenntnisquellen zum äußeren Tathergang, aber auch zu subjek-
tiven Deliktsmerkmalen verstopfen. Das gilt wohl in besonderem Maße,
wenn der Angeklagte unschuldig ist, da er dann nicht oder doch nur
durch seinen Verteidiger und damit unter Umständen unter verfahrens-
dynamischen Gesichtspunkten zu spät - Verfestigungen von Uberzeu-
gungen lassen sich später möglicherweise nur schwer wieder auflockern
- auf Umstände aufmerksam machen kann, die nur er kennt. Wenn
Kommunikationsschwierigkeiten zwischen dem Angeklagten und sei-
nem (Pflicht-)Verteidiger bestehen, können sich die Probleme steigern.
Andererseits trägt auch der schuldige Angeklagte, selbst wenn er leug-
net, häufig genug gegen seinen Willen zur Wahrheitsfindung bei.
Die Entscheidung, einen psychiatrischen oder psychologischen Sach-
verständigen zur Beobachtung der Hauptverhandlung heranzuziehen,
kann aber auch dann bedenklich sein, wenn der Angeklagte sich nicht zu
völligem oder auch nur teilweisem Schweigen entschließt. Mag in einem
solchen Falle des sich weiter aktiv verteidigenden Angeklagten auch die
Aufklärung des Tathergangs weniger beeinträchtigt sein, so ist doch
auch hier unübersehbar, daß die Verteidigungsmöglichkeiten tangiert
sein können. Das wird besonders deutlich bei einem Angeklagten, für
den auch nur das gutachterliche Votum „Verminderte Schuldfähigkeit
nicht auszuschließen" 3 sogar ohne gerichtliche Bestätigung eine Art

3
Die Frage, wie ein solches Votum regelgerecht durch den Sachverständigen zu
formulieren wäre (vgl. z.B. Schreiber, Wassermann-Festschrift 1985, S. 1007, 1017ff),
steht hier selbstverständlich nicht an.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 3

bürgerlichen Tod darstellen kann, demgegenüber eine Bestrafung wegen


einer nicht sonderlich gravierenden Tat, solange nur keine Zweifel an
seiner uneingeschränkten Verantwortlichkeit aufkommen, eine quantité
négligeable sein kann. Ein solcher Angeklagter wird immer erwägen
müssen, ob er mit dem Hinweis auf entlastende Momente nicht das
Risiko läuft, Material für Zweifel an seiner „geistigen Gesundheit" zu
liefern, und ob er darum nicht besser auf eine Mitteilung verzichten soll;
wenn er vermutet, daß gerade sein Verhalten gegenüber Zeugen, sei es
das Opfer, seien es Bezugspersonen aus seinem Alltag, vom Sachverstän-
digen als aufschlußreich angesehen werden wird 4 , wird er seine Auf-
merksamkeit in solchen Situationen teilen müssen. Daß eine dauernde
Beobachtung durch einen Psychiater oder Psychologen zu einer Verun-
sicherung führen kann, ist jedenfalls zu vermuten; damit kann die in der
Hauptverhandlung ohnehin beeinträchtigte Fähigkeit zu Übersicht und
vernünftigen Abwägungen 5 zusätzlich erheblich vermindert werden.
Angesichts der soeben skizzierten Befürchtungen überrascht es, daß
die Anwesenheit des psychiatrischen oder psychologischen Sachverstän-
digen zur Begutachtung der Schuldfähigkeit während der ganzen
Beweisaufnahme oder doch zumindest während großer Teile derselben
bisher kaum als ein besonderes Problem empfunden wird 6 . Das gilt
zunächst und vor allem für den juristisch-strafprozessualen Aspekt.
Soweit ersichtlich, ist in der Rechtsprechung bisher nur die entgegenge-
setzte Fragestellung, ob nämlich alles Nützliche geschehen ist, um dem
Gutachter ein möglichst breites Material für seine Begutachtung zu

4 Vgl. Göppinger, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie II (hgg. von Göppinger

und Witter), 1972, S. 1531, 1555.


5 Vgl. Barbey, Das forensisch-psychiatrische Interview, Schriftenreihe des Instituts für

Sozialmedizin und Epidemiologie des Bundesgesundheitsamts (SozEp-Berichte 1/1980),


S. 34, 59 f m. w. Nachweisen.
6 Unter den hier angesprochenen rechtlichen Aspekten wird die Anwesenheit des

Sachverständigen in der gesamten Hauptverhandlung auch im AE Novelle zur Strafpro-


zeßordnung, Reform der Hauptverhandlung, bearbeitet von Baumann u.a. (1985) nicht
erörtert. Zwar wird die Möglichkeit, die Anwesenheit des Sachverständigen in der
zweigeteilten Hauptverhandlung häufig auf die Rechtsfolgenverhandlung zu beschränken,
als positiv eingeschätzt, weil dadurch das von Haddenbrock (NJW 1981, 1302 ff) herausge-
stellte Dilemma des Sachverständigen, durch seine Persönlichkeitsanalyse inadäquate
Indizien für oder gegen die Täterschaft des Angeklagten zu liefern, vermieden werden
könne (a.a.O. S. 56); außerdem wird auf die Zeitersparnis für den Sachverständigen
verwiesen (a. a. O. S. 4, 6). Die hier angesprochenen Gesichtspunkte - Konflikt zwischen
Aufklärung zur Schuldfähigkeit und Verteidigungsinteressen bzw. Tathergangsaufklärung,
der auch schon de lege lata Lösungen erheischt - werden aber nicht thematisiert.
964 Fritz Loos

verschaffen, thematisiert worden 7 . Wenn in der Literatur Dünhaupt8 die


Notwendigkeit der dauernden Anwesenheit von Sachverständigen in der
Hauptverhandlung in Frage stellt, wird nicht nur eine Ausnahme für die
Sachverständigen zur Begutachtung der Schuldfähigkeit gemacht, son-
dern vor allem nur die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit einer
solchen Anwesenheit für eine zutreffende Begutachtung erwogen; daß
Aufklärungsinteressen hinsichtlich des Tatvorgangs, vor allem aber Ver-
teidigungsinteressen entgegenstehen könnten, wird nicht bedacht.
Für die psychiatrischen und psychologischen Sachverständigen stehen
verständlicherweise nicht solche Gegeninteressen, sondern die Fragen
nach der diagnostischen Ergiebigkeit von Beobachtungen in der Haupt-
verhandlung im Vordergrund. Insofern werden Zweifel geäußert, ob die
Beobachtung in der Hauptverhandlung ohne vorherige Untersuchung
überhaupt für eine adäquate Begutachtung ausreichen kann, aber auch
ob die Beobachtung in der Hauptverhandlung auch nur wesentliche
zusätzliche Aufschlüsse nach einer vorangegangenen Untersuchung (sei
es durch ein psychiatrisch-forensisches oder psychologisch-forensisches
Interview', sei es durch bloße Beobachtung nach einer Einweisung nach
§81 StPO, sei es durch beides10) zu geben vermag. Angesichts der
Tatsache, daß hier bisher kein juristisches Problem gesehen wird, ist es

7 Hinsichtlich der Begutachtung der Schuldfähigkeit BGH NJW 1968, 2298, 2299; vgl.

auch B G H 27, 166, 167. Die zur notwendigen Anwesenheit des Sachverständigen während
der gesamten Hauptverhandlung oder doch wesentlicher Teile - übrigens wohl alle auf
Revision des Angeklagten - veröffentlichten Entscheidungen (vgl. etwa RG J W 1927,
2040; BGH 2, 25, 2 7 f ; 19, 367, 368ff; B G H bei Spiegel DAR 1977, S. 175h); B G H bei
Spiegel DAR 1983, S.205 Nr. 15; vgl. auch BGH 23, 1 f) betreffen meist nicht die
Begutachtung der Schuldfähigkeit. Das mag damit zusammenhängen, daß der psychiatri-
sche oder psychologische Sachverständige regelmäßig während der gesamten Hauptver-
handlung anwesend ist oder doch zumindest ab dem Zeitpunkt, zu dem etwa in der
Beweisaufnahme Zweifel hinsichtlich der Schuldfähigkeit aufkommen. So hält etwa auch
LR"-Gollwitzer, §226 Rdn. 16 die ständige Anwesenheit des Sachverständigen für die
Begutachtung der Schuldfähigkeit in der Hauptverhandlung für meist „notwendig oder
doch zweckdienlich", weil es auf die Kenntnis der Vorgänge in der Hauptverhandlung für
die Erstattung des Gutachtens ankomme (nur wenig zurückhaltender Dünhaupt, NdsRpfl.
1969, S. 131, 132).
8 NdsRpfl. 1969, S. 131 f. - J.-E. Meyer, MschrKrim 1981, S.224, 226 plädiert zwar

auch für eine Beschränkung der Anwesenheitspflicht des psychiatrischen Sachverständi-


gen, aber im wesentlichen wegen der Zeitersparnis für den Gutachter. Vgl. auch AE-StPO
(Fn. 6), S.4, 56 und Schüler-Springorum, Festschrift Stutte, 1979, S. 307, 317 f.
' Die Terminologie ist insoweit offenbar nicht einheitlich; ich folge hier Barbey (Fn. 5),
S. 9 ff, 202.
10 Jedenfalls hinsichtlich der zusätzlichen Beobachtung in der Hauptverhandlung offen-

bar optimistisch Göppinger (Fn. 4), S. 1555; generell skeptisch Barbey (Fn. 5), S. 34, 59 f
(vgl. auch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S.405: „Der Gerichtssaal i s t . . . der ungeeig-
netste Ort, in das geistig-seelische Leben eines Menschen einzudringen." Vgl. aber auch
a.a.O. S.326f.).
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 5

verständlich, daß, soweit ersichtlich, von psychiatrisch-psychologischer


Seite keine Äußerungen über den „Störfaktor Sachverständiger" in der
Hauptverhandlung vorliegen. Bei den folgenden Ausführungen ist also
zu berücksichtigen, daß die oben angestellten Vermutungen, mit denen
auch weiter argumentiert wird, bislang empirisch nicht abgesichert sind,
sondern auf der „Alltagspsychologie" des Verfassers beruhen11. Eine
Ergänzung meiner Überlegungen von psychologisch-psychiatrischer
Seite wäre wünschenswert und für die Stringenz der Argumentation
zumindest teilweise auch erforderlich.
In der folgenden Untersuchung sollen zunächst die gesetzlichen
Grundlagen durchmustert werden, aus denen sich für das Gericht eine
Pflicht zur Beiziehung des Sachverständigen zwecks Beobachtung in der
Hauptverhandlung ergeben kann (I), danach werden die schon in der
Einleitung skizzierten Bedenken gegen eine solche Beiziehung näher
analysiert (II). Anschließend werden Kriterien herausgearbeitet, die zur
Beurteilung des Konflikts zwischen Anwesenheitserfordernis und Ver-
teidigungsinteressen (bzw. Tathergangsaufklärung) durch das Tatgericht
dienen können (III). Im Schlußabschnitt (IV) sollen Überlegungen
darüber angestellt werden, wie sich die Folgen aus der hier aufgeworfe-
nen Problematik abmildern lassen.

I.

Sachverständige gehören nicht zu den Personen, deren dauernde


Anwesenheit in der Hauptverhandlung durch §226 StPO (mit der
Konsequenz des §338 Nr. 5 StPO) gesetzlich vorgeschrieben ist. Aus
§226 StPO läßt sich daher auch eine Anwesenheitspflicht für den
psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen nicht herlei-
ten12. Die in der Regel in den Erläuterungswerken zur Strafprozeßord-
nung hinzugefügte Bemerkung, daß es bei diesen Sachverständigen aber
meist notwendig sei, daß sie der gesamten Hauptverhandlung beiwohn-
ten13, muß also aus anderen Rechtssätzen hergeleitet werden.

11 Gespräche mit Erna Duhm, Herbert Maisch, Elisabeth Müller-Luckmann und Ulrich
Venzlaff, für deren spontane Außerungsbereitschaft ich herzlich danke, haben mich aber
darin bestärkt, daß meine Vermutungen nicht aus der Luft gegriffen sind. - Natürlich gibt
es in der Psychologie generell Untersuchungen darüber, welchen Einfluß der Beobachter
auf den Probanden hat (sogar bei psychologischen Tests wird die bloße Anwesenheit des
Testleiters als Störvariante vermutet und untersucht; vgl. Hartmann, Psychologische
Diagnostik, 1970, S.56; zur Störvariablen Untersucher beim forensisch-psychiatrischen
Interview Barbey (Fn. 5), S. 70 ff.
u Kleinknecht/Meyer, 37. Aufl. 1985, § 2 2 6 Rdn.6; YM^.7-Paulus, Vorb. § 2 2 6 Rdn.49
(beide mit weiteren Nachweisen).
13 LR"-Gollwitzer, § 2 2 6 Rdn. 16; KK-Treier, §226 Rdn.9. - Weitergehend hält es

Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S.232 („im Hinblick auf § 8 0 " ) sogar bei allen Sachver-
966 Fritz Loos

Unergiebig für unser Problem sind auch die Vorschriften der §§ 246 a
i. V. m. 80 a StPO. § 246 a S. 1 statuiert die Pflicht, in der Hauptverhand-
lung einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn mit der Unterbrin-
gung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, seiner
Einweisung in eine Entziehungsanstalt oder mit der Anordnung der
Sicherungsverwahrung zu rechnen ist; dabei muß sich der Sachverstän-
dige in den Fällen der §§63, 64 StGB auch über die Schuldfähigkeit des
Angeklagten äußern14. § 2 4 6 a S.2 und § 8 0 a StPO, die trotz ihrer
Formulierung als Sollvorschriften allgemein als zwingend angesehen
werden15, bestimmen, daß dem Sachverständigen vor der Hauptverhand-
lung Gelegenheit zu einer Untersuchung des Beschuldigten zu geben ist,
wenn die erwähnten Sanktionen in Betracht kommen. Uber die Art und
Weise, wie dem Sachverständigen die Information über die Anknüp-
fungstatsachen zugänglich gemacht werden kann bzw. soll, geben die
Vorschriften keine Auskunft. Rechtsprechung und Literatur sind denn
auch darin einig, daß sich aus § 246 a keine Notwendigkeit einer dauern-
den Anwesenheit des Sachverständigen in der Hauptverhandlung er-
gibt16.
Da auch sonst die Strafprozeßordnung eine ausdrückliche Regelung
einer über die Gutachtenerstattung hinausgehenden Anwesenheitspflicht
des psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen in der
Hauptverhandlung nicht enthält, kann schließlich nur die allgemeine
Aufklärungspflicht des Gerichts (§244 II StPO) 17 Ausgangspunkt der
Überlegungen sein. Die Aufklärungspflicht umfaßt auch die Pflicht,
dem Sachverständigen die notwendigen Anknüpfungstatsachen entwe-

ständigen für regelmäßig zweckmäßig, sie an der ganzen Hauptverhandlung teilnehmen zu


lassen.
14 B G H 9, 1, 3; Y^MK7-Paulus, § 2 4 6 a Rdn.2.

