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Ulrich Kronauer und Jörn Garber
Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung / hrsg. von Ulrich Kronauer und Jörn
Garber. - Tübingen: Niemeyer, 2001
(Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 14)
Personenregister 231
Einleitung
Vom 28. bis 30. Januar 1998 fand in Heidelberg in den Räumen der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften eine Tagung zu dem Thema „Recht und Sprache in
der deutschen Aufklärung" statt. Veranstaltet wurde die Tagung von dem Deut-
schen Rechtswörterbuch, einer Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften, und von dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der
Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Bei dieser Tagung ging es darum, eine Epoche in den Blick zu nehmen, die für
die Erforschung der deutschen Rechtssprache von besonderer Bedeutung ist. Am
Anfang des Jahrhunderts steht die Generalinstruktion der Brandenburgischen So-
cietät der Wissenschaften vom 11. Juli 1700. Friedrich III., Kurfürst von Branden-
burg, kündigt an, er wolle die Bemühung um die „uhralte teutsche Haubtsprache in
ihrer natürlichen, anständigen Reinigkeit und Selbststand" erneuern. In den
„Kantzleyen, Regierungen, Collégien und Gerichten" sollen „gute teutsche Redar-
ten" verwendet und aus den Archiven und Registraturen sowie „aus denen Pro-
vintzen" vergessene oder weitgehend unbekannte Wörter gesammelt werden, in
denen
ein Schatz des teutschen Alterthumbs, auch deren Rechte und Gewohnheiten Unserer Vorfah-
ren, theils zu ErkäntnUss der UhrsprUnge und Historien, theils auch zu Erleuterung heutiger
hohen und anderen Rechte, Gewohn- und Angelegenheiten verborgen stecket.1
Das Engagement des Kurfürsten für die deutsche Rechtssprache, das Gottfried
Wilhelm Leibniz, der Mitverfasser der Instruktion, geteilt hat, führte nicht zu kon-
kreten Unternehmungen. Es erschien aber im 18. Jahrhundert eine Reihe bedeuten-
der Nachschlagewerke, die auch heute noch für die Arbeit am Deutschen Rechts-
wörterbuch genutzt werden. Zu nennen sind etwa Thomas Haymes Allgemeines
Teutsches Juristisches Lexikon von 1738, das Glossarium Germanicum medii aevi
von Christian Gottlob Haltaus, das 1758 erschienen ist, und Georg Stephan Wie-
sands Juristisches Hand-Buch von 1762. Bereits 1694 war die erste Auflage von
Johann Christoph Nehrings Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon erschienen.
Ein Schwerpunkt der Tagung lag dann auch auf der Beschäftigung mit Wörter-
büchern der Epoche (Haß-Zumkehr, Welker) sowie mit der .juristischen Schreib-
art" (Wieczorrek). Unter terminologischen Einzelaspekten wurden, als große Re-
präsentanten der Aufklärung, Kant, Mendelssohn und Wolff behandelt (Thiele,
1
Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu
Berlin. Bd. Π. Berlin 1900, S. 107.
2 Einleitung
Ein wie nützliches und geradezu notwendiges Mittel der menschlichen Gesellschaft die Spra-
che darstellt, weiß ein jeder. Denn viele folgern allein aus dieser Fähigkeit, daß der Mensch
von Natur aus dazu bestimmt ist, ein Leben in der Gesellschaft zu fuhren. In bezug auf den
rechtmäßigen und für die menschliche Gesellschaft nützlichen Gebrauch der Sprache schreibt
das Naturrecht folgende Regel vor: Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Spra-
che oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen. (Übersetzung
Klaus Luig)
Dort findet er bereits einen Ausschnitt dessen, was in absehbarer Zukunft insge-
samt der Öffentlichkeit zur Verfugung stehen wird. Im Moment werden, parallel zu
den Arbeiten an den neuen Wortstrecken, die bis zum Buchstaben R gediehen sind,
die alten Bände des Wörterbuchs digitalisiert, und damit wird der vollständige Text
des Wörterbuchs mit verschiedensten Recherchemöglichkeiten ins Netz gestellt. In
welcher Weise sich diese Möglichkeiten fur die begriffsgeschichtliche Arbeit nut-
zen lassen, soll ein Beispiel verdeutlichen. Es ist inzwischen möglich, für eine
bestimmte Wortstrecke die Erstbelegungen des DRW-Archivs zu recherchieren,
soweit sie nach 1700 datieren. Damit kommt das bereits erwähnte „Allgemeine
Landrecht für die preußischen Staaten" wieder in den Blick, dessen Autoren über-
aus sprachbewußt und auch innovativ waren. Unter den Erstbelegungen findet
sich, neben anderen, das Wort „Offenlegung", bezogen auf den Vermögenszustand
(II 18 § 407). Dieses Rechtswort, das, wie es der Zufall will, ebenfalls auf Trans-
parenz hindeutet, ist weder in den Wörterbüchern von Adelung und Campe zu
finden noch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm.
Abschließend sei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herzlich ge-
dankt fur die großzügige Unterstützung bei der Ausrichtung und Durchführung der
Tagung sowie bei der Drucklegung des Tagungsbandes.
Nun, wer nach der Aufklärungssprache fragt2 und diesen Text gelesen oder gehört
hat, der weiß zunächst einmal: heute steht da ein Schild „Baden verboten", und
alles andere fallt weg. Insofern ist der sprachliche Befund, der hier vorgelesen
wurde und auch nachlesbar ist, sicher älter als unser heutiger Sprachgebrauch.
Hinzu kommt die pädagogisch-didaktische Begründung mit einer gestaffelten
Strafverordnungsdrohung und mit einem sehr vage umschriebenen Ort. Denn wo
am Neckar nächst dieser Stadt und auf welchen Spaziergängen dieses Verbot aus-
gesprochen wird, geht aus dem Text nicht hervor. Ist also dieser Text überhaupt
der Aufklärungssprache zuzuordnen?
Von der Argumentation her gehört er in die Tradition patriarchalischer Herr-
schaft. Der Text könnte so wahrscheinlich schon im 17. Jahrhundert auftauchen -
ich kenne nicht die ältere Heidelberger Rechtsverordnungs- und Polizeigesetzge-
Heidelbergs noch geltende Polizei-Gesetze, von dem Jahre 1800 bis zum Ende des Jahrs
1806, gesammelt und mit einem dreifachen Register versehen von W. Deurer. Heidelberg
1807, S. 74 - Umlaute modernisiert.
2
Die folgenden Überlegungen fußen auf einer Tonbandnachschrift, und sie gründen auf den
einschlägigen Artikeln des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe, wobei ich mit besonderem
Dank auf den soliden Beitrag des verstorbenen Horst Stuke zur „Aufklärung" verweisen möch-
te.
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 5
bung - , vom Duktus her ist er nicht spezifisch aufklärerisch, aber von der Stillage
her ist er schon vergleichsweise elegant. Denn es handelt sich um einen einzigen
Satz, wie ihn - freilich kunstvoller - auch Kleist formuliert haben könnte. Und in
einem Satz ist der Gedanke schon so zusammengefaßt, daß sich die Elastizität und
Eleganz eines Feuerbach oder Savigny und anderer juristischer Sprachkönner zu-
mindest abzeichnet.
Kleist wird gern als Romantiker definiert, wenn diese Art der Klassifikation
überhaupt abgefragt wird, und nicht als Aufklärer. Insofern ist dieser Text, wenn er
der Aufklärungssprache zuzuordnen wäre, es nur deshalb, weil er didaktisch ist
und belehrend, bevormundend und philanthropisch. D.h. ein gewisser Satz von
Kriterien, die der Aufklärungssprache zugeordnet werden, taucht darin auf. Wir
können freilich nicht davon ausgehen, daß sich die Aufklärungssprache in dieser
didaktischen und pädagogischen Argumentationslinie von oben nach unten er-
schöpft. Vielmehr - wenn wir etwa an Kant denken - ist es der Überschritt aus der
Heteronomie in die Autonomie, der die Sprache leiten müßte, und genau dieser
Überschritt wird hier vermieden, indem die Polizei die Leute nur mit Zwangsmaß-
nahmen und Strafdrohungen aufmuntert, nicht zu baden oder die Schamhaftigkeit
der Zuschauer zu verletzen. Wenn man also den Mut, sich des eigenen Verstandes
zu bedienen, als Kriterium der Aufklärungssprache ernst nimmt, ist es kein Aufklä-
rungstext. Wir stehen mithin vor dem Paradox, daß ein Text sowohl aufklärungs-
sprachlich gedeutet werden kann wie auch nicht. Was also tun? Das methodische
Problem liegt darin, daß wir uns - wenn wir so weiterfragen - nicht an die jewei-
lige Semantik einzelner Definitionen halten dürfen. Deshalb schlage ich vor, und
das werde ich jetzt versuchen zu tun, ,semantische Potentiale' abzutasten aus den
verschiedenen Sprachgebräuchen der Grundbegriffe, die im 18. Jahrhundert ver-
wendet worden oder aufgetaucht sind. So fragen wir zunächst nach dem Begriff
von .Aufklärung' selber.
Der Begriff einer Aufklärung selber, wie er sich als .Aufklärung' überhaupt erst
um 1780 abzeichnet, ist als solcher innovativ. Wenn wir also begriffliche Innova-
tionen der Aufklärungssprache erfragen, soll uns die Leitfrage nach der Begriffs-
geschichte von Aufklärung etwas helfen. Vor der Mitte des 18. Jahrhunderts taucht
dieser Begriff nur sporadisch auf, so daß alle Periodenbestimmungen, die das 18.
Jahrhundert inhaltlich als Zeitalter der Aufklärung definieren, nur rückwirkende
oder Ex-post-Defmitionen sind. So erinnert die Eule der Minerva, die um 1780
flattert, rückgreifend an Thomasius, Leibniz wird natürlich einbezogen - und
selbstverständlich Pufendorf. Aber das sind Ex-post-Konstruktionen, der erste
Wortbeleg von .Aufklärung des Verstandes' ist schon bei Stieler in einem Lexikon
Ende des 17. Jahrhunderts zu finden, nur völlig unspezifisch; das taucht mal auf,
aber gehört nicht zur Selbstbezeichnung all derer, die vor 1780 gelebt haben. - Es
gibt freilich schon eine französisch formulierte Überlegung von Leibniz über
éclaircissement' und ,éclairer', um vernünftig fortschreitende Erhellungen zu um-
6 Reinhart Koselleck
reißen, die mit Argumenten vorgetragen werden sollen und die auch schon einer
Theorie des Fortschritts dienen, und die dann rückwirkend, wie gesagt, zum Zeital-
ter der Aufklärung zusammengefaßt wurde.
Dann geht es schnell weiter, daß die sogenannten Aufklärungen ausgreifen. Der
Rückgriff reicht bis in das Altertum. Wieland z.B. kennt die Aufklärung in der
Antike, die Aufklärung im Mittelalter - für einige weniger, für andere mehr - , es
folgt natürlich die Aufklärung durch die Reformation, und dann gibt es die Aufklä-
rung zur eigenen Zeit. Und die wird durchaus nicht positiver oder produktiver als
die der Reformation gedeutet. Wir stehen also vor einem elastisch-diachronen, vor
einem ausgedehnten Feld, das sich jeder Systematik entzieht, und jede Systematik,
die darübergestülpt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ex-post-Willkür, mit der
man die Aufklärung nach Schulrichtungen ordnet. Es ist also ein plurivalenter Be-
griff.
Und im 19. Jahrhundert, das darf hinzugefugt werden, ist die diachrone Epo-
chenbezeichnung - besser: die Periodenbezeichnung des 18. Jahrhunderts als eines
aufgeklärten Jahrhunderts - bereits außer Gebrauch gekommen. Also das, was
Cassirer oder Wieacker heute zum Zeitalter der Aufklärung lehrbuchartig feststel-
len, war um Mitte des 19. Jahrhunderts so nicht mehr bekannt. Droysen, Bieder-
mann und Hettner - um drei bekannte, große Literatur-Historiker und theoretische
Denker zu nennen - setzten den Begriff der Aufklärung in Gänsefußchen und
haben sie „sogenannt" genannt, weil sie davon ausgingen, daß die sogenannte
Aufklärung als Begriff nicht bekannt war. Je konkreter wir die jeweiligen Defini-
tionen ins Auge fassen, desto mehr verschwimmt die allgemeine Kontur: Nach
vorne und hinten beliebig verlängerbar, von den Sophisten bis zur Studentenre-
volte 1968. Der Begriff .Aufklärung' ist überall anwendbar geworden, er ruft sy-
stematische Überlegungen hervor, die gleichzeitige Parallelbegriffe provoziert
haben; also das Zeitalter der Aufklärung ist begleitet vom Zeitalter der Kritik, vom
Zeitalter Friedrichs, vom Zeitalter der Vernunft, später vom Zeitalter der Emanzi-
pation, der Säkularisation, der Befreiung, der Selbstbestimmung, der Entzauberung
- bei Max Weber etwa - , und was dergleichen Ergänzungs- und Korrelationsbe-
griffe sind.
Auch die Gegenbegriffe sind entsprechend variabel und unendlich elastisch.
Zum Beispiel dienen ,Romantik',,Finsternis', .Reaktion', sogar .Religion' als Ge-
genbegriffe der Aufklärung, ,Offenbarungsgläubigkeit' auch; im Politischen: der
.Despotismus', die .Tyrannei',,Reformblockade' (nicht gerade,Reformstau' - aber
auch das wird wahrscheinlich antiaufklärerisch verwendet werden -), .Entmündi-
gung', Bevormundung' - kurzum, die Variationsbreite auch der Gegenbegriffe ist
so elastisch wie die Skala der Aufklärungsbegrifflichkeit. - Und wenn man sich
nach Schulen orientieren wollte, dann sind es die Rationalisten, die Empiristen, die
Materialisten, die Sensualisten - sie alle können sich zu den Schulen der Aufklä-
rung zählen. Das heißt, auch hier gibt es keine exakte Zuordnung. Wir fragen also
Begriffliche Innovationen der Außclärungssprache 1
deswegen nach dem semantischen Potential der Begriffe, die im 18. Jahrhundert
im sogenannten Zeitalter der „sogenannten Aufklärung" auftauchen, nach sprach-
lichen Hinweisen - nicht nach Einzelbelegen. Und in Anbetracht der hier anwesen-
den Kompetenz der Fachleute, die mir semantisch wahrscheinlich jeden Beleg wi-
derlegen oder überbieten können, ziehe ich mich zurück auf eine Metafrage: indem
ich das semantische Potential der damaligen Sprachgebräuche und der damaligen
Begriffe als solches thematisiere. Damit unterlaufen wir all die kategorialen Zuord-
nungen ex post und untersuchen entlang der sprachlichen Emanation der Begriffe,
wie sie im 18. Jahrhundert und vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftau-
chen, welche semantischen Möglichkeiten damit freigesetzt wurden. Die Semantik
und die Pragmatik der Wortgebräuche richten sich in dieser Perspektive nicht nach
ideologisch präformierten oder tradierten Sprechergruppen. Interessanterweise ist
schon der Ausdruck ,die Aufklärer' als Personalbestimmung vergleichsweise sel-
ten; eher spricht man von den Philosophen, vor allem in Frankreich spricht man
von ,les philosophes', wenn man Aufklärer meint im Sinne personalisierbarer
Sprecher, die die Aufklärungssprache gleichsam in die Welt gesetzt hätten. Alle
Teilhaber solcher Sprechergruppen unterlaufe ich in meinem Vortrag. Sowohl
ethnisch wie politisch, sozial, religiös oder sonstwie überlappen sich die aufgeklär-
ten Sprechergruppen, so wie sich herkunftsmäßig sowohl Professoren wie Adlige,
Gelehrte, Kaufleute, Beamte oder Fürsten, Kleriker oder Bischöfe zu den Aufklä-
rern rechnen durften, so daß auch eine prosopographische Zuordnung keine ex-
aktere Begrifflichkeit herbeiführt.
Man kann also die Vermutung aufstellen, daß sich der Wandel der Bedeutungs-
räume und der syntaktischen Spielräume nicht entlang den Sprechergruppen voll-
zieht. Sprechergruppen finden sich schnell und ebenso länger zusammenkommen-
de Gruppierungen, aber die Sprache, die sie verwenden, ist schon eine Vorgabe,
von der sie abhängen. Sprachgebräuche ändern sich langsamer, als die Wahrneh-
mung der Sprecher vielleicht registrieren kann. Das heißt, die Sprachgeschichte
läßt sich von den Sprechergruppen ablösen - theoretisch zumindest - , so daß wir
davon ausgehen müssen, daß sich die verwendete Sprache und der Bedeutungs-
wandel der Worte zu den Interessen der Sprecher nicht wie Eins zu Eins verhalten.
Die Sprache - besonders deren Grundbegriffe, ohne die überhaupt kein Verste-
henshaushalt möglich ist - ändert sich in anderen Rhythmen und im ganzen lang-
samer, als die politischen Ereignisse der Beteiligten abrollen, die sprachlich auf sie
einwirken, oder der ideologischen Programmatiker, die bestimmte Schlagworte
benutzen oder provozieren. Deren Wortverwendimg ist nicht identisch mit der
schleichenden, langsamen semantischen Verschiebung des Potentials, was ich eben
als innovativ selber charakterisieren möchte.
Kurzum, die politisch-soziale Semantik ist ohne Sprechergruppen und Spre-
cherinteressen nicht erklärbar, aber sie läßt sich nicht zur Gänze aus den aktuellen
und jeweiligen Sprecherkonstellationen ableiten. Sprachwandel und Begriffswan-
8 Reinhart Koselleck
del initiieren zugleich mehr und anderes, als die Sprecher selber unmittelbar wahr-
nehmen und wahrhaben konnten. Sie bedienen sich der Sprache ja oft sehr naiv
und spontan, und Sprecher sind nicht immer reflektierte Definitionskünstler. Die
Verwendung der Begriffe, von denen wir jetzt sprechen werden, entspricht nicht
nur gesteuerter Sprachtaktik, sondern es handelt sich um Vorgänge, um schlei-
chende Vorgänge, die zum Bewußtsein kommen, und das oft zufallig. Schon unser
Begriff ,Aufklärung' selbst taucht zwar als Aufklärung des Verstandes auf (im
Stieler, wie vorhin gesagt, im Lexikon), aber es gibt lange keine Definitionen, wie
sie Kant oder Mendelssohn getroffen haben, die durch ein Preisausschreiben, wie
Sie wissen, dazu evoziert worden sind. Also wir fragen nach Innovationen anläß-
lich der Aufklärungssprache. Dabei werde ich zunächst zwei bekannte Topoi dis-
kutieren. Erstens: „Si Dieu n'existe pas, il faudrait l'inventer" - „Wenn Gott nicht
existierte, müßte man ihn erfinden!" Dieser Topos von Voltaire wird gerne zitiert,
um die Souveränität des Menschen zu apostrophieren, die im 18. Jahrhundert
freigesetzt worden sei, indem sich der Mensch von Religion und Metaphysik
emanzipiert habe. Der Mensch verfüge auch über die Position Gottes und könne
sie nach Bedarf, etwa aus Gründen sozialer Steuerung, argumentativ besetzen. Der
Glaube an Gott ist kein theologisch begründetes Vorgebot mehr, er sei allenthalben
nützlich oder modern gesprochen: ideologisch fungibel.
Lassen sie mich gleich das zweite Diktum hinzufügen, das heute ebenso gern
zitiert wird, um die im 18. Jahrhundert gewonnene Selbstbestimmung des Men-
schen, zumindest theoretisch, zu kennzeichnen. „Wie ist eine Geschichte a priori
möglich?", fragte Kant. Und er antwortete: „Wenn der Wahrsager die Begebenhei-
ten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündet." Der Mensch sei
oder werde fähig, so folgert man gerne aus dieser Kant-Passage, seine Geschichte
planmäßig zu veranstalten, selber zu machen. Beide Interpretationen, hier verkürzt
vorgetragen, gehören offensichtlich zusammen: Wenn Gott nicht mehr Herr dieser
Welt ist, der auf unvorhersehbare Weise in den Alltag eingreift, sondern höchstens
eine Denkfigur, dann tritt der Mensch an seine Stelle - er wird zum Erdengott und
damit fähig, seine Geschichte vernunftgemäß zu steuern. Wer sich früher auf Gott
berief und dessen Vorsehung, der konnte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
auf die Geschichte berufen, auf die Weltgeschichte der Menschen, die vom Plan
zur Wirklichkeit fortschreitend zunehmend ihre Freiheit realisieren.
Und wer sich auf den Boden dieser - hier geistesgeschichtlichen - Interpreta-
tionen stellt, wird auch die Folgerung ziehen können, daß das 18. Jahrhundert so
etwas wie eine Epoche oder Periode der Aufklärung gewesen sei. Eine Epoche, sei
es im Sinne eines Wendepunkts oder einer Schwelle, oder sei es im Sinne einer
abgeschlossenen Periode, wonach die Moderne - unsere Geschichte - begonnen
habe, in der sich der Mensch ohne Rekurs auf außer- oder übermenschliche Gewal-
ten in dieser seiner Welt einzurichten trachtet. Im Sinne einer ideologischen Wir-
kungsgeschichte der Aufklärung hat diese Deutung Voltaires und Kants als zweier
Begriffliche Innovationen der Λ uflclärungssprache 9
geistiger Exponenten des 18. Jahrhunderts sogar einige Plausibilität für sich. Das
Mißliche dieser Deutung ist nur, daß sie nicht stimmt. Beide schlagwortartig ver-
wendeten Zitate meinten damals etwas anderes, als wir heute in ihnen finden. Vol-
taires Hinweis, wenn nötig Gott zu erfinden, war eine Suggestivformel. Gottes
Existenz war ihm als Deisten unbestreitbar - ein Axiom. Die ganze Natur verweise
auf dieses höchste Wesen, in dessen Abhängigkeit wir leben, so Voltaire. Er muß
sein, für Voltaire. Seine Formel war ein deistisches Postulat - wenn man so will,
eine Art subjektiver Gottesbeweis; und nicht ein Postulat, um ideologiekritisch
damit hausieren zu gehen.
Herbert Dieckmann hat gezeigt, wie tief eingelassen in die gesamte Aufklä-
rungsphilosophie die Fragen blieben, die die christliche Theologie gestellt hat, und
die die Aufklärer neu zu beantworten suchten - also Fragen nach der Existenz der
Seele, dem Fortleben der Seele nach dem Tod, nach der Erbsünde und dem Bösen,
nach Freiheit und Notwendigkeit; kurzum alle Theologoumena, die von den Theo-
logen bereits beantwortet waren, wurden neu formuliert, umformuliert und ver-
suchsweise mit neuen Antworten bedacht.
Das gilt auch für Kant; sogar für das zitierte Diktum. Es dient ihm nicht als
Beweis für die Machbarkeit der Geschichte. Vielmehr ist es, ähnlich Voltaires Dik-
tum, halb ironisch gemeint. Der Mensch, der die Begebenheiten herbeiführt, die er
vorhersagt, ist der ängstliche Politiker, der das Volk fürchtet und deshalb die Re-
volutionen hervorruft, die er vermeiden will. Oder es ist der Untergangsprophet,
der seine Visionen wider Willen realisieren hilft, indem er sie beschwört. Eine Art
negative ,selffulfilling prophecy'. Wenn also hier Geschichte gemacht wird - Kant
spricht vorsichtshalber von,Begebenheiten' und nicht von .Geschichte' - , dann im
entgegengesetzten Sinne als geplant. Es ist eine Art Dialektik der Vernunft, wenn
Sie so wollen, die Kant damit umschrieben hat. Politisch richtet sich Kant hier ge-
gen die Machthaber im Staat und in der Kirche, aber die Machbarkeit der Ge-
schichte hat er damit nicht begründen wollen. Es gibt andere Stellen in Kants Wer-
ken, aus denen eine Art Machbarkeit der Geschichte ableitbar ist. Der Einblick in
den Kontext nötigt uns also hier, zwei bekannte Fanfaren der Aufklärung zu dämp-
fen. Die Textstellen sind zurückhaltender und ambivalenter, als sie schlagwortartig
ex post gelesen werden. Hören wir also zunächst noch einmal auf die eingangs
genannten Auslegungen der dicta von der Erfindung Gottes und von der Machbar-
keit der Geschichte. Beide Auslegungen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Sie
setzen den Tod Gottes bereits voraus, so daß eine neue Lesart erfunden werden
konnte - als menschliche Projektion gedeutet, was Voltaire völlig ferngelegen
hatte. Und sie rekurrieren auf eine Geschichte, deren Produzierbarkeit, deren
Machbarkeit erst oder nur transzendental-philosophisch gedacht werden konnte:
nach Kant durch Kant initiiert.
Aber beide Deutungen werden zwei Texten entlockt, die zunächst die Möglich-
keit einer solchen Auslegung freigegeben haben, zumindest konnten die Autoren in
10 Reinhart Koselleck
dieser Richtung gelesen werden. Eine schlichte Gegenfrage erhärtet diese Vermu-
tung. Beide Wendungen wären im 17. Jahrhundert unfaßbar, nicht formulierbar
gewesen. Denn beide Wendungen gründen auf der anthropologischen Vorausset-
zung, daß der Mensch die ihm innewohnende Bestimmung habe, mündig, autonom
zu werden, wenn er es noch nicht ist. Die von fremden Autoritäten freie vernünf-
tige Selbstbestimmung ist eine implizite Voraussetzung dafür, die Konstruierbar-
keit Gottes oder die Herstellbarkeit der Geschichte zu konzipieren, denkmöglich zu
machen. Das ist der semantische Vorgang, der durch den Text hindurch reicht -
ein semantisches Potential, wie ich es bezeichnen möchte, ein Potential, das nicht
in der reinen Intention der Autoren aufgeht. Und dieses semantische Potential ist
es, was uns im weiteren Argumentationszusammenhang interessieren soll. Wenn
man die ironischen Waffen- und Tarntechniken in Rechnung stellt, kraft derer die
Aufklärer wirken mußten oder wollten, so gewinnen unsere beiden dicta von Vol-
taire und Kant sogar einen hintergründigen Sinn, der sich sprachlich vielleicht als
der eigentlich innovative herausstellen mag; jedenfalls als etwas, was sprachlich
erst möglich geworden ist und so vorher noch nicht aussagbar war.
Ich frage nun im zweiten Durchgang in zwei Argumentationsschritten: erstens
nach dem Innovationspotential, das in dem Begriff,Aufklärung' selbst enthalten
ist, um dann - zweitens - die daraus gewonnenen Kriterien auf die übrigen Grund-
begriffe des Aufklärungszeitalters zu übertragen, um zu sehen, ob dieses Innovati-
onspotential nicht nur zufallig am Aufklärungsbegriff hängt, sondern seitdem
generalisierbar und allgemein verwendbar geworden ist.
Ich nenne sechs Kriterien, an denen man den Begriff der Aufklärung auf sein
semantisches Potential hin lesen kann. Sie haben teilweise hypothetischen Charak-
ter, aber lassen sich zum großen Teil verifizieren. Erstens handelt es sich um einen
Epochenbegriff, der Innovationen selber zu begreifen erheischt. Es ist also eine
einmalige Ausprägung, kein beliebiger Epochenbegriff, vor allem keiner, der - wie
bisher - nur ex post und rückblickend Ereignis und Deutung zusammenfassen
würde. Sondern die Prägung hat selbst einen aktiven Anteil daran, wie er sich als
eigener Epochenbegriff definiert. Die Neuheit der eigenen Zeit, der eigenen Gene-
ration wird als solche thematisiert und im eigenen Land, wo die Leute so reden und
sich als aufgeklärt definieren, sich als Neuheit begreifen. Die Renaissance hat als
Epochenbegriff drei Jahrhunderte gebraucht, bevor sie Mitte des 16. Jahrhunderts
auf diesen ihren Begriff gebracht wurde. Und die Reformation, die ja zunächst ein
theologischer und juristischer Institutionsbegriff war, ist erst nach hundert Jahren
als historischer Periodenbegriff verwendet worden. Luther selbst hat sich dagegen
gesträubt, denn, wie Sie wissen, lebte er in Erwartung des Jüngsten Gerichtes und
hat gar nicht daran gedacht, die Reformation als einen Periodenbegriff in die Zu-
kunft hochzurechnen; das war jenseits seiner Vorstellung. Das heißt, die Reforma-
tion als Periodenbegriff ist erst hundert Jahre später definiert worden. Die Aufklä-
rung hat als Epochenbegriff sofort das eigene Zeitalter aus der Aktion selbst heraus
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 11
zu begreifen versucht, und zwar gleichzeitig als einen Begriff, der nicht nur die
eigene Zeit, sondern der schon die kommende Zeit mit erfaßt. Denn die Aufklä-
rung hat ja die Aufgabe, in die Zukunft hinein Aufklärung voranzutragen, voranzu-
treiben und insofern eine neue Zukunft zu erschließen. Es wird also eine Schwelle
definiert, die überschritten werden muß, indem man Aufklärung betreibt, oder um
Kultur und Gesellschaft im Sinne der Aufklärung zu beeinflussen, zu erziehen oder
zu leiten, oder zu geleiten, oder zu inspirieren, jedenfalls um den Weg der
Menschheit in die Humanität, in die Freiheit und dergleichen zu bahnen.
Insofern ist diese Aufklärung ein geschichtlicher Reflexionsbegriff, der die ei-
gene Zeit nicht nur im selbstverständlichen Sinne als neu definiert, wie jede eigene
Zeit als neu begriffen werden kann im Unterschied zu früher. Das ist eine über-
kommene Opposition, die ganz geläufig blieb: heute - früher, neu - alt. Neuheit
wird jetzt erstmalig als initiativ, als erschließend, als aktiv, als zukunftoffen defi-
niert. Die rhetorische Überschußbedeutung wird noch einmal überboten. Sie wird
in der zeitlichen Abfolge singularisiert. Insofern bereitet die Aufklärung seman-
tisch das vor, was erst im 19. Jahrhundert „Neuzeit" genannt wird. Der (deutsche)
Begriff „Neuzeit" stammt erst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorher
gab es ihn noch nicht.
Zweites Kriterium. Aufklärung teilt mit zahlreichen anderen Grundbegriffen,
daß das Substantiv aus einem Verb hervorgeht, aus einem Tätigkeitswort abgeleitet
worden ist. Das gilt für viele Begriffe, ist an sich nicht spezifisch für das 18. Jahr-
hundert, aber es bezeugt die Zeugungskraft der Sprache. Man erinnere sich nur an
,Bildung', das von ,bilden' kommt - wie auch ,Bild' von .bilden' - und so an .Ver-
nunft' von ,vernehmen', ,Bund' von .verbinden' und dergleichen. Also im Ganzen
gehen verbale Handlungstermini den substantivischen Begriffen voraus, aber erst
durch die Substantivierung werden die Begriffe theoriefahig. Das Interessante am
Aufklärungsbegriff ist nun folgendes: daß diese Transposition aus einem Tätig-
keits- und Handlungsbegriff, nämlich .aufzuklären', fortwirkt in der substantivi-
schen Ausformung des Begriffs. Er rührt von .aufklären' her: Das ist der metapho-
rische Hintergrund, der zunächst meteorologisch gedacht war, daß die Sonne auf-
zieht und Morgenröte sich lichtet und Helligkeit ausstrahlt und damit metaphorisch
auch eine erfreuliche Zukunft hervorlockt. - Oder militärisch meint Aufklärung
das Rekognizieren, wobei Handlungsanweisungen aus der Analyse der Feindlage
abgeleitet werden, um erfolgreich wirken zu können. Diese militärische oder me-
teorologische Hintergrundbedeutung spielt in die Metaphorik hinein, die die Tätig-
keitsmerkmale des Aufklärungsbegriffs zu verstehen helfen. Er ist sowohl ein
intransitiver wie ein transitiver Handlungsbegriff, und je nach dem metaphorischen
Segment, aus dem man es ableitet, ist auch das neue Substantiv intransitiv oder
transitiv zu lesen: Aufklärung, die sich selbst vollzieht (meteorologisch), und Auf-
klärung, die vollzogen wird (militärisch).
12 Reinhart Koselleck
Übrigens ist der Ausdruck ,Aufklärung' auch als Wort neu - er ist nicht nur ein
neuer Begriff, sondern ist als Wort erst im späten 17. Jahrhundert und im 18. Jahr-
hundert entstanden, im Unterschied zu dem französischen „les lumières", das ein
Pluralbegriff von vielen Lichtern war, die gleichsam solange die französische Spra-
che existiert, leuchten konnten im Unterschied zum singularen Aufklärungsbegriff,
der nur diachron und historisch und ideengeschichtlich in die Gnostik und die
Neuplatonik zurückverweist. Insofern unterscheidet sich Aufklärung auch von den
Nachbarbegriffen, und ebenso von dem Nachbarbegriff, der im deutschen Sprach-
haushalt des 18. Jahrhunderts sehr häufig auftritt, nämlich von .Erleuchtung' - was
ja ungefähr die Übersetzung von ,les lumières', bzw. von .enlightenment' sein
könnte (ein englischer Begriff, der erst später, im 19. Jahrhundert, für .Aufklärung'
aus dem Deutschen abgeleitet worden ist, aber der Wortbedeutung nach .Erleuch-
tung' meint). Dieser Begriff »Erleuchtung' dominierte anfangs, ist aber im Deut-
schen zurückgedrängt worden wegen seiner pietistischen Konnotationen. Denn als
.Erleuchtung' blieb sie stark theologisch imprägniert. Und genau um diese Bedeu-
tungsvariante zu vermeiden - so steht zu vermuten - , ist .Aufklärung' im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts besonders stark geworden, gewann also zumindest
eine antitheologische Komponente.
Aber kehren wir nun zurück von den Inhaltsbestimmungen zu der Erneuerungs-
trächtigkeit. Man darf also sagen, daß von der semantischen Struktur her .Aufklä-
rung' ein Handlungsbegriff ist, insofern er eine Dynamisierung auf den Begriff ge-
bracht hat, die vom Verb in das Substantiv einging. Es ist nicht mehr die Stetigkeit
des vorgegebenen .lumen naturale', das überall in jede dunkle Ecke leuchten kann,
sondern der Begriff gewinnt die Vorbedeutung der Aufklärung als eines Prozesses,
als einer Tätigkeit, als Vollzug und als Verzeitlichung, die die Aufklärung in Ak-
tion versetzt. Daraus folgt jedenfalls ein zeitlicher Veränderungsfaktor, der mit der
Aufklärung mitgedacht wird. Und das ist die Definition, die, wie Sie wissen, von
Kant stammt, daß nämlich Aufklärung nicht ein Ergebnis ist, sondern immer der
Vollzug dessen, was Aufklärung erst erreichen soll. Ergebnis wäre eigentlich die
Aufgeklärtheit. Aber der Begriff .Aufgeklärtheit' wurde im deutschen Sprachge-
brauch durch .Aufklärung' ersetzt. Kant hat sich ausdrücklich, wie Sie wissen wer-
den, dagegen gewendet; sie ist fur ihn ein Vollzugsbegriff, der Aufgeklärtheit als
Ziel bestimmt, während der Vollzugsbegriff selber .Aufklärung' lautet.
Daraus folgt ein drittes Merkmal. Aufklärung ist nicht nur inchoativ und inno-
vativ im Hinblick auf die übrigen geschichtlichen Perioden, indem sie sich selbst
als ein Neues produzierendes Zeitalter begreifen will. Sondern Aufklärung ist auch
ein Handlungsbegriff, der eine ihm einwohnende temporale Binnenstruktur hat.
Der Begriff selbst hat eine temporale Binnenstruktur, die sich nicht auf einen stati-
schen Zustand reduzieren läßt. Mit dem Begriff wird eine Spannung erzeugt, die
voraussetzt oder verlangt, daß es nicht nur wie eh und je Wandel gibt, sondern daß
dieser Wandel gewollt und in eine bestimmte Richtung gebracht wird. Jeder
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 13
Schritt, einen Sachverhalt oder eine Stimmungslage, ein Problem oder einen Kon-
flikt oder sonst etwas zu analysieren, zu lösen, zu erklären, fordert immer den
nächsten Schritt heraus, der die zwangsläufigen Reste und Folgelasten erneut auf-
zuklären erheischt. Es handelt sich also um eine Art von rekurrentem, dynamisier-
tem, verzeitlichtem Begriff, der in den alten europäischen Sprachen vor dem Fort-
schrittsgedanken sprachlich gar nicht denkbar war. .Aufklärung' ist im Fort-
schrittsbegriff angelegt. Fortschritt besteht darin, daß er immer weiterschreiten
muß, um überhaupt Fortschritt sein zu können. Die temporale Binnenstruktur des
Aufklärungsbegriffs, sowohl repetitiv zu sein - Aufklärung kommt nie an ihr Ende
- wie auch diachron, nämlich auf ein Ziel gerichtet zu sein, das kein Zurück mehr
zuläßt, das zeichnet diesen Begriff aus. Nun können Sie sich schon hochrechnen,
daß dieser Begriff zahlreiche ähnliche Begriffe induziert hat, auf die ich im
Schlußteil meines Vortrages zu sprechen komme. Ohne die selbstreflexive und
ohne die zeitliche Komponente, die mehr als nur eine Periodisierung bietet, son-
dern eine Handlungsdimension eröffnet, ist die Theoriefahigkeit der .Aufklärung'
gar nicht denkbar. Die Theoriefahigkeit dieses Begriffs liegt in seiner temporalen
Binnenstruktur beschlossen. Und das führt uns auf ein viertes Kriterium - daß sie
nämlich auch Ideologie produziert.
Viertens: Im Sprachgebrauch der Aufklärer gibt es zahlreiche Verwendungen,
die von einer wahren oder falschen Aufklärung zeugen, von einer ganzen oder
halben, von einer echten oder unwahren, von einer wirklichen oder eingebildeten.
Es gibt eine Fülle von derartigen selbstkritischen oder polemischen Oppositionen,
die der Aufklärungsbegriff selber aus sich hervorgetrieben hat. Es sind Binnenop-
positionen, denn sie unterscheiden sich selbstredend von der schlichten und tradi-
tionalen Opposition ,Licht gegen Finsternis'. Das ist die alte dualistische Formel,
die im 18. Jahrhundert zur Vokabel der Propaganda gerinnt. Aber daß die Aufklä-
rung selbst wahre oder falsche Aufklärung sein kann, halbe und schlechte, oder
richtige und ganze - das ist bereits eine begriffsimmanente Aufspaltung, die später
auf den Begriff der Dialektik der Aufklärung gebracht worden ist. Es ist nun diese
binnenaufklärerische Opposition, die Ideologie produziert.
Das läßt sich an einem Beispiel sehr schön erläutern. Es gibt die bekannte und
strittige Ableitung der Französischen Revolution: ist sie auf die Aufklärung zu-
rückzufuhren oder nicht? Die Revolutionäre selbst haben sich mit Stolz immer
wieder darauf berufen, daß sie die Aufklärer seien, die die Revolution initiiert hät-
ten. Aber ebenso wurde es eine konservative Theorie, besonders des Abbé Barruel,
daß die Aufklärer finstere Verschwörer seien, die die Revolution inszeniert hätten.
Strukturell handelt es sich um dieselbe, nämlich um eine kausale und intentionale
Erklärung, die nur verschieden bewertet wird. Die Revolutionäre haben sich immer
auch als Aufklärer verstanden. Es wäre absurd, diese Selbstdeutung nicht erst ein-
mal ernstzunehmen. Das heißt aber, wenn die Revolution zeitgemäß aus der Auf-
klärung abgeleitet wird, dann entsteht die genannte immanente Doppeldeutigkeit:
14 Reinhart Koselleck
ist die ganze Revolution, inklusive des Terrors, aus der Aufklärung ableitbar, oder
nur die halbe? Reicht die Aufklärung nur bis zur konstitutionellen Monarchie, die
aufgeklärt sei, und ruft dann im Terror ihr Gegenteil hervor? Oder ist der Terror
ebenso Folge der Aufklärung? Je nach politischer Perspektive wird die Aufklärung
so oder so ideologisch besetzbar.
Daraus entsteht im 19. Jahrhundert ein Dauerbrenner der Revolutionstheorien,
die immer wieder fragen: war nun die ganze oder nur die halbe Aufklärung für die
Revolution zuständig? War der Terror von Übel, dann war es nur die halbe Aufklä-
rung gewesen, sie ist nicht weit genug gediehen, sonst wäre der Terror nicht pas-
siert. Oder man sagt: die Aufklärung hat diesen Terror notwendigerweise produ-
ziert. Dann ist die ganze Aufklärung eine schlechte, eine falsche Aufklärung gewe-
sen. Wie immer man es dreht, der Aufklärungsbegriff immunisiert sich, er behält
immer Recht. Ob ich ihn nun mit einem ,halb' oder ,ganz' versehe: je nach dem,
was mir paßt, benutze ich diese oder jene Variante. Das heißt, der Begriff stellt
immer schon die Möglichkeit verschiedener Applikationen zur Verfugung, indem
er sowohl ganz wahr, halb wahr, halb falsch oder ganz falsch sein kann, echt oder
unecht usw.
Das heißt, diese Binnenopposition, die der Begriff aus sich hervortreibt, produ-
ziert eo ipso ideologische Verdächtigungen und die entsprechenden Entlarvungs-
techniken. Und je mehr ich verdächtige, desto mehr muß ich wiederum aufklären,
damit die Ideologie entlarvt werden kann. Diese temporalen Repetitionsstrukturen,
die aus der Binnenopposition von ganz oder halb, von echt oder unecht entstehen,
möchte ich vorschlagen, selbst als Ideologie zu bezeichnen. Sie ruft eine ständige
Ideologisierbarkeit hervor, die mit der sogenannten Dialektik der Aufklärung nur
einen neuen Namen erhalten hat. Früher war sie nicht einmal innerhalb theologi-
scher Diskurse denkbar, und ebensowenig im Hinblick auf die Praxis des politi-
schen und sozialen Lebens.
Daß das schon von Zeitgenossen so gesehen wurde, läßt sich bei Wieland bele-
gen. 1793, als der Terror die provokative Testfrage an die Aufklärer auslöste, fand
er folgende definitorische Antwort: „Die Epoke der höchsten Aufklärung [war]
[...].immer diejenige [...], worin alle Arten von Spekulation, Wahnsinn und prakti-
scher Schwärmerei am stärksten im Schwange gingen." Es ist freilich eine Aufklä-
rungsbestimmung, die bei Wieland, der nach den Schulkategorien ein klassischer
Aufklärer war, am wenigsten erwartet werden mochte. Aber er benutzt eine Defi-
nition der .höchsten' Aufklärung, um den Terror aus der ganzen Aufklärung ablei-
ten zu können und nicht auf eine falsche oder halbe Aufklärung zurückfuhren zu
müssen. Wie er später schrieb: „Die Kunst, uns selbst zu belügen" sei immer mehr
verfeinert worden. Das wäre das aufgeklärte Ideologie-Kriterium des Aufklärungs-
begriffs. Damit komme ich zu einem nächsten Kriterium. Ich darf noch hinzufü-
gen, daß das Ideologie-Kriterium die Selbstreflexivität des Begriffs voraussetzt,
und insofern auch die Theoretisierbarkeit des Begriffs darin enthalten ist.
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 15
Das finfte Kriterium ist relativ einfach zu erklären. Der Begriff wurde in dem
Augenblick, wo er zum Modebegriff wurde, wo er sich also durchsetzte, unent-
rinnbar. Man konnte auf den Aufklärungsbegriff seit 1780 nicht mehr verzichten.
Er war seitdem unersetzbar - auf Kosten der Parallelbegriffe, die zurückgedrängt
wurden. .Erleuchtung' war noch zu theologisch, und ,Kritik' war schon zu eng.
Aber im selben Moment, als .Aufklärung' unaustauschbar wurde, in dem selben
Augenblick wurde .Aufklärung' strittig.
Diese Verschränkung, unentrinnbar, aber deshalb auch umstritten zu werden,
gehört nicht nur zur Aufklärungssprache. Es ist vielmehr eine semantische und
pragmatische Regel: in demselben Augenblick, wo Grundbegriffe entstehen, auf
die man nicht verzichten kann, werden diese Begriffe strittig. Das heißt, es ist ein
Kriterium aller Grundbegriffe, ohne die man nicht denken kann, daß sie eo ipso
streitbar sind und strittig werden. Und das passiert nun mit dem Aufklärungsbe-
griff um 1780, nicht vorher. Damit hätten wir ein Kriterium, das unabhängig davon
gilt, ob .Aufklärung' religiös, naturalistisch, atheistisch, idealistisch, materiali-
stisch, romantisch oder klassisch oder sonstwie angereichert wird. Denn alle Spre-
chergruppen, auch die Theologen, auch der katholische Klerus, verwenden den
Aufklärungsbegriff durchaus positiv, d.h. fur sich selbst. Es ist ja nicht so, daß
dieser Begriff, nachdem er einmal unentrinnbar wurde, ein Monopol derer blieb,
die man ex post als Aufklärer in einem emphatischen Sinne definiert. Sondern die
Sprache war in einen Sog geraten, daß man ohne Aufklärungsargumente gar nicht
mehr auskam, gleich ob jemand rechts, links, oben, unten, in der Mitte oder sonst
wo stand.
In diesem Befund ist ein sechstes Kriterium enthalten, daß nämlich .Aufklä-
rung' auch ein Kollektivsingular ist. Auch das ist nicht spezifisch, bleibt aber doch
von Interesse, weil er die Summe vieler möglicher verschiedener Aufklärungsakte
und -schritte in sich zusammen bündelt. Und das sieht man im Sprachgebrauch
deutlich: Die Aufklärung des Landvolks, der Bürger, des Adels, der Fürsten, der
Gewerbetreibenden, der Landwirte, der Ökonomen, des ganzen Volkes, der Gesell-
schaft - alles kann aufgeklärt werden, je segmentar oder alles zugleich. Das regu-
lative Prinzip, Segmente zusammenzubündeln, daß alle von der Aufklärung erfaßt
werden sollen, entspricht einem dynamischen System, das entfesselt werden soll.
Das kann mit dem Kollektivsingular einer „Aufklärung schlechthin" bezeichnet
werden, und das im Unterschied zum französischen Sprachgebrauch, der wie im-
mer sehr viel empirischer bleibt. ,Les lumières' ist einer der Pluralbegriffe, die wie
auch ,les progrès' bei Condorcet im Französischen häufig auftauchen und nie
diesen aktivistischen und systematischen Kollektivsingular herbeizwingen wie bei
uns. - Und das ist auch fur die Rechtssprache erheblich, rechtserheblich, weil die
Depersonalisierung der Herrschaft, wie sie seit dem 18. Jahrhundert gedacht wird,
bis hin zur Möglichkeit, eine Gesellschaft ohne Herrschaft überhaupt zu entwerfen,
von Kollektivsingularen abhängt, die alle konkreten Bestimmungen in sich aufhe-
16 Reinhart Koselleck
ben. Aus dem .Oberhaupt im Staat' wird der ,Staat überhaupt*. So läßt sich Herr-
schaft entpersonalisieren, und dieser Kollektivsingular birgt als semantisches Po-
tential die Voraussetzung dafür, die Rechts-Staatslehre des 19. Jahrhunderts entfal-
ten und verstehen zu können.
Ich habe also sechs Kriterien genannt, die auf allgemeine und formalisierbare
semantische Potentiale verweisen: Da entsteht ein Epochenbegriff, der nicht zu-
rückblickt, sondern Selbstbezeichnungen zur eigenen Zeit enthält, ferner ein Tätig-
keitsbegriff, ein dynamischer Handlungsbegriff mit einer temporalen Binnenstruk-
tur, die zudem Ideologisierbarkeit und Ideologieträchtigkeit hervortreibt, und
schließlich die Strittigkeit eines Grundbegriffs, der als Kollektivsingular notwen-
dig wird - denn ich muß an ihm teilhaben, wenn ich mich verständlich machen
will. All das gilt nun zweifellos bis 1800 fur unseren Begriff der Aufklärung.
Bevor ich zum Schlußteil komme, möchte ich zwei historische Hinweise ein-
schieben, die sich auf den deutschen Sprachgebrauch beziehen, also empirienah
bleiben. Die erste These lautet, daß die deutsche Aufklärung religiös bleibt. Es ist
geradezu ein Kriterium der deutschen Aufklärung, daß sie grundsätzlich religiös
bleibt. Die französische Aufklärungssprache ist antikirchlich, anti-staatskirchlich,
weil die französische Staatskirche quasi ein Monopol der Intoleranz hatte. Im Streit
gegen die Sorbonne, die theologischen Fakultäten, gegen die Zensur und noch ge-
gen Inquisitionsgerichte war und blieb die französische Aufklärung eo ipso un-
duldsam anti-kirchlich und anti-theologisch. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts,
als die Konfessionen ja paritätisch organisiert waren und zu einer Art von Aus-
gleich institutionell gedrängt wurden, ist diese Aufklärung von vornherein eine
überkonfessionelle Aufklärung, die sich nicht anti-staatlich oder anti-kirchlich be-
greift, sondern über-kirchlich, und damit auch religiös. Der neue Begriff .Religio-
sität' entsteht damals nicht zufallig.
Und das führt zu einer zweiten historischen Bemerkung: daß nämlich der Auf-
klärungsbegriff zu schnell ausfranste oder abstarb, um generell akzeptabel zu blei-
ben. Hegel sprach bei aller Anerkennung schon von der inhaltslosen Kahlheit der
„Aufklärerei", und Leo sprach von „Aufkläricht", und die ideologiekritischen
Varianten wurden sehr schnell zu Schlagworten, die dazu führten, daß Droysen
Aufklärung in Anführungsstriche setzten mußte. Dieser Verfall ist darauf zurück-
zuführen, daß inzwischen ein Begriff geprägt wurde, der sehr viel konsistenter das
emanzipatorische Postulat der Aufklärung im deutschen Sprachhaushalt einlöste,
nämlich der Bildungsbegriff. Wer davon ausgeht, daß heteronome Bedingungen in
autonome Selbstbestimmung überführt werden sollen, dem legt sich nahe, mit dem
Bildungsbegriff weiterzuarbeiten. Denn .Aufklärung' hieß immer auch die Aufklä-
rung von außen und von oben mitdenken. Erst Selbstaufklärung führt zur Bildung.
Und Bildung ist eo ipso Selbstbildung. Und dieser Begriff, wie er um 1800 auf-
taucht, ist immer transitiv und intransitiv zugleich zu denken - Bildung ist sowohl
Begriffliche Innovationen der Aujklärungssprache 17
Selbstbildung wie Bildung zugleich aktiv nach außen gerichtet, Gesellschaft, Staat,
Volk, Nation und sonstiges erfaßt und gestaltet.
Ein interessanter Fall, wo die Selbstbildung besonders wirksam wird, liegt
darin, daß der anthropologische Grundentwurf, den man theoriegeschichtlich der
Aufklärung zuordnen darf, mit dem Bildungsbegriff weit besser eingelöst wird.
Wenn die Erfüllung des Menschen in der Zweigeschlechtlichkeit zu suchen und zu
finden ist, dann gehört die geschlechtliche Differenz zur Selbstverständigung de-
rer, die sich bilden wollen oder gebildet wissen. Die Anerkennung im und durch
den anderen wird zum Element der Selbstbildung. Diese in der sogenannten Ro-
mantik gewonnene Bedeutung ist eine Konsequenz aus der anthropologischen
Aufklärung. Sofern ein Mensch sich als autonom und selbständig begreifen will,
muß er auch die Liebe intemalisieren, die sich primär in der Zweigeschlechtlich-
keit wiederfinden läßt. Der Aufklärungsbegriff war dazu nicht geeignet. Wir wis-
sen es bis heute: Aufklärung über Sex ist nicht das gleiche wie Liebe. Was die
Liebe verspricht und einlösen kann, läßt sich nicht durch Aufklärung über Sex er-
reichen. Es ist diese Art zwischengeschlechtlicher Selbstbildung, die von der Auf-
klärungssprache tabuiert blieb. Denn Sinnlichkeit war für die Aufklärungsphi-
losophie primär ein von oben zu steuernder, zu korrigierender, zu zügelnder und
sonstwie zu kontrollierender niederer Trieb, nur ein Teilbereich des menschlichen
Daseins, den,Bildung' zur Gänze in die Selbstbildung zu integrieren forderte.
Das wären zwei historische Bemerkungen gewesen, die erklärlich machen,
warum der Begriff der Aufklärung im Deutschen sowohl dem Religiösen verhaftet
blieb wie auch vom Bildungsbegriff abgelöst und überboten werden konnte. Die
anthropologisch aufgeklärte Religion sollte in die Selbstverwaltung des Menschen
übernommen werden, und insofern reicht die Wirkungsgeschichte dieses spezifisch
religiös aufgeklärten deutschen Bildungsbegriffs bis mindestens 1848. Er greift
durch alle Hegelschulen mit ihren heilsgeschichtlichen Verheißungen, bis hin zur
.Emanzipation des Fleisches' und zur Abschaffung von Herrschaft überhaupt.
Damit komme ich zum Schlußteil, um die Übertragbarkeit der Aufklärungs-
Kriterien an anderen Beispielen zu erläutern. Bisher wurde der Versuch gemacht,
nur solche Aspekte des Aufklärungsbegriffs zu kategorisieren, die semantische
Potentiale freisetzten, die am Ende des 18. Jahrhunderts innovativ waren. Wenn
diese Kategorien auf den übrigen Sprachgebrauch übertragen werden, dann greift
das wie ein Zauberschlüssel, der in Kürze aufzeigen läßt, wie eine Fülle von Be-
griffen die gleiche Innovationskraft gehabt hat. Und das möchte ich nun an einigen
Beispielen zeigen.
Zunächst ein Hinweis auf die dynamischen Bewegungsbegriffe. - Als solchen
hat ja Kant den Aufklärungsbegriff selber verstanden. - Damit stoßen wir sofort
auf unaustauschbare Grundbegriffe, nämlich Geschichte, Fortschritt, Entwicklung,
Emanzipation, Revolution und Krise. Diese alle sind zeitlich gerichtete dynami-
sche Bewegungsbegriffe, die in analoge Funktionen eintreten wie die Aufklärung.
18 Reinhart Koselleck
Durch ihre dynamische Repetition soll eine strukturelle Veränderung mit der Ziel-
richtung in eine offene Zukunft hinein herbeigeführt werden.
Im Ganzen stoßen wir auf zeittypische Transformationen vom Verb zum Sub-
stantiv. Die Worte fortschreiten' oder .entwickeln' waren alt, .Fortschritt' und
Entwicklung' waren neueren Datums. ,Emanzipation' war auch als Wort alt -
handelte es sich hier schon um einen römisch-rechtlichen Begriff. Aber was sich
als neuer Begriff an diesem alten Wort angeheftet hat, den alten Begriff verdrän-
gend, ist folgendes: bei .Emanzipation' wird nicht mehr die repetitive generations-
spezifische Möglichkeit emanzipiert zu werden gedacht, sondern zunehmend die
autonome Selbstemanzipation, die einen linear in die Zukunft gerichteten irrever-
siblen Begriff enthält. Dieser geschichtsphilosophische Begriff ist dann nicht mehr
von Generation zu Generation wiederholbar, sondern soll eine Befreiung generel-
ler Art herbeiführen. Dabei muß erwähnt werden, daß dieser Emanzipationsbegriff
- wie Aufklärung - weithin noch von außen gesteuert blieb. Sehr viele Wortver-
wendungen enthalten im 19. Jahrhundert noch jenen passiven Emanzipationsbe-
griff, der aus dem römischen Recht herkommt und so in die Geschichte übertragen
wurde. Vor allem bei der Emanzipation der Juden ist völlig klar, daß viele christ-
lich verbrämte Wortverwender von ,Emanzipation' den Juden zumuteten, erst und
nur dann emanzipiert zu sein, wenn sie Christen werden, was die neuzeitliche
Bedeutung der Emanzipation absurderweise revoziert. Aber das war die häufigste
Verwendung eines von außen herangetragenen Emanzipationsbegriffs, der gerade
nicht auf die Autonomie jüdischer Eigenständigkeit zielte. Das gilt für sehr viele
Sprachgebräuche, die von Humboldt und Hardenberg vielleicht ausgenommen.
Aber im Ganzen ist diese von außen und oben noch gesteuerte Emanzipation, die
Selbstbildung und Autonomie gerade nicht voraussetzt, der im Deutschen noch
dominante Sprachgebrauch von Emanzipation.
Für .Geschichte' ist klar, daß sie früher ein Pluralbegriff war, der eine Fülle
einzelner Geschichten meinte, und der nun durch die Konvergenz von ,Geschichte'
und .Historie' zum Reflexionsbegriff wird. Der neue Begriff führt seit rund 1780
die Bedingungen der Wirklichkeit und die Bedingungen möglicher Geschichten
mit den Bedingungen ihrer Erkenntnis zusammen. Die Bedingungen dieser neuen
Geschichte und die Bedingungen ihrer Erkenntnis werden auf einen gemeinsamen
Begriff gebracht: den der .Geschichte selbst', der .Geschichte überhaupt', und ist,
wie er von Köster korrekt definiert worden ist, identisch mit ,Theorie der Ge-
schichte'. Denn Geschichte ohne Subjekt, die ihr eigenes Subjekt wird und Ge-
schichte ohne Objekt, die ihr eigenes Objekt wird, ist ein theoretischer und
hochabstrakter Kollektivsingular, der die Bedingungen aller nur möglichen Ge-
schichten im Plural überhaupt erst denkbar macht. Und damit ist dieser eine und
neue Begriff ganz zentral geworden, ohne den bis heute die Menschen kaum zu
denken und zu argumentieren vermögen, - obwohl er ein theoretisch überan-
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 19
worden ist - je nach politischem System und je nach revolutionärer Lage. Und das
gleiche gilt für die Gleichheit. Die Gleichheit als kollektives Abstraktum enthält
eine universale Botschaft, anders als wenn sie dem Römisch-Rechtlichen ,suum
cuique' folgt, das einen ständisch oder stetig differenzierten Adressatenkreis vor-
aussetzte. Damit wäre kategorial eine Gruppe der innovativen Kollektivsingulare
umrissen, die einen juristischen Systemzwang ausübten, wie er zuvor, vor dem 18.
Jahrhundert, in dieser Form nicht ausgeübt worden ist - und auch nicht ausgeübt
werden konnte.
Jetzt skizziere ich eine Gruppe von politischen Handlungseinheiten, die sich
alle an den Staatsbegriff ankristallisieren. Kaum ein anderer Begriff hat sich so
stark gewandelt und eine solche Innovationskraft gewonnen wie der Staatsbegriff.
Lange blieb er ein gesellschaftspolitischer und zudem ein zentraler Rechtsbegriff.
Das Spannende beim deutschen Staatsbegriff ist nun, daß er, vom französischen
,état' beeinflußt, aus dem lateinischen ,status' und auch aus dem deutschen ,statt'
abgeleitet wurde - das sind konvergierende Wortfelder, die dann zu dem modernen
Staatsbegriff hinführen. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein war ,Staat' ein plurali-
stischer Begriff, der als Statusbezeichnung immer schon andere ,status' voraussetz-
te. Das heißt, es war ein pluralistischer Begriff, der nie auf eine singulare Bedeu-
tung reduziert werden konnte. Wer den ,Status' im Kontext der Stände verwendete,
der setzte mit der Bezeichnung eines Standes die Existenz auch anderer Stände
voraus. Ob das nun der Hofstaat ist, den der Fürst beansprucht, oder der status =
Stand der Bauern oder der Bürger oder des Klerus - es gibt eine schier unendliche
Vielfalt - immer ist ,status' = ,Stand' ein pluralistischer Begriff. Um 1800 wird
eine Art Düse im Sprachgebrauch wirksam, weil sich der Staatsbegriff zu einem
Kollektivsingular verdichtet. Der überkommene Standesbegriff wird zu einem
Oppositionsbegriff und als solcher ausgestoßen, und zwar in dem Augenblick, als
der ,Staat als solcher' gedacht werden kann, der alle Stände zugleich umfaßt und
übergreift. In diesem Moment wird der Staatsbegriff zu einem kollektiven Ober-
begriff, der die ständische Pluralität enquadriert oder gar unterdrücken soll. Aus
dem pluralistischen ,Status'-Begriff wird als Kollektivsingular der moderne
Staatsbegriff. Nachdem er einmal zum unentrinnbaren, deshalb strittigen Begriff
geworden ist - strittig deshalb, weil keiner mehr darauf verzichten kann - , gibt es
keine Diagnose irgendeiner Gesellschaft mehr, die ohne den Staatsbegriff aus-
kommt. Erst seitdem der Staat seine Souveränität verliert, also sicher nach 1918,
wird es möglich, den Begriff ,Staat' - wie bei Luhmann - als Unterfall der
Gesellschaften' zu behandeln. Aber im Ganzen müssen auch die Gesellschaftsleh-
ren immer noch den politischen Staat einbeziehen. Es ist die semantische Unaus-
weichlichkeit, die zu seiner Strittigkeit führt. Seitdem sich der Kollektivsingular
durchgesetzt hat, ist eine Fülle von Definitionen möglich geworden, die den
Staatsbegriff nunmehr parteilich differenziert: da gibt es den Fürstenstaat, den
Machtstaat, den Wohlfahrtsstaat, den Rechtsstaat, den Nationalstaat, den Sozial-
Begriffliche Innovationen der A uficlärungssprache 21
Staat, sogar noch den Führerstaat - was auch immer er an Staatlichkeit vernichtet
hat. All diese Staatsbegriffe werden nach jeweiligen politischen Interessen neu
besetzt, um Teilhabe an der vorgegebenen Institution zu gewinnen oder diese zu
vereinnahmen. Das heißt, .Staat' war ein unverzichtbarer Begriff geworden, so wie
Aufklärung vorübergehend ein unverzichtbarer Begriff gewesen und um 1968
wieder geworden ist.
Die innovative Kraft, die dem Staatsbegriff im 19. Jahrhundert innewohnte,
fehlte zuvor den überkommenen Bedeutungen der Worte ,Stand' oder ,status': Als
Worte waren sie nicht innovativ gewesen. Erst der kollektiv-singulare Begriff, der
mit dem alten Wort transportiert wurde, ist in der Tat ein neuer Begriff geworden.
Insofern haben all die Worte, die bisher analysiert wurden, den Status von Neolo-
gismen mit den geschilderten innovativen Kräften. Also Geschichte, Fortschritt,
Entwicklung, Emanzipation, Staat, Freiheit, Gerechtigkeit - die Worte sind älter:
Aber die Begriffe, die seit der ,Aufklärung' damit verbunden werden, haben eine
enorm innovative und dynamisierte Kraft entfaltet.
Zum Schluß möchte ich auf eine Gruppe tatsächlicher Neologismen hinweisen,
die auch als Worte Neologismen sind, und die erst im 18. Jahrhundert oder frühen
19. Jahrhundert entstanden sind. Es handelt sich um, wie ich sie nennen möchte,
temporale Kompensationsbegriffe. Als erster taucht .Patriotismus' auf. Als Neu-
bildung ist dieser Begriff Anfang des 18. Jahrhunderts entstanden, geprägt in
Frankreich und bald auf den .citoyen' bezogen, der an Stelle des ,bourgeois' und in
Opposition dazu als wahrer Staatsbürger den Patriotismus zu vollziehen und zu
erfüllen habe. Diese rhetorisch neue Opposition stammt von Diderot aus der Ency-
clopédie. Der .bourgeois' wird seitdem auf den unpolitischen Wirtschaftsbürger
reduziert. Früher, vor Diderot, waren beide Begriffe noch austauschbar. .Citoyen'
versus .bourgeois', diese Oppositionsbestimmung ist erst im Zukunftssog eines
Patriotismus, den allein der Citoyen verwirklichen könne, neu gedacht worden.
Darauf baut der ,Kosmopolitismus' auf, der gleichsam die Internationale aller
Patrioten sein sollte, und der lange nicht als Oppositionsbegriff zum Patriotismus'
erfahren werden konnte. Bald folgte der ,Republikanismus', der die Einfuhrung
einer Republik nicht mehr als eine von drei möglichen Verfassungsformen meinte,
Republik als eine Form der Demokratie neben einer Monarchie oder einer Aristo-
kratie. Die Republik des dynamischen Republikanismus wird jetzt im klassischen
Sinne des Cicero wieder als Oberbegriff verwendet: er steht fur die wahre Verfas-
sung schlechthin. Der Republikanismus ist jener Bewegungsbegriff, der die wahre
Verfassung einer Republik anstrebt und ständig zu erfüllen erheischt auf Kosten
jeder Monarchie oder Aristokratie. - Das gilt analog für Demokratismus als dem
antiständischen Begriff katexochen, der genau diese Aktionsstrukturen beschwört
mit einer irreversiblen Zielbestimmung in die offene Zukunft hinein. Bevor diese
Demokratie nicht erreicht ist, lebt man in einem Zustand der Depravation. -
22 Reinhart Koselleck
Und das gleiche gilt für den Liberalismus als jenen Bewegungsbegriff, der auch
den Rechtsstaatsbegriff hochgetragen hat, welcher alle anderen Staatsbestimmun-
gen als unrecht ausschließen sollte. - Schließlich sei der Konservativismus als
Reaktionsbegriff genannt. Denn die Konservativen haben sich nicht selbst auf
einen ,-ismus'-Begriff bringen lassen wollen, aber sie kamen nicht umhin, sich in
die Bewegungsbegriffe einzupassen, obwohl eine Kompensation in der Zukunft
von ihnen per definitionem gerade nicht gesucht wurde. - Außerdem folgen der
Sozialismus und der Kommunismus in dieser Begriffsreihe. Sozialismus ist als
Wort älter, aber als Begriff wurde er völlig neu definiert, im Vormärz. Dann folgte
der Nationalismus, der als Wort der mittelalterlichen Universitätsverfassung ent-
stammte, aber erst um 1900 in das politische Vokabular eingeschleust wurde,
zunächst in Frankreich, dann in Deutschland, vor allem nach 1918. Schließlich fol-
gen Faschismus, der Nationalsozialismus oder der Sozialismus in einem Lande',
der semantisch dem nationalen Sozialismus entspricht.
All diese Begriffe, die eine dynamische Bewegungsstruktur haben analog zur
Aufklärung, und die in einer offenen Zukunft Erfüllung erheischen, teilen die
gleiche Typologie: Es sind temporale Kompensationsbegriffe. D.h., als sie geprägt
wurden, war der Erfahrungsgehalt dieser Begriffe gleich Null, oder er bestand
höchstens in der psychischen Disposition derer, die das Wort verwendeten. -
Wenn ich mich selbst fur Patriotismus entscheide, dann gewinne ich eine patrioti-
sche Haltung oder Einstellung oder Mentalität, aber der Patriotismus als Massen-
bewegung, als Aktionsform, als Integrationsweise der Bürger war noch nicht da,
als der Begriff gestiftet wurde. Aber so kam er in Gang und ist dann in der Fran-
zösischen Revolution aktiviert worden. Zudem expansiv betrieben, mit Missions-
kriegen, die dann den Patriotismus im Namen des Kosmopolitismus internationa-
lisiert haben. - Das gilt für den Republikanismus auch. Das ist ein Wort, das zu
Beginn, als es gestiftet wurde, im Zeitalter reiner Monarchien überhaupt noch
keinen Realitätsgehalt hatte. Aber von dem Augenblick an, als der Bewegungsbe-
griff als programmatischer Aktionsbegriff erst einmal entstanden war, ist das Pro-
gramm zunehmend verwirklicht und in der Französischen Revolution vorüberge-
hend schon erreicht worden. Aber erst mit vielen Verzögerungen hat der Republi-
kanismus das ganze Frankreich und schließlich auch die übrigen Länder Europas
erfaßt. Ähnliches gilt - regional dosiert - im 20. Jahrhundert auch für den
.Sozialismus'. Der einzige Bewegungsbegriff dieser Art, der per definitionem noch
nie erfüllt worden ist, ist der ,Kommunismus'. Denn selbst die Kommunisten ha-
ben aufgrund ihrer eigenen Theorie noch nie behauptet, daß der Kommunismus
jemals verwirklicht worden sei. Hier ist nicht die Rede von jenen Kommunen, die
als empirische Einzelgruppierung tätig wurden, sondern von dem marxistischen
Programm des Kommunismus, der nur mit universalem Anspruch zu verwirklichen
sei. Das heißt, der einzige Begriff, der bisher nach eigener Definition nie eingelöst
worden ist, ist der Kommunismus. Das gilt - leider - nicht für Nationalismus, Fa-
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache 23
hundert um sich greift, und der den Sprachhaushalt des 18. Jahrhunderts generell
imprägniert hat. Er enthielt eine Fülle von Erfahrungsstiftungsbegriffen, wobei
man davon ausgehen muß, daß diese sprachlichen Leistungen der Wirklichkeit
vorausliefen, und keine reinen Epiphänomene waren.
Der letzte Typus von Begriff ist der reine Erwartungsbegriff, der reine Zu-
kunftsbegriff, der zur Zeit seiner Prägung ohne jede Erfahrung ist. Kants Völker-
bund' gehört in diese Reihe, der 1919 erstmals realisiert wurde. Auf den per defi-
nitionem bisher uneingelösten .Kommunismus' habe ich schon verwiesen. Aber
streifenweise gilt selbst für den ,Staat', der ja die Vermutung fur sich hat, ein rei-
ner Institutionsbegriff zu sein, daß er als Erwartungsbegriff verwendet wurde.
Seitdem der Kollektivsingular ,Staat schlechthin' entstanden war, ,Staat über-
haupt', statt ein Staat mit Oberhaupt zu sein, erfolgte die semantische Transposi-
tion, die sich um 1800 durchsetzt. Dieser,Staat überhaupt' wird für eine Fülle von
Theoretikern zum Zukunftsbegriff: für Fries oder Krug, um die Kantianer zu nen-
nen, für Fichte sowieso, gewinnt der zukunftsoffene Staat den Auftrag, sich selbst
aufzuheben, indem er die Bürger so erzieht, daß sie autonom werden müssen.
Fichtes ,Erziehungsstaat' wird deshalb auch als ,Zukunftsstaat' definiert. Und die
Aufgabe des Zukunftsstaates ist, sich selbst aufzuheben und alle Herrschaft zu
erübrigen. Und das genau ist die Erwartung, die auch Marx daraus abgeleitet hat.
Sie ist eben von Fichte vorausgedacht worden und war bei Kant schon angelegt. Im
geschichtsphilosophischen Kontext wurde ,Staat' also zum reinen Erwartungsbe-
griff, der die dynamischen Veränderungskomponenten zu institutionalisieren ver-
pflichtet sei. Staat darf nur sein, der sich dauernd reformiert. Insoweit wird selbst
,Staat' zum Bewegungsbegriff schlechthin. Also die dynamische und temporale
Binnenstruktur, die wir beim Aufklärungsbegriff kennengelernt haben, läßt sich
selbst bei Institutionsbegriffen wie ,Staat' im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts
wiederfinden.
Eine Schlußbemerkung. Ich möchte nicht den Anspruch erhoben haben, mit
diesen kategorialen Vorschlägen die Semantik der Begriffe völlig neu zu ordnen,
ohne auf die empirischen Einzelfalle zurückgegriffen zu haben. Aber keine empiri-
sche Sprachanalyse reicht hin, die Geschichte selber auf den Begriff zu bringen.
Deshalb sei daraufhingewiesen, daß die Geschichte ohne Begriffe überhaupt nicht
erkennbar ist. Also Begriffe müssen wir schon verwenden. Aber die Begriffe, die
wir verwenden, sind nie identisch mit der Wirklichkeit. Deswegen möchte ich vor
Überlastungen warnen, daß unsere kategorialen Analysen der Begriffe nicht ver-
wechselt werden mit dem, was die Begriffe meinen. Denn die Begriffe, die auf die
Wirklichkeit zielen, mögen die Wirklichkeit deuten oder verändern, sind aber nicht
identisch mit ihr. Daher sei zum Abschluß eine Regel angeboten, die aus den vor-
getragenen Überlegungen abgeleitet werden darf: daß in der geschichtlichen Wirk-
lichkeit immer mehr oder weniger enthalten ist, als sprachlich über sie gesagt wer-
den kann. So wie sprachlich immer mehr oder weniger gesagt wird, als in der wirk-
26 Reinhart Koselleck
lichen Geschichte enthalten ist. Das ist ein aporetischer Satz, dessen beide Aussa-
gen sich gegenseitig verhindern: Wirklichkeit und Sprache sind aufeinander ver-
wiesen, aber nie so, daß eine Eins-zu-Eins-Gleichung herstellbar wäre. Deswegen
muß die Geschichte auch immer wieder umgeschrieben werden. Wenn Sprache
und geschichtliche Wirklichkeit nie konvergieren können, dann muß die Geschich-
te auch umschreibbar sein. Ja, sie erzwingt ihre Umschreibung, weil Geschichte
immer mehr oder anderes ist, als sprachlich über sie gesagt wird, wie umgekehrt
Sprache nie das einholt, was Geschichte potentiell ist oder war. Mit dieser Bemer-
kung möchte ich schließen, auch um Erwartungen, die mit den Begriffsanalysen
vielleicht gehegt werden, nicht allzu hochsprießen zu lassen, und um in Erinnerung
zu rufen, daß die wirkliche Geschichte immer noch anders läuft, als sprachlich sich
ausdenken läßt. Insofern können wir mit Kants Postulat weiterleben: Wage, selbst
zu denken, und versuche, deinen eigenen Verstand zu nutzen! - Geschichte zu
denken bleibt ein Wagnis, sie zu begreifen, nötigt immer zum Umdenken.
AXEL BÜHLER (Düsseldorf)
1. Einleitung
In der juristischen Hermeneutik des 18. Jahrhunderts galt die Ermittlung des Den-
kens des Texturhebers weithin als das ausschließliche Ziel juristischer Interpreta-
tion oder Auslegung. Jan Schröder hat darauf hingewiesen,1 daß in der Zeit vor
etwa 1700 in der juristischen Methodenlehre noch unterschiedliche Interpreta-
tionskonzeptionen gängig waren: zwar auch eine engere der Ermittlung des ge-
meinten Sinnes, aber daneben eine umfassendere, die dogmatische Zielsetzungen
verfolgte und Berührungspunkte zu verschiedenen Einzelwissenschaften einbezog.
Außerdem hatte es Autoren gegeben, die die Anwendung des geschriebenen
Rechts als zu seiner Interpretation gehörig betrachteten.2 Erst um 1700 ist es dann
wohl zum Vorherrschen jener Konzeption gekommen, die die Sinnermittlung als
das Hauptziel der Interpretation sah, der entsprechend der Interpret also versuchen
sollte, das Denken des Texturhebers zu ermitteln und dasselbe zu denken wie der
Autor.
Für diese Entwicklung mag die Herausbildung der allgemeinen Hermeneutik
mitverantwortlich gewesen sein.3 Da die allgemeine Hermeneutik zumeist auf die
Eruierung der Vorstellungen des Autors zielte, mag man versucht haben, sich
innerhalb einer speziellen Hermeneutik, hier der juristischen, an die Interpreta-
tionskonzeption der allgemeinen Hermeneutik anzugleichen. Aber auch die Ent-
wicklung der politischen Wirklichkeit wird eine Rolle gespielt haben. Die zuneh-
mende politische Bedeutung von gesatztem Recht und von Rechtssouveränen
kann den Rekurs auf einen die Rechtsprechung und damit Rechtsanwendung legi-
timierenden Willen des Gesetzgebers bei der Festlegung von Auslegungszielen be-
günstigt haben. Wenn als Interpretationsziel nämlich gilt, das Denken und damit
die Absicht des Gesetzgebers herauszubekommen, und wenn gleichzeitig die Art
und Weise der Anwendung auf den Einzelfall unmittelbar als Autorabsicht ange-
1
Schröder, Jan, Juristische Hermeneutik im frühen 17. Jahrhundert: Valentin Wilhelm Forsters
,Interpres', in: Medicus, Dieter u.a. (Hg.), Festschrift für Hermann Lange. Stuttgart/Berlin/
Köln 1992, S. 223-243, hier S. 235-237.
2
Ebd., S. 237, Anm. 30.
3
Zu dieser Problematik siehe Scholz, Oliver R., lus, Hermeneutica iuris und Hermeneutica
Generalis - Verbindungen zwischen allgemeiner Hermeneutik und Methodenlehre des Rechts
im 17. und 18. Jahrhundert, in: Schröder, Jan (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in
Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beiträge zu einem in-
terdisziplinären Symposion in Tübingen, 18.-20. April 1996. Stuttgart 1998, S. 85-99.
28 Axel Bühler
sehen wird, dann ist diese Anwendung politisch legitimiert. So kommt etwa eine
eventuell vorhandene richterliche Entscheidungsautonomie gar nicht in den Blick.
Wenn man Rechtsanwendung durch den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen
möchte, dann bietet es sich also an, das Interpretationsziel der Eruierung der Vor-
stellungen des Autors aus der allgemeinen Hermeneutik zu übernehmen.