15 RG 68, 198, 327; 69, 129; B G H 9, 1, 3; LR"-Meyer, § 80 a Rdn. 3; LR"-Gollwitzer,

§ 246 a Rdn. 9 (die beiden letzteren mit weiteren Nachweisen).


16 B G H 27, 166, 167; B G H bei Dallinger MDR 1953, 725; KMSJ-Paulus, §246a
Rdn. 5; LR"-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 8 (die beiden letzteren mit weiteren Nachweisen aus
Rechtsprechung und Literatur).
17 Uber das Beweisantragsrecht dürfte kein Anspruch auf Anwesenheit des Sachver-

ständigen über die Gutachtenerstattung hinaus gegeben sein. Die Art und Weise der
Vermittlung der Anknüpfungstatsachen an den Sachverständigen kann nicht nach § 244 IV
durch den Beweisantragsberechtigten festgelegt werden; vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, Der
Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S.92; anders wohl nur zu §81 die h. M. (vgl.
Nachweise bei Alsberg/Nüse/Meyer, a . a . O . S. 100 F n . 6 4 ; dagegen Meyer a . a . O . ) ; wird
einem Antrag auf Beiziehung eines Sachverständigen stattgegeben (jedenfalls beim Sachver-
ständigenbeweis dürfte die Aufklärungspflicht zumindest nicht hinter § 2 4 4 IV StPO
zurückbleiben (vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 19. Aufl. 1985, §43 A 4 mit Nachweisen),
so daß das Gericht mit der Durchführung der Begutachtung auch zugleich seine Aufklä-
rungspflicht erfüllt), hat das Gericht die Vermittlung der Anknüpfungstatsachen in der
gleichen Weise zu betreiben, wie wenn der Sachverständige nach § 244 II beigezogen wird.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 7

der mitzuteilen oder ihm Gelegenheit zu ihrer Ermittlung zu geben18.


Bestimmungen darüber, in welcher Weise das geschehen kann, finden
sich in den §§80 ff StPO. Um eine Untersuchung zu ermöglichen,
stehen die Eingriffsrechte nach §§ 81, 81 a zur Verfügung. Daneben kann
nach § 80 Abs. 1 und Abs. 2 das Gericht den Sachverständigen durch
Akteneinsicht informieren, ihm aber insbesondere auch die Teilnahme
an Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten ermöglichen und ihm
gestatten, seinerseits Fragen zu stellen; die bei den Allgemeinen Vor-
schriften ( l . B u c h der StPO) angesiedelte Bestimmung des §80 gilt
selbstverständlich auch für die Hauptverhandlung19. Die Vorschriften
der §§ 80 ff StPO enthalten Kann-Bestimmungen für das Gericht; welche
Möglichkeiten das Gericht wählt, um dem Sachverständigen die notwen-
dige Kenntnisnahme zu ermöglichen, wird danach zu beurteilen sein,
auf welche Weise eine möglichst optimale Information bzw. Befunder-
hebung gewährleistet werden kann. Dieses aus der Aufklärungspflicht
resultierende grundsätzliche Optimierungsgebot richtet sich an das
Gericht, ohne daß daraus ein Recht des Sachverständigen folgt20. Freilich
wird gerade im Interesse einer Erkenntnisoptimierung das Gericht Anre-
gungen des Sachverständigen tunlichst folgen. Die Auswahl der nach
dem Vorstehenden in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten
wird stets wesentlich davon abhängen, ob der Beschuldigte bereit ist, an
einem psychiatrisch-forensischen oder psychologisch-forensischen
Interview ebenso mitzuwirken wie an psychologischen Tests; eine
Pflicht des Beschuldigten besteht insoweit nicht21, erst recht kann kein
Zwang ausgeübt werden. Auch die Beobachtung in einem psychiatri-
schen Krankenhaus nach § 81 StPO kann sich, nicht zuletzt aus Gründen
einer UnVerhältnismäßigkeit des Eingriffs, verbieten. In derartigen Fäl-
len kann die Beobachtung in der Hauptverhandlung als einzige Erkennt-
nisquelle übrigbleiben. Uber die Anwesenheit des Sachverständigen
wird dann nach der Vorschrift über die Sachleitung in §238 II StPO zu
entscheiden sein22.

18 B G H 2, 25, 27; 19, 367, 368 ff; B G H N J W 1968, 2298, 2299; KK-Pelchen, § 8 0

Rdn.4; LK23-Meyer, § 8 0 Rdn.9; LR"-Gollwitzer, § 2 4 6 a R d n . 8 ; Eb. Schmidt, Lehrkom-


mentar StPO, Teil II 1957, § 8 0 Rdn.2, 3; Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige,
8. Aufl. 1980, S. 190 (alle mit weiteren Nachweisen).
19 B G H 2, 25, 27.

20 So richtig Peters (Fn. 10), S.346 mit dem Hinweis darauf, daß der Sachverständige

kein Strafverfolgungsorgan (d.h. mit eigenen Beteiligungsrechten) ist; vgl. auch Eb.
Schmidt (Fn. 18), § 80 Rdn. 1; zumindest mißverständlich formuliert von Schlächter,
Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 526.3.
21 B G H N J W 1968, 2297 f; Kleinknecht/Meyer, Einl. Rdn. 80 i. V. m. § 81 Rdn. 11; Eb.
Schmidt (Fn. 18), §81 Rdn. 23, 24; Arzt, J Z 1969, 438.
22 Vgl. Gössel (Fn. 13), S. 190.
968 Fritz Loos

Die grundsätzlich auf Optimierung angelegte Aufklärungspflicht ist


aber nicht grenzenlos. Der Bundesgerichtshof23 hat das so formuliert,
daß die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden müsse. Wie
schon in der Einleitung angedeutet, kann die Aufklärungspflicht hin-
sichtlich der Schuldfähigkeit mit Verteidigungsinteressen, aber auch mit
anderweitigen Aufklärungsbedürfnissen in Konflikt geraten. Diese mög-
licherweise konkurrierenden Rechte bzw. Pflichten sind nun zu untersu-
chen.

II.
Rechtliche Anknüpfungspunkte für die in der Einleitung skizzierten,
vom „Störfaktor Sachverständiger" ausgehenden Beeinträchtigungen
können die Aufklärungspflicht hinsichtlich des Tathergangs und die
Verteidigungsinteressen des Angeklagten sein. Die letzteren sollen näher
beleuchtet werden, weil hier die Beeinträchtigung plastisch erscheint,
aber auch, weil die Gegenargumente sich deutlicher erschließen.
Allerdings bewegt man sich, wenn man die Verletzung eines Rechts
auf sachgemäße Verteidigung durch die Beiziehung eines Sachverständi-
gen annimmt, in einem nicht gut gesicherten Gelände. Das positive
Strafverfahrensrecht enthält keine allgemeine Schutzvorschrift dieses
Inhalts, auch nicht Art. 6 III MRK. Bekanntlich wird zu § 338 Nr. 8
StPO darum gestritten, ob ein solches Recht anzunehmen ist, was dann,
wenn die formale Voraussetzung des §338 Nr. 8 (Gerichtsbeschluß)
erfüllt ist24, im Falle der Verletzung zur Revisibilität führt, oder ob eine
unzulässige Beschränkung der Verteidigung i. S. des § 338 Nr. 8 nur bei
Verstoß gegen spezielle gesetzliche Vorschriften zum Schutze der Ver-
teidigungsinteressen gegeben ist25. Letztlich dürfte aber doch insoweit
Einigkeit bestehen, daß schwerwiegende Eingriffe in die Verteidigung
prozeßrechtswidrig sind, gleichgültig ob man ein Recht auf sachgemäße
Verteidigung annimmt oder ob man sich auf die gerichtliche Fürsorge-
pflicht oder den fair-trial-Grundsatz 26 , eventuell auch den Grundsatz des
rechtlichen Gehörs27 beruft28. Bei der Vagheit sämtlicher hier in Betracht
gezogener Verfahrensprinzipien stellt sich in unserem Zusammenhang

23 B G H 14, 358, 365.


24 Der weitere Streit, ob § 338 Nr. 8 einen absoluten oder relativen Revisionsgrund
enthält, kann hier dahinstehen.
25 Vgl. zum Streitstand LR 2 *-Hanack, §338 Rdn. 126 ff. Die erstere Auffassung ist für

die neuere Diskussion von Baldus, Ehrengabe für Bruno Heusinger, 1968, S. 373 ff
begründet worden; sie scheint neuerdings an Boden zu gewinnen; vgl. die Nachweise bei
Kleinknecht/Meyer (Fn. 12), §338 Rdn. 59 und LK"-Hanack, §338 Rdn. 127 Fn.338.
26 So Roxin (Fn. 17), § 53 E II 2 d.

27 Vgl. Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im
Strafverfahren, 1976, S. 184 ff.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 6 9

jeweils dieselbe schwierige Frage, welche psychische Beeinträchtigung


hinzunehmen ist, welche aber nicht mehr.
Generell wird man psychische Beeinträchtigungen nicht aus dem
Bereich rechtlich relevanter Beschränkungen der Verteidigung ausneh-
men können29. Das läßt sich schon aus der Funktion des § 169 S. 2 GVG,
jedenfalls auch eine Verteidigung ohne besondere psychische Belastun-
gen zu sichern, herleiten30. Eine schwere psychische Belastung des
Angeklagten kann aber bei der Hinzuziehung eines Sachverständigen
zur Beobachtung in der Hauptverhandlung gegeben sein. Denn der
Angeklagte, der einerseits gegen den Vorwurf kämpft, ein straftatbe-
standliches Unrecht verwirklicht zu haben, andererseits befürchten
muß, daß aus seinem Verhalten vom Gutachter gravierende Schlüsse
hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit gezogen werden, sieht sich in einen
„Zweifrontenkrieg" verwickelt, der eine für ihn unzumutbare Situation
darstellen kann. Die von Krauß in seinem Vortrag auf der Kieler
Strafrechtslehrertagung31 so eindrücklich beschriebenen Unterschiede
zwischen dem Kampf des Bürgers um sein Recht gegen den ihn ankla-
genden Staat in der gerichtlichen Hauptverhandlung einerseits, der
Begutachtungssituation andererseits werden hier übergangen: die Sphä-
ren werden nicht einmal rein zeitlich getrennt. Die Auseinandersetzung
„man versus State", der Einsatz des Prozeßsubjekts Angeklagter muß
beeinträchtigt werden, wenn der Angeklagte zugleich Objekt einer
psychiatrischen oder psychologischen Beobachtung ist. Mag man auch
bezweifeln, daß mit der von Krauß32 so stark herausgestellten Objektssi-
tuation generell die Beziehung Beschuldigter - psychiatrischer/psycho-
logischer Sachverständiger zutreffend beschrieben ist33, so scheint doch
für die Beobachtung in der Hauptverhandlung eine derartige Charakteri-
sierung nicht unangemessen.
Die Annahme einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung der Vertei-
digung kann man von zwei Gesichtspunkten aus bestreiten. Einerseits
kann man darauf verweisen, daß der Angeklagte, dessen mögliche Ex-

2 ' So auch Baldus (Fn. 25), S.381. Im Revisionsrecht würde sich die Stellung des

Angeklagten bei der Heranziehung der zuletzt genannten Prinzipien insofern verbessern,
als er nicht in der Tatsacheninstanz einen Gerichtsbeschluß nach § 238 II StPO herbeige-
führt haben müßte (insofern aber wohl wieder anders Schlucktet, Fn. 20, Rdn. 742).
29 Vgl. z . B . Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, 2.Aufl. 1964, Rdn.414ff; Baldus
(Fn. 25), S. 379.
30 Vgl. zur Bedeutung von B G H 10, 202 in der Entstehungsgeschichte des § 1 6 9 S.2

GVG LR"-Schäfer, Einl. Kap. 13 Rdn. 101 ff, insbes. Rdn. 103.
31 ZStW Bd. 85 (1973), S. 320 ff, insbes. S. 342 ff.

32 Krauß (Fn. 31), S.343, 347.

33 Dagegen z. B. Plewig, Funktion und Rolle des Sachverständigen aus der Sicht des

Strafverteidigers, 1983, S. 63. In der Tendenz offenbar anders neuerdings auch Krauß,
Z S t W B d . 9 7 (1985), S. 81 ff.
970 Fritz Loos

oder Dekulpation das Gericht in seine Prüfungsüberlegungen einbezo-


gen hat, unweigerlich gezielten Beobachtungen in dieser Richtung durch
die Richterbank ausgesetzt ist34. Die Situation für den Angeklagten
verschärft sich, wenn Berufs- oder Laienrichter ihrerseits aufgrund ihrer
Ausbildung über besonderen psychologischen oder psychiatrischen
Sachverstand verfügen. Einer solchen Situation standhalten zu müssen,
ist das allgemeine prozessuale Risiko des Angeklagten, so daß eine
verfahrensrechtlich relevante Beeinträchtigung seiner Verteidigungs-
möglichkeiten nicht vorliegt. Ein Schluß, daß dann auch die Zuziehung
des Sachverständigen in der Hauptverhandlung zulässig sein müsse,
verbietet sich aber, weil die beiden Situationen letztlich doch unver-
gleichbar sind. Dabei scheint mir der entscheidende Unterschied nicht in
der sachverständigen Kompetenz zu liegen, wenn auch allein wegen
seiner Professionalität der Gutachter den Richtern überlegen35 und damit
für den Angeklagten „gefährlicher" sein wird. Ausschlaggebend ist
vielmehr die unterschiedliche Rolle der Richter einerseits, der Sachver-
ständigen andererseits. Die Richter - und zwar nicht nur der Vorsit-
zende, sondern auch die Beisitzer und Laienrichter - sind in die Kom-
munikation über Schuld und Unschuld, über Tathergang und Tatbetei-
ligte involviert, während der Sachverständige die Position des distanzier-
ten Beobachters einnehmen kann. Gerade durch diese letztere Position
aber wird der Angeklagte zum Objekt in der oben beschriebenen
Weise36.
Bagatellisieren ließe sich andererseits die Beeinträchtigung auch unter
dem ganz anderen Gesichtspunkt, daß bei Abwesenheit des Sachverstän-
digen in der Hauptverhandlung eine nachträgliche Information des
Gutachters durch das Gericht zu erfolgen hätte37, und jedenfalls diese
Beeinträchtigung unvermeidbar wäre. O b man dem mit dem rechtlichen
Argument begegnen könnte, es seien auch mittelbare Beeinträchtigun-
gen zu vermeiden, oder ob man in Recht und Pflicht zur Information des