Läßt sich aber die Zielsetzung der Ermittlung des gemeinten Sinnes von rechtli-
che Normen enthaltenden Texten ohne Schwierigkeiten mit der Anforderung ihrer
praktischen Umsetzung verbinden? Erfordert ihre Anwendung zur Regelung kon-
kreter sozialer Situationen nicht eine Kenntnis dieser Situationen, über die diejeni-
gen, die die relevanten Nonnen aufstellen, im allgemeinen gar nicht verfugen? In
bezug auf die juristische Hermeneutik der Aufklärung stellen sich deshalb die
folgenden Fragen, die ich in diesem Aufsatz anhand zweier Beispiele behandeln
will: Wie wurden im 18. Jahrhundert die Erfordernisse der Anwendung rechtlicher
Normen, denen die juristische Auslegung ja gar nicht ausweichen konnte, mit der
vorherrschenden Interpretationskonzeption zusammengebracht? Wie konnte man
einerseits Dasselbe-Denken-wie-der-Autor als das Ziel der Interpretation propagie-
ren, andererseits aber der Forderung nach der praktischen Umsetzimg von rechtli-
chen Normen gerecht werden? Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen.
Ich werde zwei wichtige Autoren herausgreifen, Christian Wolff (1679-1754) und
Christian Heinrich Eckhard, und betrachten, wie sie Interpretation als Ermitteln der
Absichten von Autoren und Interpretation als Normanwenden miteinander zu
harmonisieren suchten.4
Christian Wolff diskutiert in dem Kapitel „De Interpretatione" seines Jus Naturae
detailliert die Interpretation und Anwendung von Rechtsnormen ausdrückenden
Texten, und zwar vor allem von Texten, die Versprechen und Verträge beinhalten.5
Wolff versucht, in allen Fällen der Anwendung von Rechtsnormen ausdrückenden
Texten (Versprechen, Verträgen, Gesetzen) zur Regelung konkreter Situationen
4
Siehe hierzu ausführlicher auch meine Aufsätze: Verstehen und Anwenden von Gesetzen in
der juristischen Hermeneutik des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Schröder, Jan (Hg.),
Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie, (wie Anm. 3),
S. 101-116, sowie: Interpretazione e applicazione nelP ermeneutica giuridica di Christian
Wolff, in: Cacciatore, Giuseppe/Gessa, Vanna/Poser, Hans (Hg.), La filosofia pratica tra me-
tafisica e antropologia nell' età di Wolff e Vico, im Druck. Im zuerst genannten Aufsatz gehe
ich auch auf die juristische Hermeneutik von Christian Thomasius ein.
5
Wolff, Christian, Jus Naturae methodo scientifica pertractatum pars sexta. Halae Magde-
burgicae 1746, Nachdruck in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, hg. von Jean Ecole, J. E.
Hofmann, M. Thomann, Hans Werner Arndt. II. Abteilung. Lateinische Schriften. Bd. 22. Hil-
desheim 1968, Kap. III. Die im Text im folgenden nicht weiter gekennzeichneten Paragraphen-
und Seitenverweise beziehen sich alle auf diese Schrift.
Juristische Hermeneutik 29
Äußerungen des Willens der Texturheber zu sehen. Er zielt darauf ab, daß die
Anwendung solcher Texte und deren Interpretation zur Koinzidenz kommen. Ich
möchte mich hier lediglich auf die Frage konzentrieren, ob und inwiefern es Wolff
gelingt, sein allgemeines Interpretationsziel der Untersuchung der Gedanken des
Autors, die dieser mit den hervorgebrachten Worten verbindet, auch in den Fällen
aufrechtzuerhalten, in denen die Interpretation vom Wortlaut des zu interpretieren-
den Textes abzuweichen gezwungen ist bzw. auf Fälle auszudehnen ist, die der
Autor nicht vorhergesehen hat.
Versprechen, Verträge und Gesetze können uns nach Wolff zur Regelung so-
zialer Situationen dienen, indem wir Rede oder schriftlichen Text interpretieren,
d.h. „auf gewisse Art schließen, was jemand mit seiner Rede oder mit anderen
Zeichen anzeigen wollte" (§ 459, S. 318). Hierbei wird, wie Wolff auch sagt, die
„mens" des Sprechers untersucht. Die „mens" des Sprechers bestimmt er als die
inneren geistigen Akte („interni actus animi"), die den vorgebrachten Worten ent-
sprechen (S. 318). Die Interpretation von für die Regelung sozialer Situationen
intendierten Texten, vor allem von Versprechen und Verträgen, soll Aufschluß
darüber geben, welche Verpflichtungen die Textautoren eingehen bzw. welche
Rechte sie einräumen, und soll die Rechte und Verpflichtungen von Personen in
der sozialen Situation erschließen, das, was in der Situation getan werden muß
bzw. darf. Wolff meint, daß Interpretation, so verstanden, unmittelbar Anweisun-
gen zur Gestaltung der zu regelnden Situation gibt. Dabei erhebt er den Anspruch,
daß das von ihm für die Interpretation von Verträgen und Versprechen Ausge-
führte auch für die Interpretation von Gesetzen heranzuziehen ist (S. 318). - Zu-
nächst betrachte ich, wie die Interpretation nach Wolff die „mens loquentis" eru-
iert, im Anschluß daran untersuche ich, ob und vor allem inwieweit das von Wolff
empfohlene Vorgehen dazu dienen kann, die tatsächliche „mens loquentis" heraus-
zufinden.
Wolff beschränkt seine Betrachtungen weitgehend auf Rechtsgeschäfte, die
Versprechungen („promissiones") beinhalten: Versprechen („promissa") und Ab-
machungen („pacta").6 Sowohl „promissa" wie auch „pacta" enthalten Willenser-
klärungen, die bestimmte, konkrete Situationen betreffen und diese Situationen in
irgendeiner Weise regeln sollen. Der auf die Situation bezogene Wille ist eine
Absicht, die Situation so oder so zu regeln, eine Regelungsabsicht. Die „interpreta-
tio" der Willenserklärung hat die Aufgabe, die Regelungsabsicht (eine Kompo-
nente der „mens loquentis") zu ermitteln. Wenn die Regelungsabsicht festgestellt
ist, dann muß sie nur noch in die Tat umgesetzt werden. Eigentliche Interpreta-
6
Die Unterteilung in Versprechen und Abmachungen, die aus dem Römischen Recht in dieser
Weise nicht bekannt zu sein scheint, betrifft wohl den Aspekt von Einseitigkeit gegenüber
Wechselseitigkeit von Rechtsgeschäften: ein Versprechen („promissum") ist die einseitige
Willenserklärung nur einer Person; eine Abmachung oder ein Vertrag („pactum") dagegen in-
volviert wechselseitige Willenserklärungen mehrerer Personen.
30 Axel Bühler
tionsarbeit fallt nicht an, sofern die verwendeten Ausdrücke eine „feste und be-
stimmte Bedeutung" haben und die Text- oder Redehervorbringer ihre Regelungs-
absicht mit ihren Worten hinreichend klar zum Ausdruck bringen.
Diese Bedingungen sind aber nicht erfüllt, wenn im einzelnen: a) Ausdrücke
mehrdeutig sind (§ 480); b) aus der Interpretation eine Absurdität folgt: eine phy-
sikalische Unmöglichkeit oder etwas, was der Vernunft fremd ist (§ 483); c) wenn
durch das Rechtsgeschäft nichts bewirkt wird („sequitur, nihil actum esse"), wenn
also Verfugungen jeglichen sinnvollen Regelungszweck verfehlen und damit ge-
genstandslos werden (§ 485); d) wenn die Rede dunkel - also schwer verständlich
- ist (§ 487).
Liegt nun mindestens einer dieser Fälle vor, dann muß interpretiert werden
(§ 460). Hierbei müssen wir unter weitgehender Berücksichtigung des Wortlauts
zur Zuschreibung einer Regelungsabsicht kommen. Das können wir, indem wir vor
allem folgende Interpretationsregeln anwenden:
Regel 1 : Wenn wir den einzigen Grund für den Willen einer Person kennen, dann
sind die Worte so zu interpretieren, daß sie diesem Willensgrund entspre-
chen (§ 489).
Regel 2: Wenn der situative Anwendungskontext („relatio ad aliquid") eines mehr-
deutigen Ausdrucks seine Bedeutung festlegt, müssen wir den Anwen-
dungskontext bei der Interpretation berücksichtigen (§ 491).
Regel 3: Dem Autor des zu interpretierenden Textes sollen nur solche Regelungs-
absichten zugeschrieben werden, von denen wir mit Wahrscheinlichkeit
annehmen können, daß er sie tatsächlich gehabt hat (§ 512).
Ich möchte hier nur kurz Regel 1 kommentieren. Wolff unterscheidet zwischen
dem Willen bzw. den Willensakten, als Teil der „mens" des Sprechers einerseits,
und dem Willensgrund, der „ratio volitionis" andererseits. Den Willensgrund nennt
er auch das Motiv („motivum") des Willensaktes. Ohne Motive gibt es keine Wil-
lensakte. Der Willensgrund, die „ratio volitionis", ist dabei offenbar ein psychi-
scher Faktor beim Sprecher, kein außerpersönlicher, .objektiver' Grund oder
Zweck. Regel 1 weist dem Willensgrund eine wichtige Funktion bei der Interpre-
tation zu: wenn aus den Worten des Autors allein nicht klar wird, wie sie gemeint
sind, können wir zu ihrer genaueren Bestimmung den Willensgrund heranziehen. -
In Hinsicht auf die Gestaltung einer sozialen Situation bezeichne ich hier, um die
Bezüge zur praktischen Umsetzung terminologisch zu unterscheiden, den Willens-
grund auch als „Regelungszweck" oder „Regelungsmotiv", den Willen bzw. den
Willensakt - wie schon weiter oben gesagt - auch als „Regelungsabsicht".
Die Regeln 1-3 sollen für die Fälle ausreichen, in denen verwendete Ausdrücke
keine feste und bestimmte Bedeutungen haben oder der Wille des Autors nicht klar
ausgedrückt wird. Nun gibt es aber auch solche Fälle, in denen die durch die Inter-
pretation erhaltene Regelungsvorschrift vom Wortlaut des interpretierten Textes
Juristische Hermeneutik 31
abweicht. Dies geschieht bei der extensiven und der restriktiven Interpretation.7 In
beiden Fällen sind die konventionelle Wortbedeutung in der Normformulierung
und die Gedanken des Normgebers nicht in Übereinstimmung. Extensive und
restriktive Interpretation haben von der konventionellen Wortbedeutung abzusehen
und nur zu berücksichtigen, was der Autor gemeint hat. Extensive Interpretation
überträgt die Wortbedeutung auf Fälle, die nicht unter die Normformulierung fal-
len. Restriktive Interpretation nimmt Fälle, die unter die Wortbedeutung fallen, aus
dem Anwendungsbereich der Norm heraus.
Um unter diesen Umständen eine Interpretation zu erhalten, reichen die obigen
Regeln nicht aus. Eine weitere Regel, die von der kontrafaktischen Überlegung
ausgeht, was der Autor beabsichtigen würde, wenn ihm bestimmte Umstände be-
kannt wären, muß herangezogen werden:
Regel 4: Die Interpretation ist so durchzufuhren, wie sie der Autor durchführen
würde, wenn er anwesend wäre, oder wenn ihm bekannt gewesen wäre,
was jetzt bekannt ist (§ 515).8
Mit Hilfe dieser Regel kommt man zu einer Regelung der problematischen Fälle.
Inwieweit ermittelt die Interpretation, die in beschriebener Weise vorgeht, die
tatsächliche „mens loquentis"? Zur „mens loquentis" gehören die „inneren Akte
des Geistes, des Verstandes oder des Willens" (S. 318), die den vorgebrachten
Worten entsprechen. Sehen wir hier von den Akten des Verstandes ab und be-
trachten wir allein Willensakte. In den Fällen, in denen die zugeschriebene Rege-
lungsabsicht nicht vom Wortlaut der Willenserklärung abweicht, kann die „mens
loquentis" oft aufgrund der Wortbedeutungen und aufgrund der Situationskenntnis
(„relatio ad aliquid"; siehe oben: Regel 2) zugeschrieben werden. Eine andere Art
der Zuschreibung der „mens loquentis" geht vom Willensgrund aus und ermittelt
unter der Annahme, ein bestimmter Grund sei der einzige Willensgrund, die Re-
gelungsabsicht der Person (Regel 1). Beiderlei Vorgehen erschließt die „actus
internos", wie sie bei einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt
vorliegen.
Dies ist aber nicht der Fall, wenn die durch die Interpretation ermittelte Rege-
lungsabsicht vom Wortlaut des Textes abweicht oder wenn allgemeine Gesetze auf
den dem Gesetzgeber unbekannten Einzelfall angewendet werden sollen, vor allem
also, wenn die vierte Interpretationsregel zur Anwendung kommt. Denn die Ab-
sicht, die wir, um die soziale Situation zu regeln, in diesem Fall dem Normgeber
zuschreiben, hat der Autor ja gerade nicht. Er hätte sie nur dann, „wenn er anwe-
send wäre, oder wenn ihm bekannt gewesen wäre, was jetzt bekannt ist". Dennoch
7
Siehe zu dieser Terminologie Tarello, Giovanni, L'interpretazione della legge. Milano 1980,
S. 35-36.
8
,Jnterpretatio ita facienda, quemadmodoum earn faceret, qui locutus est, si praesens esset,
vel si eidem cognita fuissent, quaenunc palam sunt".
32 Axel Bühler
meint Wolff, daß wir auch bei Anwendung dieser Regel „den Geist dessen unter-
suchen, der gesprochen hat" (siehe Erläuterungen auf S. 372f.). Er weist nämlich
auf die Tatsache hin, daß wir unter bestimmten Umständen etwas nicht wollen,
was wir bei Abwesenheit der Umstände wollen. Wenn nun eine Person gefragt
würde, ob sie bei Eintritt bestimmter Umstände noch dasselbe wolle, dann würde
sie antworten, daß sie es nicht wolle. Wenn wir sie so interpretieren, dann - sagt
Wolff - untersuchten wir ihre „mens". Das heißt wohl: wir untersuchen ihre mög-
lichen Willensakte. Daß es die möglichen Willensakte dieser Person sind, ist dann
gewährleistet, wenn wir den tatsächlichen Willensgrund dieser Person kennen.
Wolff bemerkt: „Die Interpretation geschieht hier außerhalb der Bedeutung der
Wörter, so daß der Absicht der Person, die gesprochen hat, Genüge getan werde,
wobei auf den Grund zu achten ist, warum jemand das, was er gesagt hat, gewollt
hat." (S. 373). 9 Die Interpretation muß dem Autor also auf jeden Fall einen tat-
sächlich vorliegenden Willensgrund zuschreiben. Um dem Willensgrund Genüge
zu tun, muß der Interpret zu einer Entscheidung kommen, die der Autor getroffen
hätte, wenn er die Umstände gekannt hätte. Wolff spricht hier davon, daß eine
Interpretation, die die Regel vier verwendet, den Geist des Sprechers untersucht,
und er benutzt dabei die Wörter „investigare" und „inquirere". Er sagt nicht, daß
das, was der Autor denkt bzw. will, erschlossen wird („colligere"). Wolff scheint
sich also wohl darüber im klaren zu sein, daß die Interpretation nicht den tatsächli-
chen Willen als Teil der „mens loquentis" erschließt; aber er meint dennoch, daß
das Vorgehen eine Untersuchung der „mens" des Autors ist, und zwar wohl des-
wegen, weil sie (1) seinen tatsächlichen Willensgrund berücksichtigt, und dadurch
(2) mögliche Willensakte des Autors herausfindet.
Wir sehen also: bei der Anwendung der vierten Interpretationsregel scheinen
wir zwar keine Regelungsabsicht zuzuschreiben - denn der Autor hatte tatsächlich
keine Regelungsabsicht - , wir schreiben ihm aber ein tatsächliches Regelungsmo-
tiv zu, überlegen uns, wie er entschieden hätte, erhalten eine dem Autor mögliche
Regelungsabsicht und untersuchen so die mens des Autors. Dabei erhalten wir ein
Interpretationsresultat, das die Textanwendung auf eine Situation erlaubt, so, als
sei sie vom Autor gewollt. 10
9
„Fit hic interpretatio extra verborum significatimi, ut intentione ejus, qui locutus est, satisfiat,
animum attendendo ad rationem, cur quis hoc, quod dixit, voluerit".
10
Übrigens führt möglicherweise auch die Anwendung einer weiteren Regel, die für die Bedeu-
tungszuweisung positive und negative Folgen mitberücksichtigt, auf Resultate, die nicht als
Zuschreibung von tatsächlichen Regelungsabsichten aufgefaßt werden können (Regel 5):
Wenn die weitere Bedeutung von Ausdrücken für die Vertragspartner oder für Begünstigte po-
sitive Folgen hat („favorabilia"), ist die weitere Bedeutung anzunehmen (§ 500); können ne-
gative Folgen („odiosa") durch Zuschreibung der engeren Bedeutung vermieden werden, ist
die engere Bedeutung anzunehmen (§ 506). In diesem Fall wird eine eventuelle Abweichung
von tatsächlichen Regelungsabsichten darauf zurückzuführen sein, daß die Berücksichtigung
positiver und negativer Folgen bei Wolff auch mit normativen Überlegungen verbunden zu
sein scheint. Auf diese Problematik kann ich im gegebenen Rahmen aber nicht eingehen.
Juristische Hermeneutik 33
" Eckhard, Christian Heinrich, ¿¡ermeneutica Juris. 1. Aufl. Jena 1750. Mit einer Vorrede und
fortlaufenden Anmerkungen versehen von Karl Friedrich Walch. Leipzig 1779. Letzte Aufl.
1802. Ich zitiere aus der Ausgabe, die im Jahre 1792 in Leipzig erschienen ist. - Erwähnt, aber
nicht weiter erläutert wird Eckhards Werk in Lutz Geldsetzers Überblick über die Geschichte
der juristischen Hermeneutik in seiner „Einleitung" zur Neuausgabe zu Anton Friedrich Justus
Thibaut: Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts. [2. Aufl. 1806] Düsseldorf
1966, S. XXVni. Etwas ausführlicher berichtet Peter Raisch: Juristische Methoden. Vom an-
tiken Rom bis zur Gegenwart. Heidelberg 1995, über Eckhards Hermeneutica Juris, und zwar
auf S. 76-78.
12
Eckhard, Hermeneutica Juris, (wie Anm. 11), § 1: „In omni interpretatione, qua verborum
sensus investigatur, summum illud est, ut eas alterius verbis notiones attribuamus, quas ipse
sub illìs intellegi voluit".
13
„Omnis quoque scriptor sibi constare velie existimandus est, ne ea protulisse videatur, quae
inter se non cohaerent, et placitis sui, aut consuetudini suae repugnant".
14
„[...] interpretan nihil aliud esse, quam sensum auctoris ex eius verbis et ratione declarare".
Ist hier mit „ratio" gar die Zwecksetzung des Autors gemeint?
34 Axel Bühler
mag also das, was wir dem Autor als sein Denken zuschreiben, etwas anderes sein
als das tatsächliche Denken des Autors. - Eckhard unterscheidet nun zwischen
zwei Arten von Auslegung, zwischen grammatischer und dialektischer Auslegung,
und verweist die erste an die Grammatik, die zweite an „die Quellen der Dialekti-
ker". Die dialektische Auslegung leite das, was nicht geschrieben steht, aus dem
Geschriebenen durch „ratiocinatio" her. 15 Dies ist die Art von Auslegung, die den
„sensus auctoris" aus der „ratio" erklärt.
Eckhard geht nunmehr zur „Hermeneutica iuris" über, die aus Regeln zur Inter-
pretation der Gesetze bestehe. Zum einen leiten sich diese aus allgemeinen Ausle-
gungsprinzipien, zum anderen aus besonderen Auslegungsprinzipien her. Auch in
der juristischen Hermeneutik unterscheidet Eckhard zwei Arten von Interpretation:
die grammatische und die dialektische. 16 Während die grammatische Interpretation
mit den Wortbedeutungen zu tun hat, eruiert die dialektische Interpretation nicht
etwa - wie wir erwarten würden - die „notiones legislatoris", sondern die „ratio le-
gis". Die „ratio legis" bestimmt Eckhard dabei als: „das, aus welchem eingesehen
wird, warum das Gesetz gegeben wurde" (§ 24).17 Sie ist offenbar nicht das Motiv
des Gesetzgebers, sondern der Grund für das Zustandekommen seines Motivs. Zur
„ratio legis" bemerkt Eckhard außerdem, 18 daß sie dem Juristen bei der Anwen-
dung der Gesetze auf Fälle diene. Drei Bemerkungen sind in diesem Zusammen-
hang zu machen: 1) Zu beachten ist, daß die dialektische Interpretation zur Auf-
gabe hat, die „ratio legis", nicht die „ratio legislatoris" herauszufinden. Zum Her-
ausfinden der „ratio legis" ist es nach Eckhard zwar erforderlich, die mens legisla-
toris zu kennen. Dennoch wird die „ratio legis" nicht mit der „ratio legislatoris"
identifiziert. 2) Wir können in der „mens legislatoris" die Regelungsabsicht des
Gesetzgebers sehen, die er mit der Formulierung des Gesetzes verbindet. Zu ihrer
Erklärung kann die „ratio legislatoris" als Regelungsmotiv des Gesetzgebers her-
angezogen werden, und diese wird ihrerseits durch die „ratio legis" erklärt. 3) Eck-
hard verbindet die Anwendung explizit mit der Auslegung: die dialektische Aus-
legung - sagt er - ist bei der Gesetzesanwendung dienstbar. 19 Und „Gesetzesan-
wendung" definiert er folgendermaßen: „Die Anwendung eines Gesetzes ist näm-
lich nichts anderes als seine lebendige Auslegung, durch welche mit den Gesetzen
verknüpfte Tatsachen hinsichtlich des Gesetzesinhalts untersucht werden und für
recht oder unrecht erklärt werden". 20 Eine „lebendige" Auslegung ist auf prakti-
sche Folgerungen bedacht.
15
Ebd., § 17.
16
Ebd., §23.
17
„¡d, ex quo, cur lex lata est, intelligitur".
18
Siehe Anmerkung 17.
19
Eckhard, Hermeneutica Juris, (wie Anm. 11), § 23: „posterius interpretationis genus [sc.: in-
terpretatio dialéctica] iurisconsulti officio maxime inservit in legibus ad caussas adplicandis".
20
„Adplicatio enim legis nihil aliud est, nisi viva eiusdem interpretatio, qua facta cum legibus
collata, ad mentem ¡Darum examinantur, et vel iusta, vel iniusta pronunciantur", ebd., S. 830.
Juristische Hermeneutik 35
21
Ebd., § 3 6 .
22
Ebd., § 3 7 .
36 Axel Bühler
trachten und zu prüfen, ob die „ratio legis" die Situation betrifft. 4) kommt er nun-
mehr unter Verwendung des Gesetzesinhaltes zur Entscheidung des Einzelfalls.
Überlegungen, wie Wolff sie angestellt hatte, darüber, wie sich denn der Normge-
ber mit seinen tatsächlich gegebenen Motiven im betrachteten Fall verhalten hätte,
scheinen hierbei nicht relevant zu werden. Da in dem Interpretationsprozeß, wie
Eckhard ihn sieht, der Inhalt des Gesetzes, wie er vom Gesetzgeber gedacht wird,
aber noch eine zentrale Rolle spielt, und da die „ratio legis" außerdem aus dem
Text des Gesetzgebers (und historischen Zusatzinformationen) erschlossen werden
soll, kann der Schein aufrechterhalten werden, die Interpretation ziele allein auf die
Rekonstruktion des vom Gesetzgeber Gedachten.
4. Schluß
Das Problem, die Anwendung von Rechtsnormen mit dem Interpretationsziel der
Feststellung der Gedanken des Normgebers in Einklang zu bringen, lösen Wolff
und Eckhard auf unterschiedliche Weisen:
1. Wolff betrachtet den tatsächlichen Normgeber und die kontrafaktische Situa-
tion, der Normgeber hätte sich der zu regelnden Situation konfrontiert gefun-
den. Er zieht den tatsächlichen Willensgrund des Normgebers heran und er-
schließt auf dieser Grundlage die Entscheidung, die dem Normgeber in der Si-
tuation möglich gewesen wäre.
2. Eckhard führt - unter der Hand - neben dem Interpretationsziel der Feststellung
der Gedanken des Normgebers weitere Interpretationsziele ein, vor allem das
Ziel der Feststellung der „ratio legis". Die Entscheidung eines Einzelfalles bei
der Gesetzesanwendung erhält er dann dadurch, daß er aus der „ratio legis" und
aus dem Gesetz, so wie es der Autor gedacht hat, die Entscheidung herleitet.
Eckhard vertritt explizit das Interpretationsziel zu eruieren, was der Autor gedacht
hat. Seine Lösung des hier behandelten Problems kommt aber mit dieser Zielset-
zung in Konflikt. Daß es nicht zu einem offenen Widerspruch kommt, liegt daran,
daß Eckhard nicht zwischen der mit der Normformulierung verbundenen Absicht
des Normgebers und einer Absicht des Normgebers hinsichtlich einer konkreten
einzelnen Situation unterscheidet.23 Wolff dagegen modifiziert das Interpretations-
ziel der Eruierung dessen, was der Autor gedacht hat, zu einem anderen Ziel, näm-
lich dem, herauszufinden, was der Autor denken konnte, also in einer kontrafakti-
schen Situation gedacht hätte, und vermeidet so den Widerspruch.
23
Die Unterscheidung wurde aber - zumindest später - gemacht. So wendet sich Anton Fried-
rich Justus Thibaut in seiner Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts (2. Aufl.
1806), Neudruck Düsseldorf 1966, gegen Autoren, die vorbringen, „daß es nach dem Sprach-
gebrauch nicht interpretieren genannt werden könne, wenn man Fälle unter ein Gesetz sub-
sumire, an welche der Gesetzgeber nicht gedacht habe", S. 17.
ANDREAS GARDT ( H e i d e l b e r g )
Die ideen- und zeitgeschichtliche Situation, vor deren Hintergrund die rationalisti-
sche Sprachkonzeption von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entstand, ist
gekennzeichnet durch einen umfassenden Strukturwandel im öffentlichen und
privaten Leben. Von hervorgehobener Bedeutung für die Stellung der Fachspra-
chen sind diese Aspekte:1
- einschneidende Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen (Zunahme
der Arbeitsteilung, Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich, Intensivierung des
Handels, insgesamt eine Tendenz zur Kapitalisierung der Wirtschaft);
- die Herausbildung eines modernen Wissenschaftsbegriffs des weitgehend vor-
aussetzungslosen Forschens, das weniger der gelehrten Tradition und metaphy-
sischen Vorgaben verpflichtet ist; damit einhergehend die Verwissenschaftli-
chung traditioneller und die Etablierung neuer Fach- und Wissensbereiche, ins-
besondere der modernen Naturwissenschaften;
- die Formulierung einer realienorientierten Pädagogik und Didaktik, wie sie etwa
in den Entwürfen von Wolfgang Ratke und Johann Amos Comenius vorliegt;
zugleich die Aufwertung der artes mechanicae an den Lehrinstitutionen;
Nach Gardt, Andreas, Die Auffassung von Fachsprachen in den Sprachkonzeptionen des
Barock, in: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst, in Verbindung
mit Christian Galinski und Werner Hüllen (Hg.), Fachsprachen. Languages for Special Pur-
poses. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissen-
schaft. 2 Halbbde. Bd. 2. Berlin/New York 1999, S. 2410-2420; zur Fachsprache im 18. Jahr-
hundert vgl.: Roelcke, Thorsten, Das Kunstwort in der Zeit der Aufklärung, in: Fachsprachen
(wie oben) sowie: Seibicke, Wilfried, Von Christian Wolff zu Johann Beckmann. Fachsprache
im 18. Jahrhundert, in: Kimpel, Dieter (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung.
Hamburg 1985, S. 42-51; zu den sprachtheoretischen Bezügen und zu den entsprechenden
sprachpraktischen (u.a. grammatikographischen, sprachpädagogischen und -didaktischen)
Fragen vgl. Gardt, Andreas, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von
Böhme bis Leibniz. Berlin/New York 1994; ders., Geschichte der Sprachwissenschaft in
Deutschland. Berlin/New York 1999; zur Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs, speziell aus
der Perspektive der Ideengeschichte, siehe Wollgast, Siegfried, Philosophie in Deutschland
¡550-1650. Berlin 1988; zu den wissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen im einzelnen
siehe Heidelberger, Michael/Thiessen, Sigrun, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen
zur neuzeitlichen Naturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1981; zum Übergang vom Lateini-
schen zu den Volkssprachen siehe Schiewe, Jürgen, Sprachenwechsel - Funktionswandel -
Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen
1996; allgemein zur sprachgeschichtlichen Entwicklung der Zeit siehe von Polenz, Peter,
Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 17. und 18. Jahr-
hundert. Berlin/New York 1994.
38 Andreas Gardt
- die Aufwertung der Volkssprache Deutsch gegenüber dem Lateinischen als der
bisherigen Sprache des gelehrten Diskurses.
Vor allem der letzte Punkt spielt für die Konzeption und Geschichte der Fachspra-
chen eine besondere Rolle. Die Hinwendung zu den Volkssprachen erfaßt, von der
Romania ausgehend, das gesamte Europa der frühen Neuzeit. Auch in dieser Ent-
wicklung finden unterschiedliche Faktoren zusammen: soziale (durch die Erfin-
dung des Buchdrucks werden breitere, des Lateinischen nicht mächtige Leser-
schichten angesprochen), ökonomische (die veränderten Wirtschafts-, speziell:
Handelsbedingungen erfordern eine überregional geltende Ausgleichssprache), po-
litisch-administrative (die territorialstaatlichen Verwaltungen in Deutschland sind
auf eine entsprechend funktionstüchtige Sprache angewiesen), konfessionelle (spe-
ziell in Deutschland ist die Volkssprache die Sprache des Protestantismus, am
nachhaltigsten wirkend in der Bibelübersetzung Luthers) und kulturpatriotische.
Die einschlägigen Texte humanistischer Autoren enthalten Beschreibungen der je-
weiligen Muttersprache als einer Größe, die der Findung und Sicherung der indivi-
duellen und der gruppenspezifischen Identität, im weitesten Sinne: der ethnischen,
kulturellen und politischen Identität der Sprechergemeinschaft als ganzer dient.
Schon in Dantes De vulgari eloquentia (um 1303) wird das Lateinische, der Tradi-
tion entsprechend, als die fraglos kunstvollere Sprache dargestellt, die Mutterspra-
che aber - für Dante das Toskanische - als die dem Menschen natürlichere (natura-
lis) und daher letztlich edlere (nobilis). 2
Diese Sicht der Muttersprache als der mit der Muttermilch aufgenommenen
(„cum lacte ebibimus") 3 und daher ihren Sprechern irgendwie ,wesensgemäßeren'
Sprache ist schließlich in den deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhun-
derts, mit deren Bemühungen Leibniz vertraut war, die allgemein verbreitete. 4 Die
Arbeiten der Autoren, von Justus Georg Schottelius über Georg Philipp Hars-
dörffer und Philipp von Zesen bis zu Kaspar Stieler und vielen anderen enthalten
2
Solche Argumentationen finden sich ansatzweise bereits in früheren Texten. Vgl. etwa
Ebernands von Erfurt Feststellung von 1220 (Heinrich und Kunigunde, Zeile 4467-4474), er
sei ein Thüringer „von art geborn" und wolle sich deshalb nicht zwingen, die Sprache einer
anderen Region des deutschen Sprachraums zu verwenden, weil dies einem nur äußerlichen
Nachäffen gleichkäme.
3
Meyfart, Johann Matthäus, Melchior Steinbrück, Melleficium oratorium. 2. Aufl. Frankfurt
1701, Teil II, S. 67.
4
Dazu und zum folgenden vgl.: Kühlmann, Wilhelm, Frühaufklärung und Barock. Traditions-
bruch - Rückgriff - Kontinuität, in: Garber, Klaus (Hg., in Verb, mit Ferdinand van Ingen,
Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Weiß), Europäische Barock-Rezeption. Wiesbaden 1991,
S. 187-214; ders., Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen
Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982; Huber, Wolfgang, Kul-
turpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhun-
derts. Frankfurt u.a. 1984; Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1); ders., Die Sprachgesellschaf-
ten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonder-
egger, Stefan (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache
und ihrer Erforschung. 2 Halbbde. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin/New York 1998, S. 332-348.
Gottfried Wilhelm Leibniz 39
5
Schottelius, Justus Georg, Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache [...] [1663],
hg. v. Wolfgang Hecht. 2 Teile. Tübingen 1967, S. 123.
6
Schorer, Christoph [?], Newe außgeputzte Sprachposaun/An die vnartigen teutscher Sprach-
Verderber [...]. O.O. 1648, S. 2.
7
Harsdörffer, Georg Philipp, Poetischer Trichter [...]. [1. Teil 1650, 2. Teil 1648, 3. Teil 1653].
Hildesheim/New York 1971, Teil III, S. lOf. u. Teil I, S. 17.
40 Andreas Gardí
Die meisten können gar wol vnd gut teutsch übersetzet werden/als Appelliem, sich beruften an
ein höhers Gerichte. Suppliciern, bitten/eine Bittschrift einlegen. Concipiern, auffsetzen. Ju-
diciern, urtheilen. Abcopiern, abschreiben. Mundiern, rein/sauber abschreiben. Recessiern,
mündlich etwas vorbringen. Referiern, erzehlen. Purgiern, sich entschuldigen. Urgiern, anhal-
ten/darauff dringen. Vnd sofort an. 9
8
In diesem Sinne auch Carl Gustav von Hille, der bezweifelt, „daß man nur in La-
tein/Griechisch oder Hebräisch weiß [= weise]/in Teutsch aber närrisch sein solte" (in: Hille,
Carl Gustav von, Der Teutsche Palmbaum: Das ist/Lobschrift Von der Hochlöblichen Frucht-
bringenden Gesellschaft Anfang/Satzungen/Vorhaben/Namen/Sprüchen/Gemählden/Schriften
und unverwelklichem Tugendruhm. München 1970. [Nachdruck der Ausgabe Nürnberg
1647], S. 136). - Ähnlich Balthasar Schupp: „Ich halte/man könt einen Krancken eben so wol
auff Teutsch/als auff Griechisch oder Arabisch curiren" (zit. nach Zeiller, Martin, Epistolische
SchatzKammer [...]. Ulm 1700, S. 315). - Beispiele für ausführliche Kritik an der Verwen-
dung von Fremdwörtern in den Fachsprachen siehe Schorer, Sprachposaun, (wie Anm. 6).
9
Schorer, Sprachposaun, (wie Anm. 6), S. 44.
10
Zu Schottelius' Überlegungen in seiner Grammatik von 1663 siehe Gützlaff, Kathrin, Von der
Fügung Teutscher Stammwörter. Die Wortbildung in J. G. Schottelius' .Ausführlicher Arbeit
von der Teutschen HaubtSprache*. Hildesheim/Zürich/New York 1989; Neuhaus, Gisela M.,
Justus Georg Schottelius: Die Stammwörter der Teutschen Sprache Samt dererselben Erklä-
rung/und andere die Stammwörter betreffende Anmerkungen. Eine Untersuchung zur frühneu-
hochdeutschen Lexikologie. Göppingen 1991; Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1), S. 160ff.
11
Schottelius, Ausführliche Arbeit, (wie Anm. 5), S. 72-103.
12
Stieler, Kaspar, Teutsche SekretariatKunst [...]. 2. Aufl. Nürnberg 1681, S. 270.
13
Zesen, Philipp von, Hooch-Deutsche Spraach-Übung [...] [1643], in: ders., Sämtliche Werke.
Unter Mitwirkung v. Ulrich Maché u. Volker Meid hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 11. Bearb.
v. Ulrich Maché. Berlin/New York 1974. - Speziell zur Rechtssprache im 17. u. 18. Jahrhun-
dert siehe Heller, Martin Johannes, Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert.
Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1992; zu den begriffsgeschichtlichen Entwicklungen
u.a. im Rechtswesen des 17. Jahrhunderts siehe Steger, Hugo, Revolution des Denkens im Fo-
kus von Begriffen und Wörtern. Wandlungen der Theoriesprachen im 17. Jahrhundert, in:
Gottfried Wilhelm Leibniz 41
Die Belege dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Bereich der
Fachsprachen immer schon eine größere Toleranz gegenüber Fremdwörtern
herrschte als im Bereich des gesellschaftlichen Verkehrs.14 Zum Ende des 17.
Jahrhunderts - und damit auch mit zunehmender Distanz zum Dreißigjährigen
Krieg, unter dem in den Augen der altdeutschen Sprachgelehrten in gleicher Weise
die Menschen wie die Sprache in Deutschland litten15 - nimmt die Toleranz ge-
genüber Fremdwortverwendung auch außerhalb des Fachschrifttums zu, wenn
auch kulturpatriotische Positionen weiterhin Bestand haben. Persönlichkeiten wie
der Frühaufklärer Christian Thomasius propagieren ein anderes Erziehungs- und
Bildungsideal als das traditionelle, auf den septem artes liberales beruhende. Die
Ausbildung, die er den Studenten zukommen lassen will, zielt auf polite, Welt=
kluge und höffliche Leute",16 denen es möglich ist, „sich selbst und andern in allen
Menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen/und zu einer gescheiden Conduite zu
gelangen".17 Die Spracherziehung soll, als Teil der Persönlichkeitsbildung, die
jungen Menschen dahin bringen, sich sicher, gewandt und erfolgreich im gesell-
schaftlichen Raum zu bewegen, dabei das Wohl des Ganzen nicht aus den Augen
lassend. Die Öffnung zu Frankreich wird nicht nur toleriert, sondern geradezu
gefordert. Bei all dem aber bleibt der Wunsch nach einer eigenständigen deutschen
Fachterminologie bestehen.
Genau an diesem Schnittpunkt der historischen Entwicklung steht Leibniz. Ein
Blick in seine Schriften zeigt recht bald, daß sich bei ihm beide Tendenzen finden:
die kulturpatriotische Hochschätzung der eigenen Sprache wie auch die Haltung
fast kosmopolitischer Offenheit. In gewisser Weise entsprechen den beiden Ten-
denzen zwei wissenschaftliche Gegenstandsbereiche und Verfahren: auf der einen
Seite die sprachpflegerische Beschäftigung mit der deutschen Sprache, auf der
anderen die Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragen, die jede ein-
zelsprachliche Ausrichtung überschreiten. Als repräsentative Texte fur die Be-
schäftigung mit dem Deutschen seien hier zwei erwähnt, die Ermahnung an die
Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben (1679) und die Unvorgreiff-
liche[n] Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen
Sprache (entstanden um 1697, veröffentlicht 1717). An wichtigen sprachphiloso-
phischen Arbeiten ließen sich weit mehr auffuhren, darunter etwa De connexione
inter res et verba, seu potius de linguarum origine (1677), die zahlreichen, meist
fragmentarischen Schriften zu einer logischen Universalsprache (Characteristica
universalis, 1903 von Couturat ediert, in diesem Zusammenhang auch die Disser-
tano de Arte Combinatoria von 1666) und das dritte Buch seiner Nouveaux essais
sur l'entendement humain von 1704 (veröffentlicht 1765).
Im folgenden sollen zunächst die auf das Deutsche bezogenen Schriften im Hin-
blick auf ihre Behandlung der Fachsprachenthematik betrachtet werden. Leibniz'
Haltung zum Stand der Fachsprachen im Deutschen ist eindeutig: Das Deutsche sei
in all jenen Bereichen lexikalisch gut ausgestattet, die „mit den ftinff Sinnen zu be-
greiffen" sind,18 also in denjenigen Fachsprachen, deren Bezugsgegenstände Realia
sind, wie etwa in den Sprachen der Handwerke (z.B. Bergbau, Jagdwesen, Schiff-
fahrt). Ein Mangel herrsche dagegen beim Wortschatz abstrakter Gegenstandsbe-
reiche, etwa der Philosophie und der Logik, aber auch wichtiger Bereiche der
Politik und des gesellschaftlichen Lebens („das Sitten-wesen, Leidenschafften des
Gemüths, gemeinliche[r] Wandel, Regierungs-Sachen, und allerhand bürgerliche
Lebens- und Staats-Geschäffte").19 Die Wortschatzlücken müssen ausgeglichen
werden, als Möglichkeiten diskutiert Leibniz: 1. die Übernahme fremden Wortgu-
tes als Fremd- oder als assimilierte Lehnwörter, 2. die ausdrucksseitige Neubildung
von Wörtern auf der Grundlage vorhandenen Wortgutes und die entsprechende in-
haltsseitige Definition, 3. die inhaltsseitige Neudefinition bereits in der eigenen
Sprache vorhandener, allerdings an der Peripherie des Wortschatzes angesiedelter
Wörter. Was die Einstellung zur Übernahme fremden Wortgutes angeht, so halten
sich bei Leibniz patriotisch motivierter Purismus und pragmatische Toleranz in
etwa die Waage: Einerseits lobt er „Stärke" und „Mut" der Deutschen, ihr „edles
18
Leibniz, Unvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 330.
19
Ebd., S. 331 f.
Gottfried Wilhelm Leibniz 43
Blut", ihre „Aufrichtigkeit", ihr „rechtes Herz", sieht selbst noch die heimischen
Äpfel als den exotischen Orangen überlegen (in Ermahnung an die Teutsche) und
warnt entsprechend vor dem „Frantz- und Fremd-entzen"20 in der Sprache, was den
„Verlust der Freyheit und ein fremdes Joch" mit sich bringen könnte. Andererseits
wendet er sich vehement gegen allzu puristische „Rein-Dünckler" und erkennt die
Vorteile eines engen kulturellen Kontaktes zu Frankreich. Daneben propagiert er
die anderen der erwähnten Möglichkeiten: die ausdrucksseitige Neubildung und
die semantische Umdeutung bereits vorhandener, aber selten verwendeter Wörter,
insbesondere von Archaismen.
All diese Wörter sollen in Wörterbüchern des Deutschen gesammelt werden,
darunter auch in einem Fachwörterbuch.21 Mit einem solchen Fachwörterbuch ver-
bindet Leibniz, ganz in aufklärerischer Manier, ein pädagogisches Anliegen, das
vor allem seine deutschen Schriften durchzieht und auch in seinen Bemühungen
um die Einrichtung der Brandenburgischen Societät der Wissenschaften offenbar
wird: Ein Fachwörterbuch würde breiten Teilen der Bevölkerung zugleich Fach-
wissen zur Verfugung stellen:
[...] ein Teutsches Werck der Kunst-Worte [würde] einen rechten Schatz guter Nachrichtungen
in sich begreiffen, und sinnreichen Personen, denen es bissher an solcher Kunde gemangelt,
offt Gelegenheit zu schönen Gedancken und Erfindungen geben. Denn weil [...] die Worte den
Sachen antworten, kan es nicht fehlen, es muss die Erläuterung ungemeiner Worte auch die
Erkäntniss unbekandter Sachen mit sich bringen. 22
Der sprachphilosophisch zentrale Gedanke ist der, daß „die Worte den Sachen ant-
worten", also die Sachen ihren sprachlichen Bezeichnungen vorausgehen. Der Ge-
danke mag selbstverständlich anmuten, verrät jedoch schlagartig seine Problema-
tik, wenn neben den „Sachen" und den „Wörtern" die dritte Größe im Bezeich-
nungsvorgang einbezogen wird: die „Vorstellungen" (bzw. „Abbilder", „Begriffe",
„Konzepte" etc.). Die Sachen erhalten ihre Bezeichnungen (die „Wörter") ja erst
aufgrund der Tatsache, daß sie sich als Vorstellungen („Abbilder") im menschli-
chen Bewußtsein niederschlagen. Wer also behauptet, daß „die Worte den Sachen
antworten", beschreibt damit folgendes Verhältnis zwischen den Größen „Sachen",
„Vorstellungen" und „Wörtern" (mithin zwischen den Größen Wirklichkeit, Den-
ken und Sprache): Die Gegenstände der Wirklichkeit sind der menschlichen Er-
20
Hier und im folgenden: Leibniz, Urtvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 330-335.
21
Zu den Wörterbuchprogrammen der Zeit vgl.: Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, Die deutsche Lexi-
kographie vom 17. Jahrhundert bis zu den Brüdern Grimm ausschließlich, in: Hausmann,
Franz Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert Emst/Zgusta, Ladislav (Hg.), Wörterbücher.
Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 3 Teilbde. Berlin/New York 1989, 1990 u.
1991, 2. Teilbd., S. 2049-2077; Reichmann, Oskar, Geschichte lexikographischer Programme
in Deutschland, in: (ebd.), Teilbd. 1, S. 230-246; Henne, Helmut, Deutsche Lexikographie
und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17.
und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim/New York 1975, S. 3-37.
22
Leibniz, Unvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 338f.
44 Andreas Gardt
kenntnis objektiv vorgegeben und liegen, nach ihrer Perzeption durch die Sinnes-
organe, im Bewußtsein als mentale Abbilder vor. Die Wörter wiederum sind die
sprachlichen Bezeichnungen dieser Abbilder. Der Erkenntnis- und Versprach-
lichungsprozeß verläuft also von den Sachen über die Vorstellungen von den Sa-
chen zur Sprache.
Diese realistische, auf dem Gegenstandsapriori beruhende Semantik setzt ein
umfassendes Sprachvertrauen voraus.23 Denn nur dann können die Wörter den
Sachen tatsächlich „antworten", nur dann kann die Erklärung unbekannter Wörter
in einem Fachwörterbuch zur „Erkänntnis unbekanndter Sachen" fuhren, wenn die
Gegenstände der Wirklichkeit tatsächlich so, wie sie sind, im Bewußtsein abgebil-
det werden und wenn diese Abbildungen tatsächlich sachadäquat durch die Wörter
bezeichnet werden. Ein solches Sprachvertrauen begegnet in zahlreichen Texten
der frühen Neuzeit, darunter auch bei Autoren, die, wie Leibniz, ein pädagogisches
Anliegen haben (auch wenn dieses pädagogische Anliegen stärker religiös geprägt
sein mag, wie dies etwa bei Comenius und Ratke der Fall ist): „Die Dinge sind an
sich, was sie sind", schreibt Comenius, „auch wenn keine Vernunft oder Sprache
sich mit ihnen verbindet. Die Vernunft und die Sprache aber drehen sich nur um
die Dinge und sind ganz von ihnen abhängig".24 Bis weit in das 18. Jahrhundert
hinein begegnet diese Auffassung von der Präexistenz der Dinge gegenüber der
Sprache; zumindest außerhalb der Wissenschaften ist sie die dominierende Be-
schreibung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit bis in die Gegenwart
hinein. 1762 schreibt z.B. Johann Christoph Gottsched, daß die Wörter zwar zu-
nächst nur fur die menschlichen Begriffe von den Dingen stehen, aber man könne
der Begriffe, d.h. ihrer ontischen Substanz, „gar wohl versichert seyn: weil man sie
nämlich von wirklich vorhandenen Dingen hergenommen hat" (Erste Gründe der
gesammten Weltweisheit, S. 140). Eben diesen Sachverhalt bringt Johann Joachim
Becher in seiner Methodvs Didáctico (2. Aufl. 1674)25 ausgesprochen schlicht auf
den Punkt: „Ein Hund", so schreibt er, „ist in der gantzen Welt ein Hund", nur
heiße er einmal „canis", ein anderes Mal „chien", „cane", „dogge" etc.26 Von den
Bezeichnungen kann man aber zurück auf die bezeichneten Abbilder und von dort
auf die zugrundeliegenden Sachen gelangen.
Es ist nur konsequent, wenn sich die realienorientierte Sprachpädagogik diese
realistische Erkenntnistheorie zunutze macht. So ist Becher davon überzeugt, daß
23
Der Terminus .realistisch' wird hier und im folgenden weder im alltagssprachlichen Sinne
noch in dem fachsprachlichen Sinne des Gegensatzes zu ,nominalistisch', sondern im Sinne
eines Gegensatzes zu .idealistisch' verwendet.
24
„Res per se sunt, id qvod sunt, qvávis se illis nulla ratio aut lingva applicet: Ratio verò &
Lingva tantum circa Res versantur, & ab illis pendent [...]", aus: Comenius, Johann Amos, Di-
dáctico magna [...]. [1657]. Nachdruck hg. v. d. tschechoslowakischen Akademie der Wissen-
schaften. 3 Bde. Bd. 1. Prag 1957, 30/5.
25
Becher, Johann Joachim, Methodvs Didáctico. 2. Aufl. Frankfurt 1674.
26
Ebd., „Vorred" u. S. 4.
Gottfried Wilhelm Leibniz 45
der Schiller mit dem Spracherwerb zugleich „einen breiten Schritt in die Physicam,
und Bedeutung der Sachen" mache,27 eine Vorstellung, die mit der Hoffnung von
Leibniz auf Wissensvermittlung durch ein deutsches Fachwörterbuch im Grunde
identisch ist. Voraussetzung ist allerdings, daß die Schüler die Fachwörter verste-
hen, diese also in deutscher Sprache vorliegen, und einer der Leitsätze der „Rati-
chianischen Lehrkunst" (d.h. der auf den Köthener Schulreformer Wolfgang Ratke
zurückgehenden Lehrmethode) ist daher die Formel „Alles zu erst in der Mutter
Sprach".28
Mit dieser sachsemantischen Konzeption und der damit einhergehenden Auf-
gabenbeschreibung von Fachtermini und -Wörterbüchern ist jedoch erst ein Teil
des Fachsprachenkonzeptes bei Leibniz beschrieben, sprachtheoretisch der wohl
weniger spektakuläre Teil. Wenn sich Leibniz in der bislang dargestellten Weise
über Sprache im allgemeinen und Fachsprachen im besonderen äußert, dann tut er
dies mit Blick auf die Bewältigung des fachlichen Alltags. Für die Handwerke und
traditionellen Gewerbe, aber auch für akademische Disziplinen, soweit sie in ei-
nem mehr oder weniger unmittelbaren Bezug zur Lebenspraxis stehen, fordert er
eine auch kommunikationsgerechte Sprache. Das Verhältnis zwischen Sprachzei-
chen und bezeichneten Gegenständen soll selbstverständlich denotativ korrekt und
möglichst eindeutig sein, doch stehen diese semantischen Relationen auch im
Dienste der optimalen Verständigung über die Gegenstände der Welt: Jeder Autor
müsse über einen Vorrat an „bequemen und nachdrücklichen Worten" verfugen,
heißt es in den Unvorgreifflichen Gedancken, damit er die zu bezeichnenden Ge-
genstände „kräfftig und eigentlich vorstellen und gleichsam mit lebenden Farben
abmahlen könne." Bequem, nachdrücklich, kräftig, lebend - an anderer Stelle
verwendet Leibniz die Adjektive .naturalis' (natürlich), ,proprius' (nicht figürlich),
.simplex' (schlicht), .perspicuus' (deutlich, verständlich), .facilis' (eingängig),
,popularis' (üblich)29 - sind Ausdrücke aus dem Bereich der Rhetorik, nicht aus
dem der Analytik, und es liegt auf eben dieser Linie des rhetorischen Sprachbe-
griffs, wenn Leibniz die Konzepte der ,claritas' und .Veritas' in seiner Nizolius-
Vorrede als Forderung an Fachsprachen nicht über die Genauigkeit der semanti-
schen Relationen, sondern rein pragmatisch-kommunikativ bestimmt: ,Klar' ist
eine Sprache, deren Wortbedeutungen alle bekannt sind („Clara est oratio cuius
27
Ebd., S. 97.
28
Helwig, Christopher/Jung, Joachim, Artickel/Auff welchen fìirnehmlich die Ratichianische
Lehr Kunst beruhet [um 1614/15], in: Ratichianische Schriften II. Mit einer Einl. u. Anm. hg.
v. P. Stötzner. Leipzig 1893, S. 11-25, Zitat S. 12.
29
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Marii Nizolii de veris principiis et vera ratione philosophandi
contra pseudophilosophos libri 4 [1670], in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d.
Preußischen Akademie der Wissenschaften, später Deutsche Akademie der Wissenschaften zu
Berlin bzw. Akademie der Wissenschaften der DDR, seit 1993 Berlin-Brandenburgische Aka-
demie der Wissenschaften. Darmstadt, später: Leipzig, dann Berlin 1923ff. [= Akademieaus-
gabe]. 6. Reihe: Philosophische Schriften. Bd. 2. Berlin 1966, S. 398-444, S. 408.
46 Andreas Gardt
omnium vocabulorum significationes notae sunt [...]"),30 ,wahr' ist sie, wenn sie
von jemandem verstanden wird, der einen durchschnittlichen Standpunkt gegen-
über den Gegenständen hat („Vera est oratio quae sentiente et medio recte dispo-
sito sentietur [...]").31
Im Vorangehenden stand Leibniz als Sprachpfleger im Mittelpunkt, der um den
Ausbau des Deutschen zur leistungsfähigen Fach- und Wissenschaftssprache be-
müht ist. Die dabei konzipierte Form der Fachsprache basiert auf dem Wunsch
nach möglichst umfassender zeichenrelationaler Genauigkeit, die jedoch stets im
Dienste der Kommunikation über das Fachgebiet steht. Eine solche Sprache er-
möglicht es vernünftigen Individuen, sich die Welt kognitiv anzueignen, in einer
Weise, daß diese Aneignung der individuellen Vervollkommnung des Menschen
und zugleich der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft im Sinne abend-
ländisch-christlicher Ethik dient.
Von diesem Typ der Fachsprache hebt sich ein zweiter ab, der erst das Attribut
„rationalistisch" voll und ganz rechtfertigt. Dieser Typ der Fachsprache basiert auf
der Annahme, daß die natürlichen Sprachen (fur Leibniz also das Deutsche) den
höchsten Anforderungen nach semantischer Exaktheit gar nicht gerecht werden
können. Ihr historisches Herkommen und ihre Abhängigkeit von den sich wandeln-
den Gebrauchsinteressen der Sprecher bringt schon auf der Ebene des Sprachsy-
stems unweigerlich Phänomene wie Polysemie, Homonymie, Synonymie und se-
mantische Vagheit mit sich, ferner die unterschiedlichen lexikalischen Repräsen-
tationen der Wirklichkeit in den verschiedenen Einzelsprachen, die Tendenz zu
strukturellen Unregelmäßigkeiten anstelle eines streng nach dem Analogieprinzip
aufgebauten Regelwerks, schließlich die Formen des uneigentlichen Gebrauchs,
wie er etwa in rhetorisch gestalteter Sprache üblich ist. Werden solche Erscheinun-
gen in Texten der frühen Neuzeit kritisiert und nicht als selbstverständlich hinge-
nommen, dann ist diese Kritik häufig - jedenfalls bei Leibniz und ähnlich gesinn-
ten Autoren - von einem bestimmten Erkenntnisideal getragen: dem der Mathe-
matik und der aufkommenden Naturwissenschaften. Die vollkommene Sprache ist
dann die morphologisch, syntaktisch und semantisch vollständig durchsichtige
Sprache, deren Zeichen in einem Verhältnis der Eindeutigkeit, idealiter sogar der
Eineindeutigkeit und der strukturellen Isomorphic zu den bezeichneten Vorstellun-
gen und damit letztlich auch zu den Gegenständen der Wirklichkeit stehen.
Das Konzept einer solch absolut präzisen Sprache ist zugleich Ausdruck und
Stimulans des genuin neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs. Charakteristisch für
seine Repräsentanten ist ein Verfahren der Beweisführung, das sich deutlich von
den Argumentationsverfahren anderer, zumeist früherer Autoren unterscheidet.
Vergleicht man diese Verfahren z.B. bei Leibniz, dem Anfang des 17. Jahrhunderts
30
Ebd., S. 408f.
31
Ebd., S. 409. - Leibniz bezieht sich hier auf eine wünschenswerte Fachsprache der Philoso-
phie, allerdings denkt er dabei nicht an die analytische lingua philosophica.
Gottfried Wilhelm Leibniz 47
32
Böhme, Jacob, Avrora oder Morgenröthe im Aufgang [...]. [1612], in: ders., Sämtliche
Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. 11 Bde. Begonnen von A. Faust, neu
hg. v. W.-E. Peuckert. Bd. 1. Stuttgart 1955, 13/115.
33
Schottelius, Ausführliche Arbeit, (wie Anm. 5), S. 29f.
34
Zu einer Analyse der Argumentationstechnik der Autoren siehe Gardt, Sprachreflexion, (wie
Anm. 1), S. 32^t4.
35
Locke, John, An Essay concerning Human Understanding [1689], hg. v. Peter H. Nidditch.
Oxford 1975. - Die erste römische Ziffer gibt das Buch, die zweite das Kapitel an; die arabi-
sche Ziffer nennt den Paragraphen.
48 Andreas Gardt
36
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Nouveaux essais sur l'entendement humain [1704], in: ders.,
Sämtliche Schriften und Briefe [= Akademieausgabe, wie Anm. 29], 6. Reihe: Philosophische
Schriften. Bd. 6. Berlin 1962. - Dt. Text nach: ders., Neue Abhandlungen über den menschli-
chen Verstand, hg. u. übers, v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Frankfurt 1961.
37
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Meditationes de Cognitione, Vertíate et Ideis [1684], in: Die
philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Hil-
desheim 1965 [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875-1890], Bd. 4, S. 422^126, hier S. 424.
38
Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), II/XXIX/12.
39
Ebd., III/X/34.
40
„Imo si characteres abessent, nunquam quicquam distincte cogitaremus, neque ratiocinare-
mur". In: De connexione inter res et verba, seu potius de linguarum origine, in: Die philoso-
phischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, (wie Anm. 37), Bd. 7, S. 190-193, S. 191.
41
Brief an Oldenburg, 1673, in: Sämtliche Schriften und Briefe [= Akademieausgabe, wie
Anm. 29], Reihe 2, Bd. 1, S. 239.
Gottfried Wilhelm Leibniz 49
ner ganzer Komplexität, mit all seinen Merkmalen vor unserem geistigen Auge
haben zu müssen.42 Komplexes und effizientes Denken kann nur in Sprache ver-
laufen. Dies festzustellen bedeutet fur Leibniz aber nicht, daran zu zweifeln - und
darin liegt das Entscheidende seines Sprachbegriffs - , daß die Dinge eine objek-
tive, sprachunabhängige Existenz besitzen und wir in der Lage sind, diese Existenz
der Dinge in ihrer objektiven Qualität zu erkennen („daß die Dinge dadurch daran
gehindert werden, vom Verstand unabhängige reale Wesenheiten zu haben, und
wir, sie zu erkennen").43 Wenn aber das Denken sprachlich gebunden ist und wir
zugleich mittels dieses Denkens zur objektiven Wahrheit der Dinge gelangen wol-
len, dann ist das nur möglich, wenn die Sprache von einer Art ist, die uns das
erlaubt. Eben aus dieser Notwendigkeit ergibt sich die rationalistische Forderung
nach künstlichen Sprachen, die nicht der Geschichtlichkeit und den Veränderungen
durch den Gebrauch ausgesetzt sind, sondern deren Ausdrucks- und Inhaltsseiten
und deren Regelwerk vom Menschen in vollständiger Arbitrarität präzise festgelegt
werden können. Nur eine stark formalisierte Sprache kann das leisten, eine Spra-
che also, die nicht auf den lexikalischen Kategorien und syntaktischen Regeln
bereits existierender Sprachen aufbaut. Ausgangspunkt muß die Festlegung einfa-
cher, nicht mehr zerlegbarer Vorstellungen sein (Leibniz spricht von „notiones pri-
mitivae" und „termini primi", insgesamt von einem „Alphabetum cogitationum
humanarum").44 In ihren Verbindungen spiegeln diese Vorstellungen sämtliche
Gegebenheiten der Wirklichkeit („omnes res totius mundi").45 Diesen einfachen
Vorstellungen werden nun Zeichen in einer Weise zugeordnet, daß zwischen Zei-
chen und Vorstellung absolute Strukturgleichheit besteht.46 Bei Einhaltung be-
stimmter Verbindungsregeln (d.h. morphologischer und syntaktischer Regeln) läßt
sich aus einer gegebenen Zeichenverbindung auf die bezeichneten Vorstellungen
und deren Verbindung und damit auf die zugrundeliegenden Gegenstände der
Wirklichkeit und deren faktische Verknüpfung schließen. Das Ideal der Einein-
deutigkeit ist dann erreicht, wenn sich die Bedeutung des Ausdrucks ,homo' zu
den Bedeutungen der Ausdrücke ,animal' und .rationalis' genauso verhält wie die
Werte der Primzahlen 2 und 3 zum Wert der Zahl 6 (6 = 2 χ 3; homo = animal +
rationalis).47 Mehr noch: Mit Hilfe einer solchen lingua rationalis wäre man sogar
in der Lage, bislang unerkannte Wahrheiten zu erschließen, sie als ars inveniendi
42
Vgl. etwa Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), III/I/2.
43
„Mais je ne vois point qu'elle puisse empecher les choses d'avoir des essences réelles inde-
pendament de l'entendement, et nous de les connoistre [...]", ebd., III/VI/27, vgl. auch
III/V 1/28 u. ΙΠ/ν/9.
44
Z.B. in [Characteristica Universalis], in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm
Leibniz, (wie Anm. 37), S. 184-189, hier S. 185.
45
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Elementa Calculi [1679], in: Opuscules et fragments inédits de
Leibniz, hg. ν. Louis Couturat. Paris 1903, S. 49-57, hier S. 50.
46
Vgl. dazu Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 185 u. Leibniz, Meditatio-
nes, (wie Anm. 37), S. 423.
47
Leibniz, De veris principiis, (wie Anm. 29), S. 50 u. S. 53f.
50 Andreas Gardt
einzusetzen. Streitigkeiten bezüglich der Wahrheit von Aussagen über die Welt
ließen sich klären, indem man nachrechnet. 48
Leibniz steht mit diesen Überlegungen in einer vielschichtigen Tradition, die an
dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann. 49 Sie reicht von der mittelalterlichen,
noch religiös ausgerichteten Kombinationskunst des Raimundus Lullus über die
Kryptologie, einschlägige Äußerungen Descartes' (z.B. in seinem Brief an Mer-
senne vom 20. November 1629) bis hin zu seiner eigenen Monadenlehre. Der
Grundgedanke ist stets der, daß sich komplexe Einheiten (Gegenstände, Vorstel-
lungen, Sprachzeichen) in einfache Einheiten zerlegen lassen und daß sich aus der
Kombination dieser einfachen Einheiten nach genau festgelegten Regeln letztlich
das ganze Universum beschreiben läßt. So versteht Leibniz seine utopische cha-
racteristica universalis denn auch als eine moderne, säkulare Variante jener verlo-
rengegangenen lingua adamica des Paradieses, in der jedem Ding das ihm voll-
kommen entsprechende Wort zukam. 50
Bei aller Einsicht in die sprachliche Konstituiertheit des Denkens also und trotz
aller Sprachskepsis ist Leibniz' rationalistischer Sprachbegriff von einem Erkennt-
nisoptimismus getragen, der den modernen Betrachter, der sich allen Formen der
Dekonstruktion und der Relativierungen der Erkennntis ausgesetzt sieht, fast mit
Neid erfüllt ( - dieser Erkenntnisoptimismus unterscheidet Leibniz' Sprachbegriff
im übrigen auch von dem sprachlichen Relativitätsdenken, das in der Tradition
Humboldts steht). Es ist der Optimismus auch der frühen Naturwissenschaften,
deren Erkenntnisideal auf eine präzise Beschreibung der Dinge in ihrem objektiven
Gegebensein zielt, bei immer größerer Vermehrung des Wissens über die Welt.
Wie die Naturwissenschaften richtet auch Leibniz sein Interesse auf „die Natur der
Dinge" („la nature des choses"), 51 auf das, was tatsächlich existiert („qui existe
effectivement"). 52 Hinter den vielen sprachlich bedingten Perspektiven auf die
Wirklichkeit steht, sozusagen als Archephänomen, die einzige, verbindliche'
Wirklichkeit. In der Monadologie schreibt Leibniz: 53
Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders
und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es vermöge der unendlichen
48
Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 188f.
49
Vgl. dazu Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1), S. 212ff. u. 332ff.
50
Vgl. z.B. Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 184; Leibniz, Nouveaux
essais, (wie Anm. 36), III/II/l u. Leibniz, De connexione, (wie Anm. 40), S. 191 f.
51
Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), III/V/9.
52
Ebd., III/VI/28.
53
„Et comme une même ville regardée de differens côtés paroist toute autre et est comme mul-
tipliée perspectivement, il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples,
il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul
selon les differens points de veue de chaque Monade". § 57, dt. Text S. 448, in: Leibniz, Gott-
fried Wilhelm, Monadologie [1714], in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm
Leibniz, (wie Anm. 37), Bd. 6, S. 607-623. - Dt. Text: Leibniz, G. W., Hauptschriften zur
Grundlegung der Philosophie. Übers, v. Artur Buchenau. Durchges. u. mit Einleitungen u. Er-
läuterungen hg. v. Ernst Cassirer. 2 Bde. 3. Aufl. Hamburg 1966. Bd. 2, S. 435^»56.
Gottfried Wilhelm Leibniz 51
Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebensoviele verschiedene Welten, die indes
nichts andres sind, als - gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade - perspek-
tivische Ansichten einer einzigen.
Es ist keine Frage, daß Leibniz die logisch-analytische Kunstsprache nicht als
mögliche Fachsprache für die kommunikative Bewältigung eines fachlichen All-
tags versteht. Das Sprachverständnis aber, das ihr zugrunde liegt, ist dasselbe wie
das seiner Fachsprachenkonzeption, wenn auch dort in einer auf die Realität des
Alltags zugeschnittenen, weniger strikten Form. Wie die lingua rationalis das logi-
sche Denken zugleich ermöglicht und schult, so haben diejenigen „Nationen, deren
Sprache wohl ausgeübt und vollkommen gemacht [wird], [...] einen großen Vorteil
zur Schärfung ihres Verstandes". 54 Und hier wie dort gilt, daß man an der einmal
definierten Bedeutung eines (Fach-)Terminus unbedingt festhalten müsse („con-
stantissime insistendum est") 55 bzw. daß bei der Verwendung eines Terminus seine
Bedeutung stets klar sein und sich umgekehrt bei vorgegebener Bedeutung der
zugehörige Terminus sofort einstellen müsse. 56 Das Ideal ist die zeichenrelational
eindeutige, von vernünftigen Individuen im allgemeinen Konsens souverän ge-
handhabte Sprache, mit der sich die Welt in ihren Details bezeichnen und intel-
lektuell erschließen läßt.
Dieses rationalistische Ideal der Fachsprache setzt sich zu großen Teilen bis in
die Gegenwart fort, in theoretischer Hinsicht bis zur sprachanalytischen Philoso-
phie, in anwendungsbezogener Hinsicht bis in die moderne Fachsprachenfor-
schung und -lehre. Es ist keine Frage, daß sich Überlegungen von Leibniz in den
Arbeiten Gottlob Freges ebenso wiederfinden wie in den Schriften des frühen
Wittgenstein. Freges „Begriffsschrift" z.B. zielt ebenfalls, auf der Basis eindeuti-
ger Bedeutungszuweisungen, auf eine Kongruenz von „Satzgefüge" und „Gedan-
kengefuge" 57 zum Zwecke der präzisen Formulierung von Aussagen. Und Wittgen-
steins vielzitierte Rede von der „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel un-
serer Sprache" 58 ergibt nur einen Sinn, wenn eine Alternative zumindest denkbar
ist.
In seiner Anthropologie der Technik von 1978 schreibt Hans Sachsse, daß sich
die Technik
54
Einige patriotische Gedanken [1697], in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Deutsche Schriften, hg.
v. Walther Schmied-Kowarzik. 2 Bde. Leipzig 1916. Bd. 1, S. 3 - 8 , Zitat S. 5; ähnlich der Be-
ginn der Unvorgreifjflichen Gedancken.
55
Leibniz, De veris principiis, (wie Anm. 29), S. 411.
56
„Atque ita patet dato vocabulo quae adhibenda sit significatio, videamus, et contra: datae
significationi quod adhibendum sit vocabulum", ebd., S. 411.
57
Frege, Gottlob, Logische Untersuchungen [1923-26]. 3. Teil: Gedankengefuge, in: ders.,
Logische Untersuchungen, hg. v. Gunther Patzig. Göttingen 1966, S. 72-91, hier S. 72ff.;
ders., Begriffsschrift und andere Aufsätze, hg. v. I. Angelelli. 2. Aufl. Darmstadt 1964.
58
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen I [verf. 1945], in: ders., Schriften.
Frankfurt 1960, S. 2 7 9 ^ 8 4 , § 109.
52 Andreas Gardt
nicht mit den Deutungen, den Bewertungen, den Beurteilungen der Dinge, sondern mit den
Dingen selbst [befaßt], sie ist sozusagen in der Lage, die ganze Kompliziertheit der Bewußt-
seinsprozesse zu unterlaufen und zur konkreten Wirklichkeit selbst vorzustoßen.59
Daß die Technik auch die Sprache unterläuft, ist dabei ganz selbstverständlich mit-
gemeint. Die in der Fachsprachenforschung nach wie vor dominierende Sprach-
konzeption läßt die Nähe zur hier beschriebenen rationalistischen erkennen. Eine
Untersuchung von etwa 150 Arbeiten der Fachsprachenforschung aus der Zeit
nach 1960 zeigt die Vergleichbarkeit:60 Immer wieder werden fur die Fachsprache
gefordert Präzision, Systematik, Ökonomie, Sachbezogeneheit, „exakte Defini-
tionen", „Klarheit", „Eindeutigkeit", „Stringenz", „Konsistenz", „Widerspruchs-
freiheit" etc.
Mit all dem ist nicht gesagt, daß es zu dieser Sicht der Fachsprache keine Alter-
nativen gäbe. Sie stammen in der Gegenwart entweder aus dem Umfeld der Prag-
matik oder, traditioneller, aus dem der Hermeneutik. Diese Alternativen und die in
ihnen zum Ausdruck gelangende Kritik am rationalistischen Sprachbegriff zu
diskutieren, ist jedoch nicht Thema dieses Beitrags.61
59
Sachsse, Hans, Anthropologie der Technik. Braunschweig 1978, S. 122.
60
Gardt, Andreas, Sprachtheoretische Grundlagen und Tendenzen der Fachsprachenforschung,
in: Zeitschrift flir germanistische Linguistik 26 (1998), S. 31-66.
61
Dazu vgl. Gardt, Sprachtheoretische Grundlagen, (wie Anm. 60).
ULRIKE HASS-ZUMKEHR ( M a n n h e i m )
Da der Verlag Einheitlichkeit der Rechtschreibung verlangt, stimmte die Autorin einer
Rückänderung ihres Beitrags in die alte Schreibung zu.
2
Vgl. Haß-Zumkehr, Ulrike, Der Lexikograph als Hermeneut. Über die historisch-kulturelle Ge-
bundenheit von Wörterbüchern, in: Tommola, Hannu/Varantola, Krista/Salmi-Tolonen, Tar-
ja/Schopp, Jürgen (Hg.), EURALEX '92 Proceedings I—II. Tampere/Finnland 1992, S. 6 2 1 -
629; Haß-Zumkehr, Ulrike, Die kulturelle Dimension der Lexikografie am Beispiel der Wör-
terbücher von Adelung und Campe, in: Gardt, Andreas/Haß-Zumkehr, Ulrike/Roelcke, Thor-
sten (Hg.), Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin 1999, S. 247-266.
54 Ulrike Haß-Zumkehr
so gut sammeln, ordnen, vergleichen und kommentieren wie mit alphabetisch oder
auch sachlich geordneten Listen.
Zu diesem kognitiven Nutzen der Wörterbücher tritt aber noch ein autoritativer:
In der Sicht der Benutzer stellen Wörterbücher immer irgendeine sprachliche Norm
dar, die in Zweifelsfallen entscheidet.3 Diese Funktion hatte in der humanistischen
Schullexikographie und auch in den Werken der barocken Sprachgesellschaften
eine feste Tradition ausgebildet. Die Textsorte Wörterbuch entspricht den gesell-
schaftlichen Ordnungs- und Orientierungsbedürfnissen in sprachbezogener Hin-
sicht wie keine andere. Festzuhalten ist, daß die ideale Verbindimg von kognitiver
und autoritativer Funktion das Wörterbuch bis in die Gegenwart zum bevorzugten
Instrument der Sprachplanung werden ließ. Es scheint sogar, daß dies um 1700 in
besonderer und zum Teil neuartiger Weise entdeckt wurde:
Also hat es der Verfertiger gegenwärtigen Wörter-Buchs gewagt, und seine Arbeit herausgege-
ben, ohngeachtet viele daran gezweifelt, ob es so weit zum Stand kommen werde. Es hat ihm
die λεξικοφιλια, oder Liebe zum Lexicon-Schreiben so vieler gelehrten Leute, ja sogar die
λεξικομανια oder damit vorgehende Raserey dieses Seculi allerdings viel geholfen, und die
Arbeit etwas erleichtert.4
Der dies schrieb, Johann Leonhard Frisch, war seit 1706 Mitglied der Preußischen
Societät der Wissenschaften, stand mit Leibniz in Korrespondenz und setzte die
obrigkeitlichen Aufforderungen zu Wortschatzsammlung zwecks Verbesserung der
„teutschen Haubtsprache" in die Tat um.
Die allgemeine lexikographische „Raserey" bezog sich aber nicht nur auf die
allgemeinsprachliche, d.h. auf die überregionale Standardsprache zielende Lexiko-
graphie, sondern auch auf die Lexikographie der Mundarten, die ab Mitte des 18.
Jahrhunderts zuerst in Niederdeutschland zu entstehen beginnt, und jener der be-
ruflichen Sondersprachen („Seemanns-", „Kaufmanns-", „Bergmannssprache") ab
1712.5 In allen Fällen ist als eines unter mehreren Motiven immer auch die Behe-
bung juristischer Verständigungsprobleme anzunehmen; die lexikographische
Parallelisierung mundartlicher bzw. funktional spezifischer Rechtswortschätze
beförderte nicht nur den Sprach-, sondern auch den Rechtsausgleich im Deutschen
Reich.
Ich möchte im folgenden an diesem und zwei weiteren deutschen Wörterbü-
chern des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zeigen, wie sich die sprachplane-
3
Ripfel, Martha, Die normative Wirkung deskriptiver Wörterbücher, in: Hausmann, Franz
Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert E./Zgusta, Ladislav (Hg.), Wörterbücher. Ein in-
ternationales Handbuch zur Lexikographie. Berlin 1989. 1. Teilbd., S. 189-208.
4
Frisch, Johann Leonhard, Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch. Nachdruck der Ausg. Berlin
1741 mit e. Einf. u. Bibliographie hg. von Gerhardt Powitz. Hildesheim 1977, „Vorbericht",
S. XIV v.
5
Vgl. Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, Die deutsche Lexikographie vom 17. Jahrhundert bis zu
Grimm ausschließlich, in: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta (Hg.), Wörterbücher, (wie
Anm. 3). Berlin 1990. 2. Teilbd., S. 2049-2078.
Spiegelungen der Rechtssprache 55
rischen Ideen von Leibniz bis zur Pädagogik der Spätaufklärung auf die Behand-
lung der Rechtssprache ausgewirkt haben. Es handelt sich außer dem erwähnten
Werk von Frisch um das Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart von Johann Christoph Adelung, d.h. um die 2. bearbeitete Auflage dieses
Werks von 1793-1801.6 Und drittens um das in kritischer Opposition zu Adelung
entstandene Wörterbuch der deutschen Sprache von Joachim Heinrich Campe,
dem Pädagogen, Volksaufklärer und Fremdwortpuristen. Dieses fünfbändige Werk
erschien 1807-1811.7 Daß auch diese spät datierten Wörterbücher noch in die
Aufklärung hineingehören, läßt sich anhand ihrer Methodik erweisen und erklärt
sich auch aus der langen Vorbereitungszeit der immer umfangreicheren Werke.
Generell werden im Wortschatz der Rechtssprache diverse Bereiche oder
Schichten unterschieden; ich greife hier exemplarisch auf neuere Arbeiten von
Schmidt-Wiegand zurück.8 Üblicherweise geht die Klassifikation dabei von den
Entstehungszeiträumen der Wörter im Zusammenhang mit wesentlichen Rechts-
entwicklungen aus. Man könnte demnach die Behandlung des Germanischen
Rechtswortschatzes, des Rechtswortschatzes des frühen, hohen, späten Mittelalters
usw. in den Wörterbüchern untersuchen. Dagegen spricht die sehr andere Sicht des
18. Jahrhunderts auf Geschichte und Wortgeschichte. Im Unterschied zu dieser
genetischen Klassifikation habe ich deshalb für meine lexikographische Untersu-
chung Kriterien in den Mittelpunkt gestellt, die im sprachreflexiven Horizont der
Wörterbuchautoren des 18. Jahrhunderts lagen. Hiernach muß sich der Rechts-
wortschatz einordnen lassen in außerhalb und innerhalb der Gemeinsprache ste-
hende und in überlappende Bereiche, linguistisch gesprochen in fachinterne,
fachexterne und allgemeinsprachliche. In der Sicht der damaligen Lexikographen
spielten hierbei die Entlehnungen aus dem Lateinischen, Französischen und sogar
schon aus dem Englischen eine große Rolle; fremde Wörter wurden einheimischen
in differenzierter Weise gegenübergestellt.
6
Adelung, Johann Christoph, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörter-
buchs der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten,
besonders aber der oberdeutschen. 5 Bde. Leipzig 1775-1786; ders., Grammatisch-kritisches
Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793-1801. Nachdruck hg. und mit einer
Einl. versehen v. Helmut Henne. Hildesheim 1975; Henne, Helmut, Einführung und Biblio-
graphie zu Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeut-
schen Mundart (1793-1801), in: ders. (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahr-
hunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim 1975, S. 109-142.