34
Vgl. dazu allgemein Leferenz, in: Kriminalbiologische Gegenwartsfragen, 1962,
S.l, 10 f.
35
Der - m. E. übrigens nicht unproblematische - Fall des professionellen Psychiaters
oder Psychologen in der Rolle des Laienrichters dürfte wohl zu vernachlässigen sein.
36
Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Beobachtung zur Begutach-
tung der Schuldfähigkeit. Soweit es um die Begutachtung der Glaubwürdigkeit des
Angeklagten - zu ihrer generellen Zulässigkeit vgl. die Nachweise bei Schlüchter (Fn. 20),
Rdn. 169, 274 - geht, wären m. E. zumindest erhebliche Modifikationen erforderlich. Vgl.
zur Pflicht des Zeugen, die Begutachtung, aber auch die Anwesenheit des Sachverständigen
in der Hauptverhandlung zu dulden, BGH 23, 1, 2 (insoweit zustimmend auch Peters,
Fn. 10, S. 327); vgl. auch BGH 19, 367.
37
Zur entsprechenden Informationspflicht des Gerichts vgl. BGH 2, 25, 27 f; BGH 27,
166, 167 (in BGH 27, 166 freilich aus §246a StPO hergeleitet). Weitere Nachweise bei
LR *-Meyer, §80 Rdn. 9; LR "-Gollwitzer, §246a Rdn. 8; KK-Pelchen, §80 Rdn. 4.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 1

Sachverständigen nur die Konsequenz aus der oben angesprochenen


Pflicht des Angeklagten, die Beobachtung durch das Gericht zu dulden,
sehen will, kann letztlich dahinstehen. Denn die mittelbare Beeinträchti-
gung durch die drohende spätere Information durch das Gericht ist eine
wesentlich geringere als die durch die Beobachtung durch den Sachver-
ständigen; zur Begründung kann auf den schon angesprochenen Unter-
schied der Beobachtung durch das Gericht einerseits, den Sachverständi-
gen andererseits verwiesen, aber auch das Defizit an Information, das ein
Bericht des Vorsitzenden gegenüber der unmittelbaren Beobachtung
aufweist, erwähnt werden.
Die bisherigen Überlegungen zur Beeinträchtigung der Verteidi-
gungsinteressen haben, ohne daß die Frage ausdrücklich thematisiert
worden ist, zur Voraussetzung gehabt, daß die Zuziehung des Sachver-
ständigen zur Beobachtung des Angeklagten in der Hauptverhandlung
gegen den Willen der Verteidigung, insbesondere gegen den Willen des
Angeklagten erfolgt. Wenn der Angeklagte mit der Beobachtung in der
Hauptverhandlung einverstanden ist, wird man von einer Beeinträchti-
gung der Verteidigungsinteressen, die ja vom Angeklagten und seinem
Verteidiger zu definieren sind, nicht ausgehen können. Freilich stellen
sich beim Einverständnis des Angeklagten, dessen Schuldfähigkeit zur
Debatte steht, eine Reihe von Fragen, die hier nur angedeutet werden
können. Rechtlich und tatsächlich wird es schwierig sein, zu beurteilen,
ob die Wirksamkeitsvoraussetzungen vorliegen. Man mag rechtlich an
die Auffassung anknüpfen, daß für das Einverständnis eines Probanden
zur Untersuchung der Schuldfähigkeit (forensisches Interview, Tests)
seine tatsächliche Fähigkeit, Bedeutung und Tragweite zu überschauen,
hinreichend, aber auch erforderlich ist38. Allerdings ist dabei zu beden-
ken, daß der Angeklagte auch in der Lage sein muß, seine Beeinträchti-
gung bei der Verteidigung durch die Beobachtung in der Hauptverhand-
lung zu beurteilen. Immerhin wird das Einverständnis des Angeklagten
auch in tatsächlicher Hinsicht ein Indiz für das Maß der Beeinträchti-
gung der Verteidigungsinteressen sein. Ein solches Indiz dürfte dagegen
bei der gegenwärtigen Praxis nicht unbedingt die schweigende Hin-
nahme der Zuziehung des Sachverständigen zur Beobachtung in der
Hauptverhandlung sein. Daran knüpft sich die Frage, ob die Fürsorge-
pflicht des Gerichts es gebietet, nach Einverständnis oder Ablehnung zu
fragen bzw. über die mögliche Relevanz des Widerspruchs gegen die
Zuziehung aufzuklären 39,40 .

38 Vgl. Jessnitzer, Der gerichtliche Sachverständige, 8. Aufl. 1980, S. 202; so wohl auch
Peters (Fn. 10), S.327.
39 Damit würde dann gegebenenfalls eine Beanstandung nach § 238 II S t P O provoziert,

die einen Gerichtsbeschluß nach dieser Vorschrift herbeiführte. - Vgl. zu einer parallelen
Problematik B G H 13, 394, 398 und dazu Peters (Fn. 10), S . 3 2 7 sowie ders., Die prozeß-
972 Fritz Loos

Aus den zuletzt aufgeworfenen Fragen erhellt noch einmal, daß hier
nicht die These aufgestellt werden soll, die Zuziehung des Sachverständi-
gen zu dem bezeichneten Zweck führe regelmäßig zu einer Beeinträchti-
gung der Verteidigungsinteressen. Im Falle des Widerspruchs des Ange-
klagten bedarf es aber m. E. guter Gründe, eine wesentliche Beeinträch-
tigung von vornherein auszuschließen. Was daraus für die Daueranwe-
senheit des Sachverständigen folgt, läßt sich erst aus einer Abwägung mit
dem Aufklärungsinteresse hinsichtlich der Schuldfähigkeit herleiten.

III.
Von vornherein ist klar, daß eine „glatte" Lösung des Konflikts
zwischen Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit einerseits
und Verteidigungsinteressen im Zusammenhang mit der Aufklärungs-
pflicht hinsichtlich des Tathergangs andererseits nicht zu finden ist. Die
Strafprozeßordnung hat die Problematik nicht berücksichtigt, aber auch
de lege ferenda hat man sich, soweit ersichtlich, mit ihr nicht befaßt. Es
ist auch zweifelhaft, ob für derartige Konflikte überhaupt generelle
Lösungen gefunden werden können. Für die gerichtliche Entscheidung,
ob nach § 80 der Sachverständige zur gesamten Beweisaufnahme hinzu-
gezogen werden soll oder nicht, lassen sich daher nur Gesichtspunkte
für eine Abwägung der konfligierenden Interessen in bestimmten Fall-
gruppen aufführen41.

1. Die Problematik wird sich in aller Regel nicht stellen, wenn der
Angeklagte in vollem Umfang geständig ist. Jedenfalls dürften dann die
immer noch verbleibenden Verteidigungsinteressen und die Aufklä-
rungsnotwendigkeiten zum Tathergang so weit zurücktreten, daß der
Vorrang der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit und
damit gegebenenfalls der Beobachtung des Angeklagten in der Haupt-
verhandlung eindeutig ist.
2. Bei Hauptverhandlungen dagegen, in denen über den Tathergang
gestritten wird, wird die Schwere des erhobenen Vorwurfs ein nicht zu
übergehendes Kriterium sein. Freilich ist das wohl nur für die Bagatell-
fälle ein nicht-ambivalentes Kriterium. Steht nur eine verhältnismäßig

rechtl. Stellung des psychologischen Gutachters, in: Handbuch der Psychologie, 11. Band
(hgg. von Undeutsch), S. 768, 786.
40 Die Aufklärungspflicht zum Tathergang wird natürlich durch das Einverständnis des

Angeklagten nicht ohne weiteres entsprechend eingeschränkt (vgl. Schmidt-Hieber, JuS


1985, 292). Aber auch insoweit wird man dem Einverständnis indizielle Bedeutung dafür
zuschreiben können, daß die Aufklärung nicht wesentlich beeinträchtigt wird.
41 Die folgenden Überlegungen setzen zunächst die Praxis der ungeteilten Hauptver-

handlung voraus. Zur geteilten Hauptverhandlung vgl. unten unter IV 2.


Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 3

geringe Geldstrafe zu erwarten, wird es - jedenfalls solange der Ange-


klagte und/oder sein Verteidiger die Schuldfähigkeit nicht in Zweifel
ziehen - ohnehin fragwürdig sein, in Grenzfällen, d.h. wenn nicht
gravierende Verdachtsmomente für schwere psychotische Abweichun-
gen bestehen, die Schuldfähigkeitsfrage aufzuwerfen42. Um so leichter
wird die Entscheidung dafür fallen, den Angeklagten, der um seine
strafrechtliche Makelfreiheit und damit um seinen Ruf kämpft, nicht in
seiner Verteidigung zu behindern.

3. Geht es dagegen um schwerere oder gar schwerste strafrechtliche


Vorwürfe, steigt das Gewicht der korrekten Aufklärung des Tathergangs
und der unbeeinträchtigten Verteidigung ebenso wie das der für die
Bestimmung der adäquaten Sanktion ausschlaggebenden richtigen Beur-
teilung der Schuldfähigkeit. Hier ist der Konflikt schwer auflösbar,
soweit die Beobachtung durch den in der Hauptverhandlung anwesen-
den psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen einen nen-
nenswerten Ertrag verspricht.

a) An der diagnostischen Ergiebigkeit einer solchen Beobachtung beste-


hen aber erhebliche Zweifel, wenn, wie zunächst im Anlaßfall Scholl,
der psychiatrische oder psychologische Sachverständige weder Gelegen-
heit zu einem forensischen Interview (u.U. in Kombination mit der
Benutzung des testdiagnostischen Instrumentariums) noch zu einer sta-
tionären Beobachtung (§81 StPO) gehabt hat. Die artifizielle Situation
der Hauptverhandlung, der seelische Druck, unter dem der Angeklagte
steht und der durch die Beobachtungssituation noch gesteigert werden
kann, wird außer in Fällen manifester Psychosen die Möglichkeit der
Gewinnung aufschlußreichen Beobachtungsmaterials für eine Schuldfä-
higkeitsdiagnose praktisch ausschließen43. Wegen dieser beschränkten
Erkenntnismöglichkeiten dürfte daher auch bei gravierenden strafrecht-
lichen Vorwürfen größte Zurückhaltung bei der Zuziehung des Sachver-

42 Anders offenbar Schmidt-Hieber (Fn. 40), S. 292, der allerdings das Verhältnismäßig-
keitsproblem gar nicht anspricht. Wie hier wohl AE-StPO (Fn. 6), S. 56 f. Vgl. auch
Schüler-Springorum (Fn. 8), S.312f.
43 Selbstverständlich liegt die Beurteilung hier wieder nicht in der Kompetenz des

Juristen. In der forensisch-psychiatrischen Literatur wird darauf hingewiesen, daß die


Herstellung einer Vertrauensbeziehung zwischen Psychiater und Proband regelmäßig
notwendige Voraussetzung für die Gewinnung diagnostisch ergiebigen Materials ist (vgl.
Hallermann, Einführung in die Rechtsmedizin, in: Handwörterbuch der Rechtsmedizin,
Bd. I 1973, S. I X f; zustimmend Barbey, Fn. 5, S. 81 ff; damit wird natürlich auch der Wert
einer bloßen Anstaltsbeobachtung bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft des Beschuldig-
ten in Frage gestellt). Zur Störvariablen „Gerichtssaalatmosphäre" vgl. Barbey, a. a. O.,
S. 34 f, 59 f; Cabanis, MMW 1969, S.2234, 2236 und von strafprozessualer Seite Peters
(Fn. 10), S.405. Für freundliche Auskünfte und die Einsicht in ein Gutachten danke ich
Ulrich Venzlaff.
974 Fritz Loos

ständigen zur Hauptverhandlung zur erstmaligen Beobachtung des


Angeklagten geboten sein44.
b) Der Regelfall der Beiziehung des Sachverständigen in der Hauptver-
handlung liegt freilich wohl so, daß vor der Hauptverhandlung eine
Exploration und/oder eine stationäre Beobachtung nach §81 StPO
stattgefunden hat, die Beobachtung in der Hauptverhandlung also nur
der Ergänzung des für die Diagnose zur Verfügung stehenden Materials
dient. Eine Beeinträchtigung der Verteidigung durch die Anwesenheit
des Sachverständigen in der Hauptverhandlung wird durch die Zustim-
mung zur Exploration vor der Hauptverhandlung auch nicht ausge-
schlossen. Faktisch mag die persönliche Begegnung mit dem Gutachter
Vorbehalte abgebaut haben, andererseits kann der Angeklagte im Zeit-
punkt der Hauptverhandlung aber auch sein früheres Einverständnis
bedauern. Rechtlich verliert der Angeklagte durch sein früheres Einver-
ständnis jedenfalls sein Widerspruchsrecht nicht. Noch klarer ist die
mögliche Beschränkung der Verteidigung, wenn der Beschuldigte sich
gegen seinen Willen einer stationären Beobachtung unterziehen mußte,
aber zu einer Kooperation mit dem Gutachter nicht bereit war.
Anders als in den Fällen, in denen der Sachverständige den Beschul-
digten erstmalig in der Hauptverhandlung sieht, wird man, wenn durch
Exploration und/oder Beobachtung eine Materialbasis gegeben ist, der
ergänzenden Information durch die Beobachtung der Hauptverhand-
lung den Wert nicht absprechen können45. Der Streit um Täterschaft und
Tathergang kann Informationen über das Beziehungsgeflecht Angeklag-
ter - (präsumtives) Opfer, Angeklagter - Zeuge (Bezugspersonen) brin-
gen, die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit gerade zum Zeitpunkt
der Tat, auf den es ja ankommt, entscheidend sein können. Besonders
deutlich wird das, wenn es um die Schuldfähigkeit bei Affekttaten geht.
Auch für die Beratung bei Sanktionsauswahl und -bestimmung46 kann
die Teilnahme an der Hauptverhandlung dann wichtig sein, wenn sie
über die in der konkreten Tat dokumentierte Gefährlichkeit des Täters
Auskunft gibt.

44 Anders liegt es, wenn der Sachverständige in der Hauptverhandlung zugezogen wird,

um lediglich zu klären, ob es Anhaltspunkte gibt, die eine stationäre Beobachtung nach


§ 81 StPO rechtfertigen. Hier spitzt sich dann der Konflikt mit den Verteidigungs- und
Tataufklärungsinteressen zu.
45 Vgl. Göppinger (Fn.4), S. 1555.

46 Vgl. z. B. zur Beratung hinsichtlich der in § 246 a StPO angesprochenen Maßregeln

L R "-Gollwitzer, § 246 a Rdn. 1 und Kaatsch, Die Zuziehung des medizinischen Sachver-
ständigen im Strafprozeß bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung, Med. Diss.
Würzburg 1983. Aber auch für die Strafzumessung kann natürlich der Sachverständige
u. U. wesentliche Hinweise geben.
Beschränkung der Verteidigung durch Daueranwesenheit des Sachverständigen 9 7 5

Jedenfalls wird aber auch in diesen Fällen sorgfältiger als bisher


üblich47 zu untersuchen sein, ob im konkreten Fall die Daueranwesen-
heit des Sachverständigen für die Aufklärung der Schuldfähigkeit wirk-
lich erfolgversprechend ist. Uber die Chancen für eine Korrektur oder
jedenfalls eine notwendige Ergänzung der bisherigen Begutachtungs-
gruridlagen wird am ehesten der Sachverständige Auskunft geben kön-
nen, der deshalb befragt werden sollte. Erst nach Klärung der Möglich-
keiten, die Aufklärung zur Schuldfähigkeit zu verbessern, kann dann die
auch in diesen Fällen beim Widerspruch des Angeklagten gegen die
Anwesenheit notwendige Abwägung der konfligierenden Interessen
durchgeführt werden48.