7
Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch der deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 1807-
1811. Nachdruck mit einer Einf. und Bibliogr. hg. v. Helmut Henne. Hildesheim 1969.
8
Schmidt-Wiegand, Ruth, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte bis zum Ende des
Mittelalters (Artikel Nr. 5), in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger,
Stefan (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ih-
rer Erforschung. 1. Teilbd., 2. Aufl. Berlin 1998, S. 72-87; dies., Deutsche Sprachgeschichte
und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters (Artikel Nr. 6), in: Besch/Betten/
Reichmann/Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte, (wie oben), S. 87-98.
56 Ulrike Haß-Zumkehr
Außer der Unterscheidung deutsch vs. fremdsprachlich lag auch das Kriterium
mündlich vs. schriftlich im Horizont der Lexikographen. Die Lexikographie des
Mittelalters und des Humanismus war zwar bei den deutschen Lemmata notge-
drungen mündlichkeitsorientiert gewesen; man ging aber schon in der Barockzeit
dazu über, sich auf schriftliche Zeugnisse zu stützen.9 Insgesamt blieb die Wort-
schatzdarstellung bis zu Matthias Kramers deutsch-italienischem Wörterbuch von
1700/170210 an die mündliche Individualkompetenz der Lexikographen gebunden.
Erst 1734 begann mit Steinbachs deutschem Wörterbuch11 die systematische Bele-
gung des Wortgebrauchs durch nachgewiesene deutschsprachige Texte. In der
gesamten Aufklärungszeit nahmen die Spuren der Mündlichkeit in den Wörterbü-
chern weiter ab, so daß bei Jacob Grimm der Hörbeleg nur noch Notnagel war, der
die Lücken der Exzerption überdecken mußte.
Vor diesem Hintergrund der Unterscheidung von deutsch vs. fremd und dem
Bemühen um Quellenfundierung kann man in der Lexikographie der Aufklärung
vier Klassen rechtssprachlicher Ausdrücke zugrundelegen - ich nenne nachfolgend
nur die Simplizia, untersucht wurden aber immer auch alle rechtserweiternden
Ableitungen und Zusammensetzungen:
Ferner Ausdrücke, die sowohl dem juristischen wie dem allgemeinen oder öffentli-
chen Sprachgebrauch angehören. Dies ist z.B.
9
Stieler mußte in diesem Punkte aber noch hinter Schottels Forderungen zurückbleiben; vgl.
Schmidt-Wiegand, Art. 6, (wie Anm. 8), Abschnitt 2.
10
Kramer, Matthias, Herrlich-großes Teutsch-Italiänisches Dictionarium. 2 Bde. 2. Auflage
1700 bis 1702 (1. Auflage 1678). Nachdr. mit e. Einf. hg. von Gerhard Ising. Hildesheim
1982.
11
Steinbach, Christoph Ernst, Vollständiges Deutsches Wörterbuch. Nachdruck der Ausg.
Breslau 1734. Nachdr. mit einer Einf. hg. v. Walther Schröter. Hildesheim 1973.
12
Nach sprachwissenschaftlichem Usus werden in diesem Beitrag objektsprachliche Erwähnun-
gen von Wörtern kursiv und Bedeutungsangaben in einfachen Anführungszeichen gesetzt.
Spiegelungen der Rechtssprache 57
drücke wie Reich, Staat, Verfassung, Fürst, Volk, Souverän, absolut, Gewalt,
Untertan im späten 18. Jahrhundert inhaltsseitig lind z.T. auch ausdrucksseitig
englische und französische Traditionen aufgenommen. Sie kennzeichnen aber
neuere, nicht mehr nur rechtliche, sondern auch politische Entwicklungen, die den
Weg ins 19. und 20. Jahrhundert weisen.13
Es geht im folgenden um die Fragen, wie die Lexikographen der Aufklärungs-
zeit den juristischen und den allgemeinen Gebrauch dieser Wörter darstellten und
womöglich in ein Verhältnis zueinander brachten, wo und warum sie sprachplane-
risch eingriffen, ob solche Eingriffe puristisch auf die Wortform bezogen blieben
oder sich auch auf die begrifflichen Inhalte erstreckten.
Das Teutsch-Lateinische Wörterbuch von Frisch ist ein Wörterbuch, das die ge-
samte deutsche Sprache erfassen wollte.14 Hinter ihm steht der Anspruch, der
großen Vielfalt der sprachlichen Verkehrsformen, in denen sich das Deutsche auch
noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts darstellte, eine alphabetische Ordnimg zu
geben und so die Integration der regionalen, beruflich-funktionalen, gattungsge-
bundenen und auch der vergangenen alten Sprachformen voranzutreiben. Frisch
zählt sie in seiner langen Titelei alle auf (siehe Anhang). Auch das Lateinische, das
hier traditionsgemäß als eine Art Tertium comparationis mit den deutschen Varie-
täten parallelisiert wird, ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ja immer noch
ein faktisches Kommunikationsmittel, vor allem in den Wissenschaften.
Frisch bezieht sich mit seinem Wörterbuchkonzept explizit auf Leibniz' Ideen,
wie sie in den Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesse-
rung der deutschen Sprache von 1697 entwickelt wurden.15 Man kann sein Wör-
terbuch mit Recht als einen Versuch betrachten, nicht nur einen landschaftlichen
Sprachausgleich zu befördern, sondern auch die Sprache der Gelehrten durch Auf-
nahme der alten „echt" deutschen Wörter zu verbessern, d.h. von fremdsprachli-
chen Interferenzen zu befreien und ausdrucksseitig „patriotischer" zu machen.
Leibniz dachte dabei an mehrere getrennte Wörterbücher:
13
Hilfreich bei der Auffindung der Wortschätze waren: Stein, Peter G., Römisches Recht in
Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur. Frankfurt 1996; Wesel, Uwe, Geschichte des
Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München 1997.
14
Reichmann, Oskar, Geschichte lexikographischer Programme in Deutschland (Artikel Nr. 28),
in: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta (Hg.), Wörterbücher, 1. Teilbd., (wie Anm. 3),
S. 230-246, insb. S. 236.
15
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbes-
serung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze, hg. v. Uwe Pörksen, kommentiert von Uwe
Pörksen und Jürgen Schiewe. Stuttgart 1995.
58 Ulrike Haß-Zumkehr
nämlich ein eigenes Buch für durchgehende Worte, ein anderes für Kunstworte und letztlich
eines fur alte und Landworte und solche Dinge, so zur Untersuchung des Ursprungs und
Grundes dienen, deren erstes man Sprachbrauch, auf lateinisch Lexikon, das andere Sprach-
schatz oder cornu copiae, das dritte Glossarium Etymologicum oder Sprachquell nennen
möchte. 16
Frisch nun vereinigt alle in einem Band und nutzt Leibniz' Unterscheidungen
zwischen allgemeinem, berufs- und landschaftsspezifischem Gebrauch und sprach-
archäologischen Erläuterungen lediglich zur Gliederung seiner Wortartikel. Dem
Sprachausgleich wird dadurch viel besser gedient, daß ,recht' in der Bedeutung
von ,gut und richtig' unmittelbar neben der Bedeutung ,rechtmäßig' erläutert wird,
statt in einem anderen Buch. Tatsächlich wäre die Rechtssprache nach Leibniz'
Vorschlag wohl auf alle drei Bücher verteilt worden, denn sie läßt sich eben nicht
als eine spezifische Berufssprache behandeln wie die von Bergbau und Fischerei,
und sie läßt sich auch nicht entweder dem allgemeinen Gegenwartsgebrauch oder
dem Gebrauch früherer Epochen zuordnen, sondern nur in der Verbindung von
Geschichte und Gegenwart darstellen.
Wie sah nun die Behandlung des Rechtswortschatzes in Frischs Wörterbuch de
facto aus? Am folgenreichsten erwies sich, daß er - auch hierin einem Vorschlag
Leibniz' folgend - in großem Umfang ältere Rechtsquellen aus allen deutschen
Landschaften exzerpiert hatte. Sein dreiseitiges Quellenverzeichnis enthält über
400 Titel, von denen schätzungsweise die Hälfte Rechtsquellen im engeren Sinne
sind. Man findet etwa ein Bayerisches Jagd- und Fischrecht, die „Clevische Poli-
cey-Ordnung", die „Peinliche Hals-Gerichts-Ordnung", eine Rostockische Kleider-
Ordnung von 1585, eine Preußische Bernsteins-Ordnung von 1693, aber auch
rechtsgelehrte Schriften, etwa von Gobier. Neben Rechtsquellen sind Chroniken,
Reisebeschreibungen und unter anderem sehr viele naturkundliche Werke vertre-
ten.
Frischs Quellenmasse stammt aus dem 15. bis 17. Jahrhundert,17 d.h. nur zu
einem geringen Teil aus Frischs unmittelbarer Gegenwart. Rechtsgeschichtlich
wird damit die gesamte Zeit der Rezeption abgedeckt, die für die Entwicklung des
deutschen Rechtswortschatzes entscheidend war. Frischs Interesse an den Rechts-
quellen richtete sich aber nicht primär auf ihre rechtliche Seite, sondern auf den in
ihnen enthaltenen Wortschatz der zum Teil abgelegenen Berufe und Sachberei-
che,18 der in diesen Ordungen und Statuten oft erstmals verschriftlicht worden war.
Um der „voces Technica" willen habe er „so viel Teich-Ordnungen, als er habe
können, durchlesen, und die darin angemerkte Wörter, so bei dieser sache ge-
16
Leibniz, (wie Anm. 15), S. 18.
17
Powitz, (wie Anm. 4), Einleitung, S. XIII*.
18
Ebd.
Spiegelungen der Rechtssprache 59
Es scheint, daß das besondere Alter vieler Rechtswörter ausschlaggebend fur ihre
ausfuhrliche Behandlung durch Frisch war, selbst wenn Wortform oder -inhalt in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr verwendet werden. Gleiches trifft
auch auf den biblischen Wortschatz Luthers zu; auch hier verzichtet Frisch nicht
auf inzwischen Veraltetes, denn er verfolgt mit seinem Wörterbuch auch die Ab-
sicht, den Zugang zu diesen alten Texten offen zu halten.23
Aus der Schwerpunktsetzung bei den Rechtsquellen und der besonderen Her-
vorhebung des Alters der Wörter, gleich aus welchen Quellen sie stammen, resul-
tiert ein Wörterbuch, in dem diverse Einzelwortschätze erstmals miteinander ver-
bunden, verglichen und disparate Verwendungsweisen eines Worts eng aufeinan-
der bezogen werden. Dies gelingt durch einen methodischen Fortschritt, denn
19
Zit. ebd.
20
Frisch, (wie Anm. 4), S. 5.
21
Frisch, (wie Anm. 4), S. 233; ähnlich ebd. im Wortartikel Schöpfe.
22
Frisch, (wie Anm. 4), Vorbericht S. XI r/v.
23
Die Lexikographie sollte die Brücke schlagen helfen zu den immer schwerer verständlichen
alt-, mittel- und sogar frühneuhochdeutschen Texten; in den Schriften kurz vor und kurz nach
der Erfindung des Buchdrucks stünden, so Frisch, „auf allen Seiten Wörter [...] die dem Leser
am Verstand solcher Schrifften hinderlich fallen", (wie Anm. 4), Vorbericht, S. X2 r.
60 Ulrike Haß-Zumkehr
24
Powitz, (wie Anm. 4), Einleitung, S. XI*; Powitz, Gerhardt, Das deutsche Wörterbuch Johann
Leonhard Frischs. Berlin 1959, S. 22f.
25
Kramer, (wie Anm. 10), Bd. II, S. 280, 281.
26
Frisch, (wie Anm. 4), S. 498.
Spiegelungen der Rechtssprache 61
27
Powitz, (wie Anm. 24), S. 1.
28
„Zur gleichen Zeit, da er die Sammlungen seines Insekten- und Vogelkabinetts Stück um
Stück zu vervollständigen sucht, trägt er unermüdlich exzerpierend wortgeschichtlichen Erfah-
rungsstoff aus den Quellen zusammen, um Einblick zu gewinnen in die Sprache als Erschei-
nung der objektiven Wirklichkeit." Powitz, (wie Anm. 24), S. 9.
62 Ulrike Haß-Zumkehr
Machen wir nun einen Sprung von gut 50 Jahren. In der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts entstand eine neue Programmdiskussion um Art und Zweck des
Wörterbuchs, diesmal getragen von den Schriftstellern. Im Zentrum ihrer Vorstel-
lungen stand nicht mehr eine Bestandsaufnahme des Deutschen in seiner Vielfalt,
sondern wiederum seine Verbesserung, nun allerdings für Zwecke der Dichtung:
Stilsicherheit, Ausdrucksreichtum und Flexibilität waren die Ziele, denen das
Wörterbuch jetzt dienen sollte. Lessing, Klopstock und Wieland forderten eines,
das die Sprache der schönen Literatur dokumentiert und ihr so einen Einfluß auf
die Gemeinsprache sichern würde. Gottsched begann mit den Arbeiten für solch
ein Wörterbuch, aber abgeschlossen wurde es in einer Form, die nicht unerheblich
von den programmatischen Ideen der Dichter abwich: Johann Christoph Adelungs
Versuch eines grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart
mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der ober-
deutschen erschien in fünf Bänden von 1774 bis 1786 in Leipzig. Der Titel verrät,
daß nun eine der regionalen Varietäten als besonders geeignet und vorbildlich
kodifiziert werden sollte. Tatsächlich handelte es sich um eine regional wie sozial
bestimmte, d.h. auf höfische Kreise beschränkte Varietät. Adelungs Bevorzugung
der mündlichen Umgangssprache der „obern Classen" Obersachsens oder Meißens
erregte heftige Kritik, als deren Folge von 1793 bis 1801 eine zweite überarbeitete
Fassung mit dem Titel Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen
Mundart in vier Bänden erschien.
Es blieb dennoch das Wörterbuch einer Hochsprache, die den Benutzern als
allgemeiner Standard anempfohlen wurde. Adelungs Intention bestand darin, eine
sprachliche Norm darzustellen, die er von dem seiner Ansicht nach besten Sprach-
gebrauch einer herausgehobenen sozialen Gruppe ableitete. Kompliziert wird die
Diagnose dadurch, daß diese normative Intention die lange Vorrede beherrscht,
sich aber in der Wörterbuchpraxis die Beschreibung nicht nur des vorbildlichen
Gebrauchs durchsetzt. Welchen Stellenwert besaß dabei die Rechtssprache? In der
Vorrede heißt es:
Besonders habe ich mir angelegen seyn lassen, die Kunstwörter aus allen Künsten, Lebensar-
ten und Wissenschaften zu sammeln, weil viele derselben selbst eingebohrnen Deutschen un-
verständlich und fremd sind. Unter die Kunstwörter rechne ich auch die Namen aller beson-
dern Gebräuche, Rechte, obrigkeitlichen Aemter u.s.f., wenn sie gleich nur in dieser oder jener
Provinz allein üblich sind, weil sie doch in hochdeutschen Büchern mehrmals vorkommen,
und von keinem Hochdeutschen vermieden werden können, wenn er von diesen oder jenen
Dingen reden oder schreiben muß. 29
Den Ausschlag für die Aufnahme fachsprachlicher Wörter gibt also ihre Schwer-
verständlichkeit, die hier auf ihre Regionalspezifik zurückgeführt wird. In der
29
Adelung, Versuch, (wie Anm. 6), Vorrede zur 1. Aufl., S. XIII.
Spiegelungen der Rechtssprache 63
Die lateinischen Äquivalente werden aber immer dann als abzulehnend markiert,
wenn mehrere deutsche Ausdrücke zur Verfügung stehen. Der Wortartikel Prozeß
enthält die Anmerkung: „Dieses fremde Wort ist zugleich mit dem Römischen
Rechte in Deutschland eingeführt worden. Vorher hatte man eigene deutsche Aus-
drücke dafür". 32
Die im Vergleich zu Frisch größere Freiheit Adelungs in der Aufnahme fremd-
sprachlicher Entlehnungen ist einmal darauf zurückzuführen, daß die starke Ver-
gangenheitsorientierung, die Demonstration des Uraltertums der deutschen
„Haubtsprache", obsolet geworden war. Zum zweiten war in der Sprachentwick-
lung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Dominanz des Lateins endgültig
überwunden worden; das Ziel einer überregionalen Varietät des Deutschen war
deutlich näher gerückt, obwohl auch Adelung noch am Sprachausgleich arbeiten
mußte.
Er schreibt ein dominant gegenwartsbezogenes Wörterbuch und verschiebt alle
form- und bedeutungsgeschichtlichen Informationen und damit einen großen Teil
der von Frisch übernommenen Angaben ans Artikelende in eine Anmerkung. Der
Schwerpunkt seiner Quellenbasis liegt bei literarischen Texten von etwa 1740 bis
1760, sofern sie das von ihm geforderte „Hochdeutsch" repräsentieren, aber auch
die lexikographischen Vorgänger seit frühneuhochdeutscher Zeit sind extensiv
eingearbeitet.
All diese Voraussetzungen fuhren dazu, daß die rechtsspezifischen Wörter bzw.
Wortbedeutungen in Adelungs umfangreichem Werk eine relativ sehr viel kleinere
Rolle spielen als bei Frisch. Markierungen wie „in den Rechten", „in den Gerich-
ten", „im gerichtlichen Verstände" sind selten, und Erläuterungen wie „Straffall
[...] in den Gerichten, Fälle, wo Strafen statt finden, welche bestrafet zu werden
verdienen",33 demonstrieren nicht gerade juristischen Sachverstand. Der ältere
30
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, (wie Anm. 6), Bd. 4, Sp. 307.
31
Ebd., Bd. 3, Sp. 1008.
32
Ebd., Bd. 3, Sp. 851.
33
Ebd., Bd. 4, Sp. 417.
64 Ulrike Haß-Zumkehr
deutsche Rechtswortschatz scheint, wie die Artikel Schuldheiß, Stab, Vogt zeigen,
größtenteils in enger Anlehnung an Frisch dargestellt zu sein, einschließlich der
wiederholten Markierung als veraltet. Ausschlaggebend für die Repräsentation der
Rechtssprache in Adelungs Wörterbuch ist jedoch eine weit über Frisch hinausge-
hende Integration rechtlicher Wortverwendungen in die Gemeinsprache, die wie-
derum mit einer methodischen Innovation zusammenhängt.
Adelungs Verfahren der Bedeutungserläuterung ist erstens ausführlicher und
differenzierter als bei seinen Vorgängern; zweitens geht er von einer relativ kon-
struierten abstrakten Grundbedeutung aus, von der dann die konkreten, u.a. die
rechtlichen Bedeutungen abgeleitet werden. Adelung selbst sprach von einer „Be-
deutungsleiter". In diesen semantisch-hierarchischen Bäumen nun sitzt das Recht
regelmäßig auf den kleineren Zweigen, nicht auf den dicken Ästen. Im Wortartikel
zum Substantiv Recht z.B. wird die Grundbedeutung „Zustand, da etwas recht ist,
und dasjenige, was recht ist" in zahlreiche Untergliederungen geteilt. Das positive
Recht rangiert dabei unter 2.1 .b) α:
2. „als ein Concretum", 1) „Ein Gesetz, die Richtschnur menschlicher Handlun-
gen", (b) „In weiterer Bedeutung", (α) „Objektive, die Sammlung der Inbegriff der
Gesetze einer Art".
Diese Angabe wird dann allerdings mit der folgenden Beispielreihe illustriert:
„Das göttliche Recht [...] Das geistliche, päpstliche oder kanonische Recht. Das
bürgerliche Recht. [...] Das gemeine oder Deutsche Recht im Gegensatze des Rö-
mischen Rechtes."34 Juristisches taucht auch noch in weiteren Gliederungspunkten
des Artikels Recht auf, statt an einer Stelle gebündelt zu werden. Im übrigen ist die
Entgegensetzung von gemeinem und römischem Recht zumindest aus heutiger
Sicht nicht korrekt.
Kurzum, Adelungs feine hierarchische und per Abstraktion konstruierte Be-
deutungsgliederung stellt einerseits eine enge Verflechtung, ja oft eine Gleichset-
zung von moralischem, biblischem und positivem Recht her, macht andererseits
aber auch deren Unterscheidungen sichtbar.
Ich komme noch kurz auf den verfassungsrechtlichen Wortschatz zu sprechen.
In den Wortartikeln Fürst, Gewalt, König, Reich und Staat spielen die rechtlichen
Aspekte eine sehr untergeordnete Rolle. Lediglich etliche Kompositen zu Reich
und Fürst, die Organe des Deutschen Reichs bezeichnen, sind meist markiert mit
„in dem Deutschen Staatsrecht". Aber obrigkeitliche Gewalt wird unter der Be-
deutung .Herrschaft' per Beispiel in eine Reihe mit „eine Sprache in seiner Gewalt
haben" gesetzt. Die von Wolff geprägte „elterliche Gewalt"3^ fehlt.36
Als lexikographisches Prinzip kann festgehalten werden, daß Adelung die
rechtliche Bedeutung eines Ausdrucks stets als besonderen und relativ nebensäch-
34
Ebd., Bd. 3, Sp. 1002.
35
Schmidt-Wiegand, (wie Anm. 8), Art. 6.
36
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, (wie Anm. 6), Bd. 2, Sp. 651 f.
Spiegelungen der Rechtssprache 65
liehen Fall einordnet, der zudem erst auf späteren, jüngeren Stufen der Bedeu-
tungsleiter entstanden sei. Trotz der rationalistischen Semasiologie sind bei Ade-
lung keinerlei Spuren der Definitionsarbeit eines Thomasius oder Wolff zu erken-
nen. Die Integration der Rechts- in die Hochsprache fuhrt Adelung weit über
Frisch hinausgehend fort, so weit, daß die rechtliche Dimension des deutschen
Wortschatzes relativ zur literatur- und schreibsprachlichen Dimension des Wörter-
buchs nahezu verschwindet.
Die Rechtssprache wurde aber in besonderer Weise wieder zum Vorschein ge-
bracht durch Joachim Heinrich Campe, der sein fiinfbändiges Wörterbuch der
deutschen Sprache 1807-1811 in engem, aber äußerst kritischem Bezug auf den
Vorgänger Adelung verfaßte bzw. verfassen ließ.37 Der vielseitige Pädagoge und
Schriftsteller war Anhänger der Französischen Revolution und einer der herausra-
genden Verbreiter revolutionären Gedankenguts in Deutschland, und er blieb dies
in der lexikographischen Arbeit.38 Er ersetzte die höfische und oberdeutsche Aus-
richtung Adelungs durch bürgerliche, konstitutionell-demokratische und nationale
Orientierungen. Aus diesen Vorzeichen resultieren für die lexikographische Tra-
dierung des Rechtswortschatzes vier wesentliche Neuerungen:
Erstens streicht Campe alle Rechts- und Wortgebräuche, die schon bei Adelung
als veraltet markiert worden sind, etwa bei Schuld und Schuldheiß. Dafür wird die
Stichwortmenge u.a. durch die Aufnahme bürgerlichrechtlicher und verfassungs-
rechtlicher Ausdrücke wie Reichsverfassung, Staatsbeamter, Staatsumwälzung,
Volksherrschaft, Volksversammlung erweitert. Campe versäumt dabei nicht, auf
die vielfaltigen rechtlichen Folgen der Aufhebung des Deutschen Reiches hinzu-
weisen. Kommentare wie „in der ehemaligen deutschen Reichsverfassung", „ehe-
mals im Deutschen Staatsrechte" findet man besonders oft in der Reichs-Strecke.
Er arbeitet mittels seines Wörterbuchs an der neuen Zeit, die angebrochen sei.
Seine Erläuterungen verfassungsrechtlicher Ausdrücke sind daher nicht selten
appellativ-utopisch. Z.B. ist der Staatsbeamte:
37
Henne, Helmut, Braunschweigische Wörterbuchwerkstatt - Joachim Heinrich Campe und
sein(e) Mitarbeiter, in: Schmitt, Hanno in Verbindung mit Peter Albrecht u.a. (Hg.), Visionäre
Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit (1754-1818). Wiesbaden 1996,
S. 215-224.
38
Henne, Helmut, Einführung und Bibliographie zu Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der
Deutschen Sprache (1807-1811), in: ders. (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18.
Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim 1975, S. 143-168; Schiewe, Jürgen,
Joachim Heinrich Campes Verdeutschungsprogramm. Überlegungen zu einer Neuinterpreta-
tion des Purismus um 1800, in: Deutsche Sprache, 16. Jg. 1988, Heft 1, S. 17-33.
66 Ulrike Haß-Zumkehr
[...] der Staatsdiener, sofern er dadurch dem Ganzen, wovon er ein sehr untergeordneter Theil
ist, dienet oder in dessen Diensten ist. Der Vernunft gemäß ist also der Fürst, Kaiser, König
&c. der erste Staatsbeamte oder Staatsdiener, welcher nur durch den Staat und für den Staat da
ist; aber nicht umgekehrt. 39
39
Campe, (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 566.
40
Ebd., Bd. 2, S. 357.
41
Henne, (wie Anm. 37), S. 221, zitiert aus Campes Preisschrift von 1794.
42
Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Spra-
che aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung's und Campe's
Wörterbüchern. Neue [...] Auflage. Braunschweig 1813.
Spiegelungen der Rechtssprache 67
Dann folgt ein längeres Definitionszitat von einem gewissen von Strombeck,43
in dem Pandecten, Codex und Institutionen miterläutert werden. Abschließend
zitiert Campe aus einem „Heidelbergischen Verzeichniß der Vorlesungen": „Heise
erklärt die schweren Stellen des Rechtskörpers".44
Viertens dient gerade die verständlichmachende Darstellung des Rechtswort-
schatzes45 Campe zum Entwurf einer demokratischen Rechts- und Gesetzesidee
und einer utopischen, nachabsolutistischen Gesellschaftsform. Am Schluß der
umfangreichen Strecke der /ws-Kompositen schreibt er: „Man sieht, daß es uns an
Rechten aller Art keineswegs mangelt; möchte uns auch eben so viel Gerechtigkeit
zu Theil geworden sein oder werden!"46 Erstmals wird hier in einem deutschen
Wörterbuch Kant zitiert, etwa bei gerecht, Rechtslehre und Staatenrecht. Recht,
Staat und Polizei sollen nach Campes Darstellung nun für die Bürger da sein. Im
Artikel Rechtlos ist von den „Rechtswohlthaten" der „bürgerlichen Gesetze" die
Rede. Der hier erstmals lexikographisch gebuchte Rechtsanspruch wird in den
Beispielen „geltend gemacht" und „durchgesetzt". Polizei ist in der ersten Be-
deutung:
Die Handhabung guter Ordnung und Verfassung in einem Staate, wie auch in einer Stadt, wel-
che besonders auf Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und [...] außerdem noch auf
mancherlei andre die Wohlfahrt, Gesundheit, Bequemlichkeit &c. der Einwohner betreffende
Dinge Rücksicht nimmt. [...] Bei der guten Polizei hört man hier nichts von Diebereien, siehet
man keine Bettler, findet man reine Straßen, die Abends hell erleuchtet sind. 47
43
Friedrich Karl von Strombeck, 1771-1848, war in vielen Funktionen Jurist in Braunschweig,
Wolfenbüttel, Kassel. Für den biographischen Hinweis danke ich Herrn Christoph Leist, Hei-
delberg.
44
Campe, (wie Anm. 42), S. 239.
45
Kirkness, Alan, Sprachreinheit und Sprachreinigung in der Spätaufklärung. Die Fremdwort-
frage von Adelung bis Campe, vor allem in der Bildungs- und Wissenschaftssprache, in: Kim-
pel, Dieter (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hamburg 1985, S. 85-104,
hier S. 98.
46
Campe, (wie Anm. 42), S. 389.
47
Campe, (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 671. Die zweite Bedeutung sind die „Herren von der Polizei";
die dritte die „Polizeiwissenschaft".
48
Kirkness, Alan, Zur Sprachreinigung im Deutschen ¡789-1871. Eine historische Dokumenta-
tion. Tübingen 1975, Teil 1, S. 161-167.
68 Ulrike Haß-Zumkehr
Es bleibt zum Schluß die Frage nach den Folgen, die die Wörterbücher der
Aufklärung für die Sprachentwicklung insbesondere der Rechtssprache und ihrer
Integration in die Gemeinsprache hatten. Frischs historische Bestandsaufnahme ist
bis heute wissenschaftlich unersetzlich geblieben. Von den beiden spätaufgeklär-
ten Wörterbüchern wurde und wird Adelung als „der" aufgeklärte Lexikograph
etikettiert, obwohl er es nicht in allen Hinsichten war, während Campe bei Jacob
Grimm in Ungnade fiel und seine Wörterbücher in der Folge fast wirkungslos
blieben. Damit fehlt in der zentralen lexikographischen Tradition des 19. und 20.
Jahrhunderts ein gemeinsprachlich sehr wichtiger Teil des Rechtswortschatzes,
nämlich deijenige, der einer politisch aufgeklärten Gesellschaft die für Rechtskul-
tur und Verfassung notwendigen Begriffe präsent gehalten hätte.
Spiegelungen der Rechtssprache 69
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Abb. 3: Titelblatt: Johann Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache. Erster Theil,
von A-E.
ANDREAS GÖRGEN ( B o n n )
A. Aufklärerische Tendenzen
Wenn der folgende Beitrag1 aufklärerische Tendenzen in der frühen Neuzeit dar-
stellen will, so scheint es auf den ersten Blick den Rahmen zu sprengen, den der
Begriff der Aufklärung suggeriert Denn zu den geschichtlichen Grundbegriffen
zählt nach dem gleichnamigen Werk die Aufklärung
als Epochenbegriff für die ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert
kulminierende europäische Geistesbewegung, durch die in einem Säkularisierungsprozeß die
,moderne Welt' heraufgeführt und eine umfassende .Entzauberung der Welt' (Max Weber)
eingeleitet wird. 2
Die vorliegende Untersuchung stellt nicht die Eignung des so verstandenen Epo-
chenbegriffs in Frage. Sie will lediglich auf Tendenzen aufmerksam machen, die
im Bereich der Gesetzessprache bereits ab dem 16. Jahrhundert auf den angespro-
chenen Säkularisierungsprozeß und die angesprochene moderne Welt hinweisen.
Über diesen Weg soll sie Einblicke ermöglichen in die Ausgangslage vor der
„Epochenschwelle", die Koselleck zwischen 1770 und 1800 datiert,3 und ergän-
zende Kriterien entwickeln für den Umbruch in der Neuzeit. So wird sich zeigen
lassen, daß die Gesetzessprache der Aufklärung, deren Tendenz zu höherer Ab-
straktion sich in das von den geschichtlichen Grundbegriffen herausgearbeitete
Merkmal des gesteigerten Abstraktionsgrades4 so scheinbar nahtlos einordnet, auf
einem Fundament ruht, das bereits in der frühen Neuzeit gelegt ist. Daß mit ande-
ren Worten die sprachlichen Verhältnisse gegenüber den begriffsgeschichtlichen
Befunden einen gewissen zeitlichen Vorlauf und eventuell sogar produktiven Vor-
rang genießen. Auf diesem Weg möchte die Untersuchung - durchaus gegen das
aufklärerische Selbstbild des 18. Jahrhunderts - zu einer modifizierten Bewertung
der Gesetzessprache der Neuzeit beitragen.
Der Vortragsstil wurde weitestgehend beibehalten. Der Autor ist im übrigen Axel Bühler,
Reinhart Koselleck und Heinz Mohnhaupt für ihre Anregungen zu mehr Dank verpflichtet, als
es deren unvollkommene Umsetzung im vorliegenden Text vermuten ließe.
2
Stuke, Horst, Aufklärung, in: Brunner Otto u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1,
Stuttgart 1972, S. 243-342, Zit. S. 245.
3
Koselleck, Reinhart,,Neuzeit'. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergan-
gene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1979, S. 300-348; ders., Das
achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Herzog, Reinhart u.a. (Hg.), Epochen-
schwelle und Epochenbewußtsein. München 1987 (Poetik und Hermeneutik XII), S. 269-282.
4
Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner u.a., (wie Anm. 2), S. XIII-XXVII, XV-XVIII.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 73
Ein prominentes Urteil der Rechts-, aber auch der Sprachgeschichte lautet, die
deutsche Rechts- und in ihr als Kernbereich die Gesetzessprache seien ein Hoch-
gewächs des 18. Jahrhunderts. Von Polenz etwa spricht in seiner Sprachgeschichte
davon, „daß die in der schönen Literatur und in den philosophischen Wissenschaf-
ten um 1700 bereits weit vorangeschrittene Kultivierung der deutschen Sprache im
rechtssprachlichen Bereich noch lange unterblieb".5 Diese Veredelung der deut-
schen Rechtssprache zu einer sogenannten „wissenschaftstauglichen Sprache"6 ist
nach gängigem Urteil erst durch die Zuchtbemühungen der Aufklärung erreicht
worden. Zuvor nämlich fehlte angeblich das muttersprachliche Vorbild für die im
Rahmen eines Kodifikationsprogrammes unerläßliche Gesetzessprache.7 Erst die
Aufklärungsepoche habe weiter die Stringenz der Argumentation als ein Problem
der logischen Gedankenführung identifiziert und die dazu notwendige logische
Sprache geschaffen. 8
Zugleich ist man sich freilich des hohen sozialen Preises für dieses Aufklä-
rungs-Produkt bewußt und rechtfertigt ihn. Denn genießen kann diese edle Sprach-
form nur, wer die Bildungskosten aufbringen kann und die üblichen Initiationsriten
besteht. Parallel zur angesprochenen Hochzüchtung läuft daher eine Art Marke-
tingkonzept als zweiter Strang aufklärerischer Bemühungen. Dieser behauptet, „in
der Anwendung der allgemeinverständlichen Bildungssprache liegt der emanzipa-
torische Fortschritt des bürgerlichen Diskurses über die öffentlichen Dinge" - zu
denen natürlich auch die Rechtswissenschaft zählt:9 „der Bürger sollte, wenn er
nur hinreichend gebildet war, sich selbst Belehrung aus der schönen Klarheit neuer
Gesetzesbücher verschaffen können".10 Kurz: man schreibt sich die Lösung eines
Problems als Verdienst zu, das man ebenfalls verdienstvoller Weise erst geschaf-
fen hat.
Die Bücher über Recht und Sprache sind seitdem Legion." Hierbei wird zu-
meist vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher oder gegenstandsge-
5
Polenz, Peter von, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1 :
Einführung; Grundbegriffe; Deutsch in der frühbürgerlichen Zeit. Berlin/New York 1991.
Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert, ebd. 1994, S. 52; vgl. auch Hattenhauer, Hans, Zur Ge-
schichte der deutschen Rechts- und Gesetzessprache. Hamburg 1987; Heller, Martin Johan-
nes, Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992; Eichinger,
Ludwig M., Einübung in die Bürgerlichkeit. Form und Funktion der Redeweise über Recht,
Wirtschaft und das Staatswesen im 18. Jahrhundert, in: Müller, Bernd-D. (Hg.), Interkulturelle
Wirtschaftskommunikation. München 1991, S. 53-70.
6
Heller, (wie Anm. 5), S. 20.
7
Vgl. Hattenhauer, (wie Anm. 5), S. 36; Heller, (wie Anm. 5), S. 434.
8
Eichinger, (wie Anm. 5), S. 60; vgl. kritisch Reichmann, Oskar, Der rationalistische Sprach-
begriff und Sprache, wo sie am sprachlichsten ist, in: Batts, Michael S. (Hg.), Alte Welten -
neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung fur Germanische
Sprach- und Literaturwissenschaft, 1995. Bd. 1. Tübingen 1996, S. 15-31.
9
Eichinger, (wie Anm. 5), S. 64.
10
Hattenhauer, (wie Anm. 5), S. 34.
11
Vgl. zu einem ersten Oberblick die Bibliographie von Nussbaumer, Markus, Sprache und
Recht. Heidelberg 1997.
74 Andreas Görgen
Zum Zwecke eines besseren Verständnisses des historischen Prozesses soll die
Kommunikationssituation der frühen Neuzeit nicht vor der Folie ausgebildeter
Systeme gelesen, sondern als Ausgangspunkt zu einer solchen Entwicklung ge-
würdigt werden. Das schließt die Erwartung ein, mit einer sprachlich etwas un-
übersichtlichen Lage konfrontiert zu werden - mit einer „Sprache ohne Leitvarie-
tät", in der die Vertikalisierung des Variantenspektrums, das heißt die Ausdiffe-
renzierung der Gegenstandsbereiche von Sprache erst beginnt, wie es Oskar
Reichmann formuliert hat,14 vielleicht auch mit einer Kultur, in der sich die Leitin-
stitution des Rechts noch nicht mit den heutigen Maßstäben messen läßt. Zugleich
bietet sich so die Möglichkeit, die heutige Haltung zum kanonisierten Text zu
überprüfen, das heißt die hermeneutische Auffassung vom konsistenten und suffi-
zienten Text in Frage zu stellen, der keines Hodegeten, keines Wegweisers mehr
bedarf, sondern dem Leser unmittelbar zugänglich ist.15
12
Die Argumentationslinie verläuft in etwa parallel zu einem klassischen und einem institutio-
nellen Fachsprachenverständnis, vgl. auch Becker, Andrea/Hundt, Markus, Die Fachsprache in
der einzelsprachlichen Differenzierung, in: Hoffmann, Lothar u.a. (Hg.), Fachsprachen. Lan-
guages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und
Terminologiewissenschaft. Berlin/New York 1998, S. 118-133; sowie Hoffmann, Ludger,
Fachtextsorten der Institutionensprache I: das Gesetz, ebd., S. 522-528. Auf die Abgrenzung
von sozialen Systemen und Institutionen soll hier nicht eingegangen werden. Vgl. grundlegend
Schülein, Johann August, Theorie der Institutionen. Eine dogmengeschichtliche und konzep-
tionelle Analyse. Opladen 1987; zu sozialen Systemen Luhmann, Niklas, Das Recht der Ge-
sellschaft. Frankfùrt/M. 1995.
13
Hoffmann, Gesetz, (wie Anm. 12), S. 526.
14
Reichmann, Oskar, Sprache ohne Leitvarietät vs. Sprache mit Leitvarietät: ein Schlüssel für
die nachmittelalterliche Geschichte des Deutschen?, in: Besch, Werner (Hg.), Deutsche
Sprachgeschichte: Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Festschrift Johannes Erben. Frank-
furt/M. 1990, S. 141-159.
15
Vgl. Assmann, Aleida, Im Dickicht der Zeichen. Hodegetik - Hermeneutik - Dekonstruktion,
in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996),
S. 535-551, insb. S. 542ff.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 75
I. Theoretischer Ausgangspunkt
Bei der Rekonstruktion aufklärerischer Tendenzen im hier vorgestellten Sinne geht
es also nicht um die „objektive" Wiederherstellung sprachlicher Verhältnisse des
16.-18. Jahrhunderts nach Plausibilitätsmaßstäben, die fur heutige pragmalingui-
stische Ansätze gelten mögen. 20 Der hier vorgestellte Ansatz unterscheidet sich in
16
Aubin, Hermann, Methodische Probleme historischer Kardiographie, in: Neue Jahrbücher für
Wissenschaft und Jugendbildung 5 (1929), S. 44; vgl. auch Künßberg, Eberhard von, Rechts-
sprachgeographie. Heidelberg 1926, S. 3ff.; ausführlich Verf., Rechtsgrenzen folgen Sprach-
grenzen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 115 (1998),
S. 389-419, 390f.
17
Vgl. Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten. Akademie Ausgabe. Bd. VI. Berlin 1914, S. 388:
„Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen, (denn das tut das lus), sondern nur für die
Maximen der Handlungen" (Hervorhebungen im Original).
18
Eco, Umberto, Einfuhrung in die Semiotik. Tübingen 1994, S. 33, 47.
19
Assmann, Aleida, Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland, in: Pos-
ner, Roland u.a. (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von
Natur und Kultur. Bd. 1. Berlin 1997, S. 710-729.
20
Vgl. zu einem solchen Begriff der Rekonstruktion Linke, Angelika, Zur Rekonstruierbarkeit
sprachlicher Vergangenheit, in: Gardt, Andreas u.a. (Hg.), Sprachgeschichte des Neuhoch-
deutschen. Tübingen 1995, S. 369-397.
76 Andreas Görgen
der größeren Betonung der Konstruiertheit des vorgetragenen Modells und damit
einhergehend im geringeren Anspruch auf Objektivität im Sinne einer sich selbst
als deskriptiv verstehenden Wissenschaft. Er behauptet nicht, zwischen Rekon-
struktion und Interpretation der Rekonstruktion zwingend unterscheiden zu kön-
nen. Daher wird auch auf das „Wagnis des Bewertens und Behauptens" nicht im
Blick auf das „Wahrscheinlichmachen kausaler Zusammenhänge zwischen Spra-
che und außersprachlichen Faktoren"21 eingegangen. Denn die vorzustellenden
Aussagen über die Sprache sind von vornherein solche innerhalb eines gesell-
schaftlichen Systems. Sie sind keine, die ein gesellschaftsloses Sprachsystem be-
träfen, das über den Transmissionsriemen der Kausalität mit seinem sozialen Ge-
genstandsbereich verbunden wäre.22 Wenn also die Rekonstruktion der kommuni-
kativen Prozesse über Sprachdaten erfolgt, dann liegt die Betonung nicht auf der
Zuschreibung von „(rekonstruierten) Intentionen"23 zu Subjekten, sondern auf der
Plausibilität, die Sprachdaten als Indikatoren für gesellschaftliche Prozesse be-
obachten zu können. Ist akzeptiert, daß „bereits das Recht zur Zeichensetzung ein
soziales Privileg [ist]"24 und daß die Institution des Rechts über die Geltung von
gesetzten Zeichen entscheidet, so wird verständlich, wie und ob über eine rechtli-
che Terminologie, über sozial exklusive und räumlich mehr oder minder gebun-
dene Varianten das Rechtssystem sich von anderen sozialen Systemen trennt.
21
Polenz, Sprachgeschichte, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 18.
22
In diesem Sinne auch das differenziertere Verständnis eines invisible hand-Prozesses bei
Keller, Rudi, Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand der Sprache. Tübingen 1990.
23
Linke, (wie Anm. 20), S. 392.
24
Assmann, Probleme, (wie Anm. 19), S. 725.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 77
dessen zweiter Auflage von 1772 jeweils ein Abschnitt von rund 25 Seiten mit je
5 000 Wortformen.25
Diese lassen sich meines Erachtens einer einheitlichen Textsorte26 „Gesetz"
zuweisen. Dabei sei nicht verkannt, daß eine Textsorte keine .objektive' Größe ist,
sondern als Beobachtungskategorie der argumentativen Rechtfertigung bedarf.
Dies gilt zumal dann, wenn wie hier das Konzept eines Handlungsmusters auf
historische Texte angewandt wird. Die Rede von der Textsorte gilt deshalb in
erster Linie in einer plausiblen Eingrenzung des im Rahmen einer quantifizieren-
den Untersuchung Beobachtbaren, nicht aber der Herausbildung oder Rechtferti-
gung eines mit einem normativen Anpruch versehenen Musters. Festgehalten wird
weiter an der Erörterung der sogenannten sprachextemen Faktoren, die eine Veror-
tung der untersuchten Texte im Gefuge der Sprachlichkeit der frühen Neuzeit
ermöglichen. Im weiteren Vorgehen wird dann freilich der Begriff der Textsorte -
und mit ihm die Trennung zwischen sprachexternen und - internen Faktoren - dort
zu verlassen sein, wo die Sprachform des Textes auf seine Entstehungsbedingun-
gen zu reflektieren ist. Denn die „externen" Faktoren sind nur in bezug auf ein
hypostasiertes Sprachsystem der langue externe. In bezug auf den Diskurs als der
zeitspezifischen Voraussetzung für die Textkonfiguration sind sie nicht extern,
sondern konstitutiv.
Zu den textsortenkonstituierenden Faktoren zählt an erster Stelle die funktionale
Einordnung als „Gesetz". Dank der Bemühungen der Rechtsgeschichte um den
Gesetzesbegriff in der frühen Neuzeit kann dieser jedenfalls insoweit als gesichert
gelten, als bei allen Unterschieden im einzelnen diejenigen Texte als Gesetz im
technischen Sinne bezeichnet werden, die als Ergebnis autoritativer Setzung und
Darstellung von Recht in Urkundenfassung Normen allgemein formulieren und
25
Vgl. auch allgemein Gehrke, Heinrich, Bibliographie der Gesetzgebung des Privatrechts und
Prozeßrechts. Deutsches Reich, in: Coing, Helmut (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur
der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. II: Neuere Zeit (1500-1800). Das Zeit-
alter des Gemeinen Rechts. Teilbd. 2: Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976,
S. 310-418, S. 371f. (zu Köln), 374f. (zu Jülich), 385f. (zu Trier); sowie speziell Chmurzinski,
Burkhard, Die kurkölnische Rechtsreformation von 1538. Diss. jur. Köln 1988; Dirks, Maria,
Das Landrecht des Kurfiirstentums Trier. Seine Geschichte und seine Stellung in der Rechts-
geschichte. Köln 1965; Horbach, Karl-Heinz, Das Privatrecht der Reformation von Jülich-
Berg aus dem Jahr 1555. Entstehung, Vorlagen und Einwirkung auf das Recht benachbarter
Territorien. Frankfurt/M. 1981.
26
Vgl. Cherubim, Dieter, Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen Pragmatik, in: Besch,
Werner u.a. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache
und ihrer Erforschung. Bd. 1. Berlin 1984, S. 802-815; Kästner, Hans/Schmitz, Eva/ Schwi-
talla, Johannes, Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen, ebd., Bd. 2, Berlin 1985, S. 1355-
1368. Zur Diskussion vgl. die positiven Stellungnahmen zu einer Textsortengeschichte in
Gardt, (wie Anm. 20), S. 456f., sowie kritisch Ehlich, Konrad, .Textsorten': Überlegungen zur
Praxis der Kategorienbildung in der Textlinguistik, in: Mackeldey, Roger (Hg.), Textsor-
ten/Textmuster in der Sprech- und Schriftkommunikation. Leipzig 1990, S. 17-30; und Hei-
nemann, Wolfgang, Textsorten/Textmuster - ein Problemaufriß, ebd., S. 8-16.
78 Andreas Görgen
27
Zur Auseinandersetzung um den Gesetzesbegriff in der frühen Neuzeit vgl. Diestelkamp,
Bernhard, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in:
Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 385-420, insb. S. 395f„ 405ff.; Immel,
Gerhard, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozeßrechts, in: Coing, (wie Anm.
25), S. 3-96; Janssen, Wilhelm, ,... na gesetze unser lande ...'. Zur territorialen Gesetzgebung
im späten Mittelalter, in: Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 7-61; Mohnhaupt, Heinz, potestas le-
gislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Jus Commune 4 (1972), S. 188-239,
insb. S. 191; Schulze, Reiner, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in:
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 98 (1981), S. 157, 165ff.;
ders., Reformation (Rechtsquelle), in: Erler, Adalbert u.a. (Hg.), Handwörterbuch zur Deut-
schen Rechtsgeschichte. Berlin 197Iff., Bd. 4, S. 468, 470; Stolleis, Michael, Condere leges et
interpretan, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 101 (1984),
S. 89-116, insb. S. 112; Willoweit, Dietmar, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom
Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Behrends, Okko u.a. (Hg.), Zum rö-
mischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff. Göttingen 1987, S. 123-146.
28
Zu Periodisierungsvorschlägen des usus modernus vgl. Luig, Klaus, Samuel Stryk (1640-
1710) und der ,Usus modernus pandectarum', in: Stolleis, Michael u.a. (Hg.): Die Bedeutung
der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift Sten Gagnér. München
1991, S. 219-247, insb. S. 220f.
29
Vgl. Immel, (wie Anm. 27), S. 5; zur Metapher der Rechtsquelle Luhmann, (wie Anm. 12),
S. 523f.
30
Vgl. Bühler, Theodor, Rechtsquellentypen. Zürich 1980, S. 56-59; Immel, (wie Anm. 27),
S. 72.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 79
Professor an der Kölner Universität. Diese Kölner Reformation ist zusammen mit
der Trierer Untergerichtsordnung zugleich teilweise Vorbild für die Klever Refor-
mation von 1555. Die Landrechte des 17. Jahrhunderts sind wiederum in Kenntnis
und Auseinandersetzung mit den Gesetzen des vorangegangenen Jahrhunderts
entstanden, wobei für das Trierer Landrecht von 1668 die örtlichen Professoren
Johannes Holler und Matthias Franziskus von Troja als Verfasser namhaft gemacht
worden sind.31 Sind die Verfasser der oberen sozialen Schicht der Gelehrten zuzu-
ordnen, fragt es sich, ob gleiches für die Adressaten gilt. Genannt sind neben „al-
len vnd jeden vnseren vnd vnseres Ertzstiffts Cöln vnderthanen"32 vor allem die in
der mittelalterlichen Schöffentradition stehenden und bis weit in die Neuzeit aus
dieser Tradition heraus, nicht nach dem Gesetz urteilenden ungelehrten Richter,33
die „arme eynfeltige vnuerständige vrtheylsprecher".34 Jedoch ist aus dieser Adres-
sierung keine schreibsoziologische Nivellierung abzuleiten. Die Texte sind nach
dem hier nicht abzuhandelnden Lautstand, ihren syntaktischen und morphologi-
schen Eigenheiten am oberen Rand des Spektrums anzusiedeln.
Friedrich Ebel hat zudem aus der Adressierung der Vorreden geschlossen, es sei
ein typischer Zug der Rezeptionsgesetze, daß sie sich mit pädagogischem Impetus
in erster Linie an die Gerichtspersonen und die Parteien richten, welche außer der
praktischen Erfahrung keine weiteren Kenntnisse hatten und in ihnen jedenfalls
zum Teil unbekanntes Prozeß- und materielles Recht eingeführt werden mußten.35
Auch wenn die Frage des Durchsetzungsgrades und damit der empirischen Über-
prüfung dieser These hier nicht behandelt werden soll,36 so spricht doch die Adres-
sierung allein mit einer gewissen Evidenz dafür, daß die bis heute nicht bewältigte
Aufgabe, Gesetze einerseits für Ungelehrte, andererseits für Fachleute verständlich
zu schreiben,37 gerade keine neue Erscheinung aufklärerischen und rechtsstaatli-
chen Denkens ist.38 In einer anders strukturierten Gesellschaft gehört die Verständ-
31
Vgl. zu Köln Chmurzinski, (wie Anm. 25), S. 56ff., 199; zu Trier Dirks, (wie Anm. 25), S. 43;
zu Jülich-Kleve-Berg Horbach, (wie Anm. 25), S. 33-36, dort auch zu den Übernahmen und
Abhängigkeiten der rechtlichen Regelungen.
32
Z.B. Köln 1538, Vorrede, Zeile 9f.; bis auf die örtliche Bezeichnung wortgleich in den Vorre-
den Trier 1537 und Jülich-Kleve-Berg 1555, ähnlich in den Texten des 17. Jahrhunderts.
33
Vgl. Willoweit, (wie Anm. 27), S. 130ff., 143.
34
Trier 1537, Folio XII v, Zeile 28f.; ähnlich XIX v, Zeile 16; XXXI r, Zeile 14, die Aufzählung
der einzelnen Gerichtspersonen findet sich in den jeweiligen Vorreden.
35
Ebel, Friedrich, Über Legaldeflnitionen. Berlin 1974, S. 61-72.
36
Vgl. Diestelkamp, Bernhard, Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jahr-
hundert - aufgezeigt am Beispiel der oberhessischen Erbgewohnheiten von 1572, in: Rechts-
historische Studien. Festschrift Hans Thieme. Köln/Wien 1977, S. Iff., 14ff.; Wend, Hagen,
Die Anwendung des Trierer Landrechts von 1668 / 1713 im rechtsrheinischen Teil des Kur-
staates und in benachbarten Gebieten. Diss. jur. Frankfurt/M. 1978.
37
Vgl. ausführlich Brandt, Wolfgang, Müssen Gesetze schwer verständlich sein? Einwände eines
Linguisten gegen Schutzbehauptungen der Juristen, in: Eckert, Jörn, u.a. (Hg.), Sprache -
Recht-Geschichte. Heidelberg 1991, S. 339-360, insb. S. 341 f.
38
So etwa Hoffmann, Gesetz, (wie Anm. 12), S. 526; Jeand'Heur, Bernd, Die neuere Fachspra-
che der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berück-
80 Andreas Görgen
C. Einzelbeobachtungen
1. Quantitativer Befund
Hierzu seien zunächst Künßbergs .fremde Brocken' gesammelt und sodann näher
angesehen. Die übliche Betzsche Terminologie von Lehnwort und Fremdwort wird
zu diesem Zweck ein wenig verändert. Ohne hier auf die Diskussion um den Be-
griff des Fremdwortes eingehen zu können, darf doch zumindest so viel als gesi-
chert gelten, daß die Frage der Fremdheit eines Wortes nicht in erster Linie eine
solche der Etymologie, sondern der Soziologie ist.47 Schon aus diesem Grund muß
also eine fur die Untersuchungszeit synchrone Beurteilung versucht werden, will
man zu Aussagen über die Kommunikation in der Zeit kommen. Auf die Notwen-
digkeit einer synchronen Einteilung weist noch ein zusätzliches Phänomen: Die
Rede vom Lehnwort versus Fremdwort argumentiert in erster Linie auf der Signifi-
kanten-Seite. Dies hilft aber nicht unbedingt weiter. So finden sich in den unter-
suchten Texten im 16. Jahrhundert in Flexion, Phonetik und Druck assimilierte
5), S. 20; Hoffmann, Gesetz, (wie Anm. 12), S. 527; Merk, Walter, Wege und Ziele einer ge-
schichtlichen Rechtsgeographie. Berlin 1926, S. 27.
42
Von Polenz, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 216; Bd. 2, S. 51fF.
43
Koschacker, Paul, Europa und das römische Recht. München 1966, S. 148.
44
Stammler, Wolfgang, Popularjurisprudenz und Sprachgeschichte im 15. Jahrhundert, in: ders.,
Kleine Schriften zur Sprachgeschichte. Berlin 1954, S. 18.
45
Bader, Karl Siegfried, Deutsches Recht, in: Stammler, Wolfgang (Hg.), Deutsche Philologie
im Aufriß. Bd. 3/2. Berlin 1969, S. 2018; weitere Nachweise aus der rechtshistorischen Litera-
tur finden sich bei Rückert, Joachim, Die Rechtswerte der germanistischen Rechtsgeschichte
im Wandel der Forschung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte, Germ.
Abt. 111 (1994), S. 275-309, hier S. 306.
46
Weinrich, Harald, Fremdsprachen als fremde Sprachen, in: ders., Wege der Sprachkultur.
Stuttgart 1985, S. 215.
47
Ebd.
82 Andreas Görgen
pestamente', während im 17. Jahrhundert als Drucktyp die für Fremdwörter übli-
che Antiqua48 gegenüber der sonstigen Schwabacher gewählt und die flexivische
Assimilation rückgängig gemacht wird, so daß die Pluralform des Testaments wie-
der gut lateinisch .testamenta' lautet. Ebenso wird die übersetzende Dublette
Bittbriue/zu Latein Literae compassus genannt zum Compassbrieff, wobei auch
diese hybride Bildung nicht verständlicher sein dürfte als die Dublette, aber nach
der Betzschen Einteilung als Lehnformung eine stärkere Integration aufweist.
Benötigt wird also auch wegen der keineswegs stringenten Abläufe innerhalb des
Zeitraumes eine für diesen synchrone Einteilung, die sich von der einseitigen Be-
tonung der Signifikanten-Seite von Fremdwort/Lehnwort löst. Um diesem Ziel
näher zu kommen, wird im folgenden eine Unterteilung vorgeschlagen, die dem
signifié Beachtung schenkt und auch für die Frage der sozialen, der diastratischen,
Abgrenzung aufschlußreich ist.
Als Fremdwörter im hiesigen Sinne werden daher alle Wörter gezählt, die zu-
mindest in den späteren Texten im Druckbild durch eine Antiqua-Type abgehoben
sind. Neben diesem typographischen Kriterium steht ein synchron-textuelles: Es
wird weiterhin jedes Lexem gezählt, das in einer Synonymkopplung mit einem
deutschen Lexem verbunden ist. Sei es als Doppelform, wie ,condemniert vnd ver-
wiesen', 49 sei es als Sprachwechselform, wie ,beuestigung des Kriegs Rechtens/zu
latin Litis contestatio genant'. 50 Überprüft wurde dieses Ergebnis anhand von
Fremdwörterbüchern unter der Frage, ob das nicht-indigene Basismorphem für den
fraglichen Zeitraum als fremd nachgewiesen ist. ,Erste Adresse' für eine solche
Überprüfung ist immer das erste deutsche Fremdwörterbuch überhaupt, der Teut-
sche Dictionarius von Simon Roth aus dem Jahr 1571," sodann die einschlägigen
Wörterbücher.52
Auf diese Weise lassen sich rund 300 verschiedene Lexeme mit einer Frequenz
zwischen 90 und 500 in den verschiedenen Texten nachweisen. In Prozent am Ge-
samtumfang der Texte ausgedrückt ergeben sich folgende Verhältnisse: Trier 1537:
1,1%, 478 Buchungen; Köln 1538: 0,8%, 332 Buchungen; Jülich-Kleve-Berg
1555: 1,2%, 392 Buchungen; Köln 1663: 0,8%, 90 Buchungen; Trier 1668: 4,3%,
48
Vgl. Munske, Horst Haider, Eurolatein im Deutschen: Überlegungen und Beobachtungen, in:
Munske, Horst Haider/Kirkness, Alan (Hg.), Eurolatein. Das griechische und lateinische Erbe
in den europäischen Sprachen. Tübingen 1996, S. 85.
49
Köln 1538, Folio XXXV v, Zeile 5.
50
Jülich-Kleve-Berg 1555, Folio XVIII, Zeile 30.
51
Roth, Simon, Ein Teutscher Dictionarius, Augsburg 1571, abgedr. in: Mémoires de la société
néophilologique des Helsingfors 11 (1936), S. 225ff.
52
Vor allem Schultz, Hans/Basler, Otto, Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin 1913ff.; und
Duden: Fremdwörterbuch. Mannheim 1982; aber auch Kluge, Friedrich, Etymologisches
Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin 1995.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 83
53
Die Trierer Texte 1713 und 1772 sind zusammengefaßt, da in der verbesserten Auflage 1772
keine den Fremdwortschatz betreffenden Änderungen vorgenommen sind.
54
Brandt, Wolfgang, Lexikalische Tendenzen in der Gesetzessprache des 18. bis 20. Jahrhun-
derts. Dargestellt am Scheidungsrecht, in: Munske, Horst Haider (Hg.), Deutscher Wortschatz.
Lexikologische Studien. Berlin 1988, S. 119-150, insb. S. 122.
55
Vgl. Gehrke, (wie Anm. 25), S. 385; Dirks, (wie Anm. 25), S. 43.
56
Gehrke, (wie Anm. 25), S. 371.
84 Andreas Görgen
zwischen den Gesetzen mag ein Beispiel aus dem in den untersuchten Texten
geregelten Bereich der Zwangsvollstreckung veranschaulichen:
Vnd erstlich/so vollenstreckung der vrtheyl begert wirdt/soll der widdertheyll dazu citiert vnd
gefordert werden/vnd jme eyn nemlich termyn ement werden. Were sach das widder die vol-
lenstreckung kein vrsach filrbracht/adir eyniche fllrbracht vnd doch nit erheblich adir recht-
messig/soll zu vollenstreckung der vrtheyl alßbalde vnnd vnuerzüglich procediert und gehan-
delt werden. In persönlichen klagen soll weiter diese bescheidenheit gehalten werden/das solch
gUtter/so dem beklagten am wenigsten schaden bringen/vnd doch dem kleger zuuolziehung der
vrtheil genugsam sein/genommen werden. 57
Es sei also eine Klassifikation vorgenommen, die den Aspekt der Zugehörigkeit zu
einem bestimmten Bereich des Wortschatzes in den Blick nimmt. Es bietet sich an,
auf die im Deutschen Rechtswörterbuch für indigene Lexeme erprobte Einteilung
zurückzugreifen. Diese unterscheidet zwischen Rechtswörtern im engeren Sinn als
solchen, „die ohne rechtliche Beziehung überhaupt nicht denkbar sind, wie Vor-
mund, Richter", Rechtswörtern im weiteren Sinn, die „wie Klage und geloben eine
an sich außerrechtliche Erscheinung der Realität rechtlich werten", und Nicht-
rechtswörtern, die „wie Hund, Kessel und Korn fur sich genommen keine rechtlich
relevante Bedeutung haben".59 Diese Unterteilung wird im folgenden - wiederum
als synchrone - übertragen auf den Fremdwortschatz. Als Referenz dienen in erster
Linie Hinweise im Text, sodann Roth60 und, wo dieser wie bei einigen Belegen aus
den Texten des 17. Jahrhunderts unergiebig blieb, Oberländers Juristisches Hand-
Lexicon von 1723.61
An Beispielen erläutert: Wo Roth oder Oberländer allein eine rechtliche Bedeu-
tung angeben und sich aus den untersuchten Texten nichts anderes ergibt, wurde
der entsprechende Beleg als Rechtswort im engeren Sinne angesehen, so etwa bei:
57
Köln 1538, Folio XVII v-XVIII r.
58
Trier 1668, S. 68.
59
Künßberg, Eberhard von, Zur Einführung, in: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der
älteren deutschen Rechtssprache, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd.
1. Weimar 1914, S. IX; vgl. auch Köbler, Gerhard, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsge-
schichte, in: Besch, (wie Anm. 26), S. 56-70, insb. S. 57; Schmidt-Wiegand, Ruth, Rechts-
sprachgeographie als Sonderfall historischer Wortgeographie, in: Feldbusch, Elisabeth (Hg.),
Festschrift L. E. Schmitt. Hildesheim 1989, S. 39-95, Zitat S. 42.
60
Roth, (wie Anm. 51).
61
Oberländer, Samuel, Lexikon iuridicum romano-teutonicum, das ist: Vollständiges Lateinisch-
teutsches juristisches Hand-Lexicon. Nürnberg 1723.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 85
,acten: gerichts Prozeß und Handlung'. 62 Als Rechtswort im weiteren Sinne ge-
bucht wurden entsprechend Belege, bei denen Roth neben einer allgemeinen noch
eine rechtliche Bedeutung angibt wie: .appelieren: nennen/in Rechten/ein ander
Richter anruffen und begern'. 63 Als Beispiel für ein Nichtrechtswort schließlich:
,mated: zeug/daraus man etwas machen kann'. 64 Nach der hier vorgeschlagenen
Klassifizierung verteilen sich die lateinischen Lexeme wie folgt:
Prozent
70
60 - H
^
ilibJiJ#
^
/
#
&
#
^
/
/
J>
in absoluten Zahlen
Trier 1537: 155, Köln 1538: 75, Kleve-Jülich-Berg 1555: 118, Köln 1663:41, Trier 1668:210, Kleve-
Jülich-Berg 1696:133, Trier 1713/1772:98
Die Auszählung belegt zunächst einen großen Unterschied zwischen den Texten
des 16. und des 17. Jahrhunderts, wobei die Kölner Gesetze mit ihrem signifikant
geringen Anteil an Nichtrechtswörtern auch hier eine Sonderrolle spielen. Im 16.
Jahrhundert entfällt in allen Texten auf den Bereich der Rechtswörter der prozen-
tual größte Anteil, nämlich rund 40% Rechtswörter im engeren Sinn. Zählt man
noch die Rechtswörter im weiteren Sinn zu dem fachlich gebundenen Wortschatz,
dann entfallen sogar zwischen 70% und 80% auf diesen.
Im 17. Jahrhundert kann von dieser fachlichen Bindung bis auf das Kölner
Landrecht von 1663 keine Rede mehr sein. Nur dort stellen die Rechtswörter im
engeren Sinn noch die größte der drei Gruppen und binden zusammen mit den
Rechtswörtern im weiteren Sinn noch rund 75% der Transferenzen. Allerdings
62
Roth, (wie Anm. 51), S. 288; diese Übersetzung findet sich auch in den untersuchten Texten.
63
Roth, (wie Anm. 51 ), S. 290.
64
Roth, (wie Anm. 51), S. 328. Zu weiteren Beispielen vgl. Verfasser, Rechtsgrenzen, (wie
Anm. 16), S . 4 1 4 f .
86 Andreas Görgen
baut eben auch der Kölner Text den fachlich gebundenen Wortschatz um rund
10% ab, bleibt aber insgesamt bei einer Verteilung, die mit einem Anteil von rund
Vi Nichtrechtswörtern erst im 17. Jahrhundert annähernd den Stand erreicht, den
Trier und Jülich schon im 16. Jahrhundert erreicht hatten. Im Trierer Landrecht
von 1668 und in der Überarbeitung 1713/72 stellen die Rechtswörter im engeren
Sinne mit nur 23% respektive 20% dagegen die kleinste der drei Gruppen. Die
innere Gewichtung ist umgekehrt zu der des vorangegangenen Jahrhunderts. Auch
die Überarbeitung Jülich-Kleve-Berg 1696 verzeichnet einen Rückgang um 5% auf
34%. Im Gegenzug werden die Nichtrechtswörter erheblich ausgebaut. Auf sie
entfallen im Jülicher Text 1696 38%, im Trierer 1668 51% und im Trierer
1713/1772 schließlich 60%.
Die Gesetze aus Trier und Jülich sind damit auch bei der internen Verteilung
des Fremdwortschatzes deutlich „moderner" als die Kölner Gesetze. Diesen Ein-
druck einer latinisierten Varietät verstärkt die Verwendungshäufigkeit der Wort-
gruppen. Während Rechtswörter, wie angesichts des erhöhten Konzeptualisie-
rungsaufwandes der Rechtssprache als fachlicher gebundener Sprache zu erwarten,
relativ häufig, im Schnitt zwischen drei- und viermal pro Text verwandt werden,
sind die Nichtrechtswörter in den späteren Texten im Schnitt nur noch halb so oft,
nämlich l,5mal, verwandt. Es ist also nicht die Frage der Terminierung, die zu
einem Ausbau der lateinischen Transferenzen innerhalb der deutschen Sprache
fuhrt, denn die fremdsprachigen Lexeme der Gemeinsprache, die Nichtrechtswör-
ter, tragen erstens in den Gesetzen den Ausbau der Transferenzen, und zweitens ist
gerade bei diesen keine verständlichkeitsfördernde Redundanz zu beobachten.
Noch weiter erhärtet wird diese Exklusivitätsthese, wenn man den Anteil der
Übersetzungshilfen beobachtet. Neben den zweisprachigen Doppelformen wie
,exception/außzüge adir inrede' 65 spielen hier vor allem in den frühen Texten
Sprachwechselformen eine Rolle, in denen der lateinische Begriff als Terminus
eingeführt wird.66 Zum Beispiel beim ,außzug wider den Gerichtszwang/zu latein
genant exceptio incompetentis Iudicis' 67 oder mit der Wendung „das ist", die sich
heute wieder bei Verständlichkeitsvorschlägen neuer Beliebtheit erfreut,68 wie ,Pro
instrumentis publicis/das ist/vor öffentlicher bewerte schrifft'. 69 Vor dem Hinter-
65
Köln 1538, Folio VIII v, Zeile 12.
66
Döring, Brigitte/Eichler, Birgit, Zur sprachlichen Gestaltung von Fachtexten des 16. Jahrhun-
derts, in: Schellenberg, Wilhelm (Hg.), Untersuchungen zur Strategie ausgewählter Fach-
textsorten aus Gegenwart und Neuzeit. Toestedt 1994, S. 15, bezeichnen diese Sprachwechsel-
formen aufgrund ihrer Untersuchung der Goblerschen Institutionenübersetzung als „typisch"
für Rechtstexte.
67
Jülich-Kleve-Berg 1555, Folio LUI, Zeile 22.
68
Vgl. Fluck, Hans Rüdiger, Didaktik der Fachsprachen. Tübingen 1992, S. 84.
69
Trier 1537, Folio XXXI v, Zeile 10; diese ausfuhrlichen Formen des Sprachwechsels finden
zumeist Anwendung bei Rechtswörtern im engeren Sinne, ohne daß freilich eine Unterschei-
dung von zweigliedrigem synonymischem Ausdruck als stil- und erläuternder Sprachwechsel-
form als fremdheitsbedingt möglich ist, wie Matzinger-Pfister, Regula, Paarformel, Synony-
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 87
3. Zusammenfassung
Zusammengefaßt unter dem Leitgesichtspunkt der „aufklärerischen Tendenz" darf
in bezug auf den Fremdwortgebrauch wohl behauptet werden, daß erstens die
Linie, die als aufklärerische Vermittlungstätigkeit berühmt werden wird, schon im
16. Jahrhundert als Bemühen um Verständlichkeit fur die ungelehrten Urteilspre-
cher vorhanden ist. Mit dem Unterschied freilich, daß sich noch keine ausdiffe-
renzierte andere Sprachform herausgebildet hat, die es zu vermitteln gelten könnte.
Diese Linie scheint im 17. Jahrhundert abgebrochen und in der Aufklärung unter
veränderten Vorzeichen wieder aufgenommen worden zu sein. Zweitens ist es
gerade nicht die terminologische Schwäche der deutschen Sprache, die ein höheres
Maß an Latein nötig macht. Als Tendenz hin zur Aufklärung ist hier eher zu beob-
achten, daß sich erst im 17. Jahrhundert eine latinisierte Sprachform herausbildet,
gegen die sich dann das 18. Jahrhundert wieder abheben kann. Drittens ist der
Ausbau des Fremdwortschatzes keine von „Sachzwängen" wie Eindeutigkeit dik-
tierte Erscheinung. Im Gegenteil zeigt die Gesetzessprache des 16. Jahrhunderts,
72
Reichmann, Sprache ohne Leitvarietät, (wie Anm. 14), S. 154.
73
Vgl. etwa die exemplarische Untersuchung des universitären Bereiches von Schiewe, Jürgen,
Kontinuität und Wandel des akademischen wissenschaftlichen Wortschatzes im Übergang der
Universitäten vom Lateinischen zum Deutschen, in: Munske, Eurolatein, (wie Anm. 48),
S. 47ff.
74
Ickelsamer, Valentin, Teutsche Grammatica [1527/37]. Neudruck Freiburg 1881, S. 34.
75
Vgl. Schiewe, (wie Anm. 73), S. 61 mit Verweis auf Thomasius' Kritik.
76
Vgl. Kupisch, Bertold, Zur Wirkungsgeschichte der Institutionen, in: Behrends, Okko u.a.
(Hg. u. Übers.), Corpus iuris civilis. Bd. I: Institutionen, Text und Übersetzung. Heidelberg
1990, S. 282.
77
So aber von Polenz, (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 52, 282f.; Hattenhauer, (wie Anm. 5), S. 24.
78
Vgl. Pörksen, Uwe, Der Übergang vom Gelehrtenlatein zur deutschen Wissenschaftssprache,
in: Literatur und Linguistik 13 (1983), Heft 51/52, S. 246f.
79
Vgl. Erler, Adalbert, Thomas Murner als Jurist. Frankftirt/M. 1956, S. 36ff., ihm folgend
Burmeister, Karl Heinz, Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen
Rechtsbereich. Wiesbaden 1974, S. 186; Kisch, Guido, Die Anfänge der Juristischen Fakultät
der Universität Basel 1459-1529. Basel 1962, S. 89f.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 89
vor den Augen des Zuhörers einen Nebelschleier und verdunkelndes Blendwerk
auszubreiten".80 Wie anders klingt dagegen das .aufklärerische' Wort Christian
Wolffs, daß er die deutsche Sprache deshalb gewählt habe, weil „es nicht zu leug-
nen ist, daß heute zu Tage viele auf die Universiteten kommen, welche in der la-
teinischen Sprache es nicht so weit gebracht, daß sie den lateinischen Vortrag
verstehen können"81 - das Bedauern um den Bildungsverfall und die den eigenen
Status betonende Vermittlungsaufgabe scheinen typisch aufklärerisch.
Die angesprochene Treue zum Latein läßt sich meines Erachtens eher als Teil
der gelehrthumanistischen Rückwärtsorientierung mit ihrer Loyalität gegenüber
dem Latein ausmachen. Sie macht aus dessen Beherrschung „a symbol and a
cause"82 für die Gruppenidentität der Gelehrten und spricht der deutschen Sprache
ihre Tauglichkeit ab. So nimmt es nicht wunder, daß vor allem die Gelehrten, die
gerade auch bei den Juristen die Pflege der lateinischen Sprache zum Programm
erhoben hatten, den Übersetzungsbemühungen ablehnend gegenüberstehen.83
80
Zitiert nach Kisch, (wie Anm. 79), S. 88; vgl. auch Erler, Murner, (wie Anm. 79), S. 42ff.
81
Wolff, Christian, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriffien, die er in deutscher
Sprache heraus gegeben. Nachdruck der zweiten Auflage Frankfurt/M. 1733. Gesammelte
Werke, hg. v. Jean Ecole u.a. 1. Abtlg. Bd. 9, hg. v. Hans Wemer Arndt. Hildesheim 1973,
§ 15, S. 24ff.
82
Weinreich, Uriel, Languages in contact. New York 1953, S. 99.
83
Vgl. ausführlich Burmeister, (wie Anm. 79), S. 255ff.; Verf., Rechtsgrenzen, (wie Anm. 16),
S. 409f.
84
Vgl. ausführlich Reichmann, Sprachbegriff, (wie Anm. 8), S. 20f.
90 Andreas Görgen
für das Hochdeutsche" ist.85 Zeitversetzt zeigt sich eine zweite Tendenz. Über die
Entbindung der Sprache aus ihrem funktionalen Zusammenhang der überregiona-
len Verständlichkeit erwächst die Möglichkeit, Merkmale zu entwickeln, die nicht
nur - in der Sprache der Registertheorie gesprochen - das „field of discourse",
sondern vor allem den „style of discourse" betreffen. 86 Diese These sei im folgen-
den vorgestellt. Nicht weiter eingegangen wird dabei sowohl auf phraseologische
Aspekte der Doppelformen als auch auf die Frage nach germanischen Relikten, die
zum Teil bis heute in der rechtshistorischen Literatur ihren Platz in der Diskussion
um Paarformeln behauptet.87
Das gröbste Raster bildet die Unterscheidung zwischen intersprachlichen, das
heißt aus einem deutschen und einem fremden (in meinen Texten bis auf wenige
Ausnahmen lateinischen) Lexem bestehenden Formen und intrasprachlichen, das
heißt aus zwei deutschen Lexemen bestehenden Formen. Innerhalb dieser ist dann
nochmals zwischen Synonymkopplungen und anderen Formen unterschieden.
Letztere bestehen aus den typisch rechtssprachlichen „Kontrast-" und „Pertinenz-
formeln",88 dabei reihen jene Lexeme antithetisch aneinander, während diese den
Referenten durch Aneinanderreihung „als Frühform der Definition" erweitern, vor
allem indem sie abstrakte Sachverhalte durch die Nennung von Konkreta er- und
umfassen.89 Zum Beispiel ,Haus und Hof, 9 0 oder ,Haab vnd Güter' für den gesam-
ten Besitz.91 Bei den intrasprachlichen Synonymkopplungen werden schließlich
solche unterschieden, in denen das (zumeist) zweite Lexem das erste im Sinne ei-
ner Terminierung verengt wie bei ,Leibzucht oder nießliche Gerechtigkeit',92 .Te-
stamente machen vnd auffrichten', 93 solchen, bei denen eine landschaftssprach-
liche Bildung nachweisbar ist,94 wie ,Stiefftochter vnd Schnürich',95 ,Komber vnd
85
So bezogen auf Köln Beckers, Hartmut, Die Zurückdrängung des Ripuarischen, Niederdeut-
schen und Niederländischen durch das Hochdeutsche im Kölner Buchdruck nach 1500, in:
Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 112 (1989), S. 43-72, hier S. 44.
86
Vgl. den Überblick von Hess-Lüttich, Ernest W. B., Fachsprachen als Register, in: Hoffmann,
Fachsprachen, (wie Anm. 12), S. 208-218.
87
Vgl. zu einer Auseinandersetzung Verf., Rechtsgrenzen, (wie Anm. 16), S. 401 f.
88
Zur Terminologie vgl. Matzinger-Pfister, (wie Anm. 69), S. 45, 82; Schmidt-Wiegand, Ruth,
Paarformel, in: Erler, HRG, (wie Anm. 27), Bd. 3, Sp. 1387ff.
89
Vgl. Schmidt-Wiegand, ebd., Sp. 1391.
90
Trier 1537, Folio XXVI r, Zeile 2; Köln 1538, Folio VII r, Zeile 29.
91
Trier 1537, Folio XLVI r, Zeile 24; Köln 1538, Folio II r, Zeile 39; vgl. auch Matzinger-Pfi-
ster, (wie Anm. 69), S. 45.
92
Trier 1668, S. 39, Zeile 4.
93
Köln 1538, Folio XIII v, Zeile 23.
94
Zur Kontrolle wurden Anderson, Robert R. u.a., Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Ber-
lin/New York 1989ff.; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, hg. v. der
Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Nachdruck München 1984 sowie das
Deutsche Rechtswörterbuch, (wie Anm. 59), herangezogen.