IV.
1. Eine fallweise (höchstens fallgruppenweise) Abwägung der für oder
gegen die Anwesenheit des beobachtenden Sachverständigen sprechen-
den Gesichtspunkte belastet das Strafverfahren mit einer neuen Schwie-
rigkeit. Das Gericht muß sich auf dem schmalen Grat zwischen der
Verletzung der Aufklärungspflicht hinsichtlich der Schuldfähigkeit
einerseits, der Verletzung der Pflicht zur Tathergangsaufklärung, vor
allem aber der Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeit andererseits
bewegen. Nimmt man eine pflichtwidrige Verletzung in einer der beiden
Richtungen an, eröffnen sich Revisionsmöglichkeiten nach §§337, 338
Nr. 849 StPO. Die Annahme regelmäßig konfligierender Verfahrensprin-
zipien ist natürlich höchst unerwünscht, weil damit das Damokles-
schwert der Urteilsaufhebung - und dazu in meist ohnehin besonders
komplizierten Prozessen - über dem Verfahren schwebt. Eine Abmilde-
rung der Problematik läßt sich nur in der Weise denken, daß die
Revisionsgerichte den Tatgerichten einen genügend breiten Ermessens-
spielraum bei der Abwägung der konfligierenden Grundsätze belassen.
Immerhin muß aber der den Widerspruch des Angeklagten gegen die
Daueranwesenheit des Sachverständigen zurückweisende Beschluß nach
§238 II StPO die Gründe erkennen lassen, warum der Aufklärung der
Schuldfähigkeitsfrage der Vorrang eingeräumt worden ist50.
47 Vgl. oben bei und in Fn. 7.
48 Bei Hauptverhandlungen, die sich über längere Zeit hinziehen, wird die dauernde
Anwesenheitspflicht von Gutachtern mit außerforensischen (haupt)beruflichen Aufgaben
verständlicherweise wenig geschätzt. Zurückhaltung bei der Daueranwesenheitspflicht
könnte also den durchaus erwünschten Nebeneffekt haben, besonders qualifizierten
Gutachtern die Übernahme von Sachverständigenaufgaben zu erleichtern. Ein leichtferti-
ges Sich-Hinwegsetzen über noch bestehende Aufklärungsbedürfnisse wird man gerade bei
ihnen nicht zu befürchten haben. Vgl. dazu auch Meyer (Fn. 8), S. 226.
49 N a c h letzterer Bestimmung, wenn ein entsprechender Gerichtsbeschluß nach § 2 3 8 II

S t P O vorliegt.
50 Vgl. LW-Wetidisch, § 3 4 Rdn. 7 zur Begründung von Ermessensentscheidungen.
976 Fritz Loos

2. Man könnte daran denken, daß eine generelle Lösung durch die
Zweiteilung der Hauptverhandlung, insbesondere nach dem Schema des
Tatinterlokuts 51 erreichbar wäre52. Danach könnte der erste Teil der
Hauptverhandlung bis zum (formellen oder informellen53) Interlokut, in
dem der Angeklagte als Bürger gegen den Staat kämpft, in Abwesenheit
des Sachverständigen durchgeführt werden, während er dann zur Sank-
tionsverhandlung, welche nach dem Tatinterlokut die Schuldfähigkeits-
frage einschließt, herangezogen wird. Von einer Zweiteilung der Haupt-
verhandlung darf man sich freilich auch keine „glatte" Lösung verspre-
chen. Die Rekonstruktion der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt kann,
wie oben54 angesprochen, z . B . bei Affekttaten die Anwesenheit des
Sachverständigen in der Tatverhandlung unter Hintanstellung von
Gegeninteressen gebieten55. Immerhin würde aber die Teilnahme des
Sachverständigen an der gesamten Sanktionsverhandlung, die ja Aufklä-
rung über die Persönlichkeit des Angeklagten bringen soll56, zur Vervoll-
ständigung der Gutachtergrundlagen beitragen, so daß vielfach leichter
auf die Anwesenheit in der Tatverhandlung verzichtet werden könnte.
Die vorstehenden Überlegungen sollten auf ein Problem aufmerksam
machen. Ein Patentrezept zur Lösung scheint mir weder de lege lata
noch de lege ferenda in Sicht. Das kann aber kein Grund dafür sein, dem
Schutz der Verteidigungsinteressen nicht auch in diesem Zusammenhang
die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.

51 Vgl. Schöch/Schreiber, ZRP 1978, S. 63, 66; Dölling, Die Zweiteilung der Hauptver-
handlung, 1978, S. 44 ff, 145; AE-StPO (Fn.6), S.5f, 53 ff. Aus psychiatrischer Sicht vgl.
zur Zweiteilung, freilich ohne die hier erörterte Problematik, Haddenbrock, N J W 1981,
S. 1302ff (vgl. auch Fn.6).
52 Vgl. zur Beschränkung der Anwesenheit des Sachverständigen auf die Rechtsfolgen-

verhandlung AE-StPO (Fn.6), S.4, 56; vgl. auch §214 V AE-StPO (S.47). Dazu auch
Meyer (Fn.8), S.226.
53 Vgl. Kleinknecht, StPO, 35. Aufl. 1981, §244 Rdn.22-26.
54 Unter III 3 b).

55 Auch diese Problematik wird in AE-StPO (Fn.6), S.56 nicht angesprochen (vgl.

auch Fn. 6).


56 Dölling (Fn.51), S.52f, 146, 247ff; AE-StPO (Fn.6), S.5, 54f, 72ff.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren,
insbesondere im Stadium der Wiederaufnahme
KARL HEINZ GÖSSEL

A. Die Zulässigkeit und ihre Rechtswirkungen


in ihrer Verschiedenartigkeit
I. Die Problematik
Der Tod des Beschuldigten ist mit Kleinknechts Worten ein Verfah-
renshindernis besonderer Stärke, ein „Superverfahrenshindernis" 1 , wel-
ches die Fortführung des Verfahrens sogar ohne förmliche Einstellung
hindern soll2 - gleichwohl aber kann die Wiederaufnahme des Verfah-
rens auch zugunsten eines verstorbenen Verurteilten betrieben werden,
wie in §§ 361 Abs. 1; 371 Abs. 1 StPO ausdrücklich vorgesehen. Weil
nun aber die physische Existenz des Angeklagten überwiegend und zu
Recht als eine Sachentscheidungsvoraussetzung 3 und damit als eine
Voraussetzung der Zulässigkeit des Strafverfahrens4 angesehen wird,
kann die „Zulässigkeit" im Strafverfahren kaum ein Gegenstand sein, der
während aller Stadien des Verfahrens die gleichen Auswirkungen hat.
Entsprechendes gilt für eine verspätete und deshalb unzulässige Beru-
fung. In diesem Fall wird das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig,
womit ein Verfahrenshindernis für das weitere Verfahren entstanden ist;
wird dieses Prozeßhindernis aber nicht erkannt, so kann das gleichwohl
ergangene Berufungsurteil dennoch in Rechtskraft erwachsen und
gerade deshalb die Wiederaufnahme des Verfahrens begründen. Ein
weiteres Beispiel sei genannt: Wird etwa in erster Instanz die örtliche
Zuständigkeit und damit eine die Zulässigkeit des Verfahrens betreffende
Prozeßvoraussetzung zu Unrecht angenommen, so ist dies nach der
Vernehmung des Angeklagten zur Sache in der Hauptverhandlung nach
§16 StPO sogar unbeachtlich. Schon diese Beispiele bieten hinreichend
Anlaß, sich mit dem Gegenstand „Zulässigkeit" und seinen Auswirkun-
gen näher zu befassen. Dies soll vornehmlich unter dem Blickwinkel des

1
Kleinknecht M D R 1972, 1051.
2
Kleinknecht/Meyer, StPO 37. Aufl., § 2 0 6 a Rdn. 8.
3 Vgl. z . B . L R - R i e ß , StPO 24. Aufl., § 2 0 6 a Rdn.53.

4 Vgl. z . B . Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichts-


verfassungsgesetz, Teil I, 2. Aufl., Rdn. 119.
978 Karl Heinz Gössel

Wiederaufnahmeverfahrens geschehen: wie unten näher aufgezeigt wer-


den wird, ist die „Zulässigkeit" in diesem Verfahrensstadium ein beson-
ders mehrdeutiger Begriff.

II. Wesen der Zulässigkeit


Im Strafverfahren wird die Zulässigkeit allgemein als eine prozessuale
Wertkategorie verstanden 5 , die sowohl auf das Verfahren insgesamt 6 , als
auch auf einzelne Prozeßhandlungen 7 angewendet werden kann. Unter
Prozeßhandlungen lassen sich diejenigen verfahrensgestaltenden Verhal-
tensweisen der Prozeßsubjekte verstehen, die „nach Voraussetzungen
und Wirkungen vom Prozeßrecht geregelt sind" 8 ; sie sind dann zulässig,
wenn diejenigen Voraussetzungen vorliegen, die das Gericht berechti-
gen, sich mit dem Inhalt des Antrags, also der erstrebten Prozeßgestal-
tung, zu befassen 9 . Auf das Verfahren insgesamt angewendet, bedeutet
Unzulässigkeit, daß bestimmte Umstände die Sachentscheidung über
Schuld und Strafe als Ziel des Strafverfahrens nicht zu erreichen erlau-
ben, sei es, daß bestimmte Voraussetzungen zur Erreichung dieses Ziels
- Prozeßvoraussetzungen — nicht vorliegen, sei es, daß bestimmte
Umstände - Prozeßhindernisse - die Erreichung dieses Zieles hindern 10 .
Vom Boden dieser weithin anerkannten Auffassungen aus kann damit
gesagt werden, daß die „Zulässigkeit" ein Urteil darstellt. Wird das
Urteil „zulässig" gefällt, so bedeutet dies, daß ein bestimmter Weg
beschritten werden darf, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, oder,
genauer, um einen bestimmten Inhalt zu verwirklichen - ob dieses Ziel
auch wirklich erreicht, ob dieser Inhalt auch verwirklicht werden kann,
ist freilich eine Frage der Begründetheit des zulässig eingeschlagenen
Verfahrens zur Erzielung einer Sachentscheidung oder auch nur einer
bestimmten Verfahrensgestaltung im einzelnen.

5 Vgl. dazu z. B. Eb. Schmidt Rdn. 232 a. a. O. (Fn. 4).


6 LK-Schäfer, StPO 23. Aufl., Einl. Kap. 11 Rdn.6; Eb. Schmidt Rdn. 119 a.a.O.
(Fn.4); Gössel, Strafverfahrensrecht 1977, §15 A I ; BGHSt. 15, 287, 290.
7 Eb. Schmidt Rdn. 121 a.a.O. (Fn.4); s. ferner Gössel §15 A l l a.a.O. (Fn.6) und

LR-Schäfer wie Fn. 6.


8 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen 1950, S. 85; diese Auffassung hat weit-

hin Anerkennung gefunden: vgl. z.B. LR-Schäfer Einl. 10 Rdn. 1 a.a.O. (Fn.6); Peters,
Strafprozeß 4.Aufl. §32 I I ; Gössel, §19 B I a.a.O. (Fn.6). Auf den Streit, ob dieser
Begriff nicht weiter zu fassen und z. B. auch auf prozeßrelevante Realakte zu erstrecken ist
- Roxin, Strafverfahrensrecht 19. Aufl. § 22 A II; Kleinknecht/Meyer Einl. Rdn. 95 a. a. O.
(Fn. 2), s. a. KMR-Sax, StPO 7. Aufl. Einl. X Rdn. 1 ff - kommt es hier deshalb nicht an,
weil die Anwendung der Kategorien der Zulässigkeit davon unabhängig ist.
' Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S.394, 428; Eb. Schmidt Rdn. 235,
244 a.a.O. (Fn.4) - die von Eb. Schmidt Rdn.241 für die Bewirkungshandlungen
vorgeschlagene Anwendung der Kategorie der Beachtlichkeit führt zum gleichen Ergebnis
- gegen Eb. Schmidt insoweit KMR-Si** Einl. X Rdn. 3 a. a. O. (Fn. 8).
10 S. o. Fn. 6.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 979

Das damit gelegte Fundament ist allerdings schwach gegründet; indes-


sen wäre eine eingehende Auseinandersetzung mit allen hier aufgeworfe-
nen Fragen Gegenstand einer bisher noch nicht ausreichend gefestigten
Lehre von den prozessualen Wertkategorien 11 , die an dieser Stelle jeden-
falls nicht entwickelt werden kann. Es erscheint indessen durchaus
möglich, schon mit dem hier verwendeten Begriff der Zulässigkeit die
Probleme aufzuzeigen, welche die „Zulässigkeit" insbesondere im Wie-
deraufnahmeverfahren aufwirft.

III. Verschiedenartigkeit der Rechtswirkungen


Konnte soeben unter II die Zulässigkeit wesensmäßig bestimmt wer-
den, so zeigen doch die unter I erwähnten Beispiele, daß dem nämlichen
Gegenstand „Zulässigkeit" nicht stets die gleichen Rechtsfolgen zuge-
ordnet werden können. Dies ist nach den Ausführungen unter II indes-
sen leicht einzusehen: Zulässigkeit ist kein absoluter Gegenstand, son-
dern ein Urteil, das eine bestimmte Relation zum Gegenstand hat:
zulässig ist ein Strafverfahren immer nur in bezug auf das eine Ziel der
Erreichung einer Sachentscheidung, und eine Prozeßhandlung ist ebenso
nur zulässig in bezug auf das mit ihr zu erreichende Ziel. Die Zulässig-
keit ist damit stets abhängig von einem bestimmten zu erreichenden Ziel,
einem bestimmten zu verwirklichenden Inhalt - und diese Ziele und
Inhalte können nur auf Wegen erreicht oder verwirklicht werden, die
der jeweiligen Prozeßsituation angemessen sind. Steht auch der T o d des
Angeklagten der Fortdauer des Strafverfahrens grundsätzlich entgegen,
so doch nicht im Wiederaufnahmeverfahren: das Ziel der Rehabilitation
eines rechtskräftig Verurteilten durch eine Sachentscheidung kann auch
noch in der Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen Verstorbe-
nen erreicht werden - im voraufgegangenen Verfahren genügt es nach
der Auffassung der StPO, eine rechtskräftige Sachentscheidung zu ver-
hindern.
Die Zulässigkeit und ihre Rechtswirkungen sollen deshalb weiters
unter dem Blickwinkel bestimmter Verfahrensstadien betrachtet wer-
den. Dabei erscheint die Betrachtung vom Stadium des Wiederaufnah-
meverfahrens aus besonders interessant, weil von hier aus drei verschie-
dene Bezugspunkte der Zulässigkeit zu berücksichtigen sind: einmal die
Zulässigkeit des voraufgegangenen Verfahrens, dessen rechtskräftige
Sachentscheidung mit der Wiederaufnahme angegriffen wird sowie die
Zulässigkeit der im voraufgegangenen Verfahren vorgenommenen Pro-
zeßhandlungen, zum anderen die Zulässigkeit des Wiederaufnahmever-
fahrens selbst und die der hier vorzunehmenden Prozeßhandlungen und

11 S. dazu Eb. Schmidt Rdn.227ff a . a . O . (Fn.4).


980 Karl Heinz Gössel

endlich, die Zulässigkeit des wiederaufgenommenen Verfahrens ein-


schließlich der darin vorzunehmenden Prozeßhandlungen.