95
Trier 1537, Folio XXVIII v, Zeile 8; ,Schnürich' ist im 16. Jahrhundert nur im westmittel-
deutschen Raum belegt, vgl. de Smet, Gilbert A. R., Die frühneuhochdeutsche Lexikographie:
Möglichkeiten und Grenzen ihrer Interpretation, in: Hildebrand, Reiner u.a. (Hg.), Brüder-
Grimm-Symposion zur historischen Wortforschung. Berlin 1986, S. 58-80, insb. S. 73.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 91
Arrest',96 .gereidt vnd beweglich gut', 97 und schließlich solchen, bei denen eine
funktionale Erklärung scheitert und die als Verstärkungsformen nur rhetorisch be-
dingt scheinen wie ,globen vnd schweren' 98 und ,satz= vnd Verordnung'.99 Auch
wenn die vorgeschlagene Aufschlüsselung von Synonymie wegen ihrer interpreta-
torischen Freiheiten durchaus nicht unproblematisch ist, soll auf sie nicht verzich-
tet werden. Denn in der Erforschung von Wissenschaftssprache wird mittlerweile
die These vertreten, daß nur die explizit indizierte Synonymie die Verständlichkeit
im Sinne einer Erklärung und/oder eines Lernerfolges erleichtert, während nicht
explizit indizierte das Gegenteil bewirken soll.100 Indem die vorgeschlagene Tren-
nung die Frage der „indizierten" Synonymität mit den Begriffen der regionalen
Ausgleichsform und der Terminierungsform feiner zu erfassen glaubt, gewinnt sie
aus dem zitierten Forschungsergebnis einen wichtigen Anhaltspunkt für eine den
erwähnten funktionalen Bindungen entgegenlaufende Tendenz.
Prozent
in absoluten Zahlen
Trier 1537: 340, Köln 1538: 250, Kleve-Jülich-Berg 1555: 100, Köln 1663: 130, Trier 1668: 210,
Kleve-Jülich-Berg 1696: 100
96
Köln 1538, Folio VIII r, Zeile 18; vgl. Deutsches Wörterbuch, (wie Anm. 94), Bd. 11,
Sp. 2 5 9 4 - 2 5 9 6 .
97
Köln 1663, S. 3, Zeile 4; Trier 1668, S. 31, Zeile 8; vgl. Deutsches Wörterbuch, (wie Anm.
94), Bd. 5, Sp. 3564.
98
Köln 1538, Folio Ir, Zeile 33.
99
Köln 1663, S. 11, Zeile 23.
100
Thurmair, (wie Anm. 70), S. 259, 262.
92 Andreas Görgen
Die Grafik sei vor dem oben geschilderten Hintergrund funktionaler Bindung
interpretiert. Auf den ersten Blick fallt die Zunahme der rhetorisch bedingten Ver-
stärkungsformen auf. Während sie im 16. Jahrhundert durchgängig unter einem
Drittel aller verwandten Doppelformen lagen, entfällt auf sie im 17. Jahrhundert
jeweils mehr als die Hälfte aller Doppelformen. Dies läßt sich meines Erachtens
durchaus als Beleg fur eine entbundene Sprachform lesen und erklärt zu einem
Teil den Eindruck, es mit einer barocken, schnörkelhaften Sprachform zu tun zu
haben - gegen die sich ja dann auch der Aufklärungsimpetus richten wird.
Verstärkt wird der Eindruck einer funktional entbundenen Sprachform durch
den Rückgang der deutsch-lateinischen Formen von rund 20% auf rund 15% und
der Ausgleichsformen von maximal 15% auf minimal 3%. Beide dienen der Ver-
ständigung innerhalb eines Sprachraums: die übersetzenden Doppelformen in
erster Linie der vertikalen innerhalb des Bereichs der rechtlichen Fachsprache.
Denn diese ist, wie erwähnt, vor allem in ihrem theoriesprachlichen Bereich, zu
dem eben auch Gesetzestexte zählen,101 in hohem Maße durch das Konkurrenzver-
hältnis Deutsch-Latein geprägt. Dagegen sind die binnensprachlichen Ausgleichs-
formen in erster Linie auf die horizontale Verständlichkeit bezogen. Wie die be-
kannten Glossare dienen sie der Vermittlung zwischen den landschaftssprachlichen
Varietäten in den verschiedenen Sprachlandschaften der leitvarietätlosen deutschen
Sprache. Freilich ist diese horizontale/vertikale Trennung nicht als ausschließlich
zu verstehen. Denn auch von einem deutschsprachigen Sprecher kann eine überre-
gional gültige Variante im Wortschatz eine höhere Kompetenz verlangen, die
dieser erst durch ein höheres Maß an „Weitläufigkeit" zu erwerben hat.
Auffällig ist weiterhin der Abbau der Terminierungsformen von maximal 15%
auf minimal 2%. Denn auch er weist innerhalb der Institution des Rechts auf eine
zunehmende Benennungssicherheit hin. Es scheint so zu sein, daß die Fixierung
der Bedeutung eines bestimmten Begriffes bereits im 16. Jahrhundert beginnt und
so die Basis für die in der Aufklärung geforderte darstellungsfunktionale Eindeu-
tigkeit von Begriffen gelegt wird. Dabei sei nicht verschwiegen, daß das Konzept
der Terminierungsform nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein scheint. Es könnte
nämlich zum einen sein, daß es sich jedenfalls zum Teil bei den hier als Terminie-
rungsformen gebuchten Doppelformen um diatopische Ausgleichsformen handelt.
Beide Kategorien schließen sich theoretisch keineswegs aus. Die Klassifizierung
basiert insoweit allein auf den Angaben der einschlägigen Wörterbücher zur dia-
topischen Verteilung. Ohne eine regional weiter gezogene Forschung, die an dieser
Stelle nicht geleistet werden kann, muß es daher bei der hier vorgestellten These
bleiben. Ähnliches gilt für die Definitionsgruppe der Pertinenz-/Kontrastformen.
Von Interesse wäre hier ebenfalls, den Gründen für eine eventuelle Auslagerung
des Semantisierungsprozesses auf andere Institutionen des wissenschaftlichen
101
Jeand'Heur, (wie Anm. 38), S. 1293.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 93
102
Heller, (wie Anm. 5), S. 20.
103
Deutliche Spuren weist beispielsweise das Jülicher Landrecht von 1537 auf, abgedruckt in:
Archivfiir die Geschichte des Niederrheins 53 (1831), S. 11 Iff., das als „offizielle Aufzeich-
nung des alten Gewohnheitsrechts ohne römisch-rechtliche Einflüsse", Gehrke, (wie Anm. 25),
S. 374, mangels Vergleichbarkeit mit den vorliegenden Rezeptionsgesetzen nicht mit herange-
zogen wurde.
104
Zum Zusammenhang von Lexikalisierung und Demotivierung vgl. auch Bellman, Günter,
Motivation und Kommunikation, in: Munske, Wortschatz, (Anm. 54), S. 3-21, insb. S. 8.
94 Andreas Görgen
ten deutet die adjektivische Ergänzung als .ligende gütter' und ,farende habe' 105
auf eine schwindende Benennungssicherheit hin. ,Gut' verliert immer mehr seine
Konnotation .liegend' und ,Habe' die seine .fahrend'. ,Gut' muß deshalb an den
Stellen, wo die Unterscheidung zwischen .Mobilie' und .Immobilie' wichtig ist,
mit .liegend', beziehungsweise .unbeweglich', und ,fahrend', beziehungsweise be-
weglich', verbunden werden, geht also eine neue feste Verbindung ein. ,Habe'
wird durch den fortschreitenden Bedeutungsverlust terminologisch unbrauchbar
und deshalb ersetzt durch die ursprünglich auf den südostoberdeutschen Raum be-
schränkte .Fahrnis',106 die die weiterverbreitete .Habe' schließlich verdrängt und
die in der Rechtssprache bis heute weiterbesteht.
In den Texten des 17. Jahrhunderts besteht dann zwar die Paarformel als solche
noch, erfüllt aber ihre terminologische Funktion nicht mehr und taucht als .ligende
Haab vnd Güter" 07 auf. Gleichzeitig dringen unterstützt von dieser Demotivierung
der Einzelglieder im Trierer Landrecht die lateinischen Termini ,Mobilia/e'108 und
.Immobilie' 109 leichter vor, so daß im 17. Jahrhundert schon der heutige, etwas
verwirrende und dem Gebot der Eindeutigkeit widersprechende Stand der juristi-
schen Terminologie erreicht ist, die synonym von beweglichen Sachen, Fahrnis,
Mobilien auf der einen und Liegenschaften, Grundstücken, Immobilien auf der
anderen Seite spricht.110
105
Z.B. Trier 1537, Folio XXXVII r, Zeile 3; Köln 1538, Folio IV v, Zeile 25.
106
Z.B. Köln 1663 S. 11, Zeile 10, 17, 20; vgl. Deutsches Wörterbuch, (wie Anm. 94), Beleg-
stellen zu Bd. 3, Sp. 1263, sowie Bd. 4, Sp. 3564.
107
Z.B. Köln 1663, S. 7, Zeile 12.
108
Trier 1669, S. 26, Zeile 9 , 1 1 .
109
Trier 1668, S. 28, Zeile 4; die weiteren Trierischen Entlehnungen ,mobel/möbel/immobel/
immöbel', z.B. S. 73, Zeile 11, S. 36 Zeile 1, 20, für Mobilien und Immobilien haben als Ent-
lehnung des frz. „moble" im Moselgebiet nach dem Deutschen Fremdwörterbuch, (wie Anm.
52), Bd. 2, S. 124, nichts mit der Entlehnung von „meuble", nhd. „Möbel", im 17. Jahrhundert
zu tun.
110
Vgl. etwa §§ 925, 929 BGB; Baur, Fritz, Lehrbuch des Sachenrechts. 9. Aufl. München 1977,
S. 6.
111
Vgl. Brandt, Gesetze, (wie Anm. 37), S. 355; von Polenz, Peter, .erfolgen' als Funktionsverb
substantivischer Geschehensbezeichnungen, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 20 (1964),
S. 13.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 95
die eine Entwicklung des Rationalismus sein soll.112 Nach den hier ausgewerteten
Belegen ist dieser Zeitpunkt zu spät angesetzt. Die Texte des 16. Jahrhunderts wei-
sen ebenso viele Fügungen auf wie die des 17. und 18. Jahrhunderts und prägen
einige uns heute bekannt anmutende Ausdrücke wie eine ,beweisung geschieht'," 3
,meidung geschieht',114 jnsetzung beschieht', 115 .Vollmacht geschieht'. 116 Weitere
auch heute noch typische Nominalisierungstendenzen bereits des 16. Jahrhunderts
sind ,inn gebrauch sein', 117 ,in Erfahrung kommen', 118 ,in besitz haben', 119 ,eine
Klage furbringen' 120 (heute univerbiert zum Klagevorbringen) und ,in Ermessung'
(heute: Ermessen) .stehen'.121 Ebenso ein Produkt des 16. Jahrhunderts scheinen
zudem einige typisch rechtssprachliche Metaphern122 im Verbbereich zu sein, zum
Beispiel ,gehen vrtheyle in krafft', 123 ,läufft die Veijehrung', 124 ,zur beweisung
wird geschritten" 25 und .Sachen erwachsen an das Oberheupt' (= Obergericht).126
D. Zusammmenfassung
1. Die Sondierung sowohl im Bereich des indigenen als auch des Fremdwortschat-
zes zeigt einen sehr schnell ablaufenden Einigungsprozeß auf eine frühneuhoch-
deutsche Schriftsprache hin, der einhergeht mit einem Zuwachs an typisch barok-
ken „Schnörkeln". Dies spricht meines Erachtens erstens fur ein breites Fundament
des 16. Jahrhunderts, auf dem die aufklärerische und nachaufklärerische Gesetzes-
sprache beruht. Zweitens spricht der Rückgang horizontal und vertikal ausglei-
chender Varianten mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Auslagerung der Mono-
semierung der einzelnen Lexeme aus der textuellen Ebene auf die kommunika-
112
Vgl. von Polenz, ebd., S. 13-16.
113
Trier 1537, Folio XXXV v, Zeile 19; Folio XXXI r, Zeile 13; Köln 1538, Folio XIV v, Zeile 28
(beschieht).
114
Trier 1537, Folio XUV r, Zeile 7.
115
Köln 1538, Folio XVIII v, Zeile 5.
116
Jülich-Kleve-Berg 1555, Folio XI, Zeile 27.
117
Trier 1537, Folio XXXIV r, Zeile 25.
118
Trier 1668, S. 48, Zeile 10.
119
Köln 1663, S. 12, Zeile 34.
120
Köln 1538, Folio Vffl r, Zeile 33; Jülich-Kleve-Berg 1555, Folio XIX, Zeile 4: .inbringen oder
furtragen'.
121
Trier 1537, Folio V v, Zeile 4.
122
Vgl. Oksaar, Eis, Sprachliche Mittel in der Kommunikation zwischen Fachleuten und zwi-
schen Fachleuten und Laien im Bereich des Rechtswesens, in: Mentrup, Wolfgang (Hg.),
Fachsprachen und Gemeinsprache. Düsseldorf 1979, S. 103.
123
Köln 1538, Folio XVII v, Zeile 5.
124
Trier 1537, Folio LI r, Zeile 2.
125
Köln 1538, Folio Xi r, Zeile 3.
126
Köln 1538, Folio XVI r, Zeile 28.
96 Andreas Görgen
tive127 sowie fur eine über den „style" mehr als über das „field of discourse" be-
gründete Differenz der Gesetzessprache von anderen rechts- oder gemeinsprachli-
chen Varianten. Allerdings kann die vorliegende Untersuchung hier nicht mehr als
eine sondierende Tiefenbohrung leisten. An einer breit angelegten diachronen und
diatopischen Untersuchung der Gesetzessprache fehlt es.
2. Im Bereich des Fremdwortschatzes zeichnet sich mit dem 17. Jahrhundert ein
intralingualer Ablösungsprozeß vom Deutschen und eine Fixierung auf ein „latei-
nisiert Teutsch"128 als Variante der deutschen Sprache ab. Diese Latinisierung
erfolgt durch den Ausbau des Fremdwortschatzes insgesamt, die Latinisierung vor
allem des Nichtrechtswortschatzes, den Abbau von Übersetzungen und die Relati-
nisierung bereits entlehnter Wörter. Ihr Produkt ist ein „Fachwerkstil", in dem die
syntaktische Grundsprache Deutsch mit einem Fachwerk lateinischer Ausdrücke
durchzogen ist.129 Vor dem Hintergrund von Sprache als effektivem Steuerungs-
mittel von Kommunikation und nicht allein resultativem Symbol eines seienden
Systems kann behauptet werden, daß die Gesetze des 17. Jahrhunderts allen, die
am Rechtsdiskurs teilhaben wollen, mit hohen Anforderungen gegenübertreten.
127
Vgl. zur kommunikativen Monosemierung Roelcke, Thorsten, Das Eineindeutigkeitspostulat
der lexikalischen Fachsprachensemantik, in: Zeitschrift fiir germanistische Linguistik 19
(1991), S. 194-208, insb. S. 204ff.
128
Harsdörffer, Georg Philipp, Der Teutsche Secretarias. Bd. 1. Nachdruck der Ausgabe von
1656. Hildesheim 1971, S. 142.
129
Vgl. zu einem solchen Stil auch Pörksen, Uwe, Paracelsus als wissenschaftlicher Schriftsteller,
in: ders., Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Tübingen 1994, S. 37-83.
130
Ickelsamer, Valentin, Die rechte weis aufkürtzist lesen zu lernen [1527]. Neudruck Stuttgart
1971, Blatt D5 v; dazu Stolt, Birgit, Redeglieder, Informationseinheiten, in: Betten, Anne
(Hg.), Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Tübingen 1990, S. 389.
Gesetzessprache der frühen Neuzeit 97
Es sei weiter daran erinnert, daß die Forderung nach einem möglichst hohen
Abstraktionsniveau der Begrifflichkeit erst eine solche des Rationalismus des 18.
Jahrhunderts mit seinen vernunftrechtlichen Deduktionsversuchen ist und also
keine Kategorie für die Sprachbeobachtung des 16.-17. Jahrhunderts sein kann.
Sie geht einher mit der Übertragung des Satzbegriffes aus der Logik in die Syntax
und der Ableitung einer Wortbedeutung aus Sätzen.131 In der Folge gerät das ein-
zelne Wort zum „figürlichen Erkenntnismittel".132 Aus dem Bezug auf logische
Sätze und der Orientierung am vorhandenen Inventar einer Sprache fließt die For-
derung nach Deutlichkeit im Sinne von Eindeutigkeit der Bedeutung eines Wortes,
die dann erreicht ist, wenn in darstellungsfunktionaler Ausrichtung eine l:l-Rela-
tion von Wort und Sache erreicht ist. Diese Beziehung ist vom Sprecher aus ono-
masiologisch, das heißt von der „Sache", über die Zwischengröße des Konzepts/
der Bedeutung, auf das Wort bezogen, während vom Hörer die semasiologische
Rekonstruktion verlangt wird, das heißt über die Merkmalsanalyse des einzelnen
Wortes die Re-Identifizierung der gemeinten „Sache".133 Sozusagen als Nach-
wehen dieser Denkrichtung des Rationalismus wird bis heute in einigen Fächern -
und vor allem in der Rechtswissenschaft - das immer kleinere Zerlegen von Wör-
tern in ihre einzelnen bedeutungstragenden Bestandteile geübt in der Hoffnung,
daß sich schließlich die fragliche „Sache" logisch zwingend unter einen Bestand-
teil und damit das Wort als Begriff subsumieren lasse. Herder hat bereits gegen
dieses Syllogismusschema bemerkt, „das Geschwätz von Worterklärungen und
Beweisen ist meistens nur ein Brettspiel".134 Saussure hat dieses Brettspiel dann
zur Leitmetapher einer Wissenschaft erhoben.135
Schließlich ist für die Rechtsgeschichte mit Schröder darauf aufmerksam zu
machen, daß in der hier beobachteten Zeit die juristische Methodenlehre nicht vor
131
Vgl. ausführlich Betten, Anne, Nonn und Spielraum im deutschen Satzbau, Eine diachrone
Untersuchung, in: Mattheier, Klaus Jürgen (Hg.), Methoden zur Erforschung des Frühneu-
hochdeutschen. München 1993, S. 125-145; Reichmann, Sprachbegriff, (wie Anm. 8), S. 21.
132
Vgl. Wolff, Christian, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Men-
schen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Nachdruck der Ausgabe Halle
1751. Gesammelte Werke, (wie Anm. 81), 1. Abtlg. Bd. 2, hg. v. Charles A. Corr. Hildesheim
1983, § 316ff, S. 173: „Es ist nehmlich zu mercken, daß die Worte der Grund von einer be-
sonderen Art der Erkäntnis sind, welche wir die figürliche nennen."; vgl. auch Ricken, Ulrich,
Zum Thema Christian Wolff und die Wissenschaftssprache der deutschen Aufklärung, in:
Kretzenbacher, (wie Anm. 70), S. 42ff., 55.
133
Vgl. ausführlich Reichmann, Sprachbegriff, (wie Anm. 8), S. 16, 24.
134
Herder, Johann Gottfried, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Erster
Versuch [Fassung 1778], in: Werke, hg. v. Günter Arnold u.a. Bd. 4. Frankfurt/M. 1994,
S. 330.
135
Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, édition critique par Rudolf Engler.
Bd. 1. Wiesbaden 1968, S. 194 (Ausgabe Bally, Charles, Berlin 1967, S. 129): „de toutes les
comparaisons qu'on pourrait trouver, la plus démonstrative est celle qu'on établirait entre le
jeu de la langue et une partie d'échecs".
98 Andreas Görgen
der Folie heutigen Verständnisses zu verstehen ist.136 So ist dem 16. Jahrhundert
die „Entdeckung" eines inneren Systems fremd. Ihm geht es um Ordnung des
Stoffes, ohne daß diese mit Welterkenntnis gleichgesetzt wird. Die Erkenntnis
selbst spielt sich innerhalb des als immer schon vorhanden zu denkenden rechtli-
chen Diskurses ab. Auf rechtsmethodischer Ebene könnte es damit eine der
Sprachauffassung parallele Erscheinung geben. Wahrscheinlich - dies kann hier
nur als Vermutung geäußert werden137 - gilt es zugleich, der in der (spät)mittelal-
terlichen Philosophie beginnenden Gleichsetzung von Erkennen und Bezeichnen
auf der Ebene der Konzepte nachzuforschen.138 Diese Umstrukturierung des Zei-
chenbegriffs könnte zusammen mit dem nicht mehr in Frage gestellten Subjekt der
Erkenntnis ein ganzes Bündel von Entwicklungen ergeben, die es beginnnend mit
der Aufklärungszeit möglich machen werden, von einem „objektiven" Rechtssy-
stem zu sprechen und diesem dem Status von Welterkenntnis zuzusprechen.139
136
Vgl. Schröder, Jan, Die ersten juristischen ,Systematiker'. Ordnungsvorstellungen in der
Philosophie und Rechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts, in: Kriechbaum, Maximiliane
(Hg.), Festschrift Sten Gagnér. Eschbach 1996, S. 111-150; ders., Wissenschaftliche Ord-
nungsvorstellungen im Privatrecht der frühen Neuzeit, in: lus Commune 24 (1997), S. 25-39;
ders., Juristische Hermeneutik im frühen 17. Jahrhundert: Valentin Forsters Jnterpres', in:
Dieter Medicus u.a. (Hg.), Festschrift Hermann Lange. Stuttgart 1992, S. 223-243.
137
Vgl. ausführlich hierzu Verf., On cherche les mots et on trouve le discours: historische An-
merkungen zu den Konstitutionsbedingungen gerichtlichen Entscheidens, in: Feldner, Bir-
git/Forgó, Nikolaus (Hg.), Norm und Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls.
Wien/New York 2000, S. 86-126.
138
Vgl. hierzu Meier-Oeser, Stephan, Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in
der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Berlin 1997.
139
So das Credo Savignys, vgl. von Savigny, Carl Friedrich, System des heutigen römischen
Rechts. Bd. I. Berlin 1840 (Neudruck Aalen 1981), S. XXXVI: „Ich setze das Wesen der sy-
stematischen Methode in die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs".
MICHAEL WIECZORREK ( F r a n k f u r t & M . )
Der Richter wird durch einen guten Vortrag in der Aufmerksamkeit unterhalten; die vortheil-
hafte Erzählung macht ihm die Sache interessant, des Beschuldigten Charakter angenehm, und
wenn ich so sagen darf, das Verbrechen weniger strafbar. 1
Der Nutzen „gerichtlicher Beredsamkeit" ist fur den Anwalt Alexander Ockhardt
offensichtlich: In seiner Anweisung zu Vertheidigungsschrifien aus dem Jahr 1781,
der dieses Zitat entstammt, schildert er ausführlich, wie ein guter Stil in anwaltli-
chen Reden und Schriftstücken die richterliche Wahrnehmung beeinflussen kann.
Da das Überzeugen des Richters fur ihn zur Hauptaufgabe des StrafVerteidigers
zählt, muß dieser auch über rhetorische Fähigkeiten verfugen. Denn ohne die
„Kunst des Redners" bleiben die Beweise nach Ockhardts Ansicht farblos und die
Argumentation unwirksam.
Die Möglichkeit der Manipulation sieht auch der Erlanger Rechtsprofessor
August Ludwig Schott bei einer „guten Schreibart", die für ihn und die meisten
seiner Zeitgenossen mit dem Begriff „Stil" gleichbedeutend ist:2 Zu den Vorteilen,
denen der letzte Abschnitt seiner Vorbereitung zur juristischen Praxis aus dem
Jahr 1784 gewidmet ist, gehört für ihn unter anderem, daß „ein kluger Sachwalter
das, was seinem Gegenstand am inneren Werth abgehet, durch das angenehme
seines Tones zu ersetzen, und den andern in sein Interesse zu ziehen" weiß; „da-
hingegen die gründlichste Schrift, wenn sie in einer fehlerhaften Schreibart einge-
kleidet ist, der erwarteten Absicht manchmal verfehlt". 3 Den Erfolg juristischer
Texte allein dem rhetorischen Können der Verfasser zuzubilligen, lehnt Schott im
Gegensatz zu Ockhardt allerdings ab. Seine Ansicht lautet vielmehr: „Wahrheit,
Gerechtigkeit, Unschuld bedürfen wohl keiner Kunst, keines Schmuckes; aber sie
in ihrem eigenen Kleide herfurtreten zu lassen", dies ist für ihn die „dem Juristen
1. Drei Juristen mit drei unterschiedlichen Ansichten: Während für Koch der Stil
innerhalb der juristischen Argumentation unbedeutend ist, vertritt Ockhardt gerade
den entgegengesetzten Standpunkt, daß die Kunst des sprachlichen Darstellens
allein entscheidend sei. Wichtig ist der juristische Sprachgebrauch zwar auch für
Schott, der aber als Vertreter einer vermittelnden Position den Stil unbedingt auf
Wahrhaftigkeit verpflichten möchte. Die drei Autoren markieren die Bandbreite
der Diskussion um den Stellenwert der Juristischen Schreibart" in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie sehr dieses Thema die Zeitgenossen beschäftigte,
veranschaulicht die Liste der Literaturhinweise, die Johann Nikolaus Bischoff, der
an der Helmstedter Universität Recht und Philosophie unterrichtete, 1793 im ersten
Teil seines Handbuch[s] der teutschen Canzley=Praxis veröffentlichte. 6 Dieses
Handbuch wird in einigen Vorlesungsankündigungen bis in die 1820er Jahre als
Unterrichtsgrundlage genannt.7 Verzeichnet sind rund zweihundert Titel aus der
Zeit von 1740 bis 1790, die der interessierte Jurist zur Kenntnis nehmen sollte.8
Zur Lektüre empfiehlt Bischoff neben vielen kleineren Schriften und Aufsätzen
vor allem eine Gruppe von Lehrbüchern, die allein 57 Titel umfaßt. Zu dieser
Literaturgattung gehören zum einen allgemeine Werke, die den Anspruch erheben,
4
Schott, (wie Anm. 2), S. 273f.
5
Koch, Johann Christoph, Anleitung zu Defensionsschriften nebst Mustern. Gießen 1775,
S. LXXXVI f.
6
Bischoff, Johann Nikolaus, Handbuch der teutschen Canzley=Praxis fur angehende Staats-
beamte und Geschäftsmänner. 2 Bde. Helmstedt 1793, 1798, hier Bd. 1: Lehrbuch des teut-
schen Canzley=Styls und der Canzley=Geschäfte zur Beförderung academischer Vorübungen
in denselben. Erster Teil, von den allgemeinen Eigenschaften des Canzley=Styls (1793).
7
Schröder, Jan, Wissenschaftstheorie und Lehre der ,praktischen Jurisprudenz ' auf deutschen
Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979 (lus Commune. Sonder-
hefte. Bd. 11), S. 268.
8
Bischoff, (wie Anm. 6), S. 116-152.
Stil und Status 101
über die Gesamtheit der juristischen Praxis zu unterrichten. Zum anderen enthält
sie Lehrbücher zu einzelnen Arbeitsbereichen, wie Gerichtsbarkeit und Admini-
stration, oder zu einzelnen Territorien.
So umfangreich Bischoffs Literaturübersicht auch erscheint, so fehlt ihr doch
eine wichtige Gruppe. Das sind die Formularbücher, die seit Jahrhunderten zur
juristischen Standardliteratur zählen. Neben Gesetzestexten und -kommentaren
bilden sie einen Teil des juristischen Alltags, da sie Beispiele für alle Arten von
Rechtstexten enthalten: Ob Klageschrift, Testament, Rechtsgutachten oder Ge-
richtsurteil, für jedes juristische Schriftstück läßt sich eine Vorlage finden, die nur
noch in Details für den jeweiligen Fall adaptiert werden muß. Die einzelnen Mu-
stertexte vereinfachen das juristische Arbeiten, indem sie die jeweils zu beachten-
den Formalien vollständig und geordnet präsentieren. Durch das Übernehmen der
Vorlagen erspart sich der Benutzer das Sammeln, Strukturieren und Formulieren
der Argumente; sein Sprachgebrauch paßt sich dabei zugleich dem Standard dieser
Werke an. Da die Formularbücher teilweise ein Jahrhundert lang von Auflage zu
Auflage unverändert nachgedruckt wurden, konservierten sie in den Texten einen
älteren Sprachstil. So erschien beispielsweise das Hand- und Formularbuch Adam
Volckmanns erstmals 1621 im Leipziger Verlagshaus Groß und wurde im 17.
Jahrhundert mehrmals neuaufgelegt; nach dem Tod des Verfassers übernahm Ge-
org Beyer 1695 die Herausgabe des Werkes, dessen grundlegende Texte unver-
ändert blieben;9 1744 erschien die siebte Auflage in Leipzig bei Groß und 1763 die
achte Auflage im Verlag von Christian Heinrich Cuno in Jena. Damit begleitete
dieses Werk Juristen über 150 Jahre als Hilfsmittel. Daß „geschmacklose For-
mularbücher und altmodische Muster", wie sie Bischoff nennt,10 eine überkom-
mene Schreibart bewahrten, ist für ihn Anlaß, sie allesamt als Relikte einer ver-
gangenen Zeit zu verwerfen.
2. Die neue „Epoche" hat seiner Ansicht nach „sowohl für Staatsverfassung und
Wissenschaft überhaupt, als auch für die teutsche Sprache und den Geschäftsstyl
insbesondere" 1740 begonnen.11 Das Jahr, in dem Friedrich II. den preußischen
Thron bestieg, bedeutet für Bischoff nicht nur einen politischen Einschnitt, son-
dern - in seinen Worten - es „erwachte das teutsche Kraftgefühl, und der Geist der
9
Die Angaben stammen von Pütter, Johann Stephan, Anleitung zur Juristischen Praxi wie in
Teutschland sowohl gerichtliche als aussergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley=
Reichs= und Staats= Sachen schriftlich oder mündlich verhandelt, und in Archiven beygele-
get werden. Göttingen 1753, S. 18-20; zugänglich war mir bisher nur Beyer, Georg, Volck-
mannus emendatus. Daß ist Notariats=Kunst, Oder nützliches und nöthiges Hand=Buch Vor
Advocaten und Notarien vormals durch Adam Volckmann herausgegeben. 4. Aufl., Leipzig
1715.
10
Bischoff, (wie Anm. 6), S. 108; hingegen Pütter, (wie Anm. 9), S. 14-22, der eine Ehrenret-
tung für einige Formularien versucht.
11
Bischoff, (wie Anm. 6), S. 87.
102 Michael Wieczorrek
Nation entriß sich unter dem Schutze dieses weisen Königs seinen Fesseln".12 Daß
bereits vorher Christian Thomasius, Johann Peter von Ludewig und Nicolaus Hie-
ronymus Gundling anfingen, in deutscher Sprache zu lehren und zu schreiben,
drängt Bischoff in eine Fußnote ab, weil dieses Bemühen „bey einem großen
Theile der Gelehrten" ohne Resonanz geblieben sei.13 Erfolgreiche Lehrbücher
zum juristischen Stil stammten seiner Ansicht nach hingegen erst von Johann
Stephan Pütter, Anleitung zur Juristischen Praxi aus dem Jahr 1753,14 und von
Justus Claproth, Grundtsätze von Verfertigung der Relationen aus Gerichts= Ac-
ten aus dem Jahr 1756,15 die beide an der Göttinger Rechtsfakultät unterrichteten.16
Pütters Lehrbuch kann als erste selbständig erschienene Einführung gelten, die
umfassend den Bereich der „praktischen Jurisprudenz" darstellt.17 Die verschiede-
nen Disziplinen ordnet er in Referier- und Dekretierkunst, Staats- und Kanzleipra-
xis sowie Archiv- und Registraturwesen.18 Zu einzelnen dieser Fächer existierten
bereits seit längerem Lehrbücher: Zur Referierkunst waren beispielsweise schon
1731 ein Werk von Justus Henning Böhmer19 und 1739 ein Kompendium von
Ferdinand August Hommel20 erschienen. Beide Rechtsprofessoren betonen, daß
ihre Anleitungen aufgrund ihrer Erfahrungen innerhalb universitärer Kollegien, der
eine in Halle und der andere in Leipzig, entstanden seien. Hauptsächlich themati-
sieren sie das Strukturieren der Argumente, deren Formulieren dagegen vernach-
lässigen sie. Während diese Lehrbücher sich primär an die Zuhörer der jeweiligen
Vorlesungen richten, geht Pütter darüber hinaus, indem er zugleich ein didakti-
sches Konzept vorstellt: Der universitäre Unterricht in praktischer Jurisprudenz,
die er vor allem durch sprachliches Handeln gekennzeichnet sieht, sollte seiner
Ansicht nach nicht nur aus den üblichen Vorlesungen bestehen. Ergänzend zu
ihnen schlägt er Übungen vor, in denen die Studenten selbständig Texte ausarbei-
ten sollen, die anschließend vom Dozenten durchgesehen werden.21 Durch diese
12
Ebd., S. 88.
13
Ebd., S. 87, Anm. 2.
14
Pütter, (wie Anm. 9), 1. Aufl., Göttingen 1753; 6. Aufl., Göttingen 1802.
15
Claproth, Justus, Grundtsätze von Verfertigung der Relationen aus Gerichts=Acten, zum
Gebrauch der Vorlesungen nebst einer Vorrede von der Verhältnis der Theorie und der Pra-
xis des Rechts. 1. Aufl., Göttingen 1756; 4. Aufl., Göttingen 1789.
16
Bischoff, (wie Anm. 6), S. 98.
17
Schröder, (wie Anm. 7), S. 49.
18
Pütter, (wie Anm. 9), S. 9f.; hierzu Schröder, (wie Anm. 7), S. 54-81.
19
Böhmer, Justus Henning, Kurtze Einleitung Zum Geschickten Gebrauch der ACTen Worinn
deutlich gezeiget wird, Wie man Acta lesen, extrahiren, referiren, beurtheilen, darüber de-
cretiren, und davon iudiciren solle Nebst Einem vermehrten FORMVLAR, Wornach die ge-
gebne Reguln zu appliciren. Halle 1731.
20
Hommel, Ferdinand August, Kurtze Anleitung Gerichts=Acta geschickt zu extrahiren, zu
referiren, und eine Sententz darüber abzufassen, Zum Gebrauch seiner Zuhörer entworfen.
Leipzig 1739.
21
Pütter, (wie Anm. 9), Vorrede, O.S. [S. 19-25],
Stil und Status 103
22
Claproth, (wie Anm. 15), S. 2.
104 Michael Wieczorrek
Auflagen immer einen Sprachwechsel an; in der neuen Auflage scheint das
gleichmäßige Druckbild auch eine Einheitlichkeit der Sprache zu bedeuten.23 Ne-
ben diesem optischen Wandel hat Claproth allerdings ebenfalls die Substanz seiner
Sprache verändert, indem er lateinische gegen deutsche Wörter ausgetauscht hat.
Hierbei beschränkt er sich keineswegs auf Ausdrücke, die der Umgangssprache
entstammen, sondern findet auch für juristische Fachbegriffe deutsche Überset-
zungen: Beispielsweise wird „registriret" durch „bemerket" ersetzt, „defectus"
durch „Mängel", „Votum" durch „Gutachten",24 „Denunciatio" durch „Rüge",25
„Tortur" durch „Marter", „mitigantia" durch „Milderungsursachen".26 Auch scheut
er sich nicht, eine juristische Phrase vollständig umzuformulieren: „In homicidii
poena trete das jus veniam concedendi ein" lautet nun „Bey jedem Todtschlage
könne die Lebensstrafe vom Landesherrn erlassen werden".27 Andererseits scheint
Claproth unsicher zu sein, wenn er zwar den Begriff „Sectio cadaveris" durch
„Oefnung der Leiche" ersetzt, aber im weiteren „Section", auch als „Sections-
protocoll", beibehält. Unverändert bleiben einige Wörter, für die er vermutlich
keine Übersetzung kennt, hierzu zählen unter anderem die Begriffe „Theorie",
„Praxis" und „Defensor"; aber auch sie paßt Claproth an, indem er sie nach den
Regeln der deutschen Sprache dekliniert: aus „unsern Codicem" wird „unsern Co-
dex".28 Claproth gelingt damit etwas, was Pütter unterläßt: Pütter ist der Theoreti-
ker, er bleibt auf der Ebene der Regeln. Claproths Leistung besteht darin, daß er
die allgemeinen Regeln umsetzt, daß er die Anforderungen an den neuen Sprach-
stil in der Praxis realisiert. Dort wo es wirklich knifflig wird, nämlich im juristi-
schen Gutachten, wo es nach allgemeiner Ansicht auf den „richtigen Ausdruck"
ankommt, da bietet er neue Wörter an. Letztlich läßt sich behaupten, daß er weni-
ger über den neuen Sprachgebrauch schreibt, sondern ihn umzusetzen versucht.
Wer nach den Gründen für diesen Sprachwandel bei Claproth sucht, findet nur
eine kurze Notiz in der „Vorrede zur dritten Auflage". Er weist eher beiläufig
darauf hin, daß „die lateinischen Ausdrücke mit teutschen umgetauschet" seien.29
Es ist eine Passage von einer halben Seite Länge in einem Koloß von über 800
Seiten; überraschend wenig verglichen mit dem Aufwand, den es ihn gekostet
haben muß, das Buch umzuarbeiten. Seinen gewandelten Sprachgebrauch recht-
23
Pütter, (wie Anm. 9), § 27, S. 34f., Fn. (e), weist ausdrücklich auf diesen Effekt hin; ebenso
Boeschen, Carl Franz, Ueber die juristische Schreibart. Halle 1777, S. 24; siehe auch Härle,
Gerhard, Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhe-
torischen Begriffs ,puritas' in Deutschland. Tübingen 1996 (Rhetorik-Forschungen. Bd. 11),
S. 220.
24
Alle Beispiele Claproth, (wie Anm. 15), 2. Aufl., Göttingen 1766, S. 645 sowie 3. Aufl.,
Göttingen 1778, S. 763.
25
Ebd., S. 644 (2. Aufl.) und S. 762 (3. Aufl.).
26
Ebd., S. 676 (2. Aufl.) und S. 793 (3. Aufl.).
27
Ebd., S. 676 (2. Aufl.) und S. 794 (3. Aufl.).
28
Ebd., Vorrede, o.S. [S. 19 (2. Aufl.), S. 21 (3. Aufl.)].
29
Ebd., (3. Aufl.), Vorrede zur dritten Ausgabe, O.S. [S. 34],
Stil und Status 105
fertigt er mit d e m Umstand, daß das vorangegangene Jahrzehnt „den reinen teut-
schen Vortrag mehr begünstiget" habe. U m die Notwendigkeit der n e u e n Wort-
wahl z u belegen, beruft er sich auf Quintilian 3 0 und Cicero. 3 1 D i e Zitate betonen
j e w e i l s die Wichtigkeit, b e i m R e d e n rein römische Wörter z u benutzen. D i e B e l e g -
stellen aus Quintilians und Ciceros Werken sind ebenfalls eine N e u e r u n g in der
dritten A u f l a g e , die Claproth selbst aber nicht hervorhebt. Er fugt sie z u m Teil
sogar in Argumentationen ein, die seit der ersten A u f l a g e sonst unverändert ge-
blieben sind. 3 2 D a diese Zitate also für seine B e w e i s f ü h r u n g offensichtlich nicht
n o t w e n d i g sind, scheinen sie eine mehr äußerliche, auf den Leser gerichtete Funk-
tion z u haben und letztlich w i e Signale z u wirken.
Claproth gibt in dieser Passage dagegen über zweierlei keine Auskunft: Z u m
einen teilt er nicht mit, worin er die Umstände sieht, die den reinen deutschen
Vortrag begünstigen. Z u m anderen verschweigt er, w o h e r das Potential der deut-
schen Wörter stammt, dessen er sich s o umfangreich bedient. Vermutlich hat er
sich die Ausdrücke nicht alle selbst ausgedacht. O b er historische Studien betrie-
ben oder ein Wörterbuch benutzt hat, bleibt offen. M ö g l i c h e r w e i s e hat er - das soll
hier nur kurz eingefügt werden - Carl Ferdinand H o m m e l s Teutschen Flavius von
1763 zu Rate g e z o g e n . 3 3 H o m m e l nannte es sein Hauptanliegen, die im juristischen
30
Quintilian, Institutionis oratoriae. 8. [Benutzte Ausgaben: Marcus Fabius Quintiiianus, Aus-
bildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übersetzt von Helmut Rahn. 2. Aufl., Darmstadt
1988, (Texte zur Forschung. Bd. 2)] Buch, 1. Kap., 2. Zu der verstärkten Bezugnahme auf
Quintilian während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Wychgram, Marianne, Quintilian
in der deutschen und französischen Literatur des Barocks und der Aufklärung. Langensalza
1921 (Pädagogisches Magazin. Heft 83), S. 55-136; zu seiner Funktion als Lehrbuch im
Schulunterricht: Paulsen, Friedrich, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universtiäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer
Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Bd. 2. 3. Aufl., Berlin/Leipzig 1921, S. 74 mit wei-
teren Nachweisen.
31
Cicero, De oratore. [Benutzte Ausgabe: Marcus Tullius Cicero, De oratorelÜber den Redner,
hg. und übersetzt von Harald Merklin. 2. Aufl., Stuttgart 1986 (Universal-Bibliothek. Nr.
6884)] 1. Buch, 144 und 155. Zu der vorübergehenden Wertschätzung Ciceros in dieser Zeit:
allgemein Fuhrmann, Manfred, Die Tradition der Rhetorik-Verachtung und das deutsche Bild
vom ,Advokaten' Cicero, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989): Rhetorik heute
II, S. 43-55, hier S. 48f., und van de Zande, Johan, In the Image of Cicero: German Philoso-
phy between Wolff and Kant, in: Journal of the History of Ideas 56 (1995), S. 419-442, der
die „populärphilosophischen" Bezüge hervorhebt (S. 424—430).
32
Claproth, (wie Anm. 15), § 14, 1. Aufl, S. 7f.; 3. Aufl., S. 12f., Anm. d): Dunkelheit des Vor-
trages. Daß die Zitate antiker Autoren erst später eingefügt wurden, übersehen Schröder, (wie
Anm. 7), S. 62, und Schild, Wolfgang, Relationen und Referierkunst. Zur Juristenausbildung
und zum Strafverfahren um 1790, in: Schönert, Jörg (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typolo-
gie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur
zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Litera-
tur. Bd. 27), S. 159-176, hier S. 168.
33
Hommel, Karl Ferdinand, Teutscher Flavius. Das ist: Hinlängliche Anleitung so wohl bey
bürgerlichen als peinlichen Fällen Urthel abzufassen, in welcher nicht allein neu angehende
Schoppen und andere Richter, in Sachsen und auserhalb, wie sie ein rechtliches Erkentniß, in
denen hergebrachten Formeln, am bündigsten zu entwerfen: sondern auch Amtleute, Gerichts-
halter und andere Obrigkeiten, auf die in denen Gerichten eingelaufene Schreiben und allerley
106 Michael Wieczorrek
Indem Boeschen den eigenen Sprachstil mit Kleidung vergleicht, erklärt er ihn zu
etwas Äußerlichem und - bei seinem Beispiel bleibend - zu einem Zeichen sozia-
ler Zugehörigkeit. Er selbst zählt sich zu der Gruppe der „gesetzten" Männer, die
„reinlich" und „unanstössig" gekleidet sind, also einem bürgerlichen Ideal entspre-
chen. Das Gegenbild verkörpern jene, die sich „prächtig oder auffallend neumo-
disch" anziehen, was sich als adelig identifizieren läßt.
40
Ebd. Vgl. zum sozialhistorischen Aspekt von Kleidung im 18. Jahrhundert Corfield, Penelope
J., Ehrerbietung und Dissens in der Kleidung. Zum Wandel der Bedeutung des Hutes und des
Hutziehens, in: Aufldärung 6 (1991), Heft 2: Gerteis, Klaus (Hg.), Zum Wandel von Zeremo-
niell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung. Hamburg 1992, S. 5-19, insb.
S. 6-9.
41
Hierzu und zu den folgenden Angaben: Heß, Ulrich, Geheimer Rat und Kabinett in den er-
nestinischen Staaten Thüringens. Organisation, Geschäftsgang und Personalgeschichte der
obersten Regierungssphäre im Zeitalter des Absolutismus. Weimar 1962 (Veröffentlichungen
des Thüringischen Landeshauptarchivs Weimar. Bd. 6), S. 164f., 221-224.
108 Michael Wieczorrek
was heute als „Aristokratisierung des Studiums"42 bezeichnet wird. Bei gleichzei-
tiger Abnahme der Studentenzahlen43 seit der Jahrhundertwende stiegen die Stu-
dienkosten für den einzelnen erheblich an: Johann Wolfgang Goethe ist keines-
wegs ein Sonderfall, wenn er für seinen Aufenthalt an den Universitäten Leipzig
und Straßburg jeweils die Hälfte des jährlichen Familienbudgets verbrauchte.44
Denn nicht nur Vorlesungsgelder, sondern auch Prüfungs- oder Gradierungsgebüh-
ren wurden ein entscheidender Faktor bei der Finanzierung der Fakultäten und
ihres Personals. So kostete eine juristische Promotion so viel wie ein gesamtes
Studienjahr.45
Aufgrund der allgemeinen Finanzkrise in den meisten Teilen Deutschlands seit
dem Beginn des 18. Jahrhunderts wird versucht, das Defizit durch das Einsparen
von Verwaltungsstellen zu mindern. Die somit erhöhte Konkurrenz um öffentliche
Ämter wird durch die wieder wachsende Bevölkerung zusätzlich verschärft. Zu-
dem wird das Absolvieren eines „Universitätsstudiums immer mehr als Berechti-
gungsnachweis fur eine öffentliche Anstellung verstanden".46 Nicht zuletzt weil an
einigen Universitäten sogar spezielle Unterrichtsfacher eingeführt werden, um
Staatsbedienstete auszubilden. Hierzu zählen auch die neueingerichteten Lehr-
stühle für Kameralistik, deren Unterrichtsgegenstand - das sei hier kurz einge-
f u g t - allein in deutscher Sprache vermittelt wurde.47 Zugleich mehren sich seit
1765 die Stimmen, die vor einem „Überschuß" an Akademikern warnen und des-
halb den Zugang zu den Universitäten beschränken möchten.48
42
Müller, Rainer Α., Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an
süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984),
S. 31-46, zum Rechtsstudium S. 33f.
43
Eulenburg, Franz, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zu
Gegenwart. Leipzig 1904 (Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften. Philologisch-Historische Klasse. Bd. 24, Nr. 2), S. 131-136; kritisch zu den verwen-
deten Methoden der Statistik: Frijhoff, Willem, Surplus ou déficit? Hypothèses sur le nombre
réel des étudiants en Allemagne à l'époque moderne (1576-1815), in: Francia 7 (1979),
S. 173-218.
44
Damm, Sigrid, Cornelia Goethe. Berlin/Weimar 1987 [auch Frankfurt/M. 1988], S. 116.
45
Zu den Studien- und Prüfungskosten: Büsch, Johann Georg, Ueber die verfallene Haushaltung
der meisten Gelehrten unsrer Zeit, in: ders., Vermischte Abhandlungen. Teil 2. Hamburg 1777,
S. 363-436, insb. S. 369-371; Armstrong, John Α., The European Administrative Elite. Prin-
ceton 1973, S. 128; Stichweh, Rudolf, Der frühmoderne Staat und die europäische Universi-
tät. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung
(16.-18. Jahrhundert). Frankfurt/M. 1991, S. 348f.
46
Quarthai, Franz, Öffentliche Armut, Akademikerschwemme und Massenarbeitslosigkeit im
Zeitalter des Barock, in: Press, Volker/Reinhard, Eugen/Schwarzmaier, Hansmartin (Hg.), Ba-
rock am Oberrhein. Karlsruhe 1985 (Oberrheinische Studien. Bd. 6), S. 153-188, hier S. 168.
47
Vgl. Paulsen, (wie Anm. 30), S. 15, 135; Bleek, Wilhelm, Von der Kameralausbildung zum
Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen
Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 1972 (Historische und
pädagogische Studien. Bd. 3), S. 65-68; Maier, Hans, Die ältere deutsche Staats- und Ver-
waltungslehre. 2. Aufl., München 1980, S. 177-181.
48
Der Ausspruch von der „Überfullung" der Universitäten im 18. Jahrhundert galt bis ins 20.
Jahrhundert unbestritten: Eulenburg, (wie Anm. 43), S. 136; Paulsen, (wie Anm. 30), S. 94,
Stil und Status 109
129; kritisch zur „Überftlllungsthese": Herrlitz, Hans-Georg, Studium als Standesprivileg. Die
Entstehung des Maturitätsproblems im 18. Jahrhundert. Lehrplan- und gesellschaftsgeschicht-
liche Untersuchungen. Frankfiirt/M. 1973, S. 32-36. Zu den widerstreitenden Positionen in
der „Bildungspolitik" des 18. Jahrhunderts: Klingenstein, Grete, Akademikerüberschuß als so-
ziales Problem im aufgeklärten Absolutismus. Bemerkungen über eine Rede Joseph von Son-
nenfels' aus dem Jahre 1771, in: dies./Lutz, Heinrich/Stourzh, Gerald (Hg.), Bildung, Politik
und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum
20. Jahrhundert. Wien 1978 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit. Bd. 5), S. 165-204.
49
Vgl. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische Untersuchungen. 2
Bde. Bern 1969, hier Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des
Abendlandes, S. 21-23.
50
Einladungsschrift zur Promotion Boeschens am 9. Februar 1775 in Leipzig durch Josias Lud-
wig Ernst Püttmann (De rebus ac iuribus per bonorum cessionem ad creditores haud tra-
neuntibus), der auch die Angaben zu seiner Person entnommen sind.
51
Zu diesem Punkt vgl. Niggl, Günter, Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahr-
hundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 3-5; Win-
ter, Helmut, Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile.
Heidelberg 1985 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Dritte Folge. Bd. 70), S. 43-78;
Koller, Hans-Christoph, Schlüsselerlebnisse. Zur Rhetorik autobiographischer Erzählungen
und ihrer Bedeutung filr Bildungsprozesse, in: Sabban, Annette/Schmitt, Christian (Hg.),
Sprachlicher Alltag. Linguistik, Rhetorik, Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter
Stempel, 7. Juli 1994. Tübingen 1994, S. 245-263.
110 Michael Wieczorrek
Stelle eines Amtmanns in Lützen - einem von fünf Ämtern des Hochstifts Merse-
burg - erhält.
5. Nach Boeschens Ansicht sind es die „richtige Empfindung" und der „gute Ge-
schmack", die den Rechtsgelehrten beim Übersetzen fremder Wörter in die deut-
sche Sprache leiten sollen;52 so wie ihn ein „guter Geschmack" und ein „richtiges
Gefühl des Schicklichen und Unschicklichen" urteilen lassen, „was zur Sache
gehört und nicht gehört".53 ,,[G]uter Geschmack" bezeichnet nach zeitgenössischer
Begrifflichkeit den „von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung
richtig urtheilende[n] Verstand, in Sachen, davon man kein gründliches oder deut-
liches Erkenntnis hat".54 So lautet die Definition bei Johann Christoph Gottsched
in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst, dessen Werk Pütter den Rechtsstu-
denten zur Lektüre empfiehlt.55 Darüber hinausgehend beschreibt Christian Fürch-
tegott Geliert, bei dem Boeschen nach eigenen Angaben auch Vorlesungen hörte,56
„Geschmack" als „sittliche Empfindungskraft des Guten und Edlen", der „der
Vernunft, bey ihren Untersuchungen von Pflicht und Tugend, zur Gehülfinn gege-
ben" sei und der, „wie alle Fähigkeiten und Kräfte der Seele, seine Ausbildung und
Anwendung" verlange.57 Das Betonen, daß der „Geschmack" erzogen werden
müsse, verweist auf die soziale Praxis, in der er geübt wird. Zugleich breite sein
Einfluß „sich nicht nur über unsre Art zu denken, sondern über unsem ganzen
Charakter" aus.58 Indem die „Vernunft" durch den „guten Geschmack" dominiert
52
Boeschen, (wie Anm. 23), S. 21.
53
Ebd., S. 12.
54
Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darmstadt 1982 [Nach-
druck der 4. Aufl., Leipzig 1751], S. 123.
55
Pütter, (wie Anm. 9), S. 29.
56
So in der Einladungsschrift, (wie Anm. 50), S. XVIII. Vgl. zum Zulauf von Studenten aller
Fakultäten bei dem Leipziger Hochschullehrer: Meyer-Krentler, Eckhardt, Christian Fürchte-
gott Geliert, Leipzig. Vom Nachleben vor und nach dem Tode, in: Martens, Wolfgang (Hg.),
Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Heidelberg 1990 (Zentren der Aufklärung. Bd. 3),
(Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 17), S. 205-231, hier S. 216f., sowie Hammer-
stein, Notker, Die Universität Leipzig im Zeichen der frühen Aufklärung, in: ebd., S. 125-140,
insb. S. 136, 140, Fn. 47 mit weiteren Nachweisen. Auch Gellerts Briefsammlung wird von
Pütter, (wie Anm. 9), S. 166, als beispielhafte Lektüre empfohlen.
57
Geliert, Christian Fürchtegott, Zweyte Vorlesung. Von der natürlichen Empfindung des Guten
und Bösen, des Löblichen und Schändlichen, in: ders., Sämmtliche Schriften, [hg. von Adolf
Schlegel u. Gottlieb Leberecht Heyer]. 10 Teile. 2. Aufl., Leipzig 1784, hier Teil 6: Moralische
Vorlesungen (1784), S. 34-53, hier S. 42.
58
Geliert, Christian Fürchtegott, Von dem Einflüsse der schönen Wissenschaften auf das Herz
und die Sitten. Eine Rede, bey dem Antritte der Profeßion. Aus dem Lateinischen übersetzt, in:
ders., Sammlung vermischter Schriften. 2 Teile. Frankfurt und Leipzig 1765, hier Teil 2,
S. 132-145, hier S. 136, auch in: ders., Sämmtliche Schriften, (wie Anm. 57), Teil 5: Abhand-
lungen und Reden, S. 76-94 (81). Vgl. auch den Überblick bei Schümmer, Fr., Die Entwick-
lung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Archiv für
Begriffsgeschichte 1 (1955), S. 120-141; ders., Art. ,Geschmack' III., in: Ritter, Joachim/
Gründer, Karlfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. 12 Bde. Basel/Darmstadt
seit 1971, hier Bd. 3 (1974), Sp. 451-456, das angeführte Zitat (Sp. 451) stammt jedoch nicht
Stil und Status 111
wird, zeigt sich - übertragen auf die Wortwahl in juristischen Texten - , daß ein
rationalistisches Konzept von Fachwörtern und Fachsprache im heutigen Sinne
nicht angestrebt ist. An Leser, die rechtswissenschaftliche Genauigkeit und exakte
Formulierungen erwarten, richten sich die nach Boeschens Vorschlägen erarbeite-
ten Texte nicht. Vielmehr treffen sich Verfasser und Leser auf der Ebene des ge-
meinsamen Empfindens.
So wie Gottscheds syllogistisches Denken den Juristen in Boeschen anspricht,
so überraschen auch nicht die puristischen Züge,59 die seine Schrift prägen: Die
Einfachheit und Schlichtheit im Vortrag der christlichen Botschaft als angemessen
zu charakterisieren, sich des rednerischen Brillierens in der Predigt gerade zu ent-
halten und äußerlichen Glanz wegzulassen, sind Merkmale pietistischer Rhetorik.60
Der schlichte Prediger, den er an verschiedenen Stellen des Textes erwähnt, wird
zum Leitstern, indem er seiner Predigt ein „klar geschriebenes Concept" zugrunde
legt.61 Die Predigt als rednerisches Vorbild im Deutschland des 18. Jahrhunderts,
worauf sich neben Boeschen auch Bischoff beruft, wird nachvollziehbar, wenn
mitgedacht wird, daß der Kirchenraum der einzige Ort öffentlichen Redens war.
Denn andere Foren fehlen den Juristen, wie Ockhardt im Vergleich mit Frankreich
und England betont. Predigen dagegen ist im protestantischen Raum nicht nur dem
Geistlichen, sondern auch dem Laien - im gewissen Rahmen - gestattet.
Wenn Boeschen, wie auch Schott und Bischoff, sich als Kriterium ihrer Schrei-
bart zudem die „edle Einfalt" wählen und damit Winckelmanns Kennzeichen von
klassischer Schönheit übernehmen,62 geben sie sich als Bildungsbürger der ersten
Stunde zu erkennen. Ihr Sprachgebrauch dient ihnen mithin, wenn sie von „Ver-
von Geliert, sondern von Riedel, Friedrich Justus, Theorie der schönen Künste und Wissen-
schaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767, S. 7; vgl. auch
die umfangreichen Einträge zu „Gefühl" und „Geschmack" bei Grimm, (wie Anm. 2), Bd. 4,
Abt. 1, Teil 2 (1897), Sp. 2167-2186, 3924-3932, insb. Sp. 2180-2183, 3931 f.
59
Vgl. allgemein Kirkness, Alan, Das Phänomen des Purismus in der Geschichte des Deutschen,
in: Besch, Werner/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Hand-
buch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York 1984
(Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 2/1), Erster Halbbd., S. 290-
299, insb. S. 292f. mit weiteren Nachweisen.
60
Vgl. Breymayer, Reinhard, Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik, in: Schan-
ze, Helmut (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhun-
dert. Frankfurt/M. 1974 (Fischer Athenäum Taschenbücher. Literaturwissenschaft), S. 87-104,
insb. S. 90 zum rhetorischen Kunstgriff, die eigenen rhetorischen Fähigkeiten zu bestreiten.
61
Boeschen, (wie Anm. 23), S. 14, Anm. h.
62
Zur „edlen Einfalt" äußert Heller, Martin Johannes, Reform der deutschen Rechssprache im
18. Jahrhundert. Frankfurt/M. u.a. 1992 (Rechtshistorische Reihe. Bd. 97), S. 291, insb.
Anm. 28 hingegen, daß diese Wortwahl auf Johann Christoph Adelung (1788) beruhe; zu
Winckelmanns Konzept (1755) vgl. Burger, Heinz Otto, Deutsche Aufklärung im Widerspiel
zu Barock und .Neubarock', in: ders., ¡Dasein heißt eine Rolle spielen'. Studien zur deutschen
Literaturgeschichte. München 1963, S. 94-119, insb. S. 118f., und Brandt, Reinhard, ,... ist
endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe', in: Gaehtgens, Thomas W. (Hg.), Johann
Joachim Winckelmann. 1717-1768. Hamburg 1986 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert.
Bd. 7), S. 41-53 mit weiteren Nachweisen.
112 Michael Wieczorrek
ständlichkeit des Stils" schreiben, als Signal der „Dazugehörigkeit". Auf Akzep-
tanz zielt demnach dieses Streben, sich verständlich zu machen. Doch Verständ-
lichkeit, die sich an Geschmack und Empfindung orientiert, ist sozial gebunden.63
Adressat derart „verständlicher Texte" ist nicht - wie in rechtshistorischen Arbei-
ten meist beiläufig behauptet wird64 - das Volk; es ist keineswegs die Gesamtheit
der Einwohner, an die sich Schriften dieser Art richten sollten; es ist allein die
kleine Anzahl der gebildeten Bürger.65 Diese Position legt Boeschen offen, wenn
er sich entrüstet, daß es „lächerlich seyn [würde], einen Bauer zu Abwartung eines
Productions=Termins so vorladen zu wollen, daß er die Citation und was er dabey
zu thun hätte, vollkommen verstünde". Nein, für ihn ist ein solches Streben nach
Verständlichkeit „überflüssig", da der Bauer ,ja ohnedem einen ordentlichen
Proceß nicht ohne Sachwalter fuhren" könne. Aus Standesbewußtsein weiß Boe-
schen genau, an welchem Teil der Gesellschaft er sich zu orientieren hat.
63
Daß „Verständlichkeit keinen absoluten Wert darstellt", betont ebenfalls Karl-Heinz Göttert,
Ringen um Verständlichkeit. Ein historischer Streifzug, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), S. 1-14, hier S. 2. Vgl. zur sozialen
Gebundenheit literarischer Begriffe z.B. Barthes, Roland, Literatur oder Geschichte [1960], in:
ders., Literatur oder Geschichte. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Frankfurt/M.
1969 (Edition Suhrkamp. Bd. 303), S. 11-35, insb. S. 22; zur Distinktion durch Sprache vor
allem Bourdieu, Pierre, Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches
[1982], Übersetzt aus dem Französischen von Hella Beister. Hg. von Georg Kremnitz. Wien
1990, S. 29-35.
64
So z. B. Heller, (wie Anm. 62), S. 375-380.
65
Bei Gesetzen des 18. Jahrhunderts als Adressaten nicht mehr das gesamte Volk, sondern nur
noch die „gebildeten Klassen" zu sehen, fordert Schott, Clausdieter, Gesetzesadressat und
Begriffsvermögen, in: Baumgärtel, Gottfried u.a. (Hg.), Festschrift fir Heinz Hübner zum
70. Geburtstag am 7. November 1984. Berlin/New York 1984, S. 191-214, insb. S. 194f.,
203-207.
66
Boeschen, (wie Anm. 23), S. 8, Anm. a.
PETER KÖNIG (Heidelberg)
Daß Wolff in den Jahren zwischen 1710 und 1720 eine umfängliche Reihe von
philosophischen Werken auf Deutsch veröffentlicht,1 dient nach seinem eigenen
Die Reihe der deutschen Schriften beginnt 1710 mit den Anfangsgründen aller mathemati-
schen Wissenschaften. Von besonderem Erfolg sind jedoch die Schriften zur Logik und zur
Philosophie: die Vernünfftigen Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und
ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniß der Wahrheit (1713), die Vernünfftigen Gedancken
114 Peter König
Bekunden hauptsächlich dem Zweck, Vorlagen für die Zuhörer in seinen Kollegien
zu liefern.2 Wolff will vermeiden, daß seine Vorlesungen, die er, wie es seit Chri-
stian Thomasius in Halle Brauch ist, auf Deutsch hält, falsch nachgeschrieben und
womöglich von seinen Gegnern gegen ihn verwendet werden. Doch bewegt ihn
nicht nur der Grund, die authentische Lehre zu präsentieren und möglichen Verfäl-
schungen und Mißverständnissen vorzubeugen, dazu, in seinen Schriften die deut-
sche Sprache zu benutzen. Vielmehr kommt es bei Wolff wie schon bei Thomasius
und anderen Zeitgenossen zu einer Neubewertung des Deutschen, das nicht länger
als eine barbarische Sprache erscheint, die lediglich einen Austausch von Gedan-
ken im gemeinen Leben ermöglicht, aber „zum Vortrag der Wissenschaffien und
freyen Künste [...] so wenig geschickt [ist] als einer, der nur ein Bein hat, zum
Wettlauffe". 3 Zumindest Wolff vertritt die Auffassung, daß das Deutsche Eigen-
schaften besitzt, die es sogar in besonderem Maße zu einer Wissenschaftssprache
prädestinieren, und daß es darin auch dem Lateinischen und anderen europäischen
Sprachen überlegen ist: „Ich habe gefunden", so schreibt er, „daß unsere Sprache
zu Wissenschafften sich viel besser schickt als die lateinische, und daß man in der
reinen deutschen Sprache vortragen kann, was im Lateinischen sehr barbarisch
klinget".4 Verbunden ist diese Neubewertung des Deutschen mit einer veränderten
Einschätzung der wesentlichen Aufgabe der Wissenschaften. Nach wie vor besteht
das unmittelbare Ziel der Wissenschaften darin, Erkenntnisse zu gewinnen, das
vorhandene Wissen zu vermehren, die Wahrheit aufzudecken, und dieses Ziel
erreichen sie - für Wolff jedenfalls - auf dem Weg empirischer, wenn auch ver-
nunftgeleiteter Forschung. Zugleich aber sollen sich die Wissenschaften auch als
nützlich erweisen. Gerade dieses zu sein, nimmt Wolff für seine eigenen wissen-
schaftlichen Arbeiten mit einem gewissen Stolz in Anspruch: „meine Philosophie",
so Wolff in der Deutschen Metaphysik, Anderer Theil, ist, „gantz pragmatisch [...]
das ist, dergestalt in allem eingerichtet, daß sie sowohl in Wissenschaften und den
sogenannten höheren Fakultäten, als auch im menschlichen Leben sich gebrauchen
lässet".5 Wolff hat dabei als Nutznießer seiner Philosophie nicht nur die anderen
Wissenschaften im Auge, sondern es liegt ihm die Verbreitung seiner philoso-
phischen Schriften auch unter der gemeinen Bevölkerung am Herzen. Und dies
von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720) sowie
die Verniinfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (1720).
2
Vgl. Wolff, Christian, Ausföhrliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deut-
scher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben. Frank-
furt/M. 1733 (2. Aufl.), S. 23 (Nachdruck Hildesheim 1973) (1. Aufl. 1726).
3
Vgl. Ludovici, Carl Günther, Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffi-
schen Philosophie. Leipzig 1738. Bd. 1.2, S. 231 (Nachdruck Hildesheim 1977).
4
Wolff, Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 2), S. 27.
5
Vgl. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [...]. Anderer
Theil, 1727, § 35. Zit. nach: Thomann, Marcel, Christian Wolff, in: Stolleis, Michael (Hg.),
Staatsdenker in der frühen Neuzeit. München 1995 (3. erw. Auflage; 1. Aufl. Frankfurt/M.
1977), S. 258, Anm. 2.
Christian Wolffs ,Jus Naturae ' 115
setzt, wie er sehr wohl weiß, die allgemeine Verständlichkeit seiner Schriften und
Vorlesungen auch für solche Kreise voraus, „die nicht studiret und niemahls latei-
nisch gelernet haben".6 Man darf also Wolffs Engagement für den Gebrauch des
Deutschen nicht von seiner Betonung des praktischen Aspekts der Wissenschaften
trennen, die nicht zuletzt darin ihren Ausdruck findet, daß er dem Naturrecht sowie
der Ethik, der Ökonomie und der Politik eine herausgehobene Stellung in seinem
philosophischen System zuweist.
Allerdings weist das Lob der deutschen Sprache, das Wolff anstimmt, auch
unzweifelhaft eine nationale Komponente auf. Diese steht freilich nicht in einem
Zusammenhang mit irgendwelchen politischen Forderungen, die auf eine nationale
Vereinigung oder eine nationale .Erhebung' gegen jede Form der Fremdherrschaft
abzielen, wie sie zwei oder drei Generationen später in Deutschland formuliert
werden.7 Nach Wolff ist nicht nur jeder einzelne Mensch der Pflicht zur Selbstver-
vollkommnung unterworfen, sondern auch jeder Zusammenschluß von Menschen,
sofern dieser eine individuelle Einheit bildet und die Förderung des wechselseiti-
gen Wohls beabsichtigt, also insbesondere jede Nation. Die Pflicht zur Selbstver-
vollkommnung bezieht sich sowohl auf die intellektuellen wie auf die moralischen
Vermögen jedes Individuums. Im Jus gentium führt Wolff den Begriff des „barba-
rischen Volckes" ein. Dieses ist dadurch definiert, daß es die Ausbildung seiner
intellektuellen Tugenden vernachlässigt und sich daher in seiner allgemeinen Le-
bens- oder Handlungsweise nicht der Führung durch den Verstand und die Ver-
nunft anvertrauen kann. Stattdessen ist es ein Spielball seiner natürlichen Nei-
gungen und Abneigungen, und in dieser Abhängigkeit wurzeln wiederum seine
unzivilisierten Gebräuche. In einer Anmerkung verweist Wolff darauf, daß der
Ausdruck „barbarische Nation" ursprünglich von den Griechen stammte, die damit
alle Völker bezeichneten, die eine andere Sprache als die ihre verwendeten; daß er
dann von den Römern übernommen wurde, für die alle Völker als barbarisch gal-
ten, die nicht entweder griechisch oder lateinisch sprachen. Von der Sprache wurde
der Ausdruck in späteren Zeiten auf die Lebensweise und den Charakter der Ge-
bräuche eines Volkes übertragen.8 Aus diesen Überlegungen zur Herkunft des
Wortes „barbarisch" leitet Wolff ein Argument ab, mit dem er dem Lateinischen
das natürliche Anrecht darauf bestreitet, die alleinige Wissenschaftssprache zu
sein. Den Vorwurf, daß diejenigen, die sich in den Wissenschaften der deutschen
6
Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 2), S. 27.
7
Zum folgenden vgl. außerdem: Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Frankfurt a.M./
Leipzig 1740, Bd. I, § 547 (Nachdruck Hildesheim 1972); Philosophia practica universalis,
Frankfurt a. M./Leipzig 1738, Bd. II, §§ 895, 896, 897.
8
Cf. Jus gentium methodo scientifica pertractatum, Halle 1749 (Neudruck Oxford 1934), § 52
Anm.: „Sermonis & linguae perfectio a perfectione intellectus, consequenter a virtutibus intel-
lectualibus potissimum dependet, etsi contingat, ut asperam & duram pronunciationem voca-
bulorum & sermonem incultum retineant, qui virtutes intellectuales colunt & cultis utuntur
moribus."
116 Peter König
Sprache bedienen, in die Barbarei verfallen, läßt Wolff nicht gelten. Denn haben
nicht ihrerseits die Römer viele Ausdrücke aus anderen Sprachen übernommen
oder neue Wörter für sie geprägt? Was den Vorzug des Lateinischen als Wissen-
schaftssprache betrifft, so könne die Frage allenfalls lauten, ob die Kenntnis des
Lateinischen oder des Griechischen für den Gelehrten nützlich sei, bzw. ob es
weise sei, daß die Gelehrten sich einer gemeinsamen Sprache bedienten und ob
diese Sprache das Lateinische sein sollte.9 Beide Fragen berühren indes nicht die
Frage der inneren Tauglichkeit einer Sprache zur Wissenschaft. Im Hinblick auf
dieses Verhältnis aber läßt sich nach Wolff durchaus die Ansicht vertreten, daß die
deutsche Sprache mindestens in gleicher Weise, wenn nicht sogar besser als das
Lateinische geeignet ist, Wörter auszubilden und auszuprägen, die den Anforde-
rungen einer aufgeklärten, gesitteten und sich in ihren Sitten immer noch weiter
vervollkommnenden Nation entsprechen. Für Wolff ist die oberste Pflicht zur
Selbstvervollkommnung, der Nationen ebenso wie Individuen unterliegen, also
direkt mit einer Pflicht zur Kultivierung der intellektuellen Fähigkeiten verbunden,
die eine Kultivierung der eigenen Sprache und der Sitten und Gebräuche des Vol-
kes nach sich zieht und zugleich voraussetzt.10
Freilich ist sich Wolff der Größe der Aufgabe bewußt, die mit diesem pro-
grammatischen Bekenntnis zur Verwendung der deutschen Sprache in der Wissen-
schaft verbunden ist. Denn es geht ihm nicht einfach darum, sich in den Wissen-
schaften irgendwie des Deutschen zu bedienen, vielmehr sollen die Schriften „auf
eine solche Weise" geschrieben werden, „wie es eine reine deutsche Mund-Art mit
sich bringet".11 Die Ausbildung des Deutschen zur Wissenschaftssprache ist für
Wolff auch die Konsequenz aus der Formulierung eines gewissen Reinheitsideals:
man soll sich „von allen ausländischen Wörtern enthalten, die man heute zu Tage
in unsere deutsche Sprache häuffig mit einzumengen pfleget", ebenso alle Redens-
arten vermeiden, die der deutschen Mundart nicht gemäß sind, und auch keine
9
Vgl. Jus gentium methodo scientifica pertractatum, (wie Anm. 8), § 52 Anm.: „Qui vero
putant, barbariem introduci, si qui alio, quam Latino sermone studia colant & tradant, propte-
rea quod Romani Graece ac Latine non loquentes barbaros vocarunt, oppido falluntur: nonne
tam Graeci, quam Latini studia & artes tradiderunt sermone vernáculo? Alia vero quaestio est,
an linguae Graece atque Latinae notitia erudito utilis sit; alia etiam, an non consultum sit, ut
eruditi communi quadam lingua utantur, & num ea esse debeat Latina." Vgl. dazu auch: Phi-
losophia rationalis sive logica. Frankfurt a. M./Leipzig 1728, § 162.
10
Vgl. dazu: Jus gentium methodo scientifica pertractatum, (wie Anm. 8), § 53 Anm.: „Si Gens
docta virtutes intellectuales colere absque restrictione sumitur, vix continget, ut eadem non
simul sit culta, cum mores culti a virtutibus intellectualibus proficiscantur, quemadmodum in-
culti ab inclinationibus naturalibus, rationi non subjectis. Enimvero dantur quoque virtutes in-
tellectuales, quae per se mores minime emendant & barbariem non delent." Aber nicht jede in-
tellektuelle Fähigkeit zieht eine Zivilisierung der Sitten und Manieren nach sich. Z.B. die Fä-
higkeit, Integrale zu lösen, verfeinert nicht die Begierden. Man muß also nach der Perfektion
derjenigen intellektuellen Fähigkeiten streben, die eine Verbesserung der Sitten nach sich zie-
hen.
11
Ausführliche Nachricht, (wie Anm. 2), S. 26.
Christian Wolffs ,JusNaturae' 117
lateinischen Wörter untermengen, „weil diese sich so wenig in die deutsche Spra-
che, als die deutschen in die lateinische schicken".12 Diese Reinheitsforderungen
haben nichts mit den Purismusbestrebungen zu tun, die zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts in Deutschland aufkommen. Nicht nur fehlen ihr die nationalistisch-ag-
gressiven Untertöne und die Begeisterung fur das deutsche Mittelalter, sondern
auch jeder Sinn für die Notwendigkeit eines sprachlichen Neuanfangs. Zudem ist
Wolffs schöpferische Spracharbeit, ebenfalls im Unterschied etwa zu Radlofs oder
Wolkes Bemühungen,13 wie es im nachhinein scheint, von einem außerordentli-
chen Erfolg gekrönt. Es spricht jedenfalls aus heutiger Sicht fur Wolff, daß er die
Aufgabe der Schaffung einer deutschen philosophischen Fachsprache auf pragma-
tische Weise zu lösen versucht. Bei der Auffindung von deutschen Ausdrücken für
lateinische termini technici, so erklärt er, habe er sich von drei Regeln leiten las-
sen:
Er habe dort, wo ihm ein deutsches Wort bekannt gewesen sei, „das von andern
an statt eines lateinischen gebraucht worden", kein neues erdacht, sondern das alte
behalten (Beispiel: .gedenken' für Tschirnhaus' ,concipere'); er habe „die deut-
schen Kunst-Wörter nicht aus dem Lateinischen übersetzt, sondern sie vielmehr so
eingerichtet", wie er es der deutschen Mund-Art gemäß gefunden und wie er
würde verfahren haben, wenn ihm gar kein lateinisches Kunst-Wort bekannt gewe-
sen wäre; vor allem aber habe er darauf geachtet, daß er „die deutschen Wörter in
ihrer ordentlichen Bedeutung nähme und darinnen den Grund der Benennung zu
dem Kunst-Worte suchte".14 (Beispiel: nachgebendes Gewissen'). Die gesuchten
Fachausdrücke müssen den „Grund der Benennung" aus ihrer gewöhnlichen Be-
deutung zu erkennen geben und in diesem Sinn vernünftig gewählt sein. Zu den
Vorzügen der deutschen Sprache rechnet Wolff, daß sie diese von der Fachsprache
zu fordernde Transparenz hinsichtlich des Benennungsgrundes in besonderem Maß
gewährt.
Daß Wolff die Schwierigkeiten durchaus erkennt, die sich daraus ergeben, daß
eine feststehende und kanonische Wissenschaftssprache im Deutschen zu seiner
Zeit noch nicht zur Verfügung steht, zeigt der Umstand, daß er seinen deutschen
philosophischen Schriften ein Register anhängt, in dem er die von ihm verwende-
ten deutschen Ausdrücke mit den entsprechenden lateinischen erklärt. Die Kühn-
heit des Wolffschen Unterfangens läßt sich wegen des nachhaltigen Erfolgs, der
ihm beschieden war, im nachhinein nur schwer ermessen. Es genügt jedoch, sich
die zeitgenössische Reaktion auf Wolffs „Neuerungen" zu vergegenwärtigen, um
eine Vorstellung von diesem „Wagnis" zu erhalten. Lange etwa, gewiß kein An-
12 Ebd
·
13
Vgl. dazu: Jochmann, Carl Gustav, Über die Sprache, hg. v. Peter König. (= Gesammelte
Schriften. Bd. 1). Heidelberg 1998.
14
Ausfilhrliche Nachricht, (wie Anm. 2), S. 29, 31, 34.
118 Peter König
Auch die philosophische Fakultät in Tübingen ist der Ansicht, daß die Wölfische
Philosophie eine schädliche Wirkung ausübe, u.a.
weil der Vortrag dieses Mannes durchgehends deutsch ist, denn obwohl man einen deutschen
Vortrag in unsrer Muttersprache in Collegiis und auditoriis je und je wohl vertragen, auch mit
Nutzen anbringen kann: so faßen doch sonderlich unsere an das Latein gewöhnte Auditores in
disciplinis philosophicis die schwersten Lehren ungleich besser im Lateinischen als Deut-
schen. 16
Nun stehen allerdings Wolffs Überlegungen zur Ausbildung einer deutschen philo-
sophischen Fachsprache nicht isoliert da, sondern sie sind in eine allgemeine
Sprachtheorie eingebettet, aus der sich weitere praktische Grundsätze für die Ent-
wicklung einer Wissenschaftssprache ableiten lassen. Der Zweck einer Sprache
besteht nach Wolff darin, daß sie als Zeichen fur Begriffe fungiert und der Über-
mittlung von Gedanken unter den Menschen dient.17 Also muß darauf geachtet
werden, daß die Begriffe deutlich sind, und dazu bedarf es der Anstrengung und
Perfektion bestimmter intellektueller Vermögen, nämlich etwa der Aufmerksam-
keit, der Reflexion, des Scharfsinns usw., durch die wir auf die unterschiedlichen
und gemeinsamen Eigenschaften in den Sachen stoßen. Wenn das Ziel einer Ver-
deutlichung der Begriffe erreicht ist, kann nach Möglichkeiten gesucht werden,
diese Begriffe durch sprachliche Ausdrücke zu bezeichnen, und zwar so zu be-
zeichnen, daß die intellektuelle Leistung, die in der Verdeutlichung der Begriffe
liegt, allen anderen vermittelt werden kann. Nicht mit jedem Zeichen muß jedoch
ein Begriff verbunden sein. Ein Wort kann auch „ein leerer Ton" sein, dann näm-
lich, wenn entweder mit ihm kein Begriff verbunden ist (wie Leibniz' ,Bilbiri')
oder wenn der mit ihm verknüpfte Begriff nicht denkbar ist (weil er einen Wider-
spruch enthält). Die Aufgabe des Wissenschaftlers besteht daher darin, nur solche
15
Vgl. Ludovici, Ausföhrlicher Entwurf, (wie Anm. 3), Bd. 1.2, S. 266.
16
Zit. nach Wuttke, Heinrich, Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Herausgegeben mit
einer Abhandlung über Wolff. Leipzig 1841, S. 95, Anm.
17
Vgl. dazu: Menzel, Wolfgang Walter, Vernakuläre Wissenschaft. Christian Wolffs Bedeutung
für die Herausbildung und Durchsetzung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Tübingen
1996, S. 126-144; zur Funktion arbiträrer Zeichen fur das Denken bei Christian Wolff außer-
dem: Meier-Oeser, Stephan, Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der
Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Berlin/New York 1997, S. 415-425.
Christian Wolffs , Jus Naturae' 119
Worte zu verwenden, die sich wirklich auf Begriffe beziehen. Außerdem ist alles
zu vermeiden, was dazu führt, daß man von anderen mißverstanden wird oder daß
ein Wortstreit entsteht.
Aus dem Zweck der sprachlichen Äußerung ergeben sich allgemeine Verfah-
rensregeln zur Verbesserung der Sprache. Wolff formuliert sie in der Form von
Grundsätzen, die die philosophische Schreibart oder der philosophische Stil einzu-
halten haben, wobei er ausdrücklich hervorhebt, daß sie auch fur alle anderen
Wissenschaften und Künste gelten. Das oberste Gesetz lautet, daß man „beim
philosophischen Stil [...] auf nichts anderes Rücksicht zu nehmen [habe] als dar-
auf, daß wir dem anderen die Gedanken unseres Geistes offenlegen". 18 „Wir beab-
sichtigen nämlich nur zu lehren", so schärft Wolff seinen Lesern ein, „welche
Vorstellung von der Sache einer sich im Geist bilden muß sowie welche Prädikate
er ihr beilegen muß und warum ihr diese beizulegen sind".19 Alle Lockmittel, alle
rhetorischen Kniffs und oratorischen Ausschmückungen sind daher zu vermeiden:
„Nicht durch die Macht der Worte, sondern durch das Gewicht der Argumente
erzwingen wir seine Zustimmung und wünschen inständig, daß auch andere durch
unsere Arbeit zu sicherer Erkenntnis geführt werden mögen."20
der Philosoph ihnen Namen gibt, verwendet er in der Philosophie Termini, denen der Sprach-
gebrauch außerhalb derselben keinen Platz eingeräumt hat. Und so hat die Philosophie Termi-
ni, die ihr eigentümlich sind. Das gleiche gilt in der Mathematik, Theologie, Jurisprudenz,
Medizin und überhaupt in jeder Kunst. 21
18
Vgl. Wolff, Christian, Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Historisch-kritische
Ausgabe, übers., eingel. und hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kremendahl. Stuttgart-Bad
Cannstatt 1996, § 141.
19
Vgl. ebd., § 141, Anm.
20
Vgl. ebd., § 141, Anm.
21
Vgl. ebd., § 146.
120 Peter König
Die Aufgabe der Wissenschaften besteht nicht nur darin, sich deutliche Be-
griffe von Sachen zu machen, Unterschiede aufzudecken, die gewöhnlich ver-
borgen bleiben, sondern auch dafür zu sorgen, daß verschiedene Dinge mit ver-
schiedenen Namen belegt werden und auf diese Weise eine Klärung und Ver-
deutlichung der natürlichen Sprache zustandekommt. In der natürlichen Spra-
che verdankt sich nach Wolff das meiste dem Zufall und „wenig oder nichts
der Planung". Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß „die Dinge nicht
nach deutlichen, sondern nach verworrenen Begriffen in Gattungen und Arten
eingeteilt wurden". Dies muß der Philosoph korrigieren, indem er den Unter-
schied der Dinge genauer untersucht und eine Einteilung in Gattungen und Ar-
ten vornimmt, die nicht auf verworrenen, sondern auf deutlichen Begriffen be-
ruht.22 Als Resultat dieser beständigen Differenzierungsbemühungen reichern
sich die Wissenschaften mit „Kunst-Wörtern" an. Im Hinblick auf diese Fach-
termini gilt,
(5) daß sie durch genaue Definitionen zu erklären sind.23
(6) Schließlich ist generell zu beachten, daß man sich in den Wissenschaften und
den Künsten „passender Worte" bedient und „nicht mehr Worte" macht als ge-
nügt, „um die Wahrheit in ihrer Blöße vorzutragen". Man soll daher auf jeden
rhetorischen Trick und alles schmückende Beiwerk verzichten: „Der Philosoph
schreibt, um zu nützen, nicht, wie der Redner, um zu überreden oder, wie der
Dichter, um zu erfreuen."24
Obwohl Wolff selbst nicht Rechtswissenschaft studiert hat und seine juristischen
Kenntnisse nur auf autodidaktischen Studien beruhen, stammt von ihm eines der
weitläufigsten und einflußreichsten Naturrechtswerke des 18. Jahrhunderts. Das in
den Jahren 1740 bis 1748 erscheinende Jus naturae methodo scientifica pertrac-
tatum umfaßt acht stattliche Quartanten, zu denen sich als neunter (von Wolff
ausdrücklich als solcher vorgesehener) Band das Jus gentium von 1749 hinzuge-
sellt. Hinsichtlich Umfang und Ausführlichkeit ist Wolffs Jus naturae vermutlich
in seiner Zeit und auch danach kein Werk eines anderen Autors an die Seite zu
stellen.
Es stellt keinen Widerspruch zu dem bisher Gesagten dar, daß Wolff mit seinem
Jus naturae und einer ganzen Reihe von anderen Schriften, die davor und danach
entstehen, trotz seines Eintretens für den Gebrauch der deutschen Sprache in der
Wissenschaft wieder auf Lateinisch veröffentlicht. Wolff versteht sich, beflügelt
22
Vgl. ebd., § 145, Anm.
23
Vgl. ebd., § 147.
24
Vgl. ebd., § 149 und Anm.
Christian Wolffs ,Jus Naturae ' 121
durch seinen Erfolg in Deutschland, immer mehr als .professor universi generis
humani' 25 und zielt mit seinen lateinischen Schriften ganz offenkundig auf ein
breites europäisches Publikum. Außerdem formuliert Wolff ja, wie sich gezeigt
hat, ganz bewußt Maximen, die von jeder Sprache erfüllt werden müssen, die in
den Dienst der Wissenschaft treten soll: Sie finden folglich Anwendung auch auf
das Lateinische, wie Wolff selbst nicht müde wird zu betonen. Das Ziel, dem die
Ausbildung einer wissenschaftlichen Terminologie zu dienen hat, behält Wolff
auch in seinem Jus naturae stets vor Augen: die Ausdrücke sollen das, was der
eine sich in seinem Geist vorstellt, bestimmt bezeichnen und damit einem anderen
vermitteln können. Bezogen auf die Sache sollen die Ausdrücke für Deutlichkeit
sorgen, indem sie Unterscheidungen fixieren, die leicht verloren gehen und deren
Verlust zu Verwirrungen führt. Solche Verwirrungen zählt Wolff in seinem Natur-
rechtswerk gleich reihenweise auf, vor allem im Hinblick auf das Römische Recht.
So werde etwa das ,patria imperium' mit dem .patria dominium' verwechselt: der
Hausherr hat, solange er lebt, das Verfügungsrecht über das Vermögen der Kinder.
Nach Wolff ist dies falsch: der Hausvater besitzt dieses Recht nur, solange die
Kinder in seinem Haus wohnen.
Eine augenfällige Besonderheit von Wolffs Jus naturae ist dessen ungewöhnli-
che thematische Breite und die Ausführlichkeit in der Behandlung von Details.
Letzteres wurde allerdings gelegentlich auch von Lesern, die Wolff gegenüber im
Grunde wohlwollend eingestellt waren, als weitschweifig empfunden. So mahnte
etwa Friedrich der Große in seinen Briefen an Wolff immer wieder an, daß dieser
sich kürzer fassen solle.26 Es genügt, einen beliebigen Band aufzuschlagen, um die
Vielfalt der Themen zu erkennen, auf die Wolff mit einer gewissen Neigung zur
Pedanterie eingeht. Im fünften Band etwa, der unter anderem von einigen Arten
von belästigenden Verträgen und von den Quasi-Kontrakten handelt, kommen Din-
ge wie der Geldwechsel, das Glücksspiel, das Hypothekenrecht oder einzelne
Rechte aus dem Bereich des Baurechts, wie das Lichtrecht oder das Traufrecht, zur
Sprache.
Im Hinblick auf all diese Details ist die Frage naheliegend und berechtigt, was
sie in einem Werk über das Naturrecht zu suchen haben. Denn wenn man davon
ausgeht, daß das Naturrecht diejenigen Grundprinzipien aufstellt, die (als norma-
tive Metaprinzipien) notwendig von jeder Rechtsordnung erfüllt werden müssen,
die richtiges Recht sein soll, dann ist nicht einzusehen, inwiefern im Rahmen einer
solchen Disziplin auf das Lichtrecht oder das Traufrecht, auf die Unterscheidung
verschiedener Strafen oder verschiedener Gärten (Obst- und Gemüsegarten) einge-
gangen werden muß. Bei diesen „realia" handelt es sich um empirische Bestim-
25
Vgl. dazu die entsprechende Formulierung Wolffs in dem ersten Programm nach seiner Rück-
kehr nach Halle; zit. bei Nippold, Otfried, Introduction, in: Wolff, Christian, Jus gentium me-
thodo scientificapertractatum. Oxford 1934. Bd. 2, S. XXII.
26
Nach Nippold, ebd.
122 Peter König
mungen, von denen man nicht a priori sagen kann, daß es sie geben muß, oder daß
eine Rechtsordnung, die etwa in Form von Baubestimmungen Nachbarschaftsver-
hältnisse juristisch regelt, eine naturrechtliche Grundlage besitzt. Zudem stellt sich
ein weiteres Problem: als eine rationale Wissenschaft sollte das Jus naturae Voll-
ständigkeit beanspruchen. Wie aber soll dieser Anspruch eingelöst werden, wenn
man sich etwa mit bestimmten Formen des Glücksspiels befaßt, andere Formen
aber nicht erwähnt?
Es ist jedoch Vorsicht geboten, wenn man Wolff an einem Verständnis von
Systematik messen will, das erst durch Kant und die Deutschen Idealisten kanoni-
siert worden ist. Wolffs Absicht in seinem Jus naturae ist eher anders zu beschrei-
ben. Wolff will mit dem Jus naturae eine Theorie der Ethik, der Ökonomie und
der Politik liefern. Das Jus naturae steht insofern zwischen der Philosophia prac-
tica universalis auf der einen Seite, der Ethik, der Ökonomie und der Politik auf
der anderen Seite und muß schließlich auch vom positiven Recht unterschieden
werden. Während sich die Philosophia practica universalis mit den allgemeinen
Regeln zur Leitung freier Handlungen beschäftigt, handelt es sich beim Naturrecht
und bei der Ethik, der Ökonomie und der Politik um eine .philosophia practica
specialis', die wiederum in zwei Teile zerfällt, in einen theoretischen Teil, der die
natürlichen Rechte und Pflichten des Menschen und die Naturgesetze behandelt,
aus denen sie abgeleitet werden können (das Jus naturae), und in einen Anwen-
dungsteil, in dem gezeigt wird, wie der Mensch seine freien Handlungen in Über-
einstimmung mit den Naturgesetzen bringen kann (die Ethica, die Oeconomia und
die Politica).
Der Grundgedanke des Jus naturae ist, daß wir durch die Natur verpflichtet
sind, uns zu vervollkommnen, und daß sich daraus verschiedene Pflichten ergeben,
denen jeweils Rechte korrespondieren, nämlich Rechte, die darin bestehen, daß
man die Handlungen, zu denen man verpflichtet ist, auch tun darf. Hierzu gehört
insbesondere das Recht, andere um Hilfe zu bitten, wenn wir selbst aus eigenen
Stücken unsere Vollkommenheit nicht vermehren können. Gerade die eigene Voll-
kommenheit als ein durch die natürliche Pflicht aufgegebener Zweck unseres Han-
delns erlaubt es nach Wolff, im Hinblick auf alle Handlungsmöglichkeiten die
Frage zu stellen, welche der jeweiligen Handlungsalternativen als Pflicht geboten
ist und ob daher ein Recht besteht, sie zu wählen. So kann man beispielsweise
fragen, ob das Glücksspiel erlaubt ist. Dazu muß zunächst definiert werden, was
Glücksspiele sind - Wolff definiert sie als Verträge mit einem gewissen Einsatz,
aber einem ungewissen Ausgang. Und es muß dann untersucht werden, wie solche
Verträge im Hinblick auf die Vervollkommnungspflicht zu beurteilen sind, denen
jeder einzelne unterworfen ist. Wolff kommt zu dem Ergebnis, daß Glücksspiele
nicht erlaubt sind, weil sie dazu fuhren können, daß der einzelne sein Vermögen
verliert und ruiniert wird (was seine Vollkommenheit einschränkt), daß sie jedoch
Christian Wolffs ,Jus Naturae ' 123
erlaubt sind, wenn die Erträge den Bedürftigen zufließen (in diesem Sinn sind Hüt-
chenspiele verboten, staatliche Lotterien erlaubt).
Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, wie weit im Jus naturae solche Aus-
künfte über Pflichten und Rechte im Hinblick auf konkrete Handlungsmöglichkei-
ten zu treiben sind. Wolff selbst scheint sich an einer anderen Stelle dieser Schwie-
rigkeit bewußt zu sein. Nachdem er ausgeführt hat, daß der Staat für Besserungs-
anstalten, für Waisenheime und Armenschulen usw. zu sorgen hat, fragt er sich, ob
nicht im Naturrecht auch die Pflichten behandelt werden müßten, die jedes Mit-
glied eines solchen Instituts zu befolgen habe. Auch wenn man dies vielleicht
grundsätzlich bejahen müßte, ist nach Wolff hier doch in der Tat eine Grenze der
Darstellung gegeben, weil es genüge, die Prinzipien anzugeben, aus denen sich
diese Pflichten jeweils ableiten lassen.27 Man kann daher den Umstand, daß Wolff
im Jus naturae Realien und empirische Bestimmungen behandelt, so interpretie-
ren, daß er einerseits die Prinzipien für die Anwendungsteile angeben möchte,
andererseits gerade die Brauchbarkeit dieser Prinzipien an möglichst vielen ausge-
wählten Anwendungsfallen unter Beweis stellen möchte. Auch die ausufernde
Wolffsche Systematik stünde insofern ganz im Zeichen des Pragmatismus.
Aus einem besonderen Grund ist das Jus naturae jedoch auch eine Fundgrube
für die deutsche Rechtssprache zur Zeit der Aufklärung.28 Denn Wolff pflegt, an
manchen weit über den Text verstreuten Stellen deutsche Ausdrücke hinter den
entsprechenden lateinischen einzufügen, in der Regel, indem er die Formel ver-
wendet: „idiomate patrio dicitur" oder „vernáculo lingua dicimus". Ein typisches
Beispiel hierfür findet sich in einem der ersten Paragraphen des fünften Bandes,
wo es im Hinblick auf das „Cambium in genere & manuale in specie" heißt: „Geld
wechseln, einwechseln und verwechseln, ita ut vocabula einwechseln sumatur de
pecunia, quae recipitu, verwechseln autem de ea, quae datur & wechseln sit voca-
bulum generale. Dicere etiam solemus: das Geld umsetzen."
Für diese Einfügungen deutscher Rechtsbegriffe scheinen sich keine festen
Regeln angeben zu lassen. Geht man die einzelnen Bände des Jus naturae nach
solchen Ausdrücken durch, dann gewinnt man den Eindruck, daß Wolff wahllos
und inkonsequent verfahrt, da er mal einen lateinischen Ausdruck mit seinem
deutschen Gegenstück versieht, mal darauf verzichtet. So gibt er etwa im achten
Band an einer Stelle, an der er die Anstalten aufzählt, für deren Einrichtung der
,rector civilis' (der Staatslenker) Sorge zu tragen hat, die deutschen Bezeichnungen
27
Cf. Jus naturae, (wie Anm. 7), Bd. VIII, § 742, Anm.
28
Hattenhauer, Hans, Zur Geschichte der deutschen Rechts- und Gesetzessprache. Hamburg
1987, weist zwar auf die allgemeine Bedeutung Wolifs für den „Durchbruch bei der Verede-
lung des Deutschen zur leistungsfähigen und selbstbewußten Wissenschaftssprache" (S. 29)
hin, geht jedoch nicht auf die deutschen Ausdrücke im Jus naturae ein. Vgl. zu Wolffs Rolle
bei der Entwicklung einer deutschen Wissenschafts- und speziell Rechtssprache auch: Heller,
Martin Johannes, Die Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert. Frankfurt
a.M./Bern/New York/Paris 1992, S. 125-147.
124 Peter König
29
„Nolumus appellare societatem, quia hoc vocabulum alium obtinet significatum, qui commode
hue applicari non potest [...]. Unde & die Gewercken socios vocare nolumus, etsi quemadmo-
dum sociorum lucrum ac damnum commune sit pro rata."
30
(Jus naturae, Bd. V, § 462) „Pecunia, quam conferre tenentur kuckuum domini in metalla
emenda & praeparanda impendendam, a nobis symbola".
31
(Jus naturae, Bd. V, § 463) „Si pretium metallorum superat sumtus in rem metallicam facien-
dos a dominis kuckuum; excessus dicitur Proventus sive reditus partium metallicorum, ve!
kuckuum".
32
„Idiomate patrio Kux-Cräntzler appellantur ii, quibus publica autoritate kuckuum venditio
committitur, ut omnis fraus evitetur, & venditio kuckuum Kwc-kränzeln vocatur. Leges positi-
vae eorum officium definiunt, ne fraude damnum detur rei metallicae exercendae. Qui ad kuk-
kus infoecundos emendum spe falsa inducunt emtores sermone patrio Kux-Partierer vocan-
tur." Vgl. zu dem Wortfeld „Kux-" insbesondere das Deutsche Rechtswörterbuch (hg. von der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften). Weimar 1984-1991, Bd. 8, Sp. 233-238.
126 Peter König
33
Jus Naturae, (wie Anm. 7), Bd. V, § 949.
34
Ebd., Bd. I, § 169.
Christian Wolffs ,Jus Naturae ' 127
deutschen Sprache leichter verstanden werde, in der von der „gemeinen Wohl-
fahrt", häufig in Verbindung mit den Wörtern „Ruhe" und „Sicherheit" gesprochen
werde.35 In der Tat aber unterscheidet Wolff im weiteren Verlauf des Jus naturae
zwischen einer ganzen Reihe von „Wohlfahrts"begriffen. So muß seiner Auffas-
sung nach zwischen dem ,bonum commune' und der ,salus civitatis weiter zwi-
schen dem ,bonum privatum', dem ,bonum publicum' und der ,salus publica', der
,salus populi', der ,salus societatis' und der ,perfectio societatis' unterschieden
werden. Im Hinblick auf alle diese Ausdrücke müßte ein deutsches Äquivalent
gesucht werden. Daß Wolff dies zu tun verabsäumt, ist vielleicht weniger wichtig
als die Tatsache, daß er seinen Lesern einschärft, wie sie verfahren müßten, wenn
sie solche Ausdrücke im Deutschen suchen wollten.
„Idiomate patrio ea potissimum intelligitur, quando die gemeine Wohlfahrt dicitur, praesertim
si junguntur verba Ruhe und Sicherheit, quamvis voce illa sensu latiori commune bonum
etiam designare solemus, quod tranquillitatem & securitatem simul complectitur. Nos signifi-
catum vagum reduximus ad fixum, quo in sequentibus utemur." Jus Naturae, (wie Anm. 7),
Bd. VIII, § 13, Anm. Vgl. hierzu: Thomann, Marcel, Christian Wolff, in: Stolleis, Michael
(Hg.), Staatsdenker der frühen Neuzeit, (wie Anm. 5), S. 266.
DANIEL KROCHMALNIK (Heidelberg)
Ich habe schon mehrmalen angeführt, daß nach der Meynung aller unserer Rabbinen, die mo-
saischen Gesetze nur die jüdische Nation verbinden, alle übrige Völker aber angewiesen sind,
sich an das Gesetz der Natur u. an die Religion der Patriarchen zu halten. Da aber die mehre-
sten Völker von jener Einfalt der ersten Religion, zum Nachtheil der Wahrheit, abgewichen,
und von Gott und seiner Regierung irrige Meynungen hegen; so scheinen die Zeremonialge-
setze der Juden, unter andern uns unergründlichen Ursachen, zur Nebeneinsicht [sie!] zu ha-
ben, diese Nation von allen übrigen sichtbarlich auszusondern, und sie durch viele religiöse
Tathandlungen unaufhörlich an jene heilige Wahrheiten zu erinnern, die uns allen unvergeß-
lich seyn sollten. [...] Dahin zielen alle unsere Gebräuche, die wir beobachten, und die einem
jeden, der die Absicht davon nicht einsiehet, notwendig überflüßig, beschwerlich und lächer-
lich scheinen müssen.'
Art „nomos empsychos", eine „lex animata".5 Dabei wirkt die „Zeichensprache"6
der Zeremonien, wie Mendelssohn in einem langen Exkurs seines Jerusalem aus-
fuhrt, nicht nur als Mnemotechnik, sondern auch als Medium gegen die religiöse
Depravation. Die „lebendige" Gestenschrift unterscheidet sich sowohl von der
Laut- wie von der Bilderschrift und wirkt so auf der einen Seite gegen den toten
Buchstaben des Dogmatismus und auf der anderen Seite gegen die toten Bilder der
Idolatrie, sie ist das probate Mittel gegen die Degeneration der natürlichen Reli-
gion in Verbalismus und Fetischismus, in Christentum und Heidentum, Protestan-
tismus und Katholizismus - wenn sich Mendelssohn freilich auch keinen Illusio-
nen hinsichtlich ihrer Degeneration in den Ritualismus hingibt.7
Obwohl Mendelssohn den Zeremonien also „ächte, gediegene Bedeutung"8
unterlegt, konnte der Rabbiner Samson Raphael Hirsch zwei Generationen später
nicht mehr fassen, daß Mendelssohn die heiligsten Gesetze mit einem Wort be-
zeichnet hatte, das mehr als jedes andere, so Hirsch, „das äusserlich Feierliche und
innerlich Hohle einer Handlung" ausdrückt. Er hielt zwar nicht Mendelssohn, wohl
aber diesen „ursprünglich vielleicht unschuldig gemeinten Namen" für die Ursache
der religiösen Auflösung des Judentums: „Man hatte nur das Wort Zeremonialge-
setz' zu lehren, so trug jeder von selbst die Berechtigung im Busen, sich nach Be-
lieben Dispens zu erteilen."9 Diese assoziationspsychologische Behauptung kann
verifiziert werden. Die jüdischen Aufklärer in der Nachfolge Mendelssohns und
Kants diskreditierten mit dem Terminus .Zeremonialgesetz' bewußt das mosaische
Gesetz, das ihnen als größtes Emanzipationshindernis erschien. Die Schüler Men-
delssohns, David Friedländer und Lazarus Bendavid, brauchten kein schlechtes
Brief Nr. 612 v. 22. Sept. 1783, in: JubA, Bd. 13: Briefwechsel III (1977), S. 134, Zeilen 5 u.
17-18 sowie Brief Nr. 634 v. 1. März 1784, ebd., S. 179, Zeile 26.
5
Zu diesen Begriffen vgl. Ehrhardt, Arnold A. T., Politische Metaphysik von Solon bis Augu-
stin. Tübingen 1959, hier Bd. 1 : Die Gottesstadt der Griechen und Römer (1969), S. 169-172,
insb. S. 170, Anm. 3. Flavius Josephus beschreibt in seiner apologetischen Schrift Contra
Apionem II, § 22 mit Blick auf den jüdischen Tempelstaat das öffentliche Leben als eine „ein-
zige heilige Zeremonie", Josephus in nine volumes, hg. v. Η. St. J. Thackeray u.a. Cambridge,
Mass./London 1926-1965, Bd. 1: The Life, Against Apion (1926), S. 368f. Josephus gebraucht
den Begriff „teleté", was soviel wie „Einweihungszeremonie", „Initiationsritus" bedeutet.
6
Brief Nr. 612 an Herz Homberg v. 22. 9. 1783, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. 13: Briefwechsel
///(1977), S. 134, Zeilen 6-7.
7
Vgl. Krochmalnik, Daniel, Das Zeremoniell als Zeichensprache. Moses Mendelssohns Apolo-
gie des Judentums im Rahmen der aufklärerischen Semiotik, in: Simon, Josef; Steg-
maier/Werner (Hg.), Zeichen und Interpretation IV. Frankfurt/M. 1998, S. 252-267.
8
Brief Nr. 612 an Herz Homberg v. 22. 9. 1783, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. 13: Briefwechsel
///(1977), S. 134, Zeilen 19-20.
9
Hirsch, Samson Raphael, Die jüdischen Zeremonialgesetze, in: Jeschurun. Monatsblatt zur
Förderung jüdischen Geistes und Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 1 (1854/55), S. 71.
Ähnlich sein Schüler Kayserling, Meyer, Moses Mendelssohns philosophische und religiöse
Grundsätze im Hinblick auf Lessing. Leipzig 1856, S. 120. Vgl. Krochmalnik, Daniel, Die
Symbolik des Judentums. Nach Moses Mendelssohn, Isaac Bemays und Samson Raphael
Hirsch, in: Judaica. Beiträge zum Verständnis des jüdischen Schicksals in Vergangenheit und
Gegenwart 49 (1993), S. 206-219.
130 Daniel Krochmalnik
Gewissen zu haben, wenn sie im Namen der höheren Moral- und Staatsgesetze die
„Abwerfung des lästigen Jochs der Ceremonial- und Ritualgesetze" forderten.10
Emanzipation bedeutete für sie in erster Linie Emanzipation vom jüdischen Ge-
setz, welches sich unter dem Titel „Ceremonial- und Ritualgesetz" sozusagen
selbst erledigte. Bendavid will mit den Juden in dieser Sache „deutsch und ohne
Mantel sprechen".11 Er hält ihnen in seiner Schrift Etwas zur Charachteristick der
Juden (1793) „den Unfug mit dem schändlichen, sinnlosen Ceremonialgesetz" vor
und appelliert an den Staat, sie abzuschaffen, „weil die Beybehaltung einen wirk-
lich schädlichen Einfluß auf den Charakter der Juden, und von ihm auf den Staat
haben muß".12 Bendavid will seine Glaubensgenossen so weit aufklären, daß sie
eine staatliche Abrogation der „Zeremonialgesetze" nicht als Zwang, sondern als
Wohltat empfinden. Kant hatte die scharfe Polemik seines Schülers Bendavid
gegen das jüdische Zeremonialgesetz13 allerdings mißverstanden, wenn er sich im
Streit der Fakultäten (1798) bei seinem Vorschlag zur „Euthanasie des Judentums"
durch die Bekehrung zur moralischen Religion auf ihn beruft.14 Allerdings konnte
er Bendavid als Zeugen dafür anführen, daß unter den Juden „geläuterte Religi-
onsbegriffe erwachen, und das Kleid des nunhero zu nichts dienenden, vielmehr
alle wahre Religionsgesinnung verdrängenden, alten Kultus abwerfen". David
Friedländer, der dann in seinem Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herren
Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdi-
scher Religion (1799) tatsächlich eine kollektive Konversion der Juden zu einem
zur „moralischen Religion" geläuterten Christentum erwägt, hätte sich auf das
Euthanasieprogramm Kants berufen können, der fortfahrt: „Da sie nun so lange
das Kleid ohne Mann [Kirche ohne Religion] gehabt haben, gleichwohl aber der
Mann ohne Kleid [Religion ohne Kirche] auch nicht gut verwahrt ist", mögen sie
die „alten Satzungslehren" aufheben und vorläufig eine staatlich sanktionierte
jüdische Spielart des Christentums annehmen, dessen Hauptverdienst nach Kant
eben der Umsturz des „alle moralische Gesinnung verdrängenden Zeremonialglau-
ben[s]" gewesen sei.15 Nun wird klar, was Samson Raphael Hirsch, der angetreten
10
Friedländer, David, Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herren Oberconsistorialrath und
Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion. Berlin 1799, S. 48.
11
Bendavid, Lazarus, Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793, S. 55.
12
Ebd., S. 54.
13
Ebd., S. 51 f., vgl. dazu Guttmann, Jacob, Lazarus Bendavid. Seine Stellung zum Judentum
und seine literarische Wirksamkeit, in: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des
Judentums 61 (1917) S. 38-43.
14
Kant, Immanuel, Werke. 12 Bde., hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 6 1983, hier Bd. 11:
Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, S. 321. Der
Passus lautet: „Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion, mit Verlas-
sung aller alten Satzungslehren". Auch nach Mendelssohn soll das jüdische Zeremonialgesetz
lediglich bis zur „heilsamen Revolution" der Offenbarung der Menschheitsreligion in Kraft
bleiben, vgl. Mendelssohn, Gegenbetrachtungen, (wie Anm. 1), S. 19-34.
15
Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werke,
(wie Anm. 14), Bd. 8: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2, S. 737, Anm.
,Zeremonialgesetz ' 131
16
Krochmalnik, Zeremoniell, (wie Anm. 7).
17
5 Mose 4, 8; 4, 14; 5, 1; 6, 17; 8,11; 11, 1.
18
Babylonischer Talmud, Traktat Joma, Bl. 67b.
19
Thomas von Aquin, Summa Theologica I—II, 99, 4 (Sed contra u. Respondeo), in: Die Deut-
sche Thomas-Ausgabe. Bd. 13: Das Gesetz, hg. v. Otto Hermann Pesch. Heidelberg 1977,
S. 181 f. Zur Herkunft der Klassifikation vgl. Pesch, Otto Hermann, Sittengebote, Kultvor-
schriften, Rechtssatzungen, in: Eckert Willehad Paul OP (Hg.), Thomas von Aquin, Interpreta-
tion und Rezeption. Mainz 1974 (Walberberger Studien 5), S. 489-518. Über den Einfluß von
Maimonides vgl. insbesondere Guttmann, Jacob, Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum
Judenthum und zur jüdischen Literatur, in: Collected Papers of Jacob Guttmann, hg. v. Ste-
ven T. Katz. New York 1980 [Nachdruck der Ausgabe Göttingen 1891], S. 89. Hier und in
Summa Theologica I—II, 101, ad secundum und tertium, (ebd., S. 254) gibt Thomas eine Ety-
mologie des Wortes .Zeremonie'.
132 Daniel Krochmalnik
20
Summa Theologica, (wie Anm. 19), I-II, 101,2,257ff., nach Hebr. 10, 1.
21
Summa Theologica Ι-Π, 102, 1-6,269-378. Teilweise in Anschluß an Maimonides' Erklärung
der Gebote im Führer der Unschlüssigen, vgl. Guttmann 1891, (wie Anm. 19), S. 80-92.
22
Summa Theologica, (wie Anm. 19), I-II, 103, 3, 391f., insb., ad primum, 397-399.
23
Martini, Raymundi OP, Pugio fidei adversus Mauros et Judaeos. Folio 365, Ed. Carpzov,
Leipzig 2 1678, S. 456. Dabei bezieht er sich auf: Babylonischer Talmud, Traktat Meila, Bl.
17a, vgl. Bonfil, Ruben, The Nature of Judaism in Raymundus Martini's Pugio Fidei (hebr.),
in: Tarbiz 40 (1970/71), S. 366.
24
Summa Theologica, (wie Anm. 19), I-II, 107, 2 und ad prim., in: Die Deutsche Thomas-Aus-
gabe. Bd. 14, hg. v. Thomas-Albert Deman. 1955, S. 28ff.
25
Vgl. Schimon ben Zemach Duran (1361-1444), Magen Awot (Schild der Väter, ca. 1405), 2,
4. Dieser polemische Abschnitt ist bis ins 18. Jahrhundert separat, unter dem Titel Keschet
UMagen (Bogen und Schild), gedruckt worden. Wir zitieren nach: Eisenstein, Judah David A.
(Hg.), Collection of Polemics and Disputations [hebr.]. O.O. 1969 [Nachdruck der Ausgabe
o.O. 1928], S. 118-133. Die Distinktion von Thomas in hebr. Umschrift, ebd., S. 129, Zeile 2
- S . 130, Zeile 1.
26
Albo, Josef, Sefer Halkkarim, hg. u. übers, v. Isaac Husik, Book of Principles (hebr., engl.). 5
Bde. Philadelphia 1929/30, hier Bd. ΙΠ, S. 25. Schlesinger, W. und L. (Hg., Üb.), Buch Ikka-
rim. Grund- und Glaubenslehren der Mosaischen Religion (dt.). Frankfurt/M. 1844, S. 333f. u.
J. D. Eisenstein-Nachdruck 1969, S. 11 Iff. Albo zitiert wie Zemach Duran den lateinischen
Begriff .ceremoniales' in hebräischer Umschrift. Die griechische Etymologie des Begriffs bei
Duran und Albo zeigt, daß der Protagonist nicht direkt aus Thomas zitiert, der eine griechische
,Zeremonialgesetz ' 133
Terminus ,caeremonia' meint hier: abrogiertes Gesetz. Für den Spiritualismus der
christlichen R e f o r m b e w e g u n g e n im 15. und 16. Jahrhundert waren freilich auch
die kirchlichen Zeremonien religiös suspekt. Sie galten als religiös indifferente 2 7
oder geradezu als j ü d i s c h e Veranstaltungen. B e i Erasmus etwa ist der Ausdruck
J ü d i s c h e Zeremonien" (ceremonia judaica) 2 8 schon ein Pleonasmus, und Christen,
die darin ihr Heil suchen, werden mit den patristischen Kategorien des „Judais-
mus" und „Judaisierens" verurteilt. 29 D a s Substantiv .Zeremonie' verlangt hier
z w i n g e n d nach d e m Adjektiv j ü d i s c h ' , und der Jude erscheint als Ritualist ,kat
exochen'. Für die Reformation ist das Wort .Zeremonie' ein Synonym für .Werke'
und mit der ganzen P o l e m i k g e g e n die Werkgerechtigkeit belastet. D i e Zeremonien
werden als heilsnotwendige Werke („ex opere operato sine b o n o m o t u utentis")
verworfen 3 0 und allenfalls als religiös indifferente und arbiträre Lehr- und Ord-
nungsmittel (adiaphora) zugelassen. 3 1 D i e gegenteilige katholische A u f f a s s u n g
brandmarkt Melanchthon in seiner Apologie des Augsburger Bekenntnisses als
„öffentlich jüdisch". 3 2 W i e ambivalent die Reaktion des Katholizismus auf den
protestantischen Antizeremonialismus sein konnte, k o m m t in e i n e m Gedanken
Etymologie ablehnt, vgl. Summa Theologica, (wie Anm. 19), Ι-Π, 101, ad tertium, S. 254.
Obwohl die Abhängigkeit Albos von Duran sonst offenkundig ist, bezieht er sich hier aus-
drücklich auf eine von ihm geführte Disputation und bestimmt die Distinktion auch inhaltlich
anders. Vgl. ferner den hebräischen Bericht der Disputation von Ferrara (1617), in: J. D. Ei-
senstein-Nachdruck 1969, (wie Anm. 25), S. 199.
27
Cues, Nikolaus v., Über den Frieden im Glauben, hg. v. Ludwig Möhler. Leipzig 1943 (Philo-
sophische Bibliothek, Bd. 223). De pace fidei 2, 6 u.ö., S. 93 u. 102. Die Schrift ist von der
Neologie mit ausgesprochen antizeremonialistischer Tendenz rezipiert worden, wie Semler, Jo-
hann Salomon, Des Kardinals Nicolaus von Cusa Dialogis von der Übereinstimmung und
Einheit des Glaubens, 1787 beweist.
28
Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis christiani (1503), VIH, 5, in: ders., Ausgewählte
Schriften (lat.-dt.), hg. v. Werner Welzig. Darmstadt 1967ff„ hier Bd. 1 (1968), S. 238, vgl.
Reventlow, Henning Graf, Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibel-
verständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der
Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen 1980 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmenge-
schichte, Bd. 30), S. 37-68, 82ff.
29
Erasmus von Rotterdam, Handbüchlein des christlichen Soldaten, VIII, 5, in: ders., Ausge-
wählte Schriften, (wie Anm. 28), Bd. 1 (1968), S. 208,211, 213,217, 222, 224.
30
Augsburgische Konfession (1530), Art. XXVI und Art. XXVIII, in: Die Bekenntnisschriften
der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß.
Göttingen n 1992, S. 100, 18ff. sowie S. 126, 21ff., vgl. Berns, Jörg Jochen, Luthers Papstkri-
tik als Zeremoniellkritik. Zur Bedeutung des päpstlichen Zeremoniells für das fürstliche Hof-
zeremoniell der frühen Neuzeit, in: Berns, Jörg Jochen/Rahn, Thomas (Hg.), Zeremoniell als
höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, S. 159-173.
31
Augsburgische Konfession, Art. XV, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutheri-
schen Kirche, (wie Anm. 30), S. 69, 7fF. und ebd., Schwabacher Artikel, Art. 17. Vgl. Philipp
Melanchthons Entwürfe zur Vorrede zur Augsburgischen Konfession (1530), in: Die Bekennt-
nisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, S. 42, 21 f.
32
Melanchthon, Philipp, Apologia Confessiones Augustanae (1531), die auf die Confutatio
Confessionis Augustanae der katholischen Kontrahenten erwidert, Art. XV, in: Die Bekennt-
nisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, (wie Anm. 30), S. 300, 1 Off.; Art. XXIV,
in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, S. 365, 14-18.
134 Daniel Krochmalnik
Pascals zum Ausdruck: „C'est être superstitieux de mettre son espérance dans les
formalités (et dans les cérémonies); mais c'est être superbe de ne pas vouloir s'y
soumettre." 33 Im 17. Jahrhundert finden sich bei katholischen Autoren durchaus
auch entmystifizierende und rationalistische Deutungen der Riten.34 Doch das
Verhalten der katholischen Kirche im Ritenstreit zeigt, daß Rom den Indifferen-
tismus verworfen hat,35 und Titel wie „Ceremoniale Romanum", „Hlg. Zeremo-
nien-Kongregation" usw. belegen die positive Wertung des Begriffs. Der prote-
stantische Antizeremonialismus nimmt dagegen in der Polemik der englischen
Deisten gegen die „papistische" Hochkirche geradezu gnostische Züge an. Thomas
Morgan vertritt in seinem Dialog Der Moralphilosoph (1737), zwischen einem
„christlichen Deisten" (nämlich Morgan) und einem „christlichen Juden" (sie!), die
These, daß das wahre Christentum mit der natürlichen Religion und Moral über-
einstimme, während das Judentum oder das veijudete Christentum von der natürli-
chen Religion abgefallen seien. 36 Nach Morgan entspricht das Evangelium, das
„Gesetz Gottes" (Law of God), der „Religion der Natur" (Religion of Nature) bzw.
dem ewigen „Gesetz der Natur" (Law of Nature), während das mosaische Gesetz
nur ein bürgerliches, politisches, nationales Judizialgesetz der Juden sei. Er spricht
zwar dem mosaischen Gesetz die Moral nicht ganz ab, doch als Judizialgesetz
verpflichte es nur zur äußeren Legalität und nicht zur inneren Moralität. 37 Das
mosaische Zeremonial- und Ritualgesetz (ritual, ceremonial Law), das Gesetz der
Priesterreligion (the legal constitution of the Priesthood), sei aber nicht nur mora-
lisch mangelhaft, es stehe vielmehr im vollkommenen Gegensatz zum göttlichen,
natürlichen Moralgesetz. Darauf bezieht sich, nach Morgan, die Rede des Apostels
vom fleischlichen, weltlichen und tödlichen Gesetz, das er gnostisch als „Joch der
33
Vgl. Pascal, Blaise, Pensées, hg. ν. Michel le Guern. 2 Bde. Paris 1977, Bd. II, S. XVII, L;
Fragment Nr. 345, Bd. I, S. 225. In dieser Edition fehlt justament der eingeklammerte Aus-
druck.
34
Burke, Peter, Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock [1987],
übers, v. Wolfgang Kaiser. Berlin 1986, S. 193.
35
Vgl. Etiemble, Renée, Les Jésuites en Chine. La querelle des rites 1552-1773. Paris 1968. Zur
Wende in der Ritenfrage im 2. vatikanischen Konzil vgl. Lorenzer, Alfred, Das Konzil der
Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt/M. 1984; Dou-
glas, Mary, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriege-
sellschaft und Stammeskultur [ 2 1973], übers, v. Eberhard Bubser. Frankfurt/M. 1986.
36
Morgan, Thomas, The Moral Philosopher. In a Dialogue between Philaletes, a Christian Deist,
and Theophanes, a Christian Jew, hg. v. René Welleck. New York/London 1977 [Nachdruck
der Ausgabe London 1737]. Zu Morgan vgl. Lechler, Gotthard Victor, Geschichte des engli-
schen Deismus [1841], hg. v. Günter Gawlick. Nachdruck Hildesheim 1965, S. 370-387; Re-
ventlow, (wie Anm. 28), S. 649-662; Krochmalnik, Daniel, Die Lehre von der Unsterblichkeit
der Seele in der Religionsphilosophie der Aufklärung in: Goodman-Thau, Eveline (Hg.), Vom
Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin 1997, S. 79-107,
hier S. 80-82.
37
Ebd., S. 26f.
,Zeremonialgesetz ' 135
Finsternis" bezeichnet und einem Nationalidol der Juden zuschreibt.38 Das gnosti-
sche, antijüdische Rezidiv ist in der „Religionsphilosophie der Aufklärung", wie
Troeltsch den Deismus genannt hat, so stark, daß die Verteidigung des mosaischen
Gesetzes zu einem Symptom für Orthodoxie wurde.39 An die englischen Deisten,
speziell an Morgan, knüpfte in Deutschland Hermann Samuel Reimarus (1694—
1768), der „größte Systematiker des Deismus" an.40 In seiner Apologie oder
Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, aus denen Lessing Fragmente
eines Ungenannten (1774-77) veröffentlicht hat, sind die „äußerlichen Ceremo-
nien" ein wichtiges Beweisstück für die moralische Verurteilung der Bibel - und
des Judentums. Der sparsame „Verehrer Gottes" aus Hamburg betrachtet insbe-
sondere die levitischen Zeremonien als moralisch gleichgültige, betrügerische
Machenschaften der Priester. Der Gesetzgeber, schreibt er,
belästigt das Volk mit unnützen, kostbaren und unerträglichen Cerimonien. Von dem Nutzen
und der Bedeutung aller dieser Gebräuche giebt er nicht die geringste Erklärung, und von dem
Wesentlichen der Religionen, dem Erkenntniß Gottes und den Moral-Pflichten, sagt er kaum
zehn Worte.41
38
Ebd., S. 29 u. 378, 381, 387. Zum gnostischen Rezidiv dieses Antinomismus vgl. Lechler,
(wie Anm. 36), S. 373, 385-387; Reventlow, (wie Anm. 28), S. 661. Entgegen der Aussage
von Katz, Jacob, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, übers,
v. Ulrike Berger. München 1989 [Übersetzung der Ausgabe 1980], S. 35fF. bezieht sich Mor-
gan durchaus auch auf die zeitgenössischen Juden, ebd., S. 265.
39
Vgl. z.B. Warburton, William, The Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles
of a Religious Deist, from the omission of the doctrine of a future State of Rewards and Pu-
nishments in the Jewish Dispensation in six Books. 2 Bde. London 1738-1741, 2 1742, 4 1765,
5
1766. Nachdruck hg. v. René Wellek. 4 Bde. (Bd. 1 = Buch 1-3, Bd. 2 = Buch 4-6 ('1738-
1741), Bd. 3 u. 4 = Buch 4 u. 5 ( 4 1765). New York/London 1978. Deutschprachige Ausgabe
von Johann Christian Schmidt. 3 Bde. Frankfurt a.M./Leipzig 1751-1753, hier Warburton-
Nachdruck 1978.
40
Vgl. Gawlick, Günter, Reimarus und der englische Deismus, in: Gründer, Karlfried/Rengstorf,
Karl Heinrich (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Heidelberg
1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 11), S. 43-54.
41
Reimarus, Hermann Samuel, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Got-
tes, hg. v. Gerhard Alexander. 2 Bde. Frankfurt/M. 1972, hier Bd. 1, S. 814ff.; vgl. ferner
Bd. 1, S. 406ff. (Über levitische Reinheit und jüdischen Schmutz), S. 703ff., 750ff. Vgl. Men-
delssohns Urteil Uber das Manuskript im Brief an Lessing v. 29.11.1770, in: JubA, (wie
Anm. 1), Bd. XII. 1, Nr. 352, S. 237, Zeilen lOff.
42
Vgl. Kraus, Hans-Joachim, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Te-
staments. Neukirchen-Vluyn 4 1988, S. 106ff.
136 Daniel Krochmalnik
welche dem Heidentum und den gröbsten Sünden entgegen waren".43 Gegen den
unhistorischen Antizeremonialismus des Fragmentisten wendet der bedeutendste
Vertreter der historisch-kritischen Methode im 18. Jahrhundert, Johann Gottfried
Eichhorn, ein: „Kann schon Morgendämmerung das helle Licht des Mittags sein?"
und entschuldigt das levitische Zeremoniell:
Es steht ja alles nur um der Geschichte willen da; zur Nachricht, unter welchen Zeremonien zu
einer Zeit, die viele Zeremonien beim Gottesdienst bedurfte, die Idee von einem höchsten We-
sen sich erhalten habe; mit welcher Last von Gebräuchen der jüdische Geist allmählich gebro-
chen und ermüdet worden, um zuletzt, dieser Bürde überdrüssig, sie selbst wegzuwerfen und
eine neue zeremonienfreie geistige Religion anzunehmen. 44
Auch die bereits angeführten heftigen Angriffe Kants auf das jüdische Zeremoni-
algesetz gehören zu den Ausläufern des deistischen Antizeremonialismus. Die
ganze Entwicklung vom 13. bis zum 18. Jahrhundert läßt sich vielleicht mit der
Veränderung in dem von Thomas bereitgestellten Begriffsgefuge beschreiben. Das
Zeremonialgesetz wird im religionsgeschichtlichen Prozeß vom Moralgesetz abge-
trennt und mit dem jüdischen Judizialgesetz identifiziert. Vor diesem Hintergrund
wird etwa die Äußerung Kants verständlich:
Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutari-
scher Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zu-
sätze entweder damals schon, oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind
schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchen, gehörig. 45
43
Vgl. Vorrede von Johann Salomon Semler zu den von ihm herausgegebenen Vorlesungen von
Baumgarten, Siegmund Jacob, Geschichte der Religionsparteien. Hildesheim 1966 [Nach-
druck der Ausgabe Halle 1766], hier S. 5ff.
44
Allgemeine Bibliothek der biblischen Literatur 1 (1787), S. 18f. Eichhorn bezieht sich hier auf
Übrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbiittlischen Fragmentisten. Ein Nachlaß von
Gotthold Ephraim Lessing. Herausgegeben von C. A. E. Schmidt [d.i. Andreas Riem] (1787),
zit. bei Kraus, (wie Anm. 42), S. 136f.
45
Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793], in: ders.,
Werke, (wie Anm. 14), Bd. 4, S. 789.
46
Auf Spinozas Theologisch-Politischen Traktat nimmt Reimarus ausdrücklich Bezug: Reima-
rus, (wie Anm. 41), I, I, VI, 2, § 6, Anm. b., Bd. I, S. 857. Noch ein anderer Gebannter der Ge-
meinde Amsterdam spielt hier eine Rolle, nämlich Uriel Acosta, vgl. Reimarus, (wie Anm.
41), I, I, 4, § 8, Bd. 1, S. 134f. In seiner Apologie Exemplar vitae humanae 1922 stellt er die
Ausdrücke „ceremonialia, ritus, statua" (S. 119, lOf.) dem moralisch guten, vernunftgemäßen
Leben gegenüber: ebd., S. 119, Zeilen 16ff., dt. S. 141, Zeilen 11-24.
,Zeremonialgesetz ' 137
durch seine Definition des Gesetzes aus, daß das Zeremonialgesetz ein göttliches
Gesetz sein könne. Er unterscheidet zunächst natürliche von willkürlichen Geset-
zen (lex naturalis, lex positiva) und unterteilt letztere in ein göttliches und ein
menschliches Gesetz (lex divina, lex humana), das sind Staats- und Sittengesetz.47
Das Sittengesetz hat die menschliche Vollkommenheit (perfectio humana) zum
Ziel, die in der Gotteserkenntnis (cognitio dei) fußt und in der Gottesliebe (amor
dei) gipfelt. Dieses Gesetz sei also nicht, wie das mosaische Gesetz, göttlich, weil
es von Gott stamme, sondern weil es zu Gott hinführe. 48 Die Mittel zur Verwirkli-
chung dieses Zieles, die sich aus der Natur der Gotteserkenntnis ergeben, nennt
Spinoza „Befehle Gottes" (jussa Dei), „weil sie sozusagen von Gott, sofern er in
unserem Geist existiert, uns vorgeschrieben werden".49 Damit wird der heteronome
Gesetzesbegriff, gemäß der Strategie der Kampfschrift, durch den autonomen
unterwandert und steht für die gegenteilige Sache, die dieser Ausdruck ja sonst
bezeichnet, nicht mehr zur Verfügung. Was wird in dieser Klassifikation aber aus
dem mosaischen Gesetz? Spinoza konzediert scheinbar, „daß auch das mosaische
Gesetz ein Gesetz Gottes oder göttliches Gesetz heißen [kann]",50 er nimmt die
Konzession jedoch sofort wieder zurück, denn das mosaische Gesetz widerspricht
allen von ihm aufgestellten Kriterien des natürlichen göttlichen Gesetzes (legis
divinae naturalis): dieses sei universal, ewig, zweckrational und rigoristisch. Das
mosaische Gesetz disqualifiziere sich selbst durch seinen partikularen, histori-
schen, zeremonialen und utilitaristischen Charakter als natürliches göttliches Ge-
setz. Das gelte insbesondere für die Zeremonialgesetze. Denn diese schrieben nur
solche Handlungen vor, „die an sich indifferent sind und nur aufgrund einer be-
stimmten Satzung gut heißen oder die ein zum Heil notwendiges Gut versinnbildli-
chen oder wenn man lieber will, Handlungen deren Sinn die menschliche Fas-
sungskraft übersteigt".51 Die Zeremonien sind also unzweckmäßig und beliebig.
Wenn das Ziel Gotteserkenntnis ist, dann können aber nur solche Mittel zu seiner
Verwirklichung beitragen, die die Erkenntnis in der Tat fordern. Dazu sind Gebote,
die per definitionem nur kraft Autorität gelten und in keinem rational nachvoll-
ziehbaren Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen, allerdings nicht fähig. Die
erzwungenen Handlungen sind, sowenig wie die verordneten Wahrheiten - etwa
47
Spinoza, Benedict, Opera. 4 Bde. Heidelberg 1925, Nachdruck 1972; Theologisch-Politischer
Traktat IV, hier in Bd. 3, S. 59, Zeilen 22-28; Spinoza, Benedict, Sämtliche Werke, hg. v. Carl
Gebhardt. 7 Bde. u. 1 Ergänzungsband. Hamburg 1976ff. (Philosophische Bibliothek, Bd. 9 1 -
9 6 a ^ u. 350), hier in Bd. 3, S. 67, Zeilen 21-31.
48
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat IV, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 59,
25f.; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 67, 28-31.
49
Ders., Theologisch-Politischer Traktat IV, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 60, 2 0 -
24; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 68, 23-39.
50
Ders., Theologisch-Politischer Traktat IV, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 61, 16-
20; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 69,25-30.
51
Ders., Theologisch-Politischer Traktat IV, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 62, 5-9;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 70, 18-24.
138 Daniel Krochmalnik
52
Ders., Theologisch-Politischer Traktat IV, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 27-
34; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 72, 19-25.
53
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Philosophische Schriften, hg. v. Herbert Herring. 5 Bde. in 8
Teilbänden. München 1986, hier Bd. 2.1, S. 3. Für Leibniz ist das Heidentum, nicht das Ju-
dentum, undogmatischer Zeremonialismus. Das Judentum hat vielmehr das Dogma des Mo-
notheismus in die Welt gebracht, und das Christentum hat dann die mündliche mosaische
Lehre der Unsterblichkeit der Seele zum Dogma erhoben, ebd., S. 3f.
54
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat V, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 69-73;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 79-83; Hobbes, Thomas, Vom Menschen
[1658yVom Bürger [1647], hg. v. Günter Gawlick. Hamburg 2 1977 (Philosophische Biblio-
thek, Bd. 158), 14, 8, S. 47. Hobbes definiert die Zeremonien wie folgt: „Zeremonien nenne
ich diejenigen Zeichen der Frömmigkeit von Handlungen, die nicht aus der Natur der Hand-
lung entspringen, sondern vom Staat willkürlich vorgeschrieben sind." Demnach sind die Ze-
remonien, nach Hobbes, per definitionem politische Konventionen. Das gilt auch von den mo-
saischen Zeremonien, die von Gott als Staatsoberhaupt der Theokratie geboten worden seien,
ebd., 14,9, S. 48, vgl. auch Hobbes, Vom Bürger, 14,4, S. 220.
,Zeremonialgesetz ' 139
überließ er keine Handlung dem Belieben der Menschen [...]. Was das Volk auch tat, immer
war es verpflichtet, an das Gesetz zu denken und Gebote zu erfüllen, die allein von dem Gut-
dünken des Regierenden abhängig waren. Nicht nach eignem Belieben, sondern nur nach dem
festen und bestimmten Befehl des Gesetzes durften sie ackern, säen und ernten; ebenso durften
sie nichts essen, nichts anziehen, nicht Haar und Bart scheren, sich nicht ergötzen, überhaupt
nichts tun als nach den Befehlen und Geboten, die im Gesetz vorgeschrieben waren. Und nicht
allein das, sie mußten auch an den Türpfosten, an den Händen und zwischen den Augen ge-
wisse Zeichen haben, die sie beständig an den Gehorsam mahnen sollten.56
55
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat V, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 75, 19;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 87, 30.
56
Ders., Theologisch-Politischer Traktat V, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 75, 25 -
S. 76, 1; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 86, 38 - S. 39, 12.
57
Ders., Theologisch-Politischer Traktat XVII, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 216,
18; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 269, 18f. Die ganze Stelle steht im kras-
sen Widerpruch zu der Beschreibung der Theokratie der Hebräer im 5. Kapitel des Theolo-
gisch-Politischen Traktats V, in: ders., Opera, Bd. 3, S. 74, 33 - S. 76, 1. Im Theologisch-Po-
litischen Traktat gibt es genaugenommen eine monarchische und eine demokratische Be-
schreibung des Gottesstaates und der Funktion der Zeremonien; vgl. auch Hobbes, Vom Bür-
ger, (wie Anm. 54), XVI, 1959, S. 254-272 u. Hobbes, Thomas, Leviathan, oder Stoff, Form
und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, übers, v. Walter Euchner, hg. v. Iring
Fetscher. Frankfurt/M. 1966, XL, S. 359-368.
58
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat XVII, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3,
S. 216, 25; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 269, 21. Die demokratische Dar-
stellung des Zeremonialgesetzes in Opera, Bd. 3, S. 205, 15ff. steht in Spannung zu der Be-
schreibung der Theokratie der Hebräer im 5. Kapitel des Theologisch-Politischen Traktats V,
in: Opera, Bd. 3, S. 74, 33-76,1 als charismatische Herrschaft des Mose, der sich des Zere-
monialgesetzes machiavellistisch als instrumentum regni bedient haben soll, vgl. Gaoyard-Fa-
bre, Simone, Hobbes et Spinoza ou la difference des concepts. L'ampleur d'une litote, in: Stu-
dia Spinozana 3 (1987), S. 229-259, hier S. 240f.; Smith, Steven Β., Spinoza, Liberalism, and
the Question of Jewish Identity. New Haven/London 1997, S. 147-151. Im Theologisch-Poli-
tischen Traktat gibt es eine monarchische und eine demokratische Beschreibung des Gottes-
staates und der Funktion der Zeremonien; vgl. auch Hobbes, Vom Bürger, XVI, 1959, S. 254-
272 u. Hobbes, Leviathan, (wie Anm. 57), 1966, S. 359-368.
140 Daniel Krochmalnik
ist in seinen Augen, wie Hegel und Nietzsche wiederholen sollten, eine Religion
von Sklaven, nicht von Emanzipierten.
Die politische Funktion und Geltung des mosaischen Zeremonialgesetzes setzt
die Existenz des Staates voraus.59 Und doch zeitigen die jüdischen Zeremonien,
auch nach Spinoza, gerade in der Diaspora ihre erstaunlichste Wirkung, nämlich
die Erhaltung des staatenlosen Volkes. Mit einem etwas abgewandelten frommen
Spruch könnte man die Ansicht Spinozas so wiedergeben: die Erhaltung der hin-
falligen Zeremonien durch Israel bewirkt die Erhaltung des hinfalligen Israel durch
die Zeremonien. Ihre offenkundige Dysfunktionalität erweist sich dabei als Vor-
teil.60 Indem die Juden sich durch ihre widersinnigen Zeremonien abgrenzen und
im Gegenzug durch den Haß der Völker ausgegrenzt werden, erhält sich unabseh-
bar ihre nationale Identität. Die rituelle Dissimilierung und die politische Diskrimi-
nierung verstärken sich dabei gegenseitig.61 Spinozas Beispiel dafür ist biogra-
phisch. Er vergleicht die spanische und portugiesische Zwangsassimilierung der
Juden. In Spanien seien die Zwangsgetauflen integriert worden und hätten sich
infolgedessen vollständig assimiliert; in Portugal seien sie hingegen diskriminiert
worden und hätten sich deshalb, wie die Spinozas, als Kryptojuden erhalten. Wenn
wir einmal die Richtigkeit dieser historischen Tatsachen voraussetzen, dann folgt
daraus, daß die Judenfrage durch Emanzipation und Assimilation gelöst und durch
Diskriminierung und rituelle Dissimilation verewigt wird. Spinoza hebt besonders
nachdrücklich die konservierende Wirkung der identitären Zeremonie der Be-
schneidung hervor,62 die auch ihn selbst unauslöschlich zeichnete.63 Sie „allein",
meint er, „werde das Volk für immer erhalten",64 und er schließt sogar unter gewis-
sen Umständen eine Wiederherstellung des Staates nicht aus.65 Dabei hat er aber
nicht etwa, wie der übrigens bemerkenswerte Vergleich mit dem Chinesenzopf
zeigt,66 das religiöse Bundeszeichen als solches, sondern das nationale Identitäts-
merkmal im Blick. Es geht ihm um das sozialpsychologische Gesetz der großen
59
Damit bestreitet er die Verbindlichkeit des jüdischen Zeremonialgesetzes für seine Gegenwart,
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat V, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 72, 6 -
8; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 82, 22-24, wie übrigens auch des christli-
chen, ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 76, 15-29; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm.
47), S. 87, 23-10.
60
Ders., Theologisch-Politischer Traktat III, in: ders., Opera , (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 56, 20 -
S. 57,20; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 10 - S. 64, 21.
61
Ders., Theologisch-Politischer Traktat III, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 56, 25;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 19.
62
Ders., Theologisch-Politischer Traktat III, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 56, 24f.;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 18f.
63
Ders., Theologisch-Politischer Traktat ΠΙ, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 57, 1-3;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63,23.
64
Ebd.
65
Ebd.
66
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat ΠΙ, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 57,
10-13; Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 40 - S. 64, 10.
,Zeremonialgesetz ' 141
67
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat 1Π, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 56, 21 ;
ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 63, 14ff.
68
„[...] quare, quamvis hae caerominiae non ratione imperii, ratione tarnen integrae Societatis
tantum institutae sunt.", Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat ΠΙ, in: ders., Opera, (wie
Anm. 47), Bd. 3, S. 76, 15-17.
69
Kant, Werke, (wie Anm. 14), Bd. XI, S. 321; Friedländer 1799, (wie Anm. 10), S. 67.
70
Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat V, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 69, 24
- S. 73, 8; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 79, 31 - S. 82,37.
71
Ders., Theologisch-Politischer Traktat XVII, in: ders., Opera, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 69, 24
- S. 73, 8; ders., Sämtliche Werke, (wie Anm. 47), Bd. 3, S. 270, 15 - S. 272, 29, vgl. 2 Mose
32,25-29.
142 Daniel Krochmalnik
72
Wächter, Johann Georg, Der Spinozismus im Jüdenthumb. Oder/die von dem heutigen Jüden-
thumb/und dessen Geheimen Kabbala Vergötterte Welt an Moses Germano [...] [1699]. Nach-
druck hg. v. Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Canstatt 1994 (Freidenker der europäischen
Aufklärung I, 1), hier: Wächter 1699, 1. Teil, S. 39-45 bzw. Wachter-Nachdruck 1994,
S. 103-109. Zu Germanus, vgl. Schoeps, Hans Joachim, Philosemitismus im Barock. Religi-
ons- und geistesgeschichtliche Untersuchungen. Tübingen 1952, S. 67-81, zu Wächter vgl.
Schröder, Winfried, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987 (EPISTEMA-
TA. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Philosophie, Bd. 34), S. 59-123 und
Wachter-Nachdruck 1994, S. 7-48.
73
Wächter 1699, Nachdruck 1994, (wie Anm. 72), S. 104.
74
Ebd., S. 105f.
75
Ebd., S. 107.
76
Vgl. Maimonides, Moses, Führer der Unschlüssigen, übers, u. komm. v. Adolf Weiß. 3 Bde.
Leipzig 1923. Nachdruck, mit einer Einl. und Bibl. v. Johann Maier. 2 Bde. (Philosophische
Bibliothek, Bd. 184a-c) Hamburg 2 1972, hier: III, 32, Bd. 2.2, S. 205-208 und den Kommen-
tar Don Jizchak Abrabanels z. St. vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa Theologica, (wie Anm.
19), I—II, 103, 3, Respondeo dicendum, dazu Guttmann 1891, (wie Anm. 19), S. 82.
77
Vgl. Krochmalnik, Daniel, Zum Wandel des jüdischen Gottesdienstes nach Moses Maimoni-
des, in: Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung 4 (1997), S. 256-
263.
, Zeremonialgesetz ' 143
78
Buxtorf, Johannes der Ältere, Synagoga Judaica. Hildesheim 1989 [Nachdruck der Ausgabe
Basel 1603], hg. v. Johannes Buxtorf dem Jüngeren (1599-1664), 1641, 2 1661. Vgl. den Brief
an Vincenzo Noghera v. ca. 1639, zit. bei Kobler, Franz (Hg.), A Treasury of Jewish Letters.
Philadelphia 1953. Bd. II, S. 420 u. Cohen, Mark R., Leone da Modena's Riti. A Seventeenth-
Century Plea for Social Toleration of Jews (1972), in: Reinharz, Jehuda/Swetschinski, Daniel
(Hg.), Mystics, Philosophers and Politicians. Essays in Jewish Intellectual History in Honour
of Alexander Altmann. Durham/NE 1982, S. 4 2 9 ^ 7 3 , hier S. 433; Safran, Bezalel, Leone Da
Modena's Historical Thinking, in: Twersky, Isadore/Septimus, Bernard (Hg.), Jewish Thought
in the seventeenth Century (Center for Jewish Studies, Harvard Judaic Monographs). Cam-
bridge/Mass. 1987, S. 381-398, hier S. 396.
79
Vgl. den Brief an Vincenzo Noghera v. ca. 1639, zit. bei Kobler, (wie Anm. 78). Dabei läßt er
seinen italienischen Ritus als besonders aufgeklärt erscheinen.
80
Zum Vergleich Mendelssohns mit Modena siehe Simon Rawidowicz, VII, Einl. S. III,
CLXXXII, Anm. 112. Zur apologetischen Tendenz Mendelssohns, ebd., CLVI und Modenas:
der grundlegende Aufsatz von Cohen, (wie Anm. 78), S. 429-473.
144 Daniel Krochmalnik
Modenas Riti ist die erste ad extra gerichtete apologetische Darstellung des
praktischen Judentums. Das Werk des Insiders war in ganz Europa ein „Bestsel-
ler".81 Der katholische Ordensmann Richard Simon (1638-1712), dessen Histoire
critique du Vieux Testament (1678 bzw. 1685) hinsichtlich der historisch-kriti-
schen Methode mit Spinozas Tractatus Theologico-Politicus in vielen Punkten
übereinstimmt,82 hat die Riti 1674 ins Französische übertragen. In seinem Kom-
mentar unterstrich er - auch gegen den Protestantismus - die Gemeinsamkeiten
des Judentums und des Katholizismus in bezug auf das Traditionsprinzip - und
zweifellos hat auch Modena seine Apologie in der Atmosphäre des gegenreforma-
torischen Katholizismus konzipiert.
Mit der Übersetzung Simons eröffnet dann Jean Frédéric Bernard seine, von
Bernard Picart illustrierte monumentale Enzyklopädie der Ceremonies et coutumes
religieuses de tous les peuples du monde (1723ff.), die bis zur Mitte des 19. Jahr-
hunderts in vielen europäischen Sprachen wieder aufgelegt wurde.83 Das große
Interesse weist auf eine wichtige Funktion dieser Art von Literatur hin. Die Syn-
agoge war Gegenstand „brennender" christlicher Neugier. Die Juden waren lange
Zeit die einzige geduldete andere Religion in der Christenheit, sie waren gleichsam
die Exoten vor der Haustüre. Ihre Bräuche wurden argwöhnisch beäugt und - im
Unterschied zu den eigenen bestenfalls als lächerlicher Aberglaube abgetan. Be-
sonders scharf war man natürlich auf Informationen über geheime, womöglich
blutrünstige Rituale. Als Informanten dienten jüdische Konvertiten, deren religiöse
Aufrichtigkeit am Denunziationseifer gemessen wurde, oder christliche Hebraisten
wie die Buxtorfs, die die jüdischen Kodizes oder Minhag-Bücher entziffern konn-
ten. Modena wollte der tendenziösen Fremdwahmehmung eigentlich keine ebenso
tendenziöse Selbstwahrnehmung entgegenstellen, sondern ausdrücklich die Posi-
tion des neutralen Beobachters einnehmen, der vergißt, daß er Jude ist.84 Im ersten
Buch führt er die neugierigen Besucher direkt in das jüdische Haus hinein; er
öffnet ihnen alle intimen Räume: die Küche, das Schlafzimmer, die Toilette usw.
und berichtet, wie sich die Juden nach ihrem Brauch ernähren, schlafen, kleiden,
entleeren, waschen usw. Gleichsam wie ein Fremdenführer geleitet er den Besu-
81
Zu den zahlreichen Übersetzungen und Auflagen vgl. Cohen, (wie Anm. 78), S. 453 u. 470f.
Jacques Christian Basnage, der Modena im 5. Buch seiner Histoire et la religion des juifs über
Leurs Rites & leurs Ceremonies (1707), Bd. 3.2, S. 644, 671, 74Iff., 752, 765f. u.ö. zitiert,
sagt, ebd., VII, XXIX, 1707, Bd. 5, S. 2040: „Son Traité des Ceremonies des Juifs est estimé
de toutes les nations." (Basnage, Jaques Christian, L'Histoire des Juifs depuis Jesus-Christ
jusqu'à present. 5 Bde. Rotterdam 1706-1711).
82
Mirri, Francesco Saverio, Richard Simon e i metodo storio-critico de B. Spinoza. Florenz
1972.
83
Bernard, Jean Frédéric, Ceremonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde
représentées par des figures dessinées de la main de Bernard Picart avec une explication hi-
storique, & quelques dissertations curieuses [1723ff.]. Amsterdam "1733-1739, Neudruck
der Kupferstiche von Bernard Picart, hg. ν. Odile Faliu. Paris 1988, S. 31-32.
84
Cohen, (wie Anm. 78), S. 432. Natürlich setzt sich, wie Cohen gezeigt hat, die apologetische
Tendenz dennoch durch.
,Zeremonialgesetz ' 145
cher des venezianischen Ghettos von den Privaträumen in den öffentlichen Raum
der wahren jüdischen Synagoge usw.; so, als ob er den sensationslüsternen Touri-
sten mit der Öffnung der Judenhäuser und Judenschulen sagen wollte: „Seht her,
wie unschuldig, wie gesittet, wie reinlich, wie fromm hier alles zugeht". Den über
dem Ghetto schwebenden Verdacht klärt er mit einer schonungslosen Selbstent-
deckung des Judentums auf.
In den Ceremonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde durf-
ten die jüdischen Riti freilich nicht ohne christliche Begleittexte erscheinen. Zu-
nächst wurde der Text von den kenntnisreichen und einfühlsamen Kommentaren
des Katholiken Richard Simons eingerahmt, diese wurden wiederum von prote-
stantischen Kommentaren eingerahmt, die jene als katholische Apologetik entlar-
ven85 und die überall den Buxtorf nachtragen, gegen den Modena ja ursprünglich
angetreten war. Damit wird die jüdische Apologetik neutralisiert und durch eine
ausgeprägt deistische und antiritualistische Tendenz gegen die jüdische „obstina-
tion pour les rites & les ceremonies"86 in ihr Gegenteil verkehrt. Der Antizeremo-
nialismus zeichnet paradoxerweise diese Enzyklopädie der Zeremonien insgesamt
aus. In der Dissertation préliminaire sur le culte religieux wird als leitendes Inter-
esse der Sammlung angegeben:
Il falloit nécessairement donner au Lecteur l'Idée de différens Cultes bizarres pratiqués de tous
temps, consacrés dans toutes les Religions, & regardés enfin comme l'unique refuge de ces
dévots, qui ne se sentent ni le courage, ni la vertu nécessaires pour être simples dans le Culte
de L'Etre Suprême.87
Imaginez une immense rotonde un panthéon à mille autels; & placé au milieu du dôme, figurez
vous un dévot de chaque secte éteinte ou subsistante, aux piés de la divinité qu'il honore à sa
facon, sous toutes les formes bisarres que l'imagination a pû créer. A droite, c'est un contem-
platif étendue sur une natte, qui attend, le nombril en l'air, que la lumiere céleste vienne inve-
stir son ame; à gauche, c'est un énergumene prosterné qui frappe du front contre la terre, pour
85
So schreibt Bernard in der Preface Generale in bezug auf die Darstellung der jüdischen Tra-
dition: „II semble que cela suffit presque pour justifier ces derniers [die Katholiken] en plu-
sieurs choses contre les accusations de nouveauté, que leur font ceux qui se sont séparés de la
Communion de leur Eglise". Bernard, (wie Anm. 83), 1739, Bd. I, S. 3; vgl. auch ebd., S. 103.
86
Vgl. Bernard, Supplement aux Dissertations Precedentes, (wie Anm. 83), 1739, Bd. I, S. 105.
87
Ebd., S. 28.
146 Daniel Krochmalnik
en faire sortir l'abondance: là, c'est un saltinbanque qui danse sur la tombe de celui qu'il in-
voque; ici c'est un pénitent immobile & muet, comme la statue devant laquelle il s'humilie:
l'un étale ce que la pudeur cache, par-ce que Dieu ne rougit pas de sa ressemblance; l'autre
voile jusqu'à son visage, comme si l'ouvrier avoit horreur de son ouvrage: un autre tourne le
dos au midi, parce que c'est-là le vent du démon; un autre tend le bras vers l'orient, où Dieu
montre sa face rayonnante: de jeunes filles en pleurs meurtrissent leur chair encore innocente,
pour appaiser le démon de la concupisence par des moyens capables de l'irriter; d'autres dans
une posture toute opposée, sollicitent les approches de la divinité: un jeune homme, pour
amortir l'instrument de la virilité, y attache des anneaux de fer d'un poids proportionné à ses
forces; un autre arrête la tentation dès sa source, par une amputation tout-à-fait inhumaine, &
suspend à l'autel les dépouilles de son sacrifice. 88
Die Juden galten als Ritualisten par excellence. In der Einleitung zu einer späteren
Ausgabe der Ceremonies religieuses et coutumes religieuses ( Ί 7 8 3 ) heißt es nach
einem Aufruf an die Herrschenden zur Emanzipation der Juden:
Il est peu de peuples au monde, sans en excepter les brames & les chinois, qui soient assujettis
à un si grand nombre de cérémonies religieuses que les sont les juifs. Indépendamment de leur
inclination naturelle au fanatisme, à la superstition, aux munities. 89
Die Emanzipation der Juden sollte auch die Emanzipation vom jüdischen Zere-
monialgesetz leisten. Der Abbé Grégoire hat in seiner Programmschrift zur Juden-
emanzipation, Essai sur la régénération physique, morale et politique des juifs
(1789) zwar Mendelssohn als „homme de génie" gelobt; als Katholik verteidigt er
auch die Zeremonien im allgemeinen, und die biblischen insbesondere, jedoch
nicht die jüdischen:
les lois cérémoniales du Pentateuque avaient un but digne de la sagesse de Dieu, puisque le
culte doit parler aux sens qui sont, pour ainsi dire, les portes de l'âme; mais cela n'autorisait
pas les rabbins à créer une foule de cérémonies ridicules qui ne peuvent qu'etoufFer la vraie
piété et rétrécir le génie.
Die Juden, so der Abbé, müßten von ihren „traditions burlesques qui excitent tout
au plus le rire de la pitié" durch geselligen Umgang mit Frauen und durch Satire
regeneriert werden.90
Bernards Enzyklopädie der Zeremonien bedient nicht nur opulent die exotisti-
sche Neugier, sondern auch das ernsthafte wissenschaftliche Interesse an einer
umfassenden Inventarisierung der religiösen Phänomene. Der Begriff der Zere-
monie ermöglichte eine Thematisierung der äußeren Erscheinungsform der Reli-
gionen unabhängig von parteilichen dogmatischen Absolutheitsansprüchen. Der
antizeremonialistische Begriff der Zeremonien hat also nicht nur eine religionskri-
tische, sondern auch eine religionswissenschaftliche Richtung. Doch speziell in
88
Diderot, Denis/D'Alembert Jean (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences,
des Arts et Métiers. 35 Bde. Paris 1751-1772, hier Bd. 6, S. 393a.
89
Bernard, (wie Anm. 83), 9 1783, Bd. I, S. 65.
90
Grégoire (Abbé), Essai sur la régénération physique, morale et politique des juifs [1789],
Paris 1988, Kap. 25 (Ober die „préjugés des Juifs"), S. 164ff.
, Zeremonialgesetz ' 147
Deutschland war die Literatur über die jüdischen Zeremonien, bei allem gelehrten
Aufwand, vor allem polemischer und voyeuristischer Natur. Gewöhnlich stützen
sich solche Darstellungen auf Berichte von Konvertiten, so z.B. auf das Ceremo-
niale Judaicum von Paul Christian Kirchner. In seiner Ausgabe dieses Werkes
präsentiert Sebastian Jacob Jungendres das Ganze als Lüftung verborgener Ge-
heimnisse:
Wem bekannt ist, wie geheim die Juden heut zu Tag die Sachen, so ihren Gottesdienst betref-
fen, zu tractiren, und so viel möglich vor denen Christen zu verbergen pflegen, wird mir son-
der Zweifel zugeben müssen, daß etwas gründliches von demselbigen zu schreiben, und ihre
dabey gebrauchten Ceremonien deutlich zu entwerffen, sehr schwer falle. 91
Der Herausgeber spricht den Voyeurismus des Publikums an. Auf noch niedrige-
rem Niveau bewegen sich belletristische Elaborate, die gleichfalls „Aufklärung"
über die jüdischen Zeremonien versprechen, wie z.B. der Roman: Die Zum Chri-
stenthum neubekehrte Jüdin / Oder Verliebte und abgefallene Josebeth / In einer
Wunder-würdigen schönen Liebes-Geschichte Mit vielen Vor diesem unbekannten
doch nachdenklichen Jüdischen Ceremonien der curiosen Welt zu geziemender
Ergötzung und nothwendiger Wissenschaft an Tag gestellet (1680).92 Wie man
sieht, ist die „Entdeckung" des Judentums - mit Johann Andreas Eisenmengers
Entdecktes Judentum (1700)93 hatte in Deutschland das Jahrhundert der Aufklä-
rung begonnen - von einer Sorte von Aufklärungsliteratur begleitet, die in
Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hohe Konjunktur behalten sollte: „Schartek-
ken", wie Mendelssohn schreibt, „die kein vernünftiger Jude liest noch kennet".94
Die negative Ladung des kirchlichen und synagogalen Zeremoniells im 18. Jahr-
hundert wird noch durch die Kritik des höfischen Zeremoniells verstärkt - eine
Kritik, die Mendelssohn ausdrücklich teilte.