B. Die Zulässigkeit in dem Verfahren,


das erstmals zu einer rechtskräftigen Sachentscheidung führt
In den oben unter A I erwähnten Beispielen zeigt sich bereits, daß die
fehlende Zulässigkeit des Verfahrens die verschiedensten Rechtswirkun-
gen haben kann: die Beendigung des Verfahrens mit (z. B. § 206 a StPO)
oder ohne förmliche Einstellung (Tod des Angeklagten), aber auch deren
Unbeachtlichkeit durch schlichten Fortschritt des Prozeßgangs (§16
StPO) oder durch den Eintritt der Rechtskraft. Dies bietet Anlaß, die
einzelnen Voraussetzungen der Zulässigkeit des Verfahrens insgesamt
samt ihren Rechtswirkungen näher zu betrachten, darüber hinaus aber
auch die Zulässigkeit einzelner Prozeßhandlungen: hier kann z . B . die
Nichteinhaltung von Rechtsmittelfristen einmal zum Verfahrenshinder-
nis der Rechtskraft führen, sie kann aber auch durch die Rechtskraft der
Rechtsmittelentscheidung geheilt werden, wie sich ferner durch die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Wirkungen einer verspäteten
Rechtsmitteleinlegung beseitigen lassen.

I. Die Zulässigkeit des (vorauf gegangenen) Verfahrens insgesamt


(die Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse)
1. Für das gesamte Verfahren bedeutsame Prozeßvoraussetzungen
a) Wie schon am Beispiel der örtlichen Zuständigkeit aufgezeigt, gibt es
Prozeßvoraussetzungen und ebenso Prozeßhindernisse, die nur
bestimmte Stadien des Strafverfahrens betreffen bzw. nur vorüberge-
hend von prozessualer Bedeutsamkeit sind. Es gibt aber auch Prozeß-
voraussetzungen und -hindernisse, die vom ersten Augenblick der Straf-
verfolgung bis hin zum letzten Moment der letztmaligen Entscheidungs-
fällung Voraussetzungen einer Sachentscheidung sind oder diese verhin-
dern können: so führen etwa die UnStatthaftigkeit der Strafverfolgung
(§13 GVG), die fehlende Unterwerfung des Beschuldigten unter die
deutsche Strafgerichtsbarkeit (z. B. §§ 18 ff GVG), die Schuldunfähigkeit
von Kindern (§ 19 StGB), Verhandlungsunfähigkeit, Verjährung (§§ 78 ff
StGB), Begnadigung, Amnestie, fehlender Strafantrag (§77 ff StGB),
Rechtshängigkeit und Rechtskraft im Regelfall stets zur Einstellung des
Verfahrens: im Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft nach §170
Abs. 2 StPO, im gerichtlichen Verfahren durch Beschluß nach §206a
außerhalb der Hauptverhandlung oder durch Urteil nach §260 Abs. 3
StPO in der Hauptverhandlung.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 981

b) Schon daran zeigt sich, daß selbst solche Prozeß Voraussetzungen


oder -hindernisse, die für die Dauer des gesamten Verfahrens bis hin
zum erstmaligen rechtskräftigen Abschluß von Bedeutung sind, je nach
Verfahrensstadium und Prozeßsituation (innerhalb oder außerhalb der
Hauptverhandlung) durchaus verschiedene Wirkungen haben können -
mögen sie auch, jedenfalls nach den bisherigen Darlegungen, stets zur
Einstellung führen. Aber abgesehen von den verschiedenen Rechtskraft-
wirkungen einer Einstellung im Vorverfahren nach §170 Abs. 2 StPO
einerseits (keine) und der nach §§206a, 260 Abs. 3 StPO andererseits
(grundsätzlich nur formelle Rechtskraft, ausnahmsweise auch materielle
Rechtskraft12), führt das Fehlen dieser Prozeßvoraussetzungen oder das
Vorliegen dieser Prozeßhindernisse auch nicht stets oder ausnahmslos
zur Verfahrenseinstellung: im Zwischenverfahren ist in diesen Fällen bei
richtiger Behandlung entweder die Anklage zurückzunehmen (§ 156
StPO) oder aber Nichteröffnungsbeschluß nach § 204 StPO zu erlassen.
Im Rechtsmittelverfahren ist die auch hier mögliche und notwendige
Einstellung mindestens nach §260 Abs. 3 StPO mit der Aufhebung des
angefochtenen Urteils zu verbinden; ob auch hier eine Einstellung nach
§ 2 0 6 a StPO in Betracht kommt, ist im Hinblick darauf strittig, daß
§ 206 a StPO für eine Urteilsaufhebung keine Grundlage biete13 - für die
hier verfolgten Zwecke soll auf diesen Streit jedoch deshalb nicht
eingegangen werden, weil hier lediglich die Verschiedenheit der Rechts-
wirkungen der (fehlenden) Zulässigkeit aufgezeigt werden soll.

2. Nach Abschluß des Vorverfahrens


zu betrachtende Prozeßvoraussetzungen
Die Einstellung als Regelfolge ist auch in den Fällen vorgesehen, in
denen eine Prozeßvoraussetzung erst später die weitere Zulässigkeit des
Verfahrens begründet, so bei Anklageerhebung und Eröffnungsbe-
schluß. Fehlen sie, so kommt regelmäßig Einstellung nach §§206a, 260
Abs. 3 StPO in Betracht, bei fehlender Anklage im Zwischenverfahren
auch Nachholung der Anklage oder Nichteröffnungsbeschluß nach
§204 StPO. Im Rechtsmittelverfahren ist ebenso wie bei den für das
gesamte Verfahren bedeutsamen Prozeßvoraussetzungen oder -hinder-
nissen nach § 2 6 0 a Abs. 3 StPO zu verfahren und das angefochtene
Urteil aufzuheben bzw. § 206 a StPO anzuwenden14.

12 Vgl. KMR-Stfx Einl. XIII Rdn. 12, ferner KUR-Paulus § 2 0 6 a Rdn.61 jeweils
a . a . O . (Fn.8).
15 Zum Streitstand s. LR-Rieß, § 2 0 6 a Rdn. 14ff a . a . O . (Fn.3).

14 S. dazu aber oben 1 b und Fn. 13.


982 Karl Heinz Gössel

3. Die Prozeßvoraussetzung der gerichtlichen Zuständigkeit


im besonderen
Besonderheiten gelten beim Fehlen der Prozeßvoraussetzung der
gerichtlichen Zuständigkeit, die über §§ 141 ff GVG auf die Zuständig-
keit der Staatsanwaltschaft gleichsam „durchschlägt" - bei fehlender
Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft ist das Verfahren im Ermittlungs-
verfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben, ohne daß
dadurch die Wirksamkeit der bisherigen Prozeßhandlungen berührt
wird15.
Erweist sich nach Anklageerhebung die Unzuständigkeit des angegan-
genen Gerichts, so bietet auch hier § 156 StPO den einfachsten Weg: die
Rücknahme der Anklage und erneute Anklage zum zuständigen
Gericht. Dieser Weg ist jedoch nicht selten wegen divergierender Auf-
fassungen von Staatsanwaltschaft und Gericht nicht gangbar. Die auch
jetzt grundsätzlich mögliche gerichtliche Einstellung wegen der fehlen-
den Prozeßvoraussetzung der gerichtlichen Zuständigkeit wäre indes
gewiß nicht prozeßökonomisch: deshalb auch zeigt sich in zahlreichen
Vorschriften der StPO der Wille des Gesetzgebers, das Verfahren so
schnell wie möglich an das zuständige Gericht gelangen zu lassen, damit
sich auf diese Weise die hier bloß der formellen Rechtskraft fähige
Einstellung vermeiden läßt, die u . U . noch vielfältige negative Kompe-
tenzkonflikte zur Folge haben kann. Dabei ist hinsichtlich der einzelnen
Zuständigkeitsarten zu unterscheiden.
a) Hält sich das angegangene Gericht im Zwischenverfahren für sachlich
unzuständig, so wird das Hauptverfahren entweder nach §209 Abs. 1
StPO vor dem sachlich zuständigen Gericht niederer Ordnung eröffnet
oder aber dem für zuständig erachteten Gericht höherer Ordnung nach
§209 Abs. 2 StPO zur Entscheidung vorgelegt. Nach der Eröffnung des
Verfahrens hat das Gericht seine sachliche Zuständigkeit weiterhin von
Amts wegen zu prüfen (§6 StPO), darf jedoch die Sache vor der
Hauptverhandlung nach §225a StPO, in der Hauptverhandlung nach
§ 270 StPO an ein Gericht höherer Ordnung verweisen, während es nach
§269 StPO nicht mehr berücksichtigen darf, daß in Wahrheit ein
Gericht niederer Zuständigkeit zuständig wäre - diese Vorschriften
schließen eine Einstellung wegen Fehlens der Prozeßvoraussetzung der
sachlichen Zuständigkeit nach §§206a, 260 Abs. 3 StPO aus". Entspre-
chendes gilt für das Rechtsmittelverfahren: auch hier führt das Fehlen
der sachlichen Zuständigkeit nicht etwa zur Einstellung, sondern zur
Verweisung an das zuständige Gericht (§328 Abs. 3; §354 Abs. 3; §355

15
LK-Schäfer, § 142 GVG Rdn.23 a.a.O. (Fn.6).
16
LR -Wendisch, § 6 Rdn. 4 ff a. a. O. (Fn. 3).
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 983

StPO), jetzt allerdings unter Aufhebung der angefochtenen Entschei-


dung.
b) Bei fehlender örtlicher Zuständigkeit ist diese im Eröffnungsverfah-
ren nach jetzt wohl h. A. durch besonderen Beschluß festzustellen 17 ,
nach dessen Rechtskraft die Staatsanwaltschaft zum örtlich wirklich
zuständigen Gericht anklagen kann. Bei einem etwaigen negativen Kom-
petenzkonflikt durch einen zweiten Unzuständigkeitsbeschluß wird der
Weg zur Zuständigkeitsbestimmung nach § 14 StPO frei.
Der Beschluß über die fehlende Zuständigkeit tritt an die Stelle einer
etwaigen - nicht möglichen - Einstellung und auch eines Nichteröff-
nungsbeschlusses 18 ; nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses kann die feh-
lende örtliche Zuständigkeit nur noch auf Rüge des Angeklagten eben-
falls zu einem Beschluß über die Unzuständigkeit führen wie im Eröff-
nungsverfahren, nicht aber zur Verfahrenseinstellung" - sobald mit der
Vernehmung des Angeklagten zur Sache begonnen worden ist, ist die
fehlende örtliche Zuständigkeit nach § 16 StPO ohne weitere Auswir-
kung auf das Verfahren - ihr Fehlen ist durch Verfahrensfortschritt
geheilt.
c) Die funktionelle Zuständigkeit ist nach h. A. keine Prozeßvorausset-
zung20, so daß ihr Fehlen die Zulässigkeit des Verfahrens insgesamt nicht
betrifft und hier nicht weiter betrachtet zu werden braucht.

II. Die Zulässigkeit von Prozeßhandlungen


im voraufgegangenen Verfahren
Nach den Vorarbeiten u. a. von Goldschmidt und Eb. Schmidt wird
nicht mehr bestritten werden können, daß auch Prozeßhandlungen und
nicht bloß das Verfahren insgesamt als zulässig oder unzulässig bewertet
werden können - allerdings haben beide Autoren die Anwendbarkeit
dieser Wertkategorie in unterschiedlicher Weise beschränkt: während
Goldschmidt sie nur auf nichtrichterliche Erwirkungshandlungen für
anwendbar erklärt21, will Eb. Schmidt neben den nichtrichterlichen
Erwirkungshandlungen auch die richterlichen Erwirkungshandlungen
der sachleitenden Anordnungen nach §238 StPO und der gerichtlichen
Anrufung anderer (höherer) Gerichte unter der Kategorie der Zulässig-
keit bewerten 22 - die sog. Bewirkungshandlungen halten beide Autoren

17
LR-Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3).
18
LR -Wendisch, § 16 Rdn. 8 f a. a. O. (Fn. 3).
" A . A . LK-Wendisch, §16 Rdn. 10 a.a.O. (Fn.3).
20
BGHSt. 13, 378, 382; Gössel, §16 CIV a.a.O. (Fn.6).
21
Goldschmidt, S.369, 457, 498, 514, a.a.O. (Fn.9).
22
Eb. Schmidt, Rdn. 232, 235, 243-247, a.a.O. (Fn.4).
984 Karl Heinz Gössel

als beachtlich oder unbeachtlich für bewertbar23, die richterlichen Bewir-


kungshandlungen zudem unter weiteren Kategorien24, wie z. B. der der
inhaltlichen Richtigkeit oder Unrichtigkeit25.
Zur eingehenden Klärung der Frage der Zulässigkeit von Prozeßhand-
lungen wäre es erforderlich, Begriff und Gegenstand der Prozeßhand-
lung ebenso zu untersuchen wie die Anwendbarkeit der Wertkategorie
der Zulässigkeit darauf - trotz der bedeutenden Vorarbeiten u.a. von
Goldschmidt und Eb. Schmidt harrt diese Problematik noch einer einge-
henden Untersuchung, die an dieser Stelle indes schon aus Gründen des
Umfangs nicht geleistet, sondern allenfalls angeregt werden kann. In
dieser Betrachtung, die generell der Bedeutung der Zulässigkeit im
Strafverfahren gewidmet ist, soll es genügen, drei Gruppen von Prozeß-
handlungen unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit zu untersuchen
und die sich daran anknüpfenden Rechtswirkungen: für sonstige Pro-
zeßhandlungen werden diese Ergebnisse ebenfalls von Bedeutung sein.