Obwohl das Wort .Zeremonie' nach Ausweis der repräsentativen Lexika im Zeital-
ter des Absolutismus realitäts- und werthaltiger war als im bürgerlichen Zeitalter,
war es bereits im 18. Jahrhundert infolge des Zeremoniells eindeutig negativ be-
setzt.95 Der Antizeremonialismus ist eine Begleiterscheinung des modernen Indivi-
91
Kirchner, Paul Christian, Jüdisches Zeremoniell [1717], hg. v. Sebastian Jungendres. O.O.
2
1724, Nürnberg 3 1726, o.O. 4 1730. Hildesheim/New York 1974 [Neudruck der Ausgabe
4
1730], „Verehrter Leser", [S. 1],
92
Anonym, 1712, vgl. Krobb, Florian, Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der
deutschsprachigen Erzählliteratur bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993, S. 33.
93
Vgl. Katz, Vom Vorurteil, (wie Anm. 38), S. 21-30.
94
(VII, S. 10).
95
Vgl. Zedier, Johann Heinrich, Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften
und Künste. 68 Bde. Leipzig u. Halle 1731-54, hier Art. . C é r é m o n i e l B d . 5 (1733), Sp. 1874;
148 Daniel Krochmalnik
Art. .Gottes-Dienst', Bd. 11 (1735), Sp. 383. Der nicht gezeichnete Art. .Ceremonial' des Ba-
ron d'Holbach in der Encyclopédie, Bd. 2. Paris (1751), Sp. 838b ist eine französische Adap-
tation des Artikels .Ceremoniel' von Walch, Johann Georg, Philosophisches Lexikon. Leipzig
1726, 4 1775. Nachdruck Hildesheim 1968, hier: Walch-Nachdruck 1968, Sp. 540. Der Antize-
remonialismus der französischen Aufklärer war wesentlich schärfer, als es dieser Artikel ver-
muten läßt. Vgl. z.B. die Essays von Voltaire, Des Titres (1750), Des Cérémonies (1754), in:
Voltaire, François Marie, Œuvres complètes, hg. ν. Louis Moland. 50 Bde. u. 2 Reg.-Bde., Pa-
ris 1877-1883 bzw. 1885. Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967, hier Bd. 18 (1877-83),
S. 18-116.
96
Montaigne, Michel de, Essais 1,17, in: ders., Œuvres complètes, hg. ν. Albert Thibaudet u.
Maurice Rat. Paris 1962 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 615. Vgl. auch Montaigne, Essais 1,
13 (Ceremonie de l'entreveuë des roys), in: ebd., S. 48f.
97
Vgl. Trilling, Lionel, Das Ende der Aufrichtigkeit, übers, v. Hening Ritter. München u.a.
2
1982, S. 11-32. Vgl. Burke, (wie Anm. 34), S. 186-200; Burke, Peter, Ludwig XIV. Die In-
szenierung des Sonnenkönigs (1992) übers, v. Matthias Fienbork. Berlin 1993, S. 153ff. Burke
spricht hier von der „Krise der Repräsentation im 17. Jahrhundert".
98
Della Casa, Giovanni [1503-1556], Der Galateo. Traktat über die guten Sitten [1559, dt.
1597 u.ö.], übers, v. Michael Rumpf. Heidelberg 1988, S. 54, beschreibt das Zeremoniell als
ansteckende, aber gleichwohl unvermeidliche Krankheit. Der Rat Baltasar Gracians: „Nicht
ceremoniös seyn!" schließt nicht die Empfehlung aus: „Sich allen zu fugen wissen", Gracian,
Baltasar, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. O.O. 1647, Nr. 184 u. 77, 1991, 134 und
59f. Vgl. z.B. La Rochefoucauld, François de, Réflexions Diverses, VII, De l'Air et des Ma-
nières. Vgl. dazu Roth, Oskar, Die Gesellschaft der Honnêtes Gens. Zur sozialethischen
Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld (Habil.). Heidelberg 1981, S. 207-
225. Diese Literatur strebt ebenfalls eine umfassende Kodifikation des Verhaltens an; Antize-
remonialismus bedeutet hier offenbar kein unkodiertes Verhalten, sondern eine Umkodierung
des Verhaltens. Vgl. z.B. die Nobilitätskritik von Knigge, Adolph Freiherr v., Über den Um-
gang mit Menschen (1750). Essen 1987, S. 261-273.
99
Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit. Bd. 1. Stuttgart 1974, S. 90ff.
100
Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabethi-
scher Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln [Leipzig 1771-74, 2 1792-
,Zeremonialgesetz ' 149
Der Briefwechsel, der sich hier anbahnt, stellt zwischen jüdischen Brautleuten ein
Novum dar.106 Es schickte sich nach dem üblichen Briefzeremoniell offenbar nicht,
daß eine unverheiratete Frau einem unverheirateten Mann in der Korrespondenz
„zuvorkommt". Mendelssohn bittet deshalb seine Braut, sich im Namen der Zärt-
lichkeit „über das gewöhnliche Zeremoniel hinwegzusetzen", und bietet dafür
Antworten des „Herzens". Diese Verletzung der Konvention rechtfertigt er mit
dem Argument, daß ihre Verbindimg nicht durch einen „gewöhnlichen" Heirats-
vermittler zustande gekommen sei, und so bräuchten sie sich auch nicht dem „ge-
wöhnlichen Zeremoniel" zu unterwerfen. Es waren immerhin auch in seinem Fall
94], hg. v. Giorgio Tonelli. 4 Bde. Nachdruck Hildesheim 1967-70, hier: Teil 2, (1775),
S. 294, 1 - S . 301,2.
101
Sulzer, (wie Anm. 100), S. 297, 2.
102
Vgl. Hinrichs, Carl, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als
religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 181ff.
103
Friedrich der Große, Das Politische Testament von 1752, übers, v. Friedrich v. Oppeln-Broni-
kowski. Stuttgart 2 1987, S. 55. Zur früheren Praxis am preußischen Hof vgl. Johannes Kunisch
1981, S. 735-744.
104
Friedrich Nicolai als Historiker, in: Fabian, Bernhard (Hg.), Friedrich Nicolai (1733-1811).
Essays zum 250. Geburtstag. Berlin 1983, S. 139-173, hier S. 149.
105
Brief v. 15.5.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 3, S. 3, Zeilen 21-24; Bd. XX.2, Nr.
3, S. 6, Zeilen 30-35 .
106
Katz, Jacob, Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages. New York
1961, S. 268.
150 Daniel Krochmalnik
Die Wahrheit zu gestehen, unser gütige Vater, R. Abraham Gugenheim, hat noch prinzipia von
Würde des Menschen [im Original: Kewod-HaBriot] im Kopf, die aber zu Berlin gar nit gel-
ten. Den hir macht es ein jeder, wie ihn einfält, wie ihm gelegen ist, und wie es einer macht, ist
recht. 112
Im modernen Berlin macht schon ein jeder, was er will, und altväterliche, provin-
zielle Sitten wirken lächerlich." 3 Über die Frau seines Chefs schreibt er: „Madam
Rosele wil, ich sol durch aus ale Pflichten eines Bräutigams aus der Provinz beob-
107
Brief an Vogel Gugenheim, Ende 5.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 3, S. 8, 16-20;
Bd. XX.2, S. 12f.
108
Brief v. 2.6.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 7, S. 11, 2-6; Bd. XX.2, S. 16, 8-12.
109
Ritualgesetze der Juden, IV, I, §1, VII, S. 175, 13ff.
110
Brief v. 24.10.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 44, S. 60, 25f.; Bd. XX.2, S. 77,
27f.
111
Brief v. 30.4.1762, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 79, S. 96, 27f.; Bd. XX.2, S. 122.
112
Brief v. 23.4.1762, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 77, S. 94, 5-8; Bd. XX.2, S. 119.
113
Brief v. 30.4.1762, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 79, S. 96, 18-25; Bd. XX.2, S. 122.
,Zeremonialgesetz ' 151
achten, nach der alten Etikete".114 Seine Braut erwidert die „förmliche" Höflichkeit
der Frau seines Chefs und bringt sie wiederum in Verlegenheit. Der Philosoph
amüsiert sich über die überflüssigen Verrenkungen des Zeremoniells.
Ich freue mich, wenn ich Sie mit Madame Resele zusammen bringen kann. Sie werden feuer-
roth, wenn sie danken sollen, und Resele, wenn sie Dank soll annehmen. Beide lieben Sie die
Ceremonien nicht und machen doch welche, weil Sie sich einander nicht kennen. Und ich
stehe dabei und habe viel Vergnügen von ihrer beiderseitigen Ängstlichkeit. 115
Mendelssohn begehrt fast in jedem Brautbrief mehr oder weniger gutgelaunt gegen
die Zwänge des Zeremoniells: die „Complimente", die „Gratulationen" und die
„Perücken" auf.116 Im Gratulationsbrief zur Verlobung äußert er einen geradezu
physischen Widerwillen gegen dergleichen Formen:
Libste Mamsel Braut [im Original: Kalle]. Ich solte bilig heute den vertrauten Ton bei Seite
sezen, und Ihnen mit gewöhnlichen hochtrabenden Worten zu unserer gesegneten Verlobung
meine untertänigste Gratulaziohn heraus würgen (,) alein das ist mir unmöglich. Ich libe Sie zu
sehr, als dass ich solte so fremd(,) so feierlich] thun könen, und Ihre Gesinnungen von diser
Seite sind mir alzu bekant. Doch ein Com[pliment muß ich] noch machen. Ich begleite hirmit,
alerteuerste Freundin! einige geringschäzige Kleinigkeiten, die Sie zum Andenken meiner auf
richtigen Libe an Ihren unvergleichlichen Finger gütigst anzusteken beliben werden. War die-
ses Compliment nach der Mode? Ich zweifle sehr, den es ist ja so leicht zu verstehen. Nun so
lasen Sie mich de[nn] imer nach meiner Weise schreiben, und die Complimente geschicktem
Leuten überlasen [...], dass sie kein Zauberer [im Original: Mechaschef] in der Welt ver-
steht. 117
Er bringt es gerade noch fertig, sie mit einem Kompliment dazu aufzufordern, nach
Vorschrift des „Zeremonialgesetzes"118 den Trauring anzustecken. Er rechtfertigt
dieses linkische „Kompliment" damit, daß es so „natürlich" sei und will fur die
Zukunft Dispens von eleganten Pflichten. Die Wörter „Zeremonien", „Zeremo-
niel", „Etikette", „Complimente" sind schon für Mendelssohn mit der Aura der
Welt von Gestern und der Provinz umgeben. Sie stehen fur steife Förmlichkeit,
Äußerlichkeit und Unnatürlichkeit. Aber seine ironische Distanz schlägt niemals in
rousseauistische Rebellion gegen die Konvention um; der Aufsteiger ist, wie seine
Verteidigung der Perücke zeigt, kein Aussteiger. Sein Freund Moses Wessely
bekommt wegen seiner modischen Frisur Schwierigkeiten mit seinem „alt frän-
kischen" Vater. Mendelssohn, der das „Frisiren vor eine unnütze Eitelkeit hält", rät
ihm, sich dem „Wilen seines Vaters" zu beugen, und schreibt an Fromet, sie soll
114
Brief v. 5. März 1762, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 64, S. 81, 10f.; Bd. XX.2, S. 103,
lOff.
115
Brief an Fromet v. 16.3.1762, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 68, S. 84, 16-19; Bd.
XX.2, S. 107.
116
Brief an Fromet v. 2.10.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 39, S. 55f.; Bd. XX.2,
S. 71.
117
Brief v. 16.6.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 13, S. 16, 9-22; Bd. XX.2, S. 22,
29-23, 5.
118
Ritualgesetze der Juden, IV, I, §2, Anm. a. VII, S. 176, 32-35.
152 Daniel Krochmalnik
Wessely wie eine „zweite Delila" die Locken abschneiden und dieselben „in Tri-
umf nach Berlin" schicken. 119 Fromet, die offenbar ihre rousseauistische Lektion
gelernt hat, erwidert, daß das eigene Haar schöner sei. Mendelssohn stimmt zu und
überbietet sie noch damit, daß „das Haar von Natur bestimmt [ist], unordentlich
auf dem Nacken zu schwimmen". „Allein", so Mendelssohn auch ganz rousseau-
istisch, „unser verderbter Geschmack will ja allenthalben Ordnung" und verlangt,
daß das natürliche Haar „steif frisirt" ist. Mendelssohn denkt aber nicht daran, ge-
gen den „verderbten Geschmack" zu handeln und sich in „Gesellschaften zum Ge-
lächter" zu machen oder vor „honetten Leuten" in der Gemeinde zu blamieren.
Dann hat er die Wahl, entweder täglich zum Friseur zu gehen oder „sein Haar zum
Peruquier zu schicken, um den Kopf zu Hause mit wichtigern Dingen zu beschäfti-
gen". 120 Die Perücke ist also ein bequemes Mittel, den „alt fränkischen" Maßstäben
des Vaters und den neumodischen Maßstäben der Gesellschaft den geringsten Tri-
but zu entrichten. Freilich hatte Mendelssohn auch damit seine Schwierigkeiten. 121
Es ist kein Zufall, daß der Briefwechsel mit Fromet von Anfang an um
Rousseau und seine Héloïse kreist.122 Der Briefroman war Anfang 1761 erschie-
nen, umgehend übersetzt worden und machte Furore - „ein Werk", schreibt Men-
delssohn, „das in Paris Aufsehen macht, das man sich in Deutschland aus den
Händen reißt, und wovon man allhier in allen Gesellschaften spricht". 123 Mendels-
sohn, der das Werk nach seiner Verlobung gelesen hat, war, wie er an Lessing
schreibt, von der emotionalen Sprache Rousseaus ganz hingerissen 124 und empfahl
es Fromet. 125 Er ermunterte sie, französisch zu lernen - gewiß, die Sprache des Ho-
fes, der Gesellschaft, des Romans, des „Compliments" - aber auch ihrer rousseau-
istischen Kritik.126 Vielleicht wollte er sie damit zu einem empfindsamen Brief-
wechsel animieren. Er konnte sich mit dem Philosophen und Lehrmeister Saint-
Preux und Fromet mit der schönen Julie identifizieren. Wie der Romanheld sich
gleich am Anfang den „ton de cérémonie" verbittet,127 so auch Mendelssohn. Doch
die Begeisterung über den sentimentalen Briefsteller ließ bald nach, und der blu-
tige Verriß, den Mendelssohn seit dem 4. Juni in den Literaturbriefen erscheinen
ließ,128 hat vielleicht auch etwas mit persönlicher Enttäuschung zu tun. Jedenfalls
119
Brief v. 22.9.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, S. 53,25ff.; Bd. XX.2, S. 6 9 , 1 - 1 3 .
120
Brief v. 2.10.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XI, Nr. 145, S. 2 6 1 , 2 4 - 2 6 2 , 2.
121
Brief v. 8.10.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 40, S. 56,23ff.
122
Bd. XIX, Nr. 4, S. 6, 14; Nr. 8, S. 13, 2 - 3 ; Nr. 17, S. 21, 3f.; Nr. 21, S. 27, 30ff„ Nr. 23, S.
30, 1-8; Nr. 38, S. 54, lOf.
123
Bd. V . l , S. 366.
124
Brief v. Mai, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XI, Nr. 104, S. 21-24.
125
Brief v. 29.5.1761, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 4, S. 6, 14.
126
Bd. XIX, Nr. 4, 5, 13,2-3; Nr. 17, S. 21,6ff.; Nr. 59, S. 75, 8ff.
127
Rousseau, Jean-Jacques, La Nouvelle Héloïse, hg. ν. Henri Coulet. Paris 1993 (Text der EA),
I, 1, Bd. 1, S. 76. Er umschreibt dieses Verhalten als „air, si sérieux, si froid, si glacé, [...] si
grave".
128
Literaturbriefe Nr. 166-171, Bd. V . l , S. 366-389.
, Zeremonialgesetz ' 153
erkundigt er sich bei Fromet am 5. Juni nach dem Roman, 129 am 23. Juni meint er:
„Ich habe Ihnen die Briwe von Russo geschickt. Sie werden Ihnen aber nit gefalen.
Damahls habe ich sie noch nit gelesen gehabt"; 130 am 7. Juli meint er gar scherz-
haft, eine Braut dürfe die Lektüre so gefährliche^r] Bücher" nur mit Einwilligung
des Bräutigams lesen.131 Die Gründe für seinen Gesinnungswandel gehen aus sei-
ner Kritik hervor.132 Vor allem der Ton des verliebten Philosophen überzeugt ihn
nicht. 133 Der Kritiker wünscht aber nicht etwa einen Jon de cérémonie" anstelle
der „Unordnung der Empfindungen" oder einen philosophischeren Ton. Er wirft
dem Dichter, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, vielmehr vor, den echten
Ton der Leidenschaft zu verfehlen, die Liebe philosophisch dargestellt zu haben,
und seinem Philosophen, nicht Philosoph geblieben zu sein.134 Die eigentlichen
philosophischen Lehrstücke des Romans nimmt er von seiner Kritik aus. So etwa
den zwölften Brief über Pädagogik, den er Fromet als „Meisterstück" empfiehlt. 135
Am Anfang dieses Briefes lobt Saint-Preux die Vorzüge des ungekünstelten, na-
türlichen Stils Julies.136 Solche rousseauistischen Tugenden schreibt auch Men-
delssohn seiner Braut zu: „Eine von Ihren würdigsten Vorzügen in meinen Augen
ist, daß Sie in der Entfernung von der grossen Welt, in der Entfernung von Bos-
heit, Tüke und Schmeichelei, von Pracht und Wohlleben, in der reinsten Unschuld
erzogen worden sind". 137 Nach dem Antikompliment läßt der Autor des Emile
seinen Helden sein Antierziehungskonzept referieren. Es zielt darauf ab, die Na-
türlichkeit des Kindes vor den Schäden der positiven Erziehung zu bewahren. Vor
allem soll man Bücher über Erziehung meiden und sich ganz auf das Gefühl ver-
lassen!138 Solchen rousseauistischen und philanthropinistischen Paradoxien war
Mendelssohn trotz seiner Kritik am Roman zugetan.
129
XIX, Nr. 8, S. 13, 2-3; Bd. XX.2, S. 18.
130
Bd. XX.2, Nr. 17, S. 29.
131
Bd. XX.2, Nr. 21, S. 37, 23-24. In seinem Vorwort warnt auch Rousseau die Mädchen vor
dem Buch. „Celle qui malgré ce titre, en osera lire une page, est une fille perdue", Rousseau,
(wie Anm. 127), Bd. 1,S. 72.
132
Fromet weiß zunächst nicht, daß ihr Bräutigam der Verfasser der Kritik ist. Am 10. Juli weist
er sie darauf hin, und erst am 22. September gibt er sich zu erkennen (Bd. XX.2, S. 69, 2 4 -
25).
133
Den Charakter des verliebten Weltweisen Saint-Preux kritisiert er im Literaturbrief 167 (4.7.),
V.l, S. 370 und zieht den ausgeglichenen Charakter seines Rivalen, Wolmar, vor Literatur-
brief 167 (11.7.), V . I . S . 372.
134
Literaturbrief 169 (18.7.), Bd. V.l, S. 380 und: ,4ber hätte Roußeau lieber philosophische
Aufsätze, als einen Roman geschrieben!" Literaturbrief 166 (4. Juni), Bd. V.l, S. 366.
135
Bd. XX.2, S. 40, 22-24.
136
„Vos pensées s'exahalent sans art et sans peine; elle portent au cœur une impression délicieuse
que ne produit point un style apprêté. Vous donnez des raisons invincibles d'un air si simple,
[...] et les sentiments élévés vous coûtent si peu, qu'on est tenté de les prendre pour des ma-
nières de penser communes." Rousseau, (wie Anm. 127), I, 12, Bd. 1, S. 100.
137
Brief v. 11.9.61, in: JubA, (wie Anm. 1), Bd. XIX, Nr. 37, S. 51, 12-17; Bd. XX.2, S. 64, 2 6 -
30.
138
Rousseau, (wie Anm. 127), I, 12, Bd. 1, S. 103.
154 Daniel Krochmalnik
Wir fassen zusammen: Mendelssohn beschäftigte sich just zu der Zeit, als er
seine eigenen Liebesbriefe schrieb, mit dem romantischen Liebesbriefstil, den
Rousseau dem Kontinent vorgeschrieben hat - und er hat ihn sicher nicht aus
linguistischer Inkompetenz verworfen,139 sondern weil ihm diese Sprache nicht
authentisch genug war; er wollte noch rousseauistischer als Rousseau sein! Jeden-
falls war es unmöglich, die emotionalen Schockwellen, die dieser Roman auf dem
Kontinent ausgelöst hatte, zu ignorieren und eine halbwegs arrangierte Ehe zu
schließen, es mußte schon eine natürliche Liebesheirat gegen das alte Zeremoniell
sein. Es ist klar, daß ein Arrivist aus der Provinz, noch dazu ein jüdischer Außen-
seiter, das Zeremoniell, das ein Maßstab der Anpassung ist, durchschaut und ab-
lehnt. In Rousseau findet er dazu die allgemeine Legitimation. Die jüdische Rebel-
lion war am Ende des 18. Jahrhunderts rousseauistisch, wie sie am Ende des 19.
Jahrhunderts nietzscheanisch war. Es ist deshalb um so erstaunlicher, daß Men-
delssohn das jüdische Gesetz, dessen immerwährende Gültigkeit er unterstreicht,
trotzdem „Zeremonialgesetz" genannt hat. Eine genauere Untersuchung zeigt frei-
lich, daß seine Rechtfertigung des Zeremonialgesetzes selbst rousseauistisch ist.140
Mendelssohns Abneigung gegen das gesellschaftliche Zeremoniell verschärft noch
einmal die Frage, weshalb er in seiner Apologie des Judentums ausgerechnet den
Begriff .Zeremonialgesetz' in den Mittelpunkt rückt. Das hängt meiner Meinung
nach mit der zeitgenössischen Terminologie im Judenrecht zusammen.
139
Altmann, Alexander, Moses Mendelssohn. A Biographical Study. London 1973, S. 94f. Sein
Urteil, daß es sich bei den Brautbriefen zwar um Briefe voller Liebe, aber nicht um Liebes-
briefe handelt, und die Begründung, mit der die Unfähigkeit des Jiddischen zum romantischen
Gefühlsüberschwang erläutert wird, scheint mir in jeder Hinsicht verfehlt.
140
Vgl. meinen Aufsatz: Das Zeremoniell als Zeichensprache, (wie Anm. 7), S. 269ff.
141
Diese Materien sind im 1. Teil des maßgeblichen Gesetzeskodex Schulchan Aruch kodifiziert.
142
Diese Materien sind u.a. im 2. Teil des Schulchan Aruch kodifiziert.
143
Bd. VII, S. 109-251. Das Werk ist erstmals 1778 in Berlin erschienen. Im Brief vom
11.1.1785 schreibt Mendelssohn sich selbst dieses Werk zu.
144
Bd. VII, S. I l l , 12-13. Diese Materien werden im dritten und vierten Teil des Schulchan
Aruch behandelt.
,Zeremonialgesetz ' 155
145
Gemeint ist der Schulchan Aruch.
146
Vgl. S. Rawidowicz, Einleitung zu den Ritualgesetzen der Juden, Bd. VII, S. CXXV u.
CLXXVI, Anm. 28. Rawidowicz bemerkt selber, daß der Titel „nicht sehr glücklich gewählt
ist, daß er gerade für die im Auszuge behandelten Gebote in keiner Weise zutreffend ist". Er
gibt jedoch keine Erklärung für diese überraschende Wahl.
156 Daniel Krochmalnik
gebrauche" seien, will sagen, daß sie keinen status in statu, den casus belli des Ab-
solutismus, darstellen und Anspruch auf „Toleranz" im aufgeklärten Staat ha-
ben.147 Wie wichtig derartige terminologische Rücksichten waren, zeigt folgender
Vorfall, der sich 1775, drei Jahre vor dem Erscheinen der Ritualgesetze, ereignete.
In bezug auf die rabbinische Jurisdiktion in Rechtshändeln zwischen in- und aus-
ländischen Juden in der Messestadt Frankfurt/O. stellt der preußische Generalfiskal
fest, daß sich die Jurisdiktion der Rabbinen „nur auf Ritualia oder Ceremonien
bezieht". Gegen den von den preußischen Behörden ausdrücklich hervorgehobe-
nen wirtschaftlichen Nutzen dieser Praxis stellt das Kammergericht bezeichnen-
derweise fest: „es würde dieses den Grund eines der ersten Regel der Politik zuwi-
derlaufenden status in statu legen". Wie unerträglich die Idee der Autonomie den
absolutistischen Bürokraten war, zeigt die anschließende Bewertung des Vor-
schlags: Dies sei „eine so sonderbare, allen Maximen der Staatsverwaltung entge-
genlaufende Idee, daß sie unseres Erachtens nur von jüdischen Köpfen hat erzeugt
werden können".148 Der Titel Ritualgesetz schützt also vor dem Verdacht solcher
staatsfeindlicher Ideen.
Bei der Wahl des Titels ist zu berücksichtigen, daß Mendelssohns Ritualgesetze
der Juden eine staatliche Auftragsarbeit war.149 Das Werk wurde auf Befehl des
preußischen Königs (26. Januar 1770) verfaßt und sollte preußischen Richtern bei
der Anwendung des Revidierten General-Privilegiums und Reglements vom 17.
April 1750 dienen (VII, S. CXII).150 Art. 31 hatte die rabbinische Jurisdiktion auf
jüdische „Ceremonien und Kirchen-Gebräuche" beschränkt und die Anwendung
von harten Strafen fur religiöse Vergehen unter Kontrolle gestellt. Die Rabbinen
hatten hingegen keine Jurisdiktionsgewalt in „Bürgerlichen Recht-Sachen" - mit
einer vorläufigen Einschränkung:
wir [lassen] noch zur Zeit geschehen, daß in Sachen die Juden mit Juden zu thun haben, und
die ihre Ritus einschlagen, als die jüdische Ehe-Pactes, [...] Recht-Cognition in Successions-
Fällen, die bloß nach den mosaischen Gesetzen bei ihnen entschieden werden müßen, wie auch
den gerichtlichen Handlungen, wegen Testamente, [...] Bestellung der Vormünder, dem Rabbi
und denen gelehrten Assessoren eine Art von rechtlicher Cognition nachgegeben werde.
147
Dieser Begriff wurde übrigens auch auf die Hugenotten angewandt. Im Edikt von Potsdam
(29.10.1685) heißt es in § 11, daß „der Gottesdienst mit eben denen Gebräuchen und Ceremo-
nien gehalten werden soll, wie es biß anhero bey den Evangelischen Reformirten in Franck-
reich bräuchlich gewesen", zit. nach Birnstil, Eckart/Reinke, Andreas, Hugenotten in Berlin,
in: Jersch-Wenze, Stefi/John, Barbara (Hg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten,
Juden, Böhmen, Polen in Berlin. Berlin 1990, S. 49.
148
Zit. nach Stern, Selma, Der Preussische Staat und die Juden. 4 Teile. Tübingen 1962-75
(Schriftenreihen wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bde. 7/8, 24, 32),
hier 3. Teil (1971), l.Abt., S. 121-122.
149
Zur Entstehung der Ritualgesetze vgl. die Einleitung v. S. Rawidowicz Bd. VII, S. CVI-
CLVII. Stern, (wie Anm. 148), 3. Teil (1971), 1. Abt., S. 126-130 folgt dieser gründlichen
Darstellung.
150
Vgl. Stern, (wie Anm. 148), ebd., S. 127.
,Zeremonialgesetz ' 157
Diese sollten nur Schiedsgerichte sein, und es wurde den Parteien freigestellt, ein
ordentliches Gericht anzurufen, welche nach Art. 32 „in Succession - und anderen
dergleichen Fälle, so in die Jüdischen Riten einschlagen, nach der Disposition des
Mosaischen Gesetzes erkannt werden". 151 In diesen beiden Artikeln des friederizi-
anischen Judenrechts ist die Leerstelle bezeichnet, die die Ritualgesetze der Juden
später ausfüllen sollten. Die rabbinische Gerichtsbarkeit sollte aufgehoben und das
rabbinische Recht nur in bestimmten Bereichen nach dem Personalitätsgrundsatz
weiterhin gelten.152 Symptomatisch für die Einstellung des preußischen Staates zur
jüdischen Autonomie ist die Wendung: ,jedoch lassen wir noch zur Zeit gesche-
hen" im Art. 31. Die ohnehin stark eingeschränkte, überdies nicht bindende rabbi-
nische Gerichtsbarkeit wird nach der Maxime Friedrichs des Großen, daß „es zu-
weilen nötig sei, Gesetze beizubehalten, die nicht gut seien, weil die Menschen
sich nicht gern in ihren Gewohnheiten stören ließen", als eingeführter, aber befri-
steter Mißstand geduldet. 153 Aber auch dieses temporäre Zugeständnis lief der
absolutistischen Logik zuwider. Ihr eifrigster Verfechter, der Justizminister Samuel
von Cocceji, der im Zuge der Landrechtsreform von 1748 die Jurisdiktion der
evangelischen und katholischen Kirchen aufgehoben hatte, beanstandete die
Artikel 31 und 32 des revidierten Generalprivilegs. In seinen Mónita an den König
argumentiert er, daß das „mosaische Gesetz" seit 1600 Jahren aboliert und in den
fraglichen Materien gar nicht einschlägig sei.154 Vor der Veröffentlichung des
Generalprivilegs klagte Cocceji bei dem Generaldirektorium:
Während ihnen [den Rabbinen] nur die Gerichtsbarkeit in Sachen, die ihre Riten und Ceremo-
nien beträfen, zustehen, maßten sie sich auch in Civilstreitigkeiten, bei denen es sich um Erb-
schaften und Testamenten, Ehesachen und Vormundschaften handle, die Entscheidung an. 155
Offenbar hatte Cocceji die Subsumtion der „Civilgesetze" unter dem Titel „Ritual-
gesetze" von vornherein verhindern wollen. Doch das Generaldirektorium erwider-
te am 16. April 1750, einen Tag vor der Veröffentlichung des revidierten General-
151
Vgl. Freund, Ismar, Die Emanzipation der Juden in Preußen. Unter besonderer Berücksichti-
gung des Gesetzes vom 11. März 1812. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Juden in Preu-
ßen. Bd. 2: Urkunden. Berlin 1912, S. 53-54.
152
Es gibt ein Pendant zu den Ritualgesetzen der Juden in Frankreich. Es ist der unter der Lei-
tung von Rabbiner Eybeschiitz verfaßte Recueil des loix et coutumes et usages observés par
les juifs de Metz, En ce qui concerne leurs contrats de mariage, Tutelles, Curatelles, Majo-
rités, Successions, Testamens et.c. rédigé et translaté en francois, en executions des lettres
patantes du 20 Août ¡742. Das Parlament wollte die rabbinische Jurisdiktion in innerjüdi-
schen Zivilsachen an sich ziehen, ohne das Personalitätsprinzip aufzuheben, wonach jede Per-
son nach dem für sie gültigen Recht beurteilt werden sollte. Das Parlament hat sich damit
nicht durchsetzen können. Der Receuil wurde 1786 veröffentlicht, ohne je Gesetzeskraft zu
erlangen. Der Vorstand der Berliner Gemeinde hat sich 1771 bei der Abfassung der Ritualge-
setze mit einer Anfrage an die Gemeinde Metz gewandt. Die Antwort ist nicht bekannt.
153
Stern, (wie Anm. 148), 3. Teil (1971), 1. Abt., S. 119.
154
Ebd., S. 118. Cocceji ignoriert, daß das „mosaische Gesetz" in diesen Sachen 1600 Jahre lang
angewandt worden ist.
155
Brief vom 8.4.1750, vgl. ebd., S. 117.
158 Daniel Krochmaìnik
156
Ebd.
157
Freund, (wie Anm. 151), S. lOff.
158
Ebd., S. 20f.
159
Bd. VII, S. CXIII-CXXIV.
160
Bd. VIII, S. l l l f . ; S. 121, 19-26 u.ö.
161
Bd. VII, S. CXXV.
,Zeremonialgesetz ' 159
vielleicht nicht für den Titel, aber sicher für die Einleitung verantwortlich zeichnet,
differenziert zwar zwischen den zivilen und rituellen Materien des Gesetzes
(S. 117, 16), vermeidet aber, wie sich vermuten läßt, aus den gleichen Gründen
eine eindeutige logische Festlegung des Terminus. Die logische Unbestimmtheit
seines Begriffs ,Ritualgesetz' entspricht genau der logischen Unbestimmtheit der
Termini .Ritual' und ,Zeremonie' im preußischen Judenrecht, der zunächst ohne
Unterschied die kultischen und zivilrechtlichen Inhalte der jüdischen Autonomie
umfaßt.
Diese Termini dienten übrigens nicht nur in Preußen, sondern auch in Mendels-
sohns Heimat dazu, die Überschneidung von Judenrecht und jüdischem Gesetz zu
bezeichnen.162 Der Rabbiner hatte, nach dem den Juden gewährten Patent, das
Recht, bei Zuwiderhandeln gegen „Ceremonien" den Bann zu verhängen.163 Nach
der Verordnung vom 18. Februar 1739 erstreckten sich z.B. die Befugnisse des
Rabbiners David Fränckel, des Lehrers von Moses Mendelssohn, auf solche zere-
moniellen Angelegenheiten. Er selbst gebraucht dieses Wort und beruft sich in
einem Schreiben auf einen Usus, der „bey alle Judenschaft gebreichlich und Cere-
monie ist".164 Als R. Fränckel Verordnungen gegen das Glückspiel erließ, prote-
stierte ein Hofjude, diese Erlasse beträfen nicht die jüdischen Zeremonien.165 Die-
ser Begriff bezeichnet also im Judenrecht genau den Freiraum, den der Souverän
bei der jüdischen Körperschaft zu dulden bereit war. ,Riten' und .Zeremonien'
sind politisch neutrale und indifferente Handlungen, die im aufgeklärten absoluti-
stischen Staat toleriert werden. Die Juden gebrauchen den Begriff .Zeremonie' als
eine Art terminologische Mimikry, die gegen den Absolutismus ihre Autonomie
zugleich behaupten und verharmlosen soll. Damit wird offenbar die Bedeutung der
gewährten Rechte heruntergespielt, und sie werden als tolerable Sitten und Bräu-
che ausgegeben. Es lag im Interesse der Autoren, den beliebig dehnbaren Diffe-
renzbegriff nicht klarzustellen und in semantischer Schwebe zu belassen.
So ergibt sich also, daß Mendelssohn zur Charakterisierung des Judentums
einfach auf den im Judenrecht gebräuchlichen Terminus zurückgegriffen hat. Die
162
In dem Patent von Johann Georg, dem Fürsten zu Anhalt, vom 26.11.1687 heißt es: „Es sollen
auch die jedes mahl gesetzte ältesten fleißige acht haben, damit alles ehrbar und ordentlich in
ihrer Schule zugehe, Gestalt dann sie macht haben sollen, diejenige, so wider ihre Ceremonien
handeln in geringen Dingen selber abzustrafen, sollte aber etwas wichtiges für gehen, so soll
selbiges von den ältesten dem Fürstlichen Ambte angezeiget, und derjenige, so hierunter ver-
brochen, dem befinden nach abgestrafet werden.", zit. nach Horwitz, L., Die Emanzipation der
Juden in Anhalt-Dessau. Dessau o.J., S. 8. Zur allgemeinen Rechtstellung der Juden vgl. Wal-
ter, Ernst, Die Rechtsstellung der Istraelitischen Kultusgemeinde in Anhalt (Diss.). Dessau
1934, S. 17-27. Der Begriff .Zeremonie' war in den Diskussionen über das Judenrecht im 16.
u. 17. Jahrhundert üblich, vgl. Güde, Wilhelm, Die rechtliche Stellung der Juden in den
Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1981, S. 17.
163
Freudenthal, Max, R. David Fränckel, in: Brann, Marcus/Rosenthal, Frank (Hg.), Gedenkbuch
zur Erinnerung an David Kaufmann. Breslau 1900, S. 591 ff.
164
Eigenhändiges Schreiben vom 5.6.1741, zit. ebd., S. 586.
165
Ebd., S. 593-96.
160 Daniel Krochmalnik
Wortwahl Mendelssohns hat also okkasionelle und taktische Gründe. Wie er den
Begriff ,Zeremonialgesetz' im Anschluß an die aufklärerische ,Zeremonialphiloso-
phie' inhaltlich bestimmt, können wir hier nicht weiter verfolgen.166
166
Vgl. meinen Aufsatz: Das Zeremoniell als Zeichensprache, (wie Anm. 7).
ULRICH KRONAUER ( H e i d e l b e r g )
Der Status, die Beschreibung und die Behandlung von Minderheiten sagen We-
sentliches aus über den Zustand, die Mentalitäten, die politische und religiöse
Verfaßtheit einer Gesellschaft. Die Einstellung und das rechtliche, soziale Verhal-
ten einer Gesellschaft gegenüber den Randgruppen, den Minderheiten oder auch
allgemein den Fremden sind deshalb seit geraumer Zeit bevorzugter Gegenstand
der historischen Forschung.1 Für die Epoche der Aufklärung kommt der Frage nach
der Behandlung der Minderheiten eine Bedeutung zu, die sie bezogen auf frühere
Epochen nicht hatte. Denn sie kann nun zum Prüfstein für ein Programm werden,
das man gemeinhin mit .Aufklärung' verbindet und das nicht zuletzt in der Über-
windung von Vorurteilen besteht.2 Eine praktische Konsequenz aus der Überwin-
dung der Vorurteile könnte sein, aus der Gesellschaft ausgegrenzte Minderheiten
einzubinden, oder zumindest humaner zu behandeln als bisher. Allerdings stellt
sich hier bereits die Frage nach der Begründung dieser Konsequenz. Sollen die
Angehörigen einer ethnischen, religiösen oder ähnlichen Minderheit beispielsweise
aus naturrechtlichen Gründen integriert werden, deshalb nämlich, weil ihnen als
Menschen eine elementare Anerkennung gebührt? Bei dieser Vorstellung von
Integration geht es um die Überwindung von „Trennungen", wie die Aufklärer
sagen, die sich aus religiösen, nationalen oder ständischen Vorurteilen ergeben.
Oder sollen die Angehörigen von Minderheiten in der Weise in die Gesellschaft
eingebunden werden, daß sie, die bisher als unnütz angesehen wurden, nun für die
Gesellschaft nützlich werden können? Auch dieser Gedanke ist im Kern aufkläre-
risch, da er sich gegen das Vorurteil richtet, bestimmte Menschen seien, aus wel-
chen Gründen auch immer, ein und für alle Mal ungeeignet, dem Staat zu nützen.
Diese Begründungen, die auch miteinander verknüpft werden können, werden
gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland zur Diskussion gestellt. Sie be-
ziehen sich vor allem auf zwei Minderheiten, die Juden und die Zigeuner (der
Begriff,Zigeuner' hier verwendet im Sinne der zeitgenössischen Begrifflichkeit).3
Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb, Historischer Versuch über die Zigeuner betreffend die
Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks seit seiner Erscheinung in Eu-
ropa, und dessen Ursprung. Zweyte, viel veränderte und vermehrte Auflage. Göttingen 1787.
(Die 1. Aufl. erschien 1783 in Dessau mit dem Titel Die Zigeuner. Ein historischer Versuch
über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksahle dieses Volks in Europa, nebst
ihrem Ursprung.)
5
Dohm, Christian Wilhelm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Erster Theil. Neue
verbesserte Auflage. Berlin und Stettin 1783. [1. Aufl. 1781].
6
Fischer, Friedrich Christoph Jonathan, Lehrbegrif sämtlicher Kamerai- und Polizeyrechte.
Sowol von Teutschland überhaupt, als insbesondere von den Preußischen Staaten. 3 Bde.
Frankfurt an der Oder 1785, Bd. 2, S. 401.
7
Estor, Johann Georg, Bürgerliche rechtsgelehrsamkeit der Teutschen nach maasgebung der
Reichs-abschiede und bewährter nachrichten auch der regirungs- sodann rechts- und policei-
anbenebst der kammer- imgleichen der Stadt- und landwirtschafts-kunden ausgefertiget von
Johann Andreen Hofmanne. 2 Bde., Bd. 1. Marburg 1757, S. 824 (§ 2034).
Minderheiten 163
Judenbild, das sich bei Estor nicht so direkt findet. Es wird der Eindruck erweckt,
die Juden entsprächen den Zigeunern und seien diesen gleich zu behandeln. Dabei
spielt es dann kaum noch eine Rolle, daß der Vorwurf der Spionage und Landes-
verräterei in der Tradition eher die Zigeuner als die Juden getroffen hat. Erklä-
rungsbedürftig sind vielleicht die Begriffe ,Landläufer', ,Gardebruder', ,Rottirer'.
Landläufer im von Fischer verstandenen Sinn sind zu den fahrenden Leuten gehö-
rende Personen, die als unehrlich gelten und in ihrer Rechtsstellung gewissen Ein-
schränkungen unterliegen.8 Gartbrüder sind herumstreichende Landsknechte,9 Rot-
tierer sind verdächtige Personen, die sich zusammenrotten. Juden wie Zigeuner
werden also im weiteren Sinne dem verdächtigen, herrenlosen Gesindel zugeord-
net. In einem Beleg von 1750 aus Westfalen tauchen bettelnde Juden und Zigeuner
im Kontext des liederlichen Gesindels' auf, wobei die Zigeuner mit einer noch
schlimmeren Strafe bedroht werden als die Juden. An allen Grenzen des Hochstifts
Paderborn seien, so heißt es, Pfahle mit Warntafeln zu errichten, auf denen steht:
Auswärtigen bettelnden Christen und Juden, Landstreichern und anderen liederlichen Gesindel
ist bey Straf lebens-länglichen Zuchthauses und Karren-schiebens, hingegen denen Ziegeune-
ren bey Leib- und Lebens-Straf der Eintritt in das Hochstift Paderborn verbotten. 10
Schon im 17. Jahrhundert waren die Zigeuner und die Juden gemeinsam unter dem
Oberbegriff der .leichtfertigen Leute' erfaßt worden, so 1656 in der Niederöster-
reichischen Landgerichtsordnung.11 ,Leichtfertig' bedeutet in diesem Zusammen-
hang übel beleumundet, verbrecherisch.12 Ein Pestedikt von 1666 aus den Hessi-
schen Sammlungen legt fest, welche Personen nicht aufgenommen werden dürfen:
„außlandische frembde Bettler, Landläuffer, Gängler [eine Art Hausierer, U. K.],
frembde Krämer oder Hausirer, Ziegeuner, Juden und dergleichen".13
Juden wie Zigeuner gelten als von außen kommend, fremd, unstet, verdächtig,
gefahrlich. Wie bedrohlich die Juden noch am Ende des 17. Jahrhunderts empfun-
den wurden, macht ein Wortfeld deutlich, das sich 1690 in der „Crahmer-Ord-
nung" der churfurstlich brandenburgischen Residenzstädte findet. Dort heißt es:
Alldieweil die Seiden-Crahmer-Innung, aus ehrlichen und redlichen Leuten zusammengeset-
zet, als soll kein Jude, straffbahrer Todtschläger, Gotteslästerer, Mörder, Dieb, Ehebrecher,
8
Vgl. den Artikel .Landläufer' im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW), Bd. 8 (1984/91), Sp.
492f.
9
Vgl. den Artikel .Gartbruder', DRW, Bd. 3 (1935/38), Sp. 1175f.
10
Westfälische Zeitschrift, Bd. 94,2, Münster (Westf.) 1938, S. 199.
11
„Insgemein soll niemand über einerley Anzeigungen mehr als einmahl peinlich befragt werden.
[...] Wann es auch sehr starcke und solche Leuth seyn, welche die Pein der Torturn so gar hoch
nicht achten oder empfinden, als wie die Zigeuner, Juden und andere leichtfertige Leuth, kön-
nen sie auß erheblichen Anzeigungen wohl zwey, oder dreymal nach vernünftiger Ermessung
eines Richters torquirt werden." Land-Gerichts-Ordnung. Deß Ertz-Hertzogthumbs Oester-
reich unter der Ennß. 1656, 39. Artikel, in: Codex Austriacus. Teil 1. Wien 1704, S. 674.
12
Vgl. den Artikel .leichtfertig', DRW, Bd. 8, Sp. 1137.
13
Sammlung Fürstlich Hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreibungen. Zweyter Theil.
Kassel 1770, S. 633.
164 Ulrich Kronauer
Meyneydiger, oder der sonst mit groben öffentlichen Lastern und Sünden beflecket und be-
hafftet, in unserer Giilde nicht gelitten, sondern davon gäntzlich ausgeschlossen seyn und blei-
ben. 14
Der Jude fuhrt eine Liste von Straftätern an, die sich gravierende Verbrechen ha-
ben zuschulden kommen lassen. Die unmittelbare Nähe zum ,strafbaren Totschlä-
ger' legt nahe, daß bei der Aufzählung immer noch mit dem Juden der Christus-
mörder assoziiert wird. Das Ressentiment gegenüber den Juden kommt auch am
Ende des 18. Jahrhunderts noch deutlich zum Ausdruck, so in dem bereits zitierten
Lehrbegrif sämtlicher Kamerai- und Polizeyrechte von Fischer. Im dritten Band
von 1785 heißt es zur „Wechselverbindungsfahigkeit": „Jedermann kan sich zu
Wechselrecht verbinden, der die freye Disposition über seine Person und Vermö-
gen besizt. Nur bey Einigen hat das Polizeyrecht die Wechselverbindlichkeit theils
eingeschränckt und theils ganz verboten." Als Grund hierfür wird unter anderem
angegeben: „die präsumtive Einfalt und Unerfahrenheit, wie bey geringen Hand-
werkern und bey Bauren, oder die präsumtive Arglist und wucherliche Habsucht,
wie bey den Juden."15 Arglist und Habsucht gehören gewissermaßen zum Natio-
nalcharakter der Juden und haben die entsprechenden rechtlichen Konsequenzen.
So wird noch am Ende des 18. Jahrhunderts von dem Professor des Staats- und
Lehnrechts und Dekan der Juristischen Fakultät zu Halle argumentiert, der damit
nur die Summe aus den ihm vorliegenden rechtlichen Bestimmungen zieht. An
anderer Stelle schreibt Fischer:
Kein Jude darf ohne Erlaubnis der Landesherrschaft einen fremden Staat betreten, weil sie
nach der Regel den Christen verhaßt, und von aller Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind.
Der Jude kränkt die Rechte des Staats, wenn er sich heimlich einschleicht, und darinn ver-
weilt. Daher er in Verhaft genommen und strenge bestraft werden kann. 16
14
Corpus Constitutionum Marchicarum. Bd. VI 1. Berlin 1751, Sp. 600.
15
Fischer, (wie Anm. 6), Bd. 3, S. 234.
16
Ebd., Bd. 1,S. 358.
17
Repertorium des gesammten positiven Rechts der Deutschen besonders für practische
Rechtsgelehrte. Neunter Theil. Leipzig 1801, S. 63.
18
Vgl. den Artikel,Leibzoll', DRW, Bd. 8, Sp. 1121.
Minderheiten 165
In noch stärkerem Maße als die Juden waren im 17. und 18. Jahrhundert die
Zigeuner Gegenstand abwertender, auch bewußt auf Abschreckung zielender
rechtlicher Bestimmungen. 19 Auch hierzu seien, neben den bereits angeführten,
noch einige wenige Wortfelder vorgestellt. 1651 werden in Vorarlberg „außerhalb
der jahrmerckten" als „herrenlos gesind" fortgewiesen die „hussierer, harzer, zi-
geuner, gartknecht, störzer, landstreicher". 20 1688 dürfen in Oberösterreich nicht
beherbergt werden „landfahrer, zügeiner [...] schünter und henkers gsündl, starke
bettler und andere verdechtige mans- und weibspersohnen". 21 Dieses Beherber-
gungsverbot bezieht sich 1710 in Württemberg auf die „bettler, landrötter, zigeiner
oder sonsten leuchtfertig, verdächtig, landfrembd, und unbekanndes gesindlen". 22
1721 trifft in Ostfriesland das Beherbergungsverbot „fremde Betteler, Landläuf-
fer", „Ziegeuner oder Heiden". 23 1751 schließlich werden in den Gemeinden Ba-
den Durlachs unter anderen nicht geduldet „die Jauner, Zigeuner, Vaganten, Land-
streicher, Deserteurs". 24
Die Zuordnung der Zigeuner zum fahrenden Volk, zu den unehrlichen Leuten,
zum ,Gesindel' ist deutlich erkennbar. Wenn sie darüber hinaus als ,Heiden' be-
zeichnet werden, soll damit das Fremde, mit der christlichen Kultur nicht Verein-
bare gekennzeichnet werden. Wie unscharf das vorherrschende Zigeunerbild
gleichwohl am Ende des 18. Jahrhunderts bleibt, geht aus den Ausführungen Jo-
hann Christian Quistorps hervor, des „ordentlichen Beysitzers beym Wismarschen
hohen Tribunal und Ober-Appellationsgericht in Sr. Königl. Maj. von Schweden
deutschen Staaten". In dessen Grundsätze[ri\ des deutschen Peinlichen Rechts
heißt es:
Die Zigeuner, wo sie sich etwa noch betreten Hessen, werden, wenn man sie gleich keiner Mis-
sethat überführen könnte, dennoch zu den öffentlichen Arbeiten verurtheilet. Die Reichsge-
setze geben den Zigeunern keinen Schutz, sondern wollen selbige überall verfolget wissen.
Es folgen Verweise auf die Reichsabschiede von 1500, 1544 und 1551 und auf
Reichspolizeiordnungen von 1530 und 1548. Quistorp stützt seine Ausführungen
also auf eine mehr als dreihundertjährige Rechtstradition. Die von Quistorp ange-
sprochene Maßnahme, Zigeuner, denen kein Vergehen nachgewiesen werden
kann, dennoch zu öffentlichen Arbeiten zu verurteilen, ist aber offensichtlich neue-
ren Datums. Zigeuner machen sich also per se, allein durch ihre Anwesenheit,
19
Vgl. Kronauer, Ulrich, Bilder vom ,Zigeuner' in rechtssprachlichen Quellen und ihre Darstel-
lung im ,Deutschen Rechtswörterbuch', in: Stichwort: Zigeuner, (wie Anm. 3), S. 97-118.
20
Österreichische Weistiimer. Gesammelt von der Österreichischen Akademie der Wissenschaf-
ten. Bd. 18. Wien 1973, S. 38.
21
Österreichische Weistiimer. Bd. 12. Baden bei Wien und Leipzig 1939, S. 91.
22
Württembergische Ländliche Rechtsquellen, hg. von der Württembergischen Kommission für
Landesgeschichte. 4 Bde. Bd. 1. Stuttgart 1910, S. 530f.
23
Ostfriesische Bauerrechte, hg. v. Wilhelm Ebel. Aurich 1964, S. 114.
24
Gerstlacher, Carl Fridrich, Sammlung aller Baden-Durlachischen [...] Anstalten und Verord-
nungen. Bd. 2. Frankfurt und Leipzig 1774, S. 90.
166 Ulrich Kronauer
strafbar. Daß sie zu öffentlichen Arbeiten verurteilt werden, mag bereits mit einem
Umerziehungsprogramm zusammenhängen, wie es im 18. Jahrhundert für Müßig-
geher, Vaganten, Bettler u.a. entwickelt wurde. Quistorp fahrt fort:
Die heutigen Zigeuner, die eigentlich aus Egypten herstammen sollen, sind meistentheils Leute
von allerley Nationen, die, ohne gewisse Wohnsitze zu haben, in der Welt umher irren, sich
gewöhnlich vom Raub und Diebstahl ernähren, Leichtgläubige durch Wahrsagen betrügen,
oder durch Betteln ihren Unterhalt suchen. 25
Als Quelle gibt Quistorp die Schrift des Jakob Thomasius über die Zigeuner an,
deren erste, lateinische Fassung 1652 erschienen war.26 Dort hatte er nicht nur die
Herkunftshypothese finden können, sondern auch die Behauptung, daß die über-
wiegende Mehrheit der heutigen Zigeuner „eine von vielen müßigen Leuten aus
allerhand Nationen zusammengelauffene Rotte sey" (so in der deutschen Über-
setzung von 1702).27 Thomasius und mit ihm Quistorp nehmen an, es habe ur-
sprünglich Zigeuner gegeben, die aus der Ferne als Pilger gekommen seien, inzwi-
schen gebe es aber nur noch, oder vorwiegend noch ein Gesindel, das sich als
Zigeuner ausgebe. Thomasius bezieht sich auf Philipp Camerarius, der, noch radi-
kaler, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Auffassung vertrat, es gebe gar
keine .historischen' Zigeuner, sondern nur „ein Gesindel von müßigen und betrü-
gerischen Menschen aus verschiedenen Nationen, das nicht aus der Ferne gesam-
melt ist, sondern aus der Nachbarschaft".28 Die Vorstellung, daß die Zigeuner
„mehrentheils aus zusammengelaufenen Volke und Diebs-Rotten bestehen", wie
auch Christian August Hellfeld 1762 in seinem Repertorium [...] ivris privati
schreibt,29 ist offensichtlich im 18. Jahrhundert vorherrschend. Die Zigeuner sind,
so legen die Rechtsquellen nahe, in besonderer Weise für jedes Staats- oder Ge-
meindewesen gefahrlich, einmal wegen ihres betrügerischen und räuberischen
Verhaltens, dann auch allgemein wegen ihrer mit den christlichen Normen nicht zu
vereinbarenden Lebensweise. So heißt es 1736 für das Herzogtum Holstein in
einer „Verordnung wider das herumschweifende Herren-lose Gesindel", die Zi-
geuner sollten „so lange von einem Orte zum andern fortgejaget werden", „bis sie
gänzlich unserer Lande Gränzen werden verlassen haben". Nur die ärgsten Feinde
25
Quistorp, Johann Christian, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts. 3. Aufl. Rostock
und Leipzig 1783, S. 134. [1. Aufl. 1770],
26
Thomasius, Jacobus, Dissertatio philosophica de Cingaris. Leipzig (?) 1652.
27
M. Jacob Thomasii Curiöser Tractat von Zigeunern. Aus dem Lateinischen ins Teutsche
übersetzet von M. M. Dresden und Leipzig 1702, S. 39 (§ 58). Abgedruckt in: Zigeuner im
Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, hg.
von Reimer Gronemeyer. Gießen 1987, S. 132.
28
Camerarius, Philipp, Operae horarum subcisivarum sive meditationes historicae [...]. Frank-
furt 1602ff. (Caput XVII: De Cingaris, quos Germani Zigeuner vocant), in: Gronemeyer, (wie
Anm. 27), S. 58 (dt. Übersetzung S. 62).
29
Hellfeld, Johann August, Repertorium reale practicum iuris privati imperii romano-germanici
oder vollständige Sammlung aller üblichen und brauchbaren Rechte im heil. Römischen Rei-
che [...]. 4 Teile. Teil 4. Jena 1762, S. 2571.
Minderheiten 167
jagt man von Ort zu Ort. Die Notwendigkeit der radikalen Austreibung und Ver-
folgung der Zigeuner wird damit begründet, sie führten „nicht allein unter sich ein
atheistisches sündliches Leben", sondern stifteten auch im bürgerlichen Staat gro-
ßes Unheil, „außer ihrer muthwilligen und gefährlichen Betteley, mit fast offenba-
ren Stehlen und Rauben, auch Verführung der Alten und Jungen". Diejenigen, die
sich zur Wehr setzen sollten, dürfen nicht geschont werden. Sofern man ihrer le-
bendig habhaft wird, müssen sie „nach dem Zucht- und Werk-Hause gebracht, und
daselbst, nach vorgängiger ziemlich starken Bewillkommnimg [d.h. Verprügelung,
U. K.], zu der schwersten Arbeit auf Lebens-Zeit angehalten" werden. „Die Weiber
aber, nachdem sie drey Wochen bey Wasser und Brodt gefänglich destiniret wor-
den, ferner weg aus dem Lande gejaget werden sollen". Die Kinder sollen den
Müttern abgenommen und, soweit noch nicht geschehen, getauft werden. Dann
sollen sie
auf des ganzen Districts, wo sie betroffen werden, Kosten, unterhalten, und zur Erkenntnis der
Furcht Gottes durch die Schul-Lehrer angeführet werden, bis sie zu denen Jahren gelangen,
daß sie entweder ein Handwerk erlernen, oder auch sonsten in anderer Leute Dienste treten
können. 30
Dieses Programm der Umerziehung, das die gewaltsame Entfernung der Zigeu-
nerkinder von ihren Eltern voraussetzt, wird dann auch auf Anweisung Maria
Theresias in Ungarn angewendet. In seinem Historischen Versuch über die Zigeu-
ner zitiert Grellmann im fünfzehnten Kapitel mit der Überschrift „Versuche dieses
Volk zu bessern" zustimmend einen Bericht von 1775, der die Umerziehungs-
versuche der Kaiserin beschreibt. Nachdem ,mildere Maßnahmen' nichts gefruch-
tet hatten, ging man dazu über, den Eltern die Kinder mit Gewalt abzunehmen, um
ihnen „von ihren Aeltern, Anverwandten und übrigen Umgang der Zigeuner ent-
fernt, eine bessere Erziehung" zu geben.
Zu Fahlendorf in der Schütt, und in dem ganzen Preßburger Komitate, wurden in der Nacht
vom 21 sten December 1773 durch abgeordnete Befehlshaber die Kinder der Neubauern, oder
sogenannten Zigeuner, so über flinf Jahre alt waren, in Wägen abgeführt, um solchen in ent-
fernten, und von ihren Anverwandten und Aeltern abgesonderten Ortschaften, eine bessere Er-
ziehung zu geben, und sie zur Arbeit angewöhnen zu lassen.31
Grellmann, der selbst die Kinderliebe der Zigeuner hervorhebt, nennt die ange-
wandten Mittel „gewaltsam", aber „notwendig und die einzigen, wenn die gute
Absicht gelingen sollte". 32 Grellmann bringt weitere Beispiele und zitiert ausfuhr-
lich eine Verordnung Josephs II. von 1782 für Siebenbürgen, die ebenfalls be-
zweckt, daß die Zigeuner „bessere Menschen und brauchbare Inwohner werden
30
Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum [...]. 5 Bde. Bd. 1. Jena 1749, S. 538f.
31
Grellmann, (wie Anm. 4), S. 190.
32
Ebd.
168 Ulrich Kronauer
sollen". An die Zitierung der Verordnung schließt Grellmann einen Lobpreis Jo-
sephs an, in dem es unter anderem heißt:
Gedeiht aber wirklich sein Vorhaben; so wird es ein neuer Stein in seiner Krone seyn, und in
der Reihe seiner übrigen Thaten, die der Nachwelt gewiß nicht zuletzt erzählt werden, daß er
so viele Tausende solcher Elenden, die, unbekannt mit Gott und Tugend, tief in Laster und
Wildheit versunken, als Halbmenschen in der Irre liefen, aus ihrem Unrath herausgezogen, sie
zu Menschen und guten Bürgern gemacht habe. 33
Der „Statistiker und Culturhistoriker" Grellmann war ein zu seiner Zeit nicht un-
bekannter Mann. Von 1787 bis 1804 war er Professor in Göttingen, 1804 erhielt er
eine Professur für Statistik an der Universität Moskau. Sein Buch über die Zigeu-
ner wurde ins Französische und Englische übersetzt. In der Allgemeinen Deutschen
Biographie heißt es 1879 hierzu:
Als erste eingehende, sehr fleißig, wenn auch nicht immer mit Kritik, compilirte Arbeit über
die Zigeuner ist dieses Werk zu seiner Zeit von hohem Werthe gewesen [...] Es hat Grell-
mann's Namen weithin bekannt gemacht. Der sprachliche Theil rührt von Büttner her. Die in-
dische Abstammung der Zigeuner, als Vermuthung auf linguistische Gründe hin von Rüdiger
bereits 1777 geäußert, ist von G. zum ersten Mal sichergestellt worden. 34
Grellmanns Buch hat, auch wenn darin, wie unlängst nachgewiesen wurde, keine
eigenen Erfahrungen und Untersuchungen verarbeitet wurden,35 große Resonanz
gefunden. Die These von der indischen Abstammung der Zigeuner hat Grellmann
dahingehend präzisiert, „daß die Zigeuner aus der niedrigsten Classe der Indier,
nähmlich Pareier, oder wie sie in Hindostán heißen, Suders sind".36 Diese Her-
kunftshypothese mag den rüden Ton mit motivieren, mit dem Grellmann seinen
Gegenstand behandelt. Auf jeden Fall teilt er nicht die Auffassung, die heutigen
Zigeuner seien im eigentlichen Sinn keine Zigeuner mehr, sondern zusammenge-
laufenes Gesindel. Nur weil er davon ausgeht, daß die Zigeuner eine Menschen-
rasse oder Menschenklasse mit bestimmten charakteristischen Eigenschaften sind,
kann er ihre ,Umschaffung' propagieren.
Diese Umschaffung steht im Zeichen aufklärerischer Programmatik. War aus
Inhalt und Tonfall der zitierten rechtlichen Quellen hervorgegangen, daß die Zi-
geuner primär als unnütz, als schädlich und gefährlich angesehen wurden, so ver-
sucht Grellmann, ihre potentielle Nützlichkeit zu erweisen. Sein Hauptargument,
das sich dann auch in Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Ju-
den findet, betrifft die Bevölkerungspolitik und wird im Kapitel „Ueber die Dul-
dung der Zigeuner im Staat" dargelegt. Grellmann meint, die Geschichte habe
gezeigt, daß alle rechtlichen Verordnungen nicht zu einer endgültigen Vertreibung
33
Ebd. S. 193f.
34
Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 9, 1879 (Neudruck Berlin 1968), S. 637.
35
Ruch, Martin, Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen ,Zigeunerforschung' von
den Anfängen bis 1900. Diss. Freiburg 1986, S. 100-108.
36
Grellmann, (wie Anm. 4), S. 327.
Minderheiten 169
der Zigeuner geführt hätten. Die Landesverweisungen waren aber auch, wie er
sagt, „voreilig" und „verschwenderisch". Denn die Staatswissenschaft lehre den
Satz, eine größere Volksmenge sei besser als eine geringere. Die Zeiten, aus denen
die ersten Verbannungsurteile der Zigeuner stammten, seien zu unphilosophisch
gewesen, um dies zu erkennen. Es liege nun an der „neuern Aufklärung", weisere
Maßnahmen zu ergreifen.37
Grellmanns pragmatische, uns heute überaus unangenehm berührende Argu-
mentation kommt unter anderem in folgendem Passus zum Ausdruck:
An dem Zigeuner, als Zigeuner, würde freylich kein Staat etwas verlieren; er gewinnt vielmehr
durch seine Entfernung, indem er das Hinderniß hebt, das bisher die gemeine Wohlfahrt
hemmte. Aber das ist der Fall nicht, von dem hier geredet wird. Jeder Mensch hat Anlagen und
Kräfte, der Zigeuner aber eben nicht in geringster Maaße: weiß er nun nicht gehörig damit
umzugehn; so lehre es ihn der Staat, und halte ihn so lange im Gängelbande, bis der ge-
wünschte Zweck erreicht ist. Liegt auch gleich beym ersten Geschlecht die Wurzel des Ver-
derbens zu tief, als daß sie bald Anfangs auszureuten wäre; so wird sich doch eine fortgesetzte
Mühe beym zweyten, oder dritten Geschlecht belohnen. Und nun denke man sich den Zigeu-
ner, wenn er aufgehört hat, Zigeuner zu seyn; denke sich ihn mit seiner Fruchtbarkeit und sei-
nen zahlreichen Nachkommen, die alle zu brauchbaren Bürgern umgeschaffen sind; und man
wird fühlen, wie wenig wirthschaftlich es war, ihn als Schlacke wegzuwerfen. 38
Auf Grellmanns Buch stützt sich dann Johann Gottfried Herder, der in den Ideen
zur Philosophie der Geschichte der Menschheit über die Zigeuner schreibt:
Eine verworfene Indische Kaste, die von allem, was sich göttlich, anständig und bürgerlich
nennet, ihrer Geburt nach entfernt ist, und dieser erniedrigenden Bestimmung noch nach Jahr-
hunderten treu bleibt, wozu taugte sie in Europa, als zur militärischen Zucht, die doch alles
aufs schnellste disziplinieret? 39
37
Ebd., S. 182-185.
38
Ebd., S. 183.
39
Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. Martin
Bollacher. Frankfurt/M. 1989, S. 703.
40
Berlinische Monatsschrift, hg. v. Johann Erich Biester. Bd. 21, Januar bis Junius 1793, S. 149.
170 Ulrich Kronauer
„die abscheuliche Stelle über die Jüdische Nazion" bei Grellmann hinweist.41
Grellmann hatte sich darüber gewundert, daß sich noch jemand mit den betrügeri-
schen Zigeunern auf einen Pferdekauf oder Tausch einläßt und fuhr fort: „Geht es
doch aber auch in anderen Dingen so: jedermann weiß, das der Jude betrügt, so oft
er kann; und doch lebt dieses Volk seit seiner Entlassung aus Babel bis auf den
heutigen Tag vom Handel."42 An diesem apodiktischen Urteil über die Juden, wie
es auch in den Rechtstexten begegnet, nahm Biester Anstoß; gegen das bei Grell-
mann wie in den Rechtstexten fixierte Judenbild schrieb Dohm an. Für den in
preußischen Diensten stehenden Dohm (1783 als Geheimer Kriegsrat) war die
Begegnung mit dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn von großer Bedeu-
tung. Dessen Persönlichkeit und dessen Wirken waren ein wesentliches Motiv für
Dohms leidenschaftliches Plädoyer für eine menschliche Behandlung der Juden.
Die erniedrigenden Umstände seien es, die das Erscheinungsbild der Juden prägten
und nicht ein vermeintlicher Nationalcharakter. Dohms Absicht ist es, wie er in der
„Vorerinnerung" seines Buches schreibt,
aus der unglücklichen Geschichte der Juden die Folge zu ziehn, daß die drückende Verfas-
sung, in der sie noch itzt in den meisten Staaten leben, nur ein Ueberbleibsel der unpolitischen
und unmenschlichen Vorurtheile der finstersten Jahrhunderte, also unwürdig sey in unsern
Zeiten fortzudauern. Wenn er [der Verfasser, U. K.] aus der Geschichte gezeigt, wie die Juden
nur deßhalb als Menschen und Bürger verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beyder
versagt habe; so würde er mit desto mehrern Erfolg die Regierungen der Staaten ermuntern zu
dürfen geglaubt haben, die Zahl ihrer guten Bürger dadurch zu vermehren, daß sie die Juden
nicht mehr veranlaßten schlechte zu seyn. 43
Dohm betont also die prägende Macht der Umstände, die die derzeitige Lage der
Juden und ihr Verhalten erklären. Er setzt sich aber nicht über das herrschende
Judenbild hinweg, wie es beispielsweise in den zitierten Rechtstexten zum Aus-
druck kam. Er nimmt die Vorbehalte gegenüber der „präsumtiven Arglistigkeit und
wucherlichen Habsucht" der Juden, von der Fischer gesprochen hatte, ernst, tut sie
keineswegs als ungerechtfertigtes Vorurteil ab. Man kann, so Dohm, dem heutigen
Juden, zumindest bedingt, diese Charaktereigenschaften unterstellen, die aber
keineswegs als anthropologische Konstanten zu verstehen seien.
Ich kann es zugeben, daß die Juden sittlich verdorbner seyn mögen, als andere Nationen; daß
sie sich einer verhältnißmäßig größeren Zahl von Vergehungen schuldig machen, als Christen;
daß ihr Charakter im Ganzen mehr zu Wucher und Hintergehung im Handel gestimmt, ihr Re-
ligionsvorurtheil trennender und ungeselliger sey; aber ich muß hinzusetzen, daß diese einmal
vorausgesetzte größere Verderbtheit der Juden eine nothwendige und natürliche Folge der
drückenden Verfassung ist, in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten befinden. 44
41
Ebd., S. 150.
42
Grellmann, (wie Anm. 4), S. 89.
43
Dohm, (wie Anm. 5), Vorerinnerung.
44
Ebd., S. 34f.
Minderheiten 171
Durch geeignete Maßnahmen könne man das Verhalten der Juden verändern, in-
dem beispielsweise bestimmte berufliche Tätigkeiten besonders, andere dagegen
weniger gefördert würden. So heißt es an einer Stelle des Dohmschen Buches:
Der noch zu kaufmännische Geist der meisten Juden wird besser durch starke körperliche Ar-
beiten als durch die stillsitzende des öffentlichen Bedienten gebrochen werden, und fur den
Staat wie für ihn selbst, wird es in den meisten Fällen besser seyn, wenn der Jude mehr in der
Werkstätte und hinter dem Pflug, als in den Canzleyen arbeitet.45
Der Gedanke, daß ein bestimmter Geist „gebrochen" werden soll, mutet heute
martialisch an, gehört aber zum Repertoire der zeitgenössischen Pädagogik.46 Wie
bei Grellmann geht es bei Dohm um eine Argumentation, die es dem aufgeklärten
Herrscher plausibel erscheinen läßt, eine Minderheit nicht mehr weitgehend vom
Staatswesen auszuschließen. Bei Dohm stehen dabei weitaus stärker als bei Grell-
mann humanitäre Argumente im Vordergrund. Entscheidend ist aber auch bei ihm
der Aspekt des Nutzens für den Staat, den die Einbeziehung bisher verachteter
Gruppen - Dohm nennt hier auch die Zigeuner - mit sich bringt.
Ein gravierender Unterschied zwischen Dohm und Grellmann besteht darin, daß
ersterer den Juden das Recht, ihre Religion zu leben, auch bei ihrer Eingliederung
in den christlichen Staat nicht benehmen will. Grellmann dagegen will die Zigeu-
ner letztlich zu christlichen Bürgern ,umschaffen', ihnen also ihre eigene Kultur
nehmen. Allerdings nimmt er eine solche Kultur überhaupt nicht wahr; für ihn sind
die Zigeuner Wilde und Halbmenschen. Auch Dohm hat übrigens die Zigeuner für
„sehr verwildert"47 gehalten und die Umerziehungsversuche der österreichischen
Regierung im Bannat Temeswar begrüßt.
An die Bücher von Grellmann und Dohm lassen sich einige Beobachtungen
knüpfen, die dazu beitragen können, den Horizont dessen, was unter .Aufklärung'
zu verstehen sei, besser zu konturieren. Interessant ist beispielsweise das Phäno-
men, daß Grellmanns Buch im ausgehenden 18. Jahrhundert so großen Anklang
45
Ebd., S. 127.
46
Wenn man die beiden Auflagen von Dohms Buch vergleicht, stellt man fest, daß er in der
zweiten Auflage nicht nur Härten in der Argumentation, sondern auch in den Formulierungen
zurückgenommen hat. In beiden Auflagen erörtert er die Frage, „ob man schon itzt in unsern
Staaten die Juden zu öffentlichen Aemtera zulassen" könne (erste Aufl. von 1781, S. 118;
zweite Aufl. von 1783, S. 126) und spricht von dem „noch zu kaufmännische^] Geist der
meisten Juden". In der ersten Aufl. (S. 119f.) meint er, wenn ein Jude mit einem gleich geeig-
neten Christen um ein Amt konkurriere, solle der Christ den Vorzug erhalten. „Dieß scheint
ein ganz billiges Recht der zahlreichern Nation zu seyn, - wenigstens bis dahin, daß die Juden
durch weisere Behandlung, zu völlig gleichen Bürgern umgeschaffen und alle Unterscheidun-
gen abgeschliffen seyn werden." Dieser Passus und damit auch das Bild des ,Umschaffens'
und,Abschleifens' fehlt in der zweiten Auflage.
47
Dohm, (wie Anm. 5), S. 95.
172 Ulrich Kronauer
fand und unter anderen von Herder, Wieland 48 und Georg Forster49 geschätzt
wurde. Denn ein humaner Impetus ist in diesem Buch weit weniger spürbar als in
Dohms Buch über die Juden. Biesters Kritik zeigt allerdings, daß Grellmanns
Darstellung auch als problematisch empfunden wurde.
Dohms Buch hat in jüngster Zeit heftige Kritik erfahren. Für Daniel Goldhagen
ist Dohm ein ,antisemitischer Wolf im Schafspelz'. In seinem Buch Hitlers willige
Vollstrecker aus dem Jahr 1996 stößt sich Goldhagen vor allem an der auch von
Dohm vertretenen Vorstellung, die Juden müßten moralisch .verbessert' werden. In
diesem Zusammenhang zitiert er einen Satz Dohms, der ins Zentrum aufkläreri-
scher Thematik, aber auch Problematik fuhrt. Goldhagen schreibt:
Dohms selbstentwickelte, von guten Absichten geleitete Verteidigung der Juden - ,Der Jude ist
noch mehr Mensch als Jude' - verriet, daß er das kognitive Modell seiner Kultur durchaus
teilte: Das .Jüdische' stand im Gegensatz zu den erwünschten, den .menschlichen' Eigenschaf-
ten; um sich Lob zu verdienen, mußte ein Jude das, was an ihm jüdisch' war, verleugnen. 50
Hierzu zunächst folgende Überlegung: In dem Buch von Grellmann findet sich
kein Satz, der etwa so lauten würde: ,Der Zigeuner ist noch mehr Mensch als Zi-
geuner'. Zwar berichtet Grellmann in der Einleitung seines Buches empört, daß
man noch vor vierzig Jahren bei einer Jagd eine Zigeunerin mit ihrem Säugling wie
ein Stück Wild erschossen habe und kommentiert: „Nicht einmahl den Werth der
Menschheit hat man an diesen Unglücklichen immer geschätzt". 51 Aber letztlich
sind die Zigeuner für ihn „Halbmenschen", die erst zu Menschen ,umgeschaffen'
werden müssen. Dagegen will Dohm zum Ausdruck bringen, daß die Menschen in
erster Linie eben Menschen sind, vor allen nationalen, religiösen und ständischen
Prägungen und Trennungen. So hatte auch Gotthold Ephraim Lessing in seinen
Gesprächen für Freimäurer argumentiert. Die wahren Freimaurer, wie Lessing sie
versteht, schaffen eine Möglichkeit der menschlichen Begegnung, bei der die reli-
giösen, nationalen, ständischen Trennungen überwunden oder ausgesetzt sind. Die
Menschen - es sind, dem Geist der Zeit entsprechend, Männer - pflegen dabei
einen Umgang, bei dem die ursprüngliche Anziehungskraft von Mensch zu
Mensch sich ungetrübt von Vorurteilen auswirken kann. An einer solchen freimau-
48
Vgl. Ruch, (wie Anm. 35), S. 124f.
49
In der Geschichte der Englischen Litteratur, vom Jahr 1788, schreibt Forster, „Grellmanns
Geschichte der Zigeuner" habe „auch in England Beifall" gefunden. Georg Forsters Werke, hg.
von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. 7. Berlin 1966, S. 70.
50
Goldhagen, Daniel Jonah, Hitlers willige Vollstrecker: ganz gewöhnliche Deutsche und der
Holocaust. Berlin 1996, S. 80. Gegen die ja nicht nur von Goldhagen vertretene These, Dohm
habe mit seinem Buch der Assimilierung der Juden den Weg bereiten wollen, hat sich zuletzt
Heinrich Detering ausgesprochen. Detering, Heinrich, jüdischer Händler, türkischer Bluthund,
christliches Schwein': Zur Verteidigung religiöser Differenz in Christian Wilhelm Dohms To-
leranzprogramm, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1997, hg. v. Wolfgang Promies und Ulrich Joost.
Saarbrücken 1998, S. 116-137.
51
Grellmann, (wie Anm. 4), S. 1 lf.
Minderheiten 173
rerischen Geselligkeit sollte nach Lessing auch ein Jude teilnehmen dürfen, aller-
dings ein aufgeklärter Jude.52
Für Lessing war ein solcher freimaurerischer Umgang existenznotwendig, wenn
nicht die Trennungen zwischen den Menschen unüberwindbar werden sollten.53
Dem Staat hat er in dieser Hinsicht keine positive Kraft zugetraut; dieser ist ohne
Trennungen nicht denkbar. Dohm geht demgegenüber davon aus, daß die ungesel-
ligen Religionsgesinnungen der Juden, die sich aus ihrer langen Verfolgungsge-
schichte herleiten, überwunden würden, sobald die Juden gleichberechtigte Bürger
im Staat geworden wären.
Er [der Jude, U. K.] würde das Vaterland mit der Zärtlichkeit eines bisher verkannten und nur
nach langer Verbannung in die kindlichen Rechte eingesetzten Sohns ansehen; Diese mensch-
lichen Gefühle würden in seinem Herzen lauter reden, als die sophistischen Folgerungen seiner
Rabbinen. 54
Der Jude kann sich auf sein Menschsein besinnen in der Familie des Vaterlands.
Von daher ist es nicht mehr weit bis zur Forderung nach vollständiger Assimilie-
rung. Hat Goldhagen deshalb Recht, wenn er Dohm als antisemitischen Wolf im
Schafspelz qualifiziert? Das Urteil ist zumindest sehr hart; wie hätte Dohm am
Ende des 18. Jahrhunderts argumentieren sollen, um die Juden in ein absolutisti-
sches Preußen zu integrieren? Hätte er sich über die herrschenden Judenbilder, wie
sie auch in den rechtssprachlichen Texten dokumentiert sind, einfach hinwegsetzen
können? Wäre es überhaupt denkbar gewesen, daß im 18. Jahrhundert ein deut-
scher Staat eine Minderheit am staatlichen Leben ungehindert teilnehmen läßt,
ohne seinerseits Bedingungen hierfür zu stellen? Die Eingliederung einer Minder-
heit in ein Staatswesen kann nur dann zur Zufriedenheit aller gelingen, wenn alle
Parteien ihre Vorstellungen und Ansprüche zur Geltung bringen dürfen und dann
gemeinsam nach der besten Form der Gemeinsamkeit gesucht werden kann. Gab es
eine solche Idealsituation jemals in der Geschichte?
Und außerdem: Wären im Zeitalter der Aufklärung die Parteien überhaupt in
der Lage gewesen, sich miteinander zu verständigen? Was die Zigeuner wollten
und dachten, blieb bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts weitgehend unbe-
kannt.55 Sowohl die Rechtstexte wie die Fachliteratur der Zeit geben in erster Linie
52
Lessing, Gotthold Ephraim, Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert. 8 Bde. Bd. 8. München 1979,
S. 478.
53
Vgl. Kronauer, Ulrich, Der kühne Weltweise. Lessing als Leser Rousseaus, in: Jaumann,
Herbert (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption.
Berlin/New York 1995, S. 42f.
54
Dohm, (wie Anm. 5), S. 29.
55
Kluge Beobachtungen finden sich bei Rüdiger, der einen Hauptfehler bei der Beurteilung der
Zigeuner darin sieht, „daß man ihnen unsere Denkungsart unterschob, wovon sie doch, der
Natur nach, so himmelweit entfernt seyn mußten. Aber dieser Irrthum hatte schreckliche Fol-
gen. Man unterschied nicht genug ihre und unsere Begriffe von rechtmäßiger Freyheit und Be-
sitz, verwechselte natürliche Unabhängigkeit und urgemeinschaftlichen Genuss mit Ungehor-
sam gegen rechtmäßige Obrigkeit und Eingriffe ins Eigenthum, ohne zu bedenken, daß diese
174 Ulrich Kronauer
unsere willkiihrliche Anstalten jenen nicht bekannt noch verbindlich waren." Rüdiger, Johann
Christian Christoph, Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien, in: Neuester
Zuwachs der teutschen, fremden und allgemeinen Sprachkunde in eigenen Aufsätzen [...]
1. Stück. Leipzig 1782, S. 45 (zitiert nach dem Nachdruck von Harald Haarmann, Hamburg
1990).
56
Grellmann, (wie Anm. 4), S. 4.
57
Rousseau, Jean-Jacques, Emile ou de l'éducation, hg. v. Michel Launay. Paris 1966, S. 398.
(Ich werde niemals glauben, die Argumente der Juden richtig verstanden zu haben, ehe sie
nicht einen freien Staat haben mit Schulen und Universitäten, wo sie ohne Risiko sprechen
und disputieren können. Dann erst können wir wissen, was sie zu sagen haben.)
ULRICH THIELE (Heidelberg)
Zu Beginn des zweiten Teils der Rechtslehre stellt Kant eine für seine Zeit uner-
hörte Behauptung auf: das sogenannte Völkerrecht sei dem strikten öffentlichen
Recht jedenfalls dann einzugliedern, wenn man das letztere nur nach Vernunftbe-
griffen des Rechts betrachte.1 An bloßen terminologischen Experimenten ist Kant
freilich nicht das Geringste gelegen. Mit der begrifflichen Subsumtion des Völker-
rechts unter das öffentliche Recht bricht er vielmehr gleich in doppelter Hinsicht
mit der Naturrechtstradition: Er bestreitet erstens, daß die Prinzipien des Völker-
rechts unmittelbar naturrechtliche sind, und zweitens, daß sie dem Bereich des
Kant, Immanuel, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 43, in: Werke in zehn
Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1975, Bd. 7, (im folgenden zitiert als MAR).
176 Ulrich Thiele
2
Vgl. Verdross, Alfred, Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptpro-
bleme in geschichtlicher Schau. 1. Aufl. Wien 1958,2. Aufl. Wien 1962, S. 92ff.
3
Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan, Anfangsgründe des Naturrechts, § 661, hg. und
übers, von Jan Schröder. Frankfurt a.M./Leipzig 1995, S. 213.
4
Vgl. Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, hg. v. Anita u. Walter
Dietze. München 1989.
5
Vgl. Habermas, Jürgen, Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von
200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frank-
furt/M. 1996, S. 218f.
6
Vgl. Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre. Leipzig/Wien 1934, S. 129ff.
7
MAR, § 43.
Kants Völkerrechtstheorie 177
unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was
Rechtens ist, teilhaftig zu werden. 8
Überraschend ist sowohl, daß Kant unter den Vernunftbegriff des öffentlichen
Rechts „nicht bloß das Staatsrecht, sondern auch ein Völkerrecht"9 subsumiert, als
auch, daß dieses höherstufige öffentliche Recht eine Verfassung und nicht nur
Verträge erfordern soll. Wenn das öffentliche Völkerrecht, soll es seinen friedens-
stiftenden Zweck erfüllen können, einer Verfassung im Kantischen Sinne bedarf,
dann sind vier Bedingungen zu erfüllen:
Öffentliches Völkerrecht muß erstens die Form eines systematischen Ganzen
von Gesetzen besitzen, das zweitens als positives Recht allgemein bekannt zu
machen ist.10 Drittens sollen die entsprechenden Rechte und Pflichten durch be-
sondere Zwangsorgane gewährleistet sein,11 die ihrerseits einer gewaltenteiligen
Organisation bedürfen,12 und viertens schließlich ist festzulegen, wem die politi-
sche Souveränität zufallen soll.13
Mit der Erweiterung des Begriffs des öffentlichen Rechts um das Völkerrecht
hat sich Kant, wie man sieht, die denkbar größten Schwierigkeiten aufgeladen, und
er zieht unmittelbar im Anschluß an diese Definition weitere terminologische
Konsequenzen:
Das aus den beiden Komponenten des Staatsrechts und des Völkerrechts beste-
hende öffentliche Recht leitet, so Kants Behauptung, „unumgänglich [...] zu der
Idee eines Völkerstaatsrechts (ius gentium) oder des Weltbiirgerrechts (ius cosmo-
politicum)" hin.14
Die neuartigen Begriffe ,Völkerstaatsrecht' und .Weltbürgerrecht' werden nicht
als Synonyme verwendet, sondern bezeichnen zwei zum Staatsrecht hinzutretende
höherstufige Realisationen des öffentlichen Rechts, die trotz des mißverständli-
chen „oder" ebensowenig als Alternative zu denken sind.15 Dies bestätigt auch die
Friedensschrift. Kant unterteilt dort alle „rechtliche Verfassung [...], was die Per-
sonen betrifft, die darin stehen", in das „Staatsbürgerrecht der Menschen, in einem
Volk", das „Völkerrecht der Staaten im Verhältnis gegen einander" und das „Welt-
bürgerrecht, so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden
8
Ebd.
9
Ebd.
10
Ebd.
11
MAR, § 44.
12
Ebd., §§ 45-49.
13
Ebd., §41.
14
Ebd.
15
Dies macht Kant auch dadurch deutlich, daß in der Rechtslehre das „Völkerrecht" und das
„Weltbürgerrecht" in zwei unterschiedenen Abschnitten des „öffentlichen Rechts" abgehandelt
werden.
178 Ulrich Thiele
16
Zum ewigen Frieden (im folgenden zitiert als ZeF), BA 19, in: Kant, Werke in zehn Bänden,
(wieAnm. 1), Bd. 9.
17
„Diese Einteilung ist nicht willkürlich, sondern notwendig in Beziehung auf die Idee vom
ewigen Frieden. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses
auf den andern, und doch im Naturzustande wäre, so würde damit der Zustand des Krieges
verbunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist." (ZeF, BA 19).
18
„Diese Vemunftidee einer friedlichen [...] Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die unterein-
ander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch),
sondern ein rechtliches Prinzip." (MAR, § 62).
19
MAR, § 43.
20
Legitim scheint mir dieses Vorgehen auch deswegen, weil Kant überall dort, wo er den dreifa-
chen Begriff des öffentlichen Rechtes definiert, das Weltbürgerrecht als dritte Stufe anführt,
woraus sich folgern läßt, daß das ius cosmopoliticum das Völkerstaatsrecht mindestens als ei-
ne notwendige Bedingung voraussetzt. „Dieses Recht, so fem es auf die mögliche Vereinigung
aller Völker, in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs, geht, kann
das weltbürgerliche (ius cosmopoliticum) genannt werden." (MAR, § 62). Mitunter scheint
Kant die Differenz zwischen Völkerstaatsrecht und Weltbürgerrecht lediglich darin zu sehen,
daß das erste einige und das zweite alle Staaten zu einer Einheit des öffentlichen Rechts zu-
sammenfaßt. Der Paragraph 62 der Rechtslehre nennt als des „öffentlichen Rechts dritter Ab-
schnitt" das „Weltbürgerrecht", das die Beziehungen zwischen den Völkern nach dem „rechtli-
chein] Prinzip [...] einer friedlichen [...] durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden"
zu gestalten habe. Verfehlt wäre es aber, die Materie des Weltbürgerrechts schlicht unter die
des Völkerstaatsrecht zu subsumieren, denn jenes normiert die Beziehung zwischen Staaten
und Individuen fremder Nationalität. Dieses universelle „Recht des Fremdlings" (ZeF, BA 40;
Kants Völkerrechtstheorie 179
Was das Weltbürgerrecht betrifft, so übergehe ich es hier mit Stillschweigen; weil, wegen der
Analogie desselben mit dem Völkerrecht, die Maximen desselben leicht anzugeben und zu
würdigen sind. 21
Hervorh. U. T.) ist nach Kant „eine notwendige Ergänzung [...] sowohl des Staats- als Völker-
rechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt [...]" (ebd., BA 46).
21
ZeF, Anhang. Β 106, 107, A 100. Der Ausdruck ,Weltbürger' ist sicher keine originäre Wort-
schöpfung Kants, sondern geht letztlich auf den kynischen Ausdruck ,kosmou politês' zurück,
der in der Stoa, insbesondere bei Cicero, Seneca und Marc Aurel als Grundbegriff der prakti-
schen Philosophie interpretiert wurde (Nussbaum, Martha, Kant und stoisches Weltbürgertum,
in: Lutz-Bachmann, Matthias/Bohman, James (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee
und das Problem einer neuen Weltordnung. Frankfurt/M. 1996, S. 45-75, insb. S. 49). Dort
bezeichnet er eine ethisch universalistische Haltung, die aus der allgemeinen Vernunftnatur
des Menschen politisch-praktische und in Grenzen auch völkerrechtliche Konsequenzen zieht.
So ist beispielsweise das Recht der Hospitalität und die Pflicht zur menschlichen Behandlung
der Kriegsgefangenen ebenso Teil der weltbürgerlichen Ethik wie das Verbot des Angriffs-
oder Vernichtungskrieges (Nussbaum, S. 59). In der Neuzeit ist der Ausdruck .Weltbürger' ab
etwa 1660 wieder gebräuchlich und wird in der Aufklärung zum programmatischen Begriff;
meistens wird er als Synonym fur einen ,citoyen du monde ou de l'universe' bzw. eines
.citizen of the world' verwendet (Paul Hermann, Deutsches Wörterbuch. 5. Aufl., Tübingen
1966, S. 791). In Deutschland wird der Begriff des Weltbürgers erst um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts zum Schlagwort, das nicht selten pejorativ gebraucht wird. So erklärt
beispielsweise Wieland, der Patriotismus sei eine „mit den kosmopolitischen Grundsätzen, Ge-
sinnungen und Pflichten unverträgliche Leidenschaft" (Wieland, Christoph Martin, Sämmtli-
che Werke. Bd. 30. Leipzig 1797, S. 177). Bedeutsam an Wielands Ausführungen ist nicht so
sehr seine Parteinahme für den Kosmopolitismus, sondern der Umstand, daß hier erstmalig
rechtliche Kategorien in die Definition einfließen: ein Weltbürger ist nach Wieland eine „frei-
mütige" Person „ohne festen Heimatsitz und staatsbürgerliche Bindungen an ein Heimatland"
(Wieland, Christoph Martin, Geschichte des Agathon [1766], in: ders., Sämmtliche Werke.
Bd. 1. Leipzig 1794, S. 118). Kant seinerseits befreit den Begriff des Weltbürgers von allen
ethischen Konnotationen und verwendet eine spezifisch juristische Definition, die das Welt-
bürgerrecht als eigene Sphäre unter den vollständigen Vernunftbegriff des öffentlichen Rechts
zählt. Bleibt nämlich die dritte der drei möglichen Rechtssphären dadurch dem Naturzustand
verhaftet, daß das allgemeine Hospitalitäts- bzw. Besuchsrecht nur als ,,philantropisch[es]"
Gewohnheitrecht im Sinne einer unvollkommenen ethischen Pflicht, nicht aber als strikt
„rechtliches Prinzip" gilt (MAR, § 62), kann es zwar Staatsbürgerrechte und vielleicht auch
verfaßte Staatenrechte, sicher aber kein ,,öffentliche[s] Menschenrecht" (ZeF, BA 46) geben.
„Es ist hier [...] nicht von Philantrophie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hos-
pitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern
wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es
ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich ver-
hält, ihm nicht feindselig begegnen." (ZeF, Dritter Deflnitivartikel. BA 40). Für den Vernunft-
begriff des Weltbürgers ist es unerheblich, ob der betreffenden Person anderswo der Status ei-
nes Staatsbürgers zukommt. Entscheidend ist allein, daß sie als Subjekt einer idealen
Weltrechtsgemeinschaft auch gegenüber fremden Staatswesen unveräußerliche Rechte besitzt.
Prima facie ist allein von einem allen Menschen zustehenden „Besuchsrecht" die Rede, und
gemessen an der stoischen Tradition scheint Kants Definition des Weltbürgerrechtes nachge-
rade dürftig. Insofern aber dieses universelle Hospitalitätsrecht des „Fremdlings" unter der Be-
dingung, daß die .Abweisung" seinen „Untergang" zur Folge hätte, ein mittelbares „Gast-
recht" begründet, hat es de facto asylrechtliche Konsequenzen (ebd.). Zudem enthält das Be-
suchsrecht die Erlaubnis, „sich zum Verkehr" (MAR, § 62) bzw. „zur Gesellschaft anzubieten"
(ZeF, BA 40), woraus sich vermittels eines ,,besondere[n] Vertragfes]" das bedingte „Recht
der Ansiedlung" ergeben kann (MAR, § 62).
180 Ulrich Thiele
Der Terminus „Völkerstaatsrecht"22 als Synonym fur das lateinische ius gentium ist
eine originäre Wortschöpfung Kants, die vor 1797 nirgends auftaucht. Noch in
Gottfried Achenwalls Anfangsgründen des Naturrechts - eine Schrift, auf die sich
Kants Rechtslehre durchgängig bezieht - ist ausschließlich vom „Völkerrecht" die
Rede.
Zur Rechtfertigung dieses Kunstbegriffes, der die überkommenen Ausdrücke
.Völkerrecht' und ,Staatsrecht' miteinander kombiniert, wählt Kant folgende Be-
gründungsstrategie: Erstens soll die bisherige Verwendung des Ausdrucks Völker-
recht' als unsachgemäß erwiesen werden (a). Zweitens diskutiert Kant einen mög-
lichen Alternativbegriff, der dem reellen Inhalt des überkommenen Völkerrechts-
begriffs besser entspräche (b), und drittens schließlich plädiert er in Abgrenzung
gegen das frühere Naturrecht dafür, die rechtsphilosophische Terminologie um das
begriffliche Konstrukt des „Völkerstaatsrechts" zu erweitern, obwohl dieser Aus-
druck seinerseits zu Mißverständnissen Anlaß geben könne (c).
(a) In einem ersten Schritt will Kant zeigen, daß der in der deutschen Rechts-
sprache übliche Begriff des Völkerrechts insofern irreführend ist, als er den Inhalt
dessen, was unter diesem Titel de facto behandelt wird, verfehlt:23 „Das Recht der
Staaten in Verhältnis zu einander [...] [wird] nicht ganz richtig im Deutschen das
Völkerrecht genannt." 24
Der deutsche Begriff des Völkerrechts bedeutet in seinem tatsächlichen Ge-
brauch etwas anderes, als der Name suggeriert. Der Paragraph 53 der Rechtslehre
nennt als Inhalte des bisherigen Völkerrechtsbegriffs: das Recht „zum Krieg", „im
Krieg" und „nach dem Kriege" und betont, daß dem üblichen Sprachgebrauch
nach die Subjekte dieser Rechte nicht Völker, sondern Staaten sind.25
Die Verwendung des unsachgemäßen Ausdrucks Völkerrecht für die rechtli-
chen Beziehungen zwischen souveränen Staaten ist freilich nicht allein eine Eigen-
tümlichkeit der deutschen Rechtssprache.26 So erklärt beispielsweise Grotius in
22
MAR, § 43.
23
Dem Deutschen Rechtswörterbuch in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und
speziell Ulrich Kronauer habe ich dafür zu danken, daß ich Kants These über die Eigentüm-
lichkeiten der deutschen Rechtssprache hinsichtlich des Begriffs des Völkerrechts anhand des
Archivs überprüfen konnte. Weiterhin ließ sich mit Hilfe des Materials belegen, daß es sich
bei den von Kant vorgeschlagenen Alternativbegriffen .Staatenrecht' bzw. .Völkerstaatsrecht'
um echte terminologische Innovationen handelt.
24
MAR, § 5 3 .
25
Allenfalls noch enthalte das Völkerrecht Bestimmungen über das rechtliche Verhältnis zwi-
schen einzelnen Personen verschiedener Staatsangehörigkeit sowie über die Rechtsstellung
einzelner Personen „gegen den ganzen anderen Staat". ( MAR, § 53).
26
„Die irreführende Bezeichnung .Völkerrecht', die sich auch im Englischen (law of nations)
und im Französischen (droit des gens) findet, wird [...] historisch erklärt, und zwar als offen-
sichtlich unzutreffende Übersetzung des lateinischen Begriffs jus gentium, den die Theoretiker
Kants Völkerrechtstheorie 181
seinem 1625 erschienenen Hauptwerk De iure belli ac pacis libri tres die Souve-
ränität der Staaten zum Naturrechtsprinzip. Dadurch tritt die Frage nach den
Kriegsgründen und dem bellum iustum in den Hintergrund mit der Folge, daß der
beiderseits gerechte Krieg nun als der völkerrechtliche Normalfall gilt. Das Völker-
recht hat demnach die Regeln der Kriegsführung zwischen souveränen und gleich-
berechtigten Staaten zum wesentlichen Inhalt. Entsprechend definiert Grotius das
ius gentium als „ius inter civitates aut omnes aut pleasque".27 Noch der „letzte
Völkerrechtsklassiker"28 Emeric de Vattel erklärt 1758 die Souveränität der Staaten
zum obersten Prinzip des Völkerrechts und definiert dessen Inhalt als das Recht
des Verkehrs der politischen Souveräne.29
(b) Das Recht der Völker im Verhältnis zueinander jedenfalls fallt nach Kant
definitiv nicht unter den bislang gebräuchlichen Begriff des „Völkerrechts". Dieses
sollte „vielmehr das Staatenrecht (ius publicum civitatum) heißen [und wäre] das-
jenige, was wir unter dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben f...]".30 Da
der primäre Gegenstand dessen, was bislang in problematischer Anknüpfung an
das lateinische ius gentium „Völkerrecht" genannt wurde,31 das rechtliche Ver-
hältnis zwischen souveränen Staaten ist, wäre der Ausdruck „Staatenrecht"32 zwar
angemessen; dennoch ist Kant auch in der Rechtslehre nicht bereit, den bislang
inkonsistent verwendeten Begriff des Völkerrechts preiszugeben und statt dessen
den vermeintlich adäquateren des Staatenrechts zu benutzen. Der Ausdruck „Völ-
kerstaatsrecht" läßt es immerhin unentschieden, ob Völker oder Staaten die eigent-
lichen Subjekte dieser Art Recht sind, während der Alternativbegriff „Staaten-
recht" dies entschieden hätte.
(c) Wenn Kant behauptet, das aus den beiden Komponenten Staatsrecht und
Völkerrecht bestehende öffentliche Recht leite „unumgänglich [...] zu der Idee ei-
nes Völkerstaatsrechts (ius gentium)" hin,33 dann ist ihm sicher nicht an einem blo-
ßen Sprachexperiment gelegen. Der Kunstbegriff soll erstens deutlich machen, daß
das Völkerrecht derselben Gattung angehört wie das Staatsrecht, und zweitens, daß
des 16. bis 18. Jahrhunderts, als alle gelehrten Werke in lateinischer Sprache geschrieben wur-
den, verwendeten." (Kimmenich, Otto, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts, in: Fet-
scher, Iring/Münkler, Herfried (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen. Bd. 3. Mün-
chen/Zürich 1985, S. 73-100, Zitat S. 73).
27
Grotius, Hugo, De jure belli ac pacis, hg. v. Walter Schätzel. Tübingen 1950, Prol. 17.
28
Schlochauer, Jürgen/Strupp, Karl (Hg.), Wörterbuch des Völkerrechts. Bd. 3. Berlin 1962,
S. 713.
29
Vattel, Emeric de, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle. I. Buch, 1. Kap. § 12, hg.
von Wilhelm Euler, Paul Guggenheim, Walter Schätzel. Tübingen 1959.
30
MAR, § 53.
31
Der Begriff eines ,ius gentium' entstammt dem römischen Zivilrecht und bezeichnet „Rechts-
verhältnisse zwischen Römern und Nichtrömern oder zwischen Nichtrömem untereinander".
(Lieberwirth, Rolf, Lateinische Fachausdrücke im Recht. Heidelberg 1986, S. 156).
32
MAR, § 53.
33
Ebd.
182 Ulrich Thiele
für „Völker, als Staaten"34 eine wie immer geartete Verbindlichkeit besteht, in den
Zustand des öffentlichen Rechts einzutreten. Indem er den Neologismus Völker-
staatsrecht ins Spiel bringt, grenzt sich Kant gegen die „leidigen Tröster", die na-
turrechtlichen Völkerrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts ab. Genannt werden
„Hugo Grotius, Pufendorf, Vattel u.a.m.".35 Ihnen allen sei eine allzu optimistische
Theorie des Naturzustandes und eine entsprechende Überbewertung des Vertrags-
prinzips eigen. Speziell im Völkerrecht habe man die Illusion genährt, daß Verträ-
ge als solche zureichen können, um Frieden zu stiften und Recht zu wahren, ob-
wohl völkerrechtliche Traktate als solche doch „nicht die mindeste gesetzliche
Kraft" besitzen.36
So konstruiert beispielsweise Emeric de Vattel erstens den Naturzustand als den
eines ursprünglichen Friedens und des wechselseitigen Beistands, aus dem sich
zweitens zwanglos zunächst Staaten, dann Staatenvereine und schließlich eine „so-
ciété universelle"37 bilden. Drittens sollen die rechtlichen Normen, die jene ideali-
ter allumfassende „société des nations"38 begründen, entweder unmittelbar aus dem
schon im Naturzustand gültigen Prinzip gegenseitiger Hilfe erwachsen39 oder aber
als ius positivum aus Verträgen oder Gewohnheiten herrühren. Weder die kodifi-
zierte Form des öffentlichen Rechts noch seine effektive Garantie durch eine ei-
gens institutionalisierte Schiedsinstanz oder gar Sanktionsmacht scheinen im Ver-
kehr der Souveräne erforderlich.40 Die leidigen Tröster - so das Fazit der Kanti-
schen Polemik - reduzieren die normativen Prinzipien des Völkerrechts auf das na-
türliche Privatrecht und tragen, indem sie als den Endzweck des Naturrechts die
Idylle eines harmonischen Staatenuniversums beschwören, unwillentlich zur Bei-
behaltung und Rechtfertigung des Naturzustandes im Hobbesschen Sinne bei.
Um alle am Privatrecht haftenden Illusionen zu vermeiden, subsumiert Kant das
Völkerrecht von vornherein unter das öffentliche Recht. Da öffentliches Recht den
„Inbegriff' all der Gesetze meint, „die einer allgemeinen Bekanntmachung bedür-
fen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen", und dieses „System von
Gesetzen" seinerseits als „Verfassung" bestimmt wird,41 läßt sich folgern, daß nach
Kant auch die völkerrechtliche Dimension des Vernunftrechts der letztgültigen
34
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 36.
35
Ebd., BA 33.
36
Ebd.
37
Vattel, Emeric de, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, (wie Anm. 29), § 11,
S. 21.
38
Ebd., § 12, S. 22.
39
„Le droit des gens n'est originairement une autre chose, que le droit de la nature appliqué aux
nations." (Ebd., § 6, S. 18).
40
Vgl. Steiger, Heinhard, Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant und
danach, in: Lutz-Bachmann/Bohman, (wie Anm. 21), S. 140-169, hier S. 152.
41
MAR, § 43.
Kants Völkerrechtstheorie 183
Kant äußert sich auf den ersten Blick unentschieden, wenn nicht zwiespältig in der
Frage, was denn nach reinen Rechtsbegriffen konkret von Staaten verlangt werden
kann, die einen dauerhaften Frieden erstreben. Einerseits hält er daran fest, daß fur
souveräne Staaten prinzipiell dieselbe Rechtspflicht a priori besteht wie für Indivi-
duen: das „Postulat des öffentlichen Rechts" verbindet nicht nur die Subjekte des
,,Privatrecht[s] im natürlichen Zustand",43 sondern ebenso die Subjekte des Staats-
rechts im äußeren Naturzustand und besagt, dieser müsse vor allem anderen zugun-
sten eines Zustandes, in dem öffentliche Zwangsgesetze herrschen, verlassen wer-
den.
Für Staaten, im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art ge-
ben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie,
ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen
Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas
gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. 44
42
Beispielsweise definiert der erste Paragraph des „Staatsrechts" das „öffentliche Recht" als ein
„System von Gesetzen für ein Volk, d.i. eine Menge von Menschen, oder fur eine Menge von
Völkern, die, im wechselseitigen Einflüsse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes
unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was
rechtens ist, teilhaftig zu werden". (MAR, § 43). Auch im Beschluß wird der „ganze End-
zweck" der Rechtslehre als „Friedenszustand" bestimmt und dieser seinerseits erläutert als „der
unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter
Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind, deren Regel [...] durch die Ver-
nunft a priori von dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen
Gesetzen überhaupt hergenommen werden muß [...]". (MAR, A 234, Β 265)
43
MAR, § 42.
44
ZeF, Zweiter Defmitivartikel. BA 37, 38; vgl. MAR, § 61.
184 Ulrich Thiele
an [...] Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur
das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreiten-
den Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigungen aufhalten, doch mit be-
ständiger Gefahr ihres Ausbruchs [...].45
45
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 38.
46
MAR, § 54.
47
Zur neueren Diskussion um Kants „negatives Surrogat" vgl. Höffe, Otfried, Kant als Theoreti-
ker der internationalen Rechtsgemeinschaft, in: Schönrich, Gerhard/Kato, Yasushi, (Hg.),
Kant in der Diskussion der Moderne. Frankfurt/M. 1996, S. 489-505, insb. S. 494-501; Lutz-
Bachmann, Matthias, Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Weltre-
publik, in: Lutz-Bachmann/Bohman, (wie Anm. 21), S. 25-44, insb. S. 37ff.; Bohman, James,
Die Öffentlichkeit des Weltbürgers: Über Kants .negatives Surrogat', ebd., S. 87-113; Brunk-
horst, Hauke, Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Lehren aus Bosnien, ebd., S. 251-271.
48
In der Friedensschrift hatte Kant hauptsächlich mögliche empirisch-praktische Einwände
gegen die Realisierbarkeit oder Wünschbarkeit des von der reinen Rechtsvernunft gebotenen
Universalstaates diskutiert. Die Idee des Völkerrechts, nicht des „Völkerstaatsrechts" (MAR, §
43), setzt „die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus".
Obwohl dieser Zustand immer schon ein potentieller Kriegszustand sei, den der Idee nach nur
ein allgemeiner „Völkerstaat" (ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 38) beenden könne, sei die
„föderative Vereinigung" der Staaten zum Zweck der Kriegsverhütung dennoch einer öffent-
lich rechtlichen „Zusammenschmelzung" der Staaten vorzuziehen. Die nämlich müsse unter
den gegebenen Bedingungen unweigerlich in eine „Universalmonarchie" münden, die, „weil
die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck
einbüßen", letztlich zu einem „seelenlosen Despotism" entarten würde, der schon aus techni-
schen Gründen kaum in der Lage wäre, jede einzelne Rechtsläsion zu ahnden. (ZeF, Β 63, A
62). In der Rechtslehre ist nicht mehr die Rede von der „Universalmonarchie"; Kant bekräftigt
aber den Einwand, daß bei einer „zu großen Ausdehnung eines solchen Völkerstaats Uber
weite Landstriche, die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes
endlich unmöglich werden muß". (MAR, § 61). Die Schrift über den Gemeinspruch ergänzt
bzw. präzisiert dieses pragmatische Argument in historischer Hinsicht: Ist „ein solcher Zu-
stand eines allgemeinen Friedens (wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrmalen ge-
gangen ist) auf einer andern Seite der Freiheit noch gefährlicher, indem er den schrecklichsten
Despotismus herbei fuhrt, so muß sie diese Not doch zu einem Zustande zwingen, der zwar
Kants Völkerrechtstheorie 185
Natur. Ich möchte mich an dieser Stelle auf Einwände der zweiten Art beschrän-
ken.
Die Friedensschrift plädiert zugunsten des Völkerbundes nicht allein deswegen,
weil bereits der bloße Begriff des Völkerstaates in sich selbst widersprüchlich
sei,49 sondern aus einem prinzipiellen vernunftrechtlichen Grund. Kant hält die
praktische Option für einen Staatenbund deswegen für zwingend, weil nur sie
geeignet sei, einen Widerstreit der Rechtsvernunft mit sich selbst aufzulösen. Die-
ser Widerstreit entsteht dadurch, daß man den Naturzustand, in dem sich Indivi-
duen befinden mögen, mit demjenigen zwischen Staaten analogisiert.50 Denn ab-
hängig davon, ob man die Gleichheit oder die Verschiedenheit beider Arten des
Naturzustandes in jener Analogie hervorhebt, ergeben sich für die betreffenden
Rechtssubjekte sehr verschiedene ursprüngliche Rechte und Pflichten.
(a) Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Wenn Kant den Krieg als die „erlaubte
Art"51 der Erlangung subjektiver Rechte schildert, die dem Völkerrecht im natürli-
chen Zustand entspricht, dann begründet er diese negative Pflicht mit der Nichtexi-
stenz einer äußeren Organisation der distributiven Gerechtigkeit; denn unter diesen
Umständen kann kein Staat vor Rechtsverletzungen sicher sein, gleichviel ob sie
von ihm selbst oder anderen Staaten begangen werden. Jeder Staat ist im Naturzu-
stand geneigt, genötigt und auch berechtigt, „in seiner eigenen Sache Richter" zu
sein.52
Weil im provisorisch-rechtlichen Zustand „die Art, wie Staaten ihr Recht ver-
folgen, nie, wie bei einem äußern Gerichtshofe, der Prozeß, sondern nur der Krieg
sein kann",53 wird hier über Rechte durch Zufall und nicht nach allgemeingültigen
Prinzipien entschieden. Solange die vereinzelten Souveräne ihr vermeintes Recht
mit effektiver Macht identifizieren, „tun sie einander auch gar nicht unrecht, wenn
kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zu-
stand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist". (Gemein-
spruch, A 279). Kant macht hier die politische Option für den Beitritt zu einer „weltbürgerli-
che[n] Verfassung" oder zu einer Föderation von der Historie und den aus ihr gezogenen
Schlußfolgerungen abhängig, wodurch mithin seine vernunftrechtliche Argumentation zugun-
sten der ersten, aus dem Begriff des Naturzustandes deduzierten Option nicht als solche revi-
diert wird. Ein weiteres, durchaus nicht sekundäres empirisches Argument zugunsten des Völ-
kerbundes besagt, daß der in der zeitgenössischen Politik gängige Begriff des Völkerrechts die
praktische Realisierbarkeit jenes Ideals lizensiert. Die zweitbeste Lösung eines „negative[n]
Surrogat[s]" sei trotz aller vernunftrechtlicher Einsprüche deswegen anzustreben, weil die
„Staaten [...] nach ihrer Idee vom Völkerrecht" den Zustand des Völkerstaatsrechts wegen des
erforderlichen Souveränitätsverzichts „durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist,
in hypothesi verwerfen". (ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 38; Hervorh. U. T.) Anstatt aus
dem zwischenstaatlichen Naturzustand auszutreten, „setzt vielmehr jeder Staat seine Majestät
[...] gerade darin, gar keinem äußeren Zwang unterworfen zu sein [...]", (ebd., BA 31).
49
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 30f.
50
Vgl. MAR, § 6 1 .
51
Ebd., § 5 6 .
52
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 34.
53
Ebd.
186 Ulrich Thiele
sie sich untereinander befehden". 54 Nur wenn sie „nicht allen Rechtsbegriffen
entsagen" wollen55 und ihr subjektives Recht nach allgemeingültigen Regeln aus-
zuüben bereit sind, besteht für „vereinzelte Menschen, Völker und Staaten" die
Pflicht, den „gesetzlosen Zustand" 56 zu verlassen und den Zustand eines „öffent-
lich[en] gesetzlichen äußeren Zwang[es]",57 d.h. einer „Verfassung"58 hervorzu-
bringen.
Insofern der Naturzustand fur Individuen und Staaten strukturell gleich ist, folgt
für beide Arten von Rechtssubjekten, daß sie, wenn sie nicht auf juridische Ge-
rechtigkeit überhaupt verzichten wollen, in den Zustand des öffentlichen Rechtes
einzutreten haben, weswegen sie zuallererst einen ,summum imperane' zu autori-
sieren hätten. Demnach wären Staaten kategorisch verpflichtet, einen Völkerstaat
und nicht einen Völkerbund zu begründen und zu dessen Gunsten wenigstens
teilweise auf den eigenmächtigen Gebrauch ihrer äußeren Souveränitätsrechte zu
verzichten. Soweit die Gemeinsamkeiten in den Rechtspflichten, die sich aus der
Strukturgleichheit des Naturzustandes für individuelle wie kollektive Souveräni-
tätssubjekte ergeben.
(b) Demgegenüber formuliert Kant die Antithese, daß „von Staaten, nach dem
Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zu-
stand nach dem Naturrecht gilt, ,aus diesem Zustande herausgehen zu sollen' ",59
Staaten mögen sich zwar untereinander im äußeren Naturzustand befinden; inso-
fern sie aber als Resultat des (reellen oder ideellen) ursprünglichen Vertrages eine
gewaltenteilende Verfassung besitzen, erfüllen sie das Postulat des öffentlichen
Rechtes, und zwar dadurch, daß sie zumindest innerlich den rechtlosen Zustand
„gesetzloser Freiheit" beseitigt haben.60 Im zwischenstaatlichen Bereich läßt sich
daher weder eine aus dem Postulat des öffentlichen Rechtes ableitbare strikte
Rechtspflicht zur Begründung eines Völkerstaats noch eine entsprechende
Zwangsbefugnis des einen Staates gegen den anderen begründen, „weil sie, als
Staaten, innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben, und also dem Zwange
anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte Verfassung zu brin-
gen, entwachsen sind".61
Fordert einerseits die reine Rechtsvernunft kategorisch einen erheblichen Sou-
veränitätsverzicht der Einzelstaaten zugunsten eines höherstufigen Völkerstaats-
rechts und soll andererseits aus den genannten Gründen der „Völkerbund [...] doch
keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine
54
MAR, § 42.
55
Ebd., § 4 4 .
56
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 34.
57
MAR, § 44; Hervorh. U. T.
58
Ebd., § 4 1 ; Hervorh. U . T .
59
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 34; Hervorh. U. T.
60
MAR, § 4 2 .
61
Ebd.
Kants Völkerrechtstheorie 187
Genossenschaft (Föderalität) enthalten", dann bleibt nach Kant nur eine politisch-
praktische Option bestehen: „nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen
Vertrages" haben die politischen Souveräne einen auf den Friedenszweck begrenz-
ten Vertrag zu schließen, der sowohl ihre innere Verfassung unberührt läßt als
auch „zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert
werden muß".62
Kant scheint den Friedensbund ohne Kündigungsschutz63 als kontraktuelles und
in diesem Sinne ,privatrechtliches' Surrogat64 des öffentlichen Völkerstaatsrechts
zu werten, wodurch das Postulat des öffentlichen Rechtes im äußeren Staatenver-
hältnis wenigstens teilweise erfüllt werden kann. Dementsprechend ist der freiwil-
lige Abschluß eines kriegsvermeidenden Bundesvertrages zwischen souveränen
Staaten als völkerrechtlicher „Grundsatz der Politik" zu verstehen, der das Ideal
des ewigen Friedens in „kontinuierliche^] Annäherung" zu befördern geeignet
ist.65
Diese „Regel der Politik" wendet „einen apodiktisch-gewissen Satz, der unmit-
telbar aus der Definition des äußern Rechts [...] hervorgeht", auf völkerrechtliche
„Erfahrungsfalle" an, und zwar so, daß mit Hilfe dieser Regel die Erfüllung des
vernunftrechtlichen „Axiom[s]", ohne „Ausnahmen" zu gestatten, möglich
bleibt.66 Die Politik kann nur dann „als ausübende Rechtslehre" betrieben werden,
wenn sie einem zwischen dem vemunftrechtlichen Axiom des kategorischen .Po-
stulates des Völkerstaatsrechts' einerseits und der Empirie andererseits vermitteln-
den Grundsatz verpflichtet ist; ohne einen solchen Grundsatz ist die Politik nichts
weiter als eine instrumentelle „Klugheitslehre" bar jeder rechtlichen Vernunft.67
Daß Kants .negative' Option fur einen „permanente[n] Staatenkongreß" als
kündbarer „Verein einiger Staaten"68 den Anspruch erfüllen kann, dem Postulat
des öffentlichen Völkerstaatsrechts durch einen konsistenten Grundsatz der Politik
62
MAR, § 54. Noch Fichtes System der Rechtslehre von 1812 beruft sich auf die Kantische
Argumentation: „Das Beschriebene wäre ein Völkerbund, keineswegs ein Völkerstaat. Der Un-
terschied gründet sich darauf: in den Staat zu treten, kann jeder einzelne gezwungen werden,
weil außerdem ein rechtliches Verhältnis mit ihm gar nicht möglich ist. Aber kein Staat kann
gezwungen werden, diesem Bund beizutreten, weil er auch außer ihm in einem rechtlichen
Verhältnis sein kann. [...] Es ist also eine freiwillige Verbindung oder Bund." (Fichte, Johann
Gottlieb, System der Rechtslehre, § 16, in: ders., Ausgewählte Politische Schriften, hg. von
Zwi Batscha u. Richard Saage. Frankfurt/M. 1977, S. 349).
63
In der Rechtslehre wird hervorgehoben, daß der Friedensbund keine Verfassung besitzen soll,
weil er andernfalls unauflöslich wäre. „Unter einem Kongreß wird hier aber nur eine willkürli-
che, zu aller Zeit ablösliche Zusammentretung verschiedener Staaten, welche (so wie die der
amerikanischen Staaten) auf einer Staatsverfassung gegründet, und daher unauflöslich ist, ver-
standen [...]." {MAR, § 61).
64
MAR, § 54.
65
Ebd., §61.
66
Kant, Immanuel, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: ders., Werke in
zehn Bänden, (wie Anm. 1 ), Bd. 9, A 311 ff.
67
ZeF, Β 71 f., A 66f.
68
MAR, § 61.
188 Ulrich Thiele
Genüge zu tun, ist mit guten Gründen immer wieder in Zweifel gezogen worden.
Doch möglicherweise hat man dabei eine Pointe in Kants Argumentation überse-
hen.
69
Ebd., § 4 4 .
70
Ebd., § 5 1 .
71
ZeF, BA 35.
Kants Völkerrechtstheorie 189
Ich möchte abschließend in der Form eines fiktiven Dialoges der Vermutung
nachgehen, daß speziell die Friedensschrift französische Theorien der verfassung-
gebenden Volkssouveränität in Erwägung zieht, die jedenfalls im Völkerrechtsteil
der Rechtslehre nicht mehr als solche erkennbar sind. Speziell Sieyes' Pamphlet
über den Tiers Etat von 178972 mag aus Kants Sicht eine Lösungsperspektive für
das Problem eines völker(staatsrechtlichen Vertrages geboten haben, die sich
immerhin zu bedenken lohnt. Nehmen wir fur das folgende an, Kant hätte Sieyes'
Theorie des pouvoir constituant berücksichtigt, dann wäre es möglich, das Volk in
einem speziellen Sinn als den einzig legitimen Urheber des öffentlichen Völker-
rechts anzusehen.
Wenn beispielsweise ein bestehender Friedensbund durch einen zusätzlichen
Vertrag in einen dem Staatsrecht ähnlichen Zustand des öffentlichen Rechts ver-
setzt werden soll, dann müßte nach der Lehre des Franzosen dieser spezielle Bun-
desvertrag jedenfalls einen verfassunggebenden Akt einschließen. Nur durch einen
in diesem Sinne ursprünglichen Vertrag könnte dem erweiterten Postulat des öf-
fentlichen Rechts im äußeren Staatenverhältnis Genüge getan werden.
Ist die besondere Staatsverfassung das Ergebnis des ursprünglichen Vertrages
als eines der Idee nach zugleich verfassunggebenden Aktes, dann kann der Staat
(bzw. einzelne Staatsorgane) nicht (oder jedenfalls nicht von sich aus) befugt sein,
Souveränitätsausübungsrechte auf höherstufige Rechtsorgane zu übertragen. Dies
stünde allein dem Souverän zu. Denn nach der Kantischen Idee des ursprünglichen
Vertrages konstituiert sich „das Volk selbst in einem Staat" 73 und gibt ihm (ideali-
ter) selbst seine verfassungsrechtliche Form, die vor allem einen gesetzgebenden
summum imperane auszeichnet. Bezieht man Sieyes' Überlegungen mit ein, dann
sind die konstituierten Staatsgewalten einschließlich des effektiven Souveräns we-
der befugt, die Staatsorganisation strukturell zu modifizieren, noch ihre Kompeten-
zen eigenmächtig (ganz oder teilweise) auf einen äußeren, höherstufigen Souverän
zu übertragen.
Die Theorie des Abbé Sieyes hätte für dieses Problem insofern eine Lösungs-
möglichkeit geboten, als sie es erlaubt, den Kreis möglicher Autoren des öffentli-
chen Rechts im erweiterten Sinne nicht auf Staatsorgane einerseits und die fakti-
schen Souveräne andererseits einzuschränken. Denkbar ist auch, das Volk in einem
sehr speziellen Sinne als den legitimen Urheber des strikten Völkerstaatsrechts
anzusehen.
Allererst unter dieser begrifflichen Voraussetzung können, wie Kant sagt, als
Subjekte einer völkerrechtlichen Verfassunggebung „eine Menge von Völkern" in
72
Sieyes, Emmanuel Joseph, Qu'est-ce que le Tiers État?, [Paris 1789] / Was ist der Dritte
Stand?, in: ders., Politische Schriften 1788-1790. Übers, u. eingel. v. Eberhard Schmitt u.
Rolf Reichardt. München/Wien 1981, S. 117-195; Sieyes, Was ist der Dritte Stand? Übers, v.
Johann Gottfried Ebel, hg. v. Otto Dann. Essen 1988.
73
MAR, § 47.
190 Ulrich Thiele
Betracht kommen.74 Wenn nach der Vernunft Völker die letztinstanzlichen Eigner
aller Souveränität sind,75 dann wären auch nur sie als legitime Urheber des einzel-
staatlichen Verfassungsrechts anzusehen, die deswegen auch die Übertragung von
nationalstaatlichen Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche oder überstaatliche
Repräsentativorgane beschließen können. Wenn man annimmt, daß Staatsformen,
Staatsgewalten und Staaten überhaupt (einschließlich der Definition des einfachen
Gesetzgebers) Gegenstände, Materien oder Resultate, aber nicht Subjekte verfas-
sunggebender Akte sein können, dann läßt sich der genannte Widerstreit so auflö-
sen, daß nicht allein das negative Surrogat der Idee eines Völkerstaates gefordert
werden kann.
Aus dem Vernunftbegriff des Naturzustandes ergibt sich fur Individuen und
„Völker, als Staaten"76 gleichermaßen die Rechtspflicht, in den Zustand einer
öffentlich-rechtlichen, „gesetzlichen Verfassung"77 einzutreten. Wenn diese eine
„oberste gesetzgebende, regierende und richtende Gewalt"78 einschließen muß,
dann läßt sich erstens folgern, daß nach Kant bzw. Sieyes der nationalstaatliche
Binnenverfassungen modifizierende „Völkerstaat"79 seinerseits eine gewaltentei-
lige Verfassung erfordert. Soll diese erweiterte Verfassung ihrerseits legitimer-
weise aus einem besonderen verfassunggebenden Akt herrühren, dann kommen
zweitens als dessen Subjekte zuallererst die bisherigen Staatsvölker in Frage. Die
praktische Idee eines Völkerstaates und eines entsprechenden transnationalen
Staatsrechts würde demnach die begriffliche Ergänzung des demokratischen Legi-
timitätsprinzips der Volkssouveränität um das der Völkersouveränität unumgäng-
lich machen. Es scheint, daß Kant für die souveränitätstheoretischen Probleme, die
mit der Idee eines Völkerstaatsrechts verbunden sind, eine im Kern demokratische
Lösimg zumindest in Erwägung zog.
Das von Kant hervorgehobene Dilemma einer praktischen Theorie des Völker-
staatsrechts wäre dann lösbar, wenn man nicht Staaten oder den damals überwie-
gend monarchischen Souveränen, sondern Völkern ein ursprüngliches politisches
Selbstbestimmungsrecht zuerkennt. Dann aber wäre man genötigt, die nicht selten
als Synonyme verwendeten Begriffe Staatssouveränität und Volkssouveränität zu
entkoppeln80 und die für jeden Nationalstaat besondere öffentlich-rechtliche Defi-
nition der ersteren als eine von mehreren möglichen Optionen der letzteren zu
werten.
74
MAR, § 43.
75
Ebd., §47.
76
ZeF, Zweiter Definitivartikel. BA 36.
77
Ebd., Anm. BA 38.
78
Ebd., BA 36.
79
Ebd.
80
Zur Konjunktion beider Souveränitätskonzeptionen in der Kantliteratur vgl. Maus, Ingeborg,
Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Frankfurt/M. 1992, S. 18ff.; Brunkhorst, (wie Anm.
21), S. 262f.
Kants Völkerrechtstheorie 191
Wenn dies Kants Perspektive gewesen sein sollte, dann läßt sich folgern, daß
seine Theorie des öffentlichen Rechts wesentliche Änderungen, die das europäi-
sche Völkerrecht im Zuge der Französischen Revolution erfuhr, wenigstens impli-
zit übernommen hat. In Betracht kommt hier zuallererst das freilich durch die
spätere Außenpolitik diskreditierte Prinzip, daß alle Änderungen der Staatsgebiete
am Selbstbestimmungsrecht nicht der Regenten, sondern der Staatsvölker ihre
Grenze finden.81 Wird die elementare Entscheidung über die territoriale Integrität
der Staaten und damit den Geltungsbereich des jeweiligen öffentlichen Rechts dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker unterstellt, dann ist der erste Schritt zur Auflö-
sung des nationalstaatlichen Souveränitätsprinzips zugunsten eines transnationalen
Prinzips der Völkersouveränität getan. Einiges deutet darauf hin, daß Kant die
französische Transformation des Prinzips der Fürstensouveränität in das der Volks-
souveränität auch im Völkerrecht für maßgeblich hielt; denn immerhin soll nach
der Friedensschrift der aus dem Naturzustand herausführende Staatenbund einem
„Vertrag der Völker unter sich" entspringen, und Kant läßt keinen Zweifel daran,
daß er die französische Republik für geeignet hält, „einen Mittelpunkt der föderati-
ven Vereinigung für andere Staaten [...], um sich an sie anzuschließen", zu bil-
den.82
Wie es scheint, hat Kant die Theorie der verfassunggebenden Volkssouveränität
noch in der Rechtslehre in Erwägung gezogen; dort vor allem innerhalb des Staats-
rechtsteils.83 Sie macht es möglich, nicht Staaten und ihre konstitutionellen Souve-
räne, sondern Völker zumindest als ideelle Urheber .ursprünglicher Verträge' zu
denken. Der ominöse Begriff des Völkerstaatsrechts stünde vor diesem Hinter-
grund für überstaatliches öffentliches Recht, das durch einen Akt des pouvoir
constituant der involvierten Völker entstanden oder zumindest legitimiert ist. Dies
hätte auch für den Fall zu gelten, daß der zu gründende Völkerstaat erhebliche
Änderungen der nationalen Verfassungen erfordert. Immerhin äußerte Kant noch
in der Rechtslehre die Überzeugung, das Volk als der alleinige „Urgrund aller öf-
fentlichen Verträge"84 könne die „bestehende Staatsverfassung [...] ändern, wenn
sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrages nicht wohl vereinbar ist".85
Hätte sich Kant definitiv fur den Sieyesschen Lösungsansatz entschieden, wäre
die Folgerung kaum zu vermeiden gewesen, daß das Volk, wo es verfassungsän-
dernd tätig ist, in der Idee als extrakonstitutionelles Subjekt agiert und zur Aus-
übung dieser außerordentlichen Funktion auch besonderer Repräsentationsverfah-
81
Martens, Wolfgang, Völkerrechts-Vorstellungen der Französischen Revolution in den Jahren
1789 bis 1793, in: DerStaafNr. 4 (1963), S. 295ff.
82
ZeF, BA 35, 36.
83
Vgl. z.B. MAR, § 47.
84
MAR, § 52, A 214, Β 244.
85
Ebd., A 211, Β 241.
192 Ulrich Thiele
Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind, Reformen, dem
Ideal des öffentlichen Rechts angemessen, zur Pflicht machen: Revolutionen aber, wo sie die
Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung,
sondern als Ruf der Natur benutzen, die eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche
Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen.91
86
Eine andere Frage ist, ob sich das Volk reell der Institutionen und Repräsentativorgane bedie-
nen kann, die durch die bisherige Verfassung konstituiert sind, oder zum Zweck der revidie-
renden Betätigung seines pouvoir constituant außerordentliche Repräsentativorgane allererst
zu autorisieren hat.
87
Daß Sieyes speziell die Friedensschrift außerordentlich schätzte und an einer Korrespondenz
über politische Fragen interessiert war, ist ebenso bekannt wie Kants Absicht, den Gedanken-
austausch thematisch auf die beiden ersten Kritiken zu beschränken. (Vgl. Ruiz, Alain, Neues
über Kant und Sieyès, in: Kant-Studien, Jg. 68 (1977), S. 446ff.).
88
Vgl. MAR, A 178ff„ Β 208ff.
89
Vgl. Braubach, Max, Von der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, in: Geb-
hardt, Bruno, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 14, 1. Aufl. Stuttgart 1970, 2. Aufl.,
hg. von Herbert Grundmann. München 1976, S. 4Iff.
90
Vgl. Langer, Claudia, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Im-
manuel Kants. Stuttgart 1986.
91
ZeF, Β 79, A 74, Anm.
KARL H. L. WELKER (Frankfurt a . M . )
Das Hochstift Osnabrück gehörte zu den staatlichen Gebilden des Alten Reichs,
die ein eigenes territoriales Recht besaßen, das weder kodifiziert noch in einer
anderen geschlossenen Form verfügbar war.1 Es gab keine Gesamtdarstellung der
im Fürstbistum geltenden Rechte, geschweige eine wissenschaftliche Systematik
der von den Gerichten anzuwendenden Normen.2 Es herrschte Unübersichtlichkeit
insbesondere für Juristen, die sich dem Osnabrücker Recht von außen näherten.3
Eine moderne Darstellung der Geschichte des Hochstifts fehlt. Grundlegend ist weiterhin
Stiive, C.[arl Bertram], Geschichte des Hochstifts Osnabrück. 3 Bde. Osnabrück 1980 (Neu-
druck der Ausgabe [Osnabrück] 1856 bis 1882). Da diese Darstellung kurz vor Ende des
30jährigen Kriegs abbricht, ist für die Zeit bis zum Ende des Alten Reichs van den Heuvel,
Christine, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der
Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550-1800. Osnabrück 1984 (Osnabrücker Ge-
schichtsquellen und Forschungen XXIV), heranzuziehen. Unentbehrlich bleibt Bär, Max, Ab-
riß einer Verwaltungsgeschichte des Regierungsbezirks Osnabrück. Hannover/Leipzig 1901
(Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens. Bd. V). Einen guten Überblick
zur Geschichte des Fürstbistums vermittelt nunmehr: van den Heuvel, Christine/von Boetti-
cher, Manfred (Hg.), Geschichte Niedersachsens. Bd. 3. Teil 1 : Politik, Wirtschaft und Gesell-
schaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Hannover 1998 (Veröffent-
lichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVI). Verfas-
sungshistorische und privatrechtsgeschichtliche Orientierung bieten zudem: Renger, Reinhard,
Landesherr und Landstände im Hochstift Osnabrück in der Mitte des ¡8. Jahrhunderts. Göt-
tingen 1968 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 19), und Hirschfel-
der, Heinrich, Herrschaftsordnung und Bauerntum im Hochstift Osnabrück im 16. und 17.
Jahrhundert. Osnabrück 1971 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 16). Eine
private Sammlung des Osnabrücker Rechts erschien als Codex Constitutionum Osnabrugen-
sium oder Sammlung von Verordnungen, gemeinen Bescheiden, Rescripten und anderen er-
läuternden Verfugungen, welche das Hochstift Osnabrück betreffen. Zwei Teile in je zwei
Bänden. Osnabrück 1783-1819. Diese Textwiedergabe ist ebenso unvollständig wie die flir
die Jahre 1760 bis 1806 angelegte, zwei Faszikel umfassende amtliche Sammlung von Aus-
schreiben und Verordnungen im Niedersächsischen Staatsarchiv zu Osnabrück, Rep. 100
Abschn. 387, Nr. la.
2
Eine ca. 200 Seiten umfassende Darstellung des im Hochstift geltenden Prozeßrechts legte
Johann Zacharias Möser unter dem Titel De Jure et Judiciis Episcopatus Osnabrugensis in
den von Gottfried Mascov 1738 in Göttingen herausgegebenen Notifia Juris et Judicorum
Brunsvico-Luneburgicorum vor. Carl Gerhard Wilhelm Lodtmann und sein Neffe Justus
Friedrich August Lodtmann verfaßten in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1770 Arbeiten
zum öffentlichen Recht, Markenrecht sowie zu ehegüterrechtlichen Spezialfragen. Daneben
gab es wenige, oftmals nur einige Druckseiten umfassende Dissertationen zu den Besonderhei-
ten des Osnabrücker Rechts.
3
Dazu hat vor allem die durch den Westfälischen Frieden begründete Bikonfessionalität des
Territoriums beigetragen. Der Wechsel zwischen einem katholischen und evangelischen Bi-
schof war daran die auffälligste Erscheinung. Doch durchzog die vereinbarte konfessionelle
Parität viele Lebensbereiche und gab reichlich Anlaß zu juristischen Auseinandersetzungen,
194 Karl H. L. Welker
D i e s e s Rechtswörterbuch bot am Ende des Alten Reichs und kurz vor der B e -
setzung des Hochstifts Osnabrück durch hannoversche Truppen im Jahr 1802
einen u m f a s s e n d e n Überblick über die eigentümliche V e r w e n d u n g der v o r w i e g e n d
aus regionalen G e w o h n h e i t e n oder aus der territorialen Gesetzgebung stammenden
Begriffe. 8 Mittelbar lieferte das Handbuch den Zugang z u m gesamten, am Ende
vgl. Hoberg, Hermann, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse in kirchlichen Dingen. Rechtszu-
stände im Fürstentum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zum Anfang des 19. Jahr-
hunderts. Osnabrück 1939 (Das Bistum Osnabrück. Bd. 1).
4
Über die deutsche Literatur. Die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, ihre Ursachen und die
Mittel zu ihrer Verbesserung, in: Die Werke Friedrichs des Großen. Achter Band: Philosophi-
sche Schriften, hg. v. Gustav Berthold Volz. Berlin 1913, S. 74-99, hier S. 81.
5
Sie betrafen vor allem „Ackerbau, Grenzen, Häuser, Geräthschaft, Mark-Sachen und Holzge-
richte". Siehe: Strodtmann, Johann Christoph, Idioticon Osnabrugense. Osnabrück 1973
(Neudruck der Ausgabe Leipzig, Altona 1756), S. XII.
6
Friederich Wilhelm Broxtermann promovierte 1769 über die Heimschnaat, Johann Christoph
Beverförde 1772 über das Plaggenmatt, Justus Eberhard Berghoff veröffentlichte 1774 eine
Abhandlung über das Pfahlbaurenrecht. Eine handschriftliche, bis in die 1830er Jahre rei-
chende Bibliographie zum Osnabrücker Recht findet sich im Niedersächsischen Staatsarchiv
zu Osnabrück, Dep. 6 b, Nr. 847.
7
Zu Klöntrups Leben und sprachwissenschaftlicher Bedeutung vgl. Niebaum, Hermann, Johann
Aegidius Rosemann genannt Klöntrup. Rechtsgelehrter, Literat, Dialektlexikograph, kritischer
Geist, in: Jarck, Horst-Rüdiger (Hg.), Quakenbrück. Von der Grenzfestung zum Gewerbezen-
trum. Quakenbrück 1985 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen XXV), S. 334-
347. Kurzbiographien finden sich in: Erler, Adalbert/Kaufmann, Ekkehard (Hg.), Handwörter-
buch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 2. Berlin 1978, Sp. 878f. (Dietlinde Munzel), und
im Biographischen Handbuch zur Geschichte der Region Osnabrück. Bearb. von Rainer
Hehemann. Bramsche 1990, S. 163 (Karl H. L. Welker).
8
Entgegen der im Titel versprochenen Aufzeichnung von Gewohnheiten ging es Klöntrup nicht
um eine durch Feldforschung gewonnene möglichst differenzierte Erfassung lokaler Besonder-
heiten. Das Fürstbistum Osnabrück besaß keineswegs eine in sich homogene Rechtskultur.
Nicht allein das Nebeneinander verschiedener Konfessionen, sondern auch örtlich unter-
schiedliche Formen bäuerlicher Abhängigkeit und Markenrechte hätten eine Aufzeichnung
Territoriales Recht und Rechtswörterbuch 195
einzelner Hofrechte oder regionaler Besonderheiten nahegelegt. Klöntrup verzichtete fast voll-
ständig darauf. Neben meist pauschalen Hinweisen auf Sonderrechte der Städte und Weich-
bilde erwähnt er als Träger lokaler Vorrechte allein das Haus Gesmold.
9
Das mit Marginalien versehene Exemplar im Besitz von Heinz Wiedemann, Mülheim/Ruhr,
zeigt, daß sich Klöntrups Handbuch nicht allein dazu eignete, Gesetzesänderungen, sondern
auch jüngere juristische Literatur nachzutragen.
10
Es wird nicht allein in den Veröffentlichungen zum Osnabrücker Recht herangezogen, sondern
auch in der zeitgenössischen rechtshistorischen Literatur, z.B. von von Maurer, Georg Ludwig,
Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung. 3. Aufl. Aalen 1966
(Neudruck der Ausgaben von 1854 bzw. 1896).
11
Ein Nachdruck des Alphabetischen Handbuchs der besonderen Rechte und Gewohnheiten des
Hochstifts Osnabrück samt den für eine Neuausgabe von Klöntrup vorgesehenen Zusätzen ist
z.Zt. in Osnabrück im Druck. Eine separate Ausgabe der Ergänzungen erschien als Beilage in
Runge, Friedrich, Johann Ägidius Rosemann genannt Klöntrup, der Osnabrücker Jurist, Dich-
ter und Sprachforscher, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von
Osnabrück 23 (1898), S. 71-119, hier S. 95-119.
12
Struckmann, G.[ustav] W.filhelm], Practische Beiträge zur Kenntniß des Osnabrückischen
Eigenthumsrechtes. Beitrag I bis XX. Lüneburg 1826-1835 (Ergänzungshefte zur Juristischen
Zeitung für das Königreich Hannover).
13
Breiten Raum nahmen bei ihm die Dokumentation und Behandlung juristischer Streitigkeiten
ein. Er entwarf sogar Rechtsfälle zu Ausbildungszwecken.
14
Dabei ist zu beobachten, daß Klöntrups Ausführungen sogar den inhaltlichen Bestimmungen
der Osnabrücker Verordnungen vorgezogen werden. Das Alphabetische Handbuch genießt ge-
radezu kanonische Geltung für alle das territoriale Recht betreffende Fragen.
15
Die innerhalb der Göttinger Ausgabe 1988 und 1990 erschienenen Kommentare zu Mosers
Patriotischen Phantasien und Osnabrückischer Geschichte verweisen vielfach auf Klöntrup
als den für das territoriale Recht zuständigen Gewährsmann.
196 Karl H. L. Welker
Vorbereitung und soll die Diskussion um das territoriale Recht im Alten Reich
beleben.16
Zugleich muß aber Klöntrups Unternehmen auch in ein kritisches Licht ge-
taucht werden. Sein Wörterbuch ist keine abschließende Dokumentation und bietet
keine unantastbare Quelle. Vielmehr hat Klöntrup bei der Auswahl der Begriffe
wie bei seiner Beurteilung der referierten unterschiedlichen Rechtsauffassungen
bewußt persönliche Überzeugungen einfließen lassen.17 Ihm ging es zwar um Ob-
jektivität, doch zeigte er gern und z.T. genüßlich, welche Ansichten er fur irrig
hielt. Dabei gab sich Klöntrup in seinen Stellungnahmen engagiert. Aber auch
dort, wo er schlicht berichtete, pointierte er.18 Er betonte Regel-Ausnahme-Ver-
hältnisse oder rückte Gegensatzpaare in den Vordergrund.19 Das gibt seinen Aus-
filhrungen auch heute noch einen eigenartigen Reiz und garantiert eine anregende
Lektüre.
Die literarischen Qualitäten haben jedoch der Verbreitung und dem Einfluß von
Klöntrups Werk eher geschadet. Seine sich z.T. deutlich von vorherrschenden
Überzeugungen abgrenzenden Rechtsauffassungen diskreditierten den Wert seines
Handbuchs vor allem in den Augen der Osnabrücker Regierung.20 Diese verbot
16
Wie im Untertitel des Alphabetischen Handbuchs versprochen, sollte im Wörterbuch das
Recht der „benachbarten westfälischen Provinzen" Berücksichtigung finden. Doch erst in den
handschriftlichen Zusätzen hat Klöntrup versucht, dieses Versprechen umfassend zu erfüllen.
Wahrscheinlich stand ihm der Rechtskreis Westfalens stets vor Augen, doch vermochte er sich
offenbar nur schwer von den Quellen des Osnabrücker Rechts zu lösen. Die (Vor-)Geschichte
der rechtshistorischen Germanistik gehört zu den großen Forschungslücken der juristischen
Ideengeschichte. Klöntrups Alphabetisches Handbuch belegt, daß das deutschrechtliche Inter-
esse von Anfang an nicht vorrangig nationalen Ansprüchen gerecht werden wollte. Mit seiner
Orientierung an Westfalen gab sich Klöntrup bescheidener.
17
Sie zeigen sich gelegentlich auch in seiner Behauptung, für angegebene Rechtsregeln keine
praktischen Beispiele zu kennen.
18
Beispiele: „Der Non oder die None (hora nona) ist bey dem Landmanne die Zeit von Mittag
bis gegen halb drey Uhr, die er in den heissen Sommertagen verschläft." „Das Hochstift Osna-
brück stellt nach der Reichsmatrikel von 1521 zu den Reichskriegen, sechs Reuter und sechzig
zu Fuß, und bezahlt zu deren Unterhalt monatlich 216 Gulden. Zur Unterhaltung des Reichs-
kammergerichts aber bezahlt es monatlich 20 oder jährlich 240 Gulden." Oder am Anfang des
Lemmas „Schatz-Rectification": „Schon gleich nach der Errichtung des Steuer=Catasters
fühlte man das Mangelhafte desselben, und suchte durch eine allgemeine Vermessung und
Rectification die Gleichheit wieder herzustellen."
19
Beispiele: „Ueber das Dienstgeld ist viel Streit. Es gründet sich wahrscheinlich auf einen alten
Contrakt; doch sind die Fälle in welchen Dienstgeld gegeben wird, sehr verschieden." „Eine
Erdkuhle ist eine Grube woraus Leim oder Erde zu diesem oder jenem Gebrauche gegraben
wird, wer nicht damit berechtigt ist, darf keine Erdkuhle in gemeiner Mark graben, weil da-
durch Anger und Weide auf lange Zeit verdorben wird." „Der Regel nach ist jeder Markge-
nosse berechtigt, sein eignes aber kein fremdes Vieh in die Mark zu treiben, mithin auch seine
eignen Schweine. Allein in den mehresten Marken ist gleichwohl die Schweinetrift der Genos-
sen besonders zur Mast=Zeit sehr eingeschränkt."
20
Insbesondere dort, wo Klöntrup seine Anschauungen in Monographien konzipierte oder ausar-
beiten wollte, vertrat er seinen persönlichen Standpunkt z.T. mit Polemik. So in den Ausfüh-
rungen über „Anerbenrecht" und „Zwangdienst".
Territoriales Recht und Rechtswörterbuch 197
21
Vgl. Runge, Johann Ägidius Rosemann genannt Klöntrup, (wie Anm. 11), S. 81ff. Das Alle-
gationsverbot stammt aus dem Jahr 1801. Die bei Runge genannte Jahreszahl beruht auf einem
Lesefehler.
22
Selbst in wohlwollenden Besprechungen wurde beklagt, daß bedingt durch den regionalen
Charakter des Werks die herangezogene Literatur außerhalb Osnabrücks kaum überprüft wer-
den konnte: Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung, St. XLV vom 15.4.1799, Sp. 718ff.
23
So in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 192 vom 5.7.1800, Sp. 49-54, hier Sp. 49.
24
Der Rezensent der Litteratur-Zeitung, Nr. 40 vom Februar 1800, Sp. 315-317, vermißte die
Lemmata „Freyding, Freygericht, Freygrafschaft, Freystuhl, Freyschöff", andere wünschten
sich ausführlichere Nachrichten z.B. vom Schaufelschlag, Allgemeine Literatur-Zeitung. Re-
vision der Literatur für die Jahre 1801-1805. Ergänzungsblätter. Jg. 3, Nr. 118, Sp. 316f.
25
Vgl. Cappellini, Paolo, Systema iuris. Bd. 2: Dal sistema alla teoria generale. Milano 1985.
26
Zu denken ist dabei vor allem an Johann He(i)nrich Christian von Selchow, der in Vorlesun-
gen eine territorialhistorisch ausgerichtete juristische Quellenlehre vortrug und sich durch sei-
nen mehrfach aufgelegten Grundriß einer pragmatischen Geschichte des Durchlauchtigsten
Hauses Braunschweig-Lüneburg auch als Historiograph einen Namen machte, vgl. Landsberg,
Ernst, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. 3. Abt. 1. Halbbd. Text. München/Leip-
zig 1898 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit. Bd. 18), S. 356f.
198 Karl H. L. Welker
sein Studium ein tiefes Interesse an Lexikographie entwickelte.27 Als er, zurückge-
kehrt nach Osnabrück, die Gelegenheit bekam, ein Adelsarchiv neu zu ordnen,
stellte er sich ein Wörterbuch der mittelalterlichen Urkundensprache zusammen.
Dieses Glossar ging offenbar verloren, doch ein Nachfolgeprojekt, dem er sich
jahrzehntelang widmete, ein Niederdeutsch-Westphälisches Wörterbuch, blieb
erhalten. Dessen ca. 1 150 Folioseiten umfassendes Manuskript wurde erst 1982
und 1984, mehr als 150 Jahre nach Klöntrups Tod, veröffentlicht.28 Ein weiteres
ambitioniertes lexikographisches Vorhaben Klöntrups galt dem Osnabrücker
Recht. Er kündigte es bereits 1779 im lokalen Intelligenzblatt an29 und lieferte ge-
meinsam mit seinem Göttinger Studienfreund Johann Friedrich Anton Schiedehaus
drei Jahre später eine Probe des zu erwartenden Werks.30 Unter dem Titel Das Os-
nabrückische gemeine Marken-Recht veröffentlichte er etwa 100 Begriffe mit da-
zugehörenden Erläuterungen; hinzugebunden war eine programmatische Vorrede.
Mit der begrifflichen Durchdringung des Osnabrücker Markenrechts war eine
Pionierleistung erbracht. Erstmals war ein Teilgebiet des Osnabrücker Rechts im
Zusammenhang erschlossen, wenn auch nicht methodisch durchleuchtet. Klöntrup
bemühte sich im Gegensatz zu den ihm vorliegenden Rechtswörterbüchern anderer
Territorien besonders um exaktes Definieren;31 doch legte er dabei vor allem lite-
rarische Quellen zugrunde. Belege aus der juristischen Praxis fehlten fast voll-
ständig. Auf diese Weise verkleinerte sich die Vielfalt der markenrechtlichen Ei-
gentümlichkeiten, wie sie sich aus den einschlägigen Höltingsprotokollen erga-
ben.32 Es schrumpften die Heterogenität der Rechtssprache und damit die themati-
sierten Rechtsbeziehungen auf wenige strukturierende Rechtsverhältnisse. Insbe-
27
Zu Klöntrups Gedichten vgl. Hermann Niebaum, Johann Aegidius Klöntrup (1754-1830) -
ein kritischer Geist zwischen Osnabrücker Provinz und Weltbürgertum, in: Augustin-Wibbelt-
Gesellschaft-Jahrbuch 15 (1999), S. 77-101.
28
Johan Gilges Rosemann genannt Klöntrup, Niederdeutsch-Westphälisches Wörterbuch. Bearb.
von Wolfgang Kramer, Hermann Niebaum und Ulrich Scheuermann. 2 Bde. Hildesheim 1982,
1984 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göt-
tingen. Bd. 16).
29
Ein Nachdruck dieser Ankündigung erfolgt innerhalb des Vorworts zu der vom Verf. vorberei-
teten Neuausgabe von Klöntrups Rechtswörterbüchem.
30
Zum exemplarischen Charakter dieses Vorhabens vgl. Welker, Karl H. L., Ein beispielgeben-
des Rechtswörterbuch - Schledehaus/Klöntrup ,Das Osnabrückische gemeine Marken-Recht',
in: Das achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), S. 69-75.
31
Beispiel: „Wenn mehrere zusammen ein Plaggenmatt haben, so nennt man das eine Heim-
schnaat. [...] Stehet es aber einem mit Ausschluß aller übrigen zu, so nennt man das ein Plag-
genmatt im engsten Verstände." Oder, um die Probleme, die bei der Festlegung der Rechtsbe-
griffe auftraten, anzudeuten: „Wiewohl das Loh an vielen Orten Dusttheil genennet wird, so ist
es doch überhaupt betrachtet mehr als Dußtheil, denn wer ein Loh hat, ist zu jeder Nutzung
des Holzes, auch des Blumenholzes, berechtigt."
32
In ihrem Wörterbuch zum Markenrecht zitieren Schiedehaus und Klöntrup nicht einzelne
(unveröffentlichte) Höltingsprotokolle, vielmehr richten sie sich ganz nach dem Entwurf einer
Holzgerichtsordnung aus dem Jahr 1671 - der jedoch allein für die Osnabrücker Marken ver-
bindlich war, in denen der Landesherr oder seine Beamte Holzgraf waren, vgl. Codex Consti-
tutionum Osnabrugensium I, S. 761, Anm. 1.
Territoriales Recht und Rechtswörterbuch 199
sondere die z.T. unterschiedlichen Funktionen von Erbexen und Holzgrafen wur-
den auf das für die Osnabrücker Verhältnisse bezeichnende Merkmal reduziert,
daß diese Markenrichter durch Markgenossen, nicht aber von der Obrigkeit einge-
setzt wurden. 33 Damit ließ sich das Osnabrücker Markenrecht von sonstigen, in
Westfalen vorhandenen Gemeinheitsrechten abgrenzen.
Klöntrup wollte mit seiner Probe eines Wörterbuchs beweisen, daß die territo-
riale Rechtsordnung des Hochstifts eine Einheit bildete, die durch Allgemeinbe-
griffe erschließbar war. Daß Osnabrück eine eigenständige politische Größe dar-
stellte und ein besonderes Recht besaß, war spätestens seit Justus Mosers Osna-
brückischer Geschichte (1768) unzweifelhaft. 34 Dieses Werk war gegen die von
Hannover und England beabsichtigte Säkularisierung des Hochstifts geschrieben
und behauptete die gewachsene historisch-politische Kultur des Landes. Moser
wollte mit seiner Osnabrückischen Geschichte den Bewohnern des Fürstbistums
ein Nachschlagewerk liefern, in dem sie ihre Rechte und Freiheiten dokumentiert
fanden, doch war die von ihm betonte historische Dimension weit davon entfernt,
der juristischen Alltagspraxis eine zuverlässige Hilfe zu liefern. 35 Er formulierte
zwar zahlreiche Grundsätze, die Klöntrup in seine Rechtswörterbücher meist wört-
lich übernahm, doch grenzte er weder Rechtsgebiete voneinander ab noch lag ihm
ersichtlich an einer begrifflich geordneten Rechtssystematik.
Hier setzte die Leistung Klöntrups ein. An die Stelle der Tiefendimension hi-
storischer Entwicklung trat bei ihm die Konzentration auf das geltende Recht. Er
reduzierte die Komplexität des territorialen Rechts nicht mehr durch den Hinweis
auf dessen in der Vergangenheit liegende Ursprünge. Im Gegensatz zu Moser und
dessen Vater, der bereits in den 1730er Jahren eine Darstellung des Osnabrücker
Prozeßrechts verfaßte, ging es Klöntrup nicht um die Sammlung, Erstveröffentli-
chung und Kommentierung schwer zugänglicher Quellen. Ihn interessierten viel-
mehr das Nebeneinander und die Konsistenz der juristischen Überlieferung. 36
33
Vgl. dazu Welker, Ein beispielgebendes Rechtswörterbuch, (wie Anm. 30), S. 71.
34
Dazu zuletzt Welker, Karl H. L., Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist
und Staatsmann. Osnabrück 1996 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen. Bd. 38),
S. 505ff.
35
Über Mosers Absicht, mit seiner pragmatischen Geschichtsschreibung seinen Osnabrücker
Landsleuten nützlich zu sein, vgl. Schmidt, Peter, Studien über Justus Möser als Historiker.
Zur Genesis und Struktur der historischen Methode Justus Mosers. Göppingen 1975 (Göppin-
ger Akademische Beiträge Nr. 93), S. 135; ferner: Rückert, Joachim, Justus Möser als Histo-
riker, in: Möser-Forum 2 (1994) (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen XXXV),
S. 47-67.
36
So nutzte er Justus Mosers Osnabrückische Geschichte und seine für das Osnabrückische In-
telligenzblatt verfaßten Patriotischen Phantasien ebenso wie die von Justus Friedrich August
Lodtmann 1778 und 1782 herausgegebenen Acta Osnabrugensia, um die darin erschlossenen
Rechtsquellen in einen größeren Zusammenhang zu rücken. Ein Beispiel mag dies veranschau-
lichen: „Die Regalien in diesem Hochstifte haben die Bischöfe sehr frühzeitig vom Kaiser er-
halten. Mösers Osnabr. Geschichte Th. II. Abschn. II. §. 25. Sie müssen noch jetzt gleich nach
der Wahl oder Postulation des Bischofs am Kaiserlichen Hofe nachgesucht werden [...]".