1. Rechtsmittelerklärungen
Als erste Gruppe seien die Erklärungen über Rechtsmittel genannt:
wegen ihrer offensichtlichen Gestaltung der prozessualen Rechtslage
(Einlegung: z. B. Begründung der Zuständigkeit eines höheren Gerichts;
Verzicht: Eintritt der Rechtskraft) werden sie einhellig und unbestritten
als Prozeßhandlungen aufgefaßt; ebenso werden sie allgemein z.B. im
Hinblick auf die Statthaftigkeit des jeweiligen Rechtsmittels und der
Einhaltung der jeweiligen Frist- und Formvorschriften als zulässig oder
unzulässig bewertet.
a) Ebenso allgemein anerkannt sind die Folgen einer zulässigen Rechts-
mittelerklärung: das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel (Nachprüfung
der Sachentscheidung in der höheren Instanz; Beendigung des Verfah-
rens durch Eintritt der Rechtskraft) kann nunmehr erreicht werden,
womit gleichzeitig der Weg zur Verwirklichung eines bestimmten
Inhalts frei wird, natürlich nicht aber die Verwirklichung selbst (z. B.
Freispruch als Sachentscheidung; bei Rechtsmittelrücknahme wird eine
unabhängig von der Rücknahme ergangene vorherige Sachentscheidung
lediglich rechtsbeständig) eintritt, die eine Frage der Begründetheit der
zulässigen Rechtsmittelerklärung ist (s.o. All).
b) Eine unzulässige Rechtsmittelerklärung kann den Weg zur Verwirk-
lichung eines bestimmten Inhalts nicht eröffnen und damit auch nicht
das mit ihr verfolgte prozessuale Ziel erreichen. Deshalb läßt sich sagen,

23 Goldschmidt, S.457, 498 a.a.O. (Fn.9); Eb. Schmidt Rdn.241, 251 a.a.O. (Fn.4).
24 Eh. Schmidt Rdn. 248 ff a. a. O. (Fn. 4).
25 Goldschmidt, S. 498 f a. a. O. (Fn. 9).
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 985

daß eine unzulässige Rechtsmittelerklärung jedenfalls nicht die mit ihr


beabsichtigten Rechtswirkungen haben kann, wohl aber andere, vom
Erklärenden nicht erstrebte. Eine unzulässige Rechtsmitteleinlegung
führt zwar nicht zu der erstrebten Nachprüfung der angefochtenen
Entscheidung durch ein höheres Gericht, wohl aber mittelbar mit
Ablauf der Rechtsmittelfrist zum Prozeßhindernis der Rechtskraft mit
den oben I I a bereits dargelegten Rechtsfolgen; Entsprechendes gilt im
Fall einer unzulässigen Revisionsbegründung (§§344 bis 346 StPO).
Einem unzulässigen Rechtsmittelverzicht (z. B. mangels Abgabe gegen-
über einem tauglichen Adressaten) dagegen kommen keinerlei Rechts-
wirkungen zu: das Verfahren wird fortgesetzt, und eine etwa gleichwohl
behauptete Unzulässigkeit kann nur noch im Rechtsmittelwege geltend
gemacht werden.

2. Verhandlungsleitende Anordnungen
In einer zweiten Gruppe sollen die verhandlungsleitenden Anordnun-
gen i. S. des §238 Abs. 2 StPO betrachtet werden. Da es sich hierbei um
Prozeßhandlungen handelt, sind solche Anordnungen nicht mehr in
Abgrenzung zu einer angeblich formellen Verhandlungsleitung durch
ihre angeblich sachleitende Qualität zu bestimmen, sondern mit einer
inzwischen überwiegend vertretenen Meinung danach, ob sie sich ver-
fahrensgestaltend auswirken26.
Daß solche Anordnungen unter der Wertkategorie der Zulässigkeit
beurteilt werden können, wird zwar von Goldschmidt verneint27, jedoch
zu Unrecht. Abgesehen davon, daß das Gesetz eine solche Bewertung in
§238 Abs. 2 StPO selbst vorschreibt28, ist zur Zulässigkeit einer ver-
handlungsleitenden Anordnung z.B. deren Statthaftigkeit zu fordern,
worunter zu verstehen ist, daß sie nach den prozeßrechtlichen Regeln
überhaupt vorgenommen werden darf29, daneben u. U. auch die Einhal-
tung einer bestimmten Form (z.B. Ablehnung eines Beweisantrags
durch Verfügung des Vorsitzenden anstatt gemäß §244 Abs. 6 StPO
durch Gerichtsbeschluß). Die Unzulässigkeit derartiger Maßnahmen
führt entweder zu deren Unterbleiben u.U. auf den Rechtsbehelf des
§238 Abs. 2 StPO hin, sonst zur Berücksichtigung im Rechtsmittel-
wege, u. U. zur Revisibilität unter den Voraussetzungen der §§337, 338
StPO.

26 LK-Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 2 1 a . a . O . ( F n . 3 ) ; s. a. Gössel, § 2 1 A l l a l a . a . O . ( F n . 6 )
jeweils m. w. N a c h w .
27S. 514 a . a . O . ( F n . 9 ) .
21W i e hier schon Eb. Schmidt R d n . 2 4 3 f a . a . O . ( F n . 4 ) ; im Ergebnis ebenso L R -
Gollwitzer, § 2 3 8 R d n . 3 1 a . a . O . ( F n . 3 ) .
29 Gössel, §21 A l l b l a . a . O . (Fn.6).
986 Karl Heinz Gössel

3. Beweisanträge
Als dritte und letzte Gruppe der hier zu behandelnden Prozeßhand-
lungen seien die Beweisanträge erwähnt. Daß auch sie als Erwirkungs-
handlungen unter der Kategorie der Zulässigkeit bewertbar sind, ist
allgemein anerkannt 30 - ein Beweisantrag ist z. B. unzulässig, wird er
nicht von einem antragsberechtigten Verfahrensbeteiligten gestellt31.
Dies gilt entgegen Meyer auch dann, wenn mangels ausreichend genauer
Angabe des Beweisthemas oder des Beweisträgers ein sog. Beweisermitt-
lungsantrag vorliegt 32 : auch in diesem Fall wird eine Sachverhaltsermitt-
lung beantragt, so daß sich das Vorliegen eines Beweisantrags schwerlich
leugnen läßt - dieser aber ist in unzulässiger Form gestellt. Davon ist die
Unzulässigkeit der beantragten Beweiserhebung zu unterscheiden: es ist
möglich, mittels eines zulässigen Beweisantrags die Erhebung eines
Beweises zu verlangen, der z . B . von § 2 5 2 StPO verboten ist: ein der-
artiger Beweisantrag ist als unbegründet abzulehnen 33 .
Die Unzulässigkeit des Beweisantrags selbst wie die der beantragten
Beweiserhebung führt bei richtiger Behandlung zur Antragsablehnung
nach §244 Abs. 6 StPO - im übrigen können Zulässigkeit und Unzuläs-
sigkeit in diesem Zusammenhang wie bei der zweiten hier behandelten
Gruppe der verfahrensleitenden Anordnungen nur im Rechtsmittelwege
berücksichtigt werden, insbesondere zur Revisibilität i.S. der §§337,
338 StPO führen.

C. Die Zulässigkeit im Wiederaufnahmeverfahren

Ist die Rede von der Zulässigkeit im Wiederaufnahmeverfahren, so


denkt man verständlicherweise zunächst an die Zulässigkeit dieses Ver-
fahrens selbst, ferner an die Zulässigkeit einzelner Prozeßhandlungen in
diesem Verfahren. Die Zulässigkeit des voraufgegangenen Verfahrens,
dessen rechtskräftige Sachentscheidung mit dem Rechtsbehelf der Wie-
deraufnahme angegriffen wird, zu bedenken, scheint kein Anlaß zu
bestehen: ist doch die (fast) alles heilende Rechtskraft Voraussetzung zur
Durchführung der Wiederaufnahme. Indessen soll mit der Wiederauf-
nahme gerade diese Rechtskraft mit dem Ziel einer dem Verurteilten
günstigeren, oder, im Falle des §362 StPO, ungünstigeren Entscheidung
durchbrochen werden - und dies kann u. U . dadurch erreicht werden,
daß die fehlerhafte Beurteilung einer Zulässigkeitsfrage im voraufgegan-

30 Vgl. z . B . LR-Gollwitzer, §244 Rdn. 186 a . a . O . (Fn.3); Goldschmidt, S.394 a . a . O .

(Fn. 9); Eh. Schmidt Rdn. 235 f a. a. O. (Fn. 4); Gössel, § 29 C 1 c a. a. O. (Fn. 6).
31 LR-Gollwitzer wie Fn. 30.

32 Alsherg-Nüse-Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S. 89.


" Zutr. LK-Gollwitzer wie Fn. 30.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 987

genen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren geltend gemacht wird.


Ferner ist zu berücksichtigen, daß die mit der Wiederaufnahme erstrebte
günstigere oder ungünstigere Entscheidung erst in dem dem Wiederauf-
nahmeverfahren nachfolgenden wiederaufgenommenen Verfahren
(§§370 Abs.2; 371, 373 StPO) erreicht werden kann - damit ist es
denkbar, daß Zulässigkeitsfragen im wiederaufgenommenen Verfahren
auf die begehrte neue und veränderte Sachentscheidung Einfluß haben.
Im folgenden sollen deshalb zunächst die Zulässigkeit im voraufgegan-
genen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren in seiner Bedeutung für
das Wiederaufnahmeverfahren erörtert werden (u. I), sodann Zulässig-
keitsfragen des Wiederaufnahmeverfahrens selbst (u. II) und endlich die
etwaige Bedeutung der Zulässigkeit im wiederaufgenommenen Verfah-
ren (u. III).

I. Zulässigkeitsfragen im voraufgegangenen Verfahren


Ist im voraufgegangenen Verfahren eine Zulässigkeitsfrage falsch
beurteilt worden, so kann u. U. deshalb die an sich gebotene Verfahrens-
einstellung (bei fehlerhafter Bejahung eines Strafantrags oder sonst einer
Prozeßvoraussetzung) unterblieben sein.

1. Einstellung als Ziel der Wiederaufnahme


Ob allerdings die Wiederaufnahme mit dem Ziel der Einstellung des
Verfahrens erreicht werden kann, erscheint deshalb fraglich, weil der
hier regelmäßig einschlägige Wiederaufnahmegrund der restitutio prop-
ter nova (§ 359 Nr. 5 StPO) als zulässige Wiederaufnahmeziele allein die
Freisprechung oder eine geringere Bestrafung (bzw. mildere Maßregel-
anordnung) in Anwendung eines milderen Strafgesetzes anerkennt. Hier
ist indessen zu bedenken, daß die Wiederaufnahme nach §359 StPO
generell zu Gunsten des Verurteilten zulässig ist: damit kann mit dem
Wiederaufnahmeantrag nach §359 StPO grundsätzlich jede Entschei-
dung erstrebt werden, die den Verurteilten im Entscheidungstenor
weniger belastet als die angefochtene Entscheidung, sofern die Zielbe-
schränkung des § 363 StPO (keine Wiederaufnahme zum Zwecke milde-
rer Bestrafung aufgrund desselben Strafgesetzes oder nach §21 StGB)
beachtet wird. Damit aber ist die Wiederaufnahme zu Gunsten des
Verurteilten auch statthaft, wird mit ihr zwar nicht Freisprechung, wohl
aber die Einstellung des Verfahrens begehrt. Daß die Angabe der
Wiederaufnahmeziele in § 359 Nr. 5 StPO abschließend sei und deshalb
die Einstellung des Verfahrens für den dort behandelten Fall der restitu-
tio propter nova kein zulässiges Wiederaufnahmeziel sein soll, kann
schon deshalb nicht angenommen werden, weil das in § 359 StPO vorab
genannte Wiederaufnahmeziel einer günstigeren Entscheidung für alle
einzelnen Wiederaufnahmegründe einheitlich gelten muß und überdies
988 Karl Heinz Gössel

die Einstellung in ihren Wirkungen einer Freisprechung weitgehend


gleichsteht und deshalb ebenso behandelt werden muß34.
Daraus folgt, daß die Wiederaufnahme jedenfalls dann statthaft sein
kann, wenn eine fehlerhafte Beurteilung der Zulässigkeitsfrage nicht zu
der an sich gebotenen Einstellung des voraufgegangenen Verfahrens
geführt hat. Hier ist indessen ferner zu bedenken, daß nur rechtskräftig
abgeschlossene Verfahren wiederaufgenommen werden können (Zuläs-
sigkeitsvoraussetzung der Wiederaufnahme selbst; s. dazu u. II 1 a aa).
Berücksichtigt man, daß der Gedanke der Rechtskraft selbst eng mit
dem Akkusationsprinzip verbunden ist35, welches die grundsätzlich
bedingungslose Geltung der richterlichen Entscheidung über den Ver-
fahrensgegenstand anstrebt36, so kann mit Rechtskraft i. S. der §§359,
362 StPO nur die materielle Rechtskraft gemeint sein, deren Gegenstand
nach §155 Abs. 1 und §264 Abs. 1 StPO die Sachentscheidung über
Unrecht, Schuld und deren Rechtsfolge ist. Erst die materielle Rechts-
kraft führt zum Verbrauch der Strafklage und zur Sperrwirkung des „ne
bis in idem"37, zu deren Durchbrechung der Rechtsbehelf der Wieder-
aufnahme zur Verfügung gestellt wird - die bloß formelle Rechtskraft
steht bekanntlich einer neuerlichen Uberprüfung der formell rechtskräf-
tigen Entscheidung in einem erneuten Verfahren nicht entgegen38 und
bedarf somit zu ihrer Durchbrechung der Wiederaufnahme gar nicht.
Damit aber kann im Wiederaufnahmeverfahren nur eine Einstellung
erstrebt werden, welche die Strafklage verbraucht und also in materielle
Rechtskraft erwachsen kann.

2. Folgen fehlerhafter Beurteilung der Zulässigkeit


im voraufgegangenen Verfahren für das Wiederaufnahmeverfahren
Nunmehr läßt sich die Bedeutung von Zulässigkeitsfragen des vorauf-
gegangenen Verfahrens für das Wiederaufnahmeverfahren beurteilen:
Mängel der Zulässigkeit im voraufgegangenen Verfahren, die zur Ein-
stellung dieses Verfahrens mit strafklageverbrauchender Wirkung hätten
führen müssen, können im Wiederaufnahmeverfahren geltend gemacht
werden, sofern die übrigen Voraussetzungen eines der gesetzlichen
Wiederaufnahmegründe vorliegen.
Zu solchen Mängeln gehört zunächst das Vorliegen solcher Prozeß-
hindernisse, die unmittelbar zu einer strafklageverbrauchenden Einstel-

34
L R - G ö W , §359 Rdn.124 a.a.O. (Fn.3).
35
H. Mayer, Die konstruktiven Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens und seine
Reform, GerS 99 (1930), 299, z.B. S.311.
36
H.Mayer, S.311, 302 a.a.O. (Fn.35).
37
LR-Gollwitzer Rdn. 29 vor §296 a. a. O. (Fn. 6).
38
Eb. Schmidt Rdn. 268 a.a.O. (Fn.4); Geppert, Gedanken zur Rechtskraft und zur
Beseitigung strafprozessualer Beschlüsse, GA 1972, 165, 170f.
Ü b e r l e g u n g e n z u r „Zulässigkeit" im Strafverfahren 989

lung führen: Strafunmündigkeit, fehlender Strafan trag, Amnestie, Straf-


verfolgungsverjährung, entgegenstehende Rechtskraft 3 ' - nicht aber z. B.
bloße Rechtshängigkeit und auch nicht Verhandlungsunfähigkeit des
Angeklagten, die bloß zu einer in formelle Rechtskraft erwachsenden
Einstellung führen. Ferner sind solche Zulässigkeitsmängel zu beachten,
die mittelbar zu einer strafklageverbrauchenden Einstellung führen, wie
etwa eine verspätete Berufungseinlegung, die über die Rechtskraft der
mit der Berufung angefochtenen Entscheidung zum Prozeßhindernis
entgegenstehender Rechtskraft führt.