200 Karl H. L. Welker
Damit war er zwischen 1780 und 1800 in Osnabrück nicht allein. Nicht einmal
die Land- und Justizkanzlei besaß eine vollständige Liste der im Hochstift erlasse-
nen Verordnungen, geschweige denn einen Überblick über das auf dem Land ge-
sprochene Recht.37 Der im Westfälischen Frieden festgesetzte Wechsel zwischen
einem evangelischen und einem katholischen Fürstbischof führte zur wiederholten
Ablösung der gesamten Regierung und zur Unterbrechung der Verwaltung. Die
fehlende Kontinuität hatte Rechtsunsicherheit zur Folge. Um dieser zu begegnen,
gaben Privatleute ab 1783 eine „Sammlung von Verordnungen, gemeinen Be-
scheiden, Rescripten und anderen erläuterenden Verfugungen", den Codex Consti-
tutionum Osnabrugensium, heraus.38 Diese halbamtliche Edition strebte Vollstän-
digkeit an, doch wies der beigefugte Vorbericht darauf hin, daß sich in den abge-
druckten Gesetzen Ungereimtheiten fanden,
viele Puñete stehen noch zur höheren Decision. Es wird dies den ferneren Wunsch erregen,
daß es gut gefunden werden mögte aus den mehreren verschiedenen Verordnungen ein Ganzes
zu machen und damit in vielen Puncten eine genauere und mehr vollkommene Vorschrift fest-
zustellen.
Diese Worte müssen im Zusammenhang mit der im selben Jahr erlangten Volljäh-
rigkeit des evangelischen Fürstbischofs Friedrich von York gelesen werden. Von
dem englischen Prinzen aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg, der unter dem
Einfluß der Aufklärungsphilosophie stand und Friedrich II. von Preußen verehrte,
erhoffte man sich in Osnabrück die angedeuteten politischen Impulse.39 Zur Über-
nahme der Regentschaft wurde er dort fast sehnlich erwartet. Doch der junge Lan-
desherr interessierte sich wenig für Gesetzgebung. Sein Herz hing an militärischen
Reformen. Er erließ nach 1783 nur gelegentlich Kabinettsordres, mit denen er in
seinem Fürstbistum keine weitreichenden Veränderungen einzuleiten vermochte.
Die zwei letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts waren für Osnabrück eine
Phase politischer Stagnation.40 Die öffentlichen Diskussionen über Gesetzgebung
37
So beteiligte sich das Osnabrücker Intelligenzcomtoir an der Samlung sämtlicher Osnabrücki-
schen Landes-Verordnungen, gemeiner Bescheide, merkwürdiger Rescriptorum, und sonsti-
ger die hiesige Landes-Rechte und Gerechtsame erläuternder Urkunden. Eine 44 Spalten um-
fassende chronologische Liste der bekannten Verordnungen etc. erschien als Beilage der Os-
nabrücker Anzeigen, 26. Stück vom 25.6.1768 und 37. Stück vom 10.9.1768. Zugleich wurde
bekannt gemacht, „daß eine Gesellschaft von Rechtsgelehrten an eine Samlung von decisioni-
bus juris patrii gedenke".
38
Vgl. Anm. 1. Ob der Herausgeberkreis (zumindest teilweise) aus den in Anm. 37 genannten
Juristen bestand, ist nicht bekannt, in Anbetracht der Kleinräumigkeit des Hochstifts Osna-
brück aber nicht ausgeschlossen.
39
Mohrmann, Wolf-Dieter, Friedrich von York, in: Hehemann, Biographisches Handbuch, (wie
Anm. 7), S. 94f.; ders., Kabinettsordres des Osnabrücker Bischofs Friedrich von York, in: Os-
nabrücker Mitteilungen 93 (1988), S. 77-90.
40
Van den Heuvel, Christine und Gerd, Begrenzte Politisierung während der Französischen
Revolution. Der .Gesmolder Bauerntumult' von 1794 im Hochstift Osnabrück, in: Berding,
Helmut (Hg.), Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution. Göt-
tingen 1988 (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 12), S. 111-129; dies., Reaktionen auf
Territoriales Recht und Rechtswörterbuch 201
und Geschichte, die Moser seit Mitte der 1760er Jahre angeregt hatte, waren passé.
Klöntrups Wörterbuchprojekt kam in dieser Zeit nur schleppend voran. Dennoch
zeigen mehrere seiner Publikationen, daß er sich neben dem Markenrecht auch auf
anderen Rechtsgebieten einarbeitete. Aufschlußreich sind besonders Aufsätze über
das Herkommen und den Zwangdienst, die er 1784 und 1786 im Osnabrücker
Intelligenzblatt veröffentlichte.41 In ihnen machte er deutlich, daß er grundsätzlich
nicht das Gewohnheitsrecht, sondern Gesetzgebungsakte fur die Erfassung einer
Rechtsordnung für maßgeblich hielt. Örtliche Übung konnte lediglich eine Aus-
nahme von der Regel bilden, nicht aber eine Regel begründen. Diese Feststellung
hatte weitreichende Folgen, denn Klöntrup widersprach mit ihr der Behauptung,
daß Eigenbehörige prinzipiell zum Zwangdienst verpflichtet waren - und oppo-
nierte damit den Interessen der Osnabrücker Grundherren.
Die Abneigung gegenüber den Gewohnheiten und Herkommen hatte Konse-
quenzen für die Methode von Klöntrups Wörterbuchprojekt. Mit seiner Zurückhal-
tung gegenüber dem ungeschriebenen Recht reduzierte er die zu erfassende
Rechtsmaterie im wesentlichen auf erlassene Verordnungen und Reskripte. Ge-
wohnheiten, so wichtig sie ihm als Rechtsquelle waren,42 trugen von vornherein
den Makel des Einzelfalls und galten als Ausnahme.
Klöntrup sammelte für sein Alphabetisches Handbuch offenbar gezielt Veröf-
fentlichungen des Osnabrücker Rechts und die dazu entstandene wissenschaftliche
Literatur. Eine große Hilfe bot ihm dabei der seit 1783 veröffentlichte Codex Con-
stitutionum Osnabrugensium, der die fürstbischöfliche Gesetzgebung nahezu voll-
ständig enthielt. Verordnungen aus den Städten Osnabrück, Fürstenau, Quaken-
brück und Wiedenbrück, aus den Flecken Iburg und Bramsche, dem Dorf Dissen
und dem Wigbold Melle mußte er sich gesondert besorgen. Daneben verarbeitete
Klöntrup ca. 20 über das Osnabrücker Recht angefertigte Dissertationen und Ab-
handlungen sowie die über die Auslegung des Westfälischen Friedens entstandene
Kontroversliteratur. Interterritorial vergleichend arbeitete Klöntrup kaum.43 Dazu
fehlten ihm offenbar die Voraussetzungen: die Gesetzessammlungen benachbarter
Länder.44 Er lebte in den 1780er Jahren am Rande des finanziellen Ruins. Aus
dieser Zeit ist ein Pfandungsprotokoll überliefert, das die Titel seiner Bibliothek
auflistete - Titel von etwa 200 Werken, darunter erstaunlich wenig juristische
Literatur, vorwiegend Lyrik und Belletristik.45
Weitgehend ausgeblendet blieb die Rechtsprechung in Höntrups Alphabeti-
schem Handbuch. Fallbeispiele oder Hinweise auf richterliche Rechtsfortbildung
finden sich in seinen Wörterbuchartikeln selten. Vernachlässigt hat Klöntrup auch
das gemeine Recht. Dieses sei durch gelehrte Richter eingeführt worden, „welche
aus Unwissenheit, Mangel an Local-Kenntnissen, Bequemlichkeit u. s. w." die „alt
hergebrachten Landrechte und Gewohnheiten" an den Gogerichten übergingen.46
Wie bereits 1782 im programmatischen Vorwort zu seinem Markenrecht ange-
kündigt, suchte Klöntrup in erster Linie klare Definitionen. Mit diesen machte er
sich vor allem auf dem Gebiet des ungeschriebenen Osnabrücker Rechts verdient.
So sehr er die Bedeutung von Herkommen und Gewohnheiten gegenüber dem
gesatzen Recht zurückstufte, so wichtig erschien es ihm doch, in seinem Wör-
terbuch auch landläufig verwendete Begriffe zu erfassen und ihre Bedeutung fest-
zuhalten. Wenigstens ein Beispiel sei dafür hier erwähnt: „Tye. Der Tye (spr.
Tigge) ist überhaupt ein Versammlungsort, insbesondere aber der Ort im Dorfe, wo
sich die Bauerschaft zu der Bauersprache versammelt. Liegt der Ort außer dem
Dorfe, so nennt man ihn gewöhnlich den Burbrink."
Neben der Aufzeichnung verpflichtenden Rechts trat demnach bei Klöntrup die
Erfassung der regionalen Rechtssprache. Auswärtigen Gerichten und juristischen
Spruchkörpern an Universitäten sollte ein Leitfaden an die Hand gegeben werden,
welche Begriffe im Osnabrückischen welche Bedeutung hatten.47 Mißverständ-
nisse dieser Begriffe in höherinstanzlichen Urteilen bildeten für Klöntrup ein Är-
gernis und offenbar den entscheidenden Anreiz fur die Verwirklichung seines
Wörterbuchprojekts.
Neben die Definition der Rechtsbegriffe trat häufig deren Etymologie.48 Klön-
trup folgte dabei meist und fast blindlings den entsprechenden Ausführungen in
diese Bücher später nicht mehr zur Verfügung gestanden haben, denn sie werden in seinen
nach 1782 erschienenen Büchern und Aufsätzen nicht mehr zitiert.
45
Niedersächsisches Staatsarchiv zu Osnabrück, Rep. 950 Mel. I, Nr. 386.
46
Klöntrup erwähnte das römische Recht lediglich beiläufig, um darauf hinzuweisen, daß es auf
die hergebrachten lokalen Rechtsverhältnisse nicht anwendbar war. Dabei scheute er - unter
dem Stichwort „Sterbfall" - nicht vor der Polemik gegen das preußische Nachbarterritorium
Minden-Ravensberg zurück, wo die Eigenbehörigen rechtlich wie römische Sklaven behandelt
würden.
47
Darauf deutet die Tatsache, daß Klöntrup sein Alphabetisches Handbuch der Juristenfakultät
der Universität Duisburg widmete. Diese habe das regionale Recht gründlicher und lehrreicher
behandelt als andere. An anderer Stelle nennt er die Spruchkörper in Rinteln und Mainz aus-
drücklich, die vom Osnabrücker Recht nichts verstünden, „Ueber das Herkommen", Sp. 101 f.,
Fn. 40.
48
Beispiele: „Die Silbe Wan zeigt allemal einen Mangel an. Daher Wanboirt, uneheliche Geburt,
Wanhode Verwahrlosung, Wanmate, Wanwichte unrichtiges Maaß und Gewichte." „Ein Wei-
ner ist derjenige, der in adelichen Befängen oder Wrechten (Welle) wohnt. S. Mosers Einleit.
Territoriales Recht und Rechtswörterbuch 203
zur osnabr. Gesch. §. 5. N. b." „Auch mit dem Worte Meier wird besonders von auswärtigen
Rechtslehrern viel Unfug getrieben. Weil einige Glossatores gesagt haben: es bedeutete ur-
sprünglich einen Verwalter fremder Güter, will man es mit zum Beweise brauchen, daß die
Bauern ehemals kein Erbrecht an ihren Gütern gehabt haben. S. Rundens Verteidigung der
Hochstift=Hildesheimischen Landesverfassung §.85. Allein hier in Westfalen heißt Meier der
Besitzer eines Haupt= oder Redehofes, ein Schulze, und im weitläufigen Verstände jeder gro-
sse Bauer, er sey frey oder eigen oder hofhörig [...]".
49
Z.B. „Behandung" oder „Concurs-Proceß". Während die Ausführungen über die Behandung
einen von Moser entworfenen Vertrag referieren, orientiert sich der Beitrag über das Konkurs-
verfahren an der Osnabrücker Concursordnung vom 20.11.1777.
50
Der Artikel „Ordnung der Gläubiger" untergliedert sich z.B. in 54 Punkte und erstreckte sich
über 15 Seiten.
51
Unter dem Begriff „Eigenthum" stellte Klöntrup klar: „Ueberhaupt aber unterscheidet sich das
Osnabrücksche Leibeigenthum sehr merklich von andern ausserhalb Westfalen; und läßt sich
ζ. B. zwischen den westfälischen und dem mecklenburgischen, pommerschen etc. Leibeigen-
thum nicht die geringste Vergleichung anstellen. Mosers Einl. zur Osn. Gesch. §. 67. N. b."
204 Karl H. L. Welker
allein auf eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, sondern auch auf dessen -
von ihm unterstützte - Fortentwicklung.52
Klöntrup schrieb für die Rechtspraxis. Auch wenn er sein Alphabetisches
Handbuch einer Juristenfakultät widmete und die einschlägige Literatur zum Os-
nabrücker Recht umfassend berücksichtigte, hatte er fur die wissenschaftliche
Beschäftigung mit regionalen Rechtsfiguren keine guten Worte. Klöntrup forderte
eine Konzentration auf das territoriale Recht. Versuche, ein gemeines deutsches
Recht zu rekonstruieren und dieses dem römischen entgegenzusetzen, waren ihm
im Grunde fremd.
52
Letzte Klarheit über Klöntrups rechtspolitische Vorstellungen wird man schwerlich gewinnen.
Das große Alterswerk, das Klöntrup 1815 über die Theorie der westfälischen Eigenbehörigkeit
(im Umfang eines zwei Alphabet starken Oktavbandes) ankündigte, ist weder im Druck er-
schienen noch im Manuskript erhalten.
JÖRN GARBER (Halle)
I. Einleitung
1
Zur Wieland-Forschung vgl. Erhart, Walter, Entzweiung und Selbstaußdärung. Christoph
Martin Wielands ,Agathon'-Projekt. Tübingen 1991 (Studien zur deutschen Literatur 115),
S. 1-6. Zur allgemeinen Einführung in Wielands vgl. Schaefer, Klaus, Christoph Martin Wie-
land. Stuttgart/Weimar 1996 (Sammlung Metzler 295); Jergensen, Sven-Aage (u.a.), Chri-
stoph Martin Wieland. Epoche - Werk - Wirkung. München 1994.
2
Dieser Entwicklung vorausgreifend hat Wolfram Buddecke Wieland aus den Klassikbezügen
weitgehend herausgelöst und sein Werk in die Geschichte der deutschen Leibniz-Wirkung ein-
gefügt. Vgl. ders., C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon. Göt-
tingen 1966. Eine gegenläufige Interpretation entfaltet Manger, Klaus, Klassizismus und Auf-
klärung. Das Beispiel des späten Wieland. Frankfurt/M. 1991.
3
Vgl. hierzu Kondylis, Panajotis, Die Außlärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus.
Stuttgart 1981, S. 21 Off. (Kritik des Intellektualismus bei gleichzeitiger Aufwertung der Mate-
rie). Es entsteht eine .Philosophie des Lebens', die zuerst in Frankreich und sodann in
Deutschland ab 1750 entfaltet wird. Empirismus und Skeptizismus sind zwei Aspekte der Hi-
storisierung des Aufklärungsdenkens. Vgl. Völkel, Markus,,Pyrrhonismus historicus ' und,fi-
des histórica '. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichts-
punkt der historischen Skepsis. Frankfurt a.M./Bem/New York 1987 (Europäische Hochschul-
schriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 313).
206 Jörn Garber
Wirkliche im Genus des Möglichen darzubieten und dabei die ,Idee' im Chaos des
Wirklichen auszudrücken, hat den Autor Wieland geradezu magisch angezogen.
Seine Belesenheit in der Philosophie der Antike und der Moderne und seine Be-
herrschung von deren Terminologien veranlaßt ihn zu einem Spiel zwischen den
Fronten stabiler Begriffsordnungen. Die Unbestimmtheit der Begriffe bildet das
Chaos der Wirklichkeit ab. Wieland nimmt Exkurse zur Neubestimmung einge-
schliffener Begriffe vor, um eine poetische Spieltheorie zwischen Fiktion, Begriff
und Wirklichkeit sprachlich zu etablieren. Diese Strategie, Idee und Faktum erzäh-
lerisch in Hypothesenform zu explizieren, entwertet die philosophische Form be-
grifflicher Ableitung zugunsten einer standortgeprägten Polyperspektivität des Au-
tors. Wieland opponiert gegen eine Ableitung des Ganzen aus einer geordneten
Mannigfaltigkeit, die der ,Idee des Ganzen' unterstellt wird. Er kopiert den antiken
Monismus von Lehre und Leben, um diesen gegen die moderne Spaltung von Idee
und Faktum kritisch in Stellung zu bringen. Zu diesem Zweck wird die Antike
gleichsam zum Ort und zur Zeit der Moderne stilisiert. Die spätrepublikanische
Krise Roms erscheint als Präfiguration der Krise der Moderne. Die Freigabe der in-
neren Bezüglichkeiten der Geschichte, ihrer Epochen, ihrer Probleme, ihrer Perso-
nen ist ein Teil der Zurückweisungsstrategie der Allmachtsformen genereller Er-
klärungsmöglichkeiten des Tatsächlichen und des Möglichen. Sprache, Begriff,
Satz und Tatsache folgen nicht umstandslos einer einheitlichen Grammatik. Diese
Krise der sprachlichen Bezeichnungsformen verdoppelt die Krise des sprachlich
Bezeichneten. Im Sinne Wielands hatte Georg Forster 1793 davon gesprochen, daß
in seiner revolutionären Gegenwart die Teleologie des Wirklichen zerbrochen sei,
so daß man das Neue nicht länger auf das Alte (Geschichte, Erfahrung) beziehen
könne.4 Wieland beantwortet diese Öffnung der Geschichte mit einer Öffnung der
Darstellungsformen, welche die Fiktion als Wirklichkeit und die Wirklichkeit als
Fiktion erscheinen läßt. Die Kontinuitätslosigkeit der Geschichte spiegelt sich in
ihren Überlieferungsprozessen, der Erzählprozeß intermittiert zwischen Fiktion
und Faktum.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen von Wielands Goldnem Spiegel entsteht in Göt-
tingen eine theologische Hermeneutik, die die Textauslegung, insbesondere des
4
Vgl. hierzu Garber, Jörn, Die Naturalisierung der Geschichte. Paris als .Hauptstadt der
Menschheit' im Spiegel deutscher Revolutionsberichte, in: ders. (Hg.), 1789 - Deutsche Er-
fahrungen mit einer fremden Revolution. Kassel 1989, S. 65-90, insb. S. 80.
Wielands kulturalistische Kritik 207
Alten Testaments, revolutioniert. 5 Höhepunkt dieser unter dem Einfluß des Göttin-
ger Altphilologen Heyne stehenden Bibelexegese ist die 1775 abgeschlossene
Urgeschichte von Johann Gottfried Eichhorn: 6 Texte sind Dokumente, die die
Bedingungen ihrer Entstehung, also die Zeit und den Raum ihrer jeweiligen kultu-
rellen Umgebung, abbilden. Bereits der hallesche Theologe Semler hatte die Hei-
lige Schrift mit Methoden untersucht, die zunächst in der Analyse antiker Texte
erprobt worden waren. 7 Die Bibel gerät in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
in das Interpretationsfeld philologischer Methoden, denen Novalis 1799 bescheini-
gen wird, sie seien der Kern einer Säkularisierungsbewegung, die in der Französi-
schen Revolution ihren gesellschaftlichen Ausdruck erlange.8 Mit Hilfe von
Sprach- und Sachkritik lassen sich dogmatische und mythische Vorurteile auflö-
sen. Wieland und Eichhorn kritisieren jegliche „dogmatische Brillen", indem sie
die Berücksichtigung der „localen und temporellen" Strukturen des „Geistes der
Zeiten" 9 einklagen. Die historische Semantik von Texten wird zunächst durch
Sprachkritik bestimmt. Sprachkritik und die sie übergreifende Realkritik verweisen
auf differente Kulturerfahrungen der jeweiligen Autoren.
Im Rahmen seiner biblischen und orientalistischen Forschungen hatte Johann
Gottfried Eichhorn die Theorie der Theopneustie, welche die Reinheit und die Ein-
heitlichkeit des biblischen Textes gleichsam garantieren sollte, nachhaltig in Frage
gestellt. Texte sind Dokumente, die auf den Raum und auf die Zeit ihrer Entste-
hung zurückverweisen. Sie transportieren keine überzeitliche Wahrheit, sie sind
nicht inspiriertes Wort, sondern Kulturdenkmäler der Epoche ihrer Entstehung. Die
Bibel wird so zum Dokument der hebräischen Kultur, die durch sprachhistorische
Analyse von dem Philologen zu entziffern ist. Im Zentrum steht die kritische Sich-
5
Vgl. hierzu das Kapitel „Zwischen Sagen und Wahrheit: Mythologie und Hermeneutik", in:
Marino, Luigi, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770-1820. Göttingen 1995 (Göttinger
Universitätsschriften A 10), S. 267-299. D'Alessandro, Giuseppe, Die historische Hermeneu-
tik Johann Gottfried Eichhorns, in: Beetz, Manfred/Cacciatore, Giuseppe (Hg.), Hermeneutik
im Zeitalter der Aufklärung. Köln (u.a.) 2000 (Collegium Hermeneuticum 3), S. 131-153.
Vgl. allgemein zur Entwicklung der Hermeneutik im 18. Jahrhundert: Bühler, Axel (Hg.), Un-
zeitgemäße Hermeneutik: Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frank-
furt/M. 1994.
6
Eichhorn, Johann Gottfried, Urgeschichte. Ein Versuch, 1er und 2er Theil, in: ders., Reperto-
rium für Biblische und Morgenländische Litteratur IV. Theil. Leipzig 1779, S. 129-256. Vgl.
zu Eichhorn: Marino, Praeceptores Germaniae, (wie Anm. 5), S. 288-299; sowie ders., Der
.Geist der Auslegung'. Aspekte der Göttinger Hermeneutik (am Beispiel Eichhorns), in: Auf-
klärung 8 (1994), S. 71-89; ferner: Zobel, Hans-Jürgen, Artikel .Eichhorn, Johann Gottfried
(1752-1827)', in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 9. Berlin/New York 1982, S. 369-371;
Sehmsdorf, Eberhard, Die Prophetenauslegung bei J. G. Eichhorn. Göttingen 1971.
7
Vgl. dazu allgemein: Verra, Valerio, Mito, rivelazione e filosofia in J. G. Herder e nel suo
tempo. Milano 1966.
8
Novalis formuliert diese methodisch revolutionierende Wirkung des Philologismus im Rahmen
seiner Aufklärungskritik, wie sie in Anlehnung an Schleiermacher in ,Die Christenheit oder
Europa' entfaltet wird.
9
Eichhorn, Johann Gottfried, Einleitung in das Alte Testament. 3 Theile. Leipzig 1780-1783,
3. Theil, S. 281.
208 Jörn Garber
10
Ebd., S. 281. Zitiert nach D'Alessandro, Hermeneutik, (wie Anm. 5), S. 135.
11
Vgl. Eichhorn, Johann Gottfried, Einleitung in das Alte Testament. 1. Theil. Leipzig 3 1803,
S. 44: „Je weiter wir in der Zeit der Vorwelt zurück gehen, desto geringer finden wir die
Kenntniß der Menschen von der Natur der Dinge, und den Ursachen ihrer Veränderungen, ih-
rer Zerstörung, Erneuerung und Wiederkunft. Es kostete Jahrtausende bis die Menschheit zu
der Einsicht kam, daß alle Veränderungen, wie Glieder einer langen Kette, an einander hän-
gen, und bis sie den Begriff von ewig unveränderlichen Gesetzen, nach welchen alles in der
Welt bewirkt werde, fassen konnte. Sie leitete vielmehr alles von der Dazwischenkunft eines
unsichtbaren, in jedem sich verändernden Dinge innewohnenden, mächtigen Wesens her; und
beseelte die ganze Natur mit Geistern, Dämonen, Gottheiten, oder wie jeder Völkerstamm
sonst noch diese unsichtbaren Wesen nennen konnte und mochte." Zitiert nach D'Alessandro,
Hermeneutik, (wie Anm. 5), S. 136.
Wielands kulturalistische Kritik 209
deutung unter das Verdikt allegorischen Denkens zu stellen, das zu übersetzen ist
in eine ausschließlich vernunftkonforme Lesart ihrer Aussageformen.
Die Hauptlast der Exegese biblischer Texte übernimmt die vergleichende
Sprachforschimg, die die ,Ideen' der jeweiligen Kulturepoche aufweist. Diese sind
ihrerseits „Urkunden fur die Geschichte der menschlichen Entwickelung".12 Die
Kritik entwirft „Gemähide ihrer Cultur und Aufklärung", die in ihrer Gänze „Bey-
träge zur Geschichte des gesammten Menschengeschlechts"13 sind. Damit wird die
Bibel z.B. eingeordnet in die Bewußtseinslagen des „Ostens" sowie der „Kindheit
der Menschheit". Zweifellos wurde Eichhorn beeinflußt von Herders Geist der
Hebräischen Poesie, er löst mit Hilfe des mythodologischen Verfahrens von Heyne
aber den Geist der Hebräer aus Herders Poesiekonzeption heraus und transformiert
diese in eine Zeitgeisthypothese. Die Formen der Menschheitsgeschichte und die
ihnen korrespondierenden Ideen sind immédiat zu sich selbst und nicht mediati-
sierbar durch eine ihnen vermeintlich zugrundeliegende Teleologie des mensch-
heitlichen Bewußtseinsfortschritts. Gleichwohl ist die philosophisch-philologische
Kritik erst im Zeitalter der Aufklärung dazu befähigt, den jeweiligen historischen
Bewußtseinsbestand nach Maßgabe von Ort, Zeit und Denkungsart zu bestimmen.
Der ,Genius der Zeiten' unterscheidet sich von den Ideen des aufgeklärten Zeital-
ters. Aber nur die Aufklärung vermag die Individualität dieser Einzelepochen des
Geistes zu erkennen, sei es in ihrer Singularität, sei es im Bezugsfeld des Makrosy-
stems der Menschheitsgeschichte. Jedes Zeitalter objektiviert sich in seiner Kultur,
d.h. in einer jeweils eigenen Sprach- und Stilform, in seinen geschmacklichen
Manifestationen, in seinen Symbolen, in der Akzeptanz bzw. Bestimmung von
Wahrheit, in der Gottesvorstellung, in Kulten, Zeremonien etc. Erst diese kulturelle
Kontextbestimmtheit von Texten erlaubt das Verständnis von deren Intertextuali-
tät. Deren Deutung übernimmt der Historiker, der nunmehr den Philosophen mit
dessen zeit- und ortsresistenten Wahrheitsbestimmungen ablöst. Gerade die Be-
stimmung des,Fremden' früherer Kulturstufen ist für den aufgeklärten Kritiker der
Gegenwart der Nachweis seiner hermeneutischen Kompetenz. Die kulturhistori-
sche Hermeneutik Eichhorns bedient sich einer neuen Form des Philologismus, sie
orientiert sich zugleich an dem Paradigma historischen Fortschritts in der zeit-
genössischen Geschichtswissenschaft, sie berücksichtigt die konkurrierenden Deu-
tungsmethoden der dogmatischen, allegorischen und moralischen Interpretations-
methoden, obwohl sie diese ersetzen will. Die in der Aufklärungsliteratur immer
wieder aufgerufene Verbindung zwischen Bibel und Vernunft soll ersetzt werden
durch eine solche zwischen Bibel und Geschichte.
12
Ebd., S. 137.
13
Ebd.
210 Jörn Garber
Den Sinn einer alten philosophischen Schrift erörtert man nach Philologie, und logischem Zu-
sammenhang, nach Kritik und Geschichte, unbekümmert, ob auch das Resultat einer solchen
Behandlung die Läuterung der Vernunft aushalte, weil man nie voraussetzt, daß ein Philosoph
in allen Stücken, wahr, richtig und consequent gelehrt habe. 15
Es gilt, die ,Zeitideen' zu ermitteln bzw. durch eine kritische Hermeneutik allererst
herzustellen, diese kann nach Eichhorn durchaus zwischen Offenbarung und Ver-
nunft, Theologie und Philosophie vermitteln. Die Historisierung des Geistes und
dessen Umdeutung in kulturelle Manifestationen legt eine Vielzahl endogener
Bewußtseinsformen frei, die nicht nach dem Kriterium der absoluten Wahrheit,
sondern gemäß der jeweiligen Zeitgeistform zu deuten sind. Die Erschließung
historischer Sprachformen obliegt einer historisch arbeitenden Hermeneutik, die
sich an der Vielheit der Geistesepochen zu orientieren hat. Das Christentum ist
keine abstrakte Morallehre mit konkretem Anwendungsbezug, sondern lediglich
Urkunde einer bestimmten Kultur. Die Historizität von Textzeugnissen der Ver-
gangenheit ist demgemäß zu deuten im Kontext ihrer eigenen Maßstäbe, die zuvor
sprach- und textkritisch zu bestimmen sind. Für Eichhorn ist die Kantische Religi-
onskritik ein Akt der argumentativen Barbarei, weil sie die Textgenese der Heili-
gen Schrift unterschlägt, wenn sie diese ausschließlich unter die Postulate der
Moral stellt. .Aufklärung' ist vielmehr die Einsicht in die Verschiedenheit der
Kulturen, in den Zusammenhang je eigenspezifischer Denk- und Handlungszu-
sammenhänge, die sich nicht einem allgemeinen Normensystem fügen. Kurz: Die
historisch argumentierende Hermeneutik ist nach Eichhorn das Verfahren der
, wahren Aufklärung '.
14
Vgl. D'Alessandro, Giuseppe, Allegoria e verità nello Streit sull'interpretazione kantiana della
Sacre Scritture, in: Pirillo, Nestore (Hg.), Kant e la filosofia della religione. Brescia 1996,
S. 543-561.
15
Zitiert nach D'Alessandro, Hermeneutik, (wie Anm. 5), S. 150.
Wielands kulturalistische Kritik 211
16
Siehe dazu Meuthen, Erich, Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert.
Freiburg 1994.
212 Jörn Garber
Sätze dargestellt ordnete, daß sich die folgenden aus den vorhergehenden gänzlich verstehen
ließen, und die Wahrheit der letzteren aus den vorausgesetzten erhellen mußte. 17
Gegen diese ,Vernunftlehre' Wolffs polemisieren die Vertreter der jüngeren, .hi-
storischen' Aufklärung. 1775 hatte der Historiker Köster die Wissenschaft der
Geschichte als „Einsicht in die Natur des Menschen, seiner Neigungen, Leiden-
schaften, Sitten und Gesetze" bezeichnet.18 Schlözer, Schulhaupt der Göttinger
Aufklärungshistorie, hatte behauptet, daß die Historie erst zur Wissenschaft würde,
wenn sie vom Aggregat zum System fortschritte, d.h. „von der Verknüpfung der
Erkenntniß, die ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist".19 Er behauptet,
„daß nur deijenige Schriftsteller den Namen des pragmatischen Historikers ver-
dient, der das ganze System von Ursachen und Wirkungen, der Begebenheiten aufs
möglichste entwickelt darstellt".20 Ist der pragmatische Geschichtsschreiber einer
Wissensform verpflichtet, deren Wahrheitsanspruch sich mit demjenigen deckt,
den Wolff für seine naturrechtliche Vorgehensweise erhebt? Geschichte, die sich
zu einem „System von Begebenheiten" zusammenfügt, expliziere die „Absichten
und Triebfedern der handelnden Personen".21 Erzählt werde ein „System, in wel-
chem Welt und Menschheit eine Einheit" sind, so Schlözer (in Anlehnung an Gat-
terer), der von einem „System von Begebenheiten" gesprochen hatte.22 Erst durch
das Verknüpfen von Tatsachen nach Maßgabe der Kausalität entsteht dieses „Sy-
stem der Begebenheiten". Narrative Darstellung und pragmatisches .System' sollen
kongruent sein. Johann Jakob Engel erweitert diese Definition einer pragmatischen
Geschichtsschreibung zu einer ,,ganze[n] und zusammenhängende[n] Reihe inne-
rer und äußerer Zustände, welche die Ursachen eines Geschehens enthalten".23 Der
17
Wolff, Christian, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und
alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet
werden. Auf Verlangen aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt. Halle 1754, Vorrede
(O.S.).
18
Köster, Heinrich Martin Gottfried, Über die Philosophie der Historie. Gießen 1775, S. 13.
19
Dominikus, Jakob, Über die Weltgeschichte und ihr Prinzip. Erfurt 1790 (O.S.).
20
Historisches Journal 1775, Teil 5, S. 165; zitiert nach Pandel, Hans-Jürgen, Historik und
Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen
Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765-1830). Stuttgart-
Bad Cannstatt 1990 (Fundamenta histórica 2), S. 51.
21
Gatterer, Johann Christoph, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusam-
menfügung der Erzählung, in: Allgemeine historische Bibliothek, Bd. 1 (1767), S. 15-98, hier
S. 96. Vgl. zu Gatterer: Reill, Peter Hanns, History and Hermeneutics in the Aufklärung: The
Thought of Johann Christoph Gatterer, in: The Journal of Modern History 45 (1973), S. 2 4 -
51. Vgl. zur Geschichtsauffassung der deutschen Spätaufklärung die umfassende Quellen-
sammlung von Blanke, Horst Walter/Fleischer, Dirk (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklä-
rungshistorie. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 (Fundamenta histórica 1, 1-2).
22
Vgl. Gatterer, Johann Christoph, Von der Evidenz der Geschichtskunde, Vorrede von dems.
zu: Die allgemeine Welthistorie die in England von einer Gesellschaft von Gelehrten
ausgefertigt worden, hg. von D. Friedrich Eberhard Boysen. 1. Bd. Halle 1767, S. 1 - 3 8 , hier
S.U.
23
Engel, Johann Jakob, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, hg. und mit einem Nachwort
versehen von Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1964, S. 186. Zum Verhältnis von Pragmatismus
Wielands kulturalistische Kritik 213
Kausalnexus soll nicht, wie Wolff voraussetzt, definier- und ableitbar sein, son-
dern in der Abfolge von Begebenheiten dargestellt werden. Daß dieses Programm
einer Historiographie, die Kausalitätsbeziehungen nachweist, eine Wissen-
schaftsutopie sei, hat die zeitgleiche Dichtungstheorie frühzeitig behauptet und die
pragmatische Historie kritisch auf ihre Voraussetzungen hin befragt.
Christoph Martin Wieland fragt, in welchem Verhältnis Faktum und Hypothese
zueinander stehen, und er kommt zu dem Ergebnis, daß die meisten Historiker
Faktum und Hypothese gleichsetzen, weil sie zwischen beiden nicht unterscheiden
können. Rousseau, fur Wieland Paradigma des philosophischen Geschichtsschrei-
bers, habe in seinen beiden Discours zunächst Hypothesen über die Natur des
Menschen entwickelt, dann aber eine Darstellung von der Geschichte des Men-
schen bzw. der Menschheit vorgelegt, die zu lesen sei wie eine Geschichtsdar-
stellung, d.h. die Erzählung von Begebenheiten des Entwicklungsganges der
Menschheit. Erzählen, was war, und begründen, warum es geschah - diese beiden
Ebenen des Narrativen habe man deutlich zu trennen. Wieland ist sich mit der
jüngeren Aufklärung darüber einig, daß die Natur des Menschen nicht aus voll-
ständigen Begriffen, wie Wolff dies in seinem Naturrecht behauptet, abzuleiten
oder zu erkennen sei, vielmehr müsse man die Fakten berücksichtigen. Die Frage
laute, wie man diese Fakten verknüpfe bzw. ob es eine Historie gebe, die gleich-
sam in einem Erzähldurchgang Faktum und Begründung des Zusammenhangs von
Begebenheiten ,erzählen' könne. Eben dies versucht Wieland in seinem Erzähl-
werk zu leisten. Er setzt Handlung und Reflexion in ein prekäres Verhältnis zuein-
ander, so daß die Erzählung (fiktiv) jene Kette von Begebenheiten erzeugt, die
dann im Hinblick auf ihre Ursachen und Wirkungen reflektiert werden müssen.
Die zunächst chaotisch erscheinende Vielfalt des Historischen, also deren Kon-
tingenzüberschuß, erzwingt eine polyperspektivische Darstellungsweise, die den
Leser nicht darüber hinwegtäuschen soll, daß jede Erzählung von Begebenheiten
eine Konstruktion des Autors ist, nicht aber ein kohärentes System von Aussagen
oder eine gleichsam vorgegebene Einheit der ,res gestae'. Wieland kopiert nach
seiner empirischen Wende (ab 1757) das Verfahren der Naturdeutung der epiku-
reisch-lukrezischen Atomtheorie, um Kultur zu interpretieren.24
Ursprünglich befinden sich die Dinge in einem Chaoszustand und generieren
erst nach einem langen, von Zufallen bestimmten Prozeß einen Zustand gesetzes-
und Erzählen vgl. Fulda, Daniel, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deut-
schen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin/New York 1996 (European Cultures. Studies
in Literature and the Arts 7), S. 77-100.
24
Vgl. hierzu Sallmann, Klaus, Studien zum philosophischen Naturbegriff der Römer mit beson-
derer Berücksichtigung des Lukrez, in: Archiv für Begriffsgeschichte 7 (1962), S. 140-284.
Wielands Stellung zu Lukrez beschreibt Hacker, Margit, Anthropologische und kosmologische
Ordnungsutopien·. Christoph Martin Wielands ,Natur der Dinge'. Würzburg 1989 (Würzbur-
ger Beiträge zur deutschen Philologie 3). Vgl. auch Kimmich, Dorothee, Epikureische Aufklä-
rungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993, S. 180-210.
214 Jörn Garber
schwachen Geistes in die Wirklichkeit der Geschöpfe einmischen, und ihm, sozusagen, nicht
mehr Begriffe, als wir selbst haben, einzuräumen? [...] man baut die Lehrbegriffe auf unge-
wisse Begebenheiten, die man niemals geprüft hat, und die zu nichts dienen, als daß sie ein
Zeugnis geben, wie sehr die Menschen geneigt sind, zwischen den allerunähnlichsten Dingen
eine Ähnlichkeit; wo nichts als Verschiedenheit ist, eine regelmäßige Gleichheit; und in Din-
gen, die sie nur undeutlich einsehen, eine Ordnung zu suchen. 25
Buffon fordert ein neues Verfahren von Erkenntnis mittels Erfahrung, Beschrei-
bung, Vergleich, Typologie. Jeder lebendige Gegenstandsbereich muß in seinem
Milieu, jede Kultur in ihrem örtlichen und geschichtsbezogenen Kontext analysiert
werden, metaphysische Annahmen sind durch Erfahrung zu ersetzen, Begriffssy-
steme durch eine dynamische Naturgeschichte abzulösen. Klassifikationen können
nicht durch reine Verstandesoperationen, nicht durch euklidische Demonstratio-
nen, nicht durch zureichende Gründe, sondern nur durch Beobachtung und deren
systematische Verarbeitung gewonnen werden. Rousseau, Ferguson oder Georg
Forster, um nur drei Spätaufklärer zu nennen, haben ihre Systemkritik in Anschluß
an Buffon formuliert, um erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse durch ,un-
philosophisches Philosophieren' zu verallgemeinern.
Im Namen der Ordnung der Natur wird die Schein-Ordnung des Verstandes
kritisiert. Georg Forster hat die Buffonsche Systemkritik an der künstlichen Ord-
nung von Begriffen und deren Widerspruch zur Ordnung der Natur plastisch so
zusammengefaßt:
Mit einem Worte: die Ordnung der Natur folgt unseren (begrifflichen) Einteilungen nicht, und
sobald man ihr dieselben aufdringen will, verfällt man in Ungereimtheiten. Ein jedes System
soll Leitfaden für das Gedächtnis sein, indem es Abschnitte angibt, welche die Natur zu ma-
chen scheint, daß man aber alle gleichnamige Abschnitte, wie Geschlecht, Varietät überall in
gleichen Entfernungen voneinander stehen, kann und darf niemand behaupten. 26
25
Buffon, Georges Louis Ledere Comte de, Allgemeine Historie der Natur [...]. Mit einer Vor-
rede [von] Herrn Doctor Albrecht von Haller. Erster Theil. Hamburg und Leipzig 1750, S. 7.
Zur Wirkung Buffons in Deutschland vgl. Dougherty, Frank W. P., Buffons Bedeutung für die
Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts, in: Mann, Gunter/Dumont, Franz (Hg.), Die Natur des Menschen. Probleme der phy-
sischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850). Stuttgart/New York 1990, S. 221-279.
26
Vgl. Forster, Georg, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der Akademie
der Wissenschaften der DDR, Institut fur Literaturgeschichte. Bd. Iff. Berlin 1958ff., hier
Bd. 8, S. 146.
27
Vgl. Wieland, Christoph Martin, Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Ver-
standes und Herzens. 2 Theile. Leipzig 1770.
216 Jörn Garber
System gerichtet" sind, untersucht Wieland das Verhältnis von .ordre naturel' und
,ordre positif und formuliert mit einer Spitze gegen Rousseau: „Die Natur selbst
ist es, welche durch die Kunst ihr Geschafft in uns fortsetzt". 28 Wieland vertritt in
seiner Geschichtstheorie wechselnde Prämissen. Er verwendet Zyklustheorien, er
kritisiert den Kulturstatus der Menschheit vom Blickpunkt der Naturutopie und die
Simplizität des .status naturalis' vom Standpunkt der Zivilisation. Dieser Wechsel
der Standpunkte verweist zurück auf seine Auffassung, daß der Historiker, der
Fakten zu Begebenheiten zusammenschließt, zugleich Hypothesen über Geschichte
formuliert:
Facta sind alles, was man daraus machen will [...]; aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie
etwas anders; und in zehn Fällen gegen Einen ist das vermeinte Factum, worauf man mit gro-
ßer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grunde eine bloße Hypothese. 29
Ändert man die Umstände, dann verschiebt sich die gesamte Architektur vermeint-
lich wohl fundierter Tatsachen. Wieland schwankt in seiner Darstellung zwischen
philosophischen Hypothesen, empirischen Kausalitätsannahmen und anthropologi-
schen Grundsätzen, die Undefiniert benutzt werden. 30 Die Unbestimmtheit des
Menschen erfordert eine Variabilität der Erklärungsmuster für die Menschheitsge-
schichte. So wie Rousseau den Naturzustand des Menschen als einen Zustand, der
niemals existiert hat und auch niemals existieren wird, und damit als Hypothese
bezeichnet, 31 so benutzt Wieland die anthropologische These von der Unbestimmt-
heit der menschlichen Natur, um Geschichte aus den standortgebundenen Perspek-
tiven des Erzählers zu fixieren. Wieland glaubt allerdings nicht, daß die .verlorene
Natur' des vorzivilisatorischen Menschen zu entziffern sei, der Interpret habe sich
vielmehr mit den unUberschaubaren Widersprüchen der Zivilisation zu beschäfti-
gen. Er weicht ins Genre der naturalen Raumutopie aus, um im Bilde eines Ideals
darstellen zu können, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Mensch
ohne Selbstentzweiung in der ihn umgebenden Natur leben kann. Wieland bezeich-
net einen imaginären Raum, um den Leser mit der Vorstellung der Abwesenheit
28
Zitiert nach Erhart, Walter, ,Was nützen schielende Wahrheiten?' Rousseau, Wieland und die
Hermeneutik des Fremden, in: Jaumann, Herbert (Hg.), Rousseau in Deutschland. Neue Bei-
träge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin/New York 1995, S. 47-78, hier S. 49. Die fol-
genden Ausführungen schließen sich unmittelbar an die vorzügliche Analyse Erharts an.
29
Ebd., S. 53.
30
Vgl. dazu ausführlicher: ebd., S. 55.
31
Vgl. Figal, Günter, Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustan-
des in Rousseaus .Zweitem Discours', in: Neue Hefte für Philosophie 29 (1989), S. 24-38;
Spaemann, Robert, Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jahrhunderts, in: Archiv fur Be-
griffsgeschichte 11 (1967), S. 59-74; Seel, Martin, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff
der ästhetischen Rationalität. Frankfurt/M. 1997. Zu den französischen Vorbildern Wielands
vgl. Dirscherl, Klaus, Der Roman der Philosophen. Diderot, Rousseau, Voltaire. Tübingen
1985; Galle, Roland, Diderot oder die Dialogisierung der Aufklärung, in: Stackelberg, Jürgen
von (Hg.), Europäische Aufklärung III. Wiesbaden 1980 (Neues Handbuch der Literaturwis-
senschaft 13), S. 209-248.
Wielands kulturalistische Kritik 217
Wieland publiziert die erste Auflage seines Goldnen Spiegel 1772, also im Kontext
der Politisierung der deutschen Spätaufklärung, er legt eine veränderte Fassung
1794 vor, im Scheitelpunkt der radikalisierten Revolutionsentwicklung Frank-
reichs.33 Gleichwohl: Sein Werk ist nicht nur ein indirekter Reflex auf politische
Kontexte, es ist vielmehr eine kulturgeschichtlich gedeutete Anthropologie im Ge-
nus eines Fürstenspiegels. Alle Versuche, Wieland ein präzise abgestecktes politi-
sches Konzept zuzuordnen, wie es insbesondere die Forschung der 70er Jahre
32
Vgl. Wieland, Beyträge, (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 185.
33
Die beste Textausgabe ist von Herbert Jaumann ediert worden: Wieland, Christoph Martin,
Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. München 1979. Unsere Interpretation
folgt zum Teil dem ausgezeichneten Nachwort Jaumanns (ebd., S. 859-889). Alle Zitate erfol-
gen nach dieser Ausgabe. Zur Erzähltheorie Wielands vgl. den grundlegenden Aufsatz von
Hohendahl, Uwe Peter, Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18. Jahrhundert, in:
Kreuzer, Helmut (Hg.), Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte: literatur-, kunst-
und musikwissenschaftliche Studien. Stuttgart 1969, S. 79-114; Jaumann, Herbert, Politische
Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politi-
schen, in: Modern Language Notes 99 (1984), S. 461-479; Müller, Jan Dirk, Wielands späte
Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit. München 1971;
Budde, Bernhard, Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa. Tübingen 2000 (Stu-
dien zur deutschen Literatur 155); Oettinger, Klaus, Phantasie und Erfahrung. Studien zur Er-
zählpoetik Christoph Martin Wielands. München 1970; Cölln, Jan, Philologie und Roman. Zu
Wielands erzählerischer Rekonstruktion griechischer Antike im .Aristipp'. Göttingen 1998
(Palaestra 303); Mielke, Andreas, Wieland contra Swift und Rousseau - und Wezel, in: Collo-
quia Germanica 20 (1987), S. 15-37.
218 Jörn Garber
versucht hatte, mußten an der Vielschichtigkeit der von Wieland ironisch insze-
nierten Standpunkte scheitern.34 Das bedeutet nicht, daß dieser Autor politisch
standortlos ist. Vielmehr relativieren sich seine politischen Aussagen im Medium
einer anthropologisch instrumentierten Kulturdiagnose. Man muß seine Texte im
Kontext der synchron formulierten Menschheits- und Kulturgeschichten lesen, wie
sie in England, Schottland, Frankreich, der Schweiz und dann seit 1770 auch in
Deutschland massenweise publiziert wurden, um Wielands Umgang mit Politik,
Recht und Geschichte verstehen zu können.35 Wieland integriert Recht und Politik
in kulturphilosophische Konzepte der Antike, er variiert ironisch alle denkbaren
Deutungsparadigmata, und läßt trotzdem erkennen, daß für ihn die Gegenwart
reform-, aber nicht revolutionsbedürftig ist. Umgekehrt verweigert er sich einer
absoluten Moralisierung des Politischen und reflektiert kritisch die Versuche des
17. und 18. Jahrhunderts, aus axiomatischen Prämissen Menschenrechtsentwürfe
und Konstitutionstheorien mit normativer Geltung abzuleiten. Er richtet seinen
politikinteressierten Blick auf die Geschichte, die er hypothetisch darstellt, und
läßt den Leser in einen Spiegel blicken, in dem dieser unterschiedliche Optionen
für die Gegenwartsdeutung erkennen soll.
Wielands Goldner Spiegel will den künftigen Herrscher (und den Leser) über
das Verhältnis von Moral und Politik belehren. Er erzählt den Aufstieg und den
Verfall des indischen Reichs Scheschian, das zunächst den Feudalismus durch die
Einrichtung einer autokratischen Monarchie beseitigte, sich im Verlauf seiner Ge-
schichte zunehmend ,polizierte', sodann in einen Zustand kultureller Verfeinerung
überging, die Verwilderung der Sitten bei Hofe und die dadurch hervorgerufene
Verarmung der Bevölkerung erlebte, um endlich die Machtübernahme durch eine
zerstrittene Priesterkaste zu erleiden. Dieser Verfallsprozeß mündet in eine Totalre-
volution ein, die durch einen Herrscher beendet wird, der dynastisch legitimiert ist,
der in einem naturutopischen Raum zur Tugend erzogen wurde und den revoluti-
onsgeschwächten Staat grundlegend reformiert. Diesem Idealherrscher Tifan fol-
gen 22 Könige. Im Verlauf der Geschichte wird die Idealmonarchie allmählich
durch einen erneuten Korruptions- und Verfallsprozeß zerstört, der mit der Auflö-
sung und Auslöschimg dieses Reiches endet. Wieland schildert einen historischen
Langzeitprozeß, um den Leser in Fom einer pragmatischen Geschichtsschreibung
über den Zusammenhang von Politik- und Zivilisationsgenese zu belehren.
Die Kontingenz der Geschichte findet ihr Pendant in der Brüchigkeit der Form
der Geschichtsdarstellung.36 Es gibt kein zuverlässiges Quellenmaterial, sondern
34
Als Beispiel für eine verfehlte rechtstheoretische Festlegung Wielands vgl. Walter, Torsten,
Staat und Recht im Werk Christoph Martin Wielands. Wiesbaden 1999.
35
Vgl. Garber, Jörn, Von der Menschheitsgeschichte zur Kulturgeschichte. Zum geschichtstheo-
retischen Kulturbegriff der Spätaufklärung, in: Held, Jutta (Hg.), Kultur zwischen Bürgertum
und Volk. Berlin 1983 (Argument-Sonderband 103), S. 76-97.
36
Vgl. dazu: Bachmann-Medick, Doris, Die ästhetische Ordnung des Handelns: Moralphiloso-
phie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989; McNeely,
Wielands kulturalistische Kritik 219
lediglich Überlieferungsfragmente über einen Zeitraum von fast 2 000 Jahren. Jede
dieser Quellenschichten, die von einem indischen Originaltext, über einen chinesi-
schen, einen lateinischen bis zu einem deutschen Text reichen, ist bereits Kom-
mentar des Dargestellten, so daß die Gewinnung einer vorurteilsfreien Darstellung
des Geschichtsablaufs nur durch abwägende Quellenkritik erfolgen kann. Die
sprachlich unterschiedlichen Textvarianten, in denen die Geschichte Scheschians
dargestellt wird, repräsentieren kulturgeprägte Anschauungsformen, so daß der
Erzähler gleichsam die Einheit des Erzählten konstruktiv gegen sein Quellenmate-
rial durchsetzen muß, bevor er 1772 eine deutsche Fassung vorlegen kann.
Wielands Annahme, jedes erzählte Faktum sei bereits eine Hypothese, so daß
man zwischen Faktum und Hypothese nicht mehr unterscheiden könne, führt zu
einer narrativen Darstellungsform, die das Verhältnis von implizitem Erzähler und
Zuhörer dialogisch-sokratisch inszeniert: Der Erzähler, der Hofphilosoph Danisch-
mend, wird als Idealist, als Enthusiast dargestellt, der im Erzählen seinem Zuhörer,
dem Sultan Schach-Gebal, die Moral der Historie erläutert. Der Sultan als Adressat
dieser Erzählung verhält sich abweisend gegenüber solchen moralischen Appellati-
ven des Hofphilosophen. Er schläft ein, wenn dieser moralisiert, und er interve-
niert, wenn dieser im Zuge seiner Idealisierungen aus Geschichte ,Feenmärchen'
macht, er läßt den Philosophen ins Gefängnis werfen, als dieser dem Sultan den
Spiegel der Geschichte vorhält: Despoten und Wollüstlinge zerstören ihre Reiche.
Eine Geschichtsschreibung ohne diskursive Ergänzungen, so Wieland, bleibt
unbestimmt, denn sie ist interpretationsbedürftig. Der Geschichtsschreiber hat
diese Interpretation im Text selbst vorzunehmen, indem er die Exponenten unter-
schiedlicher wertbezogener Positionen zu Worte kommen läßt: zunächst den philo-
sophierenden Idealisten Danischmend, der Historie in Moral auflöst, sodann den
Machtpolitiker Schach-Gebal, der seine Legitimierung des Status quo als politi-
schen Realismus ausgibt.
Auf einer dritten Stufe erfolgt eine indirekte Lesersteuerung, indem der Autor
Wieland literarische Gattungsgrenzen bewußt überschreitet und dem Kenner signa-
lisiert, daß Historie eine besondere Form der Erkenntnistheorie ist, die nur durch
eine kunstvolle Narration zu verwirklichen ist. Nicht die Vollständigkeit der ver-
wendeten Begriffe, wie Christian Wolff sagen würde, sondern die Pluralität der
vom Autor inszenierten Standpunkte vermag die Kontingenz des Historischen
sichtbar zu machen. Wieland erzeugt durch ein polyperspektivisches Erzählverfah-
ren ein Bild von der Vielfalt der Geschichte. Das so entstehende .System der Bege-
benheiten', nicht aber ein System der Begriffe, so Wieland in seiner Kritik an den
James, Historical Relativism in Wieland's Concept of the Ideal State, in: Modern Language
Quarterly 22 (1961), S. 269-282; Thomé, Horst, Menschliche Natur und Allegorie sozialer
Verhältnisse. Zur politischen Funktion philosophischer Konzeptionen in Wielands .Geschichte
des Agathon' (1766/67), in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 205-
234.
220 Jörn Garber
Systemtheorien von Recht, Moral und Politik, vermag im Zwischenfeld von Zufall
und Strukturbildung Einsichten über die Kulturgenese des Menschen zu vermit-
teln. Da jeder Gegenstand des Erzählens kulturhistorisch vorpräpariert ist, ordnet
der Autor seine Fakten in Form von Hypothesen, die sich 'als Standpunkte des
Erzählers zu erkennen geben. Begriffliche Eindeutigkeit wird nicht angestrebt,
Ironie relativiert die Widersprüche des Dargestellten und der Darstellung.
Wieland geht überaus frei mit der Tradition der Menschheits- bzw. Kulturge-
schichte um, indem er durch eine Modernisierung antiken Wissens moderne An-
sätze wie z.B. Rousseaus Kulturtheorie einer Kritik unterzieht, ohne deren Aporien
auflösen zu können. Im Goldnen Spiegel überprüft Wieland die politischen Hand-
lungsmöglichkeiten von Regenten, indem er deren zivilisationsgeschichtliche Vor-
aussetzungen reflektiert und zu einer skeptischen Einschätzung der politischen und
rechtlichen Autonomie des Monarchen gelangt. Wieland formuliert in seinem Re-
gentenspiegel kein Natur- und Staatsrecht, sondern er spiegelt die Herrscherpflich-
ten im Kontext kulturhistorischer ,Lagen'. 37 Nach Wieland ist Vernunftrecht ein
idealisches System logisch geordneter Begriffe, das seinen Gegenstand, die Didak-
tik der Herrschaftskunst, verfehlt, weil es ausschließlich metahistorisch und nicht
praxisbezogen argumentiert.
Wieland erzählt die Geschichte des Reiches Scheschian. Er unterbricht diese Er-
zählung durch die Darstellung von zwei idealen Gemeinwesen (Naturutopien), an
die sich die Geschichte des reformierten Reiches Scheschian anschließt, die durch
den Tugendherrscher Tifan geprägt wird. Die Schnittstellen zwischen Geschichts-
erzählung und Utopiedarstellung sind sorgfaltig kalkuliert: Die erste Utopie der
„Kinder der Natur"38 wird in jenen Abschnitt der Geschichtsdarstellung eingefugt,
der die sinnlich-ästhetische Entwicklungsphase von Scheschian (Entgrenzung der
Bedürfnisse, Ausbildung des Luxus) bezeichnet. Der Kulturfortschritt schlägt um
in Moraldekadenz. In der Utopie der .Kinder der Natur' wird dieser Verfallsprozeß
durch eine Raumutopie stillgestellt. Wieland konfrontiert die Dekadenzgeschichte
des zivilisierten Menschen den sinnlichen Vermögensformen des natürlichen Men-
schen.
Die zweite Utopie39 bezeichnet einen Wendepunkt der Erzählung: Die Selbst-
zerstörung des Reiches durch eine Totalrevolution erzwingt eine Regeneration der
Gesellschaft von außen, diese wird durch den in der Naturutopie erzogenen König
Tifan durchgeführt. Zugleich konfrontiert Wieland zwei Ordnungen miteinander:
37
Wilson, Daniel W., Intellekt und Herrschaft. Wielands .Goldener Spiegel', Joseph II. und das
Ideal eines kritischen Mäzenats im aufgeklärten Absolutismus, in: Modern Language Notes 99
(1984), S. 479-502.
38
Vgl. Wieland, Goldner Spiegel, (wie Anm. 33), S. 44ff.
39
Diese Talutopie entfaltet Wieland ebd., S. 205ff.
Wielands kulturalistische Kritik 221
die ,Natur' der Gesellschaft und die Struktur der Zivilisation (des Staates), mit dem
Ergebnis, daß zwischen beiden strukturelle Unterschiede bestehen. Die Naturord-
nung läßt sich nicht in die Zivilisationsordnung einfügen. Die Differenz zwischen
Naturordnung und entwickelter Zivilisation ist nur aufhebbar, wenn ein .morali-
scher' Monarch den Zivilisationszustand politisch bestimmt.
Wieland stellt die Analyse des Zivilisationszustandes unter die Voraussetzung
einer negativen Anthropologie, nämlich der Unmoral und Unmäßigkeit des Men-
schen, während die utopischen Erzählungen auf eine positive Anthropologie bezo-
gen werden. Utopien, so Wieland, sollen den Leser „auf den Pfad der Natur zu-
rückführen": „Hier in der Natur, lebt der Mensch, frey, ruhig und angenehm", weil
er nur seinen (sympathetischen) Trieben folgt.40 Die Sinnlichkeit des utopischen
Menschen ermöglicht eine organisch-harmonische Gesellschaftsform. Unschuld,
Güte und Schönheit sind die Attribute der .Kinder der Natur'. Wieland behauptet,
daß der Mensch nur dann moralisch handeln kann, wenn er sich in einem äußeren
und inneren Zustand der Harmonie befindet. Der utopische Raum wird deswegen
als sinnlich erfahrbare Harmonie geschildert, als Raum der Schönheit. Die Mit-
glieder dieser Utopie folgen moralischen, sozialen und ästhetischen Trieben, sie
besitzen eine ,schöne Seele'.
Wieland fordert im Gegensatz zu Rousseau und im Einklang mit epikureischen
Traditionen, daß sittliche und gesellschaftliche Stabilität durchaus mit sinnlichem
Vergnügen, mit Luxus und Kunst (Schönheit) harmonieren kann, sofern diese die
,Unschuld' des Menschen nicht zerstören. Die Gesetzgebung der Naturutopie ist
identisch mit schöpfungsmäßig verbürgten Natoprinzipien. Arbeit, Vergnügen,
Ruhe, Liebe, Wohlwollen, Sympathie, das Gleichgewicht animalischer, altruisti-
scher und egoistischer Triebe ermöglichen eine vollkommene Gleichheit der Men-
schen. Die Konfliktlosigkeit dieser Gesellschaft resultiert aus deren äußerer Abge-
schlossenheit, aus einer produktiven Nato, aus dem „Überfluß des Lebensnotwen-
digen". Das Natoschöne, der schöne Mensch und die kosmische Harmonie wer-
den durch Kunstwerke ausgedrückt. Wieland behauptet im Einklang mit der Na-
turphilosophie seiner Zeit (insbesondere mit Buffon), daß nur die bereits durch
,Kunst' des Menschen bearbeitete N a t o schön sei, während die sich selbst über-
lassen N a t o automatisch in einen Verfalls- und Verwilderungsprozeß übergehe.
40
Vgl. zu dieser Naturutopiekonstruktion Wielands Baudach, Frank, Planeten der Unschuld -
Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des
17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (Hermaea N.F. 66), S. 567 bzw. S. 569, dort auch
die Nachweise der Zitate. Vgl. zur Utopiekonstruktion bei Wieland: Dietz, Martha Helen,
Wieland's changing views on Utopia as reflected in the role of the narrator in , Agathon'.
Diss. Stanford 1976; Fohrmann, Jürgen, Utopie, Reflexion, Erzählung: Wielands ,Goldener
Spiegel', in: Voßkamp, Wilhelm (Hg.), Utopie-Forschung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1985, Bd. 3,
S. 24—49, sowie ebd., S. 50-85: Mähl, Hans-Joachim, Die Republik des Diogenes. Utopische
Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands; Thomé, Horst, Utopische Diskurse. Thesen
zu Wielands ,Aristipp und einige seiner Zeitgenossen', in: Modern Language Notes 99 (1984),
S. 503-521.
222 Jörn Garber
Die Naturutopier sind ihrer Herkunft nach .Griechen': Wieland reproduziert in der
Psammis-Utopie das Winckelmannsche Griechenlandbild. Hier korrespondieren
„Denken" und „richtiges Empfinden" 41 miteinander.
Diese Utopie ist eine sekundäre Schöpfungsutopie, sie wird von einem Weisen
durch Gesetzgebung nach Naturprinzipien begründet, sie ist ein Naturkodex, der
verbunden wird mit einer Kunstphilosophie: Die Landschaft versinnbildlicht das
Schönheitsideal menschlicher Harmonie. Diese Naturutopie basiert auf einer Ver-
fassung, in der Sittenlehre und Gesetzesbestimmung gleichsetzt werden. Das an-
thropologisch .Angemessene', eine auf Schönheit und Sinnengenuß abzielende
Lebensart bei gleichzeitiger Arbeitsverpflichtung, reguliert diese Gesellschaft in
Form patriarchalisch organisierter Familienverbände. Während in der Zivilisation,
als Folge der Affektübersteigerung, die sinnliche Schönheit ausartet in verderbli-
chen Luxus, in die Zerstörung sympathetischer Gesellschaftstriebe und in Egois-
mus, bietet die Naturutopie ein Beispiel für die Konvergenz von schöner Natur,
schöner Anthropologie und schöner Gesellschaft.
Wieland weiß, daß dieses Sinnbild der entwickelten Naturgesellschaft ein
Kunstprodukt ist: Diese utopische Gesellschaft wurde von einem Weisen geschaf-
fen, der sie nach Prinzipien der wahren Natur des Menschen und der künstlich
verschönerten Außennatur geplant hatte. Gerät diese Gesellschaft des .schönen
Lebens' in den Sog der Geschichte, dann ist die Zerstörung der Naturgesellschaft
nicht aufzuhalten:
Der Mensch steigt, bis zu dem höchstmöglichen Grad der Verfeinerung hinaus, und mit die-
sem Samen wächst zu gleicher Zeit der Keim des Verderbens auf: Die Früchte werden zugleich
reif, und wo die höchste Cultur ist, da war immer bis jetzt [...] zugleich die ärgste Corruption
Wieland rezipiert die Trennung von ,status naturalis' und ,status civilis', wenn er
die naturutopische Gesellschaft als ,societas aequalis', als eine Gesellschaft der
natürlichen Gleichheit konzipiert. Die Gesellschaft der reformierten Zivilisation
des Königs Tifan wird dagegen als ,societas inaequalis' definiert. Der Geltungs-
raum des menschenrechtlichen Universalismus ist ausschließlich die naturutopi-
sche Gesellschaft, nicht aber die Zivilisationsgesellschaft. Wieland benennt fol-
gende Prinzipien, die als eine Art Menschenrechtskatalog zu deuten sind, durch
den die „sittliche Ordnung" und Harmonie der Naturgesellschaft garantiert wird:43
- Es herrscht Gleichheit bezüglich der Bedürfnisse, der Rechte und der Pflichten
der Menschen. Diese Gleichheitsgebote können nicht durch Zufall, Verzicht,
Verjährung oder Vertrag aufgehoben werden, sie sind unwandelbar.
41
Vgl. Wieland, Goldner Spiegel, (wie Anm. 33), S. 55ff.
42
Zitat nach Baudach, (wie Anm. 40), S. 16.
43
Vgl. Wieland, Goldner Spiegel, (wie Anm. 33), S. 209f.
Wielands kulturalistische Kritik 223
44
Ebd., S. 223.
45
Ebd.
46
Ebd., S. 224.
47
Ebd., S. 238.
48
Ebd., S. 242.
224 Jörn Garber
Verschlechterung) und der Statik der Utopie (Harmonie von menschlichen und
natürlichen Faktoren in einem bereits künstlichen Gesellschaftszustand, der
gleichwohl kompatibel ist mit dem natürlichen Gleichgewicht menschlicher
Kräfte). Die Zivilisationsdiagnosen werden in Gestalt einer Fiktivhistorie, die
Natur des Menschen hingegen in Form von Raumutopien geschildert. Erzählung
(Zivilisationsgeschichte) und Beschreibung (Utopie) wechseln ab, beide Textfor-
men werden durch eine anthropologisch begründete Kulturtheorie verbunden,
deren zeitliche Entwicklungsstruktur negativ akzentuiert, deren stabiles Raumkon-
zept hingegen positiv bewertet wird.
Im Goldnen Spiegel gibt es keine rechtstheoretische Begründung für die Diffe-
renz von ,status naturalis' und .status civilis'. Beide bezeichnen Extremformen der
.historischen' Anthropologie. Der Regent ist die Schnittstelle beider Statusformen,
er muß zwischen den Normen des utopischen Raums und der Faktizität der Zivili-
sationsgesellschaft vermitteln. Versagt der Monarch, dann treten die utopisch-men-
schenrechtlichen Normen und die Ungleichheitsformen des Zivilzustandes ausein-
ander mit der Folge, daß der Zivilisationsprozeß entgleist. Am Ende dieser negati-
ven geschichtlichen Bewegung steht die Staatsauflösung. Wieland fuhrt die ideali-
sierte Vermittlungsfigur, den in der Naturutopie erzogenen Monarchen Tifan, er-
zählerisch so ein:
Von der Natur selbst auf ihrem Schoß erzogen, fern von dem ansteckenden Dunstkreis der gro-
ßen Welt [d.i. die im Niedergang sich befindende Zivilisation], in einer Art von Wildnis, zu ei-
ner kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitssamen und mäßigen Menschen verbannt,
ohne einen Schatten von Vermutung, daß er mehr sei als der geringste unter ihnen, brachte er
die ersten dreißig Jahre seines Lebens in einem Stande zu, worin sein Herz, ohne es zu wissen,
zu jeder königlichen Tugend gebildet wurde. 49
Wieland leitet die neue Ordnung des nachrevolutionären Staates aus der Dezision
eines Herrschers ab, der die Tugend der Naturordnung repräsentiert. Zu vermuten
wäre, daß die Verfassungsordnung des reformierten Staates gleichsam ein Spie-
gelbild der Naturordnung sei, z.B. im Sinne der physiokratischen Relationsbestim-
mung von ,ordre naturel' und ,ordre positif. Überraschenderweise nähert Wieland
die ideale Staatsverfassung seinen Kontingenzvorstellungen von Geschichte an, er
entwirft eine Staatstatistik, eine ,Landesaufnahme', wie Seckendorf seine Staatsbe-
schreibung des Fürstenstaates nennt.50 Normative Bestimmungen werden .stati-
stisch' getilgt, Normrepräsentant ist allein der Monarch, alle anderen Körperschaf-
ten des Staates verweisen auf gesellschaftlich-arbeitsteilige Funktionszuschreibun-
49
Ebd., S. 205.
50
Vgl. zu dieser Tradition Maier, Hans, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Poli-
zeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland.
Neuwied/Berlin 1966 (Politica 13).
Wielands kulturalistische Kritik 225
51
Wieland, Goldner Spiegel, (wie Anm. 33), S. 244. Der Tifansche Verfassungsentwurf ist in
der Textausgabe Jaumanns auf S. 245fF. wiedergegeben. Auf diesen Text beziehen sich die
folgenden Ausführungen.
226 Jörn Garber
chen im Bereich des Kamerai- und Polizeiwesens. Diese Textpartien spiegeln den
Wissensstand der damaligen kameralistischen Diskussion wider, wie sie in den
Werken von Justi und Pfeiffer nachweisbar ist.52 In der Steuerlehre werden physio-
kratische Grundsätze rezipiert. Der Monarch ist Gesetzgeber, Richter, Verwalter
des Staates, er ist oberster Kriegsherr, Aufseher über die Religion, über die Sitten,
Beförderer der Wissenschaften, Vater und Pfleger der Jugend (Erzieher). Der Kö-
nig ist zugleich Ökonom mit polizeilichen Handlungskompetenzen. Er sorgt fur
das .commune bonum' aller Stände und Personen, indem er jedem Standesmitglied
das Lebensnotwendige garantiert.53 Es gibt Arbeitszwang in diesem Staat, man legt
Vorratshäuser an, man reguliert die Preise und verhindert Monopole, man beför-
dert Produktion und Distribution von Waren, um jedem Einwohner .Bequemlich-
keiten' zu verschaffen.
Die Stadt-Land-Balance muß so gestaltet werden, daß mindestens 80 % der
Einwohner dem Bauernstand angehören. Große Städte sollen aufgelöst werden, der
Luxuskonsum wird staatlich reguliert, Ehegesetze sorgen fur zureichende Peuplie-
rung, Einöden sollen bevölkert werden, Mönchsorden werden aus ökonomischen
und bevölkerungsbedingten Gründen verboten. Die Steuern und die Preise sind
niedrig anzusetzen. Die Nation ist an der Steuerbewilligung durch die Ständever-
sammlungen beteiligt. Der Staat soll nach Prinzipien der Simplizität funktionieren,
eine Forderung, die im Gegensatz zu dem eudämonistischen Programm der mate-
riellen, staatlichen Vorsorge der Bürger steht.
Gleichwohl gibt es bei Wieland auch protoliberale Reformansätze: Manufaktu-
ren dürfen nicht durch Einsprüche der Zünfte eingeschränkt werden, Außen- und
Binnenzölle werden nicht erhoben, das Heer (200 000 Personen) soll für ökonomi-
sche Zwecke (z.B. Kanalbauten) eingesetzt werden. Der Staat wird, wie es heißt,
„klassifiziert",54 d.h. er weist bestimmte Klassen von Einwohnern auf, die strikt
voneinander getrennt sind und nur im Zwischenbereich von Bürgertum und Adel
Durchlässigkeit erlauben. Der Bauemstand ist die „wahre Grundlage der ganzen
bürgerlichen Gesellschaft".55 Landleute genießen als erste Klasse des Staates die
„Vorzüge frei geborener Bürger".56 Die zweite Klasse sind die Handwerker und
mechanischen Künstler, die zünftisch organisiert sind, wobei die Prinzipien der
Gewerbefreiheit nicht eingeschränkt werden dürfen. Der dritte Stand ist der Adel,
der wie bei Montesquieu als Mittelstand zwischen Monarchie und Nation konzi-
piert und im physiokratischen Sinn als Grundbesitzerstand ausgewiesen wird. Die
vierte Klasse ist die Geistlichkeit, die den Schöpfungsplan auslegt und wissen-
52
Vgl. dazu Brückner, Juttta, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag
zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18.
Jahrhunderts. München 1977 (Münchener Studien zur Politik 27), S. 229ff.
53
Wieland, Goldner Spiegel, (wie Anm. 33), S. 257.
54
Ebd., S. 275.
55
Ebd.
56
Ebd., S. 276.
Wielands kulturalistische Kritik 227
57
Ebd., S. 304.
58
Vgl. dazu Bantel, Otto, Christoph Martin Wieland und die griechische Antike. Tübingen
1953; Fuhrmann, Manfred, Wielands Antikebild, in: Christoph Martin Wieland, Übersetzung
des Horaz, hg. v. Fuhrmann, Manfred. Frankfurt/M. 1986, S. 1073-1082; Lee, Geun-Ho, Ver-
nunft, Antike und Schwärmen. Interpretationsannäherungen an Wielands .Peregrinus Proteus'.
Frankfurt/M. 1998 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, 1677).
228 Jörn Garber
Die natürliche Logik oder die Logik der gemeinen Vernunft (sensus communis) ist eigentlich
keine Logik, sondern eine anthropologische Wissenschaft, die nur empirische Prinzipien hat,
indem sie von den Regeln des natürlichen Verstandes- und Vernunftgebrauchs handelt, die nur
in conreto, also ohne Bewußtsein derselben in abstracto, erkannt werden. 59
Wieland entwirft kein Naturrecht im Sinne Wolffs, er expliziert vielmehr eine hi-
storisch interpretierte Anthropologie, er benutzt zugleich die Denkfigur der Utopie,
um eine Gesellschaft zu charakterisieren, die die Attribute des sinnlichen Men-
schen verwirklicht, und er konfrontiert diese Naturutopie der geschichtlichen Dy-
namik mit ihren negativen und positiven Möglichkeiten fur die Entwicklung des
Menschen. Wird die Entwicklungsstufe des sinnlich-schönen Menschen über-
schritten, dann kann sich ein Prozeß der Höherentwicklung mit der Folge der Ent-
artung des Menschen ereignen.
Mich dünkt, der Charakter in einem Menschen ist das, was unter allen Veränderungen und
Modificationen, die ihm von Augenblick zu Augenblick sich selbst ungleich machen, das be-
ständigste ist, das wodurch er sich selbst gleich und von andern verschieden ist, kurz, der ihm
von der Natur selbst aufgeprägte Stempel der Individualität, der aber durch alle die äussern
und innern Ursachen, die auf ihn wirken, nicht nur schärfer ausgedruckt und verschönert, son-
dern auch auf allerley Weise verunstaltet, verwischt und verfälscht werden kann. 60
Bezogen auf den Goldnen Spiegel und auf dessen Doppelordnung von Utopie und
Geschichte, könnte man sagen: Die Utopie stellt den Menschen (nicht als Indivi-
duum, sondern als Gattungswesen) im Zustand der .Schönheit' dar, reduziert auf
einen harmonisch-sinnlichen Entwicklungsstatus, der entfaltete Zivilisationsstatus
hingegen zwingt den Menschen zur Entzweiung, zur Höherentwicklung, zur Entar-
tung. Diese Theorie der zwei Ordnungen kann zur wechselseitigen Erhellung der
Anthropologie genutzt werden, indem nach dem Vor- und Nachteil des jeweiligen
Status gefragt wird. Der Goldne Spiegel ist eine Erzählung, eine Darstellung sowie
eine diskursive Analyse dieser Möglichkeit der Bestimmung von Anthropologie im
Spannungsfeld von Utopie (Natur) und Historie (Zivilisation).
Die aporetische Beziehung zwischen Utopie und Zivilisation ist nach Wieland
nicht zu überwinden. Er beschreibt den Widerstreit zwischen Natur und Zivilisa-
tion im literarischen Genus des Fürstenspiegels, indem er jene Widersprüche er-
zählerisch benennt, denen der zivilisierte Mensch ausgesetzt ist. Im Spannungsfeld
der diskursiven Darstellung der Dekadenz von Mensch und Geschichte bezeichnen
die Utopien Orte der Regenerationsfahigkeit des Menschen. Die Räume der Natur
werden nicht gegen die Zeiten zivilisatorischer Inkonsistenz ausgespielt. Vielmehr
wird in der Gestalt des Monarchen jene Norm personifiziert, die allein Individuen
59
Es handelt sich um eine nicht publizierte Vorlesungsmitschrift eines Kantkollegs, die mitge-
teilt wird von Häfner, Ralph, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu
den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995 (Studien zum Acht-
zehnten Jahrhundert 19), S. 6.
60
Zitiert nach Erhart, Entzweiung, (wie Anm. 1), S. 355.
Wielands kulturalistische Kritik 229
und Gesellschaften vor dem Absturz in die Anarchie retten kann: der tugendhafte
Regent. Er hat bereits jene positive Entwicklung vollzogen, die die Menschheit
noch zu realisieren hat. Gleichwohl relativiert Wieland diese positive Tugendideo-
logie des Monarchen. Der Verfassungsentwurf Tifans beschreibt einen konstitutio-
nell abgesicherten Gesellschaftsmodus mit funktionalen Ständestrukturen, die nach
Verdienst und Leistung hierarchisiert sind. Diese Verfassung, so die Botschaft
Wielands, ist in ihrer normativen Struktur so weit der Handlungspraxis angenähert,
daß sie als rechtliche Norm lediglich die Lebensformen der Standesmitglieder de-
skriptiv festhält. Daß auch diese neue Ordnung des Tifanschen Staatswesens zer-
fallt, ist begründet in der emotionalen Natur der Menschen, deren Leidenschaften
den Geschichtsverlauf negativ oder positiv bestimmen. Angesichts der schlechten
Realität entwirft der Mensch utopische Gegenentwürfe zur Geschichte, die als
Bilder der Entlastung von den Folgen der Zivilisation fungieren. Der Erzähler klärt
den Leser darüber auf, daß Idealverfassungen nicht mit Schwärmerei verwechselt
werden dürfen und Realitätssinn nicht in Zynismus ausarten darf. Der Mensch
wird darüber belehrt, warum er der Macht der Geschichte ausgeliefert ist. Zugleich
entwirft Wieland Reformstrategien, die eine temporäre Stabilität im Verfallsprozeß
der Geschichte verheißen.
Personenregister