II. Die Zulässigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens und die Zulässigkeit


von Prozeßhandlungen im Wiederaufnahmeverfahren
Das Wiederaufnahmeverfahren gliedert sich bekanntlich in die beiden
Abschnitte des Aditionsverfahrens und des Probationsverfahrens. Das
Aditionsverfahren, in dem die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs der Wie-
deraufnahme geprüft wird, endet mit dem Beschluß über die Verwer-
fung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO
oder dem über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme; dieser Zulassungs-
beschluß wird allgemein als unerläßlich für die weitere Fortführung des
Verfahrens in das Probationsverfahren angesehen, auch wenn das Gesetz
einen solchen Beschluß nicht ausdrücklich vorsieht40. Im Probationsver-
fahren wird die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags geprüft; es
endet mit dem Beschluß über die Verwerfung des Wiederaufnahmean-
trags als unbegründet (§ 370 Abs. 1 StPO) oder über die Anordnung der
Wiederaufnahme und die Erneuerung der Hauptverhandlung nach § 370
Abs. 2 StPO, sofern nicht nach § 371 StPO ohne Erneuerung der Haupt-
verhandlung entschieden werden kann.
Wie sich schon aus dem Wortlaut des § 368 Abs. 1 StPO ergibt, bedarf
das Wiederaufnahmeverfahren zu seiner Durchführung damit bestimm-
ter Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dabei lassen sich zwei Arten solcher
Voraussetzungen unterscheiden: einmal die in §368 Abs. 1 StPO aus-
drücklich erwähnten speziellen Rechtsbehelfsvoraussetzungen, wie z. B.
ein Wiederaufnahmeantrag in der Form des §366 StPO (s. dazu u. 1),
zum anderen die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen, die, wie z.B.
die Statthaftigkeit der Strafverfolgung, Zulässigkeitsvoraussetzung aller
Stadien des Strafverfahrens einschließlich der Wiederaufnahme sind,
mindestens aber auch in anderen gerichtlichen Verfahrensstadien als nur
dem der Wiederaufnahme eine Sachentscheidung über Schuld und Strafe
(s. dazu o. B I ) betreffen (s. dazu u. 2).

" Z u r W i r k u n g der Doppelbestrafung s. L R - G ö s s e / , § 3 5 9 R d n . 7 2 f a . a . O . ( F n . 3 ) .


40 K M R - / W « J , § 3 6 8 R d n . l a . a . O . ( F n . 8 ) • , Kleinknecht/Meyer, §370 Rdn.2 a.a.O.
(Fn.2).
990 Karl Heinz Gössel

1. Die speziellen Zulässigkeitsvoraussetzungen


des Wiederaufnahmeverfahrens
Wie die Rechtsmittel (vgl. § 365 StPO), so verlangt auch der Rechts-
behelf der Wiederaufnahme des Verfahrens das Vorliegen spezieller Zu-
lässigkeitsvoraussetzungen, bei deren Fehlen das mit der Prozeßhand-
lung der Wiederaufnahme inhaltlich verfolgte Ziel vom Gericht gar nicht
erst geprüft wird: diese Merkmale können damit auch Prozeßhandlungs-
voraussetzungen der Wiederaufnahme genannt werden (o. A II).

a) Diese Voraussetzungen sind während des gesamten Wiederaufnah-


meverfahrens in seinen beiden Stadien des Aditionsverfahrens und des
Probationsverfahrens zu beachten; fehlen sie, so führt dies zur Verwer-
fung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO,
auch noch im Probationsverfahren, weil der voraufgegangene Beschluß
über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme keine Sachentscheidung ent-
hält41 und deshalb keinerlei Bindungswirkung entfalten kann42. Jedoch
gilt hinsichtlich der Formvorschriften des § 366 Abs. 2 StPO eine Aus-
nahme: wegen der bloß formellen Wirkung der Einstellung nach §368
Abs. 1 StPO im Probationsverfahren wäre die erneute formgerechte
Einbringung des Antrags jederzeit möglich, weshalb es aus prozeßöko-
nomischen Gründen durchaus sinnvoll erscheint, dem einmal erlassenen
Zulassungsbeschluß hinsichtlich der von § 366 Abs. 2 StPO vorgeschrie-
benen Förmlichkeiten eine Bindungswirkung zuzuerkennen43.
Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach § 368 StPO sind die folgen-
den speziellen Prozeßhandlungsvoraussetzungen der Wiederaufnahme
zu prüfen:
aa) Die Statthaftigkeit, die bei Vorliegen eines tauglichen Anfechtungs-
gegenstandes zu bejahen ist, worunter jede materiell rechtskräftige Ent-
scheidung über die Schuld- und Straffrage zu verstehen ist44, auch wenn
sie nur in Form eines Beschlusses ergeht45. Ferner ist hier die Berechti-
gung zur Wiederaufnahme46 nach §§365, 296 bis 298, 301 StPO zu
nennen wie auch eine Beschwer des Rechtsbehelfsführers, die sich aus

41 LR -Gössel, §370 Rdn.9 a.a.O. (Fn.3).


42 Allgemeine Meinung, vgl. z.B. KMR-Paulus, §370 Rdn.4 a.a.O. (Fn.8); Klein-
kriecht/Meyer, §370 Rdn.2 a.a.O. (Fn.2); Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, 3.Band:
Wiederaufnahmerecht 1974, S. 141.
45 KMK-Paulus und Kleinknecht/Meyer wie Fn. 42.
44 S. oben I I .
45 Dieser umstrittenen Frage kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen

werden; eingehend dazu LR-Go'W, Rdn.30ff, 46ff vor §359 a.a.O. (Fn.3).
44 Eingehend dazu Dünnebier, Die Berechtigten zum Wiederaufnahmeantrag, Festgabe
für Karl Peters zum 80. Geburtstag 1984, S.333.
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 991

dem Entscheidungstenor ergeben muß47, und endlich ein bestimmter


Antrag (§ 366 Abs. 1 StPO), welcher der in § 366 Abs. 2 StPO vorge-
schriebenen Form bedarf (Unterzeichnung der Antragsschrift durch
einen Verteidiger oder Rechtsanwalt oder Erklärung zu Protokoll der
Geschäftsstelle). Ferner gehört zur Zulässigkeit nach § 368 Abs. 1 StPO
die Geltendmachung eines der in §§ 359, 362 StPO gesetzlich aufgeführ-
ten Wiederaufnahmegründe, die Schlüssigkeit des Wiederaufnahmean-
trags48 und schließlich die Anführung geeigneter Beweismittel.
bb) Die zutreffende Beurteilung der Geeignetheit der Beweismittel als
Zulässigkeitsvoraussetzung der Wiederaufnahme nach § 368 Abs. 1
StPO wird indessen insofern erschwert, als auch die restitutio propter
nova des § 359 Nr. 5 StPO die Geeignetheit von neuen Tatsachen oder
Beweismitteln verlangt - dies macht eine Klärung des Verhältnisses der
von § 368 Abs. 1 StPO verlangten Geeignetheit der Beweismittel zu der
des § 359 Nr. 5 StPO notwendig.
Schon der Wortlaut des § 359 Nr. 5 StPO verlangt, daß die Geeignet-
heit der neuen (Tatsachen oder) Beweismittel auf die Erreichung der
zulässigen Wiederaufnahmeziele (o. I I ) zu beziehen ist49 - damit macht
diese Vorschrift die Existenz neuer (Tatsachen oder) Beweismittel zur
inhaltlichen Voraussetzung des gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes
der restitutio propter nova (z. B.: der Zeuge X sagt tatsächlich aus, daß
sich der Verurteilte zur Tatzeit in stationärer Behandlung und nicht am
Tatort befand). Hier also kann die Geeignetheit der Beweismittel nur die
Frage der inhaltlichen Begründetheit der Wiederaufnahme betreffen,
nicht aber deren Zulässigkeit.
Die von § 368 Abs. 1 StPO verlangte Geeignetheit der Beweismittel
bezieht sich auf die im Wortlaut vorauf als Zulässigkeitsvoraussetzung
genannte Geltendmachung von gesetzlichen Wiederaufnahmegründen
und über diese mittelbar auch auf die Erreichung der Wiederaufnahme-
ziele. Hier wird indessen nicht inhaltlich die Existenz solcher Beweis-
mittel (s. obiges Beispiel) verlangt, sondern bloß deren auf die einzelnen
Wiederaufnahmegründe bezogene und insoweit schlüssige „Anführung"
- damit aber erweist sich § 368 Abs. 1 StPO als eine verfahrensrechtliche
Norm über die Notwendigkeit eines Nachweises des betreffenden
Beweismittels durch bloße schlüssige Benennung (z.B.: der Zeuge X
wird bekunden, daß der Verurteilte zur Tatzeit stationär behandelt
wurde und nicht am Tatort war). Die von § 368 Abs. 1 StPO verlangten

47
Neumann, System der strafprozessualen Wiederaufnahme 1932, S.49; Wasserburg,
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, Handbuch 1983, S.237.
48 LR-Gösse/, §368 Rdn.5f a.a.O. (Fn.3).
49
Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S.431; Demi, Zur Reform der
Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1979, S.66.
992 Karl Heinz Gössel

Beweismittel müssen also den Nachweis der inhaltlichen Voraussetzun-


gen der jeweiligen einzelnen Wiederaufnahmegründe ermöglichen, ein-
schließlich der der restitutio propter nova und damit auch den Nachweis
jener in § 359 Nr. 5 StPO genannten zur Erreichung der Wiederaufnah-
meziele tauglichen neuen Tatsachen oder Beweismittel.
b) Wie bereits oben a erwähnt, sind die speziellen Zulässigkeitsvoraus-
setzungen der Wiederaufnahme nicht bloß im Aditionsverfahren, son-
dern grundsätzlich mit der Ausnahme der von §366 Abs. 2 StPO
vorgeschriebenen Förmlichkeiten auch im Probationsverfahren zu
beachten. Das Probationsverfahren verlangt indes den Beschluß über die
Zulassung der Wiederaufnahme nach §368 Abs. 1 StPO (o. vor 1) als
zusätzliche Voraussetzung: das Fehlen des Zulassungsbeschlusses steht
dem Erlaß der Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens
nach §370 Abs. 2 StPO und auch den Entscheidungen nach §371 StPO
entgegen - ebenso aber, wie beim Fehlen der in § 368 Abs. 1 StPO
genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen das Wiederaufnahmeverfahren
noch nachträglich für unzulässig erklärt werden kann (o. a), so kann
auch noch im Probationsverfahren der bisher fehlende Zulassungsbe-
schluß nachgeholt werden.

2. Die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen


im Wiederaufnahmeverfahren
Wie bereits oben A II erwähnt, gibt es Umstände, die als sog. Prozeß-
voraussetzungen oder -hindernisse eine Sachentscheidung über Schuld
und Strafe des Angeklagten nicht zu erreichen erlauben und deshalb
jedenfalls in allen gerichtlichen Stadien des Verfahrens zu beachten sind.
Inwieweit einige der wichtigsten dieser allgemeinen Prozeßvorausset-
zungen das Wiederaufnahmeverfahren beeinflussen, soll im folgenden
betrachtet werden.
a) Die UnStatthaftigkeit der Strafverfolgung (§ 13 GVG), die fehlende
Unterwerfung des Beschuldigten unter die deutsche Strafgerichtsbarkeit
(z.B. §§18ff GVG), die Schuldunfähigkeit von Kindern (§19 StGB),
Verjährung, Amnestie, Begnadigung und fehlender Strafantrag stehen
nicht bloß der Durchführung des Hauptverfahrens entgegen, sondern
der Durchführung jedes Stadiums eines Strafverfahrens und damit
grundsätzlich auch dem des Wiederaufnahmeverfahrens. Indessen ist im
Wiederaufnahmeverfahren zu differenzieren: standen die genannten
Umstände schon dem zu einem rechtskräftigen Schuldspruch oder sonst
zu einer materiell rechtskräftigen Entscheidung (o. 11) führenden vor-
aufgegangenen Verfahren entgegen, so muß das Wiederaufnahmeverfah-
ren zugunsten des Beschuldigten mit dem Ziel der Verfahrenseinstellung
Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 993

regelmäßig50 möglich sein - treten die genannten Umstände allerdings


erst nach Rechtskraft der mit der Wiederaufnahme angegriffenen Ent-
scheidung auf51, so stehen sie grundsätzlich auch einer Sachentscheidung
im Wiederaufnahmeverfahren entgegen; in den Fällen nachträglich (nach
Rechtskraft der mit der Wiederaufnahme angefochtenen Entscheidung)
eintretender Unzulässigkeit nach §§ 13 ff; 18 ff G V G allerdings kann bei
der Wiederaufnahme zugunsten der Verurteilten dem Betroffenen eine
Rehabilitation nicht verwehrt werden. Eine Wiederaufnahme des Ver-
fahrens zu Ungunsten des Verurteilten dagegen ist bei Vorliegen der
genannten Prozeßhindernisse nicht möglich.
Liegen derartige Prozeßhindernisse vor, so sind mehrere Rechtswir-
kungen denkbar: einmal die Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als
unzulässig nach § 368 Abs. 1 StPO, die Einstellung durch Beschluß nach
§ 206 a StPO und schließlich, wie in der Literatur häufig vertreten, bei
Auftreten dieser Prozeßhindernisse vor Abschluß des Probationsverfah-
rens durch eine Entscheidung nach § 371 Abs. 2 oder § 373 Abs. 1
StPO 52 . Es ist jedoch kaum einzusehen, etwa das noch im Aditionsver-
fahren befindliche Wiederaufnahmeverfahren noch bis zum Zulassungs-
beschluß nach § 368 StPO oder gar bis zu einer Entscheidung nach § 371
Abs. 2 oder §373 Abs. 1 StPO weiter zu treiben, obwohl feststeht, daß
die genannten Umstände eine Sachentscheidung in jedem Fall verhin-
dern: hier ist das Wiederaufnahmeverfahren nach der in jedem Verfah-
rensstadium geltenden Vorschrift des § 206 a StPO 53 sofort einzustellen.
Entsprechendes gilt, steht dem Wiederaufnahmeverfahren eine den Wie-
deraufnahmegrund verbrauchende rechtskräftige Wiederaufnahmeent-
scheidung nach §§368, 370 StPO entgegen54.

b) Hinsichtlich der Verfahrenshindernisse der Rechtshängigkeit und der


Rechtskraft ist zunächst zu beachten, daß mit der Rechtskraft der mit
der Wiederaufnahme angefochtenen Entscheidung das Verfahrenshin-
dernis der Rechtshängigkeit in das der Rechtskraft gleichsam übergeht.
Die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung aber ist Voraussetzung
des Wiederaufnahmeverfahrens und kann dieses deshalb nicht hindern.

so Hinsichtlich unterbliebener Anwendung eines Straffreiheitsgesetzes s. LR-Gösse/,

Rdn. 100 vor § 359 a. a. O . (Fn. 3).


51 Z u m Strafantrag vgl. allerdings § 7 7 d Abs. 1 S . 2 S t G B : N a c h rechtskräftigem
Abschluß des Strafverfahrens kann ein Strafantrag nicht mehr zurückgenommen werden.
52 L R - M e y e r - G o ß n e r , § 2 0 6 a Rdn. 15 a . a . O . ( F n . 3 ) ; KMK-Paulus, § 2 0 6 a Rdn. 15
a . a . O . (Fn. 8); Peters, S. 158 ff a . a . O . (Fn. 4 2 ) ; Meyer-Goßner, Zur Anwendung des
§ 2 0 6 a S t P O im Rechtsmittel- und Wiederaufnahmeverfahren G A 1973, 366, 375.
53 Ebenso Kleinknecht/Meyer, § 2 0 6 a R d n . 6 a . a . O . ( F n . 2 ) ; O L G Frankfurt N J W
1983, 2398.
54 Vgl. z . B . KMK-Paulus, § 3 6 6 Rdn. 17 a . a . O . (Fn. 8), der indes anders als hier
Unzulässigkeit i. S. von § 368 S t P O annehmen dürfte.
994 Karl Heinz Gössel

Ist das Verfahrenshindernis der Rechtskraft im voraufgegangenen Ver-


fahren übersehen worden, so kann nach den obigen Ausführungen unter
12 das Wiederaufnahmeverfahren mit dem Ziel der Einstellung nach
§ 206 a StPO betrieben werden.
c) Auf die Verhandlungsfähigkeit des Verurteilten als einer allgemeinen
Prozeß Voraussetzung kann jedenfalls grundsätzlich auch im Wiederauf-
nahmeverfahren nicht verzichtet werden. Daher ist es nicht möglich,
eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten durchzuführen,
der verhandlungsunfähig ist.
Bei der Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten gilt nach dem
derzeitigen Wortlaut des Gesetzes an sich nichts anderes. Indessen ist
hier zu bedenken, daß § 361 StPO die Wiederaufnahme auch zu Gunsten
des verstorbenen Verurteilten zuläßt. Würde man dem Wortlaut des
Gesetzes folgen, so würde der schwer erkrankte oder aus sonstigen
Gründen dauernd Verhandlungsunfähige seine Rehabilitation durch
Aufhebung eines Fehlurteils zu seinen Lebzeiten nicht mehr erreichen
können - deshalb ist in diesem Fall § 361 StPO analog anzuwenden und
die Verhandlungsunfähigkeit im Wiederaufnahmeverfahren demnach
kein die Unzulässigkeit des Verfahrens bedingender Umstand55.
d) Bei Fehlen der in § 367 StPO, § 140 a G V G festgelegten Zuständigkeit
zur Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens dürfte, wie schon bei
der Zuständigkeit im voraufgegangenen Verfahren, eine Verfahrensein-
stellung kaum prozeßökonomisch sein, weshalb auch hier der oben B 1 3
erwähnte Wille des Gesetzgebers zu beachten ist, das Verfahren alsbald
an das zuständige Gericht gelangen zu lassen. Sollte dies nicht schon,
wie regelmäßig, durch eine bloße Weiterleitung der Akten unter Ver-
mittlung der Staatsanwaltschaft erreicht werden können, so sollten
§§269, 270 StPO bei fehlender sachlicher Zuständigkeit angewendet
werden: bei Zuständigkeit eines höheren Gerichts sollte beschlußmäßige
Verweisung möglich sein, während die an sich gegebene Zuständigkeit
eines Gerichtes niederer Ordnung in entsprechender Anwendung des
§269 StPO unbeachtet bleiben und erst im Beschluß nach §370 Abs. 2
StPO zur Anordnung der Wiederaufnahme vor dem zuständigen
Gericht in entsprechender Anwendung des §354 Abs. 3 StPO führen
sollte; Gleiches sollte für die Nichteinhaltung von Spezialzuständigkei-
ten in entsprechender Anwendung der § § 6 a , 355 StPO gelten und
ebenso für die fehlende örtliche Zuständigkeit in analoger Anwendung
der §§16, 355 StPO.

55 LR-Gosse/, Rdn.95 vor § 3 5 9 a . a . O . (Fn.3).


Überlegungen zur „Zulässigkeit" im Strafverfahren 995

III. Die Zulässigkeit im wiederaufgenommenen Verfahren


Im wiederaufgenommenen Verfahren ist auch für die Beurteilung der
Zulässigkeit von entscheidender Bedeutung, daß der Wiederaufnahme-
beschluß nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O das Verfahren in den Zustand zurück-
versetzt, in dem es sich vor Erlaß der mit der Wiederaufnahme angefoch-
tenen Entscheidung befunden hatte 56 . Weil damit das Verfahren in das
Stadium des voraufgegangenen Verfahrens versetzt ist, sind hier die
Zulässigkeitsfragen grundsätzlich nicht anders zu beurteilen, als oben
unter I für das voraufgegangene Verfahren dargelegt. Jedoch sind wegen
des durchlaufenen Wiederaufnahmeverfahrens folgende Modifikationen
zu beachten:

1. Der Wiederaufnahmebeschluß
Der Beschluß über die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 3 7 0
Abs. 2 S t P O ist eine Voraussetzung für die Durchführung des neuen
Sachentscheidungsverfahrens, der in seinen Wirkungen dem Eröff-
nungsbeschluß verglichen werden kann. Allerdings entspricht der Wie-
deraufnahmebeschluß diesem schon deshalb nicht völlig, weil wegen der
Zurückversetzung des Verfahrens in den Zustand vor Erlaß der ange-
fochtenen Entscheidung Anklage und Eröffnungsbeschluß des voraufge-
gangenen Verfahrens den Gegenstand auch des wiederaufgenommenen
Verfahrens bestimmen. Im übrigen sind etwa fehlende Sachentschei-
dungsvoraussetzungen des Wiederaufnahmeverfahrens ohne Einfluß auf
das wiederaufgenommene Verfahren: wie immer fehlerhaft das Wieder-
aufnahmeverfahren selbst auch durchgeführt worden sein mag, und sei
es auch ohne den Zulassungsbeschluß des § 368 S t P O , ist nach Erlaß des
Wiederaufnahmebeschlusses nach § 3 7 0 Abs. 2 S t P O bedeutungslos ge-
worden.

2. Gerichtliche Zuständigkeit
Die gerichtliche Zuständigkeit zur Durchführung des wiederaufge-
nommenen Verfahrens ist abweichend von der des voraufgegangenen
Verfahrens geregelt: sie liegt nunmehr bei dem nach § 367 S t P O , § 140 a
G V G zuständigen Gericht 57 . Bei fehlender Zuständigkeit ist ebenso zu
verfahren wie bei Zuständigkeitsmängeln im Wiederaufnahmeverfahren
(s.o. 112 d).

56 H. M., vgl. z. B. Kleinknecht/Meyer, § 370 Rdn. 10 a. a. O. (Fn. 2) m. w. Nachw.


57 LR-Gössel, §370 Rdn.48 a.a.O. (Fn.3).
996 Karl Heinz Gössel

3. Verhandlungsfäbigkeit
Bei fehlender Verhandlungsfähigkeit ist das (wiederaufgenommene)
Verfahren nicht etwa einzustellen 58 : wie schon im Wiederaufnahmever-
fahren die entsprechende Anwendung des §361 StPO vorgeschlagen
wurde (o. II 2 c), so hier die entsprechende Anwendung des §371 Abs. 1
StPO 5 '.

5 » So aber O L G Frankfurt N J W 1983, 2398.


5
' Hassemer, Verhandlungsunfähigkeit des Verurteilten im Wiederaufnahmeverfahren,
N J W 1983, 2353; Kleinknecht/Meyer, §371 Rdn.6 a . a . O . (Fn.2).
Verzeichnis der Schriften
von Hilde Kaufmann

I. Selbständige Schriften
Das Verbrechen und Vergehen gegen den Personenstand, Bonn, Jur.
Diss. 1950.
Steigt die Jugendkriminalität wirklich? Bonn 1965.
Strafanspruch, Strafklagrecht. Die Abgrenzung des materiellen vom
formellen Strafrecht, Bonner Habil.Schrift, Göttingen 1968.
Kriminologie I. Entstehungszusammenhänge des Verbrechens, Stutt-
gart, Berlin, Köln, Mainz 1971.
Menschsein zwischen Zwang und Schuld, Thematische Gottesdienste,
Regensburg 1973.
Jugendliche Straftäter und ihre Verfahren (in Zusammenarbeit mit Claus
Hartmann, Klaus Höfer, Helmut Marquardt, Hans Rausch), München
1975.
Kriminologie III. Strafvollzug und Sozialtherapie, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1977.

II. Aufsätze u. a.
Hinweise für die kriminologische Auswertung von Ermittlungs- und
Strafverfahrensakten, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 36 (1953),
S. 180-186.
Der Irrtum über Voraussetzungen, die für § 240 II StGB beachtlich sind,
in: Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1954, S. 359-364.
Verbotsirrtum als Strafausschließungsgrund? in: Neue Juristische
Wochenschrift 1955, S. 1057-59.
Was läßt die Kriminologie vom Strafrecht übrig? in: Juristenzeitung
1962, S. 193-199.
Gramaticas System der Difesa Sociale, in: H.Welzel u.a. (Hrsg.),
Festschrift für Hellmuth v.Weber, Bonn 1963, S. 418-444.
998 Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

Buchbesprechung von Göppinger, Hans E.: Die gegenwärtige Situation


der Kriminologie. Tübingen: Mohr (Siebeck) 1964. 42 S. (Recht und
Staat, H . 288/289), in: Juristenzeitung 1964, S.696.
Soll die Strafaussetzung zur Bewährung auch weiterhin beschränkt
bleiben auf Gefängnisstrafen von nicht mehr als 9 Monaten? in:
H . Kaufmann u. a. (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Grünhut, Mar-
burg 1965, S. 61-91.
Beleidigung und falsche Anschuldigung, in: R.Sieverts u.a. (Hrsg.),
Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Berlin 1966, Bd. 1,
S. 75-81.
Das Bild der Frau im älteren kriminologischen Schrifttum, in: Monats-
schrift für Kriminologie Bd. 50 (1967), S. 143-153.

Die Regelung der Zurechnungsunfähigkeit im E 1962, in: Juristenzei-


tung 1967, S. 139-144.
Literaturbericht: Jugendstraf recht, in: Zeitschrift für die gesamte Straf-
rechtswissenschaft Bd. 79 (1967), S. 822-830.
Das Verhältnis von §3 J G G zu §51 StGB in: Juristenzeitung 1969,
S. 358-364.
Hellmuth von Weber f , in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 53
(1970), S.273.
In Memoriam Hellmuth von Weber, Reden gehalten am 15. Mai 1971
bei der Gedächtnisfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakul-
tät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn von Franz
Ferschl und Hilde Kaufmann, Bonn 1972, S. 8-27.

Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik, in: Juristenzeitung


1972, S. 78-81.
Literaturbericht: Jugendstrafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Straf-
rechtswissenschaft Bd. 84 (1972), S. 134-141.
Repression oder Vorbeugung? in: H . Kaufmann (Hrsg.), Jugend-Krimi-
nalität und wir, Oeffingen 1974, S. 12-29.
Jugendstrafrechtsreform de lege lata? in: G.Stratenwerth u.a. (Hrsg.),
Festschrift für Hans Welzel, Berlin 1974, S. 897-915.

Die Gefängnissubkultur, in: G.Deimling u. J . M . Häußling (Hrsg.),


Erziehung und Recht im Vollzug der Freiheitsstrafe, Wuppertal 1974,
S. 105-116.
Strafgedanke und Behandlungsvollzug, in: Blätter für Strafvollzugs-
kunde, S.5-6, Beilage zum „Vollzugsdienst" N r . 3, 1974.
Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann 999

Die ungewollten Straftaten als Probleme des Rechts und der Rechtswis-
senschaft heute, in: Universitas 1975, S. 599-608.
In Memoriam Hans v. Hentig, Reden gehalten anläßlich der Gedenk-
feier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 15.Januar 1975 von Klaus
Schiaich, Karl Engisch, Hilde Kaufmann, Köln, Bonn 1976, S. 27-37.
Strafvollzugsreform und Klassifikation, in: G. Warda u. a. (Hrsg.), Fest-
schrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, Berlin, N e w York 1976,
S. 587-596.
Eine Antwort, in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 61 (1978),
S. 263-266.
Die kriminologische Lehrveranstaltung als allgemeine Orientierungs-
hilfe für Studierende? in: Monatsschrift für Kriminologie Bd. 63 (1980),
S. 379-384.
Maßstäbe für die Bewertung der Gleichheit und Ungleichheit von Mann
und Frau, in: Handbuch der christlichen Ethik, Hrsg. A . H e r t z u.a.,
Bd. 3, Freiburg, Basel, Wien 1982, S. 317-333.

Veröffentlichungen in spanischer Sprache

I. Selbständige Schriften
Principios para la reforma de la ejecución penal. Biblioteca de Ciencias
Penales, Bd. 1, Buenos Aires 1977.
Ejecución penal y terapia social. Buenos Aires 1979.
Delincuentes juveniles - diagnosis y juzgamiento. Biblioteca de Ciencias
Penales, Bd. 6, Buenos Aires 1983.

II. Aufsätze u. a.
Q u e deja en pié la criminología del derecho penal? in: Anuario de
derecho penal y ciencias penales, Tomo XVI, Fascículo II. Madrid 1963,
p. 235-250.
La criminología como crítica social, in: Nuevo Pensamiento Penal Año
2, N o . 1, Buenos Aires 1973, p. 61-68.
Derecho penal de culpabilidad, concepto de la pena y ejecución orien-
tada por el tratamiento, in: Nuevo Pensamiento Penal, Año 3, Buenos
Aires 1974, p. 109-120.
1000 Verzeichnis der Schriften von Hilde Kaufmann

La función del concepto de la pena en la ejecución del futuro, in: Nuevo


Pensamiento Penal, Año 4, No. 5, Buenos Aires 1975, p. 21-32.
Principios fundamentales de una reforma de la ejecución penal, in:
Capítulo criminológico 5, Maracaibo 1977, p. 205-219.
Represión o prevención de menores? in: Doctrina penal, Año 1, Buenos
Aires 1978, p. 461-474.
Carta abierta a la redacción y a los lectores de «Nuevo Foro Penal», in:
Nuevo Foro Penal, Medellín, Colombia, Año 1, No. 3, 1979, p. 7-10.
Concepciones del hombre en derecho penal y criminología, in: Doctrina
Penal, Año 4, 1981, No. 13, p. 15-28.

Hilde Kaufmann zum Gedächtnis


Reden anläßlich der Akademischen Trauerfeier für Frau Professor Dr.
Hilde Kaufmann am 25. Juni 1981 von Peter Hanau, Günther Kaiser,
Helmut Marquardt, Kölner Universitätsreden Nr. 57, Krefeld 1981.

